»Texte zum Sprechen bringen« Philologie und Interpretation
Festschrift für Paul Sappler
Walter de Gruyter, Inc.
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»Texte zum Sprechen bringen« Philologie und Interpretation
Festschrift für Paul Sappler
Walter de Gruyter, Inc.
»TEXTE ZUM SPRECHEN BRINGEN« PHILOLOGIE UND INTERPRETATION
»Texte zum Sprechen bringen« Philologie und Interpretation Festschrift für Paul Sappler
Herausgegeben von Christiane Ackermann und Ulrich Barton unter Mitarbeit von Anne Auditor und Susanne Borgards
n MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 2009
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-10898-1 © Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2009 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen
Vorwort
In der Mediävistischen Abteilung des Deutschen Seminars an der Universität Tübingen ist Paul Sappler seit Jahrzehnten eine tragende Säule, eine Institution – auch nach seinem 2004 erfolgten Eintritt in den Ruhestand. Am 17. Juni 2009 wird er 70 Jahre alt. Zu diesem Anlaß hat ihm ein engerer Kreis, vornehmlich seiner (auch ehemaligen) Tübinger Kolleginnen, Kollegen und Mitarbeitenden sowie der ihm persönlich Näherstehenden, als Zeichen ihrer Verehrung und Dankbarkeit diese Festgabe gewidmet. Ihr Titel, experimentell in seiner Form, hält die Schwebe zwischen abwägend Deliberativem und zurückhaltendem Ansporn – beides Wesenskomponenten des Jubilars. Die Formulierung stammt von ihm selbst: Seine Idee war es, daß eine auf Textnähe orientierte mediävistische Ringvorlesung im Sommer 2001 unter dem programmatischen Titel antrat: Texte zum Sprechen bringen. Bei aller Vielseitigkeit seiner Begabungen, Interessen und Kompetenzen, im breiten Fächer zwischen Abstraktion und höchst mannigfaltiger Praxis, ist Paul Sappler doch zu allererst Philologe im elementaren Wortsinn: Liebhaber des Wortes, des Gedankens, des tragenden Sinns. Das Ideal einer induktiven Hermeneutik, des Voranschreitens vom Detail zu einem fundierten Verstehen, bis zu einer ›Begegnung‹ mit den Texten, versuchen Hauptund Untertitel dieser Festgabe in wechselseitiger Ergänzung anzudeuten. Die Beiträge sind ein bescheidenes Zeichen des Dankes an Paul Sappler, eines Dankes, den niemand von uns angemessen würde abstatten können. Alle aus seiner Nähe, die Studierenden wie sein engerer Mitarbeiterkreis, haben von seinem Wissen, seiner Erfahrung und seinen Kompetenzen in überreichem Maße profitiert. Viel gefragt war und ist Paul Sappler bis heute als d e r allseits unverzichtbare Fachmann in TUSTEP-basierter Textverarbeitung und Editionstechnik. Niemandem, der ihrer bedurfte, hätte er je seinen Rat und seine in aller Regel zeitaufwendige Hilfe versagt, und immer hat er im Auge behalten, daß die technischen Mittel, über die er so souverän verfügt, philologischen Anliegen zu dienen haben. Dabei hat Paul Sappler nicht nur unentwegt geholfen, sondern gezielt und nachhaltig zu fördern gewußt und damit nicht zuletzt der nachwachsenden Generation den Boden bereitet und den Weg geebnet. Zum Zeichen ihrer besonderen Dankbarkeit ist daher eben die jüngere und junge Generation in diesem Bande sichtbar vertreten. Als Lehrender und Fördernder hatte Paul Sappler, selbst eigenwillig, immer ein offenes Ohr für individuelle Ansätze. Er ließ dem einzelnen die Freiheit, sich nach den ihm eigenen Anlagen und Bedingungen zu entfalten und zu verwirklichen. Auch dem trägt dieser Band mit seinen sehr unterschiedlichen Zugriffen auf die Texte Rechnung. Paul Sapplers vielfältige Interessenschwerpunkte und Arbeitsfelder – zwischen Sprachgeschichte, Verslehre oder Editionstechnik – ebensowohl in ihrer Summe wie in annähernd ausgewogenen Proportionen zu spiegeln, wäre Wunschbild der Heraus-
VI
geber gewesen. Doch Gotisch und Altsächsisch fehlen ganz, und das vom Jubilar so sorgsam betreute Feld des Frühmittelhochdeutschen deutet sich nur zaghaft an. Als wesentlicher Schwerpunkt des Jubilars ist auch die klassische Lyrik vergleichsweise schwach repräsentiert, wogegen das Spätmittelalter sich zu einem ausgeprägten Schwerpunkt verdichtet, ein Feld, zu dem Paul Sappler selbst mit seinen Editionen wesentliches beigetragen hat und auf dem er sich noch heute durch tatkräftige Mitarbeit an den Projekten ›Fastnachtspiele‹ und ›Versnovellistik‹ engagiert. Die in diesem Band versammelten Titel gruppieren sich in fünf Blöcken wechselnden Umfangs: zunächst Lyrisches, Erzählendes, Dramatisches, Textedition; am Schluß findet sich zwanglos und in bunter Vielgestaltigkeit mehreres zusammen, was sich unter e i n e m Stichwort nicht wollte bändigen lassen – neben der Sapplerschen Domäne Lexikographie etwa Kommentierendes im weitesten Sinne, Interpretation von Textvarianten, Interdisziplinäres usw. Wir hoffen zuversichtlich, daß der hierin sich geltend machende ›Protest‹ gegen eine zu glatte Systematik das Wohlwollen des Jubilars finden wird. Wir alle, Herausgeberin und Herausgeber wie Beiträgerinnen und Beiträger, danken Paul Sappler für seinen beispielhaft kompetenten und unermüdlich-hilfreichen jahrzehntelangen Einsatz zum Wohl der Abteilung. In der Hoffnung auf einen lebhaften Austausch auch künftig wünschen wir ihm für seine wissenschaftliche Arbeit und – wobei wir die Überschneidungen nicht verkennen – persönlich alles erdenklich Gute.
Im Namen der Mediävistischen Abteilung Derk Ohlenroth
Inhalt
Vorwort
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V
Manfred Günter Scholz Die Kadenz – eine metrische quantite´ ne´gligeable? . . . . . . . . . . . . . 1 Henrike Lähnemann Versus de despectu sapientis. Ein Einblick in die lateinisch-deutsche Literaturszene um 1200
. . . . . . . 19
Michael Rupp Narziß und Venus. Der lyrische Blick auf die Antike bei Heinrich von Morungen, Konrad von Würzburg und dem Wilden Alexander
35
Derk Ohlenroth Die ›Köche‹ in Walthers ‘Spießbratenspruch’ (L. 17,11). Zum performativen Rahmen einer politischen Warnung . . . . . . . . . . . 49 Burghart Wachinger Eine bezzerunge Neidharts? Horst Brunner Die Spruchtöne Marners
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
Annette Gerok-Reiter Sprachspiel und Differenz. Zur Textur von Minnesangs Ende in Frauenlobs Lied 6 . . . . . . . . . . . 89
Hans-Joachim Ziegeler der herzoge Liddamus. Bemerkungen zum 8. Buch von Wolframs ‘Parzival’
. . . . . . . . . . . 107
Anna Mühlherr Durchkreuzte Pläne, undurchschaubare Intentionen. Zum ‘Mauritius von Crauˆn’ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
VIII
Inhalt
Heike Sahm Wer sieht wen? Zum Erzählverfahren in der ‘Kudrun’
. . . . . . . . . . 131
Philipp Theisohn Hamhleypa – Skaldik als Verwandlungskunst. Zur ‘Ho˛fuðlausn’-Episode in der ‘Egils saga skalla-grı´mssonar’
. . . . . . 143
Slavica Stevanovic´ Zur Genese eines Herrscher-Mythos am Beispiel des serbischen Fürsten Lazar 155 Sandra Linden Erzählen als Therapeutikum? Der wahnsinnige Königssohn im ‘Bussard’ Gudrun Felder Der Ritter in der Maultierhaut. Zu Motiven und zur Gattung der ‘Königin vom brennenden See’ Nicola Zotz Grauzonen. Moral und Lachen bei Heinrich Kaufringer
. . 171
. . . . . 183
. . . . . . . . . 195
Manuela Gliesmann Der ›Blick zurück‹ in Texten vom Alten Testament bis ins Spätmittelalter
. . 209
Reinhard Berron Einige Bemerkungen zu übersetzten Namen in der Diemeringen-Version von Mandevilles ‘Reisen’ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
Ulrich Barton und Klaus Ridder Ästhetik des Bösen. Die Herodesfigur im geistlichen Schauspiel
. . . . . . 231
Johannes Janota Von der Spiel- zur Lesehandschrift. Jakob Rufs ‘Weingarten’ als Beispiel Cora Dietl Hurenkomödie oder politische Dichtung? Die ‘Chrysis’ des Enea Silvio Piccolomini
. . 249
. . . . . . . . . . . . . . . 261
IX
Inhalt
Kurt Gärtner Die Editionen der ‘Klage’ Hartmanns von Aue
. . . . . . . . . . . . . 273
Thaddäus Steiner Eine Augsburger Ordnung aus dem 14. Jahrhundert für die Schiff-Fahrt auf dem Lech . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Anne Auditor Die ›Innsbrucker Spielhandschrift‹. Überlegungen zu einer Neuedition
. . . 297
Christoph Gerhardt ‘Ein spruch von einer geisterin’ von Rosenplüt, vier Priamel und ‘Ein antwu´rt vmb einen ters’ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Frieder Schanze Ein unveröffentlichtes Lied des Hans Folz: Die Verkündung des Englischen Grußes . . . . . . . . . . . . . . . . 329
Ernst Hellgardt Bemerkungen zu den weniger bekannten Lebenszeugnissen über Notker den Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Derk Ohlenroth Zur Bedeutung von mhd. leiben/verleiben – ahd. firleiben
. . . . . . . . 353
Ralf Plate Wortbedeutung, Gebrauchstyp und Textverständnis in der historischen Beleglexikographie. Am Beispiel von mhd. buˆwen und seinem Gebrauch im ‘Tristan’ Gottfrieds von Straßburg . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Benedikt Konrad Vollmann Varianz und Kontamination. Bemerkungen zur Textgestalt von ‘Thomas III’
385
Christoph Huber Wappen und Privilegien. Standessymbolik im ‘Ritterspiegel’ des Johannes Rothe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Erika Bauer Variatio delectat – delectat variatio? Beobachtungen an autographischen Übersetzungen des Kartäusers Heinrich Haller
. . . . . . 407
X
Inhalt
Matthias Kirchhoff Jch mit meyner thafell vnd jr cum woster weisheit . . . Konkurrenz, Freundschaft und Memoria bei Albrecht Dürer und Willibald Pirckheimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Christiane Ackermann und Rebekka Nöcker Wann gantz geferlich ist die zeit Zur Darstellung der Türken im Werk des Hans Sachs Almut Todorow W. G. Sebalds Prag
. . . . . . . . . . 437
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465
Thomas Meyer Fußnote und Literaturliste. Randnotizen zu Geschichte, Systematik und technischer Herstellung eines Bestandteils akademischer Lebensform . . . . . . . . . . . . . . 477
Abbildungen
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487
Danksagung
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502
Die Kadenz – eine metrische quantite´ ne´gligeable? von Manfred Günter Scholz I Es begann im Jahre 1952 mit einer Anmerkung. Einer sehr folgenreichen Anmerkung, deren Auswirkungen ihren Urheber in einer Goethes Zauberlehrling vergleichbaren Situation zurückließen. In seiner bahnbrechenden Untersuchung ›Minnesangs Wende‹ erläutert Hugo Kuhn in einer Fußnote das von ihm im folgenden verwendete metrische Notationssystem: Angegeben werden nur »rein ›beschreibende‹ Zeichen«. »Gezählt werden nur die realisierten Takte;1 4 oder a usw. bedeutet einsilbigen, 4- oder a- usw. bedeutet zweisilbigen Versschluß (gleich, ob jener stumpf oder voll, dieser klingend oder weiblich ist)«.2 Einige Jahre später äußert Kuhn dezidiert seine Skepsis hinsichtlich der »Zweckmäßigkeit« des traditionellen metrischen Systems wie der »Berechtigung der rhythmischen Interpretation überhaupt«.3 Kuhns Zeichensystem wurde vielfach übernommen, mit oder ohne Begründung. Ingeborg Glier bemerkt in ihrer Neubearbeitung der Metrik Otto Pauls: »Diese deskriptiven Formeln halten knapp und überschaubar das Vorhandene fest«.4 Ohne weiteren Kommentar verzeichnet A. H. Touber in seinen Arbeiten »die metrische Formel nach Hugo Kuhns Methode«.5 Gleichermaßen, doch z. T. mit später aufzugreifenden erläuternden Zusätzen verfahren Gerhard A. Vogt,6 Ingrid Kasten,7 Horst Brun1
2
3
4
5
6
7
Der heute in Verruf geratene Taktbegriff wird im folgenden im Bewußtsein gebraucht, daß der metrische Takt mit dem musikalischen nicht 1 : 1 identisch ist, also einen Hilfsbegriff darstellt; vgl. auch die Bemerkungen am Schluß dieses Beitrags. Hugo Kuhn, Minnesangs Wende, Tübingen 1952, S. 47 Anm. 10. Diese Art der Notierung ist keine Erfindung Kuhns, mußte doch schon Heusler »den Metrikern« entgegentreten, welche »die Typen 4k und 4s als kurzweg ›dreihebig‹ buchen«. Andreas Heusler, Deutsche Versgeschichte. Mit Einschluß des altenglischen und altnordischen Stabreimverses (Grundriß der Germanischen Philologie 8/1–3), 3 Bde., Berlin 21956, Bd. 3, S. 320. Vgl. auch Wolfgang Mohr, Art. ›Kadenz‹, in: 2RL 1 (1958), S. 803–806, hier S. 803: »Die nhd. Metrik glaubte weithin mit der Unterscheidung ›weiblicher‹ (w) und ›männlicher‹ (m) Versschlüsse auszukommen«. Nach Fritz Schlawe, Neudeutsche Metrik (Sammlung Metzler 112), Stuttgart 1972, S. 23, sind für den Vers der neueren deutschen Dichtung »ganz allgemein« ›männlich‹ und ›weiblich‹ die üblichen Bezeichnungen. Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts, hg. von Carl v. Kraus, Bd. 2: Kommentar, besorgt von Hugo Kuhn, Tübingen 1958, S. VIII. Otto Paul und Ingeborg Glier, Deutsche Metrik, 4., völlig umgearb. Aufl., München 1961, S. 82; vgl. auch S. 22 und 63. Anthonius H. Touber, Textik. Zur Struktur der mittelhochdeutschen Lyrik, in: Neophilologus 49 (1965), S. 231–241, hier S. 240 Anm. 7; vgl. auch ders., Deutsche Strophenformen des Mittelalters (Repertorien zur Deutschen Literaturgeschichte 6), Stuttgart 1975, S. VII. Vgl. Gerhard A. Vogt, Studien zur Verseingangsgestaltung in der deutschen Lyrik des Hochmittelalters (GAG 118), Göppingen 1974, S. 3 und 100. Vgl. Deutsche Lyrik des frühen und hohen Mittelalters. Edition der Texte und Kommentare
2
Manfred Günter Scholz
ner8 oder – »gemäß heutiger altgermanistischer Praxis« – Burghart Wachinger.9 Mit entwaffnender Offenheit nennt Christian Wagenknecht in der um drei Kapitel zur mittelalterlichen Dichtung erweiterten 5. Auflage seiner Metrik den Grund dafür, nur die Hebungszahl und den männlichen oder weiblichen Versausgang zu notieren: dies sei »entschieden bequemer«.10 Kritik an der vereinfachten Notation hat man nur vereinzelt geübt. Mit Recht hat Wolfgang Mohr eine Formulierung wie: es werde angegeben, »ob der Vers mit einer betonten (m) oder unbetonten Silbe (w) schließt«,11 als irreführend bezeichnet, spiegelt sie doch dem Nicht-Fachmann vor, auch Fälle wie gezogen, vergeben oder begraben seien weiblich.12 Diese Nachlässigkeit ist Mohr mit seiner Gleichsetzung »Gedankenstrich = zweisilbiger Ver[s]schluß« einige Jahre zuvor allerdings selbst unterlaufen.13 Die Unzulänglichkeit der Kuhnschen Terminologie berührt beiläufig auch Friedrich Neumann, wenn er »das dürre Feststellen von Hebungszahlen« erwähnt.14 Daß für eine genaue metrische Analyse eines Textes das »Schema von Auftakt, Hebungszahl, Reim und Kadenzgeschlecht« nicht ausreicht, stellt Hans-Herbert Räkel fest.15 Eine klare Absage an die metrische Beschreibung nach dem scheinbar neutralen ›Hebigkeitsprinzip‹ formuliert in einer vielbenutzten Einführung in Metrik und Rhetorik ein Autorenkollektiv: »Ein solch ahistorisches, nur scheinbar objektives Verfahren ist nicht geeignet, die Probleme und Intentionen, die mit der Orientierung an Verstraditionen verbunden sind, zu begreifen und zu verdeutlichen«.16 Als ahistorisch angesehen werden muß das Verfahren auch im Lichte der, soweit ich sehe, von den Metrikern noch nicht rezipierten, zum Fundament jeder Beschäftigung mit mittelhochdeutschen Versen erklärten Feststellung des Linguisten Theo Vennemann,
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9
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von Ingrid Kasten, Übersetzungen von Margherita Kuhn (Bibliothek des Mittelalters 3), Frankfurt a. M. 1995, S. 558. Vgl. Horst Brunner, Gerhard Hahn, Ulrich Müller und Franz Viktor Spechtler, unter Mitarbeit von Sigrid Neureiter-Lackner, Walther von der Vogelweide. Epoche − Werk − Wirkung (Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte), München 1996, S. 46; Früheste deutsche Lieddichtung. Mhd./Nhd., hg., übers. und komm. von Horst Brunner (RUB 18388), Stuttgart 2005, S. 187 f. Deutsche Lyrik des späten Mittelalters, hg. von Burghart Wachinger (Bibliothek des Mittelalters 22), Frankfurt a. M. 2006, S. 617 f. Christian Wagenknecht, Deutsche Metrik. Eine historische Einführung (C. H. Beck Studium), 5., erw. Aufl., München 2007, S. 28. Paul und Glier [Anm. 4], S. 63. Wolfgang Mohr, Besprechung von Paul und Glier [Anm. 4], in: AfdA 76 (1965), S. 145–153, hier S. 147. Wolfgang Mohr, Zur Form des mittelalterlichen Deutschen Strophenliedes. Fragen und Aufgaben, in: DU 5 (1953), H. 2, S. 62–82, hier S. 71 Anm. 25. Friedrich Neumann, Neues Schrifttum zur altdeutschen Lyrik, in: Muttersprache 69 (1959), S. 378–380, hier S. 379. Hans-Herbert S. Räkel, Der deutsche Minnesang. Eine Einführung mit Texten und Materialien (Beck’sche Elementarbücher), München 1986, S. 63. Alwin Binder u. a., Einführung in Metrik und Rhetorik (Monographien Literaturwissenschaft 11), Frankfurt a. M. 51987, S. 75.
Die Kadenz – eine metrische quantite´ ne´gligeable?
3
»daß das Altdeutsche eine akzentbasierte Quantitätssprache war«.17 Denn es stellt eine nicht nachvollziehbare Reduktion dar, mit der Zählung von Hebungen nur den Akzent zu berücksichtigen, nicht aber den Aspekt der Quantität. Dem Nicht-Experten wird durch die Verwendung der Zeichen 3a oder 4-b suggeriert, daß der eine Vers in traditioneller Terminologie drei Takte mit männlich voller (mv) Kadenz und a-Reim, der andere vier Takte mit weiblich voller (wv) Kadenz und b-Reim aufweist; die Existenz von stumpfen oder klingenden Endungen gerät überhaupt nicht ins Kalkül. Hubert Heinen konnte in dieser Hinsicht dem »Gros der modernen Minnesangforscher« den Vorwurf nicht ersparen, daß sie »wegen der Fragwürdigkeit jeder Kadenzregelung effektiv die Existenz schwerklingender Kadenzen leugnen«.18 Was Heinen »Fragwürdigkeit« nennt, wird in den Stellungnahmen zum Problem, wie eine Entscheidung zwischen klingender und weiblicher,19 zwischen männlich voller und stumpfer Kadenz (im folgenden als k, w, mv und s abgekürzt) zu treffen sei, unterschiedlich gewichtet. Daß eine solche Entscheidung oft »Ermessenssache«,20 oft nicht möglich21 sei, daß eine »vielfache Ungewißheit«22 herrsche, daß man sich bei rhythmischer Mehrdeutigkeit häufig mit der vereinfachten Notierung begnügen müsse,23 sind nachvollziehbare, konsensfähige Urteile; Behauptungen, daß bestimmte Kadenztypen »fast nie zweifelsfrei zu erkennen«24 oder gar »objektiv eigentlich nicht feststellbar«25 und »in allen hochhöfischen Strophen schwer festzustellen«26 seien, heischen dagegen geradezu nach einer Überprüfung. Eine solche hat schon vor vierzig Jahren Hubert Heinen angemahnt, ohne daß seine dabei geäußerte Hoffnung in Erfüllung gegangen wäre: The time is ripe for all evidence and arguments for and against the existence of these types of cadence to be assembled and weighed. Perhaps it will be possible then to reach a consensus of opinion.27 17
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Theo Vennemann gen. Nierfeld, Der Zusammenbruch der Quantität im Spätmittelalter und sein Einfluß auf die Metrik, in: ABäG 42 (1995), S. 185–223, hier S. 188. Mutabilität im Minnesang. Mehrfach überlieferte Lieder des 12. und frühen 13. Jahrhunderts, hg. von Hubert Heinen (GAG 515), Göppingen 1989, S. XXI. Dazu, daß die Bezeichnung ›weiblich‹ der gängigen ›weiblich voll‹ vorzuziehen ist, vgl. die überzeugenden Argumente bei Erdmute Pickerodt-Uthleb, Die Jenaer Liederhandschrift. Metrische und musikalische Untersuchungen (GAG 99), Göppingen 1975, S. 285 f. Anm. 81. Siegfried Beyschlag, Die Metrik der mittelhochdeutschen Blütezeit in Grundzügen, 4., neubearb. Aufl., Nürnberg 1961, S. 48. Werner Hoffmann, Altdeutsche Metrik, 2., überarb. und erg. Aufl. (Sammlung Metzler 64), Stuttgart 1981, S. 100. Vogt [Anm. 6], S. 100. Mohr [Anm. 2], S. 804. Wachinger [Anm. 9], S. 618. Räkel [Anm. 15], S. 62. Gesine Taubert, Mittelhochdeutsche Kurzgrammatik mit Verslehre. Examensvorbereitung, Referendariat, Unterricht. Unter Mitwirkung von Elisabeth Miltschitzky, Erding 1995, S. 102. Hubert Heinen, Minnesang. Some Metrical Problems, in: Formal Aspects of Medieval German Poetry. A Symposium, hg. von Stanley N. Werbow, Austin/London 1969, S. 79–92, hier S. 87 Anm. 12.
4
Manfred Günter Scholz
II Es hätte nicht so weit zu kommen brauchen, daß man den radikalen Schritt vollzog und bei der metrischen Notation lediglich die sprachlich realisierten Hebungen zählte sowie die weibliche oder männliche Endung des Verses angab. Hatte doch Kuhn seine Regelung mit der Kautel versehen, daß Fragen wie die, ob eine weibliche oder eine klingende Kadenz anzusetzen sei, »im Einzelfall zu entscheidende Fragen«28 seien, und hatte dort, »wo das rhythmische Bild eindeutig dargestellt werden soll«, selber die Heuslerschen Zeichen verwendet.29 Dies tut auch Glier, nicht nur als Tribut an Otto Paul,30 sondern auch in der Erkenntnis, daß die Kuhnsche Notation einen »Verzicht auf sprachlich-rhythmische Eindeutigkeit« impliziert und daß dort, wo »Verse gelesen werden und rhythmisch eindeutig erscheinen sollen«, die seit Heusler üblichen Zeichen vonnöten sind.31 Nach Kuhn und Glier ist es allein Wachinger, der den Sachverhalt problematisiert. Auch er rechnet mit der Existenz klingender Kadenzen im Mittelhochdeutschen, und auch er sieht die »Grenzen« des neuen Verfahrens »dort, wo intensiv mit solchen Rhythmisierungen gearbeitet wird«, weswegen er in seinem Kommentar auch derartige Fälle anspricht.32 Wenn er allerdings »das hörbar vierhebige Ho´ppe ho´ppe Re´ite`r« heranzieht und dazu bemerkt: es »muß also als 3a- beschrieben werden«,33 fragt man sich, ob dies wirklich ein Muß ist oder ob hier nicht vielmehr das Diktat eines unzulänglichen, weil nur begrenzt anwendbaren Schemas über die Evidenz des Rhythmischen gesiegt hat. Wie mag sich Paul Sappler der Problematik stellen? Der Suprematie der Münchener Schule eingedenk, macht man sich zagend auf die Suche. Und verzagt gleich zu Beginn des ersten einschlägigen Satzes: »In der abgekürzten Schreibweise wird die Zahl der realisierten Hebungen« angegeben. Doch alsbald stellt sich Erleichterung ein, denn die Formulierung der anschließenden Klammer versöhnt: »ohne die Nebenhebungen der klingenden Kadenzen«, und im weiteren Verlauf des Rechenschaftsberichts wird alles Gewünschte nachgereicht: »Das Schema wird jedesmal um die nicht darin enthaltenen Angaben (Auftakt, Kadenzarten und -tausch und Gliederung der Strophe) ergänzt«.34 Bleibt nur die Frage, ob dann die Angabe des verkürzten Schemas überhaupt notwendig war, denn eine Notierung wie 4mva 4kb kann ebensogut »im fortlaufenden Text verwendet werden« wie das Sapplersche Schema 4a3.b (der Punkt bedeutet bei Sappler weibliche Endung). Die Vorteile der neuen Notation bestehen darin, daß sie »den Vergleich mit den silbenzählenden Bildern der romanischen (und lateinischen) Verse« zulassen, den die Heuslerschen Zeichen »erschweren«.35 Dasselbe Kriterium führt Glier an, die darüber 28 29 30 31 32 33 34
35
Kuhn [Anm. 2], S. 46. Ebd., S. 47 Anm. 10. Vgl. Paul und Glier [Anm. 4], S. 22. Ebd., S. 82. Wachinger [Anm. 9], S. 618. Ebd. Das Königsteiner Liederbuch. Ms. germ. qu. 719 Berlin, hg. von Paul Sappler (MTU 29), München 1970, S. 19. Kuhn [Anm. 2], S. 47 Anm. 10.
Die Kadenz – eine metrische quantite´ ne´gligeable?
5
hinaus auch den Nutzen »für alle Untersuchungen über die Beziehung von sprachlich-metrischem und musikalischem Strophenbau« erwähnt.36 Überall dort, wo es nicht um derartige Fragen geht, wäre eine unvoreingenommene Prüfung der jeweils gegebenen Sachlage am Platz, gälte es zu entscheiden, ob die rhythmischen Verhältnisse eines Textes eindeutig genug sind, um sie mittels des Heuslerschen Zeichensystems wiederzugeben, oder ob Zweifel zur Verwendung des Kuhnschen Schemas nötigen. »Bequemer« taugt dabei freilich nicht als Kriterium! Und daß die Entscheidung »weitgehend [. . .] von der subjektiven Auffassung des jeweiligen Metrikers«37 abhängt, darf ebenfalls nicht gelten. Es gibt genügend objektivierbare Fälle, in denen stumpfe oder klingende Kadenzen mit zureichender Sicherheit nachgewiesen werden können, wie im folgenden in erster Linie an Texten Walthers von der Vogelweide zu zeigen ist.
III Für Walthers Kreuzlied 76,22 ff.38 hat Carl von Kraus betont, daß »auf die Form besondere Kunst verwendet« ist, was sich z. B. daran zeigt, »daß in den 80 Versen nicht ein einziger Reimausgang sich wiederholt«.39 Gern erwähnt wird »der marschartige Charakter des Rhythmus«, so auch von Kasten, die v. Kraus zitiert, als metrisches Schema der sich wiederholenden Vierzeiler-Perioden aber 3a’ a’ a’ b angibt.40 Das Lied hat durchgängig Auftakt,41 innerhalb der Perioden herrscht vielfach Synaphie. Dies führt zu einer eindeutigen Metrisierung: A4k A4k A4k A4s:42 Vil süeze wære minne, berihte kranke sinne. got, durch dıˆn anebeginne bewar die kristenheit. (76,22–25)
36 37 38
39 40
41
42
Paul und Glier [Anm. 4], S. 82. Binder u. a. [Anm. 16], S. 62. Die Walther-Texte werden zitiert nach: Walther von der Vogelweide. Leich, Lieder, Sangsprüche, 14., völlig neubearb. Aufl. der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner, hg. von Christoph Cormeau, Berlin/New York 1996. Carl v. Kraus, Walther von der Vogelweide. Untersuchungen, Berlin/Leipzig 1935, S. 313. Kasten und Kuhn [Anm. 7], S. 1036; ebenso Brunner, Hahn, Müller, Spechtler [Anm. 8], S. 56. Vgl. auch: Walther von der Vogelweide, Werke, Gesamtausgabe, Bd. 2: Liedlyrik. Mhd./ Nhd., hg., übers. und komm. von Günther Schweikle (RUB 820), Stuttgart 1998, S. 780, wo klingende Messung der drei ersten Verse jeder Periode angesetzt wird, allerdings mit der Alternative: »evtl. auch als Dreitakter mit weiblicher Kadenz zu deuten«. Schwebende Betonung ist in I,3, I,18 und II,9 anzusetzen; auftaktlos sind I,9 und III,9 (evtl. auch II,9, wenn man küngıˆn liest), was eher den Beginn einer neuen Periode unterstreicht, als daß es die generelle Auftaktigkeit in Frage stellte. Vgl. schon Kurt Plenio, Metrische studie über Walthers palinodie, in: PBB 42 (1917), S. 255– 276, hier S. 263 Anm. 2. Karl-Heinz Schirmer, Die Strophik Walthers von der Vogelweide. Ein Beitrag zu den Aufbauprinzipien in der lyrischen Dichtung des Hochmittelalters, Halle a. d. S. 1956, S. 78, versteht hier die Zahl 4 als Symbolzahl für das vierarmige Kreuz.
6
Manfred Günter Scholz
Unabhängig davon, ob man sich das Lied tatsächlich als von Pilgern auf ihrem Weg gesungen denkt,43 der »marschartige Charakter«44 transformiert sich in Kastens Metrisierung, die klingend und stumpf nicht mehr benötigt, zu einer pausenlosen (!) Wiederholung atemberaubender Trippelschritte. In Walthers Reichston 8,4 ff. wechseln vierhebig klingende mit vierhebig männlich vollen Reimpaaren ab. Eine Notation wie 3a- 3a- 4b 4b gibt die wertvolle Entdekkung Kurt Plenios, wonach die Strophe genau 100 Takte zählt,45 unnötig preis. Spätestens nach dem Überblick über mittelalterliche Zahlenkomposition, den Ernst Robert Curtius bietet,46 wird man derartige Funde nicht mehr als abwegig beiseite tun können, auch wenn Curtius nur »die Zahl der Verse wie die Zahl der Strophen in einem Gedicht«47 als zahlensymbolisch relevant anführt. Die klingende Kadenz wird auch durch den regelmäßigen Auftakt48 und die Fugungsverhältnisse gesichert: swaz kriuchet unde vliuget und bein zer erden biuget, 43 44
45
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47 48
Abgelehnt durch v. Kraus [Anm. 39], S. 313. Kurt Herbert Halbach, Walther von der Vogelweide, 4., durchges. und ergänzte Aufl., bearb. von Manfred Günter Scholz (Sammlung Metzler 40), Stuttgart 1983, S. 52, spricht von »der unerbittlich, litaneiartig mitziehenden Rhythmik«. Vgl. Kurt Plenio, Bausteine zur altdeutschen strophik, in: PBB 42 (1917), S. 411–502, hier S. 477 Anm. 1. Plenio vergleicht mit dem 100 Buchstaben aufweisenden Ave Maria und sieht in der Verwendung der Zahl durch Walther eine Huldigung an Philipps Gemahlin Irene, die durch die Krönung zur Königin mit dem neuen Namen Maria werden soll. Vgl. auch Fritz Tschirch, Literarische Bauhüttengeheimnisse. Vom symbolbestimmten Umfang mittelalterlicher Dichtungen, in: ders., Spiegelungen. Untersuchungen vom Grenzrain zwischen Germanistik und Theologie, Berlin 1966, S. 212–225, hier S. 221 f.: Die 300 Takte des gesamten Tons stellen die Summe der Zahlen 1–24 dar (24 Zeilen umfaßt eine Strophe!); das griechische Zahlzeichen T für 300 wird als Symbol des Kreuzes Christi verstanden; die Schlußzeile des Tons verrate diese Absicht. Vgl. Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern/München 61967, S. 491–498: Exkurs XV Zahlenkomposition. Ebd., S. 495. Neuere Ausgaben beachten dies stellenweise nicht, wie sie auch dem Kunstmittel der schwebenden Betonung nicht Rechnung tragen und ihren Text z. T. eigens mit eine solche ausschließenden Akzenten versehen. Vgl. Heinen [Anm. 18], S. 149, der (obwohl er im Schema für die A-Fassung wie für die BC-Fassung in allen Zeilen Auftakt ansetzt) in II,4 sowie in der A-Fassung von III,6 und III,9 fehlenden Auftakt notiert; Walther von der Vogelweide, Werke, Gesamtausgabe, Bd. 1: Spruchlyrik. Mhd./Nhd., hg., übers. und komm. von Günther Schweikle (RUB 819), Stuttgart 1994, S. 72–76 (I,20 stıˆge und; II,4 wa´lt, velt; III,2 ma´nne und; III,10 pfaffen auftaktlos; III,12 lıˆp und; III,18 u´nd niht); Cormeau [Anm. 38], S. 11–13 (I,20 stıˆg und; I,23 fride und; III,2 man und; III,6 und III,9 wie Heinen; III,12 wie Schweikle); Walther von der Vogelweide, Gedichte, 11. Aufl. auf der Grundlage der Ausgabe von Hermann Paul, hg. von Silvia Ranawake, mit einem Melodieanhang von Horst Brunner, Teil 1: Der Spruchdichter (ATB 1), Tübingen 1997, S. 4 (III,2 nach Cormeaus Zählung ma´n unde; III,6 und III,10 auftaktlos). Zur Kritik vgl. schon Manfred Günter Scholz, Besprechung von Brunner, Hahn, Müller, Spechtler [Anm. 8], Cormeau [Anm. 38] und Ranawake, in: PBB 120 (1998), S. 487–501, hier S. 493, sowie ders., Walther von der Vogelweide, 2., korr. und bibliogr. erg. Aufl., Stuttgart/Weimar 2005, S. 32 f.
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daz sach ich unde sag iu daz: der dekeinez lebet aˆne haz. (8,32–35)
Synaphie herrscht auch, wenn auf einen weiblich endenden Vers ein auftaktloser folgt. Dies ist der Fall in Walthers Lied 40,19 ff. Schirmer hat »gegen das eindeutige Zeugnis geregelter Fugungsverhältnisse«, wie sein Rezensent Karl Heinz Borck bemängelt,49 klingende Kadenzen im Abgesang und »aus zahlenkompositorischen Gründen« nach dem ersten Abgesangsvers eine Pause angesetzt.50 Schweikle entscheidet sich für klingende Kadenzen sowohl im Auf- als auch im Abgesang,51 Heinen dagegen (in Borcks Sinne) für weibliche.52 Diese Strophenform (4wa 5mvb : [A] 4mvc 3wd 3wd 5mvc) ist im übrigen ein Beispiel dafür, daß Heuslers Postulat, Perioden müßten eine gerade Zahl von Takten aufweisen, nicht haltbar ist:53 Ich haˆn ir soˆ wol gesprochen, daz si meneger in der welte lobet. haˆt si daz an mir gerochen, oweˆ danne, soˆ haˆn ich getobet, Daz ich die getiuret haˆn und mit lobe gekrœnet, diu mich wider hœnet. frowe Minne, daz sıˆ iu getaˆn. (40,19–26)
Kombination von weiblichen und stumpfen Kadenzen weist Walthers Mailied 51,13ff. auf.54 »Allgemein wird der [. . .] bewegte Tanzrhythmus hervorgehoben«, hält Schweikle fest,55 was eigentlich die stumpfe Kadenz, d. h. durchgängige Viertaktigkeit zwingend macht: Muget ir schouwen, waz dem meien wunders ist beschert? seht an pfaffen, seht an leien, wie daz allez vert. (51,13–16)
Dennoch notiert Heinen die männlich endenden Verse als 3m,56 der Tanz wird gewissermaßen ein Zwiefacher. Die Entscheidung steht und fällt mit der Position, die
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55 56
Karl Heinz Borck, Besprechung von Schirmer [Anm. 42], in: WW 8 (1957/58), S. 375–377, hier S. 376. Schirmer [Anm. 42], S. 42. Vgl. auch ders., Nochmals zur Kadenzwertung in der Lyrik Walthers von der Vogelweide, in: ZfdPh 90 (1971), Sh., S. 18–46, hier S. 35 f., wo er Borcks Kritik u. a. mit dem Verweis auf fragwürdige »Gesetzmäßigkeiten« zu entkräften sucht (weibliche Kadenz sei nur bei Versen von mindestens vier Haupthebungen anzusetzen). Vgl. Schweikle [Anm. 40], S. 722. Vgl. Heinen [Anm. 18], S. 159. In diesem Sinne bereits Schirmer [Anm. 42], S. 22, oder Borck [Anm. 49], S. 377. Vgl. Ludwig Wolff, Von der lyrischen Bedeutung der Strophenform bei Walther von der Vogelweide, in: Neuphilologische Mitteilungen 53 (1952), S. 338–361, hier S. 351. So metrisiert auch Schirmer [Anm. 42], S. 29. Schweikle [Anm. 40], S. 671. Vgl. Heinen [Anm. 18], S. 185.
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man gegenüber der Präponderanz von Viertaktern im Deutschen einnimmt; dazu ist weiter unten noch Stellung zu nehmen. Schweikle setzt statt 4w im Auf- wie im Abgesang 5k an – vom »Tanzrhythmus« bleibt so nichts mehr übrig.57 Walthers Lied 57,23 ff. firmiert in der Literatur namentlich der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts als Paradebeispiel für Zahlenkomposition und -symbolik. Das Spiel mit dem von der Dame favorisierten Vierundzwanzigjährigen und dem verschmähten Vierziger soll sich, wie Johannes Alphonsus Huisman darlegt, in der Summe der Stollenverse (24) und der Gesamtzahl der Verse des Liedes (40) spiegeln (dabei muß jeweils die abschließende Langzeile als zwei Verse gezählt werden; dazu s. u.).58 Von A. T. Hatto und R. J. Taylor wurde Huismans Entdeckung ergänzt durch die Beobachtung, daß die Zahl der Hebungen/Takte in Aufgesang und ganzer Strophe im Verhältnis 24:40 steht, was zu Taylors Fazit führt, es könne »kein Zweifel mehr über Walthers Absicht« bestehen.59 Problematisch wird die Angelegenheit dadurch, daß zum einen die Strophenzahl des Liedes strittig ist, zum andern die Metrisierung der Schlußzeile der Strophe. Überliefert ist in C und E jeweils ein vierstrophiges Lied, wobei nur drei Strophen beiden Handschriften gemeinsam sind. Als einziger Herausgeber setzt Cormeau ein Lied von fünf Strophen an,60 Heinen bietet seinem Editionsprinzip entsprechend beide Fassungen,61 Schweikle druckt die C-Version ab.62 Da das bei Cormeau erscheinende Gebilde eine dem Leithandschriftenprinzip nicht gemäße Kontamination darstellt, ist weiterhin von vier Strophen auszugehen. Damit ist die Zahl 24 gesichert, sowohl was die Summe der Stollenverse als auch was die Anzahl der Aufgesangstakte angeht, gleich, ob man die Stollen mit Hatto/Taylor und Schweikle als 4mv 5k 3mv oder, wahrscheinlicher, als 4mv 4w 4s metrisiert (für weibliche Endung sprechen v. a. die deutlich gefugten Verse II,5 f. und III,2 f.). Die Lesung der Stollenschlüsse als 3mv bei Wilmanns/Michels,63 Hatto/Taylor und Heinen (er scheut stumpfe Kadenzen) konkurriert mit der die Stollen deutlicher abgrenzenden Wertung als 4s. Im Unterschied zur Zahl 24 kann die Zahl 40 nur erreicht werden, wenn man der Strophe zehn Zeilen gibt und den zweiversig gezählten Schluß als zäsurierte Langzeile liest. So gewinnt Huisman eine zehnzeilige Strophe.64 Auf 40 Takte kommt man nur dann, wenn man die Schlußzeile entweder 57 58
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Vgl. Schweikle [Anm. 40], S. 670. Vgl. Johannes Alphonsus Huisman, Neue Wege zur dichterischen und musikalischen Technik Walthers von der Vogelweide. Mit einem Exkurs über die symmetrische Zahlenkomposition im Mittelalter. Diss. Utrecht 1950, S. 51. Vgl. A. T. Hatto und R. J. Taylor, Recent Work on the Arithmetical Principle in Medieval Poetry, in: MLR 46 (1951), S. 396–403, hier S. 398 f.; R. J. Taylor, Besprechung von Huisman [Anm. 58], in: AfdA 65 (1951/52), S. 115–118, hier S. 116. Vgl. Cormeau [Anm. 38], S. 120 f. Vgl. Heinen [Anm. 18], S. 196. Vgl. Schweikle [Anm. 40], S. 426–428. Vgl. Walther von der Vogelweide, hg. und erklärt von Wilhelm Wilmanns, 4., vollst. umgearb. Aufl., besorgt von Victor Michels (Germanistische Handbibliothek I,2), Halle a. d. S. 1924, S. 233, mit der Begründung, der Abgesang werde mit einem Sechser abgeschlossen. Vgl. Huisman [Anm. 58], S. 52 f., zu den zäsurierten Schlußversen, bei denen er zweimal Kadenzentausch vorsieht und einmal konjizieren muß.
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mit zweifacher stumpfer Kadenz liest (4w + 4s bei Hatto/Taylor ist unverständlich, zumal w nur für Str. IV gelten kann) oder als 4s + 4mv wie Schirmer, der den problematischen Text Huismans übernimmt.65 Wenn nur auf diese Weise die 40 Verse und 40 Takte gewonnen werden können, wird man wohl Skepsis auch gegenüber der Semantisierbarkeit der dann gleichsam in der Luft hängenden Zahl 24 anmelden wollen. Der Ertrag für die Kadenzdiskussion beschränkt sich auf die Beobachtung, daß die Kadenz der weiblich endenden Verse bei folgender Auftaktlosigkeit als w zu werten ist; die Existenz stumpfer Endungen ist für dieses Lied zwar wahrscheinlich zu machen, aber nicht zu sichern: Minne haˆt sich an genomen, daz si geˆt mit toˆren umbe springent als ein kint. (58,3–5)
Die Kriterien, die anhand von fünf Walther-Tönen für die Ansetzung einer bestimmten Kadenz geltend gemacht worden sind, müssen im folgenden auf den Prüfstand gestellt werden. Dabei ist auch, in Fortsetzung und Weiterführung der hier zu 57,23 ff. vorgebrachten Kritik, auf grundsätzlich Problematisches einzugehen.
IV Strenge Auftaktregelung in einem Ton läßt auf einen spezifischen Formwillen des Autors schließen. Folgt Auftakt auf einen weiblich endenden Vers, wäre dessen Schluß bei Ansetzung einer weiblichen Kadenz stets überfüllt, während sich bei klingender Kadenz plus Auftakt Synaphie einstellt. Dies ist der Fall beim Kreuzlied und im Reichston. Umgekehrt verlangt durchgehende Auftaktlosigkeit des Folgeverses eine weibliche Kadenz, so bei den Liedern 40,19 ff. und 51,13 ff. Ebenfalls in dieses Schema paßt 57,23 ff. (III,6 wäre auftaktlos als s’ist zu lesen). Begnügt man sich bei derartig klaren Fällen mit der Kuhnschen Notierung, verschenkt man die Chance, der rhythmischen Eigenart eines Textes auf die Spur zu kommen, und das Schema bleibt absolut nichtssagend. Für 34 von 50 Walther-Tönen hat Schirmer »ein deutlich wahrnehmbares harmonisches Verhältnis von Auftaktregelung und Kadenzwertung« festgestellt.66 Angesichts der stellenweise problematischen Metrisierungen Schirmers wäre die Zahl noch einmal genau zu überprüfen, was in diesem Rahmen nicht geschehen kann. Von einem anderen Erkenntnisinteresse her zählt Vogt unter Walthers Liedern 20 »trochäische« (d. h. auftaktlose) und 16 »jambische« (d. h. mit Auftakt).67 Wie für Schirmer ist auch für Heinen regelmäßiger Auftakt bzw. sein regelmäßiges Fehlen Kriterium für die Kadenzwertung.68 Wichtig ist die Regelmäßigkeit oder zumindest das deutliche Überwiegen einer der beiden Möglichkeiten. Bertaus Argument gegen das Auftaktkriterium: »es gibt wv-Kadenzen, denen Auftakt folgt, und es gibt k-Kadenzen vor Hebung«69 sollte daher nicht in aller Radikalität gelten. 65 66 67 68 69
Vgl. Schirmer [Anm. 42], S. 90. Ebd., S. 169. Vogt [Anm. 6], S. 193. Vgl. Heinen [Anm. 18], S. XX. Karl Heinrich Bertau, Sangverslyrik. Über Gestalt und Geschichtlichkeit mittelhochdeutscher Lyrik am Beispiel des Leichs (Palaestra 240), Göttingen 1964, S. 52.
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Daß durchgängiger Auftakt bisweilen nicht konsequent beachtet wird (wie bei Walthers Reichston), hat seinen Grund darin, daß man das Phänomen der schwebenden Betonung70 negiert und als Erfindung der Metriker belächelt. Dabei hat Friedrich Ranke bei seiner Analyse der ‘Tristan’-Verse den Nachweis erbracht, daß Versen mit und und einer weiteren unbetonten Silbe in der ersten Senkung wie leˆre unde geleite solten geben (V. 70) kein sicherer Fall mit Auftakt (z. B. *mir leˆre und geleite solten geben) gegenübersteht und daß auch im Vergleich zu Fällen mit aller oder hœret im Auftakt entsprechende Verse mit sicherem Auftakt, der aller und hœret zu Hebung und Senkung machte, fast durchweg fehlen.71 So ist die »›Doppeltonigkeit‹ des Verseingangs«72 als Kunstmittel gesichert. Das Problem der stumpfen Kadenz ist im Zusammenhang mit dem Viertakterprinzip zu behandeln. Der Viertakter herrscht in der mittelhochdeutschen Reimpaarepik und ist das verbreitetste Bauelement des Kirchenliedes und des Volksliedes.73 (Die klingende Kadenz übrigens wird, soweit ich sehe, für den Reimpaarvers auch von denen nicht angezweifelt, die in der Lyrik nur die sprachlich verwirklichten Hebungen zählen; das sollte zu denken geben.) Das Überwiegen der Geradtaktigkeit mit dem Viertakter als prominentester Erscheinung wird auch von unverdächtigen, das Sprechmetrum an der Melodie kontrollierenden Forschern »einem ausgeprägten Sinn für rhythmische Perioden« zugeschrieben.74 Ob es sich »der tiefen Verwurzelung des Viertakterprinzips im germanischen rhythmischen Empfinden«75 verdankt, sei dahingestellt.76 Letztlich gehört auch die generalisierende Feststellung des Linguisten Theo Vennemann in diesen Zusammenhang, für den die altdeutsche wie die neuere deutsche Metrik »natürlich-gewachsene Metriken« sind und der meint, »daß 70
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74 75 76
Der eher pejorative Terminus ›Tonbeugung‹ ist hier tunlichst zu vermeiden. Statt von ›schwebender‹ spricht man auch von ›versetzter Betonung‹. Vgl. auch Christian Wagenknecht, Zum Begriff der Tonbeugung, in: Meter, Rhythm and Performance – Metrum, Rhythmus, Performanz, hg. von Christoph Küper (Linguistik International 6), Frankfurt a. M. u. a. 2002, S. 59–74, hier S. 71: ›beschwerte Senkung‹. Nach Heusler [Anm. 2], Bd. 1, S. 60, empfinden wir Starkton im Auftakt nicht als Tonbeugung; Bd. 2, S. 106 f., spricht er aber selbst von »Tonbeugung und Anlaß zu schwebender Betonung«. Vgl. Friedrich Ranke, Zum Vortrag der Tristanverse, in: FS Paul Kluckhohn und Hermann Schneider, hg. von ihren Tübinger Schülern, Tübingen 1948, S. 528–539, hier S. 534 f. und S. 537. Zur schwebenden Betonung vgl. auch Ulrich Pretzel, Deutsche Verskunst, mit einem Beitrag über altdeutsche Strophik von Helmuth Thomas, in: Deutsche Philologie im Aufriß, 2., überarb. Aufl., hg. von Wolfgang Stammler, Bd. 3, Berlin 1962, Sp. 2357–2546, hier Sp. 2501–2518; Beispiele aus mhd. Dichtung Sp. 2514–2516. Skepsis zur schwebenden Betonung beim Typus hœret äußert Hoffmann [Anm. 21], S. 67. Ranke [Anm. 71], S. 536. Vgl. Paul und Glier [Anm. 4], S. 56 f. (zum Reimpaarvers), S. 105 (zum Kirchenlied), S. 112 und 114 (zum Volkslied und seiner Strophe). Bertau [Anm. 69], S. 105. Schirmer [Anm. 42], S. 43, ähnlich S. 166. Schlawe [Anm. 2], S. 42, muß wegen seiner Ablehnung des Taktbegriffs den Vierheber bemühen: »Die allerdings offenkundige Vorliebe für den 4-Heber ist ein besonderer Fall unserer psychisch fundierten Vorliebe für Geradzahligkeit, unserer Auf-Ab-Erwartung«.
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alle ihre Eigenschaften lediglich Stilisierungen von Eigenschaften der zugrunde liegenden Alltagssprache sind, die die nativen Sprecher aufgrund ihres nativen Sprachverständnisses erkennen und deren Stilisierung sie aufgrund ihres allgemeinen, schon ab dem Kleinkindalter eingeübten Kunstverständnisses erwarten«.77 Vermutlich hat das Kleinkind des Mittelalters Hoppe hoppe Reiter noch nicht gekannt, wird aber bei sizi, sizi, bina / inbot dir Sancte Maria von seinem Kunstverständnis zweifelsfrei zum korrekten Hersagen eines Viertakters mit klingender Kadenz geführt worden sein! Leif Ludwig Albertsen, der die Existenz von Viertaktern im Mittelalter natürlich nicht leugnen kann,78 verortet »Das Denken in vier plus vier Takten« (so die Kapitelüberschrift) im 18. und 19. Jahrhundert; davon zu unterscheiden sei ein »Rückprojizieren des Denkens« auf Texte aus Zeiten, die derart genaue Pausen wie im Kirchenlied ‘Nun danket alle Gott’ »selber bestimmt nicht machten, es erst in nachträglicher Interpretation tun«.79 Damit spricht Albertsen das Stichwort der stumpfen Kadenz an. Hatte noch Helmuth Thomas im Kontext der mittelhochdeutschen Strophik davor gewarnt, aus dem Vorwiegen vierhebiger Verse notwendig zu folgern, daß kürzere Verse entweder pausiert oder (bei weiblicher Endung) mit klingender Kadenz zu lesen seien,80 so stellt Christoph Küper generell fest: »Taktierende dreihebige Verse enden in der Regel nicht mit einem Enjambement, sondern mit einem deutlichen Einschnitt, der eine Pause ermöglicht (die zum Atemholen genutzt werden kann)«.81 Und er erhebt die Feststellung geradezu zu einem Postulat: Dreihebige Verse könnten nur dann, wenn sie auf vierhebige folgen, »unzweideutig als viertaktig wahrgenommen werden«.82 Kirchenlieder, Volkslieder, Kinderreime, Märsche, Wanderlieder wissen davon, doch werden sich die modernen Hebungszähler davon überzeugen lassen, daß dieses Phänomen auch schon im Mittelalter existent war?83 Unter den Waltherschen Tönen zeigt eine nicht geringe, aber auch nicht übermäßig große Zahl durchweg oder ganz überwiegend Viertaktigkeit. Abgesehen von solchen, die für das hier zur Debatte stehende Kadenzproblem nicht relevant sind, wie z. B. das Vokalspiel 75,25 ff., dessen Verse mv enden, seien genannt: das Palästinalied 14,38 ff. und die Lieder 44,35 ff. und 110,27 ff. mit Kadenzen auf w und mv; der Reichston 8,4 ff., der Meißnerton 105,13 ff. und das Lied 94,11 ff. mit k und mv Kadenzen; schließlich das Kreuzlied 76,22 ff., der 1. Atzeton 103,13 ff. sowie die Lieder 51,13 ff. und 57,23 ff., bei denen allesamt stumpfe Kadenz am Periodenende zu po77 78
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82 83
Vennemann [Anm. 17], S. 221. Vgl. Leif Ludwig Albertsen, Neuere deutsche Metrik (Germanistische Lehrbuchsammlung 55b), Bern u. a. 1984, S. 58 f. Ebd., S. 45 und 48 f. Vgl. Pretzel und Thomas [Anm. 71], Sp. 2439. Christoph Küper, Sprache und Metrum. Semiotik und Linguistik des Verses, Tübingen 1988, S. 276. Ebd., S. 281. Vgl. Bertau [Anm. 69], S. 97, der betont, für den Nachweis der Unterfüllung auch im mhd. Sangvers bedürfe es eigener Kriterien. Eindeutige Fälle, in denen »Melodieanalogien derartige Zeilenverkürzungen erweisen«, stellt er neben wahrscheinlichen und möglichen S. 97– 100 vor.
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stulieren ist. Herausgegriffen sei der 1. Atzeton, bei dem an zwei Stellen »Satz und Gedanke« die durch die stumpfe Kadenz geforderte Pause zu überspielen scheinen.84 Beide Fälle finden sich an derselben Strophenstelle, nach V. 12: und merke, ob sich ein dorn mit kündekeit dar breite (103,24 f.) daz im den vinger abe gebizzen haˆt ze schanden.
(104,18 f.)
Muß man, wenn in zwei von drei Strophen derart offensichtlich Enjambement und Synaphie vorliegen, nicht von der Forderung einer stumpfen Kadenz absehen? Oder dient die Pause vielmehr expressiv dem Verständnis des Inhalts, wird durch sie »eine besondere Spannung beabsichtigt und erzielt«?85 Die beiden stumpfen Kadenzen haben eine je spezifische rhythmische Qualität. Die Pause nach dorn – malt sie nicht geradezu raffiniert das seinerseits raffinierte (mit kündekeit) Sich-Anschleichen des feindlichen, gefährlichen dornes aus? Derselbe Effekt würde erreicht, wenn man das Wort dorn, was bei abe nicht möglich ist, über anderthalb Takte hinweg dehnte: Hervorhebung der Gefahr. Eine komische Wirkung dagegen erzielt die Pause nach abe. Was das Pferd dem Finger angetan hat, wird schon durch den ersten Vers klar; durch die Pause jedoch wird der Vorgang regelrecht ausgekostet: der abgebrochene Satz, der abgebissene Finger. Andere Fälle sind zu vereinzelt, als daß man der Pause jedesmal affektive Qualität zusprechen könnte. Zwei Beispiele aus den hier einschlägigen Liedern seien wenigstens genannt: Im Vers Muget ir umbe sehen? (52,19) aus dem Mailied gibt die Pause ebenso Zeit, sich umzusehen, wie im Vers daz ich sitzen geˆ (58,14), sich niederzulassen. Ein weiteres Problem, das anläßlich der metrischen Analyse einiger Walther-Töne zur Sprache kam, ist das der Zeilen- und Taktzahlen einer Strophe oder eines Tons. Hatten sich beim Reichston die Zahlen 100 und 300 ohne Anstrengung ergeben, so konnte beim Lied 57,23 ff. nur die Zahl 24 gesichert werden, während die Zahl 40 und damit das ganze Zahlenspiel zweifelhaft bleiben mußte. Für Walthers Elegie 124,1 ff. bezieht Huisman die 33 Halbverse pro Strophe auf die Lebensjahre Christi; bei den Hebungen kommt er auf 33 × 3 je Strophe zusätzlich einer ›Plushebung‹ im vorletzten Halbvers = 100, für den gesamten Ton mithin auf 300 Hebungen (dieselben Zahlen also wie beim Reichston, woraus dieselbe Ausdeutung folgt).86 Nach Tschirch ergibt sich, wenn man der Überlieferung folgt, die am Schluß der Elegie keine Wiederholung des Kehrreims bietet, »die symbolerfüllte Zahl 98 (als 2 × 72)«.87 Die Rechnung mit Hebungen (nicht die mit Halbversen) geht freilich 84
85 86
87
Friedrich Maurer, Die politischen Lieder Walthers von der Vogelweide, Tübingen 21964, S. 41. Ebd. Vgl. Huisman [Anm. 58], S. 50 f. Vgl. auch Hatto und Taylor [Anm. 59], S. 399, mit der präziseren Angabe »(32 × 3) + (1 × 4)«. Tschirch [Anm. 45], S. 220 f.
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nur im gewünschten Sinne auf, wenn man sich für das Maß des Elegieverses von der Nibelungen-Langzeile als Achttakter verabschiedet. Einen Kernbereich von Schirmers Strophenuntersuchung stellt der auf Zeilen und Takten beruhende Nachweis von zahlenkompositorischen Strukturen dar. Für 18 von 88 Tönen Walthers glaubt Schirmer die Identität von Taktzahl einer Strophe und Verszahl des Gesamttons feststellen zu können.88 Völlig unproblematisch sind davon nur sechs Fälle: 30 Takte/Verse in 72,31 ff.; 32 in 112,35 ff.; 35 in 109,1 ff.; 40 in 44,35 ff.; 48 in 92,9 ff.; 80 in 76,22 ff. (72,31 ff. und 92,9 ff. sind in unserem Zusammenhang besonders verträglich, da sie nur mv Kadenzen haben). Bei den übrigen Liedern (57,23 ff. ist schon oben besprochen; das in metrischer Hinsicht höchst umstrittene Lindenlied 39,11 ff. soll hier außer Betracht bleiben) ist z. T. die Verszahl, z. T. die Zahl der Takte strittig. Für die Strophe des Liedes 47,36 ff. ist die Taktzahl 60 unschwer zu erreichen,89 12 Verse pro Strophe (und damit 60 Verse im Lied) ergeben sich nur dann, wenn man die beiden Schlußverse als lange Zeile oder Langzeile liest, wogegen nichts zu sprechen scheint.90 Anders verhält es sich beim Lied 13,33 ff., wo für eine siebenzeilige Strophe und damit für die Kongruenz von Strophentaktzahl und Gesamtverszahl V. 6 und 7 zu einer Langzeile zusammengefaßt werden müßten, was die Reimpunktsetzung der Hss. aber offenbar nicht nahelegt.91 40 Verse bei MF 214,34 ff. erreicht Schirmer, indem er die Waisenzeile und den Folgevers zu einer Langzeile kombiniert (hinsichtlich der Kadenzen stellt das Lied einen vor keine Schwierigkeiten, da alle Verse mv enden).92 50,19 ff. ist in zwei Handschriften, C und E, als vierstrophiges Lied mit 32 Versen überliefert; die fünfstrophige Fassung bei Cormeau ist ein Konglomerat. Um auf 32 Takte pro Strophe zu kommen, muß man einen unterfüllten Vers ansetzen, was Hatto am Strophenende tut,93 einem Ort, an dem man am ehesten mit stumpfer Kadenz rechnen kann. Schirmer bezeichnet dies als »eine überflüssige Pause«, steht aber selbst nicht an, den vorletzten Vers als unterfüllt zu werten. Die so gewonnenen 32 Takte sieht er mit klassischer petitio principii durch die Gesamtverszahl bestätigt.94 Klingende Endung der Stollenverse und eine stumpfe Kadenz am Strophenschluß muß Schirmer ansetzen, um für die Strophe des Liedes 64,31 ff. eine der Gesamtverszahl 40 entsprechende Taktzahl zu erreichen.95 Die Verse des Aufgesangs weisen jedoch fast durchgängig Synaphie auf, so daß sie mit weiblicher Kadenz zu lesen sind.96 Für das 30zeilige Lied 113,31 ff. sind 30 Takte pro Strophe dann zu erzielen, wenn man den Schlußvers als 8s oder, mit Schir88 89
90
91 92 93 94 95 96
Vgl. Schirmer [Anm. 42], S. 94 f. Vgl. auch A. T. Hatto, On Beauty of Numbers in Wolfram’s Dawn Songs (An Improved Metrical Canon), in: MLR 45 (1950), S. 181–188, hier S. 182. Vgl. den Abdruck der verschiedenen Fassungen bei Heinen [Anm. 18], S. 176–179; zur Ansetzung von Kurzzeilen, langen Zeilen und Langzeilen generell vgl. ebd., S. XXI. Vgl. ebd., S. 150 f. Vgl. Schirmer [Anm. 42], S. 84. Vgl. Hatto [Anm. 89], S. 182, der allerdings 36 Takte zählt. Schirmer [Anm. 42], S. 48. Vgl. ebd., S. 49. So auch schon Hatto [Anm. 89], S. 182. Vgl. Heinen [Anm. 27], S. 85 f.
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mer,97 8mv auffaßt. 40 als Strophentaktzahl und Gesamtverszahl haben nach Schirmer die Lieder 43,9 ff., 100,24 ff. und 119,17 ff.98 Allen drei ist gemeinsam, daß einem Versschluß auf w häufig Auftakt folgt, was sprechmetrisch betrachtet als unschöne Überfüllung zu werten ist, von der Melodieüberlieferung derartiger Fälle her aber offenbar kein Problem darstellt.99 Das Lied 54,37 ff. ist hier nicht zu diskutieren, da Schirmer seiner Analyse die fünfstrophige Version bei v. Kraus zugrunde legt.100 Angefügt sei (soweit nicht schon oben verzeichnet) das metrische Schema derjenigen Lieder, für die eine Kongruenz von Strophentaktzahl und Gesamtverszahl in Frage kommt (die Reihenfolge entspricht der ihrer Erwähnung im Text): 72,31 ff.: 112,35 ff.: 109,1 ff.: 44,35 ff.: 92,9 ff.:
5mva (A)4mvb : (A)4mvc A8mvc 5wa 4mvb : 4mvc (A)4wd 2wd 4mvc 6wa 5mvb : 4mvc 4wd 2wd+3mvc A4wa 4mvb A4mvb A4wa 4wc (A)4wc 4mvd 4we 4we 4mvd A4mva A4mvb : A4mvc A4mvd A4mvc A4mvd A4mve A4mve A4mvf A4mvf 47,36 ff.: A6mva 6kb : 4mvc 4wd 4mvc 4wd 4mve 4mve 4kf A4kx+A4wf101 (oder: A3wx+A5kf; oder: A8kf) 50,19 ff.: 3wa 5mvb : 3wc 3wc 4mvd 6sd 113,31 ff.: 4wa 5mvb : 4mvc (A)8sc 43,9 ff.: A4mva A5mvb : A4mvc (A)2wx A4mvc (A)4mvd A4mvx A4mvd 100,24 ff.: A4mva A4mvb : 4wc (A)4w(mv)x (A)4wc A4mvd A4mvx A4mvd 119,17 ff.: A4mva A4mvb : 4wc102 A4wc Die Nachprüfung hat ergeben, daß zu den sechs sicheren Fällen, in denen die Zahl der Takte einer Strophe mit derjenigen der Verse des Liedes übereinstimmt, eine gute Handvoll möglicher oder wahrscheinlicher getreten ist. Das scheint kein entmutigender Befund zu sein und Hattos These, die Minnesänger hätten zuerst die Gesamtzahl der Takte eines Liedes festgelegt,103 das Odium haltloser Spekulation zu nehmen. Bertau freilich ist davon überzeugt, daß keinem jener Dichter »der Begriff des Taktes oder der Hebung verfügbar gewesen« ist,104 und er hat anhand der Lieder Neidharts 97
Vgl. Schirmer [Anm. 42], S. 87 mit Anm. 23. Vgl. ebd., S. 91 f. Zu 100,24 ff.; vgl. auch schon Hatto [Anm. 89], S. 182. 99 Vgl. Bertau [Anm. 69], S. 54 f., der überdies zeigt, daß w plus Auftakt nicht als Senkungsspaltung, sondern als Takterweiterung zu werten ist. 100 Vgl. Schirmer [Anm. 42], S. 83. 101 Kadenzentausch ist in der mhd. Lyrik nicht selten; dazu siehe auch unten. 102 Der regelmäßige Auftakt in V. 6 würde für V. 5 klingende Kadenz nahelegen. Dagegen spricht jedoch II,5 f.: Im wart von mir in allen gaˆhen / ein küssen und ein umbevaˆhen. Der durch die klingende Kadenz bewirkte Stau wäre für in allen gaˆhen kontraproduktiv. 103 Vgl. Hatto [Anm. 89], S. 181. 104 Bertau [Anm. 69], S. 104. Vgl. jedoch Werner Schröder, Besprechung von Bertau, in: ZfdPh 84 (1965), S. 625–637, hier S. 628: »wenn die Sache da ist, will das Fehlen eines mittelhochdeutschen Namens für Hebung oder Takt nicht allzu viel besagen«. 98
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eine Rechnung aufgemacht, die besagt, daß sich angesichts einer großen Mehrheit von 4- oder 8-taktigen Zeilen und einer immer noch beträchtlichen Zahl von 6-taktigen besonders oft Summen ergeben, die sowohl durch 4 als auch durch 6 oder 8 teilbar sind, und daß solchermaßen »die bevorzugten Taktsummen alles Wunderbare« verlieren.105 Skepsis gegenüber der zahlenkompositorischen Auswertung von Takten zeigt sich auch anderwärts;106 sie reicht bis hin zur Negierung der Tauglichkeit von Zahlensymbolik und -komposition für metrische und textkritische Belange bei Heinen.107 Bei allen berechtigten Zweifeln an zahlenkompositorischen Ergebnissen, die erst durch die Ansetzung von Pausen im Stropheninnern zustande kommen, bleiben doch als nicht wegzudiskutierende Beispiele der Reichston und das Kreuzlied. Beispiele, die dazu ermutigen, auf induktivem Wege plausible Kadenzen zu ermitteln und in einem nächsten Schritt nach dem Verhältnis von Takt- und Verszahlen zu fragen. Ergibt sich eine Konformität beider, steht es der Interpretation offen, sie als bedeutungsvoll auszumachen oder für zufällig zu halten (was aber nicht lediglich zu behaupten, sondern wahrscheinlich zu machen wäre).
V »Daß klingende Kadenzen keine Erfindung der Metriker sind«,108 sollten die bisherigen Ausführungen geklärt haben. Dieser Befund kann untermauert werden sowohl durch Beobachtungen an Melodien zu mittelalterlichen Texten als auch durch den Vergleich melodielos überlieferter Strophen. »Häufige Melodieparallelen von klingenden und männlichen Zeilen« kann Bertau feststellen,109 aber auch den Fall, daß »eine Zweitonverbindung sowohl über einsilbig-männlichem als auch über gespaltenmännlichem und weiblich-vollem Versschluß steht«.110 Den Beleg für die eingangs dieses Abschnitts zitierte Feststellung findet Pickerodt-Uthleb denn auch im Kadenzentausch, den z. B. die Melodie zu einem Text Reinholds von der Lippe zeigt, die 105
Karl Heinrich Bertau, Besprechung von The Songs of Neidhart von Reuental, hg. von A. T. Hatto und R. J. Taylor, Manchester 1958, in: AfdA 72 (1960/61), S. 23–35, hier S. 34 f. Vgl. auch Bertau [Anm. 69], S. 105, sowie Burkhard Kippenberg, Der Rhythmus im Minnesang. Eine Kritik der literar- und musikhistorischen Forschung mit einer Übersicht über die musikalischen Quellen (MTU 3), München 1962, S. 21 f. 106 Vgl. z. B. zur häufigen Ansetzung von Pausen bei Schirmer: Olive Sayce, Besprechung von Schirmer [Anm. 42], in: Medium Aevum 27 (1958), S. 30–33, hier S. 31; George Nordmeyer, Besprechung von Schirmer, in: JEGP 58 (1959), S. 475–479, hier S. 478. Schirmer selbst räumt später auch die Möglichkeit ein, einen Takt zu zerdehnen, statt eine Pause anzusetzen; vgl. Schirmer [Anm. 50], S. 40. Die Gefahr der »Willkür« beim Zählen von Takten sieht auch Neumann [Anm. 14], S. 379; vgl. auch Michael S. Batts, Numerical Structure in Medieval Literature, in: Werbow [Anm. 27], S. 93–121, hier S. 105–107; Hoffmann [Anm. 21], S. 100. 107 Vgl. Heinen [Anm. 27], S. 86. 108 Pickerodt-Uthleb [Anm. 19], S. 39. 109 Bertau [Anm. 69], S. 29. Fast unnötig, anzumerken, daß Bertau die Existenz klingender Kadenzen nirgends in Frage stellt. 110 Ebd., S. 54.
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sowohl für eine männlich als auch für eine weiblich endende Verszeile verwendet wird.111 Auch dann, wenn nur der Text überliefert ist, kann nach Olive Sayce die klingende Kadenz »be seen most clearly in metrical structures in which the cadence alternates«.112 Am Kadenzentausch kommt niemand vorbei, auch diejenigen nicht, die nur die sprachlich realisierten Hebungen zählen. Doch bei ihnen siegt wieder das Schema: Wagenknecht rechnet durchaus mit Kadenzentausch – »zumal zwischen 3wund 4m-Versen«,113 und bei Brunner kann man zu Ton II des Kürenbergers lesen: »statt dreihebiger können auch vierhebige An- und Abverse bzw. zweihebige Abverse stehen, statt weiblicher finden sich auch männliche Kadenzen, anstelle des vierhebigen Abverses am Strophenschluß finden sich auch dreihebige Abverse«.114 Als erfreulich dagegen ist zu notieren, daß man in einer neueren Einführung für Studium und Lehrpraxis zum Kadenzentausch im dritten Anvers dieses Kürenberger-Tons (vgl. in Kürenberges wıˆse MF 8,5 gegen soˆ laˆ du dıˆniu ougen geˆn MF 10,5)115 lesen kann: »Dies ist ein Beweis dafür, daß die klingende Kadenz hier tatsächlich einen Vierheber ausmacht und nicht etwa einen weiblichen Dreiheber!«116 Schließlich können auch Kadenzen in den seltenen sicheren mittelhochdeutschen Kontrafakturen zu provenzalischen oder altfranzösischen Liedern mit Hilfe überlieferter Melodien bestimmt werden. So zeigt die dem Lied ‘Ma joie premerainne’ des Guiot de Provins beigegebene Melodie, daß die weiblichen Kadenzen in Friedrichs von Hausen Kontrafaktur ‘Ich denke underwıˆlen’ als klingend zu werten sind.117
VI Im Zusammenhang mit der stumpfen Kadenz soll noch ein kurzer Blick auf den Alexandriner geworfen werden, dessen metrisch-rhythmisches Bild in der neueren deutschen Metrik ebenso kontrovers diskutiert wird wie jene Kadenz von der Mediävistik. Nicht nur in älteren Lehrbüchern wird er als Sechstakter dargestellt, wie Erwin Arndt angibt, der ihn als verdoppelten »Viertakter, der immer nur drei Hebungen sprachlich verwirklicht«, betrachtet.118 Auch heute noch ist die von Arndt 111
Vgl. Pickerodt-Uthleb [Anm. 19], S. 39. Olive Sayce, The Medieval German Lyric 1150–1300. The development of its themes and forms in their European context, Oxford 1982, S. 478. 113 Wagenknecht [Anm. 10], S. 56. 114 Brunner [Anm. 8], S. 196. 115 Zitiert nach: Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearbeitet von Hugo Moser und Helmut Tervooren, Bd. 1: Texte, 38., erneut revidierte Aufl. Mit einem Anhang: Das Budapester und Kremsmünsterer Fragment, Stuttgart 1988. 116 Taubert [Anm. 26], S. 97. Bedauerlich ist auf der anderen Seite, daß Taubert diesen »Beweis« nur für die »frühhöfische Epoche« gelten läßt, bei »allen hochhöfischen Strophen« jedoch, wie schon erwähnt, die deskriptive Methode empfiehlt. 117 Vgl. Räkel [Anm. 15], S. 72. 118 Erwin Arndt, Deutsche Verslehre. Ein Abriß, 12., durchges. Aufl., Berlin 1990, S. 163. Dieselbe Wertung erfährt der Vers bei Daniel Frey, Einführung in die deutsche Metrik mit Gedichtmodellen für Studierende und Deutschlehrende (UTB 1903), München 1996, S. 12 und 72.
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abgelehnte Ansicht verbreitet, wie die maßgebliche Metrik Christian Wagenknechts und eine neuere Einführung von Hans-Dieter Gelfert zeigen, die den Alexandriner als Sechstakter mit Zäsur nach der dritten Hebung bezeichnen.119 Als Verirrung, ja als Verhängnis geißelt Albertsen »das aus dem Viertaktevers inspirierte Umskandieren« des Verses, das er im 18. Jahrhundert verortet, wo man den Alexandriner »mit einer lächerlichen Zäsur in der Länge von zwei Silben mitten in jedem Vers versehen« habe.120 Allein das Zugeständnis einer Zäsur nach der dritten Hebung des angeblichen Sechstakters impliziert ja, daß der Sechserrahmen gesprengt wird und man wenigstens einen Siebentakter anzusetzen hätte. Von einer Umskandierung im 18. Jahrhundert kann zudem keine Rede sein, wenn man etwa die Anweisung zur Kenntnis nimmt, die Diederich von dem Werder in der Vorrede zu seiner Übersetzung von Tassos ‘Gerusalemme liberata’ (1626) an den Leser richtet: Er solle in der Mitte des Verses »mit dem lesen etwas innehalten«, damit der Vers mit seinem »gehörigen maß gelesen werden könne« und – das klingt wie eine vorweggenommene Absage an die modernen Zähler sprachlich realisierter Hebungen – »nit eben nach denen gezeichneten strichlein vnd puncten«.121 Solchermaßen historisch fundiert, sollte der Alexandriner mit Heusler wieder als »Achttakterlangzeile« oder verdoppelter Viertakter verstanden werden: A4s A4k(s), was auch aus dem 17. Jahrhundert stammende Melodien von Kirchenliedern wie ‘Nun danket alle Gott’ und ‘O Gott, du frommer Gott’ belegen.122 Ein Wandel im metrischen Verständnis des Alexandriners durch die Dichter scheint tatsächlich stattgefunden zu haben, wenn auch anders, als Albertsen es behauptet. Ursprünglich sei er ein »ungebrochener Sechstakter« gewesen, stellt Pretzel fest; im Barock habe sich die feste Zäsur eingestellt und den Vers dadurch zum Achttakter gewandelt.123 Und Mohr kommt zum Ergebnis, der Alexandriner sei solange kein ›Hexameter‹, »wie die Fuge, die An- und Abvers trennt, von den Dichtern streng beachtet wird; wenn das nicht geschieht, wird er zum Sechsheber mit einer gelegentlichen Zäsur in der Mitte«.124 Gliers Bedenken gegen eine schematische Festlegung der Taktpause (»da die syntaktische Gliederung einen solch regelmäßigen scharfen Einschnitt oft nicht erlaubt«) brauchen nicht dazu zu führen, »die rhythmisch neutrale Beschreibung (Hebungen) [. . .] vorzuziehen«,125 es genügt, sich bewußt zu halten, daß der Taktbegriff in der Metrik sich vom musikalischen Verständnis des Taktes darin unterscheidet, daß er nur »den etwa gleichen Zeitabstand von Hebung [. . .] zu Hebung«, »die ungefähre Gleichheit«126 bezeichnet. 119
Vgl. Wagenknecht [Anm. 10], S. 156; Hans-Dieter Gelfert, Einführung in die Verslehre (RUB 15037), Stuttgart 1998, S. 80. 120 Albertsen [Anm. 78], S. 78 und 79. 121 Vgl. Nicola Kaminski, EX BELLO ARS oder Ursprung der »Deutschen Poeterey« (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 205), Heidelberg 2004, S. 539 Anm. 314, wonach auch zitiert ist. 122 Heusler [Anm. 2], Bd. 3, S. 162 f. 123 Pretzel und Thomas [Anm. 71], Sp. 2480. 124 Mohr [Anm. 2], S. 806. 125 Paul und Glier [Anm. 4], S. 124. 126 Arndt [Anm. 118], S. 78 f. mit Anm. 2; vgl. auch Bertau [Anm. 69], S. 56.
Versus de despectu sapientis Ein Einblick in die lateinisch-deutsche Literaturszene um 1200* von Henrike Lähnemann
Die Handschrift Ms C 58 der Zentralbibliothek Zürich aus der Zeit um 1200 ist eine der großen Unbekannten in den Siglensammlungen germanistischer Editionen.1 Dabei handelt es sich um einen Glücksfall der Überlieferung: Eine umfangreiche, von einem einzigen Sammler und Schreiber angelegte und sorgfältig redigierte Handschrift, die Verse, Prosastücke und Glossen des späten 12. Jahrhunderts in ihrer Entstehungszeit festhält. Die deutschen Stücke sind keine Nachträge, sondern konsistent über 22 Quaternionen gemeinsam mit jeweils gattungsähnlichen lateinischen Texten niedergeschrieben. Die fünfte bis 22. Lage haben als Codex überlebt, aus den ausgetrennten ersten vier Lagen haben sich erst kürzlich zwei Doppelblätter und ein Einzelblatt wieder angefunden,2 so dass jetzt ein Kompendium von 190 Blättern Einblick * Eine Frühfassung dieses Aufsatzes wurde im Wintersemester 2005/06 im Oberseminar der Tübinger mediävistischen Abteilung präsentiert. Paul Sapplers, wie immer, scharfsinnige und philologische Anmerkungen ermutigten mich, dem Thema weiter nachzugehen. Ich widme ihm den Aufsatz in Dankbarkeit für mehr als neun Jahre kollegialer Nachbarschaft auf dem 4. Stock des Brecht-Baus. 1 Die Handschrift wird als Sigle in Ausgaben für althochdeutsche Glossen, Predigten, Zaubersprüche, Arzneibücher, Gebete, das ‘Summarium Heinrici’, althochdeutsche poetische Texte und ›Minnesangs Frühling‹ angeführt. Eine Übersicht über die deutschen Bestandteile der Handschrift und ihre Editionen findet sich im ›Marburger Repertorium des 13. Jahrhunderts‹ (http://www.mr1314.de/1282). Lateinische Bestandteile der Handschrift wurden von dem Zürcher Mittellateiner Jakob Werner 1905 veröffentlicht, der sich angesichts der schieren Masse der Klein- und Kleinsttexte – sein Verzeichnis zählt 381 Einzelstücke – auf nicht edierte Texte konzentrierte: Jakob Werner, Beiträge zur Kunde der lateinischen Literatur des Mittelalters, 2., durch einen Anhang vermehrte Ausg., Aarau 1905, S. 1–151, 197– 206. Neuere Ergänzungen zum lateinischen Bestand bei Jean-Yves Tilliette, Le sens et la composition du florile`ge de Zurich (Zentralbibliothek, ms. C 58). Hypothe`ses et propositions, in: Non recedet memoria eius. Beiträge zur lateinischen Philologie des Mittelalters im Gedenken an Jakob Werner (1861–1944), hg. von Peter Stotz, Bern 1995, S. 147–167. 2 Eine Veröffentlichung der neugefundenen Fragmente ist im Rahmen einer größeren Studie zum kulturgeschichtlichen Hintergrund und der Konzeption der Handschrift geplant. Zwei Doppelblätter finden sich als Aktendeckel für Einnahmen (A1) und Ausgaben (A2) für das Rechnungsjahr 1585/86 des Paradieseramts im Stadtarchiv Schaffhausen (StA Schaffhausen, Paradieseramt A1/2); sie wurden von den städtischen Buchbindern nach der Reformation aus Codices des aufgehobenen Klosters Paradies angefertigt. Ein Einzelblatt mit einem Textstück des ‘Dragmaticon’ Wilhelms von Conches liegt in der Zentralbibliothek Zürich unter der Signatur Ms Z XIV 26 Nr. 11. Ich konnte die Schaffhauser Blätter 2005 dank eines Nachtrags im Handexemplar von Leo Cunibert Mohlberg, Mittelalterliche Handschriften (Katalog der Handschriften der Zentralbibliothek Zürich I), Zürich 1952, auf S. 354 f. (Nr. 88) der Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek Zürich ausfindig machen. Marlies Stähli fand im November 2008 das abgelöste Zürcher Fragment, als sie einer weiteren Spur von
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in die Aufzeichnungspraxis eines alemannischen Klerikers während seiner Studien erlaubt. Gerade diese Bandbreite an deutschen Texten, die eine einfache Kategorisierung erschwert, zusammen mit der pragmatischen Natur der meisten Einträge, hat verhindert, dass sie als germanistische Handschrift wahrgenommen wurde. Die über die ganze Länge der Handschrift verteilten 2464 Zeilen mit deutschen Anteilen machen immerhin etwa 4% des Gesamttextes von 65282 erhaltenen Zeilen aus. Während die deutschen Teile der kurz danach begonnenen ‘Carmina Burana’Handschrift, die Überlieferungsträger für ein vergleichbar großes Textkorpus ist, schon längst mit einer Vielzahl von kultur- und literaturwissenschaftlichen Ansätzen im Kontext der Anlage der Handschrift gelesen und auf die literarischen Interessen des frühen 13. Jahrhunderts untersucht wurden, sind die volkssprachigen Texte des Ms C 58 bislang nur punktuell wahrgenommen worden.3 Meine als Reverenz an den Philologen, Alemannen und scharfsinnigen Kombinator Paul Sappler formulierte These lautet: Die deutschen Textsplitter sind als Bestandteil eines sprachübergreifenden Sammelinteresses des gelehrten alemannischen Redaktors nur im Zusammenhang des gesamten handschriftlichen Kontextes zu verstehen. Ich möchte das an einem das Festschriftgenre herausfordernden Textabschnitt veranschaulichen, in dem der Redaktor unter dem Titel Versus de despectu sapientis in lateinischer und deutscher Vers- und Prosaform den Nachweis führt, dass der Weise nicht verachtet werden darf. In diesem Textabschnitt ist ein Absatz mit deutschen Reimpaarversen enthalten, die in das germanistische Bewusstsein mit der 36. Auflage von ›Minnesangs Frühling‹ traten, wo sie als ›Namenlos I-III‹ seitdem den Auftakt bilden.4 Der Textrahmen, den
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Mohlbergs handschriftlichen Zusätzen zum Katalog nachging; ein Digitalisat der Seite mit der Schemazeichnung der Wasserströme der Erde ist über die Kartensammlung der Zentralbibliothek abrufbar (http://www.zb.uzh.ch, Schlagwort ›mappa mundi‹). Ich danke der Zentralbibliothek Zürich, insbesondere Marlies Stähli, und dem Stadtarchiv Schaffhausen für die großzügige Hilfe bei der Auffindung und Identifikation, und dem Deutschen Seminar der Universität Zürich für die Gastprofessur im Sommersemester 2005, die diese Handschriftenarbeit erst ermöglichte. Vgl. etwa Udo Kühne, Deutsch und Latein als Sprachen der Lyrik in den ‘Carmina Burana’, in: PBB 122 (2000), S. 57–73, hier S. 57, und Burghart Wachinger, Deutsche und lateinische Liebeslieder. Zu den deutschen Strophen der Carmina Burana, in: Der deutsche Minnesang, hg. von Hans Fromm, Bd. 2, Darmstadt 1985, S. 275–308. Dass die Zürcher Handschrift im gleichen Zusammenhang gelesen werden müsste, deutet Franz-Josef Holznagel, Formen der Überlieferung deutschsprachiger Lyrik von den Anfängen bis zum 16. Jahrhundert, in: Neophilologus 90 (2006), S. 355–381, hier S. 357 und Anm. 8, 16, 18, an. Auch der Zusammenhang, in dem Ernst Hellgardt, Lateinisch-deutsche Textensembles in Handschriften des 12. Jahrhunderts, in: Latein und Volkssprache im deutschen Mittelalter 1100–1500. Regensburger Colloquium 1988, hg. von Nikolaus Henkel und Nigel F. Palmer, Tübingen 1992, S. 19– 31, hier S. 30 f., die Handschrift erwähnt, deutet in diese Richtung. Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearb. von Hugo Moser und Helmut Tervooren, 36., neugest. und erw. Aufl., Bd. I: Texte, Stuttgart 1975, S. 19; Bd. II: Editionsprinzipien, Melodien, Handschriften, Erläuterungen, Stuttgart 1977, S. 62, 174 (Abb. 15). Der erste Spruch eröffnet als Nr. 1 die Anthologie ›Lyrik des frühen und hohen Mittelalters‹, hg. und komm. von Ingrid Kasten, übers. von Margherita Kuhn (Bibliothek des Mittelalters 3),
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Karl Lachmann und Moriz Haupt 1857 mit Ich bin dıˆn, du bist mıˆn und Hartmann von Aue gesteckt hatten, war trotz sich wandelnder Editionsgrundsätze über die Neuauflagen von Vogt und Carl von Kraus (dessen Zettelkästen der Tübinger mediävistischen Abteilung verblieben) weitgehend konstant geblieben, bis Moser und Tervooren 1975 eine grundlegende Neubearbeitung präsentierten. Dazu gehörte auch die Erweiterung um Streuüberlieferung, für die der Codex Ms C 58 den frühesten Textzeugen darstellt. In ›Minnesangs Frühling‹ ist der Text aufgeteilt in die Sprüche I Swer an dem maentage dar gaˆt, II Tief vurt truobe und schoˆne wıˆphuore und III Der zi chilchun gaˆt.5 Burghart Wachinger wies in seiner Rezension der Ausgabe darauf hin, dass der neue Auftakt mit »zwei Sprüchen vom falschen Anfang und von wıˆphuore« nicht besonderes Feingefühl für die Konzeption der Sammlung verrate.6 In der Tat lässt sich kaum ein größerer Gegensatz zwischen der Verschlagwortung des Redaktors und dem Titel ›Minnesangs Frühling‹ denken. Bevor ich diesen Spezialfall diskutiere, werde ich kurz das Handschriftenprofil des Codex und die Stellung der deutschen Bestandteile darin skizzieren.
1. Die Anlage der Handschrift ZBZ Ms C 58 Ein Blick auf die Handschrift (Abb. 1) zeigt bereits, dass es sich um eine sorgfältig redigierte, mit Rubriken und weiteren Gliederungssignalen versehene Handschrift handelt. Karin Schneider spricht von einer Schrift, die die klare Lesbarkeit einer Buchschrift mit der zügigen Schreibweise einer Urkundenschrift vereine. Aus der Verbindung ansatzweise noch erkennbarer gotischer Brechung mit ›modernen‹ Elementen wie stark ausgezogenen Oberlängen beim z oder langen Unterschwüngen beim geschwänzten e entsteht eine unmittelbar wiedererkennbare Schriftform.7 Obwohl die Anlage der Handschrift (zwei Spalten a` 34 Zeilen) konstant bleibt, scheinen die Texte über einen längeren Zeitraum eingetragen. Einige Lieder spiegeln direkt die Situation eines nach Frankreich zum Studium aufbrechenden deutschen Klerikers:
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Frankfurt a. M. 1995, S. 10 f. Dank ›Minnesangs Frühling‹ gelangte die Handschrift auch in die Ausstellung zum Codex Manesse und wurde dort im Ausstellungskatalog besprochen, mit ausdrücklichem Hinweis auf den Zusammenhang in der Handschrift und die Überschrift: Lothar Voetz, Überlieferungsformen mittelhochdeutscher Lyrik, G5: Zürcher Sammelhandschrift ›Namenlos I-III‹, in: Codex Manesse. Die Große Heidelberger Liederhandschrift, hg. von Elmar Mittler und Wilfried Werner, Heidelberg 1988, S. 239 ff. und S. 549 Tafel mit Abbildung von f. 73v. Einteilung und Darbietung in Reimpaarversen auch schon in der Erstausgabe des Textes bei Wilhelm Wackernagel, Altdeutsches Lesebuch, Basel 1859, S. 215, der die Handschrift für die Predigtausgabe gründlich studiert hatte; er gab zuerst nur Spruch I und III an und nahm Spruch II erst in die späteren Auflagen auf, nachdem er ihn in den Anmerkungen zu Altdeutsche Predigten und Gebete aus Handschriften, Basel 1876, auf S. 254, veröffentlicht hatte. Burghart Wachinger, Des Minnesangs Frühling, bearb. von Hugo Moser und Helmut Tervooren, 36. Aufl., 2 Bde., in: PBB 102 (1980), S. 259–271. Karin Schneider, Gotische Schriften in deutscher Sprache, I. Vom späten 12. Jahrhundert bis um 1300, Wiesbaden 1987, Textbd., S. 23, 62 f., Tafelbd., Abb. 26. Auch alle Lagenziffern, Korrekturen und Randbemerkungen stammen vom selben Schreiber.
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Vale! dulcis patria! suavis Suevia! Salve! dilecta Francia! philosophorum curia! Suscipe discipulum in te peregrinum! Quem post dierum circulum remittes Socratinum.8
Die aufgenommenen Texte zeigen durchaus das Bemühen, sokratische Weisheit zu sammeln – in der Form, wie sie im 12. Jahrhundert auf den Schulen verfügbar war. So verbindet sich das Interesse an eigentlichen Schultexten wie Grammatikmerkversen, an geschichtlichen Notizen wie zahlreichen Epitaphien, von Hektor und Achill9 bis zu Anselm von Laon,10 Abt Suger von Denis11 und Abaelard,12 mit allem, was sich nach Maß und Zahl berichten und didaktisch aufbereiten lässt, seien es misogyne Aufzählungen,13 Silbenrätsel (z. B. f. 14v), liturgische Merkverse oder lateinische Quantitätenregeln. Zwischen diesen unzähligen Klein- und Kleinstnotizen findet sich ein Querschnitt durch alle vier Fakultäten des Lehrbetriebs von den Artes über die Medizin und Jurisprudenz bis hin zur Theologie: juristische Vorlesungsmitschriften, medizinische Traktate und Predigtentwürfe. Offensichtlich brachte ein in der Francia ausgebildeter Kleriker von dort ein breites Arsenal an Texten mit, wie sie an den Schulen von Poitiers und Orleans im Umlauf waren; nicht zufällig sind darunter Texte, die in Varianten auch in den ‘Carmina Burana’ auftauchen, etwa die so genannte Vagantenbeichte des Archipoeta Estuans intrinsecus oder eine Kurzfassung des Schneekindschwanks.14 Deutlich ist aber, dass es sich um einen alemannischen Muttersprachler wohl aus der Schaffhauser Gegend handelt, denn alle nichtlateinischen Einträge sind auf Deutsch – allerdings mit Schreibunsicherheiten. Hier zeigt sich nicht ein Sprach-, sondern ein Verschriftlichungsproblem.15 Am Ende der ‘Summa cuiusdam magistri 8
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F. 148v, Werner, Nr. 343, vgl. auch das vorhergehende Lied, besprochen bei Wilhelm Wakkernagel, Vor Liebe fressen, in: ZfdA 6 (1848), S. 294–297. F. 4rII5–19, Werner, Nr. 22: Hac premitur tumba Troie˛ fortissima turris / Hector [. . .] bzw. f. 4rII20–30, Werner, Nr. 23: Pelides ego sum, Thetidis notissima proles [. . .] † 15. Juli 1117, f. 8rI25–II6, Werner, Nr. 83. † 20. Januar 1152, f. 8vI30–II12, Werner, Nr. 94: Hic iacet e˛cclesie˛ flos, gemma, corona, columpna, von Simon Che`vre d’Or. † 21. April 1142, f. 5vI9–17, Werner, Nr. 50: Epitaphium Petri Baiolardi a semet conpositum. Von dem Grab wird gesagt, dass nach Art des Minnetodes auch Heloise († 11. Mai 1164) dort geistig gestorben sei und das Ganze als Doppelgrab betrachtet werden solle. Vgl. f. 6rII22–6vI24, Werner, Nr. 67 und f. 6vI25–II20, Werner, Nr. 70, zwei jeweils mit Weiberlisten verbundene Texte. Diese Sequenz steht zwischen zwei Epitaphienreihen (Nr. 65–72 und Nr. 83–94). F. 8rII33–8vI2, Werner, Nr. 90. Vgl. dazu Burghart Wachinger, Kleinstformen der Literatur. Sprachgestalt − Gebrauch − Literaturgeschichte, in: Kleinstformen der Literatur, hg. von Walter Haug und Burghart Wachinger (Fortuna vitrea 14), Tübingen 1995, S. 1–37, hier S. 3. Vgl. etwa Wackernagels Liste in: Altdeutsche Predigten [Anm. 5], S. 255 zur Schreibung der Endsilbe -schaft: Nebeneinander stehen geselleschat gienoschpat chvnneschat trvtscaph herscaph wirtscapht. Ähnliches bemerkt Schneider [Anm. 7], S. 63, zur f-Schreibung. Die Predigten zeigen eine altertümlichere Orthographie, das Arzneibuch eine etwas modernere, aber die deutschen Partien bieten insgesamt einen deutlichen Anhaltspunkt für die Lokalisierung auf das alemannische Gebiet wegen der durchgehenden vollen Endsilben, der Endungen
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super decretis’, einer Vorlesungsnachschrift zum kanonischen Recht, wird nach dem Explizit auch eine Appellationsformel mit dem Beispiel Schaffhausen erwähnt.16 Eine parallele Formel findet sich zwar direkt davor mit dem Ortsnamen Magdeburg,17 und in anderen Texten werden die Pariser und die Konstanzer Münze, Poitiers und Orle´ans genannt, aber die Mehrzahl der Regionalhinweise deuten in den Südwesten. Da der Anfang der Handschrift fehlt und der moderne Pappband keine Rückschlüsse auf die Provenienz erlaubt, bleibt eine weitere Eingrenzung innerhalb des alemannischen Sprachraums ebenso wie die genauere Datierung spekulativ.18 Den klarsten terminus post quem geben die beiden Schlusstexte der Handschrift, Sequenzen auf Thomas von Canterbury, die seine 1173 erfolgte Kanonisation voraussetzen.19 Einige Exzerpte, so aus dem auf 1192/93 datierbaren ‘Verbum abbreviatum’ des Petrus Cantor und aus dem ‘Graecismus’ des 1212 verstorbenen Eberhards von Be´thune,20 weisen auf noch spätere Daten hin, aber die kurzen Exzerpte könnten auch auf Vorformen der Texte zurückgehen. Der salomonische Vorschlag von Werner, den Beginn der Sammlung in das 12. und ihr Ende in das 13. Jahrhundert zu setzen, gibt eine Vorstellung vom zeitlichen Rahmen und macht auf die notwendige Entstehungsdauer aufmerksam.21 Erst ein längerer Zeitraum macht die Fülle der verarbeiteten Texte und deren Anordnung plausibel. Es lassen sich immer wieder einzeltextübergreifende Gruppen erkennen, bei denen nicht nur Verwandtes zusammengestellt, sondern auch auf eine solche Einheit hin exzerpiert und redigiert wurde. Wenn andere Textstücke, die ebenso gut in eine solche Einheit passen würden, erst viel später erscheinen, z. B. ein zweiter Block an deutschen Predigten, von dem ersten durch 80 Blätter getrennt, zeigt das eine sich länger erstreckende Sammeltätigkeit bei konstanten Interessen. Wenn der Schreiber-Redaktor eine zweite Vorlage für einen bereits aufgenommenen Text fand, korrigierte er danach. Sein Interesse galt dabei nicht einer philologischen Rekonstruktion, sondern einer Anverwandlung an seine Sammelinteressen. Autorennamen werden nur sehr sporadisch gegeben; nicht die Herkunft der Stücke, sondern
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der 2. Pers. Plur. auf -ent und der a-Formen für gan und stan. Die bis in die Gegenwart kolportierte Herkunft aus St. Gallen ist ein auf Paul Piper, Aus Sanct Galler Handschriften III, in: ZfdPh 13 (1882), S. 445–479, hier S. 455 zurückgehender Fehlläufer, den Werner [Anm. 1], S. 197, korrigierte. F. 102v, Werner, Nr. 289: Ego. W. scaphusensis e˛cclesie˛ professus. apello te. A. in presentiam domini apostolici. in festo luce˛ evangeliste˛. quod proxime occurrit de his et aliis obiciendis mihi responsurum, abgedruckt bei Elias Steinmeyer und Eduard Sievers, Die althochdeutschen Glossen, Bd. 4, Berlin 1898 (Nachdr. Dublin/Zürich 1969), S. 674. Direkt vor dem Explizit: Ego H. sancte magdeburgensis ecclesie archiepiscopus. N. capellanus sancti iohannis [. . .]. Die Handschrift ist von Ernst Hellgardt [Anm. 3] für seinen Überblick über deutsche Handschriften des 12. Jahrhunderts, vom ›Marburger Repertorium‹ [Anm. 1] für das 13. Jahrhundert in Anspruch genommen worden. Ermordet 1170, kanonisiert 1173. Ein Spruch (304,1) scheint sich auf Kaiser Friedrich I. zu beziehen, der 1190 starb. Hinweis von Darko Senekovic, zitiert bei Tilliette [Anm. 1], S. 150 Anm. 7. Von Werner [Anm. 1] schon verzeichnet: Nr. 10 (f. 2rII4 ff.). Werner [Anm. 1], S. 197.
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ihre Themen interessieren. Das in den gelehrten Zirkeln Frankreichs umlaufende populäre Textmaterial wurde auf seine Integrationsfähigkeit in ein praxistaugliches, moraltheologisch gewichtetes Kompendium hin gesichtet. Die Sammlung hat schon mehrere Katalogisierungsversuche scheitern lassen. Selbst eine so grundlegende Gliederung wie die des Marburger Repertoriums in einen ersten Artes- und einen zweiten theologischen Teil weist höchstens auf eine Interessensverlagerung hin und bildet keine eigentliche Struktur ab. Das ist ein grundsätzliches Problem: ein ›Vademecum‹ kann nicht systematisch, sondern nur von der redaktionell-intentionalen Strukturierung her durchdrungen werden. Gerade die deutschsprachigen Elemente machen durch ihr stellenweise verdichtetes Auftreten deutlich, wie solche Einheiten möglicherweise gedacht waren.
2. Einbindung und Funktion der deutschen Stücke An zwölf Stellen der Handschrift finden sich deutsche Einsprengsel oder Texte, die sich nach den ersten Einträgen drei größeren Themenblöcken zuordnen lassen. f. 2va11 f. 36vII30 Naturkundlicher Teil f. 44rII24–27/ 57vI6–8 f. 44vI1–47rII34 f. 47rII19–23 f. 47vI1–51vII12 f. 58va/59vb
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Drei Interlinearglossen22 Lateinischer Leoniner mit deutschen Reimwörtern23 Glossen zu den ‘Versus de piscibus’24 ‘Arzenıˆbuoch Ipocratis’25 Spruch ‘Contra rehin’26 Pflanzenkapitel aus dem ‘Summarium Heinrici’27 Sieben Kontextglossen28
Werner, Nr. 10; Elias Steinmeyer und Eduard Sievers, Die althochdeutschen Glossen (StSG), Bd. 4, Berlin 1898 (Nachdr. Dublin/Zürich 1969), Nr. DCCCCXXXIV B, S. 35 Anm. 10. Werner, Nr. 174; Wackernagel [Anm. 15], S. 253. Werner, Nr. 228; Steinmeyer und Sievers [Anm. 22], Bd. 5 (1922): Ergänzungen und Untersuchungen, bearb. von Elias Steinmeyer, S. 46. Vgl. dazu Lothar Voetz, Vergessene Glossen einer Züricher Handschrift, in: Rudolf Schützeichel, Addenda und Corrigenda (II) zur althochdeutschen Glossensammlung (Studien zum Althochdeutschen 5), Göttingen 1985, S. 124–126. Werner, Nr. 230; Denkmäler deutscher Prosa des 11. und 12. Jahrhunderts, hg. von Friedrich Wilhelm, Abteilung A: Text (Germanistische Bücherei 3); Abteilung B: Kommentar (Münchener Texte 8), München 1914/16 (Nachdruck in einem Band München 1960), Nr. XXV (‘Züricher Arzeneibuch’), S. 53–64, 137–154. Werner, Nr. 230; Denkmäler deutscher Prosa aus dem VIII.-XII. Jahrhundert (MSD), hg. von Karl Müllenhoff und Wilhelm Scherer, Bd. 2, Berlin/Zürich 1964, S. 302 f.; Althochdeutsche poetische Texte, hg. von Karl A. Wipf, Stuttgart 1992, Nr. VIII 2.6, S. 72 f., 279. Werner, Nr. 231; Summarium Heinrici, hg. von Reiner Hildebrandt, Bd. 1: Textkritische Ausgabe der ersten Fassung Buch I-X (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der Germanischen Völker 61 [185]), Berlin/New York 1974, S. XLI, LVI, 170–207. Werner, Nr. 232; Steinmeyer und Sievers [Anm. 24], Bd. 5, S. 46 f.
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Moraldidaktischer Teil f. 73vI24–31 Deutsche Sprüche29 rI5–11 f. 78 ‘Züricher Gebet’30 Predigten f. 105vI24–114vI2 f. 182rI34–183vI14
Predigten Predigten31
Bei den ersten beiden Einträgen handelt es sich um punktuelle Ergänzungen des lateinischen Textes: eine deutsche Glossierungen der drei Bedeutungen von glis (Maus, Lehmboden oder Lattich) und zwei deutsche Reimwörter in einem lateinischen Leoniner. Am Ende stehen die fast zwanzig Seiten umfassenden deutschen Predigten. Die Texte dazwischen konzentrieren sich in zwei Bereichen mit jeweils deutlich ausgeprägten Sammelschwerpunkten. Die erste Gruppe findet sich in einem Abschnitt mit vorwiegend naturkundlichen und medizinischen Exzerpten, der von f. 44 bis 62 geht: die Fischglossierungen (doppelt, am Anfang und Ende des Abschnitts, eingetragen), das Arzneibuch, der ›Zauberspruch‹ gegen Pferdelähme, die Pflanzenkapitel aus dem ‘Summarium Heinrici’ und die Glossen zu termini technici in einem auf Isidor beruhenden Wörterbuch. Das zeigt die Spannweite der deutschen Textteile: Deutsch wirkt als Verständnishilfe, als magisch wirksame Sprache und als praxisbezogene Ergänzung zum gelehrten Wissen. In allen Fällen ist es für die deutschen Texte möglich, Korrespondenzen zu den umgebenden lateinischen Texten zu finden, sei es in direktem Bezug wie bei den Glossen oder in der Abfolge gleicher Gattungsvertreter wie im Spruch gegen Pferdelähme, der zwischen verwandten lateinischen Formeln steht. Dieses intentional geeinte Spektrum lateinisch-deutscher Sachinformationen im naturkundlichen Bereich macht auch die zweite, kleinere Gruppe verständlich: Die deutschen Sprüche und das ‘Zürcher Gebet’ stehen in einer Folge von moraldidaktischen Exzerpten, die auf einen rein lateinischen Grammatikteil (f. 63–71) folgt, dessen Hauptbestandteil eine redigierte Prisciangrammatik (f. 64vI31–71vII34) ist. An dem Umschlagspunkt von Grammatik zu Ethik kann man dem Redaktor direkt bei der Arbeitsweise zuschauen, die u. a. Zeichnungen als Glossen umfasst. Bei der Prisciangrammatik lagen dem Schreiber offensichtlich zwei Versionen des Textes vor, die er ineinander arbeitete. Als er bemerkte, dass er aus der Handschrift der Version A versehentlich eine Passage abgeschrieben hatte, die er nach der Version B bereits an anderer Stelle eingefügt hatte, strich er den doppelten Text und vermerkte mit einem, wenn nicht selbst verfassten, dann jedenfalls passend gefundenen Vers omne prius dictum non curres denuo dictum. Sonst fügte er Varianten als Interlinearoder Marginalglossen ein; als er eine Information zur Königin Semiramis nachtragen wollte, schrieb er über ihren Namen im Text ein Merkzeichen und markierte die 29 30
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Werner, Nr. 248; 36Minnesangs Frühling [Anm. 4], Namenlos I-III. Werner, Nr. 287; Wilhelm [Anm. 25], Nr. XXVI, S. 56 und 153 f.; Wackernagel [Anm. 16], Nr. 75, S. 216, 253 f., 285. Werner, Nr. 291 und 383; Wackernagel [Anm. 15], Nr. I-XIII, S. 3–32.
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Stelle am Rand außerdem durch ein Zeichen, das einen in einen Frauenkopf abgewandeltes Nota-Zeichen darstellt (f. 71v). Interlineares und marginales Merkzeichen werden dann am unteren Rand wiederholt und daneben in der trichterförmiger Zierform, wie sie sonst in Urkunden begegnet, die Zusatzinformation über die Herrschaft der Semiramis nachgeliefert. Diese Seite zeigt deutlich, wie der Redaktor mit der von ihm angelegten Handschrift arbeitete: Die Texte werden nicht in kanonischer Unberührtheit belassen, sondern als work in progress betrachtet.
3. Das moraldidaktische Umfeld der Versus de despectu sapientis Das neue Themenfeld Moraldidaxe wird auf f. 72r durch ein Beda zugeschriebenes Gedicht über die Zeichen des Jüngsten Gerichts eröffnet.32 Nach der Bitte um Gottes Beistand für den Leser,33 folgt eine Sammlung von 57 Versen Ex libro Persii Flacci satyrarum. Während hier mit dem ex der eklektische Charakter des Textgebildes betont wird, stellt die folgende Überschrift Versus de despectu sapientis den nächsten Textblock im Gegenteil als Einheit vor. Der Zwischentitel ist durch die rote Unterstreichung und die für versus und sapientis verwendeten Auszeichnungsschrift stärker als üblich gliedernd determiniert. Bei den nächsten als versus gekennzeichneten Gedichten, Epigrammen über die Reden Cäsars und Augustus’ vor dem römischen Senat,34 sind die Überschriften einfach als weitere Zeile an die vorangehenden Gedichte angehängt; Majuskeln begegnen sonst eher für abschließendes amen.35 Der Text ist also als Einheit herausgehoben, die nach dem Usus der Handschrift bis zur nächsten roten Initiale reicht. Innerhalb des Textblocks werden die lateinischen Verse, die durch eine durch die Initiale gezogene rote Linie verbunden sind, abgesetzt zum einen von der eingeschobenen Prosaerklärung, die in meinem Abdruck bei Z. 5 beginnt, zum anderen von dem deutschen Text. Da das für die ganze Handschrift einheitliche zweispaltige Layout genau darauf berechnet ist, Hexameter ohne Zeilenumbruch anzuordnen, greift der Schreiber für andere Texteinheiten zur Gliederung durch Punkte und Initialen, um ohne Layoutprobleme den Text fortlaufend schreiben zu können. Diese Anordnung markiert also nicht nur Prosa, sondern wird für alle anderen Versmaße gewählt, auch etwa für die schon erwähnten Vagantenstrophen.36 In den deutschen Versen wird der Beginn von Der zi chilcun gat durch eine rote Initiale im fortlaufen32 33
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F. 72rI1–73rI17; Werner, Nr. 242. Der erste Vers fehlt. Cf. f. 73rI18–19, sis/t deus omnipotens tutor fautorque legenti und ein Vers eines Gesprächs zwischen rex und clericus. F. 74vI31–36; Werner, Nr. 268 Versus Iulii Cesaris contra senatum und Werner, Nr. 269 Versus Augusti Cesaris ad senatum, ne deificaretur. Die nächsten Majuskeln finden sich erst bei dem Epitaph für Adam (von St. Victor) f. 74rI27–30. Einen Sonderfall stellen die extrem kurzversigen Hymnenstrophen dar, bei denen der Schreiber mit der graphischen Darstellung der Endreime und der Anordnung von zwei Versen jeweils in einer Zeile experimentiert, vgl. Nr. 384, f. 183v, aber das nach kurzem wieder unterlässt. Zum Layout volkssprachiger Texteinschübe im lateinischen Kontext vgl. Nigel F. Palmer, Manuscripts for Reading: The Material Evidence for the Use of Manuscripts Con-
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den Text herausgehoben, der Beginn von Tif furt trvbe durch eine Majuskel nach Punkt. Das abschließende Sver da wirt virteilt wird durch eine Majuskel am Zeilenbeginn etwas von dem dritten Spruch abgerückt und dadurch als Zusammenfassung markiert. Die Reimbrechung wird durch die Punkte durchgängig gekennzeichnet bis auf das zweite Reimpaar in Spruch I und III, das jeweils als Langzeile durchgeschrieben ist, vielleicht weil die Reimbindung dort am schwächsten ist (wocun / ungemacher bzw. tage / rescagin).37 versus de despectu sapientis.
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Ingenium quondam fuerat pretiosius auro. Sed modo barbaries grandis, habere nichil. Ipse licet uenias musis [doctrinis] comitatus, Homere Si nichil adtuleris, ibis, Homere, foras.
Quellen/Parallelen/Textabweichungen Werner Nr. 245 1,2 Ovid Amores 1 pretiosior
III 8,2 f.
3,4 Ovid Art. am. II 279 f. 3 venas, Glosse doctrinis zu musis
Sic est sensus: Potentes huius seculi non curant de sapientia, et si aurum aut munera deportantur eis, cito munera recipiunt et sapientia foras eicitur. 10
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Multa licet sapias, sine re nullus eris. Et genus et uirtus, nisi cum re, uilior alga est. Et genus et formam regina peccunia donat. Virtus nobilitat animum; uirtute remota Migrat in exilium nobilitatis honos. Sver an dem me˛ntage dar gat, da er din fvz lat, deme iz alle die wocun dezst ungemacher.
Werner Nr. 246 10 Vitalis v. Blois: Geta 16 11 Horaz Satiren II 5,8. 12 Horaz Epistulae
I 6,37.
Werner Nr. 247 13,14 Florilegium Gottingense 203 = Werner Nr. 167, vgl. Freidank 54,6 f. Werner Nr. 248
Tif furt trvbe und schone wiphurre, sweme dar wirt ze gach, den geruit iz sa. Der zi chilcun gat vnd ane rve da stat, der wirt zeme ivngistime tage ane wafı´n rescagin. Sver da wirt virteilt, der het imir leit.
23 vgl. Herger
IV,4 (MF 28,34).
taining Middle High German Narrative Verse, in: Orality and Literacy in the Middle Ages. FS Green, hg. von Marc Chinca und Christopher Young, Turnhout 2005, S. 67–102; die Zürcher Handschrift wird als Nr. 11 auf S. 94 erwähnt. Diplomatischer Abdruck (keine u /-v-Normalisierung); Abkürzungen stillschweigend aufgelöst; Interpunktion eingefügt und Verse und Sprüche abgesetzt.
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(‘Ein Gedicht über die Verachtung des Weisen: Geist war einst wertvoller als Gold, eine große Barbarei dagegen, keinen zu haben. Selbst wenn du von den Musen [d. h. den Lehren] begleitet kämst, Homer, musst du, (5) wenn du nichts gebracht hast, Homer, hinaus gehen. Das bedeutet folgendes: Die Mächtigen dieser Welt kümmern sich nicht um die Weisheit, und wenn ihnen Gold oder Gaben gebracht werden, nehmen sie schnell die Gaben entgegen, und die Weisheit wird hinaus geworfen. (10) Auch wenn du vieles weißt, ohne Habe wirst du ein Nichts sein. Adel und Tugend, wenn nicht mit Vermögen, ist verächtlicher als Algengewächs. Adel und Gestalt gibt als Königin das Vermögen. Tugend adelt die Seele; wenn es an Tugend mangelt, geht die Ehre des Adels in die Fremde. (15) Wer montags dorthin geht, wo er seinen Fuß lässt, dem geht es die ganze Woche um so schlechter. Eine tiefe, trübe Furt (20) und Hurerei mit schönen Frauen: wer sich übereilt darein stürzt, den gereut es sogleich. Wer zur Kirche geht und dort ohne Reue steht, (25) der wird am Jüngsten Tag waffenlos erschlagen. Wer dort verurteilt wird, der hat ewiges Weh.’)
Der lateinische Text besteht aus sprichwortartigen Einzel- oder Doppelversen nach Art eines thematischen Florilegiums: das erste Textstück bilden zwei ovidianische Distichen, während der nächste Versabschnitt zwei horazische Satirenverse als Beweis für einen Pentameter aus der Komödie ‘Geta’ präsentiert, dem noch ein DistichonSprichwort folgt.38 Den Text eröffnet eine Klage aus den ‘Amores’, dass die Geliebte einen Nebenbuhler bevorzuge, der nur Geld statt Grips habe.39 Im Gegensatz von quondam (einst) und modo (jetzt) wird bei Ovid von dem Sprecher-Ich der Zeitverfall komisch bejammert. Es ist ein paralleles Sprecher-Ich in der ‘Ars amatoria’, das sich zu der Behauptung versteigt, dass selbst Homer samt den neuen Musen heutzutage allein durch Kunst keinen Erfolg haben würde.40 In einem Teil der mittelalterlichen Tradition wird Homer wegen der Begleitung der Musen durch Apoll ersetzt, hier nimmt der Redaktor aber durch die Interlinearglosse doctrinis zu musis eine andere Ersetzung bzw. Erklärung vor: Homer wird nicht als der Dichter, sondern als der Weise präsentiert, der mit Lehren erscheint. Durch die Zusammenstellung wird die Liebeswerbung ganz ausgeblendet, ebenso das eigentlich komische Sprecher-Ich mit seiner Jammerei, die in der mittelalterlichen Ovid-Lektüre auch kritisiert wurde. Stattdessen wird auf den Gegensatz zwischen Geld und Geist abgehoben, der geistlich gesehen wird. Das kommt erst punktuell zum Tragen durch die Glosse im dritten Vers und wird dann unmissverständlich durch die Prosakommentierung markiert: Sic est sensus. Bei diesem erklärenden Ersetzungsprozess werden die Gewichte subtil verschoben. Die namenlosen Gegner des verachteten Liebhabers und Dichters werden die poten38
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Die Aufteilung bei Werner folgt den verschiedenen Quellbereichen: Nr. 245 umfasst die beiden Distichen aus Ovid mit ihrer Prosaerläuterung, Nr. 246 proverbiell gebrauchte Einzelverse und Nr. 247 den deutschen Text. Das pretiosior statt pretiosus der Handschrift geht wohl auf eine schlecht lesbare Abkürzung zurück; die Unsicherheit des Schreibers zeigt sich auch darin, dass das t aus c verbessert ist. Ipse licet ueniat Musis comitatus Apollo; si nil attuleris, ibis, Homere, foras. Vgl. Deutsches Sprichwörter-Lexikon. Ein Hausschatz für das deutsche Volk, hg. von Karl Friedrich Wilhelm Wander, Bd. 1, Leipzig 1867, s. v. Geld, Nr. 715 (›Hast du Geld, so setz’ dich nieder, hast du keins, so scher’ dich wieder.‹) und Geschenk, Nr. 37 (›Geschenke machen Gelenke‹).
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tes huius seculi; hinter dem klugen Dichter Homer, der verachtet wird, steht als Instanz die Weisheit selbst, die wie er auf die Straße gesetzt wird: sapientia foras eicitur. Der Gegensatz von damals und jetzt aus der antiken Dichtung wird auf eine geistliche Zeitstruktur hin transparent gemacht: Das hier und jetzt liegt bei den Mächtigen dieser Zeit und Welt, die die Gegenmacht zum Reich Gottes repräsentieren.41 In dieser von dem Gegensatz von geistlich und weltlich bestimmten Denkwelt kommen die Weisen mit ihren Lehren und finden kein Gehör. Die Verachtung des Weisen bedeutet damit nicht schlicht mangelndes Kunstverständnis des Geldadels, sondern ein viel bedrohlicheres Phänomen: Mit der Weisheit werfen die Mächtigen den Weisen als Vertreter der Lehren und des Reiches Gottes hinaus und verstellen sich damit den Zugang zum ewigen Leben. Auch die topischen Aussagen der Verse 10–14, dass Geld die Welt regiert, müssen in diesem Licht gelesen werden. So wie bei den ersten Versen der Rahmen der Liebeswerbung wegfällt, ist bei den Horazzitaten der Satireton zurückgenommen. So begründet mit Vers 11 ursprünglich Odysseus, warum er ein Rezept wünsche, wie er sein Vermögen wiederfinden könne, nach Wielands Satiren-Übersetzung »Sintemal nun ohne Vermögen, wie du weißt, Geschlecht und Tugend nicht einen Pfifferling geachtet wird.« Teiresias rät ihm zur Erbschleicherei. Odysseus kann kaum als Beispiel für den verachteten Weisen gelten, der Spruch wird vielmehr als verallgemeinerbares Diktum herausgezogen. Das wird auch am folgenden Vers 12 deutlich; das Horazzitat aus einem Lob des allmächtigen Vermögens taucht in verschiedenen Sprichwörtersammlungen auf und lebt bis in die Neuzeit als Motto weiter. Was hier lediglich interessiert, ist die autoritative Belegung der Behauptung. Durch die Kombination werden Dramenvers, horazische Hexameter und sprichwörtliches Distichon ihrem spezifischen Argumentationskontext entfremdet und werden zur Tatsachenbehauptung. Der lateinische Unterbau grundiert die folgenden deutschen Sprüche durch den Klagegestus, mit dem, wenn auch etwas diffus, am mangelnden Respekt für Lehrautorität Moralverfall grundsätzlich konstatiert wird, wichtiger aber: formalargumentativ bildet die Autorität lateinischen Schulwissens eine sichere Basis. Es ist diese düstere Perspektive, die den Ton für die deutschen Verse vorgibt. Nachdem der grundsätzliche Moralverfall mit der Autorität des antiken Wissensguts präsentiert und kommentiert worden ist, kann in der Volkssprache die Didaxe direkt bei den Einzelphänomenen ansetzen, die statt auf einen allegorisierenden Kommentar auf Anschaulichkeit setzen: Trägheit, Hurerei und mangelnde Bußfertigkeit werden neben der bereits exponierten Geldgier drastisch als Laster präsentiert, die eine un41
Das Problem im Neuen Testament ist, dass zwar die Kinder dieser Welt/Zeit nicht weise, aber klug sind, vgl. Lc 16,8: filii huius saeculi prudentiores filiis lucis in generatione sua sunt. Sie haben ihre eigene Form der Weltweisheit, wenn diese auch vor Gott nichts gilt. vgl. 1 Cor 1,20: nonne stultam fecit Deus sapientiam huius mundi. Der Redaktor/Schreiber dieses Textes interessiert sich hier aber weniger für die Perspektive der Mächtigen und Klugen, sondern für die Position Homers bzw. der Weisheit, hinter der ein wie auch immer geartetes klagendes Sprecher-Ich steht. Es deutet sich hier schon die Verbindung von Heische, Mahnung und Selbstdarstellung der Spruchdichtung an.
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mittelbare Gefährdung des Seelenheils darstellen. Von hier aus lassen sich intentional die Sprüche verstehen, wenn auch ihre präzise Bedeutung hinter den Bildfeldern der gnomisch verknappten Sprache teilweise undeutlich bleibt. Vers 15–18: Ob die Vorstellungen vom ›blauen Montag‹42 und von dem ›mit dem linken Fuß aufstehen‹43 schon um 1200 verbreitet waren, ist nicht sicher; die genaue metaphorische Valenz muss aber nicht bekannt sein, damit deutlich wird, worauf die Sver-der-Regel zielt und dass die Woche auf diese Weise schlecht anfängt. Der Rat zählt zu dem Typ derer, die zu einem guten Anfang mahnen, und entsprechend häufig am Anfang von Ratschlägen stehen. Angesichts der Überschrift De despectu sapientis wird dabei v. a. an den Leitspruch der weisheitlichen Literatur zu denken sein: Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang, aber die Törichten verachten sie,44 der auch das Motto der Freidank-Sammlung bildet: Gote dienen aˆne wanc deist aller wıˆsheit anevanc (1,5 f.).45 Der zweite Abschnitt folgt diesem falschen Weg ein Stück weiter. Vers 19–22: Das Verhalten bei Furten und Frauen wird auch im ‘Parzival’ gekoppelt, als Herzeloyde ihren Sohn liste lehrt: er solle an ungebanten straˆzen dunkle Furten vermeiden, sondern schnell durch die reiten, die sıˆhte unde luˆter sıˆn. Bei Frauen solle er sich an die halten, die kiusche unde guot seien.46 Und: wenn ihn ein graˆ wıˆse man unterrichte, solle er sich daran halten. Alle drei Ratschläge haben, wie bekannt, desaströse Folgen. Das liegt aber nicht an den Ratschlägen oder daran, dass Parzival den Weisen verachtet habe; er ehrt vielmehr den graubärtigen Gurnemanz, der wie ein Prototyp des sapiens erscheint. Die Ursache, würde wohl der Redaktor des Ms C 58 konstatieren, liegt in der Zielperspektive der Didaxe, die Herzeloyde formuliert: Sie soll gelücke und hoˆhen muot geben. Es ist der alte Zielkonflikt zwi42
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Umlautung des maˆntag im Bairischen, Schwäbischen und Schweizerischen. Im späteren Mittelalter hatten die Handwerksgesellen den Anspruch, an bestimmten Montagen nicht für ihren Meister zu arbeiten. Schon im 14. Jahrhundert wird in Handwerkssatzungen der »gute Montag« verboten (Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, hg. von Lutz Röhrich, Bd. 3, S. 1046, s. v.). Bei der Winsbeckin findet sich ein aus Verliebtheit stehengebliebener Fuß: daz dir ze walde steˆt der vuoz (29,4), zitiert nach: Kleinere mittelhochdeutsche Lehrgedichte, hg. von Albert Leitzmann, 1. Heft: Tirol und Fridebrant, Winsbecke, Winsbeckin (ATB 9), Halle 1928; eine Gegenvorstellung ist der Fuß auf dem Weg des Herrn, Hiob 23,11: vestigia eius secutus est pes meus viam eius custodivi et non declinavi ex ea. Prv 1,7: timor Domini principium scientiae sapientiam atque doctrinam stulti despiciunt, wiederholt u. a. in Ps 110,10, Prv 9,10 und Sir 1,16. Die Verbindung des Textes zur schulischen Unterweisung wird etwa noch bei der Lateinschule in Brugg (CH) von 1638/40 sichtbar, bei der über dem Eingangsportal Prv 1,7 steht. Fridankes Bescheidenheit, hg. von Heinrich E. Bezzenberger, Halle 1872. Die vier vorhergehenden Verse sind der Titel; der erste Spruch begegnet teilweise auch in einer Sver-derForm (CDGO). ‘Parzival’, 127,15–28 und 128,2 f. Furt wird im Parzival auch metaphorisch für den Heilsweg gebraucht, ‘Parzival’, 114,4: ir schimph ertranc in riuwen vurt. Wolfram von Eschenbach, Parzival, mhd. Text nach der Ausgabe von Karl Lachmann, übers. von Peter Knecht, Einführung zum Text von Bernd Schirok, Berlin/New York 1998.
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schen höfischer und klerikaler Literatur, der hier bei der Verwendung des gleichen sprichwörtlichen Materials besonders eklatant deutlich wird. Wenn man den Spruch als Fortsetzung des ersten liest, lassen sich in der trüben Furt und der schönen Frau zwei der Gefährdungen sehen, die den Montag so gestalten, dass darunter der Rest der Woche leidet, also den fuoz laˆn = ze gach sıˆn. Mit der Kirche wird in Vers 23 dann ein dritter Ort eingeführt, der an sich heilsamer sein sollte als die vorher genannten, bei dem aber gerade die Heiligkeit zur Falle werden kann: Es reicht nicht, die Füße am richtigen Ort zu haben, sondern die gesamte Haltung muss dem Ort entsprechen, sonst verdirbt nicht nur die Woche, sondern das Seelenheil. Der 23. Vers bot überhaupt den Anlass zur ersten Aufnahme der Zürcher Handschrift in den Kontext von ›Minnesangs Frühling‹, denn es ist das gleiche Initium wie das der Sangspruchstrophe MF 28,34, die beginnt: Swer gerne zuo der kirchen gaˆt und aˆne nıˆt daˆ staˆt, der mac wol frœlichen leben. dem wirt ze jungest gegeben der engel gemeine.
Carl von Kraus nahm daher den entsprechenden Abschnitt als Umkehrung der Verheißung in seinen Kommentar zur Spervogel-Stelle auf. Die Drohung mit der waffenlosen Tötung ist auch sonst weit belegt, bis hin zu Kaufringer: er was oun swertzsleg worden wund (Bürgermeister und Königssohn, V. 172).47 Insgesamt lässt sich die Reihe der Verse als priamelartiger Katalog sich steigernder Verfehlungen lesen; dann wird auch verständlich, warum der letzte Reim mit einem Großbuchstaben von dem vorangegangenen abgesetzt wird. Er subsumiert unter dem endgültigen Urteil des Jüngsten Gerichts auch die scheinbar belanglosen Nachlässigkeiten des Alltags: Die Fußabschweifung am Montag führt zur via lata nach Art der Jugend, wie sie weiter hinten in der Handschrift die Vagantenbeichte48 schildert. Die Abtrennung von Versen und Strophen, wie sie sich in der Interpunktion der Handschrift darbietet, erlaubt kein Urteil über die ursprüngliche Gestalt der Verse und darüber ob sie – wie es wahrscheinlich ist – als eigenständige Sprüche umliefen, wobei das summierende letzte Verspaar wohl zum dritten Spruch gehörte. Der Redaktor der Handschrift, der in sein gesamtes Vorlagenmaterial stark eingriff, hat dieses mündlich umlaufende Gut so in seinen Kontext eingebunden, dass wir kaum hinter seinen Text zurückkönnen, der eine Folge von Dikta zu einer logischen Kette verknüpft. Die volkssprachigen Ratschläge füllen die Dicta aus den lateinischen Schulschriften mit konkreten Anweisungen: Während in der ‘Ars amatoria’ dem Liebhaber abgeraten wird, mittellos zur Liebsten zu gehen, wird hier von der Werberei an sich 47 48
Heinrich Kaufringer, Werke, hg. von Paul Sappler, Bd. 1: Text, Tübingen 1972, S. 45. Nr. 365, f. 153va18–154ra6. Die Strophe Via lata gradior more iuventutis [. . .] mortuus in anima curam gero cutis bildet in der Handschrift, anders als in der Mehrheit der Überlieferungszeugen, die Schlussstrophe, vgl. Werner, S. 200 f.
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abgeraten, denn sie setzt das Seelenheil aufs Spiel. Die deutschen Verse wirken also im Unterschied zu dem lateinischen Umfeld durch ihren direkten Appell, der durch die Klangketten und die Bildlichkeit unterstrichen wird. Die lautlichen, lexematischen und strukturellen Korrespondenzen ermöglichen eine Gesamtlektüre, die die gnomischen Merksprüche als eine kontinuierliche Lehrrede mit sich ergänzenden und steigernden Elementen versteht. Die versus sind kein Gedicht im modernen Sinne einer notwendigen, lyrischen Vers- und Strophenfolge, aber sie sind deutlich mehr als eine zweisprachige Aphorismensammlung. Die Didaxe hat einen guten Magen: Sie kann die Liebeskunstverse ebenso verdauen wie mündliches Strandgut und die Unterbrechung der gebundenen Sprache durch eine Prosaerklärung. Der Titel ‘de despectu sapientis’ setzt die Klammer, obwohl sich im Verlauf des Gedichts die Verachtungsrichtung umkehrt: Vom Objekt der Verachtung wird der Weise zum Subjekt der Belehrung sub specie eternitatis.49 Die lateinischen Verse bieten die innerweltlich-ethische Artes-Grundlage für die theologisch eindeutigen deutschen Verse: hier führt der Weg durch die Gelehrsamkeit hin zur Volkssprache, analog zu Williram von Ebersberg, der beklagt, dass die antiken Autoren nicht mehr als Propädeutik für Bibelstudien gelesen würden, und dann das Gegenteil daran demonstriert, dass er mit antiken Formulierungen zu einer volkssprachigen Bibelauslegung vorstößt.50 Es liegt sicher keine intendierte Komik in der moralisierenden Umwandlung von Liebeskunst in Moraldidaxe; die Distichen und Einzelverse sind schon vorher so durch den klerikalen Unterricht als eigenständige ethische Aussagen proverbiell isoliert, dass sie ohne gedankliche Umwege in einen christlichen Denkrahmen eingebaut werden können.
4. Gnomisches Wissen zwischen Mündlichkeit und Großform Die Stellung des Komposittextes ‘Von der Verachtung des Weisen’ im moraldidaktischen Kontext der Zürcher Handschrift zeigt den hohen Stellenwert zweisprachigen gnomischen Sprechens um 1200. Den Romanautoren und Lyrikern der höfischen Literatur begegnete es in der Form von belehrenden Dikta, Predigten und alltäglichen Ratschlägen. Einiges davon lässt sich durch die Aufzeichnungen des alemannischen Klerikers fassen, der nicht aus einem antiquarischen Sammelinteresse oder zu Repräsentationszwecken die bereits etablierte Literatur in prächtige Handschriften fassen ließ, wie es dann die Manessische Liederhandschrift bezeugt oder fürstliche Auf49
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Der Titel könnte formal auch ein Genitivus subjectivus sein: Der Weise würde dann die Welt verachten, wie es in der Contemptus mundi-Tradition geschieht. Umgekehrt könnte christlich gelesen die Verachtung auch Auszeichnung sein, da sie etwa in der Auslegung der Gottesknechtslieder und im Ärgernis vom Kreuz ein Signum Christi ist, der verachtet wird, Is 53,3: despectum et novissimum virorum virum dolorum et scientem infirmitatem et quasi absconditus vultus eius et despectus unde nec reputavimus eum. ›Praefatio‹ zur ‘Expositio in Cantica Canticorum’, 2 (zitiert nach: Williram von Ebersberg, ‘Expositio in Cantica Canticorum’ und das ‘Commentarium in Cantica Canticorum’ Haimos von Auxerre, hg. und übers. von Henrike Lähnemann und Michael Rupp, Berlin 2004).
Versus de despectu sapientis
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traggeber tun, sondern aktuelles Wissen, Belehrung und Unterhaltung festhielt in der Sprache, in der sie sich ihm präsentierte. Indem man die deutschen Texte nicht als Trouvaillen isoliert, sondern als literarische Bausteine innerhalb eines größeren Interessenverbundes betrachtet, wird etwas von dem literarischen Rohmaterial der Zeit wieder greifbar. Diese adaptation clericale lässt im Unterschied zur adaptation courtoise der gleichzeitig entstehenden höfischen Romane die ursprüngliche Form des verarbeiteten Materials erkennen. Die Textelemente tragen noch deutlich die Spuren ihrer Existenzform vor der Verschriftlichung. Gleichzeitig gibt die nicht-fiktionale Sammlung mit ihrem Wissenskontinuum einen zeitgenössischen Deutungshorizont für das verarbeitete Material. Parallel dazu wurden auch die frühmittelhochdeutschen Sammelhandschriften in einem sonst lateinischen Kontext aufgezeichnet. Hier finden sich zahlreiche gnomische Formulierungen, die auf ein ähnliches Umfeld weisen, z. B. in der ‘Hochzeit’: swer sich selben durch daz reht versmæhet, der wirt in mıˆnes vater rıˆche gehoˆhet. (V. 944 f.)51
Die Epochen sind nicht so eindeutig trennbar in ein geistliches Frühmittelhochdeutsch im lateinischen Umfeld gegenüber höfischer Literatur mit französischem Einfluss. Die Zürcher Handschrift Ms C 58 ist nicht nur ein »schönes Denkmal eines fleißigen Klerikers«, wie Werner in der neunzeiligen Auswertung seiner 151seitigen Teiledition schreibt.52 Für die Germanistik ist der ›Gelehrte‹ und seine Rezeption universitärer Texte zusammen mit mündlich umlaufenden Traditionen ein ideales und noch viel zu wenig beachtetes Testfeld für Fragen nach oraler Überlieferung, für die Entwicklung der Volkssprache und grundsätzlich für das sich schubweise mit den Reformen wandelnde Verhältnis von Volkssprache und Latinität, Klerikerkultur und höfischer Literatur. Es gilt also auch für die Germanistik, den Weisen nicht zu verachten!
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Kleinere deutsche Gedichte des 11. und 12. Jahrhunderts, hg. von Albert Waag und neu bearb. von Werner Schröder (ATB 71/72), Bd. 1 und 2, Tübingen 1972. Werner [Anm. 1], S. 151.
Narziß und Venus Der lyrische Blick auf die Antike bei Heinrich von Morungen, Konrad von Würzburg und dem Wilden Alexander von Michael Rupp
Die Tradition des mittelhochdeutschen höfischen Romans beginnt mit der Rezeption antiker Mythen, Figuren und Erzählstoffe. Neben den Alexanderromanen gelangen vor allem Nachdichtungen der ‘Aeneis’ Vergils oder antiker Epen um den Trojanischen Krieg an den Fürstenhöfen zur Aufführung; Stoffe also, die für jeden Lateinkundigen zur Schulbildung gehörten.1 Neben Vergil2 wird im 12. Jahrhundert vor allem Ovid zum wichtigen lateinischen Schulautor und bleibt ebenfalls nicht ohne Einfluß auf die volkssprachige Literatur.3 Insbesondere am Thüringischen Hof scheinen mittelalterliche Versionen antiker Literatur gepflegt worden zu sein. Die in diesem Zusammenhang entstandenen Epen, etwa die ‘Eneide’ Heinrichs von Veldeke oder der Trojaroman Herborts von Fritzlar, versuchen, durch höfisierende Tendenzen in der Bearbeitung ihrer Vorlage die Herrscher und ihre Umgebung als Urbilder zeitgenössischer Fürsten und ihrer Höfe auszuweisen. Ganz anders erscheint das Bild einer anderen Form höfischer Repräsentation, namentlich des Minnesangs. Manches gilt hier als von Ovid beeinflußt, etwa die Beschreibungen von Liebe als Krankheit oder als einer numinosen, übernatürlichen Macht. Doch werden solche Entlehnungen fast nie an der Oberfläche der Texte als spezifisch antik kenntlich gemacht. Bei der Darstellung höfischer Liebe scheinen antike Motive und Mythen als eindeutige Anspielungen tatsächlich schwer integrierbar gewesen zu sein. Figuren wie Paris und Helena oder Dido erscheinen bis auf wenige Ausnahmen auch nicht als Exempla;4 vielleicht auch, weil man deren Geschichten in 1
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Zur Antikenrezeption im deutschen Mittelalter allgemein informiert die Einleitung bei Manfred Kern, in: Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters, hg. von Manfred Kern und Alfred Ebenbauer unter Mitw. von Silvia Krämer-Seifert, Berlin/ New York 2003, S. IX−LVII. In Bezug auf die mittelhochdeutsche Literatur zwischen 1200 und 1300 ders., Edle Tropfen vom Helikon: Zur Anspielungsrezeption der antiken Mythologie in der deutschen höfischen Lyrik und Epik (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 135), Amsterdam 1998. Erwähnt werden sollte auch Elisabeth Lienert, Deutsche Antikenromane des Mittelalters (Grundlagen der Germanistik 39), Berlin 2001, insbes. S. 13–25. Über die Verbreitung Vergils informiert am schnellsten und besten Franz Josef Worstbrock, Art. ›Vergil‹, in: 2VL 10 (1999), Sp. 248–284. Zum Einfluß Ovids auf die mittelhochdeutsche Epik Renate Kistler, Heinrich von Veldeke und Ovid (Hermaea N. F. 71), Tübingen 1993, zur Ovidrezeption insbes. S. 4–29. Eine Ausnahme neben den hier behandelten Liedern wäre z. B. Friedrich von Hausen, MF 42,1–5.
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ihren Einzelheiten wohl kaum beim Publikum als bekannt voraussetzen konnte. Eindeutige Verweise auf die Antike tauchen im klassischen Minnesang nur sehr selten auf. Vor allem Heinrich von Morungen setzt sich immerhin in ein paar Liedern mit antiker Mythologie im weitesten Sinne auseinander. Bezeichnenderweise läßt sich sein Schaffen im Umkreis Dietrichs von Meißen lokalisieren, des Neffen des Landgrafen Hermann von Thüringen, an dessen Hof neben den bereits genannten Antikenromanen auch die Übersetzung der ‘Metamorphosen’ Ovids durch Albrecht von Halberstadt entstanden ist. Zu diesen Liedern kommen die einige Jahrzehnte später entstandenen Minneleichs Konrads von Würzburg und des Wilden Alexander – damit wäre die Reihe der nennenswerten Beispiele bis 1300 auch schon wieder geschlossen.5 Minnelieder, hinter denen die Antike als Anspielungshorizont aufscheint, bleiben bis weit ins Spätmittelalter hinein die Ausnahme. Es ist das große Verdienst der Arbeiten von Manfred Kern, die Hauptlinien der Entwicklung umrissen zu haben, im Zuge derer antike Stoffe in die mittelhochdeutsche Literatur Einzug hielten und sich nach und nach festsetzten. Damit ist ein Überblick über die verschiedenen literarischen Orte der Antikenrezeption möglich geworden. Dennoch lohnt sich gleichsam zwischen diesen Linien hindurch der genauere Blick auf den kleineren Zusammenhang der sich wandelnden Rezeption in der Lyrik. Denn gerade zwischen den ersten Übernahmen antiker Motive im Minnesang bei Morungen und den späteren in Leichs des ausgehenden 13. Jahrhunderts lassen sich deutliche Unterschiede beschreiben, die auch die jeweiligen Phasen der Gattungsentwicklung noch einmal charakteristisch gegeneinander abgrenzen. Dem ist der vorliegende Beitrag gewidmet. Zunächst also zu Heinrich von Morungen. Sein Schaffen setzt man zwischen 1190 und 1220 an; die oben erwähnte besondere Interessenlage am Meißner Hof könnte der Grund dafür sein, daß er in seine Lyrik mehr aus der Antike einfließen ließ als die Kollegen seiner Zeit. Die antike Mythologie lieferte ihm allerdings nur vordergründig das Material für eine Erweiterung poetischer Bilder durch intertextuelle Bezüge. Zusammenhänge aus der Mythologie werden in den Liedern Morungens ausschließlich wahrnehmbar an Stellen, an denen es darum geht, eine unüberbrückbare Kluft zwischen dem Sänger und seiner ersehnten Dame zu beschreiben, eine Kluft, die ausschließlich in der Phantasie überwindbar gedacht werden kann. So ist es zunächst im so genannten Narzißlied, das zweifelsfrei zu den am meisten besprochenen Werken Morungens gehört.6 Dem Lied liegt eine mythologische Kon5
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Manfred Kern behandelt in seinem Überblick ausschließlich diese Beispiele: Von Parisjüngern und neuen Helenen. Anmerkungen zur antiken Mythologie im Minnesang, in: Neophilologus 83 (1999), S. 577–599; ausführlicher in: Edle Tropfen [Anm. 1], S. 28–93 (zu Morungen), S. 457–489 (zu Konrad und dem Wilden Alexander). Die neueste Studie stammt von Nicola Zotz, Inte´gration courtoise. Zur Rezeption okzitanischer und französischer Lyrik im klassischen deutschen Minnesang (Beihefte zur Germanisch-Romanischen Monatsschrift 19), Heidelberg 2005, S. 229–238. Ferner (und mit weiterer Literatur) Christoph Leuchter, Dichten im Uneigentlichen. Zur Metaphorik und Poetik Heinrichs von Morungen, Frankfurt a. M. u. a. 2003; Beate Kellner, Gewalt und Minne.
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stellation zugrunde, die aber nie als solche explizit gemacht wird: Der Sänger besingt in gattungstypischer Weise seine Liebe zu einer unerreichbaren Dame. Diese wird zu einer Idee, auf die er fixiert bleibt und deren Unerreichbarkeit er gleichzeitig beklagen muß. Mit Hilfe von Elementen des Narziß-Mythos hebt Morungen das Bild der Dame auf eine andere ontologische Ebene der Unerreichbarkeit. Die folgende Interpretation konzentriert sich dementsprechend auf die Funktion des Mythologischen innerhalb des Liedes. Die ersten drei Strophen bilden eine innere Einheit: In der ersten beschreibt der Sänger eine durchlebte Situation mit Hilfe eines Vergleichs (Mir ist geschehen als einem kindelıˆne, MF 145,1).7 Berichtet wird eine Schau der Geliebten; dabei ist die Faszination eines kleinen Kindes für sein Spiegelbild der Vergleichspunkt für den gebannten Blick des Sängers auf die Dame. Morungen inszeniert hier schon auf der Vergleichsebene die unbedingte Unerreichbarkeit, mehr noch: Das Kind versucht, sein Ebenbild zu berühren, und dies soˆ vil, biz daz ez den spiegel gar zerbrach (MF 145,4). Die kindliche Freude am Schauen schlägt um in Leid und Trauer über den Verlust des betrachteten Objekts – oder besser den Verlust des Anblicks. Mit der Wendung alsoˆ daˆhte ich iemer vroˆ ze sıˆne (MF 145,6) wird wieder die Perspektive des Sängers eingenommen. Im Verlauf der zweiten Strophe schildert dieser nun das konkret Erlebte: Die Minne selbst habe ihm seine Dame im Traum gezeigt und er sich in der Schau ihrer makellosen äußeren und inneren Schönheit ergangen. Doch wie in der ersten Strophe bereits geschildert, wird die Freude getrübt und der Glanz verdüstert. Es ist die rätselhafte Verletzung des Mundes seiner Dame – niuwen daz ein lützel was verseˆret / ir vil vröuden rıˆchez (roˆtez) mündelıˆn (MF 145, 15–16) –, deren Wahrnehmung auf den Sänger verstörend wirkt. In der dritten Strophe führt diese Verstörung zum Einbruch der existentiellen Angst um das Leben der Dame in die Freude des Sängers. Sein Blick bleibt indes fixiert auf die Dame; dies führt zu niuwer klage über den erlittenen Verlust des Geschauten und der Freude. Abermals vergleicht er dieses Schauen mit dem gebannten Blick eines Kindes auf sein Spiegelbild, das es allerdings diesmal in einer Quelle erblickt – eine Situation, in der er bis zu seinem Tode verharren muß. Erst in dieser Konstellation ist es eindeutig die Situation von Narziß am Wasser, wie sie Ovid in seinen ‘Metamorphosen’ beschreibt.8 Der befürchtete Tod der
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Zu Wahrnehmung, Körperkonzept und Ich-Rolle im Liedcorpus Heinrichs von Morungen, in: PBB 119 (1997), S. 33–66, zum Narzißlied S. 56–66, und Christoph Huber, Narziß und die Geliebte. Zur Funktion des Narziß-Mythos im Kontext der Minne bei Heinrich von Morungen (MF 145,1) und anderen, in: DVjS 59 (1985), S. 587–608. Ich schließe mich hier dem allgemeinen Usus an, das Lied in der Fassung der Würzburger Liederhandschrift e (die es als einzige mit allen Strophen überliefert, allerdings unter dem Namen Reinmars) Morungen zuzuschreiben. Ich zitiere die Lieder Heinrichs von Morungen nach: Des Minnesangs Frühling. Band I: Texte. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann, Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus, bearb. von Hugo Moser und Helmut Tervooren. 38., erneut revidierte Aufl., Stuttgart 1988. Publius Ovidius Naso, Metamorphoses, hg. von William S. Anderson, Stuttgart 1991, III, 415–426.
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Dame wird den Sänger bis zu seinem eigenen Lebensende gefangen halten. Die beschriebene klage lässt er dann in der letzten Strophe hörbar werden: Nach einem erneuten Lob seiner vollkommenen Dame beklagt er nochmals ihre Unerreichbarkeit. Die ersten drei Strophen hindurch wird auf jeweils verschiedene Weise dieselbe Konstellation beschrieben, und zwar die beglückende Schau eines Idealbildes, das allein durch die Häufung von Begriffen wie Spiegel, Traum, Glanz und Bild schon als Abbild charakterisiert wird. Tatsächlich kann es stets nur medial vermittelt wahrgenommen werden. Die Medien wie Spiegel oder Traum markieren einen unüberbrückbaren »Bruch in der Realitätseinheit«,9 der die Unerreichbarkeit allein schon des Abbildes festschreibt. Mehr noch: Jeder Versuch, diesen Graben zu überschreiten, führt nur zu verstörenden Resultaten, die den Einbruch des Leids herbeiführen: In der ersten Strophe zerbricht der Spiegel – der ja in Analogie zur zweiten Strophe für die Dame selbst stehen müsste – beim Versuch, das darin enthaltene Bild als real und materiell begreifbar aufzufassen. Ähnlich ist es mit dem verletzten Mund der Dame in der zweiten Strophe: egal, ob man die Verletzung als Zeichen ihrer Abschiedstränen,10 als Vorbedeutung der in der dritten Strophe zum Ausdruck kommenden Sorge des Sängers11 oder als nahezu unverhülltes »Symbol eines Deflorations-Tabus«12 auffasst, jede Deutung geht stets von der Vorstellung einer wie auch immer gearteten imaginierten Affizierung der Dame durch den Sänger aus.13 Diese lediglich imaginierte Affizierung setzt dann jenen unheilvollen Prozeß in Gang, der bestenfalls nur zum Verlust der Freude führt. Die letzte Strophe ist vor diesem Hintergrund der Versuch zur Wiedergewinnung des verlorenen Idealbildes mit Mitteln der Poesie. Von hier aus lässt sich das Lied auch poetologisch deuten.14 9 10 11
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Huber [Anm. 6], S. 592. So Carl v. Kraus, Heinrich von Morungen, München 21950, S. 18. Roswitha Wisniewski, Narzißmus bei Heinrich von Morungen, in: FS Helmut de Boor, hg. von den Direktoren des Germanischen Seminars der Freien Universität Berlin, Tübingen 1966, S. 20–32, hier S. 22. Hans-Herbert S. Räkel, Das Lied von Spiegel, Traum und Quell des Heinrich von Morungen (MF 145,1), in: LiLi 7 (1977), S. 95–108, hier S. 107. Diese vergeblichen Versuche, das Spiegelbild zu fassen, beschreibt Ovid ebenfalls, indem er Narziß ins Wasser hineingreifen und dessen Oberfläche küssen läßt (Metamorphosen [Anm. 8] III, 427–429). Interessanterweise aber illustriert Ovid damit nur die Vergeblichkeit der Liebe, die den Prozeß der Erkenntnis in Gang setzt, an dessen Ende Narziß das Bild als sein Spiegelbild erkennt (463 f.). Kern, Von Parisjüngern [Anm. 5], S. 580, betont die aus den Bildern resultierende Permanenz des Sangs und überträgt dies schlüssig auch auf das Venuslied. Zur poetologischen Deutung v. a. Alexandra Stein: vntz daz sin hant den spiegel gar zebrach. Reflexionen über die Destruktion virtueller Realität in hern reymars ‘mir ist geschehen als eime kindeline’, in: Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur. Kolloquium Reisensburg, 4.–7. Januar 1996, in Verbindung mit Wolfgang Frühwald hg. von Dietmar Peil u. a., Tübingen 1998, S. 147– 168. Zur Poetologie des Narzißlieds Volker Mertens, Fragmente eines Erzählens von Liebe. Poetologische Verfahren bei Heinrich von Morungen, in: Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters, hg. von Martin Baisch, Jutta Eming u. a., Königstein (Taunus) 2005, S. 34–55, insbes. S. 43–51.
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Christoph Huber hat mit einem Blick auf zahlreiche Bearbeitungen des NarzißMythos gezeigt, daß Morungen diesen in der ganzen Komplexität und Bedeutungsvielfalt, in der das Mittelalter ihn verstanden hat, in das Lied integriert. Dies läßt sich beispielsweise an der Frage nach den Analogien durchspielen: Setzt man das kindelıˆn der ersten Strophe mit dem Sänger gleich, wird das Medium, der Spiegel, zur Dame, in der er ein (ideales?) Abbild seiner selbst erblickt. Die zweite Strophe variiert dies: Hier wird der Traum gleichsam zum Spiegel, den die Minne selbst dem Sänger vorhält, und er erblickt die ideale Geliebte. Der Mythos konnte die Spiegelung des Selbst in der geliebten Person symbolisieren, die Brechung einer idealen Welt im Ich als Spiegel wie auch das Sich-verlieren in der Schau eines Ideals, das dem Betrachter unerreichbar bleibt, ihm aber das Bild des eigenen Ideals zurückgibt.15 Das Motiv vom Spiegel erscheint zweimal. Im Vergleichsbild der ersten Strophe blickt ein kleines Kind, ein kindelıˆn, in einen Spiegel, nicht auf einen Wasserspiegel. Hier kann das Publikum die Faszination für das eigene Ebenbild möglicherweise auch aus der realen Lebenswelt heraus nachvollziehen, in der sich so etwas an Kleinkindern beobachten läßt. Auf mehr wird Morungen nicht rekurriert haben; keinesfalls auf Spezifika der Persönlichkeitsentwicklung, wie sie in der Moderne Jacques Lacan an dieser Situation aus psychoanalytischer Sicht beschrieben hat, so sehr es natürlich einen heutigen Rezipienten verlocken mag.16 Von hier aus ist das Rezeptionsmuster vorgeprägt, mit dem die erneute Schilderung derselben Situation in der dritten Strophe erst verstanden werden kann: Hier ist das Bild wie bei Ovid entworfen, ohne daß der Bezug explizit gemacht würde. Die Parameter werden dabei nur leicht verschoben: Nun ist es ein kint (das kann auch ein Jugendlicher sein), das von seinem Spiegelbild auf einer Wasseroberfläche gebannt ist. Mit diesem Kunstgriff führt Morungen die Rezipienten zum Verständnis der Situation des Mythos, ohne diesen auch nur irgendwie als Prätext kenntlich zu machen. Kenner antiker Literatur werden es sogleich verstanden haben, man muß aber als Rezipient keiner sein, denn alles zum Verständnis des Liedes Notwendige liefert der Text selbst mit. Man ist versucht, den Begriff ›Anspielungsdichtung‹ für dieses Lied in Frage zu stellen, denn der Bezug zum Mythologischen ist nur zu erahnen. Zwar wird die Situation von Narziß am Wasser beschreibend eingearbeitet; im Gegensatz zu den provenzalischen Vorbildern Bertrands de Ventadorn oder der von Bartsch angeführten anonymen Kanzone wird der Name Narziß nie genannt oder sonst ein Zeichen gegeben, das den Bezug deutlich machen würde.17 Morungen scheint dies regelrecht 15 16
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Huber [Anm. 6], S. 594–606. Auf die Ähnlichkeit mit den Thesen Lacans wurde bereits hingewiesen; vgl. die Diskussion von Stein [Anm. 14], S. 151 und Anm. 20, die sehr zu Recht davor warnt, das Lied daraufhin mit Kategorien der Psychoanalyse zu interpretieren. Es geht Morungen um die Schilderung kindlicher Faszination an einem rätselhaften Gegenstand, der in diesem Fall aus anderen Gründen ein Spiegel ist. Der Text der von Bartsch publizierten Kanzone ist mit einer Übersetzung bequem zugänglich in: Deutsche Lyrik des Frühen und Hohen Mittelalters, hg. und komm. von Ingrid Kasten, übers. von Margherita Kuhn (Bibliothek deutscher Klassiker 129), Frankfurt a. M.
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zu vermeiden: Das Lied soll offenbar auch ohne Vorkenntnisse verstanden werden können. Durch die aus dem Mythos entlehnte Konstellation wird hier der Bereich, in dem sich die Dame befindet, von der Realität des Sängers abgegrenzt. Es ist eine unerreichbare, fast jenseitige Sphäre, die nur medial vermittelt wahrgenommen werden kann. Die geschaute ideale Dame erhält eine fast schon numinos zu nennende Aura, die ihre prinzipielle Unerreichbarkeit unterstreicht. Das so konstruierte Gegenüber einer Welt des Mythos und einer anderen des Sängers scheint typisch zu sein für den Umgang Morungens mit der Antike. Dies zeigt sich im sogenannten Venuslied. Hier wird eine ähnlich unüberbrückbare Kluft zwischen Sänger und Dame aufgebaut. Der Bezug zur Antike wird durch die Nennung der Liebesgöttin Venus bei ihrem Namen deutlich gemacht, mit welcher der Sänger seine Dame identifiziert. Im vorliegenden Zusammenhang konzentriere ich mich wieder nur auf die poetische Konstruktion dieser Reminiszenz und ihre Funktion. Im Venuslied beklagt der Sänger wieder den Zustand seiner unglücklichen Liebe zu einer für ihn vollkommenen Dame, die ihn allein durch ihren Anblick beglücken und gleichzeitig Verstand und Freude, vröide und al die sinne (MF 138,35), rauben kann. Eingangs charakterisiert er sich selbst als ganz im Bann seiner Dame, er sei ganz und gar an sıˆ verdaˆht (MF 138,22). Er beschreibt sie dann mit Bildern, wie sie ihm in diesem Zustand des verdaˆht-seins in den Sinn kommen – nicht mit solchen, die er von realen Erlebnissen im Gedächtnis haben könnte. Dies scheint die einzig mögliche Form, mit ihr zusammenzukommen, nämlich tougen (MF 138,25). So berichtet er in der zweiten Strophe weiter: swen ich eine bin, si schıˆnt mir vor den ougen. Wenn er sich also allein seinen Gedanken überläßt, erscheint ihm ihr Bild. Im Geiste sehe er dann (soˆ bedunket mich), wie sie aldur die muˆren hindurch zu ihm käme, um ihn durch ihre Anwesenheit glücklich zu machen.18 Mehr noch: sie sei imstande, auch ihn in ihre Sphäre zu ziehen und davonzuführen zeinem venster hoˆh al über die zinnen (MF 138,27–32). Diese glückliche Begegnung findet also in der Imagination, auf einer Art Phantasiereise statt.19 So vermutet der Sänger in der dritten Strophe ein Veˆnus heˆre hinter dieser Erscheinung, wan si kan soˆ vil (MF 138,33 f.). Sie kann ihm erscheinen, wenn sie will, und kann ihm auch Freude und Verstand rauben. An dieser Stelle bleibt im Unklaren, ob ihm die Dame immer noch nur in der Imagination erscheint oder ob hier eine Begegnung in der Realität abgebildet werden soll. Bezeichnenderweise zeigt sie sich ihm aber auch jetzt nicht direkt, sondern an einem
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1995, S. 803 f. Auf S. 807 finden sich die relevanten Verse des ‘Lerchenlieds’ Bernhards von Ventadorn. Die Version in der Kleinen Heidelberger Liederhandschrift (A) ist noch genereller gehalten: si wont mir zallen zıˆten vor den ougen / unde dunket mich, / wie si geˆ dort her zuo mir dur ganze muˆren. Zit. nach: Deutsche Lyrik [Anm. 17], S. 272. So schon Kern, Edle Tropfen [Anm. 1], S. 35. Die jüngste Arbeit zum Venuslied mit weiterer Literatur stammt von Jan-Dirk Müller: Beneidenswerter kumber, in: DVjS 82 (2008), S. 220– 236.
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nicht näher beschriebenen vensterlıˆne. Morungen verwendet also ein Bildelement, das abermals eine grundsätzliche Trennung der Sphären beider anzeigt. Darüber hinaus entzieht sie sich auch in dieser Situation rasch wieder, denn sobald er sie länger anschauen wolle, wende sie sich ab, wie er klagt: ach, soˆ geˆt si dort zuo andern vrouwen (MF 139,2). Im Venuslied nennt der Dichter also zwar einen Namen aus der antiken Mythologie, integriert damit aber keinen Mythos, der einen Erzählzusammenhang beinhalten würde. Die Kenntnis der antiken Liebesgöttin konnte Morungen bei seinem Publikum voraussetzen; sie war die wohl bekannteste Figur der Mythologie im deutschen Mittelalter. Im Venuslied setzt er vor allem ihre Aura als Gottheit ein, denn aufgrund ihrer Macht über ihn und seine Gedanken vermutet der Sänger, seine Dame sei ein Veˆnus heˆre. Damit wird ihre Erscheinung am Fenster in der Phantasie des Sängers zur Epiphanie einer Göttin. Die beschriebene phantastische Begegnung in der Imagination und die Anteile am Phantastischen, welche die Dame in ihr erhält, verstärken diesen Eindruck. Inszeniert Morungen in vielen Liedern die Überhöhung seiner Dame, verlängert er hier die Distanz zu ihr gleichsam bis in die Sphäre des Numinosen hinein. Daß eine solche Art der Überhöhung auch in den Bereich des Religiösen zielen kann, macht die Revocatio in der letzten Strophe deutlich: Weˆ, waz rede ich? jaˆ ist mıˆn geloube boese / und ist wider got (MF 139,11 f.). Dieser Topos soll wohl am ehesten anzeigen, wie weit die Überhöhung der Dame geht: Die Liebe – oder vielmehr der Lobpreis – des Sängers macht aus seiner Dame eine Göttin, und das wird ihm mit leisem Schrecken bewußt. Um eine generelle Infragestellung der Hohen Minne handelt es sich dabei kaum, denn erst durch die Revocatio wird die Überhöhung ins Religiöse zur galanten Übertreibung. Man wird die Absicht der Rücknahme auch auf die Situation im Ganzen beziehen: auf den in die Schau versunkenen Sänger, der angesichts dieser Erscheinung in Gefahr gerät, sich selbst und alles andere zu vergessen. Als letztes Lied Morungens wäre noch ein in mancher Hinsicht anderer Fall anzuführen, nämlich MF 136,25: Diu vil guote. Von der eben beschriebenen Funktionalisierung der Antike aus kann man es aus einer anderen Perspektive sehen, als es bislang dargestellt wurde.20 Doch der Reihe nach: Einen Bezug auf die Antike weist nur eine der drei überlieferten Versionen auf, nämlich die in der Heidelberger Liederhandschrift A. Hier erscheint in der Schlußstrophe eine Anspielung auf den Troja-Mythos. A weist die Strophenfolge 1,2,3,5 aus ‘Minnesangs Frühling’ auf, entbehrt demnach der dort enthaltenen vierten Strophe, die in C, also dem Codex Manesse, und in p, einer Berner Sammelhandschrift, als letzte Strophe überliefert wird. Das Lied wird also in der Fassung von A den folgenden Überlegungen zugrunde gelegt.21 20
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Kern, Edle Tropfen [Anm. 1], S. 74–88 mit weiterer Literatur, und ders., Von Parisjüngern [Anm. 5], S. 582–584 zu diesem Lied. Zur Diskussion der verschiedenen Fassungen zuletzt Kern, Von Parisjüngern [Anm. 5], S. 580 f.
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Der Sänger klagt zunächst die Instanz der huote an, die ihn von seiner Dame trenne. Diese Art der Unerreichbarkeit steigert sich in der zweiten Strophe, wenn er die Geliebte mit der Sonne vergleicht, die ihm morgens aufgeht. Die dritte Strophe erklärt dann mit der abermaligen Wendung gegen die huote die Schau der Dame zum höchsten Glück, das ihm niemand verwehren dürfe. Zum Anschauen sei sie geschaffen, Daz si waer ein spiegel, al der werlde ein wunne gar (MF 137,2). Hier steht auch die Vision eines im Spiegel sichtbaren Ideals im Hintergrund, wie sie der oben angesprochenen Sicht des Narziß-Mythos entspricht. Die letzte Strophe verlegt ganz unvermittelt die geschilderte Situation allegorisch in den Bereich des Mythos. Zunächst wird die Dame mit Helena gleichgesetzt: Ascholoie / diu vil guote heizet wol.22 Daraus ergibt sich aber für den Sänger eine gleichsam mythologische Konsequenz: erst von Troie / Paris, der sie minnen sol (MF 137, 9–12). Die Minnedame wird also zu einer neuen Helena, wie Kern es plausibel gemacht hat. Der hier in Gang gesetzte Überbietungsmechanismus hat seinen Zielpunkt in der Revision des Parisurteils im Abgesang dieser Strophe. Die Frage ist allerdings, ob der Sänger auch zu einem neuen Paris werden muß – bzw., ob er es wird.23 Wäre es so, dann würde er die Identifikation mit Paris nutzen, um die huote radikal zu durchbrechen – und damit das Modell der Hohen Minne in Frage zu stellen. Die Folgerung ist aber alles andere als zwingend; weitaus wahrscheinlicher erscheint mir die genau gegenläufige Konsequenz: Die Überhöhung der Dame in den Bereich des Mythos führt wie im Venuslied zu ihrer absoluten Unerreichbarkeit, besiegelt diese geradezu. Sie wird Teil einer nur der Imagination zugänglichen Welt. Erreichbar ist sie dort nur für einen Heroen, der sich, unter Verachtung aller katastrophalen Konsequenzen, nicht an die huote kehrt. Das wäre eben ein Heros wie Paris, der hier immerhin in der dritten Person genannt wird. Ihr, der unerreichbaren Dame, würde er den Apfel geben, wenn er in der Gegenwart des Sängers neu wählen sollte. Das bedeutet aber eine Dissoziierung des Sängers vom Entführer Helenas und damit auch von antikem und mittelalterlichem Minnemodell: Der Vollzug der in der Realität nicht zu verwirklichenden Liebe rückt in den Bereich des Mythos; für den Sänger ist dieser Bereich in der Imagination erreichbar und im Sang zu vergegenwärtigen; in der Realität bleibt er ihm verschlossen. In diesem Lied setzt Morungen offenbar voraus, daß sein Publikum die Geschichte vom Parisurteil und dem folgenden Raub der Helena kannte, denn ohne dieses Wissen bleibt die letzte Strophe unverständlich. Wie in den anderen beiden Liedern kann schon die Schau der Dame allein den Sänger beglücken. Und wie dort entzieht sie sich ihm hier letztlich durch ihre Teilhabe an der Welt des Mythos, indem sie zu einer Idealgestalt wird. Neu ist allerdings, daß die Entsprechung einer Instanz auf der 22
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Daß mit Ascholoie Helena gemeint sein muß, ist unstrittig. Es ergibt sich vor allem aus dem Kontext, wenn Paris ihr Liebhaber werden soll. Für diesen Namen lassen sich Erklärungen finden; dennoch verrätselt er an dieser Stelle den Mythos, zumindest für Laien. Vgl. hierzu Kern, Edle Tropfen [Anm. 1], S. 81–85. So zuletzt Kern, Edle Tropfen [Anm. 1], S. 81 f., und ders., Von Parisjüngern [Anm. 5], S. 582 f.
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realen Ebene benannt wird, nämlich die huote, die den Sänger an der Schau hindert. Endgültig besiegelt wird die Unerreichbarkeit der Dame aber erst durch ihren Übertritt in den Bereich der Heroinen. In allen drei Liedern wird also der antike Mythos zur Illustration von Idealität und Unerreichbarkeit verwendet. Überschaut man den Minnesang der folgenden Zeit, so bleibt die Verwendung antiker Versatzstücke in der Lyrik immer noch äußerst selten, auch wenn die Dichter inzwischen deutlich mehr an geschulter Rhetorik in ihren Liedern durchscheinen lassen. Das genutzte Bildrepertoire hat seine Wurzeln zum größten Teil in der realen Erlebniswelt des Publikums, also in der Sphäre des Hofs – oder, seit Neidhart, in der Gegenwelt zum Hof.24 Bezeichnenderweise sind die beiden Hauptzeugen für Antikerezeption im 13. Jahrhundert Minneleichs, gehören also einer Gattung an, die sich in dieser Zeit zu einer lyrischen Prunkform entwickelt hatte, in der die Autoren ihr ganzes dichterisches Vermögen demonstrieren konnten.25 Doch auch innerhalb dieser Gattung nehmen die beiden im Folgenden zu besprechenden Werke durch die Einarbeitung mythologischer Elemente eine Sonderstellung ein.26 Gemeinsam ist ihnen allerdings, daß sie das Thema Liebe mit Kriegsmetaphorik verbinden. Die Nähe beider Bereiche ist schon in den Stoffen der bereits genannten Trojaromane und der ‘Eneide’ angelegt, doch die Vorstellung der Liebesgöttin als Kriegspartei oder der Minnenden als Krieger ist in der volkssprachlichen Dichtung nicht verbreitet. Der erste der beiden Leichs stammt von Konrad von Würzburg, mit dessen Werk Begriffe wie Rhetorik und Sprachartistik verbunden werden.27 Von ihm ist bekannt, daß er um 1287 in Basel verstorben ist, also etwa 60 Jahre später als Morungen, und somit wohl zwei oder drei Generationen jünger gewesen sein dürfte. Sein Minneleich ist so angelegt, daß er allegorisch zwei einander entgegenstehende Welten miteinander konfrontiert und die mißliche Lage dieser Situation beklagt. Auf der einen Seite ist der Bereich der Liebesgöttin, die in Schlaf versunken ist:28 Veˆnus diu feine diu ist entslaˆfen, / diu wıˆlent hoˆher minne wielt (V. 1 f.). Demgegenüber steht der andauernde Feldzug des Kriegsgottes Mars, der Amor bezwungen und dafür gesorgt hat, daß die Reize und Freuden der Venus am Hof nichts mehr gelten: 24
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Zur Situation im 13. Jahrhundert sei verwiesen auf den konzisen Überblick mit weiterer Literatur von Gert Hübner, Minnesang im 13. Jahrhundert. Eine Einführung, Tübingen 2008; ein Überblick über die bisherigen Forschungsansätze S. 7–13. Ingeborg Glier, Der Minneleich im späten 13. Jahrhundert, in: Werk − Typ − Situation. Studien zu poetologischen Bedingungen in der Älteren Deutschen Literatur. FS Hugo Kuhn, hg. von I. Glier u. a., Stuttgart 1969, S. 161–182, hat als erste die Entwicklung der Gattung jenseits der musikalischen Zusammenhänge beschrieben. Die jüngste groß angelegte Untersuchung zum Minneleich stammt von Christina Kreibich, Der mittelhochdeutsche Minneleich. Ein Beitrag zu seiner Inhaltsanalyse (Würzburger Beiträge zur Deutschen Philologie 21), Würzburg 2000, mit einem Forschungsbericht S. 13–27. Glier [Anm. 25] spricht S. 169 von einem Ausweichen »in die lateinische Schultradition«; vgl. auch Kreibich [Anm. 25], S. 177; zu Konrads Minneleich im Ganzen S. 177–183. Zuletzt Hübner [Anm. 24], S. 132–145. Ich zitiere nach folgender Ausgabe: Deutsche Lyrik des späten Mittelalters (Bibliothek deutscher Klassiker 191), hg. von Burghart Wachinger, Frankfurt a. M. 2006, S. 258–266.
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Her Mars der rıˆhset in dem lande, der haˆt den werden got Amuˆr verhert mit roube und ouch mit brande. des sint die minne worden suˆr. (V. 15–18)
Als positives Gegenbeispiel höfischer Liebe führt Konrad Riwalin und Blancheflur an, die Eltern Tristans und damit die des höfischen Liebhabers schlechthin. Hinter dieser Exposition scheinen mit den folgenden Zeilen die Umrisse einer bedrückenden Gegenwart auf, die vom männlichen Kriegstreiben beherrscht wird, welches den weiblich konnotierten Bereich der Liebe niederhält. Der Sänger richtet seine Hoffnung auf ein Erwachen der Venus und damit auf die Wiederkehr einer Zeit der Minne. Diese zwei Stränge, Kriegsdienst und höfische Liebe, werden dann thematisch durchgeführt. Mit Worten, die deutlich auf die entsprechende Passage der ersten Reichstonstrophe Walthers von der Vogelweide anspielen, wird der gegenwärtige Zustand als untragbar charakterisiert: Gewalt ist uˆf der straˆze michel, gerihtes haˆt man sich verschamt. diu reht steˆnt krumber danne ein sichel, fride und genaˆde sint erlamt. (V. 51–54)29
Diesen Zustand schreibt der Sänger dem Wirken der frouwe wendelmuot zu. Exemplarisch führt er im Anschluß daran das Wirken kriegerischer Gottheiten in der Antike auf, das zur Katastrophe geführt hatte, illustriert am Beispiel Trojas. Das Exempel faßt die Grundkonstellation des Leichs mythologisch zusammen: Im trojanischen Krieg, dem Urbild des Krieges in der mittelhochdeutschen Literatur, fand Paris, der klassische Liebhaber im Altertum, den Tod. Die weiteren Strophen nimmt ein Aufruf an Amor und Venus ein, ihre Waffen dafür einzusetzen, daß die Welt wieder in Frieden und höfischer Festesfreude leben könne.30 Die Wendung an die Damen, nicht zu verzagen, beschließt zusammen mit der Dichtersignatur das Werk. Der Schluß, der das Ganze als Tanzleich kennzeichnet, macht nochmals die Aufteilung der Bereiche klar, wie sie im Lied entworfen werden: Die Damen sind unter Führung der momentan schlafenden Venus (und in Komplizenschaft des Sängers) auf die Freuden der Liebe aus, die Männer unter der Ägide des Mars auf Krieg. Die tröstende Prophezeiung iuwer sorge wirt woˆl raˆt (V. 136) weist auf verdeckte Weise über den Text hinaus, denn hinter der ganzen Konstruktion scheint deutlich die Liebesepisode von Mars und Venus hervor. In diesem Zusammenhang könnte man sie so deuten, daß Venus den Kriegsgott im Sinne der Aufforderung des Sängers mit ihren Waffen bezwingt, indem sie ihn verführt. Überliefert ist dies bei Ovid in den ‘Metamorphosen’, und auch der Eneasroman Heinrichs von Veldeke berichtet davon.31 Belesene Rezipienten konnten also wissen, woher der Sänger seine Zuversicht nahm. 29
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Gemeint sind bei Walther die Verse L. 8,24–26: untriuwe ist in der saˆze / gewalt vert uˆf der straˆze / fride unde reht sint seˆre wunt. Zur Interpretation Kern, Edle Tropfen [Anm. 1], S. 466–478, und ders., Von Parisjüngern [Anm. 5], S. 591–594. Ovid, Metamorphosen [Anm. 8], IV, 169–189; Heinrich von Veldeke, Eneasroman. Nach
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Konrad von Würzburg nutzt Bilder des Mythos, um die Gegenwart zu beschreiben. Dies tut er aus der Perspektive eines Außenstehenden, der von der Handlung nicht unmittelbar betroffen ist. Bei ihm fungieren diese Bilder als Teil eines literarischen Anspielungshorizonts, mit dessen Hilfe sich die Gegenwart komplexer beschreiben lässt. Dabei ist die Antike nicht der einzige genutzte Bereich: Die Darstellung der kriegerischen Gegenwart gestaltet Konrad im Anklang an Walthers erste Reichstonstrophe; Riwalin und Blancheflur gelten als das beispielhafte Liebespaar. Literatur ganz allgemein also liefert das Bildarsenal zur Beschreibung der Gegenwart, und so wird die Welt des antiken Mythos zu einer Allegorie auf jene. Auf dieser allegorischen Ebene führt Konrad von Würzburg seine Gegenwart dann einer Deutung zu, die auch auf die literarischen Kontexte der anzitierten Bilder ausgreift. Darstellung und Deutung sind damit in den Bereich der Literatur verschoben. Und, nimmt man die Anspielung an die Metamorphosen ernst, dann wird auch die Lösung des geschilderten Dilemmas auf dieser Ebene entwickelt.32 Hier wird abermals der entscheidende Schritt der Literatur in Richtung ihrer Autonomie sichtbar, wie ihn Thomas Cramer am Beispiel der staufischen Lyrik des früheren 13. Jahrhunderts schon beschrieben hat.33 Ein kurzer Blick auf den Minneleich des Wilden Alexander soll den Überblick beschließen. Der fahrende Dichter und gelehrte Magister wirkte wohl in etwa gleichzeitig mit Konrad von Würzburg. Sein Minneleich greift auf andere Weise das Motiv des Krieges auf: Er beginnt mit einer Klage über sein Leid in und an der Liebe.34 Dabei stilisiert sich der Sänger im Gegensatz zu dem in Konrads Leich als unmittelbar betroffenen Werbenden und als schiltgeverten der Venus. Das greift ein Motiv der zeitgenössischen lateinischen Lyrik auf, in der sich die Protagonisten im Anklang an Ovid als Teil einer Streitkraft der Liebe, der militia amoris, beschreiben.35
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dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Dieter Kartschoke, Stuttgart 1986, 21997 (RUB 8303), 157,38–158,33. Noch einen Schritt weiter in die Richtung auf ein nahezu gleichwertiges Nebeneinander von Beispielen aus Antike und Mittelalter geht Rudolf von Rotenburg in seinen Leichs; v. a. in Leich III, V. 45–60 (nach: Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts, hg. von Carl von Kraus, 2. Aufl., durchges. von Gisela Kornrumpf, Tübingen 1978, Bd. I: Text, S. 367). Allerdings gehören fast alle von ihm zitierten antiken Figuren zum Personal mittelhochdeutscher Antikenromane, sind also auch in mittelalterlicher Literatur zu finden. Thomas Cramer, Soˆ sint doch gedanke frıˆ. Zur Lieddichtung Burgharts von Hohenfels und Gottfrieds von Neifen, in: Liebe als Literatur. Aufsätze zur erotischen Dichtung in Deutschland, hg. von Rüdiger Krohn, München 1983, S. 47–61. Ich zitiere nach: Deutsche Lyrik [Anm. 28], S. 292–300. Zur Stellung in der Tradition der Leichdichtung Kreibich [Anm. 25], S. 184–194. Weiterhin Kern, Edle Tropfen [Anm. 1], S. 457–466, und ders., Von Parisjüngern [Anm. 5], S. 589–591. So beschreibt es Francisco Pejenaute: La »Militia amoris« en algunas colecciones de poesı´a latina medieval, in: Helmantica 29 (1978), S. 195–204, vgl. auch Peter Godman, Literary Classicism and Latin Erotic Poetry of the Twelfth Century and the Renaissance, in: Latin Poetry and the Classical Tradition. Essays in Medieval and Renaissance Literature, hg. von Peter Godman und Oswyn Murray, Oxford 1990, S. 149–182.
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Im zweiten Teil beschreibt er dann die Eigenschaften der Minne zunächst in der Form einer kurzen Schildbeschreibung: Nu nemet war, daz ist der schilt dar under manger haˆt gespilt uˆf roˆtem velde ein nacket kint daz ist gekroenet unde ist blint, von golde ein straˆle in einer hant und in der andern ist ein brant. Daz kint haˆt uˆf den rant gesprenget zweˆne vlügel mit snellem vluge. Der schilt ist uˆz und uˆz gespenget an dem zeichen und an dem zuge. (V. 67–76)
Nach dem eindringlichen Verweis auf die eigentliche, allegorische Bedeutung dieses Bildes (V. 79–80: Schilt unde kint, daz ist ein wint, / irn nemet ouch der gloˆsen war) folgt ein zweiter Durchgang in Form einer längeren, detailreicheren Beschreibung mit integrierter Deutung (V. 85–132), also eine Allegorese.36 Schildbeschreibung wie die anschließende Allegorese beginnen jeweils mit einer Anrufung der Minne – ein im Mittelalter häufig übernommener antiker Topos – und einer Wendung des Sängers an sein Publikum, mit der er sich dessen Aufmerksamkeit versichert. Die Descriptio an sich ist ebenfalls eine poetische Praxis aus der Antike, die man im Mittelalter vor allem in der Epik in großer Breite übernahm.37 Indem der Sänger den Schild der Minne beschreibt, greift er die bekannteste und älteste Art der Kunstbeschreibung auf: Von der homerischen Darstellung des Achilleus-Schildes hatte sie über die Schilderung der Waffen des Aeneas durch Vergil ihren Weg zu Heinrich von Veldeke und damit in die mittelhochdeutsche Literatur gefunden. Der Wilde Alexander bindet an die kurze Schildbeschreibung eine mittelalterliche Allegorese an und läßt den Sänger so ein Wappen auf dem Schild entwerfen, das für die Liebe steht und damit auch das Signum aller Minneritter der militia amoris ist. Sämtliche hierin enthaltenen Attribute – roter Hintergrund, Kindlichkeit, Krone, Blindheit, der goldene Pfeil und die Flammen – werden in der Allegorese im Hinblick auf die Zweischneidigkeit der Liebe und die in ihr enthaltene Gleichzeitigkeit von Freude und Leid ausgedeutet, und zwar »nach den Intentionen der Ars amandi«:38 Als Kind werde Amor dargestellt, weil er stets unberechenbare Tücke zeige (V. 91– 94). Die Krone signalisiere die Macht, die manchen Fürsten überwinde (V. 95–98), die Blindheit stehe für die Ungerechtigkeit bei der Auswahl seiner Günstlinge (V. 115– 117). Pfeil und Flammen symbolisierten den Moment des Sich-verliebens und den folgenden Brand (V. 87–90), das rote Feld findet eine Ausdeutung als das im Minnekampf fließende Blut (V. 128–132); und das Gefieder, mit dem Amor fliegt, sym36 37
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Vgl. auch Kreibich [Anm. 25], S. 184–192. Dies zeigt für die mittelhochdeutsche Epik im Überblick Haiko Wandhoff, Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters (New Trends in Medieval Philology 3), Berlin/New York 2003. Kreibich [Anm. 25], S. 189.
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bolisiere die Gedanken der Liebenden, die er zu lenken vermag (V. 121–124). In dieser Darstellung eines Abbilds von Amor als Wappen der Minneritter (der ersten Ausgestaltung eines Amorbildes in der deutschen Literatur) verschränkt der Wilde Alexander kunstvoll Bestandteile zeitgenössischer Minneauffassung mit der antiken Bildlichkeit. Und dies tut er noch auf einer ganz anderen weiteren Ebene, wenn er nämlich antike Schildbeschreibung mit zeitgenössischer Allegorese verbindet, antike Inspirationsbitten an die personifizierte Minne des Mittelalters richtet – und dies alles in die zeitgenössische Form des Leichs gießt. Wo Konrad von Würzburg antike und mittelalterliche Literatur als Anspielungshorizonte miteinander in Zwiesprache kommen läßt, verschmelzt der Wilde Alexander beide auf inhaltlicher und formaler Ebene in einer Art, mit der seine Dichtung sich sehr der lateinischen Lyrik seiner Zeit annähert. Es ist wichtig, sich vor einer Schlußbetrachtung noch einmal vor Augen zu führen, daß Anspielungen an antike Mythen im Minnesang stets Ausnahmen markieren. Für Morungen war der Thüringische Hof ein Auditorium, bei dem er ein gewisses Interesse voraussetzen konnte. Die jeweils disparate und komplizierte Überlieferung der hier behandelten Beispiele sprechen dafür, daß solche Lieder jedenfalls nicht die bekanntesten außerhalb dieses Hofs waren. Der Ausnahmecharakter gilt, wie schon erwähnt, im Kern auch noch für die beiden Leichs im Oeuvre der beiden Berufsdichter Konrad von Würzburg und Wilder Alexander. Doch läßt sich auch unter diesen Sonderfällen eine Entwicklung umreißen: In Morungens Liedern markiert der Mythos stets eine fremde Welt des Unerreichbaren, die für die Beschreibung des Idealen genutzt wird. Diese Welt dient nicht als Vergleichsfolie zur allegorisierenden Beschreibung, sondern zur Überhöhung der Minnedame oder zur Illustration ihrer Unerreichbarkeit. Die Bildlichkeit drückt eine für Morungen typische Situation aus, die ähnlich auch mit dem Bild der Geliebten als Sonne oder Morgenstern zum Ausdruck kommt, wie es nicht nur in den hier besprochenen Liedern auftaucht.39 Diese Welt des Mythos entwickelt eine intensive Präsenz in der Realität des Sängers, auch wenn sie – wie im Narzißlied – nicht spezifisch markiert wird. Sie gibt dem Lied aber das Grundthema vor. Operiert also Morungen mit einer unmittelbaren Präsenz des Mythos, benutzen die Minneleichs Elemente der Mythologie für ein literarisches Spiel, das sich schon wesentlich gelehrter präsentiert als die Anspielungen in Morungens Lyrik. Konrad von Würzburg beschreibt und deutet allegorisch eine defiziente Realität, deren Lösung sich im Kontext des anzitierten Mythos andeutet. Auf ähnliche Weise kann die Antike didaktisch funktionalisiert werden, wie es vor allem der Wilde Alexander vorführt: Die Allegorese des Minneschilds ist zugleich Belehrung über das Wesen der Minne. Auch er greift auf die Kontexte seiner antiken Bilder zurück, und nur in einem solchen Verfahren wird eine solche Didaxe in der Lyrik möglich. Morungens Bildlichkeit verschließt sich solchen Verfahren.
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Z. B. die Strophen MF 123,1; 124,32 und 134,36.
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Im Überblick wird deutlich, wie antike Mythen im Zuge der Allegorisierung zunehmend ihrerseits als Bestandteile von Literatur aufgefaßt und verwendet werden. Dies läuft parallel mit dem bereits an der Leichdichtung beobachteten einsetzenden Übergang zur Leselyrik.40 Zeigt sich dies bei Konrad bereits an seinem Umgang mit den Versatzstücken der Mythologie, geht der Wilde Alexander hier noch weiter. Er übernimmt neben den Bildern aus der Antike auch formale Elemente der sie überliefernden Literatur. Damit sind die Antike und ihre Rezeption vollständig literarisiert. Die Unmittelbarkeit, mit der der Mythos allerdings bei Morungen in die Welt des Sängers eingebrochen ist, welche die Leuchtkraft der poetischen Bilder seiner Lyrik ausmacht, diese Unmittelbarkeit in der Begegnung mit Figuren der Mythologie läßt sich in einem solchen gelehrten Spiel nicht mehr erzeugen.
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Glier [Anm. 25], S. 163 f.
Die ›Köche‹ in Walthers ‘Spießbratenspruch’ (L. 17,11)1 Zum performativen Rahmen einer politischen Warnung von Derk Ohlenroth
Auf der Stadtburg von Oransche, Glorjet, versengt der Küchenmeister frühmorgens einem in der Küche schlafenden Knappen, Rennewart, Bart und Mund, wofür dieser ihn gebunden in die Glut unter einem Kessel wirft (Wolfram, ‘Willehalm’ VI 286,1– 18). Der Erzähler kommentiert das so: her Vogelweide von braˆten sanc: / dirre braˆte was dicke und lanc: / ez hete sıˆn vrouwe dran genuoc, / der er soˆ holdez herze ie truoc. (19–22) – ‘Herr Vogelweide sang von Bratenstücken: / Dieses Bratenstück war dick und lang. / Seine Herrin hätte daran genug gehabt, / der er stets so zugetan war.’ Daß Wolfram damit auf Walthers bekannten ‘Spießbratenspruch’ (L. 17,11) anspielt, sichern die Stichwörter 19 braˆten und 20 dicke. Der Spruch im ‘Zweiten Philippston’ lautet:
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Wir suln den kochen raˆten, sıˆt ez in alsoˆ hoˆhe steˆ, daz si sich niht versuˆmen, daz si der vürsten braˆten snıˆden grœzer baz danne eˆ, doch dicker eines duˆmen. Ze Kriechen wart ein spiz versniten, daz tet ein hant mit argen siten, si enmoht ez niemer haˆn vermiten: der braˆte was ze dünne. des muose der heˆrre vür die tür, die fürsten saˆzen ander kür. der nuˆ daz rıˆch alsoˆ verlür, dem stüende baz, daz er nie spiz gewünne.
(‘Wir wollen den Köchen raten, / nachdem für sie von so herausragender Bedeutung ist, / daß sie ihre Pflicht nicht vernachlässigen, / sie möchten die Bratenstücke der Fürsten / merklich größer schneiden als zuvor, / jedenfalls um einen Daumen breiter (dicker als daumenbreit?). / In Byzanz wurde ein Spießbraten tranchiert; / das besorgte eine Hand auf knauserige Art / (sie hätte niemals anders gekonnt): / Das Bratenstück war zu dünn ausgefallen. / Dafür wurde der Herrscher vor die Tür gesetzt. / Die Fürsten saßen [für eine andere Wahl (?)] zusammen. / Wer jetzt die Königsherrschaft ebenso verlöre, / dem hätte es besser angestanden, nie über einen Spießbraten zu verfügen.’)
Walthers kecker Spruch erinnert an Ereignisse in der Endphase des byzantinischen Kaiserreiches. Isaak II. Angelos, Schwiegervater Philipps von Schwaben, wurde 1195 1
Zitiert wird nach der Ausgabe: Walther von der Vogelweide. Leich, Lieder, Sangsprüche. 14., völlig neu bearbeitete Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner, hg. von Christoph Cormeau, Berlin/New York 1996.
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von seinem Bruder, Alexios III., im Wege einer Palastverschwörung gestürzt und geblendet. Mitte 1203 kehrte er mit Kreuzfahrerhilfe (neben seinem Sohn Alexios IV. als Mitregenten) für nur kurze Zeit wieder zur Herrschaft zurück. Schon im Februar 1204 nämlich wurde die Kaiserherrschaft der Angeloi auf spektakuläre Weise gewaltsam beendet: Alexios IV. »wurde in ein Verlies geworfen und dort allgemein und verdientermaßen unbeklagt erdrosselt. Sein Vater Isaak starb einige Tage später an Kummer und wohlüberlegter Mißhandlung.«2 Nun »sind weder Alexios und seine Vorgänger noch sein Nachfolger im untergehenden Byzanz bzw. im Restreich jemals gewählt worden [. . .]«;3 erst im März 1204 wurde die »bisherige Erb- in eine Wahlmonarchie umgeformt [. . .] daß aber diese Wahlen von Fürsten vorgenommen sein oder werden sollten, davon ist keine Rede.«.4 »Ein Wahlgremium aus Venezianern und Franken wählte Balduin von Flandern zum ersten Herrscher eines neu errichteten sog. lateinischen Kaisertums.«5 Walthers Spruch, der eine kür anspricht (17,22), ist deshalb nach allgemeiner Auffassung entsprechend spät, nämlich »[. . .] zwischen 1204 und 1208 [. . .] zu datieren.«6 Wolframs ‘Willehalm’ wiederum pflegt man auf etwa 1210–1220 anzusetzen, womit das VI. Buch um eine unbestimmte Zeitspanne von dem hier erinnerten Walther-Spruch abrückt. Mackensen meint dazu: »Daß Wolfram gerade in diesem hochkomischen Augenblicke [. . .] an Walthers Verse erinnert wird, zeigt, wie er sie verstanden, wie er sie ein Jahrzehnt mindestens im Gedächtnis behalten hat.«7 We n n nämlich Wolfram »im Herbst 1203 über Erfurt nach Eisenach geritten ist« – so Mackensen – so ist »die Vermutung, daß die Spießbratenstrophe damals in Eisenach entstanden ist und vorgetragen wurde, [. . .] erneut gestützt: Wolfram hat die erste Wirkung des Spruches miterlebt!«8 Es fragt sich jedoch, ob dies für 2
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Vgl. Steven Runciman, Geschichte der Kreuzzüge, Dritter Band: Das Kaiserreich Akkon und die späteren Kreuzzüge, München 1960, S. 116–136, hier S. 125. – Eine knappe Übersicht über die historischen Fakten ferner in: Walther von der Vogelweide. Werke. Gesamtausgabe, Bd. 1: Spruchlyrik. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hg., übers. und komm. von Günther Schweikle, Stuttgart 22005 (RUB 819), S. 358 f.; Ursula Liebertz-Grün, Rhetorische Tradition und künstlerische Individualität. Neue Einblicke in L. 19,29 und L. 17,11, in: Walther von der Vogelweide. Beiträge zu Leben und Werk, hg. von Hans-Dieter Mück, Stuttgart 1989, S. 281–297, hier S. 292. Bernd Ulrich Hucker, Kaiser Otto IV., Hannover 1990, S. 158. Lutz Mackensen, Zu Walthers Spießbratenspruch, in: Studien zur deutschen Philologie des Mittelalters. FS Friedrich Panzer, hg. von Richard Kienast, Heidelberg 1950, S. 48–58, hier S. 52. Im Westen war bekannt, »daß die neue, lateinische Herrschaft sich auf eine Wahl gründete, wenn auch die Wahlmänner nur zum Teil Fürsten, nämlich Bischöfe waren.« (Hucker [Anm. 3], S. 158). Schweikle [Anm. 2], S. 358. – Man möchte den ‘Spießbratenspruch’ »nach Juni 1204, nach dem Bekanntwerden der Kaiserwahl von Byzanz«, datieren (Manfred Günter Scholz, Walther von der Vogelweide, Stuttgart/Weimar 1999 [SM 316], S. 67). Mackensen [Anm. 4], S. 51; vgl. S. 55: »nach mehr als einem Jahrzehnt«. In gleichem Sinne Wolfgang Mohr, Die ‘vrouwe’ Walthers von der Vogelweide, in: ZfdPh 86 (1967), S. 1–10, hier S. 7: »Reichlich ein Jahrzehnt später erinnert Wolfram von Eschenbach im ‘Willehalm’ (286,19–22) sein Thüringer Publikum an Walthers Spießbratenspruch.« Mackensen [Anm. 4], S. 55 f.
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eine Überbrückung des namhaften Zeitintervalls hinreicht. Was nämlich für den Erzähler, sollte ebenso für sein Publikum gelten: Die gewünschte Wirkung im Vortrag setzt für alle Anwesenden d i e s e l b e lebhafte Präsenz der Spruchstrophe voraus. Kann ein so pointiert aktualitätsbezogener Spruch wie L. 17,11 einem gesammelten Hörerpublikum nach gut einem Jahrzehnt noch hinreichend lebendig vor Augen gestanden haben?9 Wir belassen es vorläufig bei der Frage und wenden uns den Texten selbst zu, vorab Wolframs kurzer Erzählerreplik. Daß der so gewagt anmutende Seitenhieb gegen Walthers vrouwe – ez hete sıˆn vrouwe dran genuoc, / der er soˆ holdez herze ie truoc (286,21–22) – nicht nur den halben Umfang der Erzählerbemerkung ausmacht, sondern diese abschließt, bekundet seinen besonderen Stellenwert im vorgegebenen Rahmen. Doch gilt die provokante Bemerkung mindestens in gleichem Maße dem Sänger selbst. Ja, die innere Gewichtung der knappen Erzählerrede scheint zu verraten, daß Wolfram sein Publikum nicht allein mit einem treffsicher-steigernden Fortspielen des braˆte-Motivs erheitern, sondern zugleich den Dichterkollegen humorvoll-ironisch ›vorführen‹ wollte. Gerade das deiktische soˆ (286,22) bezeugt ein durchaus zielgerichtetes Einvernehmen mit den Hörern. Wenn es von einem verallgemeinernden ie begleitet wird, so spielt Wolfram auf eine Haltung Walthers an, die jeder kannte. Die Verallgemeinerung entspricht einem gezielten Sarkasmus, dessen optimale Bedingung die Anwesenheit des Adressaten wäre – der Pointe des knappen ›Zitats‹ käme Walthers leibhafte Präsenz sehr wohl zugute. All dessen ungeachtet gibt nun der Inhalt von Wolframs kurzer Bemerkung Anlaß zu einer ernsthaften Irritation. Wenn wirklich Walthers vrouwe gemeint ist, stehen unter den herkömmlichen Rezeptionsvorzeichen die alten höchst beunruhigenden Fragen im Raum: welch enormer ›Appetit‹ der vrouwe diesen brüsken Hieb Wolframs gerechtfertigt hätte – denn was sonst käme als Motiv für einen solchen Ausfall in Betracht? – und wie sie selbst samt der übrigen prominenten Gesellschaft eine solche Freiheit des Erzählers aufgenommen haben mag.10 Man pflegt ja die kurze 9
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Ulrich Müller, Untersuchungen zur politischen Lyrik des Mittelalters, Göppingen 1974 (GAG 55/56), S. 55, akzentuiert umgekehrt: »Die Anspielung Wolframs (Willehalm 286,19 ff.) spricht für die Bekanntheit der Strophe [. . .]« – »Wolframs Anspielung auf diese Strophe [. . .] zeigt, welchen Erfolg Walther mit seinem Bild [»der fleisch-schneidenden Köche«] hatte [. . .]« (ebd., S. 520). Harald Haferland, Hohe Minne. Zur Beschreibung der Minnekanzone, Berlin 2000 (Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie 10), S. 356, vermutet: »Daß an Walthers vrouwe irgendetwas aufgefallen sein muß – was immer es war –, setzt Wolframs Anspielung sicher voraus.« – Mohr [Anm. 7] sah bekanntlich »das Rätsel der Willehalm-Stelle« gelöst (S. 9), wenn Walthers vrouwe Hermann von Thüringen wäre, gegen welchen sich dann Wolframs Spott mehr als gegen Walther richtete (S. 8): »[. . .] der Scherz mit Walther und seiner vrouwe war doch nur möglich, wenn die Vorstellung vom politischen Dichter im Herrendienst und vom Minnesinger im Hofdienst einer vermeintlichen vrouwe sehr nahe beieinanderlag.« (ebd.). Die Hypothese einer »vermeintlichen vrouwe« jedoch und ihre Implikationen sind geeignet, die Geister zu entzweien; hier wird der Text unbefangen wörtlich genommen. Joachim Heinzle, Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Mittelhochdeutscher Text, Übersetzung, Kommentar, hg. von
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Erzählerbemerkung im ‘Willehalm’ etwa so zu rezipieren: Nachdem v. 19 Walther und seinen ‘Spießbratenspruch’ in Erinnerung gerufen hat, lenkt schon v. 20 mit dirre braˆte in die Koordinaten des Erzählinhalts zurück. Man sieht infolgedessen in v. 21 entsprechend überrascht die vrouwe Walthers, bereits losgelöst vom Spruch-Kontext, dieser ungefügen Kost gegenüber und fragt sich, wie Wolfram auf sie verfallen konnte, warum ihr dieses ungeheuerliche Format zugemutet, ja geradezu ›vorgeworfen‹ wird und über welch mörderischen Appetit sie verfügt haben muß. Mit einem Wort: Die Vorstellung ist bizarr und ein entsprechend bestürzender Affront gegen Walthers vrouwe. Es müßte aber wohl nicht so sein: Eine (hypothetische) leibhafte Präsenz Walthers – könnte sie am Ende nicht dasselbe bedeuten wie eine aktuelle Präsenz seines von Wolfram ›in Erinnerung gerufenen‹ ‘Spießbratenspruchs’? Unterstellte man hypothetisch, Wolframs Erzählerbemerkung b l i e b e gewissermaßen in der Funktionalität eines soeben erst zum besten gegebenen Spruches, führe also gleichsam auf dessen ›Schiene‹ fort, so fügte sich v. 20 (dirre braˆte [. . .]) ohne weiteres der Perspektive von Walthers – noch aktueller! – Forderung: ›Dies entspräche dem angemahnten Braten‹. Es bedürfte lediglich der – nicht beweisbaren, doch naheliegenden – Vorannahme, die vrouwe Walthers, der ja f ü r die ›Fürsten‹ g e g e n den herrscherlichen Hof Partei nimmt, sei nicht Königin gewesen (also etwa Philipps Gemahlin, Irene, die Tochter Isaaks II. von Byzanz), sondern habe im Rang einer ›Fürstin‹ gestanden. Während sonst die Frage unbeantwortet bliebe, warum Wolfram überhaupt in diesem Zusammenhang Walthers vrouwe so unvermittelt ins Spiel gebracht habe, wäre sie so geradezu automatisch in d e n Empfängerkreis gerückt, für dessen Belange Walther eintrat. Dies hätte Wolfram die Möglichkeit eröffnet, Walthers Einmischung gezielt zu persiflieren: Er hätte scherzhaft ein p e r s ö n l i c h e s Anliegen des Sängers konstruiert, ›seine‹ Fürstin üppiger als bisher bewirtet zu sehen. Ein gegen sie stets bewiesenes holdez herze (22) des Sänger-Kollegen hätte er spaßhaft in ein besonderes Interesse für ihr leibliches Wohl verkehrt, also die Metaphorik zu Wa l t h e r s Lasten wörtlich genommen. Der Akzent dieser gutgelaunten Replik läge in v. 21 weniger auf vrouwe als auf dem – von Walther selbst vorbereiteten – Begriff genuoc. Über Walthers ahnungslose und gewiß höfisch-kultivierte vrouwe wäre die monströse Zumutung ebenso unversehens wie u n v e r s c h u l d e t hereingebrochen. Darin, daß indirekt Walther selbst ihr diesen ›Braten‹ vorgesetzt hätte, daß ihm also mit seiner noch im Raum stehenden Forderung mutwillig etwas in den Mund gelegt worden wäre, was er so weder gesagt noch gemeint hatte, läge das erheiternde Moment – nicht in der zügellosen Gefräßigkeit seiner vrouwe. Wolframs Gegenschlag wäre hiermit weit weniger anzüglich; alle ›Schuld‹ läge auf seiten des (wörtlich genommenen) WaltherSpruches. Die Bedingungen dafür jedoch sind klar: Der Bezug funktioniert nur, wenn Joachim Heinzle. Mit den Miniaturen aus der Wolfenbütteler Handschrift und einem Aufsatz von Peter und Dorothea Diemer, Frankfurt a. M. 1991 (Bibliothek des Mittelalters Bd. 9), sucht die drastische Vorstellung zu entkonkretisieren: »wahrscheinlich ist die von dem Minnesänger Walther angebetete Minnedame gemeint; der Typus, nicht eine bestimmte Person« (S. 1014).
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der Spruch noch in ungebrochener Aktualität im Raum steht; Walthers Forderung nach größeren Bratenstücken ebenso wie die damit wachgerufene Erwartung des Publikums bestünde gerade j e t z t und würde j e t z t ›bedient‹. In der Spannung, die die Aktualität entwirft, wäre Wolframs Replik automatisch richtig gesteuert. Jahre später, wenn diese Spannung längst verfallen war, fehlte die tragende ›Schiene‹, auf welcher die Replik ins Ziel kommen konnte. Bei einer aktuellen Präsenz des Walther-Spruches im ‘Willehalm’-Vortrag käme es nicht zu jener ebenso willkürlichen wie unverschämten Brüskierung der vrouwe Walthers von der Vogelweide, die so viel Mühe gemacht hat. Unter den hiermit entworfenen hypothetischen Voraussetzungen mag es sich lohnen, die Aufmerksamkeit nunmehr speziell auf Walthers ‘Spießbratenspruch’ zu lenken. Im Walther-Spruch kommt das erste Stichwort des Eingangsverses, koche, ohne textexternen Zusammenhang wahrgenommen, bei aller Originalität, die man ihm zu attestieren gewohnt ist, durchaus unmotiviert. Dabei sollten die Hörer mit Beginn des Spruchs nicht allein auf Anhieb wissen, wer mit den kochen gemeint sei,11 sondern von Anfang an auch, warum die Metapher, deren Sinn sich ja erst drei Verse später mit der des vürsten braˆten (17,14) zu enthüllen beginnt, überhaupt gewählt wurde. Man hat sich Walthers Küchenmetaphorik offenbar unter einer der Vortragswirklichkeit verpflichteten Perspektive bisher nicht vergegenwärtigt und an den so unvermittelt präsentierten kochen nichts ›Anstößiges‹ gefunden: »[. . .] das witzige, verschleiernde Spiel mit den Worten koch, fürst [sic] und heˆrre [. . .] all das zeugt von Einfallsreichtum, Geist und der damals wohl doppelt geschätzten Gabe, überraschen zu können.«12 War aber, wenn die Reichsministerialen gemeint waren, die »überraschende« Metapher koche auch problemlos verständlich? Welche Situation setzt sie voraus, und vermochte das Publikum einer späteren Reminiszenz im ‘Willehalm’ diese noch zu realisieren? Doch die Irritationen verschärfen sich: Auf die zwei Folgeverse des Eingangsstollens – sıˆt ez in alsoˆ hoˆhe steˆ und daz si sich niht versuˆmen (17,12–13)13 hat offenbar kaum jemand wirklich achtgehabt. Zunächst: Inwiefern käme für die ›Köche‹ so viel ›darauf‹ an oder käme ›es‹ sie ›so hoch zu stehen . . .‹? v. Kraus14 behilft sich mit einer Vorwegnahme der Schlußpartie: »[. . .] daß nämlich der heˆrre (21) das rıˆche nicht verliert (23).« Doch hieße das wohl die appellative Struktur des Spruches aus den 11
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Man denkt an »Reichshofbeamte« (Kurt Herbert Halbach, Walther von der Vogelweide, Stuttgart 31973, S. 89), »Reichsministeriale« (Hucker [Anm. 3], S. 157), »Ratgeber, welche die Reichsgüter zu verwalten (und zu verteilen) hatten« (Schweikle [Anm. 2], S. 358). Mackensen [Anm. 4], S. 55. BMZ II/2 (Sp. 575a) geben zu 17,12: »so viel für sie darauf ankommt«; v. Kraus (Carl v. Kraus, Walther von der Vogelweide. Untersuchungen, Berlin/Leipzig 1935, S. 45 Anm. 1): »[. . .] Ich meine [. . .], der Wortlaut gestattet nur den Sinn: ›da sie so hohen Einsatz machen müssen, da es ihnen so hoch zu stehen kommt‹, s. Nib. B 330,3 [. . .]«. Wapnewski (Walther von der Vogelweide, Gedichte. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung, ausgewählt und übersetzt von Peter Wapnewski, Frankfurt a. M./Hamburg 1976, S. 143) und Schweikle ([Anm. 2], S. 97) übersetzen ähnlich: »da es sie so teuer zu stehen kommen kann«. v. Kraus [Anm. 13], S. 45 Anm. 1.
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Augen lassen: Das mißliche Schicksal des heˆrren, vor dessen neuerlicher Erfüllung die Strophe warnt, ist deren eigentlicher Clou und zu ihrem Beginn der Hörerschaft natürlich noch nicht gegenwärtig. Für v. Kraus wird der Text hier zum Material einer Lektüre, die von der Textwirklichkeit abstrahiert und die die Frage nach einer rhetorisch-performativen Funktion der Strophe vernachlässigt. Dagegen steht in v. 17,12 sogar ein alsoˆ: Es muß einen Bezug ansprechen, den das Publikum augenblicklich hat realisieren können. Gesetzt, in der politischen Situation, die Walther anspricht, sei das der Fall gewesen – schon wenige Jahre später konnte sicher, ähnlich wie heute, kaum noch jemand etwas mit dem Hinweis anfangen. Die Bemerkung in ihrem unverkennbaren Sarkasmus gehört aber zum Wesenskern der Strophe. Man wird noch einen Schritt weiter gehen dürfen: Gerade solange die ›metaphorische‹ Ebene, welcher die koche angehören, nicht für jedermann auf ihre Anwendung transparent geworden ist, sollten die zwei Folgeverse (17,12–13) in ihrem Bezug auf die koche erst recht einen schlüssigen Sinn ergeben, in dessen Rahmen sich insbesondere das deiktische alsoˆ stringent beziehen ließe. Befremden mag in dem Zusammenhang auch, daß jenes hohe Risiko ausgerechnet den kochen zugewiesen wird und nicht dem, der es in erster Linie tragen würde, dem Herrscher selbst. Eine zweite sensible Frage lautet aber: Worin sollen sich die ›Köche‹ nicht ›verspäten‹? Nachmalige Hörer wie moderne Leser müßte die Strophe in der Frage nach Inhalt und Gewicht des sich versuˆmen ratlos lassen. Die ›Lösung‹, welche die gängigen Übersetzungen bieten, verschleiert das Problem: Sie geben zunächst vor, 17,13 daz si sich niht versuˆmen hänge von 17,11 raˆten ab. So übersetzt Wapnewski:15 »Wir halten es für unsere Pflicht, den Küchenmeistern den Rat zu geben / – da es sie so teuer zu stehen kommen kann –, / sie möchten dringlich darauf achten, / den Braten der Fürsten / großzügiger zu tranchieren denn bisher [. . .]«. Schweikle:16 »Wir müssen den Köchen raten, / da es sie so teuer zu stehen kommen kann, / daß sie es nicht versäumen, / daß sie der Fürsten Braten / lieber in größere Stücke schneiden als früher [. . .]«. Schließlich Margherita Kuhn:17 »Wir müssen den Köchen raten, / weil es sie so teuer zu stehen kommen kann, / daß sie nicht zögern, / den Braten der Fürsten / größer und besser zu schneiden als bisher [. . .]«.18 Eine Abhängigkeit des Verses 17,13 15 16 17
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Wapnewski [Anm. 13], S. 143. Schweikle [Anm. 2], S. 97. Deutsche Lyrik des Frühen und Hohen Mittelalters. Edition der Texte und Kommentar von Ingrid Kasten, Übersetzung von Margherita Kuhn (Bibliothek des Mittelalters 3; Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 6), Frankfurt a. M. 2005, S. 483 f. Ähnlich übersetzt den Vers 17,13 zuvor Liebertz-Grün [Anm. 2], S. 289: »Wir wollen den Köchen raten, / – da es sie so teuer zu stehen kommen kann –, / sie sollen nicht zögern, / den Braten der Fürsten / in dickere Stücke als vorher zu zerlegen, / um mehr als Daumendicke.« – Entsprechend auch Joerg Schaefer, Walther von der Vogelweide: Werke. Text und Prosaübersetzung, Erläuterung der Gedichte, Erklärung der wichtigsten Begriffe, Darmstadt 1972, S. 265: »Wir wollen den Köchen raten, da sie’s doch so teuer zu stehen kommt, sie sollen schleunigst den Braten der Fürsten in größere Stücke schneiden als früher, mindestens um Daumendicke.« – Schon Karl Simrock hatte in diesem Sinne übertragen: »Man soll den Köchen raten, / Da ihrem Wink so viel bereit, / Daß sie es nicht vermeiden, / Und ja der
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von 17,11 raˆten hat alsdann offenbar wie eine fatale syntaktische Weichenstellung gewirkt: Sie scheint eine weitere Abhängigkeit suggeriert zu haben, die des Objektsatzes 17,14–15 daz si der fürsten braˆten [. . .] von 17,13 daz si sich niht versuˆmen: Alle zitierten Übersetzungen stellen einen solchen Bezug her: die Wapnewskis und Schweikles über die antizipierenden Ausdrücke (» d a r a u f achten – e s nicht versäumen«), welche erst der folgende Objektsatz (»daß sie der Fürsten Braten [. . .]«) expliziert; die Kuhns über das – sonst inhaltsleere – »nicht zögern«, das ebenfalls eine Ergänzung fordert.19 Was »so teuer zu stehen kommen kann«, müßte sich hiernach wohl mit Carl v. Kraus erklären; worin die Köche sich niht versuˆmen sollen, stünde unmittelbar im Text: nämlich in der Portionierung der Bratenstücke. Das unbemerkte Problem liegt in der Verwendung von mhd. sich versuˆmen. BMZ (II/2, Sp. 730a) zitieren – unter Auslassung von v. 17,12 (!) – als festen Zusammenhang: »wir suln den kochen raˆten, daz si sich niht versuˆmen Walth. 17,13 vgl. 110,32.«, führen dann aber Belege für präpositionale (neben mit vor allem an) und eine Gen.-Konstruktion an; Lexer20 liefert neben Belegen für die präpositionale Konstruktion mit an auch einen für die mit gegen. Was sich in beiden Lexika n i c h t findet, ist die Konstruktion von sich versuˆmen mit einem daz-Satz. Das dürfte heißen: Die Unterstellung einer solchen Konstruktion und eine entsprechende Übersetzung sind, solange entsprechende Belege fehlen, nicht hinreichend fundiert. Die Strophe meint allem Anschein nach nicht das, was man aus ihr herausliest. Vielmehr hängt 17,13 daz si sich niht versuˆmen von 17,12 ez ab und 17,14 f. daz si der fürsten braˆten [. . .] von 17,11 raˆten. Daraus folgt eine harmonische Verteilung des regierenden Satzgefüges auf den ersten und des vom Hauptsatz abhängigen Objektsatzes – über den Reim verbunden – auf den zweiten Stollen: Genau dieselbe Rücksicht auf die metrischen Bauteile des Aufgesangs findetsich in der gedanklichen Gliederung a l l e r weiteren Strophen des ‘Zweiten Philippstons’. Damit jedoch sind die beiden Verse 17,12–13 syntaktisch und semantisch direkt miteinander verbunden. Nicht allein der betonten Dringlichkeit des sich niht versuˆmens fehlt so die plausible Motivation: Vor allem der Bezug des sich niht versuˆmens ist unversehens offen. Unbeantwortet im Raum steht mithin die Fra-
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Fürsten Braten, / Wär’ es auch nur daumenbreit, / Ein wenig dicker schneiden [. . .]« (Walther von der Vogelweide: Gedichte, übertragen von Karl Simrock, zusammengestellt und mit Nachwort und Anmerkungen versehen von Andreas Schaefer, Essen/Stuttgart 1985, S. 55). – So versteht die Partie auch Franz Viktor Spechtler: »Wir müssen den Köchen raten (weil’s ihnen sonst recht schlecht ergeht), dass sie es nicht versäumen, der edlen Fürsten Braten größer schneiden [sic] als je zuvor und dicker als ein Daumen. [. . .]« (Walther von der Vogelweide: Sämtliche Gedichte, aus dem Mittelhochdeutschen ins Neuhochdeutsche übertragen von Franz Viktor Spechtler, Klagenfurt/Celovec 2003, S. 25 f.). Allein Paul Stapf kommmt – allerdings wohl nur über eine ›Auflösung‹ von v. 17,13 im benachbarten Kontext – zu einer Abhängigkeit des Verses 17,14 von v. 17,11: »Seitdem ihr Amt so wichtig geworden ist, halten wir es für unbedingt notwendig, den Köchen den beherzigenswerten Rat zu geben, den Braten der Fürsten ein gut Teil dicker als bisher zu schneiden – wenigstens um einen Daumen breiter. [. . .]« (Walther von der Vogelweide, Sprüche. Lieder. Der Leich. Urtext. Prosaübertragung, hg. und übers. von Paul Stapf, Wiesbaden o. J., S. 27). Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Bd. 3, Leipzig 1879, Sp. 258.
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ge, i n w i e f e r n es den kochen [. . .] alsoˆ hoˆhe steˆ, daß sie sich – w o r i n ? – niht versuˆmen. Ein solcher Strophenbeginn muß einen Bezug haben. Doch weder der moderne Leser könnte ihn dem Wortlaut mehr abringen noch auch dürfte ihn ein damaliger Hörer aus Anlaß einer Rückerinnerung nach Jahren noch haben rekonstruieren können. Für sich genommen, d. h. ohne einen plausiblen textexternen Bezug, bleiben maßgebliche Akzente der Walther-Strophe, auch wenn dies bisher – infolge einer syntaktischen Fehldeutung – nicht aufgefallen zu sein scheint, funktionslos. Das macht die Suche nach einer Lösung unausweichlich. So wie wir den ‘Spießbratenspruch’ aufzufassen gewohnt sind, setzt die Strophe hart mit einer zunächst unaufgelösten Metaphorik ein: Auf v e r s c h i e d e n e n Ebenen überkreuzen sich die Begriffe koche und braˆte einerseits und vürsten andererseits. Der Wolframschen Anspielung im ‘Willehalm’ geht nun allerdings im erzählenden Text eine Situation voraus, in welcher es eben um k o c h e und v ü r s t e n geht, in primärem geschehenspragmatischem Zusammenhang, auf d e r s e l b e n , nicht-metaphorischen Ebene: den k o c h e n was daz vor gesaget, daz wære bereit, soˆ ez taget, vil spıˆse, swer die wolde, und daz ieslıˆch v ü r s t e solde enbıˆzen uˆf dem palas. durch daz vil manec kezzel was über starkiu viur gehangen. daˆ wart ein dinc begangen, des dem küchenmeister was ze vil. der warp, als ich nuˆ sagen wil [. . .]. (285,23–286,2) (‘Den Köchen war das zuvor aufgetragen, / daß mit Tagesbeginn / reichliche Speise bereit sei für jeden, den danach verlangte, / und daß ein jeglicher Fürst / auf dem Palas speisen solle. / Deshalb waren Kessel die Menge / über kräftige Feuer gehängt worden. / Da kam es zu einem Vorfall, / dessen Opfer der Küchenmeister wurde. / Der handelte, wie ich jetzt erzählen will. [. . .]’)
Es folgt der Übergriff des Küchenchefs auf den schlafenden Rennewart. Könnte sich also Walthers ‘Spießbratenspruch’ auf die zitierte ‘Willehalm’-Stelle beziehen? Die Beziehung seiner ›Köche‹ zu den genannten ›Fürsten‹ wäre augenblicklich klar. Als ›Zwischenrufer‹ brauchte Walther die Begriffe koche und vürsten nur aufzugreifen, um sich mit seinem Hörerpublikum auf der von Wolfram zur Verfügung gehaltenen geschehenspragmatisch kohärenten Ebene zusammenzufinden. Während zum einen Funktion und Bezug der ›Köche‹ für jeden Hörer sofort einsichtig wären, hätte der Sänger zugleich, mit dem Stichwort vürsten schon auf die Vortragsgegenwart herüberspielend, unbeschadet der weitergetriebenen Metaphorik (braˆte, snıˆden, spiz), die koche in schlagendem Zusammenhang n e u in Szene gesetzt. Ihre natürliche Position als ›lyrischer Zwischenruf‹ fände die Strophe vor dem zuletzt zitierten Vers, also zwischen ‘Willehalm’ 286,1 und 286,2. Obwohl durch den Reim mit dem voraufgehenden Vers verklammert,21 scheint v. 286,2 – nach zwei vorgreifenden Versen und 21
Vgl. den Übergang vom Prolog des ‘Willehalm’ zur Erzählung (5,15–16).
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durchaus im Sinne des folgenden bestürzenden Geschehens – neu anzusetzen. Das ließe ein geringfügiges Innehalten erwarten – Gelegenheit für ein improvisiertes Intermezzo. Der Inhalt des Voraufgehenden käme Walthers politischem Anliegen sehr wohl entgegen, da von einem großen Aufwand zugunsten der F ü r s t e n die Rede ist: vil spıˆse (285,25), vil manec kezzel (28), über starkiu viur (29). Walthers Anspielung: sıˆt ez in alsoˆ hoˆhe steˆ, / daz si sich niht versuˆmen würde sich dem Zusammenhang der Verse 285,23–286,1 lückenlos fügen: Wolframs kochen ist der – offenbar ungewöhnliche – Auftrag erteilt worden, mit Tagesbeginn, also besonders früh, ein reichliches Menü für das Großaufgebot der entsatzschaffenden französischen Fürsten bereit zu haben. Für die Köche kommt angesichts der ranghohen Gästegesellschaft einiges darauf an, daz si sich niht versuˆmen – ‘sich nicht zu verspäten’, ‘ihre Schuldigkeit zu tun’; das opulente Frühmahl muß unweigerlich beizeiten parat sein. Eben wegen der verordneten unverhältnismäßig frühen Stunde kann der Küchenmeister Rennewart noch schlafend in der Küche finden. Das Motiv spielt sich fort: Als der Küchenmeister im Kesselfeuer umkommt, flüchten die anderen Köche in alle möglichen Richtungen (286,24–26), und es gibt k e i n Frühmahl; dieses wird erst im Anschluß an die große Fürstenversammlung nachgeholt, und als es beendet wird, ist wol mitter morgens tac (312,26) – ‘schon hoher Vormittag’. Nach dem allen dürfte evident sein: Einen Kontext wie den vermißten böte in idealer Weise die zitierte ‘Willehalm’-Partie. Die Ironisierung des Stichwortgebers Walther, die den halben Umfang der folgenden kurzen Erzählerbemerkung ausmacht, erfordert zwar von sich aus noch keine Anwesenheit des Betroffenen, würde sich aber mit einer solchen sehr wohl vertragen, ja für eine gelingende Performanz des ‘Spießbratenspruchs’ wäre seine Positionierung an einschlägiger Stelle unmittelbar innerhalb des ‘Willehalm’-Vortrags die ideale Voraussetzung. Im epischen Vorfeld von Wolframs Anspielung scheint Walthers Spruch wie von selbst seine authentische Situation zu finden.22 Der ›Antwortende‹ in erster Instanz wäre dann nicht mehr Wolfram, sondern Walther, dessen Stichwortgeber.23 Es bedarf auch kaum einer Hervorhebung, mit welch glücklicher ›Treffsicherheit‹ der Lyriker einer von ihm schwerlich vorausgesehenen Eskalationsstufe des Küchengeschehens deren neues Stichwort, braˆte, lieferte und wie bruchlos-geistesgegenwärtig Wolfram es erzählerisch umsetzte: er enhiez uˆf in niht salzes holn, / er rach über in brende unde koln. / her Vogelweide von braˆten sanc: / dirre braˆte was dicke und lanc [. . .] (286,17–20) – ‘Er ließ, um ihn zu bestreuen, kein Salz holen; / er scharrte brennendes Holz und Kohlen über ihn’ usw. Sofern es zutrifft, daß Wolframs kurze Bemerkung a l l e n seinen Hörern eine spontane und lebhafte Detailerinnerung abverlangt, so steht – durchaus im Bewußtsein der widerständigen Chronologie – die hypothetische Möglichkeit zur Debatte, Walthers ‘Spießbratenspruch’ sei als aktualer ›lyrischer Zwischenruf‹ allen beim Vortrag der ‘Willehalm’-Passage Anwesenden aus frischester Erinnerung gegenwärtig. 22
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In Wolframs ‘Willehalm’-Publikum ließe sich demzufolge auch die Zielgruppe seiner warnenden Mahnung als anwesend denken. Mit dem stropheneröffnenden wir scheint Walther ›seine‹ Parteigänger, wenn nicht gar nach Möglichkeit die Hörerschaft des ‘Willehalm’-Vortrags als ganze, gegen die Reichshofbeamten zusammenzuschließen.
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Insbesondere ist nicht zu überhören, wie sich Tonart und Habitus der Waltherschen Mahnung von Grund auf verändern würden. So wie man den Spruch zu rezipieren gewohnt ist, werden die Reichsministerialen direkt als koche[] tituliert. Walther würde mit diesen eine schroffe Konfrontation suchen, deren geringschätzighämische Metaphorik am wenigsten geeignet wäre, die Unverbindlichkeit der Offensive zu mildern. Als lyrischer Zwischenruf verlöre der Spruch dagegen weitgehend seine unbehagliche Schärfe: Intendiert sind vordergründig die ›Köche‹ des epischen Kontextes, und der Rat des Sängers betrifft spielerisch die Zukunft des epischen Geschehens. Den aktuellen Bezug auf die politische Gegenwart (fürsten) soll man freilich heraushören; aber eingebunden in den epischen Zusammenhang und mit der Zielrichtung auf die Köche von Glorjet gibt sich die Mahnung an der Oberfläche als heitere Anspielung von eher freundlicher Eleganz. Je nachdem, auf welcher Realitätsebene das Hörerpublikum die fürsten anzusiedeln geneigt ist, macht sich die wahre Brisanz der Mahnung verhaltener oder entschiedener geltend – unüberhörbar immerhin mit 17,15 dan eˆ, unausweichlich indessen erst mit der Anwendung in den zwei letzten Versen der Strophe. Derselbe Text vermag – dies demonstriert das hier durchgespielte Modell – je nach referentieller Ebene beiderlei vorzuführen: die derb zufahrende, giftige Provokation eines subalternen Fahrenden oder den spielerischüberlegenen, vielsagend-indirekten Wink eines versierten Diplomaten. Man ist seit alters gewohnt, im ‘Spießbratenspruch’ das initiale Stichwort und in Wa l t h e r den ›Gebenden‹ zu sehen, an dessen originellen Text Wolfram nachmals (nämlich aus eigenem Anlaß) erinnere. So etwa Schweikle:24 »Wolfram von Eschenbach [. . .] spielt im Willehalm anläßlich der Rennewart-Küchenszene auf den Spruch Walthers an.« Entsprechend führt Ulrich Müller den ‘Willehalm’-Vers 286,19 als »eindeutige [. . .] Zitierung Walthers (17,11)« unter »dichterische Nachwirkung« auf.25 Doch sieht es nicht danach aus. Walthers Spruch scheint infolge einer syntaktischen Fehldeutung in seinen authentischen Voraussetzungen bis heute mißverstanden worden zu sein. Die für ein angemessenes Verständnis so entscheidende Frage nach seiner plausiblen Einbettung in eine spezifische Vortragswirklichkeit konnte damit praktisch nicht in den Blick treten. Sogar Walthers vrouwe hatte bis heute darunter zu leiden. Erst mit einer korrekten Textrezeption bricht die Frage nach dem ›Sitz‹ beider Texte ›im Leben‹ auf; es zeigt sich, daß diese Frage isoliert aus den Einzeltexten nicht zu beantworten ist: Walthers Strophe setzt einen nicht explizierten externen Bezugspunkt voraus; hier sollten ›Köche‹ eine maßgebliche und dem gesamten Publikum unmittelbar einsichtige Rolle spielen. Daß eben diese Leerstelle ausgerechnet der der Walther-Reminiszenz unmittelbar voraufgehende ‘Willehalm’-Kontext paßgenau füllt, sollte schwerlich auf einem Zufall beruhen. Wiederum macht erst die Plazierung der lyrischen Strophe im Erzählzusammenhang selbst die wahre Intention auch der Wolframschen Erzähler-Replik sichtbar. Beide an diesem wechselseitigen Zusammenspiel beteiligten Texte halten jeweils triftige Argumente dafür bereit, Walthers 24 25
Schweikle [Anm. 2], S. 359. Müller [Anm. 9], S. 330.
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‘Spießbratenspruch’ als lyrischen Zwischenruf innerhalb des ‘Willehalm’-Vortrags zu positionieren. Walthers Spruch scheint etwas von seinem originären Umfeld zurückzugewinnen, wenn man n i c h t annehmen muß, Wolfram habe ihn »in einen anderen Kontext« verlagert.26 Es sind die konkreten Rezeptionsbedingungen im originären mündlichen Vortrag und deren implizit-kritisches Moment, die geeignet sind, auf etwaige Defizite in der modernen Rezeption aufmerksam zu machen. Was die Texte w o l l e n , ist hiermit deutlich: Mit Walthers ‘Spießbratenspruch’ als lyrischem Zwischenruf im aktualen Darbietungskontext jener Küchenszene auf Glorjet würden beide ›Kommentare‹, die lyrische Strophe wie die Erzählerbemerkung, jeweils als spontane Replik ohne verbleibende Irritationen in sich stimmig. Eine Synchronisierung beider Passagen würde indes erfordern, mindestens eine von ihnen aus ihren ›angestammten‹ zeitlichen Koordinaten zu lösen – mit mehr oder minder gravierenden Konsequenzen für das chronologische Gesamtgefüge. Wollte man denn die Versetzung einer Strophe des ‘Zweiten Philippstons’ ins zweite Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts prinzipiell tolerieren, so wäre hilfreich, sich entsprechend deutlich das ins Bewußtsein zu rufen, was bisher nie bezweifelt worden ist: den unüberhörbar vom Zeitgeschehen bestimmten Impetus jenes warnenden Hinweises auf den byzantinischen Thronverlust. Die unstreitige Absicht des Spruches ist, seine Adressaten, die koche, aufzurütteln und zur Revision ihres bisherigen politischen Verhaltens zu bestimmen. Dazu sollte das byzantinische Geschehen noch hinreichend drohend vor Augen stehen. Rhetorik und Stilistik der Strophe scheinen wiederholt eine noch ungebrochene Virulenz jenes Herrschaftsverlustes zu unterstreichen: mit den Korresponsionen 14 braˆten – 20 braˆte und 14 vürsten – 22 fürsten; der adverbialen Zuspitzung 23 nuˆ [. . .] alsoˆ (‘ebenso’!), die nicht zuletzt von einer noch wirkungsmächtigen Sinnfälligkeit des Bezugsgeschehens lebt; auch über die Aussagefunktion der besonderen metrischen Struktur – im Dreireim des Abgesangsbeginns (17) bei zweisilbigen Kadenzen artikuliert sich ein zügig-lebhafter Neueinsatz, der die dringlich-konsequente Verbindlichkeit der beschworenen Unheilsvision hervorhebt; und welcher Abgesang einer ‘Zweiten-Philippston’-Strophe folgte nicht dem Zuge ungebrochen durchgehender Aktualität? Vor allem jedoch setzt das zeitlich strukturierende danne eˆ (15) ein vergleichsweise ›unproblematisches‹ Ehedem gegen eine Gegenwart ab, die noch im Bann jener beunruhigenden byzantinischen Ereignisse steht. Wen aber hätte rund ein Jahrzehnt nach dem Erlöschen der byzantinischen Erbmonarchie, längst nach dem Tode ihres letzten Repräsentanten, ja sogar Jahre nach dem gewaltsamen Ende seines Schwiegersohnes, des Stauferkönigs Philipp, fernab vom einstigen Geschehen jenes Einzelschicksal noch interessiert? Ihre Adressaten aufzurütteln, darauf kommt der Waltherschen Spruchstrophe alles an. Um ein Jahrzehnt verspätet, bliebe ihr Verweis auf jenen Isaak II. eine dürftig-verlegene, letztlich wirkungslose Reminiszenz. Dabei ist der gängige Zeitansatz für den ‘Spießbratenspruch’ seinerseits schon ein unbefriedigender Kompromiß. Überraschenderweise ist nämlich in diesem Spruch 26
Vgl. Scholz [Anm. 6], S. 67.
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»vom Tod des Angesprochenen keine Rede«.27 Gleichwohl soll die Strophe »[. . .] nach allgemeiner Meinung auf die Vertreibung der Angeloi Isaak II. und Alexios IV. (Ende 1203)« anspielen.28 Wenn aber nach dem Juni 1204 die Wahl Balduins als neuen byzantinischen Herrschers in Deutschland bekannt geworden war, dann doch erst recht der zuvor erfolgte schmähliche Tod Isaaks II., des Schwiegervaters Philipps, in der Haft. Walthers unmißverständlich mit einem bösen Beispiel warnende Anspielung auf die byzantinischen Thronwirren macht indessen vom (makabren) To d der kaiserlichen Herrscher nicht die leiseste Andeutung. Im Gegenteil, der Spruch stellt mit 17,23 der nuˆ daz rıˆch a l s oˆ verlür ausdrücklich den Bezug auf 17,21 her: des muose der heˆrre vür die tür – dafür wurde der Herrscher ›vor die Tür gewiesen‹, d. h. ›aus- (ob auch ein-?) -gesperrt‹. Der Formulierung liegt erkennbar die Vorstellung zugrunde, daß es dem Herrscher nicht auch ans Leben ging. Dies müßte eine Datierung des Spruches noch v o r einem Bekanntwerden des gewaltsamen Endes von Alexios IV. (Februar 1204), wenn nicht gar schon vor dem Ende der Angeloi-Herrschaft (1203) empfehlen. Eine solche Option befürwortete seinerzeit Mackensen, der den Spruch früher, nämlich schon auf die »Herbstmonate« (S. 56) des Jahres 1203 (S. 53) ansetzen wollte: »Indessen: was nötigt uns, die Spießbratenstrophe mit dem Tode Isaaks, mit der Ermordung Alexios’ IV. zusammenzubringen? [. . .] des muose der heˆrre für die tür. Genau dies war 1195 in Byzanz geschehen. [. . .]«29 Mit einer solchen Genauigkeit in den Modalitäten des Herrschaftsverlustes (17,21 vür die tür) vertrüge sich wiederum nur schwer jene ärgerliche Unschärfe, welche die F o r m des Herrschaftswechsels (17,22 kür) dem Hörer zumutet. G e g e n die Überlieferung (an der AC) hatten die Ausgaben nach Lachmann, dem einzig Burdach seinen Beifall versagte,30 den Text im Blick auf die Wahl Balduins von Flandern so wiedergegeben: die fürsten saˆzen a n d e r kür – also etwa: ‘die Fürsten saßen für eine andere Wahl zusammen’.31 Mit dem Ausdruck kür sitzen – ‘Wahl abhalten’32 würde sitzen gewissermaßen transitiv gebraucht.33 Aber die überlieferte Version – saˆzen an der kür34 – frei von einer solchen Mißlichkeit – scheint eben die 27 28 29 30 31
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Hucker [Anm. 3], S. 158. Vgl. Müller [Anm. 9], S. 55. Mackensen [Anm. 4], S. 52. Vgl. v. Kraus [Anm. 13], S. 45. Schweikle [Anm. 2], S. 97. – Die Konstruktion ist unglücklich, da sie nichtsdestoweniger eine voraufgehende ›Wahl‹ suggerieren könnte. Wapnewski [Anm. 13], S. 266. Nach v. Kraus [Anm. 13], S. 45 »kann man bei saˆzen wohl bleiben, für das Michels passend auf gerihte sitzen verweist.« Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Bd. 1, Leipzig 1872, Sp. 1790 nennt einen Beleg für die vürsten an der kür (‘Die gute Frau’, hg. von E. Sommer, in: ZfdA 2 [1842], S. 385–481, hier S. 476: v. 2902). Einer Königin, deren Mann gestorben ist, empfehlen die Fürsten: kieset selbe einen man. / swen ir welt, der ist uns guot (2750 f.) – ‘Wählt selbst einen Mann. Wen immer ihr wollt (wählt?), er ist uns recht.’ Sie sind dann einmütig dafür, daß der von ihr Ausersehene König werden solle (2777–2782). Zur gegebenen Zeit holt sie ihn: doˆ si in braˆhte her vür, / si bat die vürsten an der kür, / daz si im wæren undertaˆn. (2901–2903) – ‘Als sie ihn hereinholte, / bat sie die Fürsten in der Wahlversammlung, / ihm
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anstößige Vorstellung einer innerhalb der byzantinischen Erbmonarchie im Rahmen einer Fürstenversammlung veranstalteten Herrscher w a h l zu bezeugen. Das Dilemma möchte ausweglos scheinen – es sei denn, dem Vers 17,22 wäre ein anderer Sinn zuzutrauen. Muß kür an dieser Stelle unausweichlich ‘Wahl’ bedeuten? BMZ I liefern kaum einen Anhaltspunkt.35 Vergegenwärtigt man sich das Anliegen des Spruches, so scheint er sagen zu wollen: Vernachlässigt die F ü r s t e n (17,14) nicht – wenn ze Kriechen der Kaiser seiner Herrschaft entsetzt wurde, waren s i e , die ›Fürsten‹ (17,22), als maßgebliche Kraft im Spiel! Es käme im Plädoyer für die Belange der Fürsten ja weniger darauf an, wie die byzantinischen Mächtigen n a c h dem Herrschaftsverlust tätig wurden, als auf ihre maßgebliche Rolle im direkten Zusammenhang der hier beschworenen A b s e t z u n g . Weitere Bedeutungen von kür gibt nun Lexer (Bd. I [vgl. Anm. 31], Sp. 1791) an, nämlich: »entschluss, beschluss, bestimmung u. das recht dazu [. . .] strafbestimmung, strafe, zu erlegende busse: poenae quae korin appellantur.« Dies würde es erlauben, v. 17,22 probeweise den Sinn zu unterlegen: Eine F ü r s t e n versammlung war es, die ‘an diesen Umständen’ oder ‘am Beschluß dieser Strafmaßnahme’ (an der kür) mitwirkte; von einer Wa h l des byzantinischen Herrschers durch Fürsten wäre dann nicht mehr die Rede. Wohl mag man dem entgegenhalten, bei dem gewaltsamen Putsch des Alexios III. gegen die Herrschaft des Isaak II. habe es keine ›Fürstenversammlung‹ gegeben. Anstelle von ›Fürsten‹ hatten im Byzantinischen Kaiserreich aber feudalistische Kräfte, die ›Pronoiare‹ (Großgrundbesitzer), zunehmend an Einfluß gewonnen.36 Sie wurden die eigentlichen »Träger des neuen Staatsgebäudes«.37 Hier könnte man Walther im Sinne einer Warnung, der es auf die Kongruenz des maßgeblichen politischen Kräftespiels ankam, wohl eine ›Übersetzung‹ in die heimische politische Terminologie (›Fürsten‹ statt ›Grundherren‹) zutrauen. Eine solche Deutung des Verses 17,22 könnte es zulassen, den ‘Spießbratenspruch’ ohne gravierende Härten auf den Sturz Isaaks II. Angelos durch Alexios III. zu beziehen und ihn (mit Mackensen) auf einen Zeitpunkt zu datieren, noch ehe Tod oder Inhaftierung eines byzantinischen Herrschers im Westen bekannt geworden war. Je früher aber der Spruch entstanden wäre, desto delikater wiederum wirkte sich der Sog aus, in welchen die Datierung des ‘Willehalm’ geriete. Schon der geläufige Ansatz verlegt ja den ‘Spießbratenspruch’ ins zeitliche Umfeld der für das geltende chronologische Gefüge zentralen ›Weingarten‹-Anspielung im VII. Buch des ‘Parzi-
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untertan zu sein.’ Dem wird entsprochen; von einer ›Wahl‹ durch die vürsten an der kür ist bemerkenswerterweise keine Rede. Jene scheinen mit ihrer Bestätigung nur einem Protokoll zu genügen – die Königin ist es, die ›gewählt‹ hat: Unter kür scheint hier das bloße InAugenschein-Nehmen durch die zeremoniell und pro forma anwesenden Fürsten am festgesetzten Termin der Gatten- und Herrscherwahl verstanden zu sein – gänzlich o h n e deren aktives Mitwirken an der Auswahl. Als zweite Bedeutungsvariante bieten sie immerhin »die art und weise, wie etwas sich zeigt, gekorn ist« (Sp. 829a). Vgl. Georg Ostrogorsky, Byzantinische Geschichte 324–1453. Unveränd. Nachdruck der zuerst 1965 erschienenen Sonderausgabe, München 1996, S. 312–314. Ebd., S. 316.
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val’ (379,18–29); doch öffnet sich nunmehr für den Spruch allem Anschein nach ein merklicher Spielraum nach oben. Eine Verquickung des Walther-Spruches mit dem ‘Willehalm’ scheint indessen schon vorab der vermeintlich sicherste Anhaltspunkt für dessen Datierung zu verbieten: Man sieht ja in den Versen VIII 393,30–394,5 eine Anspielung auf die am 4. Oktober 1209 erfolgte Kaiserkrönung Ottos IV.38 Sie lauten: doˆ der keiser Otte ze Roˆme truoc die kroˆne, kom der alsoˆ schoˆne gevarn naˆch sıˆner wıˆhe, mıˆne volge ich dar zuo lıˆhe, daz ich im gihe, des wære genuoc. (‘Als der Kaiser Otto / in Rom die Krone trug, / zog der ebenso prächtig / nach seiner Kaiserkrönung einher, / dann trage ich meine Stimme dazu bei / und bestätige ihm, das wäre den Ansprüchen gerecht geworden.’)
Sobald man mit einem früheren Ansatz des Walther-Spruches zugleich den des ‘Willehalm’ ernstlich in Erwägung ziehen wollte, würde sich – je auch nach der (wechselnden) Parteinahme Hermanns von Thüringen39 – ein anderer Sinn dieser Anspielung aufdrängen. Schon mit einer Königswahl, also der Ottos IV. am 9.6.1198 in Köln, war die Perspektive einer späteren Kaiserkrönung realisiert.40 Aber bis dahin war es noch weit. Im Lager Ottos konnte der Vers doˆ der k e i s e r Otte [. . .] als Huldigung verstanden werden. Für je abwegiger wiederum man im Lager Philipps eine spätere Kaiserkrönung Ottos ansah, desto erheiternder konnte – entsprechend ›inszeniert‹ – derselbe Vers wirken. Erst im Fortgang gab sich die Erzählerbemerkung als Reminiszenz der O t t o n e n zu erkennen. So gesehen, gewänne die bekannte Anspielung auf die ›Kaiserkrönung Ottos IV.‹ in Buch VIII ein anderes Gesicht: Sie wäre für den ‘Willehalm’ kein so sicherer chronologischer Anhaltspunkt mehr, wie es bisher geschienen hat: Terminus a quo wäre theoretisch wohl schon die Königswahl Ottos im Juni 1198. Doch dürfte Walthers Spruch, den wir ja in Verbindung mit Buch VI sehen, mit Vers 17,23 der nuˆ daz rıˆch alsoˆ verlür eine schon bestehende Königswürde voraussetzen. Das chronologische Dilemma gibt sich wie eine Anfrage an unser historisch-philologisches ›Gewissen‹ – sollte es möglicherweise einer ernsthaften Neubesinnung über die schütteren Stützen der etablierten Chronologie bedürfen? Sofern man gleichwohl bemüht sein wird, alles weiterhin so zu halten wie gewohnt – man sollte nicht ganz übersehen: Die Texte möchten es anders.
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Zur Datierung des ‘Willehalm’ vgl. Heinzle [Anm. 10], S. 792 f. Vgl. dazu Wilhelm Wilmanns, Leben und Dichten Walthers von der Vogelweide, 2., vollst.umgearb. Aufl., besorgt von Victor Michels, Halle 1916, S. 113. Vgl. dazu etwa: Karl Hampe, Deutsche Kaisergeschichte in der Zeit der Salier und Staufer, Heidelberg 111963, S. 241.
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Nachbemerkung Eine weitere Walther-Reminiszenz Wolframs findet sich im ‘Parzival’ (VI 297,25), wo mit einem Gruß Walthers guoten tac, bœse unde guot! offensichtlich der Beginn einer (verlorenen) Walther-Strophe anzitiert wird.41 Was den epischen Kontext des Zitats angeht, so ist Wolframs gedankliche Linie absolut stringent: Lanze für Keie (5–15) – Wendung mit direkter Anrede an Hermann von Thüringen mit Blick auf die kritikwürdigen gegenwärtigen Zustände an dessen Hof (16–18) – Wünschbarkeit eines Keie für die gegenwärtige Situation (19–23) – Reaktion Walthers auf dieselbe (24–25) – Kritik an Walthers vorgeblich indifferenter Haltung, wie sie nicht den Grundsätzen (u. a.) Keies entsprochen hätte (26–29). Irritiert hat von jeher, daß Wolfram – dem knappen wörtlichen Zitat nach zu urteilen – seinem Zunftgenossen augenscheinlich unrecht tut. Scholz42 zitiert Karl Simrock (Wartburgkrieg 1858, S. 287): Ihm zufolge »enthielte die Unterscheidung zwischen Bös und Gut dieselbe Rüge wie Wolframs Wortspiel mit Ingesinde und Ausgesinde. Daß beide gegrüßt wurden, könnte Wolfram nicht im Ernst rügen wollen: Das wäre ein Mißverständnis eines S p o t t l i e d e s [. . .]«. So steht die Frage im Raum, wie sich Wolframs unsachlicher Ausfall gegen Walther rechtfertigt. Der Zusammenhang ergibt, daß dieser das Publikum am Thüringer Hof meinte. Obwohl aus dem Präsens des muoz her Walther singen [. . .] (24) noch keine Anwesenheit Walthers folgt, ist eine solche jedenfalls nicht ausgeschlossen. Räumt man sie hypothetisch ein, so könnte sich Walther, ›verführt‹ durch die Chance, das soeben (16–18) von Wolfram angesprochene aktuelle Defizit satirisch ›in Szene zu setzen‹, nach 18 ([. . .] daz uˆzgesinde hieze baz) mit der (von Wolfram alsbald zitierend aufgegriffenen) provokanten Begrüßung als Zwischenrufer eingemischt haben. Hätte er dabei nicht bedacht, daß es Wolframs Absicht sein konnte, angesichts der herrschenden Verhältnisse Keie in ein günstiges Licht zu rücken? Jedenfalls hätte er mit seiner dreisten Intervention Wolfram geradezu die Wunsch41
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Ausführlich dazu Manfred Günter Scholz, Walther von der Vogelweide und Wolfram von Eschenbach. Literarische Beziehungen und persönliches Verhältnis (Diss.), Tübingen 1966, S. 5–33. Scholz’ Einschätzung der Grußadresse: »Genauso gut könnte der Vers mitten aus einer Str. Walthers stammen, mit größerer Wahrscheinlichkeit vielleicht gar Schlußpointe gewesen sein [. . .]« (19), will mir nicht recht einleuchten. Ebensowenig die Auffassung Max Schiendorfers (Ulrich von Singenberg, Walther und Wolfram. Zur Parodie in der höfischen Literatur, Bonn 1983 [Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 112]): Schiendorfer glaubt nicht an die »einstige Existenz dieses Spruchs« (S. 221), hält das ›Zitat‹ für parodistisch verzerrt (S. 243–244) und meint, obschon der Erzähler selbst mit Nachdruck gerade das Gegenteil betont (296,19–23), »dass Wolfram seine Hochschätzung Keies lediglich vortäuscht« (S. 222; vgl. S. 222–226): »Es handelt sich bei dem vermeintlichen Zitat um eine echt Wolframsche Kapriole, in welcher er die Schizophrenie des Vogelweiders gleichsam ›wissenschaftlich‹ nachweisen will, einerseits das besagte ›Scheiden‹ vorzunehmen und es andererseits doch allen Leuten recht machen zu wollen« (S. 241). »Auch der in Pz. 297,24 angesprochene heˆr Walther, der es den Leuten recht machen will, i s t natürlich nicht der wirkliche Walther, er ist von diesem in spiegelbildlichem Sinn ebensoweit entfernt wie Keie« (S. 242). Scholz [Anm. 41], S. 22.
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Vorgabe für eine treffsichere ad-hoc-Replik geliefert: Hier wäre ein Keie am Platze; der nämlich schiet (10) valsche diet / von den werden (9–10), während Walther – dem zitierten Wortlaut nach – einen guoten tac gleichermaßen beiden, Schlechten und Tüchtigen, entbietet.43 Der Umstand immerhin, der die Forschung von Anbeginn irritiert hat, nämlich daß Wolfram Walther drastisch ›mißversteht‹, indem er dessen Gruß, ungeachtet seines offenkundigen Sarkasmus, wörtlich nimmt, steht hiermit unter pointiert anderen Vorzeichen: Ein provokanter Zwischenruf verlangt nach einer schlagfertigen Replik, und zwar nach einer s t i l g e r e c h t e n . Dies ist der entscheidende Punkt. Wird ein vorlauter Zwischenruf pariert, so handelt es sich nicht um einen sachlichen Disput. Worauf es bei einer Stegreif-Replik ankommt, ist Treffsicherheit an der O b e r f l ä c h e , welche die Lacher gewinnt; es geht um einen geistesgegenwärtigen und zielsicher gelandeten Gegenschlag als Quittung an den Herausforderer. Wolfram hatte, bestimmt durch das Keie-Lob, seine gedankliche Linie zu seinem Glück so angelegt, daß er, von Walther in der zitierten Weise herausgefordert, diesen mutwillig mißverstehen durfte. Ihn vor allem, als gegenwärtigen ›Adressaten‹, sollte man während dieser Parade mit im Blick haben. Die Irritationen, die im gelesenen Text das Wörtlichnehmen einer offenkundig ironischen Formulierung auslöst, sind ein deutliches Indiz für verfehlte Vorannahmen einer modernen Rezeption, die die Erzählerrede mit einem Lesetext verwechselt und ihren performativen Rahmen ausblendet; die vermeintliche Unstimmigkeit weist vielmehr auf die besondere Situation einer ad-hoc-Replik hin, und sie löst sich wie von selbst unter deren besonderen Voraussetzungen. Es ist der letztlich schon von Simrock unterstellte U n e r n s t , ein geradezu lustiger Humor dieser aus der Situation geborenen improvisierten Replik, welcher ihr alles scheinbar Inadäquate nimmt, den Rivalen nicht beleidigt und uns das entscheidende Argument liefert, den zitierten Walther-Vers für den Eingang eines auf Pz. VI 297,18 hin eingeworfenen ›lyrischen Zwischenrufs‹ zu erklären.
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Wie Keie verfuhr, geschah übrigens ze scherme dem herren sıˆn (8), also Artus. Walther wiederum übte – wie schon zuvor Wolfram selbst (16–18) – indirekt ›Kritik‹ auch am Landgrafen: Ihn würde Wolfram mit seinem Hinweis auf dessen waˆre milte (20) als die triftige Ursache für den bunt gemischten Zulauf (20–23) souverän entlasten: Dem freigebigen Hermann wäre ein Hofpersonal zu wünschen, wie jenes, über das Artus verfügte. – Zur Wertschätzung Hermanns vgl. Heinz Mettke, Wolfram in Thüringen; in: Studien zu Wolfram von Eschenbach. FS Werner Schröder, hg. von Kurt Gärtner und Joachim Heinzle, Tübingen 1989, S. 3–12, hier S. 5–6.
Eine bezzerunge Neidharts? von Burghart Wachinger
In der Debatte um die Echtheit der unter Neidharts Namen überlieferten Lieder muß das Lied Meie dıˆn liehter schıˆn1 eine Schlüsselrolle spielen; denn es ist das einzige Lied, das Moriz Haupt für unecht erklärt hat, obwohl es in der Riedegger Handschrift R steht,2 der Handschrift, die Haupt als Kronzeugin für Echtheitsfragen diente. »Was in R nicht steht das hat keine äussere gewähr der echtheit«, lautet Haupts viel zitierter, viel kritisierter Satz.3 Ulrich Müller hat versucht, den Satz umzukehren: »Was in R steht, das ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit echt, da es eine bewußte Auswahl aus Neidharts Werk darstellt; daraus ergibt sich aber nicht, daß alles, was nicht in R steht, unecht sein muß.«4 Daß alles unecht sei, was in R fehlt, hatte Haupt nicht behauptet, und das Wort von R als einer »bewußten Auswahl« halte ich für eine falsche Zuspitzung der Beobachtungen von Ingrid BennewitzBehr.5 Richtig ist immerhin, daß R nicht alles enthält, was wir mit guten Gründen als höchstwahrscheinlich ›echt‹ ansehen, mindestens einmal scheint mir in R sogar eine Strophe zu fehlen, die zum Verständnis unentbehrlich ist.6 Das soll hier nicht weiter 1
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Zitierte Ausgaben: Neidharts Lieder, hg. von Moriz Haupt, 2. Aufl. neu bearb. v. Edmund Wießner. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1923, [mit Ergänzungen] hg. von Ingrid Bennewitz-Behr, Ulrich Müller und Franz Viktor Spechtler, Stuttgart 1986 [zitiert Haupt/Wießner], dort S. XIX−XXIII (S. XI−XIV der Erstauflage); Die Lieder Neidharts, hg. von Edmund Wießner, fortgeführt von Hanns Fischer, 5., verb. Aufl. hg. von Paul Sappler. Mit einem Melodienanhang von Helmut Lomnitzer (ATB 44), Tübingen 1999 [zitiert Wießner/Sappler], dort Sommerlied 30; Neidhart-Lieder. Texte und Melodien sämtlicher Handschriften und Drucke, hg. von Ulrich Müller, Ingrid Bennewitz, Franz Viktor Spechtler [. . .], 3 Bde. (Salzburger Neidhart-Edition), Berlin/New York 2007 [zitiert SNE], dort Lied I R 37. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. fol. 1062, entstanden gegen Ende des 13. Jahrhunderts in Niederösterreich; Meie dıˆn liehter schıˆn steht auf Blatt 57v. Vgl. Abbildungen zur Neidhart-Überlieferung I. Die Berliner Neidhart-Handschrift R und die Pergamentfragmente Cb, K, O und M, hg. von Gerd Fritz (Litterae 11), Göppingen 1973; Franz-Josef Holznagel, Wege in die Schriftlichkeit. Untersuchungen und Materialien zur Überlieferung der mittelhochdeutschen Lyrik (Bibliotheca Germanica 32), Tübingen/Basel 1995, S. 285–309; SNE Bd. 3, S. 513–516. Haupt/Wießner, S. XIII. Ingrid Bennewitz-Behr und Ulrich Müller, Grundsätzliches zur Überlieferung, Interpretation und Edition von Neidhart-Liedern, in: ZfdPh 104 (1985), Sonderheft S. 52–79, dort S. 64 Anm. 46; zustimmend zitiert auch noch SNE Bd. 3, S. 548 Anm. 41. Ingrid Bennewitz-Behr, Original und Rezeption. Funktions- und überlieferungsgeschichtliche Studien zur Neidhart-Sammlung R (GAG 437), Göppingen 1987. Bedenken gegen die Charakterisierung von R als bewußt selektiv auch bei Becker [Anm. 11], S. 728 Anm. 14, und Holznagel [Anm. 2], S. 308 f. Die Strophe Füeget iuch, arm unde rıˆche von Winterlied 36 (Wießner/Sappler), die bei Haupt/Wießner, S. 318, noch in die Anmerkungen verbannt war; vgl. Deutsche Lyrik des
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verfolgt werden. Müllers erster Satz aber, daß das, was in R steht, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit echt sei, steht und fällt mit dem Lied Meie dıˆn liehter schıˆn, das ich hier diskutieren möchte. Wießner hatte dieses Lied ohne Begründung, wohl weil es in R steht, nur mit den R-Strophen in seine kleine ATB-Ausgabe aufgenommen, aber zu den unechten und zweifelhaften Strophen in den Anhang gestellt. Paul Sappler hat es seit der vierten Auflage dieses Bändchens als Sommerlied 30 eingeordnet, aber im Petitsatz des zweifelhaften Guts belassen; in der Einleitung bemerkt er lakonisch dazu, daß das Lied mit guten Gründen auch unter den Winterliedern stehen könnte.7 Damit bezieht er sich auf ein Merkmal, das für Haupt wohl der wichtigste Grund für die Ausscheidung des Lieds aus dem Corpus der echten Neidhart-Lieder war:8 Das Lied hat sommerlichen Natureingang, stellt sich aber mit der ausladenden Kanzonenform zu den Winterliedern. Trotz dieser Schlüsselposition des Liedes in der Echtheitsfrage geht es mir hier aber nicht primär um die Frage der Autorschaft, sondern um den Versuch, das Lied in seinen verschiedenen Fassungen zu verstehen. Denn wichtiger als die Frage, wer einen Text verfaßt hat, bleibt noch immer die Frage nach seinem Sinn, nach dem, was er leistet. Ohne Konjekturen und Hypothesen werde ich bei meinem Versuch nicht auskommen. Das Bild, das sich mir ergeben hat, ist nicht beweisbar, aber hoffentlich plausibel. An der Überlieferung des Liedes sind drei vollständige Handschriften und zwei Fragmente beteiligt. Eine Konkordanztabelle mag die Übersicht erleichtern:9 R 1 2 3
Ma ×
G
s 1 2 3
..]×
4 5 6
4
c 1 2 3 4 5 6 7 8 9
Schon ein Blick auf diese Tabelle legt die Vermutung nahe, daß ein dreistrophiges Lied in verschiedenen Überlieferungszweigen in verschiedene Richtungen erweitert worden ist. Mein Interesse richtet sich jedenfalls darauf, in den überlieferten Fassungen Schichtungen und Pointen zu entdecken. Dazu gehe ich die Strophengruppen und Fassungen durch.
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späten Mittelalters, hg. von Burghart Wachinger (Bibliothek des Mittelalters 22), Frankfurt a. M. 2006, S. 669; ebd. S. 675 f. bereits eine Skizze zu den folgenden Ausführungen zur Fassung der Riedegger Handschrift. Wießner/Sappler, S. XII. Haupt/Wießner, S. XXIII. Vgl. die ausführlichere Tabelle SNE Bd. 1, S. 260.
Eine bezzerunge Neidharts?
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Das Maastrichter Bruchstück Ma kann dabei unberücksichtigt bleiben. Es enthält nur die erste Strophe, nachgetragen auf dem unteren Rand eines fragmentarischen Doppelblatts; dabei läßt sich nicht entscheiden, ob auf weiteren verlorenen Blättern weitere Strophen eingetragen waren oder ob nur eine versprengte Einzelstrophe festgehalten werden sollte.10 Auszugehen ist von der Riedegger Handschrift R bzw. von den vier Strophen, die R und c gemeinsam bezeugen. Den Anstoß zu meinen Überlegungen hat ein Aufsatz von Hans Becker gegeben, in dem er die Fassung R gründlich untersucht hat.11 Bekker hat erstens gezeigt, daß das Lied nahe stilistische und motivliche Beziehungen zu einigen Neidhart-Liedern aufweist, insbesondere zu den beiden in R folgenden Winterliedern,12 in denen die Minneklage stark dominiert; und er hat zweitens dafür plädiert, daß das Wort bezzerunge am Ende der vierten Strophe, das in Handschrift c zum Titelstichwort geworden ist, anders zu verstehen sei, als man es bisher verstanden hat. Der Vers heiße nicht »diese Strophen sende ich der Welt, daß sie sich bess’re« (wie etwa Beyschlag13 übersetzt hat), sondern er bedeute »diese Strophen sende ich der Welt als Ausgleich, als Entschädigung«.14 Diese Darlegungen Beckers haben mich überzeugt, und ich knüpfe an sie an. Nicht so überzeugt bin ich von Beckers Folgerungen. Das Lied sei, so meint er, ein Versuch Neidharts, auf Publikumskritik an der traurigen Stimmung einiger seiner Winterlieder zu antworten mit einem betont kunstvollen, inhaltlich betont konventionellen Minnelied. Neidhart habe hier einmal »die von ihm selbst etablierten Gattungsgrenzen übersprungen, um [. . .] die Klage durch Freudenstimmung und Preis zu ersetzen«.15 Auf meine abweichende Deutung bin ich durch einen anderen Text verfallen, der ebenfalls von einer ›Besserung‹ spricht. In der ‘Limburger Chronik’, entstanden um 1400, wird zum Jahr 1347 berichtet, daß im Gefolge Kaiser Ludwigs des Bayern ein Herr Reinhart von Westerburg ein Absagelied an eine unzugängliche Dame gedichtet habe, das dann auch vollständig zitiert wird; es endet mit den Worten uf ir genade achte ich kleine, sich, daz laße ich si vurstan. Die ‘Limburger Chronik’ erzählt dann 10
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Helmut Tervooren und Thomas Bein, Ein neues Fragment zum Minnesang und zur Sangspruchdichtung, in: ZfdPh 107 (1988), S. 1–26, bes. S. 10 u. 18; vgl. auch Holznagel [Anm. 2], S. 372 f. und 387–395, bes. S. 394 f.; SNE Bd. 3, S. 511 f. Hans Becker, Meie dıˆn liehter schıˆn. Überlegungen zu Funktion und Geschichte des Minnelieds HW XI,1 ff. in den Neidhart-Liedern der Riedegger Handschrift, in: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger, Tübingen 1992, Bd. II, S. 725–742. Haupt/Wießner 97,9 ff. und 62,34 ff.; Wießner/Sappler Winterlied 32 und 19; SNE I R 38 und R 39. Vgl. schon Hans Becker, Die Neidharte. Studien zur Überlieferung, Binnentypisierung und Geschichte der Neidharte der Berliner Handschrift germ. fol. 779 (c), Göppingen 1978 (GAG 255), S. 357 Anm. 16; Bennewitz-Behr [Anm. 5], S. 128–135. Die Lieder Neidharts. Der Textbestand der Pergament-Handschriften und die Melodien. Text und Übertragung, Einführung und Worterklärungen, Konkordanz, hg. von Siegfried Beyschlag, Edition der Melodien von Horst Brunner, Darmstadt 1975, S. 105. Becker [Anm. 11], S. 740 f. Ebd., S. 741.
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weiter: Da der vurgenant keiser Ludewig daz lit gehorte, darum so strafte he den herren von Westerburg unde saide, he wolde ez der frauwen gebeßert haben. Da nam der herre von Westerburg eine kurze zit unde saide, he wolde den frauwen beßeren, unde sang daz lit [. . .]. Es folgt der Anfang eines konventionellen Minnelieds, einer Klage zwar auch, aber zweifellos einer Klage, die in die Beteuerung weiteren treuen Minnedienstes mündete. Denn die Chronik fährt fort: Da sprach keiser Ludewig: ‘Westerburg, du hast uns nu wol gebeßert.’16 Die ›Besserung‹, von der hier erzählt wird, ist eine Genugtuung, eine Bußleistung, die, wenn man den Text genau liest, gefordert wird für die eine Dame, zugleich aber für alle Frauen, die in der einen gekränkt sein könnten; zufriedengestellt wird aber auch der Kaiser als Vertreter der Gesellschaft, weil dem Comment höfischer Rede Genüge getan wird: du hast uns nu wol gebeßert. Solche Sensibilität für den gehörigen Ton gegenüber Damen hatte Tradition, auch wenn sie sich gegen die Omnipräsenz frauenfeindlicher Rede immer neu behaupten mußte. Ich erinnere nur an die berühmte Selbstverteidigung Wolframs von Eschenbach. Sıˆn lop hinket ame spat, swer allen frouwen sprichet mat durch sıˆn eines frouwen.17 Man bezieht die Stelle meist auf die Kontroverse zwischen Walther und Reinmar und meint, es gehe um ein zu hohes Loben der eigenen Minneherrin auf Kosten der übrigen Damen. Aber schon der Bezugspunkt bei Reinmar ist wohl anders zu verstehen,18 und im Zusammenhang von Wolframs Selbstverteidigung ist offenbar eher gemeint, man dürfe aus einer Liebesenttäuschung, aus dem Zorn auf die eigene Dame, nicht eine Schelte aller Frauen ableiten: »Wer wegen seiner eigenen Dame allen Frauen Schach bietet, dessen Ehre hinkt wie ein lahmender Gaul.«19 Wenn man diese Stellen im Ohr hat, wird man bei einer neuen Lektüre unseres Liedes über den Schluß der zweiten Strophe stolpern: sol ich dienen und des aˆne loˆn von ir belıˆben, so ist des übelen meˆre danne des guoten an den wıˆben. von dem gelouben möhte mich ein keiser niht vertrıˆben.
Ich widerstehe der Versuchung, den keiser des Liedes mit dem Kaiser Ludwig der ‘Limburger Chronik’ zu verknüpfen und etwa eine Wanderanekdote anzunehmen. Die Regelverletzung aber ist hier wie dort ähnlich. Der Satz, daß an den Frauen, d. h. an allen Frauen, mehr Schlechtes als Gutes sei, wenn die eine mich nicht erhört, bringt den Ansatz eines frauenfeindlichen Tons in die Minneklage und kann als Ver16
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Die Limburger Chronik des Tilemann Elhen von Wolfhagen, hg. von Arthur Wyss (MGH Deutsche Chroniken IV,1), Hannover 1883, S. 28 f. Wolfram von Eschenbach, hg. von Karl Lachmann, 6. Ausg. Berlin/Leipzig 1926, Parzival 115,5–7. Vgl. jetzt Nellmann in: Wolfram von Eschenbach, Parzival. Nach der Ausgabe Karl Lachmanns rev. und komm. von Eberhard Nellmann, übertr. von Dieter Kühn (Bibliothek des Mittelalters 8), Frankfurt a. M. 1994, Bd. II, S. 516. Für solche Auffassung spricht auch, daß ein Possessivum bei lop im Mittelhochdeutschen fast immer nicht das Subjekt, sondern das Objekt des Lobs bezeichnet, vgl. die Wörterbücher.
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stoß gegen den höfischen Comment aufgefaßt werden, als ein Verstoß, für den eine bezzerunge angebracht ist. Und eine solche bezzerunge, das ist die These, die ich versuchen möchte durchzuspielen, wird geboten in dem allgemeinen Preis tugendhafter Minne und Frauenverehrung, den die vierte Strophe formuliert. Leider ist nun diese vierte Strophe in R nicht gut erhalten. Es gibt einen falschen Kasus, ein Reimwort kehrt identisch wieder, einmal fehlen an einer Stelle, wo auch radiert wurde, drei Silben und mit ihnen das Verbum finitum des Satzes. Das alles ist in der Textfassung von Wießner/Sappler bereits korrigiert, soweit möglich nach der zweiten, ihrerseits nicht guten Überlieferung in Handschrift c.20 Das Ergebnis ist allerdings weder gedanklich noch syntaktisch ganz überzeugend. Ich glaube nun, daß man durch andere Interpunktion und zwei kleine Konjekturen eine Fassung herstellen kann, die eine passende Pointe bietet. Um den Zusammenhang präsent zu machen, drucke ich zunächst die drei ersten Strophen ab, und zwar, da die Fassungsdifferenzen hier unbedeutend sind, in der normalisierten Fassung der kleinen Ausgabe von Wießner/Sappler;21 anschließend biete ich, abgetrennt durch ein Sternchen, eine neue Fassung der vierten Strophe, ebenfalls in normalisierter Graphie, aber mit Apparat und in der Druckeinrichtung bezogen auf R als ›Leithandschrift‹: I
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Meie, dıˆn liehter schıˆn und diu kleinen vogelıˆn bringent vröuden vollen schrıˆn. daz si willekomen sıˆn! ich bin an den vröuden mıˆn mit der werlde kranc. Alle tage ist mıˆn klage, von der ich daz beste sage unde ir holdez herze trage, daz ich der niht wol behage. von den schulden ich verzage, daz mir nie gelanc, Alsoˆ noch genuogen an ir dienest ist gelungen, die naˆch guoter wıˆbe loˆne höveschlıˆchen rungen. nu haˆn ich beidiu umbe sust gedienet unde gesungen. Lieben waˆn, den ich haˆn gein der lieben wolgetaˆn, der ist immer unverlaˆn unde enkan mich niht vervaˆn. sol diu guote mich vergaˆn, sanfter wære ich toˆt. Ich was ie, swiez ergie, sıˆt daz ich ir künde vie, in ir dienste, des si nie
Literatur zu dieser s. unten Anm. 24. Ich markiere lediglich die Anfänge der Stollen und Abgesänge durch Majuskeln.
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selten mich geniezen lie, dort und etewenne hie, swie si mir geboˆt. Sol ich dienen und des aˆne loˆn von ir belıˆben, so ist des übelen meˆre danne des guoten an den wıˆben. von dem gelouben möhte mich ein keiser niht vertrıˆben. Ungemach mir geschach, do ich von eˆrste ein wıˆp ersach. der man ie daz beste sprach unde ir guoter dinge jach, diu ir kiusche nie zebrach unde ir hövescheit. Ist mıˆn haˆr grıˆsgevar, daz kumt von ir schulden gar. ir vil liehten ougen klaˆr nement mıˆn vil kleine war, soˆ diu mıˆnen blickent dar aˆne kunterfeit. Wolte sıˆ mit einem geˆn den mıˆnen beiden zwieren! minne diu gebiutet, daz diu ougen scharmezieren, liebe zwischen wıˆben unde mannen underwieren.
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Hoˆchgemuot dar zuo fruot ist an jungem manne guot. der vor schanden ist behuot und daz beste gerne tuot, den begiuzet sælden fluot, minnent werdiu wıˆp. Fürhte scham! wıˆbes nam der enwirt dir nimmer gram. ist er guoten wıˆben zam, ist sıˆn zunge an schelten lam, so ist er aller tugende stam, sælic sıˆ sıˆn lıˆp! Der daz lop behalte, der ist aˆne missewende. aller sælden sælic muoz er sıˆn unz an sıˆn ende. diz liet ich der werlde zeiner bezzerunge sende.
1 Hoher mut c. 2 an ivngen manne R, den jungen ma¯en c. 3 fehlt c. 4 Vn¯ R, Wer c. e 5 c] Der ist mit lobe wol behvt R (identisches Reimwort!). 6 minnet werdiv R, mynnet er rayne c. 7 Fvrht scham R, Hat er c. 8 Ds wirt dir R, Dem enwirt er c. 10 Ist R, Vnd c. 11 So plüet im der tugent stam c. 13 Wer c. behaltet c. 14 sælden sælich [Rasurlücke von ca. 4 Buchstaben] unz R, selden muß er selig sein vncz c. 15 Div liet R, Die leide c. ich zupessrung in die welde c.
Eine bezzerunge Neidharts?
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In der neugefaßten Strophe IV hätte sich die stilistische Härte eines Wechsels von der dritten in die zweite Person in v. 7 und wieder zurück in v. 9 durch ein Lavieren zwischen R und c leicht vermeiden lassen, etwa so: Fürht er scham, wıˆbes nam der enwirt im nimmer gram. Aber darauf kommt es hier nicht an. Bedenklicher sind meine Konjekturen in v. 6 (minnent für minnet R, mynnet er c) und v. 15 (daz für div R, die c). So geringfügig die Eingriffe sind, sie ändern punktuell den Sinn. Zu rechtfertigen sind sie nur dadurch, daß sie im größeren Kontext allererst einen plausiblen Sinn herstellen. Eine Übersetzung soll dies verdeutlichen: ‘Hoher Sinn und gute Art stehen einem jungen Mann wohl an. Wenn er sich vor Schande hütet und sein Bestes gerne tut, dann benetzt ihn auch der Strom des Glücks, lieben ihn edle Frauen. Fürchte, was der Ehre schadet! Dann wird dir, was eine wahre Frau ist (wıˆbes nam), niemals gram sein. Wenn einer guten Frauen folgt und ihm die Zunge lahmt beim Schelten, ist er ein Hauptstamm aller Trefflichkeit, gepriesen soll er sein. Wer solches Lob verdienen kann, ist ohne Fehl und Tadel. Mit allem Glück wird er gesegnet sein bis an sein Ende. Diese Strophe widme ich der Welt, um’s wiedergutzumachen.’ Der ursprüngliche Kern des Liedes, den R, s und c bezeugen und von dem eine Strophe auch ins Maastrichter Fragment gelangt ist, bestand, so scheint mir, aus einer dreistrophigen Minneklage mit Natureingang, einer topischen Klage, die aber in ihrer Intensität an einem Punkt zu weit geht und eine Höflichkeitsregel verletzt, indem sie, wenn auch nur bedingt, einen frauenfeindlichen Ton anklingen läßt. Dieses Vergehen, das offenbar von Rezipienten kritisiert worden war, versuchte eine nachgeschobene vierte Strophe, bezeugt nur durch R und c, wettzumachen, indem sie behauptete, ein tugendhafter, die Frauen verehrender Mann werde immer glücklich sein und auch die Zuneigung der Frauen finden. Da mein Verständnis und meine Herstellung von Strophe IV nicht ohne Eingriffe in den überlieferten Wortlaut auskommen, bleiben Alternativen bedenkenswert. Nachdem ich diesen meinen Lösungsversuch zu Paul Sapplers 65. Geburtstag vorgetragen hatte, entwarf Derk Ohlenroth auf der Basis meiner Annahme, daß Kritik am Schluß von Strophe II den Anlaß zum Abfassen der Strophe IV gegeben habe, einen Gegenentwurf mit detaillierter Begründung. Da er nicht weiß, ob und wann er ihn druckfertig machen wird, hat er mir erlaubt, sein Ergebnis zu zitieren. Ohlenroth hält sich auch in v. 5 an R mit der Begründung, das zweimalige behuot sei semantisch differenziert. Damit wird auch die von mir angenommene syntaktische Struktur hinfällig. In v. 8 aber schließt er sich an c an, so daß wıˆbes nam gegen R vom Subjekt zum Dativobjekt wird. Das führt ihn zu folgender Herstellung der Strophe (editionstechnisch zum besseren Vergleich meinem Verfahren angepaßt): Hoˆchgemuot, dar zuo fruot ist an jungem manne guot. der vor schanden ist behuot und daz beste gerne tuot, der ist mit lobe wol behuot, minnet werdiu wıˆp,
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Fürhtet scham. wıˆbes nam dem enwirt er nimmer gram. ist er guoten wıˆben zam, ist sıˆn zunge an schelten lam, soˆ ist er aller tugende stam. sælic sıˆ sıˆn lıˆp! Der daz lop behalte, der ist aˆne missewende. aller sælden sælic muoz er sıˆn unz an sıˆn ende. diz liet ich der werlde zeiner bezzerunge sende.
In dieser Fassung wäre die Strophe zu verstehen als eine von einem anderen verfaßte Kritik an dem Ansatz einer allgemeinen Frauenschelte, gekleidet in die Form einer allgemeinen Paränese für den jungen man. Nach Ohlenroth könnte der Anfang von v. 13 den Gedanken weiterführen und bedeutete dann ‘Wer an seinem Frauenpreis festhält . . .’ Für bezzerunge wäre auf die Parallele zur ‘Limburger Chronik’ zu verzichten, es hieße nicht ‘Bußleistung, Wiedergutmachung’, sondern einfach ‘Besserung’. Vielleicht kann Paul Sappler zwischen beiden Versuchen entscheiden oder einen dritten Vorschlag machen. Die Sterzinger Miszellaneen-Handschrift s,22 entstanden in den ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts, vielleicht nicht in Südtirol, wo sie später war,23 überliefert das Lied in einer sechsstrophigen Fassung mit Melodie. Auf die drei Strophen Minneklage folgen hier drei Dörperstrophen. Diese stehen auch in der Handschrift c, die in den 1460er Jahren im Nürnberger Raum geschrieben worden ist.24 s und c gehen also in diesem Punkt auf eine gemeinsame Vorstufe zurück. Ich nehme an, daß s den Strophenbestand dieser Vorstufe bewahrt hat, während c eine Erweiterung darstellt. Dazu später. Nur von der ersten der drei Dörperstrophen findet sich der Schluß ab v. 7 schon früher auch in dem Fragment G (westmitteldeutsch, 14. Jahrhundert).25 22
23
24
25
Vipiteno/Sterzing, Stadtarchiv, ohne Signatur, 53v–54v. Vgl. Die Sterzinger MiszellaneenHandschrift, in Abbildung hg. von Eugen Thurnher und Manfred Zimmermann (Litterae 61), Göppingen 1979; Manfred Zimmermann, Die Sterzinger Miszellaneen-Handschrift. Kommentierte Edition der deutschen Dichtungen (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanist. Reihe 8), Innsbruck 1980, unser Lied dort S. 202–204 (Text) und 361–363 (Kommentar); Holznagel [Anm. 2], S. 396–402, 570–574; SNE Bd. 3, S. 529–531. Max Siller, Wo und wann ist die Sterzinger Miszellaneen-Handschrift entstanden?, in: Entstehung und Typen mittelalterlicher Lyrikhandschriften. Akten des Grazer Symposiums 13.– 17. Oktober 1999, hg. von Anton Schwob und Andra´s Vizkelety (Jahrbuch für internationale Germanistik. Reihe A. 52), Bern u. a. 2001, S. 255–280. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ms. Germ. fol. 779, 150v–152r; vgl. Abbildungen zur Neidhart-Überlieferung II. Die Berliner Neidhart-Handschrift c (mgf 779), hg. von Edith Wenzel, Göppingen 1976 (Litterae 15); Ingrid Bennewitz-Behr unter Mitwirkung von Ulrich Müller, Die Berliner Neidhart-Handschrift c (mgf 779). Transkription der Texte und Melodien (GAG 356), Göppingen 1981, unser Lied dort S. 62–64; SNE Bd. 3, S. 518–523. Freiburg i. Br., Universitätsbibliothek, Hs. 520; hier nach dem Abdruck: Moriz Haupt, Zu Neidhart. Grieshabers bruchstücke, in: ZfdA 6 (1848), S. 517–519; seit diesem Abdruck scheint das Fragment noch gelitten zu haben, vgl. Volker Schupp in: Handschriften und
Eine bezzerunge Neidharts?
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Was der Strophe vorausging, ist verloren; man darf vermuten, daß es die dreistrophige Minneklage war, auf die sich der Strophenanfang noch zurückbezieht. Deutlich ist aber, daß die Strophe hier den Liedabschluß bildete; denn ein anderes Lied schließt unmittelbar an. Ich gebe die drei Strophen wieder nach s mit den Lesarten von G und c:26 s IV
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13
s V
7
26 27
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Al mein not die wer tot, möht ich wenden aines spot, des har ist im ringelot. er ist gehaizzen Sigelot. seinen pecher er mir pot und zuckt in hin wider. Er satzt in nach dem sin auf sein haupt in freuden vin nach dem newen hofesin, auf den zehen slaif er hin. do was das mein bester gewin, das der pecher [] nider o Über die augen und den munt in seinen pusen stürzet. der da vor den raigen trat so üppiclich geschürzet,27 der wart da mit seinem har unhofelich gehürzet. Sein ist für war dreizzig jar, das der törper Engelmar Fridraun iren spiegel chlar prach, des trag ich grawes har peide stille und offenbar, das es ie geschach. Immer seit von der zeit o trug ich seinen chrumpen neit und auch eteswenne streit stete in dem lande weit. ei, das ir so lützel leit,28 das ist mein ungemach.
Faksimileausgaben zur deutschen und lateinischen Literatur des Mittelalters. Ausstellungskatalog, Freiburg i. Br. 1981, S. 71 und Abb. 5; s. auch Holznagel [Anm. 2], S. 396–402, 570–574; SNE Bd. 3, S. 509. Graphie von s reguliert; das Einfügen eines unbetonten e wird nicht nachgewiesen. Die Lesart von c wird durch G gestützt und paßt zum üblichen Kleiderspott: ‘(den Rock für den Tanz) in eitler Weise geschürzt’. Die Lesart von s ist schwierig. Mit seiner Verbesserung wollte der Schreiber ein identisches Reimwort vermeiden. Wenn er dabei an lürzen ‘täuschen, betrügen’ gedacht haben sollte (so SNE Bd. 3, S. 136), hat er ein hier unpassendes Wort gewählt. Zimmermann [Anm. 22], S. 362, vermutet einen Zusammenhang mit lerzen ‘lustig, übermütig sein’; aber dieses Verbum ist äußerst schlecht bezeugt und würde hier syntaktisch schwerlich passen. Wenn die s-Lesart einen Sinn hat, dann am ehesten, wenn man lürzen mit lurtschen ‘lahmen mit den Füßen, schlürfen’ gleichsetzt (DWb 6, Sp. 1314). Das Part. Prät. wäre dann zu trat gestellt in Analogie zu Konstruktionen mit komen, vgl. Hermann Paul, Mittelhochdeutsche Grammatik, 23. Aufl. neu bearb. von Peter Wiehl und Siegfried Grosse, Tübingen 1989, § 331 Abs. a. Wohl ‘daß so wenige von ihnen tot liegen’.
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Burghart Wachinger 13
s VI
7
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Doch frew ich mich aines an dem maier Dersprechte: o e den zugen durch sein aigen plut zwen ungefuge chnehte, Cotelpolt und Amelreich, des schampt sich sein geslehte. Laut erhal da der schal von den geuchen überal, da man den Dersprechten kal sach derslagen auf dem wal. do wart mir gen Rewental offenlich gesait.29 Hacken, spieß man da hieß pringen, des man nit enließ. Erkenpolt, der starke vieß, Williprehten nider stieß, des freut sich der mein genieß. seuse, wie er strait! o Do slug mein her Erkenpolt da den von Pottenprunne durch den schedel auf den kropf, wie wol ich im das gunne! o do vant man in toten [] in den schuhen an der sunne.
IV,1 die wer] weren c.
3 ist geringlott c. 7 Mit saste in setzt das Fragment G ein. 8 in fremdelin (oder fremdesin?) G. 9 newen] meinen c. hobe din G. 11 do was das cG] das was da s. best G, peste c. 12 cG] viel nids s. 13 den munt] seinen mu¯dt c. seinen cG] den s. sich stortz G. 14 G] vppiclichn¯ sc. geschürczet c, gescortz G, gestürczt verbessert zu gelürczet s. 15 da s] do c, fehlt G. mit seinem har sc] mit hare vber den tantz G. G] vnhofflichn¯ s, vnhoffenlich c. gehortz G. e V,2 torppell c. 7 von s] vor c. 8 chrumpn¯ s] kvnen c. 9 Und c] Das undeutlich verbessert s, Zimmermanns [Anm. 22] Lesung des kann ich nicht nachvollziehen. etwe¯ ein c. 13 den mair dersprechte s, dem torpper dorfftprecht c. 14 c] zugens s. 15 Doczelpolt vnd amelrutt c. VI,1 da c] do s. der schal c] erschal s. 3 da s] do c. den sprechn¯ dazwischen vo¯ nachgetragen s, dorff prechten c. die (oder der, verbessert zu da) slahn¯ s, erslagen c. 5 Das ward c. mir c] mit s. 10 Wildeprechten c. 11 der s] da c. 12 Sausa c. 13 hers her c. von fehlt c. e portn¯ prun¯e s, bottenbrunn c. 14 wol auf den korpper c. wie Haupt/Wießner] fehlt sc. gun¯de s. 15 ligen (nach toten nachgetragen) s. sunnen s.
***** Die Strophen V und VI, bezeugt erst seit dem Anfang des 15. Jahrhunderts, sind ohne Zweifel relativ späte Weiterdichtungen mit der Dörperthematik der Gattung Neidhart. In Strophe VI findet sich einer der Anstöße, die Haupt veranlaßt haben, das ganze Lied für unecht zu erklären. Hier stellt sich ›Neidhart‹ als in Reuental lebend dar, gleichzeitig aber erscheint der österreichische Ortsname Pottenbrunn. Die Unterscheidung von bayerischen und österreichischen Liedern, von Liedern, in denen der Dichter von Riuwental als seinem Eigentum und dem Ort seines Aufenthalts 29
So viel wie offenliche widersaget?
Eine bezzerunge Neidharts?
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spricht, einerseits und Liedern mit österreichischen Orts- und Personennamen, in denen auf Riuwental höchstens noch zurückgeblickt wird, andererseits, diese Unterscheidung gehört zu den Grundannahmen der frühen Neidhart-Philologie. Sie beruht auf der Bevorzugung der Handschrift R als Zeugnis des ›echten‹ Neidhart; denn außerhalb von R gibt es sehr wohl bayerisch-österreichische Vermengungen wie in dieser Strophe. Ich meine allerdings, daß die eigentümliche und nicht gleich offen sichtbare Differenzierung nach zwei Gegenden und zwei Lebensphasen, die in R steckt, kaum dem Zufall oder dem Redaktionswillen eines Sammlers zu verdanken sein wird, sondern daß wir hier tatsächlich ein authentisches biographisches Element fassen können (ohne daß wir darum die zu vermutende Biographie des historischen Neidhart auf eine bayerische und eine österreichische Phase reduzieren dürften). Auch sonst scheinen mir die beiden Strophen, so dezidiert sie sich in die NeidhartTradition stellen, vom Typus der durch R bezeugten Dörperstrophen abzuweichen. Die Brutalität, mit der hier von tatsächlichen Totschlägen geredet wird, gibt es in R allenfalls in Drohphantasien. Und wenn ich den Text richtig verstehe, impliziert er eine Vorstellung von Fehde, wie sie dem R-Neidhart fremd ist: VI,5 f. kann ich zumindest im Wortlaut von s nur als öffentliche Fehdeansage verstehen, und Erkenpolt scheint als Bundesgenosse des Reuentalers zu agieren. Vorsichtiger möchte ich über Strophe IV (G/s4/c7) urteilen. Der als männlich gewertete Reim hinwider : nider weist sie wohl noch ins 13. Jahrhundert. Die einleitende Überbietung des Minneleids durch das Dörperleid, die Provokationsszene mit Trinkangebot und -verweigerung, das Balancieren des Bechers beim Tanz,30 das in die Selbstbesudelung des Dörpers mündet, all das klingt durchaus neidhartisch, das würde nicht schlecht zur ältesten Schicht der Neidharte passen. Nun ist diese Strophe, wie gesagt, im Fragment G als Schlußstrophe einer sonst verlorenen Liedfassung überliefert. Setzen wir voraus, daß ihr dort wie in s nur die dreistrophige Minneklage vorausging, so können wir auf eine frühe Liedfassung schließen, die die Minneklage durch eine Dörperklage überbot und in ihrer Zusammensetzung der Themen noch näher als die R-Fassung bei den Winterliedern 32 und 19 stand, auf die Becker hingewiesen hat. Unterschieden von ihnen war allerdings auch sie durch den Frühjahrseingang, und ihrer Dörpermotivik fehlte die gerade in den beiden Vergleichsliedern wichtige Einbindung als konkurrierende Werbung um die Geliebte. Es bleibt noch der Restbestand der Handschrift c zu überprüfen. In c steht wie in allen vollständig überlieferten Fassungen am Anfang die Minneklage, das Ende bilden wie in der Sterzinger Handschrift die drei Dörperstrophen. Dazwischen findet sich 30
Vgl. die Anmerkungen zur Stelle bei Haupt/Wießner, S. XXIII und bei Edmund Wießner, Kommentar zu Neidharts Liedern, Leipzig 1954, S. 226. Seit dem 14. Jahrhundert auch in bildlichen Darstellungen von Bauerntänzen bezeugt, vgl. Eckehard Simon, The Rustic Muse: Neidhartschwänke in Murals, Stone Carvings, and Woodcuts, Germanic Review 46 (1971), S. 243–256, dort S. 250, und Nikolaus Henkel, Ein Neidharttanz des 14. Jahrhunderts in einem Regensburger Bürgerhaus, in: Neidhartrezeption in Wort und Bild, hg. von Gertrud Blaschitz, Krems 2000, S. 53–70, dort Abb. 4 und 6 (nicht als Gefäß identifiziert); ebd. S. 293 eine Abbildung des Wandbilds von Burg Trautson nach der Renovierung.
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Burghart Wachinger
ein Mittelstück von drei Strophen. Die Schlußstrophe von R ist hier in die Mitte gerückt, je eine weitere Strophe steht vor ihr und nach ihr. Ich sehe nun keine Möglichkeit, diese Mittelgruppe und damit das Gesamtarrangement von c als konzeptionelle Einheit zu verstehen. Zwar ist die Frage der Liedeinheit in der Neidhart-Tradition vielfach problematisch. Scharfe thematische Brüche gehören insbesondere bei den Winterliedern zum Genre. Es gibt Lieder, in denen die Brüche kunstvoll ins Stropheninnere verlegt sind, so daß die Einheit über die Form gesichert ist. Es gibt andererseits Lieder mit einer in großen Partien lockeren Struktur, die sich dann eher am Typus der Sangspruchdichtung zu orientiern scheinen. Hier scheint ein dritter Typus von Relativierung der Liedeinheit vorzuliegen, nämlich Alternativstrophen, die nicht zum Nacheinandersingen gedacht zu sein scheinen, sondern einander in verschiedenen Vortragsfassungen ersetzen können. So etwas hat man auch sonst in der Neidhart-Überlieferung schon beobachtet, freilich kaum in solcher Dichte wie hier. Der Redaktor der c-Fassung hat offenbar verschiedene konkurrierende Liedfassungen ohne viel Rücksicht auf eine Gesamtkomposition zusammengeführt. Leider sind nun die Strophen in der späten Handschrift offensichtlich teilweise entstellt. Bei der Strophe c VI, der ich mich zuerst zuwenden möchte, bleiben dadurch wichtige Züge unklar. Ich gebe die Strophe mit leichter Regulierung der Graphie und den unproblematischen formalen Besserungen von Haupt/Wießner wieder, übernehme von ihren sinnverändernden Konjekturen jedoch nur die in v. 10: c VI
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Ich bin fro. swache dro schat mir klain als umb ein stro. e es erwendt ir gut also, die ich vind, ich wais wol wo. secht, des wirt mein trauren ro. das sei ir gesait. Ich bin hie der doch nie sein gesangk von ir erlie, der ir für die oren gie und in nie zu vor empfie. des wurd ich an freuden schie und an seligkait. Doch so wil ich mit den jungen nach ir hulden singen. was ob noch mein dienst †an gieng-† mag bös ende bringen? e mich wundert, das ir gute mich so sere mag bezwingen.
1 swachen c. 5 das c. 6 sie ir gesagt c. 9 gieng c. 10 nie] nu c. empfieng c. 13 jren c. 14 gieng- (der abschließende Suspensionsstrich von Haupt/Wießner als s gedeutet: giengs; eher dürfte giengen gemeint sein) c. bos ende mag c. 15 mich jr gut c.
Eine bezzerunge Neidharts?
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Was ist der Sinn dieser Strophe? Haupt und Wießner31 haben sie offenbar als klassische Minnekanzone verstanden und dementsprechend zu bessern versucht. Ihre Eingriffe, teilweise mit Fragezeichen versehen, sind kräftig, in v. 14 massiv: v. 7 doch → noch; v. 10 nu → nie; v. 11 wurd → wird (so nur Haupt, Wießner möchte mit Verweis auf v. 1 bei c bleiben); v. 14 waz ob noch mıˆn dienst ein guotez (oder: liebez) ende mac gebringen. Mit der Motivfolge Freude – Singen – Gesang dringt zu den Ohren der Geliebten – Angst vor Freudeverlust – Festhalten am Singen ist die klassische Minnesangsituation in der Tat strukturbestimmend. Aber es gibt Widerständiges. Das Motiv der swachen dro bleibt blind. Es wird am ehesten verständlich, wenn man an Neidharts Dörperfeindschaft denkt. Die Situation eines konkurrierenden Werbens um eine Dorfschöne, wie sie einige Neidhart-Lieder zeigen, ist aber auszuschließen. Mindestens v. 13 stünde ihr entgegen. Ist an eine Dame am Hof zu denken? Dafür finde ich in der Neidhart-Tradition keine überzeugende Parallele; das Verhältnis von Neidhart zu der Herzogin in den Schwänken ist von anderer Art. Die Ambivalenz des Schlußverses v. 15 läßt mich vermuten, daß Frau Welt gemeint ist. Sie ist Personifikation der höfischen Gesellschaft, der das Singen dient, die dem Sänger auch gegen die swache dro der Dörper Sicherheit zu geben scheint. Ihrer Gunst ist sich der Sänger allerdings nicht sicher. Der Umschlag von sicherer Freude im ersten Stollen zur Angst am Ende des zweiten ist freilich nur durch eine Konjektur plausibel zu machen.32 Rätselhaft bleibt schließlich der gestört überlieferte v. 14. Wenn man an die zu Beginn der Strophe angedeutete Dörperfeindschaft denkt, liegt es nahe, den Vers mit einem kleinen Eingriff zu heilen: was ob noch mein dienst den giegen mag bös ende bringen. Hat man aber die Tradition der Weltklagen im Ohr, so möchte man eher meinen, daß das Ich für sich selbst ein bös ende seines Weltdienstes fürchtet. In diesem Fall müßte v. 14 ursprünglich anders gelautet haben.33 Ich wage keine Entscheidung. Keinesfalls aber sollte man das bös ende mit Haupt/Wießner wegkonjizieren. Wenn diese Überlegungen wenigstens im Prinzip richtig sind – einige Einzelheiten der Rekonstrunktion bleiben problematisch –, dann stellt sich diese Strophe durch Andeutung einer Dörperdrohung in eine typisch Neidhartsche Situation. Daß diese durch Dörperszenen in weiteren vorhandenen oder geplanten Strophen ausgeführt werden sollte, ist sehr wahrscheinlich. So gut wie sicher aber gingen der Strophe c VI die drei Minnestrophen voraus, die ja offensichtlich den Kern des Komplexes bilden. Sie werden durch c VI als Klage über die Hofgesellschaft gedeutet, die in der Minnedame Welt oder, wie eine nur in C überlieferte Strophe sagt, Werltsüeze personifiziert ist. Die Verbindung von Weltklage und Dörperthematik ist in der Neidhart-
31 32
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Haupt/Wießner, S. XXI f., sowie Wießner, Kommentar [Anm. 30], S. 225. Ich folge daher in v. 10 Haupt/Wießner. Der Vers ist allerdings in dieser Form noch nicht idiomatisch befriedigend. Vielleicht und in nie vür guot empfie? Passen würde vielleicht was ob noch mein sangk von giegen mag bös ende bringen. Aber damit würde man sich sehr weit von der Überlieferung entfernen.
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Tradition nicht häufig, aber doch gut belegt,34 und die Schelte der personifizierten Minne variiert nur den Typus.35 In der Schelte der Damen Welt oder Minne ist aber fast immer, in der älteren Überlieferung ausnahmslos, ein zentraler Vorwurf der, daß sie sich mit den Dörpern gemein machen. Hier dagegen bleibt die personifizierte Dame ganz der höfischen Sphäre zugeordnet, scheint geradezu einen Gegenpol zu den Dörpern zu bilden. Der Ton ist dementsprechend gemäßigt, ja der Dienst noch nicht wirklich abgebrochen. Insofern ist die Strophe eher einer in der Schwebe gehaltenen Weltklage wie der in Konrads von Würzburg Lied 6 zu vergleichen.36 Auch bei Strophe c IV muß man sich ein Stück weit hinter den Wortlaut der Handschrift zurücktasten, wenn man auf einen plausiblen Sinn stoßen will. Aber man wird leichter fündig. Ich gebe auch von dieser Strophe eine rekonstruierte Fassung. Der Text beruht in fast allen Verbesserungen auf Haupt/Wießner, nur mit nu in v. 10 und man in v. 15 habe ich mich ein Stückchen weiter zurückgewagt: c IV
7
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‘Herzenlait, wer das trait, dem hat Selde widersait; seneliche arebait ist im zu aller zeit berait’, sprach ein frauwe vil gemait, ‘daz ist mir wol bekant. Mich bezwank, des ist niht lank, minniclicher umbevank, darnach ie mein herze rank. nu ist die minne worden krank und stet gar auf zwerchem schrank. we dir, teutsches lant! Sol in deiner ordenunge minne also verderben, o so muß schöner frauwen vil von deinen schulden sterben und werden schuldig man, die umb ir liebe solten werben.’
3 Haupt/Wießner] eren braitt c. 10 Nu fehlt c. 11 Haupt/Wießner] offt c. 12 Haupt/ Wießner] teusche c. 13 Haupt/Wießner] mein c. 14 Haupt/Wießner] mu´ssen c; Haupt/ Wießner] an den schulden c. 15 schuldig die c, schuldic die die Haupt/Wießner.
***** In dieser Strophe, die in c ja unmittelbar auf die Minneklage folgt, wird eine Frau als Sprecherin eingeführt. Sie bestätigt zunächst, daß Minneleid schweres Leid ist, das habe auch sie erfahren. Ihr Leid ist aber von anderer Art als der zuvor so ausführlich 34
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Haupt/Wießner 82,3 ff., 86,31 ff.; Wießner/Sappler WL 28, WL 30; SNE I R 13, R 20, II c 89; e vgl. Ingrid Bennewitz-Behr, »Fro welt ir sint gar hüpsch und schon . . .« Die ‘Frau-Welt’Lieder der Handschriften mgf 779 und cpg 329, JOWG 4 (1986/87), S. 117–136. Haupt/Wießner 95,6 ff., Wießner/Sappler WL 34, SNE I R 40. Konrad von Würzburg, Kleinere Dichtungen, hg. von Edward Schröder, III, Berlin 21959, Lied 6.
Eine bezzerunge Neidharts?
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dargelegte Schmerz des Minnesängers. Sie war an das Ziel ihrer Wünsche, zum minnichlıˆchen umbevanc, gelangt, aber jetzt37 ist die Liebe schwach geworden und steht – eine Neidhartsche Wendung ausgerechnet aus dem stilistisch nahestehenden Winterlied 32 – auf zwerchem schrank ‘auf verquerem Gestell’ oder ‘in schiefer Umarmung’. Offenbar ist der Liebespartner untreu geworden, hat jedenfalls anderes im Sinn. Das Minneversagen des einen wird aber nun allen Männern38 Deutschlands angelastet, sie verursachen mit ihrem Verhalten den Tod vieler schöner Frauen. Diese Strophe steht in einer eigentümlichen kontrapunktischen Entsprechung zu der Schlußstrophe der Fassung R, die in c folgt. Auch sie hat offenbar den Commentverstoß in der Minneklage, den Schluß von der eigenen Liebessituation auf die Frauen im allgemeinen, bemerkt. Sie reagiert nur auf andere Weise darauf, indem sie revanchierend eine Frau ihre Erfahrung mit einem Mann auf alle Männer ausdehnen läßt und generelle Männerkritik gegen generelle Frauenfeindlichkeit setzt. Daß einem männlichen Ich-Lied in der Schlußstrophe mit einer Frauenrede die andere Perspektive entgegengestellt wird, kommt in der mittelhochdeutschen Lyrik auch sonst vor. Innerhalb der Neidhart-Tradition wäre allenfalls der Rollen- und Perspektivenwechsel in den Trutzstrophen vergleichbar. Beide Typen dienen als effektvolle Schlußpointen in Aufführungssituationen. Ich versuche, die Einzelbeobachtungen zu einem Gesamtbild zu ordnen. Eine dreistrophige Minneklage ist zum Ausgangspunkt von mehreren Liedfassungen geworden. Diese Minneklage wirkt recht konventionell. Daß sie am Ende der zweiten Strophe einen höfischen Comment verletzt und einen frauenfeindlichen Ton anklingen läßt, kann man leicht überhören. Zweimal wurde es immerhin bemerkt. Die Strophe c IV antwortet auf den Verstoß spiegelbildlich durch eine Frauenklage mit männerfeindlichen Nebentönen. Die Strophe R IV/c V andererseits versucht eine bezzerunge in einem allgemeinen Preis der Frauenverehrung. Wenn Derk Ohlenroths Herstellungsversuch den Vorzug verdient, ist die Strophe poetische Kritik in Form einer allgemeinen Paränese. Wenn mein Versuch näher am Richtigen liegt, muß die Strophe wohl vom selben Autor gedichtet sein wie die Minneklage, zumindest ist dies die einfachste Annahme. Sie setzt aber ein dazwischen liegendes kritisches Echo auf die Minneklage voraus. Ob dieses Echo in Gesprächen stattfand oder literarische Form hatte, wissen wir nicht. Alle Strophen und Fassungen des Liedkomplexes sind in Neidhart-Kontexten überliefert. Nach Beckers Beobachtungen gibt es auch schon in der Minneklage stilistische Beziehungen zu einigen Neidhart-Liedern. Daß diese Minneklage von Neidhart selbst gedichtet sei, kann ich nicht mit Sicherheit ausschließen, glaube es aber nicht. Sie scheint mir vielmehr zu belegen, daß Neidhart auch jenseits seiner spezifischen Dörper- und Reigenmotive Beachtung und Nachahmung gefunden hat, wie es
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Meine Konjektur nu ist nur eine Verdeutlichung des überlieferten Tempusgegensatzes. Auch hier verdeutlicht meine Konjektur nur, was im überlieferten Wortlaut schon gesagt ist.
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ja auch die Tonentlehnungen der Carmina Burana und Heinrichs von Mügeln und die Nennungen bei Lupold Hornburg bezeugen.39 In der Frage nach dem Eigentum der »Person Neidhart«, des »einen ersten Autor[s], der den Liedtypus der Neidharte geschaffen hat« (um Paul Sappler zu zitieren),40 wird heute niemand mehr mit Überzeugung scharfe Grenzen ziehen wollen. Aber mit Wahrscheinlichkeiten, mit Kernbereich und Randzonen, dürfen, sollten wir sehr wohl operieren. Und in diesem Sinn stelle ich die dreistrophige Minneklage, obwohl sie bereits in R überliefert ist, an den äußeren Rand der Randzone. Wenn sie denn dreistrophig war. Immerhin denkbar ist, daß schon in der Ausgangsfassung auf die Minneklage eine diese überbietende Dörperklage folgte, wie sie in der Strophe G (s IV, c VII) erhalten ist.41 In diesem Fall würde ich das Ausgangslied zwar innerhalb der Randzone belassen, aber doch näher an deren inneren Rand, an die Grenze zum Kernbereich rücken. Der kritische Umgang von Frauenstrophe und bezzerunge mit einem solchen Lied wäre dann allerdings umso erstaunlicher. Sie hätten ein spezifisch Neidhartsches Element ausgeschieden, um nur die Minneklage, ja nur einen Punkt in dieser, auf höfische Diskurse zu beziehen. Mit mehr Wahrscheinlichkeit wird man die G-Fassung verstehen dürfen als einen Versuch, ein von Neidhart beeinflußtes und im Kontext von Neidhart-Liedern überliefertes Lied näher an die typischen Neidharte heranzuholen. So oder so. Die Autorschaftsfrage bleibt offen. Das Beobachtete scheint mir dennoch der Mühe wert zu sein. Es hat sich ein ganzes Nest von Sang und Gegensang, Bessersingen und Weiterspinnen gezeigt, ein produktives, auf neue Pointen bedachtes, teilweise kritisches Umgehen mit einem Liedtext, das über das hinausgeht, was man an Weiterdichten in der Neidhart-Tradition auch bisher schon beobachtet hat. Und es hat sich gezeigt, daß es in der Neidhart-Tradition neben den Tendenzen der Vergröberung und Brutalisierung auch Versuche der Rückbindung an höfische Sprachund Verhaltensnormen gegeben hat. Beteiligt waren offenbar verschiedene Sänger. In der jüngsten Handschrift c sind alle ihre Stimmen zusammengekommen, wenn auch teilweise nur bruchstückhaft und im Detail durch Mißverständnisse entstellt.
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40 41
Vgl. Eckehard Simon, Neidharte und Neidhartianer, in: Neidhart, hg. von Horst Brunner (WdF 556), Darmstadt 1986, S. 196–250, dort S. 233 f. und 247 f. Wießner/Sappler, S. XX. Die beiden weiteren, deutlich brutaleren Dörperstrophen (s V/VI, c VIII/IX) sind sicher spätere Erweiterungen.
Die Spruchtöne Marners* von Horst Brunner
In Handschriften des 14. Jahrhunderts – in erster Linie in C – werden dem Marner zehn Spruchtöne zugewiesen.1 Drei davon stammen mit Sicherheit nicht von ihm: Ton XII ist identisch mit Stolles Alment, unter Marners Namen sind drei Strophen überliefert (RSM 1Marn/4);2 Ton XIII ist Kelins Ton III, C weist dem Marner vier darin abgefaßte Strophen zu (1Marn/5); Ton XVIII, der ihm in der lateinischen Cantionensammlung Augsburg, UB, II.1.2° 10 zugeschrieben wird – als Textautoren erscheinen Estas (1ZYEstas/1 und 2) und Mersburch (1ZYMersb/9) –, ist der sonst in J überlieferte Ton XVII des Meißners. Als ungesichert gelten die Töne XVI (1Marn/14) und XVII (1Marn/15), in denen E je eine dem Marner zugeschriebene geistliche Einzelstrophe überliefert.3 Fünf Töne schließlich werden als unbezweifelt echt angesehen: Ton VI (1Marn/2) und XI (1Marn/3), zu denen C jeweils drei Strophen bietet; breit überliefert sind die von den Meistersingern rezipierten Töne I (Goldener Ton; 1 Marn/1), XIV (Hofton oder Kurzer Ton; 1Marn/6) und XV (Langer Ton; 1Marn/7). Lediglich zu den drei zuletzt genannten Tönen sind auch Melodien erhalten. Neben den in der Überlieferung teilweise dem Marner zugeschriebenen, jedoch sicher fremden Tönen bleiben im folgenden auch die ihm von den Meistersingern seit dem 15. Jahrhundert untergeschobenen unechten Töne unberücksichtigt.4 Die Analyse beginne ich mit den drei mit Melodie überlieferten Tönen: Ton I (Goldener Ton) 4 4 7’ a a b c c5 b
4 7’ d e d e10
4 7 7’ f f b
* Die nach einer Vorbereitungsphase seit 1968 in den Jahren 1973/74 begonnene Arbeit am ‘Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts’ (RSM) wurde im März 2009 mit dem Erscheinen des Tönekatalogs (RSM Bd. 2/1 und 2/2) endgültig abgeschlossen – endlich! Mitarbeiter und Herausgeber wären wahrscheinlich nicht imstande gewesen, das Unternehmen zu einem guten Ende zu führen, hätte nicht Paul Sappler von Anfang an darauf gedrungen, soweit irgend möglich die EDV zu nutzen – in der ersten Hälfte der siebziger Jahre, lange vor dem Aufkommen des PCs (hätte es diesen schon gegeben, wäre vieles mit Sicherheit rascher gegangen). Der im Umkreis des Tönekatalogs angesiedelte Beitrag, den ich hier vorlege, versteht sich als bescheidenes Zeichen des Dankes an Paul Sappler. 1 Vgl. RSM Bd. 2/1, S. 127–131; Bd. 4, S. 263; Bd. 5, S. 647 und 649. 2 Vgl. Gisela Kornrumpf und Burghart Wachinger, Alment. Formentlehnung und Tönegebrauch in der mhd. Spruchdichtung, in: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Gedenkschrift für Hugo Kuhn, hg. von Christoph Cormeau, Stuttgart 1979, S. 356–411, hier S. 360 f. 3 Vgl. dazu Jens Haustein, Marner-Studien, Tübingen 1995 (MTU 109), S. 98 f. 4 Vgl. RSM Bd. 2/1, S. 127–131.
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Horst Brunner
Mit 13 Verszeilen ist Ton I (vier Strophen in C) der kürzeste der im Meistergesang noch bekannten Marnertöne.5 Die Bauform ist überaus klar und übersichtlich: auf dreizeilige Stollen folgt der in einen repetierten Steg und einen abschließenden metrisch und melodisch in der vorletzten Zeile erweiterten 3. Stollen gegliederte Abgesang, der sieben Zeilen umfaßt. Die Verslängen und die Reime unterstreichen den Aufbau: In den Stollen werden zwei paargereimte männliche Vierheber jeweils mit einem abschließenden langen weiblichen Siebenheber kombiniert, ein Schema, das sich am Abgesangsende wiederholt, wobei jedoch an vorletzter Stelle ein männlicher Siebenheber erscheint. Die Stollenenden und das Abgesangsende sind aufeinander gereimt. Im Steg folgt auf einen männlichen Vierheber jeweils ein weiblicher Siebenheber, die vier Verse reimen über Kreuz. Somit begegnen mit Ausnahme des einen männlichen Siebenhebers ausschließlich Verse der Form 4 (sechsmal) und 7’ (fünfmal) sowie sechs verschiedene Reimklänge. Der Ton besteht aus 70 Verstakten, wobei der Abgesang mit 40 Takten deutlich länger ist als der Aufgesang mit 2 × 15 Takten. Die älteste erhaltene Melodiefassung bietet die Kolmarer Liederhandschrift t (um 1460).6 Inwieweit die Fassung in t freilich noch den ursprünglichen Melodieverlauf wiedergibt, bleibt fraglich. Das in t verwendete Melodiematerial ist sehr beschränkt. Die Stollen sind aus drei Distinktionen gebildet: a (Melodiebogen g – d – g), b (fallende Zeile d – D), g (Melodiebogen D – c – D – g); der Steg kombiniert erneut b (leicht variiert) mit g; die drei letzten Abgesangszeilen, der erweiterte 3. Stollen, variieren die Stollenmelodie, wobei die Distinktion b erweitert wird. Schematisiert: AB BB A’B’. Ton XIV (Hofton oder Kurzer Ton)
Mel.
3’ a a5 a
°4 b b b
°6 c c g
°7 d d d
7 e
4’ f10
e+b e
°4 e
°6 g
4’ f
4 g
°6 °7 h15 h
b
g
e
b
g
d
(° bezeichnet regelmäßig auftaktlose Verse)
Obwohl nicht wirklich kurz, wurde Marners Hofton (21 echte Strophen, vorwiegend in C) von den Meistersingern zur Unterscheidung vom Langen Ton auch Kurzer Ton genannt.7 Der Ton besteht aus 16 Zeilen, die sich auf je vierzeilige Stollen und den achtzeiligen Abgesang verteilen. Auch in der Taktzahl herrscht – anders als bei Ton I – Ausgewogenheit zwischen den Teilen: 40 Takte bilden den Aufgesang, 42 den Abgesang. Die Struktur ist bei weitem nicht so durchsichtig wie bei Ton I. Die Stollen
5
6
7
Vgl. auch Johannes Rettelbach, Variation – Derivation – Imitation. Untersuchungen zu den Tönen der Sangspruchdichter und Meistersinger, Tübingen 1993 (Frühe Neuzeit 14), S. 89– 91. Die Überlieferung des 16./17. Jahrhunderts kann hier außer Betracht bleiben, vgl. dazu Horst Brunner, Die alten Meister, München 1975 (MTU 54), S. 283 f. Vgl. Rettelbach [Anm. 5], S. 91 f.
Die Spruchtöne Marners
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sind aus Versen unterschiedlicher Länge in aufsteigender Reihe gebildet, die durchgehenden Reime unterstreichen die in der Versanordnung sich ausdrückende Dynamik. Am Abgesangsende überlagern sich zwei Strukturen. Die letzten drei Zeilen stellen einen um das Eingangsglied (3’a) verkürzten 3. Stollen dar, voraus geht ein metrisch leicht variierter repetierter Steg: 7e 4’f °4e/°6g 4’f 4g – die Anordnung der Kreuzreime unterstreicht die Zusammengehörigkeit der beiden Teile. Die letzte Stegzeile (4g) ist freilich zugleich die erste Zeile des verkürzten 3. Stollens. Der Paarreim am Schluß betont das Achtergewicht der beiden Schlußzeilen. Insgesamt verwendet der Marner hier acht unterschiedliche Reimklänge – mehr als in den anderen Tönen – sowie fünf unterschiedliche Versarten (3’, 4, 4’, 6, 7), wobei in einer Reihe von Zeilen regelmäßig auf den Auftakt verzichtet wird. Den Forschungen Gisela Kornrumpfs verdanken wir die Kenntnis einer aus dem 14. Jahrhundert stammenden Melodiefassung.8 Deren Struktur unterstreicht die am metrischen Schema ablesbare Bauform (vgl. das oben angegebene Melodieschema). Die Stollen sind aus vier Distinktionen zusammengesetzt, der Abgesang beginnt mit einem neuen Melodieglied (e), das mit b kombiniert wird. Die Stegrepetition wird entsprechend der Metrik melodisch nachgezeichnet, unschwer ist auch die Überlagerung des Stegendes mit dem um das a-Glied verkürzten 3. Stollen zu erkennen: Zeile 14 (b) gehört zu beiden Abgesangsteilen. Ton XV (Langer Ton) 4 3 4 4 °8 a b a b c5 a b a b c10
°7 6 3 8 7 2 °3 °4 8 8 d d e e f15 f f f f c20
Der 20zeilige Lange Ton (21 echte Strophen, vorwiegend in C) – bei den Meistersingern einer der berühmtesten und am häufigsten benutzten alten Töne – ist äußerst kunstvoll, er stellt vor allem durch die Art der Reimgestaltung hohe Anforderungen.9 Die Stollen sind aus je fünf Zeilen gebildet, der Abgesang aus zehn. Mit 56 Takten ist der Abgesang gleichwohl länger als der 46-taktige Aufgesang. Verwendet werden sechs ausschließlich männliche, teilweise wiederum regelmäßig auftaktlose Versarten: 2, 3, 4, 6, 7, 8. Die Zahl der Reimklänge ist auf sechs begrenzt. 1. und 2. Stollen verwenden identische Reime, die über Kreuz angeordneten a- und b-Reime erscheinen je viermal, abgeschlossen werden beide Stollen mit einem c-Reim, mit dem auch das Abgesangsende markiert wird. Im Abgesang, der durch den häufigen Wechsel der Verslängen auf den ersten Blick etwas regellos gebaut erscheint, ändert sich die Reimstruktur: Auf zweimaligen Paarreim folgt fünffacher Tiradenreim, ehe, wie erwähnt, der c-Reim wiederholt wird.
8
9
Gisela Kornrumpf, Eine Melodie zu Marners Ton XIV in Clm 5539, in: ZfdA 107 (1978), S. 218–230. Zu den jüngeren Melodiefassungen vgl. Brunner [Anm. 6], S. 284. Vgl. Rettelbach [Anm. 5], S. 92–94.
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Horst Brunner
Eine Analyse der Abgesangsstruktur anhand der ältesten erhaltenen Melodiefassung (t) habe ich früher bereits vorgelegt,10 ich kann mich daher an dieser Stelle kurz fassen. Der Abgesang scheint zunächst in zwei Blöcke oder Stege gleicher Länge und Bauform gegliedert zu sein, auf die dann eine einzeilige Coda folgt: I. Z. 11–14 (24 Takte); II. Z. 15–19 (24 Takte); Coda Z. 20. Die Melodie zeigt jedoch, daß – vergleichbar mit Ton XIV – die beiden letzten Zeilen der Stegrepetition (Z. 18 und 19) zusammen mit der Coda (Z. 20) zugleich einen um das Anfangsglied verkürzten 3. Stollen darstellen. Metrisch und melodisch entsprechen die Abgesangsverse 18–20 den Stollenversen 2/7–5/10: °4 8 8 : 3 4 4 °8. Wie in Ton XIV überlagern sich hier zwei strukturbildende Abschnitte. Ich schließe den melodielos überlieferten Ton XI an (drei Strophen in C), den Ton der berühmten Haßtirade gegen Reinmar von Zweter: Weˆ dir von Zweter Regimaˆr (XI, 3), der mit Ton XV nahe verwandt ist: Ton XI 4 4 4 a b a a b a
4 °4’ b c5 b c10
7 6 4 d d e
2 2 2 4 4 °4’ f f15 g g g c
Mit 19 Verszeilen ist der Ton nur wenig kürzer als Ton XV. Wie bei diesem sind die Stollen fünfzeilig, der Abgesang umfaßt neun Zeilen. Der Taktzahl nach ist Ton XI allerdings erheblich kürzer: Mit 75 Takten (40 im Aufgesang, 35 im Abgesang) steht er hinsichtlich des Textumfangs zwischen dem kürzeren Ton I (70 Takte) und dem längeren Ton XIV (82 Takte) – Ton XV hat hingegen 102 Takte. Ursache für den geringeren Umfang gegenüber Ton XV ist der Umstand, daß lange Zeilen bis auf eine Ausnahme, den männlichen Siebenheber, der den Beginn des Abgesangs markiert, gemieden werden. Es finden sich fünf Versarten: 2, 4, 4’, 6, 7. Die Zahl der Reimklänge beträgt sieben. Die Bauform insgesamt stimmt indes mit der des Langen Tons überein: Die Reimfolge der Stollen sind in beiden Tönen identisch, ferner wird auch hier der abschließende Reim der Stollen am Abgesangsende wiederholt; der Abgesang beginnt ebenfalls mit der paargereimten Versfolge 7 6 (13 Takte), die folgenden Verse 13–17 (14 Takte) stellen einen zweiten Stegteil dar – das Stegende wird dann wieder überlagert durch einen verkürzten 3. Stollen (Z. 17–19). Schließlich noch Marners kürzester Ton: Ton VI 5’ a a
10
°6 b b
1/°2 c/c5
5’ a
°6 b
Vgl. Brunner [Anm. 6], S. 284–287.
Die Spruchtöne Marners
85
Erstmals in der Geschichte der Spruchdichtung findet sich beim Marner neben einem besonders langen ein ausgesprochen kurzer Ton. Im späteren 13. und im 14. Jahrhundert begegnet dieses Phänomen etwa beim Meißner, bei Süßkint von Trimberg, Wizlav, Regenbogen, Frauenlob und dem Kanzler.11 Der siebenzeilige, nur 36 Takte umfassende Ton VI (drei Strophen in C) gliedert sich in zweizeilige Stollen aus je 11 Takten und einen dreizeiligen, 14taktigen Abgesang. Die Stollen sind über Kreuz gereimt, der Abgesang besteht im wesentlichen aus einem 3. Stollen mit den gleichen Reimen wie in den Stollen. Man kann die Besonderheit, den Abgesang mit dem Schlußreim der Stollen abzuschließen – sie findet sich mit Ausnahme von Ton XIV in den als echt angesehenen Tönen überall –, geradezu als ein Markenzeichen Marners ansehen. Dem 3. Stollen voraus geht ein sehr kurzer einzeiliger Steg, durch den der Ton zum »früheste(n) Sangspruchton mit Kurzreimen«12 wird. Später begegnen derartige Kurzreime vor allem bei Konrad von Würzburg.13 Außer dem Kurzvers 1/°2 finden sich nur ein weiblicher Fünf- und ein männlicher Sechsheber. Fünfheber gibt es übrigens in den unzweifelhaft echten Marnertönen sonst nicht. Nun noch zu den als zweifelhaft geltenden Tönen XVI und XVII: Ton XVI 8 3’ 3’ 3’ a b c d a5 b c d
6 4 9’ e e10 d e e
Der dreizehnzeilige, 63-taktige Ton setzt sich aus je vierzeiligen Stollen (jeweils 17 Takte) und einem fünfzeiligen Abgesang (29 Takte) zusammen. Charakteristische Züge, die an unbezweifelt echt geltende Marnertöne erinnern, sind die durchgereimten Stollen, vgl. auch Ton XIV, vor allem aber das an den Stollenschluß angereimte Abgesangsende. Die genaue Stegrepetition am Abgesangsbeginn begegnet auch in Ton I, Tiradenreime wie in Z. 9–12 sind aus Ton XV bekannt; melodisch könnte der ungewöhnliche weibliche Neunheber am Abgesangsende einen verkürzten 3. Stollen dargestellt haben: in ihm könnten die letzten drei Stollenzeilen zusammengefaßt gewesen sein. Hinsichtlich der übrigen Versarten bietet der Ton nichts ungewöhnliches, da sich Verse der Formen 3’, 4, 6 und 8 auch in den als echt geltenden Tönen finden. Fazit: Es kann sich hier um einen echten Marnerton handeln.
11
12 13
Vgl. Horst Brunner, Die Spruchtöne Frauenlobs, in: Studien zu Frauenlob und Heinrich von Mügeln. FS Karl Stackmann, hg. von Jens Haustein und Ralf-Henning Steinmetz, Freiburg (Schweiz) 2002, S. 61–79, hier S. 78. Rettelbach [Anm. 5], S. 227. Vgl. Horst Brunner, Die Spruchtöne Konrads von Würzburg, in: Röllwagenbüchlein. FS Walter Röll, hg. von Jürgen Jaehrling, Uwe Meves und Erika Timm, Tübingen 2002, S. 95– 106.
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Horst Brunner
Etwas weniger glaubhaft, gleichwohl denkbar, scheint mir die Echtheit bei dem zweiten lediglich in E überlieferten Ton: Ton XVII 4 4 a b a b5
5’ c c
4 5’ 3 2 4 4 5’ d e f f g g e15 d e10
Der fünfzehnzeilige, 62taktige Ton besteht – wie Ton I – aus dreizeiligen Stollen (je 13 Takte) und einem neunzeiligen Abgesang (36 Takte). Folgende Versarten finden sich: 2, 3, 4, 5’ (Verse der Form 5’ gibt es sonst nur in Ton VI). Durchgereimte Stollen finden sich auch in Ton XIV, nur dort fehlt auch Marners Markenzeichen, die Anreimung des Abgesangsendes an den Stollenschluß. Wie in Ton I (und XVI) findet sich eine genaue Stegrepetition. Die drei letzten Abgesangszeilen stellen wahrscheinlich einen exakten 3. Stollen dar – das wäre, abgesehen vom sehr kurzen Ton VI, für den Marner ungewöhnlich. In struktureller Hinsicht fragwürdig ist die Rolle der paargereimten Zeilen 11 und 12: Übergangszeilen vom Steg zum 3. Stollen, etwas was es in den übrigen Tönen nicht gibt? Erweiterung des 3. Stollens um ein neues Anfangsglied – auch am Schluß des Tones I findet sich ein erweiterter 3. Stollen? Ohne Kenntnis der Melodie sind diese Fragen nicht zu entscheiden. Abschließend noch einige knappe Bemerkungen zur formgeschichtlichen Einordnung der Töne. Zunächst zu den Umfängen. Wie ich an anderer Stelle bereits festgestellt habe,14 scheint der Marner der erste gewesen zu sein, der Spruchtöne mit mehr als 16 Verszeilen gestaltete. Die Töne Walthers von der Vogelweide bestehen – abgesehen vom Sonderfall des Reichstones – aus 7 bis 16 Zeilen, die Bruder Wernhers mit Ausnahme eines 14zeiligen Tones aus jeweils 12 Zeilen, die Reinmars von Zweter aus 9 bis 15 Zeilen. Dagegen weisen die Marnertöne (abgesehen vom kurzen Ton VI), 13, 15 (der fragliche Ton XVII), 16, 19 und 20 Zeilen auf. In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts finden sich vielfach Töne vergleichbarer Länge, etwa bei Konrad von Würzburg, Rumelant von Sachsen, dem Meißner, Hermann Damen und Frauenlob. Die beim Marner verwendete Anzahl von 12 Versarten (2, 1/2, 3, 3’, 4, 4’, 5’, 6, 7, 7’, 8; 9’ nur in Ton XVII) bewegt sich im Mittelfeld: Walther benutzt in seinen Spruchtönen im wesentlichen nur acht Versarten, Friedrich von Sonnenburg sieben, Frauenlob elf, Konrad von Würzburg zwölf, Bruder Wernher und Rumelant von Sachsen je 14, der Meißner gar 19. Auffällig ist allerdings das Fehlen von Langzeilen, die etwa für den Zeitgenossen Bruder Wernher von großer Bedeutung waren.15 Beim Marner begegnen nur lange Zeilen. Hinzuweisen ist schließlich auf die erstmalige Verwendung eines Kurzreimes in einem Spruchton. Wichtig für die formgeschichtliche Einordnung ist die Frage nach der Gestaltung der Abgesänge. Dabei geht es in erster Linie um die Frage nach der Verwendung des 3. Stollens. Als ältester datierbarer Spruchton mit 3. Stollen gilt Ton II des ‘Wart14 15
Vgl. Brunner [Anm. 11], S. 78. Vgl. ebd.
Die Spruchtöne Marners
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burgkrieges’, später geläufig als Klingsors Schwarzer Ton, der um 1239 entstanden ist. In der zweiten Jahrhunderthälfte benutzte insbesondere Konrad von Würzburg den 3. Stollen regelmäßig, andere folgten ihm.16 Der Marner vermied es – sieht man vom Ton VI (dessen Melodie freilich nicht erhalten ist) ab (und ebenso vom problematischen Ton XVII) –, 3. Stollen genau zu realisieren. In Ton I erscheint der 3. Stollen erweitert, in den Tönen XIV, XV und wohl auch XI (außerdem in XVI) in verkürzter Form. Friedrich von Sonnenburg,17 der Meißner und Frauenlob haben diese Formmöglichkeit dann aufgegriffen. Außer in Ton I (und eventuell in XVI und XVII) ging der Marner zudem der genauen Stegrepetition aus dem Weg. Vergleicht man die Töne Marners mit denen seines Zeitgenossen Bruder Wernher,18 so fällt die Rationalität auf, mit der er sich um eine variable, gleichwohl gewissen Prinzipien verpflichtete Gestaltung bemühte – für die späteren Spruchdichter war dies offensichtlich richtungweisend. Das formale Interesse Bruder Wernhers (wie auch Reinmars von Zweter) erscheint dagegen eher gering. Er variiert in allen seinen Tönen auf vergleichsweise bescheidene Art lediglich einen einmal gefundenen Bautyp, den er im übrigen wahrscheinlich der unter dem Autornamen Stolles verbreiteten Alment entlehnte.19
16 17
18
19
Vgl. Brunner [Anm. 13], S. 105. Vgl. Horst Brunner, Die Töne Friedrichs von Sonnenburg, in: Artes liberales. FS Karlheinz Schlager, hg. von Marcel Dobberstein, Tutzing 1998, S. 59–67. Vgl. Horst Brunner, Die Töne Bruder Wernhers, in: Liedstudien. FS Wolfgang Osthoff, hg. von Martin Just und Reinhard Wiesend, Tutzing 1989, S. 47–60. Vgl. ebd., S. 56–58.
Sprachspiel und Differenz Zur Textur von Minnesangs Ende in Frauenlobs Lied 6 von Annette Gerok-Reiter
Für Paul Sappler, geschuldet dessen Liebe zum Detail
I Frauenlobs Œuvre führt in eminentem Maß auf jene Frage zu, die vom 22. Kapitel in Aristoteles’ ‘Poetik’ bis zu Celans ‘Meridian’ immer von neuem dichtungstheoretischen Zündstoff gegeben hat, die Frage, ab welchem Punkt ein sprach-bildlicher Überschuss lediglich Gelächter produziert, als schnarrend-artifizieller Automatismus die Dichtung selbst desavouiert. Bedeutet Frauenlobs exzessiver Umgang mit redebluomen lediglich ornamentale Verdunkelung a` la mode?1 Oder vermag Frauenlob durch seine eigenwillige Fahrt auf dem vindelse der Sprache in prägnanter Weise neue Positionen und Perspektiven zu öffnen?2 D. h. ist Frauenlobs Sprache als differenzierend modellierendes Analyseelement eingesetzt, das Irritation und Aufwand rechtfertigt, oder Resultat eines irrationalen Sprachgestöbers? Hinter der Alternative steht die Frage nach der – in der Regel – hauchdünnen Scheidelinie zwischen Künstlichkeit und Kunst, eine grundsätzliche Frage, deren heuristischer Wert sich allerdings nur in historischer Differenzierung, d. h. vom Einzelfall her und seinen jeweiligen literaturgeschichtlichen Bedingungen, erweisen kann. Die Frage nach Sinn, Funktion und poetischer Strategie von Frauenlobs eigenwilliger Sprachmodellierung ist in der Forschung immer wieder diskutiert worden,3 seit 1
2
3
Mit Unverständnis reagierte die ältere Forschung: Vgl. Ludwig Pfannmüller, Frauenlobs Marienleich (Quellen und Forschungen 120), Straßburg 1913, S. 13–17; Gustav Ehrismann, Geschichte der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters. Schlussband (Handbuch des deutschen Unterrichts, Bd. 6,2), München 1935, hier etwa S. 304. Gemäßigter -zwischen »manieristischer Sprachquälerei und zugleich hoher Ahnung« – ortet ihn Max Wehrli, Geschichte der deutschen Literatur vom frühen Mittelalter bis zum Ende des 16. Jahrhunderts (RUB 10294), Stuttgart 1980, S. 450; in der Verbindung von Gelehrsamkeit und Manierismus sieht Joachim Heinzle, Wandlungen und Neuansätze im 13. Jahrhundert (1220/30– 1280/90), Tübingen 21994 (Geschichte der deutschen Literatur von ihren Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit II/2), die »stilistische Wende angebahnt, die dann in der dritten nachwaltherschen Generation mit Vehemenz vollzogen wurde« – insbesondere bei Frauenlob (S. 129, vgl. auch S. 124). Dazu Beate Kellner, Vindelse. Konturen von Autorschaft in Frauenlobs ‘Selbstrühmung’ und im ‘wıˆp-vrouwe-Streit’, in: Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995, hg. von Elizabeth Andersen u. a., Tübingen 1998, S. 255–276. Grundlegend: Christoph Huber, Wort sint der dinge zeichen. Untersuchungen zum Sprachdenken der mittelhochdeutschen Spruchdichtung bis Frauenlob (MTU 64), München 1977, S. 126–186. Vgl. auch Gert Hübner, Lobblumen. Studium zur Genese und Funktion der
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Annette Gerok-Reiter
Stackmann4 auf wertschätzendem Boden. Ich möchte diese Forschungsdiskussion in Bezug auf Frauenlobs Minnelieder fortsetzen, indem ich die Frage unter dem Aspekt spezifischer Gattungsvorgaben beleuchte. Gewählt wird ein Beispiel aus dem Bereich des Minnesangs, weil sowohl die Gattungskriterien des Ich-Liedes der Hohen Minne als auch die literarhistorische Situation dieses Liedtyps um 1300 auf eine besondere Zuspitzung der Frage hinführen. Dies ist von den Grundkonstituenten des Ich-Liedes der Hohen Minne aus kurz zu erläutern. Das traditionelle Ich-Lied der Hohen Minne, wie es sich nach französischem Vorbild um 1200 im deutschsprachigen Raum etabliert,5 geht aus von einer Dreieckskonstellation, die sich auf zwei Ebenen realisiert: der Handlungsebene und der poetologischen Reflexionsebene, die in der Regel als interne und – nicht nur, aber auch – externe Sprechsituation zu fassen sind.6 Auf der ersten Ebene, der Handlungsebene, wirbt ein liebendes Ich um eine Dame in Auseinandersetzung mit den Forderungen und Normen der Gesellschaft. Jeder Position sind dabei feste Verhaltensvorschriften vorgegeben. Das liebende Ich muss sich in treuem Dienst (dienst, staete) um die Dame bemühen. Die Dame muss einerseits soweit auf die Werbung reagieren, dass sie sie zulässt, andererseits darf sie jedoch auf das Begehren des werbenden Ich nicht mit dem gewünschten Trost oder Lohn eingehen, da sie als summum bonum unerreichbar zu sein hat. Die Gesellschaft unterstützt die Unerreichbarkeit der Dame, indem sie als huote, als Aufpasser, fungiert. Dieses doppelte Hindernis – die hoch erhabene Dame sowie die wachsame Gesellschaft – führt zum Leid (leit, kumber, smerze) des werbenden Ich, einem Leid, aus dem es kein Entrinnen gibt, das aber genau dadurch die Authentizität der Minne (auf erster Ebene) beweist. Sinn und Zweck dieses auf Handlungsebene durchaus erfolglosen Werbens und insofern auch zwecklosen Authentizitätsbeweises sind kaum greifbar, allenfalls im programmatischen Übersprung zur Didaxe, die lapidar bleibt.7 Sie werden in ihrem spezifischen Anspruch erst in
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5
6
7
›Geblümten Rede‹ (Bibliotheca Germanica 41), Tübingen/Basel 2000, S. 189–201, 263–279, 289–301, 335–390, sowie den literarhistorischen und geistesgeschichtlichen Problemaufriss bei Susanne Köbele, Frauenlobs Lieder. Parameter einer literarhistorischen Standortbestimmung (Bibliotheca Germanica 43), Tübingen/Basel 2003, S. 1–20. Karl Stackmann, Bild und Bedeutung bei Frauenlob, in: Frühmittelalterliche Studien 6 (1972), S. 441–460; Karl Stackmann, Redebluomen. Zu einigen Fürstenpreisstrophen Frauenlobs und zum Problem des geblümten Stils, in: Verbum et Signum. Friedrich Ohly zum 60. Geburtstag, hg. von Hans Fromm, Bd. 2, München 1975, S. 329–346. Zur Position des Ich-Liedes der Hohen Minne im Kontext des benachbarten Minnesangs: Burghart Wachinger, Was ist Minne?, in: PBB 111 (1989), S. 252–267; Helmut Tervooren, Gattungen und Gattungsentwicklungen in der mhd. Lyrik, in: Gedichte und Interpretationen. Mittelalter, hg. von Helmut Tervooren, Stuttgart 1993, S. 11–42; paradigmatisch zum Liedtypus: Trude Ehlert, Das »klassische« Minnelied. Heinrich von Morungen: Vil süeziu senftiu toeterinne, ebd., S. 43–55. Vgl. zu dieser Kategorisierung sowie ihrer Problematik Rainer Warning, Lyrisches Ich und Öffentlichkeit bei den Trobadors, in: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken, hg. von Christoph Cormeau, Stuttgart 1979, S. 120– 159. Vgl. Albrecht von Johansdorf (MF 93,12: Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der
Sprachspiel und Differenz
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der stringenten Korrelation von Handlungs- und poetologischer Reflexionsebene des Ich-Liedes deutlich. Auf der Ebene poetologischer Reflexion mutiert das Klagelied des betroffenen Ich zum Preislied. Denn das singende Ich muss im Blick auf die Dame die Klage zum Preis läutern, um der Vorzüglichkeit der Dame jenes Gewicht zuzusprechen, das die anhaltende Werbung und damit auch den anhaltenden Gesang rechtfertigt. Erst der Preis der Dame im Lied kann wiederum der vroide der Gesellschaft dienen, die in der Rezeption des Frauenpreises sowie der geläuterten Klage des Mannes zum Gesellschaftsideal des hoˆhen muotes geführt wird. Für diese Inszenierung des hoˆhen muotes zollt die Gesellschaft dem singenden Ich Anerkennung, bestätigt ihm seine poetischästhetische Souveränität, die um so strahlender hervortritt, je mehr das betroffene Ich auf Handlungsebene im vergeblichen Netz der Liebeswerbung seinem Leid ausgeliefert ist. Es ist sicherlich ein äußerst eigentümlicher und ausgeklügelter konzeptioneller Balanceakt, der hinter dem Ich-Lied der Hohen Minne steht: In einer für die Zeit um 1200 durchaus progressiven Weise wird im öffentlichen Diskurs eine frappierende Liebesnähe beschworen, deren Äußerung jedoch von der Distanz der Beteiligten – Werber, Dame und Gesellschaft – lebt, deren Sinn von der Differenz zweier Ebenen abhängt. Oder noch deutlicher formuliert: Erst das distante Verhältnis von Ich, Dame und Gesellschaft innerhalb der Dreieckskonstellation sowie das simultane Doppelspiel8 auf zwei widersprüchlichen Ebenen eröffnen in der extremen Spannung zueinander jenen Raum, in dem sich nicht die Liebe selbst, aber eine Sprache der Liebe zum allerersten Mal im deutschen Sprachkontext reflektiert, nuanciert und mit dem Anspruch der Authentizität im gesellschaftlichen Diskurs (auf zweiter Ebene)9 etablieren kann.
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Ausgaben von Karl Lachmann, Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl v. Kraus bearb. von Hugo Moser und Helmut Tervooren, Bd. 1, Stuttgart 371982): daz ir dest werder sint unde daˆ bıˆ hoˆchgemuot (94,14). Die Simultaneität der Diskursmöglichkeiten als Miteinander und Ineinanderblenden von verschiedenen Diskursausschnitten wie Preis der Dame, Ich-Reflexion etc. sieht Margareth Egidi, Poetik der Unterscheidung. Zu Frauenlobs Liedern, in: Studien zu Frauenlob und Heinrich von Mügeln. FS Karl Stackmann, hg. von Jens Haustein und Ralf-Henning Steinmetz, Freiburg (Schweiz) 2002, S. 103–123, als gattungsspezifische Kennzeichen des Minnesangs an im Gegensatz zum segmentierenden Verfahren der Spruchdichtung, die dieselben Ausschnitte thematisiert, jedoch »unvermittelt nebeneinander« perspektiviert (S. 106). Ich unterscheide damit zwei Authentizitätsebenen: Authentizität auf Handlungsebene betrifft die Kategorien ›wahre‹ oder ›vorgetäuschte Minne‹. Ob Minne auf dieser Ebene authentisch ist, kann ebenso wenig heuristisch geklärt werden, wie eine solche Klärung für das poetologische Konzept notwendig wäre. Poetologisch notwendig ist es jedoch, die Fiktion der Authentizität auf Handlungsebene aufrechtzuerhalten, denn sie ist Bedingung für die glaubwürdige Konstruktion des Authentizitätsanspruchs auf zweiter Ebene, d. h. im Rahmen der gesellschaftlichen Aufführungs- und Inszenierungssituation. Auf dieser Ebene geht es um die Kategorien eines ›sinnvoll‹ oder ›nicht sinnvoll geführten Liebesdiskurses‹, der als Diskurs mit aktueller Brisanz Verbindlichkeit beansprucht. Authentisch ist Minnesang somit nicht, weil eine reale Liebesgeschichte gespiegelt wird, sondern weil bzw. solange eine ernsthaft geführte gesellschaftliche Wertediskussion damit impliziert ist. Im disparaten Diskus-
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Annette Gerok-Reiter
Die große Zeit des Ich-Liedes der Hohen Minne – jener intensive, äußert produktive und durchaus gesellschaftskritische Diskurs über das Verhältnis der Geschlechter, von dem die Liebeskultur des Abendlandes nachhaltig profitiert hat – ist jedoch um 1250 vorbei. Mit Frauenlob ist die Spätphase des Minnesangs erreicht. Das Thema der Hohen Minne wird zwar im Ich-Lied immer noch gepflegt, fort- und fortgesungen – aber im doppelten Sinn: als Fortsetzung der Tradition in einem immer raffinierteren Formen-, Bilder- und Motivspiel,10 zugleich aber auch im Sinn einer sich selbst entleerenden Perpetuierung.11 Dennoch muss festgehalten werden, dass das Renommee des Ich-Liedes mit dem Thema der Hohen Minne auch um 1300 noch von jenem existentiellen Anspruch zehrt, der ihm einst – bei Reinmar, bei Morungen oder Walther – das Gepräge gegeben hat. Wer sich somit als Meister auch dieser Gattung beweisen will, kann an diesem traditionell höchstgeachteten Liebeskonzept nicht vorbeigehen,12 ohne sich seinem spezifischen Anspruch zu stellen, einem Anspruch, der – im Gegensatz zur Sangspruchdichtung – mit dem liebenden, werbenden, dem betroffenen Ich als Kontrapost eines bloßen Formenspiels aufs Engste verbunden ist. Damit aber dürfte deutlich werden, dass sich gerade für das Ich-Lied der Hohen Minne in der literarhistorischen Situation um 1300 in besonderer Weise die Frage stellt nach dem Verhältnis von artifizieller Redundanz einerseits und konzeptioneller Stringenz andererseits, d. h. die Frage nach der Ökonomie der eingesetzten Mittel und ihrer poetischen Strategie im Verhältnis zum tradierten Anspruch der Authentizität (auf erster und zweiter Ebene) als literarhistorisch und gesellschaftlich hochwirksamem ›Salz‹ dieser Gattung. Ich möchte diese Frage im Folgenden an Frauenlobs Lied 6 (XIV,26−XIV,30) herantragen, denn in ihm lassen sich einerseits besonders deutlich die Grundkonstituenten der Hohen Minne mit ihren semantischen Eckpunkten wiedererkennen; d. h. durch das immer selbe Set an Begriffen (not, smerze, senen, hulde, tot, wunne, hoher mut, wunsches leben, gruz usw.) und Begriffsrelationen wird die immer ähnliche Konstellation und Paradoxie des Ich-Liedes der Hohen Minne aufgezeigt. Andererseits jedoch weist dieses Lied in eminentem Maß ein verwirrendes Vexierspiel an
10
11
12
sionsfeld um Authentizität und Fiktionalität folge ich somit im Prinzip dem Vorschlag von Jan-Dirk Müller, Die Fiktion höfischer Liebe und die Fiktionalität des Minnesangs, in: Text und Handeln. Zum kommunikativen Ort von Minnesang und antiker Lyrik, hg. von Albrecht Hausmann, Heidelberg 2004, S. 47–64. Insbesondere anknüpfend an die Technik des blüemens; zur neueren Diskussion vgl. Hübner [Anm. 3], S. 289–335. Sind Frauenlobs Lieder somit lediglich als »rituelle Verbeugung des Autors« (Köbele [Anm. 3], S. 277) vor einer Gattung zu verstehen, die im Begriff ist, sich selbst zu überleben, Pflichtübungen also, die, geschuldet dem Gedanken der Vollständigkeit, lediglich als bloßer Anhang aufzufassen sind, so wie die Göttinger Frauenlob-Ausgabe sie ja denn auch ganz am Ende präsentiert? Vgl. dazu auch: Burghart Wachinger, Hohe Minne um 1300. Zu den Liedern Frauenlobs und König Wenzels von Böhmen, in: Wolfram-Studien 10 (1988), S. 135– 150. Ebd., S. 135 und 144.
Sprachspiel und Differenz
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Bildern, Reimvarianten, Perspektivsprüngen und Assoziationen auf, verstärkt durch eine unruhige, atemlose, sich fast auflösende Syntax. Diese dezidierte – inhaltliche wie formale – Zweipoligkeit des Liedes zwischen traditionellem Inventar und irritierendem Sprachspiel bringt das genannte Problem forciert zur Darstellung. Zu klären ist, welche Funktion jenes überbordende sprach-bildliche Vexierspiel im Lied, insbesondere in der Relation zur inszenierten Grundkonstellation der Hohen Minne, einnimmt. Die Analyse soll sich dabei en de´tail Strophe für Strophe voranarbeiten, um im Verlauf des Liedes auch Veränderungen innerhalb der Relation von sprachlichem Impuls und Aussage markieren zu können.
II XIV,26 [A]
5
10
15
Mir ist ein wip so nahen durch die ougen min gebrochen in daz herze. nu merket, welch ein strazen sie ir hat erkorn!
[A]
Mir ist eine Frau so nah durch meine Augen ins Herz eingebrochen! Nun passt auf, welch eine Straße sie sich gewählt hat!
Des muz min lip von schulden ir gefangen sin. dannoch so wil der smerze im nicht genügen lazen, des bin ich verlorn.
Mein Körper muss dadurch mit gutem Grund ihr Gefangener sein. Doch noch immer will der Schmerz es sich nicht genug sein lassen, deshalb bin ich verloren.
Der hat mir brende so behende an mins herzen pin gebrant, des hat ein siuche sich erhaben:
Der hat mir Feuersbrände so schnell an meiner Herzensqual entzündet – eine Krankheit begann sich dadurch auszubreiten: Was ich je an Bränden erfahren habe, das kann man, was die sehnsuchtsvolle Qual betrifft, verglichen mit solchen Bränden vergessen.
swaz ich von brenden ie bevant, daz ist an sender arebeit gein solchen brenden wol begraben.13
Die erste Strophe nimmt im Bild des Eindringens der Dame durch die Augen, im Bild der Gefangenschaft, der Erfahrung des Liebesschmerzes und des Liebesbrandes traditionelle Bild- und Beschreibungstopoi auf.14 Doch die Art der sprachlichen Inszenierung deutet die Bildtopoi in eigenwilliger Weise um. Der Topos des Eindringens der Dame durch die Augen, als typisches Liebesstimulans hervorgehoben etwa von 13
14
Zitiert nach: Frauenlob (Heinrich von Meissen), Leichs, Sangsprüche, Lieder, aufgrund der Vorarbeiten von Helmuth Thomas hg. von Karl Stackmann und Karl Bertau, 2 Bde., Göttingen 1981 (= GA), S. 570–572. Ich übernehme die Konjekturen Stackmanns; nur an einer Stelle weiche ich ab. Mögliche Alternativen und Abweichungen werden, wo relevant im Zusammenhang, an Ort und Stelle diskutiert. Rüdiger Schnell, Causa amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur (Bibliotheca Germanica 27), Bern/München 1985, S. 24–40.
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Annette Gerok-Reiter
Andreas Capellanus, findet sich in zahlreichen Minneliedern – auch bereits in der provenzalischen Trobadorlyrik; das Eindringen der Dame durch die Augen signalisiert den Liebesbeginn als Akt visueller Affizienz, bei der sich das Bild der Dame im Herzen des Liebenden festsetzt und ihn dadurch in seinem Streben nach der Dame außerhalb seines Herzens beflügelt.15 Doch statt um Affizienz geht es nun um einen gewaltsamen Durchbruch (durch [. . .] gebrochen 26,2 f.), statt um Differenz zwischen realer und abgebildeter Dame allein um eine bedrängende Nähe (so nahen 26,2), statt um daraus resultierende Aktivität um ein völlig passives Ich. Alle Aktivität geht von der Dame aus. Sie ist Subjekt (ein wip . . . 26,1); sie ist eingebrochen; sie hat sich den Weg erwählt. Damit hat sich die traditionelle Werbungsrichtung, die vom Werbenden zur unerreichbaren Dame hinverläuft, radikal umgekehrt, erscheint als Inversionsbewegung. Dieser Perspektiv- und Aktionswechsel spiegelt sich in der Pronominalstruktur, in der das Ich auch grammatikalisch zum Objekt gemacht wird (mir ist . . . 26,1), und setzt sich im zweiten Stollen im Bild der Gefangenschaft fort. Erst am Ende des zweiten Stollens tritt das Ich in der Subjektposition hervor, jedoch nur um zu formulieren, dass es als aktives Ich in diesem Procedere verloren gegangen ist. Die Dame hat für sich gewählt (sie ir hat erkorn 26,5), das Ich dagegen ist verlorn (26,10). Der Abgesang schildert den Liebesschmerz als sich ausbreitenden Brand. Dabei unterstützen Reimart und -struktur sowie Laut- und Rhythmusreize jene thematische Leitlinie in prononcierter Weise. Viermal taucht das Wort brende innerhalb des siebenzeiligen Abgesangs in identischem oder grammatischem Reim auf (brende 26,11, gebrant 26,13, brenden 26,15, brenden 26,17), d. h. das Wort breitet sich – parallel zur Bildvorstellung – über den gesamten Abgesang in rasantem Ausgriff aus, so dass die neu hinzutretende Metapher der siuche (26,14) jenen Akt des Ausbreitens, dem nichts entgegenzusetzen ist, nurmehr passgenau zu belegen scheint.16 Weit stärker suggerieren die Assonanzen und Alliterationen der Endreime brende (26,11) – behende (26,12) und gebrant (26,13) – bevant (26,15) das Übergreifen des Brandes als Lautbewegung über die Semantik hinaus. Und selbst die Reime erhaben (26,14) – begraben (26,17), die semantisch und positionell nicht direkt an die Brandsemantik 15
16
Vgl. Andreas Capellanus, De Amore. Über die Liebe. Lateinisch-Deutsch, hg. und mit einem Nachwort versehen von Florian Neumann (Excerpta Classica 22), Mainz 2003, S. 10–17, S. 24 f. u. ö. Vgl. Schnell [Anm. 14], S. 241–274. Reiches Material bieten auch: Xenia von Ertzdorff, Die Dame im Herzen und das Herz bei der Dame. Zur Verwendung des Begriffs ›Herz‹ in der höfischen Liebeslyrik des 11. und 12. Jahrhunderts, in: ZfdPh 84 (1965), S. 6– 46; Friedrich Ohly, Cor amantis non angustum, in: ders., Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, S. 128–155. Zu Frauenlob: Eva B. Scheer, Daz geschach mir durch ein schouwen. Wahrnehmung durch Sehen in ausgewählten Texten des deutschen Minnesangs bis zu Frauenlob, Frankfurt a. M./Bern/New York/Paris 1990, S. 179– 239. Vgl. zum Motiv ›Liebe als Krankheit‹: Werner Hoffmann, Liebe als Krankheit in der mittelhochdeutschen Lyrik, in: Liebe als Krankheit. 3. Kolloquium der Forschungsstelle für europäische Lyrik des Mittelalters, hg. von Theo Stemmler, Mannheim 1990, S. 221–257; Benedikt Konrad Vollmann, Liebe als Krankheit in der weltlichen Lyrik des lateinischen Mittelalters, ebd., S. 105–125. Es erscheint signifikant, dass das extreme Vergleichsbild der siuche bei Frauenlob singulär ist.
Sprachspiel und Differenz
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anschließen, scheinen ›angesteckt‹, indem sie den a-Laut des reimenden Wortstamms – Echo auf gebrant (26,13) – in einer Kette von Assonanzen bis zum Ende durchziehen. Das Gefälle auf den Schluss zu wird zudem forciert durch die Reimstruktur. Im Kontrast zu den fünf verschiedenen Reimen in den fünf Zeilen der beiden Stollen (abcde/abcde) entlädt sich die Reimspannung in der Reimkaskade des Abgesangs in nur drei rasch aufeinanderfolgenden Reimen (ffghgxh), die zudem in unmittelbarer Vokalnachbarschaft liegen (a – e). Die Hilf- und Haltlosigkeit des Ich schlägt sich somit in einem Crescendo an Struktur-, Laut- und Reimstimulantien in einer Weise nieder, die über die rational zu erfassende Ebene von Lexik, Bild und Bedeutung hinaus eine performative Überzeugungs- und Suggestivkraft entwickelt.
XIV,27 [B]
5
10
15
Ich clage min not, ich clage min unbewante zit, daz ich nach ‹den› ir hulden mit senen habe gerungen wol nach friundes rat.
[B]
Ich beklage meine Not, ich beklage meine vertane Zeit, dass ich nach ihrer Gunst (so) sehnsuchtsvoll gerungen habe genau nach dem Rat eines Freundes.
Der gicht, der tot müze enden miner helfe strit. bistu von solchen schulden, min heil sust were verdrungen. secht, nu stille stat
Der sagt, (erst) der Tod könne mein (zerreißendes) Ringen um Erhörung beenden. Bist du von solcher Art, wäre mein Heil chancenlos. Seht, nun steht mein
Min rücken: [] gelücke,17 daz e flücke ‹was› und wande ouch immer wesen, ich wene, im si ‹der› vederen zal
Sich-Fortbewegen still: Glück, das einst flügge war und auch immer zu sein glaubte – ich glaube, ihm sind von den zahlreichen Federn aus seinem Fittich viele ausgefallen, so dass es, wann immer es in die Höhe fliegen will, hinab stürzen muss.
zu sinen vetchen vil gelesen, swenn ez die höhe fliegen wil, daz ez muz vallen hin zu tal.
In der zweiten Strophe könnte Ich clage (27,1 f.) – anaphorisch wiederholt – Signal sein für den Umsprung auf die poetologische Ebene des Lieds, könnte Aufruf des singenden Ich sein, das die Situation der Betroffenheit reflektiert, in der Reflexion läutert und zum Frauenpreis transformiert. Doch die Klage hier stößt sich nicht in ihrem zweifachen Anlauf ab von der Handlungsebene, um in jenen poetologischen Transformationsprozess hineinzugelangen, der Leid in Preis zu wandeln versteht, 17
Vgl. Deutsche Lyrik des späten Mittelalters, hg. von Burghart Wachinger (Bibliothek des Mittelalters 22), Frankfurt a. M. 2006, S. 420–425. Wachinger konjiziert (ähnlich wie bereits Ettmüller – gegen F) Min ruchend gelücke (‘mein fürsorgliches Glück’). Dies wird m. E. jedoch weder der Dramatik der Aussage noch dem Bild des im Flug angehaltenen Vogels gerecht und nimmt auch der Assonanz-Trias rücken – gelücke – flücke mit inhärenter Zäsur zwischen Stillstand (nach rücken) und Absturz ihre lautliche Prägnanz.
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sondern fällt ganz in die Beschreibung des Leids aus der Perspektive des betroffenen Ich zurück, ja expandiert dieses nurmehr. Beklagt wird nicht nur, dass die Geliebte kein Zeichen ihrer Huld sendet, sondern das Werben insgesamt wird im Rückblick als unbewante zit (27,2), als ‘vertane Zeit’, bezeichnet. Der Gedanke der erzieherischen Kraft gerade der unerfüllten Liebe erscheint damit weit entfernt, ebenso wie das beständige Werben nicht zum hoˆhen muot, sondern in qualvolle Ausweglosigkeit führt. Danach aber wäre die Dame nicht Heilbringerin, sondern Heilvernichterin: bistu von solchen schulden, / min heil sust were verdrungen (27,8 f.): Revocatio der Dame als summum bonum? Zumindest haben sich – wie zuvor schon – sämtliche Perspektiven pervertiert. Gefasst wird diese ›Perversion‹ im Bild des gefiederten Glücks, das dem Fall ausgesetzt ist. Es geht nicht mehr um einen Aufschwung im Zeichen des Eros, wie er im ‘Phaidros’ beschrieben wurde18 und – transformiert als erotisches Ascensus-Konzept – in die mittelhochdeutsche Dichtung (etwa in Gottfrieds ‘Tristan’, V. 16960 ff.) Eingang finden konnte,19 sondern um die Umkehrung dieser Bewegung: Statt Aufschwung Fall, statt der Realisation des hoˆhen muotes ein klägliches Scheitern. Statt befreiender Reflexion über sich hinaus rekurriert das Ich nurmehr auf sich selbst in Positionen der eigenen Dissoziation (ougen 26,2 – herze 26,3 u. 13 – lip 26,6 – friunt 27,5), kreist – statt in der traditionellen Dreieckskonstellation – orientierungslos zwischen eigener Vergangenheit (unbewante zit 27,2) und eigner Zukunft (tot 27,6), zwischen Stillstand (stille stat 27,10) und einem Sich-Fortbewegen (rücken 27,11), zwischen strit (27,7) und heil (27,9), um schließlich – nach kurzem Zögern im Enjambement zwischen Vers 10 und 11 – gleichsam mitsamt dem Glück in einen syntaktischen Sog hineinzugeraten, der über ein komplexes Gefälle von Haupt- und Nebensätzen sowie Satzellipsen von der höhe (27,16) des flücke-Seins (27,12 f.) zum tal (27,17) hin führt.
XIV,28
5
Ich suchte mich, da vant ich min da heime nicht. ich wante, ein ding daz wolte mich töten ‹gar› mit lüste. lip, wa was ich do?
10
Hilf, Minne, rich die wunderliche wechselschicht, gib wider mir zu solde, ob ich erner min brüste vor ir lichte also,
[C]
18 19
[C]
Ich suchte mich, da fand ich mich daheim nicht. Ich glaubte, irgendetwas wollte mich töten (gar) mit Lust. Körper, wo war ich da? Hilf, Minne, räche den wunderlichen Tausch, gib mir als Gegenleistung wieder – wenn ich meine Brust vor ihr vielleicht in der Weise retten kann –,
Platon, Phaidros, 246de. Siehe Walter Haug, Die höfische Liebe im Horizont der erotischen Diskurse des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Wolfgang Stammler Gastprofessur 10), Berlin/New York 2004, S. 58 f.
Sprachspiel und Differenz
15
Daz ich behalde mit gewalde unter wilen minen mut, und mich von ir gewünschen mag. ei, müste ich tun, daz sie mir tut – ich meine [] dich – und gebe ir mich,20 daz were ein wunne wernder tag.
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dass ich (zumindest) ab und an meine Sinneskräfte zu beherrschen vermag und mich von ihr hinwegwünschen kann. Ach, könnte ich doch tun, was sie mir antut – ich meine dich –, und ihr mich geben, das wäre ein glückspendender Tag.
Die Dissoziation des Ich, die durch keine Reflexion mehr gebändigt werden kann, erreicht ihren Höhepunkt im ersten Stollen der dritten Strophe. Die Ebene des singenden, des ästhetisch-distanzierten Ich wird hier vollständig verlassen, geht gleichsam unter in der ruhelosen Suchbewegung des betroffenen Ich, die sich im rasanten Wechsel der Satzarten, der Anreden und Satzmodi spiegelt. Zunächst sucht sich das Ich in der Spannung von Subjekt und Objekt: Ich suchte mich (28,1). Die Sprachformel, die Subjekt und reflexives Objekt syntaktisch zusammenführt, suggeriert dabei eine Identität, die inhaltlich nicht mehr gegeben ist: da vant ich min da heime nicht (28,2). Dem Ich, dissoziativ aufgelöst und ortlos gemacht, entzieht sich denn auch die Sicherheit der Wahrnehmung; es kann nur noch glauben (wante 28,3) oder in hilflose Fragen übergehen: lip, wa was ich do? (28,5). Der lip übernimmt die Führung: Die Reflexion ist hinfällig geworden. »Man müsste wohl schon bis zu den Mystikern gehen, um in der mittelalterlichen Literatur vergleichbare Formulierungen zu finden«, so hat Burghart Wachinger die Verse 1 und 2 der Strophe kommentiert.21 Aber bei den Mystikern gibt es – auch noch in der absoluten Differenz – den Absturz in Gott. Hier jedoch fällt das Ich in ein Nirgendwo, gibt es kein verstecktes oder offenes oder nur erhofftes Fangnetz mehr. In diesem Moment des bodenlosen Absturzes scheinen die Parameter des IchLiedes verlassen: Das Ich sucht nicht mehr die Dame, sondern nurmehr sich – und dies nicht mehr im Gespräch mit der Gesellschaft, sondern im Gespräch mit Dissoziationen seiner selbst. D. h. die für das traditionelle Ich-Lied der Hohen Minne konstitutive Dreieckskonstellation wird in der hybriden Ich-Expansion, die im Gegenzug zugleich Ich-Verlust bedeutet, aufgehoben, aufgesogen: Ende des Minnesangs? Doch genau an diesem Punkt, der zugleich die Mitte des Lieds markiert, erfolgt die Wende: Hilf, Minne (28,6). Die Minne soll nach außen vermitteln, soll das rächen, was dem Ich angetan wurde. Die Rettung (erner 28,9) aus der desaströsen Situation des in sich selbst hilf- und haltlos zirkulierenden Ich besteht darin, soviel an Sinneskraft aufzubringen (Daz ich behalde / [. . .] minen mut 28,11 ff.), dass eine Differenz
20
21
Wachinger [Anm. 17] konjiziert: ich neme ir mich und gebe ir dich. Die Konjektur – inhaltlich völlig überzeugend – würde die Unruhe der Syntax, die in die reflektierende Aussage in der 3. Person eine Anrede schiebt, mildern und erscheint gerade deswegen im Kontext der vorliegenden Interpretation weniger plausibel. Wachinger [Anm. 11], S. 149. Vgl. zu den poetischen Vorstufen dieser extremen Darstellungsform in Frauenlobs Liedern sowie zum literarhistorischen Kontext: Harald Bühler, Zur Gestaltung des lyrischen Ichs bei Cavalcanti und Frauenlob, in: Wolfram-Studien 10 (1988), S. 179–189.
98
Annette Gerok-Reiter
zwischen Dame und Ich wieder möglich ist (und mich von ir gewünschen mag 28,14). Damit zeichnen sich die Positionen der traditionellen Dreieckskonstellationen zumindest in zwei Polen, somit vorsichtig wieder ab. In einem weiteren Schritt wünscht sich das Ich, dass es der Geliebten in der Weise nahe kommen dürfe, wie es selbst dies erfahren habe (ei, müste ich tun, daz sie mir tut 28,15), jedoch ohne Gewalt, ohne distanzlose Bedrängnis. D. h. auch Werbung und Werberichtung vom Ich auf das Du hin, in der ersten Strophe ›verkehrt‹, geraten ins Lot. Angedeutet ist mit dieser ReInstallation der traditionellen Positionen und Aktionsrichtungen die Möglichkeit der Rückkehr ins vertraute Darstellungsmuster der Hohen Minne. Zugleich jedoch wird diese Möglichkeit deutlich als Fiktion markiert: Sie bleibt ein sprachliches Konstrukt, modelliert über die Imaginationskraft des Konjunktivs (müste, were 28,15 u. 17) und die bekannten Topoi der waˆn-Minne: daz were ein wunne wernder tag (28,17).
XIV,29 [D]
5
10
15
Min meienschin, min wunne wernder vogelsanc, min lustgezierte heide, min heilschilt tragende blüte und min hoher mut, Daz kan sie sin, ‹al› miner freuden anevanc, ei, wunsches ougenweide, heilflut der senften güte. Minne, bistu gut, Erteile ir herzen minnen smerzen. ouwe, wes gan ich ir nu teil? daz gebe ir zu swere hebe. sie tu mir halt, swie sie mir tu: ‹owe, Minne›, ich wil durch min leit ir nimmer sweren wunsches leben [].
[D]
Mein Maienglanz, mein glückspendender Vogelgesang, meine lustgezierte Heide, meine den Schild des Heils tragende Blüte und mein hoher Mut, das kann sie sein, all meiner Freuden Anfang, ach, der Vollkommenheit Augenweide, Heilflut der sanften Güte! Minne, bist du gut, (dann) füge ihrem Herzen Liebesschmerz zu! O weh, was will ich ihr nun zuteil werden lassen? Das wäre zu schwer für sie zu tragen! Behandle sie mich eben, wie immer sie will! O weh, Minne, ich will durch mein Leid niemals ihre Vollkommenheit beschweren!
Trotz der Akzentuierung der lediglich sprachlichen Konstruiertheit der Hoffnung wird jedoch gerade an dieser Hoffnungsfiktion weitergesponnen. Sie stellt offenbar die entscheidende Scharnierstelle dar, mit deren Hilfe die Re-Installation des traditionellen Konzeptes gelingen könnte. In einer anaphorisch-hymnischen Aufzählung wird die Dame nun paraphrasiert mit einem Kaleidoskop an Bildern, die aus der reichen Metapherngalerie der Geliebten innerhalb des Minnesangs stammen22 und zugleich auf die vorausgegangenen Sinn- und Bildebenen anspielen, indem sie Gegenakzente setzen. Hier wird endlich, so scheint es, die Klage in den obligaten Preis 22
Susanne Köbele, Der Liedautor Frauenlob. Poetologische und überlieferungsgeschichtliche Überlegungen, in: Andersen [Anm. 2], S. 277–298, spricht zu Recht von »NatureingangStichwörtern« (S. 282).
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transformiert: Statt der Kommunikationslosigkeit nun der vogelsanc (29,2), statt der unbewante[n] zit (27,2) nun die lustgezierte heide (29,3), statt des verdrängten Heils nun die heilschilt tragende blüte (29,4), statt des zu Fall gekommenen Glücks nun wieder der hohe mut (29,5), statt eines Leidens bis ans Ende nun miner freuden anevanc (29,7), statt des gewaltsamen Eindringens durch die Augen wunsches ougenweide und der meienschin (29,8 u. 1), statt des heillos sich ausbreitenden Brandes die heilflut der senften güte (29,9).23 All das kan (29,6) die Dame sein – das Modalverb situiert die aufgerufene Möglichkeit genau in der Mitte zwischen Realität und Irrealität. Zur realen Heilspenderin für das Ich würde die Dame jedoch erst, wenn auch sie in Liebe entbrennen würde, also Liebesschmerzen erdulden müsste. Dies jedoch – vom Ich einen Augenblick lang erwogen – darf nicht sein: Soll die Dame weiterhin als summum bonum gelten, darf ihre Idealität nicht angegriffen und beschwert werden. Das Ich ist beim traditionellen Minneparadox angekommen, und es klinkt sich fast lapidar in dieses traditionelle Spiel wieder ein: sie tu mir halt, swie sie mir tu (29,15). Dies wird abschließend noch einmal bestätigt: ich wil durch min leit / ir nimmer sweren wunsches leben (29,16 f.). Das Ich hat seine Identität wiedergewonnen (ich wil); der Dame ist ihre unantastbare Position sicher (wunsches leben); die Regeln des höfischen Minnespiels sind wieder eingesetzt: D. h. das alte Konzept ist inthronisiert. Und doch: Stimmig, ausbalanciert ist es nicht. Denn mit kompromissloser Klarheit ist offengelegt, dass die Scharnierstelle der Re-Installation nurmehr der sprachliche Akt fiktionaler Imagination ist – jenseits der Authentizität (auf erster Ebene). Dies aber bedeutet: Der Frauenpreis am Anfang der Strophe ist nicht mehr – als integraler Fluchtpunkt – berechtigter, ja notwendiger waˆn, sondern nur Fiktion, nichts als Fiktion. Der Frauenpreis mitsamt der hymnisch-blümenden Repetitio, mit dem die traditionelle Konstellation eingeholt schien, wird damit parallel zur Einholbewegung aus- und bloßgestellt als lediglich projektiertes, letztlich redundantes Sprachspiel, das den Authentizitätsanspruch somit auch auf zweiter Ebene – in Hinsicht auf gesellschaftliche Verbindlichkeit – nicht aufrechterhalten kann.
23
Im Gegensatz zu Köbele betone ich die Differenz zum vorausgehenden Liedteil. Köbele [Anm. 22] spricht von »Übergänge[n]« (vgl. S. 283, ebd. auch Anm. 20) und sieht Frauenlob dabei »auf immer neue Paradoxien zusteuernd« (S. 283). Ihre Auslegung ist der Intention geschuldet, die »paradoxale Gesamtlage« (ebd.) des Liedes auf allen Ebenen herauszustellen: »Alle fünf Strophen des Liedes halten Heils- und Negativitätsbestimmungen gleichzeitig« (S. 284). Dem ist einerseits entgegenzuhalten, dass innerhalb der fünf Strophen sich deutlich zu differenzierende Schwerpunktsverlagerungen abzeichnen, was Bildsprache, rhythmische und lautliche Valeurs sowie die emotive Lage betrifft, andererseits bedeutet »identifizierende Bildrede« (S. 283) keineswegs per se ein Paradox. Zur Kritik an der Fokussierung der »Paradoxie« als Interpretament vgl. auch Egidi [Anm. 8], S. 103, Anm. 3. Zurückgenommener Köbele [Anm. 3], S. 100–103.
100
Annette Gerok-Reiter
XIV,30 [E]
5
Sol frouwen pris an mir verderben an[]‹der› clage?24 ich was doch ie des mutes, daz ich ‹in› ere gunde, als ich in noch gan.
[E]
Soll Frauenpreis an mir zugrunde gehen in der Klage? Ich war doch immer willens, dass ich ihnen Ehre gönnte, wie ich sie ihnen noch immer gönne.
10
In welcher wis sol ich sie fürbaz mine tage ‹nu› loben [] riches gutes, [] als ich bi wilen kunde, do ich von in san
In welcher Art und Weise soll ich sie nun zukünftig für ihre reichlichen Vorzüge loben, wie ich es einst konnte, als ich von ihnen
15
Daz aller beste? eren veste waren gute frouwen ie. nu muz ich sprechen als ich sol: ir keine wart so süze nie,
das Allerbeste (er)dachte? Eine Festung der Ehre waren vortreffliche Frauen von jeher. Nun muss ich sprechen, wie ich soll: keine von ihnen erschien je so lieblich (wie dann) – käme von ihrem Mund ein freundlicher Gruß, er täte vortrefflichen Männern wohl.
queme ab ir munde ein lieplich gruz, er tete guten mannen wol.
Eben deshalb fragt die 5. Strophe dezidiert aus der Perspektive des singenden Ich: Sol frouwen pris / an mir verderben (an der clage)? (30,1 f.). Sinn ergibt diese Frage nur, wenn implizit vorausgesetzt wird, dass eine Rückkehr zum Frauenpreis im Ich-Lied der Hohen Minne dem Ich nicht mehr möglich scheint. D. h. für ein wirklich betroffenes Ich, das sich im Liebesschmerz selbst zu verlieren droht, führt – so darf man den Text verstehen – kein Weg zurück zu einem Minnesang, der trotz des Leids und zugleich mit ihm Lob und Ehre der Frau verkünden könnte.25 Wie aber soll dann einer, der sich namentlich dem Frauenlob verschrieben hat, Minnesang betreiben? Allenfalls – so erklärt der Abgesang – durch die Rückkehr in die geforderte Norm, deren normativer Anspruch jedoch als bloße Fiktion – jenseits eines authentischgesellschaftlichen Anspruchs auf Verbindlichkeit – durchsichtig bleibt: nu muz ich sprechen als ich sol (30,14). In entsprechender Manier klingt das Lied aus. Ein knappes Spektrum allbekannter Topoi wird aufgerufen als Lösung des Dilemmas, aber als eine Lösung, die in ihrer fiktiven Konstruktion, ihrer sol-Geste durchschaubar geworden ist und bei der das radikal betroffene Ich, das im ersten Teil des Liedes dominierte, hinter der pluralen Abstraktion (guten mannen) verschwunden ist: Die 24
25
Ich übernehme hier die Konjektur Wachingers [Anm. 17] – statt ane bei Stackmann; F hat an –, da sie stimmiger im Gesamtkontext erscheint. Die Spannung zwischen Leid/clage und Gesang/vreude gehört zur Minnesangtopik (vgl. etwa Reinmar [MF 165,10]). Der Widerspruch, der in der Regel jedoch durch textuelle Verfahren aufgefangen wird, die die Simultaneität von Handlungs- und poetologischer Reflexionsebene indizieren, wird nun, durch das gegenteilige textuelle Verfahren, als unlösbare Opposition bloßgelegt.
Sprachspiel und Differenz
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süze, ihr munde, ein lieblich gruz – all das tete guten mannen wol (30,15 ff.). Mit der »generalisierenden Redeweise« schwenkt das Lied somit nicht in die Perspektive der Spruchdichtung ein, um »eine Balance zwischen den Gattungen und ihren je spezifischen Sehweisen zu gewinnen«,26 sondern schwenkt zurück »ins alte Sprachspiel Minnesang«,27 aber genau so, dass das System Minnesang als altes, überholtes, ja möglicherweise entleertes deutlich wird, ein System, das – ohne Verbindlichkeit – ›nur noch‹ Sprachspiel ist.28
III Im Durchgang durch die Strophen lässt sich die Funktion der Bildsprünge, Perspektivwechsel, Lautassoziationen sowie Redemodi genauer fassen: Für die erste Strophe kann festgestellt werden, dass die Laut-, Reim- und Rhythmusstruktur weit mehr als die Semantik die Suggestivkraft des Brand- und Seuchenbildes bestimmt. In der zweiten Strophe setzt sich die Dramatik des stürzenden Glücks in einem syntaktischen Gefälle um, das – unterstützt durch starke Enjambements – auf den Fall hin zu tal (27,17) gleichsam ohne Atem zu holen zuläuft. Die rasanten Perspektivwechsel, Satzartenwechsel und Modiwechsel demonstrieren in der dritten Strophe die Orientierungslosigkeit eines Ich, das sich zwischen Selbstverlust und höchstem Glück irgendwo – aber wo? – zu orten versucht. Bis hierher kleidet die poetische Sprache keineswegs nur ein vorgegebenes Thema möglichst attraktiv ein. In den ersten drei Strophen bringt vielmehr die syntaktisch-lautlich-dynamisierte Sprachaventiure die emphatisch mitzuvollziehende Suggestion des sich ausbreitenden brennenden Schmerzes, des fallenden Glücks, des orientierungslosen Herumirrens allererst hervor. Dieses generierend-suggestive Verfahren über eine rasante Mobilisierung lautlicher und rhythmischer Valeurs, das man als weitere und vielleicht forcierteste Facette des »poetologischen Programm[s]« des »Wiederfinden[s] der verborgenen Sprachschichten«29 verstehen kann, weist nicht in die Moderne voraus, sondern auf die Modernität, die vielleicht – für seine Zeitgenossen – anstößige Modernität in Frauenlobs Werk selbst, ohne dass man dafür die Begriffe Autonomie oder Autarkie bemühen müsste. Gemeint ist vielmehr eine Form der »Selbstbezüglichkeit«30 oder »semioti26 27 28
29 30
Wachinger [Anm. 11], S. 147. Köbele [Anm. 3], S. 102. Dies würde sich mit der brüsken Kritik an der Tradition decken, die Kellner [Anm. 2] für die Autorrolle Frauenlobs herausgearbeitet hat: »Der eigene Gesang entsteht in der Vereinnahmung des Wortmaterials der anderen, ein Verfahren, das sich grundlegend unterscheidet von einem bewundernd-distanzierten, vom Interesse des Sammelns und Archivierens geleiteten Blick eines Epigonen auf die Klassiker« (S. 260) – im vorgeführten Fall mit der doppelten Ausrichtung der Kritik a) an einem Minnesangkonzept, das nur noch fiktionales Spiel ist, b) an einer Sprache, die sich mit abgegriffenen Versatzstücken, Schablonen, Zitaten begnügt und nicht von grunt (GA V,115,6) auf wirkt. Kellner [Anm. 2], S. 275, vgl. auch S. 268. Gert Hübner, Die »geblümte Rede«. Zur Theorie und Praxis einer poetischen Technik im späteren Mittelalter, in: Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft 12 (2000), S. 175–184, hier S. 181.
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sche Autoreferentialität«,31 die nicht den Autor, sondern das Sprachmaterial selbst betrifft und in ihrer performativen Verve nicht eine reflektierend-distanzierte, sondern eine emphatisch-emotionale Rezeptionshaltung einfordert. Die vierte Strophe jedoch signalisiert eine Wende im Sprachgestus. Die zu emphatischem Mitvollzug suggestiv auffordernde lautliche und rhythmische Verve wird aufgegeben: Das Gleichmaß des Zeilenstils und die anaphorische Bildreihung, unterstützt durch den syntaktischen wie bildlichen Parallelismus, führen in gewohnte Tempi und Bildfelder zurück und stellen im demonstrativen Umschwung die Rückführung als solche heraus. Eben dieser demonstrative Umschwung in den traditionellen Sprachgestus wirft jedoch um so mehr die Frage nach der Redundanz der bekannten Topoi und der Authentizität des Gesagten in der gewohnten Struktur auf. Die Topoi, in der Häufung als solche markiert, entlarven sich als Zitat auf lediglich hypothetischem Boden. In der fünften Strophe schließlich siedelt sich das Ich auf der Metaebene poetologischer Reflexion an – keine Bilderflut, keine auffallenden Klangassoziationen, keine Perspektivwechsel: Das brennende, stürzende, orientierungslose Ich tritt hinter einem singend-reflektierenden Ich zurück, das sich und seine poetische Verfahrensweise aus der Traditionserwartung heraus definiert: nu muz ich sprechen als ich sol (30,14). Damit wird in Lied 6 zweierlei deutlich: Greifbar wird nicht nur ein überbordendes sprach-bildliches Vexierspiel, sondern zugleich auch dessen differenzierter und differenzierender Einsatz, insofern sich die Qualität des sprachlich-bildlichen Vexierspiels im Verlauf des Liedes signifikant ändert. D. h. signifikant ist neben dem subtilen, polyvalenten und polyphonen Einsatz von Klängen, Satzstrukturen, Perspektiven und Bildern, dass diese offenbar nur in strategischen Schnitten, in Wechseln der poetischen Technik ihrem Thema gerecht zu werden vermögen. Welchem Thema? Und warum die stilistischen Abstufungen innerhalb des Liedes, die unterschiedliche poetische Verfahrensweisen miteinander korrelieren und divergente Relationen von Sänger-Ich und Sprechgestus demonstrieren? Herausgestellt als Frauenlobs Thema in den Liedern wurde wiederholt die Sezierung der Liebesqual in intertextueller Rückkoppelung an Verfahrensweisen der Sangspruchdichtung,32 die Radikalisierung der Ich-Entfremdung innerhalb der Hohen Minne,33 die »Ich-Auflösung, die Spaltung« der Ich-Rolle34 – all dies ist richtig. Den31
32 33 34
Christoph Huber, Herrscherlob und literarische Autoreferenz, in: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991 (Germanistische Symposien Berichtsbände 14), hg. von Joachim Heinzle, Stuttgart u. a. 1993, S. 452–473, hier S. 454 f., erläutert den Begriff in Anlehnung an Jakobsons Modell der »poetischen Funktion« der Sprache und demonstriert dies anhand von Beispielen aus Frauenlobs Sangspruchœuvre. Vgl. auch Jens Haustein, Autopoietische Freiheit im Herrscherlob. Zur deutschen Lyrik des 13. Jahrhunderts, in: Poetica 29 (1997), S. 94–113; allerdings irritiert hier die nicht problematisierte Korrelation mit dem Begriff Autonomie. Egidi [Anm. 8], S. 103–115. Wachinger [Anm. 11], zusammenfassend S. 148–150. Köbele [Anm. 22], S. 284; weitere Beschreibungskategorien: »Pluralisierung«, »Aspekt-Differenzierung«, »Dissoziation« (Köbele [Anm. 3], S. 115 Anm. 304, und S. 130).
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noch betrifft die in Frauenlobs Liedern so auffällige Dissoziation des Ich – genau besehen – nur die Hälfte von Lied 6, ebenso wie sie in Frauenlobs Liedern 3, 4 und 5 nur Teile der Gesamtstruktur beschreibt. Im ersten Teil des Liedes würde sich somit die Verfahrensweise der »Konzentration und Konsequenz« widerspiegeln, die Burghart Wachinger als Kennzeichen der Lieder Frauenlobs ausgemacht hat,35 ebenso wie das Verfahren der Segmentierung, das Margareth Egidi bei Frauenlob – gegenläufig zur Gattungstradition – geltend gemacht hat und das – verbunden mit auffächernden und zergliedernden Beschreibungsvarianten – ein Liebeskonzept der »Ungleichheit« entwirft.36 Vollzieht man jedoch den differenzierten und differenzierenden Verlauf des gesamten Liedes mit, so wird deutlich, dass das Lied nicht in dieser einen Position und Verfahrensweise aufgeht, sondern dass ihm ein konzeptueller Kontrast37 eingeschrieben ist, der auf Konfrontation drängt. Und diese Konfrontation, ausgetragen mit aller sprachlichen Raffinesse, setzt am konzeptionell empfindlichsten Punkt der alten Minnesangkonzeption an: der unabdingbaren Korrelation von Handlungs- und Reflexionsebene. Für das traditionelle Minnesangkonzept des Ich-Liedes der Hohen Minne war – so wurde anfangs ausgeführt – die Spannung zwischen Handlungs- und poetologischer Reflexionsebene konstitutiv. Dem Rollen-Ich des Werbenden auf Handlungsebene wurde das Rollen-Ich des Sängers auf Reflexionsebene korreliert. Die Spannung beider Ebenen zueinander – nicht anteilig auflösbar – ermöglichte den gedanklichen Balanceakt des Hohen Minnesangs. Frauenlob thematisiert diese Minnesangkonzeption von ihren Grundfesten her, indem er eben jenes equilibre Zusammenspiel der beiden Ebenen und ihrer Sprechhaltungen aus der Balance bringt. Die Rolle des betroffenen Ich und die Sänger-Rolle scheinen in Lied 6 gerade nicht mehr vereinbar in einem simultanen Doppelspiel. Vielmehr werden die Ebenen und ihre Sprechhaltungen dezidiert auseinanderdividiert: Statt in der Gleichzeitigkeit eines Miteinanders sind sie – in Lied 6 – deutlich hintereinander positioniert: Zuerst ist die Rede vom betroffenen (Handlungs-)Ich; dann kristallisiert sich langsam das Sänger-Ich heraus, das am Ende von Lied 6 den Ton angibt. Das Verfahren der Segmentierung geht somit nicht darin auf, das betroffene Ich freizusetzen, somit nur ein Segment zu fokussieren, sondern schaltet gleichsam zwei Segmente hintereinander. Dieses von der poetischen Strategie tendenziell dem Sangspruch angehörende Verfahren38 bleibt jedoch 35 36 37
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Wachinger [Anm. 11], S. 149. Egidi [Anm. 8], S. 107 f. und S. 109–115 (Zitat S. 109). Dass dem Kontrast auf Textebene der kongruente Ton der Strophen entgegensteht, sollte nicht überbewertet werden; so sind Modulationen im Vortrag, analog zu inhaltlicher, stilistischer oder lautlicher Differenzierung innerhalb der Strophenabfolge, auch bei metrisch und musikalisch gleichgestalteten Strophen durchaus denkbar und in der Gesangspraxis üblich. Vgl. Egidi [Anm. 8], S. 106 f. Was Egidi für die Kombination von Diskursausschnitten durch Zusammenstellung verschiedener Strophen im Vortrag für den Sangspruch festhält, gilt dann – komprimiert in einem Text – auch für Frauenlobs Lied 6: »Bei solchen Kombinationen entstehen potentiell Unbestimmtheitsstellen, was die Relationierung der erwähnten, textintern nicht verknüpften Segmente betrifft. Diese Relationierung ist dann von Vortrag zu
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durch die Wahl der beiden dem traditionellen Minnesang angehörigen simultanen Ebenen als sukzessive Segmentausschnitte der Minnesangkonzeption verpflichtet. Entscheidend ist, dass im Nacheinander, in der segmentierenden Abfolge beide traditionell simultanen Sprechhaltungen des Ich-Liedes der Hohen Minne ihren Charakter deutlich verändern: Indem das betroffene Ich in der ersten Hälfte ohne Korrektiv völlig entfesselt erscheint und in eine Hilflosigkeit abdriftet, aus der es sich kaum zu retten weiß, spricht dieses Ich nicht mehr von der hoˆhen minne in der Weise, dass es diese im Sprechen zu beherrschen scheint, es ist vielmehr einer zerstörerischen Liebe ohne Aufschwungspotential ausgeliefert, derer nicht sprachlich Herr zu werden ist,39 die nur suggestiv-performativ mitzuteilen und vom Rezipienten mitzuvollziehen ist. Hoffnungsverlust wie (selbstverständlich inszenierte) Relativierung der inaugurativen Sprachmächtigkeit aber desavouieren das traditionelle Konzept der Hohen Minne von seinem Grundimpetus her. Das Sänger-Ich dagegen zieht sich in der zweiten Hälfte zunehmend auf eine Position formeller Redundanz zurück, mit der es der Tradition Genüge zu tun gedenkt, dezidiert ohne den Anspruch der Betroffenheit und damit auch der Authentizität auf zweiter Ebene aufrechterhalten zu wollen. Die Hoffnung des traditionellen Minnesangkonzepts nunmehr aufseiten der sprachlich produzierten Fiktion, die als sprachlich produzierte herausgestellt wird, festzuschreiben, gleichsam im anderen Extrem zu arretieren, bedeutet jedoch – zusammen mit einer Autoreflexivität des Singens, die nicht mehr auf der Fiktion der Authentizität der Minne basiert – ebenso einen eklatanten Regelverstoß. Von zwei Seiten aus ist somit die Spannung aufgehoben, die die Hohe Minne des Ich-Liedes konstitutiv bestimmte, d. h. die Sprachmodulationen in Frauenlobs Lied 6 zielen – zumindest in der Differenzierung zwischen erster und zweiter Hälfte des Liedes – gerade nicht auf eine Enthierarchisierung von Positionen oder deren Umbesetzungen, so dass jede dezidierte Position in die Schwebe geraten und ungreifbar würde. Sie zielen vielmehr auf eine sezierende Analyse auf verschiedenen Ebenen: Die Differenz unterschiedlicher stilistischer Verfahrensweisen markiert die Diversität von Handlungs- und poetologischer Reflexionsebene, so dass diese nicht mehr in simultaner Korrelation, sondern im Kontrast aufeinander bezogen sind. So erscheint die Authentizität verbürgende Hilflosigkeit des Werbenden in Opposition zu einer hyperbolisch-sprachmächtigen Fiktion konzipiert. Zugleich divergieren auch die Relationen von werbendem Ich und Sänger-Ich zum jeweiligen Sprechakt. Während das Ich auf Handlungsebene sich einer oszillierenden Sprachmodulation auszuliefern scheint, deren autoreferentielle Textur in der Verve von Rhythmus, Reim und Lautklängen einen performativen Mitvollzug emotiv einfordert, rekurriert die Autore-
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Vortrag je neu von den Teilnehmern zu leisten, von Sänger und Publikum gleichermaßen« (S. 106 Anm. 11). Vgl. zum Aspekt der Selbstermächtigung in der Reflexion auf den poetischen Akt etwa Walthers Lied Lange swıˆgen des haˆt ich gedaˆht: L 72,31. Am Beispiel Morungens erläutert diesen Zusammenhang differenziert und unter Berücksichtigung der Genderperspektive Beate Kellner, Gewalt und Minne. Zu Wahrnehmung, Körperkonzept und Ich-Rolle im Liedcorpus Heinrichs von Morungen, in: PBB 119 (1997), S. 33–66.
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flexivität des Sänger-Ich auf eine kalkuliert-souveräne Versatzstück-Rhetorik im Umgang mit den traditionellen semantischen, bildlichen und gesellschaftlichen Topoi. Im Abschied von der Hohen Minne lässt das Lied jedoch nicht einfach das alte Modell zurück, sondern demonstriert in der Aufhebung noch einmal dessen Bedingungen und Implikationen. Genau darin aber überzeugt dieses Lied, gelangt es zu neuer Authentizität, einer Authentizität auf dritter Ebene: Ein glaubwürdiger Rekurs auf die alte Konzeption der Hohen Minne kann um 1300 nur darin bestehen, die Bedingungen und Implikationen von deren historischem Ende zu reflektieren, ja mehr noch: dieses Ende von der sprachlichen Modulation her uz kezzels grunde (GA V,115,7) und zugleich polyphonisch zu inszenieren. Frauenlobs Lied 6 vollzieht des Minnesangs Ende und holt zugleich alle Errungenschaften dieser artifiziellen Gattung als Spielraum ihrer Möglichkeiten ein.
der herzoge Liddamus Bemerkungen zum 8. Buch von Wolframs ‘Parzival’ von Hans-Joachim Ziegeler
Dass das achte Buch des ‘Parzival’1 in mancher Hinsicht eine besondere Position im Roman einnimmt, ist mittlerweile Konsens der Forschung. Markant sind die Abweichungen von Chre´tiens ‘Conte du Graal’,2 auffällig ist die Selbstreflexion des Erzählens,3 auffällig die Menge der Anspielungen auf Politisches, Persönliches, Literarisches,4 die kaum immer in ihrem ganzen Gehalt zu entschlüsseln sind, auffällig die Vogeljagd-Motivik5 und auffällig insbesondere die Serie der intertextuellen Verweise.6 Gegenüber früheren, relativ eindeutigen Bewertungen insbesondere der Antikonie-, der Kingrimursel- und der Liddamus-Figur wird jetzt eher betont, dass die »Erzählwelt [. . .] nicht auf eindeutige Lösungen, moralische Urteile oder Hierarchisierung divergierender Sichtweisen hin angelegt« sei, »sondern auf Anspielungen und Querverweise, auf Ausfaltung eines mehrschichtigen Gesellschaftsbildes und auf kontroverse Wertediskussionen«.7 Doch scheint aus diesem Erzählen, das im Übrigen die »Hierarchisierung divergierender Sichtweisen« zu vermeiden sucht, die Figur des Liddamus (und auch die des Königs Vergulaht) ausgeklammert. Zwar hat sich der Tenor der Bewertungen geändert. Nicht mehr ist die Rede davon, dass in Liddamus »die erste humoristische Selbstdarstellung eines toren in der deutschen Dichtung« begegne, »der, zugleich Thersites und pervertierter Miles Gloriosus, sein unsoldatisches Lebensprinzip rechthaberisch und mit Zitaten aus antiker und deutscher 1
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Zitate nach: Wolfram von Eschenbach, Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann, Übers. von Peter Knecht, Einführung zum Text von Bernd Schirok, Berlin/New York 1998. Wolfgang Mohr, Landgraf Kingrimursel. Zum VIII. Buch von Wolframs Parzival, in: ›Philologia Deutsch‹. FS Walter Henzen, hg. von Werner Kohlschmidt und Paul Zinsli, Bern 1965, S. 21–38, Nachdruck in: Wolfgang Mohr, Wolfram von Eschenbach. Aufsätze (GAG 275), Göppingen 1979, S. 120*–137*; Joachim Bumke, Wolfram von Eschenbach, Stuttgart/ Weimar 82004, S. 83–86. Michael Curschmann, Das Abenteuer des Erzählens. Über den Erzähler in Wolframs ‘Parzival’, in: DVjs 45 (1971), S. 627–667, bes. S. 665 f. So die ähnliche Formulierung bei Karl Bertau, Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter, München 1973, Bd. 2, S. 987. Rüdiger Schnell, Vogeljagd und Liebe im 8. Buch von Wolframs ‘Parzival’, in: PBB (Tübingen) 96 (1974), S. 246–269. Ulrike Draesner, Wege durch erzählte Welten. Intertextuelle Verweise als Mittel der Bedeutungskonstitution in Wolframs ‘Parzival’ (Mikrokosmos 36), Frankfurt a. M. u. a. 1993, hier vor allem S. 321–335. Manfred Eikelmann, Schanpfanzun. Zur Entstehung einer offenen Erzählwelt im ‘Parzival’ Wolframs von Eschenbach, in: ZfdA 125 (1996), S. 245–263, hier S. 252, zustimmend zitiert von Bumke [Anm. 2], S. 169.
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Heldensage gewürzt« zur Schau stelle und rechtfertige,8 aber dass Liddamus »eine zweckorientierte Politik« gegenüber dem »Ethos des Altadels« vertrete,9 wird gleichwohl angenommen, denn das »Hauptinteresse der Darstellung« liege »auf der Selbstvergewisserung eines Hofes, dessen Ordnungsgefüge durch einen schwachen König grundsätzlich in Frage gestellt ist,«10 demgegenüber »König Artus als Repräsentant einer idealen Gesellschaft« herausgestellt wird.11 Es ist kaum zu bestreiten, dass die Darstellung solcherart Einstellungen suggerieren kann, freilich nur dann, wenn sie bestimmte Vor-Einstellungen bedient. Man wird deswegen noch einmal nachfragen dürfen, ob die Weise des Erzählens im 8. Buch nicht grundsätzlicher noch die Literarizität aller Figuren herausstellt und ihr Agieren und die von ihnen vertretenen Positionen ironisch in Frage stellt. In der Integration der Episode in das Erzählen folgt Wolfram seiner Vorlage mit gewissen Variationen durchaus:12 Nach der Anklage Percevals durch das hässliche Gralfräulein (damoisele, V. 4611 ff.) wegen der unterlassenen Frage auf der Burg des Fischers nennt sie weitere Abenteuer, die zu bestehen seien. Gauvain verpflichtet sich zunächst, eine auf dem Berg Montesclaire belagerte damoisele zu befreien, wird jedoch durch die Anschuldigung des Guigambresil, er, Gauvain, habe seinen Herrn verräterisch getötet, am sofortigen Aufbruch zum Montesclaire gehindert. Innerhalb der üblichen Frist von 40 Tagen habe er sich im Zweikampf vor dem König von Escavalon zu rechtfertigen, dieser sei schöner noch als Absalom. Gauvain kann pflichtgemäß das Angebot seines Bruders Engrevain abwehren, für ihn einzutreten, und folgt gleich danach Guigambresil mit sieben Knappen. Er nimmt als Ritter des Fräuleins mit den kleinen Ärmeln, die Wolframs Obilot entspricht, am Turnier von Tintaguel (Wolframs Bearosche im 7. Buch) teil. Danach verbringt er eine Nacht in einem Kloster und macht am Morgen vergeblich Jagd auf eine weiße Hirschkuh (V. 5636 ff.). Darauf begegnet er einer Jagdgesellschaft; deren Herr, der die anderen an Schönheit übertrifft, begrüßt ihn als Gast und sendet ihn mit seinem Gefährten zu seiner Schwester, welcher er ausrichten lässt, den Gast auf das Freundlichste zu behandeln. Li chevaliers s’en part adonques, Qui monseignor Gavain conduit La ou de mort le heent tuit; Mais il n’i est pas coneüs, Que onques mais n’i fu veüs, Si n’i quide pas avoir garde. (V. 5748–5753)
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Mohr [Anm. 2], S. 29/128*. Eikelmann [Anm. 7], S. 261. Ebd., S. 260. Ebd., S. 257 und 257 f. Chre´tiens ‘Conte du Graal’ wird, einschließlich Übersetzung, zitiert nach: Chre´tien de Troyes, Le Roman de Perceval ou le Conte du Graal. Der Percevalroman oder die Erzählung vom Gral. Altfranzösisch/Deutsch, übers. und hg. von Felicitas Olef-Krafft, Stuttgart 1991.
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(‘Damit bricht der Ritter auf und bringt Herrn Gauvain zu dem Ort, wo alle ihn bis auf den Tod hassen. Doch bleibt er unerkannt, da keiner der Leute ihn jemals zuvor gesehen hatte, und daher glaubt er, nichts befürchten zu müssen.’)
Gauvain wird durch die Stadt geführt, deren Händler und Handwerker in ihren vielfältigen Tätigkeiten ausgiebig geschildert werden. Der Gefährte richtet seinen Auftrag aus, entfernt sich dann wieder, und Gauvain bittet die Dame um ihre Liebe, was sie ihm freiwillig gewährt, doch werden sie durch einen vavasors (V. 5832) gestört, der Gauvain kennt. Er klagt die Dame laut an, dass der, der da an ihrer Seite liege, ihren Vater getötet habe (V. 5862 f.). Es entsteht in der Stadt der von der Dame befürchtete Tumult, doch kann sie Gauvain eine Rüstung und als Schild ein Schachbrett besorgen; er wehrt sich mit dem Schwert gegen die Eindringlinge (V. 5990), sie bewirft den vilain (‘Mob’, V. 6007) mit den Schachfiguren. An dem Versuch, den Turm, in dem sich die beiden verschanzt haben, zum Einsturz zu bringen, kann auch Guigambresil, der nichts von alledem weiß, sie zunächst nicht hindern. Er reitet dem König, der von der Jagd kommt, entgegen und berichtet ihm von den Vorfällen; der König befiehlt, weil Gauvain sein Gast sei, darauf dem maire (V. 6059) den Rückzug, was auch geschieht. Ein weiterer vavasor, der als sehr weise bezeichnet wird (de molt grant sen, V. 6091), gibt den Rat, man solle Gauvain auf die Suche nach der Lanze, aus der Blut quillt, schicken, und nach Jahr und Tag solle er zurückkehren, dann könne man ihn mit Recht gefangen nehmen, und dann solle er den Kampf gegen Guigambresil antreten. Guigambresil entschuldigt sich bei Gauvain für die Verletzung des Gastrechts, allerdings habe er ihm freies Geleit nur zugesichert unter der Bedingung, dass er weder Burg noch Stadt seines Herrn betrete (V. 6140 ff.). Nach einigem Hin und Her geht Gauvain auf die Bedingung ein, verabschiedet sich von der Dame, schickt seine Knappen heim und zieht fort. Mit Recht hat Wolfgang Mohr die Abwägung zwischen verschiedenen Rechtsgütern, die hier vorgeführt wird, einen »Casus« genannt;13 der Ratschlag des vavasors ist die Lösung, um aus dem Dilemma – Verletzung des Gastrechts vs. Pflicht Guigambresils, Gauvain zu beschützen, bis er seine Behauptung im Kampf gegen Gauvain beweisen könne – zu entkommen. Die Figurenkonstellation ist dadurch gekennzeichnet, dass alle Adligen, der König, seine Schwester, Guigambresil und Gauvain sich einig sind in der Verachtung der Stadtbevölkerung; alle werden denunziatorisch als vilains bezeichnet, deren Bruch des Gastrechts gleichwohl als verständlich, wenn nicht berechtigt erklärt wird, da sie sich für ihren verstorbenen Herrn an Gauvain rächen wollen. Das doppelte Fehlverhalten Gauvains, die Verführung der nur allzu bereitwilligen Schwester des Königs und die Verletzung der Bedingungen des – allerdings erst im Nachhinein erklärten – freien Geleits, das mit Ausnahme der Burgen und Städte des Königs gelten sollte, fällt demgegenüber nicht ins Gewicht. Beides ist jedoch, wenn auch nicht ganz deutlich, miteinander verknüpft. Die entsprechenden Worte Guigambresils an Gauvain lauten:
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Mohr [Anm. 2], S. 122*ff.
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Sire Gavain, sire Gavain, Je vos avoie en conduit pris, Mais tant i ot que je vos dis Que ja tant hardis ne fuissiez Que vos en chastel entrissiez N’en chite´ que me sire eüst, Se destorner vos en pleüst. De ce que l’en vos a chi fait N’estuet ore tenir nul plait. (V. 6140–6148) (‘Herr Gavan, Herr Gavan, ich hatte Euch freies Geleit zugesichert, aber doch nur unter der Bedingung, dass Ihr Euch, Eure Zustimmung vorausgesetzt, niemals erkühnen solltet, eine Burg oder eine Stadt meines Herrn zu betreten. Über die Vorkommnisse hier dürft Ihr Euch also nicht beschweren.’)
Dies spielt ersichtlich darauf an, dass auch Gauvain nach dem Willen seines Erzählers sehr wohl wusste, wo er sich befand (s. o., V. 5748 ff.),14 und deswegen die Einladung des Königs, sein und zunächst einmal allein der schönen Schwester Gast zu sein, mit der Aussicht auf ein – unter diesen risikoreichen Umständen besonders attraktives – erotisches Abenteuer dankend angenommen hat. Dass sich diese Hoffnung nicht erfüllt, sondern einigermaßen kläglich endet, war für aufmerksame Leser/Hörer vermutlich schon durch die ebenfalls wegen zweier Missgeschicke, einer falschen Jagdwaffe und eines verlorenen Hufeisens, missglückte Jagd auf die weiße Hindin vorweggenommen.15 Das Motiv der missglückten Jagd hat Wolfram also von Gawan/ Gauvain auf Vergulaht übertragen; gleichwohl wird Gauvain auch bei Chre´tien in ironischer Perspektive vorgeführt. Die ironische Inszenierung seiner Figuren hat Wolfram vor allem durch das Mittel der Korrelation diskrepanter Elemente erreicht, und hier nehmen die intertextuellen Verweise eine besonders prominente Stellung ein. Es beginnt vermutlich bereits mit der hyperbolischen Beschreibung von Schanpfanzun, auf die Gawan blickt. Der Erzähler vergleicht Gawans Blick auf die Stadt (V. 398,28 ff.) im Zuge einer Andeutung, angesichts von Gawans bevorstehendem Unglück nicht weiter erzählen zu wollen, mit des Eneas Blick auf Karthago und dem Leid der Dido, die Menge der dort erblickten Türme mit der von Acraton, einer sonst unbekannten Stadt, die in ihrer Größe allenfalls von Babylon übertroffen werde.16 Die Diskrepanz zwischen dem Aufzug Vergulahts, dessen Schönheit mit dem Mai und – in Gawans Augen (V. 400,13 ff.) – mit Parzival oder Gahmuret bei dessen Einzug in Kanvoleiz verglichen wird, und seinem Sturz in den Sumpf, bei dem Versuch, dem Falken zu helfen, ist zu oft behandelt worden, als dass dies hier wiederholt werden müsste.17 14 15 16 17
Anders dagegen Schnell [Anm. 5], S. 252. Vgl. den Kommentar von Olef-Krafft [Anm. 12], S. 610 f. zu V. 5675 ff. Zur Szene vgl. vor allem Draesner [Anm. 6], S. 311 ff. Die gleiche Folge von Schönheitsvergleichen, nun jedoch ohne jeden ironischen Zwischenton auf Anfortas bezogen, erscheint im 16. Buch im Anschluss an Parzivals endlich gestellte Erlösungsfrage 795,29 ff.
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Anders der folgende Vergleich, in dem der Empfang Gawans durch den frisch mit Kleidern versorgten Vergulaht mit dem Empfang Erecs verglichen wird, als dieser zu Artus zurückkehrt – in Begleitung der ausdrücklich noch nicht mit angemessenen Kleidern versorgten Enite nach Erecs Sieg über Iders. Ausgespart wird in dem einigermaßen umfänglich nacherzählten ersten Cursus des ‘Erec’ aber gerade das Kleidermotiv, ausgespart wird auch, dass die Ankunft der Enite mit ihrer alles überstrahlenden und von allen anerkannten höchsten Schönheit den möglichen Konflikt um die schönste Frau am Artushof vermeiden hilft, nachdem Artus die costume wieder hat aufleben lassen, dass derjenige, der den weißen Hirsch erjagt, die schönste Frau am Hof küssen und damit als solche auszuzeichnen hat. Vor dem großen Unheil, das angesichts der Konkurrenz von 500 schönen Damen und ihren Rittern am Artushof entstehen könnte, hat gerade Gawan gewarnt.18 Die Brücke zum Vergleich zweier im Übrigen ganz unvergleichbarer Ereignisfolgen bildet also einzig das Stichwort enpfaˆhen (V. 401,9); alle sonstigen möglichen Assoziationen werden ausgeblendet oder dem Rezipienten anheimgestellt. Der Vergleich der Antikonie mit der Markgräfin vom Heitstein (V. 403,25–404,8)19 und den Marktfrauen von Dollnstein (V. 409,5–15) dürfte ähnlich kalkuliert angelegt sein; dies gilt vermutlich auch für den Vergleich, den Antikonie selbst anstellt, als sie das, was sie Gawan bietet, nachdem man sich einen kus, der ungastlıˆch (‘nicht wie unter Fremden’) war, gegeben hat (V. 405,21), als etwas bezeichnet, was Ampflıˆse Gamurete / mıˆnem œheim nie baz erboˆt (V. 406,4 f.), bleibt doch das, was Ampflise Gahmuret ›geboten‹ hat oder bieten könnte, in ihrem Brief an Gahmuret im 2. Buch (V. 76,23 ff.) nur angedeutet, und Antikonie weiß nicht einmal, mit wem sie es zu tun hat (V. 406,9 ff.). Keine Figur des bislang im 8. Buch erzählten Geschehens also bleibt von den ironischen, sarkastischen, aber immer auch wieder verständnisinnig offenen Vergleichen verschont, bei keiner Figur auch wird versäumt, die Diskrepanz von Wort und Tat, von Anlass und Folge und, wenn man so will, von Schein und Sein anzudeuten oder herauszustellen – eine Gedankenfigur, die Wolfram des Öfteren gebraucht hat; zu denken ist etwa an das Ausspielen von innerer und äußerer Schönheit und Hässlichkeit durch Cundrie gegenüber Parzival (V. 315,16 ff.). Dies betrifft als erste auch Antikonie. Nach dem Zeter-Geschrei des Ritters, der Gawan und Antikonie entdeckt und Gawan erkannt hat (V. 407,11 ff.), in eine neue Situation gestellt, bewährt sie sich mit allen denkbaren Mitteln in Gawans großer Not, der der Vergewaltigung beschuldigt wird. In ihrer großen Anklagerede gegenüber ihrem Bruder und Herrn Vergulaht weist sie auf zwei Dinge hin, zum einen, dass sie Vergulahts Gebot befolgt habe, ihn als Gast aufzunehmen (V. 414,26), zum andern aber, dass nach Gewohnheitsrecht derjenige, der sich in den Schutz einer Frau begebe, vor seinen Verfolgern sicher sein könne: 18
19
Vgl. Chre´tien de Troyes, Erec et Enide. Erec und Enide, Altfranzösisch/Deutsch, übers. und hg. von Albert Gier, Stuttgart 1987, V. 27–66. Fritz Peter Knapp, Baiern und die Steiermark in Wolframs ‘Parzival’, in: PBB 110 (1988), S. 6–28, hier S. 6–16.
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ich hoˆrt ie sagen, swa ez soˆ gezoˆch daz man gein wıˆbes scherme vloˆch, daˆ solt ellenthaftez jagen an sıˆme strıˆte gar verzagen, op daˆ wære manlıˆch zuht. (V. 415,1–5)
Und sie leitet ihre Rede damit ein, dass sie ihrem Ritter (V. 414,25) mangels einer Rüstung, wie sie ein Mann hat, an Schutz und Schirm nur guot gebærde und kiusche site (V. 414,23) habe bieten können. Das ist angesichts des nach dem Erzählten ›tatsächlich‹ Vorgefallenen keine ganz adäquate Beschreibung des Sachverhalts. Das betrifft auch Vergulaht. Bei ihm stellt der Erzähler das Unangemessene seines Verhaltens angesichts seines Herkommens, seiner Familie, heraus, als Vergulaht, anders als der König in Chre´tiens Roman, sich nach seiner Rückkehr von der Jagd offen auf die Seite des bovels [. . .] uˆz der stat (V. 408,3) stellt, und dies, ohne dass von einer Nachricht an ihn über das Vorgefallene etwas erzählt worden wäre. Bezeichnend auch, dass von Vergulahts Herkommen aus der Gandin-Gahmuret-Parzival-Sippe im Rahmen einer Vorausdeutung auf Vergulahts Verhalten berichtet wird, an dem es nichts zu beschœnen gebe (V. 410,17), bevor man überhaupt erfährt, wie der König agiert: doˆ kom der künec Vergulaht. der sach die strıˆteclıˆchen maht gegen Gaˆwaˆne kriegen. ich enwolt iuch denne triegen, sone mag i’n niht beschœnen, ern well sich selben hœnen an sıˆnem werden gaste. der stuont ze wer al vaste: doˆ tet der wirt selbe schıˆn, daz mich riwet Gandıˆn der künec von Anschouwe, daz ein soˆ werdiu frouwe, sıˆn tohter, ie den sun gebar, der mit ungetriwer schar sıˆn volc bat seˆre strıˆten. (V. 410,13–27)
Ein ganz entscheidender Vorwurf gegenüber dem König ist also, dass er sich mit dem bovel gemein macht, sogar Seite an Seite mit ihm kämpft; es ist dies auch ein entscheidender Eingriff Wolframs in die Figurenkonstellation der Episode. Unangemessen ist jedoch auch des Landgrafen Kingrimursels Verhalten. Das mag verwundern angesichts des dieser Figur durchgängig zugesprochenen ehrenhaften Verhaltens: »Dieser ehrenwerte Mann, der bereit war, für das vermeintliche Unrecht, das seinem König geschehen war, mit der Waffe einzutreten, der Gawan vorgeladen und ihm ausdrücklich freies Geleit im Feindesland zugesichert hatte, sah sich durch seinen König und Verwandten tief in seiner Ehre gekränkt.«20 Der Ton sollte liegen auf dem »vermeintlichen Unrecht«, denn wieder einmal wird eine Haltung, die als 20
Mohr [Anm. 2], S. 127* f.
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»Ehre« bezeichnet, als eˆre jedoch an keiner Stelle in Zusammenhang mit Kingrimursel gebracht wird, durch den Einsatz für etwas im Ansatz Vergebliches, gar Falsches inszeniert. Denn unmittelbar, nachdem Kingrimursel sich geselleclıˆche (V. 411,20) auf die Seite Gawans und gegen seinen Herrn gestellt hat – dies bedeutet auch, dass er ein öffentlich gegebenes Versprechen gegenüber einem anderen über die vasallitische Treue gestellt hat – und bevor man in langen Verhandlungen, deren Ausgang nach all den Ängsten, die um Gawan auszustehen sind, gleich ungewiss erscheint, eine suone (V. 428,23) erzielt hat, erklärt der Erzähler gegenüber dem Rezipienten, dass der Anlass des ganzen ein Nichts war, jedenfalls nicht von Gawan ausging: unschuldec was heˆr Gaˆwaˆn: ez hete ein ander hant getaˆn, wande der stolze Ehcunat ein lanzen durch in leˆrte pfat, do er [Kingrisin, Vergulahts Vater] Jofreyden fıˆz Ydœl fuorte gegen Barbigœl, den er bıˆ Gaˆwaˆne vienc. durch den disiu noˆt ergienc. (V. 413,13–20)
Es ist dies eine »nur hier erwähnte Episode«.21 Chre´tiens Roman kennt dergleichen nicht, Gauvain scheint durchaus verantwortlich zu sein für den Tod von Guigambresils Herrn, er bestreitet lediglich, dass dies durch Verrat (traı¨son, V. 4763, 4789) geschehen sei. Nichts könnte – zusammen mit dem immer als enttäuschend beiläufig apostrophierten Hinweis im 10. Buch, dass man den Zweikampf zwischen Gawan und Kingrimursel ausgesetzt habe, weil sich herausgestellt habe, dass beide miteinander verwandt gewesen seien und ein anderer, eben Ehcunat, verantwortlich für Kingrisins Tod gewesen sei – nichts könnte deutlicher machen, dass Wolfram an dieser Stelle des 8. Buches die Sinnlosigkeit des früheren und des gesamten weiteren Agierens von Kingrimursel für den Leser/Hörer deutlich vor Augen oder Ohren stellen wollte. Es mag dies eine Haltung sein, die man gern dem »Ethos des Landesfürsten von altem Adel«22 zuschreiben möchte. Doch ist der so sehr herausgestellte Rang des lantgraˆven Kingrimursel gerade nicht »alt«. Die Bezeichnung lantgraˆve im ‘Parzival’ ist, nach den Wörterbüchern (Lexer und BMZ) einer der ältesten Belege überhaupt,23 und »vor dem 12. Jh. tritt der Begriff der Landgrafschaft an keiner Stelle auf«; das Institut gilt geradezu als Ergebnis einer »Staatsreform der Hohenstaufen«, die auf eine »Abschwächung feudaler und leibherrlicher Bindungen und ein unmittelbares Verhältnis freier Bevölkerungsteile zum Königtum« abzielte.24 21
22 23 24
Wolfram von Eschenbach, Parzival. Nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann, übertragen von Dieter Kühn, 2 Bde. (Bibliothek des Mittelalters 8/1 u. 2), Frankfurt a. M. 1994, hier Bd. 2, S. 650. Mohr [Anm. 2], S. 129*; ähnlich Eikelmann [Anm. 7], S. 261. Lexer, Bd. 1, Sp. 1824; BMZ, Bd. 1, S. 568a. Karin Blaschke, Landgraf, -schaft, in: LexMA, Bd. 5, Sp. 1662 f.; ausführlicher: Theodor Mayer, Über Entstehung und Bedeutung der älteren deutschen Landgrafschaften, in: ZRG (Germ. Abt.) 58 (1938), S. 138–162.
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Dass ein »Ethos des alten Adels« ausgerechnet einem Landgrafen zugeordnet wird, den die Erzählung in eine vehemente Auseinandersetzung mit einem Herzog stellt, dem umgekehrt eine »zweckorientierte Politik«25 attestiert wird, wird dem Versuch zuzuschreiben sein, auch die Diskrepanzen von »Ethos« und Amt herauszustellen. Wenn die Position des Landgrafen und seines Amtes auch mit der Absicht verbunden gewesen sein sollte, »die Inhaber der herzoglichen Gewalt mit ihrer gegen das Königtum gerichteten Interessenpolitik in die Schranken zu weisen«,26 dann ist die Auseinandersetzung zwischen Kingrimursel und Liddamus um so interessanter, denn hier treten sich präzise lantgraˆve und herzoge gegenüber. Liddamus wird zunächst als des küneges man (V. 416,18) bezeichnet, d. h. als Vasall des Königs. Dadurch, dass er kurz darauf der fürste Liddamus genannt wird (V. 417,1), wird er mitnichten »erhöht«;27 das erste hält seine Stellung gegenüber dem König fest, das zweite seinen hochadligen Stand, das dritte – der herzoge Liddamus (V. 418,27) – sein Amt, und das vierte, der rıˆche Liddamus (V. 419,11), das, worauf Macht und Herrschaft eines »alten« Fürsten idealiter beruhen, auf Eigentum, Besitz und Lehen an Grund und Boden und Einkünften. Wie wird nun die Auseinandersetzung der beiden Figuren inszeniert? Nachdem Vergulaht seine Leute weiterhin auf Gawan und nun auch gegen Kingrimursel hetzt (V. 412,4 ff.), der, wie man dabei erfährt, sein Vetter ist,28 kommen einige zur Vernunft, da sie gegen den Landgrafen nicht anrennen wollen (V. 412,13–15); sie ermahnen Vergulaht, nicht weiter Krieg gegen den Gast, gegen den Verwandten und gegen die eigene Schwester zu führen, sondern einen vride (V. 412,25–27) zu machen. Dazu kommt es, und dies gibt dem Erzähler Anlass, ausdrücklich ein Wort aus dem Anfang des Buches zu zitieren und nun endlich zu erklären, wie es dazu kam, daz luˆtr gemüete trüebe wart (V. 414,1–3 und 402,2 f.), nämlich das gemüete Vergulahts. Dieser hört sich die Strafreden seiner Schwester und Kingrimursels ohne Widerrede an, bittet vielmehr von schame um Verzeihung (V. 414,9–11). Die Widerrede besorgt Liddamus; sie richtet sich an Kingrimursel, aber mittelbar auch an Vergulaht, den er seines Rufes wegen dazu auffordert, den Tod seines Vaters selbst an dessen Mörder zu rächen (V. 417,1–8). Darauf bezichtigt Kingrimursel ihn, der sonst beim Fliehen im Kampf vornedran sei, des wohlfeilen Muts; er werde Gawan weiterhin beschützen und hätte ihn längst vor den Fürsten zum Zweikampf gestellt, wenn es nicht durch das Verhalten seines Herrn anders gekommen wäre. Falls ihn dieser aber nun – er ist der Gerichtsherr – leben lasse, fordert er Gawan zum Kampf in einem Jahr heraus, der nun am neutralen Ort vor Meljanz stattfinden solle. Gawan verspricht dies. Nachdem Vergulaht dem nicht widersprochen hat, greift Liddamus den Vorwurf der Feigheit auf, nun aber nicht, wie sonst bei solchen Reizreden üblich, indem er den Gegner zum Kampf fordert, sondern indem er diesem, von dem er niemals Sold erhalten werde,29 erklärt, es sei ihm gleichgültig, was dieser von ihm denke (V. 419,1– 25 26 27 28 29
Eikelmann [Anm. 7], S. 261. Blaschke [Anm. 24], Sp. 1663. Mohr [Anm. 2], S. 129*. V. 412,6; anders V. 324,13 (vgl. den Kommentar von Nellmann [Anm. 21], S. 649 u. 621). Vermutlich eine ausgesprochen boshafte oder höhnische Bemerkung, deren tieferen Sinn die Kommentare nicht erläutern.
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10). Er überlasse gerne ihm, Kingrimursel, die Rolle des Turnus, dafür wolle er ebenso gern die Rolle des Tranzes übernehmen. Zwar sei er, Kingrimursel, unter den vürsten der höchste, solle sich aber nicht über ihn, der ebenfalls Landesherr sei, erheben; vielmehr solle er an dem Rache nehmen, der zum Zweikampf gekommen sei und ihm den Herrn und den Verwandten, dessen Vasall er gewesen sei, erschlagen habe. Dies gehe ihn, Liddamus, nichts an, er empfange gern aus der Hand von des Erschlagenen Sohn, dessen Adelsrang in seiner väterlichen Familie begründet sei, sein Fahnlehen. Deutlich geht es hier um Interessenabwägungen und unterschiedlich gewichtete Bindungsverpflichtungen. Kingrimursel sei zur Rache am Mörder seines ehemaligen Herrn Kingrisin, Vergulahts Vater, verpflichtet, da er mit diesem eng verwandt und sein Vasall gewesen sei. Es reiche ihm, Liddamus, hingegen die Sicherung seiner Herrschaft und das Fahnlehen, das er von einem Fürsten aus einer Familie erworben habe, deren Berühmtheit garantiere, dass er es aus der Hand des Nachkommen empfangen könne. Die Erwähnung von Turnus und Tranzes (oder Dranzes) aus Veldekes ‘Eneit’ perspektiviert die nachfolgende Polemik wohl auf diese Weise: Turnus ist ein edeler herzoge (V. 3983),30 dem König Latinus seine Tochter Lavinia und die Nachfolge in seiner Herrschaft versprochen hatte, die er aber nun aus Einsicht in den Ratschluss der Götter dem Trojaner Eneas zu geben bereit ist. Des Turnus ganzes Tun und Trachten ist nun darauf ausgerichtet, Eneas um jeden Preis auszuschalten. Eben diesen Preis will Dranzes, einer der Fürsten im Rat des Latinus, dem man als schlimmsten Vorwurf nachsagt, dass er gerne hete gemach (V. 8535), nicht zahlen. Er empfiehlt, da er weder erbe noch leˆhen (V. 8563) von Turnus habe und ihm zu nichts verpflichtet sei, dass Turnus in einem Zweikampf mit Eneas ausfechten solle, wer rechtens den Anspruch auf Lavinia und die Königsherrschaft erheben könne; das sei besser, als dass man drumbe laˆze slaˆn / unscholdige luˆte (V. 8620 f.). Darauf beschuldigt ihn Turnus der Feigheit und dass er von Eneas bestochen worden sei, erklärt sich aber zum Zweikampf mit Eneas bereit. Dazu kommt es nicht, weil die Trojaner des Turnus Heer angegriffen haben, worauf alle in die Schlacht gegen Eneas ziehen – auch der kluge Dranzes. Die beiden Beispielfiguren sind klug gewählt; wer will, kann daraus hören, dass auch Kingrimursel wie Turnus nur seine eigenen Interessen verfolgt, während Dranzes klug einen solchen Krieg vermeiden will. Dass er nicht feige ist, wie Turnus ihm und Kingrimursel dem Liddamus vorwirft, zeigt sich in der Bereitschaft des Dranzes, mit Turnus im Krieg gegen Eneas die gemeinsamen Interessen zu wahren, wenn die anderen die Angreifer sind. Die Position des Dranzes ist aller Ehren wert, und Veldeke lässt sie auch nur von dem stets zornigen Turnus kritisieren. Für die anderen Beispielfiguren gilt das nicht in dieser Weise. Dass er kein Wolfhart sein möchte (V. 420,22), ist nachvollziehbar; sein bekanntes, zorniges, unbe30
Zitate nach: Heinrich von Veldeke, Eneasroman. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Dieter Kartschoke, Stuttgart 1986.
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herrschtes Agieren wird im ‘Nibelungenlied’ für den Tod fast aller Nibelungen und aller Gefolgsleute Dietrichs von Bern verantwortlich gemacht. Dietrich selbst hat das vorweggenommen, als er ihm nicht erlaubt, den Burgunden die Frage nach dem Grund des Klagens nach Rüdegers Tod zu stellen: Doˆ sprach der herre Dietrıˆch: ‘swaˆ man zornes sich versiht, ob ungefüegiu vraˆge denne daˆ geschiht, daz betrüebet recken vil lıˆhte danne ir muot. jaˆne wil ich niht, Wolfhart, daz ir die vraˆge daˆ zin tuot.’ (C 2299)31
Doch ist dies kein Argument gegen den Vorwurf, andere zum Kampf aufzufordern, selbst aber feige zur Flucht zu neigen. Problematischer ist die danach verkündete These, dass er selbst wie Rumold handeln würde, statt sich des Wohlwollens von Kingrimursel zu versichern (V. 420,25 f.). Problematisch daran ist nicht der sprichwörtlich gewordene Rat Rumolds, nicht zu den Hiunen zu ziehen – diesen Rat hatte auch Hagen zuvor gegeben und hatte auf den von Gernot geäußerten Verdacht hin, er fürchte den Tod, und auf Gunthers Aufforderung, soˆ sult ir hie belıˆben (C 1491,3), epischer Regel gemäß im Zorn gerade das Gegenteil seines ersten Rates verkündet. Rumold rät aber nicht aus kluger Einschätzung der Situation wie Hagen, sondern wegen des heimischen bequemeren Lebens zum Dableiben: Ob ir niht anders heˆtet, des ir möht geleben, ich wolde iu eine spıˆse den vollen immer geben, sniten32 in öl gebrouwen: deist Ruˆmoldes raˆt, sıˆt ez sus angestlıˆchen erhaben daˆ zen Hiunin staˆt. (C 1497 [Text nach a])
Vollends fragwürdig wird Liddamus, als er, auf eine weitere Polemik Kingrimursels gegen seine Haltung, seine Argumentation wie zuvor im Falle von Wolfhart und Rumold aufbaut. Zunächst behauptet er, kein Segramors zu sein, setzt dann aber dagegen, er werde sich wie Sibeche verhalten, der zwar stets floh, aber doch vom König gehört worden sei. Sibeche aber ist in der Dietrichepik der Verräter am Herrn par excellence – er verrät nicht nur die Amelunge, sondern auch aus Rache den Herrn, dem er sich angeschlossen hat, Ermenrich.33 So zeigt sich in der Reihe der Beispielfiguren, mit denen sich die Liddamus-Figur scheinbar selbst charakterisiert, eine genaue Dramaturgie der Demaskierung, von der Vorsicht aus Klugheit (Dranzes), zum Rückzug aus Bequemlichkeit (Rumold) endlich zum erfolgreichen Verräter am eigenen Herrn (Sibeche).
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Zitate nach: Das Nibelungenlied nach der Handschrift C, hg. von Ursula Hennig (ATB 83), Tübingen 1977. Statt sniten liest Bumke mit Werner Schröder sieden, vgl. Joachim Bumke, Die vier Fassungen der ‘Nibelungenklage’. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert, Berlin 1996, S. 575: »In Öl Kochen, Brauen, das ist Rumolds Rat.« Wilhelm Grimm, Die deutsche Heldensage, Darmstadt 1957, bes. S. 332–334.
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Aber auch diese Haltung wird nicht nur denunziert und abgelehnt. Wie Chre´tiens vavasors (V. 6149 ff.) gibt Liddamus im Rat des Königs, der ohne Kingrimursel abgehalten wird, den Rat, die Aufgabe des Königs, die dieser in der Niederlage im Kampf gegen Parzival erhalten hat, auf Gawan zu übertragen. Der Versuch, damit den König von einer gefahrvollen Auflage zu befreien und sie auf eine andere Figur zu übertragen, zeigt einerseits den Sibeche in Liddamus und demonstriert anderseits, dass gerade dies Ende zu Gawans Glück führt: sus behielt heˆr Gaˆwaˆn daˆ sıˆn leben (V. 426,10).
Durchkreuzte Pläne, undurchschaubare Intentionen Zum ‘Mauritius von Crauˆn’ von Anna Mühlherr
An der unikal im Ambraser Heldenbuch überlieferten Erzählung vom Ritter Mauritius von Crauˆn und der Gräfin von Beamunt ist nicht ohne Weiteres eine Aussagetendenz abzulesen. So interpretiert beispielsweise Heimo Reinitzer den Text als eine fundamentale Kritik am ritterlichen Turnierwesen und an der Handlungsweise des Mauritius;1 die konträre Position nimmt etwa Hubertus Fischer ein, der in seiner Monographie den Titelhelden als Idealfigur eines Ritters darstellt, dessen Werbung um die Gräfin gerade in ihren exzessiven Zügen faszinierend gewirkt habe und insofern vorbildhaft sei.2 Im Gegensatz dieser beiden Positionen wird eine zentrale Streitfrage sichtbar, nämlich ob nun Mauritius oder aber die Gräfin3 am desaströsen Ende ihrer Liebesgeschichte Schuld trage oder wie die Schuld verteilt sei. Diese Frage wird von einem dritten neueren Interpretationsansatz von vornherein unterlaufen: Dorothea Klein beschreibt den Text als »ein literarisches Spiel mit dem literarischen Denkmodell der Hohen Minne.«4 In Bezug auf die Frage nach der vom Text geforderten Rezeptionshaltung, welche seiner Tonlage entspräche, lässt sich in neuerer Zeit, seit das Komische, Ironische, Schwankhafte des Textes stärker gesehen wird, eine Stoßrichtung gegen jegliche Thesenbildung über die Schuldfrage ausmachen.5 Eva Willms spricht von einem »Spott1
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Heimo Reinitzer, Zeder und Aloe. Zur Herkunft des Bettes Salomos im ‘Moriz von Crauˆn’, in: Archiv für Kulturgeschichte 58 (1976), S. 1–34; ders., Zu den Tiervergleichen und zur Interpretation des ‘Moriz von Crauˆn’, in: GRM 27 (1977), S. 1–18. Hubertus Fischer, Ritter, Schiff und Dame. Mauritius von Crauˆn: Text und Kontext, Heidelberg 2006. Für die – hauptsächliche oder vollständige – Schuld der Dame im deutschen Text wird, was naheliegt, gerne votiert, z. B. von Karl-Heinz Borck, Zur Deutung und Vorgeschichte des ‘Moriz von Crauˆn’, in: DVjs 35 (1961), S. 494–520; Kurt Ruh, ‘Moriz von Crauˆn’. Eine höfische Thesenerzählung aus Frankreich, in: Formen mittelalterlicher Literatur. FS Siegfried Beyschlag, hg. von Otmar Werner und Bernd Naumann (GAG 25), Göppingen 1970, S. 77–90, wieder in: ders., Kleinere Schriften, Bd. 1, hg. von Volker Mertens, Berlin 1984, S. 129–144; in neuerer Zeit: Christa Ortmann, Die Bedeutung der Minne im ‘Moriz von Crauˆn’, in: PBB 108 (1986), S. 385–407; Ricarda Bauschke, Sex und gender als Normhorizonte im ‘Moriz von Crauˆn’, in: Manlıˆchiu wıˆp, wıˆplıˆch man. Zur Konstruktion der Kategorien ›Körper‹ und ›Geschlecht‹ in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. von Ingrid Bennewitz und Helmut Tervooren, Berlin 1999, S. 305–325. Dorothea Klein in ihrer Einleitung zur Textausgabe: Mauricius von Crauˆn. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, nach dem Text von Edward Schröder hg., übers. und komm. von Dorothea Klein, Stuttgart 1999; Einleitung: S. 7–43, hier S. 42. Ruh [Anm. 3], S. 138, sieht die These der deutschen ›Thesenerzählung‹ gegenüber dem französischen Text gerade umgedreht: Die französische Dichtung »illustriert die Minnethese
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gedicht«;6 Waltraud Fritsch-Rößler von einer »durchgängig parodistische[n] Dichtung«;7 auch Dorothea Klein hält es »[g]rundsätzlich [. . .] für richtig«, den ‘Mauritius von Crauˆn’ als »Zeugnis für die ironisch-parodistische Rezeption der Ideologie von Frauendienst und amour courtois bzw. Hoher Minne zu lesen.«8 Nicht nur hinsichtlich der Frage nach einer Gesamtkonzeption und der Beurteilung des Erzähltones macht es der ‘Mauritius von Crauˆn’ den Interpreten nicht leicht. Die Überlieferung im Ambraser Heldenbuch weist auch an zahlreichen Stellen einen schwierigen Wortlaut auf. Heimo Reinitzers Verdienst ist es, eine Edition vorgelegt zu haben, die den Text neu diskutierbar macht.9 Im Folgenden soll auf der Grundlage einer genauen Betrachtung bestimmter Textsegmente und im vergleichenden Blick auf das altfranzösische Fabliau ‘Du chevalier qui recovra l’amor de sa dame’10 eine Lektüre erprobt werden, die einen in der Forschung bisher nicht hinreichend ausgewerteten Aspekt in den Mittelpunkt rückt: dass nämlich – anders als im Fabliau – die Erzählung es nicht erlaubt, Intentionen und Pläne der Figuren durchgängig zu erschließen und von daher ihr Handeln einzuschätzen. Das Fabliau, das ich zum Vergleich heranziehe, ist nach einhelliger Forschungsmeinung eine mit dem ‘Mauritius von Crauˆn’ eng verwandte Fassung, aber nicht die direkte Vorlage des deutschen Textes.11 Die Diskussion der Vorlagenfrage ist für die
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›Der Schlaf des Liebhabers vor dem Stelldichein ist eine Minnesünde‹, wobei das revenantMotiv dem Ritter die Chance gibt, in listiger und zugleich diskreter Weise die Huld der (hier mit Fug) beleidigten Dame wieder zu erlangen.« Im deutschen Text ist dieses Recht der Dame, beleidigt zu sein, seiner Meinung nach nicht gegeben. Eva Willms [u. a.], Der ‘Moriz von Crauˆn’ als politische Satire. Eine alte These – neu begründet, in: GRM N. F. 44 (1994), S. 129–153, hier S. 148. Waltraud Fritsch-Rößler, ‘Moriz von Crauˆn’. Minnesang beim Wort genommen oder Es ˆ f der maˆze pfat. FS Werner Hoffmann (GAG 555), hg. von schläft immer der Falsche, in: U ders., Göppingen 1991, S. 227–254, hier S. 228. Klein [Anm. 4], S. 39. Mauritius von Crauˆn, hg. von Heimo Reinitzer (ATB 113), Tübingen 2000. Diese Ausgabe wird im Folgenden zitiert. Das Fabliau ist in beiden neueren Editionen abgedruckt und mit einer Übersetzung versehen: In der Ausgabe von Dorothea Klein [Anm. 4], S. 147–163; in der Ausgabe von Reinitzer [Anm. 9], S. 98–112 (Anhang). Ein knapper forschungsgeschichtlicher Abriss zur Quellen- und Vorlagenfrage findet sich in der Einleitung zur Textausgabe bei Klein [Anm. 4], S. 27–30; die Forschung geht von einer direkten Dependenz aus; dabei wird allerdings fest mit einer verlorenen französischen Vorlage gerechnet, die den entscheidenden Schritt der Umarbeitung vollzogen habe (S. 30) – Klein, ebd. S. 35, zieht als Indiz für eine relativ getreue Übersetzung einer verlorengegangenen Quelle den Schluss des Textes (V. 1777–1784) heran. Er lautet: tiutschiu zunge diu ist arm. / swer darinne wil tihten / sal die rede rihten, / so muoz er worte spalten / und zwei zesamen valten. / daz tæte ich gerne, kunde ich daz, / meisterlıˆcher unde baz. – Doch es wird in diesen Versen nicht klar gesagt, woher die Worte kommen, die in deutsche Verse gefügt werden sollen. Dass der Epilog die »Mühen des wortgenauen Übersetzens aus dem Französischen« thematisiere und in dieser Hinsicht eine »deutliche Sprache« spreche, ist immerhin bezweifelbar.
Durchkreuzte Pläne, undurchschaubare Intentionen
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Darstellung von sinnerheblichen Differenzen zweier Fassungen, um die es hier geht, allerdings nicht entscheidend. Die Handlung wird im ‘Mauritius von Crauˆn’ so präsentiert, dass Unvorhergesehenes, auf welches die Figuren reagieren, letztlich ihre Absichten, ihr Kalkül ungreifbar werden lässt. Ihre Intentionen sind komplex-widersprüchlich oder undurchschaubar; Handlungsschritte, vor allem die des Mauritius in seiner Reaktion auf die Abweisung, folgen keinem ›stringenten‹ Plan. Was also hier interessiert, ist die Ungesichertheit und Undurchschaubarkeit der Haltung der Gräfin und vice versa die gerade nicht ›vorbedachte‹ Racheaktion des Ritters. Wenn man diesen Grundzug des Textes vorweg und sehr generell als Mittel der Komisierung oder der Distanznahme zu literarischen Modellen lesen wollte,12 dann bliebe die konzeptionelle Sorgfalt unterbelichtet, mit der die Störungen glatter Handlungsabläufe zum irritierenden Moment für die erzählten Figuren wird, die ›aus der Bahn geworfen werden‹, die sich anders bedenken oder gar nicht zu überlegen scheinen, was sie tun. Möglicherweise war das Publikum angesichts dieser Erzählung nicht weniger irritiert als die darin agierenden Figuren. Die schwankhaften Handlungsmuster funktionieren nicht wirklich, die Geschichte läuft aus dem Ruder – und dies keineswegs so, dass man sich als einzige Rezeptionsweise das Lachen über so viel Komik vorstellen müsste. Insbesondere der Schluss der Erzählung weist in eine andere Richtung. Da der ‘Mauritius von Crauˆn’ nur noch formal auf einer Mechanik von Fehler und Wettmachen des Fehlers, von Schlag und Gegenschlag basiert, wie sie das schon erwähnte motivverwandte Fabliau aufweist, handelt es sich um ein literarisches Experiment. In dieser gegenüber dem Fabliau-Typus neuartigen Erzählung wird eine sehr spezifische Rollenverteilung zwischen der Gräfin und Mauritius generiert: Das Kalkulieren und strategische Verhalten der Frau wird undurchschaubar, sie wird am Ende klar als die Verliererin gezeichnet. Der Mann hingegen handelt am Ende im zorn reaktiv ohne erkennbaren Plan, er kommt aber dennoch zum Ziel. Nur völlig anders, als er es im Sinne hatte: Er erhält, wenn auch erzwungen, seinen ›Minnelohn‹ von der Gräfin. Dies soll nun an den entscheidenden Handlungsstationen auf der Folie des französischen Textes entwickelt werden. Der Kern des französischen Textes besteht darin, dass ein chevalier sein Versagen gegenüber seiner Geliebten, die ihn wegen dieses Versagens verstoßen hat, wieder wettmacht. Sein listiges Arrangement zielt darauf, dass er den Ehemann der Geliebten zu seinem Fürsprecher macht. Sein Plan geht auf. Die Geschichte, von der behauptet wird, sie habe sich vor kurzer Zeit in der Normandie abgespielt (V. 4 f.), geht so: Ein Ritter wirbt um die Liebe einer Dame; sie sagt, er habe keinen Grund sie anzuhimmeln, denn er habe weder eine Rittertat für sie erbracht noch eine Heldentat, die ihr gefallen könnte. Sie stellt ihm riant sanz ire, ‘lachend, ohne Zorn’13 (V. 21), 12
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So etwa Dorothea Klein [Anm. 4], S. 40: Die Ereignisse nach der Einbestellung des Ritters in die Kemenate »lesen sich [. . .] wie eine Kette von Störungen im Modell von Frauendienst und Hoher Minne.« Ich zitiere im Folgenden den französischen Text nach der Edition von Reinitzer [Anm. 9]. Es
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ihre Gewogenheit in Aussicht, wenn er sich beweisen könne. Die beiden verständigen sich auf ein Turnier, das der Ritter ausrichten und auf welchem er gegen den Ehemann antreten soll. Gesagt, getan, die besten Ritter finden sich ein. Der verliebte Ritter hebt den Ehemann ohne Weiteres aus dem Sattel; darüber ist die Dame einerseits betrübt, andererseits freut sie sich über den Erfolg ihres amis (V. 83). Schließlich kommt einer der Ritter zu Tode, wird hastig begraben. Das Turnier wird aufgelöst. Die Dame lässt ihren Ritter durch eine Dienerin zu einem Stelldichein rufen. Als ihr Ehemann eingeschlafen ist, eilt sie dahin. Dort findet sie ihn schlafend, verlässt den Ort, schickt ihr Mädchen als Botin zu dem Ritter zurück. Deren Bescheid an den Ritter lautet, er solle sich ja nie mehr in die Nähe ihrer Herrin wagen, denn er hätte keineswegs in Erwartung ihrer edlen Herrin einschlafen dürfen, einer Dame si bele et si blanche et si tandre / et si vaillant, ‘so schön und so weiß und so zart und so vortrefflich’ (V. 174 f.). Kurz darauf steht der Ritter im Schlafzimmer des Ehepaars und gibt sich als Geist des beim Turnier verstorbenen Ritters aus, der gekommen sei, um Vergebung der Dame für eine Missetat zu erlangen, derer er sich ihr gegenüber schuldig gemacht habe. Die Dame kann ihre ›Einschätzung‹ beim Ehemann nicht durchsetzen, dass es sich nur um ein Trugbild handle; der Ehemann fleht sie an, sie möge dem Verstorbenen verzeihen. Sie bleibt hart – bis der Geist auf die Nachfrage des Ehemanns hin, woher denn ihre Härte rühre, erwidert, das könne er nicht sagen, das sei ein großes Geheimnis. Nachdem er hier nun ›Standhaftigkeit‹ bewiesen und das geplante außereheliche Abenteuer der Dame nicht verraten hat, spricht diese ihm ihre Verzeihung zu und er erhält, so heißt es, ihre Liebe (amor, V. 247) zurück. Wenn man den deutschen Text danebenhält, so sind vor allem zwei Unterschiede festzuhalten: Erstens ist die Handlung wesentlich ›breiter‹ angelegt, was auch impliziert, dass weit größere Sorgfalt auf Details verwendet wird; zweitens werden an einzelnen für das Verständnis der Erzählung entscheidenden Handlungspunkten logische Spannungen erzeugt. Ich gehe nun einzelne für meine Argumentation zentrale Aspekte entlang der Handlung durch, beschränke mich dabei strikt auf das für meine Thesenbildung Wichtige und lasse naheliegende weitere Beobachtungen, die den ‘Mauritius von Crauˆn’ unter der von mir gewählten Perspektive zu einem literarhistorisch interessanten Text machen, beiseite. Der Kontrakt zwischen Dame und Ritter ist die erste Szene, die ins Auge zu fassen ist: Abgesehen von einer gegenüber dem Fabliau ungemein gesteigerten Darstellung der Minnesymptomatik, des Schweigens des Ritters vor der Dame (das einerseits eine ›Regel‹ höfischer Werbung verletzt, aber eben gerade die Intensität seiner Liebe ›beweist‹) sowie der von der Gräfin perfekt beherrschten ›Redekunst‹, mit der sie den Ritter scheinbar naiv zum Arzt schicken will, ist die am Ende stehende emphatische Beteuerung der Minnebindung mit Ringübergabe bemerkenswert. Sie ist als eindeuhandelt sich um einen Abdruck des Textes aus folgender Ausgabe: Nouveau receil complet des fabliaux (NRCF), Bd. 7, Assen 1993, hier S. 247–253. Die Übersetzung zitiere ich nach der Ausgabe von Klein [Anm. 4], sie stammt von Trude Ehlert.
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tiges Signal der Umworbenen an den Ritter zu werten. Doch es fällt gleichzeitig auf, dass sie dem Ritter zwar einerseits Minnelohn in Aussicht stellt, wenn er ein Turnier vor ihren Augen ausrichtet, andererseits aber signalisiert, dass es nicht in ihren Händen liege, ob sich die Möglichkeit der Erfüllung ihres Versprechens einstelle. Zunächst sagt sie: ich wil iu loˆnen als ich mac (V. 586); der letzte Vers ihrer Rede lautet abgewandelt: ich wil dir loˆnen, ob ich kan (V. 603). Das Duzen setzt kurz vorher mit der – als zitathaft empfundenen? – Wendung duˆ bist mıˆn und ich dıˆn (V. 592) ein; d. h., die Dame redet von da an auf der einen Seite vertraulich als Geliebte. Auf der anderen Seite schließt sie ihre Rede mit einem deutlichen Unsicherheitssignal bezüglich der Realisierbarkeit der Belohnung ab: An der Bereitschaft der Dame, dem Ritter ihre Liebe zu schenken, soll nicht gezweifelt werden (als ich mac), aber es wird offengelassen, ob die Dame einen Weg finden wird, den Minnelohn zu gewähren (ob ich kan). Im zweiten für unseren Zusammenhang wichtigen Handlungssegment erweist sich erstens das, was die Gräfin ›kommuniziert‹, als weit komplizierter, zum andern wird durch Kommentierung Unsicherheit darüber erzeugt, wie die Intention der Gräfin einzuschätzen ist. Es handelt sich um die Einbestellung des Ritters direkt nach den Turnierkämpfen in eine Kemenate, in welcher sich ein Prunkbett befindet, auf dem das Thema der Liebe mit großer Kunstfertigkeit bildnerisch umgesetzt ist, bis zum Entschluss der Dame, den Ritter wegen seines Einschlafens abzuweisen. Im Prinzip ist die Handlungsführung mit dem französischen Fabliau identisch: Der Ritter muss sehr lange warten; allerdings hat die Dame auch einen stichhaltigen Grund für ihr spätes Erscheinen, denn ihr Ehemann ist – anders als im Fabliau – untröstlich wegen des von ihm verursachten Todesfalls auf dem Turnier und sie muss warten, bis er zur Ruhe kommt. Der Ritter wird missmutig und schläft, völlig erschöpft vom Turnier, schließlich ein. Während das Fabliau keinen Anlass gibt, von einer Verzögerungstaktik der Dame auszugehen, ist es möglich, den deutschen Text, der die Verzögerung ihres Eintreffens gleichsam überdehnt, so aufzufassen, dass die Dame einen Plan zur Prüfung des Ritters gefasst habe. Demgemäß würde er über das notwendige Maß hinaus unverhältnismäßig lange hingehalten, er würde also in diesem Fall von ihr auf die Probe gestellt und diese Probe nicht bestehen. Dingfest zu machen ist diese Leseart zwar nur an einem Vers, doch dieser Vers ist in seiner Funktion eindeutig. Als die Dame endlich herbeieilt, sagt der Erzähler: doˆ kam diu frouwe rıˆche / mit vorhten tugentlıˆche, / diu lıˆhte eˆ komen möhte sıˆn (V. 1255–57). Wie auch immer man lıˆhte hier auffassen mag, ob nun also nur Zweifel gestreut werden sollen (‘vielleicht’) oder ob eine klare Aussage getroffen werden soll (‘leicht’),14 das späte Kommen der Dame ist ihr möglicherweise als Intention, in jedem Fall aber als problematisches Verhalten (wie auch immer begründet) zuzurechnen. Am Vers 1256 haben alle Herausgeber, abgesehen von Reinitzer, das handschriftlich überlieferte Adverb tugentlıˆche durch tougenlıˆche ersetzt, d. h., sie haben eine Angleichung an das Nomen vorhte vorgenommen und den Ausdruck leichter verständlich gemacht: Die Dame schleicht sich 14
Vgl. Fischer [Anm. 2], S. 181.
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heimlich und in Furcht vor dem Entdecktwerden zum Geliebten. Das handschriftliche tugentlıˆche würde demgegenüber akzentuieren, dass es zur tugent der Dame gehört, in dieser Situation mit vorhten zu agieren, weil ihr nämlich das Risiko, das sie eingeht, bewusst ist. Dies würde genau zu der ›Erläuterung‹ ihrer Abweisung des eingeschlafenen Ritters passen, die sie später gegenüber ihrer Dienerin äußert. Insofern gibt es keinen Grund, von der Handschrift abzuweichen. Während das Fabliau hier einen klaren und einsinnigen Motivationszusammenhang für die Abweisung des Ritters durch die Dame aufweist – er hat sich, wie schon gesagt, nicht der Vollkommenheit der Dame gemäß verhalten, und deshalb entzieht sie ihm ihre Gunst –, begründet im deutschen Text die Dame ihr Verhalten gegenüber ihrer Dienerin, von der sie vehemente Vorwürfe wegen ihrer unfairen Behandlung des Ritters zu hören bekommt, folgendermaßen: 1340
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‘mir ist leit, daz ich mich minne ie underwant soˆ verre. ich vürhte daz mir gewerre. swem zuo der minne ist ze gaˆch, daˆ gaˆt vil lıˆhte schaden naˆch. swer sich an stæte minne laˆt, ich sage iu wie ez dem ergaˆt. als der ein netze stellet und selbe dar ıˆn vellet, alsoˆ vaˆhent si selbe sich. des wil ich bewaren mich. ich wil ouch gerner wesen frıˆ danne ich ie mannes sıˆ. die man sint unstæte. swaz ich durch disen tæte, daz wære als ein bıˆhte. ez ervunden morgen lıˆhte drıˆ oder viere, dar nach drıˆzehen schiere unser zweier bruˆtlouft. so wære mıˆn eˆre verkouft umbe harte kleinen gewin. von diu wil ich sıˆn als ich bin.’
Diese von der Gräfin hier vorgetragene Erläuterung ihres Verhaltens steht in eklatantem Widerspruch zu ihrem dem Ritter gegebenen Versprechen, dass sie ihm nach seiner Erfüllung ihrer Forderung Minnelohn gewähre, wenn sie könne (nichts könnte sie nämlich hindern, der Ehemann schläft endlich); schon gar nicht passt diese Rede dazu, dass sie ihm einen Ring ansteckte und ihre Bereitschaft mit der emphatisch formulierten Wendung duˆ bist mıˆn und ich dıˆn (V. 592) bekräftigte. Es liegt also ein Gesinnungswandel vor: Die Dame lehnt nun stæte minne kategorisch ab. Sie zieht es vor, frıˆ (V. 1351) zu sein, sie will keinem Mann angehören (V. 1352). Diese Erkenntnis muss mit dem Zustand zusammenhängen, in welchem sie ihren Ritter vorgefunden hat: Er hat geschlafen. Und deshalb hält sie es, wie sich aus ihren weiteren Ausführungen ergibt, für ausgeschlossen, dass das Geheimnis dieser Liebe – und
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konkret: dieser Liebesnacht – bewahrt werden könnte. Was ihn disqualifiziert, ist sein Mangel an Wachsamkeit. So einer verrät sich früher oder später. Und sie geht noch einen entscheidenden Schritt weiter: Männer sind unstæte (V. 1353), prinzipiell ist mit allem zu rechnen, vom Ausplaudern des Liebeserfolgs bis zur Abwendung des Mannes von der Dame. Der deutsche Text schafft also einen gegenüber der französischen Version viel komplexer zu beschreibenden Motivationszusammenhang für die Reaktion der Dame. Wenn man sich die in Vers 1257 stehende Erzählerbemerkung in Erinnerung ruft (diu lıˆhte eˆ komen möhte sıˆn), dann bleiben Fragen offen. Wollte sie ihn möglicherweise auf die Probe stellen, um sicherzugehen, dass sie die Liebesnacht riskieren kann? Oder hat sich die Prüfung des Ritters ungeplant (wegen besonderer Umstände) ergeben, so dass ihre Haltung eher zufällig neu konfiguriert wurde und sie es erst angesichts des schlafenden Ritters plötzlich für unmöglich hält, eine stæte minne dieser Art, nämlich eine heimliche Bindung, einzugehen? Zusammengefasst: Der Ritter hat, wie auch immer im Einzelnen motiviert – hier lassen sich Planung und zufällige Entwicklungen nicht restlos analytisch auseinanderhalten –, die Probe auf Tauglichkeit nicht bestanden; kategorisch lehnt die Dame angesichts seines Versagens stæte minne ab. So gesehen geht es nicht darum zu diskutieren, ob der Ritter sich wirklich in dieser Situation unentschuldbar danebenbenommen habe oder ob die Dame zu hartherzig reagiere. Es wird vielmehr ein besonderer Fall vorgeführt, in welchem die Verhaltensweise der Dame, welche weitestreichende Konsequenzen hat, einerseits auf planerisches Kalkül zurückgehen, aber auch genauso gut auf Zufall beruhen kann. Die Ausrichtung auf bestimmte Leitideen von minne und die Realisierung von damit verbundenen Wertvorstellungen oder aber deren Ablehnung scheinen in einem beunruhigenden Ausmaß unkalkulierbar zu sein. Was für die Entscheidung der Gräfin, den Minnelohn zu verweigern, gilt – dass nämlich das Umsetzen von vorgestellten Handlungszielen und das situativ bedingte Entwickeln von Haltungen und Zielen nicht auseinandergehalten werden kann – trifft in noch weit höherem Maße auf die Handlungsweise des Ritters zu, nachdem die Gräfin ihre Minneofferte zurückgenommen hat. An dieser Stelle lohnt wieder ein vergleichender Blick auf das französische Fabliau: Dort bittet der Ritter die Dienerin, die ihm die Nachricht überbrachte, er solle sich in der Nähe ihrer Herrin nie mehr blicken lassen, darum, dass sie ihn zu ihr führen möge. Damit ist sie auch einverstanden, sie bringt ihn zum Schlafgemach des Ehepaares; er geht rasch hinein und posiert dann vor dem Bett als Geist des verstorbenen Ritters. Innerhalb der Erzähllogik des französischen Textes ist es also evident, dass der Held intellektuell überlegen agiert und raffiniert seine Handlungsmöglichkeiten ausschöpft. Mit der wohlgesetzten Pointe, dass ausgerechnet der Ehemann Gnade für ihn erfleht, erlangt er die Gunst der Dame zurück. Dagegen stolpert der Ritter im deutschen Text mehr oder minder von einem Handlungszug zum nächsten. Der Eindruck eines ›Plans‹ stellt sich hier gerade nicht ein; es ist vielmehr so, dass er aus neu sich ergebenden Situationen für sich das Beste macht. Die zweite einschneidende Differenz ist, dass der Handlungsbogen nicht mit der Restitution eines Minnever-
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hältnisses abgeschlossen wird. Am Ende steht eine Vergeltungsaktion, die dem Ritter aber nicht im Sinne einer von ihm geplanten, sondern nur als Ergebnis seiner affektgesteuerten Aktion zugerechnet werden kann. Die Dienerin, so bittet er, soll seine Botin sein und ein zweites Mal versuchen, die Gräfin umzustimmen. Dabei geht er der Botin nach (was nicht abgesprochen ist) und dringt gewaltsam in die Kemenate des Ehepaares ein, nachdem sie ihm wiederum denselben Bescheid der Dame gegeben hat. Er schreckt vor nichts zurück. Dieses Verhalten wird nun aber auch als Ausdruck von triuwe [] (V. 1518) gewertet:15 Nach dem Bescheid, den die Dienerin ihm überbringt,
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[. . .] wart sıˆn herze in riuwen, und sprach iedoch mit triuwen: ‘frouwe, ich wil iuch gote ergeben. mir ist unmære daz leben. nu wil ouch ichz verliesen hie, ich enspreche selbe wider sie. ich wil dar ıˆn zuo im gaˆn und vernemen waz ich habe getaˆn.’
Das heißt, es geht ihm allein um die nochmalige Konfrontation der Gräfin mit ihrem Versprechen, das sie gebrochen hat – ganz gleich, welchen Ausgang diese Konfrontation nimmt. Da ihm das Leben verleidet ist, kann er es auch auf der Stelle verlieren. Er geht ohne Weiteres das Risiko ein, dass er (wohl doch vom Grafen) getötet werden könnte. Der Vers 1523, den alle Herausgeber außer Reinitzer in der Weise geändert haben, dass sie das handschriftliche im durch ein anderes Pronomen ersetzten,16 ergibt dann einen Sinn, wenn diese Verständnismöglichkeit genutzt wird:17 Mauritius’ triuwe bestünde also hier in seiner Beteuerung, dass ihm sein Leben nach der Abweisung nichts mehr wert sei. Es gibt nicht das kleinste erzählerische Indiz dafür, dass seine Rede gegenüber der Dienerin Teil eines listigen Plans wäre. Erst dann – als er schon im Schlafzimmer des gräflichen Paares steht und der Graf auf die blutige Gestalt in der derangierten Rüstung mit blankem Entsetzen reagiert – scheint er aus der Situation heraus zu realisieren, welche Möglichkeit sich ihm bietet. Die Beschreibung des ›Aufzugs‹ des Ritters findet sich übrigens nur im deutschen Text, zum Beispiel das Detail, dass die rechte Beinschiene erklanc uˆf dem esterich (V. 1551). Mauritius scheint sich zunächst einfach nur zornig-wild zu gebärden und sich erst angesichts des entsetzten Ehemanns dann als Geist auszugeben. Der Ehemann springt vom Bett hoch, stößt sich das Schienbein an und fällt in Ohnmacht. Damit, als ditz der ritter gesach (V. 1581), ist der Weg frei – nicht etwa dafür, dass er Verzeihung der Dame erhalten will, sondern dass er auf eine sehr eigentümliche Art und Weise auf seinem Minnelohn ›beharrt‹: 15
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Man könnte selbstverständlich einwenden, dass der Vers 1518 ausschließlich auf Vers 1519 zu beziehen sei, doch das scheint mir nicht sehr wahrscheinlich. zuoz gaˆn Massmann, zuo ir gaˆn Moriz Haupt, Edward Schröder, zuo zir gaˆn Pretzel 1. Aufl., zuo zin gaˆn Pretzel 2.–4. Aufl. Wenn man, wie zuletzt Fischer [Anm. 2], den Ehemann zu einer höchst komischen Gestalt erklärt, wird man diese Möglichkeit allerdings für wenig plausibel halten.
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er gienc ze dem bette und sprach: ‘ditz bette ist halbez lære, ichn weiz, wer hie wære, ich wil geruowen her an.’ daz decklachen legete er dan, er slouf zuo ir hin under, daz was ein michel wunder.
In Angst und Schrecken versetzt, wagt es die Gräfin nicht, nach ihrem Ehemann zu sehen (V. 1591), weiß nicht, ob er überhaupt noch lebt, und denkt bei sich: nu lıˆde ichz guotlıˆche, / daz im sıˆn zorn entwıˆche (V. 1607 f.). Nun sieht sie zu, dass es zwischen ihr und dem Ritter, der sich dabei zunächst passiv verhält, zu einer sexuellen Vereinigung kommt, weil sie andernfalls Schlimmeres befürchtet: 1610
1615 1618
siu kuste in und kuste in aber. deheine antwort engap er, swes si in gefraˆgete. als si des betraˆgete, si begreif in mit den armen. nu begunde er ouch erwarmen und tet der frouwen, ichne weiz waz. [. . .] ir wizzet wol, waz man tuot. also taˆten sie ouch hie.
Kaum ist dies vollbracht (zehant, V. 1620), steht der Held auf und gibt ihr den Ring zurück, beschimpft sie und schleudert ihr seine Unversöhnlichkeit entgegen (ich wil iu niemer werden holt, V. 1626; ich vergilte iu niemer meˆre / disen lasterbæren roup, V. 1636 f.). Die Gräfin ist das Opfer eines vor Enttäuschung Zornigen, der sein Handlungsziel auf eine Weise erreicht, die es abgesehen von seiner Funktion als Racheakt sinnlos macht. Hierzu passt genauso abgründig boshaft die Tatsache, dass die Gräfin die Unbescholtenheit ihres Rufs als Ehefrau des Grafen, ihre gesellschaftliche eˆre, deren Bewahrung sie gegenüber der Dienerin als oberstes Handlungsziel genannt hat, nach wie vor genießt, aber innerlich zerstört ist. Sie verzehrt sich in Sehnsucht nach dem Verlorenen. »Die Tragfähigkeit des literarischen Konstrukts ›Hohe Minne‹ wird«, so Dorothea Klein, »ausgetestet im Medium der Erzählung.«18 Insofern die Geschichte glückverheißend beginnt und so in die Katastrophe mündet, dass die von den Figuren deklarierten Ziele – für die Frau die Bewahrung ihrer Ehre, für den Mann der Beischlaf – ereicht sind und gleichzeitig ein beklemmendes Ausmaß an Zerstörung vorgeführt wird, kann dieser Aussage zugestimmt werden. Sie präzisiert ihre Feststellung dann aber auf eine Weise, die mir problematisch scheint: »genauer: im Medium des Schwanks« (ebd.). Denn die vielen Störungen, die in den Handlungsablauf eingebaut sind, machen eine Gattungszuordnung dieser Art schwierig; diese legt sich letztlich nur mit Blick auf das Fabliau nahe. Demgegenüber wären aber eher die Unterschiede zu betonen: Wenn es typisch für den Schwank ist, dass 18
Klein [Anm. 4], S. 40. Vgl. dazu auch ihren Aufsatz: ‘Mauricius von Crauˆn’ oder Die Destruktion der hohen Minne, in: ZfdA 127 (1998), S. 271–294.
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sich der intelligentere Plan durchsetzt, dass das Zurückzahlen eines Schadens oder das Überbieten eines empfangenen Schlags nur dem Klügeren gelingt, dann ist diese Regel hier in auffälliger Weise gebrochen: Es siegt, aber auf ›gebrochene‹ Weise, der nur aus dem Affekt heraus sich von einem Handlungspunkt zum nächsten bewegende Mauritius, dessen Zorn und kalter Hass in desillusionierender Entsprechung zu seinem zuvor gezeigten Minneheldentum steht. Es verliert die aus rationalen Erwägungen heraus vor der Umsetzung ihres Minneversprechens zurückschreckende Gräfin, der nur der traurige Trost bleibt, dass das ihr aufgezwungene ›Minneabenteuer‹ ihr Geheimnis bleibt; jedenfalls wird nicht erzählt, dass Mauritius sie bloßstelle. Im Gegenteil, sie verzehrt sich ja heimlich in Sehnsucht nach ihm. Es ist der Hass des Helden auf die – wie er es sieht – wortbrüchige Frau, die ihn zur diffidatio veranlasst (ebd.). Diesem Hass verleiht er unverzüglich nach dem Beischlaf im Ehebett brutalen Ausdruck. Sie hätte keinesfalls mit dieser rüden Behandlung rechnen müssen, wenn sie auf dem anscheinend doch eigens zu diesem Zwecke von ihr an ›geheimem Ort‹ bereitgestellten Prunkbett mit ihm geschlafen hätte. In der hasserfüllten Aufkündigung des Mauritius eine Probe aufs Exempel zu sehen, welche das literarische Konstrukt der Hohen Minne ad absurdum führe, wie Dorothea Klein es vorschlägt, fällt dann schwer, wenn man an einem Minimum an innerer Textlogik festhalten will. Sie argumentiert folgendermaßen: Was die Szene im Schlafgemach vorführt, ist nichts anderes als die Aufhebung jenes paradoxe amoureux, der für das Modell der Hohen Minne konstitutiv ist [. . .]: Voraussetzung für Werbung und Dienst sind Wert und Attraktivität der Dame, die sie jedoch einbüßt, sobald sie den liebenden Mann erhört. Aus diesem Grund darf sie den Mann unter keinen Umständen erhören (ebd., S. 41).
Nun ist es ja gerade die Nicht-Erhörung, die er ihr vorwirft. Man muss entschieden auf der Suche nach zur Demontage geeigneten literarischen Konstrukten sein – und die Frage zurückstellen, wieviel Anteil daran die literaturwissenschaftliche Konstruktion hat –, um den Text auf diese Weise zu entschlüsseln. Demgegenüber zielt meine Argumentation darauf, in dieser Erzählung, die im literarischen Umfeld ihrer Zeit eine auffallend singuläre Erscheinung darstellt, ein beunruhigendes literarisches Experiment zu sehen, in welchem Undurchschaubarkeit und Unübersichtlichkeit geschaffen wird: Die Intentionen und Aktionen der Gräfin werden opak, sie gehorchen keinem nachvollziehbaren Handlungsbogen; die auf die Entscheidung der Gräfin zur Absage an die Minne folgende Handlung des Mauritius lässt sich zwar als Handlungssequenz identifizieren, aber sie setzt sich zusammen aus Schritten, die sich bloßem Affekthandeln und zufällig sich einstellenden Handlungsoptionen verdankt. Dabei ergeben sich innerhalb des Textes überraschende Umkehrungen: Nachdem sich die Gräfin auf höfische Liebe eingelassen hat, bekommt sie, die sich an Vorsichtigkeits- und Klugheitsmaximen hält, den irrationalen Schrecken ins Ehebett geliefert. Der sich zunächst in Liebe nach der Gräfin verzehrende Ritter schleudert ihr seinen Hass entgegen und tobt sich anschließend ruhmreich aus, während sie vor Sehnsucht und Reue krank wird. Die Rede des Mauritius, dass er sterben müsse, falls er nicht erhört werde, erhält im Nachhinein einen bedrohlichen zweiten Sinn, der brutal sar-
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kastisch umgesetzt wird: Nach der ›Erhörung‹ jedenfalls ist er der munterste Turnierheld, den man sich denken kann. Ein Mann, der sich im Zorn als rasselndes Schreckgespenst Zutritt zum Ehebett einer Frau verschafft und zudem noch das Glück hat, dass der Ehemann sich selbst außer Gefecht setzt, eine Frau, die sich aus Angst vor diesem Mann im Bett zum ›Liebesspiel‹ genötigt sieht – so lässt sich das in dieser Erzählung aufgebotene Finale zusammenfassen, einer Erzählung, in der die Figuren den Überblick über ihr Tun verlieren. Das Handlungsfeld ›höfische Liebe‹ wird als spiegelglattes Parkett vorgeführt, doch nicht negiert oder negativiert. Dafür ist die erzählte Welt zu ›offen‹; die Liebesgeschichte hätte ja auch ein besseres Ende finden können. Aber als Handlungsfeld, das man literarisch entwerfen und erproben kann, ist es besonders geeignet für ein Erzählen, das Intentionen der Figuren entwirft und zugleich verdunkelt, sie Ziele erreichen lässt um den Preis der Entwertung des Ziels. Diese nicht gerade optimistisch stimmende Art erzählerisch umgesetzter ›Handlungstheorie‹ lässt sich als Eigenprofil dieses Textes festhalten.
Wer sieht wen? Zum Erzählverfahren in der ‘Kudrun’ von Heike Sahm I Die ‘Kudrun’ steht im Schatten des ‘Nibelungenliedes’. Nicht nur gilt das ‘Nibelungenlied’ als mehr oder minder wichtiger »hermeneutischer Schlüssel« zur ‘Kudrun’, weil Kudrun am Ende als eine Art Anti-Kriemhild eine Politik der Versöhnung verfolgt.1 Auch formal ist die Zusammengehörigkeit der beiden Werke nicht zu leugnen: Wie das ‘Nibelungenlied’ baut die ‘Kudrun’ auf dem Erzählschema der Brautwerbung auf, nur wird dieses Schema vielfach variiert;2 die Kudrunstrophe gilt als Modifikation der Nibelungenstrophe,3 ja die ‘Kudrun’ enthält sogar eine ganze Reihe von Nibelungenstrophen,4 und schließlich sind die Parallelen in Satzbau und Wortwahl der beiden Texte immer wieder so auffallend, daß der in der Forschung gezogene Schluß naheliegend erscheinen kann, die ‘Kudrun’ sei letztlich nichts als eine epigonale Stilkopie des ‘Nibelungenliedes’.5 Das Unbehagen an dieser Bewertung ist nicht gering, und die folgenden Überlegungen schließen an andere Versuche an, der ‘Kudrun’ Aspekte abzugewinnen, die sich als eigener Beitrag zum Facettenreichtum großepischen Erzählens im 13. Jahrhundert verstehen lassen.6 1
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Eine Skizze der Forschungsdiskussion und Literaturangaben in: Werner Hoffmann, Kudrun, in: Mittelhochdeutsche Romane und Heldenepen, hg. von Horst Brunner, Stuttgart 1994 (bibliogr. erg. Ausg. 2004), S. 293–310. Hinrich Siefken, Überindividuelle Formen und der Aufbau des ‘Kudrun’-Epos (Medium Aevum 11), Stuttgart 1967, S. 164: »Neunfach wird das Schema der Brauterwerbung verwendet«; Tatjana Rollnik-Manke, Personenkonstellationen in mittelhochdeutschen DietrichEpen (Europäische Hochschulschriften I/1764), Frankfurt a. M. u. a. 2000, S. 127–153. Zum Strophenbau Karl Stackmann in der Einleitung zu seiner Ausgabe: Kudrun, hg. von Karl Bartsch. Neue ergänzte Ausgabe der 5. Aufl., überarb. und eingel. v. K. S., Wiesbaden 1980, S. XC ff. Vgl. zuerst Emil Kettner, Der Einfluß des ‘Nibelungenliedes’ auf die Gudrun, in: ZfdPh 23 (1891), S. 145–217; ferner Stackmann in der Einleitung zu seiner Ausgabe aus dem Jahr 1980 [Anm. 3], S. XLVI f. mit weiterführender Literatur; diese Einl. wieder in: Nibelungenlied und Kudrun, hg. von Heinz Rupp (WdF 54), Darmstadt 1976, S. 561–598; vgl. auch die neue Auflage der Ausgabe von Stackmann (ATB 115), Tübingen 2000. Dazu Mark Pearson, Fremdes Heldentum: der Fall ‘Kudrun’, in: Fremdes wahrnehmen – fremdes Wahrnehmen. Studien zur Geschichte der Wahrnehmung und zur Begegnung von Kulturen in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. von Wolfgang Harms und C. Stephen Jaeger, Stuttgart/Leipzig 1997, S. 153–166, hier S. 163; Barbara Siebert, Rezeption und Produktion. Bezugssysteme in der ‘Kudrun’ (GAG 491), Göppingen 1981, S. 39 f. Kerstin Schmitt, Poetik der Montage. Figurenkonzeption und Intertextualität in der ‘Kudrun’ (Philologische Studien und Quellen 174), Berlin 2002 ; Gisela Vollmann-Profe, Kudrun – eine kühle Heldin, in: Blütezeit. FS L. Peter Johnson, hg. von Mark Chinca, Joachim
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Ansetzen möchte ich bei der Frage nach den Perspektivenwechseln in der ‘Kudrun’. Während der höfische Roman bevorzugt aus der Perspektive des Helden erzählt wird, sind häufige Perspektivenwechsel gattungstypisch für die Heldenepik,7 wie aus den folgenden Beispielen hervorgeht. Das eigentliche Augenmerk gilt jedoch einer Textpassage in der ‘Kudrun’, deren hohe Dichte an Perspektivenwechseln in Hinblick sowohl auf die Gattung im Allgemeinen als auch auf das ‘Nibelungenlied’ im Besonderen das Übliche bei weitem übersteigt.
II Einen typischen Anlaß für den Wechsel von Perspektiven in der Spielmanns- und Heldenepik bietet das Strukturmodell der Brautwerbung: Der unterschiedliche Informationsstand der listigen Werber und der Seite der Braut wird dadurch bewußt gemacht, daß mit der Ankunft Rothers in Konstantinopel oder Gunthers auf Isenstein die Perspektive zu denjenigen wechselt, die die Schauseite der Ankömmlinge wahrnehmen sollen.8 Einen solchen Strangwechsel können wir in der ‘Kudrun’ ebenfalls beobachten. Mit der Ankunft der Hegelinge vor Irland und für die Dauer ihres Aufenthaltes dort wird die Perspektive im wesentlichen darauf gelegt, wie die Irländer die Fremden wahrnehmen.9 Auch die Entführung Hildes wird nicht aus Sicht
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Heinzle und Christopher Young, Tübingen 2000, S. 231–244; Franz H. Bäuml, ‘Kudrun’ lesen: Zum Körper in der Mündlichkeits-/Schriftlichkeitsforschung, in: 7. Pöchlarner Heldenliedgespräch: Mittelhochdeutsche Heldendichtung außerhalb des Nibelungen- und Dietrich-Kreises (Kudrun, Ortnit, Waltharius, Wolfdietriche), hg. von Klaus Zatloukal (Philologica Germanica 25), Wien 2003, S. 21–35; Ian R. Campbell, ‘Kudrun’. A Critical Appreciation, Cambridge 1978. Hans-Joachim Ziegeler, Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispeln und Romanen (MTU 87), München/Zürich 1985, S. 268 f. mit Anm. 22; zur Begriffswahl Wolf Schmid, Elemente der Narratologie (Narratologia 8), München u. a. 2005; Gert Hübner, Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im ‘Eneas’, im ‘Iwein’ und im ‘Tristan’ (Bibliotheca Germanica 44), Tübingen/Basel 2003; Burkhard Niederhoff, Fokalisation und Perspektive. Ein Plädoyer für friedliche Koexistenz, in: Poetica 33 (2001), S. 1–21. Zur Ankunft der Burgunden auf Isenstein vgl. Monika Schausten, Der Körper des Helden und das ‘Leben’ der Königin: Geschlechter- und Machtkonstellationen im ‘Nibelungenlied’, in: ZfdPh 118 (1999), S. 27–49; Joachim Bumke, Die Quellen der Brünhildfabel im Nibelungenlied, in: Euphorion 54 (1960), S. 1–38; Hans-Hugo Steinhoff, Die Darstellung gleichzeitiger Geschehnisse im mittelhochdeutschen Epos. Studien zur Entfaltung der poetischen Technik vom Rolandslied bis zum ‘Willehalm’ (Medium Aevum 4), Marburg 1963, S. 83 f.; Horst Wenzel, Szene und Gebärde. Zur visuellen Imagination im ‘Nibelungenlied’, in: ZfdPh 111 (1992), S. 321–343; zu Rothers Ankunft in Konstantinopel Haiko Wandhoff, Der epische Blick. Eine mediengeschichtliche Studie zur höfischen Literatur (Philologische Studien und Quellen 141), Berlin 1996, S. 225 f. Hilde und ihre Tochter Hilde sehen die reichen Geschenke der Fremden (300,1); die Kämmerer sollen kommen und die Schätze der Gäste schouwen (307,3): doˆ sis rehte ersaˆhen, doˆ nam si der gaˆbe michel wunder (307,4); man redet so viel von ihnen, daß Hilde sie gerne sehen möchte (328,4); die Königin sieht Wate (334,3); alle wollen sehen, wie die fremden Leute sich verhalten (338,4); Hilde sieht, daß Wate sich in der Gegenwart von Frauen
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ˆf der Entführer, sondern aus der Wahrnehmung der Zurückbleibenden geschildert: U zuhten si die segele, die liute saˆhen daz (446,1); doˆ der wilde Hagene die gewaˆfenten sach (447,1); erzogen sach man waˆfen (449,3); man sach die kocken von dem stade vliezen (449,4). Kaum sind sie außer Sichtweite, wechselt die Perspektive zu den fliehenden Dänen und dem ihnen entgegeneilenden Hetel – bis sie ihren Verfolger Hagen mit seinen Schiffen erkennen (489; 492) und es zum Kampf kommt. Danach wird die Perspektive für den Rest des Hildeteils wieder zu Hagen verlegt.10 Der Strang- und Perspektivenwechsel in ‘Nibelungenlied’, ‘Rother’ oder ‘Kudrun’ ist in diesen Fällen eine Funktion des Erzählschemas der listigen Brautwerbung. Ähnlich verhält es sich bei der Ankunft der Boten Hildes bei Hetel. Sie sollen Hetel, der seinem künftigen Schwiegersohn Herwig gegen einen Überfall durch den abgewiesenen Sifrid beisteht, über den Überfall und die Entführung Kudruns durch den dritten Werber, Hartmut, unterrichten. Hier wird zunächst berichtet, wie Hilde ans Fenster eilt, um die Boten abreisen zu sehen (802); dann werden die Boten auf ihrer Reise begleitet, bis sie am zwölften Tag dorthin kommen, wo sie die Hegelinge sehen (812). Kaum erkennen sie das Ziel ihrer Reise, werden sie ihrerseits wahrgenommen: Zunächst sieht Fruote sie kommen (814), dann geht Hetel dorthin, wo er sie sieht (815). Der Perspektivenwechsel dient hier der Zusammenführung der beiden Erzählstränge. – Solche optischen oder akustischen Verknüpfungen von Handlungssträngen finden wir auch im ‘Nibelungenlied’ oder im ‘Willehalm’: »Wenn eine Figur des zweiten Stranges die Ereignisse des ersten sieht oder hört, benötigt der Erzähler keine eigene Übergangsform – die Handlung wechselt den Strang gleichsam ohne sein Zutun.«11 Nicht als epische Technik, sondern als Thema behandelt Haiko Wandhoff das Vorherrschen optischer Eindrücke in der höfischen Literatur. Für Wandhoff ist die »Kultur der Sichtbarkeit« eine Folge des Medienwechsels: Die Schrift biete Möglichkeiten, das Sehen umfassend zu thematisieren, und so sei in der Klassik eine Dominanz der optischen Wahrnehmung in den Texten auszumachen.12 Der epische Blick –
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unwohl fühlt (345,2), usw. Diese Wahrnehmung der Fremden durch die Irländer wird, abgesehen von jener Passage, in der sich die Verschwörer mit Hilde und untereinander über die Flucht besprechen (393–430), im wesentlichen beibehalten bis zur überstürzten Abreise. Nach der friedlichen Beilegung des Kampfes sieht er Hilde auf sich zukommen (538,1); er will sein Kind seine Wunden nicht sehen lassen (539,1); er fährt mit nach Dänemark und sieht die Macht Hetels (550,1). Hagen wird dann zum Ende des Hildeteils aus der Handlung verabschiedet mit dem Kommentar, er hätte zu weit entfernt gewohnt, um seine Tochter weiterhin zu sehen (559,2). Steinhoff [Anm. 8], S. 40 f. zum ‘Willehalm’; ebd., S. 82 zum Strangwechsel im ‘Nibelungenlied’; vgl. dazu etwa die Ankunft der Burgunden an Etzels Hof im ‘Nibelungenlied’, Strophe 1719: Dietrich reitet den Burgunden entgegen; 1720 Hagen sieht Dietrich und die Seinen kommen; 1723 Dietrich sieht, daß die Burgunden ihm entgegen kommen. Wandhoff [Anm. 8], hier S. 387. Vgl. auch Horst Wenzel, Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995; sowie den Sammelband: Audiovisualität vor und nach Gutenberg. Zur Kulturgeschichte der medialen Umbrüche, hg. von Horst Wenzel, Wilfried Seipel und Gotthard Wunberg (Schriften des Kunsthistorischen Museums 6), Wien 2001.
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so Wandhoff – richte sich vor allem auf die Darstellung der sozialen Interaktion und der materiellen Prachtentfaltung beim höfischen Fest, denn die Inszenierung des Festes wie auf einer Schaubühne sei zentral für die Selbstvergewisserung der höfischen Gesellschaft.13 In diesem Entwurf findet auch die ‘Kudrun’ ihren Platz: Daß Königin Uote im ersten Teil der ‘Kudrun’, dem Hagenteil, ihren Mann, Sigeband, ermahnt, endlich einmal wieder ein Fest auszurichten, weil er sich mit seinen Leuten zu selten »sehen lasse«, zeigt nach Wandhoff an, daß das Fest »in verblüffender Ausschließlichkeit mit der Auslösung von Blickkontakten identifiziert« werde.14 – Die im Hagenteil erkennbare Visualisierung der höfischen Festkultur kann der »modernen« Seite des Epos zugerechnet werden; sie läßt sich auch in den Festschilderungen der anderen ‘Kudrun’-Teile finden.15 Doch die Frage nach höfischen Schauräumen läßt jenen Passus in den Aventiuren 26–28 unberücksichtigt, in dem sehr viel öfter als in den Festschilderungen thematisiert wird, wer wen sieht.
III Bereits Hinrich Siefken hat in Bezug auf einige Strophen dieses Abschnitts (Strophen 1354–1493) von einem »Vorherrschen der optischen Eindrücke« gesprochen:16 Kudrun soll nach 14 Jahren in der Gefangenschaft Hartmuts von Ormanie von ihren Verwandten befreit werden. Die Situation der Schlacht wird so geschildert, daß den gegnerischen Parteien auf dem Schlachtfeld zwei gegnerische Parteien in der umkämpften Burg entsprechen: Den Kampf der Hegelinge gegen die Entführer Hartmut und Ludwig beobachten von der Burg aus Hartmuts Mutter (Gerlint) und Schwester (Ortrun) einerseits und Kudrun und ihre 62 mitgefangenen Mädchen andererseits. In der Forschung wird darauf hingewiesen, daß Kudruns Rolle während der Schlacht der Rolle der Frauen bei höfischen Schaukämpfen entspreche.17 Siefken hat für die 27. Aventiure ferner hervorgehoben, daß der Erzähler die »Darstellung der Teichoskopie« gewählt habe,18 und Gisela Vollmann-Profe vermutet, er habe sich dabei am ‘Willehalm’ orientiert. Wie Gyburg und Willehalm von der Mauer Oransches herab die immer neuen Ankömmlinge ihres Heeres beobachten, so halte Hartmut vor dem Beginn der Schlacht von der Zinne herab Umschau über das Schlachtfeld.19 Betrachtet 13 14
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Vgl. Wandhoff [Anm. 8], S. 169–258. Ebd., S. 198; vgl. zu dieser Szene auch Vollmann-Profe [Anm. 6], S. 234 f.; Schmitt [Anm. 6], S. 220 f. Tobias Bulang, Visualisierung als Strategie literarischer Problembehandlung. Beobachtungen zu ‘Nibelungenlied’, ‘Kudrun’ und ‘Prosa-Lancelot’, in: Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Texten und Bildern, hg. von Horst Wenzel und C. Stephen Jaeger (Philologische Studien und Quellen 195), Berlin 2006, S. 188–212. Siefken [Anm. 2], S. 146 Anm. 11 mit Hinweis auf die Strophen 1395–1398. Pearson [Anm. 5], S. 160–162; Theodor Nolte, Das ‘Kudrun’-Epos – ein Frauenroman? (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 38), Tübingen 1985, S. 40, in diesem Sinne zu Herwigs Angriff als Schaukampf. Siefken [Anm. 2], S. 145. Vollmann-Profe [Anm. 6], S. 242; zur Fensterschau im ‘Willehalm’ auch Steinhoff [Anm. 8], S. 41–43 und 83; Schmitt [Anm. 6], S. 170 und 264.
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man, wie nachdrücklich in dieser Textpassage von der Wahrnehmung der Figuren her erzählt wird, dann erscheinen beide Aspekte: Augenzeugenschaft der Frauen und Fensterschau als Resultat eines spezifischen, für diesen Passus gewählten Erzählverfahrens: In der Nacht vor der Schlacht beziehen die Angreifer unterhalb der Burg Stellung. Sie sind den Blicken der Feinde verborgen, können aber ihrerseits den Wohnsitz Ludwigs sehen. Am nächsten Morgen wechselt die Darstellung zu Kudrun und ihren Mädchen in der Burg. Eine Magd Kudruns hält nach den Rettern Ausschau, um sich den versprochenen Lohn zu verdienen (1355,3); sie sieht das Heer (1356,3) und weckt Kudrun, die nun ihrerseits zum Fenster geht und nach den Schiffen der Retter sieht (1359,1). Damit ist die zweite Partei auf der Höhe der Ereignisse, es folgt nun unmittelbar darauf die Wahrnehmung durch die dritte. Als der Ruf von Ludwigs Wächter morgens die Belagerung durch die Hegelinge und ihre Verbündeten verkündet (1360), hört ihn allein Gerlint. Sie steht auf, sieht nach und findet die Warnung des Wärters bestätigt. Als sie Ludwig unterrichtet, will er nichts hören, sondern selber sehen, was geschehen ist (1363). Er sieht die Zeichen seiner Gegner und weckt Hartmut. Beide sehen gemeinsam durch das Fenster (1366). Es folgt nun jene viel beachtete Rede Hartmuts, in der er seinen Vater darüber unterrichtet, wen er sieht: Er erkennt ein Zeichen, das wohl zu Sifrid von Morland gehört (1367,4), er sieht, daß dieser Held wohl 20.000 Mann mitgebracht hat (1369,2); ferner sieht er das Zeichen Horands (1369,4); er sieht Fruote (1370,2); er kann Ortwin sehen (1371,1), und er sieht die Fahne Hildes (1372,1); er sieht eine weitere Fahne mit dem Zeichen Herwigs (1373,1), und schließlich kann er im Gefolge Irolts die Friesen und Holsteiner sehen (1374,2). Nach dieser Umschau laufen die Kampfvorbereitungen an, und gegen den Willen Gerlints werden alle vier Burgtore geöffnet. Horand bläst dreimal in sein Horn (1392–1394), ehe noch einmal völlige Ruhe eintritt (1395). Kudrun steht obene in der zinne (1395) und sieht die Hegelinge, die mit Hartmut kämpfen wollen. Nun wird Hartmut auf dem Kampfplatz eingeführt, und danach werden noch einmal sämtliche Angreifer mit ihrem Gefolge und ihrer Position benannt (1397–1402). Im Rahmen dieser Aufzählung wird betont, daß Gerlint und Ortrun ebenfalls oben auf der Zinne stehen (1400). Die Umschau über den Kampfplatz endet dann wieder bei Hartmut (1403). Hartmut wird von Ortwin gesehen (1404), der zunächst fragt, wer er sei, und auf die Antwort hin den Kampf beginnt. Die Schilderung des Zweikampfs wird unterbrochen durch einen weiteren Überblick über die Kämpfenden mit Nennung aller Hegelinge (1411–1416), darunter Herwigs, dessen Erwähnung den Anlaß bietet, an Kudruns Augenzeugenschaft zu erinnern (1413,4 ez sach allez Kudrun diu junge). Dann kehrt die Erzählung zu Ortwin und Hartmut zurück: Ortwin wird von Hartmut verletzt und von seinen Leuten gerettet (1418–1419). Daß Ortwin verwundet ist, sieht Horand (1420). Als er erfährt, daß Hartmut der Urheber sei, reitet Horand Hartmut nach. Hartmut hört Kampflärm und will seine verwundeten Getreuen rächen. Er wendet sich um und sieht Horand (1423,1). Sie kämpfen, und auch Horand wird verwundet (1424). Dann kommt Herwig ins Blickfeld: Herwig sieht Ludwig
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(1430,3) und fragt nach seiner Identität. Ludwig hört ihn und gibt sich selbst zu erkennen. Nach der Reizrede beginnt der Kampf. – Als Herwig stolpert, sieht er hinauf zur Burg in der Sorge, Kudrun könne Zeugin gewesen sein (1440,3). Es bleibt unklar, ob Kudrun den Stolperer tatsächlich gesehen hat. Die Angst vor einer Blamage aber läßt Herwig Ludwig ein weiteres Mal angreifen. Ludwig hört ihn kommen (1443,1), wendet sich um, und es kommt zum Kampf, in dessen Verlauf Herwig Ludwig erschlägt. Die Kämpfe gegen Hartmut und Ludwig zerfallen jeweils in zwei Phasen: Die Sichtbarkeit von Wunde bzw. Stolperer führt zur Erneuerung des Kampfes, im einen Fall durch Horand, im anderen Fall durch Herwig selbst. Der Erzähler zieht sich weitgehend zurück; die Handlung schreitet im wesentlichen fort, indem Wahrnehmung und Handeln der jeweiligen Akteure aneinandergereiht werden. Im nun folgenden Abschnitt (1441–1493) werden die raschen Wechsel in der Figurenperspektive noch genauer miteinander verzahnt: Von der Burg herab sehen die Leute Ludwig sterben; sie klagen laut, und diese Klage ist nun wiederum einerseits auf der Burg von Kudrun zu hören, die es mit der Angst zu tun bekommt, und andererseits hört man die Klagerufe auf dem Schlachtfeld, wo sie den noch uninformierten Hartmut zu dem Versuch veranlassen, wieder in die Burg zu gelangen. Er sieht, daß man ihm von der Burg aus zu Hilfe kommt, indem man Steine auf Wate herabwirft. Wate aber kümmert allein die Frage, wie man den Sieg erreichen kann (1455). Nun sieht Hartmut Wate im Weg stehen (1456,1). Es folgt die zweite teichoskopische Umschau Hartmuts: Er spricht seine Leute an: Ir recken, schouwet selbe (1458,1), und nun zählt Hartmut auf, was er sieht: Er sieht das Zeichen des Herrn von Morriche vor dem einen Burgtor (1459,3); vor derm zweiten Burgtor sieht er den Bruder Kudruns (1460,1 f.); vor dem dritten sieht er Herwig (1461,1) und kommentiert, daß Kudrun ihn wohl gerne sehe (1461,4). Die Augenzeugenschaft der Frauen ist also auch Hartmut bewußt. Vor dem letzten Burgtor schließlich steht Wate (1462). – Wie zu Beginn der Kampfhandlungen, so wird auch kurz vor deren Abschluß die Umschau über das Schlachtfeld aus Hartmuts Perspektive gegeben, ungeachtet jeder Wahrscheinlichkeit. Denn daß Hartmut alle vier Burgtore seiner Burg gleichzeitig ›sehen‹ kann, ist von seinem Standpunkt im Schlachtgetümmel her kaum plausibel zu machen. – Hartmut beschließt aufgrund seiner aussichtslosen Lage, weiter zu kämpfen und es mit Wate aufzunehmen (1466). Der Standpunkt wechselt nun zu Wate, der Hartmut kommen sieht (1467,1). Während sie kämpfen, hört Hartmut die Klage von Gerlint (1471,1). Die allgemeine Klage der Burgleute, von der zuvor die Rede gewesen war, wird nun auf Gerlint zentriert, die von der Klage zum Handeln übergeht und – hier erweisen sich Kudruns Befürchtungen nach dem Totschlag an Ludwig als berechtigt – einen Mörder für Kudrun dingt (1471). Der Mörder will gleich ans Werk gehen und eilt dorthin, wo Kudrun sich mit ihren Mädchen aufhält (1472). Wieder wechselt der Standpunkt: Kudrun sieht den Mörder mit gezückter Waffe auf sich zukommen und schreit (1474). Den Schrei nun wiederum hört unten auf dem Schlachtfeld Hartmut (1475,1), er blickt auf und sieht (1475,2), warum Kudrun sich so ängstlich verhält. Er schreit hinauf zur
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Burg, und der Mörder tritt von seinem Vorhaben zurück. Die Handlung wird nun zunächst auf der Burg fortgesetzt: Zu Kudrun kommt Ortrun, die weiß, daß Hartmut gegen Wate kämpft, und die Niederlage ihres Bruders befürchtet. Kudrun geht ans Fenster, winkt und fragt nach der Identität der Angreifer. Nach der stereotypen Wechselrede, in der Kudrun und Herwig sich einander zu erkennen geben, findet Kudrun Gehör, und Herwig unterbricht unter Einsatz seines Lebens den Kampf zwischen Wate und Hartmut (1493). In der skizzierten Textpassage wird aus der Wahrnehmung der Figuren heraus erzählt. Freilich kann man fragen: Macht es einen großen Unterschied, ob gesagt wird: Man half ihnen von der Burg aus mit Steinschleudern – oder ob es heißt: Sie sahen, daß man ihnen von der Burg aus mit Steinschleudern half? Ob gesagt wird: Wate stand vor dem Burgtor – oder ob es heißt: Hartmut sah Wate vor dem Burgtor stehen? Ob gesagt wird: Einer von Hartmuts Leuten will Kudrun erschlagen; oder ob es heißt: Kudrun sieht, daß sie ermordet werden soll. Die Dimension der Perspektivierung ist gering, und vermutlich deshalb ist sie bislang nicht herausgestellt worden. Doch auch wenn die Figurenperspektive kaum durch Innenweltdarstellung vertieft wird, ermöglicht sie dem Erzähler, sich weitgehend aus der Darstellung der Handlung zurückzuziehen. Zwar fallen zunächst noch disponierende Bemerkungen (1427,1 Nu laze wir si muoten swaz si nu gezeme oder 1428,1 Man kunde iu von in allen geliche niht gesagen), dann aber wird die Sukzession der Handlung im Alternieren der Standpunkte zwischen den gegenerischen Parteien erzählt, und der rasche Wechsel zwischen den Perspektiven von Freund und Feind, von Burg und Schlachtfeld macht den Reiz dieses Erzählabschnittes aus. Die angestrebte szenische Unmittelbarkeit, die mit dem Schwinden der narrativen Vermittlungsinstanz einhergeht, kann womöglich erklären, warum die Erkennungsszenen Eingang in die Schlachtschilderung gefunden haben: Ortwin und Hartmut, Herwig und Ludwig, Kudrun und Herwig müssen sich in Wechselreden umständlich gegenseitig identifizieren, obwohl sich die jeweiligen Gesprächspartner ja bereits an ihren Zeichen bzw. – bei Herwig und Kudrun – im Gespräch am Vortag erkannt haben.20 Das Interesse an der szenischen Vertiefung, wie der Dialog sie ermöglicht, ist in diesen Fällen größer gewesen als das an der Wahrung der Erzähllogik. Entsprechend ist die zweimalige teichoskopische Darstellung ein Mittel, Hartmut und nicht den Erzähler eine Beschreibung der Situation geben zu lassen. Die Rolle der Frauen geht in der höfischen Beobachterrolle nicht auf. Auch wenn Kudruns »Handlungsspielraum während der militärischen Operationen auf eine weibliche Sphäre eingeschränkt ist«,21 handeln Kudrun, Gerlint und Ortrun, wenn sie klagen, zur Rache aufrufen, schreien, um Hilfe bitten und das Kampfgeschehen zu unterbrechen suchen. An keiner anderen 20
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Zur Doppelung der Erkennungsszene zwischen Herwig und Kudrun vgl. Siefken [Anm. 2], S. 152; Stackmann [Anm. 3], S. XVI. Zur Reizrede: Norbert Voorwinden, Kampfschilderungen und Kampfmotivationen in der mittelhochdeutschen Dichtung. Zur Verschmelzung zweier Traditionen in der deutschen Heldendichtung, in: Helden und Heldensage. Otto Gschwantler zum 60. Geburtstag, hg. von Hermann Reichert und Günter Zimmermann (Philologica Germanica 11), Wien 1990. Schmitt [Anm. 6], S. 250.
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Stelle in der ‘Kudrun’ wird die Doppelseitigkeit von Vorgängen mit einer vergleichbaren Intensität vorgeführt: Das zeigt der Abgleich mit einer ähnlichen Konstellation, nämlich dem Überfall Herwigs auf Hetels Burg, mit dem er nach der Ablehnung durch Hetel Kudrun doch noch für sich gewinnen will: Der morgendliche Ruf des Wächters kündet von fremden gesten (vgl. 693,3); Hetel und Hilde gehen ans Fenster (641) und erkennen, daß Herwig ihre Burg überfällt. Hetel eilt hinunter zum Kampf, während Kudrun von oben zusieht und schließlich zum Frieden mahnt (644, 649). Die Wahrnehmung bleibt im ganzen Abschnitt auf seiten der Hegelinge. Wir erfahren nichts darüber, was Herwig sieht. – Aus der wichtigsten Vorlage erscheint die Dichte der Perspektivenwechsel nicht angeregt.22 Zwar finden wir auch im ‘Nibelungenlied’ im Rahmen der Kampfhandlungen an Etzels Hof Perspektivenwechsel: So heißt es etwa im ‘Nibelungenlied’, nachdem die Kampfhandlungen an Etzels Hof eskaliert sind, wiederholt, daß der Spielmann Volker sieht, daß ein Angriff erfolgen wird (1837,2; 2252,1). Mehrfach wird die Kampfsituation erzählt, daß ein Recke sieht, wie ein anderer erschlagen wird (2284,1; 2289,1; 2298,3) und daraufhin in den erwartbaren furor verfällt.23 – Doch als ein mit dem erzählten Geschehen über eine vergleichbar lange Passage logisch verbundenes Gestaltungsprinzip ist der Wechsel der Figurenperspektive im ‘Nibelungenlied’ nicht auszumachen. Somit bleibt diese Passage von rund 150 Strophen ein Einzelfall in der ‘Kudrun’, der nicht mit dem Hinweis auf die Gattung allein zu erklären ist. Auffallend ist, daß die neuen Errungenschaften höfischer Synchronisationstechnik bei der Ausgestaltung in diesem Erzählabschnitt allenfalls eine untergeordnete Rolle spielen. Der ‘Kudrun’-Dichter erreicht in dieser Passage keine Mehrsträngigkeit, sondern der Effekt von Gleichzeitigkeit wird allein durch die rasche Reihung der Perspektivenwechsel erreicht; der Modus der Darstellung bleibt die nach Andreas Heusler so benannte »einsträngige Reduktionsform«.24
IV Es ist wohl kein Zufall, daß sich die Leistung des Epikers ausgerechnet in der Weiterentwicklung eines vorhöfischen Erzählverfahrens erweist; die Perspektivenwechsel sind ein weiteres Indiz dafür, daß sich in dem so spät überlieferten Text Spuren seiner
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Zur Literaturkenntnis des Kudrun-Dichters vgl. die Arbeit von Schmitt [Anm. 6]; Vollmann-Profe [Anm. 6], S. 236. Jan-Dirk Müller, Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998, S. 201–248 zur nibelungischen Anthropologie. Anders Vollmann-Profe [Anm. 6], S. 242 Anm. 40, die im Blick auf die hier behandelte Aventiurenfolge von »souveräner Gestaltung einer Parallelhandlung« spricht; zur Erzähltechnik in der Heldenepik vgl. Andreas Heusler, Lied und Epos in germanischer Sagendichtung, Dortmund 1905; Burghart Wachinger, Studien zum ‘Nibelungenlied’. Vorausdeutungen, Aufbau, Motivierung, Tübingen 1960; zur Mehrsträngigkeit Steinhoff [Anm. 8].
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Entstehung im Übergangsbereich zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit erhalten haben. Perspektivenwechsel gelten in der anglistischen Forschung als Merkmal der Nähe zur Mündlichkeit. Die ‘Beowulf’-Forschung begründet das Verfahren der shifting points of view mit den Erfordernissen einer Gesellschaft der Oralität: Der Sänger habe im Vortrag eine größere Wirkung auf sein Publikum erzielen können, indem er aus der jeweiligen Figurenperspektive berichte und dies durch die entsprechende Pantomime unterstütze. Dies werde im ‘Beowulf’ dadurch erreicht, daß mal aus der Sicht Beowulfs erzählt werde, mal aus der Perspektive des Strandwächters, der Beowulfs Schiff am Strand landen sieht, mal aus der Perspektive der Gefolgsleute, mal aus der von Beowulfs Neffen Wiglaf, und last but not least: aus der des Monsters Grendel. Als Grendel sich der Methalle nähert, wird nicht sein Aussehen oder sein Gang beschrieben, weil die Annäherung an die Methalle aus der Sicht des Monsters gegeben wird: Raþe æfter þon on fagne flor feond treddode, eode yrremod. Him of eagum stod ligge gelicost leoht unfæger. Geseah he in recede rinca manige, swefan sibbegedriht samod ætgædere, magorinca heap. (724b–730a) (‘After that the fiend advanced, angry at heart, swiftly stepped on to the patterned floor. From his eyes, very like fire, there gleamed an ugly light. Within the hall he saw many warriors, a band of kinsmen sleeping, a troop of young warriors all together.’)25
Aufgrund der Beobachtungen zum Perspektivenwechsel im ‘Beowulf’ hat Alain Renoir die Visualisierung nicht zur Errungenschaft der Schriftlichkeit, sondern zur besonderen Leistung mündlicher Dichtkunst erklärt: The visual evocation of an action, if it is to prove effective upon a first hearing, requires not only a careful selection of details, but also – and perhaps especially – the presentation of these details from an appropriate point of view. A given action visualized at close range is likely to assume in the beholder’s mind a much greater importance than the same action visualized at a great distance.26
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Text und Übersetzung nach: Beowulf. Revised edition, ed. with an Introduction, Notes and New Prose Translation by Michael Swanton, Manchester/New York 1997. Vgl. auch: Beowulf und die kleineren Denkmäler der altenglischen Heldensage Waldere und Finnsburg. Mit Text, Übersetzung, Einleitung und Kommentar sowie einem Konkordanz-Glossar, in drei Teilen, hg. von Gerhard Nickel (Germanische Bibliothek, vierte Reihe: Texte), Heidelberg 1976; Beowulf. Ein altenglisches Heldenepos, übers. und hg. von Martin Lehnert, Stuttgart 1986. Alain Renoir, Point of View and Design for Terror in ‘Beowulf’, in: Neuphilologische Mitteilungen 63 (1962), S. 154–167, hier S. 157, wieder in: The Beowulf Poet. A Collection of Critical Essays, ed. by Donald K. Fry, Englewood Cliffs, New Jersey 1968, S. 154–166. Für diese These von einer Nähe des Erzählverfahrens zur Mündlichkeit spricht, daß – und hier folge ich den Ausführungen Peter Clemoes’ – das Prinzip des Perspektivenwechsels im Mittelenglischen nicht mehr anzutreffen ist. Vgl. Peter Clemoes, Action in ‘Beowulf’ and the Perception of It, Old English Poetry: Essays in Style, ed. by Daniel G. Calder, Berkeley/
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Nun nimmt die ‘Kudrun’ in der Debatte um die mündliche oder schriftliche Entstehung mittelhochdeutscher Heldenepen nur eine Nebenrolle ein.27 Nachdem sich der Versuch Edward Haymes’, die Mündlichkeit des Textes in Anlehnung an die oral poetry-Forschung mit seiner Formeldichte zu begründen, nicht durchsetzen konnte,28 wird die Entstehung des überlieferten Textes in einer Kultur der Schriftlichkeit nicht mehr bezweifelt, denn die Abhängigkeit der ‘Kudrun’ vom ‘Nibelungenlied’ wiegt schwer und scheint schon an sich gegen einen eigenen Zeugniswert der ‘Kudrun’ für eine mündliche Erzähltradition zu sprechen. Zwar ist bekannt, daß es eine mittelhochdeutsche Erzähltradition zum Hilde-Stoffkreis im 12. Jahrhundert gegeben hat.29 Im überlieferten Text aus dem ‘Ambraser Heldenbuch’ sei nichts mehr davon greifbar, und die Forschung hat den vorliegenden Text zum Produkt des 13. Jahrhunderts erklärt.30 Auch Harald Haferland schätzt – ganz gegen die generelle
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Los Angeles 1979, S. 147–168. Vgl. auch Peter Richardson, Point of View and Identification in ‘Beowulf’, in: Neophilologus 81 (1997), S. 289–298. Harald Haferland, Mündlichkeit, Gedächtnis und Medialität. Heldendichtung im deutschen Mittelalter, Göttingen 2004. Alfred Ebenbauer, Improvisation oder memoriale Konzeption? Überlegungen zur Frühzeit der germanischen Heldendichtung, in: Varieties and Consequences of Literacy and Orality. Formen und Folgen von Schriftlichkeit und Mündlichkeit. FS Franz H. Bäuml zum 75. Geburtstag, hg. von Ursula Schaefer und Edda Spielmann, Tübingen 2001, S. 5–31, bes. die Bibliographie S. 25–31; zur Kritik an den gängigen Modellbildungen auch Lorenz Deutsch, Die Einführung der Schrift als Literarisierungsschwelle. Kritik eines mediävistischen Forschungsfaszinosums am Beispiel des ‘König Rother’, in: Poetica 35 (2003), S. 69–90; Fritz Peter Knapp, Das Dogma von der fingierten Mündlichkeit und die Unfestigkeit heldenepischer Texte, in: Chanson de geste im europäischen Kontext. Ergebnisse der Tagung der Deutschen Sektion der ICLS 2004, hg. von Hans-Joachim Ziegeler (Encomia Deutsch 1), Göttingen 2008, S. 73–88; Jan-Dirk Müller, »Improvisierende«, »memorierende« und »fingierte« Mündlichkeit, in: ZfdPh, Sonderheft zum Band 124, 2005: Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur, hg. von Joachim Bumke und Ursula Peters, S. 159–181; Joachim Heinzle, Nibelungensage und ‘Nibelungenlied’ im späten Mittelalter, in: Forschungen zur deutschen Literatur des Spätmittelalters. FS Johannes Janota, hg. von Horst Brunner und Werner Williams-Krapp, Tübingen 2003, S. 15–30. Edward Haymes, Mündliches Epos in mittelhochdeutscher Zeit, Göppingen 1975 (GAG 164); zum Formelschatz s. auch: James Graham Torrance, A Concordance to the Middle High German ‘Kudrun’, Los Angeles 1993; Einwände gegen die Anwendung der oral poetry-Theorie auf die europäische Heldendichtung zusammengefaßt bei Klaus von See, Was ist Heldendichtung?, in: Europäische Heldendichtung, hg. von dems. (WdF 500), Darmstadt 1978, S. 1–38; vgl. auch Karl Stackmann, ‘Kudrun’, in: 2VL 5 (1985), Sp. 410–426. Zur Stofftradition Stackmann in der Einleitung zu seiner Ausgabe [Anm. 3]; vgl. auch Inga Wild, Zur Überlieferung und Rezeption des ‘Kudrun’-Epos. Eine Untersuchung von drei europäischen Liedbereichen des ‘Typs Südeli’ (GAG 265), Göppingen 1979; Roswitha Wisniewski, Kudrun, Stuttgart 1963, S. 71–73; Werner Hoffmann, Die Hauptprobleme der neueren ‘Kudrun’-Forschung, in: WW 14 (1964), S. 183–196, hier S. 187–190; Donald J. Ward und Franz H. Bäuml, Zur ‘Kudrun’-Problematik: Ballade und Epos, in: ZfdPh 88 (1969), S. 19– 27; Theodor Nolte, Wiedergefundene Schwester und befreite Braut: Kudrunepos und Balladen, Stuttgart 1984 (Helfant Studien 4), Göppingen 1979. Schmitt [Anm. 6], S. 12; vgl. auch Nolte [Anm. 17], S. 45. Auch bei Alois Wolf, Heldensage und Epos. Zur Konstituierung einer mittelalterlichen volkssprachlichen Gattung im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit (ScriptOralia 68), Tübingen 1995, spielt die
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Stoßrichtung seines Buches – die Beweiskraft des Textes für die mündliche Erzähltradition gering ein: »Vielmehr ist der Dichter der ‘Kudrun’ offensichtlich eingehört in das Nibelungische, er hat dessen Lexik und Syntax im Ohr und nutzt beides in freier Verfügung.«31 Einiges aber spricht dafür, die ‘Kudrun’ in die Diskussion um die Entstehung und Tradierung der Heldenepik wieder einzubeziehen. Wenn man zu den bekannten Indizien der mitunter fehlenden Stringenz des Textes32 den hier vorgestellten Perspektivenwechsel und den von Bäuml als vortragstypisch herausgestellten Gebärdenstil rechnet,33 dann gibt es durchaus Anhaltspunkte dafür, daß die Kudrun ist, was man ihr in der neueren Forschung überwiegend abspricht: ein fehlendes Zwischenglied auf dem Weg von der Dialogizität des Liedes zur Narrativik des Epos.
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‘Kudrun’ keine Rolle. Zur Überlieferung vgl. Kudrun. Die Handschrift, hg. von Franz H. Bäuml, Berlin 1969. Haferland [Anm. 27], S. 93. Vgl. Stackmann in der Einleitung zu seiner Edition [Anm. 3], S. XVIII; ders., ‘Kudrun’ [Anm. 28]. Bäuml [Anm. 6], S. 33 f.
Hamhleypa – Skaldik als Verwandlungskunst Zur ‘Ho˛fuðlausn’-Episode in der ‘Egils saga skalla-grı´mssonar’ von Philipp Theisohn
Die Sonderstellung der Skaldendichtung innerhalb der älteren germanischen Literaturen liegt zweifellos in ihrem Erscheinungszusammenhang begründet. Wenn wir von ›Skaldik‹ sprechen, dann meinen wir in der Regel damit jene Lyrica, die die altnordische Erzählprosa des 12. und 13. Jahrhunderts durchziehen, die innerhalb des jeweiligen Textes gleichwohl als ›Dokumente‹ der hinter der Erzählung liegenden historischen Wirklichkeit des 9. und 10. Jahrhunderts fungieren. Folgt man den Be´ lafs saga helga’ gibt,1 so lassen gründungen, die etwa Snorri in seiner Vorrede zur ‘O sich die Verse als ein Textelement begreifen, das den Zusammenschluss des SagaErzählers mit seinem Gegenstand authentifizieren soll.2 Die Altnordistik ist dieser Vorstellung lange Zeit gefolgt und hat ihr Augenmerk folgerichtig vorzugsweise auf die Textgenealogie, auf verborgene Textschichten, auf die Beziehung von mündlicher Dichtung und schriftlicher Narrativik gerichtet. (Und das gilt eben nicht nur für Fragen der Konjekturalkritik, sondern kann sich durchaus auch auf die mündliche ›Vorprägung‹ ganzer Erzählstränge beziehen.)3 Der Zusammenhang zwischen Epik und Lyrik wird somit primär in einer Konstellation der Originarität gesucht.4 Han1
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Snorri Sturluson, Heimskringla, hg. von Bjarni AdÑalbjarnarson, Bd. II. (I´slenzk Fornrit 27), Reykjavı´k 32002, S. 422: En þo´ þykki me´r þat merkiligast til sannenda, er berum orðum er sagt ı´ kvæðum eða o˛ðrum kveðskap, þeim er sva´ var ort um konunga eða aðra ho˛fðingja, at þeir sja´lfir heyrðu, eða ı´ erfikivæðum þeim, er ska´ldin fœrðu sonum þeira. Þau orð, er ı´ kveðskap standa, eru in so˛mu sem ı´ fyrstu va´ru, ef re´tt er kveðit, þo´tt hverr maðr hafi sı´ðan numit at o˛ðrum, ok ma´ þvı´ ekki breyta. (‘Gleichwohl scheint mir das die bedeutsamste Bekräftigung zu sein, welche in klaren Worten in Liedern und sonstiger Dichtung über Könige und andere Herrscher gesprochen wurde, und zwar auf jene Weise, in der diese selbst es gehört haben, oder in Gedenkliedern, die ihren Söhnen durch Skalden vermacht wurden. Die Worte, welche in der Dichtung stehen, sind so, wie sie ursprünglich waren – spricht man sie in rechter Weise –, wenn sie auch bereits mancher von anderen übernommen hat [also nicht mehr vom Skalden selbst], und sie sind nicht zu ändern.’) Ausführlich hierzu Preben Meulengracht Sørensen, The Prosimetrum Form. 1: Verses as the Voice of the Past, in: Skaldsagas. Text, Vocation, and Desire in the Icelandic Sagas of Poets, hg. von Russell Poole (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 27), Berlin/New York 2001, S. 172–190. Dies bei Torfi H. Tulinius, The Prosimetrum Form. 2: Verses as the Basis for Saga Composition and Interpretation, ebd., S. 191–217. Zur mittlerweile 30 Jahre zurückliegenden Debatte um die genealogischen Verhältnisse zwischen prosaischer und poetischer Rede in der Sagaliteratur vgl. Theodore M. Andersson, Skalds and Troubadours, in: Mediaeval Scandinavia 2 (1969), S. 7–41; Bjarni Einarsson, On the Role of Verse in Saga-Literature, in: Mediaeval Scandinavia 7 (1974/75), S. 118–125; Klaus von See, Skaldenstrophe und Sagaprosa. Ein Beitrag zum Problem der mündlichen Überlieferung in der altnordischen Literatur, in: Mediaeval Scandinavia 10 (1977), S. 58–82;
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delt es sich um Skaldensagas, dann ist dieser Zusammenhang biographischer resp. dokumentarischer Natur: Der Protagonist der Erzählung tritt mit seiner eigenen Stimme hervor. Die Worte, in denen sich die Wirklichkeit des Skalden nochmals abbildet, sind seine eigenen, oder zumindest sind es die Worte, die er ›gesagt haben könnte‹.5 Abseits jener Logik der ›Authentifikation‹, in der reinen Funktionalität des Erzählens, erweist sich die Einbettung des lyrischen Sprechens in das chronistische Erzählen indessen als eine hermeneutische Herausforderung. Die Skaldendichtung ist in höchstem Maße situativ determiniert. In der Regel übersetzt der Skalde ein bereits im Erzähltext vorweggenommenes oder durch ihn nachträglich expliziertes Geschehen in die Sprache der kenningar und heiti. Prosaische und poetische Darstellung laufen parallel. Das lyrische Sprechen spiegelt das Erzählgeschehen in einem Modus der Verrätselung ab, überführt die Fakta (bei denen es sich freilich auch um Träume handeln kann)6 in das dro´ttkvætt und den skaldischen Thesaurus, in dessen unentwegter Erweiterung auch die poetische inventio gesucht werden muss. Von einer ›Poetologie‹ der Skaldik ist man hier also weit entfernt. Über die situative Notwendigkeit der Lyrik erfahren wir in der Regel nichts, auch wenn klar sein sollte, dass die Skaldik nicht zuletzt auch als eine Sprachhandlung aufgefasst werden muss,7 deren spezifische Signifikanz eben im Akt (und nicht im Inhalt) zu suchen wäre. Das lyrische Sprechen fände seine Begründung somit in der Handlungslogik der erzählten Welt – und dort müsste diese Begründung, wenn man sich bestimmte Handlungsfolgen einmal genauer anschaut, auch wieder aufzufinden sein. Auf der Suche nach einer strukturell schlüssigen Erklärung der Lyrisierung fällt unsere Aufmerksamkeit dabei auf die ‘Egils saga skalla-grı´msonnar’. Die Egils-Saga, entstanden zwischen 1225 und 1230, nimmt innerhalb des Genres zweifellos eine exponierte Position ein. Mit Egil Skalla-Grimsson, geboren um 910 und gestorben nicht vor 990, steht im Grunde die Präfiguration des isländischen Skalden in ihrem Zentrum. Das Interesse der Erzählung gilt gleichwohl nur sehr bedingt der poetischen Begabung Egils. Im Vordergrund steht zweifellos seine modellhafte kulturelle Identität, die sich aus dem ererbten Konflikt mit dem norwegischen Königshaus einerseits und Egils offiziellem Übertritt zum Christentum (den er – viel früher als seine isländischen Zeitgenossen – in England durch die Primtaufe vollzieht) andererseits ergibt. Das Hauptaugenmerk der Saga gilt dem Wikinger, nicht dem Skalden Egil. Sein angeborenes dichterisches Potential wird freilich thematisiert. Schon früh zeigt sich, dass Egil bra´tt ma´lugr ok orðvı´ss – ‘ein gesprächiges und wortweises Kind’ – ist.8 Im Alter von drei Jahren dichtet er seine ersten beiden Strophen, und
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Dietrich Hofmann, Sagaprosa als Partner von Skaldenstrophen, in: Mediaeval Scandinavia 11 (1978/79), S. 68–81. Vgl. Meulengracht Sørensen [Anm. 2], S. 189 f. Zentral ist die Skaldik als Medium der Traummitteilung fraglos in der ‘Gı´sla saga su´rssonar’, die ihren Protagonisten – Gı´sli – einer wiederkehrenden Traumprophezeiung aussetzt, die der Außenwelt nur über den Vers mitgeteilt werden kann. Zu dieser Perspektivierung Thomas Bredsdorff, Speech Act Theory and Saga Studies, in: Representations 100 (2007), S. 34–41. Zitation im Folgenden nach: Egils Saga Skalla-Grı´mssonar, hg. von Sigurður Nordal (I´slenzk Fornrit 2), Reykjavı´k 1988, hier S. 80.
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man feiert ihn für seine Dichtkunst. Seine besondere Sprachfähigkeit tritt allerdings alsbald völlig zugunsten der zweiten Beigabe der väterlichen Abstammung, seiner übernatürlich anmutenden Kräfte, zurück. Nur selten erinnert sich der Erzähler an Egils skaldisches Talent, im Grunde wird dieses als bekannt vorausgesetzt und ab und an durch die Einschaltung von Skaldenstrophen exemplifiziert. Eine direkte Reflexion auf die Prinzipien, die Bedeutung oder die Praxis der Dichtung fehlt dementsprechend vollkommen. ›Am Werk‹ sieht die Saga den Skalden Egil allerdings dennoch einmal, nämlich in der sogenannten Ho˛fuðlausn (‘Haupteslösung’). Zur Vergegenwärtigung: Auf seiner zweiten Fahrt nach England erleidet Egil Schiffbruch und muss in Nordimbraland an Land gehen. Dort erfährt er, dass das Gebiet mittlerweile unter der Verwaltung des ins englische Exil geflohenen Eirik Blodöx – Egils Erzfeind und Erbfolger König Haralds von Norwegen – steht. In Sorge um sein Leben sucht Egil nun in Jorvik seinen Freund Arinbjörn auf, der in Eiriks Diensten steht. Dieser rät ihm, eine mögliche Konfrontation mit Eiriks Männern um jeden Preis zu vermeiden und statt dessen in seiner Begleitung Eirik selbst aufzusuchen und ihn um Aussöhnung zu bitten. In diesem Zusammenhang kommt nun erstmals wieder die Skaldik als strategisches Vermögen Egils zum Vorschein: Nach Arinbjörns Plan soll Egil sein Leben in die Hand Eiriks geben und durch ein Loblied auf den König sein freies Geleit aushandeln. Im Gespräch mit König und Königin trifft Arinbjörn die Abmachung, dass Egil eine Nacht bleibt, um seine zwanzigstrophige dra´pa zu dichten. Diese eine Nacht, die über sein Leben entscheidet, verbringt Egil in Arinbjörns Schlafhaus. Das Vorhaben lässt sich zunächst aber nicht gut an. Als Arinbjörn sich nach Egils Vorankommen erkundigt, bekommt er die Antwort, dass bisher noch nichts gedichtet sei: hefir he´r setit svala ein við glugginn ok klakat ı´ alla no´tt, sva´ at ek hefi aldregi beðit ro´ fyrir.9 (‘Hier hat eine Schwalbe beim Fenster gesessen und die ganze Nacht gezwitschert, so dass ich niemals davor Ruhe finden konnte’.) Arinbjörn will der Sache auf den Grund gehen, er setzt sich an das besagte Fenster, an dem vormals die Schwalbe Egils Dichtung gestört hatte. Hier beobachtet er nun etwas Seltsames: hann sa´, hvar hamhleypa no˛kkur fo´r annan veg af hu´sinu.10 (‘Er sah, wie irgendeine hamhleypa das Haus auf einem anderen Weg verließ.’) Der Gast, der sich aus Egils Zimmer entfernt, ist eine hamhleypa, ein Wesen, das seine Hülle (hamr) von sich ‘springen lassen’ (hleypa) und eine neue annehmen kann. Von der Herkunft und Bedeutung dieser Figur wird gleich zu handeln sein; im Rahmen der angesprochenen Passage besitzt sie zweifelsfrei eine katalytische Funktion. Kaum hat die hamhleypa den Raum verlassen, beginnt Egil mit der Komposition und wird bis zum Morgen mit ihr fertig. Wir erfahren nichts über die Beziehungen zwischen der Schwalbe, dem Skalden, seiner Dichtung und der hamhleypa, und es liegt somit ganz beim Leser, einen sinnvollen Zusammenhang herzustellen oder es einfach bei der Abfolge der Phänomene 9 10
Ebd., S. 182 f. Ebd., S. 183.
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bewenden zu lassen. Entscheidet man sich für ersteres, so liegt es auf der Hand, dass der Schlüssel zur Deutung dieser Szene in der Erwähnung der hamhleypa zu suchen ist. Deren Fährte führt letztlich von den historischen Erzählungen in die Welt der fornaldarsögur, zu denen auch die ‘Vo˛lsunga Saga’ zählt, in der die Mutter König Siggeirs in Gestalt einer Wölfin neun Brüder Signys tötet, bis sie Sigmund im Kampf bezwingt.11 Signy bittet dort ihrerseits eine seið kona, eine ‘zauberkundige Frau’, um einen Gestaltentausch (skiptum ho˛mum), der ihr dann zur Flucht vor ihrem Gemahl, zum Inzest mit ihrem Bruder und zur Geburt des Völsungensprosses Sinfjötli verhilft.12 Auch Sigurd und Gunnar vertauschen – wie es Grimhild sie gelehrt hat – die Gestalt, um Sigurds Pferd Grani durch Brynhilds Waberlohe reiten zu lassen.13 In der Hauptsache bezieht sich das Phänomen der hamhleypa allerdings auf die Verwandlung von Menschen in Tiere.14 In den ‘Völsungen’ werden etwa Sigmund und Sinfjötli kurzzeitig in Wölfe verwandelt (nachdem sie Wolfsfelle zur Tarnung angelegt haben),15 in der ‘Ha´lfdanar saga Eysteinssonar’ verwandeln sich Valr und seine Söhne Köttr und Kisi in Flugdrachen.16 Auf dem Feld der I´slendinga sögur, deren Anspruch ein historischer ist, verliert sich die Spur der hamhleypur allmählich. Wenn sie doch einmal dort auftauchen, wie etwa in der ‘Þorskfirðinga saga’, in der sich sowohl die Gegner als auch die Verbündeten Þorirs aus Notsituationen zu retten versuchen, indem sie sich in Schweine verwandeln,17 dann geschieht dies bereits im Gestus des mythischen Zitats.18 Es handelt sich im Grunde weniger um Kulturphänomene als um narrative Strategien, um Ironisierungen, die mit der Figurentradition arbeiten, ohne ihr eine Funktionalität zuzugestehen, die über die Erzählsituation hinausreicht. Für die Szenerie, in der Arinbjörn die hamhleypa beobachtet, gilt das gleichwohl nicht. Die Erscheinung ist hier nicht vordergründig motiviert, sondern in ihrer Kontextualisierung geradezu rätselhaft. Welche Verbindung besteht zwischen Egils kreativem Prozess und der Figur? Und welche Bedeutung hat hier überhaupt das Motiv des Gestaltwandels, das im Text nicht einmal präzisiert wird? 11
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Vo˛lsunga Saga. The Icelandic Text according to MS Nks 1824 b, 4°, hg. von Kaaren Grimstad, Saarbrücken 2000, S. 90 [6v]. Ebd., S. 92 f. [7r und 7v]. Ebd., S. 172 [31v]. Mit dieser Verwandlungsform, die natürlich vor allem die berserkerhaften Transformationen in Bären und Wölfe betrifft, beschäftigt sich ausführlich Hilda R. Ellis Davidson, Shapechanging in the Old Norse sagas, in: Animals in folklore, hg. von J. R. Porter und W. M. S. Russell, Ipswich/Cambridge 1978, S. 126–142. Vo˛lsunga Saga [Anm. 11], S. 96 f. [8v und 9r]. Ha´lfdanar saga Eysteinssonar, in: Fornaldar sögur Norðurlanda IV, hg. von Guðni Jo´nsson, Reykjavı´k 1954, hier S. 284 f. Þorskfirðinga saga, in: HardÑar Saga, hg. von Þo´rhallur Vilmundarson und Bjarni Vilhja´lmsson (I´slenzk Fornrit 13), Reykjavı´k 1991, S. 200 f. und 217. Hierzu ausführlich Phil Cardew, Hamhleypur in Þorskfirðinga saga: a postclassical ironisation of myth?, in: Proceedings of the 11th International Saga Conference, hg. von Geraldine Barnes und Margaret Clunies Ross, Sydney 2000, S. 54–64.
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Man kann dieses Geschehen auf zweifache Weise auflösen. Naheliegend wäre es, Egil beim Wort zu nehmen. Die Schwalbe hat ihn beim Dichten gestört, und wenn man nun voraussetzt, dass sich hinter der Schwalbe die genannte (und doch unspezifizierte) hamhleypa verbirgt, dann übersetzt sich das Szenario wie folgt: Jemand möchte Egils Rettung verhindern, verwandelt sich in das Tier, wird von Arinbjörn gestört und flieht in anderer Gestalt. Nach der Logik der Erzählung käme hierfür nur eine Person in Frage, das ist Eiriks Frau Gunnhild, von der Arinbjörn zuvor sagt, dass sie ‘all ihr Sinnen darauf richten wird, deine Sache misslingen zu lassen’ (mun allan hug a´ leggja at spilla þı´nu ma´li).19 In der Unterredung zwischen Arinbjörn und Eirik ist sie es, die jegliche Schonung Egils – des Mörders ihres Sohnes Bard – ablehnt und betont, dass sie das Loblied nicht hören wolle (vil ek eigi heyra orð hans ok eigi sja´ hann).20 Eine Motivation wäre also gegeben, und auch die Typologie wäre durchaus stimmig: die Verwandlungskünste sind in der Hauptsache ein Metier der Frauen. Nach dieser Lesart entziffert sich diese Passage demnach als ein vereitelter Anschlag der Königin auf Egils Leben. Das macht Sinn, und die Forschung hat dementsprechend die Identität von Königin und Gestaltwandlerin nie hinterfragt.21 Dennoch gibt die Art und Weise, wie das Geschehen durch den Erzähler wiedergegeben wird, Anlass zum Zweifel. Zum einen ist es doch auffällig, dass Gunnhilds Beteiligung an dieser Szene nirgends explizit und auch später nicht wieder aufgegriffen wird. Es wäre ein Leichtes gewesen, die hamhleypa in irgendeiner Weise Gunnhild zuzuordnen oder gar für die Folgeauseinandersetzung fruchtbar zu machen. Dass der Text diesbezüglich alle Möglichkeiten ausschlägt und nicht einmal einen Hinweis auf einen Anschlagsplan Gunnhilds gibt, muss irritieren. Zum zweiten finden sich in der altnordischen Literatur keine weiteren Belege für einen solchen Störzauber. (Dementsprechend muss Nordal bei der Kommentierung dieser Stelle auch auf die christliche Patrologie ausweichen, die natürlich die Störung des Gebetes durch den Teufel kennt.)22 Hinzu kommt ein Drittes: Gunnhild mag sich zwar aufs Giftmischen verstehen;23 davon aber, dass sie in den fiolkyngi kundig sei, ist nirgends die Rede. Im Gegenteil ist derjenige, der sich auf den Umgang mit Zauberei versteht, vielmehr Egil, der seine ‘Sigrdrifuma´l’ gründlich gelesen hat und die Runenmagie beherrscht.24 Nehmen wir die drei Einwandsargumente zusammen, so scheint es nicht unredlich, noch eine andere Spur zu verfolgen, um das Rätsel dieser Passage aufzuhellen. Womöglich ist es nur bedingt sinnvoll, Egil beim Wort zu nehmen. Jene Verzögerung der Dichtung durch den Schwalbengesang dient offensichtlich nicht zuletzt dazu, den 19 20 21
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Egils Saga Skalla-Grı´mssonar [Anm. 8], S. 182. Ebd., S. 181. Kurt Schier etwa fasst die Passage in seinem Kommentar ganz unmissverständlich unter dem Titel ‘Gunnhilds Zauber’ (Egils Saga. Die Saga von Egil Skalla-Grimsson, hg. und aus dem Altisländischen übers. von Kurt Schier, München 1996, S. 283). Vgl. Egils Saga Skalla-Grı´mssonar [Anm. 8], S. 183 Anm. 1. Ebd., S. 108 f. Ebd., S. 109, 229 f.
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Genius des Skalden besonders hervorzuheben, dem die dra´pa nun nicht nur in einer einzigen Nacht, sondern sogar nur innerhalb weniger Stunden gelingt. Die Lektüre wäre demnach auf den Kopf zu stellen: Das Erscheinen der Schwalbe bewahrheitet erst den echten Skalden – und gleiches gilt entsprechend dann auch für die verwandelte Gestalt. Hinter dem unvermittelten und unzulänglich motivierten Auftauchen der hamhleypa verbirgt sich dann weniger ein stringenter Handlungsfaden als vielmehr ein Handlungsprinzip, aus dem heraus der dichterische Prozess sich erklären lässt. Es ginge dann also um ein Inspirationsgeschehen, und das, was der Herse Arinbjörn von außen beobachtet, wäre tatsächlich ein Vorgang, der die Funktionalität der Skaldendichtung innerhalb der altnordischen Literatur bestimmbar machen würde. Wird die Skaldik strukturell enggeführt mit dem Motiv der Transformation, so ergeben sich hieraus drei Deutungsmöglichkeiten: 1. In der Skaldik manifestiert sich eine Verwandlung, deren Gründe strategischer Natur sind, mit deren Hilfe man sich eben ggf. aus einer misslichen Lage befreien könnte. 2. Die Skaldik setzt einen Verwandlungsvorgang voraus. Sie ist Ausdruck eines Vermögens, das nicht von Mensch zu Mensch weitergegeben werden kann, sondern von einer Instanz verliehen wird, die sich den Menschen nur auf dem Umweg des skiptum ho˛mum nähern kann. 3. Schließlich: Die Skaldik besitzt selbst Kräfte der Verwandlung. Ihr kultureller Wert läge demnach in der Möglichkeit eines aktiven Eingreifens in bestehende – historische – Verhältnisse durch die Sprache. Für jeden dieser drei Aspekte lassen sich mit Blick auf die ‘Ho˛fuðlausn’ Argumente finden, nimmt man sich die Zeit, den Signalen des Textes zu folgen und diese in der Vorstellungswelt des 13. Jahrhunderts zu verankern. Beginnen wir beim Nächstliegenden. Fragen wir uns, wo die Praxis der Verwandlung in der ‘Egils Saga’ wirklich ihren Sitz hat, dann stoßen wir einzig und allein auf ´ lfr, der – wie sein Egils Familiengeschichte, zuvörderst auf seinen Großvater Kveld-U Name andeutet – gegen Abend sein Wesen verändert, so dass seine Zeitgenossen davon ausgingen, at hann væri mjo˛k hamrammr – ‘dass er fähig war, seine Gestalt zu verändern’.25 hamrammr bezeichnet letztlich einen Spezialfall der hamhleypa: die Verwandlung in eine Gestalt von übermenschlicher Stärke (rammr), ein Attribut, das – im Gegensatz zur hamhleypa – ausschließlich Männern zuerkannt wird. In Egils Familie vererbt sich diese Fähigkeit bekanntlich: auch Egils Vater Skalla-Grim wächst am Abend zu solch einer Stärke heran, dass er im Spiel versehentlich Egils Freund Thord tötet.26 Diese Verwandlungsvorstellung entstammt letztlich dem Bereich des bersercsgangr, und nicht von ungefähr ist das Berserkertum in der ‘Egils Saga’ in ´ lfrs Gefährte Berðlu-Ka´ri ein Berauffälligem Maße präsent. So ist bereits Kveld-U 25 26
Egils Saga Skalla-Grı´mssonar [Anm. 8], S. 4. En um kveldit eptir so´larfall, þa´ to´k þeim Agli verr at ganga; gerðisk Grimr þa´ sva´ sterkr, at hann greip Þo´rd upp ok keyrði niðr sva´ hart, at hann lamðisk allr, ok fekk hann þegar bana (ebd., S. 101).
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serker, und eine der eindrücklichsten Episoden der Saga ist zweifellos Egils Aufeinandertreffen mit dem Berserker Ljo´tr, den er im Holmgang tötet. Was hat nun das Berserkertum mit der Skaldik zu tun, und inwiefern betrifft dies nun Egils ‘Ho˛fuðlausn’? Die Verbindung zwischen Berserkern und Skalden schlägt ein Text, der sich nicht nur in Details mit der ‘Egils Saga’ des öfteren überschneidet, sondern aller Voraussicht nach auch den Autor teilt (nämlich Snorri): die ‘Heimskringla’.27 Im sechsten Kapitel der dort enthaltenen ‘Ynglinga saga’ erfahren wir, dass Skalden und Berserker zum gleichen Volk gehören, nämlich zum Hofstaat Odins, von dem es dort heißt: Mælti hann allt hendingum, sva´ sem nu´ er þat kveðit, er ska´ldskapr heitir. Hann ok hofgoðar ´ ðinn kunni sva´ gera, hans heita ljo´ðasmiðir, þvı´ at su´ ı´þro´tt ho´fsk af þeim ı´ Norðrlo˛ndum. O at ı´ orrostu urðu o´vinir hans blindir eða daufir eða o´ttafullir, en va´pn þeira bitu eigi heldr en vendir, en hans menn fo´ru brynjulausir ok va´ru galnir sem hundar eða vargar, bitu ı´ skjo˛ldu sı´na, va´ru sterkir sem birnir eða griðungar. Þeir dra´pu mannfo´lkit, en hva´rtki eldr ne´ ja´rn orti a´ þa´. Þat er kallaðr berserksgangr.28 (‘All sein [Odins] Reden war in Versen, die Weise, wie er sprach, nennt man heute Skaldenkunst. Ihn und seine Tempelpriester nannte man Liederschmiede, denn die höfische Kunst in den Nordländern stammt von ihnen. Odin vermochte es, in der Schlacht seine Feinde blind oder taub oder furchtsam werden zu lassen, und ihre Klingen waren ihm nichts mehr als Stäbe; seine Männer aber zogen aus ohne Rüstung und waren toll wie Hunde oder Wölfe, sie bissen in ihre Schilde, waren stärker als Bären oder Bullen. Sie töteten viele Männer, und weder Feuer noch Stahl konnte ihnen etwas anhaben. Das nannte man berseksgangr.’)
Besagte Verwandtschaft in Odins Gefolge – dies unser Verdacht – stiftet den eigentlichen, den strukturellen Zusammenhang zwischen Egil, der hamhleypa und der ‘Ho˛fuðlausn’. Der Skalde steht vor der übermenschlichen Aufgabe, eine ganze dra´pa in einer Nacht zu dichten. Es steht außer Frage, dass es sich hierbei um keinen ›Arbeitsprozess‹ handelt, sondern vielmehr um ein eruptives Geschehen – und der Erzähler macht aus dieser Tatsache auch keinen Hehl. Zu erwarten wäre demnach, dass die Episode in Arinbjörns Haus nichts anderes verhandelt als das Moment skaldischer Inspiration. Alle menschliche Dichtkunst, also das, was man eben ska´ldskapr nennt, kommt – wie uns die ‘Ynglinga saga’ wissen lässt – von Odin. Egil wird dieses Wissen in der ‘Ho˛fuðlausn’ selbst mehrfach aufrufen; so beginnt er die dra´pa mit den Versen: Vestr fo´rk of ver, en ek Viðris ber munstrandar mar, sva´’s mitt of far; dro´k eik a´ flot við ı´sa brot,
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Zum Verhältnis von ‘Egils Saga’ und ‘Heimskringla’ vgl. Melissa A. Berman, Egils saga and Heimskringla, in: Scandinavian Studies 54 (1982), S. 21–50. Snorri Sturluson, Heimskringla, hg. von Bjarni AdÑalbjarnarson, Bd. I. (I´slenzk Fornrit 26), Reykjavı´k 42002, S. 17.
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hlo´ðk mærðar hlut mı´ns knarrar skut. Buðumk hilmir lo˛ð, þar a´k hro´ðrar kvo˛ð, ´ ðins mjo˛ð berk O a´ Engla bjo˛ð; lofat vı´sa vann, vı´st mærik þann; hljo´ðs biðjum hann, þvı´ at hro´ðr of fann29
und unterstreicht gegen Ende, in der vorletzten Strophe, die Herkunft seiner Worte nochmals mit folgender Strophe: Jo˛furr hyggi at, hve´ ek yrkja fat, go´tt þykkjumk þat, es ek þo˛gn of gat; hrœrðak munni af munar grunni ´ ðins ægi O jo˛ru fægi.30
Durchgängig erscheint die Dichtung als Viðris munstrandar mar (‘Vidrirs Sinnstrand´ ðins mjo˛ð (‘Odins Met’) oder auch O ´ ðins ægi (‘Odins Meerflut’). Der Skalde, See’), O der dem König sein Lied vermacht, hinterlässt darin immer auch den Nachweis seiner wahren Abkunft – die ihn als einen Menschen kennzeichnet, der, hätte er sich nicht für den Moment dem König unterstellt, grundsätzlich zu fürchten wäre. Denn auch die Berserker, die toll wie Hunde oder Wölfe werden und dann in ihre Schilde beißen (wie das dann im übrigen auch von Ljo´tr berichtet wird),31 sind eben ´ ðinns menn. Egils Handeln steht somit in doppelter Beziehung unter göttlichem O Einfluss, und die Frage stellt sich, ob der Skalde nicht gerade deswegen auf dem Wege des Berserkers zu seiner Dichtung gelangt. Dort, wo seine Vorfahren am Abend zu Wölfen werden und ungeahnte Kräfte entwickeln, dort entfaltet Egil sein ungeheures poetisches Potential ebenfalls aus einer nächtlichen Verwandlung heraus. Die Skaldik verbindet sich in dieser Perspektive unmittelbar mit der Sphäre des Kampfes und der
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Egils Saga Skalla-Grı´mssonar [Anm. 8], S. 185 f. (‘Nach Westen fuhr ich / und trug von dort Vidrirs / Sinnstrand-See, / so steht es mit meiner Fahrt; / zog das Fährboot zur Flotte [ins Wasser] / als das Eis brach, / belud mit der Fracht des Liedes / das Heck meines Knörrs. // Zum Gast der Herrscher mich lud, / dort sprach ich ihm zum Ruhme, / bringe Odins Met / in der Angeln Land; / verrichtete das Lob des Fürsten, / gewiss will ich ihn rühmen; / um Gehör bitte ich ihn, / da ich zum Ruhm [ihm etwas] fand.’). Ebd., S. 192 (‘Der Fürst merke darauf, / wie ich dichtete, / gut scheint mir das, / dass ich Schweigen [also Gehör] bekam; / mit dem Mund bewegte ich / vom Grund des Sinnes / Odins Meer / für den Schmuck der Schlacht [Eirik].’). Ebd., S. 202: Ok er hann gekk fram a´ vo˛llinn at ho´lmstaðnum, þa´ kom a´ hann berserksgangr, to´k hann þa´ at grenja illiliga ok beit ı´ skjo˛ld sinn.
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Schlacht. Sie selbst ist – in der Inszenierung der Saga – Kriegswerkzeug, das über Leben und Tod befindet, kein Beiwerk, sondern ein Sprechen, das sich am äußersten Rande menschlicher Kulturalität erhebt. Vergegenwärtigen wir uns, dass die ‘Ho˛fuðlausn’ das erste der zwei in den Prosatext integrierten großen Sprachmonumente darstellt, die nicht nur als Ausweis der poetischen Ausnahmestellung Egils, sondern überhaupt als dessen ›Authentifikanten‹ fungieren sollen, so kann die Signifikanz dieser strukturellen Beobachtung nicht hoch genug eingeschätzt werden. Wenn sich in der Figur Egil Berserkertum und Skaldik überschneiden und analog funktionalisiert werden, dann wurzelt die altnordische Poesie nach Konstruktion des Saga-Erzählers in der Überführung des sprachlosen Bundes von Gott und Mensch im Berserkertum in Sprachkunst. Nun geht sich das nicht so einfach aus, denn wiewohl die hamhleypa jetzt über eine durchaus weitreichende strukturelle Begründung verfügt, so ist sie auf der Handlungsebene immer noch nicht wirklich erschlossen. Sie ist keineswegs nur Motiv, sondern in das Geschehen in Arinbjörns Schlafhaus offensichtlich involviert. Wenn die Skaldik – wie gezeigt und durch Egil bestätigt – wirklich ein Göttergesang ist, der sich in die Brust des Skalden senkt und ihn übermannt, dann sollte das hier zu sehen sein. Wie kommt Egil nun zu seiner dra´pa? Erneut hilft uns ein Blick auf die ‘Ynglinga saga’ weiter. In deren Perspektive sind göttlicher Gesang und göttliche Verwandlungskunst enggeführt; so heißt es dort: En þat bar till þess, at hann kunni þær iþro´ttir, at hann skipti litum ok likjum a´ hverja lund, er hann vildi. O ˛ nnur var su´, at hann talaði sva´ snjallt ok sle´tt, at o˛llum, er a´ heyrðu, þo´tti þat eina satt.32 (‘Man erzählte sich, dass er [Odin] sich auf derlei Künste verstand, dass er sich verwandeln und in jeder Gestalt erscheinen konnte, die er annehmen wollte. Und man sagte auch, dass er so ebenmäßig und geschickt reden konnte, dass alle, die ihn hörten, das, was er sagte, für wahr nahmen.’)
Diese Fähigkeit, die eben in der skaldischen Rede besteht, unterhält offensichtlich enge Verbindungen zum Gestaltenwandel des Sprechers, von denen es wenig später dann präziser heißt: ´ ðinn skipti ho˛mum. La´ þa´ bu´krinn sem sofinn eða dauðr, en hann var þa´ fugl eða dy´r, fiskr O eða ormr ok fo´r a´ einni svipstund a´ fjarlæg lo˛nd at sı´num ørendum eða annarra manna.33 (‘Odin pflegte seine Gestalt zu wechseln. Dann schien sein Leib, als ob er schliefe oder tot wäre, und dann wurde er ein Vogel oder eine Bestie, ein Fisch oder ein Drache und begab sich in einem Augenblick in abgelegene Länder, um seiner oder anderer Männer Sache zu walten.’)
Odin sorgt für seine Leute, und zwar ebenfalls durch das Prinzip des skipta ho˛mum. Denen, die ihn brauchen, erscheint er in jeder Gestalt – auch als Vogel. Mehr als dies: Verwandlung und Gesang sind offensichtlich zwei Seiten derselben Medaille. Die Überkreuzung beider Künste in der Manipulation der Wirklichkeit gewährleistet 32 33
Snorri Sturluson, Heimskringla, Bd. I [Anm. 28], S. 17. Ebd., S. 18.
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Odin die erfolgreiche Durchführung der Pläne, die er mit den Seinen hat. Dies fügt sich nun auch zum Bild, das wir von der Entstehung der ‘Ho˛fuðlausn’ bekommen. Aus dem vereitelten Anschlagsplan einer Königin wird mit einem Mal ein Akt göttlicher Hilfeleistung. Hinter jener Schwalbe, deren Gesang Egil angeblich vom Dichten abhält, kommt der Vater der Berserker und Skalden zum Vorschein, der seinem Schützling sein Lied eingibt und ihn dann wieder, in anderer Gestalt, verlässt. Akzeptieren wir diesen alternativen Erklärungsversuch der Szene, dann ließe sich zum grundsätzlichen Charakter der Skaldik resp. zur kulturellen Verortung, die das 13. Jahrhundert an ihr vornimmt, Wesentliches festhalten. Im besonderen Maße betrifft dies die Trennung von mythologischem und historischem Erzählen, die Snorri, wie Baldur Hafstad das ausführlich gezeigt hat, immer wieder geschickt unterläuft, indem er etwa Kernsätze aus den ‘Ha´vama´l’ zitiert und sie für die Handlungsprinzipien seiner Protagonisten fruchtbar macht.34 In der unvermittelten Erscheinung der hamhleypa wird diese verdeckte Integration für einen kurzen Moment öffentlich – und lässt hierbei das poetische Sprechen als den mythischen Untergrund des Erzählens sichtbar werden. Dies führt unweigerlich zu einem weiteren Schluss. Wenn wir die ‘Ho˛fuðlausn’ als den inszenierten Einbruch einer göttlichen Gewalt in das historische Erzählen begreifen, dann kann dies letztlich nur bedeuten, dass sich hier in der Geschichte etwas vollzieht, was außerhalb historischer Gesetzmäßigkeiten liegt. Und so ist es dann auch: Der Skalde verwandelt sich, er empfängt seine Verse aus der Verwandlung – und er verwandelt die historische Wirklichkeit selbst durch seine Dichtung hindurch. Wo Odins Gestalt ›wie tot‹ darniederliegt, während er in fremder Gestalt fortwirkt, dort macht auch der Gesang des Skalden das Tote wieder lebendig.35 Eben diese Aufgabe misst die Saga der Dichtung zu. Um die ‘Ho˛fuðlausn’ arrangiert sie ein Geschehen, das der Skaldik selbst die Funktion einer historischen Transformation zukommen lässt. In seiner dra´pa verlängert Egil zum einen das Andenken des Eirik Blodöx, und gibt ihm damit das zurück, was er ihm in seinem Sohn genommen hat.36 Zum anderen ›löst‹ er eben damit sein eigenes ›Haupt‹ aus, das sich in der Gewalt Eiriks und damit im Grunde sich bereits ›im Tode‹ befindet. In der Skaldik erhält sich die altnordische Prosaliteratur somit eine Rede, die nicht nur hinter sie zurückreicht und das Subjekt hinter der Erzählung zum Sprechen bringt, sondern durch die sich auch eine Verwandlung des Geschehens vollzieht. Der Vers doppelt das Erzählte, er scheint an der Oberfläche nichts weiter zu sein als ein decorum. Für den Saga-Schriftsteller des 13. Jahrhunderts verbirgt sich in der Dich34
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Vgl. Baldur Hafstad, Die Egils Saga und ihr Verhältnis zu anderen Werken des nordischen Mittelalters, Reykjavı´k 1995, S. 93–134. Die strategische Bedeutung der Skaldik in der ‘Egils Saga’ akzentuiert Laurence de Looze, Poet, Poem and Poetic Process in Egils Saga Skalla-Grı´mssonar, in: Arkiv för Nordisk Filologi 104 (1989), S. 123–142. Gleiches gilt dann auch für ‘Sonatorrek’, die zweite große Dichtung, mit der Egil seinen toten Söhnen ein Monument setzt und damit im Gedicht auch die eigene Erinnerung befestigt, die mit dem Verlust der Blutlinie auf dem Spiel steht.
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tung jedoch zugleich das verschüttete Prinzip eines ›wirksamen Sprechens‹, in welchem die Historie nicht nur gespiegelt, sondern auch gewandelt werden kann. Die Agenten dieses Wandels sind dabei Gestalten des Wandels, die Söhne des Vaters aller Verwandlungskünstler: der Berserker und der Skalde. Die Wunden, die der Berserker schlägt, vermag der Skalde zu heilen, und wen der Berserker tötet, der lebt fort im Gesang des Skalden. Egil ist beides – gut trifft sich das.
Zur Genese eines Herrscher-Mythos am Beispiel des serbischen Fürsten Lazar von Slavica Stevanovic´
Die osmanische Expansion feiert bereits um die Mitte des 14. Jahrhunderts ihren ersten Erfolg auf dem europäischen Kontinent – die Eroberung von Gallipoli im Jahr 1354; es folgt die Einnahme von Adrianopel (Edirne), das 1362 neuer Sultansitz wird; 1371 werden die vereinigten Heere der Balkanstaaten Bulgarien, Serbien, Bosnien und Ungarn in der Schlacht bei Marica (Bulgarien) geschlagen; danach fällt Makedonien den türkischen Siegern zu, 1382 fällt Sofia, 1386 Nisˇ (Serbien), 1393 ist schon ganz Bulgarien erobert. So kommt es in diesem Teil Europas bereits ab dem 14. Jahrhundert zu ersten konkreten Erfahrungen der Unterworfenen mit den türkischen Usurpatoren. Vereinzelte Berichte vom Schrecken der türkischen Expansion verbreiten sich zwar auch im übrigen Europa, zu einer wirklichen Verfestigung einer Türkenfurcht im kollektiven Bewusstsein der lateinischen1 Christenheit kommt es aber erst nach dem Vormarsch der Osmanen auf Konstantinopel um die Mitte des 15. Jahrhunderts und besonders nach ihrem ersten Siegeszug bis vor Wien (1529). Ihren Niederschlag findet diese Furcht auch in Deutschland in der umfangreichen ›Türkenliteratur‹2 (Türkenkalendern, Flugschriften, Traktaten, Türkenliedern, Chroniken u. v. m.). Den meisten dieser frühen Quellen ist ein generalisierend negativ gefärbtes Türkenbild und entsprechend eine überwiegend positive Charakterisierung der Christen gemeinsam. Eine Rückbesinnung auf die Einheit stiftende Kraft des Christentums und des Opfers Christi3 ist in diesen Schriften nicht zu übersehen: Zur Verteidigung gegen die Türken wird ein innerchristlicher Zusammenhalt4 beschworen, und die Türken wer1
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Nach der konfessionellen Aufteilung Europas im 11. Jh. zieht sich mitten über die Balkanhalbinsel die Grenze zwischen der (byzantinisch/griechisch geprägten) orthodoxen und der lateinischen Christenheit (katholische und später protestantische Kirchen), die bis ins späte Mittelalter am Latein als Kirchensprache festhalten. Der Balkan bleibt bis heute auch in kultureller Hinsicht eine Art ›Limeszone‹, wo der Übergang zwischen der westlichen und den östlichen (orthodoxen und muslimischen) Konfessionen verläuft. Diese Grenze betrifft nicht nur die Konfession, sondern auch die Schrift, denn die orthodoxen Slaven behalten bis heute das Kyrillische als ihre Schrift, während die katholischen und protestantischen Slaven die lateinische Schrift übernehmen. Vgl. auch Christiane Ackermann, Dimensionen der Medialität: Die Osmanen im Rosenplütschen ‘Turken Vasnachtspil’ sowie in den Dramen des Hans Sachs und Jakob Ayrer, in: Fastnachtspiele. Weltliches Schauspiel in literarischen und kulturellen Kontexten, hg. von Klaus Ridder, Tübingen 2009, S. 189–220. Vgl. exemplarisch Hans Sachs, ‘Türkische tyranney’: O unser hyrte, Jhesu Christ, / Der du gnedig barmhertzig bist, / [. . .] Errett uns aus des Thürcken hendt! Zitiert nach: Hans Sachs, hg. von Adelbert von Keller und Edmund Goetze, Bd. XXIV, Tübingen 1900, S. 23. Vgl. Balthasar Mandelreiß, ‘Türkenschrei’, 14,2: ach kristenheit, las dich erwecken [. . .]. Zi-
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den als die Andersartigen, die Fremden, als grausame Feinde stilisiert.5 Ein solches Türkenbild wird in einem Lande gezeichnet, das bis dahin keinen direkten Kontakt mit den Türken hatte, noch weniger von eigenen negativen Erfahrungen mit einer Türkenherrschaft berichten konnte; mit entsprechender Vehemenz erwacht schon hier, angesichts einer möglichen Fremdbedrohung, ein neues christliches Einheitsbewusstsein. Dieser Beitrag geht der Frage nach, wie man in anderen Ländern, die das Joch der Fremdherrschaft leidvoll zu spüren bekamen, auf die gegnerische Seite reagiert hat. Er vergegenwärtigt am Beispiel einiger wichtiger Texte des serbischen Mittelalters die historische Wende der Schlacht auf dem Amselfeld (Kosovo) im Jahr 1389. Zugleich aber versucht er zu zeigen, dass und auf welchen Wegen gerade die Situation extremer Not die Idee einer gemeinsamen Identität hervorgebracht hat.6 Es geht um das Bild des serbischen Fürsten Lazar,7 dessen Name sich im allgemeinen Bewusstsein mit dem Anfang der Türkenherrschaft über die Serben verbindet.8
I. Der historische Kontext Fürst Lazar war der erste Herrscher des serbischen mittelalterlichen Reiches, der im ausgehenden 14. Jahrhundert an die Macht kam, ohne der erbcharismatischen9 Adelsfamilie der Nemanjiden zu entstammen, einer Familie, die seit ihrem Ahnherrn Stefan Nemanja im 12. Jahrhundert allein das Recht hatte, die weltlichen und geistlichen Herrscher in Serbien zu stellen. Entsprechend schwer lastete die Bürde des Erbes seiner berühmten Vorgänger auf ihm. Von besonderer Tragweite war seine Niederlage gegen die Türken, die es ihm unmöglich machte, die Unterwerfung seiner Länder zu verhindern. Gleichwohl galt Lazar der Nachwelt als der mittelalterliche Herrscher schlechthin, und er erfährt in Serbien bis heute rückhaltlose Verehrung. Sie geht so weit, dass er sogar in einem Atemzug mit dem heiligen Sava10 genannt wird, der nicht weniger ist als der Begründer der serbischen Orthodoxie zu Beginn des 13. Jahrhunderts. Dass Fürst Lazar als erster Nichtnemanjide eine breite Anerkennung sowohl
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tiert nach: Thomas Cramer, Die kleineren Liederdichter des 14. und 15. Jahrhunderts, Bd. 2, München 1979, S. 278. Vgl. Balthasar Mandelreiß, ebd., 13,2–3: ein Türck der sei lank und preit / und hat ein pöß grausam gestalt; Sachs, ‘Türkische tyranney’ [Anm. 3]: der thürckisch wütend thyran [. . .] Ellendt ermort junckfrawen und frawen, / die kindt mitten entzwey gehawen, / Zertreten und entzwey gerissen, / An spitzig pfäl thet er sie spissen. Im vorgegebenen Rahmen muss ebenso auf eine kritische Auseinandersetzung mit der aktuellen Theoriedebatte wie auf die Einbeziehung entsprechender Texte mit Kreuzzugsthematik verzichtet werden. Priorität hat die Präsentation serbischer Primärtexte für eine deutschsprachige Leserschaft. Lazar Hrebljanovic´, geboren um 1329 in Prilepac, Kosovo, gestorben am 28. Juni 1389 in der Schlacht auf dem Kosovo polje (dt. ‘Amselfeld’). Vgl. auch Jelka RedÑep, Kosovska legenda, Novi Sad 2007, S. 111. Terminologie nach Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Studienausgabe, hg. von Johannes Winckelmann, Köln/Berlin 1956, S. 183 f. Auch er ist ein Nemanjide.
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seitens des Klerus als auch des Volkes gefunden hat, verdankt er – so besagt es jedenfalls die Überlieferung – einer Entscheidung, die auf die Niederlage in der Schlacht auf dem Amselfeld, den Verlust seines Lebens und die fast völlige Vernichtung seines Heeres11 hinauslief. Lazars Beliebtheit wuchs nach seinem Tode derart an, dass ihm im Volk der Zarentitel zuerkannt wurde; sogar eine Reihe sog. epischer Heldenlieder schmückt ihn mit dem Titel ›Zar‹. Diese Popularität wiederum war es, die zu einer frühen Heiligsprechung (bald nach seinem Tode) seitens der serbischen orthodoxen Kirche führte; der Titel ›Heiliger Märtyrer Prinz Lazar‹ als verbale Manifestation der Heiligsprechung in der orthodoxen Kirche basierte auf der Verehrung durch das Volk. Lazars Nähe zur Kirche erklärt sich u. a. damit, dass er im Jahr 1375 in Konstantinopel die Aussöhnung der serbischen orthodoxen Kirche mit der byzantinischen ›MutterKirche‹ und die Aufhebung des Kirchenbanns erwirken konnte und dass er einige Klöster gegründet und für ihren Unterhalt gesorgt hat. Doch würden diese Verdienste Lazars allein nicht ausreichen, aus ihm eine mythische Figur werden zu lassen, wie sie bis heute in Serbien in Erinnerung geblieben ist. Wenn Fürst Lazar in der serbischen Literatur seit dem Ende des 14. Jahrhunderts als charismatisch-wirkungsmächtige Figur, als eine der meistgelobten und -gefeierten Persönlichkeiten des serbischen Mittelalters gehandelt wird, dann bedeutet dies, dass sich sein Bild aus den historischen Bedingtheiten gelöst und tiefgreifend gewandelt hat. Sein Bild muss auf einer zeitlos verbindlichen Grundlage verklärt worden sein, um nachhaltig für die Nachkommenschaft ›wegweisend‹ zu werden. Auch der Weg, auf welchem der Kult um Lazar sich ausbreitete, wäre von Interesse, denn mit der Ausbreitung der osmanischen Macht geht nicht nur die weltliche Herrschaft der Serben allmählich zu Ende, sondern auch die bis dahin an den Höfen gepflegte Schriftlichkeit: Die serbische Gesellschaft wird im Grunde genommen auf die Stufe oraler Gesellschaften zurückversetzt; die Skripturalität reduziert sich fast ausschließlich auf die Kirche und die Klöster, die als einzige schrift- und traditionswahrende Institutionen im zerfallenden Serbien noch übrig waren; das Volk bleibt für Jahrhunderte des Lesens und Schreibens unkundig. Somit stellt sich die Frage, auf welchem Wege der Mythos eines charismatischen Herrschers dem Volk so nahe gebracht wurde, dass es ihn als Retter und als Ikone12 anbetete? Wie kann man sich den Vorgang vorstellen, dass jemand, der streng genommen das Unglück des Volkes zu verantworten hat, zu jemandem wird, an den sich die Hoffnung auf ein besseres Leben knüpft, zu dem man betet, um von der Gegenwart erlöst zu werden? Diesen Fragen möche ich nachgehen, indem ich zunächst das kirchliche Schrifttum und dann die entsprechenden Passagen in den Volksliedern vorstelle.
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Dies war nahezu gleichbedeutend mit der Vernichtung des serbischen Adels. Ikone ist hier im ursprünglichen Sinne des Wortes zu verstehen. – Die Bildlichkeit in Form von Ikonen, die die Wände der Klöster und Kirchen schmücken, ist für die Orthodoxie typisch.
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II. Die Figur Lazars in der Literatur für Geistliche und Gebildete13 Als Entstehungsorte für die liturgischen14 und hagiographischen Werke über den Fürsten Lazar vermutet man die zahlreichen Klöster – allen voran Ravanica, Lazars Stiftskloster. Auf diese Literatur scheinen die soteriologischen Elemente, die man mit dem Namen Lazars verbindet, zurückzugehen und von da aus ihre Ausbreitung in die epischen Volkslieder gefunden zu haben.15 Fürst Lazar und die Kosovokrieger werden hier mit den christlichen Märtyrern gleichgestellt, der Fürst in Analogie zu Jesus Christus betrachtet: Er opfert sein Leben – nicht nur für die Verteidigung der Freiheit des serbischen Volkes, also allein aus patriotischem Impuls, sondern in erster Linie für die Verteidigung des Christentums. Als charismatischem Herrscher gelingt es ihm, sein ganzes Heer für den aussichtslosen Kampf um die Rettung des heiligen Kreuzes zu motivieren – dies mit einer ermutigenden Rede, wie sie etwa in Danilos ‘(Lobes-)Wort’ bezeugt ist: Wenn Schwert und Wunden, wenn die Düsternis des Todes uns ereilt, so lasst sie uns bereitwillig für Christus und für die Ehre unseres Vaterlandes empfangen. Besser ist uns ein tapferer Tod als ein Leben in Schande.16
Bei Danilo wird die Aufopferung für Jesus Christus und für das ewige Leben hervorgehoben. Ähnlich den Abschiedsworten Jesu an seine Jünger spricht Lazar in friedlichem, ermutigendem Ton zu seinen Mitstreitern: Viel haben wir für diese Welt gelebt, lasst uns jetzt durch die heldenhafte Hinnahme des Martyriums das ewige Leben im Himmel erlangen und uns Soldaten Christi, Märtyrer in Ehren, nennen, damit wir unsere Namen in das Buch des Lebens eintragen können. Lasst uns unsere Körper nicht schonen in der Schlacht, damit wir die glanzvollen Ruhmeskränze empfangen können von dem, der über alles richtet. Die Qualen gebären den Ruhm, und die heroischen Taten führen zur ewigen Ruhe. [. . .] Und diese so mit seinen Worten zurüstend, bereitete er die Märtyrer für den bevorstehenden Heldengang.17
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Hierzu zähle ich etwa: ‘Die Vita des heiligen Fürsten Lazar’ (aus der Feder eines unbekannten Mönchs aus Ravanica, ‘Povesno slovo o knezu Lazaru’, gegen 1392–98); ‘(Lobes-)Wort an den Fürsten Lazar’ (‘Slovo o knezu Lazaru’, gegen 1392–93) des Erzbischofs Danilo III. und unter gleichem Titel eines weiteren unbekannten Mönchs aus Ravanica (zweite Hälfte des 14. Jh.s); ‘Lobgesang auf den Fürsten Lazar’ der Despotin Jelena, späterer Nonne Jefimija (zu deutsch Euphemia) (‘Pohvala knezu Lazaru’, um 1402); ‘Der ehrwürdige Fürst Lazar’ (‘Blagocˇastivi knez Lazar’, um 1402) des David, die liturgischen Lieder, aber auch die ‘Inschrift auf der Marmorstele von Kosovo’ (‘Recˇi na stubu mramornu na Kosovu’) des Despoten Stefan Lazarevic´, des Sohnes Lazars, nach 1402. All diese Texte sind vermutlich vor den epischen Gedichten des Kosovo-Zyklus entstanden. Die liturgischen Lieder werden wohl bereits ab 1390 in den Gottesdienst für den Fürsten Lazar integriert und mitgesungen, vgl. Kosovski boj u srpskoj knjizˇevnosti, hg. von Vojislav Ðuric´, Beograd 1990, S. 276 f. Vgl. auch ÐordÑe Sp. Radojicˇic´, Pocˇetak Kosovske legende, in: Knjizˇevna zbivanja i stvaranje kod Srba u srednjem veku i u tursko doba, Novi Sad 1967, S. 214. ‘(Lobes-)Wort an den Fürsten Lazar’, in: Ðuric´ [Anm. 14], S. 265. – Die Übersetzungen dieses und der folgenden serbischen Texte (ausgenommen der epischen Heldenlieder) von mir, S. St. Ebd., S. 265.
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Aus diesen Worten spricht die feste eschatologische Zuversicht in die künftige Erlösung, wenn Jesus erneut kommen wird, um über die Lebenden und die Toten zu richten. Zu solcher Art Hoffnung ermutigt der literarische Lazar die Menschen, weil sie genau das ist, was sie in schweren Zeiten brauchen. Er besitzt offensichtlich große Gewandtheit im Ausdruck, sein Führungsstil profitiert von einer gekonnten Rhetorik, getragen von der häufigen Bezugnahme auf Christus und das ewige Leben, welches auf den bevorstehenden Märtyrertod folgen werde. Die Aufforderung, lieber im Kampf zu sterben, als dem Christentum zu entsagen (denn der Sieg der Türken drohte eine potentielle Islamisierung mit sich zu bringen), ist im obigen Textausschnitt klar ausgedrückt; sie begegnet aber auch im liturgischen Lied eines unbekannten Mönchs aus dem Kloster Ravanica: [. . .] gegen die Türkenscharen hast du dich erhoben, weil du nicht ertragen konntest, dass die Gebetshäuser und heiligen Tempel in Brand gesetzt werden; deswegen wolltest du lieber für ihre Rettung sterben und dein Leben opfern. Auch hast du ertragen, dass dir der Kopf abgeschlagen wurde, und jubeltest: »Ehre sei deiner Macht, o Gott!« »[. . .] mein Blut soll fließen aus Liebe zu Christus, denn lieber liege ich am Boden in der Obhut meines Gottes, als dass ich im Vergänglichen noch lebe.«18
Man darf dabei freilich nicht außer Acht lassen, dass die oben zitierte Rede Lazars der Feder eines Erzbischofs entstammt, dem Vorbild und Lehre Jesu Christi am Herzen lagen. Entsprechend viele biblische Reminiszenzen sind in die Texte über Lazar eingeflossen. Ebenso sind andere maßgebliche Texte über Lazar von Mönchen oder Nonnen verfasst worden – ein Indiz mehr dafür, dass es die serbisch-orthodoxe Kirche war, die die wichtigsten Anstöße für eine Mythisierung Lazars gegeben hat. Die Mitstreiter des Fürsten verstehen seine Botschaft und antworten ihm nach seiner ermutigenden Rede in ähnlichem Sinne, um zu unterstreichen, dass Fürst Lazars Entscheidung für das himmlische Reich zugleich auch die einhellige Entscheidung seiner Krieger ist: Sie nehmen den Tod und das Martyrium freiwillig auf sich, aus Liebe zu Christus, ähnlich wie auch die Märtyrer der frühen christlichen Kirche: Gib uns den Tod, damit wir ewig leben können. Opfern wir unser Leben für Gott [. . .], schonen wir nicht unser Leben, damit wir dadurch für andere zum lebhaften Beispiel werden. Fürchten wir uns nicht vor einer Angst, die uns überkommt, oder vor dem Überfall der teuflischen Feinde. Wenn wir wirklich an die Angst und an den Verlust denken würden, wären wir des Guten nicht mehr würdig. [. . .] Wir werden mit den Ismailiten [Türken] kämpfen. Wenn auch das Schwert den Kopf, die Lanze die Rippen und der Tod unser Leben bedrohen, werden wir mit den Feinden kämpfen. Wir, Freunde und Mitstreiter, übernehmen von den vormaligen Kämpfern, die bereits bei Christus sind, ihre Bürde, damit wir durch Christus zum Ruhm gelangen. [. . .] Und ein Grab soll uns allen gemeinsam sein, und ein Feld soll unsere Körper und Gebeine in sich aufnehmen, damit der Garten Eden uns glorreich empfängt.19
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Viertes liturgisches Lied, Textstelle übersetzt nach: Projekat Rastko, ‘Srpski srednjovekovni spisi o Kosovu’ (‘Serbische mittelalterliche Schriften zu Kosovo’): http://www.rastko.org.yu/ istorija/spisi o kosovu.html, letzter Zugriff am 01.03.2009. ‘(Lobes-)Wort an den Fürsten Lazar’, in: Ðuric´ [Anm. 14], S. 266.
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»Gib uns den Tod, damit wir ewig leben können« – das entspricht sinngemäß der Aufforderung, die laut Danilo (s. o.) Lazar zuvor an sie gerichtet hatte: »Lasst uns jetzt durch die heldenhafte Hinnahme des Martyriums das ewige Leben im Himmel erlangen«; dies erinnert an den Leitgedanken christlicher Märtyrer, wie er schon im Neuen Testament anklingt: [. . .] wenn wir denn mit ihm leiden, damit wir auch mit zur Herrlichkeit erhoben werden. Denn ich bin überzeugt, daß dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. (Röm 8,17 f.)20
oder: Darum dulde ich alles um der Auserwählten willen, damit auch sie die Seligkeit erlangen in Christus Jesus mit ewiger Herrlichkeit. Das ist gewiss wahr: Sterben wir mit, so werden wir mit leben; dulden wir, so werden wir mit herrschen; verleugnen wir, so wird er uns verleugnen. (2. Tim 2,10–12)
Durch die Hinnahme des Martyriums und des Todes gaben Fürst Lazar und seine Krieger dem Geistigen die Priorität über das Körperliche (Irdische) und dem Ewigen über das Vergängliche. Ihre Entscheidung ist im Einklang mit der Wahl christlicher Märtyrer, für die Christi Mahnung wortwörtlich gegolten hatte: Denn wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden. (Mt 16,25)
In der geistlichen Literatur kommt vielerorts die moralische Vorbildhaftigkeit Lazars zum Ausdruck. Es werden viele nachahmenswerte Tugenden genannt, die seine Person kennzeichnen, er wird stets mit Eigenschaften wie ›ehrenhaft‹, ›gerecht‹, ›sanftmütig‹, ›barmherzig‹, ›mitfühlend‹, ›gütig‹, ›huldreich‹, als ein ›wunderbarer Mensch und heiliger Fürst‹ bezeichnet: moralisch vorbildlich, tugendhaft, in strengstem Sinne religiös – charismatisch.21 Sein Charisma wird Lazar jedoch eindeutig erst nach seinem Tod zugeschrieben – mit nachhaltigen Folgen. Mit der positiven Darstellung Lazars in der ›Klosterliteratur‹ geht die negative Darstellung seiner Gegner einher, vor allem in ihrer Benennung. ›Widersacher‹, ›Gottesleugner‹, ›Schlange‹, ›Höllenfürst‹ – solche Begriffe treten sehr früh (bereits ab 1392) in der serbischen religiösen Literatur auf. Die Möglichkeit einer Identitätsstiftung durch Lazar ließ mythische Gegenbilder entstehen: In der ‘Vita des Fürsten Lazar’ erscheint der Anführer der Türken wie ein als »Wildtier brüllender Löwe«,22 20
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Diese und folgende Bibelreferenzen nach: Die Bibel. Lutherbibel, Standardausgabe mit Apokryphen, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 1985. Vgl. Weber [Anm. 9], S. 182: »Das Charisma ist die große revolutionäre Macht in traditional gebundenen Epochen. Zum Unterschied von der ebenfalls revolutionierenden Macht der ›ratio‹, die entweder geradezu von außen her wirkt: durch Veränderung der Lebensumstände und Lebensprobleme [. . .] kann Charisma eine Umformung von innen her sein, die [. . .] eine Wandlung der zentralen Gesinnungs- und Tatenrichtung unter völliger Neuorientierung aller Einstellungen zu allen einzelnen Lebensformen und zur ›Welt‹ überhaupt bedeutet. In vorrationalistischen Epochen teilen Tradition und Charisma nahezu die Gesamtheit der Orientierungsrichtungen des Handelns unter sich auf.« Ðuric´ [Anm. 14], S. 269.
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bei der Despotin Jelena (späteren Nonne Euphemia) als »Schlange und Feind göttlicher Kirchen«,23 bei Stefan Lazarevic´, Lazars Sohn, als »wildes Tier«, »Drache« und »Schlangennachkomme«, als »Widersacher« und »unersättlicher allesverschlingender Hades«.24 Über Metaphern, die in der christlich-religiösen Literatur gewöhnlich dem Satan gelten, wird so auch der Sultan Murat dem Satan gleichgesetzt. Die mittelalterliche Schlacht um das Kosovo wird folgerichtig zum Krieg zwischen Gut und Böse stilisiert: heiliges Kreuz und heiliges Martyrium auf der einen, Schlange, Wildtier, Drache, Teufel, Herrscher des Hades auf der anderen Seite. Es wird suggeriert, die Schlacht zwischen den Serben und Türken sei eigentlich die zeitliche Entsprechung der apokalyptischen Schlacht zwischen Gott und seinem Widersacher Satan. Man hörte ein Krachen und ein unbeschreibliches donnerndes Lärmen, die Menschen jaulten, die Pferde wieherten, die Waffen klirrten, die Pfeile flogen umher, die Sonne verdunkelnd, Feuerdonner grollten, die Erde stöhnte laut, die Luft dröhnte und umhüllte alles wie ein dunkler Nebel, [. . .], Blut floss in alle Richtungen, überall lagen Leichen [. . .].25
Dieses erschütternde Bild der Schlacht, wie es der unbekannte Mönch aus Ravanica im ‘(Lobes-)Wort’ zeichnet, beschreibt in der Tat eine fast endzeitliche Atmosphäre.26 In einer schauderhaften Schlacht lassen Lazar und seine Leute ihr Leben für das ehrwürdige Kreuz und für den Glauben. Der Überlieferung zufolge war es Lazar nicht beschieden, im Kampf eines heroischen Todes zu sterben; er wurde gefangen genommen und enthauptet. So beschreibt ein unbekannter Mönch aus Ravanica in Lazars kurzer ‘Vita’ dessen Tod: Dieser wunderbare Mann, der heilige Fürst Lazar, wurde von einer großen Menge von Agarenen [Türken] umzingelt und festgenommen, und zusammen mit vielen seiner Adeligen wurde er wie ein Schaf zum Abschlachten hingeführt. Da wurde ihm, zusammen mit vielen seiner Adeligen, sein ehrwürdiges Haupt abgeschlagen im Monat Juni am 15. Tag.27
Im folgenden Zitat hält sich der Verfasser, David, in der Aussage zurück, ob denn Lazar – wie Christus – verraten wurde:28 Jener [der Zar des Ostens, Murat] trat mit gottlosen Völkern auf, während dieser [Lazar] seine Ehre nicht mit Füßen treten ließ. Und es kam zur Schlacht zwischen den beiden, und in dieser Schlacht fiel vom Schwert der gewalttätige Höllenfürst mitten auf dem Schlachtfeld; er verlor seine Seele und sein Leben samt der Mehrheit seiner Gott leugnenden Kämpfer. Und einer seiner Söhne blieb am Leben. Und am Ende dieser Schlacht – darüber kann ich nichts sagen, ob er von seinen eigenen Leuten verraten wurde oder ob es einfach Gottes Wille war, der ihn traf – wurde er [Lazar] von ihm [dem Sohn Murats] gefangen, und nach vielen Martern wurde sein ehrwürdiger und gläubiger Kopf von ihm [Bayazit, dem Sohn Murats] abgeschlagen.29
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Ebd., S. 274. Ebd., S. 278. Ebd., S. 271. Eine ähnliche Beschreibung der Kosovoschlacht findet sich auch in der ‘Vita’ des Fürsten Lazar (Ðuric´ [Anm. 14], S. 270). Ebd. Die Volksdichtung spricht eine deutlichere Sprache, wie weiter unten zu zeigen sein wird. Ðuric´ [Anm. 14], S. 280.
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Wenn in der ›Klosterliteratur‹ behauptet wird, der Sohn Murats, Bayazit, habe die Hinrichtung angeordnet oder sogar selbst vollzogen, so bestätigt dies Stefan Lazarevic´, der Sohn Lazars (um 1402), in der Inschrift auf der Marmorstele von Kosovo: [. . .] gefangen wurde der edelmütige Märtyrer von den gottlosen Agarenen [Türken], und er stand tapfer das Ende seiner Leiden durch und wurde zum Märtyrer Christi, der große Fürst Lazar. Denn niemand anders [. . .] schlug ihm den Kopf ab als eben die Hand des Mörders, des Sohnes Murats.30
In der religiösen Literatur ist der Tod Lazars also in einigen Details beschrieben, während der Tod seiner Krieger nur erwähnt wird, ohne dass Einzelnamen genannt werden – dies im Unterschied zu den Heldenliedern, wo das Gegenteil der Fall ist. Die oben zitierte Wendung aus Lazars ‘Vita’ »wie ein Schaf zum Abschlachten« dürfte als biblische Anspielung (vgl. Ps 44,23; Jes 53,7; Röm 8,36) den Märtyrergedanken wachrufen. Auch der Hirtenvergleich31 wird auf Lazar angewendet: An einigen Stellen, etwa in den liturgischen Liedern, wird er als »ein guter Hirte«, »ein wacher Hirte« oder »ein von Christus auserwählter Hirte« gerühmt. Auf der Marmorstele von Kosovo heißt es: Wie ein guter Hirte und Anführer führte er weise seine einsichtigen Lämmer an, damit sie ihr Leben für Christus gut zu Ende brächten, den Märtyrerkranz empfingen und Teilhaber des himmlischen Ruhmes würden.32
Ähnlich spricht Fürstin Milica, Lazars Frau, spätere Nonne Jevgenija (Eugenia), zu Lazar: Sammle meine verstreuten Kinder [. . .], versammle sie in meinen Zaun, weide sie, dass der Wolf nicht von meiner Herde frisst [. . .], weide meine Herde, die ich dir anvertraut habe,33
was an Joh 21,15–17 anklingt, wo Christus zu Petrus sagt: »Weide meine Lämmer« und »Weide meine Schafe«. Unter den mehrfachen Wundertaten Jesu Christi wird eine bekanntlich mit dem Namen Lazarus in Verbindung gebracht. Durch ein vergleichbares Wunder war auch dem serbischen Lazar die Anerkennung und Bewunderung durch seine Nachkommen sicher. Wie in der ‘Vita des heiligen Fürsten Lazar’ überliefert, verpflichtete Fürst Lazar seine Söhne, dass wo auch immer er das Ende seines Lebens finden sollte, er nur innerhalb einer der von ihm errichteten Kirchen ruhen sollte. Und nachdem seine »Söhne zu Dienern dessen wurden, der ihren Vater ermordet hat«, gingen sie (unter anderem im Beisein eines Patriarchen und eines Metropoliten und eines Hegumenos) zum Grab ihres Vaters und
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Ebd., S. 278 f. Jesus nennt sich einen guten Hirten (Joh 10,12–18). Ðuric´ [Anm. 14], S. 278. Ebd., S. 273.
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öffneten die Gruft und fanden seinen Körper unversehrt und unbeschädigt, viele sanfte Düfte verströmend [. . .], und sie überführten und legten in Ehren seinen Leib im Kloster nieder, das er errichten ließ; und so kann man ihn auch heutigentags noch sehen, wie er Heilung und Genesung allen gewährt, die ihm mit festem Glauben nahen.34
In einem liturgischen Lied wird Ähnliches berichtet – allen Gläubigen zum Staunen über ein Wunder der Natur: Gott ließ deinen Körper nicht allzu lange in der Gruft des Vergessens liegen, sondern er befahl der irdischen Natur, dass sie ihn nicht verfaulen lasse, sondern dass er unversehrt bleibe [. . .].35
So sehr die Formulierungen vieler dieser Texte auch beeindrucken mochten, in ihrer originären Sprache waren sie dem einfachen Volk nicht unmittelbar zugänglich: Das Volk konnte nicht lesen und schreiben. Auch der relativ komplizierte mittelalterliche Satzbau und die kirchenslavische Sprache erschwerten ein zwangloses Verstehen. Doch kam es zu einer raschen Aufnahme der liturgischen Lieder über Lazar in den Gottesdienst; dem Singen in der Kirche folgte dann das Singen zuhause, im kleineren Kreis, in der Volkssprache, in Form von Heldenliedern, so dass der Mythos auf diesem Wege seine soziale Funktion zu erfüllen begann. Thematisch ist jedoch – wie auch an späterer Stelle des vorliegenden Beitrags deutlich werden wird – in der frühen Überlieferung zu Lazar als Herrscher keine tiefer gründende Opposition von geistlichen und weltlichen Texten zu verzeichnen; es begegnet lediglich eine andere Sprache, eine andere Stilistik.
III. Die Figur Lazars in der Literatur für das Volk Während in der liturgischen Literatur36 wie im Neuen Testament (Mt 4,8–11) der Teufel als Versucher in Erscheinung tritt, stellt in der Volksliteratur die Mutter Gottes Lazar vor eine Entscheidung. Ihre ›persönliche Präsenz‹ lässt die Schlacht auf dem Amselfeld als göttlichen Willensakt37 erscheinen, wobei die endgültige Entscheidung für eine Niederlage zugunsten einer höheren Belohnung im Jenseits letztlich Lazar anheim gegeben ist:
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Ebd., S. 270. Sechstes liturgisches Lied, Projekat Rastko [Anm. 18]. Lazar widersteht der Versuchung dank seines festen Glaubens: »Mit seinem überheblichen Auge deine guten Taten gewahrend, versuchte er [Widersacher Gottes] mit verlogenen Ränken dich einzunehmen, und du hast, die Weisheit des Herrn Christi in deinem Herzen beheimatend, den Überheblichen in die Knie gezwungen, preisend: ›Es gibt keinen heiligeren als dich, o Herr Gott!‹« (Drittes liturgisches Lied, Projekat Rastko [Anm. 18]). Das Lied ‘Untergang des serbischen Reiches’ endet sogar – trotz des blutigen Ausganges der Schlacht – mit dem Vers: »Dies war heilig alles und voll Ehren / Und dem lieben Herrgott wohlgefällig«.
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Untergang des serbischen Reiches38 Aufgeflogen war ein grauer Falke Von Jerusalem, vom Heiligtume; Mit sich trug er einen Schwalbenvogel. Dies indessen war kein grauer Falke, Sondern war der heilige Ilija [Elias]; Mit sich trug er keinen Schwalbenvogel, Sondern einen Brief der Gottesmutter; Diesen brachte er zum Amselfelde, Ließ ihn nieder auf das Knie des Kaisers, Und der Brief, der sprach dann selbst zum Kaiser: »Kaiser Lazar, ehrenreicher Nachfahr, Welchem Reiche willst du dich verschreiben? Willst du dich dem himmlischen ergeben Oder dich fürs irdische entscheiden? Wenn du dich fürs irdische entscheidest, Sattle dann die Pferde, spann die Gurte! Auf ihr Ritter, legt euch an die Säbel! Stürmt voran zum Angriff auf die Türken: Und das ganze Türkenheer wird fallen! Wenn du dich fürs Himmelreich entscheidest, Baue auf dem Amselfeld ’ne Kirche, Füge ihren Sockel nicht aus Marmor, Sondern ganz aus Seide und aus Scharlach; Führe dann das Heer zum Abendmahle: – und dein ganzes Heer wird hierauf fallen, Du, o Fürst, wirst mit ums Leben kommen!« Als der Kaiser dieses Wort vernommen, Dachte er so mancherlei Gedanken: »Lieber Gott, was tu ich, und wie mach ich’s? Welchem Reiche soll ich mich verschreiben? Soll ich mich dem himmlischen ergeben Oder mich fürs irdische entscheiden? Wenn ich diesem Reiche mich ergebe, Mich ergebe diesem ird’schen Reiche, Bleibt das irdische von kurzer Dauer, Doch das himmlische auf stets und ewig.« Es begehrt der Fürst das Reich des Himmels, Aber nicht das kurze Reich auf Erden [. . .].
Der Fürst baut eine Kirche nach dem von der Mutter Gottes empfohlenen Modell, ruft die Patriarchen und Bischöfe zusammen und läßt sein Heer zum Abendmahl antreten und die heilige Kommunion empfangen.39 Kurz darauf kommen die Türken, und die Schlacht beginnt. Es folgt im Lied noch die Beschreibung, wie die einzelnen Ritter Lazars samt ihren Tausenden von Gefolgsleuten nacheinander ums Leben kommen. Gegen Ende des Liedes heißt es, dass Fürst Lazar die Schlacht sogar ge38
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Serbische Heldenlieder, übers. von Stefan Schlotzer, mit einem Kommentar von Erika Beermann, München 1996, S. 111 f. Dass es eine gemeinsame Kommunion am Vorabend der Amselfelder Schlacht gegeben habe, wird in einem weiteren Lied, ‘Amselfelder Mädchen’, erwähnt: »Weißt du es noch, unbekannter Recke, / Als Fürst Lazars Heer zur Kommunion ging / Nächst der prächt’gen Kirche Samodrezˇa« (Serbische Heldenlieder [Anm. 38], S. 124).
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wonnen hätte, wenn er denn nicht von einem seiner Ritter, dazu seinem Schwiegersohn – Vuk Brankovic´ –, verraten worden wäre. Diese kleine Ungereimtheit geht möglicherweise darauf zurück, dass das Lied, das bis ins 19. Jahrhundert nur mündlich vortragen/vorgesungen wurde, durch die Hände mehrerer Bearbeiter gegangen ist. Wenn Fürst Lazar sich bewusst gegen das irdische Reich entscheidet, dann sollte die Niederlage unausweichlich sein und es bedürfte keines Verräters. Ein Sieg wäre Folge einer Entscheidung für das irdische Reich gewesen, wie sie Lazar nicht getroffen hatte. Die Vermutung liegt nahe, dass die Sänger den doch schmerzhaften Verlust für ihre Zuhörerschaft später etwas mildern oder verhindern wollten, dass Lazars Größe in Frage gestellt würde: Vor dem Hintergrund des Verrats käme Lazar auch als kampftüchtiger Held gebührend zur Geltung. Überdies stellt die Ergänzung eine weitere Parallele zur Geschichte Jesu dar. Historisch ist zwar nicht bewiesen, dass Vuk Brankovic´ ein Verräter war; trotzdem gelten im Volksglauben er und seine Nachkommen immer noch als solche – ihr Familienname ist sogar zum Synonym für ›Verräter‹ geworden. Dies bestätigt einmal mehr, dass am Mythos nicht so sehr sein historischer Kern interessiert wie das, was die Überlieferung aus ihm gemacht hat.40 Mit der Parallele zu Christus und zum letzten Abendmahl scheint auch das Lied ‘Das Nachtmahl des Fürsten’41 zu spielen. Hier wird beschrieben, wie Fürst Lazar am Abend vor der entscheidenden Schlacht seinen jüngeren Schwiegersohn des Verrats bezichtigt: [. . .] Alle Herren setzte er zur Tafel, [. . .] Es ergreift der Fürst den goldnen Becher, Und er spricht zu allen serb’schen Herren: »Wem verehr’ ich diesen Becher Weines? [. . .] Doch nichts anderm soll mein Zutrunk gelten Als dem Wohle von Milosˇ Obilic´. Heil dir, Milosˇ, Treuer und Verräter! Einst Getreuer, späterhin Verräter! Du wirst mich im Amselfeld verraten Und zum Kaiser Murad überlaufen! Auf dein Wohl! Genieße diesen Zutrunk, Trink den Wein, und dein sei auch der Becher!«
Ähnlich wie in der biblischen Überlieferung (vgl. Mt 26,17–25; Mk 14, 17–21; Lk 22,7–23; Joh 13,1–30) geht dem tragischen Geschehen ein gemeinsames Abendmahl voran, im Verlauf dessen der bevorstehende Verrat angesprochen wird. Während allerdings Jesus genau wusste, wer ihn verraten werde, irrt sich Fürst Lazar und bezichtigt den Falschen. Die Volksdichtung geht in der Parallelisierung von Lazar und Christus noch einen Schritt weiter: Anders als die religiöse Literatur, in der nur der nicht verwesende Körper bezeugt wird, schreibt sie Lazar eine leibliche Auferstehung zu – nur dass lediglich sein abgeschlagener Kopf und nicht der ganze Körper aufersteht:42 40
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Das Verräter-Motiv kommt auch in anderen Liedern zur Sprache, etwa in ‘Kaiserin Milica und der Vojvode Vladeta’ oder in ‘Dienstmann Milutin’. Serbische Heldenlieder [Anm. 38], S. 107 f. ‘Die Auferstehung des Kopfes Lazars’ (‘Obrtenije glave kneza Lazara’), in: Ðuric´ [Anm. 14], S. 246 f. Übersetzung von mir, S. St.
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Es lag sein Kopf in der Quelle, hübsche Zeit, volle vierzig Jahre. Unversehrt blieb auf dem Amselfeld sein Körper: Es fressen ihn weder Adler noch Raben, es treten auf ihn weder Pferde noch Menschen. Liebster Gott, dank sei dir für alles! [. . .] Und er trat ins Quellwasser, und er holte den Kopf aus der Quelle, den Kopf des serbischen Heiligen Lazar, und er legte ihn auf das grüne Gras, und er holte etwas Wasser in einem Krug. Bis sich die Durstigen mit dem Wasser gestärkt und sich nach dem Kopf umgesehen, verschwand der Kopf von der schwarzen Erde und es rollte allein der Kopf über das Feld, der heilige Kopf hin zum heiligen Körper, und es vereinigte sich der Kopf mit ihm wie einst!
Wie in der ›Klosterliteratur‹ opfern sich Lazars Gefolgsleute auf – gleichsam als Märtyrer: Im Lied ‘Zar Lazar und Zarin Miliza’ hat die Zarin bei Lazar erwirkt, dass er ihr zumindest einen ihrer (in der Literatur: neun) Brüder am Hofe lässt. Als das ritterliche Gefolge dann an ihr vorbeizieht, bittet sie vergebens einen Bruder nach dem anderen, bei ihr zu bleiben. Die Antwort, die sie erhält, ist eindeutig: »Geh, o Schwester, heim zum weißen Turme; Doch ich selber würde nie zurückgehn, Noch vergäb’ ich aus der Hand das Banner, Schenkte mir der Kaiser auch Krusˇevac [Herrschaftssitz Lazars]; Sollen meine Kampfgefährten sagen: Seht den Hasenfuß Jugovic´ Bosˇko! Er getraut sich nicht, ins Feld zu ziehen, Für das heil’ge Kreuz sein Blut zu geben Und für seinen Glauben dort zu sterben!« [. . .] »Geh, o Schwester, heim zum weißen Turme; Niemals kehrt’ ich Recke um, o Schwester, Noch verließe ich des Kaisers Pferde, Wüßte ich auch, daß ich fallen würde! Will zum ebnen Amselfelde ziehen, Für das heil’ge Kreuz mein Blut vergießen, Für den Glauben mit den Brüdern sterben.«43
»Für das Kreuz« und »den heiligen Glauben« wollen sie einmütig ihr Leben lassen. Auch Milosˇ Obilic´, (literarischer) Schwiegersohn Lazars und Sultanmörder, schwört, nachdem er des Verrates beschuldigt wird, dass er »auf dem Amselfelde [. . .] für den Christenglauben fallen«44 wird. Ein Neffe Lazars, Stevan Music´, äußert in dem mit seinem Namen benannten Lied denselben Wunsch. Er kommt sogar zu spät zur 43 44
Serbische Heldenlieder [Anm. 38], S. 105 f. Ebd., S. 108.
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Schlacht, und obwohl er erfährt, dass sie praktisch verloren ist, stürzt er sich in den Kampf, um »im hochheil’gen Namen Jesu Christi«45 zu sterben. In der Volksdichtung ist also das christliche Motiv des Selbstopfers erhalten geblieben; auch hier geben Lazar und seine Mitstreiter ihr Leben nicht einfach für die Verteidigung ihres Landes hin, sondern vor allem aus höheren Beweggründen. Ihre Portraits vereinen in sich das Idealbild mittelalterlicher Ritter mit dem vorbildlicher Christen.46
IV. Gründe für die Überhöhung Lazars Bei seinem Start hatte Lazar nicht die besten Voraussetzungen, sich als der Herrscher unter den Serben zu beweisen: Er gehörte nicht der Familie an, bei welcher die Qualifikation ›kraft Abstammung‹47 erfolgte wie bei der erbcharismatischen Familie der Nemanjiden; sein Charisma verdankte sich nicht einer ›Qualität des Blutes‹.48 Daher musste er in der Volksliteratur zusätzlich zur historischen Heirat mit einer Nemanjidennachkommin, Milica, noch durch die Empfehlung seines Vorgängers, des mächtigen Zaren Dusˇan, und durch ein Orakel aus allwissenden Büchern als Nachfolger ausersehen und bestätigt werden. Nur so akzeptierte die Familie Milicas (immer noch schweren Herzens) ihre Heirat mit jemandem, der nicht von den Ihrigen abstammte: »Halt, ihr Söhne, wenn ihr Gott erkennet! Wenn den Zaren ihr mir heute tötet, Ewiglich wird Fluch euch dann verfolgen. Halt, bis ich die Bücher nachgeschlagen, Bis die Bücher ich befragt, ihr Söhne, Ob dem Laso Miliza bestimmt sei.« In den altberühmten Büchern liest er, Liest darin, und bittre Tränen weint er: »Halt, ihr Kinder, wenn ihr Gott erkennet! Wohl bestimmt ist Miliza dem Laso, Und das Zarenreich wird ihm verbleiben, Wird mit Miliza einst Laso herrschen!«49
Wie aber ist es zu erklären, dass Fürst Lazar, historisch gesehen eher eine gescheiterte Herrscherpersönlichkeit, zur Identifikationsfigur und zum Vorbild für viele geworden ist? Es war nicht zu allererst das Volk, das den ersten Nichtnemanjiden für seine so zweifelhafte Heldentat auf dem Amselfeld gleichsam in den Himmel hob, so dass 45 46
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Ebd., S. 118. Vgl. auch Barbara Lomagistro, Il principe serbo Lazar cavaliere e martire della fede, in: Krieg, Helden und Antihelden in der Literatur des Mittelalters. Beiträge der II. Internationalen Giornata di Studio sul Medioevo in Urbino, hg. von Michael Dallapiazza, Göppingen 2007, S. 76–93, hier S. 79. Im Sinne Max Webers [Anm. 9], S. 183. Ebd. Serbische Volkslieder, gesammelt und hg. von Vuk Stefanovic´ Karadzˇic´, Teile einer historischen Sammlung, Leipzig 1980, S. 18.
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die Kirche gar nicht anders gekonnt hätte, als ihn heilig zu sprechen. Es war die Kirche selbst, die Gründe sah, Lazar zum Märtyrer und Heiligen zu erklären, und daher versuchte, ihn dem Volk so nahe zu bringen, dass es von ihm Hilfe in schwerer Zeit oder gar die Befreiung von der Herrschaft der Türken erhoffte, ihn als Retter anbetete und seine Heiligsprechung forderte. Wollte man Lazar zu einem charismatischen Herrscher ›machen‹, so lag es nahe, sich als Vorbildes der charismatischen Identifikationsfigur schlechthin zu entsinnen – Jesu Christi. Erst dank der Parallelen in der Vita Lazars mit biblischen Geschichten wurde Lazar zur angebeteten Ikone und stieg in unzähligen Schriften zur kulturellen Leitfigur empor. Das einzige Medium aber, das für das Volk zur Verfügung stand, das es verstand und in welchem es in seinem Alltag regelrecht ›lebte‹, war das mündlich vorgetragene Lied der Volkssänger, das einem einfachen Schema folgte, mnemotechnisch (am häufigsten im einfachen Zehnsilbler verfasst) leicht zu beherrschen und problemlos weiter zu tragen war. Der Inhalt, der sich hierfür empfahl, der breiten Masse wohl bekannt und verständlich, sowohl für die Kirche als auch für das Volk einschlägig und eindeutig, war eine ›Heilsbotschaft‹: eine entsprechend enge Anbindung Lazars an das allgegenwärtige Vorbild Jesu Christi. Hintergrund des Personenkultes um Lazar war die gegenseitige Nähe von Geschichtsdeutung und Religiosität im serbischen Mittelalter: Der Märtyrertod verklärte die historische Person Lazar und führte zu seiner Überhöhung als Heiliger. Hieraus erklärt sich die auf ihn gerichtete Erlösungshoffnung. Bemerkenswert ist dabei, dass sich die religiöse Note in der Mythosbildung um Lazar nicht nur in den geistlichen Texten und in den liturgischen Liedern findet, die in den Gottesdienst integriert waren, sondern dass derselbe religiöse Inhalt auch die weltlichen Texte prägt, hier vor allem die sog. Heldenlieder des Volkes, die Lazars Leben und Sterben thematisieren. Man kann sogar noch weiter gehen und sagen, dass es sich bei einigen epischen Liedern des Lazar-Zyklus (obwohl in der Volkssprache und für das Volk verfasst)50 vom Inhalt her um ›Kirchenlieder‹ eigener Sprachform handelt. Wohlgemerkt: von ihrem Inhalt her. So sprach der Lazar-Mythos insbesondere die emotionale Seite der Menschen an. Über das volksläufige Liedgut wurde ein möglichst breiter Rezipientenkreis angesprochen und eine stärkere Wirkung auf die einfachen Menschen ausgeübt – die Botschaft konnte besser verinnerlicht werden. Rekurrenz51 und Perzeption waren so gründlich gesichert, dass sich dieser Mythos im kollektiven Gedächtnis festsetzen und bis heute überleben konnte – ein Wiedererkennen des Schemas52 sicherte den Sinn, ebenso eine Fortdauer über Jahrhunderte hinweg. 50
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Wichtig ist gerade die Tatsache, dass trotz der fast allerorts vertretenen Diglossie (Altkirchenslavisch als Sprache der Literatur und des Gottesdienstes und ›Serbisch‹ als Volkssprache) diese Lieder in der Volkssprache verfasst werden, damit sie dem Volk verständlich und nahe bleiben. Später wurden diese Inhalte über mehrere Gattungen und verschiedene Medien tradiert (Lieder, Gedichte, Dramen, Romane, literarische Verfilmungen). Vgl. auch Mircea Eliade, Der Mythos der ewigen Wiederkehr, Düsseldorf 1953, S. 73: »Der Charakter des Volksgedächtnisses ist ahistorisch, das kollektive Gedächtnis ist nicht in der
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Die ersehnte Zukunft wurde nach einem bekannten ›Muster‹ konstruiert. Das Modell dieser besseren Zukunft53 war bereits in der kollektiven Erinnerung des Volkes an die vergangene glorreiche Nemanjiden-Ära angelegt. Es musste dem Volk lediglich in seiner ›Sprache‹ vermittelt werden. Tragende Idee wurde, dass jener Verlust auf dem Amselfeld nicht ohne tieferen Sinn war. Das Volk musste begreifen, weshalb denn Lazar den Türken den Sieg54 auf dem Amselfeld überlassen hatte: nicht etwa aus fehlendem Heldenmut oder weil die Türken zahlenmäßig überlegen oder größere Helden waren – nein, Lazars Größe musste woanders liegen, schon deswegen, weil bereits die Nemanjiden vor ihm nahezu aus allen Schlachten als Sieger hervorgegangen waren und beinahe alles erobert hatten, was zu erobern sie sich vornahmen.55 Damit er von den breiten Massen akzeptiert werden konnte, musste Lazar in seiner Niederlage größer erscheinen als die Nemanjiden in ihren Siegen. Durch das im Mythos enthaltene ›Sinnversprechen‹ konnte die durchaus unangenehme Gegenwart ausgeblendet werden. Dank der Wiedererkennbarkeit der religiösen Motive wurde Lazar zum überzeitlichen Symbol56 für die Wiederherstellung einer neuen Ordnung, die Herrschaftsbegründung und die Konstruktion eines neuen christlichen, implizit aber auch des serbischen Reiches: Das Opfer Christi auf der einen Seite steht für die Rettung der Menschheit, das Opfer Lazars auf der anderen Seite für die Rettung eines Volkes und die Rettung des Christentums. Die Festigung der Position Lazars bedeutete eine Stärkung der orthodoxen Kirche im Volk zu einer Zeit, als nach der Auslöschung des Großteils des serbischen Adels in der Kosovo-Schlacht und angesichts der zu befürchtenden Islamisierung durch die Türken die serbische Kirche als einzige Halt gebende Institution geblieben war. In dieser Situation schuf die Kirche ein Wunschbild, das ewigen Bestand haben sollte; sie erschuf aus dem bekannten lokalen weltlichen Helden nach biblischem Vorbild einen Mythos – von einem Herrscher, der das himmlische Reich dem irdischen vorzieht
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Lage, die historischen Ereignisse und Individualitäten festzuhalten, wenn es sie nicht in Archetypen verwandelt, also ihre ›historischen‹ und ›persönlichen‹ Besonderheiten aufhebt.« Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1997, S. 42: »Auch das Neue kann immer nur in der Form rekonstruierter Vergangenheit auftreten. [. . .] Das kollektive Gedächtnis operiert daher in beiden Richtungen: zurück und nach vorne. Das Gedächtnis rekonstruiert nicht nur die Vergangenheit, es organisiert auch die Erfahrung der Gegenwart und Zukunft.« Historisch ist der türkische Sieg in der Schlacht auf dem Amselfeld nicht eindeutig geklärt. Der Tod des Sultans ließ manche vom Sieg der Kräfte Lazars sprechen. Doch damit, dass nahezu der gesamte Adel in der Schlacht ums Leben kam, Serbien tributpflichtig wurde und eine mehrere Jahrhunderte währende Herrschaft der Türken ertragen musste, verfestigte sich die Einsicht: Es war eine verlorene Schlacht. Zar Stefan Dusˇan, an dessen Hofe Lazar seine höfische Laufbahn startete, sah sich sogar nach der Eroberung des Großteils Griechenlands als legitimer Erbe der Byzantiner. Vgl. auch Assmann [Anm. 53], S. 38: »Jede Persönlichkeit und jedes historische Faktum wird schon bei seinem Eintritt in dieses Gedächtnis in eine Lehre, einen Begriff, ein Symbol transponiert; es erhält einen Sinn, es wird zu einem Element des Ideensystems der Gesellschaft. Aus diesem Zusammenspiel von Begriffen und Erfahrungen entstehen, was wir Erinnerungsfiguren nennen wollen.«
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und dafür den Märtyrertod stirbt. Der Mythos um Lazar lebt noch heute weiter, dank der Einbettung des historischen Geschehens in den religiösen Kontext.
Erzählen als Therapeutikum? Der wahnsinnige Königssohn im ‘Bussard’ von Sandra Linden
Räuberische Vögel, die buchstäblich aus heiterem Himmel edlen Damen glitzernde Ringe stehlen, sind ein dankbares Erzählmotiv: Sie motivieren den ritterlichen Helden zum Rückgewinn des Kleinods und lassen ihn, getrennt von seiner Geliebten, eine Zeit abenteuerlicher Bewährung durchleben, bevor sich das Paar glücklich wiederfinden kann. Noch im 20. Jahrhundert inspiriert der diebische Bussard den Schweizer Autor Peter Bichsel zu einer Kurzerzählung, die er als »solothurnische Operette« überschreibt.1 Wenn dort der unglücklich verliebte Stallbursche Ueli den Ring der Magelone Lehmann, von der man nicht so recht weiß, ob sie nun die Tochter des Königs von Neapel oder doch nur eine einfache Sekretärin ist, bei dem reichen Herrn Busant in Zahlung gibt, hat der Erzählstoff schon eine lange Reise durch die Weltliteratur hinter sich. Eine Station auf dieser Reise ist die mittelhochdeutsche Verserzählung ‘Der Bussard’ (FB 18).2 Die 1074 Verse lange, anonym in einer Handschrift und 3 Fragmenten3 überlieferte Reimpaarverserzählung wird aufgrund ihres höfischen Erzählstils als romanartiges Märe4 klassifiziert. Der ‘Bussard’ ordnet sich nicht nur in die Tradition der Magelonenerzählungen ein,5 sondern weist auch deutliche Anklänge an die Dichtungen 1
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Peter Bichsel, Der Busant. Eine solothurnische Operette, in: ders., Der Busant. Von Trinkern, Polizisten und der schönen Magelone, Frankfurt a. M. 1998, S. 7–22. Der Bussard, in: Friedrich Heinrich von der Hagen, Gesamtabenteuer. Hundert altdeutsche Erzählungen, Bd. 1, unveränderter Nachdruck der Ausg. von 1850, Darmstadt 1961, Nr. 16, S. 337–366. Die Zitate werden im Folgenden verkürzt nach dieser Ausgabe belegt. Eine Neuedition des ‘Bussard’ ist im Rahmen des DFG-Projekts ›Edition und Kommentierung der deutschen Versnovellistik des 13. und 14. Jahrhunderts‹ von Klaus Ridder, Paul Sappler und Hans-Joachim Ziegeler vorgesehen. Zur Überlieferungssituation vgl. Hans-Friedrich Rosenfeld, ‘Der Bussard’ (früher ‘Der Busant’), in: 2VL 1 (1978), Sp. 1145–48, hier Sp. 1145 f., oder Eugen Glaser, Ueber das mittelhochdeutsche Gedicht: Der Busant, Phil. Diss., Göttingen 1904, S. 1–3. Hanns Fischer, Studien zur deutschen Märendichtung, 2., durchges. Aufl. besorgt von Johannes Janota, Tübingen 1983, S. 58, ordnet den ‘Bussard’ einer Gruppe von »zwar strukturell bereits romanartigen, aber doch darstellerisch noch verhältnismäßig schlanken ›langen Mären‹« zu, in Fußnote 129 spricht er von »›potentielle[n]‹ Romane[n]«. Vgl. auch HansJoachim Ziegeler, Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispeln und Romanen (MTU 87), München 1985, S. 265. Ihre detaillierteste Ausführung erfährt die Magelonengeschichte zwar erst im französischen Prosaroman von 1453 und der deutschen Übertragung durch Veit Warbeck im Jahr 1527, doch ist der Stoff in seiner Grundform mit Ringraub und getrenntem Paar freilich älter. Zum Magelonenstoff vgl. Armin Schulz, Poetik des Hybriden. Schema, Variation und intertextuelle Kombinatorik in der Minne- und Aventiureepik (Philologische Studien und Quellen
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Konrads von Würzburg und den Iwein-Stoff auf. Zusammen mit dem Jean Renart zugeschriebenen Roman ‘L’Escoufle’,6 in der eine diebische Weihe die Trennung von Guillaume und Aelis verursacht, geht das Märe auf eine gemeinsame französische Vorlage zurück.7 Die Beliebtheit des im frühen 14. Jahrhundert entstandenen ‘Bussard’ zeigt sich vor allem in bildlichen Zeugnissen, die sich in die Ikonographie unglücklicher Liebe, aber auch in das Darstellungsmotiv der Wildleute fügen.8 Die Handlung, im ‘Bussard’ um die Thematik der Wildheit und des Wahnsinns erweitert, ist schnell umrissen: Während seines Studiums in Paris verliebt sich ein englischer Königssohn in die Prinzessin von Frankreich, die bereits dem König von Marokko versprochen ist. Als Spielmann verkleidet, kann der englische Prinz seine Geliebte mit ihrem Einverständnis entführen. Während einer Rast im Wald betrachtet der Königssohn zwei Ringe der schlafenden Prinzessin, als plötzlich ein Bussard herabstürzt und eines der Schmuckstücke raubt. Der Prinz eilt dem Vogel nach, verirrt sich im Wald und findet nicht zurück. In Trauer und Verzweiflung über die Trennung wird er wahnsinnig und lebt ein Jahr wie ein wildes Tier im Wald. Die ahnungslose Prinzessin flüchtet sich unterdessen in eine Mühle und lebt dort – stets auf die Rückkehr des Prinzen hoffend – von Näharbeiten, bis sie unerkannt am Herzogshof des Onkels und der Tante des Prinzen Aufnahme findet. Eines Tages entdecken die Jäger des Herzogs den völlig verwilderten Prinzen im Wald und nehmen ihn mit an den Hof, wo er einer sechswöchigen Kur unterzogen wird. Als er bei einer Jagd seine Zugehörigkeit zur höfischen Gesellschaft beweisen soll, kommt es zu einem drastischen Zwischenfall: Der Prinz erbeutet bei der Falkenjagd einen Bussard, beißt dem Tier den Kopf ab und zerreißt es. Nach dem Grund für dieses eigenartige Verhalten befragt, erzählt er seine Geschichte, und die Liebenden erkennen einander.
Die folgende Untersuchung fragt nach dem Zusammenhang von Wahnsinn, Minne und Erzählen im ‘Bussard’, wobei der Wahnsinn des Prinzen nicht in einer psychologisch argumentierenden Deutung, sondern in einer poetologischen Lesart erschlossen werden soll.9 Der erzählende Rückblick des Prinzen auf sein eigenes Schicksal avanciert dabei zu einer Schlüsselstelle, die mit einem Fokus auf die narrative Strategie sowohl des Erzählers als auch der erzählenden Figur analysiert wird. Das Märe ist, wie Armin Schulz gezeigt hat,10 durch einen Gegensatz von Natur und Kultur geprägt: Einerseits finden Kulturleistungen wie das Studium in Paris oder
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161), Berlin 2000, S. 153 ff. Auf Parallelen zu drei orientalischen Märchen verweist Alev Tekinay, Materialien zum vergleichenden Studium von Erzählmotiven in der deutschen Dichtung des Mittelalters und den Literaturen des Orients (Europäische Hochschulschriften I, 344), Frankfurt a. M./Bern u. a. 1980, S. 215 ff. Vgl. Jean Renart, L’Escoufle. Roman d’aventure, hg. von Franklin Sweetser (Textes litte´raires franc¸ais 211), Genf 1974. Vgl. Rosenfeld [Anm. 3], Sp. 1146 f.; Reinhold Köhler, Das altdeutsche Gedicht ‘Der Busant’ und das altfranzösische ‘L’Escoufle’, in: Germania 17 (1872), S. 62–64, sowie Glaser [Anm. 3], S. 65 ff. u. 83 ff. Vgl. Betty Kurth, Die deutschen Bildteppiche des Mittelalters, 3 Bde., Wien 1926, Bd. 1, S. 239 ff. und Abbildungen Nr. 142 ff. Um zu markieren, dass es nicht um realistische psychopathologische Befunde, sondern um die literarische Konstruktion einer psychischen Andersheit geht, wird im Folgenden der aus Sicht der modernen Psychologie nicht angemessene Begriff des Wahnsinns bewusst beibehalten. Vgl. Armin Schulz, Dem buˆsant er daz houbt abe beiz. Eine anthropologisch-poetologische Lektüre des ›Busant‹, in: PBB 122 (2000), S. 432–454; programmatisch S. 433 f.
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Gegenstände höfischer Sachkultur wie die Ringe der Prinzessin, ein kunstvoll gefertigter Sattel (V. 385 ff.) oder eine kostbare Fiedel (V. 397 ff.) breites deskriptives Interesse, andererseits begeben sich die Liebenden auf ihrer Flucht in einen Raum fernab jeder höfischen Disziplinierung. Dieser Raum wird mehrfach als gewilde (V. 547, 551, 572), als Wildnis, benannt und in seinem bedrohlichen, unkontrollierbaren Charakter markiert.11 Als der Prinz bei der Verfolgung des Bussards verre in daz gewilde (V. 572) läuft, kann er sich der Gefährdung, die nicht nur von der wilden Natur, sondern auch von einer radikalen Minne ausgeht, nicht mehr entziehen. Wenn es schließlich heißt, dass er sich im Wald vergie (V. 574), schwingt zudem die Komponente einer moralischen Verfehlung mit, da er die Prinzessin schutzlos im Wald zurücklässt. Das psychische Minneleid des Prinzen manifestiert sich in einem physischen Vorgang und mündet schließlich in den Wahnsinn:12 Es beginnt mit einem aggressiven Impuls auf das Herz (V. 597 f.: Der klage er niht abe liez, / unz ez im an sıˆn herze stiez), dann verlagert sich der Effekt auf das Gehirn, wo die mittelalterliche Medizin die körperliche Basis des Wahnsinns lokalisiert.13 Parallel zu Hartmanns ‘Iwein’14 heißt es in physiologischer Konkretheit: Sıˆn leit, sıˆn jaˆmer was [al]soˆ stark, daz im hirn’ unde mark Verswant, daz er von sinnen kam.
(V. 605–607)
Wie es für Darstellungen des Wahnsinns in der höfischen Literatur topisch ist,15 entledigt sich der Wahnsinnige selbst sämtlicher Zeichen der Kultur und nähert sich 11
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Vgl. Klaus Hufeland, Das Motiv der Wildheit in mittelhochdeutscher Dichtung, in: ZfdPh 95 (1976), S. 1–19, der das Faszinationspotential herausarbeitet, das die höfische Literatur der Wildheit verleiht, indem sie das Wilde als ein nicht domestizierbares Element zeigt, das sich dem höfischen Denksystem entzieht. Vgl. Dirk Matejovski, Das Motiv des Wahnsinns in der mittelalterlichen Dichtung (stw 1213), Frankfurt a. M. 1996, S. 184 ff., der den ‘Bussard’ in den literarischen Wahnsinnsdiskurs einordnet. Der medizinisch-psychologische Diskurs ist für diesen Bereich gut erschlossen, vgl. etwa den frühen Beitrag von Edith A. Wright, Medieval Attitudes towards Mental Illness, in: Bulletin of the History of Medicine 7 (1939), S. 352–56, oder auch E. Ruth Harvey, The Inward Wits. Psychological Theory in the Middle Ages and the Renaissance, London 1975, und Simon Kemp, Medieval Psychology, New York/London 1990. Zur Verbindung von Wahnsinn und Minnekrankheit vgl. Anm. 18. Vgl. Hartmann von Aue, Iwein, hg. von Georg Friedrich Benecke und Karl Lachmann, neu bearb. von Ludwig Wolff, Bd. 1: Text, Berlin 71968, V. 3231 ff. Es fehlt hier der Raum, um parallele Fälle literarischer Beschreibungen des Wahnsinns zu analysieren. Verwiesen sei lediglich neben der schon erwähnten Iweinfigur auf Lancelots Wahnsinn im ‘Prosalancelot’: Prosalancelot I/II. Lancelot und Ginover I/II, nach der Heidelberger Hs. Cod. Pal. germ. 147 hg. von Reinhold Kluge, übers., komm. und hg. von Hans-Hugo Steinhoff (Bibliothek des Mittelalters 14, 15), 2 Bde., Frankfurt a. M. 1995, Bd. 1, S. 1248,29 ff. (I,466 ff.), und Bd. 2, S. 306,34 ff. (I,596 f.). Vgl. auch Konrads von Würzburg Partonopierfigur (Konrad von Würzburg, Partonopier und Meliur, hg. von Karl Bartsch [Texte des Mittelalters], Nachdruck Berlin 1970, V. 9383 ff.) oder auch Gaweins durch den Minnetrank induzierten Identitätsverlust in der Amurfina-Episode der ‘Croˆne’ (Heinrich von dem Türlin, Die Krone [Verse 1–12281], hg. von Fritz Peter Knapp und Manuela Niesner [ATB 112], Tübingen 2000, V. 8660 ff.).
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einem tierischen, naturhaften Zustand an:16 Der Prinz zerstört – zunächst noch im Rahmen einer extremen, aber durchaus gängigen Trauergestik17 – seine äußere Schönheit durch Kratzen und Schläge, reißt sich dann durch noˆt (V. 610) die Kleider vom Leib, schließlich verliert er die Fähigkeit zum aufrechten Gang. Die Fallhöhe des Wahnsinns wird verdeutlicht, indem die tiergleiche Fortbewegung auf allen vieren und der soziale Status des Prinzen kontrastiv enggeführt werden: Die wıˆle er ruowet’ an ein want, nider liez er sich zehant Und gieng uˆf allen vieren, glıˆch den wilden tieren, Durch dorn unde durch hürst(e), der hoˆch geborn(e) vürst(e). (V. 611–616)
Die Verbindung von Wahnsinn und Minne ist dabei nicht nur in der Logik des Textes angelegt, die die Minneklage des Prinzen in den Wahnsinn münden lässt, sondern auch von der literarischen Tradition vorgegeben: Sämtliche Wahnsinnsdarstellungen zeigen einen Konnex zur Minneproblematik; der Wahnsinn wird stets durch eine unglückliche Liebe ausgelöst.18 16
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Laut Schulz [Anm. 10], S. 441 f., ist der Wahnsinn lediglich die extreme Fortführung dessen, was als höfischer Kulturverlust bereits mit der eiligen Flucht des Paares in den Wald begonnen hat. Auf die Verschränkung des medizinischen Diskurses des Wahnsinns mit dem literarischen Diskurs des wilden Mannes hat Theodor Nolte, ‘Wilde und zam’. Wildnis und Wildheit in der deutschen Literatur des Hochmittelalters, in: Methodisch reflektiertes Interpretieren. FS Hartmut Laufhütte, hg. von Hans-Peter Ecker, Passau 1997, S. 39–60, hier S. 48, hingewiesen. Topische Klagegesten wie exzessives Weinen, Raufen der Haare, Züchtigung des eigenen Körpers sind häufig für Frauen belegt, vgl. beispielsweise Laudine in Hartmanns ‘Iwein’ [Anm. 14], die über den toten Ascalon trauert (V. 1310 ff.), oder Enite, die Erec für tot hält: Hartmann von Aue, Erec, hg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff, 7. Aufl. besorgt von Kurt Gärtner (ATB 39), Tübingen 2006, V. 5739 ff. Kindliche Trauergesten finden sich für den jungen Parzival, vgl. Wolfram von Eschenbach, Parzival. Nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann, übertragen von Dieter Kühn (Bibliothek des Mittelalters 8), Frankfurt a. M. 1994, V. 118,9 f. Eine Untersuchung des Motivs aus emotionstheoretischer Sicht bietet Elke Koch, Inszenierungen von Trauer, Körper und Geschlecht im Parzival Wolframs von Eschenbach, in: Codierungen von Emotionen im Mittelalter, hg. von C. Stephen Jaeger und Ingrid Kasten, Berlin/New York 2003, S. 143– 158; auf den inszenatorischen Charakter der Trauergesten verweist Gerd Althoff, Empörung, Tränen, Zerknirschung. Emotionen in der öffentlichen Kommunikation des Mittelalters, in: ders., Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997, S. 258–281. Dies schlägt sich auch in der medizinischen Diskussion um den amor hereos und die Liebeskrankheit nieder, wenn diese in ihren Symptomen deutlich in die Nähe der Melancholie und einer defekten psychischen Verfassung gerückt werden, vgl. Mary Frances Wack, Lovesickness in the Middle Ages. The Viaticum and Its Commentaries, Philadelphia (PA) 1986, S. 8 ff., die den Diskurs von Galen an detailliert nachvollzieht; Alfred Karnein, Europäische Minnedidaktik, in: Europäisches Hochmittelalter, hg. von Henning Kraus und Thomas Cramer (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft 7), Wiesbaden 1981, S. 121–144, hier S. 125 ff., der von der breit rezipierten Definition der Liebe als insania mentis (S. 125) aus-
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Das Jahr, das der Prinz im Wahn verbringt, wird – anders als etwa bei Chre´tien und Hartmann im ‘Yvain’ bzw. ‘Iwein’ – nicht narrativ entfaltet. Sobald der Erzähler dem Prinzen attestiert hat: [m]enschlıˆche(r) sin im gar verswant (V. 617), fällt dieser aus dem Fokus der erzählerischen Aufmerksamkeit heraus, und der Blick wird auf die Prinzessin gelenkt. Erst in V. 769 wird der Erzählstrang wieder aufgenommen, indem die Jäger des Herzogs dem tierähnlichen Mann begegnen. Mit dem Prinzen wird die Kreatur, die vom Erzähler in fast penetranter Wiederholung als wilder man (V. 777, 781, 788) tituliert wird, allerdings nur dadurch identifiziert, dass die Eigenschaft wiederholt wird, die dem Rezipienten als letzte Handlung des Prinzen in Erinnerung geblieben ist, nämlich die Fortbewegung auf allen vieren. Er kann nicht in eine verbale Kommunikation mit den Jägern eintreten, sondern flieht wie ein Tier vor den Hunden auf einen Baum. Allein der Herzog erkennt hinter der wilden Fassade – der Prinz ist mittlerweile am ganzen Körper mit spannen langem haˆre (V. 806) bedeckt – den menschlichen art.19 Die Heilung des Prinzen nimmt der pragmatische, auf die physiologische Komponente des Wahnsinns vertrauende Herzog mit gesunden Bädern sowie ein paar warmen Mahlzeiten in Angriff und meint: wonte er der warmen spıˆse bıˆ, Und der in sanfte bæte er kœme [wider] uˆf der stete.
(V. 800–802)
Und er scheint Recht zu behalten, denn nach sechs Wochen guter Pflege stellt sich ein körperlicher Effekt ein: Hirn und Mark erstarken, so dass der Prinz nicht nur wieder gehen und reiten kann, sondern auch seinen Verstand zurückerlangt (Daz er sich begunde wol verstaˆn, V. 821). Ein wichtiges Element der Restitution ist, wie sich später zeigt, der Wiedergewinn der Sprache, auch wenn diese in der aus Speise, Bädern, Rasur und Salbungen bestehenden Kur20 nicht explizit thematisiert wird. Die
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geht, sowie Alfred Karnein, Krankheit, Sünde, Leidenschaft, in: ders., Amor est passio. Untersuchungen zum nicht-höfischen Liebesdiskurs des Mittelalters, hg. von Friedrich Wolfzettel (Hesperides 4), Triest 1997, S. 57–72, hier S. 62 ff. Zum Begriff amor hereos vgl. Bernhard D. Haage, ‘Amor hereos’ als medizinischer Terminus technicus in der Antike und im Mittelalter, in: Liebe als Krankheit. 3. Kolloquium der Forschungsstelle für europäische Lyrik des Mittelalters, hg. von Theo Stemmler, Mannheim 1990, S. 31–73. Vgl. mit Bezug auf den Iweinroman Michael Graf, Liebe − Zorn − Trauer − Adel. Die Pathologie in Hartmann von Aues ‘Iwein’. Eine Interpretation auf medizinhistorischer Basis (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700, 7), Bern/Frankfurt a. M. u. a. 1989, S. 120 ff., der einen Schwerpunkt auf die Schrift ‘De melancholia’ und das ‘Viaticum’ des Constantinus Africanus sowie den Traktat ‘De amore heroico’ des Arnald von Villanova legt. V. 799. Der Begriff art verweist auf die basale Wesenheit eines Menschen, die ihm auch in größter Not nicht abhanden kommt. Während im art des Prinzen nur noch eine grundsätzliche Zugehörigkeit zur Menschheit zu erkennen ist, hat er bei der Prinzessin noch soziale Konnotation, wenn die Herzogin sofort bemerkt, dass ihr art nur zu einer adeligen Lebensweise passt, vgl. V. 728: duˆ bist von art ein edel barn. Vgl. auch die grundlegende Studie von Julius Schwietering, Natur und art, in: ZfdA 91 (1961), S. 108–137. Dass die Therapie durchaus auf der Höhe zeitgenössischer Medizin erfolgt, zeigt die auf dem ‘Viaticum’ des Constantinus Africanus basierende Zusammenstellung bei Wack [Anm. 18], S. 139 ff.
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vollständige Genesung soll der Prinz durch die Teilnahme an einer Jagd unter Beweis stellen, er soll demonstrieren, dass er von der Seite der Gejagten wieder auf die der Jäger gewechselt ist. Dabei ist die Jagd in ihrer literarischen Stilisierung häufig nicht nur gesellige Unterhaltung, sondern zugleich Minnemetapher, werden ars venandi und ars amandi aufs Engste miteinander verknüpft.21 Jagd und Minne sind gleichermaßen ständisch elitäre Konzepte, die man erfolgreich, aber auch auf eine ästhetisch anspruchsvolle Weise üben will. Was für den Prinzen als Probe auf die Beherrschung einer adeligen Kulturtechnik proklamiert wird, ist somit zugleich eine Minneprobe. Doch gerade die Jagdszene, in der es um die souveräne Kontrolle sowohl über den Jagdfalken als auch über das zu jagende Wild geht, demonstriert, dass der Prinz Wahnsinn und ungezügelten Affekt keineswegs völlig hinter sich gelassen hat. Im Gegensatz zu den meisten literarischen Wahnsinnsbeschreibungen verläuft die Reintegration des Prinzen keineswegs problemlos: Als er in einem Bussard den Verursacher seines Minneleids erspäht und ihn waidgerecht durch seinen Falken erlegt hat, bricht er im Umgang mit dem erlegten Tier auf eklatante Weise den höfischen Comment: Dem buˆsant er daz houb[e]t abe beiz, huˆt unde vleisch er im abe reiz, Gebein’ und daz gevidere daz warf er von im nidere. (V. 847–850)
Die aggressive Zerstörung des Bussards legt eine psychologische Ausdeutung als nachträgliche Bewältigung des Animalischen und des Wahnsinns nahe; so versteht etwa Dirk Matejovski die Szene als Regression in den Wahnsinn, die zugleich einen Heilungsprozess auslöst.22 Schulz sieht in dem animalischen Verhalten aber auch ein symbolisch-kulturelles Potential der Rachehandlung,23 d. h., er rechnet mit einem Anteil bewussten Handelns – ein Ansatz, der sich auf die rationale Interaktion unmittelbar nach dem Zerfleischen des Bussards stützt: Als die Aufpasser den vermeintlich Rückfälligen schon wieder einfangen wollen, argumentiert der Prinz ganz ruhig und höfisch, dass man nicht ohne Jagdgeschenk für den Herzog an den Hof zurückkehren solle (V. 856 ff.), und demonstriert mit der waidgerechten Jagd einer Ente (V. 860 ff.), dass er keineswegs die Kontrolle über sein Handeln verloren hat. 21
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Die ausführlichste allegorische Auslegung der Jagd auf das Bedeutungsfeld der Minne findet sich in der ‘Jagd’ Hadamars von Laber, doch bereits der Minnesang kennt diese Bildlichkeit, so etwa in Lied 9 von Burkhard von Hohenfels, wo das Herz vom Verstand ausgeschickt wird, um die Liebe der Dame als Wild zu erjagen. Matejovski [Anm. 12], S. 191, ähnlich Klaus Grubmüller, Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter: Fabliau − Märe − Novelle, Tübingen 2006, S. 169 f. Vgl. auch Helmut de Boor, Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. Zerfall und Neubeginn. Erster Teil: 1250–1350 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. von Helmut de Boor und Richard Newald, III,1), S. 256. Schulz [Anm. 10], S. 448 f., sieht den Zwischenfall bei der Jagd als Auslöser eines memorativen Effekts, der der vollständigen Restitution diene. Vgl. Schulz [Anm. 10], S. 448 f.
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Dieser schnelle und übergangslose Registerwechsel von extremem Gefühlsausbruch zur Beherrschtheit fügt sich kaum in eine Logik menschlicher Affekte und führt zu der Frage, ob man nicht auch ohne eine psychologische Lesart der Aggression gegen den Bussard auskommt, wenn man nämlich die Figuren nicht so sehr als realistisch gestaltete Menschen, sondern als Funktionen des literarischen Textes versteht, die primär nach poetologischen und gar nicht so sehr nach anthropologischen Gesetzen agieren. Dass es dem ‘Bussard’-Autor nicht um die genaue psychologische Motivierung der Figurenhandlung geht, zeigt sich mehrfach, wenn die Figuren unplausibel handeln, sobald es das Erzählschema erfordert. Hätte der Erzähler die Prinzessin – den Gesetzen der Plausibilität folgend – am Herzogshof ihre Geschichte erzählen lassen, wäre die Verbindung mit dem wilden Mann nicht so lange unentdeckt geblieben. Auch der marokkanische Verlobte, der nach dem Verlust seiner Braut ohne größere Reaktion wieder von der Bildfläche verschwindet, ist nicht nach den Gesetzen nachvollziehbaren Verhaltens, sondern nach den Bedingungen des Schemas komponiert. Tatsächlich ist auch die im ‘Bussard’ wie ein Signum des Wahnsinns wirkende Zerstörung des Vogels stoffgeschichtlich vorgegeben: Auch Guillaume, der in der Trennung keineswegs wahnsinnig wird, erjagt in ‘L’Escoufle’ eine Weihe, reißt ihr das Herz heraus und verspeist es. Abweichend von der Tradition wird im ‘Bussard’ nun die zweite, normkonforme Jagdhandlung eingefügt. Die drastische Aggression gegen den Bussard bekommt in Kombination mit der formvollendeten Entenjagd und durch die deutliche Hyperbolik ein symbolisches Potential. Das Zerfleischen des bereits vom Falken getöteten Bussards ist weniger zweckgerichtet als demonstrativ, es ist kein echter Racheakt, sondern ein symbolischer. Die Tat scheint in ihrer überzogenen Drastik beinahe absichtlich und zeichenhaft vom Prinzen (oder vom Erzähler?) eingesetzt, um im Zitat des Wahnsinns zugleich souveräne Kontrolle über die Wildheit zu demonstrieren. Auffällig sind in diesem Abschnitt die Benennungen des Prinzen: Während der Erzähler ihn vor der Kur konsequent als wilden Mann tituliert hatte, nutzt er bis zur Jagd das neutrale Personalpronomen er, um ihn ausgerechnet unmittelbar vor und nach dem Zwischenfall mit den Bezeichnungen junger herre (V. 846) und junger vürste (V. 864) zum ersten Mal wieder in seiner adligen Existenz anzuerkennen.24 Der Erzähler hält also gerade in der Jagdszene den höfisch-adligen Stand bewusst und markiert deutlich, dass hier ein junger Fürst und eben kein Wahnsinniger agiert. Das Handeln des Prinzen zeigt ein direktes Aufeinanderfolgen von Brechung und Einhaltung der höfischen Normen, von irrationaler Aggression und rationalem Kalkül. Das dynamische Potential des Wahnsinns und der extremen Affekte bleibt ihm durchaus erhalten, aber anders als zuvor kann er es nun steuern. Der zügellose, unkontrollierbare Wahnsinn ist durch einen inszenierten oder performierten Wahn24
Nur noch ein weiteres Mal wird ihm im weiteren Verlauf der Fürstentitel vom Erzähler versagt, nämlich als mit dem Vers Der herzoge zuo dem wilden [man] saz (V. 875) eine Fokalisierung auf die Perspektive des Herzogs erfolgt, der den Prinzen wegen seines ungewöhnlichen Jagdverhaltens wieder für einen Wilden hält.
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sinn ersetzt. Das irrationale Moment der Minne, das den Königssohn in den Wahnsinn geführt hat, ist mit seiner Rückkehr in die höfische Gesellschaft keineswegs getilgt, sondern kann – nicht als unkontrollierter Affekt, sondern als zeichenhafte Geste – in die höfische Welt überführt werden. Erst das sonderbare Verhalten des Prinzen provoziert die neugierige Nachfrage des Herzogs, erst die zeichenhafte Geste wird zum Auslöser dafür, dass der Prinz seine Geschichte erzählt und damit das Wiedererkennen des Paares einleitet. Das normkonforme Jagen der Ente ist Voraussetzung dafür, dass man den Prinzen überhaupt für gesprächsfähig hält: Indem er höfisches und unhöfisches Verhalten kombiniert, sind ihm beide Ebenen verfügbar, kann er sein irrationales Verhalten im rationalen Gespräch erklären und sozial nachvollziehbar machen. Nach der Stummheit im Wahnsinn kommt der Prinz im Gespräch mit dem Herzog rund 50 Verse lang ununterbrochen zu Wort und skizziert nach kurzem Zögern zunächst unter Betonung seines Leids die Grundkonstellation der Beziehung, um dann das Entführungsgeschehen ab dem Zeitpunkt der Rast im Wald detailliert nachzuvollziehen. Freilich präsentiert sich das Erzählen der eigenen Geschichte wie ein Therapeutikum, wie ein Mittel der Selbstvergewisserung, mit dem der Prinz die Phase unbewusster wahnsinniger Existenz noch einmal gedanklich nachvollzieht und endgültig hinter sich bringt.25 Doch auch hier bleibt neben den psychologischen Signaturen genauer nach den poetologischen Konsequenzen dieses Erzählens zu fragen. Auffällig ist, dass die Schilderung des Prinzen – abgesehen vom Perspektivenwechsel und geringen Varianten – die Beschreibung der Waldszenerie durch den Erzähler wiederholt. Die Verse 902–932 entsprechen den Versen 552–595; lediglich die lange Klagerede wiederholt der Prinz in seinem Bericht nur verkürzt mit dem Gedanken, dass er lieber gestorben wäre, als die Prinzessin allein zurückzulassen.26 Man mag geneigt sein, dieses abschreibende Wiederholen als simple Bequemlichkeit eines nicht sonderlich bemühten Autors zu klassifizieren, und so bezeichnet Schulz den Prinzen aufgrund des ausführlichen Berichts als »Assistenten des Erzählers«,27 gesteht ihm mit Betonung der repetitiven Elemente der Erzählung aber wenig Eigenverantwortung zu. Dennoch ist das Erzählen der eigenen Geschichte als Wendepunkt, der zum gegenseitigen Erkennen führt, genauer in seiner poetologischen Relevanz zu betrachten und die Wiederholungsstruktur auf einen semantischen Wert zu prüfen. Um die verbale Souveränität des Prinzen in dieser Passage beurteilen zu können, muss man seine Sprecherrolle nicht nur nach, sondern auch vor dem Wahnsinn betrachten. Schon vor dem Wahnsinn zeichnet sich der Prinz durch ein Sprechen aus, das bewusst mit Doppeldeutigkeiten28 operiert und die übrigen Figuren mit geschick25 26
27 28
So Matejovski [Anm. 12], S. 194. Eine genaue Gegenüberstellung der beiden Passagen findet sich bei Glaser [Anm. 3], S. 53 ff., wobei zu bedenken ist, dass in der Hs. beide Passagen verderbt sind und man sie durch gegenseitigen Abgleich gebessert hat. Dennoch ist die grundsätzliche Parallelität der beiden Textabschnitte ein überlieferungsgeschichtliches Faktum und nicht wesentlich durch diesen editorischen Eingriff forciert worden. Schulz [Anm. 10], S. 452. Schulz [Anm. 10], passim, hat das metaphorische Netz des Textes, das immer wieder in
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ten Formulierungen hinters Licht führt – stets zum Vergnügen des Rezipienten, der die Ambivalenz freilich durchschaut. Am deutlichsten zeigt sich die verbale Überlegenheit in der Begegnung mit dem Brautvater vor der geplanten Hochzeit, als der Prinz seine Entführungsabsichten indirekt benennt, ohne dass der französische König die übertragene Bedeutung der Worte verstehen kann.29 Auf die Einladung zur Hochzeit entgegnet der als Spielmann verkleidete Prinz: vor eim(e) jaˆr haˆn ich geleit Ein wıˆz(e) tuˆbe(n) in ein strik, zuo der ich manigen ougen blik Under wıˆlen haˆn getaˆn; solt’ ich die [ie] meˆre warten laˆn, Soˆ würde si [vil] lıˆhte ei[ne]m’ ander(n) man, dem ich der tuˆben niht engan. (V. 478–484)
Da der König in der Taube nicht seine eigene Tochter erkennt, kann er sich über die Prioritäten des Spielmanns nur wundern. Mit seinem abschätzigen Kommentar, sehent, wie der tobet (V. 472, ähnlich V. 485 f.), erfolgt eine implizite Vorwegnahme des Wahnsinns, doch geht dieses doppeldeutige Sprechen nicht auf das Originalitätskonto des Königs, der die Tragweite seiner Aussage nicht erkennt, sondern allein auf das des Erzählers. Es scheint fast so, als würde er im Spiel der Doppeldeutigkeiten den Ball wieder zurück spielen und hier dem Prinzen seine überlegene auktoriale Weitsicht demonstrieren. Doch auch wenn der Prinz die Vorausdeutung auf den Wahnsinn nicht versteht, ist er ein durchaus würdiger Spielgegner des Erzählers: Anders als der König, der die Doppeldeutigkeit seiner eigenen Worte nicht sieht, setzt der Prinz seine Metaphern stets mit genauem Kalkül ein und beansprucht für sich eine Deutungsautorität, wenn er zum König sagt: ir wizzent niht, wie ez lıˆt, / Ez würde iu danne geseit (V. 476 f.). Bereits an dieser Stelle werden Erzähler und Prinz parallelgeführt, denn beide gehen ähnlich geschickt und bewusst mit Sprache um und werden im zweideutigen Sprechen nicht von den anderen Figuren, wohl aber vom Rezipienten verstanden. Die Taubenepisode hat somit keinen anderen Effekt, als die überlegene intellektuelle Raffinesse des Prinzen zu betonen.30 Sie fügt sich in das gelehrte Setting eines universitären Studiums in Paris, das keineswegs nur ein blinder Anklang an die Erzählung vom ‘Schüler von Paris’ (FB 118–120) ist, sondern elementar zur Figurencharakterisierung beiträgt. Das Geschick des kunstvollen Sprechens entwickelt der Prinz bezeichnenderweise erst mit der Minneerfahrung, denn seine erste längere Rede ist das Liebesgeständnis (V. 201 ff.). Zuvor bietet das Märe kaum direkte Rede des Prinzen, doch nun scheint ihn die Minne beredt zu machen.
29 30
Realität umschlägt, genau nachgezeichnet, vgl. S. 439: »Metaphorisches System und Handlung gehen erneut ineinander über, indem die Metapher zur Realität und die Realität zur Metapher wird«. Vgl. zu dieser Passage Schulz [Anm. 10], S. 438, und Matejovski [Anm. 12], S. 192. Vgl. Ziegeler [Anm. 4], S. 285.
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Wenn der Prinz nach dem Wahnsinn mit einer Erzählung in der Erzählung gegenüber dem Herzog noch einmal das Geschehen referiert, von dem der Leser zuvor schon durch die vermeintlich neutralere Quelle des Erzählers erfahren hat, kann sich die Aufmerksamkeit von der bloßen Handlung auf signifikante Unterschiede in der Darstellung verschieben. Der Prinz nähert sich im Wiederholen des bereits Erzählten der Sichtweise des Erzählers an, zugleich zeigen kleine semantische Nuancen, die sich aus dem Perspektivenwechsel ergeben, dass der Autor die Wiederholung durchaus bewusst komponiert. So heißt es beispielsweise aus der Perspektive des Erzählers, dass der Prinz jæmerlıˆche (V. 577) schrie, was in der Schilderung des Prinzen zu innenklıˆche (V. 931) geändert ist. Während das Adverb jæmerlıˆche auf das Mitleid zielt, das der Prinz bei anderen erweckt, bietet innenklıˆche eine subjektivere Perspektive, die nicht mit einer Außenwirkung auf andere rechnet. Zudem ist auffällig, dass der Prinz seine Geschichte nicht wie im Erzählschema des getrennten Paares üblich bis zur Gegenwart fortführt,31 sondern die Zeit des Wahnsinns ausklammert. Eine nahe liegende, psychologisch argumentierende Erklärung ist, dass der Figur die Erlebnisse im Wahnsinn nicht zugänglich sind und diese Phase einer unbewussten Existenz schlicht nicht erzählbar ist.32 Doch fügt sich diese Lesart eines verbalen Versagens wenig zum souveränen Umgang mit der Sprache, den der Prinz im restlichen Verlauf des Märes zeigt. Vielmehr scheint es so, dass in der narrativen Vergegenwärtigung der eigenen Existenz der Wahnsinn ganz bewusst in einer selbständigen Setzung vom Prinzen ausgeblendet wird. Indem er die Geschehnisse einem erzählerischen Filter unterzieht und den anderen Figuren eben nicht eine lückenlose Faktenkette, sondern eine interpretierte Sicht bietet, kann er sein Leben im Erzählen aktiv modellieren, denn nur das, was er erzählt, wird im Folgenden seiner Person zugerechnet. Als in der Handlungsabfolge des Berichts der Wahnsinn an der Reihe wäre, setzt der Prinz eine Leerstelle, indem er mit der geschickt platzierten Nennung beider Namen die Wiedererkennenshandlung in Gang setzt, die so turbulent und freudig verläuft, dass niemand mehr eine Fortsetzung des Berichts fordert: [»]mir het’ der toˆt niht getaˆn soˆ weˆ, Als[oˆ] daz ich si al eine sizzen lie, unde ich niht weiz, wie ez ir ergie. O weˆ! si was von Frankenrıˆch eins küniges tohter adellıˆch, Unde ich des sun von Engellant.« uˆf sprang diu junkvrouwe al ze hant, Mit wein[en]den ougen si in umb vienk.
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(V. 932–939)
Hans-Jürgen Bachorski untersucht den Bericht der Liebenden über das, was sie während der Trennung erlebt haben, als charakteristisches Merkmal des Liebes- und Reiseromans, vgl. ders., grosse vngelücke und vnsälige widerwertigkeit und doch ein guotes seliges ende. Narrative Strukturen und ideologische Probleme des Liebes- und Reiseromans in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: Fremderfahrung in Texten des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit, hg. von Günter Berger und Stephan Kohl (LIR 7), Trier 1993, S. 59–86, hier S. 76 ff. So Matejovski [Anm. 12], S. 196.
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Man mag einwenden, dass hier nicht die Regie der Figur, sondern die des Erzählers greift, da der Prinz nichts von der Anwesenheit der Prinzessin weiß und somit die Konsequenzen seiner Namensnennung nicht ahnen kann. Oder weiß er mehr, als er vorgibt? Während die Prinzessin ihm überrascht und mit Freudentränen in die Arme fällt und der Herzog freudig aufspringt, zeigt der Prinz keinerlei Gesten der Überraschung, sondern schweigt einfach. Wie immer es in dieser Episode um die strategische Situationsmacht des Prinzen bestellt sein mag, festzuhalten ist, dass er seiner Erzählung mit der Namensnennung einen deutlichen Schlusspunkt verleiht und den Wahnsinn bewusst ausblendet. Der erzählende Rückblick des Prinzen besitzt direkte soziale Relevanz. Anders als Iweins einsamer Identitätsmonolog nach dem Wahnsinn, von dem außer dem Rezipienten niemand erfährt, ist der Bericht des Prinzen in eine öffentliche Situation eingebunden und wird zur Basis für seine Wiedereingliederung in die höfische Gesellschaft. Der Schlusspunkt im Erzählen bekommt konsequente Gültigkeit in der Realität: Auch auf der Handlungsebene spielt der Wahnsinn nun keine Rolle mehr, der Prinz wird uneingeschränkt als Herrscher anerkannt. Das strategisch platzierte Selbstbild wird von der Gesellschaft unkritisch akzeptiert, und das ist nicht weiter ungewöhnlich, denn die Figuren im ‘Bussard’ fügen sich ohnehin stets bereitwillig den Setzungen autoritärer Erzählregie, wie man es etwa nach der Entführung für die vom Erzähler lancierte Erklärung, ein Engel habe die Prinzessin geraubt, beobachten kann. Anstatt dass die phantastische Engelsgeschichte, die unverbürgt aus dem Nichts auftaucht, hinterfragt würde, wird das, was im Erzählen als real gesetzt wird, schnell als Wirklichkeit anerkannt und verhindert eine ausführliche Suche nach der Prinzessin. Nach der Zeit des Schweigens im Wahnsinn hat der Prinz nun seine narrative Souveränität in vollem Maß wiedererlangt. Die zu Beginn so mühsam installierte intellektuelle Überlegenheit ist – wie der Bericht beweist – wiederhergestellt; das passive Verhalten während des Wahnsinns ist wieder in eine aktive Lenkung der Situation verwandelt. Und so kann sein Diktum in der Begegnung mit dem König auch als Leitsatz für das Erzählen seiner eigenen Geschichte stehen: ir wizzent niht, wie ez lıˆt, / Ez würde iu danne geseit (V. 476 f.). Die Welt wird nur dann dem Verstehen zugänglich, wenn man sie aussagt und interpretiert, und der Prinz ist die einzige Figur, die dazu in der Lage ist und ihre Position in der Gesellschaft aktiv im Erzählen modelliert. Indem er das tierähnliche Waldleben einfach aus dem narrativen Fokus ausklammert, ist die vom Prinzen erzählte Version der Geschichte in letzter Konsequenz auch ein Eingriff in die Autorität des Erzählers. Was der Erzähler zuvor geschildert hat, wird vom Prinzen nicht einfach als schicksalhaft vorgegebenes Ereignis akzeptiert, sondern im Wiedererzählen nach eigenem Ermessen korrigiert. Die Figur dringt so mit ihrem Erzählen in das exklusive Terrain des Erzählers, in den Bereich narrativer Regie vor. Trotz des glücklichen Ausgangs der Liebesgeschichte im ‘Bussard’ bleibt beim Rezipienten ein gewisses Unbehagen gegenüber der Figur des Prinzen zurück, eine
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gewisse Ambivalenz, die über das Gefährdungsmoment der Minne erklärt werden kann. Während der Prolog in klarer ethischer Ausrichtung ein triuwe-Konzept der Minne betont, als dessen Voraussetzungen tugent, gelimpf, kunst und schimpf (V. 21 f.) definiert werden, wie sie der Prinz in seiner Ausbildung erhält,33 und der Epilog den Protagonisten eine solche reht[e] liebe34 attestiert, steht der Wahnsinn für ein gefährdendes Element der Minne. Diese Gefährdung trifft die schutzlosen Figuren elementar und bleibt unterschwellig bis zum Ende erhalten, auch wenn der Prinz dieses Risiko in seiner Selbstsicht nachträglich negiert. Was als höfische Minnebindung zweier Königskinder beginnt, entfaltet schnell eine Dynamik, die der Prinz spätestens im kulturfernen Raum des Waldes nicht mehr kontrollieren kann – mag man nun sein Betrachten der Ringe und das Zurücklassen der Prinzessin als schuldhafte Verfehlung werten35 oder ihn als passives Opfer eines radikalen Minneaffekts sehen. Und dennoch ist die Liebe der beiden rehtiu triuwe, gehen Ideal und Risiko direkt zusammen. Zwar erschließt sich, wie der Prinz in seiner Renarration zeigt, im Erzählen ein Korrekturpotential gegenüber der Gefährdung durch die Minne. Das Risiko radikaler Minne kann durch ein alternatives Wiedererzählen nachträglich mit einer höfischen Fassade überdeckt werden, doch endgültig bändigen und sicher kontrollieren lässt es sich nicht. Die Literatur kann im Erzählen neue Realitäten setzen, und dennoch bleibt gerade im Verschweigen das bedrohliche Moment der Minne als faszinierende Leerstelle stehen und hält in Erinnerung, dass in der absoluten getriuwen minne höfisches Ideal und existentielle Gefährdung nah beieinander liegen. Das Risiko, das mit der Minne verknüpft ist und das die Figuren aus ihrer sicheren Umgebung in eine Welt der Gefahr und der Kontingenz führt, lässt sich nicht tilgen und ist zugleich in seinem dynamischen Potential als positiver Wert zu sehen, vor allem, wenn man die narrative Ergiebigkeit der Minnegefährdung bedenkt. Gerade die Trennung und die Bewährung in der Fremde bzw. das Durchleben des Wahnsinns fasst die unbedingte triuwe des Paares in ein angemessenes Bild, kann die Radikalität ihrer Liebe erzählerisch ansprechend vermitteln. Erst Peter Bichsels Magelonenvariation verzichtet auf spannende Bewährungsabenteuer, versetzt die Liebeshandlung in die sichere Unverbindlichkeit des Konjunktivs und die Geschichte in die Handlungslosigkeit: Ueli hätte Magelone das Mieder öffnen können, damit sie besser hätte atmen können. Er hätte sie auf die weiße Brust küssen können. Er hätte sie auf seine Arme nehmen können und auf sein Zimmer tragen. Das hat Ueli nicht getan. Hier hat niemand niemanden getroffen. Hier geschieht nichts, hier geschieht nichts – arme Magelone, armer Peter von Provence – reicher Herr Busant.36 33 34 35
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Vgl. V. 59 ff.: Der kapelaˆn [. . .] / Leˆrt’ in tugent unde glimpf. V. 1071. Der Begriff der rehten liebe findet sich bereits im Prolog, V. 7. So Schulz [Anm. 10], S. 443, der auf Gemeinsamkeiten zwischen Prinzen und Bussard hinweist. Eine moralische Schuld ist im Magelonenstoff angelegt, wo Peter die schlafende Magelone entkleidet und in sexueller Ekstase betrachtet, doch scheint sich der Prinz im ‘Bussard’ eher an den perfekt gearbeiteten Ringen zu ergötzen – ein Faible für artifizielle Produkte höfischer Kultur, das sich gut zu seiner Rolle als gelehrter Wortkünstler fügt. Bichsel [Anm. 1], S. 22.
Der Ritter in der Maultierhaut Zu Motiven und zur Gattung der ‘Königin vom brennenden See’ von Gudrun Felder I Es war ein uns unbekannter Literaturliebhaber, der seine Lektüreerfahrungen in eigene schriftstellerische Tätigkeit umgesetzt und den kurzen (ca. 3000 Verse umfassenden) Roman ‘Die Königin vom brennenden See’ verfaßt hat.1 Der Roman, der mit seinem Erzählen von Ritter und Fee, Liebe und Abenteuer2 dem Zeitgeschmack v. a. des 13./14. Jahrhunderts entspricht, ist in einer einzigen, nach 1470 entstandenen ostschwäbischen Handschrift überliefert, in der er, thematisch abgestimmt, zusammen mit Schondochs Märe ‘Die Königin von Frankreich’ das dritte Faszikel füllt.3 Weder der Text noch die Handschrift bieten einen Hinweis auf die Identität des Verfassers (abgesehen von seiner durch Reime und Überlieferung gesicherten ostschwäbischen Herkunft). Auf jeden Fall entsprach der Autor nicht dem Typus des gelehrten Dichters, wie er in vielen anderen Werken begegnet: Es fehlen jegliche Wissenskompilationen oder vergleichbare Ausführungen; weder kompliziertere Rhetorik noch Fremdwörter deuten auf einen besonderen Ehrgeiz. Der Roman beschränkt sich auf das einfache Erzählen einer Geschichte, ähnlich dem in mancherlei Hinsicht vergleichbaren ‘Friedrich von Schwaben’, der ebenso einen sich selbst genügenden Erzählstil pflegt.4 Der folgende Überblick soll zunächst die Handlung des weitgehend unbekannten Werks nachzeichnen, bevor genauer auf die im Roman verwendeten Motive und die Frage nach der Gattungszugehörigkeit eingegangen wird. V. 1–974: Der tugendreiche Königssohn Hanns von Frankreich verirrt sich auf der Jagd und gelangt auf eine ihm unbekannte Burg, wo ihn die Burgherrin sehr freundlich empfängt. Nach zwei keusch miteinander verbrachten Nächten bietet sie ihm Heirat und Landesherrschaft an, unter der Bedingung, daß er sie nie verletzen dürfe. Hanns akzeptiert, und die beiden verbringen zehn glückliche Ehejahre, in deren Verlauf zwei Söhne geboren werden. V. 975–1266: Als Hanns seine Frau eines Tages zärtlich in den Arm nimmt, sticht sie sich an einer Stecknadel in ihrem Gewand und blutet – das Tabu ist gebrochen, und die Königin muß 1
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Die Königin vom brennenden See, hg. von Paul Sappler, in: Wolfram-Studien 4 (1977), S. 173–270, Edition: S. 184–270. Vgl. z. B. seine Einordnung in das entsprechende Kapitel in: Johannes Janota, Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, Bd. III/1: Orientierung durch volkssprachige Schriftlichkeit, Tübingen 2004, S. 210 f. Augsburg SB und StB 2° cod 170, fol. 64ra–85ra. In diesem Sinne z. B. Christian Kiening, Wer aigen mein die welt . . . Weltentwürfe und Sinnprobleme deutscher Minne- und Aventiureromane des 14. Jahrhunderts, in: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991, hg. von Joachim Heinzle (Germanistische Symposien-Berichtsbände 14), Stuttgart 1993, S. 474–494, hier S. 492 f.
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in großer Trauer mit ihren beiden Söhnen in das Land vom brennenden See zurückkehren. Hanns findet den Weg von der hinter ihm verschwundenen Burg zurück an seinen Hof in Frankreich, wo er mit großer Freude empfangen wird. Er trauert allerdings Frau und Söhnen nach. V. 1267–1586: Nach einem halben Jahr macht er sich endlich auf, um das Land vom brennenden See zu finden. Mit einer seinem königlichen Stand angemessenen Ausrüstung und einem ihm besonders wichtigen Leibdiener wird er von seinen Eltern verabschiedet. Erste Station seiner Reise ist ein bereits weit entferntes Land, in dem Frankreich nur noch vom Hörensagen bekannt ist; er wird durch diverse Lustbarkeiten geehrt. Auf die Frage nach dem Land vom brennenden See kann ihm niemand weiterhelfen. Da er nicht von seiner Suche abzulassen bereit ist, wird er an einen Ritter in Indien weiterverwiesen. V. 1587–2020: Nach sechs Monaten gelangt er dorthin; der Ritter, der ihn ebenfalls von seinem Anliegen abzubringen versucht, kann ihm schließlich nur einen Eremiten empfehlen, der ihm einst von diversen Aventiuren berichtet hatte. Hanns schickt sein Gefolge nach Frankreich zurück und zieht weiter in die tiefste Wildnis hinein, nur noch von seinem treuen Diener und einem mit Gold beladenen Maultier begleitet. Er lernt, sich von wilden Beeren und Wurzeln zu ernähren, und gelangt schließlich zu dem Einsiedler, der sich als ehemaliger französischer Ritter zu erkennen gibt. Allerdings kann auch er nicht helfen und schickt Hanns weiter zu einem anderen Einsiedler, der 1000 Meilen entfernt lebt. Dieser wiederum schickt ihn zu einem dritten Eremiten, der bereits 100 Jahre alt ist und einmal ein solches Land erwähnt habe; nach einigen Tagen gelangt er zu ihm. Hanns erhält endlich die gewünschte Auskunft, verbunden mit der Warnung, niemand könne in das Land gelangen, weil es von einem unüberwindbar hohen Gebirge und einem brennenden See umgeben sei. V. 2021–2252: Nach beschwerlichem Weg gelangen Hanns und sein kneht endlich an das Gebirge, wo sie von Greifen attackiert werden. Da sie keine Passage finden, ersinnt Hanns nach einigen Tagen eine List: Sein Diener näht ihn mit seinem restlichen Besitz von 2000 Gulden sowie seinem Schwert in die Haut des Maultiers ein und deponiert ihn auf einem Felsen. Der kneht möchte in dem Wald sein Leben verbringen. Ein Greif packt das vermeintliche Maultier und trägt es auf den Gipfel des Berges, wo sich Hanns mit seinem Schwert aus der Haut befreit und erfolgreich gegen den Greifen verteidigt. Nach einem mühsamen Abstieg gelangt er an das Ufer des brennenden Sees. Dort findet er nach kurzer Suche ein feuerresistentes Schiff, das von einem Riesen geführt wird. Etwas ratlos, wie er gegen den Riesen ankommen könnte, gibt er sich als armer Diener aus und fragt nach dem Weg – woraufhin der Riese ihn freundlich über den See setzt und ihm den Weg zur Hauptstadt des Landes weist. V. 2253–2706: Hanns verdingt sich dort als Diener bei einem Wirt und bleibt ein halbes Jahr unerkannt. In dieser Zeit erfährt er, daß die Königin in ständiger Trauer lebt und nie ihre Burg verläßt; sie soll aber in kurzer Frist mit einem Lehnsmann verheiratet werden, der ihr Land verwüstet. Als der Wirt die Abwesenheit von König Hanns beklagt, gibt sich dieser schließlich zu erkennen. Bei dem bevorstehenden Hochzeitsturnier will er an den ersten beiden Tagen inkognito teilnehmen, am dritten Tag dann die französischen Farben tragen. Der Wirt hilft ihm bei den Vorbereitungen. An den ersten beiden Tagen kämpft Hanns siegreich, nimmt aber nicht an den anschließenden Festlichkeiten teil. Trotzdem meint die Königin, ihn erkannt zu haben. Am dritten Tag zieht er mit großem Prunk und dem französischen Wappen ein; nach dem wiederum erfolgreichen Kampf wird er von der Königin aus seiner Rüstung befreit und mit großer Freude willkommen geheißen. Der unerwünschte Freier verläßt den Hof heimlich, während die Familie ihr Wiedersehen feiert. V. 2707–2923: Hanns holt seinen treuen Diener zu sich: Der Riese setzt ihn über den See und öffnet den Berg. Ein Bote wird zu Hanns’ Eltern nach Frankreich geschickt. Der gewalttätige
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Freier der Königin wird in einem Krieg vertrieben. Schließlich lebt das Paar noch viele Jahre glücklich; nach ihrem Tod wird der ältere Sohn Nachfolger, der jüngere hingegen König von Frankreich.
Die Handlung läßt sich, entsprechend den großen Vorbildern, in zwei Teile gliedern: 1. die Gewinnung der Frau (mit Krise und Verlust), 2. die Aventiurenfahrt zur Wiedergewinnung.5 Der Protagonist gewinnt seine übernatürliche Partnerin dadurch, daß er eine Art Tugendprobe besteht, die sie ihm auferlegt: zwei keusch neben ihr verbrachte Nächte. Die Krise, die unbeabsichtigte Tabuverletzung und der damit verbundene Verlust der geliebten Ehefrau, führt König Hanns zurück an seinen eigenen Hof, von dem er sechs Monate später aufbricht, um seine Frau zu suchen. Die Aventiurenfahrt führt ihn über Indien bis ans Ende der Welt – die einzigen wirklichen Aventiuren, die er dabei zu bestehen hat, sind die Überwindung des Gebirges, das das Land vom brennenden See abschirmt, sowie die Kämpfe bei dem Hochzeitsturnier. Ansonsten stellt der Autor seinem Helden keinerlei Hindernisse in den Weg, die eine Verkomplizierung seines Weges (und des Erzählfadens) mit sich bringen könnten – allerdings beeindrucken die enormen Ferndimensionen, räumlich wie zeitlich. Die Erzählung konzentriert sich auf Hanns und bleibt immer an dessen Seite; einzige Ausnahme bilden die Verse 937–974, in denen sie die Trauer am französischen Hof nach dem Fortbleiben des Thronfolgers beschreibt. Die strikte Erzählweise ohne jede Abschweifung von der eigentlichen Kernhandlung führt zu einer eher isolierten Stellung des Werkes in seiner literarhistorischen Umgebung. Es ist keine Vorlage bekannt; einiges über seine Anregungen läßt sich aber aus dem Text herauslesen: Der Autor hat auf diverse, aus anderen Erzählungen bekannte Motive zurückgegriffen (am prominentesten wohl die aus der Sage von Heinrich dem Löwen und dem ‘Herzog Ernst’ bekannte Greifenszene), aber nie in der unmittelbaren Zitiertechnik, die z. B. den ‘Friedrich von Schwaben’ kennzeichnet. Der Stil ist ungekünstelt und direkt, teilweise ein wenig unbeholfen; die Figuren erhalten keine Namen (abgesehen von dem Protagonisten, König Hanns) und bleiben insgesamt blaß, ihre Charakterisierung stützt sich hauptsächlich auf funktionsabhängige Konstanten (vgl. z. B. den Tugendkatalog zur Einführung des Helden V. 5–42, die Schönheitsbeschreibung der Königin V. 185 ff.). Solche knapp gehaltenen Kataloge und Beschreibungen fügt der Erzähler passend zum Zeitgeschmack und Anspruch seines Publikums mehrfach ein. Entsprechend seinem insgesamt nüchternen Erzählstil verzichtet der Autor auf programmatische Äußerungen, nicht einmal ein Prolog ist dem Werk vorangestellt. Auch das Erzähler-Ich tritt äußerst selten und fast nur in formelhaften Wendungen auf.6
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Dabei ist die Krise nicht durch den Helden bedingt, sondern auf Äußeres zurückzuführen; die Strukturbedingungen des klassischen doppelten Kursus sind hier nicht gegenwärtig. In Berufung auf die awentür z. B. V. 34, 177, 1432 f. und 1488, die Hochzeitsnacht V. 862, 880, eine Überleitung V. 936; eine eigene Meinung wird V. 1933 ff. formuliert als Reaktion auf Hanns’ Entscheidung, gegen alle Ratschläge seinen Weg fortzusetzen; der Roman endet mit Schlußgebet und -formel des Dichters V. 2920–23.
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Eine Datierung des Romans fällt schwer: nicht vor der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, da er das Lilienwappen des französischen Königshauses erwähnt (unter Karl V. [1364–80] wurde die Zahl der goldenen Lilien auf blauem Grund auf drei reduziert, vgl. entsprechend V. 2613 f.: ain schilt plaw kostlich, / darinn dry gilgen von gold rich), terminus ante quem ist aber erst die Entstehung der Handschrift nach 1470.7 Wenn auch auf recht eigenwillige Weise,8 folgt ‘Die Königin vom brennenden See’ dem Schema der sogenannten ›gestörten Mahrtenehe‹9 und wurde bislang auch hauptsächlich unter diesem Aspekt in der Forschungsliteratur erwähnt:10 Erzählungen, die die Verbindung eines ritterlichen Helden mit einer Fee schildern; ihr Gelingen hängt von einem Tabu ab, dessen mehr oder weniger beabsichtigte Verletzung zur Trennung der Liebenden führt. Konrads von Würzburg ‘Partonopier und Meliur’ hatte das z. B. in den altfranzösischen Lais bewährte Schema11 zuerst in die deutsche Literatur eingeführt, das bis hin zur ‘Melusine’ des Thüring von Ringoltingen immer wieder gern aufgegriffen wurde. Gerade im späteren Mittelalter scheinen diese Erzählungen von der Liebe zwischen Rittern und Feen eine besondere Faszination ausgeübt zu haben; sie sind auch Grundlage von Konrads von Stoffeln ‘Gauriel von Muntabel’, ‘Friedrich von Schwaben’, ‘Ritter von Staufenberg’ sowie von Ulrich Füetrers ‘Poytislier’ und ‘Seifrid de Ardemont’. Die ursprünglich wohl auf keltisches Sagengut zurückgehenden Feenerzählungen leben von dem Kontrast zwischen der christlich-zivilisierten höfischen Sphäre einerseits, dem (erotische) Freiheit und Ungebundenheit versprechenden, geheimnisvollen und märchenhaften Bereich der (meist im Wald anzutreffenden) Feen andererseits. Die Fee ist nur um den Preis eines zu respektierenden Tabus zur Gewährung ihrer Minne bereit, bei Verstößen reagiert sie häufig rachsüchtig. Dieser dämonische Aspekt erhöht den Reiz der Gefahr; charakteristisch ist zudem die aus der Begegnung resultierende Weltvergessenheit des Ritters. Hier wird das Schema der ›gestörten Mahrtenehe‹ jedoch so weit verharmlost, daß es der offensichtlich als Minneroman konzipierten Handlung nicht entgegensteht – wichtigstes Anliegen der ‘Königin vom brennenden See’ scheint es, zu demonstrieren, »welche Leiden zur Rettung einer wahren Liebe notwendig sind«.12 7
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Allerdings unter Berücksichtigung eines gewissen zeitlichen Abstands, innerhalb dessen die Überlieferungsfehler entstehen konnten, vgl. Sappler [Anm. 1], S. 182. Vgl. die ausführliche Analyse in der Einleitung zur Edition: Sappler [Anm. 1], S. 177 ff. Vgl. Friedrich Panzer in seiner Einleitung zu: Merlin und Seifrid de Ardemont von Albrecht von Scharfenberg. In der Bearbeitung Ulrich Füetrers hg. von Friedrich Panzer (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart 227), Tübingen 1902, S. LXXII−LXXX. Vgl. Armin Schulz, Spaltungsphantasmen. Erzählen von der ›gestörten Mahrtenehe‹, in: Wolfram-Studien 18 (2004), S. 233–262, hier S. 233, 254 f.; Paul Sappler, ‘Friedrich von Schwaben’, in: Positionen des Romans, hg. von Burghart Wachinger und Walter Haug (Fortuna Vitrea 1), Tübingen 1991, S. 136–145, hier S. 140; Brigitte Schöning, Friedrich von Schwaben. Aspekte des Erzählens im spätmittelalterlichen Versroman (Erlanger Studien 90), Erlangen 1991; v. a. S. 202 ff. Vgl. unter anderem den ‘Lai de Graelent’ oder den ‘Lai de Lanval’. Janota [Anm. 2], S. 211.
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II Die Edition des eher unbedeutend erscheinenden Romans war unter anderem mit dem Hinweis gerechtfertigt worden, daß die Erzählforschung dadurch ihr »Netz der Belege für ihre Systematik der Motive und Erzählmuster« ausbauen könne.13 Mittlerweile wurde ‘Die Königin vom brennenden See’ tatsächlich entsprechend für den ›Motif-Index‹ zur mittelalterlichen deutschen Literatur herangezogen.14 Die etwas genauere Betrachtung der einzelnen Motive des Romans zeigt, daß diese Parallelen in den verschiedensten literarischen Bereichen haben, aus denen der Autor seine Inspiration bezogen haben könnte – neben möglichen Anleihen an die höfische Literatur oder aus dem Bereich der Minne- und Aventiureromane der Zeit finden sich ebensolche aus Legenden oder Heldenepik. Die Eingangshandlung ist klassisch und entspricht den Bedingungen der Feengeschichten: Der Held verirrt sich bei der Verfolgung eines prächtigen Hirschs im Wald15 und kann so zur feste der Fee in der Anderswelt gelangen – diese Vereinzelung ist Bedingung dafür, den höfischen Bereich verlassen zu können.16 Später erwähnt der Roman, das Land sei umbeschlossen / mit gepirg und wieste gar, / das niemant mocht komen dar (V. 559–561) – auch dies sind übliche Merkmale für die Anderswelt.17 Dort trifft Hanns auf die Landesherrin, die ihn namentlich begrüßt (V. 241), ihren eigenen Namen allerdings nicht nennen mag. Solches Kennen ist (z. B. in Sigunes Gruß für Parzival, ‘Parzival’ 140,16) auch anderweitig geläufig und wird gerne als Charakteristikum einer außerweltlichen Umgebung verwendet;18 hier wird ihm sogleich eine rationale Begründung mitgegeben: Die Königin hat Hanns bei einem Turnier in Frankreich heimlich beobachtet. Der Zweck dieser unerkannt unternommenen Reise wird zwar nicht weiter ausgeführt; das Heiratsangebot, das Hanns zwei Tage später erhält, zeigt aber, daß die Dame sich ihren künftigen Ehemann offenbar nicht spontan erwählt hat (wenn auch ihre lobenden Ausführungen über seine Kampfesleis-
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Vgl. Sappler [Anm. 1], S. 173. Motif-Index of German Secular Narratives from the Beginning to 1400, hg. von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Helmut Birkhan, Karin Lichtblau, Christa Tuczay, Berlin/New York 2005 f., hier Bd. 3, S. 102–106. Vgl. z. B. die in einen Hirsch verwandelte Angelburg, die Friedrich von Schwaben zu ihrer Burg lockt. Vgl. beispielsweise Kalocreants und Iweins Weg zur Gewitterquelle (‘Iwein’, V. 259 ff. bzw. 911 ff.), Parzival und Gawein auf dem Weg zur Gralsburg (‘Parzival’, 224 ff., ‘Croˆne’, V. 13935 ff. zu Beginn der dem Besuch vorangehenden ersten Wunderkette), ähnlich Wigalois auf dem Weg nach Glois (V. 6254 ff.) oder Meleranz, der auf dem Weg zu Artus Tydomie trifft (V. 330 ff.). Entsprechend später im Roman das Land vom brennenden See (V. 1992 ff., 2025 ff.); vgl. auch das Land Cluˆse in Strickers ‘Daniel’, den Weg durchs Gebirge zu Amurfina in Heinrichs von dem Türlin ‘Croˆne’, V. 7898 ff. oder das Land Jorams in ‘Wigalois’, V. 599 ff. So äußerst pointiert in der ‘Croˆne’ (Begrüßung Gaweins durch Gansguoter V. 13057, in den Wunderketten V. 14475, 14610 f., 14637, 16091 ff., 16194 sowie in der Aventiure vom Schwarzen Ritter V. 19025, 19323), daneben z. B. auch im ‘Friedrich von Schwaben’, V. 145 ff.
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tung eher topisch anmuten, vgl. V. 287 ff.). In dieser wohlüberlegten Werbung steht die Königin nicht allein, sondern in einer Reihe mit prominenten Vorgängerinnen, die sich ebenfalls Partner nach deren Leistung erwählt haben: sei es als Sieger über die bisherigen Landesherren (Laudine ‘Iwein’ V. 2033 ff., Amurfina ‘Croˆne’ V. 7901– 7963), als Gewinner eines extra zu diesem Zweck ausgerichteten Turniers (Herzeloyde ‘Parzival’ 60,9 ff.; Flursensephin ‘Croˆne’ V. 17578 ff. – allerdings hat hier der Vater das Turnier einberufen) oder aber als Retter aus höchster Not (Belakane ‘Parzival’ 44,1 ff., Condwiramurs ebd. 199,26 ff., die Mutter des ‘Gregorius’ V. 2234 ff.). Ähnlich planvoll geht etwa auch Jerome im ‘Friedrich von Schwaben’ vor. Das keusche Beilager,19 zu dem die Dame Hanns in den beiden ersten Nächten zwingt, hat keine wirklichen Parallelen außerhalb der ‘Königin vom brennenden See’. Während die komplizierte Regelung um mehrere ähnlich keusche Minnenächte im ‘Friedrich von Schwaben’ durch die Erlösungsbedürftigkeit Angelburgs ausreichend motiviert wird, läßt der vorliegende Text jegliche Begründung vermissen;20 nicht einmal als ordentlicher Treuetest (so verzeichnet der ›Motif-Index‹ diese Partie) mag die »gewöhnliche Minnekasuistik«21 der Königin dienen, die beliebig die Regeln ändern kann: Nach der ersten Nacht wird Hanns gelobt, nach der zweiten hingegen getadelt dafür, daß er sich an die Bedingung gehalten hat (V. 660–675, 706 ff.). Daß der Minnequalen leidende Hanns für seine Zurückhaltung von der Frau als zag (V. 708) beschimpft wird, weil er nicht gegen ihren Willen gehandelt habe, ist einer der wenigen Widerhaken des Romans: Was die Königin bemängelt, steht zum einen im Widerspruch zu den Erfahrungen der ersten Nacht sowie dem am ersten Tag ausgesprochenen Angebot, ihr Reich werde seines, sofern er sich an ihr gebot halte (V. 564– 569), zum andern ganz allgemein zum Ethos des Rittertums, zu dessen Grundpfeilern der Respekt vor den Damen zählt. Der Erzähler verzichtet auf eine wie auch immer geartete Vertiefung der Problematik. Auch bei dem ehebegründenden Tabu, die Frau nicht verletzen zu dürfen (V. 758 ff.),22 ist es lediglich die Ausprägung, die als romanspezifisch angesehen werden kann.23 In anderen Fällen droht der Verlust der übernatürlichen Partnerin (bzw. des Partners, vgl. das Frageverbot in ‘Lohengrin’ V. 227 f., 708 ff.) z. B. bei der Verletzung eines Sichttabus entsprechend der Amor-und-Psyche-Tradition (so in Konrads von Würzburg ‘Partonopier’ und in ‘Friedrich von Schwaben’), des Verbots eines Schönheitslobs im ‘Gauriel’ des Konrad von Stoffeln, eines Eheverbots wie in der 19
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V. 370 wäre wohl bett anstelle von tisch zu bessern: der Tisch wurde bereits V. 352 erhaben; der kostbare, feststehende staubhil (Himmel), der hier beschrieben wird, dürfte sich wohl eher über einem Bett denn über einem (üblicherweise transportablen) Tisch befinden. Die beiden Nächte könnten höchstens in ihrem Verbotscharakter als Vorbereitung auf die tabubedingte Ehe gewertet werden; oder aber die Königin hofft, Hanns in seinem Minnebegehren um so sicherer an sich zu binden (vgl. V. 652 f.: die min hett iren straul/ geschossen durch sin hertz). So Schulz [Anm. 10], S. 254. Schöning [Anm. 10], S. 203, zeigt sich dabei erstaunt, daß der Text die naturbedingte Blutung in der Hochzeitsnacht nicht weiter berücksichtige. Der ›Motif-Index‹ bietet keine Parallelen (Motiv C 31.8, »Tabu: striking supernatural wife«).
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Versnovelle ‘Der Ritter von Staufenberg’, des Verbots, samstags nach der Frau zu suchen, das in Ringoltingens ‘Melusine’ das Eheglück bedingt, oder schließlich, bereits stark vom Schema abweichend, die Trennung des Paars dadurch, daß Poytislier das Minneangebot der Fee in Füetrers gleichnamigem Roman zurückweist. Bevor die Frau nun verschwindet, kommt es zu einer ausführlichen Klage- und Abschiedsszene, in der sie Hanns von ihrem Bestimmungsort erzählt und dem Glauben Ausdruck verleiht, daß ein Wiedersehen völlig unmöglich sei (V. 1090 ff.); dann wird sie, ganz höfische Dame, zunächst noch uff die fart in schwarze Tauergewänder gekleidet (V. 1107). Anders als z. B. Parzival bzw. Gawein bei ihrem jeweils ersten, erfolglosen Besuch auf der Gralsburg, findet sich Hanns nicht einfach beim Erwachen in einer völlig verlassenen Burg (vgl. ‘Parzival’ 245,28 ff., ‘Croˆne’ V. 14880 ff.), sondern er erhält von den Dienern zunächst seine Ausrüstung wieder, mit der er zehn Jahre zuvor gekommen war (sogar sein Pferd ist noch in guoter acht, V. 1134); erst nach seinem Abschied verschwindet die Burg hinter ihm. Hanns verbringt ein halbes Jahr am Hof seiner Eltern in stummer Trauer; er verschweigt seine Geschichte selbst seinen Eltern gegenüber. Entsprechend offen läßt er den Anlaß seiner Reise – erst als er sich in Indien von seinem Gefolge verabschiedet, nennt er das Ziel seiner Fahrt: zuo suochen die allerliepsten frawen (V. 1731). Diese Suche gehört wiederum zum Schema der Mahrtenerzählungen, vgl. z. B. ‘Meleranz’ oder ‘Friedrich von Schwaben’; sie findet sich aber auch in anderen Gattungen (vgl. Wolfdietrichs dreijährige Suche nach Liebgart oder die Geschichte Willehalms und Eˆreˆnes in Rudolfs von Ems ‘Der guote Gerhart’). Auch wenn die Reise in Richtung Osten über Indien ans Ende der Welt führt, bleibt sie doch weitaus beliebiger und unkonkreter als die meisten Orientfahrten anderer Helden (z. B. Gahmuret, Herzog Ernst oder Reinfried von Braunschweig) – der Kontext der Kreuzzüge scheint weit entfernt und daher uninteressant für den Autor. Einziges Ziel, das Hanns auf seinem Weg verfolgt, ist die Suche nach Informationen über das Land vom brennenden See, in dem er seine Frau und Söhne weiß. So reist er von einem möglichen Helfer zum nächsten, immer auf Empfehlung hin. In dem ersten Land wird er an einen weitgereisten Ritter in Indien verwiesen, dieser schickt ihn zu einem Einsiedler in der Wüste (der ehemals ein französischer Ritter war); erst der dritte der Eremiten (der bereits über hundert Jahre alt ist – dem Gesetz der Steigerung und Übertreibung folgend, übertreffen sich die drei an Weltentferntheit und Alter) kann endlich die gesuchten Auskünfte geben. Sowohl für Ritter als auch für Eremiten als Helferfiguren bietet der ›Motif-Index‹ eine ganze Reihe von Parallelen aus den verschiedensten literarischen Bereichen; der zweite Einsiedler zeigt v. a. deutliche Anklänge an Trevrizent, indem er seine Gäste mit wurtzen und krut verköstigt (V. 1775 ff., vgl. ‘Parzival’ 485,21 ff.). Eins der auffälligsten Motive, die sich in der ‘Königin vom brennenden See’ finden, dürfte hingegen die Art und Weise sein, wie Hanns schließlich das sein Ziel abschirmende Gebirge überwindet: Er läßt sich von seinem Diener in die Haut des letzten ihnen verbliebenen Maultiers einnähen, ausgerüstet mit einem Schwert und seinen letzten 2000 Gulden. Ein Greif packt das vermeintliche Beutetier und trägt es auf den Gipfel des Gebirges; dort befreit sich Hanns mit Hilfe seines Schwertes und verjagt
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den Greifen. Diese List findet sich vor allem in den Erzählungen von Herzog Ernst: Während dort gleich mehrere Gefährten nach dem Schiffbruch am Magnetberg in Ochsenhäute eingenäht und von Greifen von der Insel gerettet werden, ist es in der stofflich eng verwandten Sage von Heinrich dem Löwen lediglich der König, der von seinem Diener in die Haut eines Ochsen eingenäht wird, so daß ihn ein Greif von dem durch Windstille festsitzenden Schiff und vor dem Hungertod retten kann.24 Die Vorgehensweise, mit der Hanns endlich seine Frau zurückgewinnt, steht wiederum in engem Zusammenhang mit vielen anderen Texten: Er gibt sich zunächst als Diener aus, um die Lage zu erkunden, und tritt dann als unbekannter, erfolgreicher Kämpfer im Turnier auf, der sich am Schluß zu erkennen gibt; es folgen Versöhnung und Wiedervereinigung der Eheleute und Herrschaftsübernahme. Das Verkleidungs-/Verstellungsmotiv ist vor allem im Rahmen der Brautwerbung verbreitet, vgl. nur Siegfried als Gunthers Werber um Brünhild (‘Nibelungenlied’), Hugdietrich, der sich als Frau verkleidet, um Zugang zu Hildeburg zu erhalten (‘Wolfdietrich B’), oder Ortnit, der sich auf Brautfahrt als Kaufmann ausgibt. Es findet sich aber auch häufig genug in anderen Handlungszusammenhängen, wie in ‘Salman und Morolf’, in der Karlmeinet-Tradition oder in Kaufringers Märe ‘Bürgermeister und Königssohn’, wo sich der französische Königssohn inkognito an der Universität Erfurt aufhält. Zumindest teilweise kommt es auch zur Erniedrigung durch die Verkleidung, wie sie Hanns als Diener des Wirtes erduldet, vgl. Siegfried als angeblichen Lehnsmann von König Gunther, Morolf oder Tristan als Bettler bzw. Pilger. Allein der ‘Königin vom brennenden See’ ordnet der ›Motif-Index‹ zu, daß Hanns Hilfe durch den Wirt, seinen vorherigen Dienstherren, für die Turniervorbereitungen zuteil wird und daß dieser dafür belohnt wird.25 Mit keinem Wort läßt der Erzähler hier irgendwelche Zweifel des Wirts aufkommen, daß Hanns wirklich der ist, der er zu sein vorgibt – die Selbsterklärung reicht völlig aus. Für Hanns’ Turnierteilnahme als Unbekannter hatte der Autor zahlreiche mögliche Vorbilder, erwähnt seien nur Gawein im Turnier um Flursensephin (‘Croˆne’ V. 18596 ff.) oder Lanzelet im Turnier von Djofleˆ (‘Lanzelet’ V. 2868 ff.), ähnlich Parzivals unerkannter Auftritt als roter Ritter vor Beˆaˆrosche (‘Parzival’ 383,23 ff.).26 Turniere, die in verschiedener Hinsicht den Charakter von Testsituationen hatten, sind fester Bestandteil der meisten höfischen Romane. Die große Anzahl von Gefährten, die sich Hanns für die einzelnen Turniertage erbittet, ist im Vergleich zu historisch belegten Zahlen gar nicht so groß: Am ersten Tag 40 (V. 2438), am zweiten Tag 60 Mann (V. 2445), für den dritten Tag alle Ritter, die nit herren habent (V. 2470 f.), dazu pfiffer und busaner guot (V. 2475). Bumke berichtet von Turnieren (im 12. Jahrhun24
25 26
Vgl. Deutsche Sagen, hg. von den Brüdern Grimm, ediert und kommentiert von Heinz Rölleke, Darmstadt 1999, S. 585 ff. (Nr. 520). Motiv K 1812.1, »Incognito king helped by humble man. Gives reward.« Der ›Motif-Index‹ verweist unter Motiv Nr. R 222 unter anderem noch auf Pleiers ‘Meleranz’ und ‘Tandareis und Flordibel’, auf den ‘Willehalm von Orlens’ sowie ‘Lohengrin’ und den ‘Schwanritter’. Vgl. darüberhinaus auch Ulrichs von Liechtenstein ‘Frauendienst’ oder ‘Reinfried von Braunschweig’.
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dert) mit 3 000 oder gar 20000 Rittern und entsprechend großen Gefolgen der einzelnen Turnierteilnehmer.27 Auch der Abschluß der Erzählung greift noch einige Motive auf, die Parallelen in anderen Werken kennen, so neben dem glücklichen Wiederfinden der getrennten Gatten vor allem die Vertreibung des unerwünschten Freiers (so z. B. Clamide in ‘Parzival’, der namenlose Bewerber um die Mutter von Gregorius oder der Sieg Gaweins über Reimambram zur Rettung Belahims in der ‘Croˆne’). Auffällig ist noch eine Gemeinsamkeit mit dem ‘Friedrich von Schwaben’: Das Gebirge läßt sich durch den Hornruf des Riesen öffnen, als Hanns mit Gefolge auszieht, um seinen treuen Diener im Wald zu suchen – ähnlich läßt sich der Berg, in dem Jerome Friedrich gefangen hält, mit einem magischen Stein öffnen (vgl. ‘Friedrich von Schwaben’ V. 3099 ff.).28 Allerdings finden sich auch weitere magische Berge, wie z. B. die mit einem Schlüssel zu öffnende Bergfalle des Baingranz (‘Croˆne’ V. 26632 ff.). Ein Erzähldetail sei hier noch als Beleg dafür erwähnt, daß der Autor trotz aller Schlichtheit seines Stils doch zuweilen über ausdrücklichen Gestaltungswillen verfügte: An den beiden ersten Tagen, die Hanns bei seiner zukünftigen Frau verbrachte, hatte diese ihm zunächst weiße, dann rote Kleider bringen lassen und sich selbst in denselben Farben gekleidet. Im Turnier tritt Hanns nun entsprechend am 1. Tag weiß, am 2. Tag rot gekleidet auf – die Königin erkennt ihn wohl auch nicht zuletzt an diesem Signal (vgl. V. 2525 ff., 2561 ff.).
III Hat der kursorische Durchgang durch die Motive und Erzählmomente gezeigt, aus welchem literarischen Spektrum die möglichen Anregungen für den Autor der ‘Königin vom brennenden See’ stammen könnten, so sagt er doch weniger über das Erzählanliegen und die Gattungszuordnung des kleinen Romans. Der herkunftsmäßig und inhaltlich nahestehende ‘Friedrich von Schwaben’ hatte ebenso wie z. B. ‘Der Ritter von Staufenberg’, ‘Melusine’ oder auch ‘Gauriel’ ein dynastisches Anliegen – die Erzählungen verknüpfen die Geschichte eines Herrscherhauses mit ihrem mythischen Stoff und tragen somit zur Verstärkung eines Stammes- bzw. Landesbewußtseins bei. König Hanns von Frankreich wird zwar ebenfalls einer realen Dynastie zugeordnet, es läßt sich aber keinerlei vergleichbares historisches Anliegen damit verbinden.29 Falls dem Roman über den konkreten Unterhaltungswert hinaus überhaupt ein soziales Interesse zugeschrieben werden darf, dann ließe sich das höchstens im Blick auf die Frage nach der Verantwortung eines 27
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Joachim Bumke, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, München 51990, S. 349 f. Der ›Motif-Index‹ bringt nur diese Parallele (Motiv D 1552.1, »Mountain opens at blow of divine rod«). Die Zuordung des Helden zum frz. Königshaus als Einpassung in einen geographischen Raum erscheint ebenso funktionslos wie z. B. die Identifikation der Romanhelden Bertholds von Holle als ungarischer Königssohn oder als englischer König.
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Herrschers sehen: Der ansonsten in jeder Hinsicht idealisierte Hanns ordnet seine Pflichten als Thronfolger völlig seiner Minne unter und entzieht sich ihnen. Allerdings wird diese Minnevergessenheit, die zu den Konstanten der Feengeschichten gehört, im Text mit keinem Wort problematisiert. Erst der Romanschluß bietet zumindest eine Lösung des unausgesprochenen Konflikts, indem brieflich ausgehandelt wird, daß der jüngere der beiden Söhne in Paris erzogen und zum Thronfolger herangebildet werden soll (V. 2871 ff.). ‘Die Königin vom brennenden See’ bietet also, anders als die verwandten Romane, kaum Anhaltspunkte für eine sozial- oder regionalhistorische Interpretation. Auch wenn ein Held ohne innere Konflikte und Wandlungen, der Verzicht auf die klassische Form sowie eine gute Kenntnis der höfischen Literatur die Nähe zum bürgerlichen höfischen Roman des Spätmittelalters zeigen,30 verdankt der Roman seine bereits früh konstatierte Isolierung im Blick auf eine Gattungsanknüpfung auf erzählerischer Ebene vor allem seinem Umgang mit dem Schema der Mahrtenehe.31 Abgesehen von dem außerweltlichen Auftauchen der Burg im Wald und dem der Ehe zugrundeliegenden Tabu, hat bereits die gesamte Eingangssequenz keine sehr ausgeprägte Feenwelt mehr zu bieten: Die Dame wird nach Kräften dem Ideal der höfischen Liebenden angepaßt, sie kennt Hanns vom Turnier in Frankreich, sie besucht die Messe, sie unterhält ihn mit höfischen Vergnügungen. Auch die Hochzeit und ersten Ehejahre lassen nichts Anderweltliches erkennen: Ein Priester schließt die Ehe, Hanns übernimmt die Herrschaft, zwei Söhne kommen zur Welt – das entspricht der realen Lebenserfahrung von Autor und Publikum. Erst nach zehn Ehejahren32 gerät der Feencharakter der Dame wieder in den Blick, als es zum Bruch des Verletzungstabus kommt: Im Rahmen einer zärtlichen Umarmung sticht sich die Königin an einer glufe und blutet; obwohl sie Hanns verzeiht, muß sie ihn mit den Söhnen verlassen. Aber selbst hier bleibt der höfische Charakter bestimmend; die Frau verfügt über keinerlei bedrohliches Potential (anders z. B. die dramatischen Folgen der Tabuverletzung in ‘Der Ritter von Staufenberg’ oder in ‘Melusine’). Stattdessen betont der Autor bei der Schilderung des Tabubruchs vor allem den Kontrast von kleinstmöglicher Ursache und größtmöglichem Leid: Die Stecknadel als kaum wahrnehmbare ›Waffe‹, die in ihrer Nichtigkeit anderweitig z. B. zur Illustration von Negationen verwendet wird, verbunden mit der liebevollen, all30
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Vgl. z. B. die Auflistung der typischen Charakteristika bei Derk Ohlenroth, ‘Reinfried von Braunschweig’. Vorüberlegungen zu einer Interpretation, in: Positionen des Romans [Anm. 10], S. 67–96, hier S. 67. Vgl. Sappler [Anm. 1], S. 182 f., der überlegt, ob es sich um eine »Rückbildung des höfischen Romans [. . .] mit einem sehr starken Verlust seiner literarischen Möglichkeiten« handelt, aber eher dazu neigt, in ihm eine »weitere Unterströmung der klassischen und nachklassischen Zeit neben Helden- und Spielmannsepik« literarisch werden zu sehen, »welche sich bis zu einer primitiven Parallele zum höfischen Roman erheben konnte«. In der christlichen Symbolik ist die Zehn Zahl der (vor allem irdischen) Vollkommenheit und Vollendung, so z. B. die Zehn Gebote; vgl. Gerd Heinz-Mohr, Lexikon der Symbole, München 1998, S. 340.
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täglichen Situation, hebt den völlig unbeabsichtigten Charakter der (Tabu-)Verletzung hervor und scheint eher in einen Minneroman zu gehören. Außerweltlichen Charakter haben im weiteren Verlauf ansonsten vor allem das Verschwinden der Burg hinter dem fortreitenden Hanns sowie die Abschottung des Landes vom brennenden See durch hohe Berge und den brennenden See. Dagegen ist die Handlung um Turnier, gewalttätigen Freier und abschließende Wiedervereinigung der Liebenden gänzlich vom höfischen Stil geprägt; der kleine Disput der Eheleute um den im Wald zurückgebliebenen Diener bringt sogar noch schwankmäßige Züge hinein (V. 2707–2750). Daß die Feen in den meisten mittelalterlichen Erzählungen – und nicht nur hier – kaum anders als höfische Damen erscheinen, führt Schulz auf die Verdikte der zeitgenössischen Theologie zurück.33 Die Figuren seien gespalten in einen freundlichen Part, den der höfischen und sanften Geliebten, sowie in einen mehr oder weniger ausgeprägt bedrohlichen Teil, der allerdings in den meisten Fällen auf andere Figuren und Wesen übertragen werde, um den kirchlichen Dämonieverdacht zu entkräften. Im Fall der Königin vom brennenden See scheint der dämonische Part weitgehend unterdrückt zu sein – nicht einmal die ihr Reich schützenden Greifen und Riesen erweisen sich als wirklich gefährlich (die Greifen lassen sich überlisten; der Riese auf der feuerresistenten Fähre ist entgegen allen Befürchtungen hilfsbereit und freundlich zu Hanns). Damit entfernt sich der Roman so weit von dem ursprünglichen Schema, wie er es in dessen Rahmen nur irgend kann. Alles, was vom Übernatürlichen bleibt, sind die aus der normalen Welt entrückten Herrschaftsgebiete der namenlos bleibenden Dame sowie deren außerordentliches Verschwinden. In diesem Sinne kann die pseudo-geographische Verortung des Landes im brennenden See, zu dem Hanns jahrelang bis an das Ende der Welt reist, als Ausdruck einer erwünschten Rationalisierung verstanden werden. In diese Beobachtung fügt sich, daß Hanns auf seiner Reise die christliche Sphäre nie verläßt: Noch in den entferntesten Gegenden trifft er auf Christen, die ihn mit Kreuzzeichen empfangen und sich mit ihm verständigen können – so ist der erste Einsiedler Franzose (V. 1775 ff.), der Hanns sogar kennt; sowohl der alte Mann im Wald (V. 1872 ff.) als auch der 100-jährige biderman, der Hanns schließlich die gewünschten Auskünfte geben kann, sind ebenso Christen. Dabei findet sich aber kein Hinweis auf eine besonders fromme oder gar missionarische Haltung des Erzählers. Es scheint lediglich, als habe der Autor eine Art Experiment versucht: ein bewährtes Erzählschema, das strukturbedingt eigentlich stark außerweltliche Züge trägt, so völlig in die höfisch-christliche Sphäre zu übersetzen, wie dies nur irgend möglich schien. Damit unterscheidet sich der Roman, der zwar unterhaltsam zu lesen, in seiner Schlichtheit aber wohl kaum zur großen Literatur zu zählen ist, auf seine Weise von seinen Gattungsgenossen – indem sein Autor es unternimmt, einen Beitrag zu den Mahrtenerzählungen zu leisten, der zugleich die größtmögliche Distanz zu dieser Gattung einnimmt. 33
Vgl. Schulz [Anm. 10], S. 234 f.
Grauzonen Moral und Lachen bei Heinrich Kaufringer von Nicola Zotz I Heinrich Kaufringers »eigentümlichste« Geschichte ist, so Paul Sappler,1 die von der ‘Unschuldigen Mörderin’, jener Gräfin, die mehrere Menschen umbringt und dabei schuldlos bleibt.2 Diese Paradoxie macht sicherlich einen Aspekt der Eigentümlichkeit aus. Ich frage mich, ob dieses meistgedeutete und vielleicht »beste«3 Märe Kaufringers nicht noch aus einem anderen Grund die Forschung so herausgefordert hat: Neben der offensichtlichen, wenn auch schwierigen, moralischen Aussage arbeitet die Geschichte, wie ich zeigen möchte, auch mit Komik, die sich zu der moralischen Ebene nur schwer zu fügen scheint. Komische Züge hat die Forschung gerade diesem Text bisher, soweit ich sehe, einhellig abgesprochen,4 obwohl die Diskussion von Kaufringers Mären neben der hinter den Geschichten stehenden Aussage, also der Moral (sei sie als christlich, laizistisch oder kaufmännisch-städtisch beschrieben worden), auch immer wieder Kaufringers spezifische Komik in den Blick genommen hat. Die ‘Unschuldige Mörderin’ freilich ist nur unter erstgenanntem Aspekt betrachtet worden. Dies ist um so merkwürdiger, als eine Mehrschichtigkeit oder Mehrstimmigkeit schon länger als für Kaufringer typisch angesehen wird. Auch die Zusammensetzung des Autor-Korpus ist heterogen. Überliefert ist Kaufringers Werk in zwei Haupthandschriften.5 Am wichtigsten ist der Münchner Cgm 270, dessen zweiter Faszikel, von einem Schreiber geschrieben, ausschließlich die 17 Texte Kaufringers überliefert, darunter seine 13 Mären; weitere zehn Stücke überliefert die Berliner Handschrift Ms. germ. fol. 564. Zu den Mären gesellen sich geistliche Er1 2
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Paul Sappler, Art. ›Kaufringer, Heinrich‹, in: 2VL 4 (1983), Sp. 1076–1085, hier Sp. 1084. Heinrich Kaufringer, Werke, hg. von Paul Sappler, Bd. 1: Text, Tübingen 1972, Bd. 2: Indices, Tübingen 1974, Nr. 14. Karl Stackmann, Art. ›Kaufringer, Heinrich‹, in: 1VL 5 (1955), Sp. 506–510, hier Sp. 508. Vgl. etwa Kurt Ruh, Kaufringers Erzählung von der ‘Unschuldigen Mörderin’, in: Interpretation und Edition deutscher Texte des Mittelalters. FS John Asher, hg. von Kathryn Smits, Werner Besch und Victor Lange, Berlin 1981, S. 165–177 (»entbehrt Kaufringers Erzählung gerade des Komischen«, S. 175), oder Marga Stede, Schreiben in der Krise. Die Texte des Heinrich Kaufringer, Trier 1993. – Manche Autoren zählen die Geschichte noch nicht einmal zu den Mären Kaufringers, sondern bezeichnen sie als Exempel: »Ich schlage vor, die ‘Mörderin’ als ein verkapptes und überdimensionales geistliches Exempel aufzufassen«; Ralf-Henning Steinmetz, Heinrich Kaufringers selbstbewußte Laienmoral, in: PBB 121 (1999), S. 47–74, hier S. 60. Oder: »‘Die unschuldige Mörderin’ als radikales Exempel«; Klaus Grubmüller, Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter: Fabliau − Märe − Novelle, Tübingen 2006, S. 176–179. Dies und die folgenden Informationen nach Sappler [Anm. 2], S. IX f.
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zählungen, Bıˆspeln und Reden. Der in beiden Handschriften erkennbare, vielleicht auf Kaufringer selbst zurückgehende Korpusgedanke legt es nahe, die Texte im Zusammenhang zu behandeln. Auch für eine Untersuchung wie die vorliegende, die sich ausschließlich mit weltlichen Texten beschäftigt, ist das insofern von Interesse, als auch deren Argumentation nicht immer deutlich von einer geistlichen zu unterscheiden ist: Selbst die als weltlich einzuordnenden Texte oszillieren, sie weisen schwankhafte ebenso wie exempelhafte Züge auf, es begegnet Derbes und Komisches neben Lehrhaftem. Wie Udo Friedrich6 zusammenfasst, entzieht sich Kaufringer einer einsinnigen Didaktik, er irritiert Erwartungen und schafft in der Variation und Verbindung von Typen neue, komplexere Muster. Die dadurch entstehende »Pluralisierung plausibler Handlungs- und Deutungszusammenhänge« führt zu einer offeneren Struktur und ebnet, wie man immer wieder zeigen konnte, den Weg zur Novelle.7 Diese Komplexität stellt auch die Voraussetzung meiner Untersuchung dar, in der eine moralische und eine komische Lesart des Textes miteinander verbunden werden sollen. Komik und Moral müssen sich zunächst einmal nicht ausschließen, und es scheint mir eine lohnende Frage zu sein, wie und mit welchem Ziel Kaufringer sie zusammenbringt.
II Bevor ich an einem Beispiel vorführe, was ich damit meine, möchte ich kurz auf die methodischen Grundlagen eingehen, mit denen ich im Folgenden arbeite. Während für die moralische Deutung von mittelalterlichen Texten mit dem moraltheologischen und juristischen Diskurs vergleichsweise sichere Bezugsgrößen gegeben sind, mit deren Hilfe Kaufringers Texte auch bereits vielfach gedeutet worden sind, sieht es auf dem Feld der Komik sehr viel schwieriger aus. Nach einer grundlegenden Lexikon-Definition beruht Komik auf einer »überraschend wahrgenommenen Inkongruenz«.8 Ferner besteht Konsens, dass eine Distanz zum Geschehen vonnöten ist, damit man es als komisch empfindet;9 das wiederum bedeutet, dass es wesentlich vom Umfeld abhängt, ob etwas als komisch empfunden wird. Hier nun liegt, worauf zuletzt Schnyder10 nachdrücklich aufmerksam gemacht hat, das grundsätzliche Problem für denjenigen, der sich über die Komik von Zeugnissen vergangener Epochen äußern möchte: Das Lustige unterliegt einer historischen und soziokulturellen Relativität.11 Mit dem Bewusstsein und der Reflexion der his6
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Udo Friedrich, Metaphorik des Spiels und Reflexion des Erzählens bei Heinrich Kaufringer, in: IASL 21 (1996), S. 1–30, hier S. 4. Vgl. beispielsweise Ruh [Anm. 4], S. 177. Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen, hg. von Dieter Burdorf, Christoph Fasbender und Burkhard Moennighoff, 3., völlig neu bearb. Aufl., Stuttgart 2007, S. 389. Ebd. Andre´ Schnyder, Zum Komischen in den Mären Heinrich Kaufringers, in: Bausteine zur Sprachgeschichte der deutschen Komik, hg. von Alexander Schwarz, Hildesheim/Zürich/ New York 2000, S. 49–73. Um dieser zu begegnen, hat Schnyder zunächst nach Reflexionen über das Lachen oder das
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torischen Differenz möchte ich mich dem Komischen in den Texten nähern, indem ich zunächst von meinem eigenen Komikempfinden ausgehe, und stelle dafür im Folgenden ein paar definitorische Merkmale von Komik zusammen, mit deren Hilfe sich jenes Gespür vielleicht untermauern lässt. Ich gehe nochmals aus von der oben genannten »überraschend wahrgenommenen Inkongruenz«. Häufig lässt diese sich derart spezifizieren, dass eine Erwartung durchbrochen wird. Mit Henri Bergson gesprochen, reizt es zum Beispiel zum Lachen, wenn man erwartet, dass jemand flexibel reagiert, der aber stattdessen starr und unflexibel handelt: »Ce qu’il y a de risible [. . .], c’est une certaine raideur de me´canique la` ou` l’on voudrait trouver la souplesse attentive et la vivante flexibilite´ d’une personne.«12 Solche raideur de me´canique kann zum Beispiel vorliegen, wenn man einem Hindernis (einer Bananenschale, einem Laternenpfahl) nicht flexibel ausweicht. (Übrigens lässt sich das auch umkehren, wenn beispielsweise ein Gegenstand, von dem man eine raideur de me´canique erwarten würde, überraschenderweise eine menschlich scheinende Flexibilität an den Tag legt.) Der komische Effekt kann durch Wiederholungen gesteigert werden (man reagiert unflexibel, obwohl man aus der Erfahrung gelernt haben müsste). Überhaupt haftet jeder Wiederholung etwas Starres, Mechanisches an, was Komik hervorrufen kann.13 Eine andere Herangehensweise, die Inkongruenz genauer zu bestimmen, wählt Odo Marquard: »Komisch ist und zum Lachen bringt, was im offiziell Geltenden das Nichtige und im offiziell Nichtigen das Geltende sichtbar werden läßt.«14 Bei Marquard prallen nicht vivant und me´canique aufeinander, sondern grundsätzlicher Geltendes und Nichtiges. Auch er erklärt den komischen Effekt also über die Durchbrechung einer Erwartung: Das, mit dem man rechnet, sei das Geltende, welches aber nicht ungebrochen existiert. Wenn diese Brüche aufscheinen, reizt das zum Lachen. (Und auch Marquard denkt die Umkehrung mit: Auch Geltendes, wo man es nicht vermutet, wirkt komisch.) Über den Aspekt der durchbrochenen Erwartung kann nun Komik auch in literarischen Texten eingesetzt werden. Es gibt Situationen, die vom Leser nicht antizi-
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Komische gesucht, was freilich ergebnislos geblieben ist: Mit Ausnahme von formelhaften Kennzeichnungen von Geschichten, etwa des doch guot ze lachenne ist, finden sich hier wie in anderen Mären keine reflektierenden Passagen über das Komische. Ebenso wenig zum Ziel führt Schnyders Zusammenstellung lexikalischer Hinweise auf das Lachen (smielen, spot, lachen etc.). Man kann über das Lachen reden, ohne dass diese Rede im Mindesten komisch sein muss. Und es können Figuren in einer Geschichte lachen, ohne dass das Publikum einstimmt. Und so greift Schnyder, wie auch andere Forscher, letztlich doch auf sein eigenes Gespür zurück und nutzt es als Gradmesser für das Komische. Henri Bergson, Le rire. Essai sur la signification du comique, Paris 1924 (le texte a e´te´ originalement publie´ en trois articles dans la Revue de Paris, 1er fe´vrier, 15 fe´vrier et 1er mars 1900), S. 13 (Hervorh. im Original). »La` ou` il y a re´pe´tition, similitude comple`te, nous soupc¸onnons du me´canique fonctionnant derrie`re le vivant« (ebd., S. 22). Odo Marquard, Exile der Heiterkeit, in: Das Komische, hg. von Wolfgang Preisendanz und Rainer Warning (Poetik und Hermeneutik 7), München 1976, S. 133–151, hier S. 141.
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piert werden können, die ihn daher überraschen oder ihm unangemessen scheinen. Erwartungen können auch gezielt aufgebaut und dann durchbrochen werden, was dann auch am Text nachweisbar ist. Auch wenn diese Nachweise nun immer noch keine Komikbeweise darstellen,15 können sie im Folgenden als Hilfsmittel bei der Untersuchung genutzt werden.
III Eine junge sittsame und tugendhafte Gräfin wird vom König, edel, jung und reich (27), zur Frau begehrt. Ihr Bruder stimmt der Vermählung gerne zu. Nun hat der König in seinem Gefolge aber einen betrügerischen Ritter, der wiederum einen bösen Knecht hat. Dieser verleumdet seinem Herrn gegenüber die Gräfin als unkeusch, was der Ritter sogleich testen möchte, und wartet mit einem Plan auf: Der Ritter habe sich in der kommenden Nacht, der letzten Nacht vor der königlichen Hochzeit, auf die fast verlassene Burg der Gräfin zu begeben und sich im Schutz der Dunkelheit als der König auszugeben, um Einlass zu erhalten. Genau so geschieht es. Die Gräfin erschrickt ob der Meldung des Pförtners, dass der König nächtlichen Einlass begehre, gibt aber schließlich dem Drängen des Besuchers nach aus Angst, sich sonst das ganze Eheleben lang seinen Vorwürfen auszusetzen. Unerkannt vermag der Ritter mit ihr zu schlafen. Anschließend aber verrät er sich durch eine unbedachte Bemerkung. Als die Gräfin sieht, dass sie sich einem Betrüger hingegeben hat, holt sie ein Messer und schneidet dem schlafenden Ritter den Kopf ab. Da sie die Leiche nicht allein entsorgen kann, wendet sie sich an den Pförtner um Hilfe, die dieser ihr um den Preis ihrer Liebe gewährt. All ihr Flehen und alles Gold der Welt können nicht hindern, dass sie schließlich auch mit diesem Mann schlafen muss. Als er anschließend auf ihr Geheiß den Körper des Ritters in den Brunnen wirft, kann sie ihn ebenfalls hineinstoßen. Den Rest der Nacht verbringt sie damit, die Blutspuren zu beseitigen. Am nächsten Morgen kehrt der Graf auf seine Burg zurück; im Wald trifft er den bösen Knecht an, der auf die Rückkehr seines Herrn wartet. Da er zwei Pferde bei sich hat, hält ihn der Graf für einen Pferdedieb und knüpft ihn am nächsten Baum auf. Anschließend findet das Hochzeitsfest statt. Alle sind fröhlich, nur die Gräfin sorgt sich wegen ihrer verlorenen Jungfräulichkeit. Um diese zu vertuschen, bittet sie ihre treueste Magd, sich an ihrer Stelle zum König zu legen. Der Tausch gelingt. Doch im Anschluss an das Beilager weigert sich die Magd, das königliche Bett wieder zu verlassen. Als kein Bitten hilft, zündet die Gräfin die Schlafkammer an, rettet ihren Ehemann und überlässt die Magd den Flammen. Nach 32 glücklichen Ehejahren überrascht der König seine Frau dabei, wie sie vor Kummer weint. Nachdem er ihr versprochen hat, dass er ihr weder has noch zorn (V. 652 f.) entgegenbringen werde, beichtet sie ihm, was damals vorgefallen ist. Gerührt über all die Not, die sie um seinetwillen erlitten hat, verzeiht er ihr.
Es herrscht eine auffällige Diskrepanz zwischen den offensichtlichen Übeltaten der Dame und der Tatsache, dass diese weder vom König noch von der Geschichte noch vom Erzähler problematisiert werden. Kaufringer erzählt die Morde mit Genauigkeit und Akribie, er verschweigt nichts, und dennoch haftet der Dame kein Mangel an, wie es der ebenso paradoxe wie treffende Titel ‘Die unschuldige Mörderin’ auf den Punkt bringt. Ein genauer Blick auf die Erzählung, ihre Wertungen und Zuspitzungen soll zeigen, wie dieser Widerspruch im Einzelnen inszeniert ist. 15
Nicht jede durchbrochene Erwartung muss bei jedem und unter allen Umständen Lachen hervorrufen. Die Kritik an der Komikforschung ist ebenso bedeutend wie sie selbst und konnte immer wieder zeigen, dass Komik eben nicht vorhersagbar ist.
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Der Erzähler schickt seiner Geschichte ein Promythion voraus, in dem dieser Konflikt noch nicht zu erahnen ist. Der erste Teil (der prologus praeter rem) versichert, dass Gott denjenigen nicht verlässt, der auf ihn vertraut. Im zweiten Teil (dem prologus ante rem) spricht der Erzähler zum ersten Mal von der Schuldlosigkeit der Gräfin, deutet ihre aribait (‘Mühen’, V. 13) an und betont wiederum die Hilfe Gottes, die ihr zuteil wurde. Dies ist deswegen bemerkenswert, weil die Erzählung selbst nur ein einziges Mal berichtet, wie die Gräfin sich in ihrer Not an Gott wendet.16 Die Deutungen der Forschung gehen entweder dahin, die göttliche Gnade als allzu zweifelhaft in Frage zu stellen und ihr beispielsweise die Autonomie der Erzählung gegenüberzustellen,17 oder aber die ganze Geschichte, wie es das Promythion nahe legt, als Zeugnis göttlicher Führung und Fügung zu lesen,18 was zu Glättungen in der Geschichte selbst führt, da sie offensichtlich mit anderen Motivationen als der göttlichen arbeitet. In der Exposition wird die Gräfin als vollkommen, gut und integer vorgestellt: keusch und frumm, vein und zart / und geporn von hoher art (‘sittsam und rechtschaffen,19 edel, fein und von hoher Geburt’, V. 19 f.). Erhärtet wird dies zusätzlich dreifach: durch ihren tugendhaften Bruder, durch die Werbung des gleichfalls edlen Königs sowie durch ihren untadeligen Leumund. Das Böse der Gegenwelt erscheint demgegenüber um so verdorbener. Der Ritter des Königs zeichnet sich durch gevär (‘Hinterlist, Betrug’, V. 46) aus, das reine Böse hingegen verkörpert sein Knecht. Von ihm geht die Verleumdung der Gräfin aus, noch dazu lässt sich kein Motiv ausmachen, er ist böse um des Bösen willen, wohingegen der Ritter etwas zu erreichen sucht (er ist üppig, ‘übermütig, überheblich’, V. 66, wobei eine Standesproblematik aufscheint – er will dem König zuvorkommen beim Beilager) und, auch im weiteren Verlauf der Geschichte, wesentlich durch seine Dummheit gekennzeichnet ist (bedort, ‘töricht’, V. 46). Diese ist es wohl auch, die ihn übersehen lässt, dass der Plan des Knechts gerade nicht von einer unkeuschen Frau auszugehen scheint, sondern richtigerweise den einzigen Weg zu ihr in der Maske des Königs annimmt. Die vermeintliche Unkeuschheit wird mithin als Motiv dafür ge16 17 18
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Wegen ihrer verlorenen Jungfräulichkeit (V. 448 f.). Ruh [Anm. 4]. Michaela Willers, Schwankmuster und deren Funktionalisierung in den Texten Heinrich Kaufringers (unter besonderer Berücksichtigung des Märes ‘Die unschuldige Mörderin’), in: Komik und Sakralität. Aspekte einer ästhetischen Paradoxie in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. von Anja Grebe und Nikolaus Staubach, Frankfurt a. M. 2005, S. 129–140. Man könnte diskutieren, wie viel von der ursprünglichen Bedeutung ‘tatkräftig’ an dieser Stelle mitschwingt; gerade mit Bezug auf eine Frau und in der Paarformel mit keusch sehe ich den Aspekt des Nützlichen, Tatkräftigen allerdings eher im Hintergrund. Zu erwägen wäre auch die Übersetzung durch das neuhochdeutsche ‘fromm’. Eine religiöse Bedeutung würde in der Paarformel einen guten Sinn ergeben und ist für das 15. Jahrhundert schon belegt (vgl. Mittelhochdeutsches Handwörterbuch von Matthias Lexer. Zugleich als Supplement und alphabetischer Index zum Mittelhochdeutschen Wörterbuche von Benecke-Müller-Zarncke. Nachdruck der Ausg. Leipzig 1872–1878 mit einer Einleitung von Kurt Gärtner, 3 Bde., Stuttgart 1992, Bd. 3, Sp. 549).
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nutzt, die Leichtgläubigkeit, Überheblichkeit und Dummheit des Ritters zu inszenieren. Davon sticht die Klugheit der Frau in dem Moment um so stärker ab, da er sich als König ausgibt und Einlass begehrt: Sie erschrickt und beginnt sehr differenziert nachzudenken, was (nur bei dieser Figur) als innerer Monolog gestaltet ist. Durch die Innenperspektive, die das Publikum auf diese Weise gewinnt, wird ein weiteres getan, um Sympathie in diesem Text zu verteilen; nicht zuletzt zeigen ihre Gedanken, dass die Gräfin ganz rein ist. Selbst als sie Freude am Liebesspiel bekundet, kommentiert der Erzähler, dass das ganz im Sinne eines frummen weibes (V. 240) sei; nur der törichte Ritter deutet das als Bestätigung der vermeintlichen Unkeuschheit und macht einen diesbezüglichen Kommentar, der ihn sogleich verrät. Die Erzählhaltung wechselt radikal in dem Moment, wo die Dame den Betrug erkennt und den ersten Mord begeht. Kein innerer Monolog bereitet uns darauf vor, kein Kommentar versichert, sie habe keine andere Chance. Sie leuchtet dem Ritter ins Gesicht: vil pald si da erkante das, das er nicht der künig was. des erschrack sie da vil ser, das si also hett ir eer von dem bösen man verlorn. si gieng mit laid und in zorn und mit grossem unmuot und vand ain messer scharpf und guot; das truog si in die kemenat. damit schnaid si dem ritter trat das haubet von dem pottich dan; das muost er ir ze pfande lan. (V. 269–280) (‘Sofort erkannte sie, dass dieser nicht der König war. Sie erschrak sehr heftig darüber, dass sie so ihre Ehre durch den bösen Mann verloren hatte. Sie ging leidvoll und zornig und sehr wütend und fand ein scharfes und gutes Messer. Das nahm sie mit in die Kemenate. Damit schnitt die dem Ritter schnell den Kopf vom Rumpf ab. Das war das Pfand, das er ihr lassen musste.’)
An die Stelle eines inneren Monologs tritt eine äußerst knappe Beschreibung ihres seelischen Zustands (mit laid und in zorn / und mit grossem unmuot). Und mit einemmal ist die Gräfin nicht mehr von den edelsten Motiven geleitet, sondern Verzweiflung und Wut beherrschen sie. Diese Stelle ist von der Forschung meines Wissens noch nicht zur Kenntnis genommen worden. Dabei ist der heftige innere Aufruhr ein wichtiger Zug der Gräfin in diesem Moment, denn er schafft einen Übergang zu dem brutalen Mord, der mit Blick auf die Liebenswürdigkeit der Gräfin nur schlecht erzählbar wäre. Dessen Vorbereitung und Durchführung nun wird von einem entfernteren Standort aus geschildert. Man sieht die Gräfin nüchtern und pragmatisch eine Handlung nach der anderen erledigen. Diese Distanz stellt, wie oben angesprochen, die Voraussetzung für eine mögliche Komik dar. Die sanfte, edelmütige Gräfin, die stets alle Ar-
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gumente klug gegeneinander abwägt und zu moralisch untadeligen Lösungen kommt, verwandelt sich – nach einer Phase von Trauer und Zorn – in eine souveräne Mörderin. Sie, die bisher reagierte, wechselt in dem Moment, wo sie zum unwiderruflichen Opfer geworden ist, auf die Seite der Täter. Dieser Umschwung durchbricht die Erwartung, so dass der Leser verwundert ist und vielleicht sogar mit Lachen reagiert. In Anlehnung an Marquards Terminologie hätte die Geschichte dann bis zu diesem Punkt die Gräfin als untadelig etabliert, was als Geltendes zu fassen wäre, und nun würde sichtbar, dass sie auch andere Züge hat, die sich nicht innerhalb der etablierten Ordnung verstehen lassen, also gleichsam nichtige; Verunsicherung und Hilflosigkeit angesichts dieser unvorhergesehenen Wendung sind die Folge beim Leser. Wenn er lacht, dann nicht aus Bosheit, sondern aus Überraschung. Der Erzähler sorgt ferner dafür, dass man kein Mitleid mit dem betrügerischen Ritter hat, denn dass er unbesorgt eingeschlafen ist, kann als Teil seiner Überheblichkeit und damit als raideur de me´canique verstanden werden, indem er sich hilflos ausgeliefert hat. Der abschließende Erzählerkommentar (das muost er ir ze pfande lan) tut ein Übriges zur Komik: Als ob es ihr darauf angekommen wäre, von diesem Betrüger irgendein Pfand zurückzubehalten! Die folgende Handlung nimmt wieder die Augenhöhe der Gräfin ein: Wie vor dem Mord wird sie als klug dargestellt, argumentiert umsichtig mit dem Pförtner und erklärt ihre Notsituation und ihre Bitte. Sogar ihre Hilfe beim Tragen bietet sie an. Ist das komisch? Auch noch den Kopf zu tragen, würde für den Pförtner vermutlich keinen Unterschied machen. Aber die Zerstückelung des Übeltäters entmenschlicht diesen, was wiederum die Frau bei der Entsorgung entlastet. Ihre Sorge um den Kopf mag, wie Steinmetz meint, die Gräfin in die Nähe der Judith mit dem Kopf des Holofernes rücken und ihre Tat dadurch veredeln.20 Ebensosehr verweist sie aber auch darauf, dass die Gräfin die Verantwortliche bei der Planung ist und dass sie bei dieser Leichenentsorgung nichts dem Zufall überlässt. Nachdem die Gräfin auch den Pförtner nicht davon abhalten kann, mit ihr zu schlafen, erfüllt er nun seinen Teil der Abmachung: Da er sein boßhait volbracht, das weib da mit dem portner gacht und fuort in zuo der kemenat. den toten körpel nam er trat und swang in über den hals sein; das haubt truog das frawelein. (V. 337–342) (‘Nachdem er seine Schlechtigkeit an ihr ausgetobt hatte, führte die Frau den Pförtner eilig in die Kemenate. Schnell nahm er den toten Körper und warf ihn sich über den Hals; den Kopf trug das Fräulein.’)
Hier nun scheint mir deutlich eine Sprach- und Situationskomik vorzuliegen. Erst wird die heftige, schwungvolle Bewegung des Pförtners berichtet. Damit aufs deutlichste kontrastiert die zarte Frau (Diminutiv), die jedoch das Haupt trägt, was wie20
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derum ihrer Zartheit krass entgegensteht. Hier nun ist nicht mehr sicher, ob man überrascht lacht, weil die zarte Frau den brutalen Mord verübt (das Nichtige im Geltenden), oder ob man über das Diminutiv schmunzelt, das die kaltblütige Mörderin bezeichnet (das Geltende im Nichtigen). Merkwürdig scheint die Formulierung swang in über den hals sein. Nach Ausweis der Wörterbücher scheint das keine gängige Formulierung für ›über die Schulter‹ zu sein; und ein Um-den-Hals-Legen müsste auch im Mittelhochdeutschen mit der Präposition umbe stehen. Hat man sich also vorzustellen, dass der Pförtner so gebückt geht, dass der tote Körper über seinem Hals zu liegen kommt? An der Stelle, wo eigentlich der Kopf des einen sitzen müsste, befindet sich jedenfalls nun der Körper des anderen. Beide Übeltäter werden in dieser Szene also kopflos, gesichtslos, sie verschmelzen zu einem Bösewicht, zu einem Objekt, mit dem das Subjekt, die kopftragende Gräfin, verfährt. Klug fädelt sie nun die Entsorgung beider Bösewichte ein: Indem sie dem Pförtner sagt, er möge sich weit über den Brunnen beugen, um die Leiche möglichst lautlos hineinfallen zu lassen, sorgt sie gleichzeitig dafür, dass er seinen Schwerpunkt über den Brunnen verlagert, so dass sie ihn leicht hineinstoßen kann. Der Pförtner, der sie bereits als Mörderin kennt, ahnt dennoch nichts von der Gefahr, in der er schwebt, und liefert sich ihr aus; dumm und unflexibel kann man es als raideur de me´canique lesen, als er sich über den Brunnen beugt: und begraif in bei den füessen sein und sturzt in in den waug hinein, den valschen portner, vil schon. also ward im der minne lon. er muost verderben ze der stund in des diefen wassers grund. das haupt si selb hinein swang. (V. 357–363) (‘und fasste ihn an den Füßen und warf ihn richtig schön ins Wasser, den falschen Pförtner. So bekam er seinen Liebeslohn. Er musste gleich sterben am Boden des tiefen Brunnens. Den Kopf warf sie selber hinterher.’)
Zum dritten Mal, und wiederum mit einem nüchternen erzählerischen Nachklapp, wird man darauf hingewiesen, dass sie sich persönlich um den abgeschlagenen Kopf kümmert: Während im Brunnen beide Männer über-, ja durcheinander zu liegen kommen (erst der Rumpf des einen, dann der Körper des anderen, dann der Kopf des ersten), zieht sie die Fäden, spielt sie die Haupt-Rolle. Man kann nicht übersehen, wie kaltblütig sie ist. Inzwischen aber ist es nicht mehr der Kontrast zu ihrer Feinsinnigkeit und Klugheit, der überrascht. Der Erzähler scheint vielmehr in dieser Szene Wert darauf zu legen, beide Seiten der Gräfin miteinander zu verbinden. Ihre Klugheit erweist sich auch und gerade in der Entsorgung der Leiche(n). Der komische Effekt resultiert nun nicht mehr aus einer Überraschung oder der Inkongruenz verschiedener Züge. Sondern wenn man lacht, dann weil sie so souverän mit allen sich stellenden Hindernissen zurechtkommt. Oder weil sie das Haupt in den Brunnen schwingt, eine nonchalante Bewegung, die nicht zuletzt die Bewegung des Pförtners
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zitiert, der die Leiche schultert: Wer zuletzt schwingt, schwingt am besten. Schließlich ist die Stelle durchaus auf Schadenfreude hin erzählt: Das dem Mord nachgestellte vil schon (V. 359) und der im Reim dazu stehende minne lon (V. 360) tragen deutlich ironische Züge. – Ein Wort noch zur Moral: In der ganzen Szene gibt es keine Andeutung, dass sie oder der Erzähler moralische Skrupel hätten angesichts dieser zwei Morde. Sie werden auch nicht explizit verteidigt. Allerdings mag die stringente Erzählung andeuten, dass sie die einzige mögliche Lösung in der ausweglosen Situation der Gräfin sind. Mit deutlichen Wertungen hingegen durchsetzt der Erzähler die sich anschließende Szene vom Ende des bösen Knechts. Bereits vor dem Hängen wird nochmals betont: er fuort nit rechte sach (‘er hatte keine gerechte Sache im Sinn’, V. 399). Sein Tod wird entsprechend als schändlich und als hässlich markiert: darnach an ains boumes ast ward er gehenkt unverborgen. daran muost er also worgen, bis er daran starb vil trat. (V. 404–407) (‘Danach wurde er öffentlich an einem Ast aufgehängt. An dem Strick musste er so lange würgen, bis er bald darauf starb.’)
Anschließend wertet der Erzähler stark und eindeutig: Er gibt dem Knecht die volle Schuld am Ehrverlust der Gräfin und an den beiden Toden. Die Verkettung der bösen Vorkommnisse ist auf einen Urheber zurückzuführen. Dadurch wird indirekt die Gräfin vollständig entlastet, denn den Knecht trifft ja die ganze Schuld, und sie hat nur reagiert und konnte auch nicht anders als reagieren. Des Erzählers zehn Verse lange Rekapitulation des Geschehenen, das dem Knecht angelastet wird, wird unvermittelt abgebrochen mit dem Satz: wir süllen in da hangen lan (‘nun wollen wir ihn da hängen lassen’, V. 418). Durch die erste Person Plural wird der Vers als dem Exkurs zugehörig markiert, gleichzeitig enthält er aber keine Metaaussage mehr, sondern leitet zum Re´cit zurück. Auch dies ist ein Bruch, der eine komische Wirkung haben kann, diesmal aber in Bezug auf die Erzählebenen. Zu einem vergleichbaren Verfahren in Kaufringers ‘Drei listige Frauen’ hat Keller angemerkt: »Le pluriel ›nous‹ [. . .] unit le narrateur et le public et souligne en meˆme temps l’aspect formel de la mise en sce`ne.«21 Dem Publikum wird bewusst gemacht, dass die ganze Geschichte eine gemachte ist, die einzig von der Lenkung durch den Erzähler abhängt. Nach den Hochzeitsfeierlichkeiten, während derer die Königin kummer und ouch schmerzen (V. 449) leidet, die sie, wie erwähnt, Gott klagt, scheint sich durch die List der untergeschobenen Braut zunächst alles zum Guten zu wenden. Aber obwohl die Königin eine Jungfrau ausgewählt hat, zu der sie besunder trawen (‘ein besonderes Vertrauen’, V. 476) hat, verweigert diese ihrer Herrin die Treue und will das Bett nach 21
Johannes Keller, Comique et violence: ‘Les trois femmes ruse´es’ de Heinrich Kaufringer ˆ ge. dans le contexte des fabliaux et des nouvelles, in: La circulation des nouvelles au Moyen A Actes de la journe´e d’e´tudes (Universite´ de Zurich, 24 janvier 2002), hg. von Luciano Rossi u. a., Alessandria 2005, S. 201–222, hier S. 207.
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dem Beischlaf nicht mehr verlassen. Auch hier sehe ich eine Ambivalenz, eine Grauzone: Ist die Jungfrau eigentlich gut und wird durch die Versuchung oder einen anderen Einfluss böse? Oder hat sich die Königin in ihr getäuscht und hätte die Gefahr erkennen können und müssen? Oder klingt hier die Problematik des Motivs von der untergeschobenen Braut an, dass nämlich das Opfer der Dienerin allzu groß ist, insbesondere wenn man berücksichtigt, dass es durch einen Fehltritt der Herrin nötig geworden ist? Wiederum reagiert die Königin mit Erschrecken; pein, grosser ungemach und unermessliches laid sind die Folge (V. 558–560). Ihre Bedrängnis bringt sie an die Grenze des Wahnsinns: si was nachet worden tumb / und von ir sinnen komen (‘sie wurde fast wahnsinnig und verlor schier ihren Verstand’, V. 562 f.). Diese Szene ist überhaupt nicht komisch, da die Bedrängnis stark auserzählt ist: Der Erzähler steigert das Mitleid mit der Königin; die Distanz und damit eine wesentliche Bedingung für Komik geht verloren. Als sie ein weiteres Mal versucht, die Magd aus dem Bett zu locken, wird diese laut, so dass der König beinahe erwacht und sich die Situation als verloren darstellt: Die künigin muost sich sein verwegen (‘die Königin musste auf den König verzichten’, V. 577). da si mit betrüebtem sin also stuond in herzenlait, da hort si wol, das die mait auch nun ser entslafen was. sie gedacht ir genzlich das, sie wölt ir auch füegen pein.
(V. 582–587)
(‘Als sie da so traurig und mit Herzensqualen stand, hörte sie deutlich, dass das Mädchen auch in tiefen Schlaf gefallen war. Sie nahm sich fest vor, ihr nun auch Schmerz zuzufügen.’)
Das ist interessant: Wieder, wie schon beim ersten Mord, scheint ein unlauteres Motiv bei der Königin auf. Das genauere Verständnis hängt an dem Wort auch: Will die Königin der Magd Schmerz zufügen, da diese ihr welchen zugefügt hat? Dann wäre Rache der Beweggrund. Oder beschließt sie, den zwei (oder drei) anderen Morden nun auch noch diesen anzuhängen? Dann reflektiert sie sehr genau ihre Rolle als Mörderin und bejaht sie. Von hier ist es kein großer Schritt mehr zu einem ›nun kommt es auch nicht mehr drauf an‹. Ich tendiere eher zur ersten Lesart, halte aber in jedem Fall fest, dass die vom Erzähler zu Beginn so nachdrücklich versicherte Untadeligkeit der Gräfin ein weiteres Mal einen Kratzer bekommen hat. Das schwarzweiße Raster, das der Erzähler in Promythion und Exposition angelegt hat, wird zu uneindeutigen Grautönen verwaschen. Ich sehe zwei mögliche Reaktionen beim Publikum: Befremden und Befriedigung. Hinerzählt ist die Geschichte wohl auf letztere: Man nimmt die ganze Zeit die Perspektive der Gräfin ein und stört sich an der Magd als letztem Hindernis auf dem Weg zur Ehe mit dem König. Jedenfalls überrascht es nicht mehr und ist dementsprechend auch nicht mehr komisch, wie souverän die Gräfin auch dieses Hindernis noch aus dem Weg räumt. Allenfalls ein Detail mag komisch wirken: Als sie den König aus der brennenden Kammer zieht, versäumt sie es nicht, den Riegel vorzu-
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schieben und so das Verbrennen der Magd zu garantieren. Diese Umsichtigkeit in größter Not kann vom Publikum wohl nicht antizipiert werden. Wieder hat sich der Erzähler während der Mordschilderung jeglicher Wertung enthalten. Den Tod der Magd aber beurteilt er abschließend als vollkommen gerechtfertigt, ein Verfahren, das man bereits von den früheren Morden kennt: in der kamer da verpran die junkfraw ze pulver schon. also ward ir der recht lon umb ir untrew gros gegeben, das si da verlos ir leben. (V. 612–616) (‘Die Jungfrau in der Kammer verbrannte hübsch fein zu Asche. So bekam sie den gerechten Lohn für ihre große Untreue, indem sie dabei ihr Leben verlor.’)
Auch die Ironie des schon Sterbens, um dafür den (im Reim stehenden) lon zu erhalten, ist die gleiche wie beim Mord an dem Pförtner. Beide Male handelt es sich um eine passivische Konstruktion, die die Urheberschaft der Gräfin ausklammert. Nur das Endergebnis wird betrachtet, der Tod, und den wertet der Erzähler als gerecht. Zwei Mal noch werden nun die Taten der Gräfin wiederholt, aus dem Mund der Gräfin bei der Beichte gegenüber dem König und im Epimythion durch den Erzähler; beide Male liegt ein großes Gewicht auf den bösen Handlungen der anderen. Die Morde der Gräfin werden genannt, aber stets als Reaktionen auf gegen sie gerichtete böse Handlungen. Wie im Promythion versichert der Erzähler auch am Ende mehrfach, dass die Bösen ihre gerechte Strafe bekommen haben und dass die Gräfin unschuldig war. Und hier führt er ihre Rettung nun wiederum auf die göttliche Hilfe zurück.
IV Das Problem der Deutung dieser Geschichte liegt auf der Hand: Wie kann der Erzähler die Gräfin als unschuldig bezeichnen, nachdem sie drei Morde (wenn man den aufgeknüpften Knecht mitrechnet, sogar vier Morde) auf dem Gewissen hat? Sie selbst hat denn auch nach 32 Jahren gehörige Gewissensbisse. Aber der Erzähler lässt den König sie freisprechen. Im Gegensatz zu den europäischen Parallelfassungen, wo Gott selbst in einem Mirakel oder Gottesgericht diese Rolle zukommt, erdet er damit die Justiz.22 Man hat im Einzelnen nachgewiesen, dass die Morde weder nach mittelalterlichem Rechtsverständnis noch moraltheologisch zu entschuldigen seien.23 Man hat die Geschichte mit ihren Parallelfassungen verglichen und konnte zeigen, dass genau dieser Aspekt der vom Text behaupteten Schuldlosigkeit bei Kaufringer hinzutritt (in den anderen Fassungen ist die Protagonistin schuldig, kann aber erfolgreich büßen und erfährt deswegen göttliche Gnade). Die Forschung begegnet diesem 22
23
Oder führt er Menschlichkeit und Verständnis vor? So Grubmüller in: Novellistik des Mittelalters. Märendichtung, hg., übers. und komm. von Klaus Grubmüller (Bibliothek des Mittelalters 23), Frankfurt a. M. 1996, S. 1287. Ruh [Anm. 4].
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Problem entweder, indem sie die Geschichte vom moraltheologischen Diskurs abkoppelt und die Autonomie der Literatur behauptet24 oder indem sie die Aussage von Pro- und Epimythion auf die erzählte Geschichte aufpfropft und dabei Nuancen und Brüche glättet.25 Offensichtlich also will die Geschichte nicht glatt lesbar sein. Es scheint mir wesentlich im Sinne Kaufringers zu sein, die Geschichte so zu nehmen, wie er sie erzählt, mit den Brüchen und Unklarheiten und Grautönen. Die Gräfin wird uns zwar als keusch und frumm, vein und zart vorgestellt, bei genauerem Hinsehen aber handelt sie mit laid und in zorn und mit grossem unmuot und will ihrer untreuen Dienerin auch füegen pein. Ich verschiebe also die Fragestellung: Wa r u m erzählt Kaufringer so? Und hier glaube ich, dass die Komik weiterhelfen kann. Das Lachen verweist den Rezipienten auf sich selbst. Nur indem der Erzähler so ausdauernd die Unschuldigkeit der Mörderin betont, kann sich die Befriedigung einstellen, dass sie selbst es ist, die die Übeltäter bestraft. Rache wird denk- und erzählbar. Nur durch Lachen kann der erzählte und auch der erlebte Schrecken kompensiert werden. Lachen kann die Hilflosigkeit des Lachenden aufzeigen, die er bei der Erzählung und beim Erleben von Ungerechtigkeiten empfindet.
V Ich blicke zum Abschluss kurz auf einige andere Texte Kaufringers, bei denen mir ein Blick auf die spezifische Verbindung von Lachen und Moral lohnend scheint. In dem Märe ‘Chorherr und Schusterin’ finde ich bemerkenswert, dass der Ehebruch an keiner Stelle moralisch problematisiert wird. Auch die Wiederherstellung der Ordnung am Ende betrifft nicht etwa die Ehe, sondern die glückliche Bindung zwischen Chorherrn und Schusterin. Der ganze Konflikt, um den die Geschichte kreist, bezieht sich auf Gefährdung und Restitution der ehebrecherischen Liebe. Interessanterweise kann in diesem Zusammenhang der Ehemann recht positiv dargestellt werden; er ist ein Trottel, aber unsympathisch ist er nicht. Gelacht wird auch über ihn, viel mehr aber noch über die Listen, mit denen sich die Liebhaber gegenseitig ärgern. Das Marquard’sche offiziell Geltende ist hier der Ehebruch geworden, der eigenen Gesetzen gehorcht und dessen Infragestellung es ist, die zum Lachen reizt. Auch ein solches Lachen kann moralische Implikationen haben. Ebenso wäre das Märe ‘Der feige Ehemann’ auf seinen Einsatz von Komik zu untersuchen. Der Text läuft darauf hin, dass der Ehemann den unliebsamen Galan der Frau mit deren Einverständnis in flagranti stellt. Stattdessen stellt er sich überraschend als so feige heraus, dass er lieber der Vergewaltigung seiner Frau zuschaut. Wie die europäischen Parallelen vorführen, kann das komisch inszeniert sein. Bei Kaufringer hingegen kippt das Lachen, woran ganz wesentlich die Innenperspektive der vergewaltigten Frau und die differenzierte Schilderung des Liebhabers beteiligt sind. Zu schauen wäre hier, wo das Lachen angelegt ist, aber unterlaufen wird. 24 25
Am profiliertesten Ruh [Anm. 4]. Steinmetz [Anm. 4], Friedrich [Anm. 6], Grubmüller [Anm. 4], Willers [Anm. 18].
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An all diesen Stellen scheinen die titelgebenden Grauzonen auf: Gerade durch die Erwartung des Publikums (nicht zuletzt durch Motiv- und Stoffgeschichte) wird eine Lesart vorgegeben, die immer wieder durchbrochen wird. Der Grund dafür ist wohl nicht, oder nicht nur, in den Epimythien zu finden, sondern die Antwort liefert der Text selbst und sein dialektisches Verhältnis zu den reflektierenden Passagen. Solches Lachen kann aufrütteln, indem es zeigt, dass das Leben nicht innerhalb von Erwartungen verläuft.
Der ›Blick zurück‹ in Texten vom Alten Testament bis ins Spätmittelalter von Manuela Gliesmann
Einige Visionstexte des Hoch- und Spätmittelalters enthalten ein für das Erzählte entscheidendes Handlungsmoment: Der Protagonist wendet sich um und blickt zurück. Bereits in zwei älteren Texten – aus dem Alten Testament und der griechischen Mythologie – wirkt sich ein ›Blick zurück‹ des Protagonisten entscheidend auf dessen Schicksal aus: in dem im 1. Buch Mose enthaltenen Bericht über die Frau des Lot, die beim Verlassen der Stadt Sodom zurückblickt, und in Ovids Darstellung von Orpheus, der sich während der Rückkehr aus der Unterwelt des Hades zu seiner Frau Eurydike umsieht. Auch in zwei Jenseitsberichten, der ‘Visio Tnugdali’ und der Prosaerzählung ‘Preventa und Adoptata’, die beide von Erlebnissen im Fegefeuer berichten, ist ein solcher ›Blick zurück‹ handlungsbestimmend.1 Während in den beiden älteren Texten das Zurückblicken verboten und verhängnisvoll ist, gibt in den mittelalterlichen Erzählungen der ›Blick zurück‹ den Ausschlag dafür, dass sich die jeweilige Situation zum Guten wendet. Der vorliegende Beitrag möchte die Aufmerksamkeit auf die Inszenierung dieses Motivs in den vier zu untersuchenden Texten lenken und zeigen, wie verschiedenartig sich ein Motiv wie das des ›Blicks zurück‹ vom Alten Testament bis in das späte Mittelalter präsentieren kann. Es sind Texte über Fahrten in fremde Welten und in unbekannten Räumen, in denen das Motiv des ›Blicks zurück‹ am häufigsten zu entdecken ist.
Lots Frau Fündig wird man bereits im Alten Testament. In der Genesis wird beschrieben, wie die Bewohner der Städte Sodom und Gomorrha Gott durch ihr lasterhaftes Treiben aufgebracht haben; er beschließt daher, die Städte und ihre Bewohner zu vernichten. Nur der gerechte Lot und seine Familie sollen aufgrund der Fürsprache Abrahams verschont werden.2 Gott erscheint in Sodom in Gestalt zweier Männer, die Lot und 1
2
Für die Zitate und Referenzen aus den Überlieferungen der ‘Visio Tnugdali’ wurde die Edition des frühesten erhaltenen Druckes Dx aus der Bayerischen Staatsbibliothek, Tondolus der Ritter, hg. von Nigel F. Palmer, München 1980, ausgesucht. Er entspricht einer repräsentativen Fassung der irischen Jenseitsvision aus der Spätzeit des deutschen Mittelalters. Die Zitate aus der Edition sind unverändert übernommen, lediglich Satzzeichen und Interpunktion wurden zur besseren Lesbarkeit eingefügt. Die Prosaerzählung ‘Preventa und Adoptata’ ist bisher nicht in edierter Form zugänglich. Zitiert wird aus einer Transkription der Hs. K (W 8° 56*, Historisches Archiv der Stadt Köln) aus meiner Magisterarbeit: Preventa und Adoptata – Eine geistliche Prosaerzählung. Überlieferung, Transkription, Interpretation, Köln 2007 (unveröffentlicht). Vgl. Die Bibel, Einheitsübersetzung: Altes und Neues Testament, Freiburg/Basel/Wien 1980, 1. Mose 18,23–33.
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seine Familie warnen sollen. Lot lädt sie in sein Haus ein. Am Morgen des Tages, der zur Vernichtung von Sodom und Gomorrha bestimmt ist, berichten die Boten Lot vom Schicksal der Städte und drängen ihn, eilig aus der Stadt zu kommen: »Lauft jetzt, so schnell ihr könnt! Es geht um euer Leben! Bleibt nicht stehen und schaut nicht zurück. Rettet euch auf das Gebirge, sonst seid auch ihr verloren.«3 Durch die auktoriale Erzählerstimme erfährt der Leser nun in der Rolle des Beobachters von dem Geschehen im Rücken der vor Gottes Zorn fliehenden Familie Lots: Als die Morgenröte aufzieht, vernichtet Gott Sodom und Gomorrha und ihre Bewohner, indem er Schwefel und Feuer auf die Städte regnen lässt.4 Als die Frau Lots zurückblickt, wird sie zu einer Salzsäule. Warum wendet sich Lots Frau trotz der Warnung der Boten um und blickt zurück auf die Stadt Sodom? Aus Sorge um die zurückgelassenen Familienangehörigen? Hört sie vielleicht Geschrei, riecht und spürt sie die Wut des Feuers hinter sich? Fürchtet sie sich vor Geräuschen der Zerstörung hinter ihr? Oder will sie nicht wahrhaben, dass ihre Stadt tatsächlich zerstört wird? Nichts dergleichen wird erwähnt; das Zuwiderhandeln der Frau des Lot gegen Gottes Verbot erfolgt kommentarlos. Damit bleibt offen, ob ihr ›Blick zurück‹ dem Schicksal der in Sodom Verbliebenen oder dem Schrecknis der Zerstörung ihrer Heimatstadt gilt. Der Leser wird auf der Suche nach Motivation und innerer Regung der Akteurin seinen eigenen Spekulationen überlassen. Nach ihrem Zurückblicken muss die übrige flüchtende Familie die Erstarrte zurücklassen, ohne sich nach ihr umsehen zu dürfen. Es braucht daher den Leser, der den Blick auf die gesamte Szene vor seinem inneren Auge entwirft und die Dramatik des Geschehens mitvollzieht. Für ihn als erstes sichtbar, wird die Frau des Lot im Zurückbleiben zum Menetekel, einem Bild der Warnung und des Schreckens.
Orpheus’ ›Blick zurück‹ auf dem Pfad zur Oberwelt Während das Geschehen im Alten Testament sich als äußere Szenerie erfüllt, ist die Schicksalswende des Orpheus in Ovids ‘Metamorphosen’ psychologisch motiviert. Als Orpheus’ Gemahlin, die Najade Eurydike, eines Tages von einer Natter in die Ferse gebissen wird und daraufhin stirbt, steigt der Sänger aus Liebe zu ihr hinunter in den düsteren Hades und bittet singend und dazu die Leier spielend die Unterweltherrscher, Eurydike wieder als Lebende in die Oberwelt zurückführen zu dürfen. Sein trauriger Gesang rührt die Bewohner der Unterwelt und ihre Herrscher, so dass sie dem Schatten Eurydikes gewähren, dem Sänger in die Oberwelt zu folgen. Eine Auflage gibt man Orpheus jedoch mit auf den Weg: Er darf nicht eher die Augen wenden, bis er die Schlucht des Avernus ganz durchschritten hat, sonst werde sein Geschenk zunichte.5 3 4 5
1. Mose 19,17. 1. Mose 19,23–26. Vgl. Ovid, Metamorphosen, lateinisch und deutsch, hg. und übers. von Hermann Breitenbach, Zürich 1958, X, V. 50–52.
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Auf dem Weg durch die Unter- zur Oberwelt muss Eurydikes Schatten hinter Orpheus gehen, und hier geschieht die Übertretung des Gebots: Aufwärts führt sie der Pfad durch schweigende Stille. Sie steigen Steil in finsterer Nacht, von dichtestem Nebel umschattet. Nicht mehr fern ist die Grenze der oberen Welt; da befürchtet Er, der Liebende, daß sie ermatte; er sehnt sich nach ihrem Anblick und schaut sich um: schon ist die Geliebte entglitten. Und sie breitet die Arme: sie will ihn halten, sich halten Lassen und greift, die Unselige, nichts als entweichende Lüfte. Mag sie sterben zum zweiten Mal: sie hat für den Gatten Keinerlei Tadel; was soll sie denn tadeln, als daß er sie liebe? Nur ein letztes »Lebwohl«, das kaum seine Ohren vernehmen, Spricht sie, dann trägt sie es wieder davon nach dem nämlichen Orte.6
Der verzweifelte Orpheus versucht, dem Schatten Eurydikes nachzueilen, doch der Eintritt in den Hades bleibt ihm diesmal verwehrt. Orpheus muss seine Gemahlin verloren geben. Er hat, als er zurückblickt, um sich des Nachfolgens der Geliebten zu versichern, die Auflage der Götter missachtet. Sein Zuwiderhandeln folgt dem Antrieb von Besorgnis und Liebe. Die kleine, scheinbar unbedeutende Bewegung des Zurückblickens folgt der Macht innerer Regungen und besiegelt das Verhängnis des Orpheus: Gewissheit über sein Glück zu erlangen bedeutet zugleich, den Verlust desselben zu erleiden. Worin unterscheidet sich die Szene bei Ovid von der des Alten Testaments? Wie in der Genesis ist eine weibliche Gestalt auf dem fehlschlagenden ›Weg zur Rettung‹ zurückgeblieben, die Frau des Lot als Schreckbild, Eurydike als Ersehnte. Vor allem anders aber als die Frau des Lot bewegt sich Orpheus i m verhängnisvollen Bereich der Unterwelt, und infolge der psychologischen Figurenzeichnung Ovids vollzieht der Leser mit, was Orpheus erfährt: Während von der Frau des Lot einzig die erstarrte Gestalt bleibt, kommt es bei Ovid zu einer emotionellen Erschließung der unterweltlichen Sphäre, denn die innere Bindung des Orpheus und sein Blick gelten einem Element, das jenem gefährdenden Bereich zugehört und zugleich den Blick des Lesers lenkt. Psychologisch erfahrbar wird jene Sphäre besonders deutlich dann im dramatisch ausgestalteten Abschied der Liebenden. Auch in den beiden folgenden Texten bewegen sich zwei Akteurinnen – wie Orpheus – in der ›Unterwelt‹ und machen dort innere Erfahrungen, die allerdings zu einem glücklichen Wandel führen.
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Carpitur adclivis per muta silentia trames, / Arduus, obscurus, caligine densus opaca. / Nec procul afuerunt telluris margine summae: / Hic, ne deficeret, metuens avidusque videndi / Flexit amans oculos, et protinus illa relapsa est; / Bracchiaque intendens prendique et prendere certans / Nil nisi cedentes infelix adripit auras. / Iamque iterum moriens non est de coniuge quicquam / Questa suo (quid enim nisi se quereretur amatam?) / Supremumque »vale«, quod iam vix auribus ille / Acciperet, dixit revolutaque rursus eodem est (ebd., X, V. 53– 63).
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Der Jenseitsbericht des Ritters Tondalus Die 1148 von einem irischen Mönch Marcus aus Regensburg verfasste lateinische ‘Visio Tnugdali’ wurde bereits kurz nach ihrem Entstehen in fast alle europäischen Volkssprachen übersetzt und ist im deutschen Sprachraum in zahlreichen Prosa- und Versfassungen bis in das 16. Jahrhundert hinein einer der beliebtesten Berichte über die Erlebnisse einer Seele in der anderen Welt.7 In der Rahmenhandlung wird von dem Ritter Tondalus berichtet, dessen ausschweifend-weltliches Leben ein abruptes Ende findet, als er während einer Mahlzeit bei einem Freund leblos zu Boden fällt und sein Körper für drei Tage wie tot darniederliegt. Nach drei Tagen des Scheintodes fährt seine Seele wieder in seinen Körper. Der Ritter erwacht und berichtet nun als Ich-Erzähler von den Erlebnissen seiner Seele, die in dieser Zeit entrückt war und von ihrem Schutzengel begleitet die verschiedenen Straforte des Fegefeuers und der Hölle bis zu den Freudenorten des Himmels durchwandert hat. Die Fahrt stellt dem Leser die beispielhafte conversio eines Sünders vor Augen, der durch Gottes Barmherzigkeit bereits zu seinen Lebzeiten auf diese drastische Weise auf seine Fehler aufmerksam gemacht wird. Implizit ist die Vision des Ritters auch eine Ermahnung für alle Schuldbeladenen. Für den Ritter hat sie zur Folge, dass er nach dieser Zeit der Läuterung seine Jahre als frommer Prediger beschließt. Auf seiner Unterweltreise muss Tondalus’ Seele an sechs Orten des Fegefeuers und einer Höllenstätte einen Teil ihrer irdischen Sünden sogleich abbüßen und eine Zeitlang die Qual des jeweiligen Ortes erleiden. Immer dann, wenn an dem Ort, an den ihr Begleiter sie führt, eine Sünde gestraft wird, die der Ritter selbst auf Erden begangen hat, verlässt der Engel seinen Schützling. Fünfmal geschieht dies im Laufe der Unterweltfahrt. Dabei sind die ersten vier Peinigungssituationen in ihrem Aufbau beinahe identisch. Sobald Tondalus’ Seele die nächste erblickt, beschreibt sie sie ausführlich und macht den Engel dann voller Angst darauf aufmerksam. Dieser bestätigt stets, dass diese Pein auch für sie vorgesehen ist, und verlässt die Seele darauf, die sofort von Teufeln ergriffen und den vorgesehenen Torturen zugeführt wird. Aus diesem Schrecken kommt sie wieder heraus, ohne eigentlich zu merken, wie dies geschieht, und ist dann so krenklich, dass der Engel erst die ihr bei der Tortur zugefügten Wunden heilen muss. Er tröstet die Verzagte und ermutigt sie, weiter zu gehen.8 Die Sünden müssen an den Straforten stets durch körperliches Leiden abgebüßt werden: Am ersten Ort, der pin der wucherer und rauber, der dieb und geittigen, wird die Seele im Inneren eines höllischen Tieres von Bären, Hunden, Löwen und Wölfen zerrissen, am zweiten Ort muss sie eine störrische Kuh über eine mit Nägeln gespickte Brücke treiben, da der Ritter seinem Verwandten eine Kuh stahl.9 Am dritten Strafort wird Tondalus’ Seele zusammen mit Seelen weltlicher und geist7
8
9
Vgl. Nigel F. Palmer, Visio Tnugdali. The German and Dutch Translations and their Circulations in the later Middle Ages, München 1982. Tondolus der Ritter, hg. von Nigel F. Palmer (Kleine deutsche Prosadenkmäler des Mittelalters 13), München 1980, S. 56, Z. 1–3; S. 59, Z. 411–416; S. 60, Z. 484 f. Ebd., S. 58, Z. 377–415.
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licher Sünder für das wollüstige Benutzen ihrer heimlichen stetten gezüchtigt und muss am vierten Ort mit den Seelen unkeuscher Kleriker unter Schmerzen Schlangen gebären. Am fünften Ort, dem »Bad des ewigen Todes«, wird Tondalus’ Seele auf dem Amboss des höllischen Schmiedes Vulcanus geläutert.10 Als der Engel seine Seele schon so tief in die Unterwelt geführt hat, erreichen sie einen weiteren Ort, der kalt und voller Gestank ist. Hier ängstigt sich Tondalus’ Seele unter dem Eindruck, die Erde bewege sich. Auf die Frage an ihren himmlischen Beschützer, was der Grund des Erdbebens und ihrer entsetzlichen Furcht sei, verschwindet der Engel unerwartet und ohne Antwort und lässt die entsetzte Seele schutzlos zurück. So allein gelassen, verzweifelt die Seele und stellt selbst die Barmherzigkeit Gottes in Frage. In diesem Jammer hört sie plötzlich das Klagen zahlreicher Seelen und einen furchtbaren Donnerschlag. Trotz ihrer grässlichen Angst muss sie Gewissheit haben, woher diese Laute kommen: vnd kort mich vmb, vnd hort wo dz iemerlich geschrei wer. do wart ich es gewar in einer gruben.11 Tondalus’ Seele blickt zurück in die Richtung der jämmerlichen Schreie und entdeckt die fürchterliche Szene einer neuen Höllentortur: Mehr als hunderttausend Teufel und ebenso viele Seelen werden in einer mit Rauch und Flammen gefüllten, zisternenähnlichen Grube bis in die Wolken geschleudert, um sofort wieder in die Grube zurück zu fallen. Als dieser gros jammer für die Seele sichtbar wird, will sie wieder hindersich tretten, doch sie kann keinen Fuß vor den anderen setzen.12 Ihre körperliche Unfähigkeit zu fliehen, der Anblick und die grässlichen Geräusche der ihr bevorstehenden Tortur provozieren einen verzweifelten Ausbruch der gepeinigten Seele: do reiß ich min fleisch von minen backen vnd schrei lut vber mich selber Vnd sprach: Eya tod wo bistu? vnd warum kann ich nit ersterben? vnd warum han ich der geschrift nit gefolgt? Eya, wie iemerlich hat mich betrogen diese welt!13
Dieser emotionale Ausbruch lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers auf die innere Befindlichkeit der Figur und lässt ihn an ihrer Angst teilhaben. Die Teufel werden durch das Wehgeschrei auf die Seele aufmerksam. Sie umringen sie und halten eine Schmährede, in der sie ihr ihre aussichtslose Lage darlegen und noch mehr Pein in der Hölle androhen. Gerade, als die Teufel sie in den Abgrund mitnehmen wollen, erscheint wieder der Engel und vertreibt die Teufel. Die Seele grüßt er zum ersten Mal mit den Worten frowe dich dochter des ewigen lichtes und verspricht ihr, sie solle nun noch mehr Pein sehen, diese aber nicht mehr selbst erleiden müssen.14 Tondalus’ Seele darf als Beobachterin die restlichen Höllenorte zum Himmel durchschreiten, um sich ihrer Errettung noch mehr zu freuen und Gott noch mehr zu loben. Die Begrüßung des Engels zeigt, dass etwas Entscheidendes geschehen sein muss: Die Seele hat nach Abbüßen aller ihrer Sünden ihre Bekehrung erfahren. Sie wird nun 10 11 12 13 14
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. 54–56, Z. 242–319; S. 56–61, Z. 375–425; S. 63–66, Z. 553–628; S. 66–68, Z. 629–705. S. 69, Z. 735 f. S. 70, Z. 744. S. 70, Z. 747–750. S. 71, Z. 780–783.
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Anteil an der göttlichen Herrlichkeit haben und muss die Hölle nicht mehr fürchten. Doch was genau ist an diesem letzten Strafort geschehen, das den Teil der Bußfahrt beendet hat? Anders als an den vier vorhergehenden Orten bleibt die Seele hier von körperlicher Pein verschont. Dennoch wird sie nun am stärksten getroffen, und an entscheidender Stelle steht das Zurückblicken der völlig schutzlosen Seele, das die Reue über ihr Leben und ihre Taten erweckt, die sie schuldbewusst bekennt. Nicht durch tatsächliche körperliche Züchtigung wird das entscheidende Leid, das zur erlösenden Reuerede führt, ausgelöst, sondern durch das ›Erblicken‹ einer Züchtigung. In direkter Verbindung von Auge und Seele wird ein innerlicher Prozess der Zerknirschung in Gang gesetzt, dem die Reuerede Ausdruck gibt. Die Antizipation des Leidens allein durch den Blick und die inneren Augen und die Drohung der Teufel läutert Tondalus’ Seele. Im Gegensatz zu den übrigen Strafstätten, an denen Tondalus’ Seele ›physisch‹ gepeinigt und ihr ›innerliches‹ Leid kaum erwähnt, nur als ›unermesslich‹ bezeichnet wurde, tritt hier eine neue Qualität der Strafe zu Tage. Statt Bestrafung des – seelischen – Körpers, des ›Äußerlichen‹, ist nun allein zu sein unter den Teufeln, deren genüssliche Strafankündigung und das ›Sehen‹ der Tortur die größte Probe ihrer Unterweltfahrt. Die Aussicht auf Strafe ist die schlimmste Züchtigung, denn sie antizipiert die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit der armen Seelen in der Hölle. Dass schließlich der Engel kommt und sie mit in die himmlischen Orte nimmt, ohne dass die Teufel sie peinigen können, bedeutet nicht, dass Tondalus’ Seele dieses letzte Mal von ihrer Strafe verschont geblieben wäre. Ihre Strafe war die Verzweiflung und Reue beim Anblick des Höllenortes. Ihr ›Blick zurück‹ hin zum fünften Höllenort markiert die Hinwendung zur bitteren Selbsterkenntnis über ihr irdisches Leben, die sie beim Anblick der grausigen Tortur hinausschreit. Die weiteren Jenseitsorte darf die Seele mit dem Engel als vollkommen Geläuterte betreten.
Der erlösende ›Blick zurück‹ in ‘Preventa und Adoptata’ Ein weiterer Bericht aus dem Fegefeuer, in dem sich eine Figur in gefahrvoller Situation umsieht, ist die Prosaerzählung ‘Preventa und Adoptata, Eine siele vandinge’.15 Sie ist in sechs Handschriften aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts mit Texten aus dem Umkreis der Erbauungsliteratur enthalten. In diesem Dialog einer drei Tage zuvor verstorbenen jungen Frau Preventa mit ihrer noch lebenden Freundin Adoptata, der sie in der Nacht erscheint, berichtet Preventa von ihren Qualen im Fegefeuer, aber auch von ihrer durch Maria in Aussicht gestellten Errettung, mit der Absicht, Adoptata für ein weltabgewandtes, jungfräuliches Leben zu gewinnen.16 15
16
vandinge f. ‘Heimsuchung, Besuch’, siehe Karl Schiller und August Lübben, Mittelniederdeutsches Wörterbuch, 5 Bde., Bremen 1880, Bd. 5, S. 197, s. v. Den Titel ‘eine siele vandynge’ – ‘eine Heimsuchung der Seele’ – überliefern, teils geringfügig vom Wortlaut abweichend, die vier Texte aus Bo, K, D und B2. Vgl. Nigel F. Palmer, Preventa und Adoptata. Eine erbauliche Klosterlegende des 15. Jahrhunderts, in: Poesie und Gebrauchsliteratur im deutschen Mittelalter, hg. von Volker Honemann u. a., Tübingen 1979.
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Die Erzählung gliedert sich in zwei Teile: Im ersten überredet Preventa die zunächst zweifelnde Adoptata zu einem Gelübde der Jungfräulichkeit und dem Versprechen, die Welt zu verlassen. Im zweiten berichtet Preventa davon, wie es ihr erging, nachdem sie gestorben war. Kurz vor ihrem Tod hatte sie sich beim Bedenken des Lebens Christi und der Heiligen in ›innerer Bewegung‹ bekehrt und daraufhin ein Gelübde abgelegt, Jungfrau zu bleiben und die werlt zu lassen.17 Kurz darauf wurde sie jedoch krank und starb, ohne ihr Gelübde einlösen zu können. Im Jenseits sieht sie sich nun sofort von Teufeln umringt, die sie verspotten und sie in die Hölle mitnehmen wollen. Sie offenbaren sich als heimtückische Unterstützer der weltlichen Eitelkeit und Putzsucht Preventas und zählen der Seele nacheinander ihre zu Lebzeiten begangenen Sünden und unterlassenen Tugendübungen auf. Die Verzweifelte muss ihnen in Gedanken in allen Punkten zustimmen und ergänzt in tiefer Reue sogar noch ihren Sündenkatalog. Als ihre Situation immer bedrängender wird, erinnert sich Preventa schließlich an ihr kurz vor ihrem Tod abgelegtes Versprechen, ihr Leben vollkommen zu bessern und Gott von jetzt an zu dienen, das sie nicht mehr hatte einlösen können. Sie fragt sich, ob ihr dieses Gelübde nun helfen könne: do dachte ich in my selven ende sprach: unde mach mir dit nu neit helpen? Want ich gehoirt hadde, dat man unsen leven herren mit einem goden willen mach betzalen.18
Verzweifelt wendet sich Preventa das erste Mal um, in der Hoffnung, jemanden zu sehen, der sie erlösen werde. Als sie niemanden sieht, verliert sie beinahe die Hoffnung auf Rettung, doch dann wendet sie sich noch einmal um: do dachte ich als den hoffen over zo geven: ›och herre got, nu mus ich ummers mit den lilichen duvelen in der hellen sin!‹ Nochtant sach ich zo dem lesten noch ens ume, of ich emans sege der mich verlosen wolde. [. . .] und do ich alsus ume sach, do sach ich komen unse leve frauwe ende vil engelen.19
Maria erscheint, wie der Engel in der Tondalus-Vision, in der verzweifeltsten Situation. Sobald die Teufel der Mutter Christi ansichtig werden, ergreifen sie murrend die Flucht, denn sie dürfen Preventa nun nichts antun. Maria tröstet Preventa, versichert, das Gelöbnis, Jungfrau zu bleiben, rette sie vor der Hölle, und stellt ihr die Krone der Jungfrauen in Aussicht. Preventa müsse jedoch noch drei Tage im Fegefeuer jene Taten abbüßen, die sie zu Lebzeiten nicht mehr abgegolten habe. Danach werde sie zu ihrer Freundin Adoptata geschickt werden, um dieser von ihren Erlebnissen zu berichten und sie dadurch zu bekehren. Preventas und Tondalus’ Seelen sind zum Zeitpunkt ihres Zurückblickens in einer sehr ähnlichen Lage: Beide befinden sich in jenem Augenblick ohne Begleitung schutzlos im Jenseits – Tondalus’ Seele auf dem Pfad, der zur Hölle führt, Preventa offenbar an einer Art Scheideort, weder in der Hölle noch im Himmel noch im Fegefeuer. Während Tondalus’ Seele sich aber wie von innerem Zwang zu dem schrecklichsten Höllenort wendet, ist das Umsehen Preventas ein Sich-Abwenden vom Bösen, das 17 18 19
Kruck [Anm. 1], K, fol. 3v, Z. 1–6. Ebd., K, fol. 23v, Z. 10–14. Ebd., fol. 24r, Z. 9–12.
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der Leser vor dem inneren Auge mitvollzieht. In beiden Texten werden sowohl eine ›innere‹ als auch eine ›äußere‹ Läuterung vorgestellt, die zu ihrer Erlösung bzw. Bekehrung führen: Tondalus wird zunächst äußerlich, an seinem seelischen Körper, gestraft. Seine Erfahrung des tiefen Verderbens zeitigt einen inneren Wandel, den er in seiner Reuerede bekennt. Preventa dagegen hat bereits vor ihrem Tod eine innerliche Bekehrung vollzogen. Durch ihren ›Blick zurück‹ in größter Verzagtheit beweist sie, dass ihr Glaube an die Barmherzigkeit Gottes größer ist als ihre Verzweiflung. Die Verzweiflung ist Bestandteil des innerlichen Leidens im Erlösungsprozess, der die ungeheure Größe der Barmherzigkeit Gottes und der Rettung der beiden Seelen in seiner Bedeutung unter Beweis stellen soll. Beide Seelen müssen daher zwangsläufig einer Situation ausgesetzt werden, in der nur noch Gottes Barmherzigkeit ihnen helfen kann. Äußerlich entspricht dieser Zustand bei Tondalus der Angst beim Anblick der letzten Strafe; bei Preventa der hoffnungslosen Lage, sich von Teufeln umringt zu sehen. Innerlich werden beide Seelen in diesen Situationen mit der temptatio desperationis konfrontiert, der Versuchung zur Verzweiflung.20 Umgeben von den Teufeln, ist Preventa zwar nahe daran, ihrer Verzweiflung nachzugeben, aber sie wendet sich doch noch einmal um und blickt zurück. Auch wenn dies mehr ein körperlicher Reflex als ein Willensakt zu sein scheint, sieht sie doch genau in diesem Moment der letzten Anstrengung gegen die absolute Verzweiflung Maria, ihre Retterin, auf sie zukommen. Tondalus dagegen gibt auf dem Pfad zur Hölle dieser Verzweiflung nach. Auflösende des Dilemmas sind jeweils die Botschafter der Barmherzigkeit Gottes – der Engel und Maria –, aber durch die innere Erfahrung, die bei beiden Seelen einen ›Blick zurück‹ zeitigt, haben auch diese selbst einen aktiven Anteil an ihrer Errettung. Bei Tondalus ist dieser Anteil der innere Wandel durch Schrecken, bei Preventa der ›Blick zurück‹ in ihrer Hoffnung auf Hilfe. Gesten, Gebärden und Modi des Zeigens und Blickens in literarischen Texten des Mittelalters haben in jüngerer Zeit verstärkt die Aufmerksamkeit der mediävistischen Forschung auf sich gezogen und sich zu einem Feld differenzierter Überlegungen über sprachliche und nichtsprachliche Strategien der Visualisierung in literarischen Texten des Mittelalters entwickelt.21 Die mittelalterliche Bedeutung von innerem und äußerem Auge wird deutlich in zahlreichen Sprichwörtern, die die Bedeutung des Augenlichtes und die Erkenntnismöglichkeit des Menschen durch Augen thematisieren.22 Auge und Seele werden in der aristotelischen Philosophie direkt miteinander 20
21
22
Zur scholastischen Bestimmung der Verzweiflung als Sünde gegen den hl. Geist siehe Peter Fonk, Art. ›Verzweiflung‹, in: Lexikon für Theologie und Kirche, begr. von Michael Buchberger, 3., völlig neu bearb. Aufl., hg. von Walter Kasper, 10 Bde., Freiburg i. Br. 1993–2001, hier Bd. 10, Sp. 750 f. Unter den grundlegenden Untersuchungen zu Gesten seien hier genannt: Jean-Claude Schmitt, Die Logik der Gesten, Stuttgart 1992; Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Bildern und Texten, hg. von Horst Wenzel und C. Stephen Jaeger (Philologische Studien und Quellen, Heft 195), Berlin 2006, bes. Einleitung, S. 9 f. Vgl. Thesaurus proverbiorum medii aevi. Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters, 13 Bde., Berlin 1995–2002, hier Bd. 1, s. v. ›Auge‹, S. 275 f.; vgl. ebd., Bd. 4, s. v. ›Sehen‹, S. 356 f.
Der ›Blick zurück‹
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verbunden. Dieses Auge-Seele-Modell wurde im Mittelalter fast durchgängig rezipiert, wie unter anderem zahlreiche erhaltene Abbildungen der menschlichen Sinne zeigen.23 Der Sehsinn ist dort zwar nur einer, jedoch der wichtigste der fünf Sinne, die Informationen an die Seele weitergeben. Das menschliche Auge mit seiner Fähigkeit, die natürlichen Dinge zu erkennen, hat seine innere Entsprechung in der menschlichen Vorstellungskraft, die in der Lage ist, mentale Bilder zu stimulieren und dadurch körperliche Reaktionen und Handlungen zu provozieren. Der ›Blick zurück‹ ist in allen vier Texten Indikator einer inneren Gemütsbewegung der handelnden Figur. In den beiden antiken Texten wird diese jedoch nur bei Ovid erzählerisch ausgestaltet. In der Genesis hingegen ist der emotionale Zustand von Lots Frau überhaupt nicht erwähnt und eine Deutung somit erschwert. In den beiden mittelalterlichen Texten wird der Gemütszustand der Figuren in der Situation des Umblickens zwar beschrieben, das Zurückblicken selbst aber nicht vom Erzähler gedeutet. Der Leser wird dazu eingeladen, die Bedeutung der Handlung mit Hilfe seines Wissens aus dem Text zu finden.24 Dabei lenkt die Ich-Erzählung der Akteurinnen in den beiden mittelalterlichen Texten die Wahrnehmung des Lesers. So entwickeln beide Texte ein viel stärkeres identifikatorisches Potential als der alttestamentliche und der mythologische Text. Der Perspektivwechsel, den nicht nur die zurückblickende Seele vollzieht, sondern der auch den Leser ›mitnimmt‹, bringt diesen dazu, eine spezifische Wahrnehmungshandlung mitzuvollziehen: Bei Tondalus ist es Reue über die eigene Schuld, bei Preventa der Umschwung von Verzweiflung zu Hoffnung.25 Die Bewegung des Umsehens und der ›Blick zurück‹ sind damit wie Gesten und Gebärden Teil der nichtsprachlichen Kommunikation, die, wenn sie nicht genau erklärt werden, vom Leser selbst gedeutet werden müssen: In der alttestamentlichen Szene wird der Leser verstärkt zur Konstruktion eines mentalen Bildes aufgefordert, da er zwei wichtige Informationen nicht aus dem Text entnehmen kann, die bei Ovid erzählerisch ausgestaltet sind: Der Leser erfährt nicht den Grund, warum Lots Frau sich umsieht, und auch nicht, was sie sieht, bevor sie zur Salzsäule wird. Bei Ovid wird das mentale Bild des Lesers stark von den vergleichsweise ausführlichen Informationen der Erzählerstimme bestimmt, die den Leser auf eine auktoriale Lesehaltung festlegt. Er sieht vor seinem inneren Auge jenes Bild, das Orpheus in seinem Zweifel nicht imaginieren kann: die hinter ihm folgende Eurydike. Vor dem Hintergrund der beiden antiken Texte lassen sich die beiden mittelalterlichen Jenseitsberichte als ein Weg verstehen, der gemeinsam mit dem Leser gegangen werden soll. Der Gang durch die verschiedenen Straforte bereitet die Seele des Tondalus und damit auch den Leser auf die innere Bekehrung am Ende vor; Preventas innere Bekehrung, 23
24
25
Vgl. Michael Camille, Before the Gaze: The internal senses and late medieval practices of seeing, in: Visuality before and beyond the Renaissance. Seeing as Others Saw, hg. von Robert S. Nelson, Cambridge 2000, S. 197–223. Vgl. Katharina Berger-Meister, Mittelalterliche Textrezeption zwischen sinnlicher Wahrnehmung und mentaler Visualisierung, in: Der unfeste Text. Perspektiven auf einen literaturund kulturwissenschaftlichen Leitbegriff, Würzburg 2001, S. 165 f. Vgl. ebd., S. 164 f.
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Manuela Gliesmann
ihr Gelübde und ihr schließlich belohntes Vertrauen in Gottes Barmherzigkeit zeigen auf, dass auch eine späte conversio nicht umsonst ist. Der ›Blick zurück‹ beider Seelen steht dabei jeweils im unmittelbaren Zusammenhang mit der Wendung zur Reue und der Hoffnung auf Erlösung, die der Leser durch die Ich-Erzählhaltung unmittelbar mitempfinden kann. Der ›Blick zurück‹ als perspektivische Wende sowohl des Protagonisten wie des Lesers wiederholt sich zum Ende noch einmal in Tondalus’ Jenseitsvision. Als die Seele des Ritters Abschied von ihrem Engel genommen hat, wendet sie sich um. Im nächsten Augenblick empfindet sie die Bürde ihres Leibes wieder und beschreibt ihr Aufwachen: Vnd do dis der engel zu mir gesprach, da kert ich mich vmb, vnd do ich mich bewegt, da enpfand ich dz ich beladen wz mit der sweren birdi minß lichnamß in einigen einzigen augenblick, und tet krenklich mein augen vff [. . .].26
Diese Bewegung aus dem Jenseits hinaus zurück in die irdische Wirklichkeit muss notgedrungen auch der Leser der Tondalusvision mitvollziehen, und er wird – ähnlich meiner gegenwärtigen Leserschaft – aus der Lese- in seine wahre Welt befördert.
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Tondolus der Ritter [Anm. 8], S. 87, Z. 1312–1316.
Einige Bemerkungen zu übersetzten Namen* in der Diemeringen-Version von Mandevilles ‘Reisen’ von Reinhard Berron
In den letzten acht Jahren widmete sich die internationale Mandeville-Forschung vor allem dem Fragenkomplex zur Darstellung des Fremden,1 vermittelt durch die Arbeiten von Stephen Greenblatt2 und Iain MacLeod Higgins.3 Verstärktes Interesse fanden auch Untersuchungen zum Einfluss Jean de Mandevilles auf andere literarische Produktionen.4 * Als kleiner Dank für Paul Sapplers spannende onomastische Erklärungen auf diversen Handschriftenexkursionen. 1 Mit der hohen Anzahl der genannten Publikationen soll die Gelegenheit wahrgenommen werden, einen Teil der internationalen Mandeville-Forschungsbeiträge der letzten Jahre an einem Ort aufzuführen: Andrew Fleck, Here, There, and In Between. Representing Difference in the Travels of Sir John Mandeville, in: Studies in Philology, XCVII/4 (Fall 2000), S. 379–400; Nicholas Koss, A Fleeting but Never Disappearing Medieval Image of Chinese Wealth and Women, in: Fu Jen Studies, Literature & Linguistics 33 (2000), S. 27–45; Linda Lomperis, Medieval Travel Writing and the Question of Race, in: Journal of Medieval and Early Modern Studies 31/1 (Winter 2001), S. 147–164; Martin Przybilski, Die Zeichen des Anderen. Die Fremdsprachenalphabete in den ‘Voyages’ des Jean de Mandeville am Beispiel der Übersetzung Ottos von Diemeringen, in: Mittellateinisches Jahrbuch 37/2 (2002), S. 295– 320; Sebastian I. Sobiecki, Mandeville’s Thought of the Limit. The Discourse of Similarity and Difference in The Travels of Sir John Mandeville, in: The Review of English Studies. The Quarterly Journal of English Literature and the English Language, New Series 53/209 (2002), S. 329–343; Geraldine Heng, Eye on the World. Mandeville’s Pleasure Zones, or, Cartography, Anthropology and Medieval Travel Romance, in: dies., Empire of Magic. Medieval Romance and the Politics of Cultural Fantasy, New York 2003, S. 239–305 (= Chapter 5); Sarah Salih, Idols and Simulacra. Paganity, Hybridity and Representation in Mandeville’s Travels, in: The Monstrous Middle Ages, hg. von Bettina Bildhauer und Robert Mills, Cardiff 2003, S. 112–133; Paul Smethurst, The Journey from Modern to Postmodern in The Travels of Sir John Mandeville and Marco Polo’s Divisament dou Monde. Postmodern Medievalisms, in: Studies in Medievalism XIII (2004), S. 159–179; Norman Housley, Perceptions of Crusading in the Mid-Fourteenth Century. The Evidence of Three Texts, in: Viator. Medieval and Renaissance Studies 36 (2005), S. 415–433; Charles W. R. D. Moseley, Mandeville and the Amazons, in: Jean de Mandeville in Europa. Neue Perspektiven in der Reiseliteraturforschung, hg. von Ernst Bremer und Susanne Röhl (MittelalterStudien des Instituts zur Interdisziplinären Erforschung des Mittelalters und seines Nachwirkens 12), München 2007, S. 67–78. 2 Stephen Greenblatt, Wunderbare Besitztümer. Die Erfindung des Fremden: Reisende und Entdecker, Berlin 1994 (v. a. Kapitel 2 »Vom Felsendom zum Rand der Welt«, S. 47–83). 3 Iain MacLeod Higgins, Writing East. The »Travels« of Sir John Mandeville, Philadelphia 1997. 4 Michael Bärmann, »Sunder dass er zue den sternen kam, die der gross Alexander fand«. Zur Rezeption des Alexanderstoffes in der spätmittelalterlichen Hausbuch-Literatur, in: Daphnis 30 (2001), S. 1–36; Rebecca Fensome, Mandeville’s Travels and medieval myths of Africa on
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Reinhard Berron
Aber auch über die Entstehungsbedingungen5 der ‘Reisen’ wurde geforscht, v. a. in den Beiträgen des von Ernst Bremer und Susanne Röhl herausgegebenen Tagungsbands.6 Dazu kommen zwei Neueditionen, einmal der insularfranzösischen Fassung,7 einmal des Pynson-Textes.8 Wie auch bei den anderen bisherigen Editionen der ‘Reisen’ wurden dabei der Edition des Textes Namensregister nachgestellt: in Tamanskis Edition nur ein zusammenfassendes, bei Deluz dagegen ein nach Orts- und Personennamen aufgeteiltes. Das Ziel dieser Art der Beschäftigung mit der in den ‘Reisen’ enthaltenen großen Menge an Namen ist es, die Namen in ihrer oftmals verderbt überlieferten Form zu entschlüsseln und zuzuordnen. Dabei werden häufig zu einem Ort mehrere Namensvarianten angegeben, weil antike Benennungen beibehalten wurden:
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the early English stage, in: Shakespeare in Southern Africa 18 (2006), S. 21–28; Fre´de´ric Hartweg, La condamnation des voyages. La Nef des fous de Sebastian Brant entre le Livre des merveilles du monde et Fortunatus, in: Bremer und Röhl [Anm. 1], S. 93–110; Monica Manolescu, »Verbal Adventures in the Inky Jungle«. Marco Polo and John Mandeville in Vladimir Nabokov’s The Gift, in: Cycnos 24/1 (2007), S. 119–129. Marı´a Mercedes Rodrı´guez Temperley, Narrar, Informar, Conquistar. Los Viajes de Juan de Mandevilla en Aragon, in: Studia Neophilologica 73 (2001), S. 184–196; Martin Camargo, The Book of John Mandeville and the Geography of Identity, in: Marvels, Monsters, and Miracles. Studies in the Medieval and Early Modern Imaginations, hg. von Timothy S. Jones und David A. Sprunger, Kalamazoo (Mich.) 2002, S. 67–84; Rosemary Tzanaki, Mandeville’s Medieval Audiences. A Study on the Reception of the Book of Sir John Mandeville (1371– 1550), Aldershot 2003; Susanne Röhl, Der livre de Mandeville im 14. und 15. Jahrhundert (MittelalterStudien des Instituts zur Interdisziplinären Erforschung des Mittelalters und seines Nachwirkens 6), München 2004; Alexandra Nusser, Zu spätmittelalterlichen Autorenbildern am Beispiel der Überlieferung von Jean de Mandevilles ‘Reisen’ in Europa, in: Kleidung und Repräsentation in Antike und Mittelalter, hg. von Ansgar Köb und Peter Riedel (MittelalterStudien des Instituts zur Interdisziplinären Erforschung des Mittelalters und sei˝ rsi, Ways and nes Nachwirkens 7), München 2005, S. 95–116 u. Farbabb. S. 124–132; Tibor O means of French lexical influence in the Cotton version of Mandeville’s Travels, in: Rethinking Middle English. Linguistic and Literary Approaches, hg. von Nikolaus Ritt und Herbert Schendl (Studies in English Medieval Language and Literature 10), Frankfurt a. M. 2005, S. 161–168; Michael J. Bennett, Mandeville’s Travels and the Anglo-French Moment, in: Medium Aevum 75/2 (2006), S. 273–292. Christiane Deluz, L’originalite´ du Livre de Jean de Mandeville, in: Bremer und Röhl [Anm. 1], S. 11–18; Michael C. Seymour, More Thoughts on Mandeville, ebd., S. 19–30; Alda Rosse` propos de la source de la version italienne des Voyages de Jean de Mandeville, bastiano, A ebd., S. 31–40; Randall Herz, Apropos binding waste: A new manuscript finding of Mandeville’s Reisen in the abridged Velser redaction, ebd., S. 41–66; Rosemary Tzanaki, Aspects of Mandeville’s Audiences, ebd., S. 79–92; Werner Paravicini, Fakten und Fiktionen. Das Fegefeuer des hl. Patrick und die europäische Ritterschaft im späten Mittelalter, ebd., S. 111– 164. Jean de Mandeville, Le Livre des Merveilles du Monde, hg. von Christiane Deluz (Sources d’Histoire Me´die´vale. Publie´es par l’Institut de Recherche et d’Histoire des Textes 31), Paris 2000. The Book of John Mandeville. An Edition of the Pynson Text with Commentary on the Defective Version, hg. von Tamarah Kohanski (Medieval and Renaissance Texts and Studies, Volume 231), Arizona 2001.
Namen in der Diemeringen-Version von Mandevilles ‘Reisen’
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Ein Faktum mag die geographische Ortsnamengebung zusätzlich belastet haben: manche Landschaften und Städte wurden auch im Mittelalter noch weiter mit ihren antiken Benennungen belegt, Konstantinopel, Antiochia, Alexandria, Palästina usw. Dies mag es manchem Zeitgenossen, Dichter wie Zuhörer oder Leser, zusätzlich erschwert haben, sich chronologisch und geographisch zu orientieren.9
Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Mandeville-Forschung stützt sich auf die Namen. Die Namensvarianten einander zuzuordnen, möglicherweise unter der Hinzufügung der aktuellen Bezeichnung, hilft, die Route Mandevilles von Europa nach China nachzuvollziehen und seine ethnologischen Beobachtungen geographisch zu lokalisieren. In den quellenkundlichen Aufstellungen bieten die Namen Anhaltspunkte zur Textgenese – so stützt sich Christiane Deluz10 bei ihrer These, Mandeville sei zumindest bis in den Nahen Osten gereist, auf die Erwähnung arabischer, in den Quellen nicht verwendeter Namen. Die große Ansammlung von Namen speist sich aus den Quellen, denen Jean de Mandeville sein Werk verdankt; er übernimmt sie aus den Texten, die seit Bovenschen11 und Warner12 zum Großteil bekannt und seit Deluz13 in aufwändiger Arbeit für fast alle Textstellen der ‘Reisen’ aufgeführt sind. Ausschnitte aus den in der Hauptsache lateinischen Quellentexten14 werden von Mandeville zum Teil Wort für Wort übertragen; die der Urfassung am nächsten stehende Textversion ist nach weitgehend15 übereinstimmender Meinung der Forschung die kontinentalfranzösische Version und ist in einer von Malcolm Letts besorgten Transkription16 der ältesten bekannten Handschrift, des so genannten Paris-Textes,17 zugänglich. Die nach den französischen oder den bald darauf erstellten lateinischen Versionen der ‘Reisen’ angefertigten Übersetzungen in andere europäische Volkssprachen transportierten die Namen und Namensaufzählungen Mandevilles weiter. Meist wurden die ursprüngliche Ordnung und damit auch die entsprechenden Namen beibehalten, 9
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Paul Kunitzsch, Zur Typologie orientalischer Namen in der mittelalterlichen deutschen und europäischen Literatur, in: NAMEN in deutschen literarischen Texten des Mittelalters. Vorträge Symposion Kiel, 9.–12.9.1987, hg. von Friedhelm Debus und Horst Pütz (Kieler Beiträge zur deutschen Sprachgeschichte, Bd. 12), Neumünster 1989, S. 43–56, hier S. 44 f. Deluz [Anm. 7], v. a. S. 11; dies., Le livre de Jehan de Mandeville. Une »ge´ographie« au XIVe s. (Publications de L’Institut d’E´tudes Me´die´vales – Textes, E´tudes, Congre`s 8), Louvain-LaNeuve 1988, v. a. S. 61. Albert Bovenschen, Die Quellen für die Reisebeschreibung des Johann von Mandeville, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 23 (1888), S. 177–306. The Buke of Sir John Maundeuil, hg. von George F. Warner, London 1889. Deluz [Anm. 10]. Zu den Quellen ebd., v. a. Kapitel III La ›Librairie‹ de Mandeville, S. 39–72, v. a. die Auflistung der ›Sources de Mandeville‹, S. 57 f. Kritik an dieser Rekonstruktion übte zuletzt Bennett [Anm. 5]; er schlägt die insularfranzösische Version als erste, von einem Engländer verfasste Fassung vor. Siehe dort v. a. S. 277 f. Mandeville’s Travels. Texts and Translations, hg. von Malcolm Letts, London 1953, S. 225– 413. Beschreibung der Handschrift P13 in: Röhl [Anm. 5], S. 110–114.
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Reinhard Berron
teilweise verschwanden sie mit vorgenommenen Textkürzungen, oder es kamen durch neue Einschübe (z. B. über die Ogier-Sage in der Lütticher Version) auch neue Namen hinzu. Den Bedarf, die vielen Namen zueinander in Bezug zu setzen und zu erläutern, sahen bereits der Bearbeiter Diemeringen, der Autor Mandeville sowie teilweise schon die Verfasser seiner Quellen. Diesem Bereich der Namensreflexion werden alle Namen zugeordnet, denen eine erläuternde Ergänzung beigegeben ist. Die Art und Weise, in der dies geschieht, ist unterschiedlich – es ergeben sich die im Folgenden aufgeführten Gruppen: – Alternativnamen: Angabe eines zweiten Namens ohne Erläuterung, wie: Den berg [Ätna] heissent ouch ettelich Gybee oder / / glottan,18 oder Vnd an eime ende von Gallilee lit ein berg heisset Endor oder Hermon.19 – Namensentwicklung: Angabe weiterer Namen mit historischer Erläuterung, wie: o Vnd vur Melchisedech geziten pflag su´ Jebus zu heissende. Dar nach hies su Salem o o bicz zu Dauides geziten, vnd der det die zwene nammen zu samen vnd hiese su´ Jebusalem. Vnd dar nach hies su´ Salomon Jerasoloma vnd do von heisset si nu´ Jerusalem.20 Dieses Verfahren kann in eine ausführliche Beschreibung von Entstehung und Namensgebung ausufern.21 – Namensbedeutung: der im eigentlichen Sinne onomastische Versuch, en passant das Zustandekommen des jeweiligen Namens zu erklären, wie: Ouch heisset es daz Dote mer vmb daz, daz es niht [. . .] louffet alz ander mere. Wand ez ist niht ein reht mer, me ez ist alz ein wog oder ein sewe.22 18
19 20 21
22
B1, 16ra, 16rb. Die kritische Edition, die von Klaus Ridder besorgt wird, liegt noch nicht im Druck vor, es konnte jedoch für diesen Beitrag der quasi fertige Text in einem aktuellen Ausdruck benutzt werden. Da die Ausgabe noch nicht erschienen und damit die Seitenzahlen noch nicht fixiert sind, erfolgt die Zitierung nach der Blattzählung der Leithandschrift. Der Text wurde nach folgenden Handschriften erstellt: »Die Wahl von B1 als Leithandschrift ist zwingend. B1 bietet die beste Textqualität und Textgestalt und ist die älteste erhaltene Handschrift; die Schreibsprache (Elsässisch) weist in den ersten Rezeptionsraum der Übersetzung; der Schreiber beherrscht ein einheitliches Graphemsystem und führt teilweise eine sinngerechte Interpunktion des Textes durch. B1 besitzt ferner in Se eine Parallelhandschrift, die sie stützt und bei Textausfällen einspringen kann« (Klaus Ridder, Übersetzungsnaher und wirkungsintensiver Text. Zu einer Ausgabe der deutschen Mandeville-Übertragung des Otto von Diemeringen, in: Editionsberichte zur mittelalterlichen Literatur. Beiträge der Bamberger Tagung »Methoden und Probleme der Edition mittelalterlicher deutscher Texte«, 26. bis 29. Juli 1991, hg. von Anton Schwab, Göppingen 1994, S. 325–331, hier S. 327). Die Wiedergabe des Textes folgt also den von Ridder aufgestellten Kriterien (ebd.) bezüglich der verschiedenen s-Schreibung und der Diakritika. Als Vorlage wird der Text P11 angenommen; zur Diskussion und den Gründen dieser Wahl: Klaus Ridder, Jean de Mandevilles ‘Reisen’. Studien zur Überlieferungsgeschichte der deutschen Übersetzung des Otto von Diemeringen (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 99), München 1991, S. 147–150. Eine Beschreibung der Handschrift findet sich ebd., S. 36 ff. B1, 29va. B1, 21rb. Z. B. die Städtetäufer Alexander (38rb, 38va, 65vb), Ogier (39va, 39vb), Nebukadnezar (12ra), Ninus (37va), Adrianus (24rb), Melchisedek (21rb). B1, 27rb.
Namen in der Diemeringen-Version von Mandevilles ‘Reisen’
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– Namensübersetzung: Vermittlung der Bedeutung eines Namens an Rezipienten, die der Sprache, in der die Benennung stattfand, nicht mächtig sind, wie: Von Jerusalem zwo milen verre ist der berg, den man heisset Mont Joie, das ist der fröyden berg.23 – Die letztgenannte, wegen ihres Variantenreichtums besonders beachtenswerte Gruppe soll hier exemplarisch vorgestellt werden. Die Übersetzung von Namen erfolgt nach drei Varianten: Fremdsprachige Namen werden als feststehend angenommen und ihre Bedeutung im Deutschen erklärt; der Erzähler gibt die verschiedenen einzelsprachlichen Varianten eines Namens an; bei einigen wenigen Fällen handelt es sich um Übersetzungsfehler.
1. Fremdsprachige Namen als Signifikanten Dass die Bereitschaft, einen Namen überhaupt zu erklären, bereits bei Mandeville vorhanden war, zeigt sich, wenn man die komplizierte Textgeschichte bis zu den Quellen zurückverfolgt. Der so genannte Pseudo-Odorico beispielsweise hatte sich noch mit der bloßen Mitteilung des Namens begnügt: IIII o miliario a Iherusalem est mons Iore, vbi Samuel propheta est sepultus.24 Mandeville macht daraus eine umfassendere Information, indem er nicht nur die scheinbare französische Form des lateinisch rezipierten Namens angibt, sondern auch dessen Bedeutung: Jtem a x lieus de Jerusalem est le mont de Joye qui est moult bel lieu et delicieu / et gist samuel le prophete en vne belle tombe / Et ce mont appelle on mont de joye / pour tant quil donne joye aux pelerins qui vont en Jerusalem.25
Mehrere dieser französischen Namen übernahm Otto von Diemeringen nun aus seiner Vorlage.26 Im Gegensatz zu den zusammengesetzten sprechenden Namen wie Jungbrunnen,27 verzaubertes Tal28 usw. wollte er sie jedoch nicht nur übersetzen, sondern er behielt das ›Original‹ in der führenden Position bei, so Mont Joie (s. o.), 23 24
25 26
27 28
B1, 26ra. Pseudo-Odorico nach: Peregrinatores medii aevi quatuor, hg. von Johann Christian Moritz Laurent, Leipzig 1864, S. 143–158, hier C. LXI, S. 156. P11, 21v. Ridder [Anm. 18], S. 326: »Ausgangstext Diemeringens [. . .] war eine Textform der Lütticher Version, die zwei Handschriften überliefern. Die direkte Vorlage des Übersetzers ist nicht erhalten; in der Edition wird die Quelle nach der Handschrift Paris, B. N., f. fr. 24436 [Sigle: Q] gelesen.« Von der Lütticher Version existiert noch keine kritische Edition; es wird daher nach der Handschrift P11 zitiert (Beschreibung Josephine Waters Bennett, The Rediscovery of Sir John Mandeville [The Modern Language Association of America Monograph Series XIX], New York 1954, S. 282). Kürzel werden wie allgemein üblich aufgelöst, so hochgestelltes s zu re, Nasalstrich zu zweitem m; gestrichenes p zu par und Ihrs zu Ierusalem. Großschreibung und Interpunktion werden nur übernommen, wo sie sich in der Handschrift erkennen lassen. Ju´ngel bu´rne (Se, 43ra) aus fontaine de Jouuent (P11, 35r). Verzouberte tal (B1, 61ra) aus val enchanteys (P11, 54v).
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Reinhard Berron
Castel Cor (Vnd bi Damascke lit eine gar starcke vesten heisset Castel Cor, daz ist die gu`ldin burg.)29 und Mont Royal: Den sun hette vor Gwycboga gefangen geleit in eyner vesten heisset Mont Royal, daz ist gesprochen ku´ngesberg.30 Diemeringen hat diese Namen wohl als Eigennamen aufgefasst, die in der Zielsprache zu bewahren seien. Bemerkenswerterweise verfährt er aber bei Bedarf auch anders: Wo der französische Text nämlich seinerseits aus ihm fremden Sprachen übersetzt, wie im Falle der Kreuzfahrerburg Krak (a vn chastel fort et bel en la montaigne qui est au souldant / et a nom carach en sarrazmois / cest a dire en francois Royal mont ou mont royal),31 erscheint es ihm durchaus ratsam, das französische mont royal nicht mitzuzitieren, wie an anderer Stelle geschehen, sondern sofort ins Deutsche zu übersetzen – ohne allerdings die Sprachbezeichnung francois dementsprechend umzuwandeln: o
Vnd von dem Toten mere, do der Jordan in vellet, wider der sunnen vfgang zu gande vssen dem lande, daz da heisset Terra Promissionis, lit eine schöne vnd veste burg vf eyme berge, die ist des soldans vnd heisset Carach; daz ist also vil gesprochen als ku´ngesberg.32
Die lateinischen Namen behandelt Diemeringen ähnlich wie die französischen. Der bereits aus der Vorlage stammende lateinische Name Campus Floridus wird geläufig ins Deutsche übersetzt: Vnd zwu´schent der selben kyrchen vnd der stat lit ein plon heisset Campus Floridus, das ist gesprochen daz blügende velt.33 In einem anderen Fall wird allerdings aus nicht nachvollziehbaren Gründen der lateinische Name dem deutschen nachgestellt: Vnd bi Ancon flusset ein kleiner bach o o heisset Belean. Vnd v`ber der bach stot eine grube heisset Moymon grube oder Fossa 34 Moymon. Hat Otto von Diemeringen nur seine Lateinkenntnisse beweisen wollen? In der Lütticher Version lautet die Stelle: Jtem de ancon iusques a la grande montaigne con nomme scala de thil a cent stadiens / delez ancon court vne petite riuiere qui a nom beleon / et la delez est la fosse meymon / ce est vne fosse ronde qui a bien cent cubites de large.35
Es gibt also für den lateinischen Namen keine Vorlage in der französischen Handschrift. Bei Diemeringen wird ein Vallis luctus übersetzt: O vch heissent etteliche den tal Vallis luctus, daz ist der Weinende tal, / / wand Adam weinete do hundert jare, do yme Cayn hette Abel erslagen.36 Dieses Tal, streng genommen das Tal der Trauer, nicht der Tränen, hat in der Vorlage keinen lateinischen Namen: 29 30
31 32 33
34 35 36
B1, 31rb. Dagegen P11, 26v: Et assez pres de Damas est le chastel Darque qui est moult fort. B1, 10vb. Dagegen P11, 10v: Et finablement il sacorderent a melechnasser le fil melechnasser que Gwickboga auoit mis en prison a mont royal. P11, 23v. B1, 28rb. B1, 20rb. Dagegen P11, 17r: Et entre celle eglise et la cite est Campus floridus cest a dire champ flours pourtant que une pucelle estoit encoulpee a tort quelle auoit fait form et la pucelle fait fornicacion si la deuoit on ardoir en celle place et furent les espines alumees. B1, 9ra. Lütticher Version P11, 9v. B1, 19ra, 19rb.
Namen in der Diemeringen-Version von Mandevilles ‘Reisen’
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De bersabee on vient a la cite de hebron / ou il a ij bonnes lieues / et est autrement appellee le val mambre et autre le nomment le val des larmes / pour tant que adam ploura la cent ans la mort son fil abel que cayn son autre fil auoit ocis.37
Wie bei der Fossa Moymon wird der lateinische Name also gewissermaßen als Alternativname eingeführt. Liegt hier ein Indiz dafür vor, dass Diemeringen, wie er es zu Beginn der ‘Reisen’ ankündigt, auch aus einer lateinischen Version übersetzte? – so o o o han ich, Otte von Diemeringen, dumherre zu Mecze, daz selbe buch von latine vnd o von weltsche zu tu´tsche gezogen [. . .].38 Nicht nur von französischen und lateinischen Namensformen werden Übersetzungen angeboten: Den biblischen39 Namen Hakeldama zitiert Diemeringen als Acheldemach, ohne dass er dabei angibt, aus welcher Sprache diese Urform stammt; danach übersetzt er ihn: Vnd vf ginesite dez berges, wol eins wurffez verre, ist daz o velt, daz su´ nennent Acheldemach. Daz ist gesprochen daz b l u t i g e v e l d e vnd wart gekouft mit den xxx d.40 Er folgt damit seiner französischen Vorlage: Et dautre part le mont de Syon vers midy oultre la valee le get dune parre est aceldemach ce est adire le c h a m p d e s a n c / le quel fu achatez pour les xxx denairs pour les quelz dieu ot estre vendus.41
Diese Passage, im Übrigen mit nahezu identischem Wortlaut im Paris-Text,42 wurde nach Deluz’ Recherchen dem Reisebericht Wilhelms von Boldensele entnommen: Supra vallem Josaphat versus meridiem est ager ille Aceldema in sepulturam peregrinorum pretio Christi sanguinis comparatus, ubi multorum corpora sanctorum requiescunt, sub quo in petris excisa sunt multa Christianorum habitacula et oratoria gratiosa.43
Dieser verzichtet anders als Mandeville auf eine explizite Erklärung des Eigennamens Aceldema.44 37 38 39 40 41 42
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P11, 16r. B1, Ira. Mt 27,8 und Apg 1,19. B1, 26ra. P11, 21v. Letts [Anm. 16], S. 279: Et de lautre part du mont de Syon vers midy, oultre la valee le giet dune pierre, est Aceldemach, cest a dire le c h a m p d e s a n c , qui fut achatez les xxx. Deniers, que nostre Seigneur fut vendus. Itinerarius Guilielmi de Boldensele: Des Edelherren Wilhelm von Boldensele Reise nach dem gelobten Lande, hg. von Carl Ludwig Grotefend, in: Zeitschrift des historischen Vereins für Niedersachsen (1855), S. 237–286, hier S. 272. Dieser Unterschied rechtfertigt einen kleinen Exkurs in den Bibeltext. Boldenseles Bericht unterscheidet sich von der Apostelgeschichte, denn in der Vulgata wird der aramäische Name (ha˘qel d·ma¯’) übersetzt: Et hic quidem possedit agrum de mercede iniquitatis et suspensus crepuit medius et diffusa sunt omnia viscera eius et notum factum est omnibus habitantibus Hierusalem ita ut appellaretur ager ille lingua eorum Acheldemach hoc est a g e r S a n g u i n i s (Actus Apostolorum I,18 f., in: Biblia Sacra, iuxta vulgatam versionem, Editionem quartam emdendatam cum sociis B. Fischer et al., praeparavit Roger Gryson, Stuttgart 1994). Das Matthäusevangelium hingegen, in welchem auch die zugehörige Geschichte an-
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2. Einzelsprachliche Namensversionen Eine weitere Variante der Namensübersetzung besteht darin, dass der Erzähler mindestens eine weitere einzelsprachliche Namensversion des Ortes aufführt, von dem er zu sprechen ansetzt. Besonders im Nahen Osten wird diese Methode häufig angeo wendet. Der hebräische Name des Berges Ararat Vnd dar nach kummet man zu einem andern [berg] heisset Arelach. Vnd heissent in die Juden Chano45 wird ebenso genannt wie der angebliche arabische Name Mekkas: vnd xxxij tageverte verre von Babilone ist eine stat heisset Mech oder Merks. Vnd nennent su´ die heyden Jachribe vnd lit die stat in den deserten von Arabien.46 Der Name Jachribe ist eigentlich die arabische Bezeichnung Medinas und wird hier irrtümlich Mekka zugeordnet.47 Teilweise werden bei Namen aus dem Nahen Osten auch mehrere Namensformen nebeneinander gestellt, v. a. arabische und hebräische, wie zum Beispiel für Ägypten: Vnd so man vßer dem deserte kummet, so kummet man in Egypte. Vnd daz lant Egipte heisset in heydenescher sprachen Canopat, vnd andern heissent es Mersin.48 Da hier nicht ausdrücklich gesagt wird, um welche Sprachen es sich handelt, könnte sich
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ders erzählt wird (nach Mt 27,6–8: Die Hohenpriester kauften das Feld vom ›Blutgeld‹ des Judas. Nach Apg 1,19 stürzte Judas auf das vorher gekaufte Feld und starb qualvoll), nennt in der griechischen Fassung den aramäischen Namen nicht: oië deÁ aÆrxiereiÄw laboÂntew taÁ aÆrgyÂria eiËpan´ oyÆk eÍjestin baleiÄn ayÆtaÁ eiÆw toÁn korbana Ä n, eÆpeiÁ timhÁ aiÏmatow eÆstin. symboyÂlion deÁ laboÂntew hÆgoÂrasan eÆj ayÆtv Ä n toÁn aÆgroÁn toyÄ kerameÂvw eiÆw tafhÁn toiÄw jeÂnoiw. dioÁ eÆklhÂûh oë aÆgroÁw eÆkeiÄnow aÆ g r oÁ w a Ïi m a t o w eÏvw th Ä w shÂmeron (KataÁ MaûûaiÄon 27,6–8, in: Novum Testamentum Graece cum apparatu critico curavit Eberhard Nestle. Novis curis elaboraverunt Erwin Nestle, Stuttgart 251963). Die Vulgatafassung hingegen zitiert den Namen auch im Matthäusevangelium: principes autem sacerdotum acceptis argenteis dixerunt / non licet mittere eos in corbanan quia pretium sanguinis est / consilio autem inito emerunt ex illis agrum figuli in sepulturam peregrinorum / propter hoc vocatus est ager ille Acheldemach a g e r s a n g u i n i s usque in hodiernum diem (Secundum Mattheum 27,8, in: Biblia Sacra, s. o.). Boldensele kann den Namen somit aus einer der beiden Bibelstellen der Vulgata oder aus dem griechischen Matthäusevangelium entnommen haben, wo er jeweils auch übersetzt wird. B1, 36ra. Dagegen P11, 31r, 31v: De celle cite de aitrion vient on a une montaigne que a nom sabisacolle / / Et delez est une autre qui a nom aralach / maiz les Juyfz le nomment chano. B1, 12ra. Dagegen P11, 11v: Jtem la cite de melech que les pagens appellent Jathribe est es grans desers darabe. Auf Grund dieser Namensverwechslung und der verderbten Form für Al-Tı¯h: Und heisset daz desert in der sprachen Alhylech (B1, 9va. Dagegen P11, 10r: Et est ce desert nomme en leur langaige / Alhylech), deren Quellen nicht ausfindig gemacht werden können, geht Christiane Deluz von einem Aufenthalt Mandevilles im Nahen Osten aus und vermerkt an den entsprechenden Stellen ihrer tabellarischen Quellenauflistung: »Appris sur place?« (Deluz [Anm. 10], S. 436) und »recueillis sur place (?)« (ebd., S. 434): D’autre part, il semble difficile »d’expliquer autrement que par un se´jour en Orient la pre´sence de noms arabes (plus ou moins de´forme´s par lui ou par les copistes) qui e´maillent son re´cit et dont, la` encore, il a l’exclusivite´, comme ›Alhilet‹ (Et tih) pour le de´sert entre Egypte et Syrie; ›Calahelic‹ (El Kalah, plus la terminaison lik propre aux noms de lieux) pour la citadelle du Caire; noms du baume, dont il a e´te´ question plus haut« (ebd., S. 61). B1, 9va. Dagegen P11, 10r: Et quant on est de ce desert on entre en Egipte / que on appelle en sarrasmoie Canopat / Et autres lappellent mersin.
Namen in der Diemeringen-Version von Mandevilles ‘Reisen’
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die Form Mersin sowohl auf den hebräischen Namen Ägyptens, Misraim, als auch ˙ auf die arabische Form Misr beziehen.49 Normalerweise werden heidnisch und sara˙ zenisch, also arabisch, äquivalent gebraucht – so zum Beispiel in der Gegenüberstellung von arabischem und hebräischem Namen für Hebron: Vnd heissent su´ [Hebron] die heyden in irre sprachen Caria charba, daz ist gesprochen der patriarchen stat. Vnd die Juden heissent su´ Arboch.50 Auch von Personengruppen werden unterschiedliche einzelsprachliche Namensfassungen angegeben, so von den drei Gefährten Daniels in der Löwengrube und von den drei Heiligen Königen. Die Namen ersterer werden in ihrer hebräischen und babylonischen Form mitgeteilt: Die kinde hiessent in abrahemmer sprachen Ananians, Azarias, Misahel, als in dem salter stat in dem psalmen: »Benedicite omnia opera domini domino.« Doch hiesse sie Nabogodosor anders, es hies sie Sydrag, Mysag vnd Abdenago, daz ist gesprochen: »Glorifiettur got, vnu`ber wintlicher got, got v`ber alle ku´ngriche.« Vnd daz waz vmb daz wunder, daz er gesach, daz daz fu´r die gottes kinde niht enleczete.51
Die Namen werden also in beiden Fällen in Bezug zu einem Preisen der göttlichen Macht gesetzt. Von den Namen der Heiligen Drei Könige dagegen werden drei Versionen mitgeteilt: die erste Form, die als die übliche vorgestellt wird, wiewohl sie nicht weiter spezifiziert ist, die hebräische und die griechische: Vnd wie wol wir die drie ku´nige nennent Kaspar, Melchior vnd Baltasor, so nennent su´ doch die Juden anders, wande su´ nennent sy Apellius, Amerius vnd Damasus. Vnd die Kryechen nennent sie Algelach, Malgelach vnd Serafus.52
3. Übersetzungsfehler Von den beiden Übersetzungsfehlern ist der eine wohl auf Mandeville, der andere auf Diemeringen zurückzuführen. Im ersten Fall handelt es sich um den Namen der großen Kirche in Byzanz, Hagia Sophia, der sich nicht einer Heiligen Sophia, son49
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Der Name Canopat wird wenig später wiederholt: Die ku´ngriche heissent eins Canopat oder Egypte, das ander Jerusalem, daz Dauit besaz vnd do ku´ng waz vnd nach ime Salomon (B1, 10ra). Nach dem Namensregister in: Sir John Mandevilles Reisebeschreibung in deutscher Übersetzung von Michel Velser, hg. von Eric John Morrall (Deutsche Texte des Mittelalters LXVI), Berlin 1974, S. 190, handelt es sich um eine antike Stadt in Ägypten. B1, 19va. Dagegen P11, 16r, 16v: Et les sarrazins le nomment en leur langage Caria charba ce est a dire le lieu des patriarches. Et les Juyfs / / lappellent arboch. B1, 9vb. Dagegen P11, 10r: la mersniss fist nabugodonosor mectre les trois enffanz en la fornaise ardat / pourtant quil estoient de bone foy / les quelz furent nommez en ebrieu anania azaria et misael / et ainsi les nomme vn psalme con nomme benedicite dia opera mais nabugodonosor les appella autrement cest assanom sidrat misat et abdenago. Cest a dire dieu glorieux / dieu vittorieux dieu sur tot royaumes. B1, 20va. Dagegen P11, 17r: et assez pres est le puis on lestoile chey qui auoit conduit les iij Roys Jaspar melchior et baltazar / Jtem les Juyfz appellent les iij Roys in hebrieu Appellius amerius et damasus / et les grigois les nomment algalach malgalach et surphus.
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dern der ‘heiligen Weisheit’53 verdankt: Vnd in der selben stat [Konstantinopel] ist die merreste vnd die schöneste kyrche in der welte vnd ist gebuwen in sant Sophien ere.54 Der zu vermutenden Quelle, dem Pilgerbericht Boldenseles, ist das Missverständnis nicht zuzuschreiben, denn dort steht richtig erklärt, worum es sich bei der Hagia Sophia handelt: Pluraque sunt palatia pulcherrima in eadem; tenet tamen principatum in ipsa civitate [Constantinopolis] ecclesia sanctae Sophiae, id est Sapientiae, quae Christus est, quam Justinianus sanctissimus imperator fundavit et mirabiliter singularibus praerogativis ac praeconiis decoravit.55
Auch im zweiten Fall ist der falsch hergeleitete Name griechischen Ursprungs: Zur Stadt Heliopolis gibt Diemeringen einen Alternativnamen an, der aus einem Verständnisfehler entstanden zu sein scheint. Die französische Handschrift hat hier: En egipte est la cite de elyopal ce est a dire la cite de solea;56 Diemeringen übersetzt zunächst die namenkundliche Erklärung völlig richtig: Jn Egypte lit eine stat heisset Elyopel, daz ist der sunnen stat. Er scheint also die französische Herleitung korrekt verstanden zu haben. Dass er aber als Namensalternative den Satz anfügt: Vnd heisset die stat Desola,57 widerspricht dieser Annahme. Weder die Übersetzung Michel Velsers58 noch die englische Cotton-Version59 kennen diese merkwürdige Variante. Kann der Metzer Otto von Diemeringen tatsächlich den französischen Text derart missverstanden haben, oder geht dieser Fehler auf ein lateinisches de sole in einer zusätzlichen Vorlage oder einer Quelle zurück? Ein Bestandteil des Mandevilleschen Werkes, die Namensreflexion, eröffnet die Möglichkeit, über mehrere Schichten die außergewöhnlichen Bedingungen der Textentstehung von den Quellen über die französische Fassung bis hin zur deutschen Bearbeitung zu verfolgen. Eine Reflexion auf Namen findet sich wie am Beispiel des ›Blutackers‹ gezeigt bereits in der Bibel – das Onomastikon des Eusebius60 legt Zeug53
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»aÏgiow [. . .] heilig, ehrwürdig, mit dem gen. der Gottheit« (Griechisch-Deutsches Schulund Handwörterbuch von Wilhelm Gemoll, 9. Aufl., durchges. und erw. von Karl Vretska, mit einer Einführung in die Sprachgeschichte von Heinz Kronasser, München 1991, s. v.); »sofiÂa, aw, hë, ion. -iÂh (sofoÂw) 1. Geschicklichkeit, Gewandtheit, Kunstfertigkeit, [. . .]. 2. übertr. a. das Verstehen, Kenntnis, Einsicht, Klugheit, Schlauheit, [. . .]. b. Lebensklugheit, Weisheit, Philosophie« (ebd., s. v.). B1, 1vb. Dagegen P11, 3v: En ceste cite de constantinoble est la plus grande eglise et la plus belle du monde qui est fondee en honeur de sainte sophie. So auch in Paris-Text, vgl. Letts [Anm. 16], S. 232: La est la plus belle eglyse et la plus noble du monde, qui est de Sainte Sofie. Itinerarius Guilielmi de Boldensele [Anm. 43], S. 238. P11, 12v. B1, 13va. Morrall [Anm. 49], S. 32: In Egypten ist ain statt die haisset Elyapole, das ist als vil gesprochen als die statt von der sunnen. Mandevilles’s Travels, hg. von Michael C. Seymour, Oxford 1967, S. 34: In Egipt ist he citee of Elyople, that is to seyne the cytee of the sonne. Eusebius von Caesarea, Das Onomastikon der biblischen Ortsnamen, Edition der syrischen Fassung mit griechischem Text, englischer und deutscher Übersetzung, eingel., hg. und mit Indizes vers. von Stefan Timm (Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristli-
Namen in der Diemeringen-Version von Mandevilles ‘Reisen’
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nis vom frühen Interesse an ihnen ab; über die Quellen Mandevilles, wie die Etymologiae Isidors von Sevilla oder die Livres dou tresor von Brunetto Latini gelangen sie in den Text der ‘Reisen’. An vielen Stellen setzt Mandeville die Namensreflexionen bewusst ein – sei es anekdotisch, sei es im Zeichen der Wissensvermittlung. Sein Übersetzer und Bearbeiter Otto von Diemeringen treibt diesen Prozess weiter. Je nach Art der Namensreflexion (Alternativnamen, Namensentwicklung, Namensbedeutung, Namensübersetzung) wird er seinerseits unterschiedlich stark produktiv. Im hier behandelten Bereich, dem der Namensübersetzungen, verändert Diemeringen seine Vorlage insgesamt eher selten: Die Gruppe der einzelsprachlichen Varianten entnimmt er seiner Vorlage, die auch für einen der beiden Übersetzungsfehler verantwortlich ist. Die erste Gruppe jedoch legt Zeugnis ab von der Intention Diemeringens, wo möglich dem Rezipienten eine breite Wissenspalette zu vermitteln, indem er den Grund für die Benennung eines Ortes angibt, ohne aber den durch die Vorlage überlieferten ›Originalnamen‹ aufzugeben. Darüberhinaus finden sich einige Indizien, die die zusätzliche Verwendung einer lateinischen Fassung wahrscheinlich machen. Auch die eigenartige Form des zweiten Übersetzungsfehlers ist schließlich auf die geradezu hyperkorrekte Methodik seitens des Übersetzers und Bearbeiters zurückzuführen.
chen Literatur 152), Berlin/New York 2005. Einige der dort vorgestellten Namensbedeutungen finden sich auch bei Mandeville: Arbok, Hebron (Nr. 5); Bethlehem, Ephrata (Nr. 196); Pischon, Ganges (Nr. 398); Die Dörfer der Vier (Quryat ‘Arba’), Hebron (Nr. 584); Mamre, Hebron (Nr. 652); Tigris (Nr. 903); Pischon (Nr. 915).
Ästhetik des Bösen Die Herodesfigur im geistlichen Schauspiel von Ulrich Barton und Klaus Ridder
Mit seiner Theaterleidenschaft hat Herodes der Große schon immer Anstoß erregt: Als er, ein großer Freund der griechischen Kultur, ein Theater in Jerusalem bauen ließ, stieß das auf erbitterte Ablehnung vonseiten der jüdischen Bevölkerung.1 Ähnlich war die Reaktion auf christlicher Seite, als Herodes, inzwischen selbst zur Theaterfigur geworden, die Bühne des liturgischen Dramas betrat. Und diese Reaktion ist durchaus verständlich, wenn man bedenkt, dass mit der Herodesfigur erstmals das Böse Einzug in das christliche Kultschauspiel hält,2 das in seinem vermutlich frühesten Vertreter, der Osterfeier, zunächst nur Figuren wie den Engel und die drei Marien am Grab, dann auch Christus und die Apostel kannte. Die Entstehung und Entwicklung des geistlichen Spiels lässt sich wohl am ehesten erklären aus einem zunehmenden Bedürfnis der Gläubigen nach subjektivem Mitund Nachvollzug der heilsgeschichtlichen Ereignisse über Formen der Veranschaulichung und Vergegenwärtigung. Die sinnliche Teilnahme an den dargestellten Geschehnissen verbindet die Zuschauer zu einer Kultgemeinde, der auf diese Weise die Grundlagen ihres Glaubens und die religiösen Normen präsent und erfahrbar werden.3 Die Figuren des geistlichen Spiels sind Vermittlungsinstanzen, über die und mit 1
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Josephus, Antiquitates Iudaicae, XV,8,1 (hg. von Allen Wikgren, Cambridge (Mass.)/London 1963, S. 128), wobei Herodes nicht nur ein Theater für Schauspiele baute, sondern auch ein prächtig gestaltetes Amphitheater, was die jüdische Bevölkerung selbstverständlich noch weit mehr abgeschreckt haben dürfte als das Schauspieltheater. Vgl. Werner Weismann, Kirche und Schauspiele. Die Schauspiele im Urteil der lateinischen Kirchenväter unter besonderer Berücksichtigung von Augustin, Würzburg 1972, S. 69 Anm. 1; Abraham Schalit, König Herodes. Der Mann und sein Werk, 2. Aufl., mit einem Vorwort von Daniel Schwartz, Berlin/New York 2001, S. 370 f. Heinz Kindermann, Theatergeschichte Europas, Bd. 1: Das Theater der Antike und des Mittelalters, Salzburg 1957, nennt Herodes den »ersten Theaterbösewicht der europäischen Bühne« (S. 235). Am meisten Beachtung hat die Herodesfigur in der anglistischen Forschung gefunden, da sie in den englischen Mystery Plays eine so herausragende Rolle spielt; vgl. Roscoe E. Parker, The Reputation of Herod in Early English Literature, in: Speculum 8 (1933), S. 59–67; Warren E. Tomlinson, Der Herodes-Charakter im englischen Drama, Leipzig 1934; David Staines, To Out-Herod Herod: The Development of a Dramatic Character, in: The Drama of the Middle Ages. Comparative and Critical Essays, hg. von Clifford Davidson u. a., New York 1982, S. 207–231; Carolyn Coulson-Grigsby, Enacting Herod the Great’s Diseased Spirit, in: Early Drama, Art, and Music Review 23 (2001), S. 110–126. Den Herodes der französischen Mysterienspiele untersucht Isaak Sondheimer, Die HerodesPartien im lateinischen liturgischen Drama und in den französischen Mysterien, Halle a. d. S. 1912. Eine Beurteilung aus gesamteuropäischer Perspektive unternimmt Miriam Anne Skey, Herod the Great in Medieval European Drama, in: Comparative Drama 13 (1979), S. 330– 364. Zum gottesdienstähnlichen Charakter der Spiele vgl. Ursula Schulze, Formen der Reprae-
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Ulrich Barton und Klaus Ridder
denen die Zuschauer am vergegenwärtigten Heilsgeschehen partizipieren: Mit den drei Marien entdecken sie das leere Grab und teilen mit ihnen die Osterfreude; mit Christus bzw. Maria erleiden sie die Passion. Das geistliche Spiel ist ein Medium der Partizipation an und Identifikation mit Figuren der Heilsgeschichte und wird, wie es immer wieder heißt, aufgeführt zu Ehren Gottes und zur Besserung der Menschen. Seine Intention liegt also auch, neben den religiös-kultischen Funktionen, in Belehrung und Normenvermittlung. Normenvermittlung über literarische Identifikationsfiguren hat Hans Robert Jauß untersucht und dabei fünf Identifikationsmodelle unterschieden (assoziative, admirative, sympathetische, kathartische, ironische Identifikation).4 Die Normbildung kann bei allen Modellen in je spezifischer Weise scheitern, was an der »Grundambivalenz [. . .] aller ästhetischen Erfahrung«5 liegt: Gerade die ästhetische Erfahrung über Identifikation kann Normen besonders eindringlich vermitteln; zugleich besteht jedoch immer die Gefahr, dass der Rezipient am Ästhetischen hängenbleibt und die Norm, die dadurch vermittelt werden soll, gar nicht aufnimmt. Jauß geht in erster Linie von positiven Identifikationsfiguren aus, was auch sein Begriff ›Held‹ nahelegt; Normen können jedoch auch über negative Figuren vermittelt werden, eben ex negativo; diese müssen dann aber auch als negative kenntlich gemacht werden, d. h. so, dass sich der Rezipient gerade nicht im positiven Sinn mit ihnen identifiziert; sie müssen als AntiIdentifikationsfiguren konzipiert sein, müssen beim Rezipienten Distanzierung statt Identifikation auslösen, also: statt admirativer Identifikation, bei der man zu dem Helden aufschaut, eine Distanzierung, in der eine Figur verächtlich oder lächerlich erscheint; statt sympathetischer Identifikation, bei der man mit einer positiv gezeichneten Figur fühlt und leidet, eine Distanzierung von einer etwa als unmenschlich grausam und bedrohlich gezeichneten Figur. Doch auch solche ›Distanzierungsmodelle‹ sind stets von der Grundambivalenz ästhetischer Erfahrung geprägt. Wie wirkt sie sich bei ihnen aus? Hier dürfte das Hängenbleiben am Ästhetischen verhängnisvollere Konsequenzen haben als bei Vorbildfiguren. Das soll im Folgenden an der besagten Herodesfigur untersucht werden, der ersten ›Anti-Identifikationsfigur‹ des geistlichen Spiels. Damit man beurteilen kann, welche Art Anti-Identifikationsfigur den Spielschreibern mit Herodes vor Augen gestanden haben muss und welche Eigenschaften sie zu seiner Darstellung ausgewählt haben, gilt es zunächst nachzuzeichnen, mit welchen Mitteln der historische Herodes der Große zu einer negativen Exempel- und einer Symbolfigur des Bösen stilisiert wurde und welche Züge dabei besonders dominant sind.6
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sentatio im Geistlichen Spiel, in: Mittelalter und Frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, hg. von Walter Haug (Fortuna vitrea 16), Tübingen 1999, S. 312–356, hier S. 327–330. Hans Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1991, S. 244–292 (›Ästhetische Identifikation – Versuch über den literarischen Helden‹). Ebd., S. 251. Die Thematik des Bösen ist eines der am intensivsten bearbeiteten Gebiete in der Forschung zum geistlichen Spiel, wobei jedoch das Böse zumeist in Form des Teufels in den Blick
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Grundlegend für die christliche Herodesdarstellung ist Mt 2,1–8 und 16–18: Als Herodes erfährt, dass Weise aus dem Morgenland nach Jerusalem gekommen sind, um den neugeborenen König der Juden anzubeten, erschrickt er, befragt die Schriftgelehrten und lässt heimlich die Weisen zu sich kommen; er schickt sie auf die Suche nach dem Kind mit der listigen Bitte, sie möchten wiederkommen und ihm verraten, wo das Kind sei, damit auch er dorthin gehen und es anbeten könne. Als sie jedoch nicht wiederkommen, gerät Herodes in Zorn und lässt alle Kinder unter zwei Jahren töten. Die entscheidenden biblischen Vorgaben für alle künftige Darstellung des Herodes sind seine Angst, seine List und Heuchelei sowie sein Zorn. Seine Angst zeigt ihn in menschlicher Schwäche; seine Tat, der Kindermord, dagegen erweist ihn als unmenschlich grausam. Die zweite wichtige antike Quelle für das Herodesbild neben dem MatthäusEvangelium ist der jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus. Er behandelt Herodes gleich in zwei Werken und baut ihn in beiden zu einer Symbolfigur auf, einmal zu einer positiven, einmal zu einer negativen, je nach der Intention des jeweiligen Werkes. Mit dem ‘Bellum Iudaicum’ will Josephus zeigen, dass ein friedliches Zusammenleben von Juden und Römern möglich ist; Beweis dafür sei die über 30 Jahre lange Regierungszeit des Herodes, die eine Zeit des Friedens und Wohlstands gewesen sei; Herodes selbst wird als ehrlicher Mann, treuer Bundesgenosse Roms und von Gott begnadeter König dargestellt.7 »His virtues are Graeco-Roman«, und griechisch verstanden sind auch seine Laster: »Herod resembles tyrants in Greek historiography«;8 dies beinhaltet, dass er tragisch-ambivalent wahrgenommen werden kann: »as a historiographical figure [he] bears many allusions and similarities to tragic heroes.«9 Ziel der ‘Antiquitates Iudaicae’ dagegen ist es, die Größe des jüdischen Glaubens vor Augen zu stellen und darzulegen, dass die Befolgung des mosaischen Gesetzes zu einem glücklichen Leben führt. Als warnendes Gegenbeispiel dafür dient Herodes: Seine Regierungszeit gilt hier als »Epoche des Verfalls der von Mose entworfenen staatlichen Ordnung«;10 er selbst erscheint niederträchtig und von zweifelhafter Herkunft. Sein qualvolles Ende, das Josephus in allen Einzelheiten beschreibt, ist nur die gerechte Strafe für seine ständigen Übertretungen des mosaischen Gesetzes. »Herod’s misfortunes, viewed more as self-inflicted in the B[ellum] J[udaicum],
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genommen wird, derjenigen Figur also, die die Zuschauer selbst in ihrer alltäglichen Lebenswirklichkeit betraf; vgl. Walter Haugs Forschungsüberblick und seine Stellungnahme dazu: Rainer Warning, Friedrich Ohly und die Wiederkehr des Bösen, in: Walter Haug, Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Tübingen 2003, S. 650–663. Da es die Zuschauer im Fall Herodes mit einer Form des Bösen zu tun haben, die ihnen nicht unmittelbar in ihrer Alltagswirklichkeit, sondern nur im Rahmen der Aufführung begegnen konnte, dürften hier ganz eigene, vornehmlich ästhetisch-theatralische Aspekte des ›Bösen auf der Bühne‹ in den Blick kommen. Manuel Vogel, Herodes. König der Juden, Freund der Römer, Leipzig 2002, S. 15 f. Tamar Landau, Out-Heroding Herod. Josephus, Rhetoric, and the Herod Narratives, Leiden/Boston 2006, S. 194. Ebd. Vogel [Anm. 7], S. 17.
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Ulrich Barton und Klaus Ridder
become an example for the ways divine retribution works.«11 Unter dem übermächtigen Einfluss der biblischen Darstellung halten sich die mittelalterlichen Bearbeiter naheliegenderweise an das negative Herodesbild, wie Josephus es in den ‘Antiquitates’ zeichnet. Interessant ist, dass Josephus den bethlehemitischen Kindermord nicht erwähnt, obwohl er in seine tendenziöse Darstellung bestens hineingepasst hätte. Die Forschung geht überwiegend davon aus, dass der Kindermord gar nicht stattgefunden hat.12 Für die christliche Überlieferung ist er jedoch das entscheidende Charakteristikum des Herodes, und wenn etwa die ‘Legenda Aurea’ dann sein Leben nach den Vorgaben bei Josephus nachzeichnet,13 markiert hier nun der Kindermord den entscheidenden Wendepunkt in seiner Herrscherlaufbahn: Von da an vollzieht sich an ihm die Bestrafung durch Gott bis hin zu seinem unseligen Ende. Ließ sich der historische Herodes hinter Josephus’ tendenziöser Darstellung ohnehin nurmehr erahnen, verschwindet er nahezu völlig, wenn seine Biographie ganz unter das Zeichen einer Tat gestellt wird, die er womöglich gar nicht begangen hat. Nun erst jedoch hat Herodes seine im christlichen Sinne wahre Biographie bekommen. Sie erweist ihn als Exempel für die Bestrafung des Gottlosen. Als Negativexempel erscheint Herodes auch in theologischen Schriften seit den Kirchenvätern:14 Sein Wüten gegen den Gottessohn ist für Gregor den Großen (540– 604) Zeichen seiner geistigen Blindheit;15 auf sie lässt sich auch seine Angst zurückführen, die Augustinus (354–430) in seinen Predigten immer wieder betont.16 Hochmut, Neid, Jähzorn, Eitelkeit werden als feste Wesensmerkmale des Herodes tradiert. Von Zorn und Neid sei er laut Johannes Chrysostomus (347–407) wie von Dämonen getrieben worden.17 Der Teufel selbst habe ihn, so Origenes (185–254), zum Kindermord angestiftet.18 Auch Petrus Chrysologus (ca. 380–451) sieht den Teufel durch Herodes hindurchwirken und damit diesen als ein Werkzeug des Teufels.19 Noch weiter geht Leo der Große (ca. 400–461), wenn er sagt, Herodes sei der Teufel selbst.20 Auch für Isidor von Sevilla (560–636) verkörpert Herodes die diaboli forma[].21 Diesen Auslegungen zufolge handelt Herodes nicht nur unmenschlich, er ist schon gar kein Mensch mehr. 11 12 13
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Landau [Anm. 8], S. 198. Vgl. Vogel [Anm. 7], S. 327–331; vorsichtiger Schalit [Anm. 1], S. 648 f. Anm. 11. Jacobus de Voragine, Legenda Aurea, X: De innocentibus (hg. von Giovanni Paolo Maggioni, 2., durchges. Aufl., 2 Bde., Florenz 1998, Bd. 1, S. 97–102). Vgl. Miriam Anne Skey, Herod the Great in Medieval Art and Literature, Diss. Oxford 1976, S. 30–60. Homilia in Evangelia X, PL 76, Sp. 1111. Sermo CXCIX: ‘In Epiphania Domini, I’, PL 38, Sp. 1027; Sermo CC: ‘In Epiphania Domini, II’, PL 38, Sp. 1029; Sermo CCII: ‘In Epiphania Domini, IV’, PL 38, Sp. 1033. Johannes Chrysostomus, Kommentar zum Evangelium des Heiligen Matthäus, übers. v. P. Johannes Chrysostomus Baur, 1. Bd., Kempten/München 1915, IX. Homilie, S. 146. Origenes, Contra Celsum, hg. von Paul Koetschau, Leipzig 1899, I,61. Sermo CL: ‘De Fuga Christi in Aegyptum’, PL 92, Sp. 601. Sermo XXXVI: ‘In Epiphaniae Solemnitate, VI’, PL 54, Sp. 254C. Allegoriae quaedam Scripturae Sacrae, PL 83, Sp. 118.
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Hrabanus Maurus (ca. 780–856) nennt Herodes, den Christusverfolger, Typus aller späteren Christenverfolger.22 Gerhoch von Reichersberg (ca. 1092–1169) spannt typologische Beziehungsnetze zwischen Herodes und anderen Tyrannen wie dem Pharao und Nero; zusammen gelten sie als verschiedene Antichristen oder als Vorläufer des einen Antichrist am Ende der Zeit.23 Der historische Herodes der Große wird in der christlichen Überlieferung zu einem Negativexemplum für die Todsünden Hochmut, Neid und Jähzorn, für Angst als geistige Blindheit, für Gottlosigkeit und Teufelsbesessenheit, ja zum Teufel selbst sowie zu einem Glied des Corpus Antichristi. In seinem Zorn und seiner Grausamkeit erscheint er bedrohlich, in seiner Angst und seiner Verblendung verächtlich. Mit Herodes betritt demnach eine durch und durch negativ, anti-admirativ und antisympathetisch gezeichnete Figur die ›Bühne‹ des geistlichen Spiels. Die Herodesfigur hat ihren Platz in Spielen des Weihnachtszyklus, insbesondere denen zum Tag der Unschuldigen Kinder am 28. Dezember (Ordines Rachelis) sowie zum Dreikönigstag (Officia Stellae).24 Die ältesten überlieferten Officia Stellae stammen aus dem 11. Jahrhundert, und einige von ihnen weisen bereits Herodesszenen auf, in ganz unterschiedlich breiter Ausgestaltung. Wie gesagt, ist Herodes wohl die erste Bösewicht- oder Anti-Identifikationsfigur des geistlichen Spiels. Damit markiert er einen entscheidenden Bruch in der Tradition dieser auf andächtige Identifikation und Anbetung ausgerichteten Theaterform, denn er verändert die theatrale Situation grundlegend: Mit seinem Erscheinen sind die vorgeführten Figuren und Handlungen nicht mehr fraglos verehrungs- und anbetungswürdig, so dass die Zuschauer sich einfach ›gut-gläubig‹ und unreflektiert dem Miterleben der Geschehnisse anvertrauen dürften; stattdessen sind sie nun gefordert, selbst zu differenzieren zwischen ›guten‹ und ›bösen‹ Figuren und damit auch die jeweils entsprechende Rezeptionshaltung (Verehrung bzw. Abscheu) einzunehmen. Dadurch verwandelt sich das liturgische Drama noch lange nicht in ›Kunsttheater‹, aber das dargestellte Geschehen rückt doch in eine gewisse Distanz von den Zuschauern, eine Distanz, die Reflexion und Urteil des Rezipienten möglich und auch nötig macht; das Schauspiel wird ästhetisch ›anspruchsvoller‹. Damit die Zuschauer diesem Anspruch gerecht zu werden vermögen, muss die ›böse‹ Figur so dargestellt werden, dass sie als böse erkannt werden kann. Mit welchen Mitteln also inszenieren die Spiele Herodes als Anti-Identifikationsfigur?
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PL 107, Sp. 765.
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Vgl. dazu Fritz Peter Knapp, Herodes als Antichrist im Lambacher Freskenzyklus, bei Gerhoch von Reichersberg und im ‘Benediktbeurer Weihnachtsspiel’, in: Deutsche Literatur und Sprache von 1050–1200. FS Ursula Hennig, hg. von Annegret Fiebig und Hans-Jochen Schiewer, Berlin 1995, S. 137–162, hier S. 145–147. Zu den Dreikönigsspielen allgemein vgl. Norbert King, Mittelalterliche Dreikönigsspiele. Eine Grundlagenarbeit zu den lateinischen, deutschen und französischen Dreikönigsspielen und -spielszenen bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, 2 Bde., Freiburg (Schweiz) 1979.
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Die Herodesszenen konstituieren sich und beziehen ihre dramatische Wirkung aus der Entgegensetzung des scheinbar mächtigen, jedoch unterliegenden weltlichen Herrschers Herodes und des ohnmächtig in einer Krippe liegenden, schließlich aber triumphierenden Christuskindes. Dieser Kontrast wird dadurch ausgespielt, dass Herodes von einem prächtigen Hofstaat aus Dienern und Soldaten umgeben wird. So lässt sich seine Macht in ihrer ganzen Eitelkeit und (wenn auch erfolglosen) Bedrohlichkeit zeigen. Gerade hierin liegt die Spannung der Herodesszenen, und je bedrohlicher Herodes erscheint, als desto größerer Triumph kann Christi Sieg über den Tyrannen empfunden werden. Herodes’ Bedrohlichkeit wird oftmals auch gestisch augenfällig gemacht: In einigen Officia Stellae schwingt er ein Schwert in der Luft herum, einmal nach der Verabschiedung der Magi (Fleury),25 einmal nach seinem Kindermordbefehl (Freising);26 in der Feier von Montpellier besteht dieser Befehl sogar allein aus der Geste des Schwertschwingens.27 In der Bilsener Feier wirft er bei seinem Wutanfall Schwerter zu Boden und bedroht die Magi während der Befragung mit seinem Zepter oder einem Knüppel.28 Eine andere Geste, die ihn vollends als verworfenen Gottesfeind kenntlich macht, findet sich in den Feiern von Freising, Fleury, Montpellier und in einem süddeutschen Spielfragment: In der Schriftgelehrtenszene nimmt Herodes die prophetischen Bücher, d. h. mindestens einen Teil der Heiligen Schrift, und schleudert sie in seinem Zorn zu Boden.29 Eine wirklich unerhörte Geste, zumal die Aufführung im Kirchenraum stattfindet! Nun machen fatalerweise gerade diejenigen Mittel, durch die Herodes, der Tradition gemäß, negativ dargestellt und distanziert werden soll, ihn als Theaterfigur für den Rezipienten attraktiv: Da ist zunächst die prächtige Erscheinung des Herodes mitsamt seinem ihm ergebenen Hofstaat; freilich wird dieser höfisch-weltliche Bereich allein deswegen so aufwendig inszeniert, damit seine Eitelkeit und Verworfenheit erwiesen werden können, aber im Rahmen des Mediums Schauspiel gibt er den Zuschauern einfach mehr zu sehen, ist performativ wirkungsvoller als das Kind in der Krippe. Zugleich lässt die Größe seines Hofes ihn selbst als um so bedrohlicher erscheinen, und gerade seine Bedrohlichkeit erzeugt dramatische Spannung. Schon bei Matthäus ist Herodes als Heuchler gekennzeichnet, wenn er vor den Weisen behauptet, er wolle das Kind anbeten, und als Heuchler ist er die Schauspie25
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Ordo ad representandum Herodem von Fleury (13. Jh.), in: Karl Young, The Drama of the Medieval Church, 2 Bde., Oxford 1962, Bd. 2, S. 84–89, hier S. 88: Herodes et Filius minentur cum gladiis. Officium Stellae von Freising (11. Jh.), ebd., S. 92–97, hier S. 97: Rex gladivm versans. Officium Trium Regum von Montpellier (12. Jh.), ebd., S. 68–72, hier S. 72: Herodes acceptum gladium librans hac et illac reddat a quo sumpsit. Ordo Stelle von Bilsen (12. Jh.), ebd., S. 75–80, hier S. 77: Ira tumens gladios sternens, und S. 78: rex fuste minando. Freising [Anm. 26], S. 95: Et proiciat librum; Fleury [Anm. 25], S. 87: Herodes, uisa prophetia, furore accessus, proiciat librum; Montpellier [Anm. 27], S. 71: Herodes prospiciens in libro prophetie iratus proiciat; süddt. (Meyers) Weihnachtsspielfragment (12. Jh.), ebd., S. 448 f., hier S. 449: ille longe a se debet eum [sc. librum] proicere.
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ler-Figur par excellence: Der Böse spielt sich als den Guten, aber so, dass die Zuschauer dieses Spiel durchschauen; auf diese Weise gewinnt das liturgische Drama – allein schon durch die Aufnahme einer Figur, der das Schauspielerische von vornherein eingeschrieben ist – eine bis dahin nicht gekannte Doppelbödigkeit und Reflexivität; die Herodesszenen bieten die dramatisch reizvolle Möglichkeit eines Spiels im Spiel, und die Zuschauer, die mehr wissen als die Weisen, werden nolens volens sogar zu Komplizen des Bösen. Fest zum tradierten Bild von Herodes gehört seine Eigenschaft, von Affekten, insbesondere Angst und Zorn, beherrscht zu sein, und gerade sein Zorn wird in den Spielen gestisch-performativ erfahrbar gemacht, wenn er Schwerter schwingt oder zu Boden schmettert; solche Gesten beleben höchst eindrucksvoll die theatrale Darstellung, ebenso wie das zornige Niederwerfen der Heiligen Schrift. Bei diesem performativen Akt kommt noch etwas hinzu, was über die bloß ästhetische Lust am Schauspiel hinausgeht: Der Zuschauer kann hier miterleben, wie die für ihn religiös verbindliche Schrift einmal schmählich zu Boden geschleudert wird, und angesichts solcher Darstellung des Ordnungsbruches eine subversive Freude empfinden. Die Möglichkeit der Subversivität ergibt sich aus der Beschaffenheit theatraler Darstellung selbst: Der Darsteller ist immer zugleich als er selbst sinnlich-leiblich präsent und, als Rollenträger, Repräsentant eines anderen; als Darsteller steht er auf derselben Ebene, in derselben Wirklichkeit und Präsenz wie der Zuschauer,30 und für beide gelten dieselben Normen; in seiner Rolle aber können ihm Normbrüche erlaubt und vorgeschrieben sein. Diese Normbrüche finden, indem sie spielerisch re-präsentiert werden, immer in der dem Darsteller und dem Zuschauer gemeinsamen sinnlich-leiblichen Wirklichkeit statt, erhalten also eine, wenn auch durch den theatralen Rahmen limitierte, Präsenz; der Zuschauer kann für den Augenblick der Performanz diese Limitation ignorieren und sich insgeheim an der Darstellung des Normbruches selbst erfreuen.31 Dasselbe gilt, ganz unmittelbar und dadurch in noch höherem Maße, für den Darsteller: Er hat die Erlaubnis, den Normbruch selbst leibhaftig zu vollziehen. Der Gläubige, der Herodes zu spielen hat, wirft als Darsteller die Heiligen Schriften hier und jetzt tatsächlich zu Boden;32 er verwirklicht das ›Böse‹ hier und jetzt im Augenblick und im Rahmen der theatralen Performanz. So gesehen, ist Gerhochs von Reichersberg Sorge vielleicht gar nicht so unberechtigt:
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Vgl. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004, insbes. S. 240– 261. Fischer-Lichte, ebd., S. 257, nennt diesen Vorgang das »Umspringen« der Zuschauerwahrnehmung von der Repräsentation zur Präsenz des Schauspielers (wie es umgekehrt genauso möglich ist). Auch wenn, wie zu vermuten, die geworfenen Schriften nur ›Theaterrequisiten‹, nicht die ›echten‹ biblischen Bücher sind, so bedeuten sie diese doch im Rahmen der Aufführung. Bedingung für die Subversivität der Darstellung wäre also, dass man zwar die ›Zeichenhaftigkeit‹ des Schauspielers absichtlich außer acht lässt, sich dafür aber derjenigen des Requisits immer bewusst bleibt.
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Was Wunder also, wenn diejenigen, die jetzt in ihren Spielen den Antichrist oder Herodes nachahmen, dieselben nicht, wie es ihre Absicht ist, nur vorspiegeln, sondern in Wirklichkeit darbieten, steht doch ihr loser Lebenswandel dem Antichrist ohnehin nahe genug? [. . .] Und wer kann wissen, ob sie nicht auch die übrigen Nachahmungen wie die Darstellung des Antichrist, die Teufelsmasken, den Wahnsinn des Herodes in Wirklichkeit darbieten? Wie nämlich der Weise ganz richtig sagt, dass ein Gottloser, wenn er flucht, sich selbst zu einem Teufel verflucht, so kann man folgerichtig genauso gut sagen, dass ein Gottloser, wenn er den Teufel oder eines seiner Glieder nachahmt, sich selbst darstellt.33
Diese Sorge äußert Gerhoch in seiner um 1162 verfassten Schrift ‘De investigatione Antichristi’, in der er die verschiedenen historischen und gegenwärtigen Ausgestaltungen des Antichrist aufzudecken sucht. Gerhoch stellt hier eine Identität von Darsteller und Rolle fest, die sich gerade bei negativen Rollen verhängnisvoll auswirken muss. Er ignoriert damit den Spielcharakter von Theater, schon allein deshalb, weil für ihn jede Form von Theater überhaupt ein Werkzeug des Teufels bzw. des Antichrist ist. Liturgische Dramen verwandelten die Kirche in ein Theater und seien Götzen- und Teufelsdienst. In Figuren wie Herodes und Antichrist zeigt sich Theater demnach unmaskiert als das, was es ist: die Wirklichkeit des Bösen. Das geht sehr weit und mag auch für Gerhochs Zeit eine Extremposition in der Bewertung des liturgischen Dramas sein; dennoch muss man sagen, dass gerade der Spielcharakter des inszenierten Geschehens sowohl den Darstellern als auch der zuschauenden Gemeinde eine subversive Freude und Lust an den vorgeführten ›bösen‹ Handlungen, am Bruch der gültigen Ordnung erlaubt. Das ›Böse‹ wird tatsächlich, zumindest im Rahmen des Spiels, Wirklichkeit, und es liegt am Darsteller bzw. Zuschauer, wie weit er sich auf diese Wirklichkeit einlässt bzw. mit welcher Einstellung er sie wahrnimmt. So radikal Gerhochs Meinung auch sein mag, immerhin zeigt sich in seinen Äußerungen ein Gefühl für das Prekäre des geistlichen Schauspiels, gerade der Darstellung des Bösen. Den gefährlichen Reiz, der vom Bösen, insbesondere von der Herodesfigur ausgeht, hat er schon früh miterlebt: In seinem ‘Tractatus in psalmos’, geschrieben noch vor 1120, erinnert er sich voller Missbilligung, dass während seiner Domschulmeisterzeit in Augsburg die Mönche dort sich nicht ins Dormitorium oder ins Refektorium bewegen ließen »außer an sehr seltenen Festtagen, hauptsächlich solchen, an denen Herodes, der Verfolger Christi, oder der Kindermord zur Aufführung gebracht wurden«34 neben anderen, nicht näher genannten Spielen. Nicht die erbaulichen Elemente des Weihnachts- bzw. Dreikönigsspiels, z. B. die Geburt des 33
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Quid ergo mirum si et isti nunc Antichristum vel Herodem in suis ludis simulantes eosdem non, ut eis intentioni est, ludicro mentiuntur sed in veritate exhibent, utpote quorum vita ab Antichristi laxa conversatione non longe abest? [. . .] Et quis scire potest, an et cetera simulata Antichristi scilicet effigiem, daemonum larvas, Herodianam insaniam in veritate non exhibeant? Sicut enim in veritate a sapiente dicitur, quia maledicens impius diabolum maledicit se ipsum, ita consequenter dici ab eadem veritate potest, quod impius effigians diabolum vel ejus membrum effigiat vel exhibet se ipsum (zitiert nach: Bernd Neumann, Geistliches Schauspiel im Zeugnis der Zeit, 2 Bde. (MTU 84, 85), München 1987, Bd. 2, S. 888 f., Nr. 3726). [. . .] exceptis rarissimis festis, maxime, in quibus Herodem repraesentarent Christi persecutorem, parvulorum interfectorem seu ludis aliis aut spectaculis quasi theatralibus exhibendis comportaretur symbolum ad faciendum convivium in refectorio (ebd., S. 887 f., Nr. 3725).
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Erlösers oder die Anbetung der Könige, werden erwähnt, sondern ausdrücklich die grausamen: Herodes in der Eigenschaft als persecutor und der Kindermord. Darauf kam es den Mönchen an, obwohl gerade diese Elemente nicht die eigentliche Botschaft der an jenen rarissimis festis aufgeführten Spiele waren.35 Hier, zu einem so frühen Zeitpunkt in der mittelalterlichen Theatergeschichte bereits, lässt sich ein Auseinandergehen von Intention – Feier des jeweiligen Festtages durch eine erbauliche und belehrende Aufführung – und Wirkung der Spiele greifen, ein Auseinandergehen der intendierten Distanzierung einer Figur und ihrer tatsächlichen ästhetischen Anziehungskraft: Wie oben gezeigt, machen gerade die inszenatorischen Mittel, die Herodes als den Bösen vom Gläubigen distanzieren sollen, ihn für den Zuschauer ästhetisch interessant. In der Herodesfigur prallen zum ersten Mal in der Geschichte des geistlichen Schauspiels das, was man glauben soll – und dies wollen die Feiern ja vermitteln –, und das, was man sieht und sehen will, unvereinbar aufeinander. In einer negativen Figur wie Herodes muss die innere Spannung der Gattung ›liturgisches Drama‹ offensichtlich werden. Sie ergibt sich aus der Grundambivalenz des Ästhetischen, das zwar zur eindringlichen Vermittlung der normativen Grundlagen einer Kultgemeinschaft erforderlich ist, das aber darin ein nicht zu bändigendes Eigenleben führen kann. Diese Problematik wird gerade bei der Darstellung einer negativen Figur um so gefährlicher. Denn wenn, nach Jauß, die Normvermittlung über Identifikationsfiguren scheitert, weil der Rezipient an deren ästhetischer Erscheinung hängenbleibt, dann liegt darin nichts Schlimmeres, als dass er eben die Norm nicht aufnimmt; gravierender wirken sich das Hängenbleiben am Ästhetischen und das Scheitern der Normvermittlung bei Anti-Identifikationsfiguren aus, denn hier findet der Rezipient mindestens ästhetisches Gefallen an Handlungen, die die gewünschten Normen gerade brechen. Nicht viel später als Gerhoch geht auch Herrad von Landsberg in ihrem ‘Hortus Deliciarum’ (um 1175 vollendet) auf diese Problematik der Vermittlung ein: Die Kirchenväter hätten vorgeschrieben, durch welche Kultbräuche man der Suche der Weisen nach Christus, der Wildheit und arglistigen Bosheit des Herodes, des Kindermordes, des Kindbettes Marias, des Engels, der die Weisen vor Herodes warnt, so gedenken solle, dass der Glaube des Gläubigen vergrößert, die göttliche Gnade stärker verehrt und sogar der Ungläubige zur Frömmigkeit gereizt werde. Aber was [geschieht] heutzutage? Was wird zu unserer Zeit in einigen Kirchen getrieben? Nicht religiöse Vorschrift, nicht der Gegenstand göttlicher Verehrung und Anbetung werden dargeboten, sondern jugendliche Zügellosigkeit von Gottlosigkeit und Ausschweifung. Das geistliche Gewand wird gewechselt, der Soldatenstand eingeführt, so dass kein Unterschied mehr besteht zwischen Priester und Soldaten; das Haus Gottes wird in Unordnung gebracht durch die Vermischung von Laien und Klerikern, es herrschen Gelage, Trunkenheit, Possen35
Wie sehr Herodes ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, lässt sich auch daran erkennen, dass die Dreikönigsfeiern von Palermo (13. Jh.; in: Young [Anm. 25], Bd. 2, S. 59–62) und Fleury [Anm. 25] in der jeweiligen Handschrift nicht als ‘Officium Stellae’ o. ä. bezeichnet werden, sondern als ‘Ordo ad representandum Herodem’ bzw. ‘Versus ad Herodem faciendum’ – die Spiele definieren sich über Herodes!
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reißereien, böse Scherze, gefällige Spiele, Waffenlärm, es ist eine einzige Ansammlung von Vergnügungen, ein zuchtloses Ausschweifen aller Eitelkeiten.36
Herrad kritisiert hier vermutlich weniger theatrale Darstellungen an sich als die Zügellosigkeit, in die sie leicht ausarten können, und wenn man ihre Beschreibung solcher Zügellosigkeit betrachtet (Soldaten, Waffenlärm, böse Scherze), dann kann man sich des Eindrucks schwer erwehren, dass sie gerade die Herodesszenen im Auge hat, zumal sie explizit von den Bräuchen des Dreikönigstages spricht. In solchen Spielen »werden Gott und die geistliche Ordnung entehrt, der Nächste nicht erbaut, der Ungläubige zum Bösen verführt.«37 Es wird also gerade das Gegenteil dessen erreicht, was durch das Gedenken jener Ereignisse angestrebt werden soll. Daher plädiert Herrad dafür, »lieber durch Lesung der Evangelien ins Gedächtnis zu rufen, was bei der Geburt Christi geschah, als durch derartige Spiele die Grundlagen des Glaubens aufzulösen.«38 Es sei also für den Glauben förderlicher, die Ereignisse wie z. B. Herodes’ Untaten durch eine evangelica lectio zu vermitteln als sie szenisch darzustellen, d. h. auf die ästhetische Erfahrung vorsichtshalber zu verzichten, um so der Gefahr ihrer Ambivalenz zu entgehen. Ähnlich scheint sich Papst Innozenz III. um 1234 in einem Dekret gegen das Schauspiel und für die Predigt auszusprechen: Statt an den Festtagen der Weihnachtszeit das Volk durch Predigt zu besänftigen, zögen Geistliche vor dessen Augen die priesterliche Würde in den Schmutz durch mimisch dargestellte schamlose Rasereien; dieser Brauch solle aus den Kirchen ausgetrieben werden.39 Es ist jedoch nicht eindeutig klar, ob dieses Dekret auf liturgische Weihnachtsfeiern im engeren Sinne zielt oder auf karnevaleske Erscheinungsformen wie z. B. das Narren- oder Knabenbischofsfest (festum stultorum, festum asinorum o. ä.);40 vielleicht eben deswegen und 36
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Quid nunc? Quid nostris agitur in quibusdam ecclesiis temporibus? Non religionis formula non divinae venerationis et cultus materia sed irreligiositatis dissolutionis exercetur iuvenilis lascivia. Mutatur habitus clericalis, incohatur ordo militaris, nulla in sacerdote vel milite differentia, domus Dei permixtione laicorum et clericorum confunditur, commessationes, ebrietates, scurrilitates, ioci inimici ludi placesibiles armorum strepitus, ganearum concursus omnium vanitatum indisciplinatus excursus (Neumann [Anm. 33], S. 895, Nr. 3733). clericalis ordo Deus exhonoratur proximus non edificatur, incredulus scandalizatur (ebd.). Beatos igitur ecclesiae principes spiritales dixerim qui talia prohibenda malunt evangelica lectione quae in ortu Christi gesta sunt ad memoriam revocare quam huiusmodi spectaculis fundamenta fidei resolvere (ebd.). in aliquibus anni festivitatibus, quae continue natalem Christi sequuntur, diaconi, presbyteri ac subdiaconi vicissim insaniae suae ludibria exercere praesumunt, per gesticulationem suarum debacchationes obscoenas in conspectu populi decus faciunt clericale vilescere, quem potius illo tempore verbi Dei deberent praedicatione mulcere. [. . .] mandamus, quatenus [. . .] ludibriorum consuetudinem [. . .] curetis e vestris ecclesiis [. . .] exstirpare (ebd., S. 870, Nr. 3694). Wilhelm Creizenach, Geschichte des neueren Dramas, 3 Bde., Halle a. d. S. 1911, Bd. 1, S. 94, vermutet letzteres, hält aber für möglich, dass »Rigoristen vom Schlage Gerho[c]hs die Verbote auch auf die Dramen des Weihnachtszyklus ausgedehnt wissen wollten« (S. 95). Zum Knabenbischofsfest vgl. Michael Straeter, Knabenbischoftum und geistliches Spiel des Mittelalters, in: ‘Et respondeat’. Studien zum deutschen Theater des Mittelalters. FS Johan No-
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um Missverständnissen vorzubeugen, hat Bernard de Botone 1263 ihm folgende Glosse angeschlossen: Nicht jedoch ist dadurch verboten, die Krippe des Herrn, Herodes, die Weisen darzustellen, auch nicht, wie Rachel ihre Söhne beweint, und sonstiges, was jene Festtage betrifft, an die hier erinnert werden soll, weil derartiges die Menschen eher zu Erschütterung hinführt als zu Zügellosigkeit oder Begierde, wie man an Ostern das Grab des Herrn und anderes darstellt, um zur Andacht anzureizen.41
Nicht allein bedeutet dieser Zusatz eine ausdrückliche Befürwortung des geistlichen Spiels von höchster kirchlicher Stelle, er weist auch ebenso ausdrücklich Bedenken wie diejenigen Herrads und Gerhochs zurück: Die Weihnachtsspiele, namentlich die Herodes- und Kindermordszenen, führten gerade nicht zu Ausschweifungen (es fällt das Wort lascivia, wie bei Herrad), im Gegenteil: gerade diese Szenen erregten bei den Zuschauern den positiv bewerteten Affekt compunctio – hier wohl am ehesten zu verstehen als ›Erschütterung‹,42 wobei über die zweite, gerade im religiösen Kontext vorherrschende Bedeutung ›Reue‹, ›Zerknirschung‹, die hier bezüglich der Rezeptionshaltung gegenüber den Kindermordszenen weniger passend erscheint, immerhin der religiöse Charakter dieses Affekts mit anklingt. In jedem Fall wird den Herodesund Kindermordszenen ein besonders hoher Wirkungsgrad darin bescheinigt, die Zuschauer emotional zu packen und mitzureißen und sie damit in die dargestellte Heilsgeschichte hineinzuziehen – also genau die Funktion des geistlichen Spiels zu erfüllen, vergleichbar dem Osterspiel, das als wohl unproblematisches Vergleichsobjekt genannt wird. Gerade die sinnliche, die Emotionen ansprechende Darstellung in Gestalt des Schauspiels vermag das zu leisten, und die Herodesfigur sowie die Herodeshandlung werden als besonders emotionalisierende Elemente hervorgehoben. Nichts könnte die Ambivalenz des Ästhetischen deutlicher bekunden als dieser Gegensatz zwischen der päpstlichen Stellungnahme zugunsten der theatralen Darstellung des Bösen und Grausamen, wie sie sich in Herodesfigur und -handlung konzentriert, und Gerhochs und Herrads Bedenken gegen die Inszenierung des Bösen. Für beide Seiten ist Herodes der Bezugspunkt in ihrer Befürwortung bzw. Ablehnung des geistlichen Spiels. Die Herodesfigur versinnbildlicht sowohl die Grundambivalenz des Ästhetischen als auch die innere Problematik und Ambivalenz des Mediums geistliches Schauspiel.
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we´, hg. von Katja Scheel (Mediaevalia Lovaniensia, Series I / Studia XXXII), Leuven 2002, S. 176–194. Non tamen hoc prohibetur representare presepe Domini, Herodes, Magos et qualiter Rachel plorat filios suos, et cetera, que tangunt festivitates illas de quibus hic fit mentio, cum talia potius inducant homines ad compunctionem quam ad lasciviam vel voluptatem, sicut in Pasca sepulchrum Domini et alia representantur ad devotionem excitandam (Neumann [Anm. 33], S. 870, Nr. 3694). Mittellateinisches Wörterbuch bis zum ausgehenden 13. Jahrhundert, begr. von Paul Lehmann und Johannes Stroux, hg. von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. II: C, München 1999, Sp. 1125, s. v. ›compunctio‹: II. B »affectus, commotio – Ergriffenheit, Rührung, Erschütterung«.
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Dass Herodes’ Sprengkraft bis ins Spätmittelalter hinein wirksam bleibt, bezeugt Gottschalk Hollen (ca. 1411–1481), Prediger und Lektor im Osnabrücker Augustinerkloster, in seinem 54. Sermo mit Bezug auf das oben genannte päpstliche Dekret. Hier führt er aus, dass von kirchlicher Seite aus solche Spiele erlaubt seien, die »die Passion Christi darstellen oder wie die Weisen Christus suchen oder wie Herodes die Knaben tötet usw.«: Diese Spiele rufen im Volk Andacht hervor und sind deshalb zugelassen. Aber manchmal werden so viele Eitelkeiten und Sünden hineingemischt, dass es besser wäre, wenn solche Spiele unterlassen würden, weil hier sonst Verspottung und Beleidigung Christi stattfänden, dort Hochmut und eitler Ruhm aufgeführt würden und weil man Christus Verachtung und Unehrerbietigkeit entgegenbrächte. 43
Hollen führt damit beide Bewertungen des Herodesspiels zusammen, die befürwortende und die ablehnende, und zeigt gerade dadurch seine Ambivalenz auf. Zugleich stellt er es hier neben das Passionsspiel, das erst relativ spät entstanden ist (im 13. Jahrhundert), sich aber immer breiter entfaltet hat und im 15./16. Jahrhundert als die dominante Spielgattung angesehen werden kann. Hollen schätzt Herodes- und Passionsspiele als vergleichbar ein, was ihre Ambivalenz und Gefährlichkeit angeht. Das lässt sich gut verstehen, wenn man das Egerer Passionsspiel44 betrachtet und seine Darstellung des bethlehemitischen Kindermordes. Das Spiel wird auf die Zeit zwischen 1499 und 1502 datiert und führt an drei Tagen mit insgesamt über 200 Darstellern die gesamte Heilsgeschichte von der Schöpfung bis zu Christi Auferstehung vor Augen. Kurz vor dem Ende des ersten Tages steht die sehr ausgedehnte Kindermordszene (V. 2357–2546). Nachdem die Heilige Familie geflohen ist, ruft Herodes seine lieben treuen knecht (V. 2357) zusammen, und es folgt ein auffällig regelmäßig, gewissermaßen rhythmisch gebauter Dialog zwischen Herodes und seinen Soldaten: Die ersten drei Soldaten rühmen sich ihrer Mordfähigkeit in je sechs Versen, auf die Herodes immer mit vier Versen antwortet; der vierte Soldat spricht zweimal sechs Verse, Herodes darauf zweimal vier; der letzte acht, Herodes darauf vier. Ein gewisser, wenn auch nicht konsequent durchgehaltener Stilwille lässt sich also erkennen. Weiterhin kann man beobachten, dass sich die Aussagen der mordgierigen Soldaten in ihrer Grausamkeit steigern: Der erste Soldat sagt lediglich, er wolle verbringen dise that (V. 2367); der zweite spricht schon vom erwurgen (V. 2377), zur hauen und durch stechen (V. 2379) der Kinder; der dritte wil si stechen durch die kragen (V. 2389) als die jungen schwein (V. 2387); der vierte wiederum wil si alle 43
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repraesentantur passio Christi vel repraesentare Magos quaerentes Christum vel Herodem interficientem pueros etc. [. . .] hi ludi devotionem excitant in populo ergo admittuntur. Sed interdum tot miscentur vanitates et peccatam (sic!), quod melius esset quod huiusmodi ludi dimitterentur, quia aliquin ibi fit Christo derisio et contumelia, ibi exercetur superbia et vana gloria, et fit Christo despectio et irreverentia (Neumann [Anm. 33], S. 897, Nr. 3735). Egerer Fronleichnamsspiel, hg. von Gustav Milchsack (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart 156), Tübingen 1881; dazu Brigitte Lehnen, Das Egerer Passionsspiel (Europäische Hochschulschriften, Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 1034), Frankfurt a. M. u. a. 1988; Bernd Neumann, Art. ›Egerer Passionsspiel‹, in: 2VL 2 (1980), Sp. 369–371.
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spissen an / Als die krotten aüff dem feldt (V. 2400 f.) und nennt das sein lüstspil (V. 2403); der fünfte betont seine gar grosse freud (V. 2417) daran, die Kinder aufzuspießen, und setzt sich als besonderes Ziel, den judenkünig [. . . zu] erschnappen (V. 2420). In der Abfolge der Soldatenreden erhöht sich sowohl die Grausamkeit in der Ausmalung des Kindermordes – gerade durch die drastischen Vergleiche, die die Kinder zu Tieren herabwürdigen – als auch die zum Ausdruck gebrachte Lust an dieser Grausamkeit. Indem sich der Dialog zwischen Herodes und seinen Soldaten fünfmal wiederholt und die Grausamkeit sich dabei von Mal zu Mal steigert, wird den Zuschauern das Grausige des Kindermordes bereits im Vorfeld regelrecht eingehämmert, wodurch diese in die angemessene Disposition gebracht werden, in der sie den Kindermord selbst mit voller Anteilnahme rezipieren können. Die Kindermordszene dann ist vergleichbar regelmäßig aufgebaut wie die Befehlsszene:45 Auf jeweils vier Verse der Soldaten folgen zwischen 12 und 16 Klageverse der fünf Mütter. Die Grausamkeit der Soldaten zeigt sich, abgesehen von ihren Taten, an ihren höhnischen und spöttischen Reden: Der zweite Soldat sagt, er wolle das Kind laufen lehren, der dritte, er wolle es stillen; der vierte meint, er nehme der Mutter die Mühen des Kochens und Einkaufens ab, und der fünfte, er entlaste die Mutter beim Baden des Kindes, indem er es mit dessen eigenem Blut wasche. Die Reden der Soldaten zeichnen sich also durch düster-grimmigen Wortwitz aus, was den Zuschauern die gefährlich-subversive Möglichkeit eröffnet, mit den Bösewichten zu lachen. Die meisten Mütter sprechen in ihren Klagereden direkt zu Herodes: Die erste e beginnt ihre Klage mit O Herodes, du schnoder man (V. 2431); von der zweiten und vierten heißt es in der Regieanweisung, dass sie sich zu Herodes wenden;46 die dritte spricht von Herodes, dem verstockten man (V. 2475) und dem verplentten verflüchten hündt (V. 2478), und die fünfte meint wohl auch Herodes, wenn sie darüber klagt, dass Gott dich nitt hat lassen plagen, / Do du pist kümmen von mütter leib, / Das du heint betrübts so manigs weib (V. 2516–2518). Während des gesamten Mordgeschehens bleibt Herodes also die zentrale Figur; seine durchaus eigenständig grausamen Soldaten erscheinen durch die Klagen der Mütter nur als seine Handlanger. Er bleibt auch nicht im Hintergrund, sondern steht wohl nahe am Geschehen; so spricht ihn etwa der fünfte Soldat an, während dieser das Kind umbringt, und nach der Klage der fünften Mutter setzt Herodes seiner Herzlosigkeit noch die Krone auf, wenn er befiehlt: e
Treubt die waschen [= Schwätzerinnen] all von dannen, e das ich nit hor ir gschrai und zannen; Si treiben das gspai all zu vil, Das es mich die leng verdriessen wil. (V. 2523–2526)
Er dürfte also nicht allzu weit von dem gschrai entfernt sein.
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Vgl. dazu Lehnen [Anm. 44], S. 371 f. erga Herodem (V. 2449a, V. 2485a).
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Nachdem die Zuschauer in der Szene des Mordbefehls sehr ausgiebig auf das Blutbad eingestimmt wurden, wird dieses nun derartig breit entfaltet, dass sie sich wohl einer affektiven Beteiligung kaum entziehen können. Damit erfüllt die Szene genau die Funktion, die die oben genannte Glosse zum päpstlichen Dekret den Herodesund Kindermordszenen bescheinigt hat. »Wie die Marienklagen des Passionsteils, die mit dem grausamen Spott der Peiniger abwechseln, so intendieren auch die Klagen der fünf Mütter die compassio der Zuschauer«47 – compassio und compunctio dürften hier synonym zu verstehen sein. Das Egerer Passionsspiel verwendet also zweimal dasselbe Mittel zur Affektsteigerung, und der Kindermord ist sozusagen die Passion des ersten Aufführungstages, bevor am zweiten und dritten die eigentliche Passion folgt. Lässt sich demzufolge eine Ähnlichkeit in der Darstellungsweise der Kindermordszene mit derjenigen der Passionsszenen feststellen, so darf man an jene wohl mit denselben Fragen herantreten wie an diese. Rainer Warning hat für französische Passionsspiele nachzuweisen versucht, dass der rhythmische Aufbau der Peinigungsszenen – in Form des ›rondeau triolet‹ – diesen einen ritualartigen Charakter verleiht, der die Zuschauer unmittelbar in das dargebotene Geschehen hineinzieht, so dass sie zusammen mit den Peinigern ein Sündenbockritual an Christus vollziehen.48 JanDirk Müller wandte zu Recht ein, dass es sich bei den in den Spielen vorgeführten Ritualen, gerade denjenigen der Gegenfiguren, um gespielte Rituale handelt und dass den Zuschauern dieser als-ob-Charakter auch bewusst war: »Das Spiel zielt in solchen Fällen nicht auf rituelle Integration, sondern inszeniert eine Abgrenzung: der Zuschauer sieht, was nicht sein sollte.«49 Doch gerade die offensichtliche Gespieltheit des Rituals birgt eigene Gefahren: Gespielte Spottrituale sind [. . .] Kipp-Phänomene; es ist nie auszuschließen, daß sie sich gegen das wenden, was sie eigentlich als verehrungswürdig erscheinen lassen wollen, indem sie es dem Spott der Verblendeten preisgeben; auf die ›anderen‹, die die Norm verletzen, weil sie von Anfang an auf der falschen Seite stehen, kann projiziert werden, was als Aggression gegen die Gottheit verboten ist. Der Betrachter wird zwar instruiert, was richtig ist, aber gegen den Zuschauer eines Spiels gibt es keine Sanktion, wenn er der Instruktion nicht folgt. Daß sich mindestens prinzipiell solch eine Möglichkeit eröffnet, ist Konsequenz der beginnenden Ablösung des literarischen vom kultischen Ritual.50
Gerade weil das Gegenritual nur gespielt ist, d. h. wegen der grundsätzlichen Ambivalenz des Literarischen bzw. Ästhetischen, kann der Zuschauer sich frei fühlen, insgeheim daran teilzunehmen. Als gespieltes Spottritual kann man auch die Egerer 47 48
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Lehnen [Anm. 44], S. 373. Rainer Warning, Funktion und Struktur. Die Ambivalenzen des geistlichen Spiels, München 1974, S. 184–204; ders., Hermeneutische Fallen beim Umgang mit dem geistlichen Spiel, in: Mediävistische Komparatistik. FS Franz Josef Worstbrock, hg. von Wolfgang Harms, JanDirk Müller u. a., Stuttgart/Leipzig 1997, S. 29–41, hier S. 36–40. Jan-Dirk Müller, Kulturwissenschaft historisch. Zum Verhältnis von Ritual und Theater im späten Mittelalter, in: Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie, hg. von Gerhard Neumann und Sigrid Weigel, München 2000, S. 53– 77, hier S. 72. Ebd.
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Kindermordszene bezeichnen; auch hier fiel die rhythmische Gestaltung, die Stilisierung und Ästhetisierung der Darstellung auf: Das abstoßend-grausame Geschehen ist für die Zuschauer ästhetisch genießbar gemacht; es kann anziehend, ja mitreißend wirken. Dazu trägt auch der bitterböse Humor im Spott der Soldaten bei: Die Zuschauer können Gefallen an den Wortspielen finden und mit den Gewalttätern lachen. Sie sind also frei, dem impliziten compassio-Appell durch die Klagen der Mütter nicht zu entsprechen. Dem versuchen die Klagen durch ihre Länge im Vergleich zu den Spott-Vierzeilern der Soldaten gegenzusteuern: Ihre Länge und Lautstärke51 sollen die Zuschauer zum besonders intensiven Mitleiden bewegen. In Herodes dagegen, der wie die Zuschauer selbst passiver Beobachter des Geschehens ist, rufen sie Verdruss hervor. Herodes soll also bewusst gegen die Zuschauer gestellt werden; es soll vermieden werden, dass diese irgendein Gefallen an ihm finden. Herodes ist nicht nur die Gegenfigur auf der Ebene des dargestellten Geschehens, sondern sein Verhalten gegenüber den Klagen der Mütter, seine Hartherzigkeit, die offene Verweigerung der compassio, führt das genaue Gegenteil der intendierten Zuschauerhaltung vor. Nur zu leicht jedoch können sich die Zuschauer gerade Herodes zum Rezeptionsmodell nehmen, wie in umgekehrter Richtung andernorts, bei den Passionsszenen, die das Leiden ihres Sohns mitleidend mitansehende Maria als Modell für die gewünschte Rezeptionshaltung der Zuschauer dient.52 Wegen der Grundambivalenz des Ästhetischen hindert nichts die Zuschauer, sich gegen die Intention des Spiels Herodes zur Identifikationsfigur zu wählen und mit ihm und seinen blutrünstigen Handlangern den Kindermord ästhetisch zu genießen oder sogar innerlich an diesem gespielten Ritual teilzunehmen. Die Egerer Herodesszenen zeigen, wie die ›anti-sympathetische Distanzierung‹ der Bösewichtfigur an der Ambivalenz des Ästhetischen scheitern kann. Ein anderes Distanzierungsmodell, das man auf die Herodesfigur angewandt und das sie sehr stark geprägt hat, ist das, wenn man so will, ›anti-admirative‹, d. h. die lächerlich und verächtlich machende Darstellung. Hierbei werden nicht so sehr die Bedrohlichkeit und Grausamkeit einer Figur hervorgekehrt als vielmehr ihre Schwächen, und das wären im Falle des Herodes insbesondere seine in der Tradition immer wieder hervorgehobenen Affekte: Angst, Zorn sowie unberechtigter und schließlich gestürzter Hochmut.53 Ansätze einer komischen oder zumindest ironischen Herodesdarstellung 51 52
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lamentabilitter clamat (V. 2449a). Vgl. Ursula Schulze, Schmerz und Heiligkeit: Zur Performanz von Passio und Compassio in ausgewählten Passionsspieltexten (Mittelrheinisches, Frankfurter, Donaueschinger Spiel), in: Forschungen zur deutschen Literatur des Spätmittelalters. FS Johannes Janota, hg. von Horst Brunner und Werner Williams-Krapp, Tübingen 2003, S. 211–232, insbes. S. 219 und 230. Wie ein hochmütiger, zorniger Tyrann um 1200 szenisch dargestellt worden sein könnte und welch hohen Unterhaltungswert diese Darstellung haben mochte, lässt sich vielleicht der ‘Visio Thurkilli’ entnehmen, in der folgende Höllenstrafe ausgemalt wird: Die Teufel versammeln sich samstags abends in einem Theater, wo sie sich an den Bühnendarbietungen der Sünder belustigen, die ihre zu Lebzeiten begangenen Sünden in diesem höllischen Theater immer wieder vor aller Augen wiederholen müssen. Einer dieser Sünder ist der Hochmütige: »In schwarzem Gewand führte er die Bewegungen eines Menschen von hemmungslosem
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lassen sich mitunter bereits in den Officia Stellae und im lateinischen Benediktbeurer Weihnachtsspiel finden;54 zu einer wirklich komischen Figur scheint sich Herodes jedoch vor allem in der englischen Spieltradition zu entwickeln.55 In seiner völlig grotesk überzogenen superbia bezeichnet er sich als Schöpfer von Himmel, Erde und Hölle; in seinen Angst- und Wutanfällen ist er kaum noch zu sinnvollen Sätzen fähig.56 Seine Raserei geht so weit, dass er im ‘Pageant of the Shearmen and Taylors’ ragis in the pagond and in the strete also,57 dass er also von der Wagenbühne hinunterspringt und inmitten des Publikums herumtobt – man kann sich die große performative Wirkung einer solchen Herodesdarstellung bestens vorstellen. Herodes wird dem Gelächter und Gespött der Zuschauer preisgegeben; über solch einen Bösewicht kann man nur lachen. Damit ist das Böse ins Lächerliche distanziert, die normbildende Intention des Spiels geglückt. Jedoch gehört es zu einer komischen Distanzierung, dass der Rezipient dabei seinen Spaß hat: Wie Clowns attraktiv auf das Publikum wirken, so entwickelt sich auch der clownesk dargestellte Herodes zu einem Publikumsliebling. Als Charakter kann man ihn gar nicht mehr ernstnehmen und nur ablehnen, aber die Mittel, die für diese Rezeption eingesetzt werden, machen ihn ästhetisch-theatral interessant: Man will ihn sehen, eben weil man über ihn lachen kann. Herodes wird zu einer der beliebtesten Figuren der englischen Spiele, und seine Darstellung prägt die aller anderen Bösewichte.58
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Stolz vor, wobei die Teufel auf allen Seiten in wildes Gelächter ausbrachen. Er reckt den Hals, hebt den Kopf, richtet die Augen schräg aus, zieht die Augenbrauen hoch und erteilt mit lauter Stimme pompöse Befehle. Seine Schultern zucken unruhig, als sei es eine Zumutung für sie, die Arme tragen zu müssen. Seine Augen funkeln, seine Miene droht. Er stellt sich auf die Zehenspitzen, verdreht das Schienbein, wirft sich in die Brust, neigt den Hals weit zurück, wird rot im Gesicht und verrät seinen Zorn durch die geröteten Augen, schlägt sich mit dem Finger auf die Nase und stößt gewaltige Drohungen aus. Dieser aufgeblasene Stolz, der sich so rasch in Zorn verwandelte, brachte die abscheulichen Geister zum Lachen. Als er mit seiner Kleidung prunkte und seine weiten Ärmel mit einer Nadel enger nähte, da verwandelte sich plötzlich sein Gewand zu Feuer und setzte seinen ganzen Körper in Brand« (Die Vision des Bauern Thurkill, mit deutscher Übersetzung hg. von Paul G. Schmidt, Weinheim 1987, S. 51). Vgl. aber das treffende Fazit von Staines [Anm. 2], S. 213: »Yet the comedy remains potential rather than realized; liturgical drama prepares the way for comedy, but does not create a comic figure.« Vgl. Tomlinson [Anm. 2], S. 36–39; Robert Weimann, Shakespeare and the Popular Tradition in the Theater: Studies in the Social Dimension of Dramatic Form and Function, hg. von Robert Schwartz, Baltimore/London 1978, S. 64–72; Staines [Anm. 2], S. 222–227; HansJürgen Diller, Lachen im geistlichen Schauspiel des englischen Mittelalters, in: Komische Gegenwelten. Lachen und Literatur in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Werner Röcke und Helga Neumann, Paderborn u. a. 1999, S. 175–197, insbes. S. 185–188. Vgl. Tomlinson [Anm. 2], S. 14–41. Two Coventry Corpus Christi Plays, hg. von Hardin Craig (Early English Text Society, Extra Series 87), London 1902, 21957, V. 783a. Vgl. Tomlinson [Anm. 2], S. 44; Theo Stemmler, Liturgische Feiern und geistliche Spiele. Studien zu Erscheinungsformen des Dramatischen im Mittelalter, Tübingen 1970, S. 285: Dieser kommt zu dem Ergebnis, dass »alle in den englischen Zyklen auftretenden Gegen-
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Es ist bezeichnend, dass Herodes, der in der gesamten literarischen und theologischen Rezeptionsgeschichte nie komisch gesehen wurde, erst hier, im Medium Theater, komische Wirkungen hervorruft: Die Performanz negativer Affekte wie Angst, Zorn, Hochmut usw., die von sich aus schon leicht ins Komische kippen kann, reizt erst recht zum Lachen, wenn sie im Dienste der Distanzierung maßlos übertrieben wird. Aus diesem Dienst kann sie sich aufgrund der Ambivalenz des Ästhetischen, hier konkret des Komischen, befreien: wenn nämlich die Zuschauer Gefallen an der komischen Darstellung selbst finden und an ihr hängenbleiben, ohne die dadurch vermittelte Botschaft aufzunehmen; dann findet die komische Darstellung ihren Zweck in sich selbst, und das erbaulich-belehrende Spiel verwandelt sich in Unterhaltungstheater. Die komisch-übertriebene Darstellungsweise ist noch für Shakespeare fest mit der Herodesfigur verbunden. So beschwört Hamlet seine Schauspieltruppe in folgender, vielzitierter Stelle: O, it offends me to the soul to hear a robustious periwig-pated fellow tear a passion to tatters, to very rags, to split the ears of the groundlings, who for the most part are capable of nothing but inexplicable dumb shows and noise; I would have such a fellow whipped for o’erdoing Termagant. It out-herods Herod. Pray you, avoid it.59
Herodes kommt hier rein als ästhetische Figur in den Blick, als Verkörperung einer in Hamlets (und Shakespeares?) Augen verfehlten Darstellungstechnik. Immerhin scheint der durch Herodes repräsentierte Figurentyp so wirkungsmächtig gewesen zu sein, dass man in der Forschung immer wieder mit mehr oder weniger überzeugenden Ergebnissen nachzuweisen sucht, inwiefern die Herodesfigur noch die Shakespeareschen Bösewichte beeinflusst hat.60 Die Ausführungen dürften deutlich gemacht haben, dass Herodes als eine Schlüsselfigur des geistlichen Spiels angesehen werden kann: Von höchster kirchlicher Instanz wird ihm bescheinigt, dass er und die mit ihm verbundenen Handlungen wesentlich sind für die intendierte Wirkung der Weihnachts- und Kindermordspiele, dass er
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spieler Gottes nach dem typologischen Vorbild des Herodes Magnus durch ira und superbia gekennzeichnet sind«, wenngleich er dieses Ergebnis nicht ausschließlich auf die ästhetische Attraktivität der Herodesfigur zurückgeführt wissen will, sondern auf das dahinterstehende typologische Modell des Antichrist (S. 259 f.). William Shakespeare, Hamlet, III,2 (Englisch-deutsche Studienausgabe. Übersetzung mit Anmerkungen von Norbert Greiner, Einleitung und Kommentar von Wolfgang G. Müller, Tübingen 2006, S. 245). Übersetzung: »Oh, es kränkt mich in tiefster Seele zu hören, wie ein lärmender Kerl mit einer Perücke auf dem Schädel eine Leidenschaft in Fetzen, [ja] geradezu zu Lumpen reißt, um das Trommelfell der Zuschauer im Parterre platzen zu lassen, die meistens für nichts anderes aufnahmefähig sind als für nichtssagende Pantomimen und Lärm. Ich würde solch einen Kerl auspeitschen lassen, dafür, daß er [selbst] Termagent übertrifft. Es ist herodischer als Herodes. Bitte, vermeidet es« (ebd., S. 244). Vgl. z. B. Tomlinson [Anm. 2], S. 66–69; Scott Colley, Richard III and Herod, in: Shakespeare Quarterly 37 (1986), S. 451–458; Chris R. Hassel, ‘No boasting like a Fool?’ Macbeth and Herod, in: Studies in Philology 98 (2001), S. 205–224.
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die entscheidende Figur dieser Spieltypen ist; Kritiker dagegen sehen in ihm eine Kraft, die die religiöse Intention der Spiele geradezu sprengt. Und man muss zugeben, dass beide Seiten recht haben, eben weil ästhetische Darstellung grundsätzlich ambivalent ist, wie Jauß an Identifikationsfiguren gezeigt hat. An Herodes lässt sich die ästhetische Ambivalenz einer Anti-Identifikationsfigur erkennen, die ganz eigene und durchaus gefährliche Probleme mit sich bringt: Wenn der Rezipient hier am bloß Ästhetischen hängenbleibt, dann lässt er sich zumindest ästhetisch den Normbruch, das ›Böse‹, gefallen, eine Einstellung, die nur zu leicht zu einer subversiven Lust an der Darstellung des Verbotenen und Normsprengenden oder auch zur innerlichen Teilnahme an einem gespielten Gegenritual führen kann; aufgrund der ästhetischen Ambivalenz kann sich die Anti-Identifikationsfigur in eine Identifikationsfigur verwandeln. Im Falle des komischen Herodes insbesondere der englischen Spieltradition bleibt dieser als der Verlachte zwar distanziert, aber als komische Figur wird er einer der Publikumslieblinge der Mystery Plays, wodurch das eigentlich religiöse Spiel in die Nähe von bloßem Unterhaltungstheater rückt. Diese Gefahren sind für Herodes wie für keine andere negative Figur des geistlichen Spiels seit frühester Zeit belegt, und damit führt er eine Grundspannung dieser Spielgattung vor Augen, nämlich diejenige zwischen religiösem Kult und Theatralität, die eine entscheidende Ursache für den Niedergang des mittelalterlichen geistlichen Spiels im Zeitalter der Reformation darstellt.61 Mit der Herodesfigur trägt das geistliche Spiel von früh auf das Element des rein oder überschüssig Ästhetisch-Theatralischen in sich, das sich immer gefährlich in den Vordergrund drängen kann und das bereits auf das säkulare neuzeitliche Theater vorausweist.
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Vgl. Schulze [Anm. 3], hier S. 345–353.
Von der Spiel- zur Lesehandschrift Jakob Rufs ‘Weingarten’ als Beispiel von Johannes Janota
Jakob Rufs1 konfessionspolemische Dramatisierung des neutestamentlichen Gleichnisses von den ungetreuen Weingärtnern (Mt 21,33–46) ist sein erstes Spiel, für das auch ein gesichertes Aufführungsdatum (Pfingstmontag 1539)2 vorliegt. Das Spiel, das wohl wegen seiner massiven konfessionellen Polemik nach unserer Kenntnis nur einmal in Zürich aufgeführt wurde und anschließend auch nicht zum Druck kam,3 überliefert unikal eine repräsentative Handschrift, die vielleicht sogar der Autor selbst wohl in deutlicher Nähe zum Aufführungsdatum – vermutlich um 1540 – geschrieben hat.4 Dieser Aufzeichnung kommt für die Spielforschung vor allem aus zwei Gründen ein herausgehobener Rang zu: Sie überliefert im Anhang eine Liste der Spieler, die an der Zürcher Aufführung beteiligt waren,5 und sie dokumentiert eindrucksvoll, wie unter der offenkundigen Verantwortung des Autors sein Spieltext in eine Lesehandschrift umgestaltet wurde. Trotz dieser bemerkenswerten Charakteristika stand die Handschrift bislang völlig im Schatten der Spielforschung, obwohl der Text bereits seit 1893 in einer ersten Edition vorliegt.6 Nur Max Herrmann fragte 1914 nach der theatergeschichtlichen Relevanz der beigegebenen Textillustrationen;7 für diese 76 Federzeichnungen eines Anonymus selbst fehlt jedoch bis heute eine 1
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Sein literarisches Werk liegt erstmals in einer geschlossenen Ausgabe vor: Jakob Ruf, Kritische Gesamtausgabe, hg. von Hildegard Elisabeth Keller, 3 Teile, Zürich 2008 (Jakob Ruf. Leben, Werk und Studien Bd. 2–5). Der Normierung der varianten Namensschreibungen zu ›Ruf‹ stehe ich skeptisch gegenüber, behalte aber hier die Schreibweise der Gesamtausgabe bei, um keine Verwirrung zu stiften. Vgl. dazu die Ausgabe des Spieltexts durch Stefan Schöbi: Weingarten, in: Gesamtausgabe [Anm. 1], Bd. 2, S. 215–233 (Einleitung), S. 234–371 (Edition) und S. 373–410 (Kommentar); zur Datierung der Aufführung und der Handschrift vgl. S. 216 f. und 373 f. Zur Frage der unterbliebenen Drucklegung vgl. Stefan Schöbi, Der Ludius auf Zürichs Bühne, in: Mit der Arbeit seiner Hände (Bd. 1 der Gesamtausgabe [Anm. 1]), S. 155–171, hierzu S. 166. Zur Handschrift und ihrem Schreiber vgl. Schöbi [Anm. 2], S. 223–225 und S. 229 f. Vgl. Stefan Schöbi, Notz, Escher und Engelhard. Die Funktionen des städtischen Theaters am Beispiel von Jakob Rufs Weingarten-Aufführung 1539. Mit Biographien der 66 Spieler, in: Die Anfänge der Menschwerdung. Perspektiven zur Medien-, Medizin- und Theatergeschichte des 16. Jahrhunderts (Bd. 5 der Gesamtausgabe [Anm. 1]), S. 120–192. Von des Herren Weingarten. Von Jacob Ruf. 1539, hg. von Bernhard Wyß, in: Schweizerische Schauspiele des sechzehnten Jahrhunderts, bearbeitet durch das deutsche Seminar der Züricher Hochschule unter der Leitung von Jakob Bächtold, 3. Bd., Zürich 1893, S. 137–310. Vgl. auch die Hinweise von Jakob Bächtold, Geschichte der Deutschen Literatur in der (Schweiz)/Frauenfeld 1892, S. 320–322. Max Herrmann, Forschungen zur deutschen Theatergeschichte des Mittelalters und der Renaissance, Berlin 1914, S. 474–500.
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kunstgeschichtliche Analyse.8 Erst Stefan Schöbi erinnert 2008 mit seiner ausführlich kommentierten Neuedition (Anm. 2) an die Bedeutung dieses Spiels und seiner besonderen Überlieferungsform. Leider ging Schöbi trotz seiner Skizze »Struktur und theatrale Mittel« in der Einleitung (S. 221–223) zur Neuausgabe nicht genauer auf diesen prominenten Fall einer Umwandlung von einer Spiel- in eine Lesehandschrift ein. Mein Beitrag, der sich wegen des vorgegebenen Umfangs auf exemplarische Beispiele beschränken muß, möchte zeigen, daß sich eine umfassende Untersuchung, bei der auch die Text-Bild-Korrespondenzen einzubeziehen sind, zum Nutzen der Spielforschung lohnte. Um den ausgewählten Befunden eine Repräsentanz für den in fünf Akten eingeteilten Gesamttext zu sichern, buche ich für die Fragestellung zwar besonders markante Fälle, die sich jedoch – wenn nicht anders angegeben – keinesfalls auf die nachgewiesenen Stellen beschränken. Ein erstes und augenscheinlich völlig eindeutiges Zeugnis für den Status einer Lesehandschrift mit einem Spiel als Inhalt liefert die Vorrede Ad lectorem (Bl. 1v; V. 1–32),9 die den Text zugleich als grimbt [. . .] spil (V. 3) ausweist, das 1539 entstanden ist (V. 5 f.). Diesen dokumentierenden Gestus, zu dem auch das Spielerverzeichnis am Schluß (S. 370 f.) gehört, präzisiert das nachfolgende Titelblatt (Bl. 2r), das nach der Titelangabe ‘Von deß herren wingartten’ die Aufführung auf den Pfingstmontag, 26. Mai 1539, datiert (S. 235). Die darunter stehende Federzeichnung, welche den Titel durch die Darstellung eines Weingartens und einiger der im Spiel handelnden Personen visualisiert, gibt dem gesamten Titelblatt eine Form, die an eine Druckausgabe10 erinnert und die damit den Eindruck eines Lesetexts zusätzlich verstärkt. Dazu zählen auch die wenigen Marginalglossen mit Nachweis der biblischen Quelle (zu V. 1434, V. 1436, V. 4241).11 Dagegen scheint mir die singuläre Angabe Finis primi Actus (nach V. 1106), die man auf den ersten Blick auch für eine Leserinformation halten könnte, schreibtechnisch bedingt zu sein: Sie steht offenkundig gegen Ende einer Lage, deren vorletzte Seite (Bl. 24r) – anders als bei den übrigen Aktgrenzen – nur teilweise beschrieben ist.12 8
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Zu den Illustrationen vgl. Schöbi [Anm. 2], S. 226–230. Alle 76 Federzeichnungen sind abgebildet in Bd. 5 der Gesamtausgabe [Anm. 1], S. 349–420 und auf der dem Band beigegebenen Multimedia-CD; sie werden nachfolgend mit ›Abb.‹ bzw. ›Abbildung(en)‹ zitiert. Zur Vorrede vgl. den Kommentar [Anm. 2], S. 373 f. Vgl. dazu Seline Schellenberg Wessendorf, »Damit sie gelesen möchten werden«. Zur Überlieferung von Zürcher Spieldrucken und -handschriften zwischen 1538 und 1550, in: Bd. 5 der Gesamtausgabe [Anm. 5], S. 82–118, hierzu S. 93–95; zum vorliegenden Titelblatt vgl. auch den Kommentar [Anm. 2], S. 374 f. Nicht zuletzt die Aufmachung des Titelblatts mag Wyß/Bächtold [Anm. 6], S. 140, neben der Charakterisierung als »sehr saubere Handschrift« dazu bewogen haben, in der Handschrift die Vorlage für einen Druck zu sehen. Tatsächlich dienten einige Federzeichnungen des ‘Weingarten’ später als Vorlagen für Holzschnitte anderer Spieldrucke; vgl. die Hinweise von Schöbi [Anm. 2], S. 228. Zu den Glossen vgl. die Einleitung [Anm. 2], S. 218 f. Actus secundus beginnt auf Bl. 24v. Den Zusammenhang hat Schöbi im Kommentar [Anm. 2] zur Stelle (S. 385) nicht erkannt.
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Das Vorwort Ad lectorem und die Gestaltung des Titelblatts nach Art einer Druckausgabe erweisen sich allerdings bei genauerer Überlegung keinesfalls als völlig eindeutige Merkmale einer Lesehandschrift, die – mit Unterstützung der beigegebenen Illustrationen – zur frommen Lektüre anregen soll. Die Vorrede gibt nämlich keinerlei Hinweise, die in diese Richtung deuten, ja: sie erwähnt nicht einmal die Ergänzung der Text- um eine reich ausgestaltete Bildebene. Dieser Befund stellt gleich zu Beginn die Frage nach dem Zweck der Aufzeichnung. Überblickt man die ganze Handschrift, dann wird anhand vieler Eingriffe (etwa durch die weitgehende Tilgung der Angaben zur Bewegungsregie) rasch deutlich, daß in ihr kein Spieltext für eine weitere Aufführung archiviert werden sollte. Vielmehr sprechen die Datierungen in der Vorrede und auf dem Titelblatt ebenso wie das abschließende Spielerverzeichnis dafür, daß diese Repräsentationshandschrift die Aufführung von 1539 dokumentieren wollte.13 Auf diese Weise entstand zwar eine Lesehandschrift, in der die zahlreichen Abbildungen gleichfalls zur Dokumentation der Aufführung dienten, aber sie nimmt damit einen anderen Status ein als eine Lesehandschrift mit einem Text-Bild-Ensemble, das zur religiös betrachtenden und erbauenden Lektüre bestimmt ist (obschon sie selbstredend auch dazu verwendet werden kann). Doch bei intensiverem Zusehen verschwimmt ebenfalls diese scharfe Trennung zwischen zwei eigenen Funktionstypen von Lesehandschriften. Denn trotz Anlage der Handschrift als Dokumentation einer konkreten Aufführung schieben sich vielfach Elemente nach Art einer Erbauungslektüre ein. Dieses Oszillieren zwischen zwei ganz unterschiedlichen Ausprägungen einer Lesehandschrift machen die ‘Weingarten’-Aufzeichnung zu einem lohnenden Untersuchungsgegenstand für die Spielforschung wie allgemein für die Literaturwissenschaft: Der Literaturwissenschaft bietet sie die Möglichkeit, den Begriff der Lektüre weiter auszudifferenzieren, der Spielforschung – auf der nachfolgend das Augenmerk ruhen soll – gibt sie Anhaltspunkte, innerhalb des bislang weitgehend pauschal verwendeten Begriffs der Lesehandschrift genauer zu unterscheiden. Ansätze zu einer solchen Differenzierung liefern bereits die Illustrationen der ‘Weingarten’-Handschrift: Geht man vom Dokumentationszweck der Handschrift aus, dann scheinen sie – wenn auch typisiert – die Akteure und andere Reminiszenzen der Zürcher Aufführung von 1539 wiederzugeben. Davor warnen jedoch etwa die unterschiedliche Gestaltung des Höllenrachens (Abb. 9 vs. Abb. 54) oder die differierende Gestaltung mehrfach auftretender Figuren (vgl. etwa den Heroldt in Abb. 3, 75 und 76).14 Dennoch stehen die Illustrationen in einem deutlichen Zusammenhang mit der Spielaufführung. Denn im Gegensatz zum Titelblatt, auf dem die Federzeichnung lediglich eine den Spieltitel illustrierende Funktion besitzt, helfen die im Text inserierten Abbildungen, bei der Lektüre den Aufführungscharakter zu imaginieren. Dazu trägt bei, daß die Bilder in der Regel15 den Erstauftritt einer Figur 13
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Für Schöbi wurde die Handschrift zu »Erinnerungszwecken« hergestellt; vgl. Einleitung [Anm. 2], S. 225. Andere Funktionsaspekte wurden von ihm in der Einleitung nicht thematisiert. Vgl. dazu den Kommentar [Anm. 2], S. 409. Zur Verteilung der Federzeichnungen im Text vgl. die Einleitung [Anm. 2], S. 227.
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(oder Figurengruppe) markieren und in einem unmittelbaren Bild-Text-Bezug stehen: Die Illustrationen stehen entweder nach oder vor einer Rollenbezeichnung (oder Regieangabe), die damit zugleich die Funktion einer Bildlegende übernimmt. Zur Imagination trägt aber auch bei, daß in die Zeichnungen immer wieder Elemente aufgenommen werden, die sich im Text identifizieren lassen: der Redegestus etwa, mit dem der Vatter das Gespräch mit seinem Sun eröffnet (Abb. 4), oder – mit Rückgriff o auf genannte Requisiten – die Schlüssel (Abb. 8) vor der Regieanweisung Handbub o nimpt die schluißel / vnd gat zum husknecht (vor V. 811). Diese offensichtliche Orientierung an einer Imagination der Aufführung führt schließlich zur Darstellung von Attributen ohne Stütze im Text: so u. a. der Kochlöffel zur Kennzeichnung des Koch (Abb. 24). Im Extremfall werden dabei sogar Informationen vermittelt, die keinerlei Textbezug besitzen, die aber den Zuschauern auf der Bühne präsent waren: Ein hervorstechendes Beispiel für diese Spielimagination ist der Spielführer (Ludius), der in Abb. 3 und 75 mit Dirigierstab und Textbuch neben dem Heroldt auftritt. Bereits diese wenigen Hinweise lassen erkennen, daß hinter der Charakterisierung der Aufzeichnung als Dokumentation einer konkreten Spielaufführung ein vielschichtiger Umformungsprozeß steht. Gegenüber diesen beispielhaft genannten Fällen führen die Illustrationen teilweise aber auch ein Eigenleben, das über diese Charakterisierung der Handschrift deutlich hinausgeht und den Horizont einer genuinen Lesehandschrift in den Blick kommen läßt. Besonders auffällig ist die Tötung des Zacharias (= Sacharja; Abb. 32), zu der es nur die Regieangabe Sathan zum Zacharia / schlacht Jnn ztod mitt dem bischoff stab / der koch vnd die anderen veriagend Jsaiam vnnd Malachiam (nach V. 2333) und einen späteren Texthinweis (V. 2403) gibt, oder die Tötung des präfigurativen (Gottes-)Sun (Abb. 52, nach V. 3523), zu der die Regieanweisung erst nach V. 3579 (Jetz schland sy Jnn ztod), der Textbeleg – aus dem Munde des Sathan – sogar erst V. 3639 erfolgt. Handelt es sich dabei um stumme Szenen der Aufführung, die im Lesetext ins Bild gesetzt werden, oder um (vorwegnehmende) Visualisierungen für den Leser ohne direkten Bezug zur Aufführung in Zürich?16 Zumindest bei der Tötung des Sun stellt die Illustration eine Antizipation der Handlung dar, die nur für den Leser einen Sinn ergibt, die aber nicht der tatsächlichen Aufführung entsprechen kann. Daneben finden sich auch Bilder, denen bereits ein Bezugstext vorausgegangen ist: So Abb. 7 (nach V. 762), in der sich der Vatter mit Redegeste an den buwmeister wendet, während die Gesprächseröffnung bereits V. 749–762 erfolgte; dadurch kommt das Bild vor die Rollenangabe und den Sprechtext des buwmeister zu stehen.17 Komplexer 16
17
Schöbi meint in seiner Einleitung [Anm. 2], S. 227, daß diese Illustrationen »den Tötungsszenen durch die Visualisierung zusätzliches Gewicht« verleihen. Gemeint ist damit wohl der Leser der Handschrift; über die Realisierung auf der Bühne ist damit noch nichts ausgesagt. Diese auffällige Verlegung des Bildes erklärt sich wohl dadurch, daß die Rede des Vatter am Ende von Bl. 17r erfolgt und der von ihr beanspruchte Platz nicht für die Abb. 7 reichte; sie steht daher zu Beginn von Bl. 17v. Eine gewisse Unsicherheit bei dieser Plazierung deutet sich in der funktionslosen Rollenbezeichnung buwmeister am Schluß von Bl. 17r an, die nach
Von der Spiel- zur Lesehandschrift
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erweist sich die Plazierung von Abb. 29, die in die Rede des Batt (V. 2264–2277) eingelagert ist.18 Das Bild zeigt Batt (= Papst) und Carli (= Kardinal) im Ornat und mit den Insignien eines Papstes bzw. eines Kardinals. In diesen Rollen als Ausweis höchster geistlicher Macht treten sie der ersten Prophetengruppe feindlich entgegen. Das Bild hätte daher an den Beginn der Begegnung mit der Prophetengruppe (nach V. 2197) gehört. Die spätere Plazierung weist auf eine Diskrepanz zwischen Aufführung, in der die beiden bei ihrem Auftritt nach V. 2197 bereits ihre kirchliche Amtskleidung tragen mußten, und nicht nur dokumentierender Lesehandschrift, bei der die Text-Bild-Bezüge im Rahmen einer Lektüre einen breiteren Spielraum zuließen, ohne dabei – wie bei einer strengen Dokumentation einer Aufführung – den Sinnzusammenhang zu stören. In einem Fall scheint eine Bildplazierung andererseits so sehr von der Vorgabe des Spieltextes bestimmt zu sein, daß ein angemessenes Bildverständnis vom Betrachter einigen Aufwand fordert. Es handelt sich dabei um Abb. 38 (nach V. 2689), welche die Tötung des Propheten Jeremias durch zwei Weingärtner zeigt – eine Szene, zu der es weder eine Regieangabe noch einen Bezugstext gibt; erst V. 2811 bestätigt der Prophet Johel die (zwischendurch mehrfach vermutete) Tötung: Jeremias ist geschlagen zthod. Abb. 38 steht zwischen der Regieangabe In dem sol der Sathan vnd der koch den Abdiam vnd den Zephoniam veriagen (nach V. 2689) und der o Redeanweisung Jeremias Jmm vßfuren (vor V. 2690). In seiner anschließenden Rede (V. 2690–2693) erwartet Jeremias seine Tötung: Her gott nun sich / min lyden an min läben gern / ich wil verlan vmb dinentwillen / wie du weist her ich entphilch / dir minen geist
Offenkundig folgte danach im Spieltext eine Regieangabe, die in einer stummen Szene die Darstellung der Jeremias-Tötung vorsah. Dieser Hinweis ist in der Leseausgabe getilgt und durch die vorgezogene Abb. 38 ersetzt worden, die dem Leser die nachfolgenden Jeremias-Worte (V. 2690–2693) eindeutig machen sollte. Von dieser Rezeptionsvorgabe geleitet, mußte allerdings die folgende Rede (V. 2694–2699) zu Irritationen führen, in der Carli zwei Bauern auffordert (V. 2694 f.):
18
Abb. 7 vor der Rede des buwmeister wiederholt wird. Dieser Befund bleibt im Kommentar [Anm. 2], S. 384, unerwähnt. Anders gelagert ist die gleichfalls unkommentierte (vgl. S. 391) o Doppelung der Rollenbezeichnung Tischbub am Ende von Bl. 39v und nach Abb. 21, die – o hier richtig plaziert – zu Beginn von Bl. 40r das Gespräch zwischen Tischbub und Carli eröffnet. Vgl. auch die Parallele bei der Abb. 22 (Batt spricht mit dem Kellermeister; dabei ist im Zusammenhang mit dem Seitenwechsel Bl. 40r/v die Rollenbezeichnung Käller ebenfalls verdoppelt). Abb. 29 steht nach V. 2275 am Ende von Bl. 54v, die beiden restlichen Verse eröffnen Bl. 55r. Eine Verlagerung von Abb. 29 auf Bl. 55r war nicht möglich, weil dort nach den beiden abschließenden Versen der Batt-Rede gleich Abb. 29 zur Eröffnung der Malachias-Rede folgte. Wie in Anm. 17 skizziert, deuten sich auch hier gelegentliche Spannungen bei der Text-Bild-Verteilung an.
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Johannes Janota e
Nun futschend Jnn / vß disem huß o Vnd schlachend Jnn / mit rutten vß
Diese Irritation wird erst nach einer weiteren Rede des Batt (V. 2700–2703) behoben, o der die Regieanweisung schlachend Johelem mitt ruten vß und danach Abb. 39 mit der Züchtigung des Johel als Abschluß des Actus tertius folgt.19 Das zuletzt diskutierte Beispiel stellt innerhalb der Handschrift einen singulären Fall dar, der aber im Kontext der anderen Beispiele zeigt, daß sich bei der Umwandlung einer Spieltextvorlage in eine – sei es zur Dokumentation einer Aufführung, sei es zur genuinen Lektüre bestimmten – Lesehandschrift (oder gar in einen Druck) sehr unterschiedliche Absichten kreuzen und überlagern können. Dieser komplexe Konvertierungsprozeß läßt sich auch am Umgang mit den Regieanweisungen beobachten, die so radikal getilgt wurden, daß die Bewegungsregie des aufgeführten Spiels nicht mehr verläßlich rekonstruiert werden kann.20 Sie blieben in der Regel nur dort erhalten, wo sie für den Leser zur Imagination des Bewegungsvorgangs notwendig sind. Oft müssen dafür aber auch andere Elemente eintreten. Das gilt etwa bei der Markierung von Szenengrenzen, für die aus dem Spieltext häufig die Anweisung Musica übernommen wurde; nicht selten tritt für diese Zäsurierung aber auch eine Abbildung (teils kombiniert mit dem Hinweis Musica) ein. So wird etwa die eben besprochene Szene mit der Züchtigung des Johel durch Abb. 39 und Musica abgeschlossen. Nur ein Bild trennt hingegen etwa die Teufelsszene (V. 3638–3675) vom Auftreten des Erzengels Gabriel (Abb. 55, nach V. 3675) und seiner Rede (V. 3676– 3684). Auch dabei kann es allerdings zu Differenzen zwischen Spieltextdokumentation und Lesehandschrift kommen. Am einfachsten sind noch die Fälle, bei denen die Regieangabe zu einem Bewegungsvorgang getilgt wurde, dieser aber vom Leser durch Textsignale nachvollzogen werden kann. Als Beispiel sei das Gespräch zwischen o o Handbub und Husknecht (V. 811–930) genannt, bei dem der Handbub den Husknecht nicht dazu bewegen kann, gemeinsam mit ihm zum Buwmeister zu gehen. o Daß der Handbub allein zum Buwmeister eilt, läßt sich allein der Rede (V. 931–940) des Husknecht entnehmen (V. 931 f.): Ein finer knab / mir das kan sin fragt mich nitt drumb / vnd loufft da hin o
Während der Handbub mit dem Buwmeister spricht (V. 941–953), bemüßigt sich der o Husknecht, dessen Befehl (den der Handbub zuvor überbracht hatte) nachzukommen und beim Buwmeister zu erscheinen. Auch dieser Bewegungsvorgang, zu dem o ein Regietext in der Lesehandschrift fehlt, läßt sich nur aus der Rede des Handbub ableiten (V. 949–953): 19
20
Der komplexe Zusammenhang ist im Kommentar [Anm. 2], S. 397, unbefriedigend erklärt. Nicht auszuschließen ist, daß bei den in kurzem Abstand folgenden Abb. 38 (Bl. 65v) und 39 (Bl. 66r) außerdem Fragen der Text-Bild-Verteilung mitgespielt haben; vgl. dazu Anm. 17. Das merkt auch Schöbi in seiner Einleitung [Anm. 2], S. 225, an. Der radikale Eingriff in die Bewegungsregie beschränkt natürlich den dokumentarischen Wert der Aufzeichnung zugunsten einer genuinen Lesehandschrift.
Von der Spiel- zur Lesehandschrift
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grad wie ich dschuißel / han genon hieß ich den husknecht / mitt mir gon o sagt er zu mir / wett sich nitt summen grad vff der stett / glich nochher kummen o botz lugend nun / er ist schon da
Zuweilen schiebt sich aber auch ein größerer Handlungsblock zwischen die textinterne Bewegungsregie und deren im Text erkennbaren Vollzug. Die Propheten Nahum und Amos etwa ermuntern sich nach ihrem Mißerfolg bei Batt und Carli, schnell zum Vatter zu laufen, um ihm davon zu berichten (V. 3056–3065). Danach folgt aber zuerst ein Dialog zwischen Batt und Carli, die Tötung des Propheten Ezechiel, die Steinigung des Propheten Micheas und die Züchtigung des Propheten Hoseas (V. 3066–3115). Erst dann wendet sich Amos zum heren (= Vatter; nach V. 3115). Mit dieser knappen Regieangabe wird sowohl der Abschluß der textinternen Bewegungsregie als auch der Szenenwechsel markiert (der dem Leser mit Musica bereits vor V. 3110 signalisiert wurde). Dies verlangt eine aufmerksame Lektüre, während die Handlungsabläufe in der Aufführung und dem ihr zugrundeliegenden Spieltext sicher leichter nachzuvollziehen waren. Ein letztes Beispiel mag verdeutlichen, wie durch solche Verschiebungen der Handlungsablauf und die Bildfunktion innerhalb der Handschrift zueinander in Spannung stehen. Die Tötung des Sun (als Präfiguration des Gottessohnes) wird mit Abb. 52 (nach V. 3523) eingeleitet, was die nachfolgende Rede des Sun zum volck (V. 3524– 3569) in einen angemessenen religiösen Rahmen stellt;21 danach wendet sich der Sun kniend in einem Gebet an Gott (V. 3570–3579), und erst dann folgt auf einer neuen Seite (Bl. 87v) die Regieanweisung: Jetz schland sy Jnn zthod (nach V. 3579). Hier müßte nach den Regeln des Spielverlaufs Abb. 52 stehen; nach den Intentionen einer Lesehandschrift aber, bei der über die Aufführungsdokumentation hinaus oft auch eine eigene Lektürefunktion mitschwingt, ist das Tötungsbild zu Recht vor der Hinwendung des Sun zum volck eingefügt.22 Schließlich möchte ich noch auf das Problem der Figurenidentifizierung durch Nennung ihres Namens (oder ihrer Funktion) hinweisen, das sich freilich nicht bei der Lesehandschrift, wohl aber beim Spieltext als ihrer Vorlage stellt. Denn für den Leser ist anhand der Figurenbezeichnung vor jeder Rede innerhalb der Lesehandschrift eine Identifizierung aller Sprecherrollen möglich. In einer Aufführung dagegen – und dafür hat der Spieltext zu sorgen – müssen zumindest die spieltragenden Figuren eindeutig in ihrer Rollenfunktion erkennbar sein. Dies geschieht entweder durch die Selbstnennung des Namens, der Standes- bzw. Berufsbezeichnung oder durch die entsprechende Anrede seitens anderer (in der Regel bereits identifizierbarer) Figuren. Ergänzend und z. T. ersatzweise können allgemein bekannte Attribute hinzutreten (etwa Petrus mit dem Schlüssel, der Papst mit der Tiara). Diese Möglichkeiten sind teilweise auch in die Lesehandschrift des ‘Weingarten’ eingeflossen. 21
22
Dabei stellt sich wieder einmal die Frage, ob die Text-Bild-Verteilung angemessen gelöst ist: Abb. 52 beschließt Bl. 86r, die Rede Sun zum volck hingegen beginnt auf Bl. 86v. Vgl. dazu auch Schellenberg Wessendorf [Anm. 10], S. 102 f.
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Johannes Janota
Das zeigt sich gleich zum Beginn des Spiels, das ein Knabenherold eröffnet. Er stellt sich selbst als jung vor (V. 37 f.): das ich der Juingst / Jn disem spil vch alsannd hie / ermanen wil
Mit der Eigencharakterisierung als der Juingst wird die Regieangabe Ein Junger knab o redt zu allen gsellen Jm spil (vor V. 33) für die Zuschauer wie für die Leser sprachlich umgesetzt; das ermanen benennt seine konventionelle Rolle als proclamator, die mit dem Schild,23 den er trägt und am Schluß der Rede an den Heroldt übergibt, als junger Herold konkretisiert wird (V. 92–98): Im besten sond / ir mich verston wo ich zfil grett / hett zluitel gseit e die Jngfurt red / nitt wol vsgleit o der sols zu miner / Jugat rächnen mitt miner kindtheit / das verträchen darumb Heroldt / so nim den schiltt das argument / sag wann du wilt
Mit der Anrede an den Heroldt führt er damit zugleich den nächsten Sprecher in seiner Funktion ein. Ähnlich weist der Heroldt am Ende seiner Rede auf die beiden nachfolgenden Figuren hin (V. 284–286): vnd losen vff / des vatters wort der mitt sim sun / ist vff der fart vnd kumpt dört har / Jm grawen bart
Entsprechend leitet der Vater seine Rede ein mit Liber sun / nun merck mich eben e (V. 287) und der Sohn seine Antwort mit Das fruwt mich vatter / eben fast (V. 305). Solche Apostrophen zur Identifizierung einer Figur finden sich öfters in der Lesehandschrift (wo sie wegen der Rollenbezeichnung vor einem Sprechtext oder in einer Regieangabe eigentlich überflüssig sind), aber noch häufiger fehlen sie. Als bezeichnendes Beispiel seien die zwölf Apostel genannt, denen der Vatter am Schluß seinen Weinberg übergibt (V. 4020–4045), die er jedoch nicht persönlich anspricht und die sich auch nicht selbst oder gegenseitig vorstellen.24 Für den Leser bereitet dies wegen der Rollenbezeichnungen in der Lesehandschrift keine Schwierigkeiten, wohl aber in der Aufführung – es sei denn, sie traten wie in den Abbildungen 63–74 mit ihren eingeführten Attributen auf. Eine solche Kennzeichnung fehlt dagegen den Prophe23
24
Einen Teil dieser Identifizierungsmerkmale setzt die Abb. 2 um: Ein junger Mann trägt als Rolleninsigne einen Stab, der einfacher gestaltet ist als der verzierte Stab des Heroldt (vgl. Abb. 3), dazu den Schild, den er am Schluß seiner Rede an den Heroldt überreicht. Da der Schild einen Greifenkopf trägt, der als Wappen Rufs nachgewiesen ist, gibt die Lesehandschrift für den Kenner zugleich einen Hinweis auf den Autor des Spiels. Ob der Knabenherold auch bei der Aufführung einen Schild mit Greifenkopf trug, muß offenbleiben. Zur Abb. 2 vgl. den Kommentar [Anm. 2], S. 375. Ausnahmen sind lediglich Petrus, der von Andreas mit Namen angesprochen wird (V. 4054), und Matheus, der sich selbst als zoller (V. 4128) anspricht; dazu kommen gelegentliche Textanspielungen als Figurencharakteristika; vgl. dazu den Kommentar [Anm. 2], S. 408 f.
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ten. Zwar wird etwa die erste Prophetengruppe vom Vatter namentlich angesprochen (V. 2130–2132: Jsaia, Zacharias, Malachias; vgl. zuvor schon V. 2005), aber in ihren anschließenden Sprecherrollen (V. 2154–2163) lassen sie sich nicht differenzieren. Selbst im Gruppenbild (Abb. 26) können die einzelnen Figuren nur mit Rekurs auf die Rollenangaben zu den Abbildungen 28, 30 und 31 halbwegs identifiziert werden (wobei dem Jsaia hier und natürlich im Text – die Reihenfolge der Apostrophen in V. 2130–2133 vertauschend – Malachias und Zacharias folgen). Im Spiel selbst mögen die einzelnen Figuren beim Sprechen der V. 2130–2132 durch Fingerzeig vom Vatter individualisiert worden sein, aber in der überwiegenden Zahl der Auftritte ist selbst diese Möglichkeit ausgeschlossen. Ich nenne beispielsweise nur das Auftreten neuer Teufel (V. 3662–3675) in der zweiten Höllenszene. Dieser Befund führt unversehens in ein schwieriges, letztlich kaum lösbares Problem: Entweder kam es Ruf bei der Aufführung seines Spiels nur auf eine grobe Differenzierung der auftretenden Figuren an,25 oder aber zwischen der Spielvorlage und der Lesehandschrift liegt – so schwer diese Vermutung fällt – eine Überarbeitungsstufe des Spieltextes, bei der zahlreiche Identifizierungsmerkmale (Namen und Requisiten im Sprechtext) für die einzelnen Figuren – ebenso wie ein Gutteil der Regieangaben – gestrichen wurden, weil dafür dem Leser die Rollenbezeichnungen zur Verfügung standen. Zuweilen führte dieses Verfahren selbst in der Lesehandschrift zu Verständnisschwierigkeiten: Es sei nur an das bereits diskutierte Beispiel von Batt und Carli erinnert, die ohne entsprechende Regieangabe und dazu noch an einer weniger einsichtigen Stelle in Abb. 29 mit den Ornaten von Papst und Kardinal auftreten. Solche Stellen zeigen mit besonderer Deutlichkeit, wie sehr sich eine Lesehandschrift, dort wo sie eine eigenständige – über die Dokumentation einer Aufführung hinausgehende – Lektüre eines Spiels impliziert, nicht nur durch äußere Merkmale,26 sondern auch durch ihre innere Organisation von einer Spielhandschrift unterscheidet, die zur Grundlage einer Aufführung diente. Trotz aller funktionalen Unterschiede zwischen diesen beiden Handschriftentypen gibt es auch Gemeinsamkeiten, die wiederum neben äußeren Merkmalen (etwa Einteilung in Akte) aus dem Spieltext und vielleicht sogar aus der tatsächlich erfolgten Aufführung in die Lesehandschrift eingeflossen sind. Auch dafür nur einige Beispiele: Mit dem Hinweis Musica wird für den Leser vor allem ein Szenenwechsel markiert. Da jedoch Noten fehlen, muß er – vielleicht erinnert an eine Aufführung – eine Melodie imaginieren; oder aber er versteht Musica lediglich als Zäsurzeichen zwi25
26
Bei Nebenfiguren hat ein solches Verfahren Tradition, die auch Ruf weiterführt, wenn er die sechs landsknecht einfach nur durchnumeriert (vgl. vor V. 2904 – vor 2930) und auch sonst nicht weiter individualisiert. Dies leisten eher die sechs Federzeichnungen, die den Einführungsreden dieser Figuren vorangehen; vgl. dazu den Kommentar [Anm. 2], S. 399. Vgl. dazu Hansjürgen Linke, Versuch über deutsche Handschriften mittelalterlicher Spiele, in: Deutsche Handschriften 1100–1400. Oxforder Kolloquium 1985, hg. von Volker Honemann und Nigel F. Palmer, Tübingen 1988, S. 527–589; zu Merkmalen von Lesehandschriften vgl. insbesondere S. 540–543. Auf S. 550 gibt Linke auch einige Hinweise auf das »Fluktuieren von Spieltexten zwischen Aufführung und verschiedenen Formen der Niederschrift«; diese Vorgänge verdienten, ausführlicher untersucht zu werden.
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schen Szenen, dann wäre ihm mit einer kurzen Regieangabe mehr gedient. Wenn Musica dennoch in die Lesehandschrift aufgenommen wurde, dann verweist dies auf einen integralen Bestandteil des Spiels. Dies belegt das Ende des Actus primus, wo der Hußknecht zun spilluiten sagt (vor V. 1105 – nach V. 1106): o
Wie sitzend ir / sind gutter dingen o vnd thund ein fart / ein liedlein singen27 Musica
Ein weitere Form, die aus dem Spieltext in die Lesehandschrift übernommen wurde, sind Stichreim und Stichomythie, die effektvoll den Bewegungsrhythmus des Spiels steuern. Man vergleiche etwa, wie V. 3710 f. der Vatter dem Nachpur, der ihn nach der Tötung des Sun trösten will, mit Stichreimtechnik ins Wort fällt: Nachpur [. . .] dir ztrösten warlich gsinnet bin Vatter gott danck dir lieber nachpur min
Oder wie das Erstaunen über das unbemerkte Verschwinden des Sathan (der in der Gestalt des Hanns Olt als Verführer aufgetreten war) mit Stichreim und Stichomythie sprachlich inszeniert wird (nach V. 3591–3597): Batt Ey das ist recht / das er [der Sun] thod ist nun setzend vch / vns einer brist Hanns Olt wo mag / der selbig sin? Bur Hanns Jch weiß nitt vff / die trüwe min Bur Eberli gnediger her / ich weiß ouch nitt Bur Clauß vnd ich ald mich / der ritt ouch schütt
Im Blick auf den zugestandenen Raum muß ich hier abbrechen. Doch dürfte bereits diese knappe Skizze deutlich gemacht haben, daß man sich auf den Unterschied zwischen einem Spieltext oder gar einer Aufführungshandschrift und einer Lesehandschrift aufgrund äußerer Merkmale in vielen Fällen – wie etwa bei der Überlieferung von Rufs ‘Weinberg’ – zwar relativ schnell einigen kann, daß aber hinter der Umwandlung eines Spieltextes in eine Lesehandschrift, bei der außerdem – wie wir sahen – noch zwischen einer Aufführungsdokumentation und einer genuinen Lektürevorlage zu unterscheiden ist, in der Regel ein komplexer Vorgang steht, der allein durch eine sorgfältige Mikroanalyse der Aufzeichnung wenigstens teilweise (nicht nur) zum 27
Musik während eines Bewegungsvorgangs ist auch nach V. 3937 belegt: Jetz zücht Vespasianus vff halben platz mitt trummen vnd pfiffen.
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Nutzen der Spielforschung rekonstruiert werden kann. Die Ergebnisse solcher Untersuchungen wären in meinen Augen eine unverzichtbare Ergänzung zu den freilich gleichfalls notwendigen Bestimmungen äußerer Merkmale, die bis jetzt bei der funktionalen Differenzierung der Überlieferungstypen deutscher ›Spielhandschriften‹ im Vordergrund standen. Da die Lesehandschrift des Rufschen ‘Weingartens’, in die Dokumentationsabsichten wie Lektürevorstellungen eingegangen sind, offenkundig unter der Verantwortung des Spielautors gefertigt, wenn nicht gar von ihm selbst geschrieben ist, wäre sie für diese anstehende Aufgabe ein günstiger Einstieg.
Hurenkomödie oder politische Dichtung? Die ‘Chrysis’ des Enea Silvio Piccolomini von Cora Dietl
Am ersten Oktober 1444 schrieb der poeta laureatus Enea Silvio Piccolomini aus Wien an seinen (ehemaligen) Freund Michael Pfullendorf, Protonotarius in der Kanzlei Kaiser Friedrichs III., einen Brief, der erklären sollte, warum er ihm die Freundschaft aufkündigte. Falschheit und Verstellung wirft er ihm vor und dass er hinter seinem Rücken schlecht über ihn geredet habe, [. . .] nec tu negare potes, quin comediam meam carpseris, quam de Chriside feci Nuremberge. non est mihi cure, quod mea scripta tuo judicio reprobentur, quamvis magnum est, nec ego laudari musam meam ex te volui, quia non est digna laus, que ab homine rei non perito venit, sed noto animum tuum. preterea si quid vitii inerat, decebat te me admonere, ut limassem. at tu nedum carmen sed auctorem quoque irridebas meque perlevem accusahas, qui comediam scripsissem, tanquam non laudi Terentius et Plautus habiti sint, qui comedias scripserunt.1
Pfullendorf könne es nicht verleugnen, dass er Enea Silvios in Nürnberg verfasste Komödie ‘Chrysis’ verrissen habe. Die Geringschätzung seiner Schriften durch Pfullendorf allerdings berühre ihn wenig, fährt Enea Silvio fort, da das Lob eines Unkompetenten wertlos sei. Freilich erkenne (und tadle) er Pfullendorfs Absicht: Den Freundschaftsbruch sieht Enea Silvio darin, dass Pfullendorf, wenn er denn Mängel in dem Werk entdeckt hätte, Enea darauf hätte aufmerksam machen sollen, damit er sie bereinige. Er aber habe nicht so sehr das Werk lächerlich machen wollen wie insbesondere den Autor. Pfullendorf habe ihn als seicht beschimpft, nur weil er eine Komödie verfasst habe, wo doch auch Terenz und Plautus Komödien geschrieben hätten und dafür gelobt worden seien. Die Kritik an der Komödie ist zwar nicht der einzige Grund, weshalb Enea dem Kaiserlichen Protonotar die Freundschaft kündigt, er nennt noch weitere Gründe; deutlich ist aber, dass Enea 1444 mit voller Überzeugung hinter seiner Komödie stand und sie (und sich als frühhumanistischen Dichter) in eine Tradition mit Terenz und Plautus stellen wollte. Später, als Papst Pius II., versuchte Enea Silvio die Verbreitung seiner Jugendkomödie zu unterbinden.2 Darin war er so erfolgreich, dass nur eine einzige Handschrift des Werks überliefert ist: eingebunden in einen Kodex 1
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Enea Silvio Piccolomini an Michael Pfullendorf, Wien, 1.10.1444, in: Enea Silvio Piccolomini. Briefe, übers. und eingel. von Max Mell, Jena 1911, Nr. 33, S. 187–192; Der Briefwechsel des Eneas Silvius Piccolomini, hg. von Rudolf Wolkan (Fontes rerum Austriacarum 2,61), Abt. I, Bd. 1, Wien 1909, Nr. 158. Enea Silvio Piccolomini, Papst Pius II, Ausgewählte Texte aus seinen Schriften, hg. von Berthe Widmer, Basel/Stuttgart 1960, S. 48; Aeneas Silvius Piccolomini, Chrysis. Come´die latine ine´dite, hg. von Andre´ Boutemy (Latomus 1), Brüssel 1939, S. 5 f., dort Verweis auf ‘Epistolae’, Nr. 395.
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aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, der heute in der Universitätsbibliothek in Prag aufbewahrt wird.3 Der Band enthält eine Reihe von Werken Enea Silvios; die Komödie steht zwischen der bissigen, seinem Freund Johannes von Eich gewidmeten, Hofsatire ‘De curialium miseriis’ (November 1444) und einem der politischen Briefe Eneas.4 Der Versuch einer groben chronologischen Gruppierung könnte hinter dieser Zusammenstellung stehen (wenngleich der Band insgesamt nicht chronologisch geordnet ist),5 vielleicht aber auch einer thematischen. Der Inhalt der Komödie6 ist kurz zusammengefasst: In 18 Szenen wird die Geschichte der Prostituierten Chrysis und Cassina erzählt. Sie betrügen ihre Stammkunden, die betagten Kleriker Theobolus und Dyophanes, mit zwei anderen (auch recht alten) Freiern aus weltlichem Stand, Sedulius and Charinus. Theobolus und Dyophanes haben für sich und die beiden Hetären ein opulentes Abendessen herrichten lassen, und zwar im Haus der Kupplerin Canthara. Als sie ankommen und von den beiden Mädchen noch weit und breit nichts zu sehen ist, riechen sie rasch den Braten. Als die beiden Mädchen endlich kommen, kündigen die Alten ihnen die Beziehung auf und ziehen ab. Sedulius und Charinus kommen und übernehmen freudig die Gesellschaft der Mädchen am Abend und in der Nacht. Am nächsten Morgen vermissen die beiden Mädchen aber ihre geistlichen Liebhaber und stellen fest, dass sie diese lieben. Theobolus und Dyophanes kehren zurück und versöhnen sich mit Chrysis and Cassina. Als die Komödie im 19. Jahrhundert von der Forschung wiederentdeckt worden war, wurde sie zunächst als eine recht obszöne Offenbarung klerikaler Phantasien betrachtet, als ein Ausdruck von Eneas lockerem Leben, von welchem es heißt (und er selbst auch behauptet), dass er es in vollen Zügen genossen habe, bevor er 1447 zum Priester geweiht wurde.7 In den 1960er Jahren kritisierte die Forschung die Prüderie des 19. Jahrhunderts; jetzt wurden die literarischen Qualitäten des Werks betont, welches ein lebhaftes Abbild der humanistischen Terenz- und Plautusrezeption biete.8 Nachdem Nicolaus Cusanus, ein späterer Freund des Enea Silvio, 1425 in Köln eine bedeutende Plautus-Handschrift entdeckt hatte, die auf einen Schlag die Zahl der bekannten Plautus-Komödien von acht auf 20 steigerte, gilt Enea Silvio als einer der einflussreichsten Förderer der Rezeption der römischen Komödie im deutschen Frühhumanismus.9 3
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Cod. XXII F 112. Handschriftenbeschreibung in: Boutemy [Anm. 2], S. 14 f.; Franz Josef Worstbrock, Art. ›Piccolomini, Aeneas Silvius‹, in: 2VL 7 (1989), Sp. 634–669, hier Sp. 647. Vgl. Enea Silvio Piccolomini, Chrysis, hg. von Enzo Cecchini, Florenz 1968, S. XIV f. Ebd., S. XIV. Im Folgenden zitiert nach: Humanist Comedies, hg. und ins Englische übers. von Gary R. Grund, Cambridge (Mass.)/London 2005, S. 284–347. Vgl. Paul Bahlmann, Die Erneuerer des antiken Dramas und ihre ersten dramatischen Versuche 1314–1478, München 1896, S. 45–47; Max Niedermann, Deux e´ditions re´centes de la come´die ‘Chrysis’ d’Enea Silvio Piccolomini, in: Humanitas 2 (1948), S. 93–115, hier S. 93, bezeichnet ‘Chrysis’ als eine »Jugendsünde« Enea Silvios. Berthe Widmer, Enea Silvio Piccolomini in der sittlichen und politischen Entscheidung. Basel/Stuttgart 1963, S. 58. Frank Baron, Plautus und die deutschen Frühhumanisten, in: Studia Humanitatis. FS Er-
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Im Dezember 1443 schreibt er einen Brief an Sigismund von Österreich, in dem er den Wert der römischen Komödie und Tragödie für die Erziehung von Fürsten betont: vis regum mores et fastidia principantium perscrutari, secundum Senecam in tragediis legito; vis plebeos homines et milites gloriosos et lenonum insidias et servorum deceptiones, ut evitare illas possis, intelligere, Plautum tibi et Terentium assumito.10
Die Tragödien Senecas seien dazu dienlich, die Sitten der Könige und den Stolz der Regierenden zu ergründen; das einfache Volk, die ruhmsüchtigen Soldaten, die Fallen der Kupplerinnen und die Betrügereien der Diener aber lerne man durch die Komödien des Plautus und Terenz kennen und übe sich so darin ein, sie zu vermeiden. Diese Rechtfertigung der Lektüre von Seneca, Plautus und Terenz wird in den Schriften zahlreicher Humanisten wiederholt.11 Vor dem Hintergrund von Enea Silvios Verständnis von der römischen Komödie darf man die ‘Chrysis’ sicherlich auch als ein moraldidaktisches Werk auffassen. In den letzten Jahren sind verschiedentlich Interpretationen der Komödie vorgelegt worden, die sie als eine Satire auf das Leben von Adel und Klerus begreifen, speziell des Lebens am Kaiserhof, parallel zu dem nur kurz darauf verfassten Traktat ‘De curialium miseriis’.12 Große Beachtung ist bisher den handschriftlichen Anmerkungen geschenkt worden, die sich in der einzigen erhaltenen Handschrift (die zeitnah, noch Mitte des 15. Jahrhunderts, entstanden ist) in den Didaskalien finden.13 Ireneo Sanesi14 und Enzo Cecchini15 beschreiben sie wie folgt: In Szene 2 steht über dem Namen ›Sedulius‹ Eych; in Szene 5 sind über dem Namen ›Archimenides‹ die Buchstaben W T zu erkennen; über ›Dyophanes‹ und ›Theobolus‹ sind in Szene 6 die Hinweise offi bzw. Iacobus geschrieben. Cecchini vermutet wie schon Sanesi, dass Eych für Johann von Eich, den späteren Bischof von Eichstätt, steht, W T für Wilhelm Tacz, den Notar der
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nesto Grassi, hg. von Eginhard Hora und Eckhard Kessler, München 1973, S. 89–101, hier S. 92 f.; Hans Rupprich, Die deutsche Literatur vom späten Mittelalter bis zum Barock, I: Das ausgehende Mittelalter, Humanismus und Renaissance, 1370–1520, München 21994, S. 631 f. Enea Silvio Piccolomini an Herzog Sigismund von Österreich, Graz, 5.12.1443, Wolkan [Anm. 1], I,1,99; Enea Silvio Piccolomini, Ausgewählte Texte aus seinen Schriften. Festgabe der Historischen und Antiquarischen Gesellschaft zu Basel, hg., übers. und eingel. von Berthe Widmer, Basel 1969, S. 280–289, hier S. 286 f. Bsp.: Peter Luders Inauguralrede an der Universität Heidelberg vom 15. Juli 1456 oder Konrad Celtis’ ‘Ars versificandi et carminum’ von 1486. Vgl. dazu Cora Dietl, Die Dramen Jacob Lochers und die frühe Humanistenbühne im süddeutschen Raum (Quellen & Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 37), Berlin u. a. 2005, S. 20 und 37. Worstbrock [Anm. 3], Sp. 647; Emily O’Brien, Prurient Pastime or Something More? Reconsideration of Aeneas Silvius Piccolomini’s Chrysis, nicht publizierter Vortrag vor der Renaissance Society of America, New York, 2.4.2004. Abstract unter http://www.rsa.org/ pdfs/2004/Fri845.pdf (21.11.2008). Boutemy [Anm. 2], S. 12. Enea Silvio Piccolomini, Chrysis. Commedia, hg. von Ireneo Sanesi (Nuova collezione di testi umanistici inediti 4), Florenz 1941, zit. nach: Niedermann [Anm. 7], S. 102. Cecchini [Anm. 4], S. XI Anm. 7.
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römischen Kanzlei und Kanoniker zu Freising. Iacobus könnte Jakob Widerle, einen Mitarbeiter der Kanzlei, bezeichnen.16 Alle Genannten waren in Nürnberg anwesend; daher ist vermutet worden, dass die Namen für die Darsteller stehen, die das Stück aufführten.17 Dies ist allerdings bei einer späteren Auf- bzw. Abschrift eher ungewöhnlich; in neuerer Zeit zweifelt auch Gary Grund an dieser These.18 Zu erwarten wäre bei einer Identifikation der Darsteller, dass bereits beim ersten Auftritt der Figuren der jeweilige Darsteller genannt wäre; Dyophanes und Theobolus, deren Namen in der sechsten Szene die besagte Glosse tragen, treten aber bereits in der ersten Szene auf. – Dieses Argument könnte auch die zweite These, die oft in der Literatur diskutiert wird, in Frage stellen: dass es sich um einen Schlüsseltext handle und die übergeschriebenen Namen also die realen Vorbilder der fiktiven Figuren identifizierten.19 Vielleicht also ist die Komödie als eine Abrechnung mit Mitgliedern des Hofes zu verstehen; zumindest zwischen Wilhelm Tacz und Enea Silvio bestanden nachweislich Spannungen.20 Wie unsicher aber die Zuweisung der historischen Namen zu den Figuren als deren ›Entschlüsselungen‹ ist, zeigt die von Monika FinkLang aufgestellte und von Alfred Wendehorst mit einiger Vorsicht wiederholte These, dass die »unsympathische Figur des Sedulius« in der ‘Chrysis’ für die Lockerung der Freundschaft zwischen Enea Silvio und Johann von Eich nach der Papstwahl Eneas 1458 verantwortlich sei. Das wäre freilich eine recht verspätete Reaktion.21 Schwer vorzustellen ist es auch, dass Johann von Eich, dem Enea ‘De curialium miseriis’ widmet, die zuvor verfasste Komödie als Kritik an seiner Person verstehen sollte. Vielleicht aber deuten die Anmerkungen in der Handschrift auch nur auf einen späteren, gescheiterten Versuch der Identifikation der Rollen mit zeitgenössischen Hofmitgliedern hin, während Enea Silvio nur in ironischer Selbstdarstellung den Hof generell – sich inklusive – darstellen wollte, ähnlich wie etwa fünfzig Jahre später Johannes Reuchlin in der Komödie ‘Sergius’ die sodalitas litteraria ironisierte, der er selbst angehörte, als Rahmen für eine weit bissigere Zeitkritik.22
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Cecchini [Anm. 4], S. XI Anm. 7. Alessandro Perosa, Teatro umanistico, Mailand 1965, S. 186 f. Grund [Anm. 6], S. 446. Ebd.; Niedermann [Anm. 7], S. 102; Cecchini [Anm. 4], S. XI Anm. 7. Grund [Anm. 6], S. 446, verweist auf die Aussage in: Enea Silvio Piccolomini, Commentarii I,ii,3: Is cum legatum caesaris apud Nurembergam ageret, regimen cancellariae Wilhelmo Taz homini Baioario et Italici nominis hosti commisit, a quo miris modis Aeneas afflictus est; Enea aber habe alle Beleidigungen mit einer sprichwörtlichen Eselsgeduld ertragen. Pius II, Commentaries, hg. und ins Englische übers. von Margaret Meserve und Marcello Simonetta, Cambridge (Mass.) 2003, S. 46. Monika Fink-Lang, Untersuchungen zum Eichstätter Geistesleben im Zeitalter des Humanismus (Eichstätter Beiträge 14), Eichstätt 1985, S. 52 f.; Das Bistum Eichstätt, 1.: Die Bischofsreihe bis 1535, hg. von Alfred Wendehorst (Germania Sacra, Historisch-statistische Beschreibung der Kirche des Alten Reiches, Neue Folge, Bd. 45: Die Bistümer der Kirchenprovinz Mainz), Berlin/New York 2006, S. 216. Vgl. Dietl [Anm. 11], S. 161.
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In einer moraldidaktischen Satire, einer selbstironischen Darstellung der Hofgesellschaft oder gar einer Abrechnung mit einzelnen Mitgliedern des Hofes jedenfalls erschöpft sich die Aussage der Komödie ‘Chrysis’ noch nicht. Zwei Punkte in Enea Silvios oben zitiertem Brief an Pfullendorf seien in diesem Zusammenhang besonders hervorgehoben: (1) Wenn der Gegenstand des Spiels (nur) der Hof wäre, den Pfullendorf gut kennt, könnte dann Enea behaupten, Pfullendorf sei ein inkompetenter Richter über sein Werk? – Freilich würde es die Reaktion Pfullendorfs erklären, wenn er sich in der Komödie für seinen ausschweifenden Lebensstil kritisiert fühlte. (2) Enea betont in seinem Brief, dass er die Komödie in Nürnberg geschrieben habe. Diesen Entstehungsort hervorzuheben, wäre sicherlich unnötig, wenn mit der Komödie der Hof oder gar die kaiserliche Kanzlei parodiert werden sollte.23 Die Komödie wurde offensichtlich während des Reichstags zu Nürnberg verfasst, der ursprünglich im Februar 1444 beginnen sollte, dann aber bis auf die Zeit nach Himmelfahrt und schließlich noch ein zweites Mal verschoben wurde, so dass er vom 1. August bis zum 11. Oktober 1444 dauerte.24 Pfullendorf war auf dem Reichstag nicht anwesend. Max Mell äußert in seiner Ausgabe der Enea-Briefe 1911 Erstaunen darüber, dass Piccolomini während des Reichstags »Muße zur Abfassung einer Dirnen- und Kupplerkomödie« fand.25 Spätestens seit den Arbeiten von Dieter Mertens und Thomas Zotz26 allerdings sind die Rolle der Künste auf den Reichstagen (insbesondere ab der Herrschaft Friedrichs III. und unter Maximilian I.) und die Bedeutung der Reichstage als eines Präsentier- und Austauschfeldes für Dichtung und Kunst (wie z. B. auch bereits im Hochmittelalter der berühmte Mainzer Hoftag Barbarossas) bekannt.27 Nicht zuletzt fanden bekanntlich auch die Dichterkrönungen in der Regel während der Reichstage statt. Die Krönungszeremonien markierten sehr deutlich die Rolle der Dichtung für und im Reich; der gekrönte Dichter sollte künftig durch seine Dichtung die Reichspolitik stützen.28 Erst 1442 war Enea Silvio zum poeta laureatus gekrönt worden, daher könnte man erwarten, dass er sich auf dem Reichstag 1444 zu Angelegenheiten des Reichs äußerte. 23 24
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Vgl. Widmer [Anm. 8], S. 58. Deutsche Reichstagsakten unter Friedrich III., 3. Abteilung: 1442–1445, hg. von Walter Kaemmerer (Dt. Reichstagsakten, Ältere Reihe 17), Göppingen 1963, S. 225. Mell [Anm. 1], S. xxxv. Dieter Mertens, Der Reichstag und die Künste, in: Mediävistische Komparatistik. FS Franz Josef Worstbrock, hg. von Wolfgang Harms und Jan-Dirk Müller, Stuttgart/Leipzig 1997, S. 295–314; Thomas Zotz, Der Reichstag als Fest. Feiern, Spiele, Kurzweil, in: Der Kaiser in seiner Stadt. Maximilian I. und der Reichstag zu Freiburg 1498, hg. von Hans Schadek (Schau-ins-Land 117, 1998, Sonderheft), Freiburg i. Br. 1998, S. 146–170. Unverständlich ist daher Thomas Hayes Auffassung, Enea habe auf dem Reichstag »gleichsam zum Zeitvertreib seine später so berühmte Komödie ‘Chrysis’ geschrieben«. Thomas Haye, Die Armagnaken, das Elsaß, der Heidelberger Hof und die Apathie des Reiches – eine unbekannte lateinische Invektive des Jahres 1444, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 153 (2005), S. 241–274, hier S. 265. Grundlegend dazu: Dieter Mertens, Petrarcas Privilegium laureationis, in: Litterae Medii Aevi. FS Johanne Autenrieth, hg. von Michael Borgolte und Herrad Spilling, Sigmaringen 1988, S. 225–247.
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In der Tat weisen einige Aussagen in ‘Chrysis’ über den Rahmen einer reinen Plautus-Nachahmung oder einer moraldidaktischen Verurteilung des lockeren Lebens von Hof und Kurie hinaus und referieren auf zeitgeschichtliche politische Probleme. In Szene 4 (die noch zur Exposition gehört) etwa stellt sich Charinus, einer der beiden weltlichen Freier, vor und beschreibt dabei auch, wie er seine Umwelt sieht: [. . .] Vidi plures in foro nuper propter Armeniacos ire anxios; illos namque invasisse dolent imperium et occidisse quosdam Suicenses truces. Hostem volunt alii externum propulsarier ulciscique suos. Tum post quidam togati non capio quid divisionis flebile inter pontifices aiunt esse maxumos. Ego sapientis verbum mente teneo: curas post tergum decet inanes mittier. Ut in cavea certant pulli gallinacii esce causa, quibus cras est decretum mori, sic propter imperium contendunt homines, quod quam diu tenere debeant nesciunt. At ubi carendum sit, imperio prius quam cibo malim carere. Quid refert mea, Gallus an Theutonicus uter imperet? (V. 160–176)
Vor Kurzem erst habe er die Leute auf dem Marktplatz zusammenlaufen sehen, voller Angst vor den Armagnaken. Man klage darüber, dass diese ins Reich eingedrungen seien und ein paar »wilde Schweizer«29 getötet hätten. Andere wollten irgendeinen äußeren Feind zurückschlagen und sich an ihm für den Tod der Ihrigen rächen. Schließlich verstehe er nicht, was einige Geistliche sagen, dass es eine beklagenswerte Spaltung unter den Päpsten gebe. Da er die Sache eben nicht versteht, beschließt er, sich an die Lehre des Proverbiums zu halten: curas post tergum decet inanes mittier, d. h. sich um Dinge, die außer seiner Sicht sind, nicht zu sorgen (V. 160–169). Sich um das Reich Sorgen zu machen und sich zu streiten sei genauso sinnvoll wie der Streit zwischen Hühnchen und Hähnchen um das Futter im Käfig, wenn sie am nächsten Tag geschlachtet werden sollen. Man wisse ja nicht, ob das Reich noch länger bestehe, und schließlich sei es wichtiger, sich ums Essen als ums Reich zu kümmern. Ihm sei es schließlich egal, wer herrsche, ein Franzose oder ein Deutscher. – Diese Replik des Charinus ist zweifellos auf die aktuellen Fragen des Nürnberger Reichstags bezogen und hinterfragt zugleich ironisch die Relevanz des Verhandelten für den einzelnen Bürger. Der Reichstag zu Nürnberg befasste sich in erster Linie mit vier Themen:30 mit dem Schisma,31 mit dem Konflikt zwischen dem Reich und der Schweiz sowie den 29
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Haye [Anm. 27], S. 265 f. übersetzt die Suicenses als »Elsässer« und deutet die ganze Passage so, als beziehe sie sich auf den Armagnaken-Einfall im Elsass. Kaemmerer [Anm. 24], Einleitung, S. 226–228. Ebd., Nr. 163–196, S. 328–409.
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Armagnaken,32 mit der Osmanengefahr33 und (angesichts der weltpolitischen Ereignisse etwas in den Hintergrund gerückt) mit dem Erbschaftsstreit in Böhmen. Alle vier Themen sind hier angesprochen. Dass Enea Silvio das Problem der ArmagnakenTruppen an erster Stelle platziert, dürfte angesichts der Aktualität der Sache wenig erstaunen. Am 26. August 1444 hatten die von Friedrich III. etwas unvorsichtig gegen die Schweiz zu Hilfe gerufenen französischen Armagnaken bei der Schlacht zu St. Jakob an der Birs ein Schrecken erregendes Massaker unter den Schweizern angerichtet und daraufhin begonnen, Teile des Reichs für Frankreich zu erobern. Während des Reichstags, als die Neuigkeiten über die Armagnaken eintrafen,34 erfuhr Friedrich für sein Verhalten heftige Kritik.35 Auch später nahm Enea Silvio Piccolomini wiederholt kritisch Stellung zu diesem Problem und mahnte Friedrich zu einem entschiedenen Eingreifen. Neben den selbst ins Land gerufenen Feinden (wenngleich sie Friedrich III. als frömbdes gross Volck aus Frankchreich bezeichnet)36 interessieren noch andere ›externe‹ Feinde, die Franzosen und v. a. die Osmanen, gegen die Wladislaw III. von Ungarn zur Zeit des Reichstags einen Kreuzzug leitete, der am 10. November 1444 mit der Schlacht bei Warna katastrophal enden sollte. Immer wieder betont Enea auch später, wie wichtig es sei, Ungarn im Kampf gegen die Osmanen zu stützen, um Europa zu schützen.37 Angesichts dieser Bedrohung erscheinen interne Streitigkeiten im Reich (wie etwa der Erbschaftsstreit in Böhmen) geradezu als ein Hühnerkampf – und auch das Schisma, das und dessen Auslöser Enea schon 1440 in seinem ‘Libellus dialogorum de generalis concilii autoritate et gestis Basiliensium’ ironisch betrachtet38 und dessen Aufhebung er im ‘Pentalogus de rebus ecclesiae et imperii’ 1443 gefordert hatte,39 erschien als ein unnötiges selbstgemachtes Problem gegenüber der globalen Gefahr. Mit den Worten des Charinus werden also die aktuellen Probleme des Reichstags in der Exposition eines Theaterstücks angesprochen, das während dieses Reichstags von einem poeta laureatus verfasst worden ist. Dieser Bezug auf die aktuelle Versammlung könnte als ein Interpretationshinweis für das gesamte Stück dienen. Weitere solche Hinweise folgen an mehreren anderen Stellen der Komödie. In der nächsten, der fünften Szene, kommt Archimenides, ein Freund der beiden Kleriker, zu Canthara, der Kupplerin, in deren Haus das Abendessen schon bereitet 32 33
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Ebd., Nr. 208–223, S. 428–463. Vgl. ebd., Nr. 125, S. 276 f.: Kardinal Julian Caesarini bittet am 21.5.1444 den Kaiser, dass man auf dem Nürnberger Reichstag Maßnahmen gegen sprucissimam Macometi sectam und ihre Verbreitung durch die saraceni ergreife. Kaemmerer [Anm. 24], Nr. 208, S. 428 f. Ebd., Nr. 211–218, S. 435–447; vgl. Haye [Anm. 27], S. 242. Ebd., Nr. 215, S. 441 f. Vgl. Enea Silvio Piccolomini, Constantinopolitana clades (Rede, Frankfurt, 15.10.1454), in: Pius II., Pii II orationes politicae et ecclesiasticae, hg. von Johannes Dominicus Mansi, Bd. 1, Lucca 1755, S. 271: Sive vincitur Hungaria sive coacta iungitur Turcis, neque Italia neque Germania tuta erit neque satis Rhenus Gallos securos reddet. Worstbrock [Anm. 3], Sp. 647. Ebd., Sp. 648 f.
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ist und jeder auf die Gäste wartet. Canthara preist ihren alten Wein, den sie aus einem großen Kelch trinkt, und erklärt dabei, dass ihr Name eine Pluralform von cantharus, ‘Becher’, ‘Kelch’, sei. Sie sagt: Theucris hec largior et Boemis pocula (V. 208). Der Kelch sei größer als der der Türken und Böhmen. Hier wird also noch einmal auf zwei Probleme des Reichstags verwiesen, die damit als große Belastungen gedeutet werden. Welches aber ist die Last, die größer ist als die der Türken und der Böhmen? Ist es das Warten oder ist es die Zerrissenheit zwischen den verschiedenen Freiern? In Szene 8 versucht Sedulius seinen Kameraden Charinus zu trösten. Dieser ist entsetzt, dass die Mädchen weggegangen sind, um andere Männer zu treffen. Sedulius vergleicht die Prostituierte mit einer prosperierenden Stadt: Nam scortum fortunati est oppidi simile, quod rem non servat sine multis viris (V. 402 f.).40 Sie kann ohne zahlreiche Männer ihren Status nicht aufrechterhalten, d. h. nicht existieren. Diese Aussage müsste in anderem Kontext nicht auffallen, im Aufführungs- oder Entstehungskontext eines Reichstags aber dürfte eine Assoziation mit den zahlreichen versammelten Männern zumindest angedacht sein. In Szene 15 beklagt sich Dyophanes, einer der beiden Kleriker, über die Art und Weise, in der die Hetären ihn und seinen Freund Theobolus behandelt haben. Er erinnert sich an frühere, ähnliche Situationen: Dyophanes: Bachidem colui Maguntie. Hec me frustra occepit habere; ego dissimulare; illa me reposcere; revertor. Dum cena coquitur, miles adest; orat me Bachis cedere militi. Ego irasci, illa rogitare magis: amplectitur, osculatur, tractitat. Ego inter basiandum arripio dentibus nasum et fugio. [. . .] At quid illud? Dixin tibi quo pacto Senis dilaniarim mecam? Congrio:
Plus milies.
(V. 700–710)
In Mainz habe er Bacchis umworben, sie habe vergeblich versucht, Besitz von ihm zu ergreifen, er aber habe sich zurückgezogen. Daraufhin habe sie ihn erneut umworben, er kehrte zurück. Dann wurde ein Mahl zubereitet, und da war ein Soldat zugegen, vor dem Bacchis ihn bat zu weichen. Das aber habe Dyophanes erzürnt, während sie um so inständiger bat, ihn umarmte, küsste, streichelte. Er aber, mitten im Küssen, biss ihr die Nase ab und eilte davon. All das aber, so erklärt er kurz darauf, sei nichts dagegen, dass er in Siena eine Hetäre regelrecht zerfetzt habe – was er, wie ihm sein Diener Congrio lakonisch bestätigt, schon mehr als tausendmal erzählt hat. 40
Dies ist ein leicht abgeändertes Zitat aus Plautus’ ‘Cistellaria’, V. 80 f.: verum enim meretrix fortunati est oppidi simillima: / non potest suam rem obtinere sola sine multis viris. Titus Maccius Plautus, Komödien, hg., übers. und komm. von Peter Rau, Darmstadt 2007. Vgl. Cecchini [Anm. 4], S. 21, Stellenkommentar.
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Diese Schilderungen könnten Dyophanes als eine extrem grausame Gestalt erscheinen lassen. Ausgehend aber von der in der achten Szene getroffenen Aussage, dass Prostituierte nur dann existieren können, wenn viele Männer vorhanden sind, bietet sich eine übertragene Interpretation des Zerreißens der Hetäre an: Es könnte auch eine plötzliche Auflösung einer Versammlung von Männern bedeuten, ein Zerreißen gleichsam der ›Stadt‹, mit der die Hetäre verglichen worden war. – Im Juni 1423, während Enea Silvio in Siena studierte, wurde die Synode von Pavia nach Siena verlegt. Spätestens im März 1424 erfuhr der Papst von antipäpstlichen Tendenzen auf der Synode, und deshalb schickte er seinen Legaten Domenico Capranica, um die Synode aufzulösen. Die nächste Synode sollte 1431 in Basel stattfinden. Enea Silvio besuchte diese Synode als Sekretär des Domenico Capranica. Es war die Synode, die das Schisma begründete und die den Grundstein für Eneas Karriere legte. Deshalb ist es unzweifelhaft, dass Enea wusste, was in Siena vorgefallen war. Weniger lang zurück als die Angelegenheit in Siena, die Dyophanes schon 1000mal erzählt hat, liegt der Vorfall in Mainz. Im Jahr 1441 (also 18 Jahre nach der Auflösung der Synode von Siena) fand ein Konzil in Mainz statt, auf dem das Schisma eindringlich diskutiert wurde. Das Abendessen, bei dem die beiden konkurrierenden Freier sich in der Erzählung begegnen, könnte für das Konzil stehen, auf dem sich die Vertreter der beiden Päpste trafen. Piccolomini war zu dieser Zeit gerade der Sekretär des Gegenpapstes Felix. Er zeigt sich in seinen Berichten schwer beeindruckt von den Vertretern des Papstes, nämlich Nicolaus Cusanus und Juan Carvajal. Nach einem hoch theologischen Disput zwischen den beiden Parteien, der jedoch zu keinem Ergebnis führte, gingen die päpstlichen Repräsentanten schlagartig weg. Dadurch verursachten sie indirekt die Auflösung des Konzils, da es seiner prominentesten und wichtigsten Gäste beraubt war,41 so wie die Hetäre ihrer Nase beraubt war und mit dieser ihre Existenzgrundlage in ihrem Gewerbe verlor. Dyophanes, der einmal mit Capranica, einmal mit Cusanus und Carvajal zu identifizieren ist, also in jedem Fall mit dem Abgesandten des Papstes, dem officialis curiae (um die Abkürzung offi über dem Namen ›Dyophanes‹ zu deuten) gleichgesetzt werden kann, hat die Prostituierten entweder eines wichtigen Teils ihres Gesichts beraubt oder aber sie in Fetzen gerissen: Demnach darf man wohl die Huren als metaphorische Abbilder für die Synode bzw. das Konzil deuten. Folglich dürfen wir auch Chrysis, die Hetäre, deren Name der Krise entspricht, derentwegen man nach Nürnberg ging, (oder aber auch Cantharas ganzes Hurenhaus) mit dem Reichstag in Nürnberg (stellvertretend evtl. für alle Reichstage) identifizieren. Das könnte erklären, weshalb es Enea so wichtig war zu betonen, dass das Stück in Nürnberg entstanden ist. Canthara, die dem Hurenhaus vorsteht, könnte demnach entweder den Kaiser selbst repräsentieren oder die zentralen Kräfte des Reichs. Diese müssen große Kelche leeren, größer als die Kelche der Türken oder Böhmen, d. h., es muss für den Kaiser noch größere Belastungen geben als die Türken und die Böhmen. 41
Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Friedrich III. 1. Abteilung: 1440–41, hg. von Hermann Herre (DRA, Ältere Reihe, 15), Gotha 1914, S. 861.
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Wenn wir in Canthara den engen Kreis um Friedrich sehen, dann erschließt sich uns auch eine andere Szene im Spiel: Als Charinus, der in der vierten Szene behauptet hat, sich nicht für die Dinge des Reichs zu interessieren, sich in der achten Szene fragt, wie er in Cantharas Haus gelangen könnte, fordert ihn Lybiphanes (der Diener des Sedulius) auf, ihm eine Münze zu geben: Cedo argentum; cuius est ymagine / sygnatum? (V. 428 f.) – Diese Frage nach dem Abbild auf der Münze wie auch die Antwort, Cesaris (V. 428), sind aus Mt 22,15–22 entnommen. Überraschend ist die Fortsetzung des Dialogs: Lybiphanes erwidert: At hec novit Cesarem, / et te lubentius quam Lubentiam / agnoscet (V. 429–431): Diesen Kaiser kenne Canthara und sie werde ihn noch lieber haben als die Lust, wenn er ihr diesen Kaiser (d. h. Geld) zeige. Durch die biblische Anspielung wird hier Canthara, die Geldgierige, die keinen anderen Kaiser (und keinen anderen Gott) anerkennt als das Geld, als besonders negativ charakterisiert, negativer als man es für eine Kupplerin erwarten könnte, deren Profitdenken selbstverständlich ist. Wenn man allerdings in Canthara ein Abbild des engsten Kreises um Friedrich sieht, dann wirft dies ein sehr negatives Licht auf den Hof, der nur dem Geld des Kaisers dient, nicht ihm selbst. Deshalb kann man den Hof natürlich auch, wie Lybiphanes es beschreibt, mit Geld für sich gewinnen. Ein weiteres zweifelhaftes Licht wird im Text auf Friedrich und seinen Hof geworfen: Während der langen Zeit, als die beiden Kleriker auf die Hetären warten, damit das Abendessen (der Reichstag) stattfinden kann, wird der Koch ungeduldig. Schließlich erliegt er der Versuchung, etwas von den angerichteten Platten zu essen. Sed huius quid si crus alterum voro gruis? Facile hoc genus avis dicam monopedum, que semper in pratis uno consistit pede. (Szene 7, V. 369–371)
Er überlegt sich, dass es nicht schlimm sei, wenn er eines der Beine eines Kranichs essen würde, da man leicht behaupten könne, dass diese Vogelart einbeinig sei, da der Kranich ja auf der Wiese immer auf einem Bein stehe. Diese gewitzte Entschuldigung für den Raub eines dürren Kranichbeins erhält eine zweite, tiefere Dimension, wenn man die Darstellung des Kranichs in der ‘Naturalis historia’ (X,30) des Plinius, welche die Frühhumanisten mit besonderem Eifer rezipierten, mit bedenkt. Dort heißt es, dass, wenn eine Gruppe von Kranichen sich irgendwo niederlasse, um zu schlafen, einer von ihnen wach bleibe und die Verantwortung für die ganze Gruppe übernehme. Er halte dann einen Stein in den Krallen eines Fußes und hebe diesen hoch, so dass, falls er einschlafen sollte, der Stein herunterfalle und ihn aufwecke. Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit gilt daher der Kranich als ein Symbol für Wachsamkeit und Verantwortung für die Gesellschaft. Wenn nun der Koch behaupten will, der Kranich habe nur ein Bein, widerspricht er diesem Bild der Wachsamkeit. In der Tat hatte der ›Kranich‹, der die Verantwortung für die gesamte Gemeinschaft, das Reich und die gesamte christliche Welt, übernehmen sollte, sich verfehlt und war dabei, seinen Fehler zu wiederholen: Er hatte unachtsam die Armagnaken ins Reich geholt, und er tat nichts, um Europa gegen die Osmanen zu schützen, ebenso wenig sah er seine Verpflichtung, dem Schisma endlich ein Ende zu setzen. Ist aber der Kaiser
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selbst schuld daran, oder war es sein Hof, der ihm das zweite Bein nahm und ihm damit verwehrte, seiner Aufgabe nachzukommen? Seit der Synode von Siena hatte Enea Silvio die Fronten mehrfach gewechselt: Von der Seite des Papstes war er auf die Seite des Konzils von Basel gewechselt, und in Nürnberg stand er kurz davor, seine Seite erneut zu wechseln, zurück zum Papst.42 Ebenso wechseln die beiden Hetären von den zwei Klerikern, deren Namen ›Theobolus‹ und ›Dyophanes‹ sie als Repräsentanten der göttlich-kirchlichen Seite markieren, zu den weltlichen Freiern Charinus und Sedulius und bekehren sich schließlich doch wieder zu den von ihnen geliebten Klerikern. Piccolomini hätte es sich gewünscht, dass der Kaiser denselben Weg beschritt und das Reich mit dem Papst versöhnte. Es war aber zu erwarten, dass das Reich seine Neutralität (oder Unentschiedenheit) zwischen Papst und Gegenpapst nicht aufgäbe, weshalb Enea Silvio besonders unzufrieden mit dem Fortgang des Nürnberger Reichstags war. Lybiphanes: Eum qui amat hominem miserrimum. Charinus: Imo, ecastor, qui pendet multo est miserior!43 Sed consule, obsecro atque reobsecro, mihi. (V. 415–417)
Denjenigen, der liebt, halte er für den beklagenswertesten Menschen, erklärt Lybiphanes in Szene 8. Charinus wendet ein, dass es dem, der unentschieden sei, noch weit übler gehe. Um aber nicht in der Klage zu verharren, bittet er flehend um Rat. Die eine Partei ringt mühsam um die Entscheidung, ob sie bleiben oder gehen sollte, die andere Seite aber will sich gerade nicht entscheiden. Canthara will nicht, dass ihre Mädchen sich je nur einem Freier hingeben. Ebenso wenig wollten Friedrich III. und seine engsten Berater die Neutralität des Reichs aufgeben.44 Zusammenfassend sei folgende Interpretation der Komödie gewagt: Das Spiel dient einer ironischen, aber wohlwollenden Kritik der Haltung des Kaisers und seiner engsten Berater (denen es nicht immer um den Kaiser selbst, sondern um Gewinn gehe) sowie des Nürnberger Reichstags. Gehüllt in das Gewand einer Hurenkomödie, wird der Reichstag, das ›Hurenhaus‹, das nur von einem Zusammenkommen vieler Männer leben kann, kritisch dargestellt als ein Ort, der von der Unentschiedenheit lebt. Die Unentschiedenheit, die Freundschaft mit beiden Parteien des Schismas aber kann auf Dauer nur zu Konflikten führen. Im Bild der Hetäre, die sich mal für die eine, mal für die andere, dann wieder für die erste Seite entschieden hat, gibt sich Enea selbst zu erkennen, der sich exemplarisch für die intellektuellen Kräfte im 42 43
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Vgl. Worstbrock [Anm. 3], Sp. 635–637. Dieser Dialog ist – für diesen Hinweis danke ich Herrn Frank Bezner – ein leicht abgeändertes Zitat von Plautus’ ‘Asinaria’, V. 616 f.: Leonida: O Libane, uti miser est homo qui amat. Libanus: Immo hercle vero, qui pendet multo est miserior. Bei Plautus bedeutet pendet ‘hängt’ im Sinne von ‘erhängt sein’. Diese Bedeutung aber ist im gegebenen Kontext auszuschließen, da in ‘Chrysis’ weder eine Gefahr für die Liebenden noch eine sonstige gefährliche Angelegenheit wie die Betrugs- und Diebstahlgeschichte in ‘Asinaria’ thematisiert wird. Zum ‘Pentalogus’ des Enea Silvio Piccolomini als einem Ausdruck der Kritik des Dichters an der ›Schlaffheit‹ des jungen Herrschers vgl. Widmer [Anm. 2], S. 48.
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Reich sieht. Seine endgültige Entscheidung für die Kleriker aber entspricht einer Liebe, die ebenso wie die Namen und der Stand der beiden Freier darauf hinweist, dass dies die Seite des ›echten‹ Papstes sei. Mit dem Spiel scheint es Enea dem Kaiser nahezulegen, dass er eine Entscheidung zu fällen habe, ggf. auch gegen seine Räte, aber im Sinne des Reiches – und zwar eine Entscheidung für den Papst. Diese gehöre zu den Pflichten eines wachsamen, aufmerksamen Kaisers, der leider schon mehrfach nicht aufmerksam war – geblendet durch seine falschen, eigensinnigen Berater. Im Mai 1444, bevor der Nürnberger Reichstag zusammentraf, schrieb Enea an den päpstlichen Legaten Juan Carvajal, auf seine Frage, was er sich vom Reichstag erwarte, dürfe er in seiner Position nicht antworten; er könne nur als Dichter eine Prophezeiung schreiben, quia poetarum est presagia scribere: Er erwarte nicht, dass der Nürnberger Reichstag auch nur im Geringsten steriler sein werde als die anderen, denn: fecunde sunt omnes diete, quelibet in ventre alteram habet.45 Wieder vergleicht hier Enea den Reichstag mit einer Frau: Jeder Reichstag geht bereits mit dem nächsten schwanger. Eine Lösung aus diesem Zirkel scheint es nicht zu geben – es sei denn, dass, um wieder im Bild der ‘Chrysis’ zu sprechen, endlich die ersehnte Versöhnung mit den Vertretern des Papstes stattfinde. Eine Hochzeit zwischen den Huren und den Klerikern freilich wird es auch in der Komödie ‘Chrysis’ nicht geben. Die Kleriker nämlich betonen stolz ihr Privileg, ihre Allianzen so oft zu wechseln, wie sie es wollen. Damit aber muss die Hetäre eine Hetäre bleiben und ist weiter von Reichstagen, von Ansammlungen vieler Männer, abhängig. Die Politik wird nicht zu einem Ruhestand kommen. Mit einer solchen verschlüsselten politischen Aussage in einer Komödie wäre – wofern man meiner Deutung folgen möchte – Enea Silvio ein Vorreiter einer literarischen Tendenz, die sich später u. a. bei Johannes Reuchlin und dem Celtis-Umkreis beobachten lässt.46 Dass freilich gerade die auf Reichstagen präsentierte Literatur, bedingt durch den Entstehungs- und Aufführungskontext, nicht unpolitisch war, liegt nahe und ist auch wiederholt beobachtet worden.47 Eine systematische Erforschung allerdings des (versteckten) kritischen Potenzials im Korpus der für Reichstage entworfenen Werke steht noch aus.
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Enea Silvio Piccolomini an Juan Carvajal, Wien 20. Mai 1444, ebd., S. 192–195; Wolkan [Anm. 1], I,139. Dietl [Anm. 11], bes. S. 160–174. Ich danke Herrn Kollegen Reinhard Strohm, Oxford, für einen Hinweis auf politische Symphonien auf Reichstagen.
Die Editionen der ‘Klage’ Hartmanns von Aue von Kurt Gärtner
Von allen Werken Hartmanns ist seine ‘Klage’, die allgemein als ein Frühwerk angesehen wird, von der Forschung am wenigsten beachtet worden. Dies zeigen auch die editorischen Bemühungen um die ‘Klage’. Nach den im 19. Jahrhundert erschienenen Ausgaben von Moriz Haupt und Fedor Bech sind erst in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder neue Ausgaben erstellt worden, dann allerdings zwischen 1968 und 1979 gleich drei konkurrierende Neuausgaben, die inzwischen jedoch sämtlich wieder vergriffen sind. Ich werde im Folgenden zunächst kurz auf die Überlieferung der ‘Klage’ eingehen (I), dann einen Überblick über die bisher erschienenen Editionen des 19. Jahrhunderts (II) und des 20. Jahrhunderts (III) geben und schließlich einen Vorschlag für eine Neuausgabe machen (IV), bei der ich auf Rat und Hilfe des Jubilars hoffe.
I Die ‘Klage’ ist nur im Ambraser Heldenbuch überliefert, dem Cod. Ser. nova 2663 der Österreichischen Nationalbibliothek.1 Nach der herkömmlichen Gliederung teilt man die in dem umfangreichen Codex überlieferten Werke in vier Bereiche, einen ersten mit Hartmanns Werken im Mittelpunkt, einen umfangreichen zweiten mit Heldenepik, einen dritten mit österreichischer Kleinepik und schließlich einen kurzen Anhang mit Wolframs ‘Titurel’ und dem ‘Priester Johannes-Brief’. Der erste Bereich umfasst die folgenden Werke: 1ra – 2rb 2va – 5vc 5vc – 22rc 1
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1. Strickers ‘Frauenehre’ (unvollständig, nur V. 1321–1820, Hs. d),2 2. ‘Mauritius von Crauˆn’ (einzige Hs.),3 3. Hartmann von Aue, ‘Iwein’ (Hs. d),4
Vgl. Johannes Janota, Ambraser Heldenbuch, in: 2VL 1 (1978), Sp. 323–327 (mit der wichtigsten Lit.); Beschreibungen von Hermann Menhardt, Verzeichnis der altdeutschen literarischen Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek, 3 Bde. (Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur 13), Berlin 1960/61, S. 1469–1478, und Franz Unterkircher, Ambraser Heldenbuch. Vollständige Faksimile-Ausgabe im Originalformat des Codex Vindobonensis ser. nova 2663 der Österreichischen Nationalbibliothek. Kommentar (Codices Selecti 43), Graz 1973. Nach der Ausgabe von Klaus Hofmann, Strickers ‘Frauenehre’. Überlieferung, Textkritik, Edition, literaturgeschichtliche Einordnung, Marburg 1976. Mauritius von Crauˆn, hg. von Heimo Reinitzer (ATB 113), Tübingen 2000. Hartmann von Aue, Iwein, der Ritter mit dem Löwen, hg. von Emil Henrici. Erster Teil: Text, Zweiter Teil: Anmerkungen (Germanistische Handbibliothek VIII), Halle a. d. S. 1891 und 1893, für den Vergleich mit der Überlieferung im Ambraser Heldenbuch besser geeignet als die Standardausgabe: Iwein. Eine Erzählung von Hartmann von Aue, hg. von Georg Friedrich Benecke und Karl Lachmann. Neu bearbeitet von Ludwig Wolff. Siebente Aus-
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22rc –26va 4. Hartmann von Aue, ‘Die Klage’ (auch ‘Erstes Büchlein’; einzige Hs.),5 26va – 28rb 5. ‘Das Büchlein’ (auch ‘Zweites Büchlein’; einzige Hs.),6 28rb – 30rb 6. ‘Der Mantel’ (unvollständig, Schluß fehlt, einzige Hs.);7 direkt anschließend ohne Rubrik und ohne eigenen Anfang folgt: 30rb – 50vb 7. Hartmann von Aue, ‘Erec’ (Anfang fehlt und Lücke in der Mitte, Hs. A).8 Fast 45 von 50 Blättern dieses ersten Bereichs werden mit Hartmanns Werken gefüllt, mehr als ein Fünftel der gesamten Handschrift. Sieht man von den beiden ersten Werken sowie vom pseudo-hartmannschen ‘Zweiten Büchlein’ und dem ‘Mantel’Fragment ab, so haben wir einen ausgesprochenen Œuvre-Block vor uns. Der Codex wurde zwischen 1504 und 1515/16 von Hans Ried für Kaiser Maximilian I. geschrieben und enthält, soweit das nachprüfbar ist, nur Werke, die vor 1300 entstanden sind. Die vielen Unika machen diese Sammlung zu einem einzigartigen Objekt der Mittelalterphilologie. Nicht nur die Textkritik der in dieser Handschrift unikal überlieferten Werke, sondern auch die Textgeschichte und die Frage nach den Vorstufen und Vorlagen aller 25 überlieferten Texte gehören zu den spannendsten Aufgaben, die sich einer an den Überlieferungsfakten orientierten Forschung stellen. Für den Hartmann-Block ist eine Sammelhandschrift oder gar Œuvre-Handschrift als Vorlage wohl nicht ganz auszuschließen, zumindest dürfen als Vorstufen Überlieferungsgemeinschaften angenommen werden wie die so gut wie sichere von ‘Mantel’ und ‘Erec’ und wohl auch die von ‘Klage’ und ‘Zweitem Büchlein’, schließlich auch die heterogene Kombination von Strickers ‘Pfaffen Amis’ und ‘Iwein’. Bei der Untersuchung des einzelnen Textes muss immer die Kopistenleistung Hans Rieds in den Mittelpunkt gerückt werden, gerade nachdem wir über ihn und seine Sprache seit kurzem mehr erfahren können durch das von Angela Mura bekannt gemachte umfangreiche Zollregister von seiner Hand.9 Außerdem hat man bei der Betrachtung des
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gabe. Band 1: Text, Band 2: Handschriftenübersicht, Anmerkungen und Lesarten, Berlin 1968. Hartmann von Aue, Die Klage. Das (zweite) Büchlein aus dem Ambraser Heldenbuch, hg. von Herta Zutt, Berlin 1968 [mit synoptischem Abdruck einer Transkription der Handschrift]; Das Klagebüchlein Hartmanns von Aue und das Zweite Büchlein, hg. von Ludwig Wolff (Altdeutsche Texte in kritischen Ausgaben 4), München 1972, und Hartmann von Aue, Das Büchlein. Nach den Vorarbeiten von Arno Schirokauer zu Ende geführt und hg. von Petrus W. Tax (Philologische Studien und Quellen 75), Berlin 1979. Ausgaben siehe vorige Anmerkung. Zur Verfasserschaft vgl. zuletzt Thomas Bein, »mit fremden Pegasusen pflügen«. Untersuchungen zu Authentizitätsproblemen in mittelhochdeutscher Lyrik und Lyrikphilologie, Berlin 1998, S. 289–295. Zum Werktitel vgl. Wolf Gewehr, Hartmanns ‘Klagebüchlein’ als Gattungsproblem, in: ZfdPh 91 (1972), S. 1–16. Das Ambraser ‘Mantel’-Fragment nach der einzigen Handschrift neu herausgegeben von Werner Schröder (Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main 33,5), Stuttgart 1995, S. 121–177. Erec von Hartmann von Aue. Mit einem Abdruck der neuen Wolfenbütteler und Zwettler Erec-Fragmente, hg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff, 7. Aufl. besorgt von Kurt Gärtner (ATB 39), Tübingen 2006. Angela Mura, Spuren einer verlorenen Bibliothek. Bozen und seine Rolle bei der Entstehung
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Einzeltextes in der Vorlagenfrage stets die gesamte Handschrift vergleichend heranzuziehen, denn nur so lässt sich über Rieds Schreib- und Sprachgebrauch auch in den unikal überlieferten Texten mehr Aufschluss erzielen. Dies gilt für den ‘Erec’ wie für die ‘Klage’; zu beiden Werken hat Albert Leitzmann detaillierte Untersuchungen zur Kopistenleistung Rieds vorgelegt, die immer noch grundlegend sind.10 Leitzmann hat schließlich auch darauf hingewiesen, dass von den Herausgebern der ‘Klage’ im 19. Jahrhundert keiner das Ambraser Heldenbuch selbst eingesehen hat. Im Falle des ‘Erec’ wie der ‘Klage’ bildete eine von der Wiener Bibliothek veranlasste Kopie die Grundlage für die erste kritische Ausgabe.11 Für die drei Ausgaben des 20. Jahrhunderts wurden aber stets Photographien der Handschrift herangezogen.
II Die ersten editorischen Bemühungen um die ‘Klage’ setzen mit Friedrich Heinrich von der Hagen (1780–1856) ein, der als letztes Gedicht in der zweiten Nachlese zu seinen ‘Minnesingern’ den an die Dame gerichteten Schlussteil der ‘Klage’ kritisch edierte.12 Von der Hagen erkannte den kunstvollen Aufbau dieses Teils, der in 15 Strophen gegliedert ist, von denen jede gegenüber der vorausgehenden um zwei Verse abnimmt, bis aus den 32 Versen der ersten Strophe vier Verse der letzten geworden sind. Er zählte die Strophen durch von 1 bis 15 und bezeichnete das Stück als ‘Leich’. Von der Hagen nahm zahlreiche Besserungen vor, die sich meist mit denen späterer Herausgeber decken.13 Auch lokalisierte er den Ausfall zweier Verse richtig nach 1799 statt schon nach 1796 wie die Ausgaben des 19. Jahrhunderts. Das ‘Zweite Büchlein’ schrieb er in seinem Überblick über die Dichter nicht Hartmann zu bzw. er stellte gar nicht die Frage, ob es sich um ein Werk Hartmanns handeln könnte.14 Den ersten vollständigen kritischen Text der ‘Klage’ veröffentlichte Moriz Haupt (1808–1874) in einem 1842 erschienenen Bändchen, das Hartmanns Lieder, die beiden Büchlein und den ‘Armen Heinrich’ enthielt.15 Zum Werktitel schreibt er in der
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des Ambraser Heldenbuchs (1504–1516), in: cristallıˆn wort. Hartmann-Studien 1 (2007). Rahmenthema: Das Ambraser Heldenbuch, hg. von Waltraud Fritsch-Rößler, Wien 2007, S. 59– 128; vgl. Kurt Gärtner, Hartmann von Aue im Ambraser Heldenbuch, in: ebd., S. 199–212. Albert Leitzmann, Die Ambraser Erecüberlieferung, in: PBB 59 (1935), S. 143–234, und ders., Zu den Ambraser Büchlein, in: PBB 57 (1933), S. 413–417. In seinem Erec-Beitrag gibt Leitzmann S. 189–200 auch einen Überblick über die bisherige Beurteilung der Kopierpraxis Rieds, allerdings ohne Kenntnis der Arbeiten von Hubert Schützner, Die Abschrift des Iwein im Ambraser Heldenbuch, Diss. masch. Wien 1930, und Rudolf Zimmerl, Hans Rieds Nibelungenkopie, Diss. masch. Wien 1930. Vgl. Leitzmann, Zu den Ambraser Büchlein [Anm. 10], S. 416. Minnesinger. Deutsche Liederdichter des zwölften, dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts, aus allen bekannten Handschriften und früheren Drucken gesammelt und berichtigt [. . .] von Friedrich Heinrich von der Hagen, 4 Bde., Leipzig 1838 (Nachdr. Aalen 1963), hier der Schluss des Teilbandes 3,1, S. 368ff–hh. So z. B. zu V. 1657 vil; 1693 vrument, 1697 enwerde, 1730 niht, 1837 mich, 1842 war, 1886 er. Minnesinger [Anm. 12], Teilband 4, S. 274 f. Die Lieder und Büchlein und der Arme Heinrich von Hartmann von Aue, hg. von Moriz Haupt, Leipzig 1842; die ‘Klage’ S. 25–85.
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Einleitung (S. VI f.): »[. . .] die beiden ungedruckten büchlein, denen ich diesen namen gegeben habe weil das zweite sich selbst so nennt und das erste derselben gattung angehört«. Zur Verfasserschaft des Zweiten Büchleins stellt er fest (S. VIII): »zum glück ahnte ich, ein gedicht das mitten zwischen Hartmannischen steht, zwischen dem ersten büchlein und dem Erec, bl. 26–28, werde wohl auch von Hartmann sein: jetzt wird niemand daran zweifeln, obwohl sich der dichter nicht nennt.« Als Hauptgrund für die Zuschreibung an Hartmann nennt er die Selbstzitate, besonders die Verse 121– 153, die vielfach den gleichen Wortlaut haben wie Hartmanns Lied MF 214,12. Die fortgesetzten wörtlichen Anlehnungen an alle Dichtungen Hartmanns, einschließlich seines vermutlich letzten Werkes, des ‘Iwein’, waren – neben reimtechnischen und anderen Merkmalen – für die spätere Forschung jedoch der Hauptgrund für die Ablehnung der Zuschreibung. Auch unterscheidet sich die sehr verderbte Überlieferung der ‘Klage’ auffallend von der ausgezeichneten Überlieferung des ‘Zweiten Büchleins’ im Ambraser Heldenbuch. Dennoch erscheint auch in den jüngsten Ausgaben noch nach dem Vorbild Haupts das ‘Zweite Büchlein’ zusammen mit der ‘Klage’. Nachdem 1827 die Ausgabe des ‘Iwein’ von Georg Friedrich Benecke und Karl Lachmann,16 1838 die des ‘Gregorius’ von Lachmann17 und schließlich 1839 Haupts Ausgabe des ‘Erec’ erschienen waren,18 lag nun mit Haupts Edition der ‘Klage’ und der Lieder das gesamte Werk Hartmanns von Aue in kritischen Ausgaben vor. In einer Selbstanzeige der Ausgabe mit der ‘Klage’ resümiert Haupt die editorischen Bemühungen um Hartmanns Werke:19 Zusammenstellung und Herausgabe dieses Buches veranlassten zwei ungedruckte Gedichte Hartmanns von Aue, die ich, mit einem im dreizehnten Jahrhunderte gangbaren und von dem zweiten selbst gebrauchten Ausdrucke, Büchlein genannt habe, weil unter der Bezeichnung Liebesbriefe Niemand Gedichte von 1914 und von 826 Zeilen vermuthen würde. Es schien mir rathsam, diesen Büchlein, die ich aus arger Entstellung nur mit der freundlichen Hilfe des Hrn. Prof. Lachmann herausarbeiten konnte, Hartmanns Lieder und den armen Heinrich beizufügen, damit ein viertes Bändchen zusammenfasste, was ausser dem Erec, dem Gregorius und dem Iwein von diesem Dichter uns übrig ist.
Auf die mangelnde Qualität der Textüberlieferung und die Hilfe Lachmanns hatte Haupt schon in der Einleitung zur Ausgabe des Büchleins hingewiesen:20 dieses büchlein ist in der handschrift auf das ärgste verderbt und ich hätte es aus dieser zerrüttung mit allem fleisse (und an mühe habe ich es nicht fehlen lassen) nicht in leidliche gestalt zu bringen vermocht, wenn nicht der scharfsinn Lachmanns, dessen beistand und gewohnte güte auch bei den übrigen gedichten mich erfreut und ermuntert hat, mir zur hilfe gekommen wäre. dennoch warten noch manche stellen auf verbesserung.
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Iwein der riter mit dem lewen, getihtet von dem hern Hartman dienstman ze Ouwe, hg. von Georg Friedrich Benecke und Karl Lachmann, Berlin 1827. Gregorius. Eine Erzählung von Hartmann von Aue, hg. von Karl Lachmann, Berlin 1838. Erec. Eine Erzählung von Hartmann von Aue, hg. von Moriz Haupt, Leipzig 1839. Repertorium der gesammten deutschen Literatur 33 (1842), S. 475 f. Haupt [Anm. 15], S. VII.
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Haupt hat die Ambraser Handschrift freilich nie selbst eingesehen, sondern stützte sich für seine Ausgabe wie schon beim ‘Erec’ auf eine nicht ganz fehlerfreie Abschrift, die er »der gefälligkeit des aufsehers der Ambraser sammlung, des herrn Joseph Bergmann,« verdankte.21 Nur in der Kennzeichnung der Initialen scheint er seiner Abschrift nicht getraut zu haben und hat deshalb die Übereinstimmung der handschriftlichen Initialen mit den Abschnittsanfängen, die in seiner Ausgabe mit eingerückten Zeilen und Großbuchstaben am Zeilenanfang gekennzeichnet sind, im Apparat nicht festgehalten. An rund 50 Stellen hat Lachmann Besserungen zum edierten Text vorgeschlagen, die Haupt fast alle übernommen hat. Er selbst hat an vielen Stellen den in der späten Handschrift verderbt überlieferten Text durch seine Verbesserungen verständlich gemacht, von denen der größte Teil in die späteren Ausgaben übernommen worden ist. Für den einen Vers 1295, den er nicht zu bessern wusste, setzt er den Wortlaut der Handschrift in den Text und weist im Apparat auf das Problem hin. Haupts Ausgabe bietet einen nach dem Vorbild Lachmanns normalisierten Text und einen übersichtlich gehaltenen Lesartenapparat unter dem Text. Auf die sprachlichen Besonderheiten der handschriftlichen Überlieferung weist er ganz selten hin.22 Nur gelegentlich sind im Apparat erläuternde Anmerkungen zum Verständnis des Textes geboten. Für weit über 100 Jahre hatte Haupts Ausgabe kanonische Geltung, sie bot die wissenschaftliche Textgrundlage für die Forschung, nach ihr wurde in der Regel auch die ‘Klage’ zitiert. Auf Haupts Text geht auch noch die kleine Auswahl von Stücken aus der ‘Klage’ zurück, die Friedrich Maurer 1958 veröffentlichte.23 Eine zweite Auflage der Ausgabe Haupts besorgte Ernst Martin 1881;24 die Lieder sind darin weggelassen, weil sie inzwischen in ‘Minnesangs Frühling’ Aufnahme gefunden hatten.25 In dieser Ausgabe »sind die nachbesserungen in Haupts handexemplar und die grossentheils damit zusammenfallenden in den anmerkungen zur zweiten auflage des Erec« an über 60 Stellen eingetragen worden.26 Dabei handelt es sich in der Mehrzahl um die rund 50 Besserungsvorschläge, die Wilhelm Wackernagel 1844 veröffentlicht hatte.27 Alle Änderungen zu den Lesarten in Haupts Apparat 21
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Vgl. die Einleitung zur Ausgabe [Anm. 15], S. VII; dazu die Kritik Leitzmanns, in: PBB 57 [Anm. 10], S. 416 f. mit einer Auflistung der zahlreichen Abschreibefehler in den Lesarten, die in von der Hagens Abdruck des Schlussgedichts [Anm. 12] richtig wiedergegeben sind. Z. B. zu V. 10 naˆch ir gebote heißt es im Apparat: »10. irem. so durchgängig possessive formen für den gen. ir.« Hartmann von Aue: Der »Arme Heinrich« nebst einer Auswahl aus der »Klage«, dem »Gregorius« und den »Liedern« (mit einem Wörterverzeichnis) hg. von Friedrich Maurer (Sammlung Göschen Band 38), Berlin 1958, S. 9–16, abgedruckt sind die Verse 1–82, 581– 640, 730–792, 1269–1348; 2., verb. Aufl. 1968. Der arme Heinrich und die Büchlein von Hartmann von Aue, hg. von Moriz Haupt. Zweite Auflage der »Lieder und Büchlein und des Armen Heinrich«, besorgt von Ernst Martin, Leipzig 1881. Des Minnesangs Frühling, hg. von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Leipzig 1857, S. 205– 218, Lesarten S. 315–320. Martin [Anm. 24], im Vorwort S. XVIII. Wilhelm Wackernagel, Zu Hartmann von Aue, in: ZfdA 4 (1844), S. 580.
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hatte Martin jedoch durch Joseph Seemüller an der Handschrift in Wien überprüfen lassen.28 Haupts Ausgabe bildete die Grundlage für die 25 Jahre später in Franz Pfeiffers populärer Reihe ›Deutsche Classiker des Mittelalters‹ erschienene Ausgabe von Fedor Bech (1821–1900), die 1867 zuerst herauskam und zwei weitere Auflagen (1873, 1891) erlebte sowie einen unveränderten Nachdruck der zuletzt von Bech besorgten 3. Auflage (1934).29 Bech äußerte gegen Haupt schon Zweifel an der Echtheit des ‘Zweiten Büchlens’30 und hatte den bis dahin gebrauchten Werktitel ‘Erstes Büchlein’ in der 3. Auflage in ‘Klage’ geändert nach der von Hartmann V. 30 gebrauchten Bezeichnung.31 Dem Programm der Reihe entsprechend, die mit ihren kommentierten Ausgaben die mittelhochdeutschen Dichtungen für einen weiten Leserkreis zugänglich machen wollte, versuchte Bech im 2. Teil seiner Hartmann-Ausgabe, die ursprünglich vor dem 1. Teil mit dem ‘Erec’ erscheinen sollte, noch reichlicher zu kommentieren und mit den ausführlichen Erklärungen zugleich »in die Sprache Hartmann’s einzuführen«.32 Was den Text betrifft, so hat sich Bech »in den Liedern und Büchlein, einzelne Stellen abgerechnet, den laufenden Textrecensionen angeschlossen«,33 d. h. dem Text Haupts. Für die 2. und 3. Auflage hatte er die inzwischen erschienenen textkritischen und literaturgeschichtlichen Beiträge berücksichtigt, insbesondere die von Hermann Paul34 und Franz Saran.35 In den fortlaufenden Erläuterungen zum mittelhochdeutschen Text liegt das Hauptverdienst der Ausgabe Bechs. Über die Probleme, die sich ihm dabei stellten, äußert er sich in der Einleitung zum 2. Teil seiner HartmannAusgabe:36 Das Verständniss der Sprache zu erschließen und zu fördern, hat sich der Ausleger nach Kräften bemüht, obwohl er bekennen muß, daß hie und da noch dunkle Stellen übrig geblieben sind, in denen es ihm beim besten Willen nicht hat gelingen wollen, den Schleier zu lüften. Zum größten Theile beruhen derartige Schwierigkeiten auf mangelhafter Überlieferung der Texte. Namentlich war dieß der Fall im ersten Büchlein; diese Dichtung weist verhältnissmäßig die meisten Punkte auf, welche die Kritik noch nicht zu bewältigen gewusst hat. 28 29
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Martin [Anm. 24], im Vorwort S. XIX. Hartmann von Aue, hg. von Fedor Bech. Zweiter Theil: Lieder. Erstes Büchlein. Zweites Büchlein. Greˆgorjus. Der Arme Heinrich, Leipzig 1867, 2. Auflage 1873; 3. Auflage [unter dem Titel: Lieder. Die Klage. Büchlein. Greˆgorjus. Der Arme Heinrich] 1891 (Deutsche Classiker des Mittelalters. Mit Wort- und Sacherklärungen, hg. von Franz Pfeiffer, 5. Band: Hartmann von Aue. Zweiter Theil); die ‘Klage’ S. 35–103. 1. Auflage [Anm. 29], S. 107 f. 3. Auflage [Anm. 29], S. VI; V. 29 f. daz was von Ouwe Hartman, / der ouch dirre k l a g e began. 1. und 2. Auflage [Anm. 29], S. VI. Ebd., S. VII. Hermann Paul, Kritische bemerkungen zu mittelhochdeutschen gedichten. 2. Zu Hartmanns erstem büchlein, in: PBB 1 (1874), S. 205–207. Franz Saran, Hartmann von Aue als Lyriker. Eine literarhistorische Untersuchung, Halle 1889. 1. Auflage [Anm. 29], S. V f., 2. Auflage, S. VI.
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Die Erläuterungen mit ihrer Fülle von Sprach- und Sacherklärungen sind immer wieder auch nachprüfbar gemacht durch Verweise auf Wörterbücher, Grammatiken, den Wortgebrauch in Hartmanns übrigen Werken und anderen mittelhochdeutschen Texten. Die stärkeren Abweichungen vom Text Haupts werden in der Regel begründet; in der 3. Auflage ist aber zu beobachten, dass Bech öfter zum Text Haupts zurückkehrt. Neu gegenüber Haupt waren in der 1. und 2. Auflage die zahlreichen Lesehilfen: Vor allem Verse mit beschwerten Hebungen und mehrsilbigen Senkungen waren durch Betonungszeichen und Elisionspunkte reguliert und die rhythmische Mehrdeutigkeit dadurch beseitigt worden. In der 3. Auflage hat Bech dann von metrischen Regulierungen abgesehen und diese Lesehilfen weggelassen; auch benutzte er nicht mehr den vorwiegend zur Kennzeichnung metrischer Verhältnisse gebrauchten Apostroph zur expliziten Markierung von Enklitika, Wortverkürzungen und Wortverschmelzungen. Aus heutiger Sicht scheint diese Skepsis gegenüber einer zu weit gehenden metrischen Regulierung durchaus berechtigt, denn für sein Frühwerk, zu dem die ‘Klage’ mit dem ‘Erec’ allgemein gerechnet wird, hatte Hartmann als Vorbild hauptsächlich die sehr viel freieren Formen des frühhöfischen Verses, den er dann aber weiterentwickelte.37 Neu gegenüber Haupt in allen Auflagen Bechs ist die Abkehr von der sparsamen Interpunktion nach dem Vorbild Lachmanns, die noch ganz von rhetorischen Prinzipien bestimmt ist und die Reimbrechung sehr viel deutlicher macht als die im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend von syntaktischen Prinzipien geprägte neuhochdeutsche Interpunktion, die von den Herausgebern inzwischen immer stärker auch für die Interpunktion mittelhochdeutscher Texte benutzt wurde. Freilich findet sich bei Bech noch keine Überinterpunktion nach Art der Duden-Prinzipien, sondern es werden z. B. übergeordneten Sätzen folgende Adverbialsätze, Relativsätze und dazSätze ohne Korrelat im vorausgehenden Satz nicht durch Kommata abgetrennt; die ohne Sprechpausen eng anschließenden Teilsätze, vor allem die Subjekt- und Objektsätze, geben dadurch noch deutlich ihren sprechsprachlichen Zusammenhang zu erkennen. Für die fortlaufende Erklärung des Textes ist Bechs Ausgabe bis heute die beste Grundlage geblieben, auch wenn er aus seiner Sicht nicht alle schwierigen Stellen des nur in der späten Ambraser Handschrift überlieferten Werkes zufriedenstellend deuten konnte. Bechs Hartmann-Ausgabe wurde von Haupt, der ganz im Banne des Schulstreits zwischen Lachmannianern und dem Kreis um Franz Pfeiffer stand, mit Absicht ignoriert.38 »Eine fachmännische besprechung ist niemals erschienen«, stellt 37
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Vgl. Helmut de Boor, Über dreisilbige und zweisilbige Komposita und Derivata im Nibelungenlied, bei Gottfried und Hartmann, in: PBB 94, Sonderband FS Hans Eggers (1972), S. 703–725, hier S. 719–725; Ursula Hennig, Untersuchungen zur frühmhd. Metrik am Beispiel der ‘Wiener Genesis’, Tübingen 1968 (Kap. 4: Die beschwerte Hebung im Erec Hartmanns von Aue), S. 187–246. Vgl. die schroffe Ablehnung Haupts zu Beginn des Anmerkungsteils der 2. Ausgabe seines ‘Erec’: Erec. Eine Erzählung von Hartmann von Aue, Zweite Ausgabe von Moriz Haupt, Leipzig 1871 (Nachdruck Hildesheim/New York 1979), S. 326 f.
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Albert Leitzmann 1939 fest, der auch auf die Hintergründe des Gelehrtenstreits näher eingeht.39 Auf der Grundlage der 2. Auflage Bechs hat Paul Piper 1892/93 in Joseph Kürschners Reihe ›Deutsche National-Litteratur‹ eine Auswahl von kurzen Stücken aus der ‘Klage’ veröffentlicht, die eingebettet sind in ein Resümee des Ganzen.40 Die rund 400 Verse umfassenden Teilabdrucke hat er vereinzelt noch weitgehender als Bech mit Lese- und Betonungshilfen in Form von Versakzenten und Elisionspunkten versehen.
III Nach der 3. Auflage von Bechs Ausgabe (1891) sind mehrere Arbeiten erschienen, die für die Feststellung der Sprachformen Hartmanns und in der Regel auch der ‘Klage’ von Bedeutung sind. Bech hatte bereits die Anmerkungen Lachmanns zum ‘Iwein’ und die Haupts zum ‘Erec’ herangezogen. Zu den nach 1891 erschienenen Arbeiten zur Sprache Hartmanns gehören u. a. die von Anton E. Schönbach,41 Konrad Zwierzina,42 Hendricus Sparnaay,43 Erich Gierach,44 Carl v. Kraus,45 Arno Schirokauer,46 Herta Zutt47 und die Hartmann-Konkordanz von Roy Boggs.48 39
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Leitzmann [Anm. 10], S. 162; vgl. auch: Eine Wissenschaft etabliert sich 1810–1870. Mit einer Einführung hg. von Johannes Janota (Deutsche Texte 53; Texte zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik 3), Tübingen 1980, S. 42–46. Höfische Epik. Zweiter Teil: Hartmann von Aue und seine Nachahmer, barb. von Paul Piper (Deutsche National-Litteratur Bd. 4, Abt. 2, 2. Teil), Stuttgart o. J. [1892/93], S. 27–37. Die längsten abgedruckten Stücke V. 344–373 und 427–484 mit 30 bzw. 58 Versen. Anton E. Schönbach, Über Hartmann von Aue. Drei Bücher Untersuchungen, Graz 1894, bes. S. 381–393 (Stellenregister zur ‘Klage’ = ‘Erstes Büchlein’ S. 484–488). Konrad Zwierzina, Beobachtungen zum Reimgebrauch Hartmanns und Wolframs, in: Abhandlungen zur germanischen Philologie. Festgabe für R. Heinzel, Halle 1898, S. 437–511; ders., Mittelhochdeutsche Studien, in: ZfdA 44 (1900), S. 1–116, 249–316, 345–406 und ZfdA 45 (1901), S. 19–100, 253–313, 317–419 (die für Hartmann einschlägigen Stellen sind über die Register zu den beiden Zeitschriftenbänden zu ermitteln). Hendricus Sparnaay, Hartmann von Aue. Studien zu einer Biographie I/II, Halle 1933/1938, Nachdr. in einem Band mit einem Vorwort zur Neuausgabe von Christoph Cormeau, Darmstadt 1975. Erich Gierach, Untersuchungen zum Armen Heinrich. I. Die Bruchstücke des Armen Heinrich, in: ZfdA 54 (1913), S. 257–295; II: Fehler in der Textbehandlung, in: ZfdA 55 (1917), S. 303–336; III: Schreibformen von A im kritischen Text, ebd., S. 503–523; IV: Weitere Verbesserungsvorschläge, ebd., S. 523–561; V. Das Handschriftenverhältnis, ebd., S. 561– 568. Carl v. Kraus, Das sogenannte II. Büchlein und Hartmanns Werke, in: Abhandlungen zur germanischen Philologie. Festgabe für R. Heinzel, Halle 1898, S. 111–172. Arnold Schirokauer, Studien zur mhd. Reimgrammatik, in: PBB 47 (1925), S. 1–128 (Sachregister S. 123–125). Herta Zutt, Der Gebrauch der Negation in der Gießener Iwein-Handschrift, in: Alemannica. Landeskundliche Beiträge. FS Bruno Boesch (Alemannisches Jahrbuch 1973/75), S. 373–391. Roy A. Boggs, Hartmann von Aue. Lemmatisierte Konkordanz zum Gesamtwerk, 2 Bde. (Indices zur deutschen Literatur 12/13), Nendeln 1979 (mit Reimindex und rückläufigem Verzeichnis der Lemmata).
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Der Textkritik der ‘Klage’ kamen die Bemühungen um die editorische Erschließung der andern im Ambraser Heldenbuch überlieferten Werke und die Erforschung der Schreibgewohnheiten ihres Schreibers Hans Ried direkt oder indirekt zugute. Diese Arbeiten setzten bereits 1865 mit Karl Bartschs Rechenschaftsbericht über seine Ausgabe der ‘Kudrun’ ein49 und fanden in mehreren Beiträgen von Edward Schröder50 ihre Fortsetzung.51 Albert Leitzmann nahm 1935 in seinen Vorstudien zur Ausgabe des ‘Erec’ in der ›Altdeutschen Textbibliothek‹ die früheren Ansätze auf. Um sich dem Text der Vorlage Rieds bzw. seiner autornahen Vorstufe zu nähern, zog Leitzmann52 methodisch umsichtig immer wieder die Überlieferung der alten Wolfenbütteler ‘Erec’-Fragmente heran, welche die Formen des 13. Jahrhunderts bewahren und die er gegen Konrad Zwierzinas Abwertung53 konsequent verteidigte. Ebenso verglich er die ‘Iwein’-Überlieferung und die der anderen mehrfach überlieferten Werke des Ambraser Heldenbuchs, um die jüngeren Sonderformen Rieds zu ermitteln und diese als sekundär zu erweisen. Leitzmann zeigte überzeugend, wie nur das Sprachwissen des Forschers, seine Kenntnisse des Sprach- und Bedeutungswandels, zu einer angemessenen Beurteilung der Kopistenleistung von Hans Ried führen können und dass die Beurteilung dieser Leistung viel positiver ausfällt, als Edward Schröders Charakterisierung von Ried als »raffiniertem Faulpelz« suggeriert.54 Eine zusammenfassende Untersuchung, die alle Werke mit Mehrfachüberlieferung einbezieht, fehlt allerdings bis heute. Die verdienstvolle Arbeit von Thomas P. Thornton über die Schreibgewohnheiten Hans Rieds im Ambraser Heldenbuch55 strebte dies wohl an, doch sie beruht auf dem Stichprobenverfahren und bietet daher eine zu schmale Vergleichsbasis für die nur unikal im Ambraser Heldenbuch überlieferten Werke wie die ‘Klage’. Für die Textkritik der ‘Klage’ nur in beschränktem Umfang erheblich sind die Darstellungen in den Literaturgeschichten und die Arbeiten zur Gliederung des Textes, die z. T. auch mit zahlensymbolischen Ansätzen operieren, zu denen das kunstvoll gereimte Schlussgedicht mit seinen jeweils um zwei Verse verminderten Strophen einlädt.56 49
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Karl Bartsch, Beiträge zur Geschichte und Kritik der Kudrun, in: Germania 10 (1865), S. 41–92 und 148–224. Insbesondere der methodisch wichtige Beitrag von Edward Schröder, Der Ambraser Wolfdietrich. Grundlagen und Grundsätze der Textkritik, in: Nachrichten der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Phil.-hist. Klasse 1931, S. 210–240; ders., Zur Kritik von Hartmanns Büchlein, in: ZfdA 56 (1919), S. 247 f. Vgl. den Überblick bei Leitzmann [Anm. 10], S. 189–200. Ebd., S. 185, 205, 211 f. Konrad Zwierzina, Mittelhochdeutsche Studien 13. Zur Textkritik des Erec, in: ZfdA 45 (1901), S. 317–368. Schröder [Anm. 50], S. 213; zitiert von Leitzmann [Anm. 10], S. 145. Thomas P. Thornton, Die Schreibgewohnheiten Hans Rieds im Ambraser Heldenbuch, Diss. (masch.) Baltimore 1953; Auszug in: ZfdPh 81 (1962), S. 52–82. Zu diesen Beiträgen vgl. Wolff [Anm. 5], S. 10–13, und die Überblicke bei Peter Wapnewski, Hartmann von Aue, 7., erg. Aufl. (Sammlung Metzler 17), Stuttgart 1979, S. 43–46; Christoph Cormeau und Wilhelm Störmer, Hartmann von Aue. Epoche − Werk − Wirkung, 2., überarb. Aufl. (Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte), München 1993, S. 98–109; Jürgen
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Erst 1968 erschien wieder eine neue Ausgabe unter dem Werktitel ‘Die Klage’, die Herta Zutt erarbeitet hatte.57 Die Ausgabe umfasst auch ‘Das (zweite) Büchlein’, als dessen Autor nicht länger Hartmann angesehen wurde. Dem kritischen Text ist eine buchstabengetreue Transkription des im Ambraser Heldenbuch überlieferten Wortlauts gegenübergestellt, die immer eine genaue Kontrolle des edierten Textes erlaubt; in diesem sind durch Klammerzeichen alle wesentlichen Abweichungen von der Überlieferung kenntlich gemacht. Unter dem kritischen Text sind in einem Lesartenapparat die Konjekturen und Ergänzungen aus den textkritischen Beiträgen zur ‘Klage’ und vor allem aus den Ausgaben Haupts und Bechs verzeichnet. Da Herta Zutt in den meisten Fällen die Besserungen Haupts übernimmt, ist Haupt als Urheber im einzelnen nicht immer angegeben, sondern nur dann, wenn von ihm abgewichen wird. Der kritische Text ist sprachlich und metrisch normalisiert; allerdings sind bedauerlicherweise keine Längezeichen gesetzt, auch ist u. a. die Schreibung vor w nicht konsequent geregelt (owe für ouweˆ, niwan für niuwan, aber riuwe usw.), und des öfteren sind die Sprachformen der Handschrift gegen Hartmanns Formen beibehalten. Die Einteilung in Abschnitte folgt den Initialen der Handschrift.58 Alle wesentlichen Abweichungen von der Überlieferung und die z. T. vorzüglichen Besserungen sind in einem Anmerkungsteil begründet, auf den im Apparat durch einen Asterisk verwiesen wird. Wie Ludwig Wolff in seiner Rezension der Ausgabe feststellt, »finden wir übersichtlich alles beisammen, was wir brauchen.«59 Die Ausgabe Herta Zutts bietet eine so gut wie vollständige Bilanz der textkritischen Bemühungen um die ‘Klage’ und ist daher für jede Neuausgabe eine wertvolle Hilfe, zumal die Transkription der Handschrift den Blick auf das Überlieferte so bequem macht. Die Transkription ist wohl im Allgemeinen sehr sorgfältig, doch gibt es gelegentlich bei der Beurteilung der Wortzusammenschreibung und Getrenntschreibung Stellen, die anders beurteilt werden können. Bei der Textherstellung versucht Herta Zutt die jüngeren Sprachformen Hans Rieds durch das zu ersetzen, was die zahlreichen Arbeiten für den Sprachgebrauch Hartmanns ermittelt haben. Sie zieht auch immer wieder mit gutem Gewinn die Arbeit von Hubert Schützner60 zur Iwein-Überlieferung im Ambraser Heldenbuch heran; überhaupt wird von ihr Hartmanns Sprachgebrauch im ‘Iwein’ stärker berücksichtigt als der in den andern Werken. In einigen Fällen werden die Ergebnisse der früheren Untersuchungen allerdings nicht in dem Maße herangezogen, wie das wünschenswert gewesen wäre.61 Die mehr oder weniger konsequente Übernahme der Initialensetzung der Handschrift führt allerdings dazu, dass an manchen Stellen der überlieferte Text geändert werden muss.62
57 58
59 60 61 62
Wolf, Einführung in das Werk Hartmanns von Aue (Einführungen Germanistik), Darmstadt 2007, S. 118–123. Siehe Anm. 5. Zur Begründung vgl. Herta Zutt, Zur formalen Struktur von Hartmanns ‘Klage’, in: ZfdPh 87 (1968), S. 359–372. Ludwig Wolff, in: AfdA 80 (1969), S. 151–155, hier S. 151. Zu Schützner [Anm. 10], vgl. Herta Zutts Einleitung S. XI f. und XIV. Beispiele dafür in der Rezension Wolffs [Anm. 59], S. 152–154. Vgl. Wolff [Anm. 59], S. 154 f.
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Als die Neuausgabe Herta Zutts erschien, war eine weitere Neuausgabe schon sehr weit gediehen, die Ludwig Wolff (1892–1968) für die ›Altdeutsche Textbibliothek‹ vorbereitete, die dann aber 1972 in der von Werner Schröder herausgegebenen Reihe ›Altdeutsche Texte in kritischen Ausgaben‹ erschien.63 Der Werktitel ‘Klagebüchlein’ stellt einen Kompromiss zwischen Haupts Gattungsbezeichnung ‘Büchlein’ und der inhaltlichen Bestimmung klage in V. 30 des Prologs dar, das die französische Gattungsbezeichnung complainte übersetzt; die Ausgabe umfasst auch das längst als Epigonenarbeit erkannte und Hartmann abgesprochene ‘Zweite Büchlein’. Ludwig Wolff war als Herausgeber aller epischen Dichtungen Hartmanns wie kein anderer in der Lage, einen kritischen Text aus der späten und verderbten Überlieferung herzustellen. In der Einleitung gibt er einen kurzen Überblick über die wesentlichen Merkmale der Sprache der Ambraser Handschrift, über die bisherigen Ausgaben, die Arbeiten zur Sprache Hartmanns und zur Textkritik der ‘Klage’ und schließlich zur literaturgeschichtlichen Stellung und zu Gattungsfragen. Wolffs Ausgabe steht ganz und gar in der Tradition Haupts und Lachmanns. Der Apparat ist schmal und übersichtlich, die Besserungen Haupts sind meist nicht weiter als solche kenntlich gemacht; die Konjekturen und Emendationen anderer werden in der Regel mit Siglen der Forschernamen, die in runde Klammern gesetzt sind, verzeichnet; diese Siglen sind in einem Schlüssel zum Apparat zwischen Einleitung und Text aufgelöst. In den Anmerkungen werden alle wesentlichen Änderungen, die Wolff selber gegenüber der Handschrift vorgenommen hat, kurz begründet und auch abweichende Textherstellungen angeführt, dabei werden zahlreiche Hinweise auf die Parallelen in Hartmanns übrigen Werken, auf die früheren Ausgaben und – sehr viel umfassender als bei Herta Zutt – auf die einschlägigen Arbeiten zu Hartmanns Sprachgebrauch gegeben. Wie in seinen andern Ausgaben von Hartmanns Werken hat Wolff die für die klassische mittelhochdeutsche Reimpaardichtung nach Lachmanns Vorbild von Haupt eingeführte Interpunktion beibehalten. Für eine Neuausgabe bildet der Text von Ludwig Wolff mit seiner umfassenden Berücksichtigung der Forschung, vor allem der Arbeiten zur Feststellung von Hartmanns Sprachformen, und mit seiner Normalisierung, die auch die für das klassische Mittelhochdeutsche so wesentliche Kennzeichnung der Langvokale durch Zirkumflexe berücksichtigt, eine ideale Basis. Sehr willkommen für die Arbeit an einer künftigen Neuedition sind auch die von Herta Zutt in ihrem Apparat präsentierten Besserungsvorschläge der Forschung und eine ganze Reihe gelungener eigener Besserungen sowie schließlich ihre Transkription des im Ambraser Heldenbuch überlieferten Textes. Von unterschiedlichem Wert für eine Neuausgabe ist dagegen die Edition, die Arno Schirokauer (1899–1954) begonnen hatte und die nach seinem Tode auf Bitten seiner Witwe von Petrus W. Tax – zwischen 1968 und vermutlich 1972 – abgeschlossen wurde und schließlich unter dem Werktitel ‘Das Büchlein’ 1979 erschien.64 Die Aus63 64
Siehe Anm. 5. Siehe Anm. 5.
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gabe sollte von vorherein nicht das pseudo-hartmannsche ‘Büchlein’ umfassen, wie Tax in seinem Vorwort mitteilt, in dem er über die komplizierte Entstehungsgeschichte der Ausgabe und über seinen eigenen Anteil daran berichtet.65 Wie Herta Zutt plante Schirokauer ebenfalls eine synoptische Ausgabe mit einem diplomatischen Abdruck der Handschrift und dem hergestellten Text; diesem sollten Anmerkungen und Erläuterungen beigegeben werden. Das nachgelassene Manuskript mit Transkription und hergestelltem Text reichte nur bis V. 1185; das restliche Drittel der Ausgabe mit Einschluss der Kommentierung versuchte Tax nach dem Muster des vorliegenden Teils und dessen, was er in Schirokauers Materialien und Notizen vorfand, zu vollenden. Als er von der Ausgabe Herta Zutts und der geplanten Faksimilierung des Ambraser Heldenbuchs erfuhr, verzichtete er auf die Transkription, die einen integralen Teil des ursprünglichen Editionskonzeptes bildete. Die Arbeiten an der Ausgabe scheinen 1972 bereits abgeschlossen gewesen zu sein, denn in einer Korrekturnote wird vermerkt, dass die inzwischen erschienene Ausgabe Ludwig Wolffs nicht mehr berücksichtigt werden konnte.66 Das Manuskript muss demnach mehrere Jahre im Verlag gelegen haben. Die Einleitung zur Ausgabe, für die Tax nur ein paar Zettel von Schirokauers Hand zur Verfügung hatte, behandelt auf einer halben Seite die »Überlieferungs- und Textgeschichte«, bringt anschließend Bemerkungen zu einem »Lebensabriß« und zur Gattungsfrage (»Was ist das Büchlein?«) und schließlich eine von Tax verfasste ausführliche Inhaltsanalyse, die aber für editorische Fragen unerheblich ist.67 Als Schüler von Carl v. Kraus war Schirokauer gut vertraut mit den Möglichkeiten der klassischen Textkritik; und er war durch seine Studien zur mittelhochdeutschen Reimgrammatik für die Ermittlung der Sprachformen Hartmanns aus der späten und teilweise sehr verderbten Überlieferung bestens gerüstet. Sein besonderes Augenmerk im Hinblick auf Hartmanns Sprache galt der alemannischen Urkundensprache, die er immer wieder heranzieht, um die in den Text gesetzten Formen zu rechtfertigen. Die Anmerkungen und Erläuterungen zum Text enthalten eine Reihe wertvoller Hinweise, sie decken sich zum Teil mit denen Ludwig Wolffs. Ein prinzipieller Mangel der Ausgabe ist jedoch – bedingt durch die Fortlassung der Transkription – die unregelmäßige Verzeichnung der handschriftlichen Lesarten.68 Das führt dazu, dass die Erläuterungen gelegentlich nur noch teilweise plausibel erscheinen oder aber überhaupt nicht mehr verständlich sind. Die Interpunktion zeigt am deutlichsten, dass zwei Herausgeber am Werk waren: Bis V. 1185 wird im Stile Lachmanns interpungiert und dabei in der Regel die Reimbrechung beachtet, danach aber nach den Duden-Regeln für das Neuhochdeutsche. Der kritische Text ist normalisiert und gelegentlich mit Elisionspunkten unter den tonlosen e versehen; den Wortlaut hat Schirokauer immer wieder an das urkundlich belegte Alemannische als der authentischen Sprache des jungen Hartmann anzugleichen versucht. Die Besserungen Schirokauers 65 66 67 68
Ebd., S. 7–12. Ebd., S. 11. Ebd., S. 16–30, die Inhaltsanalyse S. 19–30. Vgl. auch die Rezension von Herta Zutt, in: ZfdPh 102 (1983), S. 452–455, hier S. 453.
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sind in der Regel begründet, doch führt seine manchmal etwas gewagte Konjekturalkritik sogar zu neuen, bisher noch nicht im Mittelhochdeutschen belegten Wörtern.69 Die Ausgabe hätte einer systematischen Abschlusskorrektur bedurft und einer stringenten Darstellung der Editionsprinzipien. Es ist bedauerlich, dass Schirokauer sie nicht wie geplant selbst zu Ende führen konnte. Der Gewinn für die HartmannForschung wäre vermutlich bedeutend gewesen. Aus den drei beschriebenen modernen Ausgaben und der Ausgabe von Haupt hat Thomas L. Keller 1986 in einem synkretistischen Verfahren einen Lesetext hergestellt und diesen mit einer Übersetzung ins Englische versehen,70 bei der es sich um die erste und einzige Übersetzung in eine neuere Sprache überhaupt handelt, denn ins Neuhochdeutsche ist die ‘Klage’ bisher noch nicht übersetzt worden. Die Einleitung bietet kurze Hinweise auf Hartmanns Leben und Werke, seine Gönner, den Werktitel und die Gattungstradition der ‘Klage’; dem Überblick über den Inhalt der ‘Klage’ folgt eine ausführlichere Interpretation. Über die Textherstellung und Übersetzung heißt es in der kurzen »Final Note on the Edition and Translation«:71 The purpose of the following edition is to present a reliable text which is »readable« and yet as close to the manuscript as is logically possible as the basis for the present translation.
Aus den vorliegenden kritischen Editionen hat er einen normalisierten Mischtext erstellt, der wohl die Lesungen der Herausgeber, die zur Handschrift stimmen, bevorzugen soll, aber die Auswahl nirgends begründet, denn einen Apparat und Anmerkungen zum Text gibt es nicht. Edierter Text und Übersetzung stimmen auch nicht immer überein; denn die Übersetzung folgt gelegentlich dem Text eines anderen Herausgebers, der nicht in die Textmischung eingegangen ist.72 Für eine Neuausgabe, die nach dem Lesartenapparat in einem zweiten Apparat fortlaufende Erläuterungen zum Text bieten soll, ist jedoch die Übersetzung wertvoll.
69
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71 72
Im Wortverzeichnis S. 99–107, das zum größten Teil von Tax stammt, sind z. B. folgende in früheren Ausgaben der ‘Klage’ nicht vorkommende Wörter mit einem Asterisk versehen (er bedeutet: »meistens Lesung der Hs. oder Konjektur Schirokauers«), so z. B. entsprengen, entstaˆn, erhüeten, geiuzern, gerawen, vervliuhen (Verschreibung für vervliehen?), vrœnen; vgl. auch Zutt [Anm. 68], S. 454 f. Hartmann von Aue, Klagebüchlein ed., transl., and with an Introduction by Thomas L. Keller (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 450), Göppingen 1986. Ebd., S. XIX. Zwei Beispiele aus dem Anfang: V. 50/51: Die Interpunktion des Textes folgt Wolff (Komma nach V. 50, Punkt nach V. 51), die Übersetzung aber dem Text von Haupt, Zutt, Schirokauer (Punkt nach V. 50, Komma nach V. 51); V. 56–60: Der mit diu eingeleitete Relativsatz V. 59 wird bezogen auf den Plural diu dinc (Hs. dein ding) V. 58, denn es steht kein Komma nach V. 58, das Relativpronomen V. 59 diu (= diu dinc; Hs. die) im Plural kongruiert nicht mit dem Verb im Singular missezimt (missezimpt Hs.), das die Handschrift bietet (der Keller mit einem unvollständig übernommenen Vorschlag Leitzmanns den Vorzug gewähren will); die früheren Herausgeber haben aber um der Kongruenz willen mit der Lesung missezement den Plural des Verbs hergestellt, der sich auch in Kellers Übersetzung von V. 59 f. findet.
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IV Eine Neuausgabe ist ein Desiderat, nachdem keine der modernen Ausgaben im Buchhandel mehr erhältlich ist. Für eine Neuausgabe, die in der ›Altdeutschen Textbibliothek‹ (ATB) erscheinen soll, will ich daher im Folgenden eine Probe geben. Diese lehnt sich an die in der Reihe erschienenen Ausgaben von Hartmanns ‘Erec’73 und ‘Armem Heinrich’74 an und bietet aber zusätzlich nach dem Modell der letzten Auflage des ‘Gregorius’75 in einem zweiten Apparat fortlaufende Erläuterungen, die an vielen Stellen dem Muster von Fedor Bechs Ausgabe der ‘Klage’ verpflichtet, aber unter Einbeziehung der Forschungsergebnisse von über hundert Jahren neu erarbeitet sind. Zu den beiden Seiten mit den Abbildungen eines Probesatzes der Ausgabe gebe ich im Folgenden die Begründung für die Entscheidungen, die für den kritischen Text und den ersten Apparat maßgebend waren und zu einem gewissen Teil auch für die Erläuterungen im zweiten Apparat gelten. Beide Apparate sollten weitgehend aus sich selbst verständlich sein; die Forschernamen ohne Angabe einer Seitenzahl beziehen sich auf die Ausgaben, wenn sie mit einer Seitenzahl versehen sind, auf die oben genannten Beiträge zur Textkritik und Erklärung der ‘Klage’. Die Hinweise auf die Mittelhochdeutsche Grammatik (= Mhd. Gr.) von Hermann Paul beziehen sich auf deren 25. Auflage.76 V. 1 Im 2. App. zu walten sind grammatische Angabe und Konstruktion angeführt, weil sie vom Neuhochdeutschen abweichen. Für den Gen. von kraft gebraucht Hartmann die Analogieform kraft statt der lautgesetzlichen Form krefte; Schirokauer verweist dafür auf »Zwierzina, Beob. 487; Sparnaay I, 32«.77 V. 3 f. Im Text ist nach unde in V. 3 und 4 jeweils an bereits von Haupt ergänzt, die Ergänzung wird von Wolff z. St. mit Verweis auf Lachmann zu Iwein 3649 und das Iwein-Wörterbuch stichhaltig begründet; aber Zutt, Schirokauer und Keller folgen der Hs. V. 4 Im Text ist jungen statt alten der Hs. eine Besserung Haupts, die von den späteren Herausgebern allgemein akzeptiert wurde und wie alle übrigen allgemein akzeptierten Besserungen Haupts nicht besonders gekennzeichnet ist. V. 8 Im Text steht älliu mit Wolff statt alle der Hs. bzw. alliu aller andern Herausgeber, doch Schirokauer weist in der Anm. z. St. darauf hin: »älliu kommt der Mundart weit sicherer zu, ist aber nicht zu belegen, da der Reimtypus fehlt.« In den 73 74
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77
Siehe Anm. 8. Hartmann von Aue, Der arme Heinrich, hg. von Hermann Paul, neu bearb. von Kurt Gärtner, 17., durchges. Aufl. (ATB 3), Tübingen 2001. Gregorius von Hartmann von Aue, hg. von Hermann Paul, neu bearb. von Burghart Wachinger, 15., durchges. und erw. Aufl. (ATB 2), Tübingen 2004. Hermann Paul, Mittelhochdeutsche Grammatik, 25. Aufl. neu bearb. von Thomas Klein, Hans-Joachim Solms und Klaus-Peter Wegera, Tübingen 2007. Zwierzina [Anm. 42]; Sparnaay [Anm. 43].
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Hartmann-Ausgaben Wolffs sind die Formen unterschiedlich verteilt: im ‘Erec’ steht immer alliu, sonst älliu. Zur Entlastung des 1. App. werden in der Einleitung zur Ausgabe die Wörter bzw. Wortformen zusammengestellt, deren Form im kritischen Text regelmäßig abweicht von der Form in der Hs. V. 9 Im Text steht m u o s e i n i r gewalt ergeben gegen m u e s s e t m i t gewalt ergeben der Hs., eine allgemein akzeptierte Besserung Haupts. – Im 2. App. zu muose ist das nhd. Äquivalent angegeben, denn muose ist die ältere Form des Ind. Prät., die im 13. Jh. verdrängt wird durch die in Analogie zum Prät. der swV. gebildete Form muoste. In den Ausgaben Wolffs ist dies wieder unterschiedlich geregelt: im ‘Erec’ steht immer die jüngere Form muoste, sonst muose. Schirokauer weist in der Anm. z. St. darauf hin: »Ich folge [für die Form muose] der Argumentierung Gierachs, ZfdA 55, 519.« Vgl. auch Mhd. Gr. § M 100. V. 10 Im Text ist der Gen. ir des Pronomens statt der flektierten jungen adj. Form irem der Hs. gesetzt. In Haupts App. steht eine entsprechende generelle Anmerkung. Das flektierte Possessivpronomen gehört zu den regelmäßig abweichenden Formen, die in der Einleitung zusammengestellt sind. V. 11 Im 2. App. ist ze maˆze kommentiert, weil es missverstanden wurde in den Erläuterungen seit Bech (‘in mäßiger, bescheidener Weise’); Schirokauer z. St.: »ze maˆze = ‘angemessen, in mäßiger Weise’, gibt doch kaum einen Sinn; besser wäre uˆzer maˆze = ‘überaus’, für das auch metrische Überlegungen sprechen.« Ähnlich argumentiert Zutt und schlägt eine Änderung in über maˆze (Klage 1514) oder uˆz der/ uˆzer maˆze (Iwein 3274, 6633) vor und verweist zusätzlich darauf, dass ze maˆze im ‘Iwein’ »immer nur mit Ergänzung« belegt sei. Keller lässt ze maˆze unübersetzt. V. 12 schœne sinne: Zutt zweifelt, ob der Ausdruck »Hartmanns Sprachgebrauch entspricht«, und fasst in der Parallele Iwein 8141 schœne sinne unde jugent mit Benecke im Iwein-Wörterbuch die Form schœne als Subst.; sie erwägt daher die Besserung in guote sinne, zögert aber, diese an allen Stellen einzufügen. – schœne Iwein 8141 ist Adj., vgl. Ludwig Wolff: Schoene sinne. Zu einer Stelle im Iwein Hartmanns von Aue, in: Festschrift für Karl Bischoff, hg. von Günter Bellmann, Günter Eifler, Wolfgang Kleiber, Köln/Wien 1975, S. 325–327. – Schirokauer stellt in einer umfangreichen Anmerkung fest: »Wegen ihrer inneren und äußeren Schönheit wird er [der Dichter] zur Liebe verleitet; das Adjektiv kommt also entweder beiden zu oder nur dem letzten, denn sinne sind an sich schon ‘geistige Vorzüge’, aber lıˆp bedarf des auszeichnenden Adjektivs: durch ir sinne und schoenen lıˆp«; es folgen noch Hinweise und ausführliche Zitate aus der Literatur zu diesem Aspekt; in seinem nicht auf die Anmerkung genau abgestimmten kritischen Text liest er aber: durch schoene sinne und schoenen lıˆp. V. 13 Im Text setzen alle Herausgeber einen Punkt am Versende, Schirokauer – wohl versehentlich – ein Komma. In der Anm. zu begunde weist er auf die Doppelformen begunde/began in der ‘Klage’ hin und darauf, dass beide Formen »später im Reim vermieden werden« unter Berufung auf »Zwierzina, Beob. 465«.78 78
Zwierzina [Anm. 42].
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V. 14–18 Der Text wird unterschiedlich interpungiert: Haupt, Bech und Wolff setzen V. 16 in Parentheseklammern mit Komma danach; sie setzen Punkt nach V. 17 und beginnen einen neuen Satz mit V. 18, den Wolff auch als Abschnittsanfang kennzeichnet gegen die Hs., die eine Initiale schon bei V. 17 aufweist. Zutt, Schirokauer und Keller nehmen mit der Hs. einen Abschnittsanfang bei V. 17 an, mit dem sie einen neuen Satz beginnen. V. 16 fasst Zutt als Nachsatz und ändert daher die Wortstellung si sprach in sprach si; die Umstellung nach ihrer Ansicht »ist notwendig, wenn mit der Handschrift der Vers den ersten Abschnitt abschließt.« Im Neuhochdeutschen ist diese Umstellung wohl »notwendig«, aber nicht im Mittelhochdeutschen, wo das finite Verb nicht an der Spitze des Nachsatzes stehen kann; vgl. Mhd. Gr. S 224,2. V. 14 doˆ steht im Text aller Herausgeber gegen da in der Hs.; Ried ändert im ‘Erec’ so gut wie nie temporales do in lokales da, dagegen setzt er öfter do für lokales da. Daher könnte es bei der Angabe der Variante mit Haupt bleiben. V. 16 Die frühneuhochdeutsche Variante sprache mit analogischem -e der swV. in der 3. Pers. Ind. Prät. gehört besser zu den in der Einleitung zusammengestellten Formen, um den Apparat zu entlasten. – Im Text er solde sıˆs [= sıˆ es] erlaˆn: Der Gen. der Sache ist obligatorisch bei erlaˆn, seit Bech ist daher entsprechend gebessert; die Besserung wird von Zutt z. St. durch Verweise auf die Wörterbücher bestätigt. – solde ist mit Wolff gesetzt (seine Begründung in der Anm. zu V. 117) statt solte der Hs. und der übrigen Herausgeber. V. 19 Im Text steht die Besserung entorste mit Haupt, Bech, Wolff und Keller, torst ohne Negation und apokopiert bei Zutt, torste. bei Schirokauer. – Schirokauer zu nieman: »Alemannen vermeiden die abgeschwächte Form«.79 V. 20 ern eine ist eine von den modernen Herausgebern akzeptierte Konjektur Pauls80 (unter Verweis auf V. 310, so auch z. St. Wolff), bei Haupt und Bech heißt es er nimmer für er nymmer der Hs. V. 23 Im Text lesen ez Akk. alle Herausgeber bis auf Schirokauer, der für es Gen. plädiert mit Verweis auf »Paul-Gierach, Mhd. Gr., § 263 A. 3«. Der Gen. d. Sache bei verswıˆgen in der Stelle Gregorius V. 2426 sıˆt daz er michs verswigen haˆt, die Lexer, Mhd. Wb. 3, 263 als einzigen Beleg für verswıˆgen mit Akk. d. Pers. und Gen. d. Sache anführt, ist aber nicht haltbar, die neueren Ausgaben haben michz = mich ez. V. 25 Im Text wird niwan vermutlich aus metrischen Gründen von Haupt ergänzt und diese Ergänzung von Bech (1. und 2. Aufl.), Wolff, Zutt und Keller beibehalten; Bech (3. Aufl.) und Schirokauer (mit Begründung in der Anm. z. St.: niuwan macht den Vers »zu silbenreich und verursacht ein Accelerando, das der Stimmung der stillen Klage nicht günstig ist«) lassen sie dagegen mit der Hs. weg. Textliche Ände-
79 80
Schirokauer [Anm. 46]. Paul [Anm. 53], S. 205.
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rungen aus rein metrischen Gründen, wie sie bei Haupt und den Ausgaben des 19. Jahrhunderts vorgenommen wurden, sollten in der Neuausgabe soweit wie möglich zurückgedrängt werden. Im Lesartenapparat sollte die Konjektur Haupts jedoch wegen ihrer Übernahme in die modernen Ausgaben dokumentiert werden, aber nicht in einer Form, die den Apparat durch die Angabe aller Forscher, die mit Haupt niuwan lesen, überlastet. V. 26 Im Text steht hete mit Wolff, het mit der Hs. lesen Haupt und Bech; Wolff z. St. plädiert aus metrischen Gründen für hete und verweist auf Zwierzina, Beob. 497, der hete und haˆte für Hartmann annimmt. Zutt z. St.: »Ich setze hier, wie immer, hate ein, das Zwierzina und Sparnaay als frühe Form Hartmanns festgestellt haben.« Schirokauer zitiert z. St. Zwierzina, Beob. 498:81 »Hartmann sprach allzeit hete und haˆte« und verweist auf Boesch82 für das Alem. der Urkunden: »Im Prät. gehen die a- und e-Formen nebeneinander her«. Wolff setzt im Versinnern seiner Hartmann-Ausgaben überwiegend hete. Da Zutt auf Längezeichen verzichtet, ist nicht ohne weiteres erkennbar, ob es sich bei dem Stammvokal um eine Kürze oder Länge handelt. Wenn ein Herausgeber normalisiert, sollte er auch die für das Mittelhochdeutsche charakteristische Unterscheidung zwischen a und aˆ, o und oˆ sowie u und uˆ vornehmen, die ebenso zu den Normalansätzen gehören wie die Zeichen für den Sekundärumlaut. Für eine Ausgabe, die von Studierenden benutzt werden soll, gilt das erst recht. V. 28 Im Text setzt Schirokauer ohne Begründung in den Anmerkungen den Gen. es statt des Akk. ez (Versehen?); ez bevinden, mit Akk. also, ist eine Lieblingswendung Hartmanns. V. 29 Zur Lesart der Hs. von Awe herr Hartman bemerkt Schirokauer: »Mir ist keine Stelle bekannt, wo Hartmann sich als herre bezeichnet [. . .]« Zutt z. St.: »Das herr vor Hartmann [sic!] ist sicher Zusatz des Schreibers.« In der Großen Heidelberger (Manessischen) Liederhandschrift, Cpg 848, wird Hartman im Register und der Abv bildung, Bl. 5r bzw. 184v, Her Hartman von Owe (owe Bl. 5r) genannt,83 in der Weingartner Liederhandschrift, Stuttgart, LB Cod. HB XIII 1, S. 33, in der Bildüberschrift: H · HARTMAN · VON · OWE, das H für HER. V. 30 Wolff z. St. weist auf den Ersatz des Gen. durch den Akk. bei Hans Ried hin. – Schirokauer z. St. erwägt zu ouch im Text: »Vielleicht iu.« V. 33 Im Text lesen Schirokauer und Keller dıˆn sin mit der Hs. (dein syn); Schirokauer begründet dies in seinem Kommentar mit Verweis auf die Argumentation Schönbachs.84 Die übrigen Herausgeber haben die Besserung Haupts übernommen. 81 82
83
84
Zwierzina [Anm. 42]. Bruno Boesch, Untersuchungen zur alemannischen Urkundensprache des 13. Jahrhunderts. Laut- und Formenlehre, Bern 1946, S. 201. Zu den Standesbezeichnungen Hartmanns im Cpg 848 vgl. Joachim Bumke, Ministerialität und Ritterdichtung. Umrisse der Forschung, München 1976, Register s. v. Hartmann von Aue. Schönbach [Anm. 42], S. 470.
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Ich sehe außer metrischen Erwägungen keinen andern plausiblen Grund für ein Abgehen von der Hs. V. 34 Im Text steht danne bei allen Herausgebern außer Haupt und Zutt; Wolff und Schirokauer weisen z. St. darauf hin, dass danne und nicht denne Hartmanns Form ist. Da die Form im kritischen Text regelmäßig abweicht von der Form in der Hs., wird sie zur Entlastung des 1. App. nur in der Zusammenstellung in der Einleitung angeführt. V. 37 Im Text liest Wolff gegen alle übrigen Herausgeber den ichs [= ich es] getruˆwe und weist in der Anm. z. St. mit Beispielen aus dem ‘Iwein’ darauf hin, dass die jüngeren Hss. es vielfach durch sıˆn und des ersetzen. Doch nicht jedes des muss deshalb verdächtig sein, vgl. Greg. 596. V. 38 Zutt bessert geruˆwe (geraw Hs.) in ruˆwe mit der Begründung z. St., dass riuwen im ‘Iwein’ stets als Simplex überliefert sei. Die Argumentation mit den Iwein-Belegen ist zu einseitig, Hartmann gebraucht geriuwen in seinen übrigen Werken des öfteren.85 Ich habe mit den vorstehenden Anmerkungen ausführlich zu begründen versucht, wie ich bei Textherstellung und der Anlage der beiden Apparate der geplanten Ausgabe vorzugehen gedenke. Das Ergebnis meiner Überlegungen bieten die beiden Seiten mit den Abbildungen eines Probesatzes. Der neue Text wird nur in begrenztem Maße von dem Ludwig Wolffs abweichen. Eine wesentliche Neuerung wird jedoch darin bestehen, dass alle Eingriffe in den überlieferten Wortlaut, die über das Orthographische und Morphologische hinausgehen, durch Kursivdruck kenntlich gemacht sind. Wolffs Text bietet sonst aber ein gut abgesichertes Fundament für die weitere editorische Arbeit, weil er die einschlägige Forschung und vor allem die Arbeiten zur Ermittlung der Sprachformen Hartmanns schon umfassend ausgewertet hat. Im übrigen freue ich mich darauf, mit dem Jubilar die Probleme der Textherstellung eines nur im Ambraser Heldenbuch überlieferten Werkes diskutieren zu können, denn er selber ist durch die eigene editorische Arbeit86 bestens vertraut mit all den kniffligen Fragen, die sich bei der Beschäftigung mit der jungen Überlieferung eines alten Textes in der Handschrift des Hans Ried ergeben. 85 86
Vgl. Boggs [Anm. 48], S. 336. Herrand von Wildonie, Vier Erzählungen, hg. von Hanns Fischer, 3. Aufl. besorgt von Paul Sappler (ATB 51), Tübingen 1984. Die Erzählungen Herrands mit ihrer unikalen Überlieferung im Ambraser Heldenbuch stellen vor vergleichbare Probleme wie die Edition von Hartmanns ‘Klage’. Aber Editionsprobleme kann man mit Paul Sappler immer mit Gewinn diskutieren; Hilfe und Rat von der Heuristik bis zum Buchsatz vieler Ausgaben hat er immer reichlich und gerne gewährt, und von seinen eigenen Ausgaben ist viel zu lernen: Das Königsteiner Liederbuch. Ms. germ. qu. 719 Berlin, hg. von Paul Sappler (MTU 29), München 1970; Heinrich Kaufringer, Werke, hg. von Paul Sappler, I. Text, Tübingen 1972, II. Indices, Tübingen 1974; Die Lieder Neidharts, hg. von Edmund Wießner, fortgeführt von Hanns Fischer, 5., verb. Aufl. hg. von Paul Sappler, mit einem Melodienanhang von Helmut Lomnitzer (ATB 44), Tübingen 1999.
Die Editionen der ‘Klage’ Hartmanns von Aue
Beispielseite 1 der Neuedition der ‘Klage’, V. 1–20
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Beispielseite 2 der Neuedition der ‘Klage’, V. 21–39
Eine Augsburger Ordnung aus dem 14. Jahrhundert für die Schiff-Fahrt auf dem Lech von Thaddäus Steiner
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Di! sint die reht die der very mins Herren de! Bischofs fron Fischer hat !e Augspurg [2] Da! e o erst da! ist swenn er oder sin kneht auf dem wa!!er varent [3] vnd da! Wargger !u in e gesto!!et auf dem wa!!er. so sol Wargger [4] stille heben mit sinem schef vnd sol den veryen e e für la!!en varen [5] mit seinem schef: [6] Da! ander ist war ob der verge oder wargger fisch e westen vnder dem [7] yse an dem Leche . oder geng ab woltin la!!en . da! ensol entweder [8] v o e an den andern nit tun . vnd war da! sie got da fisch beriet . die [9] sol der very halb nemen . e o Vnd Wargger vnd Merbott da! ander tail [10] da! selb sond sie auch tun ze dem Naslaiche . so v e sol auch entweder [11] an den andern varen . [12] E! sol auch Wargger mit ainem scheff vnd e mit ainer segin varen . [13] vnd nit mit !wayn scheffen auf dem Lech: [14] E! hat auch Wargger mit kainem fischer !e Augspurg niht !e [15] !schaffent weder wenig noch vil hie di!halb de! e e Lechs [16] War auch ob die bruggen an dem Lech hin brachen vnd da! der Lech [17] al! gro!! e e war . so sol der very vnd Wargger !der obern bruggen [18] vnd allenthalb an dem vruar an e e dem Leche . die liut vber furen [19] mit ain ander . vnd swa! sie da mit ain ander verdienent e v da! sond [20] sie glich mit ain ander tailen . an an dem vruar !e Lechusen . da [21] hat . e Wargger aigen . vnd hat der Verye dar mit nit !e schaffent .
Der vorgelegte Text stammt aus dem Bischofsurbar von 1316,1 ist aber ein späterer Nachtrag, wie sich aus seiner Sprache und Schrift gegenüber dem Originaltext ergibt. Das Urbar selbst ist nämlich in lateinischer Sprache verfaßt, abgesehen von Namen und Fachausdrücken, während die Ordnung in spätmittelhochdeutscher Sprache ohne die sonst üblichen Initialen, in kleinerer Schrift und mit stärkerer Buchstabenverbindung niedergeschrieben wurde. Mittelhochdeutsche Langvokale (mins Herren, sin kneht, mit sinem schef, vnder dem yse, Lechusen, usw.) stehen neben vereinzelten Diphthongen (auf dem wa""er, mit seinem schef). Mhd. langes aˆ scheint gänzlich u v diphthongiert: hat, an, mhd. -ou- wird als -au- geschrieben (auch, Augspurg). Mit o e Überzeichen arbeitet der Schreiber beim Diphthong -u-, beim Umlaut von aˆ: a und e e e bei den Umlauten ü: v, u und ö: o. Eigenartig ist, daß der erste Abschnitt (Zeile 2–4), der ganz allgemein von der Begegnung der beiden Kontrahenten auf dem Wasser handelt, im Indikativ steht, also wie ein alltäglicher Vorgang behandelt wird. Alle anderen gelegentlich eintretenden Vorgänge stehen im Konjunktiv, wie etwas, das möglicherweise passieren kann oder e e e unter gewissen Bedingungen eintreten könnte (war ob . . .; westen; wolten; beriet; war e e auch; brachen; gro"" war). Die daraus resultierenden Handlungensanweisungen stehen aber durchaus im Indikativ, ebenso die Feststellung der Landestelle und des e Grundeigentums des Wargger im Schlußsatz (Z. 20/21), das Gegenstück zum ersten Abschnitt mit dem Privileg des Fergen (Z. 2–5). 1
Original im Staatsarchiv Augsburg HA MB Lit. 365, fol. 25v. Publiziert in: Monumenta Boica, Bd. 34, München 1856, S. 405 f.
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Thaddäus Steiner
Auffällig ist der Einsatz des Gerunds statt des neuhochdeutschen Infinitivs in e dem Satz: E" hat auch Wargger mit kainem fischer "e Augspurg niht "e "schaffent (Z. 14/15) und im letzten Verb: "e schaffent (Z. 21). Nur konservative Mundarten benutzen solche Formen noch heute. Eine Unklarheit könnte der verkürzt wirkende Satzbau in Z. 2/3 hervorrufen: da" o erst da" ist swenn . . . und da" Waergger zu in gesto""et. Dieses da" wäre man versucht als Artikel zu verstehen, es leitet aber einen Nebensatz ein und wird etwa nach dem Vorbild des ersten Nebensatzes mit ‘wenn’ oder ‘falls’ zu übersetzen sein. Das schwierigste sprachliche (und sachliche) Problem des Textes dürfte das Wort e Wargger sein. Schon die Bearbeiter des Schwäbischen Wörterbuchs standen ihm ratlos gegenüber.2 Ist es ein Appellativ, dann käme am ehesten mhd. we¨rker ‘Hande werker, Arbeiter’ als Grundlage in Frage. Dabei böte das -a- aus -e¨- keine Schwiee rigkeit, denn in Augsburg wird um diese Zeit auch baerg [barg] ‘Berg’ geschrieben.3 Allein die Schreibung -gg- aus k ließe sich damit wohl kaum erklären. Liegt aber ein Eigenname4 vor, wie es der stetige Gebrauch ohne Artikel und die mindestens überwiegende Großschreibung vermuten lassen, so ist zunächst an einen Herkunftsnamen zu denken, der sich aus dem um 1350 belegten Personennamen Waeringer5 (zu Wehe ringen, im 13. und 14. Jahrhundert als Waringen belegt)6 entwickelt hätte. Man müßte an den Schwund des unbetonten Mittelsilbenvokals -i- denken und an Assimilation von -ng- zu -gg-, was so freilich nicht belegbar ist. Eine lautlich unverfängliche Lösung ergibt sich aus dem allerdings selten belegten altdeutschen Personennamen Wardger/Wartger,7 dessen -tg- natürlich zu -gg- assimiliert wäre. Der Sekundärumlaut ergäbe sich auf Grund des germanischen *gaira, das ja noch in frühkarolingischen Urkunden als Gaire- geschrieben wird.8 Als Vergleichsbeispiel mag der genitivische Vorarlberger Ortsname Möggers dienen. Er ist 1353 als zem Oggers belegt, e e um 1450 mehrfach als zum Okers/Oggers.9 Seine Grundlage ist zweifellos der altˆ tgeˆr mit Assimilation und Umlaut. deutsche Personenname O e Falls die Deutung von Wargger als Personenname richtig ist, wird fast zur Gewißheit, daß es sich bei dieser Ordnung um das Ergebnis der Schlichtung eines Streites 2
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Hermann Fischer und Wilhelm Pfleiderer, Schwäbisches Wörterbuch, Tübingen 1924, Bd. VI, Sp. 435. Christian Schwab, Das Augsburger Offizialatsregister (1348–1352). Ein Dokument geistlicher Diözesangerichtsbarkeit (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht 25), Köln/Weimar/Wien 2001, 63r3, 107r2. Die Anregung dazu verdanke ich Herrn Simon Pickl, Sprachatlas von Bayerisch-Schwaben. Schwab [Anm. 3], 4v1. Walther E. Vock (Bearb.), Die Urkunden des Hochstifts Augsburg 769–1420 (Schwäbische Forschungsgemeinschaft, Reihe 2a, Bd. 7), Augsburg 1959, Reg. 113, 271, 289. Ernst Förstemann, Altdeutsches Namenbuch, Bd. I: Personennamen, 2. völlig umgearb. Aufl., Bonn 1900, Sp. 1539. Norbert Wagner, Mhd. Rüede-geˆr: ahd. Hruod-ge¯r. Das Problem seines Umlauts, in: Beiträge zur Namenforschung NF 24 (1989), S. 322–331. Thaddäus Steiner, Siedlungsnamen auf dem Pfänderrücken und seinem Nordwesthang, in: MONTFORT 38 (1986), S. 203–224, speziell S. 218.
Schiff-Fahrt auf dem Lech
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handelt, in dessen Verlauf die Sonderstellung des bischöflichen Fergen, zugleich ›Fronfischer‹, angefochten wurde. Seine Sonderstellung wird mit dem ›Vorfahrts‹Privileg wieder hergestellt. Allerdings wird in den folgenden Punkten ein kameradschaftliches, gleichgestelltes Verhältnis begründet oder erneuert. Der bischöfliche Fährmann und sein eventueller Konkurrent sollen mindestens in den Sonderfällen des Brückenbruches, des Fischfangs unter dem Eis und beim Laichen der Nasen gemeinsam vorgehen und den Ertrag teilen. Letzterer dürfte besonders ertragreich und arbeitsaufwendig gewesen sein, wenn man die Verhältnisse von der Iller in etwa auf den Lech übertragen darf. Der Fang der laichenden Nasen (auch Näsling oder Speier genannt, Chondostoma nasus) im Illernebenfluß Leubas hat sogar einen Ortsnamen hervorgerufen, nämlich Nasengrub.10 Die dortige Fangmethode wird im Fischereibuch des Fürststifts Kempten in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts folgendermaßen beschrieben: Naasen. Dise Fisch werden hierlandts in der Ihler der Mengen nach gefangen, und auch unter die Raufisch zu zehlen. Ihre Laichzeit ist in dem Monath April oder May fruhe und spath, nachdeme die Witterung sich eraignet. Wann die Ihler mittelmäßig groß anlauffet, so streichen selbe schaarenweis durch die Ihler herauff bis an die Leybas, wo sie alsdann zur Nachtzeit in die Leybas hineinrinnen und so bald solche in disem Fluß seyndt, ziehet man unten ein Garn für und sperret sie hinein. Morgens, so bald es Tag ist, fanget man selbe auf nachstehende Art heraus, nemblichen die Fischer und die hierzu bestellte Leuth sezen zwerchs durch den Bach ein Beeren an dem anderen, daß die Fisch nirgendswo durchrinnen können. Alsdann fangt man selbe mit denen Händen und Fischbeeren herauß und traget sie in denen Beeren in den negst an dem Bach gelegenen hirzu bereitheten Kalter, allwo in einem Fruhe Jahr auch schon über 10 bis 13.000 solche Naasen inner Zeit 10 oder 14 Tägen, nachdeme die Witterung geholffen, gefangen worden.11
Eine Tabelle über den Naasen Fang von 1756–1783 zeigt die riesigen Mengen des Fangergebnisses, die von knapp unter 2 000 bis über 13 000 Stück reichen.12 Erst ganz zum Schluß erfahren wir, wo das eigene Revier des Waerggers war: die Lechüberfahrt bei Lechhausen, also wohl auf der dem bischöflichen Fergen gegenüberliegenden Lechseite. Dort war er allein zuständig: und hat der verye dar mit nit "e schaffent.
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Richard Dertsch, Historisches Ortsnamenbuch von Bayern. Schwaben Band 5, Stadt- und Landkreis Kempten, München 1966, Nr. 842. Dort in Anm. 11 interessante Preisangaben für diese Fische. Das Fischereibuch des Fürststifts Kempten. Verfaßt von Benedict von Schönau, Stifts-Capitular und Fischerherr 1755–1785. Übertragen und kommentiert von Cornelia Oelwein, Augsburg 2007, Nr. 653. Ebd., Nr. 496.
Die ›Innsbrucker Spielhandschrift‹ Überlegungen zu einer Neuedition von Anne Auditor
Die in der sogenannten ›Innsbrucker Spielhandschrift‹ (Cod. 960 der Universitätsbibliothek Innsbruck) enthaltenen Texte, besonders das Osterspiel, sind in den vergangenen Jahren immer wieder von der Forschung in den Blick genommen worden. Bis heute besteht jedoch eine Diskrepanz zwischen dem lebhaften Forschungsinteresse an der Handschrift und der Verfügbarkeit der Texte in einer modernen Anforderungen genügenden Edition. Die einzige alle drei Spiele enthaltende Ausgabe ist diejenige von Franz Joseph Mone (1841);1 sie ist für die Ansprüche heutiger Nutzer in verschiedenerlei Hinsicht unbefriedigend. Im vorliegenden Beitrag möchte ich die Handschrift, Mones Volledition und die beiden Teileditionen des Osterspiels2 kurz vorstellen und daran einige erste Überlegungen zu der von mir geplanten Neuedition anschließen.
Zur Handschrift Das 60 Blatt starke Schmalfoliobändchen beinhaltet drei geistliche Spiele: ein MariäHimmelfahrt-Spiel (fol. 1r–34v), ein Osterspiel (fol. 35v–50r) und ein Fronleichnamsspiel (fol. 51r–59r), die von einem einzigen Schreiber3 innerhalb kurzer Zeit in mitteldeutscher Mundart aufgezeichnet wurden. Die Explicits der Spiele verzeichnen den 26. August, den 1. September und den 5. September 1391.4 Auf fol. 59v–60r wurde von einem zweiten Schreiber relativ zeitnah5 ein lateinischer Text eingetragen und nachträglich wieder gestrichen, der nach diversen Missverständnissen in der Forschung6 schließlich als Anleitung zur Ausführung eines Liebeszaubers identifiziert werden konnte.7 Des Weiteren finden sich Federproben und, am häufigsten im Osterspiel, am 1
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Altteutsche Schauspiele, hg. von Franz Joseph Mone (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 21), Quedlinburg/Leipzig 1841. Das Drama des Mittelalters. Osterspiele, mit Einleitungen und Anmerkungen auf Grund der Handschriften hg. von Eduard Hartl, Darmstadt 1964, unv. reprograf. Nachdr. der Ausg. Leipzig 1937, S. 120–189; Das Innsbrucker Osterspiel. Das Osterspiel von Muri, mhd. und nhd. hg., übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Rudolf Meier, Stuttgart 1962, S. 3–111 (Text) und S. 157–160 (Anmerkungen). Schreiber A; vgl. z. B.: Die Neustifter-Innsbrucker Spielhandschrift von 1391 (Cod. 960 der Universitätsbibliothek Innsbruck), in Abbildung hg. von Eugen Thurnher und Walther Neuhauser (Litterae 40), Göppingen 1975, S. 10 f. Vgl. ebd., S. 13. Vgl. ebd., S. 11 (Schreiber B). Dokumentiert sind diese etwa bei Max Siller, Die Innsbrucker Spielhandschrift und das geistliche Volksschauspiel in Tirol, in: ZfdPh 101 (1982), S. 389–411, hier S. 393 f. Walter Neuhauser, Eine unbekannte lateinische Beschwörungsformel in der sog. Neustifter-
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Anne Auditor
Rand vermerkte Regieanweisungen sowie eine Notiz, die den Tod Oswalds von Wolkenstein (1445) verzeichnet. Aus dieser Notiz kann man schließen, dass sich die Handschrift spätestens zu diesem Zeitpunkt im Kloster Neustift bei Brixen befunden hat.8 Der Haupttext wurde »in einer der Bastarda angenäherten Buchkursive«9 aufgezeichnet, die lateinischen Überschriften und Regieanweisungen in einer Art Textura mit roten Durchstreichungen. Die Verse sind nicht abgesetzt, sondern durch einen Schrägstrich getrennt. Eine Besonderheit des Schreibers des Haupttextes ist »ein eähnliches Zeichen«,10 das in den meisten Fällen Umlaut- oder Längenzeichen zu sein scheint, jedoch nicht als Superskript, sondern schräg neben dem zugehörigen Vokal etwas hochgestellt realisiert ist (etwa bei czu e). Die lateinischen Textteile, meist Lieder, sind gelegentlich vollständig, häufig jedoch nur als Incipits vorhanden. Die Entstehungszeit der Handschrift, 1391, ist aufgrund der Datumsangaben im Text eindeutig zu ermitteln. Schwieriger zu beantworten ist demgegenüber die Frage nach dem Entstehungsort und der weiteren Geschichte des Codex. Die größten Probleme bereitet hier die mitteldeutsche Schreibsprache der Haupttexte in Verbindung mit dem für die Zeit um 1445 so gut wie sicher nachgewiesenen Aufenthaltsort der Handschrift in Neustift. In der älteren Forschung herrschte die Ansicht vor, die Handschrift sei bereits in Neustift entstanden, abgeschrieben durch einen thüringischen Schreiber von einer thüringischen Vorlage, deren Herkunftsort in der Gegend von Schmalkalden vermutet wurde.11 Mittlerweile gilt es jedoch als relativ sicher, dass die Handschrift in Thüringen, allerdings gerade nicht in Schmalkalden, sondern wahrscheinlicher im ostthüringischen Gebiet entstanden ist;12 eine institutionelle Verankerung ist jedoch nicht möglich. Irgendwann zwischen 1391 und 1445 wurde die Handschrift nach Neustift gebracht. Unklar ist, ob, wann und wo die Spiele aufgeführt wurden13 und wann die
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Innsbrucker Spielhandschrift (Cod. 960 der Universitätsbibliothek Innsbruck), in: Serta philologica Aenipontana 3 (1979), S. 221–253. In der Notiz heißt es, Oswald sei huc magno labore et in calore zurückgebracht worden (fol. 60v; vgl. hierzu Thurnher und Neuhauser [Anm. 3]); da Oswald in Neustift begraben ist, liegt die Vermutung nahe, dass mit huc Neustift gemeint ist. Thurnher und Neuhauser [Anm. 3], S. 10; eine detailliertere Beschreibung der Handschrift findet sich ebd., S. 8–13. Ebd., S. 10. Vgl. Thurnher und Neuhauser [Anm. 3], S. 9–13; Mone [Anm. 1], S. 10; zur Herkunft des Schreibers vgl. Rudolf Höpfner, Untersuchungen zu dem Innsbrucker, Berliner und Wiener Osterspiel, Breslau 1913 (Germ. Abh. 45); darauf bezogen Franz Ebbeke, Untersuchungen zur Innsbrucker Himmelfahrt Mariae, Marburg 1929; sowie Dora Franke, Das Innsbrucker Fronleichnamsspiel, Diss. masch. Marburg 1921. Vgl. Jens Haustein und Winfried Neumann, Zur Lokalisierung der ‘Innsbrucker (thüringischen) Spielhandschrift’, in: Magister et amicus. FS Kurt Gärtner, hg. von Va´clav Bok und Frank Shaw, Wien 2003, S. 385–394. Aufgrund der Randbemerkungen lässt sich jedoch zumindest vermuten, dass Aufführungen vorgesehen waren; sie wurden eingehend untersucht von Siller [Anm. 6], der eine Überbringung der Handschrift nach Neustift sehr bald nach 1392 vermutet (ebd., S. 410); vgl.
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Handschrift letztendlich nach Innsbruck gelangt ist: In den Übergabeprotokollen nach der Aufhebung des Klosters Neustift im Jahre 1807 findet sich keine Angabe zur Handschrift; eine Innsbrucker Signatur erhielt sie zudem erst zwischen 1841 und 1857.14
Zu den vorhandenen Ausgaben Die älteste und einzige Ausgabe aller drei Spiele stammt von Franz Joseph Mone aus dem Jahre 1841.15 Neben dem Text, in den häufig stillschweigend eingegriffen wird, liefert Mone eine Beschreibung der Handschrift sowie eine Untersuchung der Sprache. Die Spieltexte sind mit Sacherläuterungen in Form von Stellenkommentaren versehen; was fehlt, ist eine Übersicht über die Eingriffe des Herausgebers in den Text. Rolf Steinbach erwähnt überdies in seiner Monographie über die mittelalterlichen Oster- und Passionsspiele zahlreiche, wenn auch überwiegend nicht sinnentstellende Lesefehler.16 Lediglich das Osterspiel wurde noch zwei weitere Male ediert: 1937 von Eduard Hartl und 1962 von Rudolf Meier.17 Hartl kritisiert an Mone, er lege »dem handschriftlichen Text zuviel Gewicht bei«.18 Er greift dagegen stärker in den Text ein; bisweilen vertauscht er einzelne Redepartien aus Gründen der Aufführungswirksamkeit. So stellt er etwa die Klage Luzifers, die in der Handschrift auf die Ständesatire folgt,19 an deren Beginn, da er sie für einen Ausdruck der Reue Luzifers hält, dem an dieser Stelle das ganze Ausmaß seiner Sündhaftigkeit klar werde. Am Ende der Szene wäre dieser Text seiner Ansicht nach nicht wirkungsvoll genug.20 Hartl begründet diese Umstellungen mit der Annahme, dass dem Schreiber lose Blätter als Vorlage gedient hätten, wofür er auf fol. 38r einen Hinweis gefunden zu haben glaubt. Die
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auch Barbara Thoran, Fragen zu Herkunft und Nachwirkung des Innsbrucker Thüringischen Osterspiels, in: Osterspiele. Text und Musik. Akten des 2. Symposiums der Sterzinger Osterspiele 12.–16. April 1992, hg. von Max Siller (Schlern-Schriften 293), Innsbruck 1994, S. 187–202, welche die sehr konkreten Schlussfolgerungen Sillers kritisiert, jedoch ebenfalls einen Aufführungshintergrund vermutet; sowie Hansjürgen Linke, Versuch über deutsche Handschriften mittelalterlicher Spiele, in: Deutsche Handschriften 1100–1400. Oxforder Kolloquium 1985, hg. von Volker Honemann, Tübingen 1988, S. 527–589, hier S. 541. Mone schreibt in seiner Ausgabe (1841) noch, die Innsbrucker Handschrift habe »keine Nummer« (Mone [Anm. 1], S. 1). Vgl. auch Barbara Thoran, Das Osterspiel der Innsbrucker Handschrift Cod. 960 – ein Neustifter Osterspiel?, in: Tiroler Volksschauspiel. Beiträge zur Theatergeschichte des Alpenraumes, hg. von Egon Kühebacher, Bozen 1976, S. 360–379, hier S. 360 f., die diese Vorgänge zu dokumentieren sucht. Mone [Anm. 1]. Vgl. Rolf Steinbach, Die deutschen Oster- und Passionsspiele des Mittelalters. Versuch einer Darstellung und Wesensbestimmung nebst einer Bibliographie zum deutschen geistlichen Spiel des Mittelalters, Köln/Wien 1970, S. 63. Hartl [Anm. 2]; Meier [Anm. 2]. Hartl [Anm. 2], S. 121. Mone [Anm. 1], v. 406–421; Hartl [Anm. 2], v. 346–361. Vgl. Hartl [Anm. 2], S. 124, sowie die Kritik durch Steinbach [Anm. 16], S. 61 f., der hervorhebt, dass der moralisierende Aspekt der Szene durch die Umstellung verlorengehe.
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Seite beginnt, obgleich sie sich mitten im Osterspiel befindet, mit Text aus dem vorhergehenden Mariä-Himmelfahrt-Spiel. Hartl geht davon aus, dass der Schreiber versehentlich aus den losen und ungeordneten Blättern seiner Vorlage eine falsche Stelle aus einem anderen Stück nochmals abgeschrieben habe. Der Rest der Seite ist mit einigen Federproben verschiedener Hände ausgefüllt. Unter ihnen befindet sich der Beginn der Luzifer-Klage wiederholt, awe awe hoffart daz din ie erdacht wart, die erst einige Seiten später folgt, nämlich auf fol. 41r. Daraus zieht Hartl den Schluss, dass die Vorlage durcheinandergeraten sei, und hält einen Eingriff daher für berechtigt. Karl Konrad Polheim, der den Einträgen auf fol. 38r eine kleine Untersuchung gewidmet hat,21 legt dagegen überzeugend dar, dass es sich bei dem Text aus dem Mariä-Himmelfahrt-Spiel – genau genommen sind es zwei kurz aufeinanderfolgende Textstücke – um die erste Niederschrift handelt, die der Schreiber irrtümlich auf fol. 38r eingetragen hat: Die beiden Textstücke stehen an der ›richtigen‹ Stelle jeweils am Anfang einer neuen Seite, nämlich fol. 31v und 32r. Diese gehören zur selben Lage wie fol. 38r, mit dem zusammen sie einen Bogen bilden, den der Schreiber wohl falsch gefaltet hat, wodurch er – zweimal hintereinander – auf fol. 38r gelandet ist. Somit war also wahrscheinlich nicht die Vorlage durcheinander, sondern – kurzfristig – die Abschrift, und zwar die des Mariä-Himmelfahrt-Spiels und nicht des Osterspiels. Hartls Feststellung, dass der Text der Federprobe in der Handschrift erst an späterer Stelle steht, ist richtig. Die Schlussfolgerung, dem Schreiber müssten deshalb lose Blätter vorgelegen haben, ist jedoch schwer nachzuvollziehen. Ebenso könnte er sich an der späteren Stelle an die ohnehin schon unbrauchbar gewordene Seite 38r erinnert und dort seine Federprobe ausgeführt haben. Dies gilt jedoch nur unter der Voraussetzung, dass es sich bei der Federprobe tatsächlich um die Hand des Schreibers A handelt, was wahrscheinlich zu bezweifeln ist. Zumindest wird die Federprobe, die deutlich blasser ist als der Haupttext und wohl mit einer anderen Tinte geschrieben wurde, nicht zeitgleich mit diesem aufgezeichnet worden sein.22 Hartls Herstellung einer »folgerichtige[n] Ordnung der Szenenfolge«23 sowie die vollständige Einfügung der meist lateinischen Lieder wurde von Rudolf Meier in seiner Edition des ‘Innsbrucker Osterspiels’ von 1962 übernommen. Meier übersetzt den Text ins Neuhochdeutsche; auch er greift in den Text ein, wobei er in der Regel Hartl folgt, im Unterschied zu diesem jedoch ohne jegliche Kennzeichnung. Von den beiden anderen in der Handschrift enthaltenen Spielen, dem Mariä-Himmelfahrt-Spiel und dem Fronleichnamsspiel, liegt nach wie vor als einzige die Ausgabe Mones vor.
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Karl Konrad Polheim, Die doppelte Eintragung. Zur Neustifter-Innsbrucker Spielhandschrift, in: ders., Studien zum Volksschauspiel und mittelalterlichen Drama, Paderborn u. a. 2002, S. 93–96. Auch Siller [Anm. 6], S. 399–402, sieht offenbar keinen Zusammenhang dieser Hand mit der des Schreibers A. Meier [Anm. 2], S. 170.
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Mone ediert und kommentiert lediglich den Haupttext der Handschrift und berücksichtigt keine Zusätze wie etwa die Randbemerkungen. Den gestrichenen lateinischen Zauberspruch hält er für das Fragment eines lateinischen Spiels, erwähnt ihn jedoch nur am Rande. Zur Oswald-Notiz äußert er sich überhaupt nicht. Der Zauberspruch ist Gegenstand eines längeren Aufsatzes von Walter Neuhauser (1979), der ihn eingehend untersucht und an derselben Stelle auch ediert und übersetzt.24 Abschließend ist das Vollfaksimile von Eugen Thurnher und Walter Neuhauser von 1975 zu erwähnen,25 das einen guten Einblick in die äußere Gestalt der Handschrift ermöglicht und in der Einleitung eine ausführliche Beschreibung liefert. Festzuhalten ist, dass die einzige einigermaßen handschriftnahe Edition aller drei Spiele aus dem Jahre 1841 stammt; auch wenn damit eine beachtliche und anerkennenswerte Leistung erbracht wurde, indem die Texte in einer durchaus brauchbaren Form zur Verfügung gestellt wurden, kann diese Edition, vor allem aufgrund des fehlenden textkritischen Apparates, keinesfalls heutigen editorischen Ansprüchen genügen. Von den drei Spielen wurde allein das Osterspiel, zum Teil unter starken Eingriffen in den Text und in die Szenenfolge neu herausgegeben. Die einzige existierende Ausgabe der lateinischen Beschwörungsformel findet sich in einem 1975 erschienenen Aufsatz. Aus diesem Grunde halte ich eine kritische Neuedition der gesamten Handschrift für sinnvoll und notwendig, damit ihr gesamter Inhalt der wissenschaftlichen Öffentlichkeit in einer gegenwärtigen Ansprüchen genügenden Form zugänglich gemacht wird.
Zur Neuedition In den letzten Jahren ist viel über die ›ideale‹ Form für Editionen mittelalterlicher Spiele und ihre Kommentierung diskutiert worden: Immer wieder wurde dabei gefordert, bei einer Neuedition stärker auf den spezifischen Aufführungsaspekt Rücksicht zu nehmen, der bei älteren Editionen in der Regel keine Rolle spielte. Dies ging gelegentlich sogar bis zur Forderung der Rekonstruktion eines ›Aufführungs-Originals‹, das der Ausgangspunkt der Edition sein sollte.26 Bei aller Begeisterung über 24 25 26
Neuhauser [Anm. 7]. Thurnher und Neuhauser [Anm. 3]. Dies ist z. B. bei Klaus Wolf der Fall, der am Beispiel seines Kommentars der Frankfurter Passionsspielgruppe ein neues, grundlegendes System von Kommentaren für mittelalterliche Spiele entwickelt: Klaus Wolf, Für eine neue Form der Kommentierung geistlicher Spiele. Die Frankfurter Spiele als Beispiel der Rekonstruktion von Aufführungswirklichkeit, in: Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der frühen Neuzeit, hg. von Hans-Joachim Ziegeler, Tübingen 2004, S. 273–312. Vgl. außerdem Johannes Janota, Auf der Suche nach gattungsadäquaten Editionsformen bei der Herausgabe mittelalterlicher Spiele, in: Kühebacher [Anm. 14], S. 74–87; allgemein zur Edition mittelalterlicher Spiele vgl. z. B. Paul-Gerhard Völker, Schwierigkeiten bei der Edition geistlicher Spiele des Mittelalters, in: Kolloquium über Probleme altgermanistischer Editionen, Marbach am Neckar, 26. u. 27. April 1966, hg. von Hugo Kuhn, Karl Stackmann und Dieter Wuttke,
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diese Feststellung sollte man sich jedoch immer der Gefahren bewusst sein, die ein solcher Rekonstruktionsversuch mit sich bringt. Selbstredend muss man als Herausgeber eines mittelalterlichen Spiels allen Hinweisen nachgehen, die auf einen Aufführungskontext, vielleicht sogar einen konkreten, schließen lassen; besonders günstig ist es, wenn in den Texten selbst sichtbar wird, dass sie – vielleicht sogar mehrmals – für Aufführungen bearbeitet wurden oder es gar sekundäre Zeugnisse wie Aktenvermerke, Rollenregister oder Bühnenpläne gibt.27 Doch häufig genug fehlen solche Hinweise, oder sie sind nicht detailliert genug, dass man tatsächlich eine zugrundeliegende Aufführung rekonstruieren könnte. Überdies gilt es zu bedenken, dass man Texten, die keine konkreten Aufführungsspuren aufweisen, durch die Rekonstruktion e i n e r Aufführung möglicherweise unrecht tut, wenn man mit Hilfe von Rückschlüssen aus anderen Stücken, über die mehr Informationen erhalten sind, einen konkreten Ablauf zu rekonstruieren sucht. Es ist nicht davon auszugehen, dass solche Texte immer mit Blick auf eine einzige konkrete Aufführung verfasst worden seien, was gerade an solchen Handschriften deutlich wird, die verschiedene Bearbeitungsstufen erkennen lassen.28 Bei einer Neuedition einer Quelle wie der Innsbrucker Spielhandschrift, die gerade hinsichtlich des Aufführungskontextes, abgesehen von den wenigen am Rand eingetragenen Regieanweisungen im Osterspiel, sehr wenige Informationen bietet und bei der sich obendrein ein Versuch, sekundäre Zeugnisse zu finden, als nahezu unmöglich erweist,29 wird der Herausgeber deshalb gut daran tun, sich an das zu halten, was die Handschrift überliefert, darüber hinaus jedoch nicht allzu weitreichende Spekulationen anzustellen. Dennoch ist es, dies sei noch einmal betont, selbstverständlich, dass bei einer Edition auf die Darbietungsform der Aufführung Rücksicht genommen werden muss.30 Was die Textherstellung betrifft, so stellen sich, da es sich um unikal überlieferte Texte handelt, nicht die ›klassischen‹ Probleme, wie sie Mehrfachüberlieferung mit sich bringt.31 Dennoch geht es natürlich nicht darum, einfach einen ›diplomatischen
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Wiesbaden 1968, S. 160–168; Hansjürgen Linke, Die Gratwanderung des Spieleditors, in: Methoden und Probleme der Edition mittelalterlicher deutscher Texte. Bamberger Fachtagung, 26.–29. Juni 1991, hg. von Rolf Bergmann und Kurt Gärtner (Beiheft zu editio 4), Tübingen 1993, S. 137–155; Dieter Trauden, Archetyp oder Aufführung? Überlegungen zur Edition mittelalterlicher Dramen, in: ABäG 37 (1993), S. 131–145. Vgl. Trauden [Anm. 26], S. 138f. Vgl. ebd. Laut Siller [Anm. 6], S. 392, fehlen »für Neustift mittelalterliche archivalische Belege von Spielaufführungen gänzlich«, und falls eine Aufführung an ihrem Thüringer Entstehungsort vorgesehen gewesen sein sollte, wüsste man nicht einmal, wo zu suchen wäre. Ähnliches fordert Trauden [Anm. 26], S. 144. Vgl. z. B. den Überblick über Editionsprobleme und –methoden und ihre Entwicklung bei Hans Fromm, Zur Geschichte der Textkritik und Edition mittelalterlicher Texte, in: Beiträge zur Methodengeschichte der neueren Philologien. Zum 125jährigen Bestehen des Max Niemeyer Verlages, hg. von Robert Harsch-Niemeyer, Tübingen 1995, S. 63–90.
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Abdruck‹ des Textes zu geben, der getreu jeden Fehler des Schreibers wiedergibt, sondern »einen verständlichen Text herzustellen, der dem historisch Überlieferten so nah wie möglich steht.«32 Dies bedeutet, dass an unverständlichen Stellen, sofern eine Besserungsmöglichkeit auf der Hand liegt, oder bei augenscheinlichen Schreiberversehen eingegriffen werden muss. Solche begegnen in der Handschrift, obwohl die Texte insgesamt verhältnismäßig sorgfältig niedergeschrieben wurden, immer wieder, vorwiegend in Form kleinerer Unsicherheiten oder Wortauslassungen, etwa czolczer statt stolczer.33 Die Besserungen müssen selbstverständlich im textkritischen Apparat verzeichnet werden. Ein kleines Beispiel aus dem ‘Innsbrucker Osterspiel’ sei etwas ausführlicher besprochen. In der Hortulanusszene, deren Gerüst die lateinische Marienklage bildet, hat die tertia persona folgenden Text: Awe der mere, awe der jemmerlichen clage, daz grab ist lere, awe myner clage! wo ist nue hin [min] trost, der mich von sunden [hat] erlost?34
Barbara Thoran untersucht diese Textstelle im Zusammenhang mit der Frage einer möglichen Beeinflussung der Tiroler Spieltradition durch das ‘Innsbrucker Osterspiel’.35 Auffällig ist, dass im vorliegenden Spiel gegenüber anderen Textbelegen bereits in der vierten Zeile eine verderbte Stelle auftritt: In allen anderen Belegen, die diese Zeile wiedergeben, steht O we meiner tage.36 Mone folgt hier der Handschrift und setzt clage, während Hartl und mit ihm auch Meier zu tage bessern, ohne ihre Entscheidung näher zu erläutern.37 Bei Kenntnis des Sachverhaltes liegt die Besserung auf der Hand, und man wird bei einer Neuedition Hartl folgen müssen; allerdings ist es angebracht, die Entscheidung durch eine knappe Erläuterung zu begründen. Ebenfalls sollte man die bereits von Mone durchgeführte Einfügung von min bzw. hat in den beiden folgenden Zeilen übernehmen. Bei der ersten Stelle wäre auch die Er32
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Rebekka Nöcker und Martina Schuler, Überlieferung, Edition, Interpretation. Zur Überlieferung der Nürnberger Fastnachtspiele des 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts, in: Fastnachtspiele. Weltliches Schauspiel in literarischen und kulturellen Kontexten, hg. von Klaus Ridder, Tübingen 2009, S. 363–379, Zitat S. 374. Vgl. außerdem: Die deutsche Märendichtung des 15. Jahrhunderts, hg. von Hanns Fischer (MTU 12), München 1966, S. XI; Das Königsteiner Liederbuch. Ms. germ. qu. 719 Berlin, hg. von Paul Sappler (MTU 29), München 1970, S. 11 f. Fol. 46r; Mone v. 843; Hartl v. 930; beide lesen jedoch st am Wortbeginn, was die Handschrift nicht bestätigt. Der Text ist zitiert nach Mone [Anm. 1], v. 1025–1030. Thoran, Fragen [Anm. 13], S. 194–198. Etwa im ‘Wiener Osterspiel’, v. 822 (Das Wiener Osterspiel. Abdruck der Handschrift und Leseausgabe, hg. von Hans Blosen [Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 33], Berlin 1979). Für Thoran ist dies ein Beweis dafür, dass der Innsbrucker Text keine direkte Vorlage für andere Spiele gewesen sein kann (vgl. Thoran, Fragen [Anm. 13], S. 198). Hartl, identisch Meier [Anm. 2], v. 1123–1126.
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Anne Auditor
wägung einer Besserung von hin zu min denkbar, da die Parallelstellen Varianten mit und ohne hin aufweisen. Ein besonderes Problem stellt bei der Edition geistlicher Spiele die »Komplettierung nur andeutungsweise aufgezeichneter Textpartien«38 dar, bei denen es sich größtenteils um lateinische Teile, häufig Lieder, handelt. Diese waren den zeitgenössischen Schreibern und Rezipienten geläufig, so dass normalerweise die Verzeichnung eines Incipits genügte, damit die Texte identifiziert werden konnten.39 Für den heutigen Leser erschließen sich diese anzitierten Texte jedoch nicht mehr ohne weiteres. Die lateinischen Lieder im Osterspiel wurden bereits von Hartl rekonstruiert, allerdings geht er nicht darauf ein, wie er zu seinen Ergebnissen kommt. Für die beiden anderen Spiele stehen diese Rekonstruktionen noch aus. Linke weist mit Nachdruck darauf hin, dass hierbei äußerste Vorsicht geboten sei. Zum einen sei häufig der Kontext einzubeziehen, wenn es um die Länge des einzufügenden Textes gehe, zum anderen müsse man bei Gesangstexten nach Möglichkeit immer zunächst die am Aufführungsort wahrscheinlichste Version des Liedes ermitteln.40 Gerade dies gestaltet sich jedoch bei den Innsbrucker Spielen schwierig, da aufgrund der unsicheren Entstehungsgeschichte ein Aufführungskontext nicht zu greifen ist. Es stellt sich außerdem die Frage, woran man sich überhaupt halten soll: an eine möglicherweise vom mitteldeutschen Schreiber ›intendierte‹ Aufführung in Thüringen mit thüringischem Kontext? Oder an den zumindest für 1445 gesicherten Aufbewahrungsort der Handschrift, Neustift? Dass über mögliche Aufführungen zumindest nachgedacht wurde, zeigen die Randbemerkungen, doch sind diese nicht eindeutig einer Mundart oder einem konkreten Aufführungskontext zuzuordnen. Eine Neuedition der Handschrift schließt m. E. eine Beigabe der Randbemerkungen und Federproben sowie der lateinischen Zauberformel ein, damit ein möglichst genaues Bild vom Aussehen und von der Benutzung der Handschrift vermittelt wird. Die editorische Wiedergabe der Marginalien und Federproben lässt sich jedoch erst im fortschreitenden Prozess der Haupttextedition festlegen, da ihre Funktion erst mit einem Überblick über alle Fälle erkennbar wird. Vorerst erscheint es sinnvoll, sie im textkritischen Apparat aufzuführen. Denkbar wäre auch ein eigener Apparat, der den Vorteil hätte, dass die Einträge gleich an Ort und Stelle kommentiert werden könnten, was etwa bei den Regieanweisungen mit Blick auf einen möglichen Aufführungskontext wünschenswert wäre. Der Zauberspruch könnte mitsamt einer Übersetzung in einem Anhang beigegeben werden, da er weder zum Haupttext gehört noch auf ihn Bezug nimmt. Die Neuedition soll die Texte der Innsbrucker Spielhandschrift im Hinblick auf eine Verwendung im Rahmen literatur- und kulturwissenschaftlicher Forschungen, möglicherweise auch im akademischen Unterricht, aufbereiten. Aus diesem Grunde strebe 38 39 40
Linke [Anm. 26], S. 149. Vgl. ebd. Ebd., S. 149 f.
Die ›Innsbrucker Spielhandschrift‹
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ich bei allen zusätzlichen Informationen über die Texte eine möglichst große Offenheit an, um die Gefahr des ›Veraltens‹ möglichst gering zu halten. Im Kommentar sollen somit keine Interpretationswege vorgegeben, sondern lediglich Möglichkeiten angedeutet werden. Auch an eine vollständige Übersetzung des Haupttextes ist deshalb nicht gedacht.41 Die Festlegung auf eine von mehreren Sinnvarianten, wie sie eine Übersetzung beständig fordert, widerspricht dem Anliegen einer kritischen Ausgabe. Daher erscheint die Beigabe eines zweiten Apparates mit der Funktion eines Stellenkommentars sinnvoll, der zur Erhellung schwer verständlicher Textstellen dienen und überdies zum Verständnis notwendige Sacherläuterungen enthalten soll. Die sprachlichen Lesehilfen werden im Wesentlichen auf die Eigenheiten der mitteldeutschen Schreibsprache einzugehen haben, da diese in ihren Abweichungen von den gewohnten normalisierten Wörterbuchformen vermutlich die größten Schwierigkeiten bereiten. Auch bei den Sacherläuterungen ist wohl eine Konzentration auf die Stellen angebracht, an denen der Text ohne einen entsprechenden Hinweis unverständlich wäre, so dass der Kommentar nicht mit interessanten, aber entbehrlichen Informationen überfrachtet wird. Die Schwierigkeiten, die sich bei der Entscheidung stellen, ob eine Erläuterung zwingend notwendig ist oder nicht, liegen auf der Hand; dennoch halte ich es für vernünftig, zunächst einmal größtmögliche Knappheit und – selbstverständlich nie vollkommen erreichbare – Objektivität anzustreben.42 Wie bereits oben angedeutet, soll außerdem der mögliche, wenn auch vermutlich schwer greifbare Aufführungskontext berücksichtigt werden. Ob hierfür der Stellenkommentar der richtige Platz ist, muss noch entschieden werden.
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Eine Ausnahme könnten die lateinischen Textteile und Regieanweisungen, die über simple dicit-Formeln hinausgehen, darstellen. Vgl. z. B. Marita Mathijsen, Die ‘sieben Todsünden’ des Kommentars, in: Text und Edition. Positionen und Perspektiven, hg. von Rüdiger Nutt-Kofoth u. a., Berlin 2000, S. 245–261, bes. S. 257–259; Trauden [Anm. 26], S. 142 f.
‘Ein spruch von einer geisterin’ von Rosenplüt, vier Priamel und ‘Ein antwu´rt vmb einen ters’ von Christoph Gerhardt
Die im Folgenden erstmals bekannt gemachten sechs deutschen Reimpaartexte, ein Rosenplüt zugewiesenes Märe, vier Priamel und ein Rätsel, sind in der Handschrift Ms. L 1200 der Kantons- und Universitätsbibliothek Freiburg (Schweiz)/Fribourg überliefert, auf die ich durch einen knappen Hinweis Nigel F. Palmers aufmerksam wurde.1 Die Handschrift ist ausführlich beschrieben worden von Romain Jurot,2 dessen Beschreibung ich in aller gebotenen Kürze die wichtigsten Daten entnehme. Die Papierhandschrift (175 Bll., 215 x 145 mm Blattgröße, 155 x 70–80 mm Schriftraum, einspaltig mit 24–26 Zeilen pro Seite) ist in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts vermutlich in Fribourg geschrieben worden und weist Fribourger Besitzervermerke aus dem 16. Jahrhundert auf. Sie enthält verschiedene französische Texte, auf deren Aufzählung ich hier verzichten kann, und nur in dem ebenfalls dem 15. Jahrhundert entstammenden, aber nicht näher zu bestimmenden Nachtrag Bl. 94v–97r die genannten deutschen Texte, dazu vom gleichen Schreiber Bl. 98r–99r ‘Les quatre tempe´raments’ französisch (4 x 6 Verse) und deutsch (4 x 8 Verse).3 Wie die deutschen Texte in die Handschrift gelangt sind, ist nicht geklärt. Zur Sprach- und Literatursituation in Fribourg, auf die ich nicht näher einzugehen vermag, sind die Ausführungen Palmers [Anm. 1] zu vergleichen; die seltene Zweisprachigkeit der Handschrift bringt einen zusätzlichen Aspekt ein. Hier nur der generelle Hinweis auf den alemannischen Charakter der Schreibsprache der Texte, bei dem sich gelegentlich die 1
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S. Nigel F. Palmer, Bibelübersetzung und Heilsgeschichte. Studien zur Freiburger Perikopenhandschrift von 1462 und zu den deutschsprachigen Lektionaren des 15. Jahrhunderts. Mit einem Anhang: Deutschsprachige Handschriften, Inkunabeln und Frührucke aus Freiburger Bibliotheksbesitz bis c. 1600 (Wolfgang Stammler Gastprofessur 9), Berlin/New York 2007, S. 140 Anm. 194. S. Romain Jurot, Catalogue des manuscrits me´die´vaux de la Bibliothe`que cantonale et universitaire de Fribourg, Dietikon/Zürich 2006, S. 252–255. S. bei Jurot [Anm. 2], S. 16, eine Abbildung von Bl. 98v mit dem Anfang der deutschen ‘Vier Temperamente’-Verse. Soweit die Abbildung einen Vergleich zulässt, sind die Verse in der Fribourger Handschrift, sieht man von dialektbedingten Veränderungen ab, identisch mit den Versen, die Ruth Franke, Peter van Zirns Handschrift. Ein deutsches Schulbuch vom Ende des 15. Jahrhunderts (Germanische Studien 127), Berlin 1932, S. 42–45, abgedruckt hat (mit Abb.). Bei Erwin Panofsky und Fritz Saxl, Dürers ‘Melencolia I’. Eine quellen- und typengeschichtliche Untersuchung (Studien der Bibliothek Warburg 2), Leipzig/Berlin 1923, S. 57 Anm. 1, ist ein Einblattdruck (mit Abb. 21), Mitte 15. Jh., nachgewiesen, der diese Verse ebenfalls bietet. Ebenso wie die Peters van Zirn sind die Verse in der Fribourger Handschrift demnach eine Abschrift und keine ›Original‹-Übersetzung der vorausgehenden französischen Verse.
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Christoph Gerhardt
bairische Vorlage zu erkennen zu geben scheint. Denn die graphischen Reimungenauigkeiten können dadurch entstanden sein, dass die bairische Form der Vorlage vom Schreiber nur in einem der beiden Reimwörter in die entsprechende alemannische Lautung umgesetzt worden ist, in einem Reimpaar also bairische und alemannische Lautung aufeinander treffen. Dieses Textcorpus lässt sich als Miniatursammlung aus dem Bereich der ›Kleinstformen der Literatur‹ interpretieren. Es stellt sich, was die drei erfassten Gattungen ›Märe‹, ›Priamel‹ und ›Rätsel‹ anbelangt, neben eine größere Sammlung, wie sie z. B. im Codex Weimar Q 565 (wie zu I,72) vorliegt und wie sie, das Gesamtspektrum in ganzer Breite repräsentierend, die Wolfenbüttler Priamelhandschrift (wie zu I,50) überliefert.4 ***** Bei dem folgenden buchstäblichen Textabdruck glaube ich, mir die stillschweigende Auflösung der üblichen Kürzel – Nasalstrich, er-Kürzel durch hochgestellten Haken, sp ach (vgl. Schneider [wie zu I,10], S. 86 f.) – erlauben zu dürfen, da mit deren Kennzeichnung z. B. durch Kursivierung in aller Regel kein Erkenntnisgewinn verbunden ist. Eine Verszählung ist ebenso eingeführt worden wie bei dem Märe eine moderne Interpunktion; die wenigen Virgel sind zusätzlich beibehalten. Die nur selten notwendigen Konjekturen oder die anfallenden Reimaus- bzw. -angleichungen habe ich in den Anmerkungen z. St. diskutiert, aber nicht in den Text selbst aufgenommen, um nicht die Authentizität des Schreibers in Frage zu stellen oder zu gefährden.
I [94v] Ein spruch von einer geisterin 1
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Horent wunder was beschach o
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Eines morgens fru vor tag Von einer grossen geisterin. e e Horent von ir fromde sin: o e Eines morgens stunt si vf gar fru. e Mit grosser andacht vnd mit mu o Hub si sich vf vß irer zell o Vnd ylet zu der metten snell. o e Si kam zu fru /e / man vf sloß, Jr andacht die wz also groß. e Do si versperret vand die tur, e Andechtig kniet si da fur Vnd wolt sprechen ir gebett, e Bis man die kilchen vf getat.
S. Eulings Einleitung, S. IX.
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Der pfaff, der da pfarrer was, o Der sas ob einem buch vnd las, Der begond dick zem pfenster vs sehen, Ob er den tag icht sech herbrechen. Do er die geisterin ersach, e e Nu mogt ir horen was beschach. o Er warf gar schier von jm dz buch o Vnd zoch an zwen nider schuch o o e Vnd hub sich zu der tur vs schier o Vnd sprach sin gebett vnd gieng zu ir, r Als er in die kilchen solt [95 ] Vnd dar jnn metten sprechen wolt. Do er si sach, do zuckt er wider Vnd sanck uf die erde nider Vnd fiel hin vff den weck, Als er von hertzen ser erschreck. Die geisterin wart sin gewar, o e o Si hub sich zuglich zu jm dar Vnd sprach: »got geb v´ch sine stu´r, Erschreckt nit, ich bin gehu´r.« Er sach vf vnd blickt si an: »Wie hant ir so v´bel getan, Das ir mich hant so ser erschreckt, Das ich ietz hie lig zerfleckt. e e Das konnent ir niemer gebussen, e Giengent ir gen rom mit blossen fussen, Noch wurde es v´ch nit vergeben, e Manig meß vnd gebett belibt vnderwegen. Got ein plag vber v´ch verhengt, Es sy denn dz irs widerbrengt.« o Si sprach: »herre, gent mir v´wern rat, e e Das ich dort nit kom in not, e Wie ich es widerbringen mug, o e Ob vwer hilf icht dar zu tug.« o Er sprach: »ich weis einen guten rat, Den mir min hertz gegeben hat: o Einen andren pfaffen mus ich machen. [95v] Da mit wil ichs vndersachen, e o Das ı´r dort nit kumpt in pin. o ´ wer hilf mus ouch da by sin.« V o Si sprach: »mag ich v´ch da zu nutz gesin?« »Ja«, sprach er / »gan wir in die kilchen / nein.« Do slos er vf sin tu´r gar schier,
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Er furt si hin in vnd sprach zu ir: »Legent v´ch nider vff die erden, So laß ich v´ch jnne werden, Wie wir einen pfaffen gewinnen.« Si sprach: »land mich werden jnne, Ob mir icht geschech we.« »Nein«, sprach er: »jr gerent sin me.« e Er sprach: »ir solt die bein entecken, e Vnd solt v´ch vß ein ander strecken.« o Si hub vf rock vnd hemd e Vnd sprach: »die arbeit ist mir fromd, o Jch hab ir versucht nie.« Do viel er behend vff si Vnd bot ir sinen nagel, e Als in nider slug der hagel. Si sprach: »herre, nemt v´ch an der wil, o Jr hant einen vngefugen stil, Er fu´lt mir min bede hend. o Land mich rucken zu der wend e Das ich v´ch mog her wider gehaben. [96r] e Konnend ir denn, so su´llent ir traben Vnd reget die hindervierteil stark Vnd sint fu´rbz gen mir nit kark.« Dar nach tet si einen grossen su´fzen. Si sprach: »herre, mir wil scheutzen, Jch fu´rcht der armen sele min, e Das si dort icht kome in pin.« Der pfaff sprach: »verhab dich oben! o Jch hab vnden zu geschoben, Dz si nit her vs mag.« Der sigrist in der kilchen lag, e e Der hat gehoret ir gekos. e Der wart von zorn also bos, Das er sich het verwegen, o Er were zu lang gelegen o o Vnd hub sich, zu der tu´r ze luffen Vnd fellet oben vbern huffen. »Nu´merdumen, wz ist do, Das ich wird geeffet so?« Der pfaff sprach: »nu bin ichs, jo.« o Der sigrist sprach: »wz tund ir do?« »Da flick ich min v´berru´ck ze hand, Das hat sich niden vf getrant,
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Jch weis ob ichs vermachen mag.« o Der Sigrist wider zu jm iach: o »Lieber herre, wie tund ir doch, Stechend ir nuwand in ein loch. [96v] Das dunkt mich gar ein seltzen neyen.« o Der pfaff kond wider zu jm jehen: »Da fu´rcht ich, mir zerru´nn der zwirn, Es spint gar vngern mine dirn.« Der sigrist sprach: »netzend vs vnd in, ´ ch wirt lange nit zerru´nn. V Jch sprich es by minen tru´wen, ´ ch hangent zwey grosse klu´ngeln V e Dort niden fu´r der vinster reyn. Zerru´nt v´ch herre, ich wil v´ch liehen, Jr sint vff der rechten ban. Jch wil gan ziehen metten an.« o Do sprach der pfaff zu der tocken, Do der sigrist lief zen gloggen: »Wol vf, der pfaff ist bereit!« Die geisterin jm da widerseit: »Herre, ich hab eins vergessen, Das hand min sin vs gemessen: o Ein pfaff mus einen meßner han. Dar vmb hebent wider an Vnd machend einen oder zwen Vnd land mich wider von v´ch gen.« o Do hub der pfaff wider an Vnd tett, als er vor hat getan Vnd schickt do die geisterin heim. Jr abblas der was so klein, o e Den si zu mettin het gelost, [97r] e Da von ir sel wart klein getrost. v Dar vmb rat ich allen frowen zart, e Das si sich huten vor semlicher mettivart, o Ob si wellen dz got ir er behut. o So het geredt der rosenblut. uu Explicit uu
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II 1
Welcher man einen diep fund ob sim schrin
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Vnd vier jm har die jm vyend sin Vnd einen hu´nd ob sim bachen Vnd oft sin teschen mit leren vachen Vnd einen wolf fund vnder schaffen Vnd sin wip by einem andren slaffen Wenn er si kuste an den munt e e Fu´r War der tate einen bosen fund
III 1
5
Welcher man einen Bock fint by einer zigen v Vnd ein gemeine frowen am ruggen ligen o Vnd einen buben ob eim spil fint allein v Vnd einen fisel zwu´schent frowen pein Vnd in einer rey ein stinkenden broden v Fu´r frowen ars fint mannes hoden Vnd ein beschissen kind in eim bad Der fint iecklichs an siner rechten stat IV
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o
Ein nu´we bruch die man anlegt Vnd falcken die man vf henden tregt [97v] Tutten seckel vornan an meigden o Wenn si sich zu dem tantz kleiden Vnd derm dar vs man macht bratwu´rst Junge sugende kinder die da tu´rst Vnd futzen die da hungrig sin v Den schu´bt man nichtz denn rofleisch in V
1
Welcher man einen hund hat der nit vacht
5
Vnd ein jungfrowen die jm sin wip versmacht o Vnd ein ku die nit milch git Vnd ein tochter die des nachts vß lit Vnd einen sun der gern spilt Vnd ein wip die jm heimlich ab stilt v o Vnd ein knecht der der frowen wartet zu der kerben o Der het ein recht gesind zu verderben
v
‘Ein spruch von einer geisterin’ . . .
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VI & Ein antwu´rt vmb einen ters 1
& Jst er klein / so ist er wacker Jst er kurtz / so ist er tapfer Jst er lang / so reicht er verre Wie er ist so hab ich in gern
Anmerkungen zu einzelnen Stellen Überschrift: Die Überschrift ist rot geschrieben, eingerückt und, u. U. später hinzugesetzt, durch größeres Spatium vom Gedicht abgesetzt. Der Überschriftentyp, der jeweils eine, meist die zuerst auftretende Hauptfigur nennt, ist in der Überlieferung der Rosenplütschen Mären recht verbreitet. Vgl. Die deutsche Märendichtung des 15. Jahrhunderts, hg. von Hanns Fischer (MTU 12), München 1966, Nr. 16a ‘Ain spruch von ainem maler’, Nr. 17b ‘Ain spruch von ainem palbirer’, Nr. 21a ‘Ein spruch vom varnnden schuler’, Nr. 22 ‘Ein Spruch von eynem Edel Man’, Nr. 23 ‘Ein Spruch von eym pawernn’ (aus jeweils unterschiedlichen Handschriften), usw. spruch: Der Begriff taucht gattungsübergreifend in der Überlieferung der Rosenplütschen Texte häufig auf, vgl. die Mären (hg. von Hanns Fischer) und die Reimpaarsprüche und Lieder. S. die Überschriften der Mären jeweils im Lesartenapparat von Nr. 15a, 16a, 17a, b, 18a, b, 21a, 22, 23. Vgl. ferner Hans Rosenplüt, Reimpaarsprüche und Lieder, hg. von Jörn Reichel (ATB 105), Tübingen 1990, Nr. 2a, 4, 11, 17, 18, 20 (aus jeweils unterschiedlichen Handschriften). geisterin: S. DWb IV,1,2,2747; Lexer I,800: ‘geistliche Frau’, ‘Begine’; s. auch u. Anm. zu V. 5–8 und Anm. zu V. 7. 1/2 beschach : tag: Zum Reim s. Karl Weinhold, Alemannische Grammatik, Berlin 1863, Nachdruck: Amsterdam 1967, § 214; er ist also, von der Aussprache her gesehen, im Alemannischen unanstößig. Vgl. V. 101/102. Doch auch im Bairischen ist auslautendes /g/ zu /ch/ geworden, s. Karl Weinhold, Bairische Grammatik, Berlin 1867, Nachdruck: Wiesbaden 1968, § 174. e
1 Horent: Initiale über drei Zeilen in rot. Die Majuskeln zu Versbeginn sind jeweils rot gestrichelt. 5–8 Vgl. Hundert noch ungedruckte Priameln des 15. Jahrhunderts, mit einer Einleitung hg. von Karl Euling (Göttinger Beiträge zur deutschen Philologie 2), Paderborn/Münster 1887, Nr. 62,1–3, 7 f. Wie die geysteryn gen himel furen: Die geisterin in irem wessen, Die altag in den puchern lessen, Und al morgen fru gen metten lauffen, [. . .] die farn gen himel, [. . .] Es err sie den [‘es hindere sie denn’] der teuffel dran.
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7 zell: Ob man den Hinweis auf die Zelle so konkret verstehen darf, dass es sich bei der geisterin um eine Ordensfrau (Nonne, Novizin) handelt und nicht um eine Begine (s. o. Anm. zur Überschrift), ist nicht sicher zu entscheiden. Das Verschlossensein der Kirche (V. 9, 11, 14, 57) und das Nächtigen des sigrist in der Kirche (V. 88) passen nicht so recht zu der Annahme, dass die mette (V. 8) – und die Verführungsszene – in einer der Zelle benachbarten Klosterkirche stattfindet. Aber vielleicht ist eine in sich stimmige, widerspruchsfreie Lokalisierung im Märe auch gar nicht angestrebt und zu erwarten, zumal auch V. 8 ylet keine Rückschlüsse auf eine konkrete Entfernungsangabe erlaubt. 10 wz: Zur im 15. Jahrhundert üblichen Schreibweise s. Karin Schneider, Paläographie und Handschriftenkunde für Germanisten. Eine Einführung (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte. Ergänzungsreihe 8), Tübingen 1999, S. 88. S. noch dz V. 21 u. ö. und fu´rbz V. 80. 14 kilchen: Zur durchgehend gebrauchten alemannischen Form s. Weinhold, Alem. Gr., § 194; vgl. V. 25, 56, 88. 17 pfenster: Zum anlautenden /pf/ in einem Lehnwort s. Weinhold, Alem. Gr., § 157; dens., Bair. Gr., § 128. 18 herbrechen: S. Lexer I, 618 f. erbre(c)hen ‘hervorstrahlen, s. zeigen’ (sonst meist uˆfbrechen, s. Lexer II,1688). Zum für das Alemannische kennzeichnenden »Vortritt eines hauchenden h vor vocalischen Anlaut« s. Weinhold, Alem. Gr., § 230. 19/20 Vgl. zu dieser Formel die Belegsammlung in Arnold E. Bergers Anmerkung zu V. 135 seiner Ausgabe des ‘Orendel’ (Orendel. Ein deutsches Spielmannsgedicht. Mit Einleitung und Anmerkungen hg. von A. E. Berger, Bonn 1888, Nachdruck: Berlin 1974). o
22 nider schuch: S. DWb VII,793 ‘niedriger schuh, schnürschuh, im gegensatz zu den knieschuhen, stiefeln’. 25 als: ‘als ob’, ebenso V. 30, 72, s. MWB I,170,1. 26 metten: S. Lexer I,2125 f. ‘Frühmesse’. 27 zuckt er wider: ‘zurück-, ausweichen’. e
32 zuglich: S. Lexer III,1168 zuclıˆche ‘rapidus’ (ohne literarischen Beleg); DWb XVI,435 (wenige neuzeitliche Belege). 38 zerfleckt: S. Lexer III,1092 ‘zerschlagen, -hauen, -spalten’. 39–44: Natürlich sind hier ganz reale Bußleistungen gemeint, doch gewinnt im Kontext des Märes z. B. die Pilgerschaft auch einen sexuellen ›Beigeschmack‹, s. u. Anmerkung zu V. 130; Malcolm Jones, The Secret Middle Ages, Stroud/Gloucestershire 2002, S. 256 f. ›The Sexual Pilgrim – Medieval Sex-tourists?‹. Vgl. unten S. 277 f.
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42 belibt vnderwegen: Vgl. Lexer, III,720 ‘unterbleiben’, hier eher: ‘sind vergeblich, umsonst’. 44 widerbrengt: Vgl. Lexer III,830, hier soviel als ‘wieder gut macht’. Vgl. V. 47. e
46 dort: S. zu V. 84. 50 hertz: Vgl. Kleinere mittelhochdeutsche Erzählungen, Fabeln und Lehrgedichte. II. Die Wolfenbüttler Handschrift 2. 4. Aug. 2°, hg. von Karl Euling (DTM 14: Die sogenannte Wolfenbüttler Priamelhandschrift), Berlin 1908, Nr. 456 ‘Wo die stuck an dem menschen sind’. In diesem Reimpaargedicht werden u. a. die Geistes- und Seelenkräfte sowie Affekte den Organen des Körpers zugewiesen, Furcht, Sinn und Glaube dem Herzen (V. 5, 12 f.). 52 vndersachen: Für das bei Lexer nicht belegte Verb führt das Findebuch zum mittelhochdeutschen Wortschatz, mit einem rückläufigen Index, hg. von Kurt Gärtner u. a., Stuttgart 1992, s. v. nur einen Beleg aus den Teichnerreden (hg. von Heinrich Niewöhner, 3 Bde. [DTM 44, 46, 48], Berlin 1953–1956), Nr. 693, V. 6, an mit der Übersetzung ‘unterscheiden’. Die Bedeutung ‘beilegen’, ‘schlichten’ bietet sich für beide Stellen eher an, hier u. U. ‘verhindern’. e
53 dort: S. zu V. 84, vgl. V. 46. 55/56 gesin : nein: gesıˆn ist alem., vgl. Frühneuhochdeutsche Grammatik, hg. von Oskar Reichmann und Klaus-Peter Wegera (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte. Hauptreihe 12), Tübingen 1993, § M149, entspricht also der Schreibsprache des Schreibers. Die Form nein ist wohl aus hin ıˆn (s. DWb IV,2,1414) gekürzt, s. aber V. 58. Die Abtrennung von nein durch eine Virgel bleibt auffällig. 59 Vgl. Johannes Müller, Schwert und Scheide. Der sexuelle und skatologische Wortschatz im Nürnberger Fastnachtspiel des 15. Jahrhunderts (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 2), Bern u. a. 1988, S. 117–121 ›Umschreibung des Koitus durch Lage oder Stellung von Mann und Frau‹. 61/62 gewinnen : jnne: Zum Reim mit überschießendem -n vgl. Weinhold, Alem. Gr., § 202, 350, 370; dens., Bair. Gr., § 167; Frühnhd. Gr., § L 62,4, S. 140 f. Zur Bedeutung (kint) gewinnen ‘gebären, zeugen’ s. BMZ III,710a,21–43. 65 Vgl. NGA 19 ‘Der Wirt’, V. 390 ir beinen tet er einen schranc, unz er in die schlingen braht den heber; Die deutsche Märendichtung, hg. H. Fischer, Nr. 3, V. 125 f. ja solt ir in versteinen, den zwischen euwern beinen; vgl. ebd., Nr. A3b, V. 127 und stiß in zwischen ire pein. 67 Zum damit verbundenen ›frechen‹ bzw. ›kühnen Griff‹ vgl. Edmund Wießner, Kommentar zu Heinrich Wittenwilers Ring (DLE. Reihe Realistik des Spätmittelalters. Kommentar zu Bd. 3), Leipzig 1936, Nachdruck Darmstadt 1964, Kommentar zu V. 54 (mit der entsprechenden Zeichnung in der Handschrift); Stefan Zeyen, . . . daz tet der liebe dorn. Erotische Metaphorik in der deutschsprachigen Lyrik des
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12.–14. Jahrhunderts (Item mediävistische Studien 5), Essen 1996, S. 185–189; Gaby Herchert, ‘Acker mir mein bestes Feld’. Untersuchungen zu erotischen Liederbuchliedern des späten Mittelalters. Mit Wörterbuch und Textsammlung (Internationale Hochschulschriften 201), Münster/New York 1996, S. 202 f. Der ›kühne Griff‹ ist nicht auf die Literatur beschränkt, er findet sich auch auf Bildern, z. B. im Palazzo Schifanoia, Ferrara, auf der Ostwand bei der Darstellung des ›April‹, oberes Band: Man sieht zwischen stehenden Musikantinnen und Jünglingen ein sitzendes Liebespaar. Während der Liebhaber den rechten Arm um den Hals der jungen Frau gelegt hat, langt er mit seiner linken Hand ihr ›frech‹ in den Rock hinein. Diesem linken Arm versucht eine weitere sitzende junge Frau einen Blütenkranz überzuziehen. Im Übrigen ist es seit der Antike die linke Hand, die in eroticis aktiv ist, s. Gaston Vorberg, Glossarium Eroticum, Stuttgart o. J. [1928–1932], Nachdruck Hanau a. M. o. J. [1965], S. 297 f. s. v. laeva. e
67/68 hemd : fromd: Zum Reim s. Weinhold, Alem. Gr., § 16, 28; dens., Bair. Gr., § 13. 71 nagel: Zur erotischen Metapher s. Zeyen, S. 161; Müller, S. 83 f., S. 133; NGA 19 ‘Der Wirt’, V. 499 darin er sinen nagel stiez. Vgl. im Fastnachtspiel ‘Ein EhebruchProzeß’ (Rosenplüt-Corpus; Fastnachtspiele aus dem 15. Jahrhundert, hg. von Adelbert v. Keller, Stuttgart 1853, Nr. 10, S. 101,33 f.) Und so wurd im allererst sein zagel Gar ein wol genutzter nagel; Die deutsche Märendichtung, hg. H. Fischer, Nr. A4a, V. 268; ebd., A4b, V. 247. Es ist auch Punkt hinter nagel möglich, Komma nach V. 72. Der Reim nagel : zagel auch in Hundert Priameln, hg. K. Euling, Nr. 13,5 f. 72 Der Vers ist wohl an V. 70 syntaktisch anzuschließen: ‘als ob ihn der Hagel niedergestreckt hätte’. Vgl. Codex Weimar Q 565, bearbeitet v. Elisabeth Kully (Bibliotheca Germanica 25. Deutsche Sammelhandschriften des späten Mittelalters), Bern/ München 1982, S. 81, Nr. 3,13 f. oder mich schlag der hagel, So wais ich, das eines mannes zagell [. . .] 73 nemt v´ch an der wil: Wohl zu anenemen ‘sich einer Sache annehmen, sich etwas zu Herzen nehmen, sich etwas getrauen’ (MWB I,262). Hier etwa: ‘traut euch jetzt etwas zu’. 74 stil: Zu vergleichbaren Umschreibungen (›Stange‹ [s. in: Die deutsche Märendichtung, hg. H. Fischer, Nr. 18a Rosenplüt, V. 124 Lesart Er warde seiner großen stangen gewar], ›Stock‹, ›Stecken‹ [s. noch Wießners Kommentar zu Wittenwilers Ring, zu V. 2159 f.]) s. Müller, S. 81, 84 f., 99; Herchert, S. 208; Karl Filzeck, Metaphorische Bildungen im älteren deutschen Fastnachtsspiel, Diss. phil. Köln/Würzburg 1933, S. 50 f.; Heribert Hoven, Studien zur Erotik in der deutschen Märendichtung (GAG 256), Göppingen 1978, S. 334. Vgl. NGA 21 ‘Minnedurst’, V. 200 f. er bot ir da ze stete den schaffenstil in ir hant (vgl. die Anmerkung zum folgenden Vers); V. 224 f. der knabe bot ir aber dar sinen schaffenstil als e und V. 236 f. der knabe satzt ir aber an zem dritten mal den schaffenstil; Lexer II,632 nur mit diesen Belegen, aber allein
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mit der Bedeutung ‘stiel eines [. . .] schöpfgefässes’; hier gewiß doppeldeutig mit der übertragenen Bedeutung ‘Penis’ gebraucht. 75 Vgl. die Beispiele bei Zeyen, S. 91 und 97, und in: Wießner, Kommentar zu Wittenwilers Ring, zu V. 75. S. ferner Götfrid von Nifen, KLD 15, XXXIX,4,2; Neidhart (hg. von Moriz Haupt und Edmund Wießner, Leipzig 1923), S. XLVI,11 f; Neidhart (hg. von Edmund Wießner, Hanns Fischer und Paul Sappler [ATB 44], Tübingen 1999), Winterlied VIII,Va,6; Neidhart Fuchs (Narrenbuch, hg. von Felix Bobertag, Berlin/Stuttgart 1884), V. 2898; Bergliederbüchlein, hg. von Elizabeth Mincoff-Marriage, Leipzig 1936, Nr. 40,8,2; ‘Die Nachtigall’, GA II, Nr. 25, V. 212; Die deutsche Märendichtung, hg. H. Fischer, Nr. 50,1, V. 4; ebd., Nr. A3a, V. 212, 218; Nr. A3b, V. 134, 137; Codex Weimar Q 565, bearb. E. Kully, S. 81, Nr. 2, 15; das Beispiel u. zu III,4. o
76 rucken zu der wend: Vgl. das Beispiel bei Zeyen, S. 97; Die deutsche Märendichtung, hg. H. Fischer, Nr. 2, V. 361 f. do leint er [sc. der prediger] sie an ein want, biß er die penitenz fant. Dazu slug er ir den pan; Nr. 36, V. 82 auch als nahe zu hauf geruckt. 77 ‘damit ich mich euch entgegen drücken kann’, ‘damit ich einen Gegendruck bieten kann’. 79 hindervierteil: S. DWb IV,2,1522 s. v. ‘Hinterviertel’ ‘der hintere vierte theil von schlachtthieren, [. . .] als schimpfwort’; gemeint ist wohl soviel als ‘Hintertheil’, ebd., Sp. 1520 f.; vgl. Lexer I,1297 und ‘Diu halbe bir’ (hg. von Georg Arnold Wolff, Diss. Erlangen 1893), V. 374 f. des toˆren hinderteile gap si stich über stich; Codex Weimar Q 565, bearb. E. Kully, S. 82, Nr. 4, 12–16 Ein tier [. . .] das tregt vier seyten fleisch an seinem kragen Vnd hinten an seinem halls zwen ers Vnd heißt mit vrlaub uor den hoden ein zers. S. ebd., S. 86, Nr. 4,5 Ars auff vnd ars nyder. Aus den Fastnachtspielen (hg. A. v. Keller) weist Müller, S. 82, nach: Nr. 30, S. 250,27 (Rosenplüt-Corpus?) Darzu han ich zwen groß arspacken und S. 83 aus Nr. 9, S. 96,1–4 (Rosenplüt-Corpus?) Der kund [. . .] Zusamen zimmern vier arspacken Und machet darauß zwen ers Und nagelt sie zusamen mit eim zers. 81/82 su´fzen : scheutzen: Der alemannische Schreiber hat offenbar die diphthongierte Form aus der Vorlage übernommen, s. Weinhold, Bair. Gr., § 84. Zum Reim /z/ : /tz/ s. ebd., § 152; dens., Alem. Gr., § 185. 82 mir wil scheutzen: Vgl. Lexer II,763 s. v. schiuzen ‘mir graut’. e
84 dort: ‘im Jenseits’, s. V. 46, 53; vgl. MWB s. v. [im Druck]. 85 verhab dich oben: ‘mach oben dicht, halt die Klappe’. Nach allgemeiner Vorstellung verließ die Seele den Körper durch den Mund, vgl. z. B. Karl Stüber, Commendatio animae. Sterben im Mittelalter (Geist und Werk der Zeiten 48), Bern/Frankfurt a. M. 1976, S. 133. Weil bei Judas, der sich aufgehängt hat, die Seele nicht durch den Mund dem Leib entkommen kann, macht sie sich den Weg frei, indem sie aus
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dem Leib hervorbricht und alle Eingeweide verschüttet werden, s. z. B. das ‘Donaueschinger Passionsspiel’ (hg. von Anthonius H. Touber, Stuttgart 1985), V. 2505a ff. mit der Anmerkung z. St., und zahlreiche bildliche Darstellungen, auf denen Judas die Eingeweide zum Leib herausquellen, z. B. den linken Flügel des elfenbeinernen Passionsdiptychons im Lübecker St. Annen-Museum (Paris, 1. Drittel des 14. Jahrhunderts). Vgl. Oswald Goetz, ‘Hie hencktt Judas’, in: Form und Inhalt. Kunstgeschichtliche Studien. Otto Schmitt zum 60. Geburtstag, hg. von Hans Wentzel, Stuttgart 1950, S. 105–137. 86 Das ›Verstöpseln‹ bzw. ›Verspunden‹, um in der Metaphorik des Märes zu bleiben, eines zweiten ›Ausgangs‹ für die Seele ist eine neue witzige Pointe. ‘durch schieben verschließen’ (DWb XVI,793) wäre etwas pointelos. 88 sigrist: ‘Messner, Küster’, s. DWb X,1,966 f. ›bis heute auf obd., besonders alemannischem (schweiz.) sprachgebiet lebendig‹; Lexer II,919; WMU II,1576b (»alle Belege alemannisch«). Vgl. V. 98, 102, 109. V. 123 übernimmt der Schreiber offenbar aus der Vorlage meßner, sofern nicht ein Bezeichnungsunterschied zwischen der handelnden Figur und dem ›geplanten‹ Kind intendiert sein sollte. Dass beim vierten Vorkommen eines ihm fremden Wortes einem Schreiber die dialektale Umsetzung des Wortes aus der Vorlage entgeht, wäre nicht weiter auffällig; Konsequenz ist eine seltene Schreibertugend! In dem Fastnachtspiel ‘Vom Werben um die Jungfrau’ aus dem Rosenplüt-Corpus (hg. A. v. Keller, Nr. 70) wird, wie mir Rebekka Nöcker, Tübingen, dankenswerter Weise mitgeteilt hat, S. 613,15; 614,30; 615,7.8.21 messner gebraucht neben pfaff (S. 613,15; 619,22) und pfarrer (S. 614,23.34; 615,6). 91 sich het verwegen: S. DWb XII,1,2153 ‘sich nicht um etwas kümmern, sich über etwas hinwegsetzen’, hier wohl soviel als ‘sich verspäten’, vielleicht ‘verschlafen’. 93 ‘und er erhob sich, um zu . . .’ 94 oben: ‘von oben herab’. Wenn die V. 118 genannten gloggen nicht die bei einer Messe gebrauchten kleinen Glocken sein sollten (vgl. in der Anm. z. St. das eine Beispiel aus dem Rosenplütschen Spruchgedicht), sondern große im Kirchturm hängende, wofür der Plural spräche, dann könnte ein Raum des Messners im Kirchturm z. B. hier angesprochen sein. Wenn hier keine den Raum betreffende Angabe gemeint sein sollte, müsste wohl so etwas wie ‘längelang’ oder ähnliches gemeint sein. 95 Nu´merdumen: Alltagssprachlich, wie im ‘Renner’ (hg. von Gustav Ehrismann, 4 Bde., Stuttgart 1908–1911, V. 13679–13682) beklagt wird, für in nomine domine. Häufig belegt u. a. in den frühen Nürnberger Fastnachtspielen, s. Wießners Kommentar zu Wittenwilers Ring, zu V. 321; Lexer II,119 f. s. v. numen; DWb VII,981 s. v. Numerdum. S. auch Die deutsche Märendichtung, hg. H. Fischer, Nr. 2, V. 115; Nr. 37, V. 237; Nr. 50,1, V. 9. 99 Nichtangezeigter Sprecherwechsel.
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flick: vgl. Filzeck, S. 44. Mit V. 100 f., 104 f., 107–114 ergibt sich ein metaphorisches Feld, das man auch als erotische Allegorie auffassen kann, die sich auf der Basis von ›nähen‹ ausgebildet hat; vgl. Die deutsche Märendichtung, hg. H. Fischer, Nr. A13, V. 75–92; Herchert, S. 213; Müller, S. 84. v´berru´ck: S. Lexer II,1652 s. v. überroc ‘superpellicium’, ‘Chorrock, -hemd’; Moriz Heyne, Fünf Bücher deutscher Hausaltertümer von den ältesten geschichtlichen Zeiten bis zum 16. Jahrhundert. Ein Lehrbuch, Bd. III: Körperpflege und Kleidung bei den Deutschen [. . .], Leipzig 1903, S. 292, Anm. 170, u. a. mit der Form uberruchke; Joseph Braun, Die liturgische Gewandung im Occident und Orient. Nach Ursprung und Entwicklung, Verwendung und Symbolik, Freiburg i. Br. 1907, Nachdr. Darmstadt 1964, S. 125–148. 101/102 mag : iach: S. o. zu V. 1. 101 vermachen: ‘einfassen, stopfen’, s. Lexer III,172. 104 nuwand: ‘in nichts anderes als’. Zur Form mit auslautendem Dental s. die Belege bei Lexer II,91 f. in ein loch stechen: S. Müller, S. 49, 99 und 149 zur erotischen Metapher loch. Vgl. den Beleg für stechen zwar im erotischen übertragenen Sinn, aber ohne den metaphorischen ›Nähen‹-Kontext in: Die deutsche Märendichtung, hg. H. Fischer, Nr. 32, V. 77 und der knecht hett die hurn gestochen; Hundert Priameln, hg. K. Euling, Nr. 13,5 Ein weits loch und ein kleiner nagel (vgl. V. 71). 105/106 neyen : jehen: S. bei Lexer II,29 die zahlreichen Nebenformen zu næjen, u. a. nehen. Aber auch neien würde einen von der Aussprache her gesehen erlaubten Reim ermöglichen, vgl. Weinhold, Alem. Gr., § 58 »ei für e, besonders früh und stark entwickelt«; ebd. § 234 zum Ausfall von /h/ inlautend zwischen Vokalen. Vgl. auch Weinhold, Bair. Gr., § 80 zu /ei/ für /e/. 109/110 in : zerru´nn: S. Weinhold, Alem. Gr., § 22, 82, 115, und dens., Bair. Gr., § 32 zum Zusammenfall von /i/ und /ü/ in der Aussprache. 109 netzen: S. DWb VII,640 ‘netzartig stricken, filet machen’. Im Findebuch zum mittelhochdeutschen Wortschatz s. v. ist ein Verb netzen aus der mitteldeutschen poetischen Paraphrase des Buches Hiob, hg. von Torsten Evert Karsten, Berlin 1910, V. 2980, nachgewiesen in der Bedeutung ‘verbinden, befestigen’; allerdings ist diese Bedeutungsansetzung nicht recht gesichert, s. das Wortverzeichnis s. v. und die Anm. z. St. vs vnd in: Hier wohl ‘(von) außen und innen’. 111/112 tru´wen : klu´ngeln: Der Reim erfordert das Substantiv kliuwe, s. Lexer, I,1627 ‘knäuel, kugel’; im Nachtrag III,275 ist Brun von Schonebeck, hg. von Arwed Fischer, Stuttgart 1893, V. 2730 f. nachgewiesen: min garn ich vaste zwirne und han iz uf ein kluen gewunden. Der Schreiber hat hier wohl das Diminutiv klungelıˆn ‘knäuel’ eingesetzt, s. Lexer I,1637; DWb V,1295 s. v. ‘Klüngel, Klünglein’ und das als »ein
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altes seltenes wort« bezeichnete ‘Klung, Klunge’. S. aber auch das gleichbedeutende kliuwelıˆn mit zahlreichen Nebenformen, Lexer I,1628. 112 hangent: Zu dem in diesem Kontext stereotyp verwendeten Verb vgl. u. a. das Fastnachtspiel ‘Ein Ehebruch-Prozeß’ aus dem Rosenplüt-Corpus (hg. A. v. Keller), Nr. 10, S. 98,15–17: bei den knoten, Die im zwischen nabel und knie hangen An seiner langen wasserstangen; NGA 18, V. 392–393 also daz man sin genoz sach hangen also klein als eins gevüegen ohsen bein; Die deutsche Märendichtung, hg. H. Fischer, Nr. 3, V. 156; Nr. 10, V. 44; Rosenplüt, Nr. 16a, V. 93 f.: er sach dem brobst an sein geschir und sprach: »wie hanget das so ir?«; Nr. 16b, V. 96: »hausfrau, wie hangt es so jagirr?«; Nr. A3a, V. 53, Nr. A3b, V. 51. S. auch Filzeck, S. 52; Müller, S. 99, 103. klu´ngeln: Verwandte metaphorische Ausdrücke im Zusammenhang mit hengen sind ebd. nachgewiesen: klotz, knoden, knopf, glocken, schellen (dazu Müller, S. 102; NGA 9 ‘Die zwei Beichten’, S. 62 Lesarten zu V. 94a-cc: [. . .] mit deinem troster wol gethan Das dy zw schellen hangen an). 113/114 reyn : liehen: Um einen reinen Reim herzustellen, ist einerseits die alemannische nicht diphthongierte, mittelhochdeutsche Normalform rıˆhe (bzw. rıˆhen) anzusetzen, s. Lexer II,430 ‘die vertiefte linie am menschlichen leibe, da, wo sich der bauch an die schenkel schließt’; ebenso s. u. im Priamel III,5. Andererseits ist lıˆhen ‘leihen, borgen’ intendiert. Zu /ie/ für /ıˆ/ s. Weinhold, Alem. Gr., § 63; dens., Bair. Gr., § 52, 89. Dass die Reime gehäuft in den Versen 109–114 ›gestört‹ sind, ist auffällig. Eine punktuelle Unaufmerksamkeit des Schreibers beim Abschreiben und zugleich dialektalen Umsetzen der Vorlagenschreibsprache in die ihm vertraute, einheimische ist die wahrscheinlichste Erklärung. rıˆhe in der genannten Bedeutung belegt mehrfach Andreas Schmeller, Bayer. Wb., 2II, 84; u. U. lag hier der Anlass für die Reimungenauigkeiten, der Schreiber war für einen Augenblick beim Schreiben des ihm befremdlich vorkommenden Wortes abgelenkt. 115 vff der rechten ban: s. MWB I,419 mit Belegen dieser Wendung. 116 ziehen metten an: S. Lexer I,65 früemesse anz. ‘zur frühmesse läuten’. Vgl. Die deutsche Märendichtung, hg. H. Fischer, Rosenplüt Nr. 19, V. 42 biß das man metten wurd anziehen; Rosenplüt, Reimpaarsprüche und Lieder, hg. J. Reichel, Nr. 13,137 Biß man das glocklein zu wandeln anzeucht; ‘Die Legende vom zwölfjährigen Mönchlein’, in: Die Deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse: Mittelalter, hg. von Helmut de Boor, München 1965, Bd. I, S. 351–355, V. 160 f. unz man die gloggen an zoˆch, diu zer samenunge erklanc (s. MWB I,311,47 ff.). 117 tocken: S. Müller, S. 97 zur Mehrdeutigkeit ‘Puppe’, ‘Mädchen’, ‘Brustwarze’. 118 gloggen: »Beliebt ist für das kk im alemannischen noch heute gg zu schreiben«, Weinhold, Alem. Gr., § 209; vgl. dens., Bair. Gr., § 173.
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119 Wol vf: S. DWb XIV,2,1079; hier sicher grob gemeint im Sinne von ‘mach dich fort, scher dich weg’. bereit: Hier: ‘zubereitet, vollendet’, s. MWB I,594. 125 machend: Vgl. zur spezifischen Bedeutung ‘anfertigen, herstellen’, insbesondere ‘zeugen’ Die deutsche Märendichtung, hg. H. Fischer, Rosenplüt Nr. 19, V. 44 f. wann er so treulich het geerbet [‘gearbeitet’] im graben, da man di leut in macht; Hundert Priameln, hg. K. Euling, Nr. 68,5 Reich leut sterben und kinder machen; Nr. 80,66 f. Ich weis ie wol, das ich nit kan Mit kinder machen wol besten; Wittenwilers ‘Ring’, hg. von Edmund Wießner, Leipzig 1931, Prosa nach V. 3524 Z. 6; Müller, S. 144 f. S. auch Lexer I,1572 s. v. kindermachen ‘das kindererzeugen’. einen oder zwen: Der Wunsch nach mehrfachem Beischlaf bzw. die sexuelle Unersättlichkeit der Frau, insbesondere der in ihrer Naivität um die Unschuld gebrachten Jungfrau (Nonne, Begine; aber im ‘Gänslein’ auch des jungfräulichen, jungen Mönchs) ist ein literarisches und gattungskonformes Stereotyp der Mären ebenso wie der Fastnachtspiele oder Priamel. Vgl. u. a. Hans Ehrenploß, ‘Der hohle Baum B’; ‘Das Häslein’; ‘Der Sperber’; ‘Des Teufels Ächtung’ usw. S. ferner Wießners Kommentar zu Wittenwilers Ring, zu V. 2174; NGA 22 ‘Der Pfaffe mit der Schnur’, V. 268; NGA 10 ‘Die zwei Beichten’, S. 60 Lesarten (10x, 3x ‘minnen’); Die deutsche Märendichtung, hg. H. Fischer, Nr. 29, V. 128; Nr. 45, V. 105. Im Allgemeinen z. B.: Hoven, S. 315 ›Das Motiv der sexuellen Unersättlichkeit‹, S. 316 ›Das Motiv der erotischen Naivität‹, S. 318 ›Erotische Zahlenangaben‹. 129/130 heim : klein: Die ›Reimunreinheit‹ m : n ist gemäß Frühnhd. Gr., § L 62,4, S. 140, und Weinhold, Alem. Gr., § 167, 203, im Alemannischen nicht als solche zu interpretieren; vgl. dens., Bair. Gr., § 139, 169. 130 abblas: Zu »Umschreibungen, die auf kirchliche Dinge anspielen« im erotischen Kontext s. o. zu V. 39–44; Filzeck, S. 46, Zeyen, S. 129–131; Jan M. Ziolkowski, The Erotic Paternoster, in: Neuphilologische Mitteilungen 88 (1987), S. 31–34; Elisabeth Lienert, ‘Paternoster-Parodie’ und ‘Ave Maria-Parodie’, in: 2VL 7 (1989), Sp. 356– 358; GA 28 ‘Die Teufelsacht’; NGA 8 ‘Das Almosen’; NGA 9 ‘Die zwei Beichten’; Die deutsche Märendichtung, hg. H. Fischer, Nr. 29 ‘Die zwei Beichten B’; Nr. 30 ‘Umgangene Buße’; Hercherts Textanhang Nr. 54–57 ‘Geile Mönche und Nonnen’. Vgl. auch penitenz in dem zu V. 75 zitierten Beispiel. 134 mettivart: Das bei Lexer nicht belegte Wort ist im Findebuch zum mittelhochdeutschen Wortschatz in verwandter Lautung aus Jans Enikel, hg. von Philipp Strauch, Hannover 1900, ‘Weltchronik’, V. 27562 f. soˆ si zuo der messvart süllen geˆn nachgewiesen: ‘Messgang’. 136 Die Autorsignatur weicht von den beiden in den Mären, Spruchgedichten und Liedern gebrauchten Typen ab. Unserem het geredt steht in der Mehrzahl der Mären (hg. H. Fischer), Spruchgedichte und Lieder (hg. J. Reichel), die ich deshalb nicht alle anführen muss, het geticht gegenüber. In den Spruchgedichten taucht einige Male ein
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davon abweichendes präsentisch gebrauchtes spricht auf (Nr. 2a Lesarten; 3 Lesarten; 4; 16; 19; 22). Einige Autorsignaturen in den Spruchgedichten weichen ganz ab (Nr. 5; 14a, b; 25). Eine Reihe von Mären (Nr. 15a, b; 16a, b; 17b; 18b) und Spruchgedichten (Nr. 2b; 13; 14b) sind ohne Autorsignatur. Der Name Rosenplüt steht, mit und ohne Vornamen Hanns, gelegentlich mit dem Zusatz meister oder Schnepperer. Auch unsere Variante der Rosenplüt ist belegt, z. B. im Märe Nr. 20 Lesarten oder im Spruchgedicht Nr. 9 So hat geticht der Rosenplüt; Nr. 4 Fraw, amen, spricht der Rosenplut, Nr. 16 Spricht der Rosenplüt [. . .] In den Mären Nr. 18 (So list vns der schreiber wolgemut); Nr. 21b (Also sprach der schwler gut) und Nr. 24 (Hanns zapff zue nuremberg barbirerer) finden sich in den Lesarten Ersatzsignaturen, sei es anonymisiert oder mit neuem Namen; und eine Handschrift des anonymen Märes ‘Der Pfaffe in der Reuse’ (NGA 31, Lesarten) nennt am Schluss als Autor: So hat geticht meister hanns schnepperer. Insgesamt gesehen ist die Autorsignatur Rosenplüts im Bestand und im Wortlaut im Einzelnen durchaus unfest. Ob bei diesem Befund die Hauptabweichung von der üblichen Autorsignatur, das singuläre het geredt, ausreicht, um die Autorschaft Rosenplüts nicht anzuerkennen, scheint mir nicht zwingend geboten zu sein. Wortersatz durch den Schreiber (vgl. o. die Anmerkung zu V. 88) ist eine ernstzunehmende Option. Im Spruchgedicht Nr. 7 z. B. gibt es für So hat geticht die Variante So schreibt, und das Märe Nr. 24 schließt Hanns Rosenplüt der schnepperer tut uns die abenteur verjehen. Mit dem Verb verjehen ist man schon dicht bei unserem reden. 137 Explicit: Der erste Kringel vor und der zweite nach Explicit ist rot geschrieben.
II 1 Der Beginn welch(er) man eröffnet zahlreiche Priamel, s. Hansjürgen Kiepe, Die Nürnberger Priameldichtung. Untersuchungen zu Hans Rosenplüt und zum Schreibund Druckwesen im 15. Jahrhundert (MTU 74), München 1984, S. 418 f.; Kleinere mittelhochdeutsche Erzählungen, Fabeln und Lehrgedichte, hg. K. Euling (wie zu I,50), S. 241. 2 vier: Vermutlich ist tier zu lesen, gemeint sein dürften ‘Läuse’, die z. B. in dem Priamel des Codex Weimar Q 565, bearb. E. Kully (wie zu I,72), S. 90, Nr. 12,6 Vnd ein alter peltz an leüß oder in: Hundert Priameln, hg. K. Euling (wie zu I,5–8), Nr. 67,4 Und ein laus in einem grint vorkommen. Zum Vorkommen der Laus in Rätseln vgl. Tomas Tomasek, Das deutsche Rätsel im Mittelalter (Hermaea N. F. 69), Tübingen 1994, S. 291 f., S. 318. 4 Vgl. im Priamel Nr. 7,5, S. 87 des Codex Weimar Q 565, bearb. E. Kully, Vnd ein alte tasch ane vach; vgl. ebd., S. 86, Nr. 4,7; Alte gute Schwänke, hg. von Adelbert von Keller, Heilbronn 21876, Nr. 13,6 und sein gelt legt in locherit taschen; Hundert Priameln, hg. K. Euling, Nr. 4,1 f. Welcher man hat ein taschen gros und weit Do selten pfenning innen leit.
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7 kuste an den munt: Vgl. zu dieser »vorwiegend im Oberdeutschen gebrauchten Wendung« Heimo Reinitzer, Mauritius von Crauˆn. Kommentar (ZfdA. Beiheft 2), Stuttgart 1999, Kommentar zu V. 614.
III 1 Bock: Vnd ein alter pock an ein part kommt auch im Priamel S. 90, Nr. 12,7 des Codex Weimar Q 565, bearb. E. Kully (wie zu I,72), vor; vgl. Alte gute Schwänke, hg. A. v. Keller (wie zu II,4), Nr. 13,1 Wer ain bock zu aim gertner setzt. v
2 ein gemeine frowen: ‘Hure’, s. Lexer I,840. 4 fisel: Vgl. das Fastnachtspiel ‘Vier Bauern vor Gericht’, hg. A. v. Keller (wie zu I,67/68), das möglicherweise dem Rosenplüt-Corpus zugehört, S. 249,17 Gab er ir den fisel in die hant. 5 rey: S. o. die Anmerkung zu V. 113/114 des Märes. Vgl. in: Die deutsche Märendichtung, hg. H. Fischer (wie zu I, Überschrift), Nr. A3b, V. 36 f. du [sc. der zers] ligst in einem pösen rauch und wet dich manger pöser luft an.
IV 3 Tutten seckel: S. das Zitat aus Meister Reuauß (2VL 6 [1987], Sp. 341 f.) bei Lexer, II,1592 s. v. tutensack: ir manche macht zweˆn tuttenseck, daˆ mit soˆ snurt sie umb die eck, daz sie an schau ein ieder knab, wie sie hübsche tütlein hab. Bei Lorenz Diefenbach, Novum Glossarium latino-germanicum mediae et infimae aetatis. Beiträge zur wissenschaftlichen Kunde der neulateinischen und der germanischen Sprachen, Frankfurt a. M. 1867, Nachdruck Aalen 1964, S. 167b s. v. Fascia ist u. a. eyn titten budel belegt, von Karl Schiller und August Lübben, Mnd. Wb. IV, 550 s. v. verzeichnet. Vgl. Alwin Schultz, Das höfische Leben zur Zeit der Minnesinger, Leipzig 21889, Bd. I, S. 249. meigden: es dürfte sich um eine Mischform aus megeden und der kontrahierten Form meiden handeln. 6 sugende kinder: Vgl. Alte gute Schwänke, hg. A. v. Keller (wie zu II,4), Nr. 9,7 und saugende kind und melckend ammen. 7 Vgl. Müller (wie zu I,59), S. 105–107 ›Hunger als Metapher für sexuelle Begierde‹. S. im Codex Weimar Q 565, bearb. E. Kully (wie zu I,72), S. 84, aus dem Spruch 6 die Verse 15–18: Sie [sc. die votz] saugt noch ein dutten als gern, Als wen einem hunt ein fleisch kann wern [‘werden’]. Jr saugen macht mich vaist vnd faull. Sie het heint ein dutten jm maul. S. ferner ebd., S. 85, Nr. 3,1–8; S. 88, Nr. 8,4 f. Vnd hat ein schöns, lieplichs jungs, geils weib Die vnter der gürtel Ist so hungerig vnd geitig. futzen: Häufig in den Fastnachtspielen, s. Lexer III,486 oder im Codex Weimar Q 565, bearb. E. Kully, z. B. S. 83, Nr. 6,4. 9. 14; S. 85, Nr. 1 Überschrift; S. 130,
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Nr. 58,8 f.; S. 140, Nr. 68,1. Die Form mit /u/ auch in Wittenwilers ‘Ring’, hg. E. Wießner (wie zu I,125), V. 1572, vgl. Weinhold, Alem. Gr., § 29. v
8 rofleisch: Lexer, III,394 verweist auf den ‘Jüngeren Titurel’, hg. von Werner Wolf, Berlin 1968, Str. 4152,3 di rohez [Lesart rowes] vleisch da ezzent. Vgl. in obszöner Verwendung im Codex Weimar Q 565, bearb. E. Kully, S. 83, Nr. 5,15–19 Man Ißt es [sc. das pest wilbret] roch vnd vngesoten Vnd Ist rauch vnd hat zwen knoten Vnd wechst an einem klein schmalen flecklein. Das tragen die jungen gesellen zwischen Den paynen jn einem ploben secklein.
V v
2 jungfrowen: Hier: ‘Dienerin’. 4–6 Vgl. Alte gute Schwänke, hg. A. v. Keller (wie zu II,4), Nr. 31a (in den Lesarten), V. 5,7–8 und ein magd, die all nacht außen leit [. . .] und einen sohn, der alls verspielt, und ein weib, die ihm abstiehlt. 6 Vgl. Kleinere mittelhochdeutsche Erzählungen, Fabeln und Lehrgedichte, hg. von K. Euling (wie zu I,50), Nr. 440,6 [ein pos weyb] und stilt mir ab als wie ein rab. o
7 wartet zu der kerben: Vgl. das Spiel aus dem Rosenplüt-Corpus ‘Ein EhebruchProzeß’, hg. A. v. Keller (wie zu I,67/68), Nr. 10, S. 99,4 Das er meiner frauen wart zu der kerben (S. 98,12 Und hat ir gewart zu der krinnen; ähnlich S. 100,6.13); Nr. 17 ‘Das Aristotelesspiel’ aus dem Rosenplüt-Corpus, S. 152,32 f. So muß mir ein ander zu der kerben Warten; Hinweis S. 31 in: Hundert Priameln, hg. K. Euling (wie zu I,5–8); ebd. Nr. 24,10 Lesarten Die ir unten zu der kerben lest warten. S. auch Müller (wie zu I,59), S. 50 f.
VI Die vier Zeilen sind insgesamt stärker eingerückt als die übrigen Texte. Die antwu´rt ist noch ein Stück weiter eingezogen. Überschrift (ganz in schwarz geschrieben): lies zers. Dieser Begriff mit »ausschließlich obszöner Bedeutung« (Müller [wie zu I,59], S. 101) ist in Mären, Fastnachtspielen und Priameln ubiquitär, so dass sich hier Belege erübrigen. S. immerhin die »priapeischen Rätsel« im Codex Weimar Q 565, bearb. E. Kully (wie zu I,72), S. 130 f. (Zitat nach Anm. zu 64/65) oder RSM III, 1Frau/26/7a, b, worauf Tomasek (wie zu II,2), S. 326, als einziges Beispiel für ‘Penis’ in seinem Rätsel-Corpus verweist. Der Typ der antwu´rt ähnelt den Rätsellösungen im Codex Weimar Q 565, bearb. E. Kully, S. 114–127, 130 f., 134, 143, doch stehen diese in der Regel am Ende des Rätsels. Zu vergleichen sind auch die jeweiligen Überschriften in: Kleinere mittelhochdeutsche Erzählungen, Fabeln, und Lehrgedichte, hg. K. Euling (wie zu I,50); s. S. X f. 3 verre: in der Handschrift steht ver s, lies vern um des Reimes willen.
‘Ein spruch von einer geisterin’ . . .
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***** In aller Kürze mögen noch ein paar Bemerkungen folgen, die eine erste, vorläufige literaturgeschichtliche Einordnung der Texte versuchen sollen. Ingeborg Glier charakterisiert Rosenplüts Mären folgendermaßen: Im Unterschied zu seinen geistlichen Erzählungen und Reden verwendet R. in seinen Mären einen streng funktionalen Sprachstil, der vor allem dazu dient, die Handlung energisch voranzutreiben. Auch die Figuren gewinnen in Dialogen oder Monologen nur selten etwas individuellere Konturen. Die meisten Texte bleiben daher im Umfang unter 200 vv. Schwänke dominieren und handeln fast ausschließlich von Ehebruch. Der Ehebrecher ist zumeist ein Pfaffe [. . .]. Wie in anderen Mären der Zeit steht das moralische Urteil in Pro- oder Epimythion oft in einem eigentümlichen Spannungsverhältnis zur Erzählung selbst. Daß R. in seinen Mären Sexuelles häufig direkt anspricht oder nur schwach verhüllt schildert, hat ihm in der Forschung bis vor kurzem viel moralische Entrüstung eingetragen. Hier ergeben sich enge Parallelen vor allem zwischen R.s Mären und den frühen Fastnachtspielen [. . .].5
Der ‘spruch von einer geisterin’ fügt sich naht- und bruchlos dieser Charakterisierung ein. Mit 136 Versen bewegt sich das schwankhafte Märe von einer geisterin in dem für Rosenplüt genannten Rahmen, wenn auch am unteren Ende. Nr. 19 (114 V.) in Hanns Fischers Ausgabe der deutschen Mären des 15. Jahrhunderts (wie zu I, Überschrift), 16a (130 V.) und 18b (134 V.) sind kürzer, Nr. 15a und 16b mit 136 Versen ebenso lang, Nr. 15b (142) ist nur wenig umfangreicher. Nr. 18a (154 V.), 17b (164 V.), 21a (182 V.), 17a (184 V.), 21b (188 V.), 22 (192 V.) und 20 (196 V.) bleiben unter 200 Versen, und nur Nr. 23 (218 V.), 24 (308 V.) und 25 (406 V.) übertreffen unser Märe deutlich. Das Personal des Märes wird von drei Figuren gestellt, der geisterin, dem Pfaffen6 und dem Messner. Die Rolle des geilen Pfaffen als Verführers ist im Märenrepertoire ungemein typisch; die sexuell ebenso unerfahrene wie naive junge Frau – um eine alte geisterin dürfte es keines Falles gehen – nicht viel weniger. Insofern ist der Plot des Märes in Hinblick auf die Gattung – aber auch auf in Hinblick auf die Fastnachtspiele – unproblematisch. Bemerkenswerter und etwas untypisch ist dagegen die Rolle des Messners, der die Verführung beobachtet und mit einem gleichermaßen geistvollen wie zynischen Kommentar begleitet. Dass die Verszahl des Erzählberichtes (62 V., darunter 1–32, 127–136 en bloc) geringer ist als die der Redeverse (74 V.), meist ›Handlungsdialoge‹, ist unauffällig. »Im Gespräch wird die Handlung rasch vorangetrieben und im Gespräch werden auch die wesentlichen Entscheidungen gefällt«.7 5 6
7
S. Ingeborg Glier, Rosenplüt, Hans, in: 2VL 8 (1992), Sp. 195–211, Zitat Sp. 204. Vgl. Hanns Fischer, Studien zur deutschen Märendichtung, 2., durchges. und erw. Aufl. besorgt von Johannes Janota, Tübingen 1983, S. 120 f. S. Ingrid Strasser, Vornovellistisches Erzählen. Mittelhochdeutsche Mären bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts und altfranzösische Fabliaux (Philologica Germanica 10), Wien 1989, S. 54; vgl. die Tabelle S. 53.
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Ein Prolog fehlt dem ‘spruch von einer geisterin’, ein von Glier angesprochenes Epimythion nicht. Auch wenn es nur recht kurz ist,8 so sollte man seine Bedeutung für das Märe nicht unterschätzen. Rüdiger Schnell hat nämlich kürzlich gezeigt, »daß die Erzählstrategie eines Textes zuweilen das Epimythion einbezieht und daß deshalb ein Auseinanderdividieren von narrativer Struktur und Erzählerkommentierung die Sinnkonstitution zahlreicher Kurzerzählungen verfehlt.«9 Einige erzählerische Details machen aus dem Märe etwas Besonderes, geben ihm einen eigentümlichen, fast individuellen ›Pfiff‹: Die gespielte Ohnmacht des Pfaffen, die eingeforderte Wiedergutmachung in Form eines zu zeugenden weiteren Pfaffen, die ›Näh- und Stopf‹-Allegorie, die sich im Dialog zwischen dem Pfaffen und dem Messner ›entspinnt‹ und in ihm ›abgewickelt‹ wird, und schließlich die Forderung der geisterin, nicht nur einen Pfaffen, sondern darüber hinaus noch ein oder zwei Messner zu machen. Das alles fällt aus dem Rahmen des Schwankmären-Üblichen heraus und ist mit einem Rosenplüts würdigen Witz, ja Charme erzählt. ***** Die hier versammelten vier Priamel entsprechen in ihrer Form ganz genau dem, wie ein Priamel definiert wird, dass es nämlich »eine Reihe paralleler Bilder und Gedanken wohlgeordnet an einander reiht, sie gerne anaphorisch verknüpft und – wenigstens in (seiner) geläufigsten Art – zu einer Schlußpointe sich steigert«.10 Ihr Umfang von 8 Versen ist durchaus üblich, ja geradezu normal und dementsprechend gut bezeugt.11 Ihr Inhalt ist konform mit dem Teil der Priamel, der sich nicht ›ernsthaften‹ Themen wie ›Beichte‹, ›Andacht‹, ›Glaube und Kommunion‹ etc. widmet.12 Inhaltlich gesehen ist der Bestand an Priameln des Codex Weimar Q 565 den Fribourger Priameln bis ins sprachlich-metaphorische Detail aufs engste verwandt.
8 9
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12
Ob das Epimythion mit V. 130 oder erst mit V. 133 beginnt, bedarf genaueren Nachfragens. S. Rüdiger Schnell, Erzählstrategie, Intertextualität und ‘Erfahrungswissen’. Zu Sinn und Sinnlosigkeit spätmittelalterlicher Mären, in: Wolfram-Studien 18 (2004), S. 367–404, Zitat S. 403. So Gustav Roethe, zitiert nach Kiepe (wie zu II,1), S. 2. Priamel von 8 Versen in: Alte gute Schwänke, hg. A. v. Keller (wie zu II,4), Nr. 1a,b–5; 8–9; 12–13; 15–20a; 54; Codex Weimar Q 565, bearb. E. Kully (wie zu I,72), S. 85 Nr. 3, S. 86 Nr. 4–5, S. 88 Nr. 9, S. 89 f. Nr. 10–12, S. 91 f. Nr. 15–16 (+ Lesarten), S. 95 Nr. 22, S. 97 Nr. 24; Hundert Priameln, hg. K. Euling (wie zu I,5–8), Nr. 5, 9a, 11–13, 15, 17–18, 20, 22–23, 44, 48, 50, 54, 59, 62, 64, 71, 73, 87, 98. Der Versbestand ist allerdings nicht immer fest. Aber auch sonst sind ›Sprüche‹ und andere Kleinstformen von 8 Versen nicht selten, die sich inhaltlich freilich auf keinen gemeinsamen Nenner bringen lassen, s. z. B. in der Wolfenbüttler Priamelhandschrift (wie zu I,50), die Nummern 292–323, die fast alle einen Umfang von 8 Versen haben. S. Kiepe (wie zu II,1), S. 390 f. Die derb-deftigen bzw. erotischen Priamel des Codex Weimar Q 565 muss man bei Kiepe unter den Rubriken ›Lebensführung‹ (S. 392 ff.), ›Haushalt und Ehe‹ (S. 397 ff.), ›Gesundheit und Alter‹ (S. 399 f.) oder ›Gleich und Ungleich‹ (S. 403 f.) suchen!
‘Ein spruch von einer geisterin’ . . .
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***** Entsprechendes gilt für das Rätsel. Vier gereimte Verse, die das Rätsel formulieren, mitsamt einer meist prosaischen Lösung sind, wenn auch nicht Standard, so doch verbreitet.13 Auch das erotische Ziel des Ratens ist der Gattung nicht fremd, wie ebenfalls der Rätselbestand des Codex Weimar Q 565 bezeugt. Gern gestellt sind allerdings auch solche Rätselfragen, die eine erotische Lösung anvisieren und provozieren, sie aber nicht erfüllen.14 Dass im Gegensatz zum Märe die Priamel und das Rätsel anonym tradiert werden, ist gattungsgemäß und gattungskonform und stellt insofern kein Problem dar. Ob Rosenplüt als Autor der fünf ›Gedichte‹ in Frage kommt, hätte man dennoch gern gewusst. Sieht man von der alemannischen Schreibsprache einmal ab, so spricht gegen seine Autorschaft, soweit ich es beurteilen kann, nichts, aber positive Gründe, die dafür sprächen, vernachlässigt man einmal die bairischen Reliktformen, lassen sich auch nicht aufführen. ***** Der Aufsatz, in dem ich den Schwerpunkt auf die Textkommentierung gelegt habe, ist unter größtem Zeitdruck geschrieben worden, hatte keine ›Reifezeit‹ und weist somit gewiss noch viele Lücken und Schwachstellen auf. Insbesondere ist eine genauere Beschreibung der alemannischen Schreibsprache und der bairischen Reliktformen erwünscht. Des Weiteren müsste man im Nacharbeiten für den Stellenkommentar das Rosenplüt-Corpus der Mären, Fastnachtspiele und Priamel als Ganzes systematisch heranziehen, um so möglichst große Gewissheit bei der Beantwortung der Frage zu bekommen, ob die Autorsignatur des Märes berechtigt ist oder nicht, und schließlich wäre der Frage nachzugehen, wie das kleine deutsche Textcorpus in den französischen Kontext der Fribourger Handschrift gelangt ist. Hiezu sei eine Vermutung gestattet: Möglicherweise hat die kleine Sammlung ein Nürnberger Jakobspilger, vielleicht in Form eines dünnen Heftchens, auf seine Pilgerreise nach Santiago de Compostela mitgenommen, zu seiner und anderer Pilger Unterhaltung. Über Ulm, Konstanz, Bern, Fribourg usw. ging einer der Jakobswege in Deutschland und der Schweiz, so wie ihn z. B. 1495 Hermann Künig von Vach, ausgehend von Einsiedeln, auch gepilgert ist. Die erotischen Tragzeichen der Pilger – vgl. ABäG 59 (2004) – zeigen deutlich und ganz konkret, dass man sich nicht scheute, erotische Darstellungen am Körper mit sich zu führen, Chaucers ‘Canterbury Tales’ zumindest in literarischer Fiktion, dass man sich auf einer Pilgerfahrt auch mit Schwankstoffen 13
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Vgl. im Codex Weimar Q 565, bearb. E. Kully (wie zu I,72), S. 114 Nr. 1–2, S. 115 f. Nr. 4, 8, S. 116 Nr. 10–11, S. 117 Nr. 17, S. 118 Nr. 19, S. 122 Nr. 35. Auch im ‘Strassburger Rätselbuch’ gibt es zahlreiche Rätsel von 4 Versen Länge, s. Rat zu, was ist das. Rätsel und Scherzfragen aus fünf Jahrhunderten, hg. von Ulrich Bentzien, Rostock 1975, z. B. S. 21–23, Nr. 31–32, 35, 39–40 usw. Vgl. z. B. im Codex Weimar Q 565, bearb. E. Kully (wie zu I,72), S. 114 Nr. 1; S. 115 Nr. 5; S. 116 Nr. 10–12 usw.
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unterhalten, sich an ihnen verlustieren konnte. Dieses Heftchen wird dann aus welchen Gründen auch immer in Fribourg zurückgelassen und irgendwann abgeschrieben worden sein.15
15
Vielfältigen Dank habe ich abzustatten: an Nigel F. Palmer, Oxford, für klärende Hinweise die Handschrift betreffend und für die Vermittlung an Stefan Matter, Fribourg, der dankenswerter Weise die Photographien der entsprechenden Seiten aus der Fribourger Handschrift für mich angefertigt hat, an Romain Jurot, Chef du secteur Manuscrits, incunables et archives Bibliothe`que cantonale et universitaire Fribourg, für die bereitwillig erteilte Druckerlaubnis, an Jingning Tao, Trier, für lexikalische und andere Hilfestellungen, und schließlich an die Herausgeber der Festschrift, dass sie diesen Beitrag noch lange nach ›Toresschluss‹ akzeptiert, fürsorglich und gründlich redigiert haben.
Ein unveröffentlichtes Lied des Hans Folz: Die Verkündung des Englischen Grußes von Frieder Schanze
Das Lied-Œuvre des Nürnberger Meistersingers Hans Folz umfaßt in der 1908 veröffentlichten Ausgabe von August L. Mayer1 insgesamt 97 Nummern. Da dort ein Lied zweimal erscheint (Nr. 22 ist mit Nr. 5 identisch) und die Nummern 1, 34 und 75 Zyklen zu je drei Liedern bilden, würde sich die Gesamtzahl auf 102 Lieder belaufen, wenn nicht in mehreren Fällen Folz’ Autorschaft angezweifelt werden müßte. Während diejenigen Lieder, die in den Folz-Handschriften in München (Cgm 6353 von ca. 1485/90: Nr. 1–33 autograph, Nr. 34–49 von anderer Hand) und Weimar (Q 566 von ca. 1475: Nr. 50–70; Nr. 61 ist Nachtrag von 1479) und in Drucken aus der Folzschen Offizin (1483/88: Nr. 95–97) überliefert sind, jedem Zweifel standhalten, müssen einige der Lieder, die Mayer aus der 1517/18 entstandenen Meisterliedersammlung des Hans Sachs (Berlin, Mgq 414) abgedruckt hat, bis zum Erweis des Gegenteils als unecht gelten, und zwar die Nummern 71 und 77–83.2 Damit reduziert sich die Anzahl der Lieder auf 89. Nachdem ein von Mayer übersehenes Lied 1952 von Frances H. Ellis abgedruckt worden ist,3 kann im folgenden nochmals eine Erweiterung des Folzschen Œuvres vorgenommen werden. Hans Folz hat seine Lieder bekanntlich in unterschiedlichen Tönen (Melodien nebst entsprechender Strophenform) abgefaßt, sowohl in eigenen als auch in fremden. Einerseits bediente er sich bereits vorhandener Töne, die entweder von älteren oder von zeitgenössischen Autoren stammten, und andererseits schuf er selbständig eine ganze Reihe neuer Töne (insgesamt 18).4 Die meisten dieser neugeschaffenen Töne sind in Mayers Ausgabe durch mindestens ein Lied vertreten, einige auch mehrfach. Nur vier Töne sucht man dort vergebens: die sogenannte Abenteuerweise, den Kettenton, die Tagweise und den Teilton. Die drei letzten sind nur durch Lieder bezeugt, 1
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Die Meisterlieder des Hans Folz aus der Münchener Originalhandschrift und der Weimarer Handschrift Q. 566 mit Ergänzungen aus anderen Quellen, hg. von August L. Mayer (DTM 12), Berlin 1908. Vgl. Frieder Schanze, Meisterliche Liedkunst zwischen Heinrich von Mügeln und Hans Sachs, 2 Bde. (MTU 82/83), München 1983/1984, hier Bd. 1, S. 300–321. Frances H. Ellis, The solution for the enigmatic concluding lines of the Munich Codex Germanicus 6353, in: PMLA 67 (1952), S. 446–472. Dieses Lied stand ursprünglich am Schluß der Münchener Handschrift, heute ist dort nur noch die Überschrift vorhanden (abgedruckt bei Mayer [Anm. 1], S. 192). Der Text selbst ist dank Hans Sachs in der Berliner Handschrift erhalten geblieben. Verzeichnis in RSM = Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts, hg. von Horst Brunner und Burghart Wachinger, 16 Bde., Tübingen 1986–2009, Bd. 2,1, S. 46–51; vgl. auch Bd. 3, S. 280, und Schanze, Liedkunst [Anm. 2], Bd. 2, S. 298 f. Zur Verwendung der Töne durch Folz ebd., Bd. 1, S. 340–345.
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die Meistersingern des 16. und 17. Jahrhunderts gehören.5 Lediglich in der Abenteuerweise gibt es ein anonymes Lied, dessen Abfassung nachweislich noch in die Lebenszeit von Hans Folz fällt und dessen Überlieferung eindeutig mit seinem Wohnort Nürnberg verbunden ist. Allein schon von daher ist die Wahrscheinlichkeit nicht gering, daß wir es mit einem Werk von Folz selbst zu tun haben, denn natürlich ist der Tonautor unter den gegebenen Umständen der erste, auf den der Verdacht der Textautorschaft fallen muß. Es kommt aber noch etwas Entscheidendes hinzu, und das hängt mit der Art des Überlieferungszeugen und seiner Entstehungssituation zusammen. Der Liedtext ist durch einen illuminierten Einblattdruck6 auf uns gekommen, der um 1490/91 von einem Drucker angefertigt wurde, dessen Produktion, soweit bekannt, ausschließlich aus Texten von Hans Folz besteht.7 Wenn man bedenkt, daß Folz bereits von ca. 1479 bis ca. 1488 zur Veröffentlichung seiner Texte, darunter auch der oben genannten drei Lieder (Mayer, Nr. 95–97), entweder eine eigene Presse betrieb oder einen Drucker eigens für sich arbeiten ließ,8 dann liegt die Vermutung nahe, daß die Herstellung der Folz-Drucke von 1490/91 ebenfalls auf Folz selbst zurückgeht und im Grunde nur eine Fortsetzung des früheren Publikationsbetriebs darstellt. Als Urheber des Lied-Einblattdrucks kommt damit kein anderer in Frage als Hans Folz, dem folglich wie bei den übrigen Erzeugnissen der Presse nicht nur die Autorschaft des Liedtextes, sondern auch die der Begleittexte zugeschrieben werden kann und muß.9 Eine Autorsignatur, wie Folz sie in manchen seiner Lieder anbringt (Mayer, Nr. 20, 32, 38, 50, 52, 94, 96, 97), ist hier nicht zu erwarten, da er auf diese Art der Autorisierung bei geistlichen Liedern grundsätzlich verzichtete.10 5 6
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Vollständige Nachweise in RSM, Bd. 2,1, unter den einzelnen Tonnamen. Abbildung bei Frieder Schanze, Zu Erhard Etzlaubs Romweg-Karte, dem Drucker Kaspar Hochfeder in Nürnberg und einem unbekannten Nürnberger Drucker in der Nachfolge Hochfeders, in: Gutenberg-Jahrbuch 71 (1996), S. 126–140, hier S. 135; zur Druckerbestimmung ebd., S. 138 f. Vgl. auch ders., Inkunabeln oder Postinkunabeln? Zur Problematik der sog. Inkunabelgrenze am Beispiel von 5 Druckern und 111 Einblattdrucken aus der Zeit um 1500, in: Einblattdrucke des 15. und frühen 16. Jahrhunderts. Probleme, Perspektiven, Fallstudien, hg. von Volker Honemann, Sabine Griese, Falk Eisermann und Marcus Ostermann, Tübingen 2000, S. 45–122, hier S. 73 f. und 108 f., sowie Falk Eisermann, Verzeichnis der typographischen Einblattdrucke des 15. Jahrhunderts im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. VE 15, 3 Bde., Wiesbaden 2004, Bd. 2, S. 450, Nr. F-48. Die Angaben in RSM, Bd. 1, S. 492 f., Nr. 319, sind entsprechend zu korrigieren. Zusammengestellt bei Schanze, Romweg-Karte [Anm. 6], S. 138 Anm. 47. Ich habe diesem Drucker den Notnamen ›Drucker der Rechnung Kolpergers‹ verliehen und ihn versuchsweise mit Hans Folz identifiziert, wobei nicht zu entscheiden ist, ob Folz hier selbst an der Presse stand oder nur die Finanzierung besorgte. Zu den Folz-Drucken Ingeborg Spriewald, Hans Folz − Dichter und Drucker, in: PBB (Halle) 83 (1961), S. 242–277; Ursula Rautenberg, Das Werk als Ware. Der Nürnberger Kleindrucker Hans Folz, in: IASL 24 (1999), S. 1–40; John L. Flood, Hans Folz zwischen Handschriftenkultur und Buchdruckerkunst, in: Texttyp und Textproduktion in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. von Elizabeth Anderson u. a. (Trends in Medieval Philology 7), Berlin/New York 2005, S. 1–27. Im RSM [Anm. 4], Bd. 3 ist das Lied unter 1Folz/100 noch als anonym verbucht. Schanze [Anm. 2], Bd. 1, S. 324.
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Der folgende Textabdruck weicht durch moderne Interpunktion, Großschreibung der Eigennamen, Auflösung von Abkürzungen und Vereinheitlichung der s-Formen von der Vorlage ab. Das Rubrikzeichen als Merkmal des Strophenbeginns ist durch eine Leerzeile zwischen den Strophen ersetzt; die Strophen sind außerdem durchgezählt. Die Auszeichnungsschrift des Druckes wird durch Fettdruck wiedergegeben; die in der Vorlage der Textgliederung dienenden Versalien sind ebenfalls durch Fettdruck hervorgehoben.
Die verkundung des engelischen grus mit einem andechtigen gepet [Holzschnitt: Verkündigung an Maria]11 e
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Hort:12 als die gnaden reich zeit kam, e das got erlosen wolt Adam, sant Gabrihel gesendet wart zu Maria, der jungfraun zart, sprechend nach gotes rat zu ir: »aue vol gnad, got ist mit dir! e Forcht dir nit, dan du swanger wirst deß sun gots, den du mensch gepirst. nen yn Ihesus vnd wiß, sein nam wirt werden groß vnd wundersam, reigirend auff dem stul Dauit ym haus Iackob, do ewig nit Seines reiches mag werden ent.« sie sprach: »ich hab nie man erkent. Wy mag es sein, bescheide mich!« »es kumt der heilig geist in dich«, sprach er, »mit gnaden wunderhaft, e vnd dich vm gipt des hosten kraft, wan das dein heilger leip gepirt, der sun gottes genenet wirt.
Zuerst verwendet in einem Druck von ‘Der Heiligen Leben’, Nürnberg, Anton Koberger, 5. Dez. 1488 (Bayerische Staatsbibliothek. Inkunabelkatalog, BSB-Ink. Bd. 3, Wiesbaden 1993, S. 110, H-20); Reproduktion in: Der Bilderschmuck der Frühdrucke, hg. von Albert Schramm, Bd. 17, Leipzig 1934, Abb. 296. Der Buchstabe h im Druck klein mit Spatium über drei Zeilen als Repräsentant für eine handschriftliche Initiale.
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Ob dich sulches verwundern det, so sich, dein mum Elisabet gantz vnberhaft nach leng der frist das sechst menet itz schwanger ist, e wan nichts vnmuglich ist pei got.« dem Maria geantwurt hot: »Eyn dirn des herren pyn ich fort, vnd mir gesche nach deinem wort!« yn dem sie gottes sun enpfing vom heiling geist vnd het gering vmfangen, den ny macht begreiff vnd der vmgreift all vmesweiff e Vnd der mit krafft in seiner feust himel, erd vnd die hell beschleust. Drug den in ir, der all ding dregt, die das wort ›fiat‹ ie bewegt, pracht die weitesten zwei in eyn, e wan das klerest pluts tropflein rein e yrs hertzen in ir keuscheit schoß, wart des hochsten gotes genos. Die wurkung det der heilig geist. e wo wart ye hoer ding erfreist? got, mensch, fleisch, sele, geist, pein, plut, das hochste gut ob allem gut, e wart kurtzer dan in eym moment got vnd mensch ein persan erkent. Als pald sie den engel gehort e vnd zu ym sprach das gutig wort ›nunc fiat michi secundum e verbum tuum‹, ir keuscheit plum e on menschlich steur enpfangen het, do von alß heil der welde neht.13 Vnd hat die kleinst menschlich persan e den grosten aller schatzung an Jn ir beschlossen vnd beckleit e e mit plod vnd schwacher totlikeit, auff daß wir kemen aus dem zorn, den vnß got vater het gesworn. wolt sich der sun hie sehen lan, e den sol wir alle ruffen an.
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Nach dem Maria eilen det zu ir mumen Elisabet, e Iohannes sich frolich erzeigt, als Elisabet selber eigt vnd sprach: »gebenedeiet pist ob allen weiben, auch so ist Deines leibes frucht gebenedeit. von wan kumt her, das sich begeit dy muter gots mir offenborn? so pald dein stim in meinen orn e erscholn ist, hat gefreuet sich dy frucht in meinem leib hertzlich. Glaubt hastu, des du selig pist. was dir von got gesaget ist, Hastu verpracht nach seinen ern.« e sie antwurt: »mein sel grost den hern, e vnd mein geist freuet sich in got, meym heil, der an gesehen hot dy demut seiner dirn worlich. dar vm so sagen selich mich Alle geschlecht, wan zu vor an hat er groß sach an mir getan, der heilig vnd gewaltig ist vnd sein parmhertzigkeit auß mist von geschlechten in dy geschlecht, dy seinen namen furchten recht. Gewalt in seinem arm er dut, e stilt hochfertiger ubermut, e setzt ab von iren stulen die e vnd hocht dy demutigen hie. dy hungrigen er speiset stet, dy reichen er gantz eitel let Vnd Ysrahel nam an, sein kint, gedacht seiner erparmung sint, Als er durch der profeten schar vor lang gerett het offenbar vnd Abraham gehiß14 worlich vnd seinem samen ewiclich.« vnd nach dem pleib Maria stet pei ir mumen Elisabet.
Druckfehler: gchiß.
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Frieder Schanze
hy nach folget das gepet auff dy ystori e
e
Dar15 vm, o iungfrau Maria, so piß hewt ermant der uber großen demutikeit, in welcher du vmfangen hast, den dy himel, dy erd vnd all ir ine woner nit begreiffen, erdencken noch auß sprechen mugen. e O in was sunderlicher ynprunstiger, hoch flamender begir vnd lybe dein e hertz, gemut vnd sele begriffen vnd vmgeben gewesen ist, do du einlitze lich, heimlich, verporgen vnd gantz munder mit hoch wachendem gemut sam in einer tifen verzuckung bedachtest dy wort des profeten Ysaie: nim war ein iungfrau16 wirtt enpfahen vnd ein sun gepern. in wellcher fleissiger betrachtung du, dy selbig iungfrau, so hoch von got begapt, hast begert zu sehen vnd erkenen, do alls pald der engel Gabriel, zu dir ein gend, sprach: e »Ave gracia plena, dominus tecum, Gegrusset seistu voller genaden, der e herr ist mit dir!«, durch welchen sussen vnd heilsamen gruß vnd deyner e demutigen gehorsam du ewig iungfraw durch deyn gebenedeyte frucht vnß mitt wellest deilen dy gnad, so17 du do selbst enpfangen hast. AMEN Man mag dy istori pis zu dem gepet lesen oder singen in Hans Folzen abenteur weis nach vnterschit der versal.
Der Einblattdruck als ganzer bietet sich dem Auge folgendermaßen dar: Oben befindet sich eine einzeilige, in einer Auszeichnungstype (Textura) gesetzte Überschrift, die sich über die ganze Breite des Blattes erstreckt. Der darunter eingefügte querformatige Verkündigungs-Holzschnitt ist geringfügig schmaler, gibt aber das Maß für den folgenden dreispaltigen Textsatz vor. Der Liedtext ist so gesetzt, daß er mit je 50 Zeilen die linke und die mittlere Kolumne ganz ausfüllt. Als Schrift ist eine kleinere Type verwendet, und zwar eine für Nürnberg typische Sonderform der Bastarda (Schwabacher). Die Verse sind abgesetzt; gegliedert ist der Text durch dreizeiligen Einzug am Liedanfang und durch Rubrikzeichen für den Strophenbeginn bei den Folgestrophen. Versalien zu Beginn der Zeilen 1, 7, 13 und 15 in jeder der zwanzigzeiligen Strophen markieren deren Binnengliederung. Die dritte Spalte ist typographisch stärker differenziert und wirkt durch die Verwendung der Auszeichnungstype im Kopf (2 Zeilen) und am Fuß (6 Zeilen) gegenüber dem gleichmäßig gesetzten Liedtext gewichtiger. Diese Spalte hat eine eigene Überschrift: hy nach folget das gepet auff dy ystori (das Wort ‘Historie’ bezeichnet den Inhalt des Liedes). Der nach Durchschuß folgende 28-zeilige Textsatz enthält das angekündigte Gebet. Darunter folgt nach erneutem Durchschuß in gesperrt gesetzten Versalien der Auszeichnungs15
16 17
Der Buchstabe d im Druck klein mit Spatium über drei Zeilen als Repräsentant für eine handschriftliche Initiale. Druckfehler: iungfran. Druckfehler: so verdoppelt.
Hans Folz: Die Verkündung des Englischen Grußes
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type das das Gebet beschließende Wort AMEN. Die Basis der Spalte bildet nach noch größerem Abstand als zuvor ein fünfzeiliger Block in Auszeichnungsschrift mit einer Art Gebrauchsanweisung für die in den beiden linken Spalten stehende ‘Historie’: Man mag dy istori pis zu dem gepet lese¯ oder sı¯nge¯ ı¯ ha¯s folze¯ abe¯teur weis nach vnterschit der v´sal. Demnach ist die ‘Historie’ auf zwei unterschiedliche Weisen zu rezipieren: Sie kann entweder als Reimpaartext gelesen werden, oder man kann sie als Lied singen, und zwar auf die Melodie der ›Abenteuerweise‹ von Hans Folz, deren Bauform im Druck durch Versalien angezeigt ist. Seiner ganzen Anlage nach handelt es sich bei diesem Blatt nicht einfach um einen der üblichen Lieddrucke, wie man sie vor allem aus dem ersten Drittel des 16. Jahrhunderts kennt.18 Das Layout des Druckes und seine typographische Gliederung, die Kombination von Holzschnitt, Erzähltext und Gebet lassen es vielmehr als Medium religiöser Erbauung, als Andachtsblatt, erscheinen. Der Holzschnitt mit der Darstellung der Verkündigung des Engels an die aus der Bibellektüre gerissene Maria und des Vorgangs der Inkarnation (durch ein Fenster schwebt auf von Gottvater ausgehenden Strahlen, der Taube des Heiligen Geistes nachfolgend, das kreuztragende nackte Christkind hin zu Maria) lädt zur Meditation ein. Die ‘Historie’ verbalisiert die Bilderzählung in eingängiger Wiedergabe des entsprechenden Bibeltextes: In den Strophen 1 bis 2,8 des Liedes wird die Verkündigungsszene nach Lk 1,26–38 versifiziert, in den Strophen 4 und 5 Marias Besuch bei Elisabeth nach Lk 1,39–56; das Zwischenstück von Strophe 2,9 bis 3,20 behandelt den Vorgang der Inkarnation. Und das anschließende Gebet an Maria vollendet den Prozeß meditativen Eingedenkens, indem die Gottesmutter unter eindringlicher Berufung auf das Verkündigungsgeschehen um Gnade angefleht wird. Die wohlüberlegte Komposition des Blattes läßt darauf schließen, daß Hans Folz nicht nur alle dafür verwendeten Texte selbst verfaßt hat, sondern daß auch die Konzeption des Ganzen auf ihn zurückgeht. Überdies liegt der Verdacht nahe, daß auch die Erfindung des Tons, in dem das Lied abgefaßt ist, direkt mit dessen Entstehung zusammenhängt. Das gedruckte Blatt wäre dann gewissermaßen zugleich eine Art ›Tonpropaganda‹, auch wenn die Melodie der mündlichen Überlieferung vorbehalten blieb.19 Eigenartig ist die Form der Liedstrophe. Der Ton nimmt nicht nur unter den Tönen von Folz eine Sonderstellung ein, sondern er findet auch sonst im Meistergesang wenig Entsprechung. Die Strophe besteht aus zwanzig männlich gereimten Vierhebern, die durch Paarreim gebunden sind. Sie ist, den Konventionen der Sangspruchtradition gemäß, untergliedert in einen Aufgesang aus zwei je sechszeiligen 18
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Vgl. die zahlreichen Abbildungen bei Rolf Wilhelm Brednich, Die Liedpublizistik im Flugblatt des 15. und 16. Jahrhunderts (Bibliotheca Bibliographica Aureliana 60), Bd. 2, BadenBaden 1975. Sie kam erst im 16. Jahrhundert aufs Papier. Verzeichnis der Melodieüberlieferungen in RSM [Anm. 4], Bd. 2,1, S. 46; Faksimile einer Aufzeichnung in: Die Töne der Meistersinger. Die Handschriften der Stadtbibliothek Nürnberg Will III. 792, 793, 794, 795, 796. In Abbildung und mit Materialien, hg. von Horst Brunner und Johannes Rettelbach (Litterae 47), Göppingen 1980, vgl. die Übersicht S. 22.
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Frieder Schanze
Stollen und einen achtzeiligen Abgesang, der sich aus einem zweizeiligen Steg und einem wiederum sechszeiligen dritten Stollen zusammensetzt. Unkonventionell ist die Stereotypie des Versbaus und der Reimbindung: Vierhebige Reimpaarverse sind sonst das Kennzeichen der Erzähl- und Redendichtung, und in der Tat läßt sich der gesamte Text, wenn man die strophische Gliederung unbeachtet läßt, problemlos als einfaches Reimpaargedicht auffassen. Daraus erklärt sich die dem Druck beigegebene Gebrauchsanweisung: Der Text ist als Strophenlied sangbar oder aber als fortlaufendes Reimpaargedicht rezitierbar. Die mit dem Namen ›Abenteuerweise‹ versehene Strophenform nimmt auf diese Weise eine Zwischenstellung ein zwischen Reimpaardichtung und meistersingerlicher Strophik.20 So wie die Form es nun aber erlaubt, Liedtexte als Reimpaargedichte aufzufassen und sie vorlesend darzubieten, so gestattet sie es umgekehrt auch, einen Reimpaartext entsprechenden Umfangs (originär oder durch Bearbeitung) in strophischer Gliederung als gesungenes Lied aufzuführen. Von daher wäre zu überlegen, ob Hans Folz nicht mit Hilfe der Abenteuerweise in besonderen Fällen Reimpaargedichte zu Liedern umfunktioniert haben könnte. Möglich war das.21 Sollte Folz also auch seine Mären als Schwanklieder präsentiert haben?
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Es gibt in der Sangspruchtradition nur wenige vergleichbare Fälle, d. h. ähnlich gebaute Töne, die ausschließlich oder bevorzugt für Erzähltexte verwendet wurden: die Angstweise von Michel Beheim und aus dem nachreformatorischen Meistergesang Töne von Hans Sachs und Adam Puschman. Vgl. dazu Johannes Rettelbach, Variation – Derivation – Imitation. Untersuchungen zu den Tönen der Sangspruchdichter und Meistersinger (Frühe Neuzeit 14), Tübingen 1993, S. 245–247. Vgl. Schanze [Anm. 2], Bd. 1, S. 340 f. Anm. 134.
Bemerkungen zu den weniger bekannten Lebenszeugnissen über Notker den Deutschen von Ernst Hellgardt
Vorbemerkung Zum Leben und Wirken Notkers des Deutschen von St. Gallen gibt es zwei größere Nachrichten: zum einen das Selbstzeugnis Notkers in seinem Brief an Bischof Hugo von Sitten, das ich an anderer Stelle besprochen habe,1 zum andern den sog. »Nachruf« seines Schülers Ekkehart IV. von St. Gallen in dessen bald nach 1035 entstandenem ‘Liber benedictionum’ (Cod. SG 393). Ich nenne ihn in Anlehnung an Ekkehart selbst ‘Memoriale’.2
1
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Notkers Brief, in: Die Werke Notkers des Deutschen. Neue Ausgabe, hg. von James C. King und Petrus W. Tax (ATB), 10 Bde., Tübingen 1972–2008, hier Bd. 7 (ATB 109, 1996), S. 348, Z. 6–9; vgl. Ernst Hellgardt, Notkers Brief an Bischof Hugo von Sitten, in: Befund und Deutung. Zum Verhältnis von Empirie und Interpretation in Sprach- und Literaturwissenschaft. FS Hans Fromm, Tübingen 1979, S. 168–192. Ich benutze die Gelegenheit zu einigen Berichtigungen und Nachträgen. Im Editionstext ist in Z. 38 so zu lesen: ipsi soli sine accentu; die Wendung Z. 5 dictis facta compensare findet sich bei Sallust, Catilinae coniuratio, hg. von Alfons Kurfess, Stuttgart 1991, S. 4, Z. 13, quod facta dictis exequenda sunt; ferner zitiert bei Ionas, Vitae Columbani libri II, hg. von Bruno Krusch (MGH SS rer. germ. in us. schol. 37), Hannover u. a. 1905, S. 146, Z. 6 f.: cum facta dictis non exsequentur; diese Vita ist im Cod. SG 553 (9. Jh.) für St. Gallen nachweisbar; vgl. ferner Johannes Alfligensis, De musica cum tonario, hg. von Smits van Waesberghe (Corpus scriptorum de musica 1), Rom 1950, S. 117: ut facta dictis exaequet (freundliche Hinweise von Mechthild Pörnbacher). – Der sentenzhafte Satz Z. 6 conclusi sumus in manu domini et nos et opera nostra, den ich als Sprichwort nicht nachweisen konnte, ist biblisch, eine Reminiszenz an Sap. 7,16 in manu enim illius et nos et sermones nostri. – Lesenswert als Kommentar zu Notkers Brief ist übrigens immer noch Johann Kelle, Die St. Galler deutschen Schriften und Notker Labeo (Abh. der kgl. bayer. Akademie der Wiss. I. Cl. 18. Bd. 1. Abth.), München 1888 (mit 6 Tafeln), S. 207–280; nur die Zweifel daran, daß Notker auch die ‘Disticha Catonis’, die ‘Bucolica’ Vergils und die ‘Andria’ des Terenz zweisprachig bearbeitet habe (Kelle, S. 48 [252]), halte ich nicht für berechtigt, wie neuerdings entschieden wieder Nikolaus Henkel, Art. ›Terenz‹, in: 2VL 9 (1995), Sp. 703. – Gegen eine solche Pressung des Textes hatte sich 1847 bereits Hattemer ausgesprochen (Denkmale des Mittelalters. St. Gallens altdeutsche Sprachschätze, gesammelt und hg. von Heinrich Hattemer, 3 Bde., St. Gallen 1844–1847, hier Bd. 3, S. 6). Zur Datierung des ‘Liber benedictionum’ s. u. S. 341 mit Anm. 20. Die Titulierung des Textes als ›Nachruf‹ ist nicht glücklich, weil sie anachronistisch Vorstellungen aufruft, wie sie heute mit diesem Wort verbunden sind; zu dem hier gewählten Titel ›Memoriale‹ s. das gleich folgende Zitat aus den ‘Casus’ (cap. 80); Ekkehart hat das Wort dort in der Form memoralia.
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Ernst Hellgardt
Über das Leben Ekkeharts IV., der besonders durch seine ‘Casus Sancti Galli’ bekannt ist,3 findet man das wenige Bekannte bei Dümmler4 und in Eglis Ausgabe des ‘Liber benedictionum’.5 Demnach läßt sich Ekkeharts Geburt (im Elsaß ?) auf die Zeit um 980 ansetzen. Wohl schon als Kind (um 990 ?) wurde er dem Kloster St. Gallen übergeben. Gewöhnlich wird angenommen,6 daß Ekkehart bald nach Notkers Tod (29./30. Juni 1022) von Erzbischof Aribert (1020–1031) als Lehrer nach Mainz an die Domschule berufen wurde. Sicher ist nach seinem eigenen Zeugnis nur, daß Ekkehart als Lehrer der Mainzer Domschule an Ostern 1030 (29. März) vor Kaiser Konrad und seinem Hof in Ingelheim das Hochamt sang.7 Nach Ariberts Tod (1031) soll er nach St. Gallen zurückgekehrt sein, wo er dann als Lehrer der Klosterschule wirkte. Dort ist er an einem 21. Oktober um 1160/70 gestorben.
In den nach 1034, also etwa zeitgleich mit dem ‘Liber benedictionum’ entstandenen ‘Casus’, die vom Ende des neunten Jahrhunderts bis auf Ekkeharts Gegenwart unter Abt Norpert (1034–1072),8 also bis 1034, von Glück und Unglück des Klosters erzählen sollten, aber aus unbekannten Gründen unvollendet blieben, erzählt Ekkehart nur bis in die Zeit von Abt Notker (reg. 971–975). Schade, denn wenn Ekkehart weiter gekommen wäre, besäßen wir in seinen ‘Casus’ sicherlich das Geschenk einer eindrucksvollen Schilderung von Persönlichkeit und Wirken seines verehrten und geliebten Lehrers. So aber müssen wir uns mit einem uneingelöst gebliebenen Versprechen begnügen: Im 80. Kapitel der ‘Casus’ zählt Ekkehart unter den vier Neffen, die einst Ekkehart I. dem Kloster zugeführt hat, auch Notkerum magistrum nostrum auf und sagt weiter über die vier genannten: Quorum quisque e˛cclesie˛ dicendus sit speculum. De quibus loco suo memoralia sua dicemus. Unusquisque enim ipsorum libro suo sufficeret. (‘Von ihnen darf jeder einzelne ein Spiegel der Kirche genannt werden. Über sie aber werden wir je an ihrem Orte das Denkwürdige berichten. Ein jeder nämlich unter ihnen würde genügen für ein eigenes Buch.’)
Über zwei von den vier genannten berichtet Ekkehart später tatsächlich, wenn auch nicht buchumfänglich, aber für Notker blieb es bei der Ankündigung. Er ist unter den vieren der chronologisch letzte und hätte vielleicht den Höhepunkt von Ekke3
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Casus Sancti Galli, hg. von Hans F. Haefele – St. Galler Klostergeschichten, übers. von dems. (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 10), Darmstadt 1980. Viele der St. Galler Handschriften, wie auch Cod. 393, der ‘Liber benedictionum’, sind bequem im Internet unter CESG (Codices electronici Sancti Galli) erreichbar. Ich benutze für entsprechende Hinweise diese Abkürzung. – Zu Ekkehart IV. s. Hans F. Haefele, Art. ›Ekkehard IV. von St. Gallen‹, in: 2VL 2 (1980), Sp. 455–465; Ernst Hellgardt, Die Casus Sancti Galli Ekkeharts IV. und die Bendediktsregel, in: Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur, hg. von Beate Kellner u. a. (Mikrokosmos 64), Frankfurt a. M. u. a. 2001, S. 27–50. Ernst Dümmler, Ekkehart IV. von St. Gallen, in: ZfdA 14 (1869), S. 1–73, hier S. 1 f. Der Liber Benedictionum Ekkeharts IV. nebst den kleineren Dichtungen aus dem Codex Sangallensis 393, zum ersten Mal vollständig hg. und erklärt von Johannes Egli (Mitteilungen zur vaterländischen Geschichte, hg. vom Historischen Verein in St. Gallen 31), St. Gallen 1909, S. I-III. Cod. 393 (CESG). Dümmler [Anm. 4], S. 4; Egli [Anm. 5], S. I. Casus [Anm. 3], cap. 66. Vgl. das ‘Preloquium’ der Casus [Anm. 3].
Lebenszeugnisse über Notker den Deutschen
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harts Erzählung gebildet. Stattdessen muß und kann man aber dankbar sein für das erwähnte Notker-‘Memoriale’ Ekkeharts in seinem ‘Liber benedictionum’, aus dem man doch auch ein ganz ungewöhnlich lebendiges und menschlich anrührendes Bild von Notker dem Deutschen, seiner Persönlichkeit und seinem Lebenswerk und von Ekkeharts Liebe und Verehrung für seinen Lehrer gewinnt. Vielleicht darf das etwa zeitgleich mit den ‘Casus’ entstandene ‘Memoriale’ ja als eine Art Vorfassung des in den ‘Casus’ nicht mehr ausgeführten Abschnitts über Notker gelten. Dieses ‘Memoriale’ wäre selbstverständlich einer ausführlicheren Behandlung wert. Die würde aber den hier zur Verfügung stehenden Rahmen sprengen, und ich verspreche dem Jubilar dieser Festschrift deshalb, sie an anderer Stelle zu geben. Hier aber sollen nun drei mit dem ‘Memoriale’ in sachlichem und überlieferungsgeschichtlichem Zusammenhang stehende kleinere, meist weniger beachtete Texte Ekkeharts über Notker näher besprochen werden: 1. die sechs mit Bezug auf Notkers verlorene ‘Hiob’-Bearbeitung gedichteten und Ekkehart sicherlich mit Recht zugeschriebenen Hexameter, die ich im Folgenden auch ‘Hiob-Verse’ nenne, 2. die Notker ebenfalls sicherlich von Ekkehart als Sterbegebet in den Mund gelegten Hexameter und mit ihnen verbunden ein wiederum Ekkehart zugeschriebenes Distichon auf das Seelenheil Notkers, 3. Ekkeharts Epitaph auf Notker und drei weitere, im selben Grabe bestattete Lehrer des Klosters St. Gallen. Wie auch das ‘Memoriale’ sind diese Stücke abgesehen von einigen anderen Überlieferungsträgern zusammen im Codex 393 der St. Galler Stiftsbibliothek überliefert, dem Autograph von Ekkeharts ‘Liber benedictionum’, das erste und zweite freilich nur als Nachträge des 16. Jahrhunderts.9 Nicht vergessen werden sollen aber drei weitere, zwar unscheinbare, aber auf ihre Weise recht beredte Zeugnisse, deren Behandlung ich zusammen mit weiteren Nachrichten aus den historiographischen Quellen St. Gallens dem Folgenden voran stelle. Zunächst zu erwähnen ist der eigenhändige Eintrag Notkers in das St. Galler Professbuch, abgebildet auf dem Titel des Katalogs zu einer Ausstellung über die Notkere im Kloster St. Gallen.10 Dieses Dokument ist kennzeichnend für das Zurücktreten des Individuellen im Kloster. Die Seite zeigt unregelmäßig über den Schriftspiegel verteilt die Unterschriften von nicht weniger als 49 St. Galler Mönchen aus dem zehnten Jahrhundert, unter ihnen allein vier von Trägern des Namens Notker, ohne daß sich bestimmen ließe, welches der Handzeichen von Notker dem Deutschen stammt. Deutlich persönlicher ist das folgende Selbstzeugnis Notkers, wenn man es denn so nennen darf, in der Zuschrift seines ‘Computus’ an Ekkehart IV.: Notker Erken9 10
CESG; vgl. u., S. 343, 347 f. und 349. Stiftsarchiv C3 B56, S. 20; abgebildet auf der Titelseite bei Peter Ochsenbein und Karl Schmuki, Die Notkere im Kloster St. Gallen. Träger von Wissenschaft und Kunst im goldenen und silbernen Zeitalter (9. bis 11. Jahrhundert). Führer durch die Ausstellung in der Stiftsbibliothek St. Gallen (26. November 1991–7. November 1992), St. Gallen 1992.
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Ernst Hellgardt
hardo discipulo de quattuor que˛stionibus compoti,11 so lautet – seiner Art nach singulär im gesamten Korpus der Werke Notkers – die Überschrift der Pariser Handschrift von Notkers ‘Computus’. Sicherlich können wir unter dem im Titel angesprochenen Leser Ekkehart IV. verstehen, und damit werden wir quasi zu Zeugen von vier Fragen, die Ekkehart an seinen Lehrer Notker gerichtet hat und auf die er die Antworten seines Lehrers (notkeri magistri nach der Münchener Handschrift aus St. Emmeram)12 erhält. Über Ekkeharts sehr ausgeprägte astronomische Interessen, für die auch seine hier gestellten vier Fragen stehen, berichten Dümmler und Egli.13 Mag diese Zuschrift nur als ganz bescheidenes Zeugnis gelten, so ist das jetzt zu betrachtende überaus vielsagend im Einklang mit allen übrigen. Es steht im Cod. SG 621, einer der zahlreichen, von Ekkehart glossierten St. Galler Handschriften.14 Der Kodex enthält einen sehr fehlerhaften Text der Weltgeschichte des Orosius. Notker hatte Ekkehart den Auftrag gegeben, hier Abhilfe zu schaffen. In einer autographen Notiz Ekkeharts liest man am Ende der Handschrift: Vtilis multum liber, sed uitio scriptoris mendosus, quia plus commemorando quam enarrando que˛ facta sunt describuntur. quod quidem et ipse auctor se non tamen sine iusta causa fatetur fecisse. Plura in hoc libro fatuitate cuiusdam ut sibi uidebatur male sana scripta. domnus Notkerus abradi et utiliora iussit in locis asscribi. assumptis ergo duobus exemplariis que deo dante ualuimus, tanti uiri iudicio fecimus.15 (‘Ein sehr nützliches Buch, aber aufgrund der Nachlässigkeit des Schreibers voller Irrtümer, weil die Ereignisse mehr nach der Erinnerung als nach der vollständigen Erzählung aufgezeichnet sind. Der Autor bekennt freilich, daß er so nicht ohne Ursache gehandelt habe. Herr Notker gab den Auftrag, daß Vieles, was ihm aufgrund der Torheit von irgendjemandem recht fehlerhaft geschrieben scheine, ausradiert und daß an den entsprechenden Stellen Nützlicheres dazugeschrieben werde. Mit Hinzuziehung zweier Vergleichshandschriften, über die wir gottseidank verfügten, haben wir das nach dem Urteil dieses so bedeutenden Mannes getan.’) 11
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Die Werke Notkers [Anm. 1], Bd. 7, S. 317 (Apparat zu Handschrift P2). Inzwischen hat sich auch ein neues Fragment dieser sonst nur lateinisch erhaltenen Schrift gefunden, das auch den Anfang einer deutschen Übersetzung enthält, s. Norbert Kruse, Eine neue Schrift Notkers des Deutschen: Der althochdeutsche Computus, in: Sprachwissenschaft 28 (2003), S. 123–155. Die Werke Notkers [Anm. 1], Bd. 7, S. 317 (Apparat zu Handschrift M 2). Dümmler [Anm. 4], S. 23–25; Egli [Anm. 5], S. XLVIII. CESG; zu Ekkehart als Glossator s. Dümmler [Anm. 4], S. 18; Egli [Anm. 5], S. XXIII-LI passim; Haefele, Ekkehard IV. [Anm. 3], Sp. 463–464; Peter Osterwalder, Ekkehardus glossator. Zu den Glossierungen Ekkeharts IV. im ‘Liber Benedictionum’, in: Variorum munera florum. Latinität als prägende Kraft mittelalterlicher Kultur. FS Hans F. Haefele, hg. von Adolf Reinle, Ludwig Schmugge und Peter Stotz, Sigmaringen 1985, S. 73–82. – Für die deutschen Glossen der Einsiedler Handschrift von Notkers Psalter (Cod. SG 21, CESG) neigt Sonderegger dazu, sie Ekkehart IV. zuzuschreiben (Stefan Sonderegger, Althochdeutsch in St. Gallen. Ergebnisse und Probleme der althochdeutschen Sprachüberlieferung in St. Gallen vom 8. bis ins 12. Jahrhundert [Bibliotheca Sangallensis 6], St. Gallen/Sigmaringen 1970, S. 113–123); differenzierter zu dieser Frage Tax in: Die Werke Notkers [Anm. 1], Bd. 8 (ATB 84) Tübingen 1979, S. XLII-XLIV. Cod. SG 621 (CESG), S. 351; der Text ist zitiert bei Dümmler [Anm. 4], S. 2.
Lebenszeugnisse über Notker den Deutschen
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Man erkennt die Ausführung des Auftrags im Cod. SG 621 an zahlreichen Korrekturen von Ekkeharts Hand. An einer Stelle aber hat Notker selbst Hand angelegt, zwei Zeilen radiert und auf die Rasur einen besseren Text gesetzt. Später hat Ekkehart eigenhändig zu dieser Stelle notiert: has duas lineas amandas domnus Notkerus scripsit, uiuat anima eius in domino.16 (‘Diese zwei liebenswerten Zeilen hat Herr Notker geschrieben, es lebe seine Seele im Herrn.’)
Abgesehen davon, daß so an dieser und nur an dieser Stelle ein Autograph Notkers identifiziert ist, als ob es Ekkehart gerade darum gegangen wäre, haben wir hier, wenn sogar zwei von Notker geschriebene Zeilen lineas amandas genannt werden, vor allem ein unmittelbares Zeugnis der Tätigkeit Notkers als Lehrers und der liebevollen, mit einem Heilwunsch verbundenen Erinnerung des Schülers an den verstorbenen Lehrer. Ich schließe hier auch noch den Hinweis auf die Handschrift des ‘Liber benedictionum’ (Cod. SG 393) als ganze an. Als Zeugnis von Notkers Wirken als Lehrer stellte Ekkehart in diesem Buch seine eigenen Gedichte als Mustertexte für seine St. Galler Schüler zusammen, Gedichte, deren Themen ihm einstmals als Schulaufgaben, meist zum jeweiligen Festanlaß (dictamen diei debitum magistro)17 von seinem Lehrer Notker aufgetragen worden waren. Zu einem dieser dictamina merkt er an: hoc et cetera que˛ scripsi ipse (sc. magister) scribi iussit in cartis suis, in quibus ea post inveniens in hac sceda pro locis ascripsi, ut iuvenes nostros in id ipsum adhortarer. (‘Dieses [dictamen] und die übrigen, die ich schrieb, ließ er [Notker] selbst in seine Pergamente schreiben, in denen ich sie später fand und auf diesem Blatt, jedes an seinen Platz18 eintrug, um damit unsere Jünglinge zu Gleichem zu ermuntern.’)19
Die Sammlung dürfte vor 1035 abgeschlossen gewesen sein, denn sie ist Abt Johannes von St. Maximin bei Trier gewidmet, der am 11. Juli 1035 gestorben ist.20 Allerdings hat Ekkehart in der Folgezeit sicherlich noch lange an den Texten der Sammlung gebessert. 16
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Cod. SG 621, S. 321; vgl. die vorige Anm.; die Stelle ist auch faksimiliert in MGH SS 2, tab. VI. Daß alle Gedichte der Sammlung als solche Schulaufgaben anzusehen sind, ist fraglich (mit Sicherheit natürlich nicht die Verse des ‘Memoriale’ über Notkers Sterben). Entsprechende Randnoten Ekkeharts im Liber Benedictionum [Anm. 5] innerhalb der ‘Benedictiones super lectores per circulum anni’ auf S. 20, 34, 36, 42, 45, 59, 61, 62 f., 65 f., 67 f., 77, 86 f., 93 f., 98 f., 104 f. (zu den hier folgenden Stücken heißt es dictamina magistri; sollte das bedeuten, daß Notker der Autor ist?), 107 f., 116, 118, 131, 139, 144–146, 150, 158, 160 f., 162 f., 164 f., 167 f., 170 f., 173–175, 178 f., 181 f., 185, 187 f., 190–192, 195, 197, 199–201, 205 f., 213, 215 f., 219 f., 237, 239, 242, 247, 266–268, 272 f., 275, 279; einmal begegnet die Randnote dictamen debitum auch in Ekkeharts Sammlung ‘Benedictiones ad mensas’ (Liber Benedictionum [Anm. 5], S. 315). D. h. wo es möglich war, an seine Stelle im Festkreis des Kirchenjahres (per circulum anni) und entsprechend der Zuordnung zu einer der Gebetszeiten des Stundengebets. Liber Benedictionum [Anm. 5], S. 279; Randbemerkung neben Vers 49. Dümmler [Anm. 4], S. 12; Egli [Anm. 5], S. II.
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Eine eigene Gruppe bilden die kurzen Nachrichten der St. Galler Geschichtsquellen über Notkers Tod. Hier kommt wiederholt das Thema der großen Gelehrsamkeit und Güte des Lehrers Notker in preisenden Nennungen zur Sprache: obitus Notkeri doctissimi atque benignissimi magistri, so lautet der Eintrag zu Notkers Tod im St. Galler Nekrolog.21 Die liebevoll lobende Hervorhebung der Person Notkers ist im Kontext des Nekrologs sehr auffällig. Hier werden sonst in sehr nüchterner Weise ausschließlich Namen und Stand des Verstorbenen genannt, wie an der vorliegenden Stelle neben dem Eintrag zu Notker unter dem gleichen Datum der zum Tod des Klerikers Albero: obitus Alberonis clerici. Ganz ähnlich wie im Nekrolog heißt es in den ‘Annales Sangallenses Maiores’ desselben Kodex:22 Notker nostre˛ memorie˛ hominum doctissimus et benignissimus. Das steht innerhalb des Eintrags zum Jahr 1022 im Kontext des Berichts vom Tode mehrerer Kleriker, die Opfer einer pestilencia geworden waren, von welcher das Heer Heinrichs II. in Italien betroffen war. Unter den Opfern waren außer Notker der St. Galler Abt Burchart und noch fünf weitere St. Galler Mönche.23 Ohne die preisenden Auszeichnungen wird Notker neben den anderen Pestopfern dann schlicht als Notkerus quoque magister erwähnt in der sog. ‘Continuatio casuum S. Galli II’. Das ist die um 1190 für die Zeit von 972–1203 verfaßte Fortsetzung der ‘Casus S. Galli’ Ekkeharts IV.24 Noch ein letztes Mal wird Notkers in der Hausgeschichtsschreibung St. Gallens in den ‘Casus S. Galli’ Konrads von Fabaria gedacht.25 Dieses Werk setzt die ‘Continuatio casuum S. Galli II’ fort und deckt die Geschichte St. Gallens für die Zeit von 1203 bis 1232 ab. Es entstand unter Abt Konrad von Bußnang (1226–1239). Konrad von Fabaria nennt rückblickend auf die St. Galler Klostergeschichte Nogkerum magistrum artis theorice unter einer Reihe von Namen, deren Träger die berühmtesten columpne fuerunt ecclesie verbo et exemplo.26 Bei der Kennzeichnung 21
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Cod. SG 915 (CESG), S. 326; St. Galler Todtenbuch und Verbrüderungen, hg. von Ernst Dümmler und Hermann Wartmann, in: Mittheilungen zur vaterländischen Geschichte, hg. vom historischen Verein in St. Gallen (NF 1), St. Gallen 1869, S. 1–124. Cod. SG 915 (CESG), S. 45. Dominus Burchardus, abbas elegantissimus, sancte˛ ecclesie˛ speculum, Ymmo et Burchart, bone˛ indolis adolescens, in ipsa expeditione interierunt, Notker nostre˛ memorie˛ hominum doctissimus et benignissimus, Heribertus et duo Ruotperti, summe˛ innocentiae˛ viri, Tieterich, Liutold morbe lato se˛viente interierunt. Ruothardus etiam Constantinensis episcopus obiit. Cod. SG 915 (CESG), S. 225 f.; MGH SS 1, S. 82. Vgl. die vorige Anm. Pestilentia in exercitu orta, multos extinxit; inter quos Ruodhardus Constantiae episcopus, et Purchardus noster obierunt. Notkerus quoque magister et alii prestantes fratres apud sanctum Gallum decesserunt. Cod. SG 615 (CESG), S. 334; MGH SS 2, S. 155. Diese Darstellung geht offenbar auf die Reichenauer Chronik Hermanns des Lahmen zurück, mit der sie weitgehend wörtlich übereinstimmt, insbesondere mit gleichem Wortlaut bei der Bemerkung zu Notker; auch hier fehlt die preisende Hervorhebung; s. MGH SS 5, S. 120 zum Jahr 1022. Zu Konrad von Fabaria s. Franz Josef Worstbrock, Art. ›Konrad von Fabaria‹, in: 2VL 5 (1985), Sp. 171–172; dort sind auch die sämtlich aus dem 15. bzw. 16. Jahrhundert stammenden St. Galler Handschriften genannt. MGH SS 2, S. 166.
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Notkers als magister artis theorice dürfte an ihn als den Verfasser, Übersetzer und Kommentator von Schriften zur Logik gedacht sein, insbesondere an ‘De Categoriis’ und an ‘De interpretatione’, Notkers zweisprachige Bearbeitungen und Kommentierungen dieser aristotelischen Grundschriften zur Logik nach den Übersetzungen und Kommentaren des Boethius. Trifft diese Annahme zu, dann ist es recht bemerkenswert, daß man sich Notkers noch um 1230 in St. Gallen um dieser Arbeiten willen erinnert.
Ekkehart IV. Verse zu Notkers ‘Hiob’
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Panditur ecce liber Abdita perspicuis Gusta quam sapiant Balbus erat Notker, Tertius hic labio Pectore mandatum Latior hinc labio Ecce favos labio
solvit signacula Notker septem speculatus ocellis. quia quarto vase nec obstant. Piperisgranum fuit alter, datus est agnomine lato gestans labio quoque latum. puto nemo videbitur illo, quales stillat tibi lato.
(‘Offen liegt nun das Buch, sieh, Notker erbricht seine Siegel, Mit durchdringendem Blick die Geheimnisse sieben erschauend. Wie wird munden der Trank, im vierten Fasse nun schmackhaft! Stammler hieß Notker der Erste, das Pfefferkorn nannt’ man den Zweiten, Unserem dritten hier gab breite Lippe den Namen: Waren Herz doch und Lippen ihm Sitz der weitesten Liebe. Und mit breiterer Lippe wird keiner, glaub ich, sich finden: Nimm vom Honig, den hier Breitlippe Dir liebevoll spendet.’)27
Überblickskommentar Der Text ist handschriftlich nur in frühneuzeitlichen Abschriften erhalten: 1. Im unten zitierten Brief Marquard Frehers an Melchior Goldast,28 zusammen mit Notkers Sterbegebet. 2. als Exzerpt in Vadians sog. ‘Kleinerer Äbtechronik’ (nur von Balbus erat bis stillat tibi lato).29 3. in den Fassungen des unveröffentlichten ‘Chronicon’ zur Geschichte St. Gallens, die der St. Galler Mönch Jodocus Metzler (1574–1639) hinterlassen hat.30 27
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Übersetzung von Alfred Wolf, Ekkehart IV. und Notker Labeo, in: Studia Neophilologica 33 (1961), S. 145–158, hier S. 155. Vgl. dazu Anm. 36. Bernhard Hertenstein, Joachim von Watt (Vadianus), Bartholomäus Schobinger, Melchior Goldast. Die Beschäftigung mit dem Althochdeutschen von St. Gallen in Humanismus und Frühbarock, Berlin/New York 1975, S. 262 u. 267. Stiftsarchiv St. Gallen, Bd. 181; ebd., Bd. 182, S. 380 f.; Stiftsbibliothek St. Gallen Cod. 1408,
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4. als Nachtrag des 15. Jahrhunderts in Ekkeharts IV. ‘Liber benedictionum’ der St. Galler Stiftsbibliothek,31 zusammen mit Notkers Sterbegebet und dem Distichon ‘Notker Teutonicus . . .’ (Ekkeharts Fürbitte). 5. als Nachtrag einer Hand des 16. Jahrhunderts im Cod. SG 613.32 Edition: Wolf [Anm. 27], S. 146. Der hier gebotene Text nach Wolf [Anm. 27] und nach CESG zu Cod. SG 393. Für das Stück hat Wolf mit großer Wahrscheinlichkeit Ekkehart IV. als Autor erschlossen. Mögliche Einwendungen gegen diese Annahme bei Wolf selbst, S. 154, Anm. 1. Im Ergebnis wird dort zur Nennung Ekkeharts als Autors gesagt, dies sei »ein Name sozusagen a parte potiori, als der einzige uns wirklich gegebene, ohne dass damit ein anderer, uns unbekannter Mitstrebender aus dem Kreise um und nach Notker Labeo ausgeschlossen werden dürfte.« Über die ursprüngliche Fundstelle und das Alter der Verse sagt Metzler in seiner Chronik: illi versus quos in Psalterium eiusdem Notkeri ex antiquissimis Patribus quidam inscripsit [. . .].33 Sed versus ipsos ex antiquissimo illo codice Psalterij, Giselae imperatricis aevo, hoc est statim post Notkeri Interpretis mortem, in ipso S. Galli Coenobio Transcripto, audiamus.34
Für das Stück läßt sich aufgrund dieser Nachricht rekonstruieren, daß es zusammen mit Notkers Sterbegebet (s. u.) nachträglich in der hier von Metzler genannten und von mehreren frühneuzeitlichen Gelehrten benutzten, aber nicht erhaltenen St. Galler Handschrift des elften Jahrhunderts eingetragen gewesen sein muß, jener Handschrift, die in der Textkritik mit der Sigle S bezeichnet wird. Dort müßte es am Anfang von Notkers Psalter gestanden haben und bald nach Notkers Tod (wahrscheinlich von Ekkehart IV.) eingetragen worden sein. Wolf, S. 148, hatte die Möglichkeit erwogen, daß die Verse, die sich ja auf Notkers ‘Hiob’ beziehen, wie der Vergleich mit Ekkeharts ‘Memoriale’ erkennen läßt, zusammen mit dem Psalter-
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S. 396 f. Diese Angaben nach Hertenstein [Anm. 29], S. 71 Anm. 207, und S. 262–263, zu Stiftsarchiv Bd. 181 ohne Seitenangabe; vgl. auch Kelle [Anm. 1], S. 27 (231). Über den St. Galler Mönch Jodocus Metzler (1574–1639), der zeitweise St. Galler Stiftsbibliothekar gewesen ist, Eberhard Tiefenthaler, P. Jodocus Metzler. Rechtsgelehrter, Chronist und Bibliothekar in St. Gallen, in: Biblos 29 (1980), S. 193–220; weitere Literatur zu Metzler bei Hertenstein [Anm. 29], S. 164 Anm. 129. – Zu den verschiedenen Fassungen/Handschriften von Metzlers Chronik sowohl im St. Galler Stiftsarchiv als auch in der Stiftsbibliothek s. ebd., S. 71 Anm. 207. – Zur Chronik Metzlers und der ihr zugrundeliegenden Quelle s. auch Kelle [Anm. 1], S. 16–17 (220–221) und Albert L. Lloyd jr., The Manuscripts and Fragments of Notker’s Psalter (Beiträge zur deutschen Philologie 17), Gießen 1958, S. 62–64. Cod. SG 393 (CESG), S. 246. Hinweis ohne Seitenangabe bei Wolf [Anm. 27], S. 146 Anm. 2; der Text steht vermutlich innerhalb der Epitaphia S. Gallensia (pro parte ex vet. mss. collecta a Laur. Schab eccles. S. Gall.) S. 64–84 (nach Gustav Scherrer, Verzeichnis der Handschriften der Stiftsbibliothek von St. Gallen, Halle 1875, S. 197). Es folgen die Verse Balbus erat bis stillat tibi lato. Stiftsarchiv St. Gallen, Bd. 182, S. 380 f., nach Hertenstein [Anm. 29], S. 262.
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Distichon am Schluß von Notkers ‘Hiob’ in ein und demselben Kodex gestanden hätten, der beide Werke, Notkers Psalter und seinen ‘Hiob’, vereinigt hätte. Diese Möglichkeit läßt sich ausschließen durch eine hinsichtlich Umfang und Positionierung des alten Nachtrags genauere Nachricht in einem Brief Marquard Frehers an Melchior Goldast über Handschrift S, aus der hervorgeht, daß die ‘Hiob-Verse’ am Anfang der Psalterhandschrift S gestanden haben: Juvabunt aliquid isti versiculi Psalterio antiqua manu praescripti ‘Panditur ecce liber’ [. . .]35 quibus nihil addidi, nisi quod ibi inveni.36
Daß diese Handschrift auch den ‘Hiob’ enthalten hätte, wird nirgendwo überliefert. Die Verse haben nicht, wie man öfters liest, die drei Notkere St. Gallens zum Hauptthema, sondern konzentrieren sich in Wirklichkeit allein auf Notker den Deutschen. Notker Balbulus und Notker Pfefferkorn bilden in Vers 4 nur die St. Galler Szene, aus der Notker der Deutsche hier in den Vordergrund tritt.37
Stellenkommentar 1 pandit Vgl. den verwandten Gedanken in Ekkeharts ‘Memoriale’, V. 63–65: Iob [. . .] quem [. . .] fecit apertum und im ‘Epitaphium’, V. 3 (s. u.) über Notker selbst: Notker apertus. Zu apertus/aperire vgl. auch die folgende Erläuterung. 1–2 solvit signacula . . . abdita septem speculatus Vgl. die Anm. zu V. 3–4 des Epitaphs. – Anspielung auf die sieben Siegel der Apokalypse, s. Apc 5,2 quis est dignus aperire librum et solvere signacula eius und Apc 5,5 aperire librum et solvere septem signacula eius (Hinweis von Wolf [Anm. 27], S. 150). Teilweise mit hinein spielt hier auch der in der Apc folgende Vers: Agnum . . . habentem oculos septem, qui sunt septem spiritus Dei, missi in omnem terram (Apc 5,6), insofern es sich bei Ekkehart um den »durchdringenden Blick« Notkers als Exegeten handelt. Vgl. hierzu noch den Querverweis auf Sach 4,10: Septem isti oculi sunt Domini, qui discurrunt in universam terram. Für diese Hinweise ist Derk Ohlenroth zu danken. Der ‘Hiob’ galt als außerordentlich schwieriges Buch, z. B. bei Notker Balbulus als liber difficillimus38 und nach der Gregor-Vita des Johannes Diaconus als multis involutus mysteriis39 (Hinweise bei Wolf [Anm. 27], S. 149 mit Anm. 2 und 3). Gregor war bis ins Hochmittelalter der erste und einzige ‘Hiob’Exeget, nach Notker wurde der ‘Hiob’ deutsch erst wieder 1338 im Umkreis der Deutschordensdichtung bearbeitet.40 35 36
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Es folgen die Verse der ‘Hiob-Widmung’ und zusätzlich die von Notkers Sterbegebet. Freher, zitiert nach Hertenstein [Anm. 29], S. 72 (vgl. ebd., S. 262). Vgl. hierzu Tax in: Die Werke Notkers [Anm. 1], Bd. 8, S. XLIII Anm. 76. Dazu Wolf [Anm. 27], S. 147. Notker Balbulus, Notatio de viris illustribus, in: Das Formelbuch des Bischofs Salomo III. von Konstanz aus dem 9. Jahrhundert, hg. von Ernst Dümmler, Leipzig 1857, S. 64–78, hier S. 67, Z. 19. Vita S. Gregorii auctore Joanne diacono I, PL 75, Sp. 73B, cap. 27. Vgl. Achim Masser, Art. ›Hiob‹, in: 2VL 4 (1983), Sp. 45–47.
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3 Gusta quam sapiant quia quarto vase nec obstant. Vielleicht denkt Ekkehart in diesem Vers auch an die Weinzubereitung, »d. h. an das sicher auch in seinem Kloster geübte Abziehen des jungen Mostes, der auch erst im dritten oder vierten Fasse klar und wirklich reif und abfüllbar wird.«41 sapere ‘wohlschmecken’ im Bezug auf Sprache: vgl. Ekkehart, ‘Memoriale’, V. 62, wo im Bezug auf Notker gesagt ist barbaricam faciensque saporam. quarto vase Vgl. vas in quartum in Ekkeharts ‘Memoriale’, V. 65. Quem (Glosse: librum Iob) vas in quartum transfundens fecit apertum. 5 tertius Die gleiche Zählung des e˛quivocus Notker im ‘Memoriale’, V. 68. Nicht mitgezählt ist hier Notker, der Abt (reg. 971–975), der nach chronologischer Ordnung vor Notker dem Deutschen zu nennen wäre. 5–8 labio . . . lato . . . mandatum gestans labio . . . latum. Latior hinc labio puto nemo . . . Ecce favos labio quales stillat tibi lato.42 Das Wortspiel mit labium und latum zieht sich höchst artifiziell durch die vier Verse. 6 zu mandatum latum vgl. Ps. 118,96: Omni consummationi uidi finem . latum mandatum tuum nimis.43 Die Verse Ekkeharts rufen die Erinnerung an Augustins Auslegung des latum mandatum in Ps 118,96 auf, die zu einem exegetischen Topos in der Tradition der Psalmenauslegung wurde: Latum mandatum non intelligo nisi charitatem.44 Notker übersetzt, paraphrasiert und kommentiert: A´llero perfectioni gesah ih Christum finem . an imo uuerdent a´lle uirtutes consummate˛ . under dien ist caritas fı´lo breˆit keboˆt . uuanda an iro irfullet uuerdent lex et prophete˛ . Latum, ‘allumfassend’, ist das mandatum also, weil es – als fı´lo breˆit keboˆt Christi – in der Liebe a´lle uirtutes vollendet:45 das Gesetz und die Propheten. Wenn labio als agnomen Notkers auf das Merkmal latus seiner Lippe zielt (V. 5), so deuten die Verse den ›Spitznamen‹ Notkers also über das Tertium dieser Eigenschaft auf seine große caritas als Lehrer und Mensch. Das entspricht dem Eintrag im St. Galler Nekrolog Obitus Notkeri doctissimi atque benignissimi magistri (s. o. S. 342). Vgl. auch im ‘Liber benedictionum’ die Verse in Ekkeharts Gedicht ‘In natale sancti Stephani protomartyris’: 41 42 43
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Wolf [Anm. 27], S. 150 Anm. 5. Zum Folgenden vgl. Wolf [Anm. 27], S. 152 f. Text nach: Die Werke Notkers [Anm. 1], Bd. 10 (ATB 93) Tübingen 1983, S. 462, Z. 10–11 = Cod. SG 21, S. 462, Z. 10 f.; CESG. Augustin, Enarrationes in psalmos, hier PL 37, Sp. 1561; zitiert nach: Wolf [Anm. 27], S. 153. Notker gebraucht in der Paraphrase die Lesart perfectioni, wie sie Augustinus vorlag, anstelle der Vulgata-Lesart consummationi, nach der sein eigener Text eingerichtet war.
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latum mandatum tuum nimis
sub gratia
Latum mandatum,
quod et hostem vult fore gratum
iubet
contrarium legi est
Christi
Idcirco brachia cruce dilatantur agya46 breit ist dein Gesetz gar sehr
unter der Gnade
im Gegensatz zum Gesetz
Breit das Gebot,
das
selbst den Feind lieb sein lassen will,
gebietet
Christi
darum breiten sich die Arme am heiligen Kreuz aus. 8 Ecce favos labio quales stillat tibi lato. wörtlich etwa: ‘Schau hier (d. h. in Notkers ‘Hiob’), was für Waben er dir mit breiter Lippe träufelt.’ Vgl. Cant. Cant. 4, 11 Favus distillans labia tua, sponsa: ‘Von deinen Lippen, Braut, tropft Honig’. Notker erscheint für Ekkehart hier als Lehrer der Kirche. Denn nach der Hoheliedexegese bedeutet der Honig, der von den Lippen der Braut, welche die Kirche bedeutet, wie von ›Waben‹ tropft, die Lehren der Kirche und die spirituelle Deutung des Gotteswortes. Vgl. Haimo von Auxerre: Favus est mel in cera. Mel autem in cera est spiritualis intelligentia in littera. Labia ergo ecclesiae favus distillans vocantur, quia sancti doctores, qui per labia designantur, spiritualia documenta proferunt instruendis fidelibus.47 (‘Die Wabe ist der Honig im Wachs. Der Honig im Wachs ist aber die Erkenntnis des geistlichen Sinnes im Buchstaben. Die Lippen der Kirche werden also ›triefende Waben‹ genannt, denn die heiligen Lehrer, welche mit den Lippen gemeint sind, deuten für die Gläubigen, die belehrt werden sollen, die geistlichen Dokumente.’)
Ekkehart IV. Notkers Sterbegebet und Ekkeharts Fürbittgebet
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Oratio. Versus S. Notkeri Obsecro peccator, tu cor compunge, creator. Tu mihi da multas lacrymis extinguere flammas Et misero dignos inferni perpetis ignes. Salvifica populum clemens extolleque cunctum, Et super ecclesiam tua sit benedictio sponsam. Rex, tibi per cuncta loca tempora, laus sit et ultra.
In Natale S. Stephani Protomartyris, V. 28 f. (Liber Benedictionum [Anm. 5], S. 29). Haimo von Auxerre, In Cantica canticorum commentarius, in: Williram von Ebersberg. Expositio in Cantica canticorum und das ‘Commentarium in Cantica canticorum’ Haimos von Auxerre, hg. und übers. von Henrike Lähnemann und Michael Rupp, Berlin/New York 2004, S. 114.
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[Fürbittgebet] Notker Theutonicus domino finitur amicus: Gaudeat ille locis in paradysiacis.
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‘Als Sünder flehe ich: Schöpfer, zerknirsche mein Herz, Verleih mir, alle Flammen auszulöschen mit Tränen, Und, mir Armseligem, die verdienten Feuer ewiger Hölle! Gütiger, all dein Volk mache heil und nimm es heraus Und über der Kirche, deiner Braut, sei dein Segen! Lob sei dir, König, durch alle Zeiten und Räume und drüberhinaus!’ ‘Notker Teutonicus, dem Herrn Freund, findet sein Ende. Freude sei ihm vergönnt an paradiesischen Stätten!’
Überblickskommentar Handschriften: 1. Cod. SG 393, S. 246 (CESG): ‘Hiob-Verse’, ‘Sterbegebet’ + ‘Fürbittgebet’ 2. Cod. SG 21, S. 575 (CESG): nur ‘Fürbittgebet’ Edition: ‘Sterbegebet’+‘Fürbittgebet’: Wolf [Anm. 27], S. 155 Anm. 1. ‘Fürbittgebet’: Die Werke Notkers [Anm. 1], Bd. 10, S. 575, Z. 5 f. Die beiden Stücke sind zusammen mit den ‘Hiob’-Versen im Cod. SG 393 (CESG) erhalten, der Handschrift von Ekkeharts ‘Liber benedictionum’, allerdings erst als Nachtrag einer Hand des 15. Jahrhunderts; ‘Sterbegebet’+’Fürbittgebet’ erscheinen hier als eine Einheit. Als selbständiger Text erscheint das ‘Fürbittgebet’ unabhängig vom ‘Sterbegebet’ in schöner Capitalis rustica am Ende des Cod. SG 21 (CESG), der Handschrift von Notkers Psalter. Texte nach Tax und nach den CESG-Digitalisaten von Cod. SG 21 und 393; zum ‘Sterbegebet’ vgl. auch Wolf [Anm. 27]. Für das Fürbittgebet Ekkeharts, das im Nachtrag des ‘Liber benedictionum’ sehr passend auf Notkers Sterbegebet folgt, läßt sich als ursprünglicher Ort wohl das Ende von Ekkeharts persönlichen Exemplar des Notkerschen Psalters erschließen.48 Noch im Cod SG 21, der ehemals Einsiedler Abschrift der Psalterbearbeitung aus der Mitte des zwölften Jahrhunderts, steht das Distichon am Ende des Psalters hinter der Auslegung des sog. ‘Athanasianischen Glaubensbekenntnisses’, das den Beschluß des katechetischen Teils von Notkers Psalter bildet.
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Hierzu Hellgardt [Anm. 3], S. 32 f. – Zu dem erschlossenen Exemplar Ekkeharts vgl. auch Lloyd [Anm. 30], S. 63 und das Stemma dort S. 64.
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Stellenkommentar ‘Sterbegebet’ Titel Versus S. Notkeri. – Ekkehart IV. legt die Verse dem sterbenden Notker in den Mund. Auffällig ist, daß Notker hier Sanctus genannt wird. Daß nicht etwa Notker Balbulus, der öfters als »heilig« bezeichnet wird, sondern Notker der Deutsche gemeint ist, ergibt sich aber aus der Zusammenstellung mit den ‘Hiob-Versen’ und dem ‘Fürbittgebet’. 4 extolle aus den Flammen der Hölle. ‘Fürbittgebet’ Notker . . . finitur kann am Ende der Psalterhandschrift verstanden werden als »Notker beendet sein Werk« (= die Psalter-Bearbeitung); im Anschluß an ›Notkers‹ Sterbegebet ist die Formel auf sein Lebensende zu beziehen (= er beendet sein Leben). – Neben und nach den ‘Hiob-Versen’ würde die Formel, wie sie Cod. SG 393, S. 246 steht, in doppeltem Sinne zugleich den Abschluß dieses Werkes, da Notker den ‘Hiob’ ja an seinem letzten Lebenstage vollendet haben soll, und im besonderen das Lebensende Notkers meinen; vgl. Wolf [Anm. 27], S. 148, der die Möglichkeit erwägt, daß Notkers ‘Psalter’ und ‘Hiob’ in dieser Folge zusammen in einem Bande gestanden haben könnten. Dann könnten die ‘Hiob-Verse’ als eine Art Prolog Ekkeharts am Anfang der Handschrift, das Distichon an ihrem Ende gestanden haben; vgl. aber o., S. 344 f., wo ausgeschlossen wurde, daß beide Werke in einem Kodex standen. Die Reimformel paradysiacis : locis begegnet bei Ekkehart wie ein Erkennungszeichen seiner Autorschaft noch dreimal und immer als Segenswunsch für Verstorbene:49 ‘Epitaphium Ekkehardo monacho . . .’: Vivat ut ille locis in paradysiacis50 ‘Epitaphium quatuor scolarum’: In paradysiacis sabbata sume locis51 ‘Casus Sancti Galli’: Des cui Christe locis in paradysiacis52
Ekkehart IV. ‘Epitaphium quatuor scolarum magistris e˛que tumulatis’
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Area ter gratos quater et virtute beatos Doctores miros tres tenet ista viros. Hıˆc est Ruotpertus facilis, hıˆc Notker apertus Doctrine˛ fomes, hıˆs pater Anno comes. Torrentes piceos devitans, Anno sacerdos, In paradysiacis sabbata sume locis. Notker, amor Christo, sacra libans corpore casto
Hinweis von Wolf [Anm. 27], S. 25 Anm. 1. Liber Benedictionum [Anm. 5], S. 401, V. 12. Ebd., S. 406, V. 6. Casus [Anm. 3], cap. 27, S. 68.
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Symphona virgineis gaudia lude choris. Expers sis atri, Ruotperte geronta, baratri: Tres deus in trinum trine repone sinum. Quartus Erimpertus tribus his post addidit artus, Discipulum clamor, fratribus altus amor. Plurimus inde chorus iacet hıˆc dum vixit honorus, Triste sed examen haud patiantur. amen.
Grabschrift für vier gemeinsam bestattete Lehrer der Schüler Dieser Platz birgt drei wunderbare Männer, dreifach teure und vierfach durch Tugend glückselige Lehrer. Hier liegt der freundliche Ruotpert, hier Notker, der klar verständliche, ein Zündstoff der Gelehrsamkeit, für diese Vater Anno ein Erzieher. Meidend die reißenden Pechbäche nimm, Priester Anno, die Sabbatruhe an paradiesischen Orten! Notker, für Christus Liebe, spiele, Heiliges kostend, mit keuschem Leib mittönende Freuden mit den jungfräulichen Chören! Greis Ruotpert, unteilhaftig seiest du des schaurigen Abgrunds! Dreifaltiger Gott, nimm ihn auf in den dreifaltigen Schoß deiner Dreifaltigkeit! Als vierter fügte Erimpertus später diesen dreien seine Glieder hinzu, zum Jammer der Schüler, hohe Freude für die Brüder. Ein hocherhabener Chor liegt also hier, verehrt, solange er lebte. Mögen sie doch ein trauriges Urteil nicht erleiden! Amen.
Überblickskommentar Handschrift: Cod. SG 393 (CESG), S. 262. Edition: Hattemer [Anm. 1], Bd. 2 (1846), S. 6; Dümmler [Anm. 4], S. 49 f.; Liber Benedictionum [Anm. 5], S. 406 f. Das Grab, für das dieses (vielleicht fiktive) Epitaph verfaßt ist, hätte ein Kollegium von vier Lehrern geborgen, wie sie nebeneinander in St. Gallen tätig gewesen waren und alle Opfer der pestilentia geworden sein sollen, die das Heer Heinrichs II. eingeschleppt hatte (s. o. S. 342); verwirrend ist die Zählung der vier magistri. Zunächst werden in V. 3–10 drei von ihnen genannt und gewürdigt: Ruotpert, Notker und Anno. Dann folgt nach diesen dreien (tribus his post V. 11) als Vierter Erimpert. Die Todesdaten sind nach den St. Galler Quellen im Jahr 1022 für Erimpert (Heribert) der 12. Juni 1022, für Notker der 29/30. Juni 1022, für Ruotpert der 16. Juli; im Jahr 1022, für Anno der 9. Januar 1023 (?).53 53
Erimpert: Tag: 12. Juni; Cod. SG 915 (CESG), S. 323; Necrologium S. Galli: II Id. Jun.;
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Die Streuung der Daten vom 12. Juni 1022 bis zum 9. Januar 1023 würde, falls das Epitaph nicht überhaupt fiktiv ist, zu der Annahme nötigen, daß die vier Lehrer nicht zugleich, sondern nach und nach im selben Grab bestattet worden seien. Text nach Hattemer [Anm. 1], Dümmler [Anm. 4], Liber Benedictionum [Anm. 5] und CESG.
Stellenkommentar 3–4 Vgl. die Erläuterung zu V. 1–2 der ‘Hiob-Verse’. – Zu fomes: In V. 82 des ‘Memoriale’ sagt Ekkehart über Notker: Pneumate, quem fotum replevit gratia totum. Das Motiv der Glut Notkers ist dort bezogen auf seine Erfülltheit mit dem Geist, hier auf das Leuchten seiner Gelehrsamkeit. – Der Ausdruck apertus faßt die ethischen und intellektuellen Qualitäten Notkers zugleich in sich. So im vorliegenden Vers, wo Notker selbst apertus genannt wird. Im Blick auf das schwierige ‘Hiob’Buch heißt es in Ekkeharts ‘Memoriale’ (V. 65) fecit (sc. librum ‘Iob’) apertus; apertus ist dort zusätzlich durch die Glosse nimis verstärkt. In den gleichen Sinnbereich fallen die preisenden Bezeichnungen obitus Notkeri doctissimi atque benignissimi magistri des Nekrologs, der ‘Annales Sangallenses Maiores’: Notker nostre˛ memorie˛ hominum doctissimus et benignissimus (o. S. 342) und die Glosse propter caritatem discipulorum zum Eingangsvers 62 des ‘Memoriale’: Primus barbaricam scribens faciensque saporam. 6–7 Diese Verse würdigen Notker, den homo religiosus, mit den Stichworten amor Christo, sacra libans und corpore casto; vgl. zu amor Christo und sacra libans die Verse über Notkers Frömmigkeit, insbesondere seine Petrus-Verehrung im ‘Memoriale’ V. 69 f. und in den zugehörigen Glossen; zum Asketen Notker ebd. die Verse 77–79 (Kasteiung mit einer Kette um die Lenden); zu corpore casto ebd. die Glosse zu V. 73 (Beichte einer sexuellen Sünde).
St. Galler Todtenbuch [Anm. 21], S. 44. Jahr: 1022 nach den Annales Sangallenses Maiores, MGH SS 1, S. 82; Cod. SG 915 (CESG), S. 226. – Notker: 29./30. Juni 1022. – Ruotpert: Tag: 16. August; Cod. SG 915 (CESG); Necrologium S. Galli: XVII Kal. Aug.; St. Galler Todtenbuch, S. 47. Im Cod. SG 915 fehlt hier ein Blatt. Es wurde im St. Galler Todtenbuch (s. dort S. 47 Anm. 1) nach Cod. SG 453 ergänzt. Jahr: 1022 nach den ‘Annales Sangallensis Maiores’, MGH SS 1, S. 82; Cod. SG 915 (CESG), S. 226 (einer der beiden dort genannten Ruotperti). – Anno: Tag: 9. Januar; Cod. SG 915 (CESG), S. 299, Necrologium S. Galli: V Id. Jan.; St. Galler Todtenbuch, S. 30. Jahr: 1023 (?); St. Galler Todtenbuch, S. 104.
Zur Bedeutung von mhd. leiben/verleiben – ahd. firleiben von Derk Ohlenroth I Der Held in Ulrichs von Zatzikhoven ‘Lanzelet’, noch ›namenlos‹, hat den ihm zutiefst verfeindeten Herrn der Burg Lıˆmors, Lıˆnier, den Bruder des auf den Bıˆgen1 residierenden Landesherrn, Patricius, in einem aˆventiure-Zweikampf getötet und reitet nach seiner Genesung mit dessen auf Lıˆmors lebender ihm zugetaner Nichte, Ade, heim zu deren Vater nach den Bıˆgen. Sein freundlicher Empfang dort wird durch eine zuvorkommend gastfreie Behandlung noch übertroffen (v. 2750 f.). Ades Vater nämlich gibt auf deren Betreiben (v. 2332/5) alle Feindschaft gegen den Helden auf (v. 2752), die wohl, wie der unversöhnliche Zorn des Lıˆnier,2 auf Lanzelets unwissentlich begangenen Regelverstoß und alsdann auf die Tötung eben jenes Lıˆnier zurückgeht. Diese Wendung zum Guten, dokumentiert in der Situation von Ankunft und Aufnahme, deutet der Erzähler als Erweis der sælikheit (v. 2748) des Helden, ein Motiv, das die kleine Episode ringkompositorisch bindet (v. 2756 wan er was sælic geborn); explizierend unterstreicht den maßgeblichen Geschehensaspekt die abschließend-zusammenfassende Bemerkung: man fuor im senfteclıˆchen mite (v. 2757). Die Partie v. 2748–2757 lautet bei Hahn:
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2755
daˆ3 schein wol sıˆn sælikheit, als ich iuch berihten sol. man enpfienc in inneclıˆchen wol und boˆt ez im michels baz. der vrowen vater liez al den haz: er tet im durch der tohter bete lıˆp guot und swaz er hete. des leibt der gast aˆn argen zorn, wan er was sælic geborn. man fuor im senfteclıˆchen mite.
Es geht um das Verständnis des Verses 2755.4 Der Zusammenhang nötigt zu der Annahme, ein Fehlen von argem zorn könne sich nur auf die Gastgeber-Seite (schwerlich auf Lanzelet) beziehen.5 In der Lesart des Verses war Hahn i. w. dem Heidelberger Codex Pal. germ. 371 gefolgt: Dz leibete der gast on argen zorn.6 Das swv. 1
2 3 4 5
6
V. 1540. – Zitiert wird hier nach der alten Ausgabe von K. A. Hahn (Lanzelet. Eine Erzählung von Ulrich von Zatzikhoven, hg. von Karl August Hahn, Frankfurt a. M. 1845). Wiederholt hervorgehoben Vv. 1594, 1607, 1645, 1660 (1662), 1664, 1814, 1988, 2013. Nämlich auf den Bıˆgen, der Residenz des Landesherrn. Der Reim zorn – geborn begegnet häufiger, vgl. etwa Vv. 259 f., 507 f., 1645 f., 2091 f., 2331 f. Eine mögliche Parallele für aˆne zorn, bezogen auf die Gegenseite, wäre 507. Kragl (Ulrich von Zatzikhoven, Lanzelet, hg. von Florian Kragl, Bd. 1: Text und Übersetzung, Berlin/ New York 2006, S. 31) übersetzt: »ohne Groll«. Vgl. Kragl [Anm. 5], S. 609.
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leiben bedeutet in aller Regel ‘übrig lassen’, auch ‘schonen’,7 und wird gewöhnlich mit dem Akk. konstruiert.8 Daß der Gast die Angebote seines Gastgebers insgesamt nicht wahrnähme, gäbe keinen Sinn. So verzeichnen BMZ und Lexer diesen Beleg mit dem Bemerken: »mit gen. part.«. Kragl [Anm. 5], S. 157 übersetzt: »Davon ließ der Gast ohne bösen Zorn etwas übrig«. Doch bleibt eine solche Deutung in mehrerlei Hinsicht unbefriedigend: Daß der Gast nicht alles aufbraucht, was der Gastgeber besitzt, versteht sich von selbst; wozu also die Beteuerung? Ferner könnte jener von dem lıˆp – wohl dem persönlichen »Dienst« des Gastgebers9 – schwerlich »etwas übrig lassen«. Nicht zuletzt würde sich die ja ringkompositorisch wieder aufgenommene Begründung, der gast sei sælic geborn, isoliert und damit fehlgesteuert, nunmehr auf das befremdende Detail beziehen, er habe vom Gebotenen aˆn argen zorn »etwas übrig gelassen«. Der Sinnzusammenhang läßt demgegenüber natürlich erwarten, die sælde des Fremden erweise sich in dessen freundlich-zuvorkommender Behandlung am Hof des ihm zuvor feindlichen Landesherrn. Im »Lanzelet« kann arc wie überall »böse« bedeuten,10 ebenso aber auch »geizig«.11 aˆn argen zorn könnte demzufolge meinen, der Gast ziehe – allerdings indem er die großzügigen Angebote w a h r n e h m e – keinen von Geiz inspirierten Zorn des Hofes auf sich. Wie also ist das ominöse leiben zu verstehen? Die Graphie des Heidelberger Cod. Pal. germ. 371 Dz leibete der gast [. . .] läßt die Frage, mit welchem Kasus leiben hier konstruiert sei, in der Schwebe. Hahn hatte, nachdem die Hs. nicht mehr sauber zwischen -z und -s unterscheidet, das dz in des aufgelöst.12 Weil der gegebene Zusammenhang, wie bemerkt, für eine Auflösung der Kurzform dz ebensowenig wie einen Akkusativ einen partitiven Genitiv, also die Bedeutung »übrig lassen«, erwarten läßt, stellt sich die Frage – in den Lexika nicht erwogen – ob leiben etwa mit n i c h t p a r t i t i v e m Genitiv konstruiert werden kann – dann jedoch eher, in Abgrenzung von der geläufigen Akk.-Konstruktion, bei abweichender Bedeutung.13 7
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Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch I, Leipzig 1872, Sp. 1862 (vgl. BMZ I 1963, Sp. 970a). Mehrfache Beispiele bei BMZ [Anm. 7], darunter Pass. 195,6, Exod. D. 156,17; Lexer [ebd.], darunter Chr. 8, 374,15, Netz 13287. Vgl. Kragls Übersetzung [Anm. 5], S. 157. Etwa 984, vgl. auch 5939 (beidemale im Wiener Codex 2698); entsprechend die Übersetzung Kragls [Anm. 5], S. 157. 1234 f. (vgl. dazu 1249/52). Für eine Wiedergabe der Gen.-Form des durch dz in der Heidelberger Handschrift liefert Kragls Transkription ([Anm. 5], S. 533–793) mehrere zweifelsfreie Belege mit den Versen 706, 1556, 2661, 3519, 4031; in Verbindung mit nicht 946; syntaktisch unsicher 2123. Ebenso begegnet 188 wz für wes. Unter den »nicht wenigen Verben«, bei denen »die Verbindung mit dem Akkusativ nicht die einzig mögliche« ist, »womit sich Nuancen der Bedeutung [. . .] verbinden können«, vermerken Paul/Schröbler/Wiehl/Grosse (Hermann Paul, Mittelhochdeutsche Grammatik, 24. Aufl., überarb. von Peter Wiehl und Siegfried Grosse, Tübingen 1998), § 348 Anm. 1 als offenbar seltenen Fall einer »Konkurrenz mit dem Genitiv [. . .] heln mit Akk. und Dat. der Person (dazu mit Gen. oder Akk. der Sache) [. . .]«. Die unfeste Valenz im Sach-Bezug überkreuzt sich hier mit einer Entsprechung im Personen-Bezug. Umgekehrt begegnet für Ver-
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Was den in 2755 intendierten authentischen Sinn betrifft, könnte die Lesart des Wiener Codex 2698 weiterhelfen,14 dem Kragl folgt: der lebt der gast aˆn argen zorn – ‘von den Angeboten lebte der Fremde, ohne geizgewirkten Zorn auf sich zu ziehen’.15 Die Variante in W nimmt sich gegenüber der P-Version aus wie eine lectio facilior. Vereinfacht ausgedrückt, könnte (ein altertümliches?) leiben + Gen. annähernd dasselbe bedeuten wie leben + Gen. Wie neben einem stv. bıˆten ein swv. beiten steht,16 könnte neben einem stv. -lıˆben ‘übrig bleiben’17 ein swv. leiben in ähnlicher Bedeutung stehen, mit dem Gen. also etwa ‘sein (›Über‹-?) Leben bestreiten von/ sichern mit/gründen auf’. Es würden sich dann in der itr. Bedeutung eine sw. und eine st. Bildung ebenso überkreuzen wie im Fall eines trans. stv. lıˆben ‘schonen, verschonen’18 und des geläufigen swv. leiben ‘übrig lassen, schonen’.19 Daß man auf
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ben mit Genitivobjekt u. a. eine »Konkurrenz von seiten des Akkusativs [. . .] wobei z. T. Nuancen in der Bedeutung des Verbs zu bemerken sind« (ebd., § 361). So notiert für phlegen Matthias Lexer (Mittelhochdeutsches Handwörterbuch II, Leipzig 1876): »mit acc. u. gen. einen des trankes phl. EILH 1886« (Sp. 252) sowie »mit acc. si enpflegen sanc noch seiten spil VIRG 295,11« (Sp. 253); ferner BMZ, Mittelhochdeutsches Wörterbuch II, 1, Stuttgart 1990, S. 449, Sp. b: »daz ich hort der Niblunge niene gephlac Nib. Z. 266,22«. Allen drei Belegen ist die Nachbarschaft des ›irregulären‹ Akk. mit einer Gen.-Form gemeinsam. Eine Ausnahme davon bildet »ein verre sippe di Etzel unde Sıˆvrit zesamne haˆnt gepflegen Nib. Lm. 1960,2 [. . .]« (ebd.). Treffend bemerken BMZ zu den zwei NL-Belegen: »der gebrauch des unflectierten infinitivs bei pflegen nimmt diesem accusativ alles auffallende [. . .]« Was (ver-) leiben angeht, so sind die Gen.-Konstruktionen statistisch ungleich auffälliger als anderweitig konkurrierende Gen.- oder Akk.-Konstruktionen. Auch geht – wie sich zeigen wird – die semantische Abweichung über eine Nuancierung weit hinaus, so daß im Fall von (ver-) leiben + Gen. statt mit einer Kasus-Konkurrenz eher mit einem eigenen Lemma zu rechnen sein dürfte. Vgl. Kragl [Anm. 5], S. 609. Kragls ([Anm. 5], S. 157) Übersetzung »Wegen dieser Sachen lebte der Gast [. . .]« verzichtet auf die geläufige Konstruktion leben mit Gen. = »leben von« (vgl. etwa ‘Helmbrecht’ 1482). – Sie vermöchte übrigens die altehrwürdige ›Saladin-Crux‹ (MF 218,19) problemlos aus der Welt zu schaffen und Hartmanns ›3. Kreuzlied‹ für 1189 zu sichern: Das mıˆn wäre, anstatt (als Possessivum) mit dem folgenden her, (als Gen.-Obj.) mit dem voraufgehenden lebte zu verbinden. Ohne Eingriff in die Überlieferung (C) hieße dann Und lebte mıˆn her Salatıˆn und al sıˆn her: ‘Wenn von mir (nämlich auf meine Kosten, d. h. wohl – ob real oder hypothetisch – von meinen Besitzungen in Palästina) Saladin und sein gesamtes Heer lebten [. . .]’. Saladins Verlegenheit, die Finanzierung seines namhaften stehenden Heeres zu gewährleisten, bestätigt Hans Eberhard Mayer, Geschichte der Kreuzzüge, Stuttgart 41976, S. 135. Was nicht einmal gewichtigste eigene ökonomische Interessen vermöchten, so die Aussage, die Macht der Gottesminne bringt es fertig: Sie bewegt den Sänger, die Heimat zu verlassen. Eine ähnliche Art reimender Responsion innerhalb des Verses (mıˆn – Salatıˆn) fände sich an entsprechender Stelle unmittelbar zuvor, in der Eingangsstrophe: ez ist un w e n dic: ich muoz e n delıˆchen dar (218,11). Hier als Intensivum, ‘harren’, aus ahd. beitoˆn (vgl. Hermann Paul: Mittelhochdeutsche Grammatik, 25. Aufl., neu bearb. von Thomas Klein, Hans-Joachim Solms und Klaus-Peter Wegera, Tübingen 2007, § M 66); doch ist immerhin ein transitives leiboˆn = ‘übrig lassen’ bezeugt: des enleibotens niht (Genesis und Exodus. Nach der Milstäter Handschrift hg. von Joseph Diemer, I. Bd., Wien 1862, S. 148, 36). Vgl. Lexer [Anm. 7], Sp. 1895. Vgl. ebd. Vgl. ebd., Sp. 1862.
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den Bıˆgen dem vormaligen Feind die uneingeschränkte Fülle nicht nur bietet, sondern ihm deren unbefangene Inanspruchnahme auch g ö n n t , dies wäre es, was seine sælikheit bezeugt.20
II Neben einfachem leiben begegnet gelegentlich die Präfixbildung verleiben, von den Lexika verzeichnet ebenfalls in der Bedeutung ‘übriglassen’.21 Unausdrücklich legen BMZ wie Lexer eine Konstruktion mit dem Akk. zugrunde.22 Die Präfixbildung verleiben begegnet auch in Nokers frühmhd. alemannischem ‘Memento mori’. Die Strophe 15 sagt zu Beginn von dem (begüterten) Menschen: Swes er hie verleibet, taz wirt imo ubilo geteilit. habit er iet hina gegebin, tes muoz er iemer furdir leben. [. . .]23
Stellvertretend für das lange Zeit herrschende Verständnis dieser Stelle sei hier die paraphrasierende Übersetzung von Wilhelm Scherer zitiert:24 »was er hier übrig lässt (und nicht zu guten werken verwendet), das wird ihm übel vergolten. hat er etwas dahingegeben, so gewinnt er damit das ewige leben. [. . .]«. Irritiert hat beizeiten »[. . .] ein offener Widerspruch der Aussage: 15,1 Was immer er hier übrig läßt, das wird ihm übel angerechnet. Dagegen 15,2 Hat er e t w a s hingegeben (und behält also etwas, iet, übrig), dafür darf er (muoz = ‘contigit’) hinfort ewig leben.«25 Kaiser sucht dem Dilemma damit die Spitze zu nehmen, daß – wie er meint – »derartige Inkohärenzen und argumentative Sprünge zur Besonderheit dieses Textes gehören« (S. 346); er unerscheidet »die radikalere Auffassung« und »die gemäßigtere Tendenz« (S. 347). Sollte man aber dem armen Noker aufbürden, er sei einen derart harten Widerspruch geradezu in einem und demselben Atemzug eingegangen? Heinz Rupp26 bemüht sich in einer kommentierenden Paraphrase daher um eine weiter gefaßte Auslegung des Begriffs verleibet: Er bezieht ihn auf die Aussage der ersten Hälfte von Strophe 14 20 21 22
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Edler Abkunft (wol geborn) zu sein als Ursache des Wohlwollens 1490/3. Vgl. BMZ [Anm. 7], Sp. 970a; Lexer, Bd. III, Leipzig 1878, Sp. 158. verleibeter residuus; vgl. Lexer (ebd.): niht si (Vögel) dıˆn verleibent, gar si dich zerteilent (Genesis und Exodus, [Anm. 16], S. 81,30). – Eine Gen.-Konstruktion ließe *nihtes erwarten. 109–112; Text und Zählung nach: Frühe deutsche Literatur und lateinische Literatur in Deutschland 800–1150 (Bibliothek des Mittelalters Bd. 1), hg. von Walter Haug und Benedikt Konrad Vollmann, Frankfurt a. M. 1991. Das »Memento mori« S. 662–671; Kommentar S. 1454–1460. Wilhelm Scherer, Memento mori, in: ZfdA 24 (1880), S. 426–450, hier S. 429. Gert Kaiser, Das Memento mori. Ein Beitrag zum sozialgeschichtlichen Verständnis der Gleichheitsforderung im frühen Mittelalter (für Peter Wapnewski), in: Euphorion 68 (1974), S. 337–370, hier S. 345. Heinz Rupp, Deutsche religiöse Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts. Untersuchungen und Interpretationen, Bern/München 21971, S. 13.
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(v. 101–104 – wo es darum gehe, sich »von den sündigen Verlockungen der Welt« zu befreien) und paraphrasiert verleibet entsprechend unkonkret: »Wer jedoch dies alles unterlassen hat, dem wird es übel ergehen.« Der Text – swes er hie verleibet – sagt jedoch augenscheinlich etwas anderes. Walter Haug erkennt demzufolge jenem swes einen sehr spezifischen Gehalt zu: Er bezieht es zwar wie Rupp auf die erste Hälfte der Strophe 14, sieht in ihr aber ein definitives Handlungsgebot gespiegelt: »Der Gedankengang klingt an Lc 12,33 an: Christus verlangt, daß man seine Besitztümer verkaufe und das Geld verschenke, um sich einen unvergänglichen Schatz im Himmel zu erwerben.«27 »Was er hier zu tun versäumt, das wird ihm übel angerechnet«,28 habe diesen prägnanten Sinn. Der alte Widerspruch wäre so zweifellos gemildert; doch bleibt ein Unbehagen, da der Beginn der Strophe 14 jenes Gebot Christi bestenfalls anklingen läßt, der Gedanke aber nicht ausdrücklich genug als jenes klar umrissene Gebot formuliert ist, welches unerfüllt zu lassen fatale Folgen hätte. Wo der Dichter auf ein göttliches Gebot anspielt, nämlich des Bereitseins auf die Ankunft des Herrn (Lc 12,35–40), führt er dessen Inhalt auch explizit aus (Str. 12, 87–90). Auch ist im engeren Kontext, in den Strophen 12–14, im Hinblick auf den schaz (v. 100) noch nicht von einer ›Adressatenseite‹ die Rede; es geht bisher um d e n Menschen, noch nicht auch um die anderen.29 Nachdem also die Partie ungeachtet verschiedentlicher Erklärungsversuche nicht wirklich durchsichtig wird, ist an jenes grammatikalische Detail zu erinnern, das in den Bemühungen um das Textverständnis keine Beachtung gefunden hat: Schon die Lexikographen haben es einer Erwähnung nicht für wert befunden, daß verleiben hier mit einem Genitiv verbunden ist, bei dem es sich nicht ohne weiteres um einen partitiven Genitiv handelt. Desto weniger aber scheint es geraten, so zu verfahren, als stünde dort ein Akkusativ, und – etwa mit ‘versäumen/unerfüllt lassen’ – die Wortbedeutung der Akk.-Konstruktion (‘übrig lassen’) zugrundezulegen. Zur Ermittlung der Semantik von verleiben mit dem Gen. an dieser Stelle mag es hilfreich sein, sich des Sinnzusammenhangs zu vergewissern, innerhalb dessen die fragliche Aussage ihren Ort hat. Das Gedicht wirft zu Beginn die Frage nach dem Ziel des menschlichen Lebens auf (Str. 1, 1–2), nämlich dem »Paradies« (Str. 4, 25), aus dem wir stammen und in das wir zurückkehren sollen (Str. 17, 130 f.), was gleichbedeutend ist damit, daz wir die sela 27 28 29
Haug [Anm. 23], S. 1458. Ebd., S. 669. Zur Milderung des Widerspruchs modifiziert Haug übrigens auch das Verständnis der Verse 111–112: »112 tes] Wenn man tes mit ‘deshalb’ übersetzt, unterstellt man dem Dichter die Meinung, daß man nur etwas hinzugeben brauche, um das ewige Leben zu gewinnen! (Kaiser, Memento mori, S. 345.)« (S. 1458), und übersetzt: »Von dem, was er hingegeben hat, wird er im künftigen Leben zehren müssen.« (S. 669). Auch dies scheint mir die Intention des Textes nicht zu treffen: Er will doch auf den Gegensatz [. . .] imo ubilo geteilit – [. . .] iemer furdir leben hinaus. Haug läßt das Adv. iemer unübersetzt, das in der Verbindung mit leben die Vorstellung des ›ewigen Lebens‹ evoziert; um das ewige Leben geht es im ganzen Text. Im ewigen Leben aber dürfte es kaum so armselig hergehen, daß die Existenz der Seele auf ihre (vielleicht relativ bescheidenen) irdischen Leistungen angewiesen wäre.
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bewarin (Str. 19, 145). Stattdessen lieben die Menschen diese armselige Welt (Str. 1, 3 brodemi, Str. 2, 11 wencheit) und leben der Illusion, immer »hier zu sein« (Str. 1, 4; Str. 2, 10; Str. 6, 41). Wie sich die Diesseitsbindung vollzieht, erläutert die Strophe 5: Diese Welt bindet den Menschen durch ihren lieblichen Zauber so an sich, daß er sich, hat er sich einmal auf sie eingelassen, nicht mehr von ihr zu lösen vermag. Er versucht, immer mehr von ihr zu ergreifen, zu ›haben‹, und ›hat‹ am Ende, wenn er sie verlassen muß, weder hier noch künftig etwas. Das Motiv des irdischen Besitzes ordnet sich – nach einem zweiten Abschnitt, der von minne und reht handelt (Str. 7–11)30 – in den ab Str. 12 herrschenden Bildzusammenhang von der vart ein, die dem Menschen aufgegeben ist; hiermit ist zunächst die Reise zum jenseitigen Ziel gemeint (Str. 12, 86; vgl. Str. 13, 94). Dem Plädoyer der Strophe 12, sich entsprechend dem Gebot Gottes für diese Fahrt bereitzuhalten, stellt die Strophe 13 unter Hinweis auf den verborgenen Zeitpunkt und die Unausweichlichkeit des Todes31 die Erinnerung an die Nutzlosigkeit irdischen Besitzes (v. 100 schaz)32 zur Seite und nimmt so die Thematik von Str. 5 wieder auf. Den Stellenwert irdischen Reichtums unter dem Aspekt der vart erläutert der Beginn der Strophe 14 (v. 101–104): Habit er sinin richtuom so geleit, daz er vert an arbeit: ze den schonen herbergon vindit er den suozzin lon. [. . .].33 30
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Die Strophen 9–11 prangern an, daß das reht (nämlich Gott selbst) »verkauft« wird, und zwar an die »Armen«, was zugleich heißt, daß die Reichen deren B e s i t z an sich ziehen. So ist vor den Strophen 12 ff. das ›Besitz‹-Motiv bereits einem konkreten Zusammenhang zugeordnet. Das Gegenteil einer Übervorteilung der Armen wäre das später empfohlene Almosengeben. Doch setzt der mit Str. 12 beginnende Abschnitt gewissermaßen neu ein; er will den zweifelhaften Wert irdischen Besitzes aus eschatologischer Sicht dartun: Hat man sich von seiner Belastung gelöst, dann gelingt die Reise zum Ziel der jenseitigen Erfüllung. 96 iuwer nelat er hier niet wäre zu übersetzen: ‘Er (der Tod) läßt euch nicht hier (bleiben)’. Haugs [Anm. 23] wörtliche Übersetzung und Kommentierung des Verses (S. 1458) übersieht die fest gewordene Verbindung von (nominalem) niht mit dem (ursprünglich partitiven) Genitiv. Vgl. Lc 12,15. Scherer [Anm. 24] übersetzt: »hat er seinen reichtum so angewendet, dass er dahinfährt ohne seelenangst [. . .]« (S. 429). Demgegenüber betont Rupps [Anm. 26] Paraphrase die äußere Beschwernis durch irdische Güter: »Hat der Mensch seinen Reichtum so angelegt, [. . .] daß er ohne Hemmnis und Mühe [. . .] auf seine Fahrt gehen kann [. . .]« (S. 13). Ähnlich kommentiert Kaiser [Anm. 25]: »Deshalb soll der Besitz so verwendet werden, daß man ohne Mühsal von dannen geht [. . .]« (S. 346). Haugs Übersetzung [Anm. 23] läßt offen, ob an innere oder äußere Belastungen zu denken sei: »Hat er seinen Reichtum so verteilt, daß er unbelastet gehen kann [. . .]« (S. 669). Alle Interpreten aber – wohl auch Haug – leiten aus dem Begriff vart der Strophen 12 und 13 die Vorstellung ab, mit daz er vert (102) sei n u r an die Jenseitsreise gedacht. Lediglich Gentry (Francis G. Gentry, Vruot . . . verdamnot? Memento mori, vv. 61–62, in: ZfdA 108 (1979), S. 299–306, hier S. 303) umschreibt die zwei Verse: »Hat ein Mensch die Verteilung seines Besitzes so geregelt, daß er ohne Mühe lebt [. . .]«.
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Die Möglichkeit, in die Vorstellung der Jenseitsreise spiele hier bereits die der irdischen Lebensreise mit herein, hat etwas Bestechendes, denn das Gedicht zielt mit seiner Sorge um das Seelenheil auf die h i e s i g e Lebenspraxis, die über das künftige Los entscheidet. An die lange Reise zu »denken«, wie es die Strophe 12 empfiehlt, und sich für sie »bereit zu machen« (der sih tar gewarnot), um zum gegebenen Zeitpunkt »fertig« zu sein (taz er gar ware), dies betrifft die Einrichtung des i r d i s c h e n Lebens. So könnte denn in 101–102 die Vorstellung hineinwirken, der Mensch möge sich so von seinem Reichtum lösen – d. h. ihn »ablegen« (v. 101 geleit) – daß er seinen Lebensweg gewissermaßen mit leichtem Gepäck, ohne den Ballast irdischer Güter, zurücklegen kann.34 Immerhin ist es der Ve r z i c h t auf diesseitigen Lebensgenuß, worauf die Stichwörter schaz und richtuom hinauswollen, wie die zwei folgenden Verse aus Str. 14 (v. 105–106) unmißverständlich sagen: des er in dirro werlte niewit gelebita, so luzil riuwit iz in da
(nämlich am Ziel, in der Seligkeit des ewigen Lebens). Die zwei zitierten Verse aus Str. 14 geben nun die Perspektive für die zwei Eingangsverse der Strophe 15 (v. 109–110) und insbesondere für die Semantik des verleibet (v. 109) vor: Swes er hie verleibet, taz wirt imo ubilo geteilit.
Der erste dieser beiden Verse (109) folgt in kalkuliert parallelistischer Entsprechung dem oben zitierten Vers 105 der Strophe 14 – Genitiv-Objekt: des/swes – Pers.-Pron. als Subjekt: er/er – Motiv des hiesigen Daseins: in dirro werlte/hie – Modus des ›Lebens‹ (hiervon abhängig der einleitende Gen.): niewit gelebita/verleibet. Der jeweils reimend anschließende Vers spricht die Folgen im Jenseits an: keinerlei Reue dort/ein schlimmes (künftiges) Urteil. Vom gedanklichen Zusammenhang wie von der rhetorischen Stilisierung her geben sich die Eingangsverse der Strophe 15 also wie eine gezielte Antithese zu dem in Str. 14 (v. 105–106) formulierten ›Verzicht‹-Motiv. Fände sich – ähnlich wie im Fall von leiben + Gen. – auch verleiben + Gen. in weitgehender semantischer Kongruenz mit der st. Entsprechung, verlıˆben, das mit ‘bleiben’,35 aber auch mit ‘verbleiben, verharren, mane¯re’ übersetzt wird,36 so ließe sich v. 109 etwa übersetzen: ‘Wobei er hier verharrt/woran er sich hier verweilt/ aufhält . . .’ – d. h. soweit er in dem Sinne, wie es die Strophe 5 formuliert hatte, am Irdischen festhält . . . Anders als man es zu sehen gewohnt ist, stünden die Verse 109–110, die die Strophe 15 eröffnen, ihrerseits bereits in Antithese zu den Versen 105–106 der voraufgehenden Strophe und bildeten nicht etwa das antithetische Gegenstück zu den beiden folgenden Versen, 111–112: 34
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In den nachfolgenden Strophen 16 und 17 meint das Bild einer vart (vgl. 118) dann unmißverständlich den innerweltlich-irdischen Lebensweg. BMZ I [Anm. 7], Sp. 969b. Lexer III 1878, Sp. 161.
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habit er iet hina gegebin, tes muoz er iemer furdir leben.
Diese beiden Verse formulieren weniger eine systematische Antithese zu 109–110, sondern rufen – im Rückblick auf Str. 14, 101–106 – den Ausweg aus dem Dilemma in Erinnerung: Das iet (v. 111) bedeutet kaum, wie man gemeint hat,37 ‘etwas’ im Sinne von ‘nur irgendetwas, also ggf. auch sehr wenig’; der Inhalt dieses iet, der Quantität nach unbestimmt, spielt auf den S i n n der zwei Eingangsverse von Str. 14 (v. 101–102) an. 111 wäre etwa zu paraphrasieren: ›hat er das Relevante, das Angemessene, seiner irdischen Güter fortgegeben‹. Erst von hier an, also n a c h den fraglichen Eingangsversen der Strophe 15, werden die Motive schaz (v. 100) und richtuom (v. 101) im Sinne des Almosengebens konkret auf die Bewältigung des Weges zur Seligkeit angewendet; von einer ›Adressatenseite‹, das sei wiederholt, ist bis einschließlich des Beginns von Str. 15 – swes er hie verleibet – explizit noch nicht die Rede. Den Motiven schaz und richtuom kommt bis hierhin ein anderer Stellenwert zu: Sie nennen beim Namen, in welcher Form sich der Mensch ans irdische Leben, an die »Welt«, bindet. Vorrangig geht es noch in 109–110 um ein Sich-Lösen von der Belastung mit Äußerem; erst mit Str. 15, 111 (vorbereitet, aber noch unspezifisch, in Str. 14, 101) wird mit dem Stichwort gegebin andeutungsweise auf ein zielbezogenes Handeln (Almosengeben) hinübergeleitet. Klärend im gegebenen Zusammenhang ist die folgende Strophe, 16: Sie kommt nicht allein gänzlich ohne das ›Wohltätigkeits‹-Motiv aus, sondern veranschaulicht im geläufigen Bild des in einer schönen Naturszenerie (hier unter einem Baum) sich versäumenden Wanderers38 das verhängnisvolle S i c h - Ve r w e i l e n in der Welt, welches das Ziel der Wanderschaft (v. 118 verte) vergessen läßt, bis es für sein Erreichen zu spät ist. Was wir als mögliche Bedeutung von 109 swes er h i e v e r l e i b e t unterstellt haben, würden die Verse 127–128 der in Str. 17 anschließenden Auslegung recht genau bestätigen: ter boum bezechint tisa werlt: ir bint etewaz h i e v e r t w e l i t .
Gewarnt wird vor einem Verharren und schließlichen Sich-Verlieren in der Welt. Es gilt vielmehr, sie um des Seelenheils willen beizeiten zu ›verlassen‹ (Str. 18, 137– 138).39 Vom Bildzusammenhang her ist Eile geboten. Aber erst die Mahnung der bei Haug/Vollmann emendierten auf 132 folgenden vier Verse konkretisiert diese ›Eile‹: ir ilint alle wol getuon [. . .].40 Wie leiben + Gen. im ‘Lanzelet’, so hat sich gezeigt, weicht auch verleiben + Gen. semantisch von der Akk.-Konstruktion ab; wollte man versuchen, dessen hier erwogene Bedeutung ‘verharren bei usw.’ mit jenem auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, könnte es vielleicht auch so viel bedeuten wie ‘sein Leben sichern mit/ 37 38 39 40
Vgl. Kaiser [Anm. 25], S. 345; Haug [Anm. 23], S. 1458. Vgl. Haug [Anm. 23], S. 1458. Vgl. Mt 10,39; Lc 9,24; Io 12,25. Haug/Vollmann [Anm. 23], S. 1458 f.
Zur Bedeutung von mhd. leiben/verleiben – ahd. firleiben
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gründen auf’. An einem letzten Beispiel wird zu prüfen sein, ob sich eine solche Wortbedeutung bewährt.
III Auch im Ahd. ist leiben in der Bedeutung »übrig lassen« bezeugt, so bei Otfrid V 11,43 f.;41 Jesus hat nach seiner Auferstehung vor seinen Jüngern gegessen: Tho nam er thaz er leibta, [. . .] gab in thaz [. . .], thaz iagilih thes azi.
Die Vulgatüberlieferung C W S zu Lc 24,43 lautet: et cum manducasset coram eis sumens r e l i q u i a s dedit eis. Doch kennt Otfrid auch die Präfix-Variante firleiben. Sie begegnet im Zuge einer Darstellung und ausführlichen Kommentierung des Sündenfalls in II 6.42 Ich gebe den Text nach der Ausgabe von Erdmann43 im engeren Zusammenhang; die Rede war zuvor vom »Apfel«: 27 28 29 30 31
Ward tho mennisgen we, thaz er nan uz thoh ni spe, iz widorort nirwanta inti unsih so firsancta. Inti er er iz firslunti, theiz widorort irwunti[,]44 joh thaz er es firleipti, iz avur thara kleipti In then boum thar si iz nam: ni missigiangin wir so fram.
Auf einen ersten Blick ist der Sinn des Halbverses 30a vollkommen durchsichtig: Der Zusammenhang der Langzeile scheint für firleipti unausweichlich den Sinn ‘übrig gelassen hätte’ zu fordern. Scheint doch das Pronomen im Gen. 30a es denselben Gegenstand zu betreffen wie die Akk.-Form 30b iz. Diese meint eindeutig das vom Baum Gebrochene, thaz obaz (4a, 14b), also den aphul (vgl. 23a). Doch sollte man nicht übersehen, daß zuvor, v. 23–27, also fünf Verse in Folge, vom ‘Apfel’ noch in der zu erwartenden maskulinen Form des Pronomens (nan) die Rede ist; erst mit 28a setzt eine neutrale Form, iz, ein. Im unmittelbaren Anschluß an 27b nan im selben Satzgefüge sollte dieses neue (neutrale) iz, anstatt der Frucht, das verhängnisvolle Geschehen a l l g e m e i n , das Unheil, meinen. Unter dem Aspekt der fatalen Folgen des Sündenfalls für die Menschheit steht ja die Darstellung von Anfang an (2a thaz unser managfalta ser); so wird auch im folgenden Halbvers (28b) die heilsgeschichtliche Perspektive geltend gemacht. Der Vers 28 hieße dann: ‘Damit, daß Adam das Übel nicht rückgängig machte/abwendete, hat er uns in diesen Zustand (so) ›versenkt‹’ – es ist die Gefangenschaft des Todes, vor dem Gott gewarnt (8) und den die natara (13) dementiert hatte (15). Doch herrscht die neutrale Form im folgenden und fordert in 30b und 31a eine konkrete Vorstellung: das ‘Obst’ – ‘wieder befestigt’, zuvor ‘gebrochen’ (31a nam). Infolgedessen gerät das iz von 29a ins Schillern: Das 41
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Weitere Beispiele, die die Akk.-Konstruktion belegen, bei Eberhard Gottlieb Graff, Althochdeutscher Sprachschatz oder Wörterbuch der althochdeutschen Sprache, Bd. II, Darmstadt 1963, Sp. 49. Otfrid II 6, 30. Vgl. Graff [Anm. 41], Sp. 50. Otfrids Evangelienbuch, hg. von Oskar Erdmann, Tübingen 41962 (ATB 49). Das Komma der Ausgabe scheint irreführend.
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Prädikat firslunti scheint (wie in 8a) die konkrete Vorstellung vom obaz (vgl. 4a) zu fordern; die allgemeinere Bedeutung des iz in 28a läßt dagegen zugleich an ›das Böse‹ (lat. malum) denken. Adam hätte also besser in der Form der Frucht ›das Böse‹, nämlich den Tod, nicht ‘verschlungen’. Wie aber wären in einem so gearteten Kontext die neutralen Pronomina in 29b und 30a aufzufassen? Ähnlich wie im ‘Memento mori’ steht firleiben hier mit dem Gen. (30a). Um einen partitiven Gen., gründend auf einer Wortbedeutung *‘übrig lassen’, kann es sich im gegebenen Zusammenhang nicht handeln, denn ein Essen v o n dem Baum der Erkenntnis, demnach auch schon v o n dessen Frucht, war ein Verstoß gegen das göttliche Gebot.45 Stattdessen hätte nach 30b–31a die einmal gebrochene Frucht – freilich als ganze – wieder am Baum befestigt werden können. Wenn nun firleiben mit dem Akkusativ ‘übrig lassen’ heißt, so könnte firleiben mit (nicht partitivem) Genitiv hier wie im ‘Memento mori’ etwas durchaus anderes bedeuten. In diesem Zusammenhang muß auffallen, daß 29b, lediglich positiv gefaßt, bei eng entsprechendem Vokabular in itr. Form den Gedanken von 28a wiederholt. Das in 29b theiz enthaltene iz könnte also – ebenso wie jenes erste iz zu Beginn von 28a – das verhängnisvolle Geschehen des Paradiesesverlustes meinen. Während 8 bei gleichem Reim (firslunti – irwunti) das Geschehen der Todverfallenheit in personalem Bezug formuliert, ginge es hier einfach um die Rückwendung des drohenden Sündenfall-Geschehens.46 In der Konsequenz daraus jedoch könnte auch der folgende 45
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de ligno autem scientiae boni et mali ne comedas: in quocumque enim die comederis ex eo, morte morieris (Gen. 2,17). – Wie ein Reflex auf II 6,30 und entsprechend suggestiv wirkt die Formulierung II 24,32: wiht es [30b thaz thinu wort uns zellen] ni firleiben ni wir iz thar [31b in herzen] gikleiben! Der Gen. ist hier eindeutig partitiv. Was II 6,30 angeht, bleibt Oskar Erdmann (Untersuchungen über die Syntax der Sprache Otfrids. Erster Teil. Die Formationen des Verbums in einfachen und zusammengesetzten Sätzen, Halle 1874) eine letzte Klärung schuldig. So bemerkt er in § 198 (S. 161): »In das stilistische Gebiet gehört die Beobachtung, dass öfters der Gen. statt des sonst eintretenden Acc. gebraucht ist [. . .] in bescheiden fordernden I m p e r a t i v – oder wünschenden und finalen C o n j u n c t i v sätzen [. . .].« Doch schränkt er ein: »Bei den Verben [. . .] firleiben II, 6,30 [. . .] ist keine directe Verbindung mit Gen. anzunehmen, da ein massbestimmender Acc. oder Partikel (wiht, thaz, meˆra) dabei steht« (§ 208, S. 175). Er erläutert dies so: »An das relative t h a z schliesst sich ein bestimmender Gen. des adjectivischen Neutrums an: [. . .] Einigemal auch e s , und zwar auf einen bestimmten sachlichen Inhalt hinweisend und bisweilen ganz partitiv [. . .] Und ebenso verbinde ich jetzt auch (mit Tobler) thaz es II, 6,30, während das erste thaz 29 conditional ist [. . .]: 29 inti eˆr er iz firstunti [sic], theiz widorort irwunti, 30 joh t h a z er e s firleipti, i z avur tharakleipti = und doch, wenn, ehe er es verschluckte, es zurückgekommen wäre, und (wenn) er dasjenige, was er davon übrig gelassen, wider angeklebt hätte. [. . .]« (§ 196, S. 157). 30 thaz wäre demnach Akk.-Objekt zu firleipti, 30 es dagegen Attribut im p a r t i t i v e n Gen. zu thaz. Befremdlich wäre vielleicht weniger die Wiederholung des Akk.Objekts (iz) als der logisch widersprüchliche wie im Ergebnis sinnwidrige Inhalt: »zurückgekommen« wäre das Obst doch wohl als ganzes; »davon übrig gelassen« und »wider angeklebt« hätte der Mensch aber nur einen Teil – hätte er nach Ausweis eines solchen corpus delicti also von der verbotenen Frucht gekostet oder nicht? Das göttliche Verbot schließt einen partitiven Gen. aus. Anschließend, in 32b–33b, herrscht ein Personalpronomen iz allgemeineren Inhalts; es meint das Handeln im Ungehorsam.
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Halbvers, 30a, mit variiertem ‘und’ (inti – joh) anschließend, ein positiv gefaßtes Pendant zum Inhalt von 28b bilden, nämlich zum ‘Versenken (in den Tod)’. Wie 28b den Inhalt von 28a kommentiert, könnte das es in 30a sich auf den hypothetischen glücklichen Gesamtinhalt von 29b zurückbeziehen. Die Halbverse 29b–30a wären dann als eine Art parenthetischer Wiederholung aufzufassen, in der Form eines utopischen Wunschbildes unverlorenen Heils,47 womit sich der so suggestive scheinbar direkte Zusammenhang der Aussagen von 30a und 30b auflöste. Vielmehr würden die beiden Halbverse 29b–30a sich zwanglos einem dicht gewobenen Kontext zusammenfassender heilsgeschichtlicher Kommentierungen einfügen (vgl. 23b, 24a, 25a, 26b, 27a, 28b und nachfolgend 31b). 30a firleipti in der Konstruktion mit dem Genitiv wäre dann itr. zu fassen, und das Verbum bedeutete – ähnlich wie verleiben im ‘Memento mori’ – ‘sein Leben gründen auf/sichern mit’. Die Konstruktion 29a – 30b–31a wäre wohl die eines verkappten Konditionalsatzes48 und die einschlägige Partie paraphrasierend so zu übersetzen: 29
‘Und hätte er (der Mensch) es (jenes Böse – in der Form der Frucht), ehe er es
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und daß er damit sein Leben (im Paradies) gesichert hätte – wieder dorthin geheftet, in den Baum, wo(her) sie (die hier unerwähnte Eva?) es genommen hatte: wir wären nicht so sehr ins Unglück geraten.’
verschlungen hätte – daß es sich zurückgewendet 31
Die gedachte Situation bei Otfrid ist die v o r dem Fall, der die Menschen in den Tod hat sinken lassen: Da war das Leben in der ›Sichtbarkeit‹, der des Paradieses, f e s t z u h a l t e n . Das ‘Memento mori’ meint zu Beginn der Strophe 15 mit dem hie die sichtbare Welt n a c h dem Sündenfall und unter dem Verhängnis des Todes, während das wahre Leben ferngerückt ist (vgl. Str. 4): Um es wiederzugewinnen, hat der Mensch sich der sichtbaren Welt zu verweigern; das firleiben/verleiben, für das Paradies geboten, wäre im Zustand des Gefallenseins verwerflich. Der Genitiv, welcher im ‘Memento mori’ die (festgehaltenen!) irdischen Güter betrifft, deutet bei Otfrid auf die glücklichen Folgen einer hypothetischen Verweigerung der verbotenen Frucht. Wie im frühmhd. Text wäre es der Genitiv, der den spirituellen Sinn der Aussage trüge: Die Semantik von firleiben + Gen. fände dort ihre maßgebliche Stütze. Wir verkennen nicht die enorme strukturelle Suggestion, die zu einer ›naiven‹ Lesart der Verse 29–31 verlockt: Bei inhaltlicher Identität des durchgehend neutralen Personalpronomens fügte sich auch der Vers 30 zu einem kontinuierlichen Sinnzusammenhang; schon 30a bezöge sich auf die konkrete Frucht, die Adam hätte ‘übrig lassen’ sollen. Doch müßte hier dann für die geläufige Akk.-Konstruktion eine Gen.47
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Das Argumentationsmuster einer resignativen Feststellung im Ind. (27–28), auf die eine optativisch gefaßte Wunschvorstellung folgt (29–31), kehrt gleich im folgenden wieder (32 – 33–34). Dieter Wunder (Der Nebensatz bei Otfrid. Untersuchungen zur Syntax des deutschen Nebensatzes, Heidelberg 1965) rechnet II 6,29/30 unter die Wunschsätze (S. 234). »Als irreale Wunschsätze möchten wir auch die drei Sätze II 6; 29/30 und IV 13; 41 auffassen; da das ganze Satzgefüge irreal ist, erhalten sie durch die Voranstellung und die bedeutungsmäßige Beziehung zum nachfolgenden Satz unwillkürlich einen konditionalen Charakter.« (S. 235).
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Konstruktion eingetreten sein. Unser Zweifel an einer solchen Option hat uns auf eine kompliziertere Semantik und Syntax der Verse 29–31 geführt. Mit ihren verschiedenwertigen neutralen Personalpronomina abstrakten Inhalts in 29b und 30a, ihrerseits eingefaßt in die Verwendung neutraler Personalpronomina konkreten Inhalts (iz 29a 30b), mit ihrer Dissoziation der Aussageebenen in der Langzeile 30, aber eben auch mit ihrem theologischen Anspruch sollte sich die hier versuchte Lesart so lange gegenüber jener so glatt anmutenden ›populären‹ Version zu behaupten vermögen, wie eine Gen.-Konstruktion von firleiben eine eigene Semantik nahelegt.
Wortbedeutung, Gebrauchstyp und Textverständnis in der historischen Beleglexikographie Am Beispiel von mhd. buˆwen und seinem Gebrauch im ‘Tristan’ Gottfrieds von Straßburg von Ralf Plate
Eine der erfreulichsten Seiten der Arbeit am Mittelhochdeutschen Wörterbuch – seiner Vorbereitung seit 1994, der Ausarbeitung seit etwa 2002, seiner kontinuierlichen Publikation seit 2006 – ist von Anfang an der persönliche Austausch mit Paul Sappler gewesen und bis heute geblieben, ein Austausch, der auf den regelmäßigen Arbeitsgesprächen an der Mosel und anderswo, zwischendurch meist via E-Mail und in letzter Zeit auch öfters telefonisch gepflegt wird und alle Aspekte der Wörterbucharbeit betrifft, Technisches, Philologie, Wörterbuchtheorie und viel Menschliches, das dazugehört und sich immer wieder einmischt. Eines der wiederkehrenden, aber längst nicht ausgeschöpften Themen des langjährigen Gesprächs ist die philologische Begründung der Lexikographie, ihre allgemeine Formulierung ebenso wie ihre Erprobung an den Alltagsfragen der Wörterbucharbeit. Anlass dazu boten anfangs die konzeptionellen Diskussionen bei der Vorbereitung des neuen Wörterbuchs, denn von der im deutschsprachigen Raum vorherrschenden metalexikographischen Schule war zwar vielerlei Anregung zu beziehen, in zentralen Punkten aber vor allem auch negativ, durch Erregung von Widerspruch; sie durften sich aber nicht im Widerspruch erschöpfen, sondern hatten sich um Offenlegung der genuinen Begründungszusammenhänge philologischer Wörterbucharbeit und -benutzung zu bemühen. Anlass dazu boten ferner und bieten weiterhin zahlreiche konzeptionelle Einzelfragen, die sich bei der Ausarbeitung des Wörterbuchs immer wieder ergeben oder neu bedacht werden müssen, und sogar die Gestalt einzelner Artikel, die kontrovers beurteilt werden (z. B. bıˆ). Der vorliegende Beitrag möchte dieses Gespräch fortsetzen am Beispiel eines vordergründig unspektakulären Lexems des deutschen Kernwortschatzes, das jedoch in mittelhochdeutscher Zeit, wie es scheint, einen besonders ausgedehnten und differenzierten Gebrauch aufwies, darunter – passend zum Anlass dieses Beitrags – auch einige bemerkenswerte Stellen aus einem Lieblingsautor Paul Sapplers, den er sich nicht zufällig als Gegenstand seiner eigenen lexikographischen Bemühungen gewählt hat, sondern wegen seiner Sprachkunst, die ihn zu einem der bedeutendsten Zeugen für die Ausdrucksmöglichkeiten der deutschen Sprache um das Jahr 1200 macht. »Gespräch« ist dabei nicht floskelhaft gemeint, sondern in jenem eigentlichen Sinne, der es z. B. auch gestattet, auf frühere gemeinsame Überlegungen und ihre Ergebnisse abkürzend Bezug zu nehmen, und der andererseits Fußnoten und Literaturnachweise nicht vorsieht, sondern allenfalls als nachträgliche Ergänzungen zum Protokoll zulässt.1 1
Die allgemeinen Überlegungen des folgenden Abschnitts 1 knüpfen an frühere Ausführun-
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1 Zu den schwierigsten Fragen der historischen Lexikographie zählt die Theorie der Wortbedeutung, denn sie hängt aufs engste zusammen mit der Bestimmung des Gegenstands der lexikographischen Analyse, mit der Anlage der Wörterbuchartikel und mit der Benutzung des Wörterbuchs für das Textverständnis. Eine verbreitete einfache Auffassung dieses Zusammenhangs könnte so formuliert werden: Die Bedeutung – oder eine von mehreren Bedeutungen – eines Wortes ist das, was in einer Bedeutungserläuterung, vorzugsweise in einem erläuterungssprachlichen Äquivalent (oder einer Paraphrase mit einem Äquivalent als Kern) ausgedrückt wird; die lexikographische Aufgabe besteht darin, aufgrund der Interpretation von Belegstellen die Bedeutung(en) eines Wortes zu formulieren; die Anlage des Wörterbuchartikels (oder seines Hauptteils) ergibt sich daraus, wie die einzelnen Wortbedeutungen (und, je nach Wörterbuchtyp, darauf bezogene Belegzitate und weitere Informationen) angeordnet werden; und die erfolgreiche Benutzung des Wörterbuchs für das Textverständnis schließlich besteht darin, dem Wörterbuchartikel die für das fragliche Wort einer Textstelle passende Bedeutung zu entnehmen. Diese Vorstellung des Zusammenhangs von Wortbedeutung, Wörterbuchaufgabe, Artikelanlage und Textverständnis ist ebenso einleuchtend, wie sie durch einfache Überlegung in jedem einzelnen Punkt als falsch, mindestens aber als höchst problematisch zu erweisen ist. Welcher Theorie der Wortbedeutung auch immer man zuneigt,2 ausgeschlossen sein sollte jedenfalls die Identifikation von Wortbedeutung und erläuterungssprachlicher Bedeutungsangabe. Das erläuterungssprachliche Äquivalent – um den einfach-
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gen an in einem Beitrag, der in Teilen auf einen Vortrag auf der Tübinger Tagung zum 65. Geburtstag von Paul Sappler zurückgeht: Ralf Plate, Historische Beleglexikographie heute. Zu ihrer Theorie und Praxis am Beispiel des Mittelhochdeutschen Wörterbuchs, in: Lexikographie und Grammatik des Mittelhochdeutschen. Beiträge des internationalen Kolloquiums an der Universität Trier, 19. und 20. Juli 2001, hg. von Ralf Plate und Andrea Rapp zusammen mit Johannes Fournier und Michael Trauth (Akademie der Wissenschaften und der Literatur [Mainz], Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse 2005,5), Mainz 2005, S. 11–40 (im Literaturverzeichnis sind die einschlägigen früheren Veröffentlichungen Paul Sapplers zusammengestellt); ferner besonders auch an Überlegungen, die Paul Sappler auf dem Arbeitsgespräch zur historischen Lexikographie 2007 auf der Marienburg bei Bullay vorgetragen hat unter dem Titel »Wie schlägt der Textphilologe im historischen Belegwörterbuch nach?«. Der Beitrag ist als PDF zugänglich in den Unterlagen zum Arbeitsgespräch auf der Internetseite der Trierer Arbeitsstelle des Mittelhochdeutschen Wörterbuchs: http://www.uni-trier.de/index.php?id=14678 (zuletzt eingesehen am 18.03.2009). Überblicke: John Lyons, Bedeutungstheorien, in: Semantik. Ein internationales Handbuch der zeitgenössischen Forschung, hg. von Armin von Stechow und Dieter Wunderlich (HSK 6), Berlin/New York 1991, S. 1–24; Gerd Fritz, Ansätze zu einer Theorie des Sprachwandels auf lexikalischer Ebene, in: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 2., vollst. neubearb. und erw. Aufl. hg. von Werner Besch, Anne Betten, Oskar Reichmann und Stefan Sonderegger, Bd. 1 (HSK 2,1), Berlin/New York 1998, S. 860–874.
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sten Fall von Bedeutungsangabe zu nehmen – ›ist‹ nicht die Bedeutung des zu erläuternden objektsprachlichen Wortes (auch wenn man alltagssprachlich abkürzend so sagen darf), denn das Äquivalent ›hat‹ ja selbst Bedeutung; weil diese als bekannt vorausgesetzt werden darf und (mehr oder weniger) übereinstimmen kann mit der fraglichen Bedeutung des zu erläuternden Wortes (in einem für die Zwecke der Erläuterung hinreichenden Umfang), deswegen kann das Äquivalent als Mittel der Bedeutungserläuterung geeignet sein. Die Wortbedeutung besteht also nicht in einer Äquivalenzbeziehung zu einem erläuterungssprachlichen Ausdruck, sondern sie geht dieser voraus und begründet sie; anders ausgedrückt: Der Gegenstand der historischen Lexikographie ist eine objektsprachliche, keine erläuterungssprachliche Eigenschaft. Diese Feststellung mag trivial erscheinen, sie ist es aber keineswegs, wie bestimmte Verirrungen in der jüngeren Theorie und Praxis der historischen Lexikographie des Deutschen zeigen, die bereits an anderer Stelle kritisch besprochen worden sind.3 Als objektsprachliche Eigenschaft muss die Wortbedeutung an objektsprachlichen Merkmalen erkennbar sein. Solche Merkmale sind im Falle toter Sprachen und vergangener Epochen nur im überlieferten Wortgebrauch zu finden, und zwar vor allem in der unmittelbaren Textumgebung, denn sie bestimmt den Sinn eines Wortes an einer gegebenen Stelle.4 Das eigentliche wissenschaftliche Wörterbuch ist daher das Belegwörterbuch, weil es auf der Analyse des Wortgebrauchs im Satzzusammenhang (gegebenenfalls weiteren Textzusammenhang) der überlieferten Gebrauchsinstanzen beruht und in seiner Darstellung die Vorführung des Gebrauchs und seine lexikographische Kommentierung verbindet. Die Tätigkeit der Lexikographen besteht dabei zunächst vor allem in der Interpretation der Belege im Hinblick auf die für das Wortverständnis relevanten Kontextbedingungen und in der Typisierung solcher Kontextmerkmale. Die Kommentierung dieser Kontexttypen (Gebrauchstypen, Verwendungsweisen) kann in der Angabe von erläuterungssprachlichen Äquivalenten oder Paraphrasen bestehen, sie kann aber auch bestimmte Kontextbedingungen direkt benennen – z. B. syntaktische Konstruktionen und Valenzeigenschaften bei Verben, bestimmte Gruppen von Bezugsausdrücken bei Adjektiven, Klassen der regierten Ausdrücke bei Präpositionen, allgemein das Vorkommen in bestimmten Wendungen usw. –, und die Kommentierung der Typen kann schließlich auch ganz unterbleiben, wenn sie sich aus der Zusammenstellung der Belege mit hinreichender Deutlichkeit ergibt und eine Ausformulierung zu umständlich erscheint; letzteres, also bloße Beleggruppierung ohne explizite Formulierung der typenbildenden Merk3
4
Ralf Plate, Das Mittelhochdeutsche Wörterbuch. Beleglexikographische Konzeption, EDV, Vernetzungspotentiale, in: Lexicographica 23 (2007), S. 77–95, hier S. 82 f. Vgl. Schleiermachers zweiten Kanon der grammatischen Auslegung: »Der Sinn eines jeden Wortes an einer gegebenen Stelle muss bestimmt werden nach seinem Zusammensein mit denen, die es umgeben«, in: Friedrich D. E. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers, hg. und eingeleitet von Manfred Frank (stw 211), Frankfurt a. M. 1977, S. 116; Hinweis auf Wortbedeutungs-Theorien des Satzzusammenhangs bei Fritz [Anm. 2], S. 863.
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male, kommt in großen historischen Belegwörterbüchern auf unteren Gliederungsebenen sogar verhältnismäßig oft vor (ein Beispiel dafür wird unten unter 3 besprochen). Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass die interpretierende Arbeit von Lexikographen und die Darstellung ihrer Ergebnisse im Wörterbuch nicht zuerst und vor allem auf erläuterungssprachliche Äquivalenz abzielt, sondern mindestens ebenso sehr auf die Ermittlung der für das Verständnis des Wortgebrauchs maßgeblichen Typen von Kontextmerkmalen und die Vorführung dieser Typen in Belegen und Beleggruppen. Dieses Verständnis von der Aufgabe der historischen Lexikographie hängt engstens zusammen mit einer bestimmten Art von Wörterbuchbenutzung, der textphilologischen, der es darum geht, das Verständnis einer Textstelle hinsichtlich der fraglichen Bedeutung eines bestimmten Wortes zu sichern. Dies kann nicht dadurch geschehen, dass eine irgendwie passend erscheinende Übersetzung gefunden wird; sondern es muss zunächst die Bedeutung des objektsprachlichen Ausdrucks selbst gesichert werden, um ein Äquivalent als tatsächlich passend zu erweisen. Die Bedeutung eines in einem bestimmten Kontext gegebenen Ausdrucks sichern heißt aber, wie unten an Beispielen gezeigt werden soll, den fraglichen Gebrauch durch Vergleich mit ähnlichen Stellen anhand der Kontextmerkmale als Instanz eines bestimmten Gebrauchstyps zu identifizieren.5
2 Das unscheinbare Allerweltswort bauen hat in der Geschichte des Deutschen eine stark bewegte Gebrauchs- und Bedeutungsentwicklung durchgemacht, in deren Verlauf alte Bedeutungen abgelegt und neue hinzugekommen sind mit dem Ergebnis, dass der gegenwartssprachliche Gebrauch mit dem althochdeutschen keine Berührungspunkte mehr aufweist.6 Seine größte Entfaltung hatte der Gebrauch von buˆwen (biuwen, bouwen) im Mittelhochdeutschen und älteren Frühneuhochdeutschen; danach verengt sich das Spektrum von Bedeutungen und Verwendungsweisen stark. Für die ältere Zeit lässt sich die Wortgeschichte jetzt gut überblicken anhand der Artikel 5
6
In für den vorliegenden Zusammenhang verkürzter und vereinfachter Formulierung. Differenzierter Sappler [Anm. 1], S. 3: »Wörter und Verstehen, wie hängt das zusammen? In welcher Weise ist für den Textphilologen eine Textstelle mit einem zugehörigen Wörterbucheintrag verbunden? Selten ist der Weg so einfach, klickt es so: Wortvorkommen im Text – Wort im Wörterbuch gefunden – Bedeutung herausgelesen – Vorstellung gebildet – Sache verstanden. In aller Regel sind es Wendungen, Syntagmen, Textzusammenhänge, die das Verständnis vermitteln. Es ist eine Rechnung mit mehreren Unbekannten, die zusammenspielen. Das Ergebnis des Verstehensprozesses ist vielschichtig und es ist nicht abgeschlossen, behält eine gewisse Offenheit.« Vgl. die weiteren Ausführungen dort. Etymologische Vermutungen (vgl. die Wörterbucher von Kluge/Seebold und Pfeiffer und das Etymologische Wörterbuch des Althochdeutschen) über den Zusammenfall mehrerer älterer gleichlautender Verben (zu denen noch eine ›jüngere‹, das heißt vermutlich erst mittelhochdeutsch gebildete Ableitung von buˆ in der Bedeutung ‘Wohnung, Haus’ komme) als Grund für das weite Bedeutungsspektrum im Mittelhochdeutschen können für unseren Zusammenhang außer Betracht bleiben.
Wortbedeutung, Gebrauchstyp und Textverständnis
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in den drei großen Epochenwörterbüchern zum Althochdeutschen (AWB), Mittelhochdeutschen (MWB; im Druck in der dritten Doppellieferung) und Frühneuhochdeutschen (FWB).7 Sie werden für das Althochdeutsche ergänzt durch zusammenfassende Bemerkungen von Elisabeth Karg-Gasterstädt8 und für das vorklassische Mittelhochdeutsch durch Ausführungen von Gabriele Schieb in einer Untersuchung zu Veldeke.9 Die Grundlinien seien hier kurz festgehalten. Im A l t h o c h d e u t s c h e n wird buˆ(uu)an/buˆ(uu)en beinahe ausschließlich im Sinne von ‘wohnen, eine Wohnstatt haben, sich aufhalten’ gebraucht, eine Bedeutung, die im Mittelhochdeutschen ebenfalls gut vertreten ist, sich im älteren Frühneuhochdeutschen aber nur noch vereinzelt findet (vgl. jeweils den Gliederungspunkt 1 der Artikel im MWB und FWB). Eine sehr starke Ausweitung des Gebrauchs von buˆwen (biuwen, bouwen) zeigt das M i t t e l h o c h d e u t s c h e . Zum intransitiven ‘wohnen’ (MWB 1) tritt jetzt voll entfaltetes transitives ‘bewohnen’ (MWB 2), das im Althochdeutschen nur durch einige wenige Otfrid-Belege und eine Notker-Stelle vertreten ist (vgl. den AWBArtikel unter II,1 und 2). Der Gebrauch dieses transitiven buˆwen im Mhd. zeigt bereits eine Reihe von Untergruppen und Ansätze zu bestimmten Spezialisierungen (auf die unten genauer einzugehen ist). Zu ihnen ist wohl auch MWB 3 zu rechnen, der Gebrauch als Bewegungsverb (eine straˆze buˆwen ‘ziehen, befahren’ u. ä.), der im Althochdeutschen nicht bezeugt ist; auch er weist wieder Untergruppen auf, darunter eine interessante weitere Spezialisierung, die im Frühneuhochdeutschen stark ausgebaut wird (FWB 2, dazu unten genauer). Ein anderer Befund deutet jedoch darauf hin, dass die ‘wohnen/bewohnen’-Lesart selbst, transitiv wie intransitiv, bereits im Mittelhochdeutschen auf dem Rückzug ist: In den 470 buˆwen-Belegen des ›Corpus der altdeutschen Originalurkunden‹, die das ›Wörterbuch der Mittelhochdeutschen Urkundensprache‹ kennt, erscheint sie nicht ein einziges Mal.10 – Die folgenden Gliederungspunkte 4 bis 6 des MWB-Artikels gelten der Landbau-Lesart (4: ‘Feldbau betreiben’, 5: ‘das Feld bestellen’, 6: ‘etw. anbauen’), die man für sehr alt zu halten 7
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Althochdeutsches Wörterbuch. Auf Grund der von Elias von Steinmeyer hinterlassenen Sammlungen im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig bearb. und hg. von Elisabeth Karg-Gasterstädt und Theodor Frings, Bd. 1, Berlin 1968, Sp. 1573– 1577; Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Im Auftrag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen hg. von Kurt Gärtner, Klaus Grubmüller und Karl Stackmann, Bd. 1, Doppellieferung 5/6, Stuttgart 2009 (im Druck); Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, hg. von Ulrich Goebel und Oskar Reichmann, begründet von Robert R. Anderson, Ulrich Goebel und Oskar Reichmann, Bd. 3, Berlin/New York 2002, Sp. 177–192. Elisabeth Karg-Gasterstädt, Aus den Ergebnissen unserer Arbeit am Althochdeutschen Wörterbuch. Ein Bericht über das Jahr 1940, in: PBB 65 (1942), S. 196–213, hier S. 202–207. Gabriele Schieb, Rechtswörter und Rechtsvorstellungen bei Veldeke, in: PBB 77 (1955), S. 159–196, hier S. 184 f. Wörterbuch der mittelhochdeutschen Urkundensprache auf der Grundlage des Corpus der altdeutschen Originalurkunden bis zum Jahr 1300. Unter Leitung von Bettina Kirschstein und Ursula Schulze erarbeitet von Sybille Ohly und Peter Schmitt, Bd. 1, Berlin 1994, S. 330 f.
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geneigt wäre, die aber in den rund 100 Belegen des AWB für das Althochdeutsche nicht vertreten ist.11 Noch schwach bezeugt ist mittelhochdeutsch die Bergbau-Lesart (MWB 7), entfaltet dagegen, wenngleich erst seit Veldeke (vgl. Schieb), die Gebäudebau-Lesart (MWB 8), aus der abgeleitet gegen Ende des Zeitraums ‘vertrauen auf’ (MWB 9) erscheint, außerdem nur einmal belegt ‘etw. mit Gebäuden bebauen’ (MWB 10). Das F r ü h n e u h o c h d e u t s c h e zeigt einen starken Rückgang und allmähliches Absterben der ‘wohnen/bewohnen’-Lesart und eine deutliche Spezialisierung des Gebrauchs als Bewegungsverb, während die anderen Gebrauchsweisen erheblich ausgebaut werden und neue hinzukommen. – Das FWB unterscheidet bei der ‘wohnen/ bewohnen’-Lesart (FWB 1) nicht wie AWB und MWB zwischen transitivem und intransitivem Gebrauch, sondern vereinigt beide Gebrauchsweisen in der Bedeutungsangabe, in den Syntagmenangaben und in den Belegzitaten. Von den verhältnismäßig wenigen Belegen dieser Position (15 auszitierte Stellen) stammt nur ein einziger aus der Zeit nach 1500 (Thüringische Chronik, 1599), sechs sind eigentlich noch mittelhochdeutsch im engeren Sinne (Heinrich von Hesler [2x], Baldemann, Väterbuch, Buch Daniel, Frauenlob). Dies zeigt deutlich, dass die ‘wohnen/bewohnen’Lesart im älteren Frühneuhochdeutschen außer Gebrauch kommt und im 16. Jahrhundert bereits obsolet ist. Der daraus abgeleitete Gebrauch als Bewegungsverb (FWB 2) ist dagegen im Frühneuhochdeutschen gut bezeugt und im Artikel mit 15 auszitierten Belegen ebenso häufig vertreten wie die ‘wohnen/bewohnen’-Lesart. Gegenüber dem Mittelhochdeutschen wird für das Frühneuhochdeutsche in den Belegzitaten des FWB unter 2 eine Gebrauchsbeschränkung erkennbar, die sogar in eine neue Lesart von bauen mündet: In den Belegen für den eigentlichen Gebrauch ist überwiegend von reisenden Kaufleuten die Rede, und dabei erscheint nun mehrfach als Akkusativobjekt nicht mehr der bereiste Weg oder das Land usw., sondern das Ziel der Reise, nämlich Messe, Markt usw., die besucht werden (vgl. die meß bawen und wandern; wagenlute, die unser merkte buwent und win herfurent u. ä.). Die Gliederungspunkte 3 bis 5 gelten der Landbau-Lesart und unterscheiden wie das MWB (dort 4 bis 6, s. oben) ‘Landbau betreiben’, ‘ein Stück Land bebauen’, ‘etw. anbauen’, die Punkte 6–12 beschreiben die Hausbau-Lesart und ähnliche Gebrauchsweisen, die Punkte 13–16 verschiedene Übertragungen, die an die Hausbau- und die Landbau-Lesart angeschlossen werden können – darunter voll entwickelt ‘vertrauen auf’ (13) und, weniger häufig, die Erbauungs-Lesart ‘erbauen, aufbauen, stärken’ (14); mit der zahlreich belegten Bergbau-Lesart (17) schließt der Artikel.
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Denn von den beiden Belegen unter I,7 ist der Williram-Beleg falsch interpretiert und bezeugt die ‘wohnen’-Lesart (vgl. den Beleg im MWB-Artikel unter 1 mit dem erläuternden Quellenzitat, das die Bedeutung ‘habitare’ sichert), und der andere Beleg stammt vom Notker-Glossator (Ende des 11. Jh.s).
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3 Wenn in dem vorstehenden kursorischen Überblick über Bedeutung und Gebrauch von bauen im Alt-, Mittel- und Frühneuhochdeutschen von der ‘wohnen/bewohnen’-, der Landbau-, der Hausbau-Lesart usw. gesprochen wurde, so handelt es sich dabei um eine stark abkürzende und verallgemeinernde Redeweise, die nur einem ersten Überblick über die Hauptgruppen des buˆwen-Gebrauchs und ihre Vertretung in der jeweiligen Epoche dienen sollte. Hinter ihnen können sich jeweils eine Vielzahl von im einzelnen ganz unterschiedlichen Verwendungsweisen/Gebrauchstypen/sprachlichen Mustern verbergen. Dies sei an der ‘bewohnen’-Lesart und ihrer Darstellung im MWB (Gliederungspunkt 2) exemplarisch vorgeführt. Die Vielfalt der Gebrauchsweisen von mhd. buˆwen, die in den erläuterungssprachlichen Äquivalenten ‘etw. bewohnen, dort leben’ nur eine ungefähre Entsprechung findet, ist angedeutet in der allgemeineren Angabe, die diesen Äquivalenten vorangestellt ist. Sie lautet ‘etw. (Ort, Gebäude, Innenraum, Land, Herrschaftsbereich, Wasser, Luft usw.) als Aufenthalt, zu seinem Sitz, als seinen Lebensbereich haben’. Diese Angabe ist nicht als Definition misszuverstehen, sondern als Hinweis auf das Spektrum der unter 2. zusammengefassten Gebrauchsweisen und auf die Kontexttypen, die für die Bedeutungsnuancierung zu beachten sind und nach denen der Belegteil gegliedert ist, hier also die Bezugsgrößen, die als Akkusativobjekte erscheinen, und die Art und Weise, wie das ‘sich aufhalten’ gedacht ist (z. B. als Leben in seinem natürlichen Bereich, ständiges Siedeln, vorübergehender oder wiederholter Aufenthalt, Ausharren usw.). Diese Angabe hätte mühelos um weitere bedeutungsrelevante Kontextmerkmale ergänzt werden können, die die Belege dann zeigen (z. B. um Typen von adverbialen Bestimmungen oder Typen von Bezugsgrößen, die in der Subjektstelle erscheinen), und auch die Äquivalente hätten vermehrt werden können vor allem um die Spezialisierungen, die in Unterpunkten behandelt werden. Dies hätte aber wohl eine Überbelastung der Funktionsstelle ›Gliederungskommentar/ Bedeutungsangabe‹ zur Folge gehabt, die ja keine semantische Untersuchung bieten kann, sondern nur einen interpretationsleitenden Hinweis geben soll für den Belegteil, der die Hauptsache ist. Was wird dort im einzelnen vorgeführt? Zunächst (als 2.1. ›eigentl.‹ abgesetzt gegen 2.2 ›übertr.‹ und wiederum als 2.1.1 ›allgem.‹ gegen zwei stärkere Spezialisierungen, die unter 2.1.2 und 2.1.3 besonders behandelt werden) in einer ersten längeren Abteilung der Gebrauch, der im engeren Sinne mit den Äquivalenten ‘etw. bewohnen, dort leben, sich dort aufhalten’ bezeichnet werden kann. ›Gebaut‹ wird in diesem Sinne: das Paradies von Adam; der Wald als ständiger Lebensmittelpunkt von einem armman, von Räubern usw.; ein hac von einem Hirten, und zwar ofte, denn er bewohnt ihn natürlich nicht, sondern macht dort immer wieder Station; vremder kreiz von einem Flüchtling; Städte, Länder, Erdteile usw. von ihren Bewohnern (mit sprachlichen Besonderheiten, die hier nicht im einzelnen kommentiert werden können). Anschließend sind in lockerer Folge verschiedene sich stärker aus dem allgemeinen Gebrauch heraushebende Verwendungsweisen mit Spiegelstrichen abgesetzt: der
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Ausdruck daz ellende buˆwen, sowohl eigentlich, ‘in der Fremde leben’ – wobei die Fremde aber verschieden akzentuiert sein kann (z. B. als Ferne von der Geliebten) –, wie auch geistlich im Sinne der Gottferne; das buˆwen des Diesseits (mit sorgen, ungerne) und des Himmelreichs; buˆwen des Meers von Fischen; verharrendes/geduldiges buˆwen der Wirtshausbank von einem Zecher (die wıˆle in dem vazze iht ist), des Misthaufens von Hiob, eines Astes von der trauernden Taube; buˆwen von Räumen, die als ver- oder abgeschlossen gegen ein Äußeres gedacht sind (die enge krippe des Mutterleibs, Bett als Versteck des Liebhabers, Saal als Ort des Wartens); vorübergehendes oder dauerndes buˆwen unangenehmer/unfreiwilliger Aufenthaltsorte (Krankenhaus, Kerker, Hölle usw.). – Die beiden schon erwähnten Spezialisierungen betreffen zum einen (2.1.2) das mit dem Ausüben von Herrschaft verbundene buˆwen von (künic-)rıˆche/lant durch König, Königin usw., das geradezu mit ‘regieren’ wiedergegeben werden kann, zum andern (2.1.3) das militärische buˆwen ‘behaupten’ eines Kampfplatzes/umkämpften Geländes von Kombattanten. – In einem eigenen Punkt (2.2.) ist schließlich übertragener Gebrauch zusammengestellt. Die Belege zeigen verschiedene Übertragungsweisen, vor allem solche mit abstrakten Bezugsgrößen wie Liebe, Hass, Freude, Tod, Sünde, die sowohl an der Subjektstelle wie an der Objektstelle vorkommen können oder sogar an beiden (diu fröude buˆwet mıˆnen muot). An welche der unter 2.1. aufgeführten »eigentlichen« Gebrauchsweisen genau die als »übertragen« klassifizierten Belege jeweils anzuschließen sind, ist im Artikel offengelassen. Die mit dem Versuch einer näheren Bestimmung solcher Bezüge verbundene Problematik wird unten in der Besprechung der ‘Tristan’-Stellen deutlich werden. Der vorstehende Durchgang durch buˆwen 2 zeigt die innere Ordnung des Belegteils dieses Gliederungspunkts, insbesondere auch im Hinblick auf die im Artikel selbst ohne expliziten Gliederungskommentar bleibenden Beleggruppen, deren jeweiliges typenkonstitutives gemeinsames Merkmal aber aus den Belegzitaten und dem Gliederungszusammenhang zu erschließen ist. Nicht problematisiert wurde dabei die Gruppierung selbst und die Gewichtung der in den Beleggruppen vertretenen Gebrauchstypen als schwächere oder stärkere Nuancierungen des Kerngebrauchs, wie sie in der Absetzung mit Spiegelstrich oder als eigener Unterpunkt zum Ausdruck kommt. Dies wäre aber ohne weiteres möglich, denn neben harten ausdrucksseitigen Kriterien wie dem Vorkommen in einer bestimmten Verbindung (daz ellende buˆwen) werden auch weichere Typisierungsmerkmale benutzt, Wittgensteinsche Familienähnlichkeiten wie ‘verschlossener Raum’ oder ‘unfreiwilliger Aufenthaltsort’ als Bezugsgrößen in der Objektstelle von buˆwen. Dabei kann natürlich z. B. gefragt werden, ob das Leben im Diesseits (das zusammen mit dem Leben im Himmelreich an das Ende der nach Lebensräumen gegliederten Reihe gestellt ist) nicht größere Ähnlichkeit mit dem Verbüßen einer Kerkerstrafe als dieses mit einem Krankenhausaufenthalt hat (oder ob alle drei enger zusammengehören). Die Abgrenzung von Gebrauchstypen und Bedeutungen ist prinzipiell immer problematisch in dem Sinne, dass notwendigerweise bestimmte Aspekte und Gliederungskriterien anderen, die ebenfalls in Frage kommen, vorgezogen werden müssen.12 12
Grundlegend dazu in erfreulicher Deutlichkeit: Gerd Fritz, Metonymische Muster und Me-
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Dies betrifft auch die geringere oder stärkere Herausstellung von Gebrauchsweisen als Spiegelstrichgruppe, Unterpunkt oder eigener Hauptpunkt der Artikelgliederung. In einem Artikel, der den erläuterungssprachlichen Äquivalenzmöglichkeiten mehr vertraut als der vorliegende, könnte z. B. herrschaftliches buˆwen mit einem eigenen Hauptgliederungspunkt ‘etw. (ein Land, Königreich) regieren, Herrschaft als König, Königin usw. darüber ausüben’ vertreten sein. Umgekehrt würde ein entschieden auf Bedeutungsminimalismus angelegter Artikel den in der vorliegenden Fassung in einem eigenen Hauptgliederungspunkt herausgestellten Gebrauch als Bewegungsverb (eine Straße ziehen, ein Land bereisen, das Meer befahren) vermutlich als aus 2 konversationell ableitbare Spezialisierung auffassen (im Sinne von ‘sich als Reisender auf einer Straße usw. aufhalten’) und dort in einem weiteren Unterpunkt buchen. Im MWB-Artikel wird jedoch das folgende Kriterienbündel als hinreichend für die Absetzung in einem eigenen Hauptgliederungspunkt gewertet: Die Beschränkung der in der Objektstelle erscheinenden Bezugsgrößen auf straˆze, wec, phat usw., allgemeiner Bereisbares (also auch lant, ünde usw.), die Valenzerhöhung um eine (fakultative) Richtungsergänzung (z. B. in diu rıˆche, gegen Prachadıˆtz), das Vorkommen eines Phraseologismus auf der Grundlage dieser Bedeutung (die straˆze als Artusritter buˆwen ‘auf Aventiurefahrt sein, ausziehen’) und die bereits erwähnte, frühneuhochdeutsch belegte weitere Spezialisierung dieses Gebrauchs mit Valenzänderung (‘eine Messe usw. besuchen’). Die philologischen Wörterbuchbenutzer, für die der Abgleich einer zu interpretierenden Textstelle mit dem Gebrauchstypenangebot eines Belegwörterbuchs zu den hermeneutischen Basisoperationen gehört, sind durch den immer vorhandenen Spielraum abweichender Verständnis- und Gewichtungsmöglichkeiten nicht verunsichert, sondern im Gegenteil aktiv darauf eingerichtet und verlangen vor allem eine genügende Belegdokumentation, um sie realisieren zu können. Wie ein solcher Abgleich im einzelnen aussehen kann, soll im folgenden an den ‘Tristan’-Belegen gezeigt werden.
4 In Gottfrieds ‘Tristan’ wird buˆwen an fünf Stellen gebraucht, einmal eigentlich in v. 9529 (in gleich näher zu diskutierender Bedeutung), viermal übertragen im Zusammenhang von Erzählerkommentaren und -exkursen (in v. 12237.44, 16486 und 17951), die sich z. T. einer detaillierten Vegetationsmetaphorik und -bildlichkeit bedienen, in der die Landbau-Lesart von buˆwen in verschiedenen Ausprägungen zum taphernfamilien. Bemerkungen zur Struktur und Geschichte der Verwendungsweisen von scharf, in: Der Gebrauch der Sprache. FS Franz Hundsnurscher, hg. von Götz Hindelang, Eckard Rolf und Werner Zillig, Münster 1995, S. 77–107, hier S. 80–83. Vgl. auch Oskar Reichmanns Kritik speziell an der »generisch ausgliedernden« Bedeutungsbeschreibung, in: FWB 1, S. 102–106; sie zwinge den Lexikographen »zum Reduktionismus, das heißt hier: zur Beschränkung auf eine pro Endposition einzige Reihe von inhaltlichen Differenzierungen« (S. 105).
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Zuge kommt. Die Exkurse sind Gegenstand einer Reihe von kontrovers diskutierten Interpretationsansätzen, wobei in einem Fall (v. 17951) der Sinn von buˆwen im Zentrum der Kontroverse steht, ohne dass die Interpreten sich dies recht bewusst machen und Fragen der elementaren, nämlich auf den Wortlaut bezogenen Verständnissicherung thematisieren. Im folgenden seien alle fünf Stellen einzeln besprochen, zunächst der eigentliche Gebrauch, dann die Übertragungen in der Reihenfolge zunehmender Schwierigkeit.
5 Die erste Stelle betrifft das Inkognito Tristans auf seiner zweiten Irland-Fahrt: Um ungefährdet ins Land zu gelangen, hat er sich als Kaufmann ausgegeben. Nach bestandenem Drachenkampf finden die beiden Isolden den aus seiner Ohnmacht Erwachenden; die Tochter erkennt ihn als den früheren Spielmann Tantris wieder. Die Mutter fragt Tantris, wann er nach Irland zurückgekehrt ist und wie es dazu kam, dass er den Drachen im Kampf bestanden und getötet hat. Tantris/Tristan gibt zur Antwort:13
9520
9525
9530
9535
13
vrouwe, daz wil ich iu sagen: ich kam in disen kurzlıˆchen tagen, es sint drıˆ tage von hiute, ich und ander koufliute mit eime kiele in dise habe; doˆ kam ein roupher hinnen abe, ine weiz durch welhe geschiht, die wolten uns, hæt ich ez niht mit mıˆnem guote underkomen, den lıˆp zem guote haˆn genomen. nu ist ez uns alsoˆ gewant: wir müezen dicke vremediu lant heinlıˆchen unde buˆwen und enwizzen wem getruˆwen, wan man uns vil gewaltes tuot; soˆ weiz ich wol, mir wære guot, mit swelher slahte dingen ichz daˆ zuo möhte bringen, daz mich diu lant erkanden. künde in vremeden landen diu rıˆchet den koufman. seht, vrouwe, daˆ gedaˆhtich an,
Der ‘Tristan’-Text wird hier und im Folgenden nach dem elektronischen Text der Ausgabe Rankes (Gottfried von Straßburg, Tristan und Isold, hg. von Friedrich Ranke. Text, Berlin 1930 [15. unveränd. Aufl. Dublin/Zürich 1978]) zitiert, der von Paul Sappler hergestellt und eingerichtet, d. h. vor allem mit Längenzeichen (außerdem Hinweisen auf lexikographisch relevante Lesarten) versehen worden ist und in dieser Gestalt auch den mit der Sigle Tr angeführten Belegzitaten im MWB zugrundeliegt.
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9540
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wan mir ist umbe den serpant daz lantmære lange erkant und sluog in niuwan umbe daz: ich wæne, daz ich deste baz vride unde genaˆde vinde bıˆ disem lantgesinde.
Tristan motiviert also seinen Drachenkampf damit, dass er und die mitreisenden Kaufleute als Fremde im Land besonders gefährdet seien. Um sich bekannt und beliebt zu machen und fortan vor Übergriffen geschützt zu sein, fasste er den Plan, das Land von der Plage zu befreien. Die hier interessierenden Verse 9528 f. scheinen zunächst kein Problem zu bieten. Krohn14 übersetzt: »Wir müssen sehr oft fremde Länder zu unserer Heimat machen und dort wohnen«, und befindet sich damit in Übereinstimmung mit dem Stellenkommentar in der Ausgabe von Bechstein/Ganz (hier 9533): »heinlıˆchen swv. zur Heimat machen; vgl. zu 15075. – buˆwen swv., bewohnen.«15 Indessen: Will der sich als Kaufmann ausgebende Tantris wirklich sagen, dass er und die Mitreisenden sich in Irland niederlassen wollen? Das scheint doch nicht zur angenommenen Rolle der Handelsreisenden zu passen, die Tristan selbst an früherer Stelle, bei der Ankunft in Irland, ausdrücklich so beschreibt: 8800
8805
wir sıˆn werbende liute und mugen uns des niht geschamen. koufliute heizen wir binamen, ich und mıˆn cumpanıˆe, und sıˆn von Normandıˆe. unser wıˆp und unser kint sint daˆ. wir selbe sıˆn waˆ unde waˆ von lande ze lande koufende aller hande [. . .].
Die Familien der Kaufleute leben also in Normandıˆe, während diese selbst von einem Land zum anderen ziehen und unterwegs, waˆ unde waˆ, Handel treiben. Nur dazu 14
15
Gottfried von Straßburg, Tristan. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu hg., ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn, 3 Bde. (RUB 4471,1–3), Stuttgart 1980 u. ö. Krohns Übersetzung, die zur Zeit wohl am weitesten verbreitet ist, wird hier und im folgenden, wenn nichts anderes angegeben ist, stellvertretend für das gängige Verständnis einer Stelle zitiert. – Bibliographische Angaben zu den weiteren für diesen Beitrag herangezogenen älteren Übersetzungen finden sich in den Zusammenstellungen von Hans-Hugo Steinhoff: Bibliographie zu Gottfried von Straßburg (Bibliographien zur deutschen Literatur des Mittelalters 5), Berlin 1971, und: Bibliographie zu Gottfried von Straßburg. II. Berichtszeitraum 1970–1983 (Bibliographien zur deutschen Literatur des Mittelalters 9), Berlin 1986; dort 1971, S. 26, Nr. 53 (Kurtz 1847), 55 (Hertz 1907), 57 (Pannier 1901); 1983, S. 24 f., Nr. 60 (Hatto 1967 u. ö.), 1040 (Ertzdorff u. a. 1979), 1041 (Mohr nach Kurtz). Ferner werden zwei Übersetzungen aus jüngerer Zeit herangezogen: Dieter Kühn, Tristan und Isolde des Gottfried von Straßburg, Frankfurt a. M. 1991 u. ö.; Gottfried von Straßburg, Tristan, Band 2: Übersetzung. Von Peter Knecht, mit einer Einführung in das Werk von Tomas Tomasek, Berlin/New York 2004. Gottfried von Straßburg, Tristan. Nach der Ausgabe von Reinhold Bechstein hg. von Peter Ganz, 2 Bde. (Deutsche Klassiker des Mittelalters N. F. 4), Wiesbaden 1978.
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stimmt auch die besondere Gefährdung, denn sie beträfe nicht die im Lande Sesshaften, sondern eben gerade die mit ihrem Handelsgut umherziehenden Fremden. Fremde Länder buˆwen dürfte hier also ‘sie bereisen’ heißen. Der MWB-Artikel bringt unter 3 nicht nur zahlreiche Belege (seit Hartmanns ‘Erec’ und Herbort) für den Gebrauch als Bewegungsverb, sondern weist auch bereits einen Beleg für die sich abzeichnende Spezialisierung auf handeltreibendes buˆwen aus dem ›Corpus der altdeutschen Originalurkunden‹ nach: daz die burgær die vf der strazze vnd vf dem e lande vnd vf dem wazzer varent, einen Hansgrafen [Handelsrichter] svln haben [. . .] die burgær die daz land bowent vnd die strazze vnd daz wazzer. Im MWB ist der ‘Tristan’-Beleg dem Urkundenbeleg als ältester für diese Gebrauchsweise zur Seite gestellt (nebenbei ein schönes Beispiel für die Ergiebigkeit von Hochliteratur für Alltagssprachliches). Nur scheinbar dagegen spricht das im Satzzusammenhang koordinierte heinlıˆchen, das nicht nur Krohn und Bechstein/Ganz mit ‘zur Heimat machen’ wiedergeben, sondern bereits Müller im BMZ (1,655a s. v. ‘heimlıˆche swv.’).16 Diese Auffassung von heinlıˆchen stützt sich allerdings, wie im BMZ-Artikel deutlich wird, allein auf die vorliegende ‘Tristan’-Stelle, für die keine Parallelen nachgewiesen sind; mit anderen Worten: Sie beruht auf dem Verständnis von buˆwen im Sinne von ‘etw. bewohnen, dort seinen Wohnsitz haben’, denn der Gebrauch als Bewegungsverb ist im BMZArikel nicht erkannt. Als durchsichtige faktitive Bildung zum Adj. heimelich, heimlich, heinlich ‘zum Hause gehörend, nicht fremd, vertraut, familiaris’ (BMZ 1,653b f.) kann das transitive heinlıˆchen durchaus passend zur vorliegenden Stelle ‘etwas mit sich bekannt, vertraut (und deswegen: freundlich gesinnt) machen’ bedeuten, so wie der reflexive Gebrauch an der bei Bechstein/Ganz angegebenen Parallelstelle v. 15071 (Ranke) ‘sich (jmdm.) vertraut machen, als freundlich gesinnt ausgeben’ heißt (vgl. die weiteren Belege im BMZ, u. a. vom Einschmeicheln der Katze), im Gegensatz zur offen deklarierten Feindschaft: 15065
15070
16
swer aber offenbaˆre dem vıˆnde sıˆne vaˆre ze schaden breitet unde leit, dazn zel ich niht ze valscheit; die wıˆle er vıˆnt wesen wil, die wıˆle enschadet er niht ze vil. swenner sich heinlıˆche dar, soˆ neme der man sıˆn selbes war.
Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke ausgearbeitet von Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1854–1866 mit einem Vorwort und einem zusammengefassten Quellenverzeichnis von Eberhard Nellmann sowie einem alphabetischen Index von Erwin Koller, Werner Wegstein und Norbert Richard Wolf, 4 Bde. und Indexband, Stuttgart 1990.
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6 Von den vier Belegen mit übertragenem Gebrauch im Sinne der Landbau-Lesart ist v. 16486 der einfachste, weil er durch ein detailliert ausgeführtes Bild motiviert ist, das über den Bezug der beteiligten Größen in den Valenzstellen des Verbs auf jene des eigentlichen Gebrauchs keinen Zweifel lässt: 16455
16460
16465
16470
16483
16485
nust aber der minnen arcwaˆn und sıˆn saˆme alsoˆ vertaˆn: swaˆ soˆ er hin geworfen wirt, daz er diu wurzelıˆn gebirt, daˆ ist er alsoˆ vrühtic, soˆ biric und soˆ zühtic, die wıˆle er keine viuhte haˆt, daz er daˆ kuˆme zegaˆt und joch niemer mac zegaˆn: Der unmüezege arcwaˆn der begunde aber genoˆte an Tristande unde Iˆsoˆte sıˆnen wuocher bern unde spil. daˆ was der viuhte gar ze vil der süezen gebærde, an der man die bewærde der minne zallen zıˆten sach. [. . .] als taˆten die gelieben ie: sin mohten noch enkunden nie durch keine ir angest verlaˆn, sin buˆweten den arcwaˆn mit manegem süezem blicke vil ofte und alze dicke [. . .].17
An sich kommen bei der Landbau-Lesart von buˆwen mindestens drei Hauptgebrauchstypen in Frage, nämlich intransitives ‘Landbau betreiben usw.’, transitives ‘das Feld bestellen usw.’ und transitives ‘etw. anbauen, pflanzen, ziehen usw.’ (so MWB 4–6, FWB 3–5). Im vorliegenden Fall von v. 16486 ist es klar, dass der dritte Typ vorliegt, denn der minnen arcwaˆn, Markes Misstrauen, wird in den vv. 16455 ff. mit einer Pflanze gleichgesetzt, deren Same, wenn er einmal Wurzeln gebildet hat, niemals mehr absterben kann, solange er nur irgendwie etwas Feuchtigkeit bekommt; und die verliebten Blicke (v. 16487), mit denen dieses Misstrauen ›gebaut‹, also ge17
Die alte und neben M wichtigste Handschrift H hat statt buˆweten die Lesart brueten ‘brüteten’, wohl ein Hinweis darauf, dass der vorliegende übertragene Gebrauch von buˆwen als ungewöhnlich empfunden wurde; vgl. den Lesartenapparat der Ausgabe: Gottfried von Straßburg, Tristan. Bd. 1: Text, hg. von Karl Marold, unveränderter fünfter Abdruck nach dem dritten mit einem auf Grund von Friedrich Rankes Kollationen verbesserten kritischen Apparat besorgt und mit einem erweiterten Nachwort versehen von Werner Schröder, Berlin/New York 2004 (hier v. 16490). Zu brüeten ‘hervorbringen’ vgl. den Artikel im MWB (in der dritten Doppellieferung, im Druck).
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zogen, genährt wird, sind Teil des verliebten Verhaltens (v. 16469), das der viuhte entspricht, die die Pflanze wachsen und Frucht tragen lässt (v. 16467). – Nebenbei sei bemerkt, dass übertragener Gebrauch oftmals Schlüsse auf den eigentlichen Gebrauch erlaubt, die aus den für den eigentlichen Gebrauch selbst zur Verfügung stehenden Belegen nicht gezogen werden können, in diesem Fall das Vorhandensein einer fakultativen Valenzstelle für das Mittel der Pflanzenaufzucht, realisiert als Präpositional-Objekt mit mit (mit manegem süezen blicke = mit viuhte); ein entsprechender Beleg fehlt für den eigentlichen Gebrauch.
7 Die beiden folgenden zu besprechenden buˆwen-Belege (v. 12237 und 12244) finden sich in ein und demselben Satzgefüge im Zusammenhang eines der längeren Exkurse, der sogenannten Minnebußpredigt: 12225
12230
12235
12240
nein, minne ist niht alsoˆ getaˆn, als wirs ein ander machen mit velschlıˆchen sachen: wir nemen der dinge unrehte war; wir sæjen bilsensaˆmen dar und wellen danne, daz uns der liljen unde roˆsen ber. entriuwen des mac niht gewesen; wir müezen daz her wider lesen, daz daˆ vor gewerket wirt, und nemen, daz uns der saˆme birt. wir müezen snıˆden unde mæn daz selbe, daz wir dar gesæn. wir buˆwen die minne mit gegelletem sinne, mit valsche und mit aˆkust und suochen danne an ir die lust des lıˆbes unde des herzen: soˆn birt si niuwan smerzen, unguot und unvruht unde unart, als ez an ir gebuˆwen wart.
Hier könnte man zunächst meinen, dass wie in der zuvor besprochenen Stelle in beiden Versen (12237 und 44) der Gebrauchstyp ‘etw. anpflanzen usw.’ der transitiven Landbau-Lesart vorliegt. Tatsächlich übersetzt z. B. Krohn in diesem Sinne: »Wir bauen die Liebe an / mit gallebitterem Gemüt, / mit Betrug und Falschheit, / und dann erhoffen wir uns von ihr das Glück / des Leibes und des Herzens. / Sie trägt aber nichts als Schmerzen, / Böses, faule Früchte und Schlechtigkeit, / so wie sie angebaut wurde.« Näheres Hinsehen zeigt aber, dass diese Übersetzung im fraglichen Punkt falsch ist und beide transitiven Landbau-Lesarten vorkommen. Denn in als ez an ir gebuwen wart kann sich ir nur auf die Minne beziehen, und ez, das Subjekt des Passivsatzes, im Aktivsatz das Akkusativobjekt, bezieht sich auf die Ausdrücke des vorangehenden Verses: Es wird also nicht die Minne angebaut, wie Krohn übersetzt,
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sondern unguot und unvruht unde unart werden angebaut, und zwar an der Minne, auf dem Feld der Liebe. Dagegen ist in v. 12237 tatsächlich minne das Akkusativobjekt zu buˆwen, und es kann dann im Lichte von v. 12244 hier nur der andere transitive Gebrauchstyp ‘ein Feld usw. bestellen’ vorliegen. Der Sinn der Stelle ist also: Wir bestellen das Feld der Liebe mit üblen Sachen, und genau das trägt sie dann auch, ganz so, wie es auf ihr angebaut wurde.18 – Wie in der vorigen Stelle zeigt hier der übertragene Gebrauch in beiden Belegen jeweils eine Valenzeigenschaft, die in den Beispielen für den eigentlichen Gebrauch im MWB-Artikel nicht erscheint, nämlich die Präpositionalergänzungen mit mit (v. 12238/39) für das, was auf dem Feld angebaut wird, und mit an (v. 12244) für das, worauf etwas angebaut wird. Die an-Ergänzung lässt sich für den eigentlichen Gebrauch von buˆwen auch durch das Partikelverb anbauen erschließen, das auf buˆwen mit Präpositionalergänzung mit an beruhen dürfte, wie die ‘Tristan’-Stelle zeigt;19 das Partikelverb ist anscheinend erst frühneuhochdeutsch bezeugt,20 im MWB ist es nicht mit einem Artikel vertreten. Die besprochene Stelle zeigt besonders deutlich, dass das Verhältnis zwischen den beiden transitiven Gebrauchstypen der Landbau-Lesart das einer syntaktischen Verschiebung der beteiligten Bezugsgrößen des Verbs ist, hier einer sogenannten Objektverschiebung:21 Im einen Fall erscheint als Bezugsgröße in der Stelle des Akkusativobjekts das Feld, auf dem etwas angebaut wird, und das, was auf dem Feld angebaut wird, als Präpositionalergänzung mit mit; im anderen Falle erscheint das, was angebaut wird, als Akkusativobjekt, und das, worauf es angebaut wird, als Präpositionalobjekt mit an. Solche syntaktischen Bezugsgrößenverschiebungen können beinahe unmerklich sein und den Sprechern u. U. kaum bewusst werden. Dafür spricht das Vorkommen von Konstruktionen, in denen beide Arten von Bezugsgrößen als Akkusativobjekt syntaktisch koordiniert sind, offenbar ohne dass die Verbindung als zeugmatisch empfunden wird, wie in dem folgenden Beleg: [Saturnus] begunde leren / si von de´n weldin keren / uz an du´ ebenu´ velt / und lerte si [. . .] / achir buwin unde chorn (Rudolf von Ems, ‘Weltchronik’, v. 20038).22 Bei entsprechender Akzentuie18
19
20
21
22
So werden die beiden Belege dieser Stelle auch bereits richtig von Müller im BMZ zugeordnet (1,288b Z. 37 und Z. 49): 12237 unter II.2. »bestelle ein feld, mache es tragbar«, 12244 unter II.3. »ich pflanze, säe«. Zum Verhältnis von freiem Gebrauch als Präposition und gebundenem Gebrauch als Verbpartikel am Beispiel von ane vgl. Ralf Plate, Zum Lemmastatus und Buchungsort der trennbaren Partikelverben im neuen Mittelhochdeutschen Wörterbuch, in: Ein neues Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Prinzipien, Probeartikel, Diskussion, hg. von Kurt Gärtner und Klaus Grubmüller (Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. I. Phil.hist. Klasse. Jg. 2000, Nr. 8), Göttingen 2000, S. 113–139 [457–483], hier S. 126–129 [470– 473]. Vgl. Deutsches Wörterbuch der Brüder Grimm. Neubearbeitung, hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Bd. 1 ff., Leipzig 1983 ff. (= 2DWb), hier Bd. 2, Sp. 755 f.; FWB 1,985. Zur Sache und Terminologie vgl. Ulrich Goebel, Oskar Reichmann und Ingrid Lemberg, Versteckte lexikographische Information. Möglichkeiten ihrer Erschließung dargestellt am Beispiel des Frühneuhochdeutschen Wörterbuchs (Lexicographica 65), Tübingen 1995, S. 171–179. Vgl. auch, nicht so streng koordiniert, aber immer noch auffällig: alle die daz ertrıˆche buˆ-
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rung kann eine solche scheinbar geringfügige Bezugsgrößenverschiebung jedoch beträchtliches Gewicht bekommen, wie die letzte hier zu besprechende Stelle zeigt.
8 Bei dem letzten buˆwen-Beleg (v. 17951) handelt es sich um eine interpretatorisch stark belastete Stelle. Sie findet sich im sogenannten huote- oder Frauen-Exkurs, in dem (anfangs) die Bewachung der Frauen durch ihre Ehemänner thematisiert wird.23 Dabei wird bereits etliche Verse vor der buˆwen-Stelle die Landbau-Metaphorik eingeführt, indem es heißt: 17860
17865
diu huote vuoret unde birt, daˆ man si vuorende wirt, niwan den hagen unde den dorn; daz ist der angende zorn, der lop und eˆre seˆret und manic wıˆp enteˆret, diu vil gerne eˆre hæte, ob man ir rehte tæte.
Die huote bringt bei den Frauen den hagen unde dorn der Versuchung zur Übertretung hervor und nährt sie. Wenig später wird hagen unde dorn als distel unde dorn (v. 17931) variierend wiederaufgenommen in dem Abschnitt über die »schädlichen Folgen einer Verbotsmoral für Frauen«,24 die bereits das Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen, mit dem anschließenden Sündenfall demonstriert hat: 17925
17930
23
24
Der ouch verbieten möhte laˆn, ich wæne, ez wære wol getaˆn: daz birt an wıˆben manegen spot. man tuot der manegez durch verbot, daz man ez gar verbære, ob ez unverboten wære. der selbe distel unde der dorn weiz got der ist in an geborn:
went, sie buˆwen wıˆn oder korn (Berthold, ed. Pfeiffer 1,151,14). – Zum Zeugma-Test für ´ gel, Valenztheorie, Tübingen 2000, das Vorliegen verschiedener Verb-Lesarten vgl. Vilmos A S. 129 f. Zum huote- bzw. Frauenexkurs vgl. Ingrid Hahn, Daz lebende paradis (Tristan 17858– 18114), in: ZfdA 92 (1963), S. 184–195; Christoph Huber, Gottfried von Straßburg, ‘Tristan und Isolde’, München/Zürich 1986, S. 111–117; ders., Gottfried von Straßburg: Tristan (Klassiker-Lektüren 3), Berlin 2001, S. 112–119; Rüdiger Schnell, Suche nach Wahrheit. Gottfrieds ‘Tristan und Isold’ als erkenntniskritischer Roman (Hermaea N. F. 67), Tübingen 1992, S. 38–48. Es kann hier selbstverständlich nicht darauf ankommen, die Diskussion über den huote-Exkurs insgesamt nachzuzeichnen; die genannten Arbeiten werden nur stellvertretend für die beiden Interpretationsrichtungen zitiert, die sich auf die buˆwen-Stelle beziehen. Schnell [Anm. 23], S. 39.
Wortbedeutung, Gebrauchstyp und Textverständnis
17935
17940
17945
17950
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die vrouwen, die der arte sint, die sint ir muoter Eˆven kint; diu brach daz eˆrste verbot: ir erloubet unser heˆrre got obez, bluomen unde gras, swaz in dem paradıˆse was, daz si daˆ mite tæte, swie soˆ si willen hæte, wan einez daz er ir verboˆt an ir leben und an ir toˆt; die pfaffen sagent uns mære, daz ez diu vıˆge wære: daz brach si und brach gotes gebot und verloˆs sich selben unde got. ez ist ouch noch mıˆn vester waˆn: Eˆve enhætez nie getaˆn und enwære ez ir verboten nie. ir eˆrste werc, dazs ie begie, dar an soˆ buˆwetes ir art und tet, daz ir verboten wart.
Die Schwierigkeit des Gebrauchs von buˆwen in v. 17951 zeigt sich wiederum (vgl. schon oben Anm. 17) bereits in der ältesten Überlieferung, nämlich in der Handschriftengruppe MBE an der Variante biwarte (bewarde, bewertt), einer Lesart, die das offensichtlich unverstandene buˆwete ersetzt.25 Obwohl in keinen Editionstext übernommen, ist diese deutlich trivialisierende lectio facilior Grundlage des Wortlauts fast aller Übersetzungen bis zur jüngsten von Peter Knecht aus dem Jahre 2006. Den Weg bereitet hat ihr anscheinend der Eintrag zu v. 17951 im Stellenkommentar von Bechstein (21873), der behauptet: »buˆwen stV., hier: gründen, begründen, bildl. für: bewähren«. ‘Bewähren’ kann sich aber nur auf die Lesart von MBE beziehen; wie Bechstein für buˆwen zu dem Bedeutungsansatz ‘gründen, begründen’ kommt und noch mehr, wie dies ein bildlicher Ausdruck für ‘bewähren’ sein kann, ist schwer nachzuvollziehen.26 Peter Ganz’ Bearbeitung der Bechsteinschen Ausgabe von 1978 verschlimmbessert, indem sie den Umweg über eine bildliche Bedeutung von buˆwen erspart und ohne Umschweife erklärt: »bewähren, demonstrieren. ‘da zeigte sie ihre 25
26
Vgl. den Apparat bei Marold und Schröder [Anm. 17] (hier v. 17955). Der Text bietet in Marolds Herstellung dar an soˆ buˆwete sıˆ ir art, dazu die oben zitierten Varianten aus MBE. Zu M heißt es »von späterer Hand auf Wasserflecken«, doch dürfte es sich um die Lesart der Vorlage handeln; mindestens ist sie nicht jünger als B aus dem Jahre 1323. Falls Bechstein nicht wie anscheinend Ulrich Pretzel in seinen Nachträgen zum Mittelhochdeutschen Taschenwörterbuch von Matthias Lexer (Stuttgart 381992, S. 378: »dar ane b. as. ‘etw. darauf gründen’) an die Gebäudebau-Lesart und den aus ihr abgeleiteten Gebrauch im Sinne von ‘etw. auf etw. als auf seinen tragenden Grund, Fundament bauen’ gedacht hat, bei dem aber das, worauf gebaut wird, auch im Mhd. stets als Präpositionalergänzung mit uˆf, nicht mit an, wie hier, erscheint (vgl. den MWB-Artikel unter 8.3). Dass Eva ihre Natur auf das (oder dem?) Fundament ihrer ersten Handlung baut, gibt aber wohl ohnehin keinen rechten Sinn für die vorliegende Stelle; auch könnte es nicht als bildlicher Ausdruck für ‘bewähren’ aufgefasst werden.
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weibliche Natur’«. Auch die Übersetzungen folgen überwiegend der ‘bewähren’Angabe Bechsteins und nehmen als Bedeutung ‘bewähren, offenbaren, zu erkennen geben’ an.27 So Wilhelm Hertz (51907): »So machte sie der Frauen Art / Beim ersten Werke offenbar«; Arthur T. Hatto (21967): »In the first thing she ever did, she proved true to her nature«; v. Ertzdorff u. a. (1979): »in ihrem ersten Werk zeigte sie ihren Charakter«; Krohn (1980 u. ö.): »zeigte sie ihr Wesen«; Knecht (2006): »gab sie ihr Wesen zu erkennen«. Nur Wolfgang Mohr (1979, Bearbeitung von Kurtz 1847) und Dieter Kühn (1991) bilden Ausnahmen. Mohr verzichtet allerdings auf eine wörtliche Übersetzung (»damit schlug sie nicht aus der Art«), und es bleibt offen, auf welchen Wortgebrauch von buˆwen sich dieses Verständnis stützen könnte. Einzig die Übersetzung von Dieter Kühn (1991) gibt wirklich eine buˆwen-Lesart wieder: »Die erste Tat, die sie beging, / mit der bepflanzte sie ihr Wesen: / sie tat, was ihr verboten war« (S. 632). Kühns Text ergibt jedoch einen von den früheren Übersetzungen ganz abweichenden Sinn der Stelle: Bei ihm wird nicht eine in der Natur der Frauen bereits angelegte Neigung zur Verbotsübertretung beim Sündenfall nur zum ersten Mal sichtbar, sondern sie wird von Eva durch den Sündenfall überhaupt erst in die weibliche Natur gepflanzt. Dieses Verständnis dürfte beeinflusst sein von einer jüngeren Interpretationsrichtung, die im huote-Exkurs tatsächlich die Vorstellung einer »Heilsgeschichte der Minne« formuliert sieht und sich dafür vor allem auch auf v. 17951 berufen zu können glaubt. Ihr zufolge will der Exkurs nämlich sagen, dass die Neigung der Frau zur Verbotsübertretung vor dem Sündenfall nicht vorhanden war, sondern Kennzeichen der im Sündenfall verdorbenen weiblichen Natur ist, die »in einer Art Selbsterlösung der Frau aus eigener Kraft« wieder geheilt werden kann.28 Auf die Plausibilität dieser Konstruktion, die m. E. zu Recht entschiedenen Widerspruch hervorgerufen hat (vor allem von Rüdiger Schnell [Anm. 23]), braucht hier im Allgemeinen nicht eingegangen zu werden. Im folgenden soll nur geprüft werden, welchen Beitrag zur Verständnissicherung der Abgleich des Wortlauts der Stelle mit den Gebrauchstypen, die das Wörterbuch vorführt, bieten kann. Den Versuch, ihre Interpretation auf ein wörtliches Verständnis von buˆwen zu stützen, haben bislang anscheinend nur die Vertreter der »Heilsgeschichte der Minne« gemacht, ohne jedoch die verschiedenen Möglichkeiten des Anschlusses an einen eigentlichen Gebrauch von buˆwen zu diskutieren. Kühns Übersetzung ist schon zitiert worden. Sie schließt in ihrem Verständnis von v. 17951 die Formulierung Gottfrieds an den eigentlichen Gebrauch im Sinne von ‘etw. (Feld, Acker usw.) bestellen, besäen, bepflanzen’ an, wobei art = Feld. Problematisch ist Kühns Übersetzung jedoch, wenn sie (wie wohl zu verstehen ist) die »Tat« (werc) in die Rolle dessen einsetzt, womit das Feld bepflanzt/was darauf angepflanzt wird, denn diese (fakultative) Valenzstelle ist in Gottfrieds Formulierung nicht besetzt: dar an ist hier als adverbiale Angabe aufzufassen, wobei die Proform dar das von an abhängige Nomen im Dativ vertritt, der Ausdruck als ganzer also für an dem eˆrsten werke steht und so viel heißt wie ‘indem/dadurch, dass sie das tat’.29 27 28 29
Zu den im folgenden zitierten Übersetzungen vgl. oben Anm. 14. Huber 1986 [Anm. 23], S. 113. Vgl. die Artikel zu an und daran in 2DWb [Anm. 20], hier Bd. 2, Sp. 731 unter II C 1 g und
Wortbedeutung, Gebrauchstyp und Textverständnis
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An einen anderen Gebrauchstyp von buˆwen denkt Christoph Huber, der in einer Paraphrase des Abschnitts die folgende Formulierung gebraucht: »Mit der ersten Tat, die sie beging, legte sie so den Keim für ihre Natur«.30 Hier wird art nicht mit dem Feld usw. gleichgesetzt, das bestellt wird, sondern – wenn man den gegenwartssprachlichen Phraseologismus seinerseits auf einen eigentlichen Gebrauch zurückführt – am ehesten wohl mit einem ausgelegten Pflanzensamen. Wie man es sich vorzustellen hat, dass die Pflanze ‘Neigung zur Verbotsübertretung’ dadurch ausgesät wird, dass eben dieser Neigung nachgegeben wird, bleibt jedoch schwer ins Bild übersetzbar oder aus ihm herauszulesen. Ingrid Hahn, die als erste die Idee der Minneheilsgeschichte in Gottfrieds Exkurs fand, bleibt in ihrer Auslegung der Stelle31 am engsten am mittelhochdeutschen Wortlaut; sie versteht v. 17951 so, dass Eva im Sündenfall »distel unde dorn, ihre art anbaut«. Die Gleichsetzung von art mit distel unde dorn ist im Text durch v. 17931– 33 begründet, und damit ist ein genauer Anschluss an einen eigentlichen Wortgebrauch gewonnen (‘eine Pflanze usw. anbauen’), der die Übertragung motiviert. Doch trifft Hahns Interpretation derselbe Einwand, der eben gegen Hubers Versuch vorgebracht worden ist: Eva soll mit dem Sündenfall etwas anpflanzen, was tatsächlich schon ausgesät ist, denn die Neigung zum Verbotsübertritt besteht ja nach Aussage des Textes schon vor dem Sündenfall und führt überhaupt erst zu ihm. Sucht man für v. 17951 nach einem Anschluss an einen eigentlichen Gebrauch der Landbau-Lesart, der den Widerspruch vermeidet, in den die Interpretation Hahns und Hubers im Sinne der Minneheilsgeschichte führt, wird man im MWB-Artikel am ehesten unter den Gebrauchsweisen fündig, die unter 5 ‘das Feld, einen Acker, das Land bestellen usw.’ zusammengestellt sind, und zwar unter solchen, in denen die Größe in der Objektstelle nicht mehr konkret das Land usw. als Gegenstand ackerbaulicher usw. Tätigkeiten ist, sondern allgemeiner das durch solche Tätigkeiten zu bewirtschaftende Gut: swer guot haˆt daz er umbe gelt hin laˆt daz man ez buˆwe, wil er den verkeˆren [entlassen] der ez buˆwet, buˆwet er ez mit dem phluoge [wenn er es mit Ackerbau bewirtschaftet], soˆ sol er mit im buˆweteidingen (vor dem Liegenschaftsgericht verhandeln) zwischen der liehtmesse und dem wıˆzen sunnentage (Augsburger Sachsenspiegel). Noch weiter verallgemeinert scheint dieser Gebrauch in dem Ausdruck sıˆn erbe buˆwen (in zwei Urkundenbelegen auch in der Formel sıˆn erbe bezzern und buˆwen, sıˆn guot buˆwen und bezzern), wobei es unklar ist, inwieweit dabei noch speziell an Landbesitz gedacht ist oder an Besitz (eventuell auch Herrschaftsrechte) überhaupt, der erhalten (und gemehrt) wird: doˆ rededen die jungen graˆven, / die in
30 31
Bd. 4, Sp. 262 f. unter B 1 und B 2; den Artikel zu ane im ›Wörterbuch der Mittelhochdeutschen Urkundensprache‹ [Anm. 10], Bd. 1, Sp. 88 unter B.1.3.2; den Artikel zu daˆ(r) ane im MWB (in der dritten Doppellieferung, im Druck) unter 1.1.1.1., Spiegelstrich ›kausal/instrumental‹. Aus den Artikeln zur Präposition im WMU und 2DWb geht hervor, dass an in dieser Bedeutung stets den Dativ regiert. Huber 1986 [Anm. 23], S. 112. Hahn [Anm. 23], S. 187.
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dem hove waˆren, / wie se aˆne vrouwen [wenn der König ehelos und ohne Erben bleiben sollte] / ir erbe solden bouwen (Rother, ed. Rückert). Schließt man den übertragenen Gebrauch in v. 17951 an diese Belege für den eigentlichen Gebrauch an, scheint sich am ehesten ein zum Sinn der Stelle passendes Verständnis von buˆwen zu ergeben, nämlich die überkommene Natur (art) durch Ausübung pflegen, kultivieren wie einen ererbten Gutsbesitz, der durch landwirtschaftliche Betätigung erhalten (und unter Umständen gemehrt) wird.
9 Die Besprechung der ‘Tristan’-Belege sollte vor allem das wechselseitige Verhältnis von Wörterbuchdarstellung und elementarem Textverstehen illustrieren, nicht die besprochenen Textstellen unbedingt auf ein bestimmtes Verständnis festlegen. Wenn festgestellt wird, dass das historische Belegwörterbuch in einem sehr fundamentalen Sinne textphilologisch begründet ist – mit anderen Hilfsmitteln und Arbeitsweisen in den Zusammenhang textphilologischer Auslegung gehört und aus ihm erwachsen ist – so ist das nicht als Gegensatz zu einer linguistischen Bestimmung der Wörterbuchaufgabe zu verstehen, wie er seit Jacob Grimms Bemerkungen über den verstorbenen Bruder Wilhelm als Lexikographen (in der Vorrede zu Band 2 des Wörterbuchs) immer wieder bemüht wird, sondern als Hinweis auf bestimmte zentrale Aspekte, die eine linguistische Wörterbuchtheorie integrieren muss, wenn sie ihren Gegenstand nicht verfehlen will.32
32
Für Hinweise und Hilfe danke ich herzlich Jingning Tao, Christoph Gerhardt, Ute ReckerHamm, Kurt Gärtner und den Herausgebern.
Varianz und Kontamination Bemerkungen zur Textgestalt von ‘Thomas III’ von Benedikt Konrad Vollmann
Die hier mitgeteilten Beobachtungen beziehen sich auf einen winzigen Ausschnitt der mittellateinischen Literatur, auf den Text des sogenannten ‘Thomas III’; sie treffen daher mit Sicherheit nicht in gleicher Weise auf alle mittellateinischen Texte zu, doch dürfte die in ‘Thomas III’ in Erscheinung tretende Form der Textgestaltung auch nicht absolut singulär sein, und so könnte deren Analyse ebenfalls Licht auf die Arbeitsweise anderer Autoren werfen. ‘Thomas III’ ist die eingeführte Bezeichnung für eine um 1250 im bairisch-österreichischen Raum hergestellte Kurzfassung der ca. 1227–1241 von Thomas von Cantimpre´ verfassten und in zwei Redaktionen verbreiteten Naturkundeenzyklopädie ‘De natura rerum’ (‘Thomas I/II’).1 Wenn man die ca. 90 Überlieferungsträger von ‘Thomas III’ kollationiert, die Varianten sortiert und die Abhängigkeitsverhältnisse zu bestimmen versucht, ist man Kapitel für Kapitel, oft Satz für Satz erstaunt darüber, welchen Text die Schreiber aufs Pergament bzw. aufs Papier bringen. Das reicht von akribischer Vorlagentreue bis zu sinnwidriger Entstellung, von klarer Einsicht in die beschriebenen Naturtatsachen bis zu völlig hilflosem Unverständnis, von respektvollem Umgang mit der Vorlage bis zu ungehemmter Veränderungslust. Dabei ist es aber keineswegs so, dass sich eine Gruppe ›guter‹, intelligenter, interessierter, verantwortungsvoller Schreiber von einer Gruppe ›schlechter‹, dummer, schlampiger, selbstgefälliger Schreiber absondern ließe, vielmehr ruhen, wenngleich verschieden wirksam, zwei Seelen in jedes Schreibers Brust. Es ist hier nicht der Ort, sich mit den sattsam bekannten Phänomenen zu befassen, dass ein Schreiber seine Vorlage verliest und damit den Sinn verfehlt, oder dass er keinen Versuch unternimmt, den in seiner Vorlage bereits entstellten und unverständlichen Text zu verbessern; vielmehr soll es darum gehen, den Schreiber dort, wo er mitdenkt und mitgestaltet, bei seiner Arbeit zu beobachten und sein Verhältnis zum Text, den er schreibt, zu analysieren. (Man kann dann den Textarbeiter auch Redaktor nennen, selbst wenn er nur Einzelstellen verändert, ohne dem Textkorpus insgesamt – etwa durch Kürzungen, Erweiterungen, Umstellungen u. ä. – eine neue Form zu geben.) 1
Vgl. dazu den Artikel von Christian Hünemörder und Kurt Ruh, ›Thomas von Cantimpre´ OP‹, in: 2VL 9 (1995), Sp. 839–851, hier Sp. 840–845, Sp. 849–851. – Die kritische Ausgabe von ‘Thomas III’ wird derzeit von mir erarbeitet. Die Publikation – samt dem von Christian Hünemörder verfassten Kommentar – ist 2011 zu erwarten. Der Text von ‘Thomas I/II’
wurde von Hermann Boese vorgelegt: Thomas Cantimpratensis, Liber de natura rerum. Editio princeps secundum codices manuscriptos, Teil I: Text, Berlin/New York 1973.
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Benedikt Konrad Vollmann
Um das wesentliche Ergebnis vorwegzunehmen: Die gesamte Überlieferung in ihrer ausgedehnten örtlichen (Baiern, Österreich, Böhmen, Mähren, Oberitalien) und zeitlichen (13.–15. Jahrhundert) Erstreckung gibt zwei Vorlieben zu erkennen: die Vorliebe für Varianz und die Vorliebe für Kontamination. Eine – noch schüchterne – Liebe zur Varianz erscheint bereits im Ur-‘Thomas III’, d. h. in der originären Bearbeitung von ‘Thomas I/II’. Sie zeigt sich im Austausch eines Wortes der Vorlage gegen ein bedeutungsgleiches, wobei für den Austausch kein anderer Grund zu erkennen ist als eben die Freude an der Veränderung. So liest etwa das gesamte Korpus2 in Quadrupedes, Lamia, Hi(i)s gegen Boese 142,12 ipsis, oder Quadrupedes, Vulpes, comedat gegen Boese 171,40 manducet.3 Sind die Abweichungen von Boese in z noch spärlich, so überborden sie geradezu in den beiden Hyparchetypen x und y. In beiden kommt die Lust an der Varianz voll zum Tragen, in y noch stärker als in x. Neben den ebenfalls vorhandenen Trennfehlern sind es vor allem die je eigenen Abweichungen, durch die sich die beiden Hauptstränge unterscheiden. Beispiele: In Aves, Aquila, wird in impetu (y, Boese 178,18) in x durch cum impetu ersetzt und pullos (y, Boese 179,71 f.) in x durch pueros; umgekehrt setzt y in Arbores, Rosa, mel rosaceum an, wo x und Boese 325,5 mel rosarum aufweisen; oder y tauscht in Aves, Fenix, incitacione gegen agitacione (x, Boese 197,8) aus. Alle diese Ersetzungen sind inhaltlich völlig belanglos, aber gerade darin erweist sich ihr Spielcharakter: Der Schreiber will nichts Neues sagen, er will es nur anders sagen. So erklären sich auch die zahlreichen Fälle, in denen Wortumstellungen durchgeführt werden, Plural mit Singular wechselt, Konjunktiv durch Indikativ und Indikativ durch Konjunktiv ersetzt wird, vero für autem eintritt usw. Im Einhorn-Kapitel des Quadrupedes-Buches verdichten sich die – hier auch inhaltlich relevanten – Divergenzen so sehr, dass man von hier aus ganz leicht die Klassenzugehörigkeit einer Handschrift bestimmen kann. Ich gebe zuerst den BoeseText (168,10–24) und anschließend die x- und die y-Fassung.4
2
3
4
Das der Textausgabe zu Grunde gelegte Korpus umfasst die 19 führenden Vertreter der ‘Thomas III’-Überlieferung: Bu1 (Budapest, Bibl. Nat. Sze´che´nyi, cod. 58), Gi1 (Giessen, UB, cod. 777), Ol1 (Olmütz, Sta´tnı´ vedecka´ knihovna, M. I. 246), Wa1 (Warschau, Bibl. Narodowa, cod. 8036), Kl2 (Klosterneuburg, Stiftsbibl., cod. 1060), Li1 (Lilienfeld, Stiftsbibl., cod. 206), Sf4 (St. Florian, Stiftsbibl., cod. XI.303), M18 (München, UB, 4° cod. ms. 761), R4 (Vatikan, BAB, cod. pal. lat. 1382), R5 (Vatikan, BAB, cod. vat. lat. 10064), C1 (Cambridge [Mass.], Houghton Libr., cod. Riant 19), Me1 (Melk, Stiftsbibl., cod. 1707), Me3 (Melk, Stiftsbibl., cod. 840), Gr1 (Graz, UB, cod. 1249), M2 (München, BSB, clm 3206), M1 (München, BSB, clm 2655), M7 (München, BSB, clm 13582), K1 (Kopenhagen, Königl. Bibl. Ny kgl. S. 322b 4°), L4 (London, BL, cod. Arundel 323). – Es lassen sich zwei Hauptstränge der Überlieferung unterscheiden: ein x-Strang (Bu1 bis Sf4) und ein y-Strang (M18 bis L4). x und y zusammen führen auf den Archetyp z. Bücher- und Kapitelzählung differieren in den Korpus-Handschriften erheblich; deswegen erfolgt die Zitation nach Buch- und Kapiteltiteln. Die x-Fassung zerfällt in zwei Gruppen: die Boese näher stehende Gruppe x1 (Bu1, Gi1, Ol1, Wa1) und die sich weiter von Boese entfernende Gruppe x2 (Kl2, Li1, Sf4).
Varianz und Kontamination
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Boese: Iacobus et Ysidorus: Sed hoc argumento capitur: Puella virgo in silva proponitur solaque relinquitur. Qui adveniens omni ferocitate deposita casti corporis pudicitiam in virgine veneratur caputque suum in sinu puelle aperientis imponit sicque soporatus inermis deprehenditur a venatoribus, occiditurque vel in regali palatio ad spectaculum exhibetur. Hoc animal primo, ut Plinius dicit, magnus Pompeius ad spectaculum Rome exhibuit. Hoc crudele animal Christum significat, qui ante incarnationem seviebat in celo puniendo angelos propter superbiam, in terra homines propter inobedientiam sicut Adam et propter luxuriam sicut Sodomitas, propter crapulam sicut filios Israel. Huic nullo contradicere audente clamat Ysaias: Non est, inquit, qui consurgat et teneat te. Hunc virgo in deserto mundi quasi cepit, dum gloriose virginis Marie incomparabili pulchritudine castitatis illectus dei filius quasi sinum eius uterum introivit atque per eam humanatus corpus accepit, in quo a Iudeis quasi crudelissimis venatoribus comprehensus occiditur, indeque resurgens et ascendens ad celos in celestis regni palatium ad patris dexteram collocatur. x: Sed secundum Jacobum et Ysidorum sic capitur: Puella uirgo in silua ponitur solaque relinquitur. Qui adueniens omni ferocitate deposita casti corporis pudiciciam in uirgine ueneratur caputque suum in sinu puelle5 reclinans soporatur; sic inermis deprehensus6 a uenatoribus occiditur uel regali palacio ad spectaculum exhibetur. Hoc animal primo, ut dicit Plinius, magnus Pompeius ad spectaculum Rome exhibuit. Hoc crudele animal significat Christum, qui ante incarnacionem seuiebat in celo puniendo angelos propter superbiam, in terra homines propter inobedienciam sicut Adam, propter luxuriam sicut Sodomitas, propter crapulam sicut filios Israhel. Huic nullo contradicere audente clamat Ysaias: Non est, inquit, qui consurgat et teneat te. Hunc in deserto mundi gloriosa7 uirgo quasi cepit, dum incomparabili pulcritudine castitatis eius8 illectus Dei filius quasi sinum eius uterum introiuit atque per eam humanatus corpus accepit, in quo a Iudeis quasi crudelissimis uenatoribus comprehensus occiditur indeque resurgens et ad celos ascendens in celestis regni palacium ad dexteram patris conspiciendus sanctis omnibus9 collocatur. y: Sed Ysidorus et Jacobus:10 Capitur puella uirgine sola in silua relicta. Adueniens cui omni deposita ferocitate casti corporis in uirgine pudiciciam ueneratur, caput suum in sinum puelle reclinans ibique soporatus a uenatoribus captus11 regali palacio ad spectaculum exhibetur. Hoc animal significat Christum, qui ante incarnacionem seuiebat in celo puniendo angelos propter superbiam, in terra homines propter Ade inobedienciam, propter luxuriam sicut Sodomitas, propter crapulam sicut filios Israhel. Hunc in deserto mundi huius uirgo gloriosa cepit Maria, quando mire castitatis eius sinu illectus uterum eius intrauit et tandem a Judeis tamquam a crudelissimis uenatoribus occisus et inde resurgens in ascensione tamquam in palacio regis patris et omnibus sanctis conspiciendus est collocatus.
Die Freude an der spielerischen Veränderung war jedoch keineswegs eine Besonderheit der (erschlossenen) Hyparchetypen x und y. Sie ist auch in allen weiteren Knotenpunkten der Filiation und in sämtlichen erhaltenen Textzeugen nachweisbar. (Der 5 6 7 8 9 10 11
puelle – sic x2 puelle aperientis imponit sicque soporatus x1. deprehensus x2 deprehenditur x1. gloriosa – dum x2 quasi cepit dum gloriose uirginis Marie x1. eius om. x1. sanctis omnibus om. x1. Sed secundum Ysidorum et Jacobum R4, R5. captum R4 capitur et R5.
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Lesartenapparat der künftigen ‘Thomas III’-Ausgabe wird dafür das Belegmaterial liefern.) K o n t a m i n a t i o n . Nun ist es aber nicht so, dass die Handschriften einer Redaktionsstufe sich darauf beschränken, die vom Redaktor eingeführten Varianten zu kopieren und gegebenenfalls eigene Veränderungen vorzunehmen, vielmehr finden sich in allen Redaktionsstufen ›fremde‹, d. h. für eine andere Redaktionsstufe typische Varianten. Dies bedeutet, dass die betreffenden Schreiber außer ihrer Hauptvorlage zumindest eine weitere Handschrift vor sich hatten und deren Lesungen in ihre Abschrift eingehen ließen. Diese kontaminierende Methode ist in der mittelalterlichen Kopierpraxis weit verbreitet, aber nicht selbstverständlich. Grundsätzlich hat der mittelalterliche Schreiber angesichts divergierender Textvorlagen zwei Möglichkeiten: Er kann sich für eine der ihm vorliegenden Lesarten entscheiden, diese in seinen Text setzen und die Parallele unterdrücken, oder er kann zwar eine bestimmte Lesart in seinen Text aufnehmen, aber die Parallele – interlinear oder marginal – als Alternative mitführen und so dem Leser ein selbständiges Urteil ermöglichen. Letztere Vorgehensweise lässt sich etwa in der Überlieferung der von Michael Scotus um 1220 ins Lateinische übersetzten ‘Historia animalium’ des Aristoteles beobachten und ebenso in der Überlieferung der ‘Ruralia commoda’ des Petrus de Crescentiis.12 In den Handschriften der ‘Historia animalium’ zähle ich 91 auf dem Rand eingetragene lectiones variae, die durch den Zusatz in ał (in al〈io codice〉) als konkurrierende Lesungen markiert sind; die kritische Ausgabe der ‘Ruralia commoda’ verzeichnet in den ersten sechs Büchern 19 mit ał (alius oder alibi oder aliter) gekennzeichnete Varianten. Die ‘Thomas III’-Handschriften verfahren anders. Zwar finden sich in fast allen Handschriften des Korpus Einträge auf den Rändern, aber diese dienen dazu, durch Nennung des im Kapitel besprochenen Naturgegenstands das Nachschlagen zu erleichtern (Typ: De aquila); oder sie verweisen auf ein im Kapitel genanntes Heilverfahren (Typ: Contra dolores dentium); oder sie insinuieren eine allegorische Ausdeutung (Typ: De prelatis); oder sie nennen die deutsche Bezeichnung des betreffenden Naturgegenstandes (Typ: menta minze). Nicht selten wird auf dem Rand versehentlich ausgelassener oder zusätzlicher Text nachgetragen oder auch ein Wort des Textes durch ein anderes ersetzt. Doch handelt es sich in diesen Fällen nicht um Varianten, sondern um Korrekturen. Der Schreiber macht dem Leser kein Alternativangebot, sondern er erklärt das eine Wort für richtig und gültig, das andere für falsch und ungültig. Für lectiones variae im strengen Sinn gibt es in den Korpus-Handschriften nur ganz wenige Beispiele.13 12
13
Die Scotus-Version der ‘Historia animalium’ wurde von mir 1994 als Typoskript ausgegeben; die ‘Ruralia commoda’ sind kritisch ediert: Petrus de Crescentiis (Pier de’ Crescenzi), Ruralia commoda. Das Wissen des vollkommenen Landwirts um 1300, hg. von Will Richter, zum Druck vorber. von Reinhilt Richter-Bergmeier, Bd. I-IV (Editiones Heidelbergenses, 25–27, 30), Heidelberg 1995–2002. Die Handschrift R5 bietet zwar an zwei Stellen eine mit ałs beziehungsweise ał markierte Variante, doch handelt es sich beide Male nicht um echte Alternativen, sondern um Korrek-
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Die gewöhnliche Verfahrensweise der ‘Thomas III’-Handschriften mit ›fremdem‹ Material ist die Kontamination, d. h. die Integration in den Fließtext, sei es, dass sie sich für eine ›fremde‹ Lesart entscheiden und die konkurrierende Lesart der Hauptvorlage unterdrücken, oder dass sie die konkurrierende Lesart – mit sive/seu oder mit vel eingeleitet – in den Text einbinden, oder dass sie die lectiones variae zu einem neuen Text amalgamieren. Ein eindrucksvolles Beispiel für die erstgenannte Methode ist die Handschrift Me3, in der an zahlreichen Stellen die ursprünglichen y-Lesarten ausradiert und durch x2-Lesarten ersetzt wurden.14 Auch in den anderen Handschriften finden sich Hunderte von Fällen, in denen der Schreiber die für seine Redaktionsstufe charakteristischen Lesarten verschmäht und sich aus fremden Töpfen bedient – nicht immer zum Vorteil seines Produkts. Für die zweite Methode, bei der eine ›fremde‹ Lesung mit sive/seu oder vel der Lesung der Hauptvorlage beigegeben wird, mögen zwei Beispiele genügen: Lapides, Sermo generalis, denotetur (Boese 355,28) gegen demonstretur siue denotetur (Korpus), und Aves, Accipiter, forat (M1, Boese 182,4) gegen fodit (y außer C1, M1) und forat vel fodit (C1). Der Unterschied zu den oben genannten ał-Varianten besteht darin, dass der Schreiber nicht zu kritischer Unterscheidung auffordert, sondern die Bedeutungsgleichheit der Termini behauptet: Statt des Terminus 1 kannst du auch den Terminus 2 verwenden; für denotare kannst du auch demonstrare sagen oder für fodere forare. Noch stärker zeigt sich die Tendenz, im Verlauf der Überlieferung aufgetretene Veränderungen in den Text zu integrieren, bei der dritten, der amalgamierenden Methode, bei der alternatives Textmaterial ohne sive oder vel mit dem originären Text zu neuer Einheit verschmolzen wird. So war etwa in Monstra marina, Scinci, der Ausgangspunkt die Behauptung, dass Getränke, die mit dem Fleisch der scinci in Berührung gebracht werden, entgiftend wirken: pocula vim veneni extinguunt (Boese 247,3, R4, x1). Früh in der y-Überlieferung wurde vim zu vini verlesen und folglich veneni in venenum abgeändert: pocula vini venenum extinguunt (y außer R4, Konrad von Megenberg). Die x2-Handschriften finden in ihren Vorlagen einerseits vim, andrerseits vini und kombinieren: pocula vini vim veneni extinguunt. Im Gegensatz zur ersten Methode sind die Fälle der zweiten und dritten Methode nicht eben häufig – ich zähle in den Korpus-Handschriften vier mit sive/seu, 15 mit vel eingeleitete Varianten15 und ein Dutzend amalgamierende Stellen – aber ihre Be-
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turen: In Elementa, Ignis (Schluss), wird für sinnloses ab ictu fluminis die Richtigstellung ab ictu fulminis gegeben (f. 183r) und in Partes corporis, Cor, wird verschriebenes decerni (recte detrahi) durch ebenfalls unbefriedigendes decresci ersetzt (f. 173r). – Echte Alternativangebote weist allein die Handschrift Gr1 auf, in der zwei Korrektoren neun mit vel eingeführte Lesarten aus einer anderen (tieferen) Redaktionsstufe auf dem Rand oder zwischen den Zeilen nachschieben. Auch die Bartholomäus-Handschrift B (Paris, BN, lat. 16099) wurde konsequent nach der Handschrift einer anderen Textgruppe durchkorrigiert. Vgl. die im Erscheinen begriffene kritische Ausgabe: Bartholomaeus Anglicus, De proprietatibus rerum, hg. von Baudouin van den Abeele u. a., Bd. I und VI, Turnhout 2007. Nicht mitgezählt sind Begriffsdoppelungen, die nur in einer Handschrift vorkommen und
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deutung liegt nicht in ihrer Anzahl. Wichtig sind sie vielmehr als Indikatoren für das Verhältnis, das die Schreiber/Redaktoren zu ihrem Text hatten. Sie zeigen, dass diese nicht behutsam-konservierend, sondern unbekümmert-›schöpferisch‹ mit der Überlieferung umgingen. Die Mentalität der ‘Thomas III’-Kopisten unterscheidet sich grundlegend von der Mentalität des humanistisch-neuzeitlichen Editors. Der Schreiber/Redaktor der ‘Thomas III’-Handschriften arbeitet nicht als akribischer Philologe, der sich um einen authentischen Text bemüht, sondern als Quasi-Autor, der einen neuen, seinen eigenen Text gestaltet. Es ist dieselbe Mentalität, die im Bereich der lateinischen Sprache dem mittelalterlichen Autor gestattet, neue Wörter zu kreieren oder vorhandene mit neuen Bedeutungen zu versehen. Der mittelalterliche Latinist experimentiert; er überschreitet lustvoll die Grenzen der sprachlichen Konvention und erweitert den Umfang des sprachlich Ausdrückbaren. Er fühlt sich als Herr der Sprache, nicht als ihr Sklave, der Prügel zu gewärtigen hat, wenn er gegen ihre ›Gesetze‹, d. h. gegen die Sprachform ihrer normativen Autoren, verstößt. Dass solche Ungebundenheit, exzessiv genutzt, zu Sprachverwilderung führen konnte und geführt hat, steht außer Frage, so wie der respektlose Umgang eines Schreibers/Redaktors mit seiner Vorlage keineswegs immer erfreuliche Ergebnisse zeitigt. Doch ob sich nun der moderne Leser eines in diesem Sinne ›offenen‹ Textes über dessen freche Nonchalance freut oder sich über sie ärgert, er wird in jedem Fall bei seiner Lektüre die so ganz andere Grundhaltung in Anschlag bringen müssen. Er wird vielleicht sogar die Variantenapparate mit anderen Augen betrachten und sie nicht nur als große Jauchengruben, sondern auch als Reservoire lustvoll-schöpferischer Einfälle ansehen. Ähnliches gilt auch für den, der einen Text dieser Machart kritisch edieren soll. Er muss einsehen, dass es unmöglich ist, einen ›authentischen‹ Text zu erstellen, weil es einen authentischen Text nicht gibt. Auch ‘Thomas III’ existiert nur in seinen zahlreichen Ausprägungen, so dass eine kritische Edition sich darauf zu beschränken hat, die Überlieferung zu dokumentieren und sich an eine frühe, den erkennbaren Verästelungen vorausgehende Textform heranzutasten. Der Lesetext der künftigen Ausgabe wird infolgedessen nur ein künstlicher, ›virtueller‹ Text sein können, eine Orientierungshilfe, um sich im Gewirr der handschriftlich überlieferten Lesarten zurechtzufinden. Trotz der genannten Schwierigkeiten und des in die Lektüre eingebauten Unsicherheitsfaktors lohnt sich die Lektüre von ‘Thomas III’. Sie ist faszinierend, nicht so sehr wegen der im Werk enthaltenen naturkundlichen Sachverhalte als vielmehr wegen der lebendigen Natur-Neugier der Autoren und wegen ihrer Lust, diese Neugier immer wieder anders in Worte zu fassen.
nichts weiter als Zusätze des betreffenden Schreibers sind. Vor allem die Handschrift R5 tut sich mit solchen ›erklärenden‹ Zusätzen vom Typ filios vel fetus hervor.
Wappen und Privilegien Standessymbolik im ‘Ritterspiegel’ des Johannes Rothe von Christoph Huber
Im ›Verfasserlexikon‹ resümiert Volker Honemann die wichtigsten Themen von Johannes Rothes ‘Ritterspiegel’ (nach 1414)1 wie folgt: »Behandelt werden der Begriff ›Ritter‹ (mit der Tugendadels-Lehre), die Geschichte des Rittertums, Heerschild und Wappen, Abzeichen und Vorrechte, Erziehung, Ritterschlag und Ritterpflichten, Turnier und Krieg.«2 Eine detailliertere Gliederung ergibt sich aus dem Akrostichon johannes uon cruzceborg rothe genant, welches das Gedicht in Prolog und 24 Kapitel einteilt und dabei mit den Worteinheiten verschiedene inhaltliche Komplexe markiert. So ist der Vorname johannes für den strophischen Prolog reserviert, der sich an ein Publikum von adligen jungen Männern richtet, in denen man Rothes Schüler bei seiner Tätigkeit als Leiter der Stiftsschule St. Marien in Eisenach sehen darf. Auf die Klage über die prekäre Situation des Adelsstandes in der gegenwärtigen Welt antwortet der Lehrer mit einer Ermahnung der widerspenstigen Jugend zum standesgemäß tugendhaften Verhalten. Die Präposition von bündelt dann einen Einleitungsabschnitt, in dem es grundsätzlich um Lehre und Belehrbarkeit geht, um Geburts- und Tugendadel. Nur der letztere könne in den Wechselfällen des Glücks bestehen und den Adel ständig von unten herauf regenerieren. Im folgenden Abschnitt bindet Rothe mit den Buchstaben seines Herkunftsortes cruzceborg eine längere dispositorisch geschlossene Lehreinheit zusammen, die genau ein Drittel der Kapitel des Gesamttextes abdeckt und im Folgenden näher betrachtet werden soll. Die restlichen Buchstaben und Wörter des Akrostichons eröffnen Kapitel zur Kriegstheorie (z. B. zum gerechten Krieg) und praktische Anweisungen zur Kriegsführung. Der Lehrdichter geht dabei von äußeren Merkmalen aus, den Wappen (Kap. 4) und einer Reihe von 7 Privilegien des Ritters (Kap. 7–13), die man in diesem Kontext als die zentralen Standessymbole fassen kann. Rothe sieht diese Zeichen oder Abzeichen durchaus in ihrer historischen Dimension. Er gibt ihnen ihren Ort in einer Standesgeschichte, die in eine Darstellung des Rituals der Ritterweihe mündet. Es ist ja die Weltgeschichte des Rittertums, in die sich der junge Ritter mit seiner Initiation eingliedert (Kap. 5). Im nächsten Abschnitt bietet Rothe eine synchrone Aufgliederung des Standes in drei Gruppen, die das Standesideal unterschiedlich verwirklichen (Kap. 6), um dann zu den 7 Privilegien überzuleiten. Die ersten drei dieser Privilegien erscheinen bereits im Abschnitt über die Institution der Ritterweihe (Kap. 5, V. 725ff.), 1
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Johannes Rothe, Der Ritterspiegel, hg., übers. und komm. von Christoph Huber und Pamela Kalning, Berlin/New York 2009. Ich danke Paul Sappler für seine unermüdliche Hilfe, vor allem auf dem Feld der Datenverarbeitung und in philologischen Fragen, die auch dieser Ausgabe zugute kam. Die deutsche Literatur des Mittelalters (Verfasserlexikon), 2VL 8 (1992), Sp. 281.
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die auf den ersten christlichen Kaiser Konstantin und Papst Silvester zurückgehe (V. 833, 850 ff.). Natürlich ist hier das Schwert das wichtigste Requisit. Zum Tragen eines Ringes wird bereits hier gesagt, er solle den Jungritter daran erinnern, Gott die Treue zu halten. Ferner wird auch hier bereits das dritte Privileg erwähnt (so wart eme daz gesatz vor recht, V. 854), nämlich, sich auf der Straße von einem Diener oder Knecht begleiten zu lassen. Die Auffüllung dieser Rechte zur Siebenerreihe könnte von Rothe aus zahlenästhetischen Gründen erfolgt sein. Sie betreffen die adlige Kleiderordnung (Gold und Spangen; buntes Gewand), den Adelstitel ›herre‹ und die aus den Tischzuchten bekannte Anstandsregel des Händewaschens, nota bene: nach dem Essen. Die enge Verschränkung von Normsetzung und Historizität ist Ausdruck für das fortgeschrittene Stadium von Rothes Standeslehre, die, ausgehend von den Anfängen, sich im Verlauf des Gedichts immer wieder auf die Bedingungen des frühen 15. Jahrhunderts zuspitzt. Ältere Konzepte einer Rittergeschichte, die Aufstiegs- und Verfallsbewegungen konstruieren, sind weit weniger konkret. Der bekannteste französisch-deutsche Beleg hierfür ist die Einleitung der mhd. Versnovelle ‘Moriz von Crauˆn’ nach einer verlorenen französischen Vorlage (schwankende Datierung, wohl nach 1210/15).3 Sie beschreibt die Wanderung der personifizierten Ritterschaft von Troja über Rom nach Kerlingen (d. h. Frankreich). Aus dem frühen 13. Jahrhundert (ab 1215?) stammt auch die wesentlich komplexere Ritterlehre im französischen ‘Prosalancelot’ und seiner einige Jahrzehnte später folgenden deutschen Übertragung, die einer Fee als Erzieherin des Helden in den Mund gelegt ist.4 Bereits dort wird wie später bei Rothe eine intensive Deutungsarbeit auf klerikal gebildeter Grundlage in den Entwurf eines Standeskonzepts eingearbeitet.5 Es geht um die Bildung einer Elite vor dem Postulat der Gleichheit aller Menschen, um die physischen und psychischen Anforderungen an die Ausgezeichneten, um die Herleitung einer Standestradition aus dem Alten Testament und die Darstellung ritterlicher Qualitäten anhand einer Rüstungsallegorese. Dieser Entwurf hat sicherlich zeitgenössische Realien im Hintergrund, ist aber auch auf die Bedürfnisse des in riesigen Dimensionen angelegten Prosaromans zugeschnitten. Doch wird man auch für Rothes kleines Werk und seine gegenwartsbezogene Didaxe literarische Stilisierungen ins Kalkül ziehen müssen. 3
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Vgl. Hans-Joachim Ziegeler, Art. ›Moriz von Crauˆn‹, in: 2VL 6 (1987), Sp. 693–695. – Materialien zu historischer Herleitung des Rittertums in der Anthologie von Jörg Arentzen und Uwe Ruberg, Die Ritteridee in der deutschen Literatur des Mittelalters. Eine kommentierte Anthologie, Darmstadt 1987, hier S. 6–8 (mit Literatur); Texte S. 30–67, Rothe S. 42–46. Prosalancelot. Nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. Germ. 147, hg. von Reinhold Kluge, ergänzt durch die Handschrift Ms. Allem. 8017–8020 der Bibliothe`que de l’Arsenal Paris, übers., komm. und hg. von Hans-Hugo Steinhoff, 5 Bde., Frankfurt a. M. 1995 ff., hier Bd. I, S. 332–340; dazu Kommentar Bd. II, S. 853–859. Ein vornehmlich philologischer Vergleich des französischen und des deutschen Textes findet sich bei Thordis Hennings, Die Leitbegriffe der Ritterlehre der Dame vom See im mittelhochdeutschen und altfranzösischen ‘Prosalancelot’, in: Lancelot. Der mittelhochdeutsche Roman im europäischen Kontext, hg. von Klaus Ridder und Christoph Huber, Tübingen 2007, S. 61–75.
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Ich wende mich im Folgenden den Aussagen und literarischen Verfahren des Wappenkapitels zu und peile das Problem der Quellen an. Anschließend sind anhand der ersten drei Privilegien, Schwert, Ring und Knecht, die Ansätze zu einer breiter konzipierten Standessymbolik herauszuarbeiten. Rothes Wappenkapitel ist als frühester Beleg für ein heraldisches Regelwerk im Deutschen bedeutsam und datiert auch vor den vergleichbaren französischen Texten. Das maßgeblich in Frankreich entwickelte Wappenwesen spielt sich zunächst in einer nicht schriftlich fixierten Praxis ab. Motiviert wird sie durch die Einführung der Ganzkörperrüstung seit dem 12. Jahrhundert und der Identifizierungsnotwendigkeit ihrer Träger.6 Schon bald überschwemmen Wappendarstellungen die verschiedensten Bereiche der Alltagskultur,7 und es finden sich Reflexe davon in der Literatur. Eine nicht nur beiläufige, sondern schwerpunktmäßig heraldische Dichtung bildet sich erst im Spätmittelalter heraus.8 Den derzeitigen Kenntnisstand zur heraldischen Motivik im höfischen Roman markiert treffend eine Studie von Heiko Hartmann (2002).9 Am Werk Wolframs von Eschenbach, der eine Vorreiterrolle spielt, verfolgt Hartmann die Übertragung französischen Kulturwissens nach Deutschland und seine komplexe literarische Funktionalisierung.10 Wappen auf dem Schild und sonstigen Gegenständen dienen als Erkennungszeichen in erster Linie in Kampf und Turnier, sie erscheinen noch weitgehend frei wählbar und auch auswechselbar; ihre Bedeutung als genealogisches Abzeichen ist weniger fest als später. Damit hängt zweifellos eine gewisse »Freiheit im Umgang 6
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Frühester Beleg nach Maurice Keen, Das Rittertum, München/Zürich 1987 (Originalausgabe: Chivalry, London/New Haven 1984), S. 199: 1128 Schwertleite Gottfrieds des Schönen. Rein ornamentaler Schildschmuck noch auf dem Teppich von Bayeux, ebd., S. 198. Vgl. Thomas Frenz, Art. ›Heraldik (Allgemeines)‹, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. IV (1989), Sp. 2141–2144, hier Sp. 2142. – Aufsatzsammlung: Wappen als Zeichen. Mittelalterliche Heraldik aus kommunikations- und zeichentheoretischer Perspektive, hg. von Wolfgang Achnitz, in: Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 11 (2006), H. 2. Keen [Anm. 6], S. 192: Siegel, Grabstätten, Architektur; später: geistliche Stiftungen (Kelche). Als Einschnitt lässt sich die heraldische Epik Konrads von Würzburg sehen (‘Das Turnier von Nantes’, wohl 1257/58). Zu üppigen Wappenbeschreibungen in Konrads ‘Trojanerkrieg’ Manfred Stuckmann, Wappenschilderungen und historisch-heraldische Anspielungen in Konrads von Würzburg ‘Trojanerkrieg’. Diss. Wuppertal 2000/2001. Elektronische Veröffentlichung UB Wuppertal (korrigierte Fassung 2005). – Die Vertreter preisender Wappendichtung im deutschen Raum sind der flämische Herold Gelre (tätig 1334–72) und Peter Suchenwirt (habsburgischer Hofbeamter seit 1377, gest. vor 1407). Heiko Hartmann, Heraldische Motive und ihre narrative Funktion in den Werken Wolframs von Eschenbach, in: Wolfram-Studien 17 (2002), S. 157–181. – In den Anmerkungen Verweise auf heraldische Grundlagenliteratur. Vgl. auch Hartmann zur ‘Krone’ Heinrichs von dem Türlin, in: Achnitz [Anm. 6], S. 28–52. Hartmann, Heraldische Motive [Anm. 9], weist den Wappen eine allgemeine Visualisierungsleistung zu und führt dazu sechs Funktionen aus: die Darstellung von Verwandtschaftsbeziehungen, die Charakterisierung von Einzelfiguren oder Figurengruppen, die Rolle in Erkennungs- oder Verkennungsszenen, semantisch ambige Querverbindungen, intertextuelle Verweise, schließlich Poetisierung durch Prachtentfaltung und Exotik oder durch metonymische Handlungsbezüge (z. B. die Zerstörung der wappentragenden Fahne im Kampf).
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mit den sogenannten ›Realien‹« zusammen (S. 173). Die Problematik realhistorischer Bezüge gilt auch für den französischen Roman vor Wolfram, dessen Gönnerbindung etwa an Heinrich II. von Anjou man bei Thomas von England und Chre´tien de Troyes nachzuweisen suchte.11 In diesem Übergangsstadium haben die Fiktionalisierung des Realen und die von Hartmann beschriebene »Tendenz zur poetischen Instrumentalisierung von Wirklichkeitssplittern« ihren Platz.12 Grundsätzlich anders ist der Wirklichkeitsbezug von Wappendeutung in der didaktischen Literatur zu veranschlagen, die sich ihrerseits lehrhafter Fiktionalisierung bedient.13 Die Interpretation eines realen Wappens zu propagandistischen Zwecken nimmt etwa Thomasin von Zerclære im ‘Wälschen Gast’ (1215/16) am Wappen des deutschen Kaisers Otto IV. vor:14 Drei Löwen und ein halber Adler seien hier Zeichen von Maßlosigkeit (unmaˆze). Ein Löwe würde hohen muot anzeigen, drei dagegen indizierten übermuot; ein vollständiger hochfliegender Adler wäre Indiz von Ehre, während ein halber gerade deren Mangel ansage. Das kann natürlich nicht der Intention von Ottos Wappenwahl entsprechen, und auch Thomasin versucht sich aus der Affäre zu ziehen. Die Deutung entspreche nicht seiner eigenen Meinung, er referiere nur eine umlaufende Interpretation; aber dass es zu dieser kommen könne, sei der exemplarische Fall, auf den es ihm ankomme. Die Stelle belegt eine grundsätzlich offene Semantisierungsfähigkeit der dargestellten Zeichen und die politische Brisanz von Wappendeutung. Es geht an dieser Stelle nicht darum, den Horizont mittelalterlicher Wappendichtung aufzurollen, unsere Umschau kann aber die Besonderheit von Rothes Erörterung des Wappens als adeligen Standessymbols verdeutlichen. Im 4. Kapitel des ‘Ritterspiegels’ richtet sich das Augenmerk nicht auf bestimmte Wappen, wie das in der Heroldsdichtung seiner Zeitgenossen, etwa in Suchenwirts ‘Ehrenreden’, der Fall ist. Wir finden vielmehr eine mehr oder weniger systematische Reflexion auf Möglichkeiten des Bezeichnens und auf die Motivation von Wappengestaltung vor, die in der anzitierten literarischen Heraldik in der Regel unausgesprochen im Hintergrund stehen. Dies sichert dem Text seine schon erwähnte Sonderstellung.
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Vgl. Beate Schmolke-Hasselmann, Henry II Plantageneˆt, roi d’Angleterre, et la gene`se d’ ‘Erec et Enide’, Cahiers de Civilisation Me´die´vale 24 (1981), S. 241–246. In der Wappenmotivik gehört Chre´tien, wie Hartmann, Heraldische Motive [Anm. 9], S. 161, feststellt, »in die vorheraldische Zeit«. Ausblick auf den Roman nach Wolfram bei Hartmann, Heraldische Motive [Anm. 9], S. 173. Die Dissertation von M. Zips, Das Wappenwesen in der mittelhochdeutschen Epik bis 1250, Diss. masch. Wien 1966, war mir nicht zugänglich; Kritik Hartmann, Heraldische Motive [Anm. 9], Anm. 11. Zu Konrad von Würzburg oben Anm. 8. Gegen einen strikten Gegensatz zwischen Fiktionalität und Didaxe mit Elke Brüggen, Laienunterweisung. Untersuchungen zur deutschsprachigen weltlichen Lehrdichtung des 12. und 13. Jahrhunderts, Habilitationsschrift (masch.) 1994, Einleitungskapitel S. 39–47. Der Wälsche Gast des Thomasin von Zirclaria, hg. von Heinrich Rückert. Mit einer Einl. und einem Register von Friedrich Neumann (Deutsche Neudrucke), Berlin 1965, hier die Verse 10471–530; Thomasins Vorbehalte am Schluss des Abschnitts ab V. 10513.
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Das Kapitel kündigt zunächst den Aufweis von Adels-›Tugenden‹ an, die in Wappen zum Ausdruck kämen. 565
Czu adil gehorin toginde vel, Wer ez recht wel haldin, Der ich eyn teil nu nennen wel, Also ez beschribin di aldin.
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Wan eyn iclichir edil man Der furit an syme schilde Eynen vogil, wi der ist getan, Adir eynes tyris bilde.
Aus dem Folgenden wird jedoch klar, dass toginde vel (V. 565) an dieser Stelle nicht in erster Linie moralisch verstanden werden können, auch wenn Rothes vorausgehende Adels-Erörterung auf den Tugendadel abhob. Es geht vielmehr um rechtliche Merkmale des Standes, die das Wappen anzeigt (Gliche wol bezceigit ez daz [. . .], V. 579): grundsätzlich offene Semantisierungsfähigkeit der dargestellten Zeichen und die politische Brisanz von Wappendeutung. Hierzu gehören die Freiheit bezüglich aller Lehensgüter, die Pflicht, das Land zu behüten und ihren Herren Gefolgschaft zu leisten mit eris libes nacke (V. 587), sowie die Freistellung von Zinsen und Abgaben.15 Das trifft genau die Funktion von Wappen, welche der bedeutendste lateinische Wappentheoretiker, Bartolus de Saxo Ferrato, als insignia dignitatis vel officii bezeichnet.16 Welche Signifikanz haben in diesem Rahmen aber die einzelnen Zeichen? Rothe nennt zuerst zwei Kategorien: Vögel und sonstige Tierbilder; diese würden entweder auf eine Tugend des Trägers oder auf seinen Herkunftsort verweisen (V. 576).17 Wilde Tiere bezeichnen Tapferkeit, zahme Sanftmut – eine Tugend, die in der Ritterdidaxe durchaus ihren Ort hat.18 Ferner erwähnt Rothe Fische, die auf ein ganzes Bündel von Qualitäten des Trägers ausgelegt werden, Blumen mit der Bedeutung von ›Ruhm‹ (man denkt sofort an die flores des rhetorisch stilisierten Lobs) und sonstige Pflanzen, Blätter, Kräuter, Früchte als Zeichen von höfischer Bildung und Erziehung (V. 661– 668).19 Als eine andere Kategorie zeichnen sich ab Farben und abstrakte Figuren (z. B. Striche, Rauten). Sie indizieren vor allem den Rang bzw. das Alter des Adels. Beson15
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Gliche wol bezceigit ez, daz / Sy darmete gefriget werdin / Mit allin erin lehin guthin, / Di sy danne fri besitzcin. / Si sullen daz land helffin behutin / Mit erin kreftin und witzcin. / Si sullin nicht mit dem sacke / Dinen also borger und gebuer, / Sundirn mit eris libes nacke / Den herrin folgin, daz werdit en suer. / Von zcinsin und geschoßin / Sint si danne wordin fry, / Er fromikeid han sy genoßin / Daz sy wonen den forstin by (V. 579–592). Osvaldo Cavallar, Susanne Degenring, Julius Kirshner, A Grammar of Signs. Bartolo da Sassoferrato’s Tract on Insignia and Coats of Arms (Studies in Comparative Legal History), Berkeley (CA) 1994, hier Edition, S. 109, Z. 7 f. Keen [Anm. 6], S. 199, nennt aus der Züricher Wappenrolle die von Helmshoven (goldener Helm auf rotem Grund) oder von Affenstein (roter Affe auf silbernem Grund). Die Ritterlehre im ‘Prosalancelot’ [Anm. 4], S. 338 f., spricht von zwei Herzen, einem sanften und einem harten; vgl. Rothe Kap. 8, dazu unten. Auch Thomasin [Anm. 14], V. 10426 f., führt als Wappenzeichen Blumen, speziell Rosen, an.
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dere Bedeutung kommt den Farben zu: Gold und Silber bzw. Gelb und Weiß sollen immer dabei sein; Grün ist nichts wert. Zwei gute Farben seien ehrenvoll, drei jedoch weniger wert. Je mehr Farben, um so schlechter, je weniger Bilder, um so edler das Wappen. Einige Bilder oder Figuren sagen Negatives aus: Sie können als Bastardwappen auf illegitime Abkunft verweisen (so ein Tier mit verhülltem Kopf bzw. verbundenen Augen, V. 625 ff.) oder als Schandwappen moralische Verfehlungen des Trägers anzeigen (auf Verlust des Adels deutet ein langer andersfarbiger Strich durch das Wappenbild, den man verordnet erhält, wenn man ein Verbrechen gegen Reich oder Kirche begangen hat). In einem neuen Anlauf stellt Rothe nach den Wappen die Heerschildordnung dar mit den 7 Adelsständen in der Abfolge Kaiser, König oder Erzbischof, Fürsten, Grafen, Herzöge, Adlige und Rittermäßige, am Schluss der Kette, ohne aktive Lehensfähigkeit20 (V. 677–696). Dabei werden nur die Wappen des Kaisers und des Königs behandelt und die übrigen Stände lediglich genannt. Das Kapitel geht dann über zu den Bedingungen der Aufnahme in den Adel, also zu dem für Rothe wichtigen Konzept einer historisch-dynamischen Ständeordnung mit Auf- und Abstieg. Die Quellen für diesen ausführlichen heraldischen Abschnitt sind nur undeutlich zu fassen; die wichtigsten Hinweise zum Thema finden sich bereits bei Petersen (1909), dem materialreichsten älteren Quellenwerk zum ‘Ritterspiegel’.21 Rothe scheint im Einleitungssatz auf schriftliche Vorlagen anzuspielen: Also ez beschribin di aldin (V. 568). Zu Recht lehnt Petersen mit den aldin eine Berufung auf antike Autoren ab, da diese noch keine heraldische Literatur gekannt haben können. Die Referenz wäre an dieser Stelle aber auch auf die toginde als Adelsqualitäten (V. 565) zu beziehen, also die Signifikate und nicht die heraldische Symbolik, und damit öffnet sich ein weites Feld. Ich gehe kurz auf das heraldische Schrifttum vor Rothe ein, das in den frühen Zeugnissen nur konkrete Wappenbeschreibungen bietet. So enthält das »älteste grössere Schild- oder Wappengedicht Deutschlands« (Liebenau 1880), der ‘Clipearius’ (von clipeus, ‘der Schild’) des Züricher Schulmeisters und Rechtsgelehrten Konrad von Mure,22 das 1232–1273 datiert, aber erst in der Schrift ‘De nobilitate’ seines Züricher Nachfolgers im Amt Felix Hemmerlin23 um die Mitte des 15. Jahrhunderts 20
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Zur Heerschildordnung vgl. Art. ›Heerschild‹ in: Deutsches Rechtswörterbuch, hg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Bd. 5, Weimar 1953–1960, Sp. 530–532; KarlHeinz Spieß, Art. ›Lehn(s)recht, Lehnswesen‹, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG), hg. von Adalbert Erler u. a., Bd. 2, Berlin 1978, hier Sp. 1732 f. Rothe, V. 721–724: Aufnahme in den Heerschild nur über einen Herren bzw. Fürsten, wobei der direkte Herr zustimmen muss. Hier Unterscheidung von aktiver und passiver Lehensfähigkeit. Vgl. V. 1069–72: Schwertleite durch dazu berechtigten Ritter. Julius Petersen, Das Rittertum in der Darstellung des Johannes Rothe, Strassburg 1909 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker 106), S. 95–112. Mir zugänglich nur die Edition: Th. von Liebenau, Conrad’s von Mure Clipearius Teutonicorum, in: Anzeiger für Schweizerische Geschichte 11 (1880), S. 229–243. Latinisierter Name: Malleolus.
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überliefert ist, 74 konkrete, jeweils in zwei gereimte Hexameter gefasste Wappenbeschreibungen. Sie sind im Prinzip hierarchisch angeordnet und reichen vom Römischen König, vom französischen, spanischen und ungarischen König die Rangordnung hinunter bis zu verschiedenen Grafen, wobei auch das Wappen von Tübingen auftaucht (gelbe Fahne auf rotem Grund, lange vor der Eberhardschen Palme).24 Der Herausgeber Liebenau sieht das Gedicht als Lehrmaterial in der Zürcher Stiftsschule an, was einen Vergleichspunkt zu Rothe ergeben könnte; aber Konrads Materialien enthalten eben nur konkrete Beispiele.25 Es lohnt sich nun, auf das bedeutendste Zeugnis einer juristischen Theorie der Heraldik zu blicken, das auch ausdrücklich als das früheste eingeschätzt wird, die Schrift ‘De insigniis et armis’ des italienischen Juristen Bartolus de Saxo Ferrato (1314–57). Der Gelehrte, der zu den wichtigsten Figuren der einflussreichen Jurisprudenz im Italien des 14. Jahrhundert zählt und der auf die Rechtswissenschaft in ganz Europa maßgeblich eingewirkt hat, nimmt in ‘De insigniis et armis’ auf die Verleihung eines eigenen Familienwappens durch Kaiser Karl IV. Bezug, das er sich als Gesandter seiner Stadt Perugia bei Karls Aufenthalt in Pisa 1355 erbat und auch (zusammen mit 2 Titeln) erhielt. Dies könnte der persönliche Anlass für die Abfassung der Schrift gewesen sein, die erst 1358, nach seinem Tod, von seinem Schwiegersohn und Nachfolger auf dem Lehrstuhl in Perugia, Nicolo Alessandri, veröffentlicht wurde. Der Traktat wurde zum ersten Mal 1994 kritisch herausgegeben von Osvaldo Cavallar, Susanne Degenring und Julius Kirshner;26 die Edition ist von einem breiten Untersuchungsteil zum rechtsgeschichtlichen Hintergrund bei den Vorgängern und bei Bartolus selbst wie auch zu der eindrucksvollen Wirkungsgeschichte des Textes begleitet. Wir vergegenwärtigen uns kurz Anlage und Hauptgedanken der Schrift. Bartolus erörtert als erster grundsätzliche Aspekte des Themas. Er behandelt in zwei Hauptabschnitten 1. juristische Fragen über das Recht von Personen oder Sozietäten, bestimmte Wappen zu führen, und 2. die regelkonformen Darstellungen auf Wappen und wie diese auf Gegenständen (Kleidern, Siegeln, Schilden, Bettdecken oder Wänden) anzubringen seien. Sein Begriff von Wappen ist breit und meint allgemein das 24 25
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V. 59 f. Tubingen gilvum vexillum fertur habere / in clipeo, quem pro reliqua parte scio rubere. Keen [Anm. 6], S. 197, setzt an mit dem anglonormannischen ‘De Heraudie’, wohl schon Ende 13. Jh. Vgl. Cavallar et al. [Anm. 16], S. 40 (»about 1300«; »it depicted individual heraldic arms without giving a systematic survey of the field«). Cavallar et al. [Anm. 16] berücksichtigen 23 von über 100 Hss. und zahlreichen Drucken. Textkritisch wird der Anteil von Bartolus selbst und die erweiternde Redaktion seines Schwiegersohns und Nachfolgers im Amt auf dem Lehrstuhl in Perugia Nicola Alessandri unterschieden, der die Schrift herausgab. Das ist für die hier interessierende Rezeption nicht relevant. Cavallar nennt drei alte Drucke (Lyon 1498, Lyon 1535, Venedig 1570/71) und zwei moderne (aber unzulängliche) Editionen (Hauptmann 1883; wichtig Jones in der Sammlung 1943 nach einem Londoner Druck). Die Ausgabe: Bartolo da Sassoferrato, De Insigniis et Armis, hg. von Mario Cigoni. Prefazione di R. Capasso, Florenz 1993, transkribiert ohne Überlieferungsbericht den Druck Venedig 1550 (recte? 1535?) und gibt eine Übersetzung mit Aufschlüsselung der Zitate des Bartolus bei.
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Abzeichen eines bestimmten Ranges oder Amtes.27 Daneben gibt es Privatwappen, die von Adligen, aber auch von Nichtadligen geführt werden, z. B. von Handwerkern, die auf diese Weise ihre Produkte kennzeichnen und deren Qualität garantieren. Im Hintergrund der rechtsgeschichtlichen Ausführungen steht also die Explosion des Wappenwesens in den italienischen Städten. An Rechtsfragen werden z. B. erörtert: Wählt man sich selbst ein Wappen oder wird es verliehen? Kann jemand das Wappen eines anderen übernehmen? Kann man verbieten, dass ein anderer die gleichen Wappen trägt? Gibt es einen Anciennitätsanspruch, kann also jemand, der ein Wappen seit längerer Zeit führt, ein Monopol darauf geltend machen? Für die Berechtigung, ein Wappen zu tragen, ist die Verleihung durch den Fürsten eine wichtige Stütze, wie dies für das Privatwappen des Bartolus zutrifft. Es werden gewisse Verbotsmöglichkeiten aufgezeigt, z. B. bei Handwerkern, Notaren, Rechtsgelehrten, wo die Übernahme eines fremden Zeichens den Betrachter täuschen könnte. Andere Fragen sind: Wie gehen diese Insignien auf Nachfolger über? Dürfen Bastarde das Familienwappen tragen? Wie ist ein Wappen durch Zusätze zu modifizieren? Der zweite Teil der Schrift28 erörtert die Elemente der Wappendarstellungen, die Verwendung der Farben und das unterschiedliche Arrangement der Zeichen auf verschiedenen Gegenständen in ihrem Verwendungszusammenhang. Dominant ist dabei der Aspekt der Hierarchie, es geht um die edlere Figur, die wertvollere Farbe, die bessere Position in einem zusammengesetzten Entwurf. Im Vergleich damit ist der engere Blickwinkel in den Ausführungen des Thüringer Schulmeisters offensichtlich. Die Wappen dienen hier allein der Darstellung adliger Rangabstufungen. Es fehlen entsprechend komplexe juristische Fragestellungen und selbstverständlich auch das kunstgerechte Verfahren, das alle Thesen und Gegenthesen mit Zitaten aus der Fachliteratur belegt. Auf der anderen Seite gibt es Übereinstimmungen im Grundsätzlichen wie im Detail. Dass die Konzeption der Insignien als Darstellung von Rang und Amt bzw. Funktion des Trägers (dignitatis vel officii) der Leistung der Rotheschen Adelsabzeichen entspricht, haben wir bereits registriert. Auch die Einteilung der Wappenzeichen in zwei Kategorien stimmt überein. Bartolus unterscheidet diejenigen, welche sumuntur ex aliqua re existente, ut multi assumunt aliquod animal, vel castrum, vel montem, vel florem, vel aliud simile, von abstrakten Figuren: quandoque ista signa non sumuntur ex aliqua re preexistente sed sunt signa simplicia, scilicet variationes quorundam colorum vel per dimidium, vel per quarteria, vel per aliquas listas rectas vel transversales usw.29 So hebt Rothe die Vögel, Tiere und Pflanzen ab von etwas, Daz nicht lebit uf erdin (V. 577 f.). Neben der Opposition Lebendiges – nicht Lebendes, wozu auch Abbildungen von Unbeseeltem wie Handwerksgerät zählen würden, erstellt er auch einen Gegensatz zwischen bilde und feld, 27
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Circa primum dico, quod quedam sunt insignia dignitatis vel officii, que potest portare quilibet habet illam dignitatem vel officium, ut insignia proconsularia et legatorum [. . .] Cavallar et al. [Anm. 16], S. 109, Z. 7–9. Als Beispiele werden ferner die Wappen des Königs und des Bischofs genannt. Nicola Alessandri zugeschrieben, vgl. Anm. 26. Cavallar et al. [Anm. 16], S. 114, Z. 208–212.
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welcher die Gliederung des Bartolus ziemlich genau wiedergibt.30 Wie Bartolus bespricht Rothe auch das Bastardwappen31 und interessiert sich durchweg für das hierarchische Prinzip, nach welchem bestimmte Wappen oder Wappenteile edler, wertvoller, höherrangig zu sehen sind. Die Differenzen betreffen vor allem die Semiotik einzelner Bilder; bei den Farben weichen die Autoren ab; bei den abstrakten Zeichen sehe ich kaum Berührungspunkte. Die für Rothe wichtige Motivierung der Wahl von Wappenbildern (z. B. V. 575 f.) und ihre Auslegung fehlt bei Bartolus ganz. Ich nehme an, die Bedeutung der Bilder ist dem Rechtsgelehrten zu trivial, er setzt sie als bekannt voraus. Hier wie dort wird als Hintergrund der Ausführungen ein breiterer Wissenshorizont vorausgesetzt. Der italienische Traktat behandelt die Herabsetzung des Wappens (Bastardwappen und Schandwappen) nicht ausdrücklich, Rothe (V. 625–632) kann das Thema nicht aus ihm entnommen haben. Aber der Gebrauch erweiternder Zusätze hat, wie Cavallar et al. ausführen, in Italien praktische Relevanz, die von Ort zu Ort wechselt und Bartolus nicht entgangen sein dürfte.32 Wenn Rothe in der Strophe V. 673–676 für seine Adligen die Bilder von Werkzeugen oder Geräten als Schandwappen einstuft, mag das auf eine spezifische Tradition zurückreichen; andererseits könnte sich dahinter auch die Existenz von Handwerkerwappen verstecken, wie sie der Italiener vom Rechtsstandpunkt her bespricht. Von Interesse ist, dass Rothe an einigen Stellen moralisierende Akzente setzt. Bartolus schweigt sich hier aus, und die heraldische Forschung will diesen Punkt nicht ohne weiteres zulassen.33 So heißt es: Darbi man sal irkennen Di togunt di her an eme had (V. 573 f.); die im Text folgenden Ausführungen zur Rechtsstellung des Adligen könnten hier in einem anders akzentuierten Tugendbegriff (im Sinne von objektiver qualitas, dignitas) aufgehen. Nun referiert Rothe kurz darauf bei wilden und zahmen Tieren auf manheid (V. 638) bzw. senftmutikeid (V. 654); Fische bezeichnen werke rische Senftmutig, retig unde wise (V. 659 f.). Moralische Qualitäten fließen also ein, wie dies bei der ethischen Ausrichtung dieses Lehrwerks naheliegt. Eine moralisierende Deutung von Wappenzeichen wird anderseits durch die oben zitierten älteren 30
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Vgl. Adir eynes Tyris bilde (V. 572); An feldin adir an bildin (V. 596); daz felt ist grune (V. 598); Czu deme felde und czu dem bilde (V. 602); Y mer eyn schilt der varwe hat (V. 609); Y mynner bilde do habin stad (V. 611); Der bunt ist felt do sunderlich, Daz andir zcu bilde brenge (V. 615 f.); Vele edelir ist eyn guldin feld Danne eyn guldin bilde (V. 641 f.); Furit her felt in feldin Gestuckilt adir gestriffit (V. 669 f.). Unter bilde wird also eine naturnachahmende Darstellung verstanden, feld bezeichnet unabhängig davon den Hintergrund oder die Aufteilung der Fläche in unterschiedliche Zonen bzw. Plätze, die teils ohne Bild bleiben. Cavallar et al. [Anm. 16], S. 112, Z. 145 ff.; ‘Ritterspiegel’, V. 621–628. Cavallar et al. [Anm. 16], S. 66 f. Frenz [Anm. 6], Sp. 2144: »Die heraldischen Tiere haben keine symbol. oder emblemat. Bedeutung, auch wenn ihnen in den Wappenfabeln häufig eine solche zugelegt wird.« Vgl. Petersen [Anm. 21], S. 103: »Diese laienhafte Ausdeutung ist noch späteren Jahrhunderten nicht fremd.« Differenzierter Hartmann, ‘Krone’ [Anm. 9], S. 44, 51 f., der beim Roman natürlich auf die fiktiv-funktionale Verwendung von Wappen abhebt.
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heraldischen Belege in Roman und Didaxe wie die laudativ orientierte Heroldsdichtung gestützt. Gerade vor diesem Hintergrund fällt auf, dass Rothe in seinem Wappenkapitel den Hauptakzent anders setzt und überwiegend auf die Darstellung eines Rechtsstatus bzw. eines auf Grund von Taten öffentlich anerkannten gesellschaftlichen Ranges abhebt.34 Wie man sieht, ist die Quellenlage im Einzelnen diffizil. Zwar ist die Benützung des Traktats durch Rothe weder durch namentliche Zitierung noch durch eine längere wörtliche Parallelstelle zu stützen. Dagegen stimmen Grundzüge und Details von Rothes singulärer Wappenlehre mit beiden Teilen des Bartolus-Traktates so eng überein, dass man – wie dies schon Petersen erwog35 – davon ausgehen kann, dass der Thüringer das bahnbrechende Werk des italienischen Juristen kannte. Die europäische Rezeption des Bartolus lässt dies möglich erscheinen, auch für den mitteldeutschen Raum. Schließlich kann eine niederdeutsche Teilübersetzung von ‘De insigniis’ aus der Mitte des 15. Jahrhunderts die Kenntnis des Traktats und das Interesse an diesem stützen.36 Rothe verschiebt das Thema auf die trivialere Ebene der Symbolik der Bilder und lässt Moralisierungen zu, er deutet einen ritterlichen Tugendkanon mit harten und weichen Tugenden und höfischen Anstandswerten an, er bezieht Mündliches und womöglich Lokales37 ein, lässt aber gegenüber der juristischen Schrift keine prinzipielle Neuorientierung erkennen. Die Bemerkung zu Beginn des Kapitels, Also ez beschrebin die aldin (V. 568), wäre so als Verweis auf schriftlich Tradiertes zu lesen und könnte sich so zwar nicht auf Bartolus allein, aber auf diesen und sein reiches älteres Belegcorpus beziehen. Fasst man indes beschrebin als Hinweis auf die konkrete Blasonierkunst, die der Didaktiker durch Alter sanktioniert, verschiebt sich die Berufung in den praktischen Bereich und könnte dabei auch die mündlich tradierte Kunstpraxis erfassen. Die Behandlung des 4. Kapitels konnte an einem Sonderfall die Komplexität der im Text so schlicht und etwas holprig daherkommenden Lehrinhalte des Rotheschen ‘Ritterspiegels’ illustrieren. Nicht viel anders steht es bei den Privilegien, die nun ausdrücklich auf den Ritterstand zugeschnitten sind. 1065
Zcu der ritterschaft gehorin Sibin erliche bisundirn vorteil, Dy den rittern von rechte gebörin. Di wel ich uch bedutin eyn teil.
Das bedutin gibt im Folgenden Anlass zu traktatartigen Ausführungen, die für jedes Privileg ein Kapitel füllen und bei denen Johannes Rothe verschiedene Methoden der Bedeutungserschließung durchspielt. 34 35 36
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Bes. V. 659–668. Petersen [Anm. 21], S. 100. Sie stammt von dem Lüneburger Stadtschreiber (1443–1454) Marquard Mildehovet und ist in einer Handschrift der Lüneburger Ratsbibliothek überliefert. Vgl. Ingeborg Buchholz-Johanek, Art. ›Mildehovet‹, in: 2VL 6 (1987), Sp. 518–522; zur Bartolus-Übersetzung Sp. 521. Erwägungen Petersens [Anm. 21], aber nicht stringent.
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1. Zum Recht des Ritters auf die Führung des Schwertes (Kap. 7): Die Verleihung des Schwertes an den Knappen erfolgt nach Rothe durch ein Ritual, an dem mehrere Standesvertreter mitwirken. Zuerst erteilt ein dazu berechtigter Ritter den Ritterschlag (V. 1069–72), dann segnet ein Priester das Schwert und die übrige Ausrüstung (V. 833, V. 1073) und übergibt alles dem Kandidaten (V. 1077 f.). Aus diesem Ritual und den Verpflichtungen, die der junge Ritter in seinem Eid zusichert, wickelt das Kapitel die wichtigsten Elemente einer miles-christianus-Lehre mit stark geistlicher Akzentuierung heraus. An den christlichen Charakter seiner Waffenführung wird der Ritter durch die Kreuzform des Schwertgriffes erinnert,38 was man auch als episches Motiv kennt.39 Die Inhalte des Kapitels werden dann durch lehrhafte Amplifikation anhand von Autoritätenzitaten, Bibelstellen und sonstigen Wissenskomplexen entwickelt. Das Kapitel ›zerfällt‹ dabei buchstäblich in zwei Teile. a) Die geistlich orientierte miles-christianus-Lehre setzt ein mit einem AugustinusZitat aus ‘De civitate Dei’, nach welchem der Ritter die Gnade Gottes durch die Konformität mit dem Recht und die persönliche Haltung der Demut gewinnen soll. Die notwendige Ergebung in den Willen Gottes illustriert der Kampf der Israeliten gegen Gibea, der im Anschluss an die Vergewaltigung des Kebsweibes eines Leviten geführt wird.40 Obwohl dieser Kampf von vornherein rechtmäßig ist, verhindert hier zunächst die Hoffart den Sieg. Dann werden die drei ›besten Ritter‹ des Alten Testaments vorgestellt (David als Sieger über Goliath, Josua und Judas Maccabäus).41 Aus dem Neuen Testament wird die viel zitierte Stelle Lucas 3,14 besprochen, aus der die Berechtigung des Christen zum Kriegsdienst abgeleitet wurde. Johannes der Täufer sagt hier zu den Soldaten: neminem concutiatis, nullique calumniam faciatis, contenti estote stipendiis vestris (‘Begehet gegen niemand Gewalttat noch Erpressung und begnüget euch mit eurem Solde!’).42
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Si soldin nymandin vorterbin, Der en nicht obilz hette getan An libe, an gute adir an erbin, Her were danne eyn ungloubigir man.
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Si soldin en laßin gnugin An erin zcinsin und gefellin Und frede den armen luthin fugin Und keyne gewalt obir si stellin [. . .].43
Zum Rittertum als Gottesdienst und Schutz der Schwachen vgl. die Strophe V. 1080–84; zur Kreuzform des Schwertgriffs die folgende Strophe V. 1085–88. Dieser soll ihm bewusst machen, Daz her sal opphirn dorch Cristum sich (V. 1088). Z. B. bei Wirnt von Grafenberg, Wigalois, hg. von J. M. N. Kapteyn, Bonn 1926, V. 6517. Richter 19,25. Zu den Repräsentanten des Rittertums im Alten Testament usw. vgl. Arentzen und Ruberg [Anm. 3], S. 7 f. mit Lit. Die Heilige Schrift des Alten und des Neuen Testamentes [Zürcher Bibel], Zürich 1966, NT, S. 79. Übersetzung: ‘Sie sollten niemanden zugrunde richten, der ihnen nichts Schlechtes getan hat
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Rothes Ausführungen laufen dabei auf Schritt und Tritt auf die Kernpunkte der augustinisch-thomistischen Lehre vom bellum iustum zu, als da sind die causa iusta und die recta intentio, welche als Motive superbia oder avaritia (Hoffahrt oder Besitzgier) ausschließt. Für ein weiteres Kriterium, die auctoritas principis, hat Rothe hier keinen Platz. Nach der gedehnten Kommentierung von Lc 3,14 (ab V. 1169) und zwei sehr unspezifischen Zitaten aus Augustinus und Cassiodor, die das Recht des Christen auf Kriegsführung bestätigen, ändert sich plötzlich das Thema. b) Der Bruch nach V. 1216 könnte krasser nicht sein: Es geht jetzt um das notwendige Kampftraining mit dem Schwert, das vor dem Ernstfall einsetzen muss, also um rein praktische Anweisungen, die mit dem Recht auf das Führen des Schwertes verbunden sind. Das Kapitel schließt mit einem Rückblick auf den Schwertgriff in Kreuzform und die Empfehlung eines Meisters Alfocius, beim Beginn von »allen Dingen« immer das Kreuzzeichen zu schlagen. Die Anweisungen des Didaktikers verteilen sich selten in dieser Deutlichkeit auf die Sphären der christlichen Lebensorientierung (mit handfest rechtlichen Konsequenzen) und rein säkulare Ratschläge. Diese Doppelgleisigkeit bestimmt auch die folgenden Kapitel, die methodisch verschiedene Wege gehen. 2. Die Behandlung des Ring-Privilegs (Kap. 8) bedient sich nun – anders als der vorausgehende Abschnitt – der klassischen allegorischen Auslegung. Der Ring ist rund, heißt es, und das bezeichne die Treue, der auf den Ring montierte Stein hingegen den Glauben. Geistliche und weltliche Lehre werden nun weitgehend auf diese beiden Elemente und die von ihnen repräsentierten Werte aufgebaut. Eine Exegese der Qualitäten des Steines (er ist 1. edel und wertvoll, 2. durchscheinend, 3. fest und 4. unverbrennbar) erläutert so Eigenschaften des Glaubens; die Qualitätenexegese quert auch ein Augustinuszitat und strebt auf die Ketzer- und Heidenbekämpfung durch Kleriker und Ritter zu. Das bringt Rothe auf folgende Weise fertig: 1301
Keyn ding daz weichit also swinde Dez cristingloubin festikeid, Also daz her stetin frede vinde Und von den ketzcern nicht lide leid
1305
Adir von den snodin heidin, Di en stetlichin vechtin an.
Die Festigkeit des Glaubens muss sich also in einem bellum perpetuum gegen die Ketzer und Heiden ständig neu bewähren; in einem dauerhaften Frieden würde sie erschlaffen. Die hier angedeutete Verteilung der ständischen Pflichten auf Kleriker und Ritter wird dann durch ein Chrysostomus-Zitat vertieft. Im Hintergrund dieser Dichotomie erscheint die Dyade von oratores und bellatores.44 Die Dyade wird nun
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an Leib, Gut oder an dem Erbe [d. h. Gegenwehr ist grundsätzlich erlaubt], es sei denn, er sei ein Ungläubiger [d. h. Glaubenskrieg ist grundsätzlich erlaubt und rechtfertigt vernichtende Sanktionen]. Sie sollten sich zufrieden geben mit ihren Zinsen und Abgaben und den Armen den Frieden sichern und sie keiner Gewalt aussetzen [. . .].’ Zur den mittelalterlichen Ständekonzepten zusammenfassend mit Literatur Arentzen und Ruberg [Anm. 3], S. 8–10.
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aber auch auf Teile des signifikanten Standessymbols, nämlich Ring und Stein, zurückprojiziert, welche auf die Ritter und die noch edleren Kleriker verweisen. Hier wieder ein Schnitt! Ein säkularer Auslegungsstrang setzt ein: 1337
Daz golt dez menschin herzce sterkit, Spricht der meistir arczt Avicenna. Daz ez große ding von naturin werkit, Dez ritters fingir sal ez enpha.
1341
Darum ez der goltfingir tregit, Wan sin adir zcu dem herzcin gehit. Dez herzcin kraft ez bewegit, Daz der puls mechticlichin slehit.45
Mit dieser medizinisch-physikalischen Theorie von einem Kurzschluss RingfingerHerz lässt sich die stärkende Wirkung des Goldes auch auf das, was es symbolisiert – die Treue – quasi naturkundlich übertragen. Ein zweiter Kursus durch die Qualitätenauslegung des Edelsteins deckt nun Merkmale der Treue auf (V. 1362 ff.). Zur Härte des Steines gesellt sich jetzt aber die Weichheit des Goldes, welche die uns bereits geläufige weiche Seite des Ritters einbezieht, die sich vor allem im Umgang mit seinen Gefolgsleuten bewährt und die wechselseitige Treue stärkt. Das stellt sich praxisnah und farbig dar, greift aber auch da auf vorformuliertes Bildungswissen zurück: 1373
Wer den sinen ist zcu herte Und ungudlich zcu allir zcid, Der had an eme eyn bose geferte, Sin adil in deme drecke lid.
1377
Der ritter sal nicht eyn lewe sy Kegin syme huezgesinde,46 Di em nacht und tag wonen by, Her muchte sy ungetruwe vinde.
1381
Her sal sy ouch nicht zcu zcertlich zcihe, Si muchtin sich daruf laße Und sine undirtenikeid flihe. Her rame der rechtin maße.
Mit der Treueverpflichtung des Hausherrn zu seinen Hausgenossen sind so auch Tugenden des rechten Maßes und der Weisheit verknüpft, die in der Rotheschen Werte-Verteilung ganz im säkularen Raum bleiben. Die Ringexegese argumentiert also in völlig unterschiedlichen Bahnen: öffentlich rechtlich, moralisch, aber auch naturkundlich. Sie formuliert in ihrem doppelten Auslegungsanlauf 1. das Postulat 45
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Übersetzung: ‘Das Gold stärkt des Menschen Herz, sagt der gelehrte Arzt Avicenna. Damit es große Dinge durch seine Natur bewirkt, soll es der Finger des Ritters empfangen. Deshalb trägt es der Goldfinger, denn seine Ader geht zum Herzen. Es setzt des Herzens Kraft in Bewegung, so dass der Puls mächtig schlägt.’ Nach Sirach 4,35: Noli esse sicut leo in domo tua, evertens domesticos tuos, et opprimens subjectos tibi.
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der Treue nach außen: Sie verbindet den Ritter mit den Vertretern anderer Stände, sie ordnet ihn in die christliche Gemeinschaft insgesamt ein und visiert auch die Beziehungen darüber hinaus an. 2. wirkt sie verpflichtend nach innen in den Bereich der herrschaftlichen familia hinein. Damit liegt auch schon das Thema des dritten Privilegs auf dem Tisch. 3. Das Recht auf einen den Ritter begleitenden Knecht wird bereits bei der Schwertleite erwähnt (V. 854–856). Es hat seine bewaffnungstechnische Seite, denn der Ritter kann ja ohne fremde Hilfe nicht in seine Rüstung schlüpfen. Eine standesgemäße ältere oder jüngere Begleitung gehört auch zum Personal der Erzählliteratur, wo ohne diese Rolle die an der zeitgenössischen Adelsrealität orientierte Handlungsführung undenkbar wäre. In der Ausdeutung steuert dieses Privileg indes auf grundlegende anthropologische Kategorien zu, die hierarchische Strukturen beschreiben. Nach Aristoteles stellt Rothe das Verhältnis von Leib und Seele, Körper und Geist dar (die Termini wechseln). Der Körper erscheint analog der Frau dem Geist als männlichem Teil unterlegen und muss diesem Gehorsam leisten. Nur in diesem Herrschaftsverhältnis kann der Adel der Person Bestand haben: Der Geist adelt den Körper, und der Adel der Gesinnung bestätigt den leiblichen Adel. Diese Hierarchie wird aber nun, bezogen auf den Ritter, nach verschiedenen Richtungen hin ausgeführt. Einerseits bedeutet sie, dass er sich selbst unterzuordnen habe. Notwendig ist seine Ausrichtung am Standeskollektiv und an den diese Gemeinschaft lenkenden Werten, denen er unter Einsatz seines Lebens treu bleiben muss. 1441
Wan di ediln sint vorbundin von nod. Er danne sy tretin von frömikeit, Sy gingin vil er in erin tod Adir ledin darumme gar großis leid.
Die Ausrichtung an dem Ideal erfolgt in persönlicher Nachfolge: Eyn edeler den ediln folgin mucz / Mit tögindin und mit sethin (V. 1445 f.). Das gilt auch für die Generationenfolge, wo sich das Kind an den edlen Sitten der Vorfahren ausrichtet. Benehmen, guter Ton, Gelehrtheit gehören in dieses Feld. Rothe stellt das wie an anderen Stellen auch hier in die Perspektive des sozialen Aufstiegs oder Abstiegs (V. 1481 ff.). Der Adlige muss sich also unterordnen; wo er nicht der Tugend folgt, macht er sich – nach einem Hieronymus-Zitat (V. 1525 ff.) – zum Knecht des Teufels und der Untugend. Anderseits hat er seinen Diener. Der Begleiter des Ritters ist nicht nur zum Gehorsam verpflichtet, es wird ihm auch die Aufgabe zugewiesen, auf seinen Herrn aufzupassen: 1553
Czu dem mynstin habe her eynen knecht, Der sin stetlichin warte, Uf daz her toginthaftig si und gerecht Und in zcucht sich halde harte,
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Sich hute vor der trunkinheit, Dez sal en sin knecht vormane, Czu togindin und zcu barmeherzcikeid, Do lit alle sin adil sere ane.
Der Knecht vertritt so die hierarchisch-soziale Verpflichtung seines Herrn. Er überwacht die standesgemäße, verantwortliche Führung des Schwerts. Der Ritter darf bei seinem Aufzug mit dem Knecht – das schließt der Text hier an – sein Schwert nicht allein tragen, er soll es sich von diesem hinterher tragen lassen, dadurch unterscheidet er sich von einem ›Büttel‹ (einem Scharfrichter als einem bloß ausführenden Organ, V. 1561–1564). Er darf seinen Knecht nicht verletzen oder betrügen und ihn nicht in Armut leben lassen. Diese Wendung ist bemerkenswert. Herrschaft und Dienst werden in dieser Auslegung nicht einfach auf den Adligen und seinen Diener verteilt und ständisch zementiert. Beide sind in verteilten Rollen demselben Standescodex verpflichtet; so ist die Wendung möglich, der Ritter solle den begleitenden Knecht wie den höheren Teil seines Selbst lieben: Der sal dir also din sele lieb sy (V. 1576). Man kann dem Verfasser in diesem Kapitel eine Methode bescheinigen, die nicht nur Punkt für Punkt Aspekte aufsammelt und zu einem bunten Bild kompiliert, sondern einen Grundgedanken differenziert entwickelt. Die soziale Institution des Knechts wird abstrahierend auf ein Konzept von hierarchisch geordneten Funktionen in den Personenbeziehungen zurückgeführt. Ausgehend von der Leib-SeeleHierarchie wird ein Modell der Sozialhierarchie entwickelt, das die Bindung der Einzelpersonen an das Standeskollektiv aufzeigt. Dabei wird, zumindest im abstrakten Modell, dem tieferen Stand Kontroll- und Korrektivfunktion gegenüber dem höheren zuerkannt. Diese Gedankengänge sind der volkssprachlichen Ständedidaxe geläufig.47 Wie weit hier auch gelehrte denkgeschichtliche Ansätze einwirken, wäre zu eruieren. Jedenfalls entspricht es diesem Konzept, wenn an anderer Stelle die Möglichkeit, gegen den Herrn zu klagen, mit allen Einschränkungen und Komplikationen, rechtlich erwogen wird.48 Ein Resümee zum Umgang Rothes mit ritterlicher Standessymbolik ist, wie aus den Ausführungen deutlich wird, nur über mühsame Detailanalysen von Materialien zu gewinnen, deren Hintergründe häufig noch nicht zureichend erhellt sind. Wir können hier festhalten: – Die von Rothe genannten Standessymbole beruhen auf gesellschaftlichen Institutionen, deren schriftlicher Nachweis wie bei den Wappen bzw. Insignien (oder dem Ring bei der Schwertleite) oft nur undeutlich zu fassen ist, die aber zweifellos auf langfristiger gesellschaftlicher Praxis basieren. 47
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Ein Beispiel: Im Buch IX des ‘Wälschen Gastes’ zum Thema ›Recht‹ erzählt Thomasin von Zerclære [Anm. 14], V. 12385–410, folgendes Tier-Exempel: Man pflege einem Löwen stets einen Hund mitzuführen. Wenn der Löwe Unrecht tue, strafe man den Hund. Dieser Vorgang wird nun in der Auslegung nicht auf das Verhältnis des Herrn zu seinen Untergebenen bezogen, es wird vielmehr Gott als Instanz eingeführt, welcher der Herr seinerseits verpflichtet ist und dessen Gericht er zu fürchten habe. Wenn Gott den Bösen strafe, solle der Herr daraus schließen, dass er beim Verstoß gegen das Recht selbst nicht ungestraft bleibe. Kap. 14, V. 2393–2400.
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– Die äußeren Abzeichen demonstrieren öffentlich Rechtsansprüche, verbunden mit für das Mitglied des Standes verpflichtenden Werten. Bei der Sinnerschließung des Standessymbols kann man von einer Konzeptarbeit ausgehen, die sich historisch entfaltet, anderseits an Kontinuitäten von langer Dauer gebunden bleibt. Die Dimension historischen Wandels macht sich wie die Bindung an das Überlieferte bei Rothes relativ später Ritterlehre bemerkbar. – Als Didaktiker betreibt Rothe die Auslegung der Standesabzeichen mit unterschiedlichen literarischen Verfahren, die teils getrennt eingesetzt, teils vermischt werden. Hierin zeigt er sich bei der Auswertung der Privilegien sehr flexibel. Bald arbeitet er mit Deutungskatalogen und nur teilweise begründbaren Setzungen (besonders im Wappenkapitel), bald nützt er allegorische Methoden mit ihrem Multiplikationspotential (besonders beim Ring), bald strebt er gedankliche Abstraktion und eine Art Lehrgebäude mit terminologischem Rückgrat an (besonders beim Schwert mit der bellum iustum-Lehre und beim Knecht). – Die Auslegungsinhalte und -ziele erfassen teils praktische Themen wie das Zusammenleben der Hausgenossen. Das Kapitel 13 zum Händewaschen, das mit dem Stichwort ›Reinheit‹ spezifisch auf Rechtskonformität ausgerichtet wird, enthält lange Listen juristischer Einzelbestimmungen aus dem Erb- und Zinsrecht. Außerdem vermittelt der ‘Ritterspiegel’ geistliche oder auch dezidiert säkulare Wertvorstellungen, die abrupt abwechseln. Die säkularen Tugenden werden gern in Gegensätzen präsentiert, etwa die harte Seite des Ritters neben der weichen. So laufen sie auf die Notwendigkeit des rechten Maßes nach der aristotelischen meso´tes zu (breite Ausführung im Kapitel 11 zum bunten Kleid, wo gegenüber der notwendigen Buntheit die einheitliche Voraussetzung für Tugend den meisten Raum beansprucht). Maß und immer wieder Weisheit, auch in der Form von gelehrter Bildung, stehen im Fluchtpunkt der weltlichen Werte. Rothes Standeslehre bietet so alles andere als eine einheitliche Systematik. Sie führt verschiedene Kategorien der Wertorientierung nebeneinander her und springt innerhalb eines Themas von der einen zur anderen Ebene. Dies dürfte nicht nur dem Streben nach Abwechslung und lehrhafter Vielfalt geschuldet sein, sondern darüber hinaus die Ausdifferenzierung von weitgehend unverbunden koexistierenden Lebensordnungen signalisieren.
Variatio delectat – delectat variatio? Beobachtungen an autographischen Übersetzungen des Kartäusers Heinrich Haller von Erika Bauer
Die auf Euripides zurückgehende Wendung, die von Cicero in der Form varietas delectat überliefert ist, soll in dem vorliegenden Beitrag auf die Textphilologie angewendet werden. Der Text, um den es im Folgenden vor allem geht, sind die sogenannten ‘Hieronymus-Briefe’.1 Im ersten, kürzeren Teil des Beitrags werden Schreibvariationen behandelt; diese sind teils schreibtechnisch bedingt, teils sind sie nur mit Hallers Lust am Fabulieren zu erklären oder Ausdruck seiner Auffassung, wie man übersetzen sollte. Im zweiten Teil geht es um das ›Konzept‹ und seine Stellung im Verhältnis zur Reinschrift, d. h. um die Frage, ob dieses Autograph wirklich vor oder vielleicht doch erst nach der Reinschrift entstanden sein könnte. Dabei kommen nicht nur philologische Gründe zum Tragen. Die Briefe werden drei fiktiven Verfassern, Eusebius, Augustinus und Cyrillus, zugeschrieben und waren im Mittelalter weit verbreitet.2 Herangezogen werden die zwei Innsbrucker Autographe Hallers, ULB Cod. 773 (bzw. die Edition 1984), die Reinschrift (I), und Museum Ferdinandeum Cod. 1065, das ›Konzept‹ (F), außerdem am Rande Wien ÖNB Cod. 12460 (W), die Abschrift von I. In der Edition der ‘Hieronymus-Briefe’ wurde das Verhältnis der drei Handschriften zueinander (nach der damaligen Auffassung) ausführlich dargestellt.3 Beginnen wir mit der einfachen Variation. Allein im ‘Hieronymus’ erscheinen die 58 Formen des Singulars von ‘parmherzikhait’ in fünf verschiedenen Schreibweisen.4 Hinzu kommen weitere Fälle freier Variation wie: Wetlehem (21 Belege) zeigt fünf verschiedene Schreibweisen weihpischolf(en) (drei Belege) drei Schreibweisen
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Heinrich Hallers Übersetzung der ‘Hieronymus-Briefe’, hg. von Erika Bauer, Heidelberg 1984. Der Qualitätsunterschied zwischen dem Eusebius-Brief und den beiden anderen Briefen wurde von der früheren Forschung nicht erkannt. Er kommt auch in F zum Ausdruck: Der Eusebius-Brief ist gründlich be- und überarbeitet worden, die Änderungen in den beiden anderen Briefen sind zahlenmäßig viel geringer und betreffen eher formale Dinge. Vgl. ‘Hieronymus’ [Anm. 1], S. 41*–48*. Ich wähle dieses Beispiel, weil mir zwischen I 29,16 und 30,1 (19 Belege) die Schreibvariation in den Formen von ‘parmherzig/parmherzikhait’ zum ersten Mal aufgefallen war; dabei wechselt die Schreibung zwischen c und cz. Vgl. ‘Hieronymus’ [Anm. 1], S. 61*.
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‘trunkenhait’5 (7 Belege) drei Schreibweisen *chmech (13 Belege) drei Schreibweisen ‘jungfrauenschaft’ (4 Belege) drei Schreibweisen verziehen (11 Belege) vier Schreibweisen erkent Part. Prät. (5 Belege) vier Schreibweisen.
Schreibtechnisch bedingte Variationen wie Formen über der Zeile (bürt) oder auf Rasur (römerr) sind im ‘Hieronymus’ bei den Korrekturen in der Reinschrift aufgelistet,6 so dass ich auf erneute Wiedergabe an dieser Stelle verzichten kann. Als nächstes nenne ich Variation nahe beieinander stehender Wörter7 und lexikalische Variation. 1. Benachbarte Wörter 19,36 hoffart / hoffhart 31,11 gebe*en / gewe*en 37,31/33 leben / le¨ben 6 mal 43,18/19 gemacht / gemachet 79,42/43 haiden / hay¨den 117,21/22 teüfl / tiefl
2. Lexikalische Variation8 16,22/23 pass. lieb / minn 24,38 pass. sich an / nim war 50,26/27 pass. chrankhen / *iechen 79,8/10 weiczen / fegfeür 109,30/31 e / chan*chaft
Was das Nebeneinander von nicht und nit betrifft, so konnten weder dialektale, sprachhistorische noch sonstige Gründe dafür gefunden werden. Allerdings hat Bechstein bereits 18679 bei dieser und ähnlichen Erscheinungen eine »kalligraphische Rücksicht«, von mir schreibtechnische Variation genannt, dafür verantwortlich gemacht.10 Die Überprüfung der 22 Belege von nit im ‘Hieronymus’ ergab, dass die Kurzform am Ende einer Zeile steht, wenn für das längere nicht kein Platz war. Nur viermal steht nit innerhalb der Zeile, davon je einmal im Wechsel mit nicht (Variation!) und über der Zeile, Letzteres also auch aus Platzgründen.11 Die formale Variation setzt Haller während seiner ganzen Schreibtätigkeit fort. Ich gebe einige Beispiele aus seiner letzten Übersetzung, dem ‘Paternoster’,12 in Innsbruck ULB Cod. 626 von 1471: 5 6 7 8 9
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Grundformen in Häkchen sind künstlich gebildet. ‘Hieronymus’ [Anm. 1], S. 73*–81*. Zu diesen Abweichungen von der ›Normalform‹ vgl. ebd., S. 61*. Vgl. ebd., S. 62*. Reinhold Bechstein, Des Matthias von Beheim Evangelienbuch 1343, Leipzig 1867, Neudruck Amsterdam 1966, S. LXV f. Bei seinen Beispielen führt er auch ‘nicht’ in dem Nebeneinander von niht / nicht an. In den übrigen autographischen Texten ist das Bild ähnlich, nur dass nit dort häufig über der Zeile steht. Godefridus Herilacensis, Expositio super orationem dominicam in der Übersetzung Heinrich Hallers, hg. von Erika Bauer, Salzburg 2008 (Analecta Cartusiana 263).
Variatio delectat – delectat variatio?
14,8 43,8 49,15 54,25 55,23
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an dem pfhing*ttage – 14,12 an dem pfhing*ttag vnd der weltleichen eren vnd wollü*te – 43.9 die himli*chen gueter vnd wolü*t das pedeuten die fue**e: – 49,16 die fue** die *int den hoffertigen – Die hoffartigen *o mues wir – 25 vnd mü e**en
Als Variation in einem erweiterten Sinn sind auch Hallers Textumstellungen zu sehen, wie die Vertauschung der beiden Predigten zur Eucharistie und zur Passion: Innsbruck ULB Cod. 438 fol. 281va−284ra über Dt 30,15 zum Gründonnerstag und fol. 292ra−294va über 1 Pt 2,1 zum Karfreitag. In Hallers Übersetzung schließt die letztere unmittelbar an die Passionsgeschichte an.13 Dadurch wird die chronologische Abfolge Gründonnerstag-Karfreitag umgekehrt, was Haller offensichtlich nicht gestört hat. Bei der Übersetzung von Bibelzitaten legt Haller in Respekt vor dem verbum sanctum besondere Sorgfalt an den Tag, gleichwohl kann er auch die Vorlage variieren, wie die folgenden Belege zeigen: terra gibt Haller generell als ertreich wieder, nur in Bibelzitaten schreibt er erde(n), z. B. Mt 6,10 als in dem himel vnd auf der erden (insgesamt 16 Belege). Der Bibeltext wird ergänzt in Mt 8,20 vulpes foveas habent et volucres caeli nidos – [. . .] löcher, darein *i ire junge *int legen. Diese Ergänzung erscheint in allen Haller-Texten nur zweimal, und zwar in der ‘Passion’, S. 124,28 und S. 141,19. Die bisherigen Ausführungen lassen sich so zusammenfassen, dass Haller das Stilmittel der variatio auf verschiedene Arten genutzt hat. Dies muss ihm offensichtlich auch delectatio bereitet haben, denn eine sachliche Notwendigkeit für die Änderungen ist nicht immer auszumachen. Vielleicht dürfen wir darin auch ein unscheinbares Zeichen von Hallers Gestaltungswillen sehen; er hat uns ja sechs Bände autographer Übersetzungen in einer Sprache hinterlassen, von der er selbst als von ainer *chle¨chten gemainen teücz spricht und die durch ihre Einfachheit in Ausdruck und Form besticht. Abschließend sei noch einmal darauf hingewiesen, dass die vielfältige Schreibvariation von einer einzigen Person verursacht wurde. Dabei erweist sich die autographe Überlieferung, die auch im schreibfreudigen 15. Jahrhundert nicht allzu häufig ist, für die Forschung als Vorteil. Denn bei breiterer Streuung der Überlieferung hätten die Unterschiede zu Fehldeutungen führen können. Der zweite Teil meines Beitrags ist in der Tat eine Frage, genauer eine rhetorische Frage, wie unten deutlich wird. Letzten Endes geht es um die Person Heinrich Haller, konkret um die beiden Autographe, die Reinschrift und das ›Konzept‹, deren Verhältnis zueinander erneut in Augenschein genommen werden soll. Ziel dabei ist es zu prüfen, ob das ›Konzept‹ nicht, wie bisher angenommen wurde, der Reinschrift vorausgeht, sondern ihr nachfolgt, also vielleicht eine Abschrift von I ist. Auf den 13
Vgl. Iacobus de Paradiso, ‘Passio Christi’, übersetzt von Heinrich Haller, hg. von Erika Bauer, Salzburg 2005 (Analecta Cartusiana 136), S. 135–149.
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ersten Blick und tatsächlich zeigt der fragliche Text (F) größere Nähe zum Lateinischen, er ist einfacher in der graphischen Gestaltung und insgesamt kompakter. Der andere Text (I) ist reicher ausgeformt, ausführlicher und flüssiger. Was lag da näher, als den ersteren für die Rohübersetzung, das ›Konzept‹, zu halten und den zweiten für die darauf basierende Reinschrift? Dieser philologische Befund ließ sich durchaus auch belegen und wurde entsprechend dargestellt.14 In einem aufwendigen Verfahren habe ich die Unterschiede zwischen Reinschrift und ›Konzept‹ erfasst und ausgewertet. Insgesamt ergaben sich 8220 Unterschiede oder in je 100 Zeilen über 70 Änderungen. Die Abweichungen reichen von morphologischen Varianten bis zu ganzen Sätzen. Die Unterschiede habe ich nach den vier Änderungskategorien, adiectio, detractio, transmutatio und immutatio, wie sie in der Rhetorik verwendet werden, geordnet. Für die Abweichungen in F möchte ich die adiectiones heranziehen,15 die bei dem Vergleich der beiden Handschriften jetzt als detractiones zu sehen sind; sie vermitteln ein anschauliches Bild der Kürzungen.
Ehe wir uns auf die Suche nach Argumenten für die neue These begeben, müssen wir etwas weiter ausholen. Beschäftigen wir uns zunächst mit der Kartause Allerengelberg in Schnals im Spannungsfeld von literarischer Tätigkeit und Ordensvorschriften, mit Prior Friedrich und Heinrich Haller, mit den Visitationen im Auftrag der Ordensleitung, mit den kodikologischen Besonderheiten der Haller-Autographe, mit Datierungsfragen und am Rande mit der Entstehung der Wiener Abschrift W von Hallers Reinschrift I. Das Hauptinteresse ist indes auf Cod. F gerichtet und auf die Frage, wann Haller diese Handschrift geschrieben hat. 1. Die Bedeutung der Kartause Schnals16 und die »höchste Blüte« ihrer Bibliothek17 während knapp zehn Jahren sind eng mit den Namen des Priors Friedrich und des Übersetzers prueder Hainrich Haller verknüpft. Der Schnalser Prior Friedrich, als Bücherfreund und Förderer Hallers ausgewiesen, hat z. B. 1469 in Erfurt Bücher für Schnals gekauft, die für die Übersetzung vorgesehen waren. 2. Aufgrund der abgeschiedenen Lage der Kartause Schnals wurden die in den Statuten vorgesehenen jährlichen Visitationen nicht regelmäßig durchgeführt. Für 1469 wurde indes eine solche angekündigt, die allerdings erst im folgenden Jahr stattfand. Allein die Ankündigung scheint ihre Wirkung nicht verfehlt zu haben. Von besonderem Gewicht war die Visitation von 1473. Bei dieser Gelegenheit wurde das Leben in der Kartause neu geordnet: Nach den Generalkapitelsakten wurden neben der turnusmäßigen (in praxi lückenhaften) Visitation zusätzliche Visi14
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Vgl. Erika Bauer, Wortwahl und Wortvariation in Heinrich Hallers ‘Hieronymus’, Heidelberg 1984, ab S. 70. Als umfangreichste Kategorie mit über 45% der Änderungen deckt sie einen großen Teil der Unterschiede ab. Zu Schnals allgemein vgl. Helmut Stampfer, Schnals, in: Monasticon Cartusiense II, Analecta Cartusiana 185:2, Salzburg 2004, S. 320–325; Korrektur S. 325: »Ende des 14. Jh.« bezieht sich auf Heinrich Hallers gleichnamigen Großvater. Vgl. Walter Neuhauser, Beiträge zur Bibliotheksgeschichte der Kartause Schnals, in: Analecta Cartusiana 83:1, Salzburg 1980, S. 48–125, hier S. 68.
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tatoren eingesetzt und mit Sondervollmachten ausgestattet – als Reaktion auf Beschwerdebriefe des Konvents an den qua Amt zuständigen Prior von Mauerbach.18 Prior Friedrich19 wurde durch Prior Wolfgang ersetzt, der die Verhältnisse in der Kartause neu ordnete und ihre Geschicke umsichtig und erfolgreich bis zu seinem Tod 1485 leitete. Heinrich Haller verstummte als Übersetzer; er starb erst vor dem 4. Mai 1488, dem Beginn des Generalkapitels. Jedenfalls sind nach 1471 offiziell keine Übersetzungen mehr überliefert. Palmer20 nimmt für 1472 die Entstehung der Übersetzung der zehn Gebote an (die Handschrift ist verschollen) und begründet dies damit, dass die ‘Zehn Gebote’ sich als weiteres katechetisches Werk an das ‘Paternoster’ von 1471 (Cod. 626) anschließen.21
3. An Hallers Autographenbänden fällt auf, dass sie geänderte Vorreden und Kolophone enthalten. Dabei wurde der ursprüngliche Zustand jeweils überklebt.22 Die Änderungen und Überklebungen sind in dieser Häufigkeit typisch für die HallerAutographe. Zwei Handschriften sind von diesen Überklebungen ausgenommen: Bei I wurden die betreffenden Teile ihres größeren Umfangs wegen ersetzt: Bei der ‘Vorrede’ wurde dem Buchblock ein Blatt vorangestellt und bei der Schlusspartie das letzte Blatt eines regelmäßigen Sexternio durch ein Binio ersetzt. Cod. 772 von 1470/2 ist als einzige Handschrift unverändert geblieben.23
Die Kolophone waren ursprünglich nicht einheitlich: Ein ausführlicher Kolophon einschließlich *elliges leben auf dem ertreich erscheint bis 1470/1 (Cod. 618),24 dasselbe ohne *elliges leben 1470/2 (Cod. 772) und 1471 (Cod. 626).25 Alle Handschriften zwischen 1466 und 1471 sind mit einem Kurzkolophon überklebt, der nur die nötigsten Angaben enthielt.26 Nur Cod. 773 (1464) nimmt eine Zwischenstellung ein, indem der geänderte Kolophon die Bitte enthält: pittet got den herren für mich armen *ünder.27 Die anderen langen Kolophone haben stattdessen: pittet got den herren für in. 18
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Vgl. Erika Bauer, Heinrich Hallers *elliges leben auf dem ertreich. Die Vorreden und Kolophone seiner Übersetzungen, in: Analecta Cartusiana 113:1, Salzburg 1984, S. 121–186, hier S. 169–174. Er wurde als Prokurator in die Nürnberger Kartause geschickt, wo er 1492 starb. Nigel Palmer, Ein Handschriftenfund zum Übersetzungswerk Heinrich Hallers und die Bibliothek des Grafen Karl Mohr, in: ZfdA 102 (1973), S. 49–66. Die hier erörterte Problematik spielt in seiner Überlegung keine Rolle. Seit Beginn der 1960er Jahre wurden die zusammengeklebten Bätter auseinander gelöst und der ursprüngliche Zustand wieder sichtbar gemacht. Vgl. Bauer, *elliges leben [Anm. 18], S. 181. Wortlaut s. Zisterzienser-Predigten. In der Übertragung des Heinrich Haller O. Carth., hg. von Erika Bauer, München 1969 (Kleine deutsche Prosadenkmäler des Mittelalters 7), S. 93 und 95. Vgl. Godefridus, Expositio [Anm. 12], S. 103. Vgl. Zisterzienser-Predigten [Anm. 24], S. 95. Wortlaut s. ‘Hieronymus’ [Anm. 1], S. 126,33.
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4. Die Datierung der durch die Klebeaktionen bewirkten Änderungen ist nicht ganz einfach. Gewisse Anhaltspunkte ergeben sich jedoch aus dem Leben und den Ereignissen in der Kartause. Die Änderungen in I, den ‘Hieronymus-Briefen’ von 1464, scheinen mir so auffallend, dass man sie wegen ihres Umfangs in Verbindung mit einer Visitation sehen sollte; ich denke dabei an diejenige von 1469/70. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Haller vier von sechs seiner autographen Übersetzungen bereits fertiggestellt. Nigel Palmer28 hat darüber hinaus weitere Haller-Übersetzungen nachgewiesen, die nur abschriftlich29 überliefert sind, und zwar aus den Jahren 1462 und 1463. Man kann annehmen, dass es angesichts dieser stattlichen Übersetzungsleistung bereits um 1469/70 in der Kartause zu Reibereien und zu Konflikten mit dem geregelten Tagesablauf kam. Daher mochte es für Haller geraten erscheinen, gewisse Äußerungen zu beseitigen, die bei den ›Wächtern Israels‹ Anstoß erregen konnten, andererseits aber auch manche Änderungen vorzunehmen, die seinen eigenen Interessen dienten. Dabei denke ich besonders an die ‘Hieronymus-Briefe’, mit denen wir uns ohnehin noch eingehender beschäftigen werden. 5. Die Wiener Abschrift (W) enthält den geänderten, erweiterten Kolophon von I (Bitte für den armen *ünder),30 der nur einmal vorkommt und nach dem oben Gesagten in Erwartung einer Visitation wohl 1469/70 entstanden ist. Dieser Zeitpunkt gilt demnach auch als frühestes Datum für die Entstehung von W. Wenn man daran festhalten will, wäre ein weiterer Gesichtspunkt zu berücksichtigen: Cod. W enthält eine auffällige rote Signatur, die nach Schloss Annenberg im Etschtal weist.31 Die Vermutung liegt nahe, dass W für die Herren von Annenberg abgeschrieben wurde. Weiter dürfen wir vermuten, dass die Annenberger nicht allzu lange auf die Abschrift haben warten wollen. Somit ergäbe sich der Schluss, dass W recht bald nach den Änderungen in I entstanden sein dürfte.
6. Bliebe nun noch die Hauptfrage, wann F entstanden ist. Falls F tatsächlich eine Abschrift von I ist, möchte ich den Zeitpunkt der Entstehung dieser Handschrift mit der Visitation von 1473 in Verbindung bringen. Wenden wir uns nunmehr den Handschriften I und F zu, d. h. den Argumenten für F als Abschrift von I. Cod. F, bisher als ›Konzept‹ betrachtet, ist als Kopertband auf uns gekommen; der äußere Zustand unterscheidet sich bereits von den übrigen Autographenbänden: loser Pergamenteinband, das Papier lässt sich mehreren Wasserzeichen zuordnen.32 Die angestrebte Kürze in F erreicht Haller auf allen Ebenen der Grammatik, von der Graphie (geschwänztes z statt s/*, u, ü, i statt ue, üe, ie)33 über die Morphologie 28 29
30 31
32 33
Palmer [Anm. 20], S. 66. Die Herstellung von Abschriften könnte ein Beleg dafür sein, dass der Orden der schreibenden Mönche vor allem ein Orden der abschreibenden Mönche war. Vgl. Bauer, *elliges leben [Anm. 18], S. 148–150. Vgl. Paternoster-Auslegung, zugeschrieben Jakob von Jüterbog, verdeutscht von Heinrich Haller, hg. von Erika Bauer, Lund/Kopenhagen 1966 (Lunder germanistische Forschungen 39), S. 25–26. Vgl. auch Bauer, *elliges leben [Anm. 18], S. 139 f. Andererseits schreibt er oft e¨ statt e.
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–
(we/wa statt wend / wand, ler statt lere, bis zu Satzgliedern und ganzen Sätzen – häufig durch Einsparung von Epitheta und durch Genitiv-Attribut statt Präpositionalgefüge –, ferner durch Vereinfachung von Doppelausdrücken, Letzteres oft bei Erhaltung des vorlagennäheren Wortes. Am Text selbst fallen zahlreiche Korrekturen und Fehler auf, wie sie beim Abschreiben auftreten; gemeint ist vor allem die Tilgung von Doppelschreibungen während des Schreibvorgangs: F F F F F F F F F F
14,26 pis daz der tag getilgt – F 15,1 pis daz der tag 31,23 paiden getilgt – pei den 60,11 die dir gefallen – F 60,12 dasselbe getilgt 69,25 billen getilgt – F 69,26 willen 75,12 vil *prechen getilgt – vileicht *prechen 83,4 Nach daz i*t mein gepot ist das i*t mein gepot getilgt 105,20 geporen getilgt genert vnd geporen 143,6 Nach lob ist got getilgt wir got 143,27 Vor mindrung ist mindrung getilgt 144,14 kott getilgt, alles kött.
Solche redundante Doppelschreibungen sind in F ungleich häufiger als in der Reinschrift. Am äußeren Erscheinungsbild von F sind bemerkenswerte Beobachtungen zu machen: F 257,23–29 erscheint in engerer Schrift, damit der Text noch auf die Seite passte; diese Notwendigkeit könnte durch die Vorlage I bedingt gewesen sein. F 105,13 als ob *i gerö*t *ein steht eng geschrieben auf Rasur, *ein zudem noch über der Zeile, also offensichtlich ebenfalls durch die Vorlage I bedingt, die an dieser Stelle (I 44,4) keine Besonderheit zeigt. Auch einige unscheinbare Fälle anderer Art verdienen Aufmerksamkeit: In der Reinschrift ist die Schreibung I 67,9 triualltt ikhait als zeilenfüllende Maßnahme vor dem Zeilenwechsel verständlich. In F 159,13 steht trifallttikhait mitten in der Zeile. Weder im ‘Hieronymus’ noch im gesamten Korpus erscheint diese Schwellschreibung ein weiteres Mal, so dass sie, wenn wir keinen merkwürdigen Zufall bemühen wollen, nur von I nach F übernommen worden sein kann. Die Kurzform der 3. Pers. Sing. von ‘sagen’ erscheint in allen edierten Texten dreimal, davon zweimal im ‘Hieronymus’: I 6,13 *e¨t und I 6,24 set, F hat ebenfalls die Kurzform: F 12,20 *e¨t und F 13,7 *et. Sollte das ein Zufall sein? Bei der Häufung von Änderungen an bestimmten Stellen wäre es sehr mühsam gewesen, aus dem ›Konzept‹ die Reinschrift herzustellen. So ist z. B. die Stelle F 132,5– 10 sehr unübersichtlich: Rasuren, Streichungen, Einträge am Rand, über der Zeile; I 55,1–9 dagegen ist flüssig und glatt geschrieben. Es hätte größere Mühe erfordert, die Stelle aus F zu übersetzen; einfacher wäre es, die Partie als Abschrift zu deuten. Aufschlussreich ist der folgende Fall, der noch einen anderen Aspekt deutlich macht, nämlich die größere Nähe von F zum Lateinischen. Gegen den lateinischen Text
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nimmt Haller in I ein ganzes Kapitel vorweg:34 Jam, filii mei: I 14,1 Ir, meine *ün, bis Jam vere vivificor: I 15,9 lebentiger lebenn. Nach vivificor geht der lateinische Text weiter: Vita mundi non vita: I 37,30 O leben der we¨lt vnd nicht das lebe¨n. In F hält Haller sich zunächst an I und vollzieht ebenfalls die Umstellung F 32,1 Jr meine *ün bis F 34,25 lebentiger leben. Nun verlässt er aber I und fährt F S. 35 nach der Überschrift gemäß dem Lateinischen fort: F 35,4 O leben der welt vnd nicht das leben. Erst am Ende dieser Seite bemerkt Haller seinen Irrtum und streicht die ganze Seite rautenförmig durch. Der Text erscheint dann gemäß I ab 37,30 an der richtigen Stelle, nämlich F S. 91. Daraus ergibt sich, dass Haller bei der Herstellung von F auch den lateinischen Text vor sich gehabt haben muss. Dass er die Vorwegnahme des fraglichen Kapitels nicht vor der Reinschrift I vorgenommen haben kann, zeigt sich in F S. 91: Dort sind die Zeilen 26–29 gedrängt geschrieben, mussten also noch auf die Seite passen. Die Lagenfolge in F fügt sich ebenfalls in dieses Bild.35 Ein anderes Beispiel: Bei der lateinischen Stelle, dem Anfang von PsG 30,3, inclina ad me aurem tuam, accelera, ut de hac lacrymarum et miseriarum valle eripias me, hatte Haller offensichtlich Schwierigkeiten mit accelera. Die endgültige Formulierung der Reinschrift lautet: I 45,34 naig dein or zu mir, tu *olt eilen, das tu mich *ei*t erlö*en von dem tal der zäher vnd der armüet. In F läßt sich die Entwicklung der Übersetzung anschaulich nachvollziehen, allerdings mit bemerkenswertem Ausgang: F – – – –
109,22 naig zu mir dein or 23 vnd eil daz (tu mich) über der Zeile von dem tal der zäher 24 vnd eilent oder pald erlös mich 25 vnd daz tu mich eilent oder pald erlö*e*t 26 vnd daz tu (mich) über der Zeile von dem tal der zäher vnd armüt eilent oder pald erlö*e*t
Das konsequente vnd wäre verständlicher, wenn die lateinische Vorlage ac celera hätte. Die Zeilen 23–25 sind durchgestrichen. Insgesamt zeigt die Stelle ebenfalls, dass Haller die lateinische Übersetzungsvorlage für F benutzt hat, denn in der ersten Formulierung (Zeile 23) ist er näher am Lateinischen. Die letzte Zeile (26) entspricht nicht der Formulierung in I, was von einem Konzept hätte erwartet werden können. Es ist leicht festzustellen, dass die angeführten Beispiele keine Einzelfälle sind, sondern dass Haller bei der Beschäftigung mit F immerhin auch den lateinischen Text vor sich hatte. Ich gebe weitere Beispiele: in gaudio quod: F 98,10 in der freuden daz – I 40,35 in den freuden die vir: F 203,15 der pös man – I 89,2 der pös wüetreich ad te ipsum redeas: F 246,12 Nach vnd ker widerum ist gedenk an dich *elbs getilgt – I 110,38 vnd che¨r wider vmb 34 35
Auch ein Fall von Variatio! Vgl. ‘Hieronymus’ [Anm. 1], S. 34* und S. 67*.
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suae voluptatis libidines expleturus: F 252,25 *o wolt er (den) über der Zeile *einen willen mit ir volpringen – I 113,28 so wolt er *ich denn zue ir legen. Sequenti igitur advenienti noctis medio: F 252,22 vnd alz nu kom die ne¨ch*t mitte nacht – I 113,30 Vnd als nu chom die ne¨ch*t nacht Ecce virum, qui descendens a Jericho, captus a latronibus, semivivus relictus sum: I 44,36 wird von semivivus relictus sum nur relictus übersetzt: Secht an, ich pin verla**en worden als der man, [. . .] F 107,9 folgt dem Lateinischen [. . .] geuangen wart von den *chachern vnd gebuntet al*o (lig) getilgt pin ich verla**en oder (lig in) getilgt lig in der krankhait des tödes
Auch Alternativübersetzungen sind in F näher am Lateinischen:36 dans imperium regi suo: F Er lies das gepot oder den gewalt seinem künig – I 11,19 Er gab das gepot *einem künig oder er lies den gewalt *einem künig non post multos annorum circulos: F nicht nach vil vmgeenden iaren oder in kurczen iaren – I 67,6 in einer churczen zeit
Abschließend nenne ich weitere Fälle ähnlicher Art bei freierer Wiedergabe in I:37 divino nomine: F 201,2 dem götleichen namen – I 87,40 dem almechtigen got commovet et contristat: F 260,4 pewegen vnd petrueben – I 117,8 verfüeren vnd petriegen in lumine vultus tui ambulabamus: F 96,6 in dem liecht deines anplikes hab bir gebandert – I 39,41 wir haben gewandert in dem anplik deines liechtes refrigerium: F 115,21 erkülung – I 48,16 trö*tung noch hilff praefulgidis signis: F 146,27 vnd er*cheinten zaichen – I 61,24 vnd der zaichen quae non decent: F 136,6 das da nit zimt oder (lüczl) auf Rasur nucz pringt – I 56,41 daz da nicht nucz pringt. singulari affectu diligo caritatis: F 130,21 die han ich lieb mit ganczer pegird der lieb – I 54,18 [. . .] mit ganzcer pegird des he¨rczen.
Die angeführten Beispiele zeigen unzweifelhaft die größere Nähe von F zum Lateinischen. Ebenso unbestreitbar ist die durchweg freiere Übersetzung in I. Dies führte zu der Annahme, dass F das Konzept und I die darauf basierende Reinschrift sei. Mein Anliegen heute ist es aber zu prüfen, ob es auch umgekehrt sein könnte: dass I der Primärtext ist und F sich erneut am Lateinischen orientiert und eine Neufassung der ‘Hieronymus’-Übersetzung erarbeitet hat. Auf die oben angeführten Doppelschreibungen und die Textumstellung eines ganzen Kapitels sei bei dieser Gelegenheit noch einmal hingewiesen. Wie oben vermutet, hat Haller die ‘Vorrede’ und den Schluss der ‘HieronymusBriefe’ vor der Visitation von 1469/70 verändert (und zu diesem Zweck Blätter eingefügt und ersetzt). Um weiter auf den Text einzugehen, so behandle ich jetzt vor allem diese frei formulierten Partien, die vored38 und das Ende mit dem Gebet zu Hieronymus39 und der ‘Kollekte’.40 36 37 38 39 40
Vgl. ‘Hieronymus’ [Anm. 1], S. 45*. Vgl. ebd., S. 45*. I 1,1–6,43 – F 2,1–13,19. I 125,1–126,21 – F 277,1–280,14. I 126,22–31 – F 280,15–26.
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In der ‘Vorrede’ trägt Haller die Erläuterung seiner Übersetzungsweise mit gewissem Selbstbewusstsein vor: I 6,31–38 Ich han auch das vorgenant puch verwandelt nach den te¨xt vnd etwen nach dem *inn vnd han das pracht zu ainer *chle¨chten gemainen teücz, die man wol ver*ten mag, die vernufft prauchen wellen, das *ecz ich herzüe, vnd han das erleütert, als vil ich han mügen vnd *üllen; wend die obgenanten epi*tlen die *int etwas klüeg vnd frömd mit den *innen, das pekenn ich, vnd darum *o i*t notürft die erleüchtung der vernufft an etleichen *teten. Ob aber etwer czweiflet in meiner verwandlung, der le¨s die *elbigen lateini*chen epi*tlen der vorgenanten *elligen le¨rer, *o würt er mir nicht vnrecht ge¨ben.
In F fehlt diese Passage der ‘Vorrede’ ganz. Vor sich selbst bedurfte Haller einer solchen Darlegung nicht, denn bei dieser Gelegenheit wollte er den Text weder für gedachte noch reale Leser, sondern nur für sich selbst neu erarbeiten. In dem gepet ist der Ton viel moderater; Haller bittet Hieronymus ausführlich um Hilfe, z. B.: I 125,10 v¨n*er v¨bertretung vnd ellent pring widerum in den we¨g der gere¨chtikhait und in den wiederholten Anrufungen I 125,15/17 Chüm vns zue hilff; I 125,21 Hilff vns, bis zur Bitte um Fürsprache I 125,42 pis mein vor*pre¨ch vor dem herren41 und I 125,27; 41; 126,4 Ich pitt dich. Lassen wir weitere Spuren der Visitation von 1469/70 in der Reinschrift I auf sich beruhen und wenden uns dem für uns wichtigeren Cod. F zu. Die Änderungen in F hat Haller wahrscheinlich nach der Visitation von 1473 vorgenommen, als er den ganzen Text abschrieb. Beginnen wir wieder mit der ‘Vorrede’: Bei I 4,41 verwanndelt vnd von latein zu teücz pracht – F 9,28 von latein zu täucz pracht könnte man die Einsparung in F noch als Beseitigung einer Tautologie auffassen, aber I 6,39 verwandelt vnd ge*chriben hab – F 13,13 ge*chriben hab und I 6,42 gemacht oder ge*chriben hiet – F 13,17 ge*chriben hiet ist die kürzere Formulierung in F korrekt, denn in diesem Stadium der Arbeit dürfte Haller sich ja nicht (mehr) als Übersetzer, sondern nur als Abschreiber gesehen haben. Weggelassen sind in F z. B. auch Äußerungen, die auf irgendeine Art mit Höhergestellten zu tun haben: I 1,29 Als die gei*tleichen liecht vorgen mit den gueten oder mit den pö*en e¨wenpilden, al*o *int auch nach folgen die men*chen. I 2,37 Sap 6,7 ‘Dem klainen dem würt mit getailt parmherczikhait, aber die me¨chtigen die mü**en me¨chtige pein leiden.’ I 2,39 Sap 6,9 ‘Wend die *te¨rkhern die werden *terkhe¨re pein leiden vnd die grö**ern grö**ere pein.’
Generell bleiben in der ‘Vorrede’ eher Attribute und Partikel weg, am Ende werden eher Doppelausdrücke vereinfacht. Vor allem sind im Schlussteil die für uns relevanten Änderungen häufiger. Ich nenne die wichtigsten: I 125,11 vnd treib von vns die irrung vnd czwitracht des vngelaubens – F 277,16 vnd *traff die irrung vn*er werch. Nach I 125,12 Erwäich in v¨ns die herttikchait vn*er he¨rczen ist das Folgende in F 41
Vgl. im übrigen Bauer, *elliges leben [Anm. 18], S. 184–186.
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277,18 eingefügt und dann wieder durchgestrichen: vnd mach in vns grünnen vn*er vn*chuldikheit, die wir verloren vnd ver*aumt haben mit deinem guetigem gepet. Die Bitte I 125,17 Chum vns zue hilff vnd zue tro*t mit deiner parmherczikhait in allen vn*ern nöten vnd ang*ten verändert F in folgender Weise: F 277,26 kum vns zue hilff durch dein guetikhait in aller vn*er noturft vnd truew*al; vor allem lässt F den folgenden (in F auf guetikhait bezogenen) Nebensatz weg: I 125,18 die tu milldikleichen mit getailet ha*t deinen andechtigen dienern vnd *i erlö*t ha*t durch mannigfeltig *inn von den pö*en gei*chten vnd von dem ewigen tod. Eine solche Gnade erhoffte Haller sich offensichtlich nicht. Ebenso fehlt in F die Bitte um Behütung, I 125,23 vor allen tödleichen *ünden vnd weltleichen *chanden. Vor I 225,26 wird in F 278,7–12 eingefügt: Jch erman dich heiliger er*amer Jeronime deiner heiligen le¨r die du gepre¨diget vnd gele¨rnt ha*t mit deinem munt vnd die erfült ha*t mit deinen we¨rchen Tu ha*t gearwait in dem weingarten des he¨rren mit worten vnd mit we¨rchen
I 125,32–126,3 Ich pit dich [. . .] durch deines heiligen gepetes willen erscheint in F 278,21–279,27 teils in anderer Reihenfolge, inhaltlich aber in etwa gleich. Dabei werden die Verdienste des heiligen Hieronymus, dem Haller sich besonders verbunden fühlte, aufgezählt. In F folgt ein entscheidender Zusatz: I 125,43 das er in mir vertreib die vin*ternus meiner *ünden mit dem liecht *einer chlarhait – F 279,2 [. . .] die vin*ternus meiner *ünden vnd das gewülkhen meiner mi**etat [. . .] Dass Haller so weit ging, von mi**etat zu sprechen, könnte als Bedauern über die Verstöße gegen die Vorschriften aufgefasst werden, lässt aber auch noch andere, religiös-spirituelle Interpretationsmöglichkeiten zu. In F fehlt auch: I 126,8–11 Ich pin nakchant vnd plos, hilf mir, das ich peklaidet werd mit dem zierleichen gewant in der ewigen ewikchait. Ich pin arm vnd e¨llent, hilf mir mit deinem andechtigen gepe¨t, das ich reich werd vnd getrö*tet werd in den himli*chen vater land.
In der ‘Kollekte’ ist der Ton etwas positiver, indem Haller in F I 126,23 vnwirdiger *ünder weglässt und statt I 126,25 arme creatur in F 280,18 nur creatur schreibt; aber das folgende I 126,25 die du erlö*et ha*t mit dem cho*tleichen pluet deines aingeporn *unes lässt er doch wieder weg. Werfen wir ganz zum Schluss noch einen Blick auf die Kolophone: Der auf den Text bezogene, interne Kolophon (I 124,13–18) erscheint auch in F. Der auf Haller selbst bezogene, persönliche Kolophon ganz am Ende nach ‘Gebet’ und ‘Kollekte’ (I 126,32–36) bleibt in F weg; für den internen Gebrauch der Handschrift in der Kartause war er auch nicht nötig.42 Es wäre denkbar, dass Haller auf die Maßnahmen der Visitation von 1473 reagierte und sie in der Weise kompensierte, dass er die Übersetzung der ‘Hieronymus-Briefe’ von 1464 heimlich abschrieb und dabei erneut bearbeitete mit der einleuchtenden 42
Eher schon hätte er seine Berechtigung in der Form des ›Konzepts‹ haben können.
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Grundtendenz, sich um Kürze zu bemühen. Das ganze Vorhaben würde dann die dramatischen Veränderungen in der Kartause, die Hallers Leben so nachhaltig verändert haben, widerspiegeln. Man könnte also die Entstehung von F, die auch ein bezeichnendes Licht auf Hallers Persönlichkeit wirft, in diese Anfangszeit der neuen Ordnung und des strengeren Regiments verlegen, etwa auf die Zeit 1473/74. Haller hätte demnach die Trennung von Prior Friedrich, dem Förderer seines Übersetzungstalentes, und das Ende ihrer fruchtbaren Zusammenarbeit sowie die damit verbundene Enttäuschung in der Weise verarbeitet und bewältigt, dass er die erste autographisch erhaltene Übersetzung, die ‘Hieronymus-Briefe’ von 1464, sich noch einmal vornahm und abschreibend bearbeitete. Aus allen Änderungen Hallers in F spricht Zerknirschung, ja große Verzweiflung, die wegen des möglichen Schreibverbots eine ultima desperatio darstellen könnte, die Haller aber für sich selbst durch tätige Reue überwunden hat, indem er sich erneut die erste autographisch überlieferte Übersetzung, die ‘Hieronymus-Briefe’, vornahm. Eines Anstoßes von außen – etwa durch den scheidenden Prior Friedrich – bedurfte es nicht. In der Reflexion auf das eigene Handeln, das er ja als mi**etat empfand, mochte ihm die Neuübersetzung des ‘Hieronymus’ als angemessene Bußleistung erscheinen. Unter diesem Gesichtspunkt wäre auch zu überlegen, ob Haller, anstatt einem von außen diktierten ›Schreibverbot‹ nachzukommen, möglicherweise aus eigenem Entschluss auf weitere Übersetzungen verzichtete.
Schlussbemerkung In Nahaufnahme wurde die Arbeitsweise eines ebenso fleißigen wie talentierten Übersetzers beleuchtet – im ersten Teil zu erkennen an ausgeprägtem Sprachgefühl bis hin zu persönlichen Eigenheiten. Insgesamt betrachtet ist es ein ungewöhnliches Verfahren, bei der Abschrift eines deutschen Textes die lateinische Vorlage mit heranzuziehen. Aber ebenso ungewöhnlich ist es auch, dass ein Übersetzer seine eigene Übersetzung noch einmal abschreibt und dabei stark verändert. Mit zahlreichen Beispielen konnte auch die Abhängigkeit von F vom Lateinischen belegt werden. Im zweiten Teil ging es letzten Endes um das Schicksal des Übersetzers – nur vermutet oder unmittelbar greifbar an den Folgen zweier Visitationen: Sichtbares Zeichen sind die Veränderungen in den ‘Hieronymus’-Autographen. Die Interpretationen der Änderungen hatten die These zum Ziel, bei Cod. 1065 könnte es sich um eine Abschrift von I handeln und nicht um das vorausgehende Rohmanuskript. Es würde einige Mühe und Geduld erfordern, meinen neuen Argumenten für die Abschrift-These zu folgen. Die geschilderten Umstände der Entstehung von F sind merkwürdig genug und wären wohl nicht weniger bemerkenswert, als es die Annahme eines Konzeptes schon war.
Variatio delectat – delectat variatio?
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Postscriptum Lieber Herr Sappler! Die Arbeitsdatei hieß »Peter«, »Paul« konnte ich sie ja nicht gut nennen. Zur Erläuterung und zur Bekräftigung der Wahrheit: P e t e r Zerlauth, den Leiter der Abteilung Sondersammlungen der ULB Innsbruck, kennen Sie persönlich. Es ist auch wahr, dass die Innsbrucker Bibliothek umgebaut wird, aber von einer Festschrift war nie die Rede. So gehört dieser Beitrag ganz allein Ihnen als kleines Zeichen meines Dankes für Ihre Freundlichkeit und Geduld bei den jahrzehntelangen Bemühungen um den Kartäuser aus dem Schnalstal.
Jch mit meyner thafell vnd jr cum woster weisheit . . . Konkurrenz, Freundschaft und Memoria bei Albrecht Dürer und Willibald Pirckheimer von Matthias Kirchhoff
Der Nürnberger Maler, Graphiker und Kunsttheoretiker Albrecht Dürer (1471– 1528) und der humanistische Gelehrte und Nürnberger Ratsherr Willibald Pirckheimer (1470–1530) unterhielten eine der meistbeachteten Freundschaften der deutschen Kunst- und Geistesgeschichte. Schon die Zeitgenossen hoben die Freundschaft beider hervor: So schrieb Christoph Scheurl 1508 im Libellus de laudibus Germaniae et ducum Saxoniae von Dürer: [. . .] etiam a summis viris magnopere diligitur, et imprimis a Vilibaldo Pirchamero perinde ac frater unice amatur.1 1526 sprach Johannes Cuspinian von Dürer in einem Brief an Pirckheimer als tuo Achati, in Anspielung auf den treuen Gefährten des Aeneas.2 Dürers und Pirckheimers Freundschaft bestand über Jahrzehnte3 und wurde durch den ständischen Unterschied zwischen dem Patrizierspross Pirckheimer und dem Goldschmiedsohn Dürer wesentlich geprägt. Zehn Briefe an Pirckheimer, die Dürer 1506 aus Venedig schickte,4 verdeutlichen die Vielschichtigkeit der Beziehung. Sie lassen sich als ebenso respektvoller wie demonstrativ respektloser Ausdruck des Bemühens Dürers verstehen, der ständischen, intellektuellen und wirtschaftlichen (aber auch physischen)5 Überlegenheit des Freundes einerseits Tribut zu zollen, andererseits dieser Überlegenheit eigene künstlerische und gesellschaftliche Erfolge entgegenzustellen. Der zwischen Zärtlichkeit und derb-fordernder Obszönität changierende, oft humorvoll-überschwängliche Ton, den Pirckheimer (dessen Antwortbriefe nicht erhalten sind) entweder erwiderte oder zumindest über die Zeit des Briefwechsels duldete, verdeutlicht auch die emotionale Spannweite der Freundschaft beider. Eine offenbar ›spielerische‹ Konkurrenzsituation, die zwischen den befreundeten Männern herrschte und die beide, mit Dürers übermütigen Kauderwelschworten aus einem Brief aus Venedig vom 13. Oktober 1506, jch mit meyner thafell vnd jr cum 1 2 3
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Zit. nach: Hans Rupprich (Hg.), Dürer. Schriftlicher Nachlaß, Berlin 1956–69, Bd. 1, S. 290. Ebd., Bd. 1, S. 277. Zur Dauer der Freundschaft beider vgl. Franz Machilek, Albrecht Dürer und der Humanismus in Nürnberg, in: Katalog Albrecht Dürer. Ein Künstler in seiner Stadt, Nürnberg 2000, S. 57. Ediert u. a. ebd., Bd. 1, S. 39–60. Vgl. Hans Rupprich, Dürer und Pirckheimer. Geschichte einer Freundschaft, in: Albrecht Dürers Umwelt, Nürnberg 1971, S. 79. Lorenz Beheim stellt in einem lateinischen Horoskop vom 23.5.1507 das Verhältnis von Pirckheimer und Dürer als das von Herrn und Diener dar; vgl. Willehad Paul Eckert und Christoph v. Imhoff, Willibald Pirckheimer. Dürers Freund im Spiegel seines Lebens, seiner Werke und seiner Umwelt, Köln 1971, S. 72; Rupprich [Anm. 1], Bd. 1, S. 254.
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woster weisheit,6 austrugen, spiegelt sich etwa in der durch Spurenanalysen der Graphik gestützten Rekonstruktion der Entstehung einer Silberstiftzeichnung Dürers von Pirckheimer (1503; Winkler 268),7 die Georg Satzinger 2007 unternahm. Diese Szene, so Satzinger, sei als eine Provokation Dürers durch die unideale Darstellung und eine direkte Replik Pirckheimers vermittels einer äußerst anzüglichen griechischen Inschrift zu denken, die Pirckheimers Sprachbildung als (Dürer entweder ausschließendes oder durch Erläuterung einweihendes) Arkanwissen betonte.8 Für eine andere Begebenheit, die für 1509 überlieferte vorgebliche ›Korrektur‹ und Kritik Dürerscher Gedichte durch Lazarus Spengler und Willibald Pirckheimer,9 hat Heike Sahm 2002 den »Unernst der mit Dürer geführten Reimdebatte«10 betont. Von Unernst geprägt mag das künstlerische ›Kräftemessen‹ beider gewesen sein; dass Pirckheimer dabei die abschließende bzw. korrigierende Position innehatte, korrespondiert aber mit seiner vielfach überlegenen Stellung, womöglich auch mit seinem mokanten und streitbaren Naturell.11 In den 1520er Jahren gewann im Austausch beider das Bemühen um posthumes Gedächtnis an Bedeutung: Bereits vorher hatten die Freunde bei Bildwerken kooperiert, die einen expliziten Memoriaaspekt hatten, etwa dem als Kopie erhaltenen Epitaph Creszentia Pirckheimers. Willibalds Frau war 1504 gestorben; ihren Tod hatte Dürer wohl in einem Aquarell dargestellt, dessen Konzept der Witwer entwarf. Konkreter greifbar ist die Zusammenarbeit bei den 1512 beginnenden Arbeiten zu den monumentalen, auf das Gedächtnis Kaiser Maximilians I. zielenden Holzschnittreihen, v. a. dem ‘Triumphwagen’, an deren Programm Pirckheimer mitwirkte und deren Ausführung auch in Dürers Hand lag.12 Nun gingen Dürer und Pirckheimer daran, ihr eigenes posthumes Gedächtnis gegenseitig zu sichern. Wie jeweils unten ausgeführt, porträtierte der Maler den Gelehrten und widmete ihm u. a. seine letzte, posthum erschienene kunsttheoretische Schrift. Pirckheimer verfasste zu Dürers Lebzeiten Epigramme auf den Freund, hängte eine Tafel zum Gedächtnis Dürers in seine Bibliothek und drängte Erasmus von Rotterdam, Dürer als Gegenleistung für ein Kupferstichbildnis in einem Text zu feiern.13 6 7
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Zit. nach Rupprich [Anm. 1], Bd. 1, S. 58. Handgraphik wird nachfolgend nach dem Katalog Friedrich Winklers (Die Zeichnungen Albrecht Dürers, 4 Bde., Berlin 1936–39) aufgeführt, Druckgraphik nach Joseph Meder, Dürer-Katalog. Ein Handbuch über Dürers Stiche, Radierungen, Holzschnitte, deren Zustände, Ausgaben und Wasserzeichen, Wien 1932. Vgl. auch: Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk, 3 Bde., hg. von Rainer Schoch, Matthias Mende und Anna Scherbaum, München 2001–2004. Georg Satzinger, Dürers Bildnisse von Willibald Pirckheimer, in: Autorbilder. Zur Medialität literarischer Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Gerald Kapfhammer, Wolf-Dietrich Löhr und Barbara Nitsche, Münster 2007, S. 229–243, hier S. 235 f. Rupprich [Anm. 1], Bd. 1, S. 128–131. Heike Sahm, Dürers kleinere Texte. Konventionen als Spielraum für Individualität, Tübingen 2002, S. 89 ff., hier S. 94. Vgl. etwa Ernst Rebel, Albrecht Dürer. Maler und Humanist, München 1999, S. 134 ff., bes. S. 143; Eckert/v. Imhoff [Anm. 5], etwa S. 11, 13, 72. Vgl. Jan-Dirk Müller, Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft um Maximilian I., München 1982, S. 148 ff., bes. S. 149. Ebd., S. 98.
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Der Eifer, mit dem Dürer und Pirckheimer sich in den Mittelpunkt ihrer Beschäftigung mit dem posthumen Gedächtnis stellten, wird wesentlich vor dem Hintergrund ihrer Biographie verständlich: Beide zählten über fünfzig Jahre, und beide litten an schweren Krankheiten.14 Dürer und Pirckheimer waren so um 1525 gealterte, chronisch leidende Menschen, mit denen der Name ihrer Familie in Nürnberg aussterben würde.15 Gründe, sich um das eigene Gedächtnis zu kümmern, gab es somit reichlich. Im Folgenden sollen jeweils ein spätes Werk Dürers und Pirckheimers, das auf das posthume Gedächtnis des Freundes zielt, im programmatischen, künstlerischen und biographischen Kontext näher betrachtet werden. Es handelt sich um das Kupferstichporträt Pirckheimers von 1524 und um die Elegia Bilibaldi Pirckeymheri in obitum Alberti Düreri (1528). Dabei gilt es auch zu zeigen, dass die oben umrissene, wie ernst auch immer ausgetragene Konkurrenzsituation sowie Status- und Hierarchieansprüche v. a. Pirckheimers wesentlich auf die Ausbildung der Werke Einfluss nahmen.
Dürers Kupferstichporträt Pirckheimers von 1524 Beim vorliegenden Werk (Meder 101) handelt es sich um das ikonographisch nach rechts gekehrte massige Brustbild Pirckheimers, der in einem fein herausgearbeiteten Pelzmantel steckt und ein dunkles Hemd mit gerüschtem weißen Kragen trägt. Darüber liegt schwer der massige Kopf. Eine halblange, buschige Lockenfrisur rahmt das von einer unsichtbaren Lichtquelle links oben halb beschattete, faltenreiche und fettgeränderte Gesicht. Pirckheimers Nase ist stark geschwungen, sein markanter Mund geschlossen, und die Augen wirken groß und aufmerksam, obwohl die Lider herunterhängen. Den Eindruck der Aufmerksamkeit erreicht der Künstler vornehmlich durch zwei viergeteilte Lichtpunkte in den Pupillen. Im Ganzen erscheint Pirckheimer dem Betrachter als alte, massige und erschöpfte Person,16 deren Sinne gleichwohl durch die prägnante Darstellung von Augen, Nase und Mund als wach zu erkennen sind.
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Dürer hatte seit seiner Reise in die Niederlande 1520/21 mit den Folgen einer unerklärlichen Krankheit zu tun, die wohl eine Form der Malaria war, ihn sukzessive verfallen ließ und der er am 6.4.1528 erlag. Bisweilen werden zudem eine Syphilis-Krankheit Dürers oder jahrzehntelange Depressionen und Kopfschmerzen erörtert. Vgl. Reinhard F. Timken-Zinkann, Ein Mensch namens Dürer, Berlin (Ost) 1972, S. 83 ff.; Hartmut Böhme, Melencolia I, Frankfurt a. M. 1989, S. 45 ff. Pirckheimer wurde seit Jahren von der Gicht geplagt, die ihn »mehr und mehr herunterbrachte und ihn [. . .] des Lebens beraubte« (Emil Reicke, Willibald Pirckheimer und sein Podagra, in: Fränk. Kurier, Nürnberg 1901, Nr. 217 ff.). Zusätzlich litt er unter Steinen und Geschwüren. Dürer führte eine kinderlose Ehe, Pirckheimer hatte als letzter seines Namens (legitim) fünf Töchter gezeugt; seinem Geschlecht war mit seinem Tod die Auslöschung vorbestimmt. Über die für zwei mit Pirckheimer verwandte Klosterschwestern erschreckende Wirkung des im Bildnis dokumentierten Verfalls vgl. Satzinger [Anm. 8], S. 241.
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Unter diesem Bildnisstich nimmt eine Inschrifttafel knapp ein Drittel des Gesamtraumes ein. Den Tafelrahmen beschattet offenbar dieselbe Lichtquelle wie den Dargestellten, was bedeutet, dass Dürer beide auf dieselbe Bildebene stellt und nicht etwa die Tafel dem Bildnis ›vorblendet‹: Bild und Inschrift sollen als Einheit wahrgenommen werden. Der erste, oberste Teil der Inschrift bezeichnet Namen und Lebensalter des Dargestellten: Bilibaldi Pirkeymheri Effigies Aetatis Suae Anno LIII; darunter findet sich ein näher zu betrachtendes Motto: Vivitur Ingenio Caetera Mortis Erunt. Die Inschrift beschließt die lateinische Jahreszahl 1524 sowie das bekannte Monogramm Dürers (»AD«). Wohl bei keinem anderen mit Text versehenen Bildwerk Dürers ist die Aufmerksamkeit der Forschung so zu Ungunsten der Bildkunst verteilt wie bei diesem 181 x 115 mm messenden Kupferstich, dessen Motto deutlich stärker als der Kupferstich beachtet wurde.17 Die Forschung eint dabei das Bemühen, den Vers nicht als bloßen Topos abzutun, sondern ihm zentrale Bedeutung für das Verständnis und die Interpretation des Bildwerkes zuzubilligen. Dies ist so auch sicher richtig: Spätestens nach dem von Dieter Wuttke 1982 geleisteten Quellenverweis auf die spätantike Appendix Vergiliana18 muss aber der zum Vivitur-Pentameter gehörige, das Distichon vervollständigende Hexameter der Quelle in die Erörterung der Bildunterschrift einfließen. Dort findet sich insgesamt: marmora Maeonii vincent monumenta libelli / vivitur ingenio, cetera mortis erunt,19 und zwar im Kontext des Maecenas (I, 37 f.),20 also der Totenklage auf den bis heute sprichwörtlichen Mäzen. Ungenannt, aber für den Wissenden zur Inschrift gehörig ist damit die Aussage, dass die Bücher des Mäoniers (also Homers als Metonymie für 17
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Über das Bildnis als solches liest man meist kaum mehr als was man sieht, nur überzeichnet als »Bulldoggengesicht« (Erwin Panofsky, Das Leben und die Kunst Albrecht Dürers, Princeton 1948 [dt. 1977], S. 319); »massive bull-like shaggy head« (Lewis W. Spitz, The Religious Renaissance of the German Humanists, Cambridge [Mass.] 1963, S. 155); oder verklärt wie bei Friedrich Waezold, der im Bildnis alles sah, »was zum höheren Wesen des Menschen gehörte« (zit. nach: Eckert/v. Imhoff [Anm. 5], S. 83). Interessanter ist für die Wissenschaft das erwähnte Vivitur-Motto. Die Übersetzungen sind zahlreich und finden sich, wie in der Monographie Eckerts und v. Imhoffs [Anm. 5], S. 5, an prominenter Stelle, als erster Satz des Vorworts: »Man lebt durch die Kraft des Geistes, alles übrige ist dem Tode verfallen«. Erwin Panofsky [diese Anm.], S. 319, übersetzt: »Wir leben durch den Geist, das Übrige wird dem Tod gehören«; bei Fedja Anzelewsky, Dürer. Werk und Wirkung, Stuttgart 1980, S. 234, heißt es: »Der Geist wird leben, das übrige wird des Todes sein«. Lewis W. Spitz [diese Anm.], S. 155, schreibt: »He lives by his creative spirit, the rest will belong to death«. Wer also wodurch lebt oder leben wird, ist offenbar unklar oder Hypothesen geschuldet. Caritas Pirckheimer 1467–1532. Ausstellungskatalog Nürnberg, München 1982, Kat. Nr. 33. Zit. nach: Appendix Vergiliana, hg. von Robinson Ellis, Oxford 41950, Maecenas, I, 37 f. (ohne Seitenzahl). Die u/v-Schreibung wurde normalisiert. Es ist darauf hinzuweisen, dass etwa Wendell Vernon Clausens et al. Ausgabe der Appendix Vergiliana, Oxford 1966, S. 88, einem anderen Zweig der Überlieferung folgt und, als verderbte Stelle markiert, marmora minaei schreibt. Vgl. Marko Marincic, Der elegische Staatsmann. Maecenas und der augusteische Diskurs, in: Die Appendix Vergiliana. Pseudoepigraphien im literarischen Kontext, hg. von Niklas Holzberg, Tübingen 2005, S.116–141.
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den Dichter überhaupt)21 marmorne Bildmonumente besiegen und so (im Kontext) den Nachruhm des reichen Stifters unterstützen. Der Vorrang der Literatur, eventuell auch die Parallele zwischen Maecenas und dem (zumindest in früherer Zeit) Förderer Dürers, Pirckheimer,22 mag somit als dessen (vielleicht stillschweigende) Hierarchiefeststellung oder auch Provokation verstanden werden, Dürer zwischen den Zeilen die Unterlegenheit der Bildkunst, eventuell gar seiner selbst gravieren zu lassen.23 Aber auch bezüglich des expliziten Vivitur-Mottos muss gefragt werden, wie sich die behauptete alleinige Unsterblichkeit des Ingeniums24 mit dem anders argumentierenden Bildnisprogramm Dürers vertragen konnte. Unter den Aspekten, die Dürer 1508 in seinem Malereilehrbuch25 als Vorzüge der Bildkunst festhielt, steht zuvorderst ihre Nützlichkeit für die religiöse Praxis: Zum ersten es ist ein nutze kunst, wan sie jst gottlich vnd wurt geprawcht zw guter hellger vermanvng [. . .] Zum fünfften ist sy nütz, wan gott wirtt dordurch geert, wo man sicht, das gott einer gkreatur sollich vernunft verleicht, der solliche kunst jn jm hat vnd alle weis werdn dir holt vm dein kunst).26
Ebenso betont Dürer den Memoriaaspekt der Menschenbildnisse, für den Dargestellten wie für den Künstler: Zum firten ist sy nütz, man erlangt grosser vnd ewiger gedechtnus dorfon, so mans ordenlich prawcht.27 An anderer Stelle des Textes heißt es entsprechend: [. . .] durch malen mag angetzeigt werden das leiden Christi und würt geprawcht im dienst der kirchen. Awch behelt das gemell die gestalt der menschen nach jrem sterben.28 Die äußere Erscheinung ist für Dürer der wichtigste Zugang zum Wesen des Dargestellten: Jahrzehntelang bediente er sich eines durch ein Kreuz viergeteilten Lichtpunkts in den Pupillen der Porträtierten, ein »bis auf die Vor-Sokratiker zurückgehender Topos der Seh-Theorie«, der die Augen als »Seelenfenster« sieht:29 Im 21
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Vgl. Menge-Güthling, Großwörterbuch Lateinisch, Teil 1 (lat.-dt.), Berlin/München/Wien/ Zürich 191977, S. 452. Im 3. und 5. Brief aus Venedig (28.2. bzw. 2.4.1506) an Willibald Pirckheimer erwähnt Dürer seine Schulden ihm gegenüber, im 7. und 8. Brief (18.8. bzw. 8.9.1506) spricht er eine ggf. von Pirckheimer an Dürers Frau und Mutter zu leihende Summe von zehn Gulden an; vgl. Rupprich [Anm. 1], Bd. 1, S. 46, 49, 52, 56. Es kann angesichts gut vergleichbarer humanistischer Programmbildnisse, etwa des in diesem Aufsatz erwähnten ‘Sterbebilds’ Celtis’ oder des Erasmus-Kupferstichs Dürers (deren Texte die Sprachkompetenz der Bildkünstler überstiegen), kein Zweifel daran bestehen, dass das Textprogramm von Willibald Pirckheimer (und nicht von Dürer) stammt. Ein solcher Zweifel wäre meines Wissens auch nie formuliert worden. Menge-Güthling [Anm. 21] führt den Begriff v. a. als ‘Naturanlage’, ‘Charakter’, ‘Gemütsart’, ‘Verstand’, ‘Natur’ und – hier wohl am treffendsten – ‘produktiver oder schöpferischer Geist, Geistreichtum, Genie, Talent’. Vgl. Rupprich [Anm. 1], Bd. 2, S. 81–394. Beide Zitate: Rupprich [Anm. 1], Bd. 2, S. 92 f. Ebd., S. 93. Zit. nach: Rupprich [Anm. 1], Bd. 2, S. 112. Vgl. auch Peter Strieder, Die Bedeutung des Porträts bei Albrecht Dürer, in: Albrecht Dürer. Kunst einer Zeitenwende, hg. von Herbert Schade, Regensburg 1971, S. 85. Vgl. Böhme [Anm. 14], S. 14.
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Münchner Selbstporträt von 1500 zeigt Dürer das Augen-Kreuz, ebenso bei der Gottesmutter mit der Nelke (1516, München) und den Kupferstichporträts Friedrichs des Weisen (Meder 102; 1524), Philipp Melanchthons (Meder 104; 1526) und eben Pirckheimers von 1524. Dass Dürer ein Überdauern im Bild – also der eigentlichen Gestalt – bezweckte, verdeutlichen z. B. die Anweisungen, die er zur Konservierung des Frankfurter Helleraltars gab,30 oder der Umstand, dass er das Münchner Selbstporträt laut Inschrift ‘mit unvergänglichen (bzw. mit den seinem Äußeren eigentümlichen) Farben’ (propriis coloribus)31 malte. Gerade auf diesem Bild, das die christomorphe Gestalt Dürers wie aller Menschen betont,32 wird deutlich, dass sein Akzent auf der äußeren Gestalt (gerade hinsichtlich der Memoria) einen religiösen Aspekt hat, wie er es im Malerbuch behauptete. Von solcher Memoriakonzeption ist in der vorliegenden Inschrift aber gerade nicht die Rede. Im Gegenteil wird das ausschließliche Überdauern des Ingeniums behauptet, was nicht nur zu den oben genannten Werken Dürers und ihren im- wie expliziten Aussagen in Widerspruch tritt.33 Selbst wenn Pirckheimer unter den oben aufgeführten Bedeutungsaspekten von Ingenium das Schöpfertum im Allgemeinen verstanden haben sollte, was den Gelehrten ebenso einschlösse wie den Bildkünstler, setzt er sich mindestens über zwei Säulen der Dürerschen Memoria-Konzeption hinweg, nämlich 1. die Bedeutung des für eine Wiedergabe des Äußeren nötigen (etwa an zahlreichen von Dürer verfassten Lehrbüchern schulbaren) handwerklichen Geschicks und v. a. 2. die Anbindung an christliche Vorstellungen von Überdauern, so die Unsterblichkeit der Seele. Beim vorliegenden Motto ist es dagegen »nicht mehr die christliche ›anima‹, sondern der schöpferische Geist, der in seinen Erkenntnissen und dem Ruhm seiner Taten weiterlebt«.34 Bemerkenwert ist, dass die gesamte Inschrift von der zu dieser Zeit bei Dürer gängigen Praxis abweicht, sich als »zugleich Bescheidenheitstopos wie Eigenlob«35 30
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Vgl. Bernhard Decker, Dürer und Grünewald. Der Frankfurter Heller-Altar, Frankfurt a. M. 1996, S. 37. Eckert/v. Imhoff [Anm. 5], S. 89, übersetzen »mit unvergänglichen Farben«, Rebel [Anm. 11], S. 157, schreibt »mit unvergänglichen ›= eigentümlichen‹ Farben«. Menge-Güthling [Anm. 21] lassen für proprius u. a. die Möglichkeiten: »eigentümlich, eigen« sowie »bleibend, dauernd, beständig«, so dass eine absichtsvolle Doppelbedeutung für die Inschrift gewählt sein könnte, die Beständigkeit durch naturalistisches Abbilden meint. Vgl. Rebel [Anm. 11], S. 163 ff. (»›Ich‹ als Ähnlichkeit mit Christus«). Zu denken wäre etwa an die ‘Vier Apostel’ (1526, heute in der Alten Pinakothek München), die als ehrendes Geschenk Dürers an die Stadt Nürnberg im Rathaus zum dauernden Ruhm beider Seiten aufgehängt wurden. Strieder [Anm. 28], S. 97. Aus diesem Grund scheint auch Schusters Hinweis auf Römer 8,13 nicht unbedingt als Hinweis auf eine christliche Motivation Pirckheimers zu verstehen; Peter-Klaus Schuster, Individuelle Ewigkeit. Hoffnungen und Ansprüche im Bildnis der Lutherzeit, in: Biographie und Autobiographie in der Renaissance, hg. von August Buck, Wiesbaden 1983, S. 121–173, hier S. 131. Angela Matyssek, in: Dürers Dinge. Einblattgraphik und Buchillustrationen Albrecht Dürers aus dem Besitz der Georg-August-Universität Göttingen, hg. von Gerd Unverfehrt, Göttingen 1997, S. 196.
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selbst zu erwähnen und so »nicht länger nur das Porträt des Dargestellten, sondern ebenso das ihres Urhebers«36 zu präsentieren: Auf dem Kupferstichbildnis Friedrichs des Weisen aus demselben Jahr (1524) erwähnt sich Dürer nebst einem blassen, seitenverkehrten Monogramm noch zweimal selbst, einmal mit vollem Namen (Albertus Durer Nur Faciebat) und dann in einer abgekürzten lateinischen Zueignung, die Angela Matyssek als: »Dem Hochverdienten schuf er es als Lebender dem Lebenden«37 überträgt. Tritt der Künstler hier quasi als belohnende Instanz auf, so stellt er sich im Kupferstich des Philipp Melanchthon (1526) mit Namen als denjenigen vor, der die Züge des Gelehrten gemeistert habe. Dürer konzediert dabei, dass er (metonymisch und programmatisch: die gelehrte Hand) den Geist nicht abbilden könne: Viventis Potuit Durerius Ora Philippi / Mentem Non Potuit Pingere Docta Manus. Melanchthon bedankte sich bei Dürer mit Versen, in denen er die bildkünstlerische Fähigkeit jener der Wissenschaft gleichstellt.38 Auf dem Stich desselben Jahres, der Erasmus von Rotterdam zeigt (Meder 105) und für den Erasmus sich ebenfalls durch gelehrtes Lob erkenntlich zeigte, findet man, dass das Werk Ab Alberto Durero gestochen wurde. In diesen Fällen nimmt Dürer also Teil am Bild und indirekt auch am Gedächtnis des Dargestellten. Hiervon ist, bis auf das kleine Monogramm, im vorliegenden Stich keine Spur. Während Dürer gegenüber dem Kurfürsten und zwei Gelehrten, die im Rang Pirckheimer überstiegen, keine Scheu hatte, seine eigene Repräsentation zu betreiben, unterließ er dies ausgerechnet beim Freund, mit dem er oft genug in Dingen der Memoria zusammengearbeitet hatte. Betrachten wir die anderen erhaltenen39 Bildnisse Pirckheimers von Dürers Hand, so kommt diesem Stich zeitlich wie konzeptionell eine Sonderstellung zu. Ein Holzschnitt aus dem Jahre 1498, mit dem Dürer das Buch Ludwigs von Preußen, Trilogium animae, illustrierte (Meder 254), stellt wohl das älteste Bildnis Pirckheimers dar und zeigt ihn als caput physicum, anhand dessen die menschlichen Geistesfähigkeiten verortet werden. Freilich wurde dieser Kopf erst 1906 mit Pirckheimer identifiziert, und es bedarf einiger Phantasie, den Humanisten zu erkennen. Eine Kohlezeichnung von 1503 mit dem Profil Pirckheimers (Winkler 270)40 und eine im selben Jahr ent36 37 38
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Schuster [Anm. 34], S. 137 f. Matyssek [Anm. 35], S. 194. Vgl. Gottfried Seebaß, Dürers Stellung in der reformatorischen Bewegung, in: Albrecht Dürers Umwelt, Nürnberg 1971, S. 131. Seebaß übersetzt: »Wie kein Bild aus ungeschliffenem Spiegel zurückscheint, / Wenn nicht des Künstlers Hand rechte Schärfe ihm gab, / So wird der seinen Geist nicht scharfsinnig können gebrauchen, / Der nicht gebildet wird mit der Wissenschaft Kraft.« Vgl. Rupprich [Anm. 5], S. 80. An Zeichnungen Dürers von Pirckheimer »ist allem Anschein nach vieles verloren«. Eine von Satzinger [Anm. 8], S. 238 ff. offenbar unter »Dürers Bildnisse von Willibald Pirckheimer« gerechnete, in Kopien erhaltene kleinformatige Ölmalerei des am Kind- und Sterbebett seiner Frau trauernden Pirckheimer (1504) zeigt diesen fast vollständig bedeckt und ist höchstens indirekt als Bildnis zu verstehen. Zur »Modernität« des Materials Kohle und des Bildtypus Profilbild vgl. Satzinger [Anm. 8], S. 233 ff. Satzinger legt dar, dass diese Kohlenzeichnung wohl mit einer nur in Kopie erhaltenen Kohlezeichnung seiner Frau ein Bildnispaar ergab (ebd., S. 232 f.).
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standene, in der Haltung ähnliche Silberstiftzeichnung (Winkler 268), die bereits oben erwähnt wurde, sind die letzten bekannten Pirckheimer-Bildnisse Dürers vor dem Kupferstich; sie präsentieren den Freund im Vollbesitz seiner physischen Leistungsfähigkeit. Der Charakter dieser beiden Darstellungen ist zweifellos privater Natur, nicht nur des verwendeten Mediums Handzeichnung wegen, sondern auch aufgrund der erwähnten obszönen griechischen Inschrift des Silberstiftporträts, die zu Spekulationen über ein homoerotisches Verhältnis der Freunde Anlass gab.41 Mit dem Kupferstich von 1524 stellt Dürer den Freund hingegen ›öffentlich‹ und wohl in dreistelliger Auflagenhöhe dar,42 nach dem Muster humanistischer Freundschafts- und Gedächtnisbilder, wie sie etwa in Konrad Celtis’ ‘Sterbebild’ und ’Porträtmedaille’, die Hans Burgkmair 1508 ausführte, einen Verwandten besaßen. Bekanntlich hatte Dürer zuvor für Celtis gearbeitet und u. a. den ‘Philosophia’-Holzschnitt (1502; Meder XIV) sowie einen Widmungsholzschnitt angefertigt, der Celtis vor dem sächsischen Kurfürsten zeigte (1501; Meder XIV), zudem auch Burgkmair porträtiert (1518; Winkler 569), so dass Dürer wohl auch mit dessen Bildwerken für Celtis vertraut war. Wie bei Celtis’ ‘Sterbebild’ erinnert der Bildaufbau des Pirckheimer-Porträts an spätantike Epitaphien: Er präsentiert eine separate, für das Verständnis zentrale Inschrift und zeigt den physisch ermatteten Porträtierten lebend auf einem Epitaph, also quasi zwischen Tod und Leben. Auch geht es, wie bei der ‘Porträtmedaille’, um die Vervielfältigung des eigenen Äußeren, das im Freundeskreis verschickt wird.43 Dass Dürer, der bekannteste Bildkünstler der Zeit, der drei Jahre zuvor auf seiner Niederländischen Reise einen Triumphzug an Herrscherhöfen und bei Berufsgenossen abgehalten hatte, in diesem Kontext (anders als Burgkmair) auf seine übliche Nennung als schaffender Künstler verzichtete und ein seiner Bildprogrammatik widersprechendes Motto beifügte, ließe sich mit dem hierarchischen Unterschied zwischen Pirckheimer und Dürer erklären: Es war zwischen ihnen offenbar unmöglich oder jedenfalls unerwünscht, das Gedächtnis Pirckheimers öffentlich der docta manus Dürers und seiner Bild- und Gedächtniskonzeption zu überlassen, wie es bei Melanchthon der Fall war. Ganz ohne Weiteres hat sich Dürer aber anscheinend nicht dem Anspruch des Vivitur-Mottos gefügt:44 Bild und Schrift treten im Gehalt so weit auseinander, dass man darin den Widerspruch des Künstlers gegen die Konzeption des Gelehrten sehen kann. Auf keinem anderen druckgraphischen Werk widmet sich Dürer derart stark 41
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Vgl. Niklas Holzberg, Willibald Pirckheimer. Griechischer Humanist in Deutschland, München 1981, S. 68. Vgl. Satzinger [Anm. 8], S. 240. Dies zeigt die Reaktion Erasmus’ von Rotterdam auf die Übersendung einer Porträtmedaille und des Kupferstichs; vgl. Eckert/v. Imhoff [Anm. 5], S. 84. Vgl. auch Satzinger [Anm. 8], S. 240 f. Überhaupt scheint er Pirckheimer zumindest in Dingen der Bildkunst selbstbewusst begegnet zu sein: Philipp Melanchthon überliefert eine Kontroverse zwischen beiden, in der Pirckheimer Dürer in Bezug auf einen theologischen Gegenstand vorhält, derlei lasse sich nicht malen, worauf Dürer erwidert, es lasse sich ebenso wenig sagen. Vgl. Eckert/v. Imhoff [Anm. 5], S. 41.
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der Darstellung feinster Stofflichkeit (Pelz und Haare) und betont so über die vergängliche Pracht den handwerklichen Aspekt der Bildkunst. Allein auf dem Münchner Selbstbildnis von 1500 wird in ähnlicher Weise die Feinheit von Locken und Pelzmantel hervorgehoben. Hier wie dort geht es exemplarisch um das Problem des Menschen bzw. seiner Gestalt im Verhältnis zu dauerhaften (säkularen bzw. religiösen) Werten. Sähen wir Pirckheimer nicht im Halbprofil, sondern ebenso frontal wie Dürer im Bild von 1500, würde offenkundig, dass Dürer sich im Stich selbst zitierte: Selbst- und Freundesbildnis erscheinen zumindest inhaltlich und optisch sehr gut vergleichbar. Der Behauptung, man könne nur durch Ingenium überdauern, wird der handwerklich perfekt ausgeführte christomorphe Mensch entgegengesetzt, somit Kunstfertigkeit und christliche Heilslehre. Das Lichtkreuz in Pirckheimers Pupillen deutet auf den Topos der christlichen anima und auf die Bedeutung des Sehens als Schlüssels zu Seele und Geist. Das Bild oben widerspricht so der kategorischen Aussage des Mottos darunter.
Die Elegia Bilibaldi Pirckeymheri in obitum Alberti Düreri Wann immer in der Forschung von Willibald Pirckheimers lateinischem Trauergedicht auf den verstorbenen Albrecht Dürer die Rede ist, scheint zweierlei unzweifelhaft, nämlich dass zum einen Pirckheimer nur hier zu für ihn beispielloser Dichtkunst gefunden habe, und dass zum anderen nichts als die Trauer um den toten Freund für diesen Sonderfall im Oeuvre des Gelehrten verantwortlich sei.45 Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die auffällige Emotionalität keineswegs (allein) Ausdruck der Seelenstimmung Pirckheimers war, sondern ihm auch aus einer ›Zwickmühle‹ half, einerseits öffentlich auf den Tod des Freundes antworten zu müssen, andererseits den unmittelbaren Vergleich mit dem Trauergedicht Eoban Hesses, eines der renommiertesten Dichter der Zeit, zu vermeiden. Pirckheimers Elegia wurde zuerst am 31. Oktober 1528 mit vier Epitaphien des Humanisten auf den Tod Dürers in der posthumen Edition von dessen ‘Vier Büchern von menschlicher Proportion’ gedruckt. Ein Autograph der Elegie hat sich in der 45
Hans Rupprich schreibt, die »Tiefe des schmerzvollen Erlebens des Todes seines besten Freundes [. . .] machte Pirckheimer für einen Moment seines Lebens zum wirklichen Dichter.« (Hans Rupprich, Pirckheimers Elegie auf den Tod Dürers, in: Anzeiger der phil.-hist. Klasse der Österr. Akademie der Wissenschaften 9 [1956], S. 136). Hugo Steiger behauptet von Pirckheimer: »Der tiefe Schmerz, den er fühlt, zwingt ihn, den Humanismus hier beiseite zu lassen und nur an den toten Freund zu denken.« (Hugo Steiger, Eobanus Hesse und Albrecht Dürer, in: Bayrische Blätter für das Gymnasialschulwesen 66 [1930], S. 76) Willehad Paul Eckert und Christoph von Imhoff finden für die Sonderstellung des Gedichts im Gesamtwerk dieselbe Erklärung: »Die Trauer um den Verlust des Freundes aber inspirierte ihn zu seiner Elegie auf den Tod Dürers. Niemals zuvor und niemals später ist Pirckheimer ein so vollendetes Gedicht gelungen. Hier wurde er wirklich zum Dichter« (Eckert/v. Imhoff [Anm. 5], S. 115). Niklas Holzberg zieht die »für einen Humanisten so ungewöhnliche Innigkeit der Elegie Pirckheimers auf den verstorbenen Dürer« heran, um die These vom »homoerotischen Charakter der Beziehung Dürer-Pirckheimer« zu stützen (Holzberg [Anm. 41], S. 68).
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Sammelhandschrift des Cod. Arundel 175 des Britischen Museums in London erhalten. Das Gedicht besteht aus siebzehn Distichen, deren Gehalt Hans Rupprich in vier Abschnitte teilt: »Anrede an den Freund« (V.1–10), »Ausbruch leidenschaftlicher Klage« (V.11–18), eine weitere Anrede (V.19–26) mit Verheißung jenseitigen Lohnes und philosophisch-religiöser Tröstung, wozu ebenso lobende Elemente wie »solche des Gebetes« gehören. Schließlich werden »die für die Wartezeit im Diesseits den Freunden verbliebenen Tröstungen und Pflichten«46 näher bezeichnet. Die Elegia beteuert die Bedeutung Dürers für den Redner (meae maxima pars animae), thematisiert das rasche Hinscheiden des Verstorbenen (Non [. . .] licuit [. . .] / Ultima nec tristi dicere verba vale), geht in eine kurze Schilderung der Tugenden Dürers über (Ingenium, formam, cum probitate fidem) und verleiht der Hoffnung Ausdruck, dass Kunst und Name des Toten überdauern werden und dass Dürer gratiam Christi, Lohn im Jenseits, finde. Mit dem Vers: Dormit enim in Christo vir bonus, non moritur endet das Gedicht. Auch die vier Epitaphien, die an derselben Stelle stehen, zeigen, dass Pirckheimer keineswegs – wie noch vor vier Jahren – das Ingenium als alleinigen Memoria-Träger bezeichnet, sondern neben dem starken christlich-heilsgeschichtlichen Akzent der Elegie einen ganzen Katalog memoria-relevanter Tugenden anspricht (Ingenium, probitas, candor, prudentia, virtus / Ars pietasque, fides hic tumulata iacent). Trauer und Freundschaft aller, mit denen Dürer umging, werden vom amico integerrimo Pirckheimer hervorgehoben.47 Es empfiehlt sich, Pirckheimers Elegie im Kontext anderer Dürer betrauernder Werke zu verstehen, derjenigen Eoban Hesses. Offenbar löste Dürers Tod in Nürnberg einige Hektik aus: Christoph Scheurl berichtet davon, dass am 6. April 1528 – dem Tag, an dem Albrecht Dürer starb und offenbar sofort begraben wurde – Malerkollegen den Künstler wieder ausgruben, um seine Gesichtszüge durch eine (nicht erhaltene) Totenmaske zu verewigen.48 Eine heute in der Wiener Akademie der bildenden Künste aufbewahrte Locke des Künstlers wurde ebenfalls an diesem Tag abgeschnitten und seither quasi als Reliquie bewahrt.49 Weniger handfest, aber ähnlich eilig kümmerte sich auch der Gelehrte und Dichter Helius Eobanus Hesse (1488– 1540) um das Andenken Dürers, indem er schon am 7. April in einem Brief an Hieronymus Paumgartner mitteilte, dass er an einer Würdigung arbeite (Nunc in scribendo epicedio Dürerio sum).50 Das fertige Werk, eine achtseitige Sammlung ver46 47
48 49 50
Zit. nach: Rupprich [Anm. 1], S. 147 f. Z. B.: [. . .] non lachrymis nec flendo fata moventur und omnibus fuit charissimus. Diese wie alle vorangehenden Zitate zu Pirckheimers Texten auf Dürer zitiert nach: Rupprich [Anm. 1], Bd. 1, S. 303 f. Vgl. Rupprich [Anm. 1], Bd. 1, S. 297 f. Vgl. ebd., S. 251 sowie Katalog [Anm. 3], S. 428 f. mit Abb. Vgl. ebd., S. 279. Von der Bekannt- oder gar Freundschaft Eoban Hesses zu Albrecht Dürer zeugen v. a. eine Silberstiftzeichnung (Winkler 905) aus dem Jahre 1526 sowie ein von dieser Vorlage erstellter Holzschnitt (Meder 257). Hesse wurde also von Dürer zeitnah mit geistlichen oder weltlichen Fürsten sowie befreundeten Humanisten porträtiert. Zur Beziehung Dürer – Hesse vgl. Steiger [Anm. 45], S. 72 ff.
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schiedener Texte zum Tode Dürers, die Hesse sowie der Theologe und Mathematiker Thomas Venatorius (1490–1551) verfassten, ging nach kurzer Zeit in den Druck, denn wohl schon im Mai desselben Jahres51 antwortete Martin Luther Hesse auf die Zusendung des Trauergedichts; am 1. Oktober 1528 dankte auch Johannes Brassicanus dem Dichter für die übersandten Werke. Derjenige, welcher Dürers Ableben in daktylischen Distichen beklagte, war nicht irgendwer. Es handelte sich um den Mann, »der damals für den besten Dichter unter den Humanisten galt«52 und dessen dichterische Domäne im Verfassen christlicher, an Ovid angelehnter Heroiden und elegischer Trauergedichte, Epicedien, bestand, etwa auf Reuchlin, Hutten oder Hesses Sodalen Konrad Mutian. Heinz Otto Burger schreibt über Hesses Dichtungen: »Die Humanisten [. . .] brachen in Jubel aus, dass Deutschland, das in Konrad Celtis seinen Horaz besitze, nun auch seinen Ovid erhalten habe«.53 Somit war es der führende humanistische Dichter der Zeit, spezialisiert auf Preisgedichte jüngst Verstorbener, der direkt nach Dürers Tod die Feder spitzte; zudem ein notorischer Viel- und Gelegenheitsschreiber.54 Hesses Epicedion In funere Alberti Dureri Norici55 besteht aus 168 zu Distichen gepaarten Versen, in denen der Vergleich zwischen Dürer und dem antiken Maler Apelles – ein auch von Celtis und Erasmus benutzter Topos56 – angestellt wird. Wie Erasmus betont Hesse den Vorrang Dürers vor Apelles, da er für seine Kunst, die Druckgraphik, keine Farben brauche.57 Über seinen Tod klagten die Natur und mythologische Figuren, da Dürer der Seele Gestalt gegeben, in der Wissenschaft bedeutsam und in der Mathematik dem Aristoteles überlegen gewesen sei. Daher trauerten alle: Nürnberg und die umgebenden Wälder und Seen, Menschen und allerlei Götterund Sagenwesen. In seinen Werken lebe der Künstler aber fort, sein Ruhm werde ewig währen. Mit einer Unfähigkeitsbezeugung, der Anrufung des Toten und dem Wunsch seines dies- und jenseitigen Weiterlebens endet der Text. Der Vorwurf an Hesse, ein »Erzeugnis aufdringlicher humanistischer Gelehrsamkeit« sowie »Phrasen und Masken«58 zu präsentieren, mag aus heutigem Empfinden durchaus berechtigt sein. Die Zeitgenossen jedoch haben die Epicedien Hesses offen51 52 53 54
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Vgl. ebd., S. 281. Steiger [Anm. 45], S. 72. Heinz Otto Burger, Renaissance, Humanismus, Reformation, Bad Homburg 1969, S. 404. Vgl. Steiger [Anm. 45], S. 79: »Hesse war unerschöpflich in lateinischen Versen. Allein in den sechs Jahren, die er an der Nürnberger Schule wirkte, [. . .] ergeben sich [. . .] etwa 20 000 Verse«; Hans Rupprich, Die deutsche Literatur vom späten Mittelalter bis zum Barock, München 21994, S. 621: »Schon in der Frühzeit ist bei Eoban ein ausgeprägter Zug zur Gelegenheitsdichtung wahrzunehmen. Er war imstande, innerhalb kürzester Zeit über alles und jedes ein kunstvolles Gedicht zu machen.« Ediert in Rupprich [Anm. 1], Bd. 1, S. 298 ff. So in Celtis’ um die Jahrhundertwende entstandenen Epigramm Ad pictorem Albertum Durer Nurnbergensem, in dem dieser als »alter Apelles« angesprochen wird, und in Erasmus’ 1528 erschienener Schrift De recta latini graecique sermonis pronuntiatione, in der Dürer der Vorrang vor dem Apelles zugesprochen wird, da er für seine Kunst nicht der Farbe bedürfe. Vgl. Rupprich [Anm. 1], Bd. 1, S. 299, etwa V. 17–20, 33–36. Steiger [Anm. 45], S. 73.
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bar als vorbildlich empfunden, und wer hinkünftig den toten Dürer in einem Text – zumal einem lateinisch gelehrten – loben wollte, trat zweifellos in Konkurrenz zum Werk und Namen des Dichters Hesse. Wie der Dichter seine eigene Rolle bei der Verklärung Dürers sah, verdeutlicht das zweite längere Gedicht, das Hesse dem Druckwerk beigab, Somnium eiusdem quo monitus scripsit Epicedion.59 In diesen dreiundzwanzig Distichen erscheint Dürer in der Nacht nach seinem Tod dem Hesse. Er erinnert ihn an seine Pflicht als eines seiner engsten Freunde (Hesse, meos nuper non ultimus inter amicos), nämlich, Dürer durch eine Grabinschrift zu verewigen, was Hesse auch verspricht. Dann erwacht er schweißgebadet, greift zur Feder und verfasst ein Epicedion. Hesses Freundschaft zu Dürer, seine Dichtkunst und seine Berufung im Traum durch den Toten legitimieren Hesse also in dieser Darstellung – letztlich vor Anderen. Von Eoban Hesses Eifer, den toten Dürer in Gedichten zu feiern, wusste Willibald Pirckheimer von Anfang an: Ein Brief des Thomas Venatorius, der zwar nicht datiert ist, aber dem Inhalt nach nur in der ersten Zeit nach Dürers Tod verfasst sein kann, informiert Pirckheimer, dass der Schreiber Hesse aufgesucht habe, um sich nach Pirckheimers Hinweis (a te receperam) selbst ein Bild von Eobans Arbeit am DürerGedicht zu machen. Hesse unterrichtet Venatorius über den avancierten Stand der Arbeit, lobt Pirckheimer dafür, den Toten ebenfalls in einem Gedicht feiern zu wollen (maxime autem placere ei animi tui candorem, qui iam defuncti amici laudes celebrare statuisses) und schlägt vor, alle interessierten Gelehrten sollten Dürer-Epitaphien schreiben und gemeinsam veröffentlichen.60 Auch verfasst Hesse einen in den April 1528 datierten Brief an Pirckheimer,61 in dem er nach Schmeicheleien (Nec minus hoc tristi tua gloria tempore floret), ein ihm (zumindest indirekt) zur Kenntnis gelangtes Gedicht Pirckheimers auf Dürer erwähnt (Vidimus [. . .] / Quales Durero solveris inferias) und die Mitarbeit erbittet: Da rogo cum nostris carmina posse legi. Es ist also einerseits festzuhalten, dass sich Pirckheimer offenbar bald nach Dürers Tod zumindest mit der Absicht trug, an den Toten mit einem Text zu erinnern. Andererseits nahm er das mindestens zweifache Angebot Hesses zur Zusammenarbeit am Gedenkdruck nicht an (im Gegensatz zu Thomas Venatorius) und trat stattdessen erst später, eben am 31. Oktober 1528, allein mit seiner Elegia sowie anderen Gedichten hervor. Denkbar ist mit Hans Rupprich, dass der Londoner Entwurf der Elegia »unmittelbar nach Dürers Hinscheiden«62 entstanden und erst ein halbes Jahr später ähnlich in den Druck gekommen ist. Mindestens ebenso gut kann jedoch das erste Konzept, das Venatorius Hesse gegenüber erwähnte und auf das sich Hesse in seinem Brief an Pirckheimer bezog, angesichts des sich als Ersten unter den Freunden gerierenden Konkurrenten Hesse verworfen und ein neuer Text verfasst worden sein. Jedenfalls legte Pirckheimer offenbar keinen Wert darauf, einen Text aus seiner Feder neben die 59 60 61 62
Ediert bei Rupprich [Anm. 1], Bd. 1, S. 301. Die folgenden Zitate sind dort entnommen. Jeweils zit. nach: ebd., S. 280. Ebd., S. 304 f. Rupprich [Anm. 1], S. 140.
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Gedichte Hesses zu stellen. Schließlich war Willibald Pirckheimer nicht eigentlich ein Dichter, wenngleich er das Verfassen von Epitaphien beherrschte und noch zu seinen italienischen Studienzeiten das Gebot seines Vaters beherzigt hatte, sich mit Regelpoesie zu beschäftigen.63 Eine direkte, innerhalb eines Druckes oder auch zeitgleich erfolgte Gegenüberstellung eines rasch verfassten Gedichtes von seiner Hand mit einem oder mehreren Werken des bedeutendsten, und produktivsten humanistischen Dichters der Zeit konnte nicht in Pirckheimers Interesse sein. Sie wäre wohl kaum zu seinen Gunsten ausgefallen und daher der Reputation des Gelehrten und Übersetzers abträglich gewesen. Zu schweigen war Willibald Pirckheimer jedoch ebenso unmöglich: Demnächst (eben im Oktober 1528) würden posthum Dürers umfassende ‘Vier Bücher von menschlicher Proportion’ erscheinen, die Pirckheimer zugeeignet waren; ein Freundschaftsbeweis des viel betrauerten Toten, der eine angemessene Reaktion verlangte. Zudem gingen bei Pirckheimer offenbar Kondolenzschreiben ein, von denen zumindest die seiner Schwester Sabina und des Humanisten Gabriel Hummelberger Pirckheimers Trauer und seine enge Freundschaft mit Dürer thematisierten.64 Von daher musste die öffentliche Behauptung eines bloßen Bekannten Dürers, nämlich Eoban Hesses, der durch Freundschaft und Begabung vor allen Anderen privilegierte Trauerredner zu sein, für den berühmten und in Gelehrtenkreisen als engsten Dürer-Freund bekannten Pirckheimer als Provokation erscheinen. So gesehen steckte Pirckheimer in der ›Zwickmühle‹, einerseits auf Dürers Tod reagieren zu müssen, andererseits im Vergleich mit Hesses umfangreichem und ›perfektem‹ Trauergedicht wenig gewinnen zu können. Er ›befreite‹ sich aus dieser Lage, indem er sich einige Monate Zeit für ein gut konzipiertes, andersartiges Werk nahm, das im Vergleich zu Hesse recht genau zehnmal kürzer war und in dem er Grundzüge dominieren ließ, die der routinierten Dichtkunst Hesses (ebenso wie den eigenen früheren Gedichten) abgingen: christlich-moralische Aspekte und – vor allem – hohe Emotionalität. Zwar neigte Willibald Pirckheimer offenbar dazu, in Briefen und im Kreis seiner Briefpartner durchaus Trauergefühle zu thematisieren, wie bereits im Codex epistolaris des Konrad Celtis deutlich wird, in dem 1504 Sebald Schreyer die starke Trauer Pirckheimers um seine tote Frau beschrieb und um ein Trostgedicht für den Witwer bat (R 309).65 Erasmus von Rotterdam warf Pirckheimer in einem Brief vom 24. April 1528 sogar vor, es mit Trauer um und Memoria für Dürer zu übertreiben.66 Die oben 63
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Ebd., S. 136 f., 139: Pirckheimers Kompetenz erstreckte sich dabei sowohl auf das Verfassen lateinischer wie deutscher Texte, und zumindest in seinem Freundeskreis waren seine Fähigkeiten offenbar geschätzt. Im Brief Sabinas aus dem Kloster Bergen (30.4.1528) heißt es: Man hat mir gesagt, daz der Thürer auch gestorben ist [. . .] ist mir leid, sunderlich um euch, daz ir in eurem alter einß guten freintz beraubt seit., und noch deutlicher bei Hummelsberger am 24.6. desselben Jahres: Propter amici tui Alberti Dureri mortem tibi condoleo, ut qui maxime amisisti, non dubito, amicum optimum et quem amissum merito doleas. Vgl. Rupprich [Anm. 1], Bd. 1, S. 281 f. Hans Rupprich, Der Briefwechsel des Konrad Celtis, München 1934, S. 560 f. Quid attinet Dureri mortem deplorare, quum simus mortales omnes? Epitaphium illi paratum est in libello meo; vgl. Rupprich [Anm. 1], Bd. 1, S. 280.
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erwähnte Zuschreibung, der beste Freund Dürers oder zumindest ein sehr enger zu sein, hatte Pirckheimer aber vor dem Tod Dürers den überlieferten Quellen zufolge nie beansprucht.67 Selbst in den Texten, die sich noch zu Lebzeiten Dürers mit dessen Memoria befassten, ist von Emotionen Pirckheimers nichts zu spüren. Stellvertretend sei die Gedenkschrift genannt, die Pirckheimer in seiner Bibliothek anbringen ließ und deren Abschluss das Lob desjenigen ist, der es dazu brachte, vom Kaiser einhundert Gulden Leibrente zu erhalten.68 Mit Dürers Tod verringerte sich diese wohl durch die Standes- und Bildungsdifferenz beider nach außen getragene Distanz Pirckheimers. Nicht nur in seiner Elegia, sondern auch in Briefen an Ulrich Varnbüler und Johannes Tschertte betont Pirckheimer sein Leid angesichts des Todes Dürers, den er zumindest der pesten freunt eynen nennt.69 Was die Kompetenz im gelehrten Dichten betrifft, wollte Pirckheimer bei Erscheinen der Proportionsbücher ein halbes Jahr nach Dürers Tod offenbar nicht mehr vor Hesses Text zurückweichen. Die Bezeichnung des Gedichts als Elegia ist insofern bemerkenswert, als sich der Begriff in neulateinischen Texten auf die Form elegischer Distichen und die »Imitatio der antiken Gattung« bezieht.70 Da das Dichten von Elegien mit der aetas Ovidiana verbunden wurde71 und Hesse als Dichter der ‘Heroiden’ in der Nachfolge des römischen Dichters gesehen wurde, bediente sich Pirckheimer der formal-stilistischen Mittel der Domäne Hesses, um sie mit anderem Inhalt zu einem neuartigen Ganzen zu verbinden. Überdies beinhaltet die Elegia eine Anspielung auf ein Epigramm des Kallimachos, welches dem im letzten Vers vorgebrachten Gedanken vom heiligen Schlaf der guten Menschen zugrunde liegt.72 Willibald Pirckheimer weist somit auf einen wesentlichen Vorzug seiner Bildung vor derjenigen der meisten anderen Dichter und Gelehrten (und auch des Eoban Hesse) hin: Kenntnis und Verständnis der griechischen Sprache und Literatur. Aus spontaner Trauer gelangte hierbei das Wenigste auf Papier: Hans Rupprich hat darauf hingewiesen, dass »einzelne Wendungen« des früheren Briefkonzepts an Ul67
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Anders Dürer, der am 7.2.1506 aus Venedig an Pirckheimer schrieb: jch hab kein anderen frewnt awff erden den ewch. [. . .] jch halt ewch nit anderst den vür ein vater; zit. nach Rupprich [Anm. 1], Bd. 1, S. 43. Vgl. Rupprich [Anm. 5], S. 98: [. . .] non solum patriae ac Germanorum gloria [!] auxit, sed et Caesaribus adeo carum fuit, ut cum annuo spidendio [!] C aureorum donarent. Eine deutsche Übersetzung der Tafel bieten Eckert/v. Imhoff [Anm. 5], S. 118. Im Briefkonzept an Ulrich Varnbüler schreibt Pirckheimer vom Schmerz, den ihm der optimi ac amicissimi nostri Alberti Dureri abitus verursacht. Im Entwurf des wohl kurz vor Pirckheimers Tod im Dezember 1530 geschriebenen Briefs an Johann Tschertte ist von unser peyder in got verstorbem freunt Albrechten Durer die Rede. Außerdem schreibt Pirckheimer derselben Stelle: Ich hab warlich an Albrechten der pesten freunt eynen, so ich auf erdreych gehabt hab, verloren (vgl. Rupprich [Anm. 1], Bd. 1, S. 280, 284). Friedrich Beissner, Geschichte der deutschen Elegie, Berlin 31965, S. 49. Vgl. ebd., S. 47. Vgl. Steiger [Anm. 45], S. 76; Rupprich [Anm. 1], S. 149.
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rich Varnbüler, insbesondere diejenigen, die seinen Schmerz und seine Freundschaft zu Dürer betreffen, sich nahezu »wörtlich mit Pirckheimers Elegie«73 decken. Pirckheimer erprobte also wohl die Wirkung seines Tones und der gewählten Bilder im Briefformat. Beide betrachteten Werke, mit denen Dürer und Pirckheimer die Memoria des Freundes (wie auch ihrer selbst) bezweckten, weisen eine Sonderstellung im Werk des Schaffenden auf. Diese erklärt sich, wie gezeigt werden sollte, nicht zuerst dadurch, dass die wechselseitige Darstellung des Freundes in seiner augenfälligen oder bereits geschehenen Vergänglichkeit eine besondere emotionale Herausforderung bedeutete. Vielmehr ist in beiden Werken ein auch zu früheren Gelegenheiten greifbarer Grundzug v. a. Pirckheimers wirkmächtig, Status, Vorrang und intellektuelle Kapazität auszudrücken; ein Anspruch also, der sich am Selbstverständnis der von ihm als Konkurrenten begriffenen Personen, hier des berühmten Bildkünstlers Dürer ebenso wie des gefeierten Dichters Hesse, reiben musste. Im Kontext der jeweiligen Aufgabe, nämlich die Memoria des Freundes und seiner selbst zu besorgen, wurde dieser Anspruch für die Gestaltung beider Werke prägend.
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Rupprich [Anm. 1], S. 140.
Wann gantz geferlich ist die zeit Zur Darstellung der Türken im Werk des Hans Sachs von Christiane Ackermann und Rebekka Nöcker
Dem Tübinger Meister der Medien
I Kennzeichen der ›Türkenliteratur‹ des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit ist die Heterogenität ihrer Textsorten und Gattungen und – damit verbunden – ihre vielschichtige Medialität.1 Kaum ein anderer Autor der Frühen Neuzeit legt mit seinem Œuvre davon so beredtes Zeugnis ab wie der frühneuzeitliche »Meister der Medien«,2 Hans Sachs. In zahlreichen Texten berichtet der Nürnberger Dichter vom Vorgehen der Türken3 und den Geschehnissen in Zusammenhang mit der osmanischen Expansion.4 Er schildert es in Spruchgedichten und Meisterliedern; in immer wieder glei1
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Mediävistik ist hier nicht allein im Sinne von Medien (etwa Handschrift vs. Druck) als Kommunikationsträger zu verstehen. Gemeint ist vielmehr auch die ›Materialität‹ bestimmter Textsorten und der performative Charakter von Literatur sowie die darin wirksamen verschiedenen Bedeutungsträger. Die mediale Dimension der Türkendichtung Sachsens kann im vorliegenden Beitrag nur vereinzelt zur Sprache kommen (exemplarisch zu bedenken ist etwa die Zeichenhaftigkeit von Raum und Körper, wie sie im Flugblatt zum Tragen kommt). Michael Schilling, Der Meister der Medien. Hans Sachs und die Bildpublizistik, in: Euphorion 102 (2008), S. 363–393. Osmanen und Türken werden in der Türkendichtung zumeist gleichgesetzt, obwohl diese Identifizierung historisch nicht korrekt ist (der vorliegende Beitrag übernimmt den synonymischen Gebrauch, sofern er sich auf die diskutierten Quellen bezieht). Zur Begriffsgeschichte der ›Türken‹ vgl. Almut Höfert, TURCICA: Annäherung an eine Gesamtbetrachtung repräsentativer Reiseberichte über das Osmanische Reich bis 1600, in: Text und Bild in Reiseberichten des 16. Jahrhunderts. Westliche Zeugnisse über Amerika und das Osmanische Reich, hg. von Ulrike Ilg (Kunsthistorisches Institut in Florenz, Max-Planck-Institut, Studi e Ricerche 3), Venedig 2008, S. 38–94, hier S. 46–50; dies., Den Feind beschreiben. »Türkengefahr« und europäisches Wissen über das Osmanische Reich 1450–1600 (Campus Historische Studien 35), Frankfurt a. M./New York 2003, S. 184–187. Der Rolle der Türkenthematik bei Hans Sachs hat sich die Forschung mehrfach gewidmet: Während Cornelia Kleinlogel die »Parallelen zwischen den türkischen Typen und Themen im Werke Hans Sachsens und der zeitgenössischen Türkenliteratur« unter dem Fokus ›exotischer‹ und ›erotischer‹ Typisierungen herausstellt (Cornelia Kleinlogel, Exotik – Erotik. Zur Geschichte des Türkenbildes in der deutschen Literatur der frühen Neuzeit [1453–1800] [Bochumer Schriften zur deutschen Literatur 8], Frankfurt a. M./Bern u. a. 1989, Zitat S. 56), bezieht Michael Schilling einzelne der von Sachs verwendeten Türkentopoi in seinen Versuch ein, die Darstellung des Türkenbildes der Frühen Neuzeit zu umreißen (ders., Aspekte des Türkenbildes in Literatur und Publizistik der frühen Neuzeit, in: Die Begegnung mit dem islamischen Kulturraum in Geschichte und Gegenwart. Acta Hohenschwangen 1991, hg. von Stefan Krimm und Dieter Zerlin, München 1992, S. 43–60). Zuletzt haben sich die
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chen Phrasen entwirft Sachs Bilder des Grauens und des Schreckens, die er schließlich auch für sein Dramenwerk narrativ und inszenatorisch zu nutzen weiß. Für Sachs sind die häufigen und drastischen Negativzeichnungen der Türken charakteristisch, so dass seine späteren neutralen bis positiven Zeichnungen um so mehr erstaunen und zu einer Betrachtung des Spektrums seiner Türkendarstellungen anregen. Ausgehend von der Sonderstellung, die Hans Sachs aufgrund seiner gattungsübergreifenden Bearbeitung des Türkenthemas zukommt, will der vorliegende Beitrag die spezifischen Türkenbilder im Werk des Hans Sachs aufzeigen. So wird mit dem Verfahren des close-reading unter Berücksichtigung zeitgeschichtlicher Zusammenhänge zunächst ein Blick auf die Spruchdichtung geworfen, in der Sachs die negativen Darstellungen ausprägt (II), sodann die Instrumentalisierung der Türkenfigur im Drama exemplarisch analysiert (III) und abschließend Sachsens Versuch sachbezogener Schilderungen des türkischen Hofpersonals vorgestellt (IV). Dabei lässt die Untersuchung auch die mediale Dimension der Türkendarstellungen nicht unberücksichtigt. Erst eine solche Zusammenschau ermöglicht es, die Komplexität des Türkenbildes bei Hans Sachs zu erfassen. Sachsens Negativzeichnungen schließen an die ältere und zeitgenössische antitürkische Polemik der Türkenliteratur an. Diese prägt insbesondere unter dem Eindruck der Niederlage von Nikopolis (Schiltarn) 1396, des sog. Falls Konstantinopels 14535 und der ersten Belagerung Wiens 1529 das Bild vom Türken als einem grausamen Tyrannen, der nach dem Blut der Christen giert, sie vergewaltigt und pfählt.6
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Studie von Ulrich Feuerstein zu den Meisterliedern des Hans Sachs (ders., Derhalb stet es so e ubel / Icz fast in allem regiment. Zeitbezug und Zeitkritik in den Meisterliedern des Hans Sachs [1513–1546] [Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landgeschichte 61], Nürnberg 2001, S. 95 f., 137 f., 163–165, 174–176, 214–216, 222–224, 233) und das Kapitel zu Sachsens Haltung zum Krieg in dem Band Dulce bellum inexpertis. Bilder des Krieges in der deutschen Literatur des 15. und 16. Jahrhunderts, hg. von Horst Brunner, Joachim Hamm, Mathias Herweg, Sonja Kerth, Freimut Löser und Johannes Rettelbach (Imagines medii aevi 11), Wiesbaden 2002, S. 633–643, dem Gegenstand unter gattungsgeschichtlicher bzw. thematischer Perspektive gewidmet. Einschlägige Literatur zur Signifikanz Konstantinopels für die Wahrnehmung der Osmanen in Europa nennt Höfert, Den Feind beschreiben [Anm. 3], S. 57 Anm. 20. Zahlreiche Einzeluntersuchungen und Sammelbände stellen die historischen Ereignisse dar; exemplarisch verwiesen sei hier auf die Bände: Europa und die Türken in der Renaissance, hg. von Bodo Guthmüller und Wilhelm Kühlmann (Frühe Neuzeit 54), Tübingen 2000; Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie. Akten des internationalen Kongresses zum 150-jährigen Bestehen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, hg. von Marlene Kurz, Martin Scheutz, Karl Vocelka und Thomas Winkelbauer (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung; Ergänzungsband 48), Wien/München 2005. Für weitere Literaturhinweise vgl. Höfert, Den Feind beschreiben [diese Anm.], bes. S. 52 Anm. 5. Bis 1480 begegnen im Reichsgebiet überwiegend »Texte mit propagandistischer und diskursiver Funktion«. Demgegenüber sind Nachrichten über die Türken sachlich-informativen Inhalts von deutlich geringerer Zahl (Claudius Sieber-Lehmann, Der türkische Sultan Mehmed II. und Karl der Kühne, der »Türk im Occident«, in: Europa und die osmanische Expansion im ausgehenden Mittelalter, hg. von Franz-Reiner Erkens [Zeitschrift für historische Forschung; Beiheft 20], Berlin 1997, S. 13–38, hier S. 18 Anm. 17). Ungeachtet der
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Die Turcica, die Drucke, welche die osmanische Expansion im engeren oder weiteren Sinne thematisieren,7 verbreiten die Meldungen und Bilder vom ›tollwütigen türkischen Hund‹8 schnell und massenhaft, und schon die ältesten Produkte der Drukkerpresse legen von der Brisanz des Themas Zeugnis ab.9 Die erste Belagerung Wiens hatte zur Zeit Sachsens eine geradezu traumatische Wirkung. Das Ereignis führte zu einem Anstieg der Türkenliteratur, und es motivierte die intensive dichterische Auseinandersetzung des Nürnbergers mit ›den Türken‹.
II In dem Spruchgedicht Ein klag zu Gott uber die grausam wüterey des grausamen Türgken ob seinen viel kriegen und ob sigen10 findet sich das Repertoire der von Hans Sachs verwendeten negativen Topoi der Türkendarstellung zusammengeführt; sie sollen daher im Folgenden exemplarisch an diesem Text aufgezeigt werden. Sachs verfasste den Text im November des Jahres 1532, in jenem Jahr, in dem das osmanische Heer drei Jahre nach der Belagerung Wiens einen erneuten Vorstoß über Ungarn in
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verbreiteten anti-türkischen Propaganda befasste sich das Abendland seit dem Hochmittelalter verstärkt differenziert mit dem Islam (vgl. Robert Schwoebel, The Shadow of the Crescent: The Renaissance Image of the Turks [1453–1517], Nieuwkoop 1967, S. 208; Michael Klein, Geschichtsdenken und Ständekritik in apokalyptischer Perspektive. Martin Luthers Meinungs- und Wissensbildung zur ‘Türkenfrage’ auf dem Hintergrund der osmanischen Expansion und im Kontext der reformatorischen Bewegung, Diss. FernUniversität Hagen 2004. Online im Internet: URL: http://deposit.fernuni-hagen.de/34/ [Stand: 31.03.2009], S. 21–66). Die Turcica waren im gesamten europäischen Raum verbreitet, wobei, der Bibliographie Göllners zufolge, im 16. Jahrhundert nahezu die Hälfte der Turcica im Reichsgebiet entstand, davon der überwiegende Teil in Nürnberg. Vgl. Carl Göllner, Turcica. Die europäischen Türkendrucke des XVI. Jahrhunderts, Bd. 3: Die Türkenfrage in der öffentlichen Meinung Europas im 16. Jahrhundert (Bibliotheca bibliographica Aureliana 70), Bukarest/ BadenBaden 1978; Höfert, Den Feind beschreiben [Anm. 3], S. 116 f. Unter den verschiedenen diffamierenden Bezeichnungen begegnet diese besonders häufig. Eine Übersicht über die osmanischen Stereotypen – an Quellen des 15. Jahrhunderts belegt – bietet Sieber-Lehmann [Anm. 6], S. 16–23; vgl. ergänzend für das 16. Jahrhundert die Negativbezeichnungen bei S¸enol Özyurt, Die Türkenlieder und das Türkenbild in der deutschen Volksliedüberlieferung vom 16. bis zum 20. Jahrhundert (Motive 4), München 1972, S. 21–23. Ein besonders prominentes Beispiel hierfür ist der sog. ›Türkenkalender‹ (1454), der als das älteste vollständig erhaltene gedruckte Buch gilt. Paradigmatisch findet sich darin der Verweis auf die Grausamkeit der Türken und die Bitte um göttlichen Beistand formuliert: O Almechtiger konnig in himmels tron, / [. . .] / Hilff vns vorbas in allen stunden / widder vnser fynde durcken vnd heiden / Mache en yren bosen gewalt leiden / Den sie zu constantinopel in kriechenlant / An manchen cristen mentschen begangen hant / Mit fahen martern vnd dot slagen vnd versmehen (Bl. 1r). Zit. nach dem Faksimile: Der Türkenkalender. »Eyn manung der Cristenheit wider die Durken.« Mainz 1454. Das älteste vollständig erhaltene gedruckte Buch. Rar. 1 der Bayerischen Staatsbibliothek. Kommentar von Ferdinand Geldner, Wiesbaden 1975 (Abkürzungen aufgelöst). Zum Türkenkalender vgl. Eckehard Simon, Art. ›Türkenkalender‹, in: 2VL 9 (1995), Sp. 1159–1164; ders., The Türkenkalender (1454). Attributed to Gutenberg and the Strasbourg Lunation Tracts, Cambridge (Mass.) 1988. Im Weiteren zitiert mit dem Kurztitel ‘Klage’. Text in: Hans Sachs, hg. von Adelbert von
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das habsburgische Österreich unternommen hatte. Er erklärt zu Beginn, dass der Türke Gottes christliches erb zugrunde richte, indem er Gottes christliches volck unterdrücke, es von ihm entferne und sich selbst zum Herrscher über Himmel und Erde erhebe: Ach herre Gott, inn deinem reich Schaw, wie ellend unnd jemmerleich Geht dein christliches erb zu grund Durch den türckisch argen bluthund, Der dein christliches volck bethembt [unterdrückt], Ehr und gut, land und leut ein nembt Und sie von deinem wort abtreibet Und ihm dein götlich ehr zuschreibet, Als sey er gwaltig himel und erd! (KG 2, 434,4–12)
Gleich in den Eingangsversen verwendet Sachs die häufigste der von ihm für den Türken nahezu formelhaft herangezogenen Bezeichnungen,11 die des Hundes, hier ergänzt um das Attribut des Blutdurstes.12 Leitend ist dabei die an zwei späteren Stellen der ‘Klage’ zum Ausdruck gebrachte Vorstellung des niemals gesättigten, sich (geographisch) vorfressenden Hundes, der droht, mit seinem (bodenlosen) schlund die Christenheit zu schlucken und das teutsche land heimzusuchen.13 Weist Sachs in der Eröffnung der ‘Klage’ den Türken als einen Feind aus, der sich Gott gleichstellt, so schildert er ihn im späteren Argumentationszusammenhang als einen Feind, der angesichts des eroberten Landes und des Zwanges, mit dem er Christen ihren Glauben hat abschwören lassen, triumphierend, aufgeblasen und sich selbst verherrlichend
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Keller und Edmund Goetze, 26 Bde. (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 102–250), Tübingen 1870–1908, im Folgenden zitiert als KG, hier Bd. 2, S. 434–439. Neben dem ›Hund‹ (vgl. Anm. 12) sind die Bezeichnungsstereotypen der ›türkische Tyrann‹ oder der ›wütende Tyrann‹ (z. B. KG 2, 429,20, 433,1, 437,18; KG 22, 179,11; KG 24, 23,4), der ›grausame Türke‹ (z. B. KG 22, 374,35; KG 24, 22,13), der ›ungeheure Türke‹ (z. B. KG 2, 428,38), der ›Erbfeind der Christenheit‹ (z. B. KG 2, 418,13, 438,34). Vgl. besonders zum ›Tyrannen‹ und ›Wüterich‹ Sieber-Lehmann [Anm. 6], S. 23, zum ›Hund‹ ebd., S. 19 f., und Özyurt [Anm. 8], S. 21 f. Vgl. folgende Textstellen: die dürckischen hund (KG 2, 337,7; KG 22, 141,8, 148,29, 150,20, 375,9, 385,17); an den hunden (KG 22, 377,11); den pluturstigen hund (KG 2, 418,14, 437,20; KG 22, 179,9; KG 24, 31,17); den blutdürstigen mord-hund (KG 2, 430,2); bluthund (KG 2, 433,19); tyrannischen bluthund (KG 2, 432,33); den türckisch argen bluthund (KG 2, 434,7); e der durckisch pluethunt (im Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts, hg. von Horst Brunner und Burghart Wachinger unter Mitarbeit von Eva Klesatschke, Dieter Merzbacher, Johannes Rettelbach und Frieder Schanze, 16 Bde., Tübingen 1986–2009, im Folgenden zitiert als RSM, hier Nr. 2S 1073a; Zwickau MG 5, Bl. 173r; zitiert nach Feuerstein [Anm. 4], S. 215). Also er umb sich fressen hat / Gar weit und ist doch noch nicht sat, / Sunder auch mit gwaltiger hand / Sucht er auch haim das teutsche land (KG 2, 435,32–35); Herr, verbirg uns undter dein fannen / Tor [!] diesem blutdürstigen hund, / Der wider uns auff thut sein schlund, / Zu verschlicken die christenheit / Auß ubermut und argem neid (437,19–23). Vgl. auch KG 2, 418,12–16: Behüt uns gnedig alle zeit / Vor diesem feind der christenheit, / Dem Türcken, blutdürstigem hund, / Durch welches bodenlosen schlund / Vil königreich verschlunden send! und KG 22, 375,9 f.: Auf das der türckisch hunde / Nicht weiter fressen thw.
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auftritt. Entsprechend macht Sachs vermittels der wertenden Signalwörter ubermut und hoffart deutlich, dass Gott allein glori gebührt: Also hat er viel königreich, Zway kayserthumb und der-geleich Viel land und stet hie ungenand Mit seiner tyrannischen hand Dem christlichen volck abgetrungen Und die von ihrem glauben zwungen Und darmit sieglich triumphiert, Sich auffgeblasen und glorirt. [. . .] Zerstrew sein hoffart, ubermut, Den er treibt mit dem Christen-blut, [. . .] Das man erkenn in dieser not, Das du seyst ein warhaffter Got Dem ausserwelten volcke dein, Und dir die glori bleib allein! (KG 2, 435,24–31, 438,39–439,1, 439,4–7)
Michael Schilling hat an der ‘Klage’ aufgezeigt, dass für Sachs ein untrennbarer Zusammenhang zwischen der als charakteristisch erachteten Superbia der Türken14 und deren Gottesverachtung besteht.15 Im Spruchgedicht umrahmt der Verweis auf den türkischen Hochmut16 die Darstellung der türkischen Übermacht. Letztere demonstriert eine Aufzählung der eroberten Länder: Die Ausbreitung des osmanischen Reiches von Asia über das gantz kriechisch reich sowie die Walachey, Serviam, die Bulgarey und das land zu Bosn bis nach Ungern nachzeichnend, listet Sachs die beeindruckend-bedrohliche Anzahl von mehr als 30 Ländernamen auf (vgl. KG 2, 434,20– 435,28), nicht ohne zu betonen, dass der Türke vil Christen-blut vergoßn,17 in grim14
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Zu diesem Türkentopos vgl. Sieber-Lehmann [Anm. 6], S. 22. – Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang die Luxuria der Türken, die Sachs insbesondere Suleiman II., dem Prächtigen, zuschreibt (vgl. KG 2, 405,5–7, 405,37.40 f., 410,33–38, 431,11 f.): »Dieser unermeßliche Besitz des Sultans an Menschen und materiellen Gütern zählt gleichfalls zu den immer wiederkehrenden Momenten des Türkenbildes. Bewunderung, Furcht, aber auch der Verdacht der Luxuria bilden die wertenden Konnotationen, die diesen Aspekt begleiten« (Schilling [Anm. 4], S. 50 f.). Schilling [Anm. 4], S. 45 f. – Entsprechend zieht Sachs in dem Spruchgedicht Historia. Ein tyrannische that des Türcken, vor Wien begangen (1529) für die grund-ursach des Krieges ein Erklärungsmodell heran, wonach der türkische Sultan die Existenz des einen – nämlich türkischen – Weltherrschers sowie die daraus resultierende Notwendigkeit, die gantz christenheit und teutsches land zu beherrschen, durch die Existenz des einen Himmelsherrschers zu legitimieren suche: Auch soltens ihn anzeygen eben / Sein grund-ursach deß kriegs darneben, / Dieweil im himel wer ein gott, / So wer zimlich und billich not, / Das auff dem gantze erdtrich her / Ein haupt und ein regierer wer, / Der selbige soll herr allein / Und sunst keiner auff erden sein; / Deß wöll er [sc. der Sultan] sein haubt nit sanfft legen, / Biß er die herrschafft bring zu wegen / Gantz christenheit und teutsches land / Mit seiner streytbarlichen hand (KG 2, 406,29–407,1). KG 2, 434,11 f. und 435,30 f. Auf dem durch den Türken vergossenen Christenblut insistiert Sachs in der ‘Klage’ dreifach:
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men zoren das Land verheert und mit seiner tyrannischen hand den Christen Länder und Städte abgerungen hat. Unweigerlich knüpft Sachs hier an die Erwähnung der Belagerung Wiens an und nutzt sie wie so oft,18 um in drastischer Weise die unmenschliche Kriegsführung der Türken zu schildern. Bevorzugtes Mittel der Darstellung ist die holzschnittartige Skizzierung der Untaten der türkischen Truppen auf ihren Streifzügen durch das Umland; sprachliches Merkmal für den Beginn einer solchen Auflistung der Grausamkeiten ist das Signalwort durch-straiffen oder umb schwaiffen. In unterschiedlicher Auswahl und Variation wiederholt Sachs in seinen Texten folgende Gräueltaten: – – – – – – –
Verheerung, Verwüstung oder Brandschatzung von Land und Dörfern Ermordung der Bevölkerung (durch Erstechen, Erwürgen, Köpfen, Erschlagen) Tötung, Köpfen oder Entführen des Viehs Raub und Plünderung Gefangennahme der Bevölkerung/Christen und Verschleppung in die Türkei Vergewaltigung der Frauen und Jungfrauen Ermordung der Kinder (durch Zerhauen, Zertreten, Pfählen oder Aufspießen, z. B. auf Zäune, Spieße) – Schneiden oder Reißen der Kinder aus dem Mutterleib Eine der bilderreichsten Schilderungen dieser Art integriert Sachs in die ‘Klage’. Den Auftakt bildet die Information, dass der Türke in kürzester Zeit gar grausamleich Österreich uberzogen und die Hauptstadt Wien erschröckenlich belagert habe (vgl. KG 2, 435,36–436,2). Die türkischen Streifscharen hätten alle ding verwüstet und zerstört, flecken, dörffer und merck verheert, verbrannt und die Männer ermordet. Ferner sollen sie die Frauen (die Ehefrauen vor den Augen ihrer Ehemänner) zu Tode vergewaltigt, zerhauen oder ihnen die Brüste abgeschnitten haben. Die Kinder hätten sie aus dem Mutterleib gerissen, ebenfalls zerhauen oder durch ihre hindern auf Zaunpfähle gespießt. Ihren Pferden hätten sie Futter auß den todten leiben vorgesetzt und sich darauf selbst zu Tisch begeben, um so ihrer Verachtung der Christen und
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KG 2, 435,1.17 u. 439,1; vgl. ferner KG 22, 180,11 f. Außerliterarische Belege für eine Absicht der Türken, Christenblut zu vergießen, finden sich bei Sieber-Lehmann [Anm. 6], S. 20 Anm. 30. In drei Spruchgedichten und zwei Liedern schildert Sachs detailreich und mit historischen Daten, die ihm vermutlich durch den im Druck erschienenen Bericht des kaiserlichen Kriegssekretärs Peter Stern von Labach oder durch eine hierauf zurückgehende Quelle zugänglich waren (vgl. Brunner u. a. [Anm. 4], S. 635), die Belagerung Wiens. – Spruchgedichte: Historia. Ein tyrannische that deß Türcken, vor Wien begangen (KG 2, S. 404–407); Historia der türckischen belegerung der stat Wien, mit handelung bayder tayl auf das kürtzest ordenlich begriffen. Anno 1529 (KG 2, S. 408–418); Die türckisch belegerung der stat Wien, mit sampt seiner tyrannischen handlung. Im MDXXIX jar (KG 22, S. 155–157). Lieder: Die duerckisch pelagerung der stat Wien. In prueder Feitten thon (KG 22, S. 141–150); Ein lob des redlichen krieg-volck in der duerkischen pelegerung der stat Wien. In dem thon: Es kam ein alter Schweizer gangen (KG 22, S. 151–154). Eine kurze Analyse dieser allesamt 1529 verfassten Texte bieten im Hinblick auf die Türkenkriegthematik Brunner u. a. [Anm. 4], S. 635– 637; vgl. auch Feuerstein [Anm. 4], S. 137 f.
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Gottes Ausdruck zu verleihen. Zu guter Letzt habe der Türke bei seinem Abzug aus Wien viele tausend Christen gefangen genommen und mit sich geführt.19 Diese Darstellung der türkischen Grausamkeiten bei der Belagerung Wiens nimmt Sachs in der am 30. November 1532 unterzeichneten ‘Klage’ zum Anlass, Gott die jüngste, im August desselben Jahres erfolgte Belagerung des ungarischen Ko˝szeg (Güns) durch den Türken sowie abermalige Türkeneinfälle zu klagen. Zwar habe auch bei Güns das türkische Heer sieglos abziehen müssen, doch seien nach dem zwölften Sturmangriff türkische Streifscharen wütend und brandschatzend durch Kerndten und die Stewermarck gezogen, die der Türke bereits mehrfach mit Plünderung und Mord heimgesucht habe;20 erneut ruft Sachs an dieser Stelle die bekannten Topoi auf.21 Weitere Textstellen zu den türkischen Grausamkeiten belegen, dass Hans Sachs die immer wieder gleichen Bilder in nur gering variierendem Wortlaut bietet,22 so dass sich die Furcht vor den Türken bei seinem Publikum nachhaltig verfestigen konnte.23 19
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[. . .] Und sehr mit tyrannischen handen, / Geleich wie vor in andern landen, / Die landschafft allenthalb durch-straifft, / Alle ding verwüst und zerschlaifft, / Flecken, dörffer und merck verheert, / Verbrend und die manschafft ermört, / Geschendet die jungkfrawen, jungen / Und auch die ehweiber not-zwungen / Zu angesicht ihrer ehmender. / Also die wüsten frawenschender / Notzwungen zu tod etlich frawen. / Etlich wurden von in zerhawen, / Etlichen sie ihr brüst abschnitten. / Gar keiner grausamkeit vermitten. / Die kind auß mutter-leib sie rissen, / Zerhawtens, etlich thetens spissen / An die zaun-pfel durch ihre hindern. / Vil grausamkeit ubtens mit kindern, / Der sturb vor laid manniche mutter. / Auch gabens ihren rossen futter / Auß den todten leiben zu fressen. / Auch sinds darauff zu tisch gesessen, / Solchs als zu verachtung und spot / Uns und dir, du ewiger Got! / [. . .] / Iedoch er mit im füret endlich / Vil tausent gefangener Christen (KG 2, 436,3–26,30 f.). Zur letztlich erfolglosen Belagerung Ko˝szegs, das alle 18 Sturmangriffe des größenmäßig deutlich überlegenen Türkenheeres abwehren konnte, und zu den Plünderungszügen der Streifscharen, die zahlreiche Gefangene mitnahmen, siehe August Ernst: Geschichte des Burgenlandes (Geschichte der österreichischen Bundesländer), Wien 1987, S. 113 f. Berichte über mehrfache Türkeneinfälle in die Steiermark in den Jahren 1471 bis 1483 untersucht Anton Klein, Zur Geschichte der Türkeneinfälle in Steiermark während der Regierung Friedrichs III., in: Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark 19 (1924), S. 103–124. Nun, herr, schaw! yetzund widerumb / Ist der Türck mit mercklicher sumb / Außgezogen auff teutsche land / Und mit starck gewaltiger hand / Belegert Güns, den kleinen fleck, / Doch durch dein hilff gezogen weck. / Als er zwölff stürm het verlorn, / Keret er mit grimmigem zorn / Auff Kerndten und die Stewermarck / Er straifft und yetz haimsuchet starck, / Die er auch vor offt hat gezupfft, / Mit raub und mord hefftig gerupfft. / Doch yetz er sie verwüst und brend (KG 2, 436,35–437,8). In Zusammenhang mit der Belagerung Wiens: KG 2, 404,3–10, 406,21–28, 409,38–410,13, 416,23–38, 417,4–9, 419,1–8, 419,16–21; KG 22, 150,4–11, 152,14, 154,11–15, 155,15, 156,3– 21; KG 24, 23,2–9, 33,16. In Zusammenhang mit weiteren Schlachten, Belagerungen oder der Türkenbedrohung allgemein: KG 2, 432,8–30; KG 22, 373,1–22, 374,10–13, 376,6–13; KG 24, 21,1–11. In Bezug auf den Umgang mit den Gefangenen: KG 2, 404,20–405,3, 415,35–416,4; KG 22, 149,3–9, 157,16–22; KG 24, 22,1–13, 31,2–17. – Die Übereinstimmung in Bildlichkeit und Metaphorik und teils auch im Wortlaut geben besonders anschaulich die nachfolgend in Klammern genannten Textstellen zu den türkischen Streifzügen (KG 2, 409,38–410,13 und KG 22, 156,3–21) und zur Gefangennahme der Christen (KG 2, 415,35–416,4 und KG 22, 157,16–22) zu erkennen. Sachsens Schilderungen der Grausamkeiten scheinen (mittel- oder unmittelbar) an den Be-
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Der verstärkenden Wirkung solcher Türken-Topoi haben in besonderer Weise die illustrierten Flugblätter gedient. Im Fall des Nürnberger Dichters gibt es über zwei Duzend »Holzschnitte zu Dichtungen des Hans Sachs, die auf die Türkenkriege Bezug nehmen, [. . .] wobei kaum feststellbar ist, ob Sachs zu einem vorhandenen Bilddruck Verse schuf oder Reißer und Dichter gemeinsam das Flugblatt oder ein Spruchgedicht in Kleinoktiv [!] konzipierten.«24 Die oben beschriebene literarische Bildhaftigkeit in den Schilderungen der Untaten bei der Belagerung Wiens korrespondiert jedenfalls aufs Engste mit der darstellenden eines Holzschnittes von Erhard Schoen (1529/30),25 welcher in Nürnberg zusammen mit dem kurzen Sachsschen Spruchgedicht Türkische tyranney in einer von Hans Guldenmundt verlegten Folge von 15 Flugblättern über die Belagerer Wiens gedruckt wurde (Abb. 2):26 Ach herre gott in dem höchsten thron, Schaw disen großen jamer an, So der thürckisch wütend thyran Im Wiener walde hat gethan:
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richt des Kriegssekretärs Peter Stern von Labach angelehnt zu sein (vgl. Anm. 18): [. . .] Das lanndt vnder der Enns etlich meil hinauff / vnnd ferrer hinein gar in die Steirmach [!] / e e e e außgenomen etlich Stet vnd Slosser / in grundt verprennen verhorn vnd verwusstn alle wald vnd perg darauf die armen leut mit jren guet vnd kindern geflochn / durchstraiffen das arm volkh durchsuechn / wegkhfueren vnd niderhawn lassen / Vnd was vnmenschlicher grausame e khait Sy die Turkhen sonnst mit dem Cristenlichen volkh gebraucht ist nit müglich zue schreiben / Wie man dan allennthalbn in den Walden / pergn / vnd auf den Strassen / auch im gantzn Leger / erslagn leutt / die kinder von einander gehawn oder auf den Spissen stekhendt / o den Swangern weibern die frücht aus dem leib geschnittn vnd nebn den muttern des ero barmkhlich zusehen ist vor augen ligen siecht vnd funden werden (Belegerung der Statt Wienn [1529], Ex.: München, BSB, Res/4 Sc.mil. 6#Beibd. 13 [Volltextdigitalisat: http:// www.digitale-sammlungen.de/∼db/bsb00008230/images/; Stand: 31.03.2009], Bl. Djr–v (Abkürzungen aufgelöst). VD16 S 8927; Göllner [Anm. 7], Nr. 328). Die Welt des Hans Sachs. 400 Holzschnitte des 16. Jahrhunderts, hg. von den Stadtgeschichtlichen Museen (Ausstellungskataloge der Stadtgeschichtlichen Museen Nürnberg 10), Nürnberg 1976, S. XXVI. Max Geisberg, Der deutsche Einblatt-Holzschnitt in der ersten Hälfte des XVI. Jahrhunderts, 40 Lfgn., München 1923–1929 [nachgedruckt als: Max Geisberg, The German SingleLeaf Woodcut 1500–1550, revised and edited by Walter L. Strauss, 4 Bde., New York 1974], Nr. 1243; vgl. auch Die Welt des Hans Sachs [Anm. 24], S. 31, 38, 49 (zu Kat. 41). Einen Nachdruck erfuhr das Flugblatt durch Hans Weigel in Nürnberg, s. Walter L. Strauss, The German Single-Leaf Woodcut 1550–1600, 3 Bde., New York 1975, hier Bd. 3, S. 1111. Die Flugblattfolge, für deren Holzschnitte die Nürnberger Künstler Sebald Beham, Erhard Schoen und Niklas Stoer herangezogen wurden, ist beschrieben bei Heinrich Ka´bdebo, Bibliographie zur Geschichte der beiden Türkenbelagerungen Wiens 1529 und 1683, Wien 1876, S. 7–12. Vgl. ferner Heinrich Röttinger, Erhard Schön und Niklas Stör, der PseudoSchön. Zwei Untersuchungen zur Geschichte des alten Nürnberger Holzschnittes (Studien zur deutschen Kunstgeschichte 229), Straßburg 1925, S. 13, 214 f.; ders., Die Bilderbogen des Hans Sachs (Studien zur deutschen Kunstgeschichte 247), Straßburg 1927, S. 48 (Nr. 352); Die Welt des Hans Sachs [Anm. 24], Kat. 35–49 (mit dem Nachweis der bei Keller und Goetze abgedruckten Textbeigaben).
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Ellendt ermort junckfrawen und frawen, Die kindt mitten entzwey gehawen, Zertreten und entzwey gerissen, An spitzig pfäl thet er sie spissen. O unser hyrte, Jhesu Christ, Der du gnedig barmhertzig bist, Deyn zoren von dem volck abwendt, Errett uns aus des Thürcken hendt! (KG 24, S. 23)
Mit den bekannten Stichworten schildert Sachs auch hier das brutale Vorgehen der Türken bei der Belagerung Wiens. Christliche Werte, Barmherzigkeit und Gnade, bilden im Gedicht den positiven Gegensatz zur türkischen Unbarmherzigkeit, von der das volck durch Gott errettet werden soll. Ganz konkret formuliert dann der letzte Vers die christliche Gemeinschaft: Das Personalpronomen ›uns‹ spricht nicht nur den Rezipienten an, sondern spricht auch für ihn und konstituiert ihn als Teil des christlichen Kollektivs; die gemeinschaftliche Bitte an Gott lässt das Gedicht als gesamtchristliches Gebet erscheinen. Die Kombination von Schrift und Bild gibt die Möglichkeiten der Vermittlung der Türkenbilder sowie den Modus ihrer Wahrnehmung vor: Im Holzschnitt kommt das im Text Beschriebene zur Anschauung, d. i. die Ermordung von Kindern und Frauen durch die Türken. Auch scheint die toposhafte Schändung von Jungfrauen durch das hochgeschobene Kleid und den entblößten Oberschenkel der vorderen weiblichen Figur angedeutet. Die Pfählung von Kleinkindern führt die besondere Brutalität und extreme Grausamkeit der Türken vor Augen und steht im schauerlichen Kontrast zur kindlichen Unschuld, die zusätzlich durch die Nacktheit der Kinder sinnfällig wird. So zeigt der Holzschnitt die Türken als Zerstörer des Sozialen, denn die Ermordung von Frauen und Kindern bedeutet auch die Vernichtung von Familien und eines Gesellschaftsverbundes. 27 Die (halb-)nackten, gequälten Leiber der Kinder verweisen auf die gemarterte Unschuld, die am Boden liegenden Körper demonstrieren geradezu räumlich die Unterjochung der Christen. Im Kontrast zu den niedergedrückten Erwachsenen steht der erhobene Arm des rechten Türken, der den Eindruck der ungleichen Kräfteverteilung gestisch unterstreicht. Überhaupt demonstriert die aufrechte Haltung der Türken ihre körperliche Überlegenheit. Die türkischen Protagonisten beherrschen als Akteure den Raum. Das rechte, bereits tote Kind und der davon links stehende noch unbestückte Pfahl besetzen die Bildmitte und rücken so die Kinderpfählung als besonders grausame Tat der Türken ins Zentrum. Der leere Pfahl erscheint als schreckliche Vorausdeutung auf das, was noch folgen wird, darauf, dass sich die türkischen Bluttaten fortsetzen werden. Die Bewaldung rechts verbildlicht den im Text angesprochenen Wiener Wald und damit die christliche Sphäre, in welche die Türken bereits eingedrungen und in der die Christen nicht mehr sicher sind. Diese Bedeutung ergibt sich erst durch die Verbindung von Bild und Text, durch ihr Zusammenwirken. Das Flugblatt kennzeichnet somit eine eigene Medialität und eine damit verbundene Materialität der Kommunikation. Dabei wirken verschiedene Komponenten des Flugblatts als Informationsträger (beachtenswert ist, wie dargelegt, insbesondere die zeichenhafte Funktion der Körper und des Raumes), welche auch die Illiterati erreichen konnten. Das Flugblatt fungiert als Mittler zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, spricht ein semiliterales Publikum an. Die nicht Schriftkundigen rezipieren den Inhalt durch Betrachtung des Bildes und durch Vorlesen des Textes. Im hier besprochenen Flugblatt zeichnet die Kombination von Text und 27
Vergleichbares zeigt Kleinlogel an anderen Holzschnitten mit Sachsschen Texten auf (vgl. dies. [Anm. 4], S. 59 f.).
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Holzschnitt insgesamt ein durch die Unbarmherzigkeit und den Zerstörungswillen der Türken gekennzeichnetes Gegenbild zu den wehrlosen Christen. In Abgrenzung davon stiftet das Flugblatt christlich-moralische und kulturelle Identität. Das Zusammenspiel von Bild und Text hält also eine eigene Rhetorik bereit; sie ist Teil einer spezifischen Medialität als Kennzeichens der Türkenliteratur, deren Entstehung parallel zur Druckgeschichte und der Genese neuer Textsorten und -gattungen verläuft.
Dominieren in dem Holzschnitt die Gräueltaten, so erinnert Sachsens Text auch an den Zorn Gottes, der in Gestalt der Türken die Christen trifft. Michael Schilling hat drei Deutungsmuster aufgezeigt, mit denen man im 15. und 16. Jahrhundert die Türkengefahr zu erklären suchte.28 Alle drei – das eschatologische Deutungsmuster, die typologische Geschichtsdeutung und die Gottesstrafe – finden sich bei Hans Sachs in klarer Anlehnung an die protestantische Exegese wieder. Das Erklärungsmodell von der Türkengefahr als Resultat göttlichen Zorns, den die Christenheit auf sich gezogen habe, fügt Sachs nicht nur dem Spruch des eben vorgestellten Flugblattes an (vgl. KG 24, 23,12). Auch in der ‘Klage’ lässt er es auf die Schilderung der Gräueltaten der Streifscharen während der Belagerungen Wiens und Ko˝szegs folgen. Ihm voraus geht eine gängige Interpretation der osmanischen Bedrohung, die gemäß dem eschatologischen Deutungsmuster, das Martin Luther in seiner Heerpredigt widder den Türcken (1529) propagiert,29 einer Endzeitprophetie gleichkommt: 28 29
Vgl. Schilling [Anm. 4], S. 51–56. Luther, in dessen Bibelübersetzung (1546) sich erstmals eine negative Deutung des sog. ersten apokalyptischen Reiters findet, fasst diesen in einer Randglosse zu Off. 6,1–2 als die erste Plage, die verfolgunge der Tyrannen auf (D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Die Deutsche Bibel, Bd. 7, Weimar 1931, S. 435), in der Vollbibel von 1534 ist er als Türke dargestellt, vgl. Philipp Schmidt, Die Illustration der Lutherbibel 1522–1700. Ein Stück abendländische Kultur- und Kirchengeschichte, mit Verzeichnissen der Bibeln, Bilder und Künstler, Basel 1962, S. 190, 208; Peter Martin, Martin Luther und die Bilder zur Apokalypse. Die Ikonographie der Illustrationen zur Offenbarung des Johannes in der Lutherbibel 1522 bis 1546 (Vestigia bibliae 5), Hamburg 1983, S. 178–180; Michael Bachmann, Die apokalyptischen Reiter. Dürers Holzschnitt und die Auslegungsgeschichte von Apk 6,1–8, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 86 (1989), S. 33–58, hier S. 55 f.; ders., Die negative Karriere des ersten apokalyptischen Reiters, in: Zu Dürers Zeiten. Druckgraphik des 15. und 16. Jahrhunderts aus dem Augustinermuseum Freiburg, hg. von Sibylle Bock, Freiburg i. Br. 1991, S. 15–26, hier S. 16–18. Zu weiteren Bibelstellen (u. a. aus Ez 38, Dan 7), welche Luther auf die Türken deutet, siehe Hans-Ulrich Hofmann, Luther und die Johannes-Apokalypse. Dargestellt im Rahmen der Auslegungsgeschichte des letzten Buches der Bibel und im Zusammenhang der theologischen Entwicklung des Reformators (Beiträge zur Geschichte der Biblischen Exegese 24), Tübingen 1982, S. 371–382, 573–578. In seiner Heerpredigt widder den Türcken führt Luther aus: Denn die schrifft weissagt uns von zweyen grausamen Tye e e e rannen, welche sollen fur dem iungsten tage die Christenheit verwusten und zurstoren, Einer [. . .] Welchen auch Sanct Paulus nennet den Endchrist [. . .] Das ist der Babst [. . .] Der ander e mit dem schwerd leiblich und eusserlich auffs grewlichst [. . .] das ist der Turcke. Also mus der e teuffel, weil der welt ende furhanden ist, die Christenheit zuvor mit beyder seiner macht auffs aller grewlichst angreiffen [. . .] ehe wir gen himel fahren (D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe [Weimarer Ausgabe], 62 Bde., Weimar 1883–1986, im Folgenden zitiert als WA, hier 30,2, 162,1–14). – Zu Luthers Umgang mit apokalyptischen Vorstellungen in Zusammenhang mit der zugeschriebenen endzeitlichen Rolle der Osmanen siehe die
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Als wöll Teutschlandes end sich nehen Mit sampt der gantzen christenheit, Wann gantz geferlich ist die zeit [. . .]. (KG 2, 437,11–13)
Angesichts solcher Endzeitstimmung wird Gott angefleht, sich der unschuldigen zu erbarmen, die durch den wütig tyrannen ermordet werden (vgl. 437,14–18), und die Lebenden – von Sachs mit dem kollektiven uns umschrieben – vor diesem blutdürstigen hund zu beschützen (vgl. 437,19–23). Zugleich wird demütig die Vermessenheit einer solchen Bitte deutlich gemacht, habe sich doch die Christenheit gegen Gott versündigt und Schuld auf sich geladen, indem sie vom Glauben abgefallen sei und sich von Gott abgewandt habe.30 Als Formen der Versündigung werden Verstöße gegen die göttlichen Gebote und christlichen Werte aufgelistet (z. B. mangelnde Nächstenliebe, Ehebruch, Hochmut) und insgesamt eine allgemeine sozialkritische Zeitklage über Laster und Sünden (z. B. Spiel-, Fress-, Trink- und Ruhmsucht, Lüge, Hinterlist), aber auch über das Profitdenken (Betrug und Wucher)31 geführt, so dass die Türkenbedrohung als Strafe Gottes für die Sünden der Christenheit erscheint.32 Auch dieses Merkmal des Türkenbildes findet sich bei Sachs am facettenreichsten in der ‘Klage’ ausgestaltet. In weiteren seiner Texte kommt die Interpretation der Türkenbedrohung als götlicher verhengknuß (KG 2, 433,11), als gottes geyssel (KG 24, 6,9) oder als Gottes türckisch[er] ruthen (KG 2, 426,11) ebenfalls vor. Fokussiert werden allerdings nur mehr allgemein die Sündhaftigkeit und mangelnde Bußfertigkeit, wie es das Spruchgedicht Der ungluckhaftig scharmützel deß Türcken vor Ofen
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genannten Passagen aus Hans-Ulrich Hofmann [diese Anm.], bes. S. 374–382 (zur ‘Heerpredigt’ vgl. S. 372–376), vgl. auch S. 389, 395–400; Martin [diese Anm.], S. 132–135, 180; Jens Herzer, Der erste apokalyptische Reiter und der König der Könige. Ein Beitrag zur Christologie der Johannesapokalypse, in: New Testament Studies 45 (1999), S. 230–249, hier S. 249; Klein [Anm. 6], S. 130–155 (darin zur ‘Heerpredigt’). Seinen Niederschlag findet Luthers Auffassung in den Illustrationen seiner Bibeln mit ihren Türkendarstellungen und diesbezüglichen zeitgenössischen Anspielungen, vgl. Bachmann, Die negative Karriere [diese Anm.], S. 16–18. Wie wol wir uns haben verschuld / Mit schwerer sünd zu ungeduld, / Weil wir von dir sind abgewichen! / Gelaub und forcht ist gar erblichen. / Wir sind unghorsam und undanckbar. / In deiner hoffnung sey wir wanckbar, / Dein heyling namen wir unehrn / Mit schelten, fluchen und mit schweern (KG 2, 437,24–31). Solche Verstöße gegen das neue Ideal des evangelischen Handelns prangert Sachs in Die wittembergisch Nachtigall an, vgl. dazu kurz Franz Otten, Die Reformationsdialoge des Hans Sachs. Revidierte Chronologie und ihre Auswirkung auf das ‘Bild’ des Nürnberger Dichters der Reformation, in: 500 Jahre Hans Sachs. Handwerker, Dichter, Stadtbürger [Ausstellung in der Bibliotheca Augusta vom 19. November 1994 bis 29. Januar 1995], hg. von Dieter Merzbacher (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek 72), Wiesbaden 1994, S. 33–37, hier S. 36 f.; vgl. auch unten Anm. 43. Auch ist die lieb des nechsten klein, / Betrug und wucher ist gemein, / Untrew, neyd, zoren, raub und mord, / Lüg, hindterlist und schmaichel-wort, / Ehbruch, spil fraß und trunckenheit, / Hoffart, bracht und rumretigkeit / Geht yetz in vollem schwanck auff erd. / Warheyt und trew ist gar unwerdt / Bey obern und bey undterthan, / Gröber denn grob, dardurch wir han / Beweget dich zu straffen uns (KG 2, 437,32–438,3).
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mit deß königs heerleger vor Ofen, anno 1541 im September geschehen illustrieren kann: Voraussetzung für die Hilfe Gottes ist die bußfertige Umkehr der Christen, sie allein führt dazu, dass Gott die türkische Rute ins Höllenfeuer werfen, respektive die Christen von der türkischen Tyrannei befreien wird.33 Eng verbunden sind die Ausführungen zum Erklärungsmodell der Gottesstrafe bei Sachs mit der Vorstellung von Christus als Heeresführer und Modell des christlichen Soldaten im Sinne der militia Christi, des Topos vom geistlichen Kriegsdienst.34 Mit dem mahnenden Aufruf an die Christenheit zur bußfertigen Umkehr geht die Hoffnung – und zugleich geistliche Legitimation des Krieges gegen die Türken35 – einher, dass Gott von seinem Zorn ablasse und sich wieder seinem Volk zuwende, um als himmlischer Heeresführer (unser hauptman Christus) selbst in die Schlacht zu ziehen und den Sieg davonzutragen (KG 2, 433,38 f.): Got wöll sich ir aller erbarmen, Umbfahen mit gnedigen armen, Uns auch geben ein rewig hertz, Das sich zu im beker auffwertz Von allen sünden zu der buß, Auff das unser hauptman Christus Eins mals selb auß zieh mit seym heer, Erzeyg sein götlich gwalt und ehr An dem blutdürstigen mord-hund, Stoß in wie Pharao zu grund. Das seym volck fried und rhu erwachs Hie und dort, wünschet uns Hans Sachs. (KG 2, 429,33–430,5)
Die von Sachs mehrfach betonte Notwendigkeit, in einen solchen Kampf als gläubiger Christ zu ziehen, der seinem sündhaften Leben reuig abgesagt hat,36 ist vor dem 33
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Wie wol uns Got billichen plagt / Mit der scharpffen ruthen deß Türcken, / Weil wir ye nit buß wöllen würcken; / Wie freundlich uns Got bitt und locket, / Noch bleib wir in der sünd verstocket. / Kerten wir uns aber zu im / Und theten buß nach seiner stim, / Er wurdt die türckisch ruthen thewer / Bald werffen in das höllisch fewer, / Uns seine kinder machen frey / Von der türckischen Tyranney / Sampt ander not und ungemachs. / Das wünschet zu Nürnberg Hans Sachs (KG 2, 426,4–16). Zur Stelle vgl. kurz Feuerstein [Anm. 4], S. 215 f. Weitere argumentativ identische Textstellen bieten KG 24, 33,1–21 (Flugblatt 1539/30), KG 2, 433,11– 19 (Spruchgedicht 1541) und RSM 2S 1292b (Meisterlied vom 16.12.1543; die betreffende Textstelle ist abgedruckt bei Feuerstein [Anm. 4], S. 233). Vgl. ferner KG 2, 433,16 f. und KG 13, 416,9–14 (vgl. Anm. 74). Zum Türken als Feindbild speziell des christlichen Ritters im 15. und 16. Jahrhunderts siehe Özyurt [Anm. 8], S. 34–36; Andreas Wang, Der ›Miles christianus‹ im 16. und 17. Jahrhundert und seine mittelalterliche Tradition. Ein Beitrag zum Verhältnis von sprachlicher und graphischer Bildlichkeit (Mikrokosmos 1), Bern/Frankfurt a. M. 1975, S. 37, 110 f., 150, 188. Die Haltung Sachsens zum Krieg ist Gegenstand zweier neuerer Beiträge: Zur Thematisierung des Krieges bei Sachs sowie zum Einfluss der Kriegsauffassung Luthers auf ihn vgl. das Kapitel ‘Zwischen Gott, dem Kaiser und dem Markgrafen: Hans Sachs über den Krieg’ in dem Band Brunner u. a. [Anm. 4], S. 602–666; den Aspekt der »existentiellen Konfrontation mit dem Krieg als Bedrohung für alle Menschen und alle humanen Werte« beleuchtet Albrecht Classen, Poetische Proteste gegen den Krieg. Der Meistersänger Hans Sachs als früher
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Hintergrund der Haltung Luthers zu sehen,37 der sich gegen einen Kreuzzug wandte. Für ihn war allein der Schutz der Untertanen durch die weltliche Obrigkeit zulässiger Zweck des Krieges. Von den christlichen Soldaten ist Entsprechendes zu erwarten: »Gehorsam gegen Gottes Gebot und Demut machen die angemessene Haltung des Kriegsmannes aus.«38 Nur bekehrt ist der Christ für die endzeitliche Schlacht gerüstet.39 Sachs knüpft an das reformatorische Türkenbild an, hinter dem stärker als bei der altgläubigen Kirche, welche Türkenkritik zu missionarischen Zwecken übt und so nach außen richtet, die Absicht steht, den Türken für die innere Mission, die Stärkung des Christenglaubens zu instrumentalisieren.40 Die modellschaffende Argumentation bietet Luther in seiner ‘Heerpredigt’, in der er die Vorstellung vom Türken als Strafe Gottes – umschrieben durch die spezifisch reformatorische Metapher der Zucht- oder Zornesrute Gottes41 – mit der Abkehr von der Sünde hin zur christlich-glaubenspraktischen Besserung im neuen evangelischen Sinne verbindet.42 Beide Momente haben bei Sachs in der Behandlung der Türkengefahr ihren Niederschlag gefunden, in den oben aufgeführten Versen aus dem Spruchgedicht Der ungluckhaftig scharmützel deß Türcken [. . .] insbesondere in Form der von Luther
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Kriegsgegner im 16. Jahrhundert, in: ABäG 63 (2007), S. 235–256, Zitat S. 238. Ergänzend vgl. Ulrich Feuerstein und Patrik Schwarz, Hans Sachs als Chronist seiner Zeit – Der Meisterliedjahrgang 1546, in: Hans Sachs im Schnittpunkt von Antike und Neuzeit. Akten des interdisziplinären Symposions vom 23./24. September 1994 in Nürnberg, hg. von Stephan Füssel (Pirckheimer-Jahrbuch 10), Nürnberg 1995, S. 83–107, hier S. 92–105. Einen instruktiven Überblick zum Thema ›Luther und der Krieg gegen die Türken‹ bietet der Band Brunner u. a. [Anm. 4], S. 332–393. Vgl. auch Hartmut Bobzin, Martin Luthers Beitrag zur Kenntnis und Kritik des Islam, in: Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie 27 (1985), S. 263–289; Martin Brecht, Luther und die Türken, in: Guthmüller und Kühlmann [Anm. 5], S. 9–27. Brecht [Anm. 37], S. 15. Vgl. Rudolf Pfister, Reformation, Türken und Islam, in: Zwingliana 10 (1956), S. 345–375, hier S. 347–349, 351, 360–364; Özyurt [Anm. 8], S. 36–39; Martin [Anm. 29], S. 134; Klein [Anm. 6], S. 148. Vgl. Pfister [Anm. 39], S. 349 f., 364–373; Dieter Fauth, Das Türkenbild bei Thomas Müntzer, in: Theologische Zeitschrift 11 (1994), S. 2–12, bes. S. 2. In der Jes 10,5 entnommenen Metapher, in der speziell das reformatorische Verständnis der Geschichte als Resultats göttlichen Handelns zum Ausdruck kommt, vgl. Pfister [Anm. 39], S. 347–353, sowie mit weiteren Belegen bei Luther Fauth [Anm. 40], S. 11. Beispiele für die Verwendung des Motivs in den geistlichen Türkenliedern bietet Özyurt [Anm. 8], S. 123 f.; vgl. auch Hofmann [Anm. 29], S. 372. – Sachs aktualisiert die Metapher vom tyrannischen Feind (allgemein) als Zuchtrute in Bezug auf unterschiedliche Anlässe, etwa auf die drohende Belagerung Nürnbergs im Mai 1552 in einem Meisterlied (vgl. dazu Brunner u. a. [Anm. 4], S. 614, vgl. auch Feuerstein [Anm. 4], S. 223). Immer fungiert sie dabei als Mittel der reformatorischen Mahnung zur richtigen Orientierung in der Glaubenspraxis, vgl. Brunner u. a. [Anm. 4], S. 614 f., 637. e Aber weil der Turcke gleichwol Gottes rute und eine plage ist uber die sunde beide der Christen und unchristen odder falschen Christen, so sol sich solches trostes und trotzes, davon e bis her gesagt, nicht ein iglicher an nemen Und tolkune daher faren und sprechen ‘Ich bin ein Christ, Ich will dran’, Sondern zuvor sich bekeren und sein leben bessern und also mit furcht und ernstlichem gebet zu solchem trost und trotz kommen (WA 30,2, 180,14–19).
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vorgegebenen Verknüpfung.43 Beeinflusst haben dürfte Sachs in diesem Punkt die Einschätzung der Türkengefahr, welche die Predigten und Schriften der in Nürnberg ansässigen protestantischen Theologen und Prediger Andreas Osiander und Veit Dietrich vermittelten.44 Auch in der Schlussstrophe des Liedes Vermonung zw ainem statlich Dürcken-zug an das reich. In pruder Veiten ton (1532),45 einem Aufruf an die verschiedenen Stände vom Kaiser über den Hoch- und Niederadel und das Militär bis zu den Bauern sowie an den Klerus zu einem Heerzug nach Ungarn, wo der Türke erneut begonnen habe, die Christenheit mit gfencknus, mort und prant / itzund in dieser zeite zu verfolgen (vgl. KG 22, 373,5–10), wird der plag ursach auf die sünd und schuelde der Christen zurückgeführt (vgl. 379,16–23). Das Signalwort der Christen auserkoren (379,16) schließt an den in der vorausgehenden Strophe entworfenen Vergleich des kaiserliche[n] here[s] (378,26) mit dem volck von Israel an. Leitend ist dabei die Hoffnung, dass Gott dem Heer im Krieg gegen die Türken riterlichen sig verschaffen und für es gewaltig streiten, ja es anführen möge und Beistand leiste wie dem Volk Israel (379,7– 14). Die typologische Übertragung der Israeliten auf die Christen und den aktuellen Anlass der Bedrohung durch die Türken integriert Sachs gleichermaßen in die ‘Klage’. Hier deutet sich der heilsgeschichtliche Ansatz schon zu Beginn der Aufzählung der von den Türken eroberten Länder (s. o.) an, wenn an den räumlichen Ursprung des christlichen Glaubens und seine apostolische Verkündigung durch die Jünger Jesu erinnert wird: Ach Got, wie lang hat das gewert Anfengklichen inn Asia, Das man ietzt nendt Natalia, Da dein wort gieng in vollem schwanck Und Christen-glaub het sein anfanck, Das durch dein jünger wart gepredigt; Das hat der Türck alles beschedigt [. . .] Judea und das globte land
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Neuere Forschung zum (propagandistischen) Niederschlag der Themen und Ideale der Reformation bei Hans Sachs ist genannt bei Otten [Anm. 31], hier S. 33 f. Anm. 1–11. Vgl. die Überlegungen bei Brunner u. a. [Anm. 4], S. 634 f., zu den Wegen der Vermittlung, durch welche Luthers Lehren zu Hans Sachs gelangten: Sachs besaß zwei Bücher mit Reformationsschriften, darunter eines, das ausschließlich lutherische Schriften enthielt; welche Texte im Einzelnen enthalten waren, ist nicht bekannt. Ferner kann Sachs über Nürnberger reformatorische Prediger wie beispielsweise Andreas Osiander an der mündlichen Kommunikation über Luthers Theologie partizipiert haben. Den Einfluss der Haltung Osianders zur Türkengefahr auf Sachs weist Feuerstein [Anm. 4], S. 219–223, nach. KG 22, S. 373–379. Sachs versieht das Lied mit dem Datum 1542, Keller und Goetze (vgl. KG 22, S. 379) folgen sinnvoller Weise Liliencron, der es mit Blick auf den drohenden Einfall des osmanischen Heeres in Ungarn im Jahr 1532 in dieses Jahr setzt (vgl. Rochus von Liliencron, Die historischen Volkslieder der Deutschen vom 13. bis 16. Jahrhundert, 4 Bde., Leipzig 1865–1869, hier Bd. 4, Nr. 439). Vgl. auch Feuerstein [Anm. 4], S. 626.
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Regiert er mit gwaltiger hand [. . .]. (KG 2, 434,13–19.25 f.)
Im Anschluss an die Schilderung der Untaten bei den Belagerungen Wiens und Ko˝szegs folgt auf das Erklärungsmodell von der Gottesstrafe die flehentliche Bitte an Gott, er möge von den Christen die Sünde nehmen, seinen Zorn von ihnen abwenden und ihnen ein gut hertz geben, dass sie veranlasse, ihn anzurufen. Der Wunsch mündet in einen Vergleich mit den kindern Israel: O herr, zu ehre deinem namen Tilg ab die sünd! würff hindterwertz Dein zoren! gib uns ein gut hertz, Inn newem leben auff zu stan, Mit hertzen dich zu rüffen an, Geleich den kindern Israel, Wenn sie von feinden litten quel Und sich bekerten in der not. Zu dir rüfften, gütiger Got! (KG 2, 438,10–18)
Des Weiteren wird die Parallele zwischen den hauptleut[en] ausserwelt des israelitischen Volkes, durch die Gott sein Volk von grossem heer der Feinde errettete, und Kaiser Karl V. (1500–1558) gezogen: Insofern für ihn die gleiche Hilfe im Kampf gegen den türkischen erbfeind grausamleich erbeten wird,46 setzt er gewissermaßen die Reihe der alttestamentarischen Könige oder Anführer der Israeliten fort.47 In Zusammenhang mit der Gleichsetzung alttestamentarischer Ereignisse mit jenen im Kontext der Türkenbedrohung48 sei besonders auf das Spruchgedicht Conterfaction Theseus des itz Turckischen kayssers im M.D.XXvi. jare (1526) verwiesen.49 In ihm werden den Christen alttestamentarische Herrscher von Juda und Ißrael (KG 24, 7,5) gegenübergestellt, wobei hier das Vergleichsmoment die Strafe Gottes bildet. Die Christen haben nit waren glauben, insbesondere lässt ein Teil von ihnen das ware[] 46
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Zu dieser und zwei weiteren Bezugnahmen auf den Kaiser und seine Rolle bei der kriegerischen Auseinandersetzung mit den Türken in den Spruchgedichten zur Belagerung Wiens vgl. kurz Feuerstein [Anm. 4], S. 163–165. So errettest von grossem heer / Dein volck durch kleine gegen-weer / Durch ihre hauptleut ausserwelt, / Der hertz auch war auff dich gestelt, / Als durch Josua und Simson, / Durch Jeptha und durch Gideon, / David, Jonathan, Abia, / Durch Josaphat und köng Assa, / Durch könig Ezechiam frum / Und Judam Machabeorum. / Den allen gabst sighaffte hand. / Also du, einiger hayland, / Gib yetz unserm christlichen kayser / Caroly, dem mechtigen rayser, / Mit sampt gantzen römischen reich / An unserm erbfeind grawsamleich, / Der mit so unmenschlichen stücken / Dein christlich volck meint zu vertrücken / Durch seinen tyrannischen krieg! / Daher gib uns gnedigen sieg (KG 2, 438,19–38). Sie begegnet auch in den Meisterliedern, vgl. Feuerstein [Anm. 4], S. 214 f. Anlass der beiden Lieder RSM 2S 1073a und 2S 1074a ist das Vordringen der Türken nach Ungarn im Jahr 1541. KG 24, S. 6–8. – Das Gedicht fehlt in den Spruchbüchern, ebenso seine Erwähnung in dem von Sachs eigenhändig angelegten Generalregister. Die Unterschrift H S S und die gemeinsame Veröffentlichung mit zwei weiteren von Sachs stammenden Stücken durch Georg Merckel legt die Autorschaft Sachsens nahe, vgl. KG 24, S. 6 und 96 (Enr. 24). Siehe dazu auch Brunner u. a. [Anm. 4], S. 634 Anm. 63.
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clare[] gottes-wort unbeachtet, was auf »die nicht allgemein verbreitete Annahme des evangelischen Bekenntnisses«50 anspielt, und ferner geben sie, was ebenfalls eine Voraussetzung des evangelischen Menschenideals wäre, keine bessrung in Bezug auf die Sündhaftigkeit zu erkennen. Die Könige wiederum ignorieren die Weissagungen der Propheten.51 Wie jene an menschen-ler gedicht52 hängen, so diese am götzen-dinst.53 Schickt Gott den Christen als Strafe für ihre überhand genommene sundt und missetadt den Türken, gottes geyssel (vgl. KG 24, 6,9–11), so beispielsweise dem König Manasse der sirier her und hauptman.54 Anders als in der ‘Klage’, in der Sachs eingedenk der ersten Belagerung Wiens, angesichts eines erneut drohenden Ansturms auf Österreich 1532 und aufgrund der Beeinflussung durch Luther den Glaubenskrieg klar befürwortet (s. o.), folgt er in dem 1526 verfassten Spruchgedicht noch der abwehrenden Haltung Luthers in Bezug auf einen Türkenkrieg. Thematisiert wird weder dieser noch die endzeitliche Vision,55 dagegen lässt sich im Sinne der neuen evangelischen Lehre das »Eintreten für das lautere Gotteswort«56 beobachten.
III Bestimmt das Türkenthema in den Jahren zwischen der Belagerung Wiens und den abermaligen Einfällen in das habsburgische Österreich (1529–1532) einen guten Teil der dichterischen Betätigung des Hans Sachs, so wird es, wenn es auch nicht völlig verschwindet, mit der Belagerung der ungarischen Hauptstadt Ofens im Jahr 1441 wieder aktuell.57 Seine dichterische Aufmerksamkeit erfordern in den folgenden Jahrzehnten hauptsächlich anders gelagerte aktuelle politische Themen.58 Wenngleich eine akute Kriegsgefahr nicht mehr besteht, beschäftigt Sachs die nach wie vor virulente Türkenthematik jedoch auch in dieser Zeit hin und wieder. In seinen Dramen macht er die Orientalen seiner Stoffvorlagen zu Türken (oder akzentuiert den Orient deutlicher als ›Türkei‹) und ruft bekannte Türken-Typisierungen auf.59 Daraus ergeben 50
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Ebd., S. 634. Die betreffende Stelle lautet: Seyt wir sein wort hand clar am tag / In schreyben, predigen und lessen, / Noch bleybet stet das sündlich wessen, / Das zeyget gründlich bey uns an, / Das wir nit waren glauben han, / Seit kein bessrung bey uns erscheint. / Auch ist der merste teyl noch feindt / Dem waren claren gottes-wort, / Verfolgen es mit prant und mort / Und wollen es annemen nicht, / Hangen an menschen-ler gedicht [. . .] (KG 24, 6,16–26). KG 24, 7,8 f. Für diesen Begriff ist wie für das Stichwort menschen gsecz, das »in der Sprache des Hans Sachs, die die Sprachregelung des Nürnberger Protestantismus spiegelt, [. . .] ›katholische Bräuche‹« heißt, »das Fallen in Menschenlehre [als] Ursache der Strafe« anzunehmen; zum Stichwort menschen gsecz vgl. Brunner u. a. [Anm. 4], S. 614 f., Zitate ebd. KG 24, 6,26 u. 7,14. KG 24, 6,9 u. 7,33. Vgl. auch Feuerstein [Anm. 4], S. 95 f.; Brunner u. a. [Anm. 4], S. 634. Feuerstein [Anm. 4], S. 96. In drei Spruchgedichten (1541–1542), die die kriegerischen Auseinandersetzungen schildern, bedient sich Sachs der aufgezeigten Topoi, um mit ihnen das genannte Ziel, die Stärkung der reformatorischen Position, zu verfolgen, vgl. KG 2, S. 423–426, S. 427–430, S. 431–433. Vgl. Brunner u. a. [Anm. 4], S. 641. Einen Überblick über die »türkisch inspirierten Spiele« gibt Kleinlogel [Anm. 4], S. 61–67,
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sich durchaus spannungsreiche Figurenprofile: In der ‘Genura’ (1548),60 einer Bearbeitung der ‘Decameron’-Novelle II,9, ist der streng richtende orientalische Herrscher ein Türke.61 Ausgangspunkt der Handlung ist eine Wette zwischen Barnaba von Genua und Amprogilo aus Florenz über die Treue der Frau Barnabas, Genura. Amprogilo gewinnt die Wette durch Hinterlist und Betrug, überzeugt Barnaba vom Treuebruch Genuras; diese flieht vor der Rache ihres Mannes in die Türckey. Dort dient sie als Mann verkleidet dem Sultan, bis es ihr schließlich gelingt, den Verräter zu überführen, über den der Sultan eine grausame Strafe verhängt. Das wiedervereinte Paar kehrt in die Heimat zurück. Gegenüber dem ‘Decameron’ erscheint das Profil des Sachsschen Sultans reduziert und zugleich in Orientierung an das zeitgenössische Türkenbild zugespitzt: Der Sultan ist wie jener Boccaccios/Arigos62 streng urteilender Richter, doch wirkt er insgesamt unerbittlicher und als sei er von weitaus weniger diplomatischer Gesinnung. Der Soldan erklärt sich im Drama dazu bereit, die Christen zu bekriegen, und hofft auf deren Niederlage aufgrund ihres schwachen Zusammenhalts (vgl. KG 12, 53,33 f.). Überdies weitet Sachs das Urteil des Sultans aus: Die Strafe für Amprogilo ist noch grausamer als in der Novelle, und auch seine Helferin geht nicht leer aus (das Ertränken der kuplerin hat keine Entsprechung im ‘Decameron’). Darüber hinaus richtet der Türke am Ende ein Machtwort an die christlichen Herrscher; er überreicht dem geläuterten Gatten der Genura die abgezogene Haut des ehren-dieb[es], die Barnaba mit zurück in die (christliche) Heimat nehmen soll: Das darbey sech dein obrigkeit, / das der Soldan straff die boßheit! (61,17 f.). Die Lehren im Ausgang des Stückes machen deutlich, dass Sachsens Zuspitzung der orientalischen Herrscherfigur als Türken letztlich auf die Ermahnung zu rechter christlicher Haltung zielt, wann Gott der weiß die rechten zeit / an tag zu bringen die warheit (62,27 f.). Die Bestrafung durch den Sultan geht auf Gott allein zurück, und es scheint die schon in Sachsens Spruchdichtung mehrfach artikulierte Auffassung vom Türken als Gottesstrafe auf. Sie trifft jene, die gegen die göttlichen Gebote und christlichen Werte verstoßen, hier insbesondere in Form von leichtfertig[em] gewett, aus dem Schande
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Zitat S. 64. Sie verweist neben den im vorliegenden Beitrag diskutierten Stücken auf die folgenden drei: Tragedia mit 22 personen, der Fortunatus mit dem wunschseckel [1553] (KG 12, S. 187–226); Comedi mit 19 personen, die schön Magelona, unnd hat 7 actus [1555] (KG 2, S. 451–487); Ein comedi mit zwey-und-zweyntzig personen, die vertrieben keyserin mit den zweyen verlornen söhnen, und hat sechs actus [1555] (KG 8, S. 161–196). Comedi mit 9 personen, die undultig fraw Genura, unnd hat fünff actus (KG 12, S. 40–63). Vgl. hierzu auch ausführlicher Christiane Ackermann, Dimensionen der Medialität. Die Osmanen im Rosenplütschen ‘Turken Vasnachtspil’ sowie in den Dramen des Hans Sachs und Jakob Ayrer, in: Fastnachtspiele. Weltliches Schauspiel in literarischen und kulturellen Kontexten, hg. von Klaus Ridder, Tübingen 2009, S. 189–220. Sachs rezipierte das ‘Decameron’ vermittelt durch Arigos deutsche Übertragung (Ausgabe: Decameron von Heinrich Steinhöwel [eigentlich Arigo], hg. von Adelbert von Keller [Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 51], Stuttgart 1860). Neben dem ‘Decameron’, das die eigentliche Vorlage darstellen dürfte, hat wohl auch die ‘Historie von den vier Kaufleuten’ Sachsens Bearbeitung beeinflusst. – Die Literatur dazu ist genannt bei Ackermann [Anm. 61], S. 210 Anm. 76.
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erwächst oder widerwertigkeit, / das sich oft thut beim trunck begeben (61,32.34 f.), Misstrauen in der Ehe (KG 61,38) triegerey und lug (KG 62,20.30).63 Insgesamt verleiht Sachs seinem Sultansbild eine innere Spannung, die im ‘Decameron’ so nicht gegeben ist; sie resultiert aus der Aktualisierung der Figur vor dem Hintergrund der Türkenthematik. Demgegenüber vereindeutigt Sachs die Figur des Türken als negative Gestalt dann wieder in der Dramatisierung des Prosaromans ‘Pontus und Sidonia’.64 Sachsens Comedia (1558) präsentiert die Geschichte des tugendhaften Pontus, Sohnes des Königs von Galicia, der vertriebn wart auß seins vatters reich / von dem soldan gewaltigleich (KG 13, 378,13 f.).65 Er gelangt nach Britaniam, wo man mit dem Einfall der Türken rechnet, sich jedoch mit Pontus’ Hilfe erfolgreich verteidigen kann. Unterdessen verliebt sich die zart und schon Königstocher Sidonia in Pontus, dem der Verräter Gendolet den Erfolg neidet. Letzterer erscheint (parallel zu den türkischen Gegenspielern) als Kontrastfolie zum Protagonisten. Dieser wird somit auf der einen Seite (jene des ‘Anderen’, Nicht-Christlichen) von den blutdürstigen türkischen Tyrannen flankiert und auf der anderen Seite von dem Verräter Gendolet, als Stellvertreter des Verrats unter den Christen selbst. Gerade durch diese negativen Kontrastfiguren kann Sachs die Tugendhaftigkeit des Pontus im Rahmen seiner Kürzungen holzschnittartig herausstellen. Beide Gegner des Pontus verkörpern die (versuchte) Anmaßung von Herrschaft, die notwendig durch Gottes Gerechtigkeit scheitert. Schon die Vorlage kontrastiert Orient und Okzident, und die Forschung meinte, im Prosaroman sei »die Heidenthematik [. . .] aufgrund der Türkeneinfälle von großer Aktualität gewesen«.66 Doch ist ein solcher Bezug im Prosaroman weitaus weniger konkret als im Drama des Hans Sachs. Zwar waren die Türkenkriege zur Zeit der 63 64
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Zu den von Sachs angeprangerten Lastern und Sünden vgl. oben, insbes. S. 447. Er findet sich in zwei voneinander unabhängigen Fassungen des 15. Jahrhunderts. Vorlage der Übersetzungen war der franz. Prosaroman ‘Ponthus et la belle Sidoyne’, der wiederum eine Bearbeitung (vermutlich von Geoffrey de la Tour Landry am Ende des 14. Jhs.) der anglonormannischen Chanson de geste ‘Horn et Rimenhild’ (um 1180) darstellt (vgl. HansHugo Steinhoff, Art. ›Eleonore von Österreich‹, in: 2VL 2 [1980], Sp. 470–473, hier Sp. 472). Zu den Fassungen A und B und der französischen Vorlage vgl. Reinhard Hahn, ‘Von frantzosischer zungen in teütsch.’ Das literarische Leben am Innsbrucker Hof des späteren 15. Jahrhunderts und der Prosaroman ‘Pontus und Sidonia (A)’ (Mikrokosmos 27), Frankfurt a. M./Bern u. a. 1990, S. 86–158. – Steinhoff erklärt, dass die Übertragung Eleonores »relativ früh und dann immer aufs neue den Zugang zum Druck gefunden hat, der dem ‘Pontus’ des Unbekannten versagt geblieben ist.« Die Anzahl der Drucke und die Verkaufszahlen verwiesen auf den Erfolg des ‘Pontus’, der »seine Wirkung im 16./17. Jh.« begründet habe. Steinhoff führt die dramatischen Bearbeitungen des ‘Pontus’ auf, darunter das Stück des Hans Sachs (2VL 2 [1980], Sp. 472 f.). Im Folgenden wird vergleichend aus der Fassung A zitiert: ‘Pontus und Sidonia’ in der Eleonore von Österreich zugeschriebenen Fassung (A), nach der Gothaer Handschrift Chart. A 590 hg. von Reinhard Hahn (GAG 726), Göppingen 2005. Comedia mit 13 personen: Pontus, eins königs sohn auß Galicia, mit seiner schönen Sidonia, eins königs tochter zu Britania, unnd hat 7 actus (KG 13, S. 378–426). Hahn, ‘Von frantzosischer zungen in teütsch’ [Anm. 64], S. 209.
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Übersetzungen (2. Hälfte des 15. Jhs.) aktuell; es ist allerdings zu bedenken, dass die Heidenthematik im Werk auf die um 1200 entstandene Vorlage zurückgeht und nicht von den deutschen Übersetzern eingearbeitet wurde (was natürlich nicht ausschließt, daß sie im 15. Jahrhundert wieder von Interesse war). Zu berücksichtigen ist ferner, daß die für Habsburg bzw. Tirol bedrohlichen Türkeneinfälle in Krain, bis an die Grenzen Kärntens zeitlich nach dem Prosaroman anzusetzen sind (1473, 1476, 1478, 1480 und 1483). Schließlich – und das ist von prinzipieller methodischer Bedeutung – mußte jeder so verstandene aktuelle Anknüpfungspunkt seine Aktualität irgendwann einbüßen, die Wirkung des Romans kann von solcher Realitätshaltigkeit her allenfalls für einen begrenzten Zeitraum erklärt werden.67
Anders verhält es sich mit der dramatischen Bearbeitung des Hans Sachs, der die ›Heiden‹ immer wieder als ›Türken‹ bezeichnet und so die Geschichte mit Blick auf die osmanische Expansion aktualisiert. Sachsens Türken gewinnen allerdings gegenüber den Orientalen der Vorlage nicht etwa an Tiefenschärfe. Sachs ›stutzt‹ den Stoff zurecht und reduziert das Bild der ›Andersgläubigen‹ unter Einbindung anti-osmanischer Typisierungen, wie schon der Eingang des Stücks zeigt: Berichtet wird hier vom Einfall der Türken im köngreich Galicia, in dem Produs, der Sultanssohn, unerhörte tiranney / Und blutürstige[] mörderey begangen habe (KG 13, 379,27 f.). Mit hinterlistigem Geschick habe er es ermöglicht, dass der gwaltig hauff (380,2) der Türken in die Stadt Cologna (d. i. A Corun˜a) eindringen konnte: Da wart ermördet alt und jung (380,7). Die Türken erschlagen König Thiburt, der mit seinem Gefolge zahlenmäßig den Türken gänzlich unterlegen ist. Diese vergießen eine Unmenge an Christenblut, das biß in das meer ist gflossen / ain gantz blutiger bach von in (380,15 f.).68 Das Bild ist bekannt, Sachs beschwört es mehrfach in seiner Spruchdichtung; in seinem ‘Pontus’ verleiht er damit der Beschreibung der Invasion eine Drastik, wie sie seiner älteren Türkendichtung (etwa zur Belagerung Wiens) entspricht. Im Prosaroman folgt auf die Einnahme Colungnes eine Begegnung zwischen Pontus und Produs, Sohn des Sultans von Babilonia.69 Dieser bewundert die schöne Erscheinung des Pontus und anderer Christenkinder: [. . .] Ir bedunckt mich mächtiger herrn¯ chinder sein nach ewrer gestalt, als ich euch ansich. [. . .] jch wais nit, was ir seit, aber vo¯ hübschaitt vnd wolkünne¯hait habt ir nicht gefält [. . .] (‘Pontus und Sidonia’ [A], 3,31–4,1). Zwar macht Produs unmissverständlich deutlich, dass den Christen der Tod drohe, wenn sie nicht konvertierten, doch zeigt er eine Verhandlungsbereitschaft, die Sachs in seiner Bearbeitung gänzlich tilgt. Er fokussiert die Mordlust der Türken; sobald der junge Pontus und all edeler landtherren sön (KG 13, 381,2) in die Hände des Sultans geraten, gibt dieser Befehl, sie zu würgen ab (381,7).70 67 68
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Ebd. Vgl. dagegen den Wortlaut im Prosaroman zur Eroberung der Stadt: vn¯ gewu¯nen das tör vn¯ darnach die stat an widerrede, vn¯ tetten gröss mort in der statt vn¯ grös v¨bel. Vn¯ luffenn o darnach zu dem schlöss [. . .] (‘Pontus und Sidonia’ [A], 2,34–3,1). Vgl. den Kommentar von Hahn zu Babilonia: »Im europäischen Mittelalter die gängige Bezeichnung für das muslimische Kairo. Die heidnische Hauptstadt Babylon gilt schon in der ‘Chanson de Roland’ als Ort des Bösen oder gar als Sitz des Teufels« (Hahn, Kommentar zu ‘Pontus und Sidonia’ [A] [Anm. 64], S. 122 zu S. 1, Z. 13). Die Unerbittlichkeit des mörderischen Vorgehens der Türken kommt besonders deutlich
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König Agrillus auß Britania, der von all diesen Vorgängen hört, fürchtet um die Vereinnahmung auch seines Landes durch die Türken, doch vertrauen er und seine Mannen auf Gott. Es begegnet hier das bei Sachs gängige Motiv der christlichen Abwehr, die mit Gottes Hilfe möglich ist: [. . .] wir wöllen Uns sein (sc. des Türken) wern auff leib und leben, Uns im nit unterthenig geben; Wann zu gott steht die hoffnung mein, Er wirt verlassen nit die sein. (KG 13, 382,28–32)71
Im Stück erscheinen die Türken als beständige Bedrohung. Während die Liebe zwischen Sidonia und Pontus zu erblühen beginnt, rückt die Türkengefahr immer näher; sie bildet einen Kontrast zur zuvor inszenierten (von dem Willen zu zuht und ehr geprägten) Begegnung zwischen der schönen Königstochter und dem treuen Pontus. Schon bald wird sich die Befürchtung des Königs bestätigen: Was ich besorget hab vorlangst, Das kumbt gleich ietzt mit grosser angst: Man sagt uns, wie auch der soldan Mit grossem heer sey kummen an Britaniam auff wildem meer, Mit einem unzeligen heer, Und wil cristen-glauben zerstören Und all manschafft darinn ermören. (KG 13, 389,10–17)
Die Heiden treten vor Agrillus und fordern die Unterwerfung von Land und Leuten sowie die Annahme des Machomez glauben (389,25). Hierin artikuliert sich Sachsens Überzeugung, dass die Forderung der Türken nach einer Konversion zum Islam eine Ursache des Krieges sei. Die demgemäß den Türken in den Mund gelegte Rede72 ermöglicht eine Replik durch Pontus als Stellvertreter der Christen und Repräsentanten christlicher Idealität: So kan ich ye nit schweigen stil, Weil es antrifft die göttlich ehr. Du wirst erleben nimmer mehr, Das wir christen-glauben auffgeben Und nach Machometz glauben leben, Der vom teuffel hat sein anfang. (KG 13, 390,1–6)
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zum Ausdruck, wenn Sachs einen der Türken (ganz gemäß der anti-türkischen Dichtung) erklären lässt, dass in der Schlacht gegen die Christen keine Gefangenen zu machen, sondern diese zu töten seien: Nun Machomet, der herrlich groß, / Der sol sein unser gschrey und loß, / Wann mir an-greiffen der christn macht. / Wir wöllen ir kein in der schlacht / Gefangen nemen, in nit trawen, / Sünder erschiessn oder erhawen, / Auff das ir kainer kumb darvan, / Der die botschafft heim-bringen kan (KG 13, 415,26–33). Vgl. auch die kurz darauf folgende Äußerung des Pontus: Auff den [sc. Gott] thu ich mein hoffnung setzen, / Der nie kein menschen verlaßn thet, / Der hertzlich hoffnung auff in het (KG 13, 383,29–31). Vgl. KG 13, 389,18–26.
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Die Glaubensfrage soll nach Willen der Heiden im Streit zwischen einem Türken und zwei knechten auf christlicher Seite entschieden werden.73 Pontus besteht auf dem Zweikampf. Wiederholt betont er, ganz gemäß der Sachsschen Diktion, dass er von gottes wegen kämpfe. Einmal mehr demonstriert das Stück, dass hinter dem Konflikt mit den Türken der Glaubenskampf stehe, die türkischen Eroberungen religiös motiviert seien. Diese Auseinandersetzung wird auf die Ebene des Zweikampfs verlagert: Sie schlagen einander, biß der türck felt; Pontus hebt seine hendt auff unnd spricht: Herr gott, ich sag dir danck allein! Der sieg kumbt durch die hielffe dein. (KG 13, 391,27–30)
Nach diesem Erfolg soll nun das ganze übermächtige türkische Heer geschlagen werden; Pontus fordert dazu auf, in christi namen (392,4) gegen die Heiden zu kämpfen wie wol ir ist ein grosses heer, / weil wir streitten für gottes ehr (392,6 f.). Es gelingt den Christen, die Türken zu überwältigen, und Agrillus belohnt Pontus, indem er ihn zum stadthalter in britanischem königreich macht (393,18 f.). Immer wieder verweist das Stück darauf, dass für den Sieg der Christen Gott selbst verantwortlich zeichnet, der die Treuen und Gottesfürchtigen beschirmt und ihnen zum Sieg über die Ungläubigen verhilft, ja selber hauptman in dem krieg ist (416,13).74 Die Haltung entspricht jener, die Sachs in seiner früheren Dichtung über die Türken artikulierte.75 Neben dem ›außenpolitischen‹ eröffnet sich ein weiterer ›Kriegsschauplatz‹; nicht nur die Türken stellen eine Bedrohung für die Christen dar, vielmehr kann eine Gefahr auch durch Neid, Machtstreben, Falschheit und Verrat aus den eigenen Reihen erwachsen. Verkörpert wird dies durch Gendolet, der Pontus seinen Erfolg neidet.76 Der untrew verreter fürchtet, jenem würde zu viel Macht zukommen, und strebt selbst nach der Krone. Er will Ponuts einhaitzen, im schüren brendt, ihn bei Sidonia und dem König versagen (402,31, 403,3). Mehrfach gelingt es Gendolet, Pontus zu verleumden, doch bevor der Verräter Sidonia am Ende ehelichen kann und der von ihm gefangen gesetzte König hungers sterben muss (421,28), stellt Pontus Gendolet, zuckt den tolch und sticht in, das er felt (423,1). So hat der trew und frum
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Der heydt oder türck spricht: / Das man gwisse kundtschafft erlang, / Das Machometz glauben sey der recht, / So gebt mir zu zwen edel knecht, / Das sie mit mir kempffen all zwen; / Und welcher theil den thut besthen, / Derselbig glaub der besser sey (KG 13, 390,7–13). Pontus artikuliert dies, wenn er später (im sechsten Akt) sein Heimatland von den Türken zurückerobert: Pontus legt sein handt zamb, sicht gehn himel / unnd spricht: / Herr gott, dir sey rum, preiß und ehr, / Du bist gewest mit unserm heer / Und selber hauptman in dem krieg, / Uns geben wunderbaren sieg! (KG 13, 416,9–14). Vgl. dazu oben, S. 448. Gendolet erklärt: Es felet nu doch nit weit mehr, / Er wirt das köngreich uberkummen. / Ich glaub, er hab heimlich genummen / Des köngs tochter, odr wert sie nemen. / Das thut mich heimlich auff in gremen; / Ich wil im stossen einen keil / Und schiessen ein vergifften pfeil / Bey Sidonia, der hoffjungfrawen, / Wiewol er mirs nit zu ist trawen. / Gib im gute wort morgen als heindt, / Bin im doch heimlich spinnen-feindt (KG 13, 394,1–11).
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Pontus auch den bößwicht in den eigenen Reihen zur Strecke gebracht. Möglich ist ihm dieser Sieg wiederum, da Gott ist gesessen am gericht (423,5). Am Schluss bringt noch einmal der Ehrenhold die Gefahren auf den Punkt, welche die Welt für den Christen bereithält, dem aber, sofern er gottesfürchtig handelt und sich fleust aller tugendt (424,30), Gott hilfreich beisteht, selbst im Kampf gegen den wütrich soldan, der [. . .] sich noch nimbt ein herrschafft an, Ohn ursach leut und landt zu zwingen, Thirannisch in sein gwalt zu bringen, Gereht ir das gleich ein zeitlang, Nimbt sie doch endtlich untergang. (KG 13, 424,15–19)
Ähnlich verhält es sich grundsätzlich mit dem untrewlich Handelnden, der den Rechtschaffenen schadet, sich im Übrigen – gleich den Türken – Herrschaft anzumaßen sucht, und der notwendig scheitert, denn Gott weiß ihm zur gegebenen Zeit Einhalt zu gebieten: Der [sc. Gendolet] so untrewlich handeln thet, Das noch all solich ubeltheter, Neidig und trewlose verreter, Die frum und ehrlich person An schuldt dieblich verklecken thon, Ein schelmen-gruben grabn allein, Fallen doch endtlich selber drein. Darbey man augenscheinlich sicht, Das gott selber sitzt am gericht, Stürtzt den bößwicht zu rechter zeit Und hilfft aus wider-wertigkeit [. . .]. (KG 13, 425,10–20)
Sachs nutzt den Prosaroman ‘Pontus und Sidonia’, um die Türkenproblematik dramatisch-narrativ auszugestalten, was ihm gattungsbedingt im Spruchgedicht und Meistersang versagt ist. Das Drama bietet in umfassenderer Weise Gelegenheit zu einer narrativen und inszenatorischen Kontrastierung christlicher Idealität und türkischer Unrechtsherrschaft. Auch ist das Drama als Medium besonders geeignet, die christliche Glaubensgewissheit und den Aufruf zur Einhaltung bestimmter Werte und Tugenden lebendig vor Augen zu führen. Bleiben auch wie im Roman die Orte und Länder in Sachsens inszenatorischer Gestaltung des Stoffes relativ vage, so ist mit Blick auf den Orient, der bei Sachs zum Herrschaftsraum der Türken wird, doch die »abstrakte Extensität«,77 wie sie im Roman vom Typ ‘Pontus und Sidonia’ begegnet, 77
Michail M. Bachtin, Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik, in: ders., Untersuchungen zur Poetik und Theorie des Romans, hg. von Edward Kowalski und Michael Wegner, Berlin/Weimar 1986, S. 262–464, hier S. 280. Bachtin nennt die »abstrakte Extensität« als Merkmal des Ortes im spätgriechischen Roman: »Die Welt dieser Romane ist groß und vielgestaltig. Doch auch die Größe und die Vielfalt sind völlig abstrakt. Für den Schiffbruch wird ein Meer benötigt, aber was für ein Meer das im
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zurückgenommen. Sachs ›injiziert‹ gewissermaßen Realität in den Stoff, wiewohl in Form typisierter Versatzstücke, die er zuvor über Jahre immer wieder durchdeklinierte. Ihnen verleiht er im Drama ansatzweise eine neue Vitalität, fixiert aber auch die Handlungsräume des Erzählstoffes als binäre Opposition von türkischem und christlichem Reich und nimmt der Geschichte so ein Stück weit ihre Offenheit und damit verbundene Dynamik, die nicht zuletzt in ihrer ›translozierbaren Handlung‹ begründet liegt.
IV Einen Text, der sich ausschließlich den Türken widmet, verfasst Sachs erst wieder 1572, ohne darin die Kriegsgefahr und die mit ihr verbundenen Gräueltaten in den Blick zu nehmen.78 Er befindet sich in einem 25 Blatt starken, 1572 in Augsburg erschienenen titellosen Druck,79 welcher eine Folge von 26 Holzschnitten umfasst, als deren Urheber Jost Amman (1539–1591) angenommen wird: Neben dem Eingangsholzschnitt mit der Illustration einer in einem idealisierten Naturort unter Bäumen ruhenden (wohl türkischen) Familie und der Darstellung einer Giraffe auf dem Schlussblatt enthält es 24 Darstellungen zu Ämtern und Rängen der türkischen höfischen Gesellschaft.80 Beigegeben ist den Abbildungen der Sachssche Text: dem Ein-
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geographischen und historischen Sinne ist, interessiert überhaupt nicht. [. . .] Der Charakter des jeweiligen Ortes wird nicht zu einem Bestandteil des Ereignisses, in das Abenteuer findet der Ort nur als bloße abstrakte Extensität Eingang« (ebd.). Hahn greift diese Feststellung Bachtins auf und diskutiert ihre Geltung für den Prosaroman ‘Pontus und Sidonia’. Er erklärt: »Bachtins These von der ‘abstrakten Extensität’ des geographischen Raums besagt, anders gewendet, daß die Handlung translozierbar sei. Die Stoffgeschichte des Pontusromans bietet dafür aufschlußreiche Belege« (vgl. Reinhard Hahn, ‘Pontus und Sidonia’. Geographischer Raum im Prosaroman des 15. Jahrhunderts, in: Reisen und Welterfahrung in der deutschen Literatur des Mittelalters. Vorträge des XI. Anglo-deutschen Colloquiums, hg. von Dietrich Huschenbett und John Margetts [Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie 7], Würzburg 1991, S. 215–227, hier S. 224–226). Bereits die unter dem Eindruck der Belagerung Wiens stehende Flugblattfolge Hans Guldenmundts von 1529/30 (s. o.) zeigt »die wichtigsten Typen des türkischen Heeres in einer Reihe von Flugblättern« (Röttinger, Erhard Schön [Anm. 26], S. 13). »Die Anführer werden nicht ohne Würde in der Pose antiker Reiterdenkmäler vorgeführt, in prunkvoller Kleidung und mit fast nur symbolischer Bewaffnung. Erst die unteren militärischen Ränge, die Gefangene in die Sklaverei verschleppen und unschuldige Kinder morden, können vom Betrachter als negative Helden erkannt werden« (Die Welt des Hans Sachs [Anm. 24], S. XXVII). Auch die Textbeigaben des Hans Sachs erscheinen in nicht wenigen dieser Fälle vergleichsweise sachlich: Wie die bildlichen Skizzen zielen sie primär darauf, die äußere Erscheinung und Ausstattung der verschiedenen Typen – Kleidung, Rüstung, Reittier – darzustellen oder über ihre Herkunft zu informieren. Darin und in der Tatsache, dass sie die grausamen und tyrannischen Kriegshandlungen der Türken nicht oder nur leise anklingen lassen, unterscheiden sie sich etwa von der Türkische[n] Tyranney (s. o.). Vgl. KG 25, S. 652, Nr. 6166; Röttinger, Bilderbogen [Anm. 26], Nr. 6166; Die Welt des Hans Sachs [Anm. 24], Nr. 331. – Der Druck wird heute in der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg unter der Signatur 2 Gs 601 aufbewahrt. Abbildungen der Holzschnitte finden sich in Die Welt des Hans Sachs [Anm. 24], Kat. 331/1
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gangsholzschnitt eine versifizierte Vorrede, den übrigen 25 Holzschnitten je vier Reimpaarverse samt einer kurzen Überschrift. Später hat Sachs die Verse (mit abweichender Orthographie und teils leicht verändertem Wortlaut) unter der Überschrift Des dürckischen kaiser hoffgesind, herren und frawen sampt iren pefelch und emptern in das zwölfte seiner Spruchbücher »mit gebrechlicher Hand« nachgetragen.81 Die Vorrede82 macht deutlich, dass das Büchlein nicht nur die Ämter des türkischen Hofstaates benennt und die zugehörigen Bekleidungen beschreibt, sondern in die Auflistung auch die sich am Hof befindlichen Christen (etlich Christen alt) und allgemein Menschen, die am Hof zu schaffen haben (man vnd Weibsbild), einbezieht.83 In den Vierzeilern des Hans Sachs erscheinen die Figuren, insbesondere jene, welche die höheren Ämter vorstellen, würdevoll; die Holzschnitte zeigen sie in ehrwürdiger Haltung, in prunkvollem Ornat und hier ebenfalls mit zum Teil nur symbolischer Bewaffnung. Die Sammlung eröffnet der türkische Sultan in stolzer Herrscherpose (Abb. 3); der Vierzeiler dazu, der wie die Vorrede durch die Angabe des
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(Eingangsholzschnitt) Kat. 331/2–331/25 (24 Türken-Darstellungen), Kat. 323 (Giraffe). Bei dem Schlussblatt (Bl. 25r) mit der Darstellung einer Giraffe handelt es sich um einen wiederbenutzten Einblattdruck, vgl. W[ilhelm Eduard] Drugulin’s Historischer Bilderatlas. Verzeichnis einer Sammlung von Einzelblättern zur Cultur- und Staatengeschichte vom fünfzehnten bis in das neunzehnte Jahrhundert, Teil 2: Chronik in Flugblättern (LagerKatalog des Leipziger Kunst-Comptoirs), Leipzig 1867, S. 42, Nr. 356; Andreas Andresen, Der deutsche Peintre-Graveur oder die deutschen Maler als Kupferstecher nach ihrem Leben und ihren Werken, von dem letzten Drittel des 16. Jahrhunderts bis zum Schluss des 18. Jahrhunderts, Bd. 1, Leipzig 1872, S. 391; KG 25, S. 659, Enr. 261; Röttinger, Bilderbogen [Anm. 26], S. 96. Nachdem nach Abschluss des 18. Spruchbuches fünf Texte überpliben sind, wie Sachs erklärt, trägt er sie auf den frei gebliebenen Schlussblättern und der Innenseite des hinteren Deckels des 1559 beendeten zwölften Spruchbuches ein, vgl. KG 26, S. 14, Zitat ebd. Abgedruckt sind die Verse nach diesem bei Ka´bdebo sowie bei Keller und Goetze: Die Dichtungen des Hans Sachs zur Geschichte der Stadt Wien. Nach handschriftlichen Quellen hg. von Heinrich Ka´bdebo (Die poetische Literatur der Stadt Wien vom Beginne des XVI. bis zum Schlusse des XVIII. Jahrhunderts 1), Wien 1878, S. 51–66; KG 23, S. 490–494, 588. Ka´bdebo stellt zur Diskussion, »ob Hans Sachs diese Verse etwa für eine in Aussicht genommene zweite Auflage [. . .] niederschrieb« (S. 53), vermutet aber, dass Sachs, »als er im hohen Alter seine sämmtlichen Dichtungen aufzuzeichnen beschlossen hatte, diese Verse nach dem Gedächtnis eintrug, wobei es ihm weniger auf den Wortlaut der ursprünglichen Dichtung ankam« (S. 54). Ihr Wortlaut unterscheidet sich von jenem im zwölften Spruchbuch überlieferten nicht unerheblich (vgl. KG 23, 490,3–22). e e HErnach steht augenscheinlich pur / Die warhafftig Contrafactur / Des itz Turckischen Kaye e sers frey / Welcher regirt in der Turckey / Mit nam Suldan Selim genandt / Der dreyzehent im e e Regiment / Vnd auch der Hohepriester sein / Vber die Gaistling all gemein / Sampt dem Turckisch Hofgesind / Die in die Empter geordnet sind / Wie die mit Namen sind genandt / Auch e e mit jhr Klaidung vnd gewandt / Auch darnach etlich Christen alt / Mit jhr Klaidung artlich e gemalt / Auch man vnd Weibsbild hernach sent / Wie sie am Turckischen hofe gehnt / Abcone e terfetet alle sambt / Geklaid / vnd wie jeder sein Ampt / Jm Kaiserlichen hof ist hon / Wird bey der Bilde zaiget ohn (Bl. 1v).
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Namens (Sultan Selim: Selim II., 1566–1574) und die Verortung in der türkischen e Herrscherfolge (Der 13. Kayser) den Aktualitätsbezug (der itzt regirt) herstellt, lautet: 1. e
e
Der Turckisch Kayser. e e Turkisch Kayserlich Mayestat e Stet da in Kayserlicher wat Sultan Selim genennet wirdt e Der 13. Kayser der itzt regirt.
(Bl. 2v)
Im Schlussbereich der Sammlung wird der Sultan in Reiterpose und prächtigem Ornat präsentiert (Abb. 4). Der Sachssche Text deutet die Pose auf einen Spazierritt und ergänzt die bildliche Illustration um die (textlich evozierte) Vorstellung, dass der Sultan von seinem berittenen Fürsten-, Adels- und Ritterstab begleitet wird: 23. e
Der Kaiser zu Roß. e e Also der Turckisch Kaiser reit Spaciren nahent oder weit e Sampt den Fursten / Rittern vnd Adel Haben an Trabanten kein zadel. (Bl. 23v)
Sachs erwähnt auch anderweitig, dass es dem Sultan und seinem Gefolge nicht an Trabanten mangele, den bereits an vorausgehenden Stellen vorgestellten Fußkriegern und Leibwachen des Sultans bzw. der Fürsten (Abb. 5): 5. Trabanten zu Fuß. Die Trabanten mit den Handtpogen Kom ¯¯ en vor dem Keyser herzogen Zu fuß wo er reitet auß hin e Das sie mit gwalt beschutzen jn. (Bl. 6v)84
Dass Sachs auf die beschriebene Weise Informationen über die Funktion einzelner Ämter miteinander verknüpft, ist ein erster Hinweis darauf, dass die Bilder und Texte von Anfang an als zusammengehörig gedacht worden sind, unabhängig davon, ob einzelne Holzschnitte (wie nachweislich die Giraffe, evtl. auch der Holzschnitt zur Vorrede) ursprünglich als Einblattdruck Verwendung gefunden haben. Die konzeptionelle Untrennbarkeit der einzelnen Bild-Text-Gefüge gibt die Vorrede zusammen mit der Tatsache zu erkennen, dass die Text- und die Bildelemente klar geschiedene, 84
e
e
Vgl. ferner: 8. Die Trabanten der grossen Fursten. / Wenn die außreitten fur das thor / So lauffen jn die Knechte vor / Zu einem Pomp vnd herrling pracht / Sam haltens in Schutz durch jr macht (Bl. 9r). – Um ein Versehen handelt es sich vermutlich bei der Titelbezeichnung der Fußknecht[e] (Nr. 4), die ebenso lautet wie jene der sich anschließenden Trabanten (Nr. 5): 4. Trabanten zu Fuß. / Das sind Fußknecht die dem Suldan / Wenn er pflegt außzureitten than / Die jm nach lauffen allemal / Die sind gleich hundert an der zal (Bl. 5r). In seinem Spruchbuch ordnet Sachs die Verse den Fusknecht[en] des kaisers (KG 23, 491,11 f.) zu, Weigels Trachtenbuch (siehe dazu unten und Anm. 91) den Lakeien (Bl. Bbb iijr).
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unterschiedliche Ziele verfolgende Beschreibungsfunktionen übernehmen. Die Vorrede betont ausdrücklich eine zweifache Schwerpunktsetzung bei der Darstellung der Hofämter: auf die Angabe erstens ihrer Bezeichnung und zweitens der zugehörigen e Bekleidung (Wie die mit Namen sind genandt / Auch mit jhr Klaidung vnd gewandt). Die textlichen Bestandteile des Büchleins beschränken sich nun darauf, die Funktion der einzelnen Ämter oder die Rolle bestimmter Personentypen kurz und bündig zu benennen. Nur gelegentlich und lediglich andeutend verweist Sachs in Bezug auf die verschiedenen Ämter auf die äußere Erscheinung.85 Allein bei den Darstellungen der Frauen verschiedener Herkunft integriert er ein signifikantes Merkmal ihrer Aufmachung in seinen Text, über eine bloße Benennung geht er aber auch in diesen Fällen nicht hinaus.86 An keiner Stelle unternimmt Sachs in seinen Vierzeilern den Versuch, den Habit beschreibend vor Augen zu führen; dieses in der Vorrede erklärte Ziel (HErnach steht augenscheinlich) überlässt er der visuellen Wirkkraft der Holzschnittillustrationen. Dabei markieren sprachliche Signale die Relation zwischen der Anspielung im Text und der im Bild im Ganzen präsentierten äußeren Erscheinung (so, also)87 oder lenken auf diese mittels des deiktischen Verweises.88 Bei verschiedenen der Ämter bedarf der Rezipient einer (Text-)Erläuterung, um die bildlichen Darstellungen in Beziehung zu einem bestimmten Amt zu setzen, da sie beispielsweise bei den Trabanten, den Landsknechten, den seefahrenden Kriegsleuten, dem Zuchtmeister nicht ohne Weiteres wie im Fall des an seinem prächtigen Ornat kenntlichen Sultans über die Funktion am Hof Auskunft geben. Andere Vierzeiler, etwa derjenige zu den griechischen Frauen (Nr. 22), verfasst Sachs nicht mit Blick auf die Funktion, sondern mit Blick auf die äußere Erscheinung. Für deren Darstellung setzt er aber auf die Anschaulichkeit der Bildillustration und informiert stattdessen über den Ort, an dem solch bekleidete Frauen anzutreffen sind. (Abb. 6): 22. Die Krigischen Weiber. So sind die Kriechen Weiber bekleit Wie man sie sicht zu dieser zeit Jn Constantinopel der Stat Die man in grossen ehrn hat. (Bl. 22r)
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So nennt er die kayserlich[] wat des Sultans (Nr. 1, Bl. 2v), den Handtpogen der Trabanten (Nr. 5, Bl. 6v), das Gewandt des Persers (Nr. 15, Bl. 15r), den Mohr auß Arabia / Mit seinr Klaidung (Nr. 16, Bl. 17r) sowie den Bischoff stab der Patriarchen der Christen (Bl. 24r). Sachs führt die ehrbare Frau an, die verdeckt jr Angesicht (Nr. 18, Bl. 18r), die geschmückt[e] Aufmachung und sitzende Haltung der reichen Weiber (Nr. 19, Bl. 18v), die karamanischen Frauen in weiß vnd herrlichem gepent (Nr. 20, Bl. 20r) und das Netz, mit dem die verheirateten Christen Weiber aus Pera, einem Stadtteil Konstantinopels, ihre Hände bedecken (Bl. 22v), oder er empfiehlt, darauf zu achten, wie die Griechinnen bekleit sind (Nr. 22, Bl. 22r). Nr. 17–20, 22, 23. e Das sind (Nr. 4, Bl. 5r); Diese hutten (Nr. 7, Bl. 8v); Das ist (Nr. 15, Bl. 16v); Conterfeit da (Nr. 16, Bl. 17r).
Wann gantz geferlich ist die zeit
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Das informierende Moment ist hier auf die Typenzuordnung beschränkt, in einigen Fällen sind Besonderheiten festgehalten, wie das netz, mit dem die schlechten Frawen, d. h. die ehrbaren einfachen Frauen, in der Öffentlichkeit ihr Gesicht bedecken (Abb. 7): 18. Ein schlechte Fraw. So sind schlecht Frawen zugericht Ein netz verdeckt jr Angesicht Wenn sie beim tag zu marck gehnt auß Vnd kauffen was man darff zuhauß. (Bl. 18r)
Sachsens Beschreibungen der Türken fallen durchweg sachbezogen aus. In Verbindung mit den Holzschnitten, in denen sich sowohl Realismen89 wie Exotisierungen90 finden, erheben sie einen gewissen informativen Anspruch. Die Aufnahme der Holzschnitte samt den gelegentlich leicht modifizierten Sachsschen Versen in das 1577 in Nürnberg verlegte ‘Trachtenbuch’ Hans Weigels91 belegt den repräsentativen Charakter der Bild-Text-Einheiten, durch den sie sich zur Wiedergabe in einem Kontext eignen, welcher die Addition stereotyper Bekleidungsmuster zur Aufgabe hat. Und auch insgesamt »sind in den zahlreichen Trachtenbüchern des 16. und 17. Jahrhunderts regelmäßig auch türkische Männer und Frauen in ihrem morgenländischen Habit abgebildet.«92 Das Büchlein über die geistlichen, militärischen und gesellschaft89
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Vgl. zum Beispiel die Information darüber, dass die Karamanen (hier: die karamanischen Frauen; vgl. Nr. 20, Bl. 20r), eine Volksgruppe christlich-orthodoxen Glaubens vor allem im südlichen Anatolien ansässig, in der Türkei lebten (vgl. LexMA 5 [1991], Sp. 949), oder auch die Thematisierung der sog. Knabenlese, der Aushebung junger Männer aus der christlichen Landbevölkerung, die zu Muslimen erzogen, im Hof- und Verwaltungsdienst eingesetzt und für die Janitscharen, die soldatische Elitetruppe des Sultans, rekrutiert wurden (ebd., Sp. 1231 f.): 9. Der Christen kinder leren kriegen / Christen kinder so in hof komen / Werden e zu lern aufgenomen / Zu Kriegen Kempffen Raisen vnd fechten / Alle ordnung zu Kriegsv knechten (Nr. 9, Bl. 10 ); 6. Der Christen kinder Kriegsknecht. / Der Christen kinder Streite par Kriegsknecht / Die bewachen den Kayser recht / Bey nacht mit jrem Gschoß zumal / Sind 14. tausent an der zal (Nr. 6, Bl. 7r). Als fremdartig und exotisch empfunden worden ist wohl die Darstellung der reichen weiber mit ihrer sitzenden Pose, den entblößten Füßen mit Reifen um die Knöchel (Nr. 19, Bl. 18v; vgl. Abb. 8) und ebenso die Darstellung des Mohr[en] auß Arabia [. . .] Der am Leib schwartz ist gleich dem Ruß (Nr. 16, Bl. 17r; vgl. Abb. 9). Habitus praecipuorum populorum, tam virorum quam foeminarum singulari arte depicti. Trachtenbuch: Darin fast allerley vnd der fürnembsten Nationen, die heutigs tags bekandt sein, Kleidungen, beyde wie es bey Manns vnd Weibspersonen gebreuchlich, mit allem vleiß abgerissen sein, sehr lustig vnd kurtz-weilig zusehen. Faksimile-Ausgabe, Unterschneidheim 1969. Zum Druck vgl. Andresen [Anm. 80], S. 390 f. – Im Trachtenbuch ist der Eingangsholzschnitt mit der Vorrede nicht aufgenommen. Eine Identifizierung der Holzschnitte des Augsburger Druckes mit den Abdrucken des Trachtenbuches bietet Röttinger, Bilderbogen [Anm. 26], S. 95 f. Schilling [Anm. 4], S. 50. Vgl. z. B. Jost Ammans ‘Frauentrachtenbuch’ von 1586 (Im Frauwenzimmer wirt vermeldt von allerley schönen Kleidungen unnd Trachten der Weiber [. . .] Sampt einer kurtzen Beschreibung durch den wolgelehrten Thrasibulum Torrentinum Mu-
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lichen Ränge am türkischen Hof ist wohl im Kontext vergleichbarer Darbietungen anderer Ordnungsgefüge zu sehen. Zu denken ist neben dem erwähnten Trachtenbuch vor allem an die bekannte Gemeinschaftsarbeit Sachsens und Ammans, das im Jahr 1568 erschienene ‘Ständebuch’.93
V In der Dichtung des Hans Sachs verbindet sich die Erfahrung des Grauens, den die Türken verkörpern, mit der mahnenden Erinnerung an die eigene Sündhaftigkeit angesichts der Missachtung des göttlichen Gebots. Dem Entsetzen über die Untaten, deren Beschreibungen versatzstück- und schablonenhaft anmuten, steht die Einsicht in die eigene Schuld gegenüber. Hier zeichnet sich nicht zuletzt eine protestantische Geisteshaltung ab: Die typologische und die eschatologische Geschichtsdeutung, verbunden mit der Interpretation des Türken als Gottesstrafe für den sündigen, von Gott abgefallenen Christen (darunter auch der Kaiser), ist geeignetes Mittel, um dem neuen Bild des evangelischen Christen Kontur zu geben. Diesem Bild liegt das Ideal des Gott zugewandten, sein Leben nach dessen Wort ausrichtenden, von Nächstenliebe getragenen, Barmherzigkeit übenden und den Lastern abschwörenden evangelischen Christen zugrunde. Diesem Ideal gerecht zu werden, fordert Sachs insbesondere in seiner Spruchdichtung teils ex negativo durch das warnende Beispiel der bisherigen Lebensweise der Christen, teils durch den expliziten Aufruf zur Umkehr. Im Drama ist dies inszenatorisch an ›Fallbeispielen‹ dargestellt, die Sachs der Literaturgeschichte entnimmt und für seine Zwecke ummodelliert. Bei all dem bedient sich der Nürnberger Dichter neuer medialer und gattungsmäßiger Möglichkeiten, die das evangelische Menschenbild sowie die jeweils gewählte Kontrastfolie – der ›grausame Türke‹ zum einen und der ›sündhafte, treulose Christ‹ zum anderen – besonders plastisch heraustreten lassen. Demgegenüber stehen Skizzierungen der türkischen Kultur, wie sie insbesondere in der beschriebenen Holzschnittfolge Des dürckischen kaiser hoffgesind [. . .] begegnen, die den türkischen Hofstaat im Übrigen mit Korrespondenzen zum Ordnungsgefüge der christlichen Welt darstellt und so ein Interesse für die ›andere‹ Kultur, eine alternative, sich aber auch sukzessive verändernde Wahrnehmung der Osmanen bezeugt.
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tislariensem [. . .] in Rheimen verfasst; VD16 L 727; Faksimileausgabe von Manfred Lemmer, e e Leipzig 1971), darin Camilla desz Turckischen Sultans Tochter (Bl. cijr) und Ein Turckische v Hur (Bl. cij ). Vgl. auch Schilling [Anm. 4], S. 50, der auf Jost Ammans ‘Kunstbüchlein’ (1599) verweist, in das eine »regelrechte Galerie türkischer Herrscher« (ebd.) aufgenommen ist. Das Ständebuch. 133 Holzschnitte. Jost Amman. Mit Versen von Hans Sachs und Hartmann Schopper, hg. von Manfred Lemmer (Insel-Bücherei 133), Frankfurt a. M. 111995.
W. G. Sebalds Prag von Almut Todorow
für Paul Sappler, aus Anlass einer gemeinsamen Liebe zu Prag
W. G. Sebalds Werk genießt heute internationale literarische Anerkennung. Das gilt vor allem für seine erzählende Prosa, und hier in besonderem Maße für seinen letzten, vor seinem frühen Unfalltod 2001 veröffentlichten Roman ‘Austerlitz’, der vielfach als Meisterwerk der deutschen Gegenwartsliteratur angesehen wird. Im Mittelpunkt steht die Lebensgeschichte von Jacques Austerlitz, einem in England lebenden, aus Prag stammenden Juden, der als vierjähriges Kind 1939 mit einem Kindertransport nach England gekommen und als Jugendlicher und später als Kunsthistoriker zeit seines Lebens von einer ungeklärten Unruhe getrieben ist. Schließlich beginnt er im vorzeitigen Ruhestand anstelle einer geplanten bau- und zivilisationsgeschichtlichen Studie eine rastlose Suche nach etwas, das seine Herkunft dem Verschweigen und Vergessen entreißen könnte. Sie wird ausgelöst von einer »dichter und dichter werdenden Angst«, die ihn in eine tiefe Krise geraten lässt, so dass nur der eine Gedanke noch in meinem Kopf war, ich müsse mich vom Treppenabsatz im dritten Stockwerk eines bestimmten Hauses [. . .], in dem ich vor Jahren nach einem Arztbesuch einmal eine sonderbare Anwandlung gehabt hatte, über das Stiegengeländer hinunterstürzen in die dunkle Tiefe des Schachts.1
Auf seiner Suche gelangt er Anfang der neunziger Jahre nach Prag, wo er auf seine weit zurückliegende Vergangenheit trifft und sich mit der Zerstörung seiner Kindheit und der Auslöschung seiner Familie konfrontiert sieht: Es nutzte mir offenbar wenig, dass ich die Quellen meiner Verstörung entdeckt hatte, mich selber, über all die vergangenen Jahre hinweg, mit größter Deutlichkeit sehen konnte als das von seinem vertrauten Leben von einem Tag auf den anderen abgesonderte Kind: die Vernunft kam nicht an gegen das von jeher von mir unterdrückte und jetzt gewaltsam aus mir herausbrechende Gefühl des Verstoßen- und Ausgelöschtseins.2
Verkürzt könnte man mit einer Formel von Eberhard Lämmert sagen, es geht Sebald in diesem Roman darum, »anhand einer Geschichte Geschichte [zu] erzählen«,3 darum, in einem narrativen Feld vielfältiger Perspektiven und verschachtelter poetischer Verfahren die historischpolitische Wirklichkeit der nationalsozialistischen Epoche in Europa durch die Sinne und Wahrnehmungen seiner Romanfiguren erfahrbar und der 1 2 3
W. G. Sebald, Austerlitz, München/Wien 2001, S. 181. Sebald [Anm. 1], S. 326. Eberhard Lämmert, Zum Wandel der Geschichtserfahrung im Reflex der Romantheorie, in: Geschichte − Ereignis und Erzählung, hg. von Reinhard Koselleck und Wolfdieter Stempel (Poetik und Hermeneutik 5), München 1973, S. 503–515, hier S. 503.
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intellektuellen Reflexion zugänglich zu machen. Prag ist, erweitert um Theresienstadt und Marienbad, ein zentraler und in diesem doppelten Sinne literarischer und zugleich historiographischer Schauplatz dieser Wirklichkeit, auf dem die individuelle Geschichte dieses einzelnen Menschen und die kollektive Handlungswelt der MakroGeschichte sich durchkreuzen. Sebald trägt dem mit der Erzählweise der Lebensgeschichte des Jacques Austerlitz Rechnung. Halb fiktional, halb dokumentarisch, zirkuliert sie zwischen zwei IchErzählern, Austerlitz und seinem weitgehend stummen, nur selten kommentierenden Zuhörer, den er auf seiner Suche quer durch Europa in Abständen und durch Zufall immer wieder trifft, und Veˇra, der Kinderfrau, die aus der Erinnerung auch weiteren Erzählern eine Stimme gibt und deren Erzählungen konjunktivisch und verschlungen in die Erzählungen Austerlitzens eingewebt sind. Es entsteht ein eigentümlicher Fluss direkter, mündlicher Rede, deren vorgebliche Authentizität der Erzählung konstitutiv und beglaubigend unterlegt ist. Denn der Ablauf der Erzählungen folgt keiner festen Ordnung oder Chronologie, er unterbricht sich selbst immer wieder durch selbstreferentielle Verweise, reflektierende Deutungen und kommentierende Bemerkungen wie, etwas sei »sonderbar«, erscheine »so als ob« oder – identifikatorische Lektüren verhindernd – etwas sei »in gleichsam illusionistischer Manier« gehalten.4 Zahlreiche Einschübe markieren die ständig wechselnden Sprecherpositionen innerhalb von Austerlitzens Rede, wie »sagte Veˇra«5 oder »wie sie mir sagte, sagte Austerlitz«6 oder »Maximilian erzählte gelegentlich, so erinnerte sich Veˇra, sagte Austerlitz«.7 Das selbstreflexive Moment und die ineinanderfließende Mehrstimmigkeit erzeugen gleitende Wechsel von Perspektiven und Ebenen, mischen sich mit den Verschiebungen zwischen weit auseinanderliegenden Zeiten und Orten und zwischen Erzählen und Erzähltem. Die ständig mäandernde, assoziativ verschachtelte Erzählrhetorik hält der zuhörende Erzähler in einem Gefüge fest, das offen ist für die Übergänge, Ambivalenzen und das Ab- und Auftauchen einer nur mühsam zu entziffernden Vergangenheit, in die die Erzählung von Austerlitzens krisenhafter Gegenwart weit in die Geschichte zurückgeschrieben wird. Während der Erzählfluss verwirrend bleibt, ist er doch durchzogen von Leitmotiven, Korrespondenzen und Spiegelungen, deren semantische Verkettung immer wieder unterschwellig Zusammenhänge herstellt. Gerade für die Prag-Abschnitte des Romans hätte es nahe liegen können, für diese Verkettungen die spezifische PragTopik zu beschwören und die emotional und imaginär aufgeladenen Requisiten des bekannten Prag-Bildes – Hradschin, Karlsbrücke, Wenzelsplatz, die goldenen Türme und Dächer, die Gassen, Cafe´s und dunklen Passagen – aufzurufen, um die diffuse Gemengelage von historischem und touristischem Wissen, privater Erinnerung und neu zu erfahrender Gegenwart der Stadt topographisch zu entfalten. Aber die charismatischen Plätze kommen in Sebalds Prag nicht zum Zuge. Obgleich Austerlitzens 4 5 6 7
Sebald [Anm. 1], S. 208. Ebd., S. 221. Ebd., S. 220. Ebd., S. 241.
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Gänge in der realen Stadt genau nachzuvollziehen und die Schauplätze seiner Vergangenheitssuche auch außerfiktional im wirklichen Prag bekannt sind – das Staatsarchiv, die kleine krumme Sˇporkova-Gasse, die Sˇerˇikova, das Ständetheater –, entbehren sie bei Sebald doch völlig des Magischen und der literarischen Topikalisierung. Moldauufer, Messegelände, Pankra´zgefängnis oder Holesˇovice und Wilsonovo na´drazˇı´, die Bahnhöfe, entziehen sich in ‘Austerlitz’ dem bekannten Stadtnarrativ und bedürfen einer neuen Entdeckung als metaphorische Orte dieses Romans. Dabei scheinen sie die Stadt zu befreien von den Ablagerungen jener mythisierenden Aura, um den Stadtraum neu zu modellieren und freizulegen für die Vernetzung von Austerlitzens Lebensgeschichte mit der politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Bezeichnenderweise wird Prag bei Austerlitzens erster Begegnung mit der Stadt mit einem befremdenden Bild oder mit dem Bild einer besonderen Fremdheit eingeführt. Am Abend seines ersten Tages in der Stadt nimmt er ein Zimmer in einem kleinen Hotel auf der Kampa-Insel. Von seinem gleich nach der Landung unternommenen Besuch im Staatsarchiv in der Karmelitska´ noch aufgewühlt, voller Beklemmung verliert er sich in seine herumirrenden Gedanken: Ich weiß nur noch, [. . .] dass ich dort bis zum Dunkelwerden am Fenster saß und hinausschaute auf das graubraune, träge dahinfließende Wasser der Moldau und auf die, wie ich nun fürchtete, mir völlig unbekannte und mit mir in keiner Weise verbundene Stadt jenseits des Stroms.8
Obgleich Austerlitz nur um die Moldaubreite von der gegenüberliegenden Pragseite geschieden ist, kommt Prag als Bild einer Stadt am Horizont in den Blick, fern, vom Betrachter durch den Strom getrennt, unbekannt, eine fremde Stadt. Die Formulierung »Stadt jenseits des Stroms« scheint diese Fremde noch zu unterstreichen, indem sie auf Hermann Kasacks ‘Stadt hinter dem Strom’ anzuspielen und das surreale Schattenreich dieses Romans entgegen der pointierten Kritik des frühen Sebald an Kasacks Mythisierung von Krieg und Zerstörung aufzurufen und so die Stadt im topischen Kontext eines surrealen und phantastischen Prag zu verorten scheint. Aber die flüchtige Anspielung bleibt ambivalent, Austerlitz ist nicht gekommen, die Rätsel einer fremden Stadt zu ergründen, vielmehr spiegeln ihre Fremdheit und Verschlossenheit nur sein eigenes Fremdsein. Sein Blick nach draußen und über den Strom trägt Züge einer imaginativen Überformung durch ein Fremdsein, das seiner selbst nicht gewiss sein kann. Austerlitz begegnet Prag als literarische Figur einer gesellschaftlichen Erfahrung von Fremdsein, die während des 20. Jahrhunderts immer mehr ins Zentrum der soziologischen und philosophischen Bestimmung der Moderne und moderner Subjektivität gerückt ist. Nach Zygmunt Bauman zeitigt die Moderne als Epoche eine von ihr nicht gewollte, krisenhafte und stets bekämpfte Ambivalenz, eine Kontingenz in den modernen Staats- und Lebens-Formen, die sich dem vorrangigen und dominanten neuzeitlichen Streben nach rationaler Ordnung und danach, die unaufhebbaren Widersprüche der Welt durch Systeme zu vereindeutigen und durch genaue Definitionen und 8
Ebd., S. 213 f.
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Klassifikationen verstehbar und beherrschbar zu machen, widersetzt und die gerade aus diesem Konflikt heraus immer wieder neu entsteht.9 Das Ordnungsprinzip der Moderne ist die Strukturierung klarer Unterscheidungen, denen zugleich aber immer auch das Unentscheidbare und Unbestimmte innewohnen. »Es gibt Freunde und Feinde. Und es gibt Fremde«, heißt es bei Bauman.10 Der Fremde ist die archetypische Personifikation der Ambivalenz der Moderne. Er entzieht sich den Möglichkeiten einer klaren Zuordnung zwischen Freund und Feind, seine Position ist weder Freund noch Feind und stellt Ordnung als Prinzip fundamental in Frage.11 Georg Simmel, Sigmund Freud, Julia Kristeva und andere haben sich mit dieser Fremdheit beschäftigt. Auch Bernhard Waldenfels definiert sie als das, was außerhalb und in den Lücken jeder Ordnung bleibt, als das, was sich der Einordnung dauerhaft entzieht und unumkehrbar immer tiefer in den Kern der Bestimmung des Eigenen und in den Kern der gesellschaftlichen Vernunft längst eingedrungen ist.12 Fremdheitserfahrung lebt danach in Grenzphänomenen der Dezentrierung des Subjekts wie Eros, Rausch, Schlaf oder Tod. Die Phänomene der Entfremdung kennzeichnen die gesellschaftlichen Umbrüche der Moderne, sie zerstören Raum- und Zeitordnungen und die Ordnungen der Lebensformen.13 Die Figur des Austerlitz kann als Verkörperung solcher Fremdsetzung und Deplatzierung des Subjekts gelesen werden, jene Dämmerung am Fluss wie der Blick auf die »Stadt jenseits des Stroms« als ihre Zeichen in der Wirklichkeit, zuletzt auch der Wach-Traum, mit dem der Fernblick am Fenster sich schließlich nach innen kehrt: Mit qualvoller Langsamkeit gingen die Gedanken durch meinen Kopf, einer undeutlicher und unfassbarer als der andere. Die ganze Nacht hindurch bin ich teils schlaflos gelegen, teils geplagt worden von unguten Träumen, in denen ich treppauf und treppab gehen und vergeblich an Hunderten von Türen läuten musste, bis in einem der äußersten, schon gar nicht mehr zur Stadt gehörenden Vororte ein Hauswart namens Bartolomeˇj Smecˇka, der einen alten zerdrückten Kaiserrock trug und eine geblümte Phantasieweste mit goldener, quergezogener Uhrkette, aus einer Art Verlies im Souterrain hervorkam und, nachdem er den Zettel, den ich ihm hinreichte, studiert hatte, bedauernd die Schultern anhob und sagte, der Volksstamm der Azteken sei leider vor vielen Jahren schon ausgestorben, höchstens dass hie und da noch ein alter Papagei überlebe, welcher noch etliche Worte ihrer Sprache versteht.14
Der Jude Austerlitz kehrt nach Prag als dem Ort seiner verschollenen frühen Kindheit, nicht aber nach Hause zurück. Das jüdische Prag des frühen 20. Jahrhunderts gibt es nicht mehr. Austerlitz sucht es bezeichnenderweise auch nicht in Prag, sondern am verlassen wirkenden Ort seiner Vernichtung, in den menschenleeren Straßen des heutigen Terezı´n, Theresienstadt. Auch hier ist er ein Fremder und ein vom 9
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Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Frankfurt a. M. 1996 (Cambridge 1991). Ebd., S. 73. Ebd., S. 75. Bernhard Waldenfels, Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1997, S. 36 f. Ebd. Sebald [Anm. 1], S. 214.
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Geschehen, das in Resten und Erinnerungsstücken um ihn her ausgebreitet ist, Ausgeschlossener, in seinen Wahrnehmungen ambivalent: Noch während ich vor dem Bazar wartete, hob Austerlitz nach einer Weile wieder an, hatte es leise zu regnen begonnen, und da sich weder der Inhaber des Ladenlokals [. . .] noch irgend jemand sonst zeigen wollte, bin ich schließlich weitergegangen, ein paar Straßen hinauf und hinunter, bis ich auf einmal, an der nordöstlichen Ecke des Stadtplatzes, vor dem sogenannten, von mir zuvor übersehenen Ghettomuseum stand. [. . .] So bin ich dann allein durch die Ausstellungsräume gegangen, sagte Austerlitz, [. . .] bin vor den Schautafeln gestanden, habe einmal mit größter Hast, einmal buchstabenweise die Legenden gelesen, habe auf die photographischen Reproduktionen gestarrt, habe nicht meinen Augen getraut und habe verschiedentlich mich abwenden und durch eines der Fenster in den rückwärtigen Garten hinabsehen müssen, zum erstenmal mit einer Vorstellung von der Geschichte der Verfolgung, die mein Vermeidungssystem so lange abgehalten hatte von mir [. . .]. Das alles begriff ich nun und begriff es auch nicht, denn jede Einzelheit, die sich mir, dem, wie ich fürchtete, aus eigener Schuld unwissend Gewesenen, eröffnete auf meinem Weg durch das Museum, aus einem Raum in den nächsten und wieder zurück, überstieg bei weitem mein Fassungsvermögen. 15
Sebalds Romanfigur korreliert nicht mit den Topoi eines phantastischen oder eines jüdischen Prag, sondern – in sozusagen unterschwelliger Umkehrung – mit dessen Verlust. Für Austerlitz ist Prag der Ort des tiefsten Fremdseinmüssens: Soweit ich zurückblicken kann, sagte Austerlitz, habe ich mich immer gefühlt, als hätte ich keinen Platz in der Wirklichkeit, als sei ich gar nicht vorhanden, und nie ist dieses Gefühl stärker in mir gewesen als an jenem Abend in der Sˇporkova´, als mich der Blick des Pagen der Rosenkönigin durchdrang. [16] Auch am nächsten Tag, auf der Fahrt nach Terezı´n konnte ich mir nicht vorstellen, wer oder was ich war. Ich entsinne mich, dass ich in einer Art Trance auf dem Perron des trostlosen Bahnhofs Holesˇovice gestanden bin, dass die Geleise auf beiden Seiten ins Unendliche verliefen, [. . .].17
Austerlitzens Prag ist bestimmt von undeutlichen Erinnerungsorten und von den passageren Räumen, die zugleich draußen und drinnen, treppauf und treppab, halb wachend und halb schlafend, zwischen Wirklichkeit und Trance durchlaufen werden.18 Es sind Ausdrucksformen der Mehrdeutigkeit, Unentscheidbarkeit und der Ortlosigkeit, die wie literarische Übersetzungen der unaufhebbaren Fremdheit in Sprachbilder von Zwischen-Räumen und Schwellenzonen fungieren.19 Als eigene Metaphernketten ziehen sie sich leitmotivisch durch Sebalds Text. Im Prag-Teil entfalten sie eine unaufgelöste Dichte und Intensität von ambivalenten Selbstwahrneh15 16
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Ebd., S. 281–283. Es ist der Blick des vierjährigen Jacques aus einer Maskenball-Photographie heraus, der auf den Blick des Betrachters trifft. Sebald [Anm. 1], S. 266 f. Ich verdanke wichtige Anregungen der erhellenden Studie von Tobias Jentsch über den Zusammenhang der kulturanthropologischen Bestimmung von Fremdheit in der Moderne und der literarischen Realisierung dieser Fremdheit in Texten von Franz Kafka, Rainer Maria Rilke, Hugo von Hofmannsthal, Alfred Kubin und einer ganzen Reihe weiterer Autoren: Tobias Jentsch, Da/zwischen. Eine Typologie radikaler Fremdheit, Heidelberg 2006. Ebd., S. 41 ff.
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mungen, die Austerlitz auch am Ende seines Aufenthaltes trotz einer gewissen Auflösung des Rätsels seiner Herkunft und Geschichte dennoch auf beunruhigende Weise sich selbst ein Fremder und seiner Identität ungewiss lassen: Manchmal schien es, als ob sich die Schleier teilen wollten; glaubte ich, für den Bruchteil vielleicht einer Sekunde, die Schulter Aga´tas zu spüren oder die Titelzeichnung des ChaplinHeftchens zu sehen, das Veˇra mir gekauft hatte für die Reise, doch sowie ich eines dieser Fragmente festhalten oder, wenn man so sagen kann, schärfer einstellen wollte, verschwand es in der über mir sich drehenden Leere.20
Sebald führt den Diskurs über diesen Fremden und über seinen ambivalenten Status des Fremdseins nicht nur mit sprachlichen Leitmetaphern, sondern auch auf der Ebene von Bildern und im Wechselspiel zwischen Texten und Bildern. Der Roman ‘Austerlitz’ gehört wie die anderen Erzählungen Sebalds zu jenem Genre der jüngeren Literaturentwicklung, für das sich der Begriff ›Literarische Foto-Texte‹ durchzusetzen beginnt. Sie zeichnen sich durch ein »dialogisches Verhältnis zwischen Foto und Text« aus, wobei beide »sich jedoch als konstitutiv und damit als unverzichtbarer Teil des Werkes in seiner Gesamtheit« erweisen.21 Dabei geht es in ‘Austerlitz’ nicht um Bildmaterial von Prag, vielmehr folgen auch die Bilder dem Leitmotiv des Fremdseins. Ein regelrechter Sog in die Metaphorik geht von der auffallenden Sinnbildlichkeit der Photographie aus, die den Pragteil eröffnet und das Leitmotivische der Zwischenzustände mit dem Zugleich einer architektonischen Ordnung und ihrer Aufhebung zu erfassen scheint (Abb. 10).22 Das Bild zeigt die Aufsicht auf einen seltsam grotesk anmutenden Bau. Seine Funktion ist nicht wirklich erkennbar, die sinnbildliche Überformung erweckt den Eindruck eines verschlossenen und verwehrten Zugangs zu einem dahinter liegenden Raum. Davor und Dahinter bilden ein düsteres Motiv, das sich in der Bilderserie der verschlossenen Türen und Fenster in Terezı´n wiederholt und bedrohliche Fragen nach dem Verborgenen aufwirft.23 Die Aufnahme zeigt fast weiß vor dem scharfen Hell-Dunkel ein gitterartiges Gerüst, das mit senkrechten und schrägen Querstreben vor einem schlundartigen Gewölbe hochgezogen ist. Dahinter verliert es sich in der Tiefe, zugleich ist das Gerüst aber mit merkwürdigen Seitenarmen wie mit Flügeln bestückt, mit denen es paradoxerweise über dem Boden zu schweben scheint. Gerüst, Gitter oder Türe – das Objekt des Bildes – durchlöchert, mit Hohlräumen versetzt und ungeerdet – ist schwer auszumachen. Eine zweite Photographie unmittelbar darauf folgend (Abb. 11)24 zeigt noch schärfer den für Sebald charakteristischen Hell-Dunkel-, ins Graue spielenden Kontrast einer Schwarz-Weiß-Aufnahme: eine filigrane helle Lichtkuppel, deren Position im Dunkel des Bildraums aber unklar bleibt. Unterstützt von zwei schmalen Lichtschlitzen lässt sie weniger das Licht in das undurchdringliche Dunkel herein als dass sie den Blick aus der Tiefe in ein nicht einsehbares Oben und Jenseits zu ziehen scheint. 20 21
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Sebald [Anm. 1], S. 312. Thomas von Steinaecker, Literarische Foto-Texte. Zur Funktion der Fotografien in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, Alexander Kluges und W. G. Sebalds, Bielefeld 2007, S. 13. Sebald [Anm. 1], S. 207. Ebd., S. 269 ff. Ebd., S. 208.
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Wie der umgebende Text nahelegt, handelt es sich bei beiden Photographien um Teile des Innenraums in dem Gebäude, das in den 90er Jahren, zur Zeit von Austerlitzens Prag-Aufenthalt, das Staatsarchiv in der Karmelitska´ beherbergte, in einem sehr sonderbaren, weit in die Zeit zurückreichenden, wenn nicht gar, wie so vieles in dieser Stadt, außerhalb der Zeit stehenden Bau. Man betritt ihn durch eine enge, in das Hauptportal eingelassene Tür und befindet sich zunächst in einem dämmrigen Tonnengewölbe, durch das früher einmal die Kutschen und Kaleschen hineinrollten in den von einer verglasten Kuppel überwölbten, wenigstens zwanzig mal fünfzig Meter messenden inneren Hof, der auf drei Stockwerken umgeben ist von einer Galerie, über die man Zugang hat zu den Kanzleikammern, durch deren Fenster der Blick hinabgeht auf die Gasse, so dass also das ganze, von außen am ehesten einem Stadtpalais gleichende Gebäude gebildet wird von vier nicht viel mehr als drei Meter tiefen, um den Hofraum herum in gleichsam illusionistischer Manier aufgeführten Flügeln, in welchem es keine Korridore und Gänge gibt, ähnlich wie man es kennt aus der Gefängnisarchitektur der bürgerlichen Epoche, [. . .]. Aber nicht nur an ein Gefängnis erinnerte mich der Innenhof des Archivs in der Karmelitska´, sagte Austerlitz, sondern auch an ein Kloster, an eine Reitschule, ein Operntheater und an ein Irrenhaus, und all diese Vorstellungen gingen in mir durcheinander, während ich in das aus der Höhe herabsinkende Zwielicht hineinschaute und durch es hindurch auf den Galerierängen eine dichtgedrängte Menschenmenge zu sehen glaubte, in welcher einige die Hüte schwenkten oder mit dem Taschentuch winkten, so wie einstmals die Passagiere an Bord eines auslaufenden Dampfers.25
Einige Seiten weiter, im Bericht über den zweiten Besuch im Archiv, bei dem Austerlitz die wichtigen Hinweise auf Adressen von anderen Personen seines Namens erfährt, geht Austerlitz auch näher auf die erste Photographie ein, die, so erfährt man jetzt, keine Türe oder ein Gitter, sondern ein Treppenhaus wiedergibt: Am folgenden Tag, fuhr Austerlitz fort, bin ich wieder in das Staatsarchiv in der Karmelitska´ gegangen, wo ich zuerst, um mich ein wenig zu sammeln, einige Photoaufnahmen machte von dem großen Innenhof und dem zu den Galerien hinaufführenden Stiegenhaus, das mich mit seiner asymmetrischen Gestaltung erinnerte an die keinen bestimmten Zweck dienenden Turmbauten, die so viele englische Adelige für sich aufrichten ließen in ihren Gärten und Parks.26
Ähnlich wie im Wachtraum am Fenster des Hotels auf der Kampa oszilliert auch diese Beschreibung in einem Doppelbewusstsein. Es manifestiert sich im Text als Bewegung zwischen der genauen Wahrnehmung des Raumes und deren Überschreitung in »weit in die Zeit zurückreichende«, imaginäre Zwischenwelten von unbestimmter Erinnerung, Traum und Vision. Dabei entstehen die gleitenden Übergänge und Leerstellen ebenso sprachlich wie im Medium der Schwarz-Weiß-Photographie, ebenso im Zugleich von architektonischer Ordnung und ihrer Aufhebung oder wie im Kontrast von Gitter und Gewölbe und in der unklaren Raumorientierung der Lichtquelle. Im Text wie in den Bildern kehren korrespondierend die Merkmale des Passageren und Ungewissen als Motive des Fremden wieder.
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Ebd., S. 207 f. Ebd., S. 214 f.
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Im Prag-Teil häufen sich Treppen-Motive. Das Treppenhaus im früher von Austerlitzens Mutter Agata´ bewohnten Haus in der Sˇporkova (Abb. 12)27 führt zur Wohnung von Veˇra hinauf: eine »sanft ansteigende Stiege, die haselnussförmigen Eisenknöpfe in bestimmten Abständen auf dem Handlauf des Geländers – lauter Buchstaben und Zeichen aus dem Setzkasten der vergessenen Dinge«.28 Unter dem Eindruck der »glückhaften und zugleich angstvollen Verwirrung der Gefühle« musste Austerlitz sich »auf den Stufen des stillen Treppenhauses mehr als einmal niedersetzen und mit dem Kopf an die Wand lehnen«.29 Nur zögernd kann er diesen ambivalenten Zustand zwischen unten und oben, zwischen Zugehörigkeit und Unzugehörigkeit zu dieser Treppe und diesem Haus schließlich durch das Läuten im obersten Stockwerk beenden. Ähnlich fungieren die Bilder von Verglasungen als Metaphern des Oszillierens von Innen und Außen wie die Kuppel im Archiv-Gebäude oder die Fenster- und DachVerglasung des Wilsonow-Bahnhofs (Abb. 13).30 Wenn die Photographie des Stiegenhauses im Archiv den Prag-Teil eröffnet, so schließt dieser Teil mit der Photographie der labyrinthisch ineinander- und auseinanderlaufenden Gestänge und Streben der Glasfassaden des Bahnhofs. Unschwer erkennt man die Zirkelstruktur, mit der die beiden Bilder, der verschlossene Zugang und der durchlässige Ausgang, das Prag der Erinnerungssuche des Austerlitz umschließen und seine besondere Stellung im Roman markieren. Die Raummetaphorik der Treppen, Fenster und Fassaden findet eine Entsprechung in den Erzählungen von langen Spaziergängen die Prager Hänge hinauf und hinunter, »durch die schattigeren Gründe«,31 »zwischen Birn- und Kirschbäumen über die Wiesenhänge«32 der Parks und Gärten: Seminargarten, Schönborngarten, StromovkaPark, Choteksche Anlagen, Petrˇin, die Sofien-Insel. Auch wenn die spätere Erzählung Veˇras von der Trauer der Mutter über den Verlust der Spaziergänge diese Passagen nachträglich überschatten, regen sich hier ganz im Sinne Ernst Blochs ruhige, nicht von Träumen und Ängsten unterbrochene Erinnerungen Austerlitzens, eine Wahrnehmung von Heimat als ›dem, was allen in die Kindheit scheint‹. Als vergessene Orte gelingt es den Gärten und Wiesen in Austerlitzens Bewusstsein zurückzukehren und d. h. »vertraut« zu sein, »so vertraut wie die kühle Luft«.33 Sebalds Prag entzieht sich den Gemeinplatzerwartungen. Andererseits verzichtet der Autor nicht auf die Fülle der Imaginationskraft literarischer Topoi und darauf, durch mehrfache Überschreibungen von Orten »kommunikative Evidenz« und eine »symbolisch-harmonisierende Ästhetik«34 herzustellen oder auf einer Subebene ein 27 28 29 30 31 32 33 34
Ebd., S. 218. Ebd. Ebd., S. 219. Ebd., S. 313. Ebd., S. 223. Ebd., S. 222. Ebd., S. 235. Lothar Bornscheuer, Zehn Thesen zur Ambivalenz der Rhetorik und zum Spannungsgefüge
W. G. Sebalds Prag
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dichtes intertextuelles Netz mit den Texten der literarischen Moderne von Franz Kafka, Robert Walser, Peter Weiss oder Thomas Bernhard zu knüpfen. Indem er sich einer eigenen Technik der Mehrfachreferentialität und der Unterschwelligkeit einer dichten Text-Bild-Metaphorik bedient, vermag er einerseits die Erwartung der verbreiteten Prag-Topoi zu unterlaufen, sie andererseits in die Erzähllogik seiner Fremdheitsmetaphorik aufzunehmen und mit ihrer verborgenen Strahlkraft zu suggestiver Wirkung zu bringen. So könnte es ihm gelungen sein – um eine Frage von Heike Gfrereis aufzunehmen –, über Verfolgt- und Vertriebensein »noch einmal ein wenig so schreiben zu können wie die Älteren, Kafka, Walser, Stifter, Jean Paul, Benjamin – als wäre nichts geschehen und obwohl etwas geschehen ist?«.35 Denn Funktion seines Verfahrens bleibt, das Fremd- und Verlorensein, das in den rückkehrenden Kindheitserinnerungen nur momentweise aufgehoben ist, das Grauen und das Gewalttätige der deutsch-jüdischen Geschichte Prags im 20. Jahrhundert zu evozieren als das, was geschehen ist. Sebald führt nicht nur den metaphorischen Diskurs über das Fremdsein auf der sprachlichen Ebene und auf der der Bilder; auch den Diskurs über das Reale der Geschichte stützt er mit Photographien. So ist das Stiegenhaus im Archivgebäude ein realer Ort, man kann es im heutigen Musik-Museum besichtigen, ebenso die Glaskuppel im Deckengewölbe. Die real-hypertrophe Architektur, die Sebalds Text »wie in gleichsam illusionistischer Manier« in einen phantastischen Kontext zu verweisen scheint, die aber durch das selbstreflexive Moment der kommentierenden »wie« und »gleichsam« ihre textexterne Referenz behält, erinnert an die magisch manieristische Atmosphäre, die viele von Prag zu kennen meinen. Für W. G. Sebalds Prag aber ist es charakteristisch, dass dieser Ort nur wenigen Einheimischen und kaum den Touristen bekannt sein dürfte. Obgleich von großer räumlicher Eindrücklichkeit des Inneren, ist das Gebäude von außen unspektakulär. In seiner Zeit als Staatsarchiv war es ohnedies nur speziellen Interessenten zugänglich. Es bleibt Sebald vorbehalten, die implizite Fremdheitsmetaphorik im Gebäudeinneren aufzuspüren, sie also dem außertextuellen Realort abzuschauen, um sie über die Photographie in den Text einzutragen und fiktionsintern auszuspielen. In einem Interview spricht Sebald von dem »sehr realen Nukleus« eines Bildes, von einem Baum oder einem Menschen, und vom »riesigen Hof von Nichts«, der um diesen Nukleus herum bestehe und mit Geschichten und Fiktionen gefüllt werden wolle, weil das Bild selbst seine Wirklichkeit nicht preisgebe.36 Sebald hilft dieser Doppelheit der photographischen Bilder durchaus nach, indem er ihre oft unzulängliche Abbildungsqualität absichtsvoll bestehen lässt.37
35
36
37
des Topos-Begriffs, in: Rhetorik. Kritische Positionen zum Stand der Forschung, hg. von Heinrich F. Plett, München 1977, S. 204–212, hier S. 207, 205. Heike Gfrereis, Sebald aus dem Nachlass gelesen, in: Wandernde Schatten. W. G. Sebalds Unterwelt, hg. von Ulrich von Bülow, Heike Gfrereis und Ellen Strittmatter, Marbacher Katalog 62, Marbach a. N. 2008, S. 227–234, hier S. 233 f. Christian Scholz, Der Schriftsteller und die Fotografie. Manuskript eines Radio-Features, Erstsendung am 16.02.1999, WDR Köln. Vgl. zur Diskussion dieser Frage Steinaecker [Anm. 21], S. 295.
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Der Vergleich mit aktuellen Photos des Archiv- bzw. Museums-Raumes könnte deutlich zeigen, wie intensiv Austerlitz den »riesigen Hof von Nichts« mit Phantasien und Visionen ausfüllt, die bis in die zu diesem Zeitpunkt für ihn noch ganz vage Vertreibungsgeschichte reichen. Trotz dieser textinternen metaphorischen und ikonologischen Überformung aber bleiben die beiden Sebald-Bilder der textexternen Realität verpflichtet und mit den realen, im heutigen Musik-Museum zu besichtigenden Details der innenhofartigen Halle verbunden. Anhand der präzisen außertextuellen Referenzen von Namen, Daten und Bildern, die Sebalds Erzählweise auszeichnet, kann man den Wegen von Austerlitz im heutigen Prag bis in seine Träume hinein folgen. Besonders die Photographien »heizen« dabei, mit einer Formulierung von Helmut Lethen, »die Suche nach dem Realen an, indem sie der Neigung zur Allegorisierung den Widerstand des Augenscheins bieten«.38 Die stete Präsenz der Doppelseitigkeit von textinterner Fiktionalität und textexterner Referentialität gilt auch für die sprachliche Leitmetaphorik des Fremdseins, die sich zwischen der individuellen Lebensgeschichte Austerlitzens und der historischen Situation Prags aufspannt. Während die Realia der Treppen, Kuppeln und Glasfassaden, der Gärten und Parkanlagen textintern zunächst ganz auf Austerlitzens Wahrnehmung der Stadt bezogen sind, ändert sich das in den Abschnitten, die der düsteren Geschichte der faschistischen Herrschaft in Prag gelten. Hier bilden die Realia mehr und mehr den Fokus für die politische Herrschaft der Gegenkultur gegen das Fremde und Ambivalente, das die Figur des Austerlitz verkörpert. Die Erzählung der individuellen Erinnerungssuche nimmt zunehmend Züge eines Geschichtsberichts an, gestützt wiederum auf Straßennamen, Bezeichnungen von Bauwerken, Reglements, Kellern, Gefängnissen bis hin zur Nennung von Vorgängen in der Hinrichtungsstätte draußen in Kobylis. Die diskursive Konstruktion der Namen, Daten und Ereignisse löst sich von der Geschichte Austerlitzens. Der Fokus verschiebt sich sozusagen unter der Hand von der literarischen Situierung des Fremdseins auf die Seite einer realistischen Literarisierung der Vernichtung des Fremden. Geradlinige Auflistungen verdrängen zunehmend den metaphorischen Code der Lebensgeschichte, greifen Raum in der kollektiven Handlungswelt dessen, »was gewesen ist«,39 und schaffen mit der anhaltenden selbstreferentiellen Rückbezüglichkeit den historiographischen Gegentext zur fiktionsinternen Welt. Worüber Aga´ta noch verfügte, das reichte kaum für das Nötigste aus. Ihre Bankguthaben waren gesperrt, seit sie eine achtseitige Vermögenserklärung mit Dutzenden von Rubriken hatte abgeben müssen. Es war ihr auch strengstens untersagt, irgendwelche realen Werte wie Bilder oder Antiquitäten zu veräußern, und ich entsinne mich, sagte Veˇra, wie sie mir einmal, in einer dieser Verlautbarungen der Besatzungsmacht, einen Abschnitt gezeigt hat, in dem es hieß, im Falle von Zuwiderhandlungen hätten der betreffende Jude sowohl als der Erwerber mit den strengsten staatspolizeilichen Maßnahmen zu rechnen. Der betreffende Jude! 38
39
Helmut Lethen, Sebalds Raster. Überlegungen zur ontologischen Unruhe in Sebalds »Die Ringe des Saturn«, in: W. G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei, hg. von Michael Niehaus und Claudia Öhlschläger, Berlin 2006, S. 13–30, hier S. 26. Gfrereis [Anm. 35].
W. G. Sebalds Prag
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Hat Aga´ta ausgerufen, und dann hat sie gesagt: Wie diese Leute schreiben! Es wird einem schwarz vor den Augen davon.40
Es gibt zahlreiche Äußerungen Sebalds über den Anspruch, um den es ihm mit historischen Zeugnissen innerhalb seiner Erzählungen geht: »Man braucht möglichst genaues, möglichst authentisches Material, um eine gute Geschichte machen zu können.«41 Ohne hier die grundsätzlichen Probleme der sprachlichen und photographischen Repräsentation zu diskutieren, verweist Sebald mit dem Begriff des Authentischen auf die Möglichkeit und die Notwendigkeit der kollektiven Geschichtsreflexion in der erzählten Geschichte des individuellen Schicksals. Sebalds Prag ist deshalb immer beides, wirklicher und literarischer Schauplatz von Geschichte.
40 41
Sebald [Anm. 1], S. 253. W. G. Sebald im Interview mit Sigrid Löffler: »Wildes Denken«, in: W. G. Sebald. Porträt 7, hg. von Franz Loquai, Eggingen 1997, S. 135–144, hier S. 137.
Fußnote und Literaturliste Randnotizen zu Geschichte, Systematik und technischer Herstellung eines Bestandteils akademischer Lebensform von Thomas Meyer
Texte zum Sprechen bringen. Auch wenn es auf den ersten Blick fremd erscheinen mag: Genau dies ist die Aufgabe der oft belächelten, (nicht nur) von Studienanfängern gehassten, von Proseminar-Dozenten akribisch kontrollierten Fußnoten mit ihren obligaten Literaturangaben. Wer etwas zum Sprechen bringen will, dessen erste Aufgabe ist es, das Objekt inmitten des Universums gedruckter Texte – überschlägig gerechnet sollte etwa die UB Tübingen mehr als 1.000 Tonnen Papier hüten – überhaupt erst zu finden. Erst recht muss jeder Text, der sich auf einen anderen bezieht, sein Bezugsobjekt eindeutig identifizieren: Er braucht Literaturangaben. Eine erste Forderung an diese ergibt sich unmittelbar aus ihrer Aufgabe: Sie müssen im Ergebnis richtig, vollständig und genau sein. Eine formalisierte Struktur verbessert erheblich die Verwendbarkeit. Zweitens: Die Angaben sollen alle zur Wiederauffindung der Texte nötigen Angaben enthalten, aber (nicht zuletzt aus Gründen des Raumbedarfs) in möglichst ökonomischer Form: Jede Einzelinformation wird nur einmal gegeben, während sich im Falle der Wiederholung Querverweise auf anderswo bereits gegebene Informationen als Gepflogenheit etabliert haben. Eine dritte Forderung ergibt sich indirekt: Da der Mensch monotone Arbeiten in der Regel nicht schätzt und bei anhaltender ungeliebter Arbeit die Fehlerquote deutlich steigt, dürfen bibliographische Angaben während des Arbeitsprozesses nicht zu viel mechanische Arbeit erfordern. Und gerade im Falle der bibliographischen Wüste aus Herausgebernamen, Verlagsorten, Seitenzahlen und Untertiteln scheint die menschliche Toleranzgrenze niedrig zu sein. Leider schließen sich die genannten Kriterien aus. Besonders das dritte Erfordernis steht in eklatanter Spannung zu den ersten beiden. Doch Rettung ist möglich: Inzwischen ist das Arbeitsmittel EDV so leistungsfähig geworden, daß es [. . .] als technisches Hilfsmittel zur ökonomischeren Bewältigung mancher mechanischen Arbeitsschritte eingesetzt wird.1
Der folgende Beitrag versucht, einige Gedanken zur EDV-Unterstützung des Autors bei der Erstellung und Gestaltung bibliographischer Angaben in wissenschaftlichen Texten vorzutragen. Der Gedankengang ist dabei dreigegliedert: Zunächst geht es ganz schlaglichtartig um die Tradition von Literaturangaben an sich (I), dann werden 1
Wilhelm Ott, Hans Walter Gabler und Paul Sappler, EDV-Fibel für Editoren, Stuttgart/ Tübingen 1982, S. 7.
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der Entstehungsprozess eines modernen bibliographischen Fußnotenapparates und die Anforderungen an diesen skizziert (II) und zum Schluss ein Verfahren zur Automatisierung mit EDV-Hilfe vorgestellt (III). Als Arbeitsinstrument hierzu wurde TUSTEP gewählt; eine Begründung dieser Entscheidung scheint zu diesem Anlass unnötig.
I Bei erster Annäherung könnte man geneigt sein, Fußnoten als Zeichen von Bescheidenheit zu werten: Nicht der auf dem Buchumschlag ausgewiesene Verfasser habe einen Gedanken geboren, das Verdienst gebühre vielmehr der zitierten Autorität, scheinen Fußnoten besagen zu wollen. Andererseits zeugen exakte bibliographische Anmerkungen wenigstens indirekt von intellektueller Eitelkeit: Abgesehen von der auf den ersten Blick selbstischen Funktion, zu zeigen, was der Autor alles gelesen habe, setzen Fußnoten und die ihnen immanente Logik als solche das Bewusstsein von Innovation und Kreativität voraus. Fast glaubt man eine quasi-kantische Argumentation zu hören: ›Lege die Quellen deiner Argumentation stets nach derjenigen Maxime offen, von der du wollen kannst, dass auch die Zitierer deines Werkes ihre Quelle offenlegen!‹ Nichteinhaltung der Regel wird als Plagiat geahndet. Literaturangaben sind somit Kinder der Moderne; die Bibel etwa kommt gänzlich ohne Verweise aus. Auch der christlichen Väterliteratur ist ihr Anspruch auf Individualität fremd; im Gegenteil: katholisch ist nach der berühmt gewordenen Sentenz des Vinzenz von Le´rins († vor 450) gerade das, »quod ubique, quod semper, quod ab omnibus creditum est«.2 Zugespitzt formuliert: Der Wahrheitswert des traditionellen Inhalts steht höher als der Anspruch auf Innovation und Individualität eines Autors. Auf dem Höhepunkt der Scholastik kann theologische Fachdiskussion freilich auch anders klingen: Wenn einer, der sich mit dem falschen Namen der Wissenschaft schmückt, gegen das, was ich geschrieben habe, etwas einwenden will, dann spreche er nicht im Verborgenen und vor Kindern [. . .], die sich in so schwierigen Dingen kein Urteil bilden können, sondern er schreibe gegen diese Schrift, wenn er es wagt. Er wird dann nicht nur mir begegnen, der ich der Geringste unter ihnen bin, sondern einer Menge von Verteidigern der Wahrheit, die seinem Irrtum widerstehen oder seiner Unwissenheit zu Hilfe eilen.3
Spätestens jetzt brauchte man explizite und exakte Literaturangaben; sie finden sich in (kontrovers-)theologischer Literatur denn auch zu Hauf. Der Befund im Bereich der deutschen Literatur des Mittelalters ist durchaus uneinheitlich: Zum einen Gottfrieds von Straßburg expliziter Rekurs auf Thomas, den er nach kritischem Quellenvergleich als seinen Gewährsmann benennt – und zwar gerade im Hinblick auf die von diesem verarbeitete Literatur, die zu nennen Gottfried seinerseits nicht für nötig hält: 2
3
Zitiert nach: Torsten Krannich, Von Leporius bis zu Leo dem Großen. Studien zur lateinischsprachigen Christologie im fünften Jahrhundert nach Christus, Tübingen 2005, S. 151. Thomas von Aquin, zitiert nach: Jean-Pierre Torrell, Magister Thomas. Leben und Werk des Thomas von Aquin, Freiburg 1995, S. 111.
Fußnote und Literaturliste
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Sine spraˆchen in der rihte niht als Thoˆmas von Britanje giht, der aˆventiure meister was und an brituˆnschen buochen las aller der lantheˆrren leben und ez uns ze künde haˆt gegeben.4
Andererseits: Wenn Thomas von Britanje »aller der lantheˆrren« Biographien gelesen hat, sind Einzeltitel freilich unnötig. Ähnlich verhält es sich mit Hartmanns von Aue legendärer Selbststilisierung als Polyhistor, der einfach ›alles‹ – jetzt auch ohne Angabe einer Gattung – gelesen hat: Ein ritter soˆ geleret was, daz er an den buochen las, swaz er dar an geschriben vant.5
Demgegenüber steht das eigentümliche Bekenntnis Wolframs von Eschenbach, »ne [. . .] deheinen buochstap« zu kennen,6 allerdings nicht ausgesprochen ohne Kenntnis rhetorischer Tradition und literarischer Überlieferung. Mit einer solchen Haltung bezüglich der Offenlegung von Quellen wäre gegenwärtig sicher keine akademische Qualifikationsarbeit zu bestreiten. Man kann diese und andere Belege deuten, wie man mag, doch rechte »Fußnoten« in unserem Sinne sind in fiktiver Literatur kaum zu finden. Der eigentliche Ort bibliographischer Angaben im engeren Sinne – zweckmäßige Referenzen auf andere Werke zur Thematik, sei es zum Zwecke der Abgrenzung wie der Bestätigung – scheint eindeutig im Bereich der Fachprosa zu liegen. Hier könnte weit glaubhafter der Bogen von den Interlinear- und Marginalglossen der mittelalterlichen Kommentarliteratur gezogen werden: Die Notwendigkeit zu rationellen Bezugsangaben wird möglicherweise ab dem Moment wirklich dringend, da die scholastischen Theologen den Bibeltext nicht mehr nur »modo explicationis« kontinuierlich erklären, sondern von Problemfragen ausgehend sich auf viele biblische Belege nebeneinander beziehen müssen. Der jeweilige Bezugspunkt ergibt sich nicht mehr automatisch, sondern muss jeweils explizit benannt werden. Theologische Fachliteratur der Reformationszeit bietet – in der Regel als Marginalspalte am Rand – für die Bezüge zum autoritativen Bibeltext bereits meist eine Fülle von Belegen, die unseren Gewohnheiten schon sehr nahe ist. Von hier an scheint die Zahl von Zitaten und Belegen stetig zu wachsen, bis zur Klage über jenes »tintenklecksende Säkulum« des 18. Jahrhunderts mit seinen »Kommentationen« und Zitaten aus zweiter Hand, die Friedrich Schiller seinem Helden der Räuber in den 4
5
6
Gottfried von Straßburg, Tristan. Mhd./Nhd., 3 Bde., hg. von Rüdiger Krohn (RUB 4471– 73), Stuttgart 1980, V. 149–154. Hartmann von Aue, Der arme Heinrich, hg. von Hermann Paul, neu bearb. von Kurt Gärtner, 17., durchges. Aufl. (ATB 3), Tübingen 2001, V. 1–3. Wolfram von Eschenbach, Parzival. Mhd. Text nach der 6. Ausg. von Karl Lachmann. Übers. von Peter Knecht, Berlin/New York 22003, 115,27.
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Mund legt: »Das Gesez hat zum Schneckengang verdorben, was Adlerflug geworden wäre.«7 Der praktische wie theoretische vorläufige Endpunkt scheint mit Leopold von Ranke und seinem Theorem der unbedingten Quellenbasierung jeder historischen Aussage erreicht zu sein. Die von Ranke ebenfalls perfektionierte hohe Kunst der ironisch-sarkastischen Fußnotenformulierung lohnt Lektüre und hätte ohne Zweifel verdient, zum Sprechen gebracht zu werden, führt aber zugleich über den Bereich hinaus, innerhalb dessen technische Hilfestellung möglich ist. Im folgenden geht es also lediglich um den einfachen Literaturverweis an sich; technische Hilfsmittel zur inhaltlichen Auswertung und Kommentierung bleiben (sicher noch einige Zeit) dringendes Desiderat.
II Betrachten wir zunächst kurz den prinzipiellen Entstehungsprozess eines bibliographischen Anmerkungsapparates und definieren das sich hieraus ergebende gewünschte Ergebnis. Wahrscheinlich steht am Anfang der Arbeit die thematische Idee, von der ausgehend nach erster Literatur gesucht wird. Mit der Auswertung dieser Beiträge und dem Weiterverfolgen der in ihr enthaltenen Verweise wächst die Menge der angesammelten Angaben in eine Dimension, die zunächst die Arbeitsmittel Gedächtnis, dann auch Zettel und Bleistift langsam als unzureichend erscheinen lässt. Jetzt schlägt die Stunde der EDV: eine erste ›Literaturliste‹ wird angelegt, im Idealfall alphabetisch sortiert, die die einzelnen Titel mit ihren vollständigen bibliographischen Angaben sowie ggf. Kommentaren für den Bearbeiter enthält. Parallel dazu beginnt auch der eigentliche Text zu wachsen, dessen einzelne Aussagen durch erste Fußnoten mit Literaturangaben gestützt werden. Mit zunehmendem Wachstum von Text und Literaturliste und steigenden »Mundierungsgrad« wachsen indes die Probleme und mit ihnen der Anteil mechanischer Arbeit: Sind alle Titel, die in den Fußnoten vorkommen, auch in der Literaturliste erfasst? Und umgekehrt: Sind alle Werke der Koryphäen, von denen die Liste strotzt, auch im Text wenigstens einmal genannt? Schließlich die Erfordernisse technisch-handwerklicher Schönheit: Werden die einzelnen Titel auch bei ihrem ersten Auftauchen vollständig zitiert? Wird bei späterem wiederholtem Auftauchen einer Literaturangabe korrekt verwiesen? Die Laune steigt im umgekehrt proportionalen Verhältnis zur Nähe des Abgabetermins. Schließlich erreicht die Arbeit ein Ergebnis, das folgendem Forderungskatalog asymptotisch nahe kommen sollte:
7
Friedrich Schiller, Die Räuber, I,2, zitiert nach: Paul Sappler, Probleme literarhistorischer und inhaltlicher Erschließung durch Register; in: Maschinelle Verarbeitung altdeutscher Texte V. Beiträge zum Fünften Internationalen Symposion Würzburg 4.–6. März 1997, hg. von Stephan Moser, Peter Stahl, Werner Wegstein und Norbert Richard Wolf, Tübingen 2001, S. 149–158, hier S. 149.
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(1.) Hinsichtlich der Angaben im Text und in den Fußnoten: Diese sind formal korrekt und gleich gestaltet. Ein Werk erscheint beim ersten Auftreten in Form eines Vollzitats (etwa: Autor, Titel, Untertitel, Verlagsort, Erscheinungsjahr, ggf. Reihentitel) und beim zweiten Erscheinen lediglich als Kurzzitat (z. B. Autor, Kurzform des Titels, Angabe »wie Anm. NN« oder auch »a. a. O.«). Direkt aufeinanderfolgende Zitate des gleichen Werkes sind zu »ebd.« verkürzt. (2.) Im Blick auf das Literaturverzeichnis: Es enthält alle tatsächlich verwendete Literatur, d. h. alle Buch- und Aufsatztitel sowie im Falle von unselbständigen Publikationen auch die zugehörigen Sammelbände. Die Titel sind alphabetisch sowie – im Bereich desselben Autors – chronologisch sortiert. Insbesondere die Forderung, den erfassten Text verändern zu können, Zitate zu ergänzen und zu streichen, während die Gestaltung von Fußnoten und Literaturliste stets dynamisch aktualisiert sein sollen, macht das Erfordernis einer Automatisierung der diesbezüglichen Arbeiten evident.
III Eine Verfahrensweise, die zum skizzierten gewünschten Ergebnis führt, besteht aus einer Reihe von Arbeitsschritten, die sich jedoch auf immer dieselben Grundoperationen zurückführen und deshalb in Form von TUSTEP-Programmen fassen lassen: Arbeitstext („Quelldatei“): Literaturverweise erfolgen als Kürzel gemäß Literaturdatei.
Literaturdatenbank: Datenbank aller erfassten Literatur; incl. Definition eindeutiger Kürzel
Programm 1: $lit
Zwischenergebnis: Text mit aufgelösten Kürzeln der Ausgangsdaten; neu hinzugekommen sind Kürzel für Sammelbände
Programm 1: $lit
Zwischenergebnis: Liste der Sammelbände
Endergebnis: Text mit aufgelösten Kürzeln
Zwischenergebnis: Liste der benutzten Literatur, doch ohne Sammelbände.
Programm 2: Kopieren, Sortieren ($litsort)
Endergebnis: Vollständige Liste der benutzten Literatur
Abb. 1: Schematischer Ablauf der Erstellung eines einfachen Literaturverzeichnisses (incl. Aufnahme der die unselbständigen Publikationen beinhaltenden Sammelbände)
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Ausgangspunkt der Datenverarbeitung sind dabei zwei Dateien: Im eigentlichen Arbeitstext (der »Quelldatei«) wird auf die Literatur lediglich m. H. von Kürzeln verwiesen; etwa könnte das Kürzel 〈l〉brecht1977a〈/l〉 verwendet werden. In einer zweiten Datei (der »Literaturdatenbank«) ist sämtliche zu einem Projekt gehörige Literatur erfasst; jedem Titel ist ein Kürzel zugewiesen. Dabei ist zwischen selbständiger und unselbständiger Literatur zu unterscheiden. Zwei Beispiele zur Verdeutlichung:
Abb. 2: Beispiele für Einträge in der Literaturdatenbank
Am Anfang eines Datensatzes steht jeweils eine Markierung, ob es sich um eine selbständige (ls) oder unselbständigen (lu) Publikation handelt, sowie das Kürzel, unter dem der Titel angesprochen werden kann. Dann folgen Felder zur Eingabe des Autornamens (a), des Titels (t) sowie einer verkürzten Fassung des Titels (k). Bei selbständigen Publikationen folgen dann die Angaben zum Verlagsort (o), Erscheinungsjahr (j) sowie ggf. zur Buchreihe, zu der der Titel gehört (r). Demgegenüber steht hier bei unselbständigen Publikationen ein Feld (i), in das entweder direkt z. B. die Angabe einer Zeitschrift eingegeben werden kann. Auch möglich ist, hier selbst ein Kürzel einzutragen (so in diesem Beispiel), das auf einen Sammelband verweist und im Rahmen eines eigenen Datenbank-Eintrags aufgelöst wird. Im ersten Arbeitsschritt sind nun folgende Aufgaben zu bewältigen: Der Quelltext wird durchgesehen, ob er aufzulösende Kürzel (markiert durch 〈l〉. . .〈/l〉 ent-
Fußnote und Literaturliste
483
hält. Wird ein Kürzel gefunden, ist zu kontrollieren, ob es in der zugrundeliegenden Literaturdatei definiert wird. Ist dies der Fall, sind verschiedene Möglichkeiten zu unterscheiden: (a) Das Kürzel begegnet hier zum ersten Mal: Dann wird an der Stelle ein Volleintrag eingefügt (Felder a, t, o, j, r bzw. a, t, i). (b) Das Kürzel war schon einmal eingesetzt worden: Dann ist ein Kurzeintrag herzustellen (Felder a, k, sowie eine Angabe »wie Anm. NN.«). (c) Das Kürzel ist unmittelbar zuvor bereits ersetzt worden: In diesem Fall reicht die Ersetzung durch »ebd.«. In jedem der drei Fälle ist der Titel in das Literaturverzeichnis zu setzen. Damit ergibt sich aber ein Problem: Enthalten die verwendeten Kürzelauflösungen für unselbständige Publikationen (wie im gezeigten Beispiel – vgl. Abb. 2, Zeile 46.5) selbst wiederum Verweise, etwa auf Sammelbände, so ist der Arbeitsschritt aufbauend auf den schon gewonnenen Ergebnissen zu wiederholen. Ein zweiter Programmtyp muss es dann übernehmen, die beiden erzeugten Literaturlisten zusammenzuführen sowie eine sinnvolle Sortierung herzustellen. Für die beiden verschiedenen Aufgaben – (1.) Auswerten des Quelltextes, Auflösen der Kürzel sowie Erstellung der Literaturliste und (2.) Mischen und Sortieren von Literaturlisten – sind zwei TUSTEP-Makros erstellt worden, deren Spezifikationen kurz vorgestellt seien. Hinzu tritt (3.) ein Bedienungsrahmen für die Bearbeitung von Standardfällen. (1.) $lit,q,db,z,verz,nblv,modus,pruef,verw,form,tags Das Programm löst die in der Quelldatei (q) enthaltenen, in 〈l〉...〈/l〉 stehenden Kürzel gemäß ihrer Definition in der Literaturdatei (db) auf, gibt das Ergebnis in eine Zieldatei (z) aus und erstellt eine Liste der zitierten Literatur (verz). Folgende weitere Angaben sind möglich: – nblv = Dateiname: Es kann in bestimmten akademischen Kontexten sinnvoll erscheinen, eine Liste aller in der Quelldatei nicht benutzten Literatur erstellen zu lassen. (»Habe ich auch alle Werke eines bestimmten Verfassers zitiert . . .?«) – modus = +/–: Sollen die ursprünglichen Kürzel (etwa zu Korrekturzwecken) in der Zieldatei zusätzlich zu ihrer Auflösung erhalten bleiben? – pruef = +/–: Das Programm kann automatisch prüfen, ob in der Zieldatei noch unaufgelöste Literaturverweiskürzel enthalten sind. Das kann u. U. ein Hinweis auf Tippfehler sein. – verw = +/–: Das Programm ermöglicht es, im Fall wiederholter Zitate Verweise (z. B. »wie Anm. NN«) zu erstellen, die aber vom Satzprogramm korrekt interpretiert werden müssen. Die Angabe von »-« führt hingegen zum ungeliebten, aber unabhängig vom verwendeten Satzprogramm funktionierenden »a. a. O.«. – form = +/–: Es ist mit dieser Funktion möglich, die formale Korrektheit von Quell- und Literaturdatei zu überprüfen.
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– tags = +/–: Die einzusetzenden Kürzelauflösungen können mit weiteren tags versehen werden, die Autor, Titel etc. markieren. Dies ist insbesondere für die spätere Sortierung des Literaturverzeichnisses (mit $litsort) wichtig. (2.) $litsort,q1,q2,ziel Im Vergleich zu lit ist die Aufgabe des zweiten Programmteils recht bescheiden: Es geht nur darum, zwei Literaturlisten (q1 und q2) zusammenzufügen und korrekt sortiert auszugeben (ziel). Voraussetzung ist dabei, dass die Listen tags enthalten, die die einzelnen Bestandtteile der Einträge (insbesondere Autor und Jahr) markieren (Spezifikation tags = + bei $lit). Nötig ist dieser Schritt primär dann, wenn in demselben Text sowohl selbständige sowie unselbständige Literatur zusammen mit den entsprechenden Sammelwerken vorkommen, deren Einträge im Literaturverzeichnis dann ja aus zwei Programmläufen stammen und zu einer Gesamtliste zusammengefügt werden müssen (vgl. Abb. 1). (3.) $l als Standardrahmen Leider ist auch im Bereich philologischer Datenverarbeitung das Leben nicht immer ganz leicht (wie es etwa Abb. 1 glauben macht). Das wohl häufigste Szenario bei der Erstellung geisteswissenschaftlicher Texte dürfte so aussehen: Es gibt zwei verschiedene Literaturbestände: Primärtexte und Sekundärliteratur, wobei besonders letztere sowohl eigentliche Bücher als auch Aufsätze und Sammelbände enthält. Damit ergibt sich das nebenstehende Ablaufschema. Das Makro ermöglicht es, ein Rahmenprogramm aufzurufen, das diese doch unübersichtliche, gleichwohl im Alltagsbetrieb sehr häufige Konstellation von Einzelschritten abarbeitet (incl. der Verwaltung aller benötigten Zwischendateien etc.). Die meist benötigte Funktionalität von $lit ist so sehr leicht verfügbar; für speziellere Fälle sind beliebige Kombinationen von $lit und $litsort möglich. Alle Programme stehen jedem Interessenten gern zur Verfügung.
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Quelldatei 2: Kürzelauflösung Quellen
Quelldatei 1: Text mit Kürzeln.
Quelldatei 3: Kurzelauflösung Sekundärliteratur
$lit
Zwischenergebnis: Text mit aufgelösten Kürzeln der Quellen
Endergebnis: Liste der benutzten Quellen
$lit
Zwischenergebnis: Liste der benutzten Sekundärliteratur (ohne Sammelwerke)
Zwischenergebnis: Text mit aufgelösten Kürzeln der Sekundärliteratur (ohne Sammelwerke)
$lit
Zwischenergebnis: Liste sämtlicher Sekundärliteratur
Endergebnis: Text mit aufgelösten Kürzeln sämtlicher Primär- und Sekundärliteratur
Kopieren, Sortieren: $litsort
Endergebnis: Vollständige Liste der benutzten Literatur
Abb. 3: $1 als Kombination verschiedener $lit-Aufrufe
Abbildungen
Abbildungen
Abb. 1: Versus de despectu sapientis, Zentralbibliothek Zürich, Ms C 58, f. 73v (Foto: Henrike Lähnemann, mit freundlicher Genehmigung der Zentralbibliothek Zürich).
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Abb. 2: Türckische Tyranney (Geisberg Nr. 1243).
Abbildungen
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Abb. 3: Der Turckisch Kayser (Des dürckischen kaiser hoffgesind . . ., Nr. 1; Augsburg, Staats- u. Stadtbibliothek, 2 Gs 601, Bl. 2v).
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Abb. 4: Der Kaiser zu Roß (Des dürckischen kaiser hoffgesind . . ., Nr. 23; Augsburg, Staats- u. Stadtbibliothek, 2 Gs 601, Bl. 22v).
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Abb. 5: Trabanten zu Fuß (Des dürckischen kaiser hoffgesind . . ., Nr. 5; Augsburg, Staats- u. Stadtbibliothek, 2 Gs 601, Bl. 6v).
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Abbildungen
Abb. 6: Die Krigischen Weiber (Des dürckischen kaiser hoffgesind . . ., Nr. 22; Augsburg, Staats- u. Stadtbibliothek, 2 Gs 601, Bl. 22r).
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Abb. 7: Ein schlechte Fraw (Des dürckischen kaiser hoffgesind . . ., Nr. 18; Augsburg, Staats- u. Stadtbibliothek, 2 Gs 601, Bl. 18r).
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Abb. 8: Also sitzen die reichen Weiber (Des dürckischen kaiser hoffgesind . . ., Nr. 19; Augsburg, Staats- u. Stadtbibliothek, 2 Gs 601, Bl. 18v).
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Abb. 9: Ein Mohr auß Arabia (Des dürckischen kaiser hoffgesind . . ., Nr. 16; Augsburg, Staats- u. Stadtbibliothek, 2 Gs 601, Bl. 17r).
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Abbildungen
Abb. 10: W. G. Sebald, Austerlitz, München/Wien 2001, S. 207.
Abbildungen
Abb. 11: W. G. Sebald, Austerlitz, München/Wien 2001, S. 208.
499
500
Abbildungen
Abb. 12: W. G. Sebald, Austerlitz, München/Wien 2001, S. 218.
Abbildungen
Abb. 13: W. G. Sebald, Austerlitz, München/Wien 2001, S. 313.
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Danksagung
Unser großer Dank gilt Derk Ohlenroth für seine unschätzbare Unterstützung dabei, diese Festschrift vorzubereiten und auf den Weg zu bringen. Unermüdlich, stets jeden Schritt kritisch prüfend und zugleich mit der ihm eigenen Geduld und herzlichen Freundlichkeit hat er das Vorankommen des Bandes so tatkräftig begleitet, dass er als Mitherausgeber genannt sein müsste, wenn er sich nicht, ganz in ›Sapplerschem Geist‹, zugunsten der Jüngeren zurückgestellt hätte. Ohne ihn wäre die Festschrift in der vorliegenden Form nicht zustande gekommen. Besonders danken möchten wir Anne Auditor und Susanne Borgards. Sie haben mit größter Umsicht und bewundernswerter Sorgfalt den Satz besorgt und der Festschrift eine schöne, des Jubilars würdige Gestalt verliehen. Zum Dank für seine jahrzehntelange einvernehmliche Zusammenarbeit mit Paul Sappler und zum Zeichen der Verbundenheit hat sich der Max Niemeyer Verlag in großzügiger Weise von sich aus bereit erklärt, die Festschrift herzustellen und sämtliche Kosten zu übernehmen. Hierfür sei namentlich Birgitta Zeller herzlich gedankt. Für den reibungslosen Ablauf der Herstellung hat auf Verlagsseite Norbert Alvermann gesorgt. Allen Beteiligten möchten wir ausdrücklich für ihren persönlichen Einsatz danken, mit dem sie zum Gelingen des Bandes beigetragen haben, unserer Ehrengabe an den von uns allen hochgeschätzten, verehrten Tübinger Kollegen und Lehrer Paul Sappler.
Tübingen, im April 2009
Christiane Ackermann und Ulrich Barton