»Texte zum Sprechen bringen« Philologie und Interpretation
Festschrift für Paul Sappler
Walter de Gruyter, Inc.
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»Texte zum Sprechen bringen« Philologie und Interpretation
Festschrift für Paul Sappler
Walter de Gruyter, Inc.
»TEXTE ZUM SPRECHEN BRINGEN« PHILOLOGIE UND INTERPRETATION
»Texte zum Sprechen bringen« Philologie und Interpretation Festschrift für Paul Sappler
Herausgegeben von Christiane Ackermann und Ulrich Barton unter Mitarbeit von Anne Auditor und Susanne Borgards
n MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 2009
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-10898-1 © Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2009 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen
Vorwort
In der Mediävistischen Abteilung des Deutschen Seminars an der Universität Tübingen ist Paul Sappler seit Jahrzehnten eine tragende Säule, eine Institution – auch nach seinem 2004 erfolgten Eintritt in den Ruhestand. Am 17. Juni 2009 wird er 70 Jahre alt. Zu diesem Anlaß hat ihm ein engerer Kreis, vornehmlich seiner (auch ehemaligen) Tübinger Kolleginnen, Kollegen und Mitarbeitenden sowie der ihm persönlich Näherstehenden, als Zeichen ihrer Verehrung und Dankbarkeit diese Festgabe gewidmet. Ihr Titel, experimentell in seiner Form, hält die Schwebe zwischen abwägend Deliberativem und zurückhaltendem Ansporn – beides Wesenskomponenten des Jubilars. Die Formulierung stammt von ihm selbst: Seine Idee war es, daß eine auf Textnähe orientierte mediävistische Ringvorlesung im Sommer 2001 unter dem programmatischen Titel antrat: Texte zum Sprechen bringen. Bei aller Vielseitigkeit seiner Begabungen, Interessen und Kompetenzen, im breiten Fächer zwischen Abstraktion und höchst mannigfaltiger Praxis, ist Paul Sappler doch zu allererst Philologe im elementaren Wortsinn: Liebhaber des Wortes, des Gedankens, des tragenden Sinns. Das Ideal einer induktiven Hermeneutik, des Voranschreitens vom Detail zu einem fundierten Verstehen, bis zu einer ›Begegnung‹ mit den Texten, versuchen Hauptund Untertitel dieser Festgabe in wechselseitiger Ergänzung anzudeuten. Die Beiträge sind ein bescheidenes Zeichen des Dankes an Paul Sappler, eines Dankes, den niemand von uns angemessen würde abstatten können. Alle aus seiner Nähe, die Studierenden wie sein engerer Mitarbeiterkreis, haben von seinem Wissen, seiner Erfahrung und seinen Kompetenzen in überreichem Maße profitiert. Viel gefragt war und ist Paul Sappler bis heute als d e r allseits unverzichtbare Fachmann in TUSTEP-basierter Textverarbeitung und Editionstechnik. Niemandem, der ihrer bedurfte, hätte er je seinen Rat und seine in aller Regel zeitaufwendige Hilfe versagt, und immer hat er im Auge behalten, daß die technischen Mittel, über die er so souverän verfügt, philologischen Anliegen zu dienen haben. Dabei hat Paul Sappler nicht nur unentwegt geholfen, sondern gezielt und nachhaltig zu fördern gewußt und damit nicht zuletzt der nachwachsenden Generation den Boden bereitet und den Weg geebnet. Zum Zeichen ihrer besonderen Dankbarkeit ist daher eben die jüngere und junge Generation in diesem Bande sichtbar vertreten. Als Lehrender und Fördernder hatte Paul Sappler, selbst eigenwillig, immer ein offenes Ohr für individuelle Ansätze. Er ließ dem einzelnen die Freiheit, sich nach den ihm eigenen Anlagen und Bedingungen zu entfalten und zu verwirklichen. Auch dem trägt dieser Band mit seinen sehr unterschiedlichen Zugriffen auf die Texte Rechnung. Paul Sapplers vielfältige Interessenschwerpunkte und Arbeitsfelder – zwischen Sprachgeschichte, Verslehre oder Editionstechnik – ebensowohl in ihrer Summe wie in annähernd ausgewogenen Proportionen zu spiegeln, wäre Wunschbild der Heraus-
VI
geber gewesen. Doch Gotisch und Altsächsisch fehlen ganz, und das vom Jubilar so sorgsam betreute Feld des Frühmittelhochdeutschen deutet sich nur zaghaft an. Als wesentlicher Schwerpunkt des Jubilars ist auch die klassische Lyrik vergleichsweise schwach repräsentiert, wogegen das Spätmittelalter sich zu einem ausgeprägten Schwerpunkt verdichtet, ein Feld, zu dem Paul Sappler selbst mit seinen Editionen wesentliches beigetragen hat und auf dem er sich noch heute durch tatkräftige Mitarbeit an den Projekten ›Fastnachtspiele‹ und ›Versnovellistik‹ engagiert. Die in diesem Band versammelten Titel gruppieren sich in fünf Blöcken wechselnden Umfangs: zunächst Lyrisches, Erzählendes, Dramatisches, Textedition; am Schluß findet sich zwanglos und in bunter Vielgestaltigkeit mehreres zusammen, was sich unter e i n e m Stichwort nicht wollte bändigen lassen – neben der Sapplerschen Domäne Lexikographie etwa Kommentierendes im weitesten Sinne, Interpretation von Textvarianten, Interdisziplinäres usw. Wir hoffen zuversichtlich, daß der hierin sich geltend machende ›Protest‹ gegen eine zu glatte Systematik das Wohlwollen des Jubilars finden wird. Wir alle, Herausgeberin und Herausgeber wie Beiträgerinnen und Beiträger, danken Paul Sappler für seinen beispielhaft kompetenten und unermüdlich-hilfreichen jahrzehntelangen Einsatz zum Wohl der Abteilung. In der Hoffnung auf einen lebhaften Austausch auch künftig wünschen wir ihm für seine wissenschaftliche Arbeit und – wobei wir die Überschneidungen nicht verkennen – persönlich alles erdenklich Gute.
Im Namen der Mediävistischen Abteilung Derk Ohlenroth
Inhalt
Vorwort
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V
Manfred Günter Scholz Die Kadenz – eine metrische quantite´ ne´gligeable? . . . . . . . . . . . . . 1 Henrike Lähnemann Versus de despectu sapientis. Ein Einblick in die lateinisch-deutsche Literaturszene um 1200
. . . . . . . 19
Michael Rupp Narziß und Venus. Der lyrische Blick auf die Antike bei Heinrich von Morungen, Konrad von Würzburg und dem Wilden Alexander
35
Derk Ohlenroth Die ›Köche‹ in Walthers ‘Spießbratenspruch’ (L. 17,11). Zum performativen Rahmen einer politischen Warnung . . . . . . . . . . . 49 Burghart Wachinger Eine bezzerunge Neidharts? Horst Brunner Die Spruchtöne Marners
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
Annette Gerok-Reiter Sprachspiel und Differenz. Zur Textur von Minnesangs Ende in Frauenlobs Lied 6 . . . . . . . . . . . 89
Hans-Joachim Ziegeler der herzoge Liddamus. Bemerkungen zum 8. Buch von Wolframs ‘Parzival’
. . . . . . . . . . . 107
Anna Mühlherr Durchkreuzte Pläne, undurchschaubare Intentionen. Zum ‘Mauritius von Crauˆn’ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
VIII
Inhalt
Heike Sahm Wer sieht wen? Zum Erzählverfahren in der ‘Kudrun’
. . . . . . . . . . 131
Philipp Theisohn Hamhleypa – Skaldik als Verwandlungskunst. Zur ‘Ho˛fuðlausn’-Episode in der ‘Egils saga skalla-grı´mssonar’
. . . . . . 143
Slavica Stevanovic´ Zur Genese eines Herrscher-Mythos am Beispiel des serbischen Fürsten Lazar 155 Sandra Linden Erzählen als Therapeutikum? Der wahnsinnige Königssohn im ‘Bussard’ Gudrun Felder Der Ritter in der Maultierhaut. Zu Motiven und zur Gattung der ‘Königin vom brennenden See’ Nicola Zotz Grauzonen. Moral und Lachen bei Heinrich Kaufringer
. . 171
. . . . . 183
. . . . . . . . . 195
Manuela Gliesmann Der ›Blick zurück‹ in Texten vom Alten Testament bis ins Spätmittelalter
. . 209
Reinhard Berron Einige Bemerkungen zu übersetzten Namen in der Diemeringen-Version von Mandevilles ‘Reisen’ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
Ulrich Barton und Klaus Ridder Ästhetik des Bösen. Die Herodesfigur im geistlichen Schauspiel
. . . . . . 231
Johannes Janota Von der Spiel- zur Lesehandschrift. Jakob Rufs ‘Weingarten’ als Beispiel Cora Dietl Hurenkomödie oder politische Dichtung? Die ‘Chrysis’ des Enea Silvio Piccolomini
. . 249
. . . . . . . . . . . . . . . 261
IX
Inhalt
Kurt Gärtner Die Editionen der ‘Klage’ Hartmanns von Aue
. . . . . . . . . . . . . 273
Thaddäus Steiner Eine Augsburger Ordnung aus dem 14. Jahrhundert für die Schiff-Fahrt auf dem Lech . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Anne Auditor Die ›Innsbrucker Spielhandschrift‹. Überlegungen zu einer Neuedition
. . . 297
Christoph Gerhardt ‘Ein spruch von einer geisterin’ von Rosenplüt, vier Priamel und ‘Ein antwu´rt vmb einen ters’ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Frieder Schanze Ein unveröffentlichtes Lied des Hans Folz: Die Verkündung des Englischen Grußes . . . . . . . . . . . . . . . . 329
Ernst Hellgardt Bemerkungen zu den weniger bekannten Lebenszeugnissen über Notker den Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Derk Ohlenroth Zur Bedeutung von mhd. leiben/verleiben – ahd. firleiben
. . . . . . . . 353
Ralf Plate Wortbedeutung, Gebrauchstyp und Textverständnis in der historischen Beleglexikographie. Am Beispiel von mhd. buˆwen und seinem Gebrauch im ‘Tristan’ Gottfrieds von Straßburg . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Benedikt Konrad Vollmann Varianz und Kontamination. Bemerkungen zur Textgestalt von ‘Thomas III’
385
Christoph Huber Wappen und Privilegien. Standessymbolik im ‘Ritterspiegel’ des Johannes Rothe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Erika Bauer Variatio delectat – delectat variatio? Beobachtungen an autographischen Übersetzungen des Kartäusers Heinrich Haller
. . . . . . 407
X
Inhalt
Matthias Kirchhoff Jch mit meyner thafell vnd jr cum woster weisheit . . . Konkurrenz, Freundschaft und Memoria bei Albrecht Dürer und Willibald Pirckheimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Christiane Ackermann und Rebekka Nöcker Wann gantz geferlich ist die zeit Zur Darstellung der Türken im Werk des Hans Sachs Almut Todorow W. G. Sebalds Prag
. . . . . . . . . . 437
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465
Thomas Meyer Fußnote und Literaturliste. Randnotizen zu Geschichte, Systematik und technischer Herstellung eines Bestandteils akademischer Lebensform . . . . . . . . . . . . . . 477
Abbildungen
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487
Danksagung
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502
Die Kadenz – eine metrische quantite´ ne´gligeable? von Manfred Günter Scholz I Es begann im Jahre 1952 mit einer Anmerkung. Einer sehr folgenreichen Anmerkung, deren Auswirkungen ihren Urheber in einer Goethes Zauberlehrling vergleichbaren Situation zurückließen. In seiner bahnbrechenden Untersuchung ›Minnesangs Wende‹ erläutert Hugo Kuhn in einer Fußnote das von ihm im folgenden verwendete metrische Notationssystem: Angegeben werden nur »rein ›beschreibende‹ Zeichen«. »Gezählt werden nur die realisierten Takte;1 4 oder a usw. bedeutet einsilbigen, 4- oder a- usw. bedeutet zweisilbigen Versschluß (gleich, ob jener stumpf oder voll, dieser klingend oder weiblich ist)«.2 Einige Jahre später äußert Kuhn dezidiert seine Skepsis hinsichtlich der »Zweckmäßigkeit« des traditionellen metrischen Systems wie der »Berechtigung der rhythmischen Interpretation überhaupt«.3 Kuhns Zeichensystem wurde vielfach übernommen, mit oder ohne Begründung. Ingeborg Glier bemerkt in ihrer Neubearbeitung der Metrik Otto Pauls: »Diese deskriptiven Formeln halten knapp und überschaubar das Vorhandene fest«.4 Ohne weiteren Kommentar verzeichnet A. H. Touber in seinen Arbeiten »die metrische Formel nach Hugo Kuhns Methode«.5 Gleichermaßen, doch z. T. mit später aufzugreifenden erläuternden Zusätzen verfahren Gerhard A. Vogt,6 Ingrid Kasten,7 Horst Brun1
2
3
4
5
6
7
Der heute in Verruf geratene Taktbegriff wird im folgenden im Bewußtsein gebraucht, daß der metrische Takt mit dem musikalischen nicht 1 : 1 identisch ist, also einen Hilfsbegriff darstellt; vgl. auch die Bemerkungen am Schluß dieses Beitrags. Hugo Kuhn, Minnesangs Wende, Tübingen 1952, S. 47 Anm. 10. Diese Art der Notierung ist keine Erfindung Kuhns, mußte doch schon Heusler »den Metrikern« entgegentreten, welche »die Typen 4k und 4s als kurzweg ›dreihebig‹ buchen«. Andreas Heusler, Deutsche Versgeschichte. Mit Einschluß des altenglischen und altnordischen Stabreimverses (Grundriß der Germanischen Philologie 8/1–3), 3 Bde., Berlin 21956, Bd. 3, S. 320. Vgl. auch Wolfgang Mohr, Art. ›Kadenz‹, in: 2RL 1 (1958), S. 803–806, hier S. 803: »Die nhd. Metrik glaubte weithin mit der Unterscheidung ›weiblicher‹ (w) und ›männlicher‹ (m) Versschlüsse auszukommen«. Nach Fritz Schlawe, Neudeutsche Metrik (Sammlung Metzler 112), Stuttgart 1972, S. 23, sind für den Vers der neueren deutschen Dichtung »ganz allgemein« ›männlich‹ und ›weiblich‹ die üblichen Bezeichnungen. Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts, hg. von Carl v. Kraus, Bd. 2: Kommentar, besorgt von Hugo Kuhn, Tübingen 1958, S. VIII. Otto Paul und Ingeborg Glier, Deutsche Metrik, 4., völlig umgearb. Aufl., München 1961, S. 82; vgl. auch S. 22 und 63. Anthonius H. Touber, Textik. Zur Struktur der mittelhochdeutschen Lyrik, in: Neophilologus 49 (1965), S. 231–241, hier S. 240 Anm. 7; vgl. auch ders., Deutsche Strophenformen des Mittelalters (Repertorien zur Deutschen Literaturgeschichte 6), Stuttgart 1975, S. VII. Vgl. Gerhard A. Vogt, Studien zur Verseingangsgestaltung in der deutschen Lyrik des Hochmittelalters (GAG 118), Göppingen 1974, S. 3 und 100. Vgl. Deutsche Lyrik des frühen und hohen Mittelalters. Edition der Texte und Kommentare
2
Manfred Günter Scholz
ner8 oder – »gemäß heutiger altgermanistischer Praxis« – Burghart Wachinger.9 Mit entwaffnender Offenheit nennt Christian Wagenknecht in der um drei Kapitel zur mittelalterlichen Dichtung erweiterten 5. Auflage seiner Metrik den Grund dafür, nur die Hebungszahl und den männlichen oder weiblichen Versausgang zu notieren: dies sei »entschieden bequemer«.10 Kritik an der vereinfachten Notation hat man nur vereinzelt geübt. Mit Recht hat Wolfgang Mohr eine Formulierung wie: es werde angegeben, »ob der Vers mit einer betonten (m) oder unbetonten Silbe (w) schließt«,11 als irreführend bezeichnet, spiegelt sie doch dem Nicht-Fachmann vor, auch Fälle wie gezogen, vergeben oder begraben seien weiblich.12 Diese Nachlässigkeit ist Mohr mit seiner Gleichsetzung »Gedankenstrich = zweisilbiger Ver[s]schluß« einige Jahre zuvor allerdings selbst unterlaufen.13 Die Unzulänglichkeit der Kuhnschen Terminologie berührt beiläufig auch Friedrich Neumann, wenn er »das dürre Feststellen von Hebungszahlen« erwähnt.14 Daß für eine genaue metrische Analyse eines Textes das »Schema von Auftakt, Hebungszahl, Reim und Kadenzgeschlecht« nicht ausreicht, stellt Hans-Herbert Räkel fest.15 Eine klare Absage an die metrische Beschreibung nach dem scheinbar neutralen ›Hebigkeitsprinzip‹ formuliert in einer vielbenutzten Einführung in Metrik und Rhetorik ein Autorenkollektiv: »Ein solch ahistorisches, nur scheinbar objektives Verfahren ist nicht geeignet, die Probleme und Intentionen, die mit der Orientierung an Verstraditionen verbunden sind, zu begreifen und zu verdeutlichen«.16 Als ahistorisch angesehen werden muß das Verfahren auch im Lichte der, soweit ich sehe, von den Metrikern noch nicht rezipierten, zum Fundament jeder Beschäftigung mit mittelhochdeutschen Versen erklärten Feststellung des Linguisten Theo Vennemann,
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9
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von Ingrid Kasten, Übersetzungen von Margherita Kuhn (Bibliothek des Mittelalters 3), Frankfurt a. M. 1995, S. 558. Vgl. Horst Brunner, Gerhard Hahn, Ulrich Müller und Franz Viktor Spechtler, unter Mitarbeit von Sigrid Neureiter-Lackner, Walther von der Vogelweide. Epoche − Werk − Wirkung (Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte), München 1996, S. 46; Früheste deutsche Lieddichtung. Mhd./Nhd., hg., übers. und komm. von Horst Brunner (RUB 18388), Stuttgart 2005, S. 187 f. Deutsche Lyrik des späten Mittelalters, hg. von Burghart Wachinger (Bibliothek des Mittelalters 22), Frankfurt a. M. 2006, S. 617 f. Christian Wagenknecht, Deutsche Metrik. Eine historische Einführung (C. H. Beck Studium), 5., erw. Aufl., München 2007, S. 28. Paul und Glier [Anm. 4], S. 63. Wolfgang Mohr, Besprechung von Paul und Glier [Anm. 4], in: AfdA 76 (1965), S. 145–153, hier S. 147. Wolfgang Mohr, Zur Form des mittelalterlichen Deutschen Strophenliedes. Fragen und Aufgaben, in: DU 5 (1953), H. 2, S. 62–82, hier S. 71 Anm. 25. Friedrich Neumann, Neues Schrifttum zur altdeutschen Lyrik, in: Muttersprache 69 (1959), S. 378–380, hier S. 379. Hans-Herbert S. Räkel, Der deutsche Minnesang. Eine Einführung mit Texten und Materialien (Beck’sche Elementarbücher), München 1986, S. 63. Alwin Binder u. a., Einführung in Metrik und Rhetorik (Monographien Literaturwissenschaft 11), Frankfurt a. M. 51987, S. 75.
Die Kadenz – eine metrische quantite´ ne´gligeable?
3
»daß das Altdeutsche eine akzentbasierte Quantitätssprache war«.17 Denn es stellt eine nicht nachvollziehbare Reduktion dar, mit der Zählung von Hebungen nur den Akzent zu berücksichtigen, nicht aber den Aspekt der Quantität. Dem Nicht-Experten wird durch die Verwendung der Zeichen 3a oder 4-b suggeriert, daß der eine Vers in traditioneller Terminologie drei Takte mit männlich voller (mv) Kadenz und a-Reim, der andere vier Takte mit weiblich voller (wv) Kadenz und b-Reim aufweist; die Existenz von stumpfen oder klingenden Endungen gerät überhaupt nicht ins Kalkül. Hubert Heinen konnte in dieser Hinsicht dem »Gros der modernen Minnesangforscher« den Vorwurf nicht ersparen, daß sie »wegen der Fragwürdigkeit jeder Kadenzregelung effektiv die Existenz schwerklingender Kadenzen leugnen«.18 Was Heinen »Fragwürdigkeit« nennt, wird in den Stellungnahmen zum Problem, wie eine Entscheidung zwischen klingender und weiblicher,19 zwischen männlich voller und stumpfer Kadenz (im folgenden als k, w, mv und s abgekürzt) zu treffen sei, unterschiedlich gewichtet. Daß eine solche Entscheidung oft »Ermessenssache«,20 oft nicht möglich21 sei, daß eine »vielfache Ungewißheit«22 herrsche, daß man sich bei rhythmischer Mehrdeutigkeit häufig mit der vereinfachten Notierung begnügen müsse,23 sind nachvollziehbare, konsensfähige Urteile; Behauptungen, daß bestimmte Kadenztypen »fast nie zweifelsfrei zu erkennen«24 oder gar »objektiv eigentlich nicht feststellbar«25 und »in allen hochhöfischen Strophen schwer festzustellen«26 seien, heischen dagegen geradezu nach einer Überprüfung. Eine solche hat schon vor vierzig Jahren Hubert Heinen angemahnt, ohne daß seine dabei geäußerte Hoffnung in Erfüllung gegangen wäre: The time is ripe for all evidence and arguments for and against the existence of these types of cadence to be assembled and weighed. Perhaps it will be possible then to reach a consensus of opinion.27 17
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Theo Vennemann gen. Nierfeld, Der Zusammenbruch der Quantität im Spätmittelalter und sein Einfluß auf die Metrik, in: ABäG 42 (1995), S. 185–223, hier S. 188. Mutabilität im Minnesang. Mehrfach überlieferte Lieder des 12. und frühen 13. Jahrhunderts, hg. von Hubert Heinen (GAG 515), Göppingen 1989, S. XXI. Dazu, daß die Bezeichnung ›weiblich‹ der gängigen ›weiblich voll‹ vorzuziehen ist, vgl. die überzeugenden Argumente bei Erdmute Pickerodt-Uthleb, Die Jenaer Liederhandschrift. Metrische und musikalische Untersuchungen (GAG 99), Göppingen 1975, S. 285 f. Anm. 81. Siegfried Beyschlag, Die Metrik der mittelhochdeutschen Blütezeit in Grundzügen, 4., neubearb. Aufl., Nürnberg 1961, S. 48. Werner Hoffmann, Altdeutsche Metrik, 2., überarb. und erg. Aufl. (Sammlung Metzler 64), Stuttgart 1981, S. 100. Vogt [Anm. 6], S. 100. Mohr [Anm. 2], S. 804. Wachinger [Anm. 9], S. 618. Räkel [Anm. 15], S. 62. Gesine Taubert, Mittelhochdeutsche Kurzgrammatik mit Verslehre. Examensvorbereitung, Referendariat, Unterricht. Unter Mitwirkung von Elisabeth Miltschitzky, Erding 1995, S. 102. Hubert Heinen, Minnesang. Some Metrical Problems, in: Formal Aspects of Medieval German Poetry. A Symposium, hg. von Stanley N. Werbow, Austin/London 1969, S. 79–92, hier S. 87 Anm. 12.
4
Manfred Günter Scholz
II Es hätte nicht so weit zu kommen brauchen, daß man den radikalen Schritt vollzog und bei der metrischen Notation lediglich die sprachlich realisierten Hebungen zählte sowie die weibliche oder männliche Endung des Verses angab. Hatte doch Kuhn seine Regelung mit der Kautel versehen, daß Fragen wie die, ob eine weibliche oder eine klingende Kadenz anzusetzen sei, »im Einzelfall zu entscheidende Fragen«28 seien, und hatte dort, »wo das rhythmische Bild eindeutig dargestellt werden soll«, selber die Heuslerschen Zeichen verwendet.29 Dies tut auch Glier, nicht nur als Tribut an Otto Paul,30 sondern auch in der Erkenntnis, daß die Kuhnsche Notation einen »Verzicht auf sprachlich-rhythmische Eindeutigkeit« impliziert und daß dort, wo »Verse gelesen werden und rhythmisch eindeutig erscheinen sollen«, die seit Heusler üblichen Zeichen vonnöten sind.31 Nach Kuhn und Glier ist es allein Wachinger, der den Sachverhalt problematisiert. Auch er rechnet mit der Existenz klingender Kadenzen im Mittelhochdeutschen, und auch er sieht die »Grenzen« des neuen Verfahrens »dort, wo intensiv mit solchen Rhythmisierungen gearbeitet wird«, weswegen er in seinem Kommentar auch derartige Fälle anspricht.32 Wenn er allerdings »das hörbar vierhebige Ho´ppe ho´ppe Re´ite`r« heranzieht und dazu bemerkt: es »muß also als 3a- beschrieben werden«,33 fragt man sich, ob dies wirklich ein Muß ist oder ob hier nicht vielmehr das Diktat eines unzulänglichen, weil nur begrenzt anwendbaren Schemas über die Evidenz des Rhythmischen gesiegt hat. Wie mag sich Paul Sappler der Problematik stellen? Der Suprematie der Münchener Schule eingedenk, macht man sich zagend auf die Suche. Und verzagt gleich zu Beginn des ersten einschlägigen Satzes: »In der abgekürzten Schreibweise wird die Zahl der realisierten Hebungen« angegeben. Doch alsbald stellt sich Erleichterung ein, denn die Formulierung der anschließenden Klammer versöhnt: »ohne die Nebenhebungen der klingenden Kadenzen«, und im weiteren Verlauf des Rechenschaftsberichts wird alles Gewünschte nachgereicht: »Das Schema wird jedesmal um die nicht darin enthaltenen Angaben (Auftakt, Kadenzarten und -tausch und Gliederung der Strophe) ergänzt«.34 Bleibt nur die Frage, ob dann die Angabe des verkürzten Schemas überhaupt notwendig war, denn eine Notierung wie 4mva 4kb kann ebensogut »im fortlaufenden Text verwendet werden« wie das Sapplersche Schema 4a3.b (der Punkt bedeutet bei Sappler weibliche Endung). Die Vorteile der neuen Notation bestehen darin, daß sie »den Vergleich mit den silbenzählenden Bildern der romanischen (und lateinischen) Verse« zulassen, den die Heuslerschen Zeichen »erschweren«.35 Dasselbe Kriterium führt Glier an, die darüber 28 29 30 31 32 33 34
35
Kuhn [Anm. 2], S. 46. Ebd., S. 47 Anm. 10. Vgl. Paul und Glier [Anm. 4], S. 22. Ebd., S. 82. Wachinger [Anm. 9], S. 618. Ebd. Das Königsteiner Liederbuch. Ms. germ. qu. 719 Berlin, hg. von Paul Sappler (MTU 29), München 1970, S. 19. Kuhn [Anm. 2], S. 47 Anm. 10.
Die Kadenz – eine metrische quantite´ ne´gligeable?
5
hinaus auch den Nutzen »für alle Untersuchungen über die Beziehung von sprachlich-metrischem und musikalischem Strophenbau« erwähnt.36 Überall dort, wo es nicht um derartige Fragen geht, wäre eine unvoreingenommene Prüfung der jeweils gegebenen Sachlage am Platz, gälte es zu entscheiden, ob die rhythmischen Verhältnisse eines Textes eindeutig genug sind, um sie mittels des Heuslerschen Zeichensystems wiederzugeben, oder ob Zweifel zur Verwendung des Kuhnschen Schemas nötigen. »Bequemer« taugt dabei freilich nicht als Kriterium! Und daß die Entscheidung »weitgehend [. . .] von der subjektiven Auffassung des jeweiligen Metrikers«37 abhängt, darf ebenfalls nicht gelten. Es gibt genügend objektivierbare Fälle, in denen stumpfe oder klingende Kadenzen mit zureichender Sicherheit nachgewiesen werden können, wie im folgenden in erster Linie an Texten Walthers von der Vogelweide zu zeigen ist.
III Für Walthers Kreuzlied 76,22 ff.38 hat Carl von Kraus betont, daß »auf die Form besondere Kunst verwendet« ist, was sich z. B. daran zeigt, »daß in den 80 Versen nicht ein einziger Reimausgang sich wiederholt«.39 Gern erwähnt wird »der marschartige Charakter des Rhythmus«, so auch von Kasten, die v. Kraus zitiert, als metrisches Schema der sich wiederholenden Vierzeiler-Perioden aber 3a’ a’ a’ b angibt.40 Das Lied hat durchgängig Auftakt,41 innerhalb der Perioden herrscht vielfach Synaphie. Dies führt zu einer eindeutigen Metrisierung: A4k A4k A4k A4s:42 Vil süeze wære minne, berihte kranke sinne. got, durch dıˆn anebeginne bewar die kristenheit. (76,22–25)
36 37 38
39 40
41
42
Paul und Glier [Anm. 4], S. 82. Binder u. a. [Anm. 16], S. 62. Die Walther-Texte werden zitiert nach: Walther von der Vogelweide. Leich, Lieder, Sangsprüche, 14., völlig neubearb. Aufl. der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner, hg. von Christoph Cormeau, Berlin/New York 1996. Carl v. Kraus, Walther von der Vogelweide. Untersuchungen, Berlin/Leipzig 1935, S. 313. Kasten und Kuhn [Anm. 7], S. 1036; ebenso Brunner, Hahn, Müller, Spechtler [Anm. 8], S. 56. Vgl. auch: Walther von der Vogelweide, Werke, Gesamtausgabe, Bd. 2: Liedlyrik. Mhd./ Nhd., hg., übers. und komm. von Günther Schweikle (RUB 820), Stuttgart 1998, S. 780, wo klingende Messung der drei ersten Verse jeder Periode angesetzt wird, allerdings mit der Alternative: »evtl. auch als Dreitakter mit weiblicher Kadenz zu deuten«. Schwebende Betonung ist in I,3, I,18 und II,9 anzusetzen; auftaktlos sind I,9 und III,9 (evtl. auch II,9, wenn man küngıˆn liest), was eher den Beginn einer neuen Periode unterstreicht, als daß es die generelle Auftaktigkeit in Frage stellte. Vgl. schon Kurt Plenio, Metrische studie über Walthers palinodie, in: PBB 42 (1917), S. 255– 276, hier S. 263 Anm. 2. Karl-Heinz Schirmer, Die Strophik Walthers von der Vogelweide. Ein Beitrag zu den Aufbauprinzipien in der lyrischen Dichtung des Hochmittelalters, Halle a. d. S. 1956, S. 78, versteht hier die Zahl 4 als Symbolzahl für das vierarmige Kreuz.
6
Manfred Günter Scholz
Unabhängig davon, ob man sich das Lied tatsächlich als von Pilgern auf ihrem Weg gesungen denkt,43 der »marschartige Charakter«44 transformiert sich in Kastens Metrisierung, die klingend und stumpf nicht mehr benötigt, zu einer pausenlosen (!) Wiederholung atemberaubender Trippelschritte. In Walthers Reichston 8,4 ff. wechseln vierhebig klingende mit vierhebig männlich vollen Reimpaaren ab. Eine Notation wie 3a- 3a- 4b 4b gibt die wertvolle Entdekkung Kurt Plenios, wonach die Strophe genau 100 Takte zählt,45 unnötig preis. Spätestens nach dem Überblick über mittelalterliche Zahlenkomposition, den Ernst Robert Curtius bietet,46 wird man derartige Funde nicht mehr als abwegig beiseite tun können, auch wenn Curtius nur »die Zahl der Verse wie die Zahl der Strophen in einem Gedicht«47 als zahlensymbolisch relevant anführt. Die klingende Kadenz wird auch durch den regelmäßigen Auftakt48 und die Fugungsverhältnisse gesichert: swaz kriuchet unde vliuget und bein zer erden biuget, 43 44
45
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47 48
Abgelehnt durch v. Kraus [Anm. 39], S. 313. Kurt Herbert Halbach, Walther von der Vogelweide, 4., durchges. und ergänzte Aufl., bearb. von Manfred Günter Scholz (Sammlung Metzler 40), Stuttgart 1983, S. 52, spricht von »der unerbittlich, litaneiartig mitziehenden Rhythmik«. Vgl. Kurt Plenio, Bausteine zur altdeutschen strophik, in: PBB 42 (1917), S. 411–502, hier S. 477 Anm. 1. Plenio vergleicht mit dem 100 Buchstaben aufweisenden Ave Maria und sieht in der Verwendung der Zahl durch Walther eine Huldigung an Philipps Gemahlin Irene, die durch die Krönung zur Königin mit dem neuen Namen Maria werden soll. Vgl. auch Fritz Tschirch, Literarische Bauhüttengeheimnisse. Vom symbolbestimmten Umfang mittelalterlicher Dichtungen, in: ders., Spiegelungen. Untersuchungen vom Grenzrain zwischen Germanistik und Theologie, Berlin 1966, S. 212–225, hier S. 221 f.: Die 300 Takte des gesamten Tons stellen die Summe der Zahlen 1–24 dar (24 Zeilen umfaßt eine Strophe!); das griechische Zahlzeichen T für 300 wird als Symbol des Kreuzes Christi verstanden; die Schlußzeile des Tons verrate diese Absicht. Vgl. Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern/München 61967, S. 491–498: Exkurs XV Zahlenkomposition. Ebd., S. 495. Neuere Ausgaben beachten dies stellenweise nicht, wie sie auch dem Kunstmittel der schwebenden Betonung nicht Rechnung tragen und ihren Text z. T. eigens mit eine solche ausschließenden Akzenten versehen. Vgl. Heinen [Anm. 18], S. 149, der (obwohl er im Schema für die A-Fassung wie für die BC-Fassung in allen Zeilen Auftakt ansetzt) in II,4 sowie in der A-Fassung von III,6 und III,9 fehlenden Auftakt notiert; Walther von der Vogelweide, Werke, Gesamtausgabe, Bd. 1: Spruchlyrik. Mhd./Nhd., hg., übers. und komm. von Günther Schweikle (RUB 819), Stuttgart 1994, S. 72–76 (I,20 stıˆge und; II,4 wa´lt, velt; III,2 ma´nne und; III,10 pfaffen auftaktlos; III,12 lıˆp und; III,18 u´nd niht); Cormeau [Anm. 38], S. 11–13 (I,20 stıˆg und; I,23 fride und; III,2 man und; III,6 und III,9 wie Heinen; III,12 wie Schweikle); Walther von der Vogelweide, Gedichte, 11. Aufl. auf der Grundlage der Ausgabe von Hermann Paul, hg. von Silvia Ranawake, mit einem Melodieanhang von Horst Brunner, Teil 1: Der Spruchdichter (ATB 1), Tübingen 1997, S. 4 (III,2 nach Cormeaus Zählung ma´n unde; III,6 und III,10 auftaktlos). Zur Kritik vgl. schon Manfred Günter Scholz, Besprechung von Brunner, Hahn, Müller, Spechtler [Anm. 8], Cormeau [Anm. 38] und Ranawake, in: PBB 120 (1998), S. 487–501, hier S. 493, sowie ders., Walther von der Vogelweide, 2., korr. und bibliogr. erg. Aufl., Stuttgart/Weimar 2005, S. 32 f.
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daz sach ich unde sag iu daz: der dekeinez lebet aˆne haz. (8,32–35)
Synaphie herrscht auch, wenn auf einen weiblich endenden Vers ein auftaktloser folgt. Dies ist der Fall in Walthers Lied 40,19 ff. Schirmer hat »gegen das eindeutige Zeugnis geregelter Fugungsverhältnisse«, wie sein Rezensent Karl Heinz Borck bemängelt,49 klingende Kadenzen im Abgesang und »aus zahlenkompositorischen Gründen« nach dem ersten Abgesangsvers eine Pause angesetzt.50 Schweikle entscheidet sich für klingende Kadenzen sowohl im Auf- als auch im Abgesang,51 Heinen dagegen (in Borcks Sinne) für weibliche.52 Diese Strophenform (4wa 5mvb : [A] 4mvc 3wd 3wd 5mvc) ist im übrigen ein Beispiel dafür, daß Heuslers Postulat, Perioden müßten eine gerade Zahl von Takten aufweisen, nicht haltbar ist:53 Ich haˆn ir soˆ wol gesprochen, daz si meneger in der welte lobet. haˆt si daz an mir gerochen, oweˆ danne, soˆ haˆn ich getobet, Daz ich die getiuret haˆn und mit lobe gekrœnet, diu mich wider hœnet. frowe Minne, daz sıˆ iu getaˆn. (40,19–26)
Kombination von weiblichen und stumpfen Kadenzen weist Walthers Mailied 51,13ff. auf.54 »Allgemein wird der [. . .] bewegte Tanzrhythmus hervorgehoben«, hält Schweikle fest,55 was eigentlich die stumpfe Kadenz, d. h. durchgängige Viertaktigkeit zwingend macht: Muget ir schouwen, waz dem meien wunders ist beschert? seht an pfaffen, seht an leien, wie daz allez vert. (51,13–16)
Dennoch notiert Heinen die männlich endenden Verse als 3m,56 der Tanz wird gewissermaßen ein Zwiefacher. Die Entscheidung steht und fällt mit der Position, die
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55 56
Karl Heinz Borck, Besprechung von Schirmer [Anm. 42], in: WW 8 (1957/58), S. 375–377, hier S. 376. Schirmer [Anm. 42], S. 42. Vgl. auch ders., Nochmals zur Kadenzwertung in der Lyrik Walthers von der Vogelweide, in: ZfdPh 90 (1971), Sh., S. 18–46, hier S. 35 f., wo er Borcks Kritik u. a. mit dem Verweis auf fragwürdige »Gesetzmäßigkeiten« zu entkräften sucht (weibliche Kadenz sei nur bei Versen von mindestens vier Haupthebungen anzusetzen). Vgl. Schweikle [Anm. 40], S. 722. Vgl. Heinen [Anm. 18], S. 159. In diesem Sinne bereits Schirmer [Anm. 42], S. 22, oder Borck [Anm. 49], S. 377. Vgl. Ludwig Wolff, Von der lyrischen Bedeutung der Strophenform bei Walther von der Vogelweide, in: Neuphilologische Mitteilungen 53 (1952), S. 338–361, hier S. 351. So metrisiert auch Schirmer [Anm. 42], S. 29. Schweikle [Anm. 40], S. 671. Vgl. Heinen [Anm. 18], S. 185.
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man gegenüber der Präponderanz von Viertaktern im Deutschen einnimmt; dazu ist weiter unten noch Stellung zu nehmen. Schweikle setzt statt 4w im Auf- wie im Abgesang 5k an – vom »Tanzrhythmus« bleibt so nichts mehr übrig.57 Walthers Lied 57,23 ff. firmiert in der Literatur namentlich der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts als Paradebeispiel für Zahlenkomposition und -symbolik. Das Spiel mit dem von der Dame favorisierten Vierundzwanzigjährigen und dem verschmähten Vierziger soll sich, wie Johannes Alphonsus Huisman darlegt, in der Summe der Stollenverse (24) und der Gesamtzahl der Verse des Liedes (40) spiegeln (dabei muß jeweils die abschließende Langzeile als zwei Verse gezählt werden; dazu s. u.).58 Von A. T. Hatto und R. J. Taylor wurde Huismans Entdeckung ergänzt durch die Beobachtung, daß die Zahl der Hebungen/Takte in Aufgesang und ganzer Strophe im Verhältnis 24:40 steht, was zu Taylors Fazit führt, es könne »kein Zweifel mehr über Walthers Absicht« bestehen.59 Problematisch wird die Angelegenheit dadurch, daß zum einen die Strophenzahl des Liedes strittig ist, zum andern die Metrisierung der Schlußzeile der Strophe. Überliefert ist in C und E jeweils ein vierstrophiges Lied, wobei nur drei Strophen beiden Handschriften gemeinsam sind. Als einziger Herausgeber setzt Cormeau ein Lied von fünf Strophen an,60 Heinen bietet seinem Editionsprinzip entsprechend beide Fassungen,61 Schweikle druckt die C-Version ab.62 Da das bei Cormeau erscheinende Gebilde eine dem Leithandschriftenprinzip nicht gemäße Kontamination darstellt, ist weiterhin von vier Strophen auszugehen. Damit ist die Zahl 24 gesichert, sowohl was die Summe der Stollenverse als auch was die Anzahl der Aufgesangstakte angeht, gleich, ob man die Stollen mit Hatto/Taylor und Schweikle als 4mv 5k 3mv oder, wahrscheinlicher, als 4mv 4w 4s metrisiert (für weibliche Endung sprechen v. a. die deutlich gefugten Verse II,5 f. und III,2 f.). Die Lesung der Stollenschlüsse als 3mv bei Wilmanns/Michels,63 Hatto/Taylor und Heinen (er scheut stumpfe Kadenzen) konkurriert mit der die Stollen deutlicher abgrenzenden Wertung als 4s. Im Unterschied zur Zahl 24 kann die Zahl 40 nur erreicht werden, wenn man der Strophe zehn Zeilen gibt und den zweiversig gezählten Schluß als zäsurierte Langzeile liest. So gewinnt Huisman eine zehnzeilige Strophe.64 Auf 40 Takte kommt man nur dann, wenn man die Schlußzeile entweder 57 58
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Vgl. Schweikle [Anm. 40], S. 670. Vgl. Johannes Alphonsus Huisman, Neue Wege zur dichterischen und musikalischen Technik Walthers von der Vogelweide. Mit einem Exkurs über die symmetrische Zahlenkomposition im Mittelalter. Diss. Utrecht 1950, S. 51. Vgl. A. T. Hatto und R. J. Taylor, Recent Work on the Arithmetical Principle in Medieval Poetry, in: MLR 46 (1951), S. 396–403, hier S. 398 f.; R. J. Taylor, Besprechung von Huisman [Anm. 58], in: AfdA 65 (1951/52), S. 115–118, hier S. 116. Vgl. Cormeau [Anm. 38], S. 120 f. Vgl. Heinen [Anm. 18], S. 196. Vgl. Schweikle [Anm. 40], S. 426–428. Vgl. Walther von der Vogelweide, hg. und erklärt von Wilhelm Wilmanns, 4., vollst. umgearb. Aufl., besorgt von Victor Michels (Germanistische Handbibliothek I,2), Halle a. d. S. 1924, S. 233, mit der Begründung, der Abgesang werde mit einem Sechser abgeschlossen. Vgl. Huisman [Anm. 58], S. 52 f., zu den zäsurierten Schlußversen, bei denen er zweimal Kadenzentausch vorsieht und einmal konjizieren muß.
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mit zweifacher stumpfer Kadenz liest (4w + 4s bei Hatto/Taylor ist unverständlich, zumal w nur für Str. IV gelten kann) oder als 4s + 4mv wie Schirmer, der den problematischen Text Huismans übernimmt.65 Wenn nur auf diese Weise die 40 Verse und 40 Takte gewonnen werden können, wird man wohl Skepsis auch gegenüber der Semantisierbarkeit der dann gleichsam in der Luft hängenden Zahl 24 anmelden wollen. Der Ertrag für die Kadenzdiskussion beschränkt sich auf die Beobachtung, daß die Kadenz der weiblich endenden Verse bei folgender Auftaktlosigkeit als w zu werten ist; die Existenz stumpfer Endungen ist für dieses Lied zwar wahrscheinlich zu machen, aber nicht zu sichern: Minne haˆt sich an genomen, daz si geˆt mit toˆren umbe springent als ein kint. (58,3–5)
Die Kriterien, die anhand von fünf Walther-Tönen für die Ansetzung einer bestimmten Kadenz geltend gemacht worden sind, müssen im folgenden auf den Prüfstand gestellt werden. Dabei ist auch, in Fortsetzung und Weiterführung der hier zu 57,23 ff. vorgebrachten Kritik, auf grundsätzlich Problematisches einzugehen.
IV Strenge Auftaktregelung in einem Ton läßt auf einen spezifischen Formwillen des Autors schließen. Folgt Auftakt auf einen weiblich endenden Vers, wäre dessen Schluß bei Ansetzung einer weiblichen Kadenz stets überfüllt, während sich bei klingender Kadenz plus Auftakt Synaphie einstellt. Dies ist der Fall beim Kreuzlied und im Reichston. Umgekehrt verlangt durchgehende Auftaktlosigkeit des Folgeverses eine weibliche Kadenz, so bei den Liedern 40,19 ff. und 51,13 ff. Ebenfalls in dieses Schema paßt 57,23 ff. (III,6 wäre auftaktlos als s’ist zu lesen). Begnügt man sich bei derartig klaren Fällen mit der Kuhnschen Notierung, verschenkt man die Chance, der rhythmischen Eigenart eines Textes auf die Spur zu kommen, und das Schema bleibt absolut nichtssagend. Für 34 von 50 Walther-Tönen hat Schirmer »ein deutlich wahrnehmbares harmonisches Verhältnis von Auftaktregelung und Kadenzwertung« festgestellt.66 Angesichts der stellenweise problematischen Metrisierungen Schirmers wäre die Zahl noch einmal genau zu überprüfen, was in diesem Rahmen nicht geschehen kann. Von einem anderen Erkenntnisinteresse her zählt Vogt unter Walthers Liedern 20 »trochäische« (d. h. auftaktlose) und 16 »jambische« (d. h. mit Auftakt).67 Wie für Schirmer ist auch für Heinen regelmäßiger Auftakt bzw. sein regelmäßiges Fehlen Kriterium für die Kadenzwertung.68 Wichtig ist die Regelmäßigkeit oder zumindest das deutliche Überwiegen einer der beiden Möglichkeiten. Bertaus Argument gegen das Auftaktkriterium: »es gibt wv-Kadenzen, denen Auftakt folgt, und es gibt k-Kadenzen vor Hebung«69 sollte daher nicht in aller Radikalität gelten. 65 66 67 68 69
Vgl. Schirmer [Anm. 42], S. 90. Ebd., S. 169. Vogt [Anm. 6], S. 193. Vgl. Heinen [Anm. 18], S. XX. Karl Heinrich Bertau, Sangverslyrik. Über Gestalt und Geschichtlichkeit mittelhochdeutscher Lyrik am Beispiel des Leichs (Palaestra 240), Göttingen 1964, S. 52.
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Daß durchgängiger Auftakt bisweilen nicht konsequent beachtet wird (wie bei Walthers Reichston), hat seinen Grund darin, daß man das Phänomen der schwebenden Betonung70 negiert und als Erfindung der Metriker belächelt. Dabei hat Friedrich Ranke bei seiner Analyse der ‘Tristan’-Verse den Nachweis erbracht, daß Versen mit und und einer weiteren unbetonten Silbe in der ersten Senkung wie leˆre unde geleite solten geben (V. 70) kein sicherer Fall mit Auftakt (z. B. *mir leˆre und geleite solten geben) gegenübersteht und daß auch im Vergleich zu Fällen mit aller oder hœret im Auftakt entsprechende Verse mit sicherem Auftakt, der aller und hœret zu Hebung und Senkung machte, fast durchweg fehlen.71 So ist die »›Doppeltonigkeit‹ des Verseingangs«72 als Kunstmittel gesichert. Das Problem der stumpfen Kadenz ist im Zusammenhang mit dem Viertakterprinzip zu behandeln. Der Viertakter herrscht in der mittelhochdeutschen Reimpaarepik und ist das verbreitetste Bauelement des Kirchenliedes und des Volksliedes.73 (Die klingende Kadenz übrigens wird, soweit ich sehe, für den Reimpaarvers auch von denen nicht angezweifelt, die in der Lyrik nur die sprachlich verwirklichten Hebungen zählen; das sollte zu denken geben.) Das Überwiegen der Geradtaktigkeit mit dem Viertakter als prominentester Erscheinung wird auch von unverdächtigen, das Sprechmetrum an der Melodie kontrollierenden Forschern »einem ausgeprägten Sinn für rhythmische Perioden« zugeschrieben.74 Ob es sich »der tiefen Verwurzelung des Viertakterprinzips im germanischen rhythmischen Empfinden«75 verdankt, sei dahingestellt.76 Letztlich gehört auch die generalisierende Feststellung des Linguisten Theo Vennemann in diesen Zusammenhang, für den die altdeutsche wie die neuere deutsche Metrik »natürlich-gewachsene Metriken« sind und der meint, »daß 70
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74 75 76
Der eher pejorative Terminus ›Tonbeugung‹ ist hier tunlichst zu vermeiden. Statt von ›schwebender‹ spricht man auch von ›versetzter Betonung‹. Vgl. auch Christian Wagenknecht, Zum Begriff der Tonbeugung, in: Meter, Rhythm and Performance – Metrum, Rhythmus, Performanz, hg. von Christoph Küper (Linguistik International 6), Frankfurt a. M. u. a. 2002, S. 59–74, hier S. 71: ›beschwerte Senkung‹. Nach Heusler [Anm. 2], Bd. 1, S. 60, empfinden wir Starkton im Auftakt nicht als Tonbeugung; Bd. 2, S. 106 f., spricht er aber selbst von »Tonbeugung und Anlaß zu schwebender Betonung«. Vgl. Friedrich Ranke, Zum Vortrag der Tristanverse, in: FS Paul Kluckhohn und Hermann Schneider, hg. von ihren Tübinger Schülern, Tübingen 1948, S. 528–539, hier S. 534 f. und S. 537. Zur schwebenden Betonung vgl. auch Ulrich Pretzel, Deutsche Verskunst, mit einem Beitrag über altdeutsche Strophik von Helmuth Thomas, in: Deutsche Philologie im Aufriß, 2., überarb. Aufl., hg. von Wolfgang Stammler, Bd. 3, Berlin 1962, Sp. 2357–2546, hier Sp. 2501–2518; Beispiele aus mhd. Dichtung Sp. 2514–2516. Skepsis zur schwebenden Betonung beim Typus hœret äußert Hoffmann [Anm. 21], S. 67. Ranke [Anm. 71], S. 536. Vgl. Paul und Glier [Anm. 4], S. 56 f. (zum Reimpaarvers), S. 105 (zum Kirchenlied), S. 112 und 114 (zum Volkslied und seiner Strophe). Bertau [Anm. 69], S. 105. Schirmer [Anm. 42], S. 43, ähnlich S. 166. Schlawe [Anm. 2], S. 42, muß wegen seiner Ablehnung des Taktbegriffs den Vierheber bemühen: »Die allerdings offenkundige Vorliebe für den 4-Heber ist ein besonderer Fall unserer psychisch fundierten Vorliebe für Geradzahligkeit, unserer Auf-Ab-Erwartung«.
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alle ihre Eigenschaften lediglich Stilisierungen von Eigenschaften der zugrunde liegenden Alltagssprache sind, die die nativen Sprecher aufgrund ihres nativen Sprachverständnisses erkennen und deren Stilisierung sie aufgrund ihres allgemeinen, schon ab dem Kleinkindalter eingeübten Kunstverständnisses erwarten«.77 Vermutlich hat das Kleinkind des Mittelalters Hoppe hoppe Reiter noch nicht gekannt, wird aber bei sizi, sizi, bina / inbot dir Sancte Maria von seinem Kunstverständnis zweifelsfrei zum korrekten Hersagen eines Viertakters mit klingender Kadenz geführt worden sein! Leif Ludwig Albertsen, der die Existenz von Viertaktern im Mittelalter natürlich nicht leugnen kann,78 verortet »Das Denken in vier plus vier Takten« (so die Kapitelüberschrift) im 18. und 19. Jahrhundert; davon zu unterscheiden sei ein »Rückprojizieren des Denkens« auf Texte aus Zeiten, die derart genaue Pausen wie im Kirchenlied ‘Nun danket alle Gott’ »selber bestimmt nicht machten, es erst in nachträglicher Interpretation tun«.79 Damit spricht Albertsen das Stichwort der stumpfen Kadenz an. Hatte noch Helmuth Thomas im Kontext der mittelhochdeutschen Strophik davor gewarnt, aus dem Vorwiegen vierhebiger Verse notwendig zu folgern, daß kürzere Verse entweder pausiert oder (bei weiblicher Endung) mit klingender Kadenz zu lesen seien,80 so stellt Christoph Küper generell fest: »Taktierende dreihebige Verse enden in der Regel nicht mit einem Enjambement, sondern mit einem deutlichen Einschnitt, der eine Pause ermöglicht (die zum Atemholen genutzt werden kann)«.81 Und er erhebt die Feststellung geradezu zu einem Postulat: Dreihebige Verse könnten nur dann, wenn sie auf vierhebige folgen, »unzweideutig als viertaktig wahrgenommen werden«.82 Kirchenlieder, Volkslieder, Kinderreime, Märsche, Wanderlieder wissen davon, doch werden sich die modernen Hebungszähler davon überzeugen lassen, daß dieses Phänomen auch schon im Mittelalter existent war?83 Unter den Waltherschen Tönen zeigt eine nicht geringe, aber auch nicht übermäßig große Zahl durchweg oder ganz überwiegend Viertaktigkeit. Abgesehen von solchen, die für das hier zur Debatte stehende Kadenzproblem nicht relevant sind, wie z. B. das Vokalspiel 75,25 ff., dessen Verse mv enden, seien genannt: das Palästinalied 14,38 ff. und die Lieder 44,35 ff. und 110,27 ff. mit Kadenzen auf w und mv; der Reichston 8,4 ff., der Meißnerton 105,13 ff. und das Lied 94,11 ff. mit k und mv Kadenzen; schließlich das Kreuzlied 76,22 ff., der 1. Atzeton 103,13 ff. sowie die Lieder 51,13 ff. und 57,23 ff., bei denen allesamt stumpfe Kadenz am Periodenende zu po77 78
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82 83
Vennemann [Anm. 17], S. 221. Vgl. Leif Ludwig Albertsen, Neuere deutsche Metrik (Germanistische Lehrbuchsammlung 55b), Bern u. a. 1984, S. 58 f. Ebd., S. 45 und 48 f. Vgl. Pretzel und Thomas [Anm. 71], Sp. 2439. Christoph Küper, Sprache und Metrum. Semiotik und Linguistik des Verses, Tübingen 1988, S. 276. Ebd., S. 281. Vgl. Bertau [Anm. 69], S. 97, der betont, für den Nachweis der Unterfüllung auch im mhd. Sangvers bedürfe es eigener Kriterien. Eindeutige Fälle, in denen »Melodieanalogien derartige Zeilenverkürzungen erweisen«, stellt er neben wahrscheinlichen und möglichen S. 97– 100 vor.
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stulieren ist. Herausgegriffen sei der 1. Atzeton, bei dem an zwei Stellen »Satz und Gedanke« die durch die stumpfe Kadenz geforderte Pause zu überspielen scheinen.84 Beide Fälle finden sich an derselben Strophenstelle, nach V. 12: und merke, ob sich ein dorn mit kündekeit dar breite (103,24 f.) daz im den vinger abe gebizzen haˆt ze schanden.
(104,18 f.)
Muß man, wenn in zwei von drei Strophen derart offensichtlich Enjambement und Synaphie vorliegen, nicht von der Forderung einer stumpfen Kadenz absehen? Oder dient die Pause vielmehr expressiv dem Verständnis des Inhalts, wird durch sie »eine besondere Spannung beabsichtigt und erzielt«?85 Die beiden stumpfen Kadenzen haben eine je spezifische rhythmische Qualität. Die Pause nach dorn – malt sie nicht geradezu raffiniert das seinerseits raffinierte (mit kündekeit) Sich-Anschleichen des feindlichen, gefährlichen dornes aus? Derselbe Effekt würde erreicht, wenn man das Wort dorn, was bei abe nicht möglich ist, über anderthalb Takte hinweg dehnte: Hervorhebung der Gefahr. Eine komische Wirkung dagegen erzielt die Pause nach abe. Was das Pferd dem Finger angetan hat, wird schon durch den ersten Vers klar; durch die Pause jedoch wird der Vorgang regelrecht ausgekostet: der abgebrochene Satz, der abgebissene Finger. Andere Fälle sind zu vereinzelt, als daß man der Pause jedesmal affektive Qualität zusprechen könnte. Zwei Beispiele aus den hier einschlägigen Liedern seien wenigstens genannt: Im Vers Muget ir umbe sehen? (52,19) aus dem Mailied gibt die Pause ebenso Zeit, sich umzusehen, wie im Vers daz ich sitzen geˆ (58,14), sich niederzulassen. Ein weiteres Problem, das anläßlich der metrischen Analyse einiger Walther-Töne zur Sprache kam, ist das der Zeilen- und Taktzahlen einer Strophe oder eines Tons. Hatten sich beim Reichston die Zahlen 100 und 300 ohne Anstrengung ergeben, so konnte beim Lied 57,23 ff. nur die Zahl 24 gesichert werden, während die Zahl 40 und damit das ganze Zahlenspiel zweifelhaft bleiben mußte. Für Walthers Elegie 124,1 ff. bezieht Huisman die 33 Halbverse pro Strophe auf die Lebensjahre Christi; bei den Hebungen kommt er auf 33 × 3 je Strophe zusätzlich einer ›Plushebung‹ im vorletzten Halbvers = 100, für den gesamten Ton mithin auf 300 Hebungen (dieselben Zahlen also wie beim Reichston, woraus dieselbe Ausdeutung folgt).86 Nach Tschirch ergibt sich, wenn man der Überlieferung folgt, die am Schluß der Elegie keine Wiederholung des Kehrreims bietet, »die symbolerfüllte Zahl 98 (als 2 × 72)«.87 Die Rechnung mit Hebungen (nicht die mit Halbversen) geht freilich 84
85 86
87
Friedrich Maurer, Die politischen Lieder Walthers von der Vogelweide, Tübingen 21964, S. 41. Ebd. Vgl. Huisman [Anm. 58], S. 50 f. Vgl. auch Hatto und Taylor [Anm. 59], S. 399, mit der präziseren Angabe »(32 × 3) + (1 × 4)«. Tschirch [Anm. 45], S. 220 f.
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nur im gewünschten Sinne auf, wenn man sich für das Maß des Elegieverses von der Nibelungen-Langzeile als Achttakter verabschiedet. Einen Kernbereich von Schirmers Strophenuntersuchung stellt der auf Zeilen und Takten beruhende Nachweis von zahlenkompositorischen Strukturen dar. Für 18 von 88 Tönen Walthers glaubt Schirmer die Identität von Taktzahl einer Strophe und Verszahl des Gesamttons feststellen zu können.88 Völlig unproblematisch sind davon nur sechs Fälle: 30 Takte/Verse in 72,31 ff.; 32 in 112,35 ff.; 35 in 109,1 ff.; 40 in 44,35 ff.; 48 in 92,9 ff.; 80 in 76,22 ff. (72,31 ff. und 92,9 ff. sind in unserem Zusammenhang besonders verträglich, da sie nur mv Kadenzen haben). Bei den übrigen Liedern (57,23 ff. ist schon oben besprochen; das in metrischer Hinsicht höchst umstrittene Lindenlied 39,11 ff. soll hier außer Betracht bleiben) ist z. T. die Verszahl, z. T. die Zahl der Takte strittig. Für die Strophe des Liedes 47,36 ff. ist die Taktzahl 60 unschwer zu erreichen,89 12 Verse pro Strophe (und damit 60 Verse im Lied) ergeben sich nur dann, wenn man die beiden Schlußverse als lange Zeile oder Langzeile liest, wogegen nichts zu sprechen scheint.90 Anders verhält es sich beim Lied 13,33 ff., wo für eine siebenzeilige Strophe und damit für die Kongruenz von Strophentaktzahl und Gesamtverszahl V. 6 und 7 zu einer Langzeile zusammengefaßt werden müßten, was die Reimpunktsetzung der Hss. aber offenbar nicht nahelegt.91 40 Verse bei MF 214,34 ff. erreicht Schirmer, indem er die Waisenzeile und den Folgevers zu einer Langzeile kombiniert (hinsichtlich der Kadenzen stellt das Lied einen vor keine Schwierigkeiten, da alle Verse mv enden).92 50,19 ff. ist in zwei Handschriften, C und E, als vierstrophiges Lied mit 32 Versen überliefert; die fünfstrophige Fassung bei Cormeau ist ein Konglomerat. Um auf 32 Takte pro Strophe zu kommen, muß man einen unterfüllten Vers ansetzen, was Hatto am Strophenende tut,93 einem Ort, an dem man am ehesten mit stumpfer Kadenz rechnen kann. Schirmer bezeichnet dies als »eine überflüssige Pause«, steht aber selbst nicht an, den vorletzten Vers als unterfüllt zu werten. Die so gewonnenen 32 Takte sieht er mit klassischer petitio principii durch die Gesamtverszahl bestätigt.94 Klingende Endung der Stollenverse und eine stumpfe Kadenz am Strophenschluß muß Schirmer ansetzen, um für die Strophe des Liedes 64,31 ff. eine der Gesamtverszahl 40 entsprechende Taktzahl zu erreichen.95 Die Verse des Aufgesangs weisen jedoch fast durchgängig Synaphie auf, so daß sie mit weiblicher Kadenz zu lesen sind.96 Für das 30zeilige Lied 113,31 ff. sind 30 Takte pro Strophe dann zu erzielen, wenn man den Schlußvers als 8s oder, mit Schir88 89
90
91 92 93 94 95 96
Vgl. Schirmer [Anm. 42], S. 94 f. Vgl. auch A. T. Hatto, On Beauty of Numbers in Wolfram’s Dawn Songs (An Improved Metrical Canon), in: MLR 45 (1950), S. 181–188, hier S. 182. Vgl. den Abdruck der verschiedenen Fassungen bei Heinen [Anm. 18], S. 176–179; zur Ansetzung von Kurzzeilen, langen Zeilen und Langzeilen generell vgl. ebd., S. XXI. Vgl. ebd., S. 150 f. Vgl. Schirmer [Anm. 42], S. 84. Vgl. Hatto [Anm. 89], S. 182, der allerdings 36 Takte zählt. Schirmer [Anm. 42], S. 48. Vgl. ebd., S. 49. So auch schon Hatto [Anm. 89], S. 182. Vgl. Heinen [Anm. 27], S. 85 f.
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mer,97 8mv auffaßt. 40 als Strophentaktzahl und Gesamtverszahl haben nach Schirmer die Lieder 43,9 ff., 100,24 ff. und 119,17 ff.98 Allen drei ist gemeinsam, daß einem Versschluß auf w häufig Auftakt folgt, was sprechmetrisch betrachtet als unschöne Überfüllung zu werten ist, von der Melodieüberlieferung derartiger Fälle her aber offenbar kein Problem darstellt.99 Das Lied 54,37 ff. ist hier nicht zu diskutieren, da Schirmer seiner Analyse die fünfstrophige Version bei v. Kraus zugrunde legt.100 Angefügt sei (soweit nicht schon oben verzeichnet) das metrische Schema derjenigen Lieder, für die eine Kongruenz von Strophentaktzahl und Gesamtverszahl in Frage kommt (die Reihenfolge entspricht der ihrer Erwähnung im Text): 72,31 ff.: 112,35 ff.: 109,1 ff.: 44,35 ff.: 92,9 ff.:
5mva (A)4mvb : (A)4mvc A8mvc 5wa 4mvb : 4mvc (A)4wd 2wd 4mvc 6wa 5mvb : 4mvc 4wd 2wd+3mvc A4wa 4mvb A4mvb A4wa 4wc (A)4wc 4mvd 4we 4we 4mvd A4mva A4mvb : A4mvc A4mvd A4mvc A4mvd A4mve A4mve A4mvf A4mvf 47,36 ff.: A6mva 6kb : 4mvc 4wd 4mvc 4wd 4mve 4mve 4kf A4kx+A4wf101 (oder: A3wx+A5kf; oder: A8kf) 50,19 ff.: 3wa 5mvb : 3wc 3wc 4mvd 6sd 113,31 ff.: 4wa 5mvb : 4mvc (A)8sc 43,9 ff.: A4mva A5mvb : A4mvc (A)2wx A4mvc (A)4mvd A4mvx A4mvd 100,24 ff.: A4mva A4mvb : 4wc (A)4w(mv)x (A)4wc A4mvd A4mvx A4mvd 119,17 ff.: A4mva A4mvb : 4wc102 A4wc Die Nachprüfung hat ergeben, daß zu den sechs sicheren Fällen, in denen die Zahl der Takte einer Strophe mit derjenigen der Verse des Liedes übereinstimmt, eine gute Handvoll möglicher oder wahrscheinlicher getreten ist. Das scheint kein entmutigender Befund zu sein und Hattos These, die Minnesänger hätten zuerst die Gesamtzahl der Takte eines Liedes festgelegt,103 das Odium haltloser Spekulation zu nehmen. Bertau freilich ist davon überzeugt, daß keinem jener Dichter »der Begriff des Taktes oder der Hebung verfügbar gewesen« ist,104 und er hat anhand der Lieder Neidharts 97
Vgl. Schirmer [Anm. 42], S. 87 mit Anm. 23. Vgl. ebd., S. 91 f. Zu 100,24 ff.; vgl. auch schon Hatto [Anm. 89], S. 182. 99 Vgl. Bertau [Anm. 69], S. 54 f., der überdies zeigt, daß w plus Auftakt nicht als Senkungsspaltung, sondern als Takterweiterung zu werten ist. 100 Vgl. Schirmer [Anm. 42], S. 83. 101 Kadenzentausch ist in der mhd. Lyrik nicht selten; dazu siehe auch unten. 102 Der regelmäßige Auftakt in V. 6 würde für V. 5 klingende Kadenz nahelegen. Dagegen spricht jedoch II,5 f.: Im wart von mir in allen gaˆhen / ein küssen und ein umbevaˆhen. Der durch die klingende Kadenz bewirkte Stau wäre für in allen gaˆhen kontraproduktiv. 103 Vgl. Hatto [Anm. 89], S. 181. 104 Bertau [Anm. 69], S. 104. Vgl. jedoch Werner Schröder, Besprechung von Bertau, in: ZfdPh 84 (1965), S. 625–637, hier S. 628: »wenn die Sache da ist, will das Fehlen eines mittelhochdeutschen Namens für Hebung oder Takt nicht allzu viel besagen«. 98
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eine Rechnung aufgemacht, die besagt, daß sich angesichts einer großen Mehrheit von 4- oder 8-taktigen Zeilen und einer immer noch beträchtlichen Zahl von 6-taktigen besonders oft Summen ergeben, die sowohl durch 4 als auch durch 6 oder 8 teilbar sind, und daß solchermaßen »die bevorzugten Taktsummen alles Wunderbare« verlieren.105 Skepsis gegenüber der zahlenkompositorischen Auswertung von Takten zeigt sich auch anderwärts;106 sie reicht bis hin zur Negierung der Tauglichkeit von Zahlensymbolik und -komposition für metrische und textkritische Belange bei Heinen.107 Bei allen berechtigten Zweifeln an zahlenkompositorischen Ergebnissen, die erst durch die Ansetzung von Pausen im Stropheninnern zustande kommen, bleiben doch als nicht wegzudiskutierende Beispiele der Reichston und das Kreuzlied. Beispiele, die dazu ermutigen, auf induktivem Wege plausible Kadenzen zu ermitteln und in einem nächsten Schritt nach dem Verhältnis von Takt- und Verszahlen zu fragen. Ergibt sich eine Konformität beider, steht es der Interpretation offen, sie als bedeutungsvoll auszumachen oder für zufällig zu halten (was aber nicht lediglich zu behaupten, sondern wahrscheinlich zu machen wäre).
V »Daß klingende Kadenzen keine Erfindung der Metriker sind«,108 sollten die bisherigen Ausführungen geklärt haben. Dieser Befund kann untermauert werden sowohl durch Beobachtungen an Melodien zu mittelalterlichen Texten als auch durch den Vergleich melodielos überlieferter Strophen. »Häufige Melodieparallelen von klingenden und männlichen Zeilen« kann Bertau feststellen,109 aber auch den Fall, daß »eine Zweitonverbindung sowohl über einsilbig-männlichem als auch über gespaltenmännlichem und weiblich-vollem Versschluß steht«.110 Den Beleg für die eingangs dieses Abschnitts zitierte Feststellung findet Pickerodt-Uthleb denn auch im Kadenzentausch, den z. B. die Melodie zu einem Text Reinholds von der Lippe zeigt, die 105
Karl Heinrich Bertau, Besprechung von The Songs of Neidhart von Reuental, hg. von A. T. Hatto und R. J. Taylor, Manchester 1958, in: AfdA 72 (1960/61), S. 23–35, hier S. 34 f. Vgl. auch Bertau [Anm. 69], S. 105, sowie Burkhard Kippenberg, Der Rhythmus im Minnesang. Eine Kritik der literar- und musikhistorischen Forschung mit einer Übersicht über die musikalischen Quellen (MTU 3), München 1962, S. 21 f. 106 Vgl. z. B. zur häufigen Ansetzung von Pausen bei Schirmer: Olive Sayce, Besprechung von Schirmer [Anm. 42], in: Medium Aevum 27 (1958), S. 30–33, hier S. 31; George Nordmeyer, Besprechung von Schirmer, in: JEGP 58 (1959), S. 475–479, hier S. 478. Schirmer selbst räumt später auch die Möglichkeit ein, einen Takt zu zerdehnen, statt eine Pause anzusetzen; vgl. Schirmer [Anm. 50], S. 40. Die Gefahr der »Willkür« beim Zählen von Takten sieht auch Neumann [Anm. 14], S. 379; vgl. auch Michael S. Batts, Numerical Structure in Medieval Literature, in: Werbow [Anm. 27], S. 93–121, hier S. 105–107; Hoffmann [Anm. 21], S. 100. 107 Vgl. Heinen [Anm. 27], S. 86. 108 Pickerodt-Uthleb [Anm. 19], S. 39. 109 Bertau [Anm. 69], S. 29. Fast unnötig, anzumerken, daß Bertau die Existenz klingender Kadenzen nirgends in Frage stellt. 110 Ebd., S. 54.
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sowohl für eine männlich als auch für eine weiblich endende Verszeile verwendet wird.111 Auch dann, wenn nur der Text überliefert ist, kann nach Olive Sayce die klingende Kadenz »be seen most clearly in metrical structures in which the cadence alternates«.112 Am Kadenzentausch kommt niemand vorbei, auch diejenigen nicht, die nur die sprachlich realisierten Hebungen zählen. Doch bei ihnen siegt wieder das Schema: Wagenknecht rechnet durchaus mit Kadenzentausch – »zumal zwischen 3wund 4m-Versen«,113 und bei Brunner kann man zu Ton II des Kürenbergers lesen: »statt dreihebiger können auch vierhebige An- und Abverse bzw. zweihebige Abverse stehen, statt weiblicher finden sich auch männliche Kadenzen, anstelle des vierhebigen Abverses am Strophenschluß finden sich auch dreihebige Abverse«.114 Als erfreulich dagegen ist zu notieren, daß man in einer neueren Einführung für Studium und Lehrpraxis zum Kadenzentausch im dritten Anvers dieses Kürenberger-Tons (vgl. in Kürenberges wıˆse MF 8,5 gegen soˆ laˆ du dıˆniu ougen geˆn MF 10,5)115 lesen kann: »Dies ist ein Beweis dafür, daß die klingende Kadenz hier tatsächlich einen Vierheber ausmacht und nicht etwa einen weiblichen Dreiheber!«116 Schließlich können auch Kadenzen in den seltenen sicheren mittelhochdeutschen Kontrafakturen zu provenzalischen oder altfranzösischen Liedern mit Hilfe überlieferter Melodien bestimmt werden. So zeigt die dem Lied ‘Ma joie premerainne’ des Guiot de Provins beigegebene Melodie, daß die weiblichen Kadenzen in Friedrichs von Hausen Kontrafaktur ‘Ich denke underwıˆlen’ als klingend zu werten sind.117
VI Im Zusammenhang mit der stumpfen Kadenz soll noch ein kurzer Blick auf den Alexandriner geworfen werden, dessen metrisch-rhythmisches Bild in der neueren deutschen Metrik ebenso kontrovers diskutiert wird wie jene Kadenz von der Mediävistik. Nicht nur in älteren Lehrbüchern wird er als Sechstakter dargestellt, wie Erwin Arndt angibt, der ihn als verdoppelten »Viertakter, der immer nur drei Hebungen sprachlich verwirklicht«, betrachtet.118 Auch heute noch ist die von Arndt 111
Vgl. Pickerodt-Uthleb [Anm. 19], S. 39. Olive Sayce, The Medieval German Lyric 1150–1300. The development of its themes and forms in their European context, Oxford 1982, S. 478. 113 Wagenknecht [Anm. 10], S. 56. 114 Brunner [Anm. 8], S. 196. 115 Zitiert nach: Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearbeitet von Hugo Moser und Helmut Tervooren, Bd. 1: Texte, 38., erneut revidierte Aufl. Mit einem Anhang: Das Budapester und Kremsmünsterer Fragment, Stuttgart 1988. 116 Taubert [Anm. 26], S. 97. Bedauerlich ist auf der anderen Seite, daß Taubert diesen »Beweis« nur für die »frühhöfische Epoche« gelten läßt, bei »allen hochhöfischen Strophen« jedoch, wie schon erwähnt, die deskriptive Methode empfiehlt. 117 Vgl. Räkel [Anm. 15], S. 72. 118 Erwin Arndt, Deutsche Verslehre. Ein Abriß, 12., durchges. Aufl., Berlin 1990, S. 163. Dieselbe Wertung erfährt der Vers bei Daniel Frey, Einführung in die deutsche Metrik mit Gedichtmodellen für Studierende und Deutschlehrende (UTB 1903), München 1996, S. 12 und 72.
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abgelehnte Ansicht verbreitet, wie die maßgebliche Metrik Christian Wagenknechts und eine neuere Einführung von Hans-Dieter Gelfert zeigen, die den Alexandriner als Sechstakter mit Zäsur nach der dritten Hebung bezeichnen.119 Als Verirrung, ja als Verhängnis geißelt Albertsen »das aus dem Viertaktevers inspirierte Umskandieren« des Verses, das er im 18. Jahrhundert verortet, wo man den Alexandriner »mit einer lächerlichen Zäsur in der Länge von zwei Silben mitten in jedem Vers versehen« habe.120 Allein das Zugeständnis einer Zäsur nach der dritten Hebung des angeblichen Sechstakters impliziert ja, daß der Sechserrahmen gesprengt wird und man wenigstens einen Siebentakter anzusetzen hätte. Von einer Umskandierung im 18. Jahrhundert kann zudem keine Rede sein, wenn man etwa die Anweisung zur Kenntnis nimmt, die Diederich von dem Werder in der Vorrede zu seiner Übersetzung von Tassos ‘Gerusalemme liberata’ (1626) an den Leser richtet: Er solle in der Mitte des Verses »mit dem lesen etwas innehalten«, damit der Vers mit seinem »gehörigen maß gelesen werden könne« und – das klingt wie eine vorweggenommene Absage an die modernen Zähler sprachlich realisierter Hebungen – »nit eben nach denen gezeichneten strichlein vnd puncten«.121 Solchermaßen historisch fundiert, sollte der Alexandriner mit Heusler wieder als »Achttakterlangzeile« oder verdoppelter Viertakter verstanden werden: A4s A4k(s), was auch aus dem 17. Jahrhundert stammende Melodien von Kirchenliedern wie ‘Nun danket alle Gott’ und ‘O Gott, du frommer Gott’ belegen.122 Ein Wandel im metrischen Verständnis des Alexandriners durch die Dichter scheint tatsächlich stattgefunden zu haben, wenn auch anders, als Albertsen es behauptet. Ursprünglich sei er ein »ungebrochener Sechstakter« gewesen, stellt Pretzel fest; im Barock habe sich die feste Zäsur eingestellt und den Vers dadurch zum Achttakter gewandelt.123 Und Mohr kommt zum Ergebnis, der Alexandriner sei solange kein ›Hexameter‹, »wie die Fuge, die An- und Abvers trennt, von den Dichtern streng beachtet wird; wenn das nicht geschieht, wird er zum Sechsheber mit einer gelegentlichen Zäsur in der Mitte«.124 Gliers Bedenken gegen eine schematische Festlegung der Taktpause (»da die syntaktische Gliederung einen solch regelmäßigen scharfen Einschnitt oft nicht erlaubt«) brauchen nicht dazu zu führen, »die rhythmisch neutrale Beschreibung (Hebungen) [. . .] vorzuziehen«,125 es genügt, sich bewußt zu halten, daß der Taktbegriff in der Metrik sich vom musikalischen Verständnis des Taktes darin unterscheidet, daß er nur »den etwa gleichen Zeitabstand von Hebung [. . .] zu Hebung«, »die ungefähre Gleichheit«126 bezeichnet. 119
Vgl. Wagenknecht [Anm. 10], S. 156; Hans-Dieter Gelfert, Einführung in die Verslehre (RUB 15037), Stuttgart 1998, S. 80. 120 Albertsen [Anm. 78], S. 78 und 79. 121 Vgl. Nicola Kaminski, EX BELLO ARS oder Ursprung der »Deutschen Poeterey« (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 205), Heidelberg 2004, S. 539 Anm. 314, wonach auch zitiert ist. 122 Heusler [Anm. 2], Bd. 3, S. 162 f. 123 Pretzel und Thomas [Anm. 71], Sp. 2480. 124 Mohr [Anm. 2], S. 806. 125 Paul und Glier [Anm. 4], S. 124. 126 Arndt [Anm. 118], S. 78 f. mit Anm. 2; vgl. auch Bertau [Anm. 69], S. 56.
Versus de despectu sapientis Ein Einblick in die lateinisch-deutsche Literaturszene um 1200* von Henrike Lähnemann
Die Handschrift Ms C 58 der Zentralbibliothek Zürich aus der Zeit um 1200 ist eine der großen Unbekannten in den Siglensammlungen germanistischer Editionen.1 Dabei handelt es sich um einen Glücksfall der Überlieferung: Eine umfangreiche, von einem einzigen Sammler und Schreiber angelegte und sorgfältig redigierte Handschrift, die Verse, Prosastücke und Glossen des späten 12. Jahrhunderts in ihrer Entstehungszeit festhält. Die deutschen Stücke sind keine Nachträge, sondern konsistent über 22 Quaternionen gemeinsam mit jeweils gattungsähnlichen lateinischen Texten niedergeschrieben. Die fünfte bis 22. Lage haben als Codex überlebt, aus den ausgetrennten ersten vier Lagen haben sich erst kürzlich zwei Doppelblätter und ein Einzelblatt wieder angefunden,2 so dass jetzt ein Kompendium von 190 Blättern Einblick * Eine Frühfassung dieses Aufsatzes wurde im Wintersemester 2005/06 im Oberseminar der Tübinger mediävistischen Abteilung präsentiert. Paul Sapplers, wie immer, scharfsinnige und philologische Anmerkungen ermutigten mich, dem Thema weiter nachzugehen. Ich widme ihm den Aufsatz in Dankbarkeit für mehr als neun Jahre kollegialer Nachbarschaft auf dem 4. Stock des Brecht-Baus. 1 Die Handschrift wird als Sigle in Ausgaben für althochdeutsche Glossen, Predigten, Zaubersprüche, Arzneibücher, Gebete, das ‘Summarium Heinrici’, althochdeutsche poetische Texte und ›Minnesangs Frühling‹ angeführt. Eine Übersicht über die deutschen Bestandteile der Handschrift und ihre Editionen findet sich im ›Marburger Repertorium des 13. Jahrhunderts‹ (http://www.mr1314.de/1282). Lateinische Bestandteile der Handschrift wurden von dem Zürcher Mittellateiner Jakob Werner 1905 veröffentlicht, der sich angesichts der schieren Masse der Klein- und Kleinsttexte – sein Verzeichnis zählt 381 Einzelstücke – auf nicht edierte Texte konzentrierte: Jakob Werner, Beiträge zur Kunde der lateinischen Literatur des Mittelalters, 2., durch einen Anhang vermehrte Ausg., Aarau 1905, S. 1–151, 197– 206. Neuere Ergänzungen zum lateinischen Bestand bei Jean-Yves Tilliette, Le sens et la composition du florile`ge de Zurich (Zentralbibliothek, ms. C 58). Hypothe`ses et propositions, in: Non recedet memoria eius. Beiträge zur lateinischen Philologie des Mittelalters im Gedenken an Jakob Werner (1861–1944), hg. von Peter Stotz, Bern 1995, S. 147–167. 2 Eine Veröffentlichung der neugefundenen Fragmente ist im Rahmen einer größeren Studie zum kulturgeschichtlichen Hintergrund und der Konzeption der Handschrift geplant. Zwei Doppelblätter finden sich als Aktendeckel für Einnahmen (A1) und Ausgaben (A2) für das Rechnungsjahr 1585/86 des Paradieseramts im Stadtarchiv Schaffhausen (StA Schaffhausen, Paradieseramt A1/2); sie wurden von den städtischen Buchbindern nach der Reformation aus Codices des aufgehobenen Klosters Paradies angefertigt. Ein Einzelblatt mit einem Textstück des ‘Dragmaticon’ Wilhelms von Conches liegt in der Zentralbibliothek Zürich unter der Signatur Ms Z XIV 26 Nr. 11. Ich konnte die Schaffhauser Blätter 2005 dank eines Nachtrags im Handexemplar von Leo Cunibert Mohlberg, Mittelalterliche Handschriften (Katalog der Handschriften der Zentralbibliothek Zürich I), Zürich 1952, auf S. 354 f. (Nr. 88) der Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek Zürich ausfindig machen. Marlies Stähli fand im November 2008 das abgelöste Zürcher Fragment, als sie einer weiteren Spur von
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in die Aufzeichnungspraxis eines alemannischen Klerikers während seiner Studien erlaubt. Gerade diese Bandbreite an deutschen Texten, die eine einfache Kategorisierung erschwert, zusammen mit der pragmatischen Natur der meisten Einträge, hat verhindert, dass sie als germanistische Handschrift wahrgenommen wurde. Die über die ganze Länge der Handschrift verteilten 2464 Zeilen mit deutschen Anteilen machen immerhin etwa 4% des Gesamttextes von 65282 erhaltenen Zeilen aus. Während die deutschen Teile der kurz danach begonnenen ‘Carmina Burana’Handschrift, die Überlieferungsträger für ein vergleichbar großes Textkorpus ist, schon längst mit einer Vielzahl von kultur- und literaturwissenschaftlichen Ansätzen im Kontext der Anlage der Handschrift gelesen und auf die literarischen Interessen des frühen 13. Jahrhunderts untersucht wurden, sind die volkssprachigen Texte des Ms C 58 bislang nur punktuell wahrgenommen worden.3 Meine als Reverenz an den Philologen, Alemannen und scharfsinnigen Kombinator Paul Sappler formulierte These lautet: Die deutschen Textsplitter sind als Bestandteil eines sprachübergreifenden Sammelinteresses des gelehrten alemannischen Redaktors nur im Zusammenhang des gesamten handschriftlichen Kontextes zu verstehen. Ich möchte das an einem das Festschriftgenre herausfordernden Textabschnitt veranschaulichen, in dem der Redaktor unter dem Titel Versus de despectu sapientis in lateinischer und deutscher Vers- und Prosaform den Nachweis führt, dass der Weise nicht verachtet werden darf. In diesem Textabschnitt ist ein Absatz mit deutschen Reimpaarversen enthalten, die in das germanistische Bewusstsein mit der 36. Auflage von ›Minnesangs Frühling‹ traten, wo sie als ›Namenlos I-III‹ seitdem den Auftakt bilden.4 Der Textrahmen, den
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Mohlbergs handschriftlichen Zusätzen zum Katalog nachging; ein Digitalisat der Seite mit der Schemazeichnung der Wasserströme der Erde ist über die Kartensammlung der Zentralbibliothek abrufbar (http://www.zb.uzh.ch, Schlagwort ›mappa mundi‹). Ich danke der Zentralbibliothek Zürich, insbesondere Marlies Stähli, und dem Stadtarchiv Schaffhausen für die großzügige Hilfe bei der Auffindung und Identifikation, und dem Deutschen Seminar der Universität Zürich für die Gastprofessur im Sommersemester 2005, die diese Handschriftenarbeit erst ermöglichte. Vgl. etwa Udo Kühne, Deutsch und Latein als Sprachen der Lyrik in den ‘Carmina Burana’, in: PBB 122 (2000), S. 57–73, hier S. 57, und Burghart Wachinger, Deutsche und lateinische Liebeslieder. Zu den deutschen Strophen der Carmina Burana, in: Der deutsche Minnesang, hg. von Hans Fromm, Bd. 2, Darmstadt 1985, S. 275–308. Dass die Zürcher Handschrift im gleichen Zusammenhang gelesen werden müsste, deutet Franz-Josef Holznagel, Formen der Überlieferung deutschsprachiger Lyrik von den Anfängen bis zum 16. Jahrhundert, in: Neophilologus 90 (2006), S. 355–381, hier S. 357 und Anm. 8, 16, 18, an. Auch der Zusammenhang, in dem Ernst Hellgardt, Lateinisch-deutsche Textensembles in Handschriften des 12. Jahrhunderts, in: Latein und Volkssprache im deutschen Mittelalter 1100–1500. Regensburger Colloquium 1988, hg. von Nikolaus Henkel und Nigel F. Palmer, Tübingen 1992, S. 19– 31, hier S. 30 f., die Handschrift erwähnt, deutet in diese Richtung. Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearb. von Hugo Moser und Helmut Tervooren, 36., neugest. und erw. Aufl., Bd. I: Texte, Stuttgart 1975, S. 19; Bd. II: Editionsprinzipien, Melodien, Handschriften, Erläuterungen, Stuttgart 1977, S. 62, 174 (Abb. 15). Der erste Spruch eröffnet als Nr. 1 die Anthologie ›Lyrik des frühen und hohen Mittelalters‹, hg. und komm. von Ingrid Kasten, übers. von Margherita Kuhn (Bibliothek des Mittelalters 3),
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Karl Lachmann und Moriz Haupt 1857 mit Ich bin dıˆn, du bist mıˆn und Hartmann von Aue gesteckt hatten, war trotz sich wandelnder Editionsgrundsätze über die Neuauflagen von Vogt und Carl von Kraus (dessen Zettelkästen der Tübinger mediävistischen Abteilung verblieben) weitgehend konstant geblieben, bis Moser und Tervooren 1975 eine grundlegende Neubearbeitung präsentierten. Dazu gehörte auch die Erweiterung um Streuüberlieferung, für die der Codex Ms C 58 den frühesten Textzeugen darstellt. In ›Minnesangs Frühling‹ ist der Text aufgeteilt in die Sprüche I Swer an dem maentage dar gaˆt, II Tief vurt truobe und schoˆne wıˆphuore und III Der zi chilchun gaˆt.5 Burghart Wachinger wies in seiner Rezension der Ausgabe darauf hin, dass der neue Auftakt mit »zwei Sprüchen vom falschen Anfang und von wıˆphuore« nicht besonderes Feingefühl für die Konzeption der Sammlung verrate.6 In der Tat lässt sich kaum ein größerer Gegensatz zwischen der Verschlagwortung des Redaktors und dem Titel ›Minnesangs Frühling‹ denken. Bevor ich diesen Spezialfall diskutiere, werde ich kurz das Handschriftenprofil des Codex und die Stellung der deutschen Bestandteile darin skizzieren.
1. Die Anlage der Handschrift ZBZ Ms C 58 Ein Blick auf die Handschrift (Abb. 1) zeigt bereits, dass es sich um eine sorgfältig redigierte, mit Rubriken und weiteren Gliederungssignalen versehene Handschrift handelt. Karin Schneider spricht von einer Schrift, die die klare Lesbarkeit einer Buchschrift mit der zügigen Schreibweise einer Urkundenschrift vereine. Aus der Verbindung ansatzweise noch erkennbarer gotischer Brechung mit ›modernen‹ Elementen wie stark ausgezogenen Oberlängen beim z oder langen Unterschwüngen beim geschwänzten e entsteht eine unmittelbar wiedererkennbare Schriftform.7 Obwohl die Anlage der Handschrift (zwei Spalten a` 34 Zeilen) konstant bleibt, scheinen die Texte über einen längeren Zeitraum eingetragen. Einige Lieder spiegeln direkt die Situation eines nach Frankreich zum Studium aufbrechenden deutschen Klerikers:
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Frankfurt a. M. 1995, S. 10 f. Dank ›Minnesangs Frühling‹ gelangte die Handschrift auch in die Ausstellung zum Codex Manesse und wurde dort im Ausstellungskatalog besprochen, mit ausdrücklichem Hinweis auf den Zusammenhang in der Handschrift und die Überschrift: Lothar Voetz, Überlieferungsformen mittelhochdeutscher Lyrik, G5: Zürcher Sammelhandschrift ›Namenlos I-III‹, in: Codex Manesse. Die Große Heidelberger Liederhandschrift, hg. von Elmar Mittler und Wilfried Werner, Heidelberg 1988, S. 239 ff. und S. 549 Tafel mit Abbildung von f. 73v. Einteilung und Darbietung in Reimpaarversen auch schon in der Erstausgabe des Textes bei Wilhelm Wackernagel, Altdeutsches Lesebuch, Basel 1859, S. 215, der die Handschrift für die Predigtausgabe gründlich studiert hatte; er gab zuerst nur Spruch I und III an und nahm Spruch II erst in die späteren Auflagen auf, nachdem er ihn in den Anmerkungen zu Altdeutsche Predigten und Gebete aus Handschriften, Basel 1876, auf S. 254, veröffentlicht hatte. Burghart Wachinger, Des Minnesangs Frühling, bearb. von Hugo Moser und Helmut Tervooren, 36. Aufl., 2 Bde., in: PBB 102 (1980), S. 259–271. Karin Schneider, Gotische Schriften in deutscher Sprache, I. Vom späten 12. Jahrhundert bis um 1300, Wiesbaden 1987, Textbd., S. 23, 62 f., Tafelbd., Abb. 26. Auch alle Lagenziffern, Korrekturen und Randbemerkungen stammen vom selben Schreiber.
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Vale! dulcis patria! suavis Suevia! Salve! dilecta Francia! philosophorum curia! Suscipe discipulum in te peregrinum! Quem post dierum circulum remittes Socratinum.8
Die aufgenommenen Texte zeigen durchaus das Bemühen, sokratische Weisheit zu sammeln – in der Form, wie sie im 12. Jahrhundert auf den Schulen verfügbar war. So verbindet sich das Interesse an eigentlichen Schultexten wie Grammatikmerkversen, an geschichtlichen Notizen wie zahlreichen Epitaphien, von Hektor und Achill9 bis zu Anselm von Laon,10 Abt Suger von Denis11 und Abaelard,12 mit allem, was sich nach Maß und Zahl berichten und didaktisch aufbereiten lässt, seien es misogyne Aufzählungen,13 Silbenrätsel (z. B. f. 14v), liturgische Merkverse oder lateinische Quantitätenregeln. Zwischen diesen unzähligen Klein- und Kleinstnotizen findet sich ein Querschnitt durch alle vier Fakultäten des Lehrbetriebs von den Artes über die Medizin und Jurisprudenz bis hin zur Theologie: juristische Vorlesungsmitschriften, medizinische Traktate und Predigtentwürfe. Offensichtlich brachte ein in der Francia ausgebildeter Kleriker von dort ein breites Arsenal an Texten mit, wie sie an den Schulen von Poitiers und Orleans im Umlauf waren; nicht zufällig sind darunter Texte, die in Varianten auch in den ‘Carmina Burana’ auftauchen, etwa die so genannte Vagantenbeichte des Archipoeta Estuans intrinsecus oder eine Kurzfassung des Schneekindschwanks.14 Deutlich ist aber, dass es sich um einen alemannischen Muttersprachler wohl aus der Schaffhauser Gegend handelt, denn alle nichtlateinischen Einträge sind auf Deutsch – allerdings mit Schreibunsicherheiten. Hier zeigt sich nicht ein Sprach-, sondern ein Verschriftlichungsproblem.15 Am Ende der ‘Summa cuiusdam magistri 8
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F. 148v, Werner, Nr. 343, vgl. auch das vorhergehende Lied, besprochen bei Wilhelm Wakkernagel, Vor Liebe fressen, in: ZfdA 6 (1848), S. 294–297. F. 4rII5–19, Werner, Nr. 22: Hac premitur tumba Troie˛ fortissima turris / Hector [. . .] bzw. f. 4rII20–30, Werner, Nr. 23: Pelides ego sum, Thetidis notissima proles [. . .] † 15. Juli 1117, f. 8rI25–II6, Werner, Nr. 83. † 20. Januar 1152, f. 8vI30–II12, Werner, Nr. 94: Hic iacet e˛cclesie˛ flos, gemma, corona, columpna, von Simon Che`vre d’Or. † 21. April 1142, f. 5vI9–17, Werner, Nr. 50: Epitaphium Petri Baiolardi a semet conpositum. Von dem Grab wird gesagt, dass nach Art des Minnetodes auch Heloise († 11. Mai 1164) dort geistig gestorben sei und das Ganze als Doppelgrab betrachtet werden solle. Vgl. f. 6rII22–6vI24, Werner, Nr. 67 und f. 6vI25–II20, Werner, Nr. 70, zwei jeweils mit Weiberlisten verbundene Texte. Diese Sequenz steht zwischen zwei Epitaphienreihen (Nr. 65–72 und Nr. 83–94). F. 8rII33–8vI2, Werner, Nr. 90. Vgl. dazu Burghart Wachinger, Kleinstformen der Literatur. Sprachgestalt − Gebrauch − Literaturgeschichte, in: Kleinstformen der Literatur, hg. von Walter Haug und Burghart Wachinger (Fortuna vitrea 14), Tübingen 1995, S. 1–37, hier S. 3. Vgl. etwa Wackernagels Liste in: Altdeutsche Predigten [Anm. 5], S. 255 zur Schreibung der Endsilbe -schaft: Nebeneinander stehen geselleschat gienoschpat chvnneschat trvtscaph herscaph wirtscapht. Ähnliches bemerkt Schneider [Anm. 7], S. 63, zur f-Schreibung. Die Predigten zeigen eine altertümlichere Orthographie, das Arzneibuch eine etwas modernere, aber die deutschen Partien bieten insgesamt einen deutlichen Anhaltspunkt für die Lokalisierung auf das alemannische Gebiet wegen der durchgehenden vollen Endsilben, der Endungen
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super decretis’, einer Vorlesungsnachschrift zum kanonischen Recht, wird nach dem Explizit auch eine Appellationsformel mit dem Beispiel Schaffhausen erwähnt.16 Eine parallele Formel findet sich zwar direkt davor mit dem Ortsnamen Magdeburg,17 und in anderen Texten werden die Pariser und die Konstanzer Münze, Poitiers und Orle´ans genannt, aber die Mehrzahl der Regionalhinweise deuten in den Südwesten. Da der Anfang der Handschrift fehlt und der moderne Pappband keine Rückschlüsse auf die Provenienz erlaubt, bleibt eine weitere Eingrenzung innerhalb des alemannischen Sprachraums ebenso wie die genauere Datierung spekulativ.18 Den klarsten terminus post quem geben die beiden Schlusstexte der Handschrift, Sequenzen auf Thomas von Canterbury, die seine 1173 erfolgte Kanonisation voraussetzen.19 Einige Exzerpte, so aus dem auf 1192/93 datierbaren ‘Verbum abbreviatum’ des Petrus Cantor und aus dem ‘Graecismus’ des 1212 verstorbenen Eberhards von Be´thune,20 weisen auf noch spätere Daten hin, aber die kurzen Exzerpte könnten auch auf Vorformen der Texte zurückgehen. Der salomonische Vorschlag von Werner, den Beginn der Sammlung in das 12. und ihr Ende in das 13. Jahrhundert zu setzen, gibt eine Vorstellung vom zeitlichen Rahmen und macht auf die notwendige Entstehungsdauer aufmerksam.21 Erst ein längerer Zeitraum macht die Fülle der verarbeiteten Texte und deren Anordnung plausibel. Es lassen sich immer wieder einzeltextübergreifende Gruppen erkennen, bei denen nicht nur Verwandtes zusammengestellt, sondern auch auf eine solche Einheit hin exzerpiert und redigiert wurde. Wenn andere Textstücke, die ebenso gut in eine solche Einheit passen würden, erst viel später erscheinen, z. B. ein zweiter Block an deutschen Predigten, von dem ersten durch 80 Blätter getrennt, zeigt das eine sich länger erstreckende Sammeltätigkeit bei konstanten Interessen. Wenn der Schreiber-Redaktor eine zweite Vorlage für einen bereits aufgenommenen Text fand, korrigierte er danach. Sein Interesse galt dabei nicht einer philologischen Rekonstruktion, sondern einer Anverwandlung an seine Sammelinteressen. Autorennamen werden nur sehr sporadisch gegeben; nicht die Herkunft der Stücke, sondern
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der 2. Pers. Plur. auf -ent und der a-Formen für gan und stan. Die bis in die Gegenwart kolportierte Herkunft aus St. Gallen ist ein auf Paul Piper, Aus Sanct Galler Handschriften III, in: ZfdPh 13 (1882), S. 445–479, hier S. 455 zurückgehender Fehlläufer, den Werner [Anm. 1], S. 197, korrigierte. F. 102v, Werner, Nr. 289: Ego. W. scaphusensis e˛cclesie˛ professus. apello te. A. in presentiam domini apostolici. in festo luce˛ evangeliste˛. quod proxime occurrit de his et aliis obiciendis mihi responsurum, abgedruckt bei Elias Steinmeyer und Eduard Sievers, Die althochdeutschen Glossen, Bd. 4, Berlin 1898 (Nachdr. Dublin/Zürich 1969), S. 674. Direkt vor dem Explizit: Ego H. sancte magdeburgensis ecclesie archiepiscopus. N. capellanus sancti iohannis [. . .]. Die Handschrift ist von Ernst Hellgardt [Anm. 3] für seinen Überblick über deutsche Handschriften des 12. Jahrhunderts, vom ›Marburger Repertorium‹ [Anm. 1] für das 13. Jahrhundert in Anspruch genommen worden. Ermordet 1170, kanonisiert 1173. Ein Spruch (304,1) scheint sich auf Kaiser Friedrich I. zu beziehen, der 1190 starb. Hinweis von Darko Senekovic, zitiert bei Tilliette [Anm. 1], S. 150 Anm. 7. Von Werner [Anm. 1] schon verzeichnet: Nr. 10 (f. 2rII4 ff.). Werner [Anm. 1], S. 197.
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ihre Themen interessieren. Das in den gelehrten Zirkeln Frankreichs umlaufende populäre Textmaterial wurde auf seine Integrationsfähigkeit in ein praxistaugliches, moraltheologisch gewichtetes Kompendium hin gesichtet. Die Sammlung hat schon mehrere Katalogisierungsversuche scheitern lassen. Selbst eine so grundlegende Gliederung wie die des Marburger Repertoriums in einen ersten Artes- und einen zweiten theologischen Teil weist höchstens auf eine Interessensverlagerung hin und bildet keine eigentliche Struktur ab. Das ist ein grundsätzliches Problem: ein ›Vademecum‹ kann nicht systematisch, sondern nur von der redaktionell-intentionalen Strukturierung her durchdrungen werden. Gerade die deutschsprachigen Elemente machen durch ihr stellenweise verdichtetes Auftreten deutlich, wie solche Einheiten möglicherweise gedacht waren.
2. Einbindung und Funktion der deutschen Stücke An zwölf Stellen der Handschrift finden sich deutsche Einsprengsel oder Texte, die sich nach den ersten Einträgen drei größeren Themenblöcken zuordnen lassen. f. 2va11 f. 36vII30 Naturkundlicher Teil f. 44rII24–27/ 57vI6–8 f. 44vI1–47rII34 f. 47rII19–23 f. 47vI1–51vII12 f. 58va/59vb
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Drei Interlinearglossen22 Lateinischer Leoniner mit deutschen Reimwörtern23 Glossen zu den ‘Versus de piscibus’24 ‘Arzenıˆbuoch Ipocratis’25 Spruch ‘Contra rehin’26 Pflanzenkapitel aus dem ‘Summarium Heinrici’27 Sieben Kontextglossen28
Werner, Nr. 10; Elias Steinmeyer und Eduard Sievers, Die althochdeutschen Glossen (StSG), Bd. 4, Berlin 1898 (Nachdr. Dublin/Zürich 1969), Nr. DCCCCXXXIV B, S. 35 Anm. 10. Werner, Nr. 174; Wackernagel [Anm. 15], S. 253. Werner, Nr. 228; Steinmeyer und Sievers [Anm. 22], Bd. 5 (1922): Ergänzungen und Untersuchungen, bearb. von Elias Steinmeyer, S. 46. Vgl. dazu Lothar Voetz, Vergessene Glossen einer Züricher Handschrift, in: Rudolf Schützeichel, Addenda und Corrigenda (II) zur althochdeutschen Glossensammlung (Studien zum Althochdeutschen 5), Göttingen 1985, S. 124–126. Werner, Nr. 230; Denkmäler deutscher Prosa des 11. und 12. Jahrhunderts, hg. von Friedrich Wilhelm, Abteilung A: Text (Germanistische Bücherei 3); Abteilung B: Kommentar (Münchener Texte 8), München 1914/16 (Nachdruck in einem Band München 1960), Nr. XXV (‘Züricher Arzeneibuch’), S. 53–64, 137–154. Werner, Nr. 230; Denkmäler deutscher Prosa aus dem VIII.-XII. Jahrhundert (MSD), hg. von Karl Müllenhoff und Wilhelm Scherer, Bd. 2, Berlin/Zürich 1964, S. 302 f.; Althochdeutsche poetische Texte, hg. von Karl A. Wipf, Stuttgart 1992, Nr. VIII 2.6, S. 72 f., 279. Werner, Nr. 231; Summarium Heinrici, hg. von Reiner Hildebrandt, Bd. 1: Textkritische Ausgabe der ersten Fassung Buch I-X (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der Germanischen Völker 61 [185]), Berlin/New York 1974, S. XLI, LVI, 170–207. Werner, Nr. 232; Steinmeyer und Sievers [Anm. 24], Bd. 5, S. 46 f.
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Moraldidaktischer Teil f. 73vI24–31 Deutsche Sprüche29 rI5–11 f. 78 ‘Züricher Gebet’30 Predigten f. 105vI24–114vI2 f. 182rI34–183vI14
Predigten Predigten31
Bei den ersten beiden Einträgen handelt es sich um punktuelle Ergänzungen des lateinischen Textes: eine deutsche Glossierungen der drei Bedeutungen von glis (Maus, Lehmboden oder Lattich) und zwei deutsche Reimwörter in einem lateinischen Leoniner. Am Ende stehen die fast zwanzig Seiten umfassenden deutschen Predigten. Die Texte dazwischen konzentrieren sich in zwei Bereichen mit jeweils deutlich ausgeprägten Sammelschwerpunkten. Die erste Gruppe findet sich in einem Abschnitt mit vorwiegend naturkundlichen und medizinischen Exzerpten, der von f. 44 bis 62 geht: die Fischglossierungen (doppelt, am Anfang und Ende des Abschnitts, eingetragen), das Arzneibuch, der ›Zauberspruch‹ gegen Pferdelähme, die Pflanzenkapitel aus dem ‘Summarium Heinrici’ und die Glossen zu termini technici in einem auf Isidor beruhenden Wörterbuch. Das zeigt die Spannweite der deutschen Textteile: Deutsch wirkt als Verständnishilfe, als magisch wirksame Sprache und als praxisbezogene Ergänzung zum gelehrten Wissen. In allen Fällen ist es für die deutschen Texte möglich, Korrespondenzen zu den umgebenden lateinischen Texten zu finden, sei es in direktem Bezug wie bei den Glossen oder in der Abfolge gleicher Gattungsvertreter wie im Spruch gegen Pferdelähme, der zwischen verwandten lateinischen Formeln steht. Dieses intentional geeinte Spektrum lateinisch-deutscher Sachinformationen im naturkundlichen Bereich macht auch die zweite, kleinere Gruppe verständlich: Die deutschen Sprüche und das ‘Zürcher Gebet’ stehen in einer Folge von moraldidaktischen Exzerpten, die auf einen rein lateinischen Grammatikteil (f. 63–71) folgt, dessen Hauptbestandteil eine redigierte Prisciangrammatik (f. 64vI31–71vII34) ist. An dem Umschlagspunkt von Grammatik zu Ethik kann man dem Redaktor direkt bei der Arbeitsweise zuschauen, die u. a. Zeichnungen als Glossen umfasst. Bei der Prisciangrammatik lagen dem Schreiber offensichtlich zwei Versionen des Textes vor, die er ineinander arbeitete. Als er bemerkte, dass er aus der Handschrift der Version A versehentlich eine Passage abgeschrieben hatte, die er nach der Version B bereits an anderer Stelle eingefügt hatte, strich er den doppelten Text und vermerkte mit einem, wenn nicht selbst verfassten, dann jedenfalls passend gefundenen Vers omne prius dictum non curres denuo dictum. Sonst fügte er Varianten als Interlinearoder Marginalglossen ein; als er eine Information zur Königin Semiramis nachtragen wollte, schrieb er über ihren Namen im Text ein Merkzeichen und markierte die 29 30
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Werner, Nr. 248; 36Minnesangs Frühling [Anm. 4], Namenlos I-III. Werner, Nr. 287; Wilhelm [Anm. 25], Nr. XXVI, S. 56 und 153 f.; Wackernagel [Anm. 16], Nr. 75, S. 216, 253 f., 285. Werner, Nr. 291 und 383; Wackernagel [Anm. 15], Nr. I-XIII, S. 3–32.
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Stelle am Rand außerdem durch ein Zeichen, das einen in einen Frauenkopf abgewandeltes Nota-Zeichen darstellt (f. 71v). Interlineares und marginales Merkzeichen werden dann am unteren Rand wiederholt und daneben in der trichterförmiger Zierform, wie sie sonst in Urkunden begegnet, die Zusatzinformation über die Herrschaft der Semiramis nachgeliefert. Diese Seite zeigt deutlich, wie der Redaktor mit der von ihm angelegten Handschrift arbeitete: Die Texte werden nicht in kanonischer Unberührtheit belassen, sondern als work in progress betrachtet.
3. Das moraldidaktische Umfeld der Versus de despectu sapientis Das neue Themenfeld Moraldidaxe wird auf f. 72r durch ein Beda zugeschriebenes Gedicht über die Zeichen des Jüngsten Gerichts eröffnet.32 Nach der Bitte um Gottes Beistand für den Leser,33 folgt eine Sammlung von 57 Versen Ex libro Persii Flacci satyrarum. Während hier mit dem ex der eklektische Charakter des Textgebildes betont wird, stellt die folgende Überschrift Versus de despectu sapientis den nächsten Textblock im Gegenteil als Einheit vor. Der Zwischentitel ist durch die rote Unterstreichung und die für versus und sapientis verwendeten Auszeichnungsschrift stärker als üblich gliedernd determiniert. Bei den nächsten als versus gekennzeichneten Gedichten, Epigrammen über die Reden Cäsars und Augustus’ vor dem römischen Senat,34 sind die Überschriften einfach als weitere Zeile an die vorangehenden Gedichte angehängt; Majuskeln begegnen sonst eher für abschließendes amen.35 Der Text ist also als Einheit herausgehoben, die nach dem Usus der Handschrift bis zur nächsten roten Initiale reicht. Innerhalb des Textblocks werden die lateinischen Verse, die durch eine durch die Initiale gezogene rote Linie verbunden sind, abgesetzt zum einen von der eingeschobenen Prosaerklärung, die in meinem Abdruck bei Z. 5 beginnt, zum anderen von dem deutschen Text. Da das für die ganze Handschrift einheitliche zweispaltige Layout genau darauf berechnet ist, Hexameter ohne Zeilenumbruch anzuordnen, greift der Schreiber für andere Texteinheiten zur Gliederung durch Punkte und Initialen, um ohne Layoutprobleme den Text fortlaufend schreiben zu können. Diese Anordnung markiert also nicht nur Prosa, sondern wird für alle anderen Versmaße gewählt, auch etwa für die schon erwähnten Vagantenstrophen.36 In den deutschen Versen wird der Beginn von Der zi chilcun gat durch eine rote Initiale im fortlaufen32 33
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F. 72rI1–73rI17; Werner, Nr. 242. Der erste Vers fehlt. Cf. f. 73rI18–19, sis/t deus omnipotens tutor fautorque legenti und ein Vers eines Gesprächs zwischen rex und clericus. F. 74vI31–36; Werner, Nr. 268 Versus Iulii Cesaris contra senatum und Werner, Nr. 269 Versus Augusti Cesaris ad senatum, ne deificaretur. Die nächsten Majuskeln finden sich erst bei dem Epitaph für Adam (von St. Victor) f. 74rI27–30. Einen Sonderfall stellen die extrem kurzversigen Hymnenstrophen dar, bei denen der Schreiber mit der graphischen Darstellung der Endreime und der Anordnung von zwei Versen jeweils in einer Zeile experimentiert, vgl. Nr. 384, f. 183v, aber das nach kurzem wieder unterlässt. Zum Layout volkssprachiger Texteinschübe im lateinischen Kontext vgl. Nigel F. Palmer, Manuscripts for Reading: The Material Evidence for the Use of Manuscripts Con-
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den Text herausgehoben, der Beginn von Tif furt trvbe durch eine Majuskel nach Punkt. Das abschließende Sver da wirt virteilt wird durch eine Majuskel am Zeilenbeginn etwas von dem dritten Spruch abgerückt und dadurch als Zusammenfassung markiert. Die Reimbrechung wird durch die Punkte durchgängig gekennzeichnet bis auf das zweite Reimpaar in Spruch I und III, das jeweils als Langzeile durchgeschrieben ist, vielleicht weil die Reimbindung dort am schwächsten ist (wocun / ungemacher bzw. tage / rescagin).37 versus de despectu sapientis.
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Ingenium quondam fuerat pretiosius auro. Sed modo barbaries grandis, habere nichil. Ipse licet uenias musis [doctrinis] comitatus, Homere Si nichil adtuleris, ibis, Homere, foras.
Quellen/Parallelen/Textabweichungen Werner Nr. 245 1,2 Ovid Amores 1 pretiosior
III 8,2 f.
3,4 Ovid Art. am. II 279 f. 3 venas, Glosse doctrinis zu musis
Sic est sensus: Potentes huius seculi non curant de sapientia, et si aurum aut munera deportantur eis, cito munera recipiunt et sapientia foras eicitur. 10
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Multa licet sapias, sine re nullus eris. Et genus et uirtus, nisi cum re, uilior alga est. Et genus et formam regina peccunia donat. Virtus nobilitat animum; uirtute remota Migrat in exilium nobilitatis honos. Sver an dem me˛ntage dar gat, da er din fvz lat, deme iz alle die wocun dezst ungemacher.
Werner Nr. 246 10 Vitalis v. Blois: Geta 16 11 Horaz Satiren II 5,8. 12 Horaz Epistulae
I 6,37.
Werner Nr. 247 13,14 Florilegium Gottingense 203 = Werner Nr. 167, vgl. Freidank 54,6 f. Werner Nr. 248
Tif furt trvbe und schone wiphurre, sweme dar wirt ze gach, den geruit iz sa. Der zi chilcun gat vnd ane rve da stat, der wirt zeme ivngistime tage ane wafı´n rescagin. Sver da wirt virteilt, der het imir leit.
23 vgl. Herger
IV,4 (MF 28,34).
taining Middle High German Narrative Verse, in: Orality and Literacy in the Middle Ages. FS Green, hg. von Marc Chinca und Christopher Young, Turnhout 2005, S. 67–102; die Zürcher Handschrift wird als Nr. 11 auf S. 94 erwähnt. Diplomatischer Abdruck (keine u /-v-Normalisierung); Abkürzungen stillschweigend aufgelöst; Interpunktion eingefügt und Verse und Sprüche abgesetzt.
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(‘Ein Gedicht über die Verachtung des Weisen: Geist war einst wertvoller als Gold, eine große Barbarei dagegen, keinen zu haben. Selbst wenn du von den Musen [d. h. den Lehren] begleitet kämst, Homer, musst du, (5) wenn du nichts gebracht hast, Homer, hinaus gehen. Das bedeutet folgendes: Die Mächtigen dieser Welt kümmern sich nicht um die Weisheit, und wenn ihnen Gold oder Gaben gebracht werden, nehmen sie schnell die Gaben entgegen, und die Weisheit wird hinaus geworfen. (10) Auch wenn du vieles weißt, ohne Habe wirst du ein Nichts sein. Adel und Tugend, wenn nicht mit Vermögen, ist verächtlicher als Algengewächs. Adel und Gestalt gibt als Königin das Vermögen. Tugend adelt die Seele; wenn es an Tugend mangelt, geht die Ehre des Adels in die Fremde. (15) Wer montags dorthin geht, wo er seinen Fuß lässt, dem geht es die ganze Woche um so schlechter. Eine tiefe, trübe Furt (20) und Hurerei mit schönen Frauen: wer sich übereilt darein stürzt, den gereut es sogleich. Wer zur Kirche geht und dort ohne Reue steht, (25) der wird am Jüngsten Tag waffenlos erschlagen. Wer dort verurteilt wird, der hat ewiges Weh.’)
Der lateinische Text besteht aus sprichwortartigen Einzel- oder Doppelversen nach Art eines thematischen Florilegiums: das erste Textstück bilden zwei ovidianische Distichen, während der nächste Versabschnitt zwei horazische Satirenverse als Beweis für einen Pentameter aus der Komödie ‘Geta’ präsentiert, dem noch ein DistichonSprichwort folgt.38 Den Text eröffnet eine Klage aus den ‘Amores’, dass die Geliebte einen Nebenbuhler bevorzuge, der nur Geld statt Grips habe.39 Im Gegensatz von quondam (einst) und modo (jetzt) wird bei Ovid von dem Sprecher-Ich der Zeitverfall komisch bejammert. Es ist ein paralleles Sprecher-Ich in der ‘Ars amatoria’, das sich zu der Behauptung versteigt, dass selbst Homer samt den neuen Musen heutzutage allein durch Kunst keinen Erfolg haben würde.40 In einem Teil der mittelalterlichen Tradition wird Homer wegen der Begleitung der Musen durch Apoll ersetzt, hier nimmt der Redaktor aber durch die Interlinearglosse doctrinis zu musis eine andere Ersetzung bzw. Erklärung vor: Homer wird nicht als der Dichter, sondern als der Weise präsentiert, der mit Lehren erscheint. Durch die Zusammenstellung wird die Liebeswerbung ganz ausgeblendet, ebenso das eigentlich komische Sprecher-Ich mit seiner Jammerei, die in der mittelalterlichen Ovid-Lektüre auch kritisiert wurde. Stattdessen wird auf den Gegensatz zwischen Geld und Geist abgehoben, der geistlich gesehen wird. Das kommt erst punktuell zum Tragen durch die Glosse im dritten Vers und wird dann unmissverständlich durch die Prosakommentierung markiert: Sic est sensus. Bei diesem erklärenden Ersetzungsprozess werden die Gewichte subtil verschoben. Die namenlosen Gegner des verachteten Liebhabers und Dichters werden die poten38
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Die Aufteilung bei Werner folgt den verschiedenen Quellbereichen: Nr. 245 umfasst die beiden Distichen aus Ovid mit ihrer Prosaerläuterung, Nr. 246 proverbiell gebrauchte Einzelverse und Nr. 247 den deutschen Text. Das pretiosior statt pretiosus der Handschrift geht wohl auf eine schlecht lesbare Abkürzung zurück; die Unsicherheit des Schreibers zeigt sich auch darin, dass das t aus c verbessert ist. Ipse licet ueniat Musis comitatus Apollo; si nil attuleris, ibis, Homere, foras. Vgl. Deutsches Sprichwörter-Lexikon. Ein Hausschatz für das deutsche Volk, hg. von Karl Friedrich Wilhelm Wander, Bd. 1, Leipzig 1867, s. v. Geld, Nr. 715 (›Hast du Geld, so setz’ dich nieder, hast du keins, so scher’ dich wieder.‹) und Geschenk, Nr. 37 (›Geschenke machen Gelenke‹).
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tes huius seculi; hinter dem klugen Dichter Homer, der verachtet wird, steht als Instanz die Weisheit selbst, die wie er auf die Straße gesetzt wird: sapientia foras eicitur. Der Gegensatz von damals und jetzt aus der antiken Dichtung wird auf eine geistliche Zeitstruktur hin transparent gemacht: Das hier und jetzt liegt bei den Mächtigen dieser Zeit und Welt, die die Gegenmacht zum Reich Gottes repräsentieren.41 In dieser von dem Gegensatz von geistlich und weltlich bestimmten Denkwelt kommen die Weisen mit ihren Lehren und finden kein Gehör. Die Verachtung des Weisen bedeutet damit nicht schlicht mangelndes Kunstverständnis des Geldadels, sondern ein viel bedrohlicheres Phänomen: Mit der Weisheit werfen die Mächtigen den Weisen als Vertreter der Lehren und des Reiches Gottes hinaus und verstellen sich damit den Zugang zum ewigen Leben. Auch die topischen Aussagen der Verse 10–14, dass Geld die Welt regiert, müssen in diesem Licht gelesen werden. So wie bei den ersten Versen der Rahmen der Liebeswerbung wegfällt, ist bei den Horazzitaten der Satireton zurückgenommen. So begründet mit Vers 11 ursprünglich Odysseus, warum er ein Rezept wünsche, wie er sein Vermögen wiederfinden könne, nach Wielands Satiren-Übersetzung »Sintemal nun ohne Vermögen, wie du weißt, Geschlecht und Tugend nicht einen Pfifferling geachtet wird.« Teiresias rät ihm zur Erbschleicherei. Odysseus kann kaum als Beispiel für den verachteten Weisen gelten, der Spruch wird vielmehr als verallgemeinerbares Diktum herausgezogen. Das wird auch am folgenden Vers 12 deutlich; das Horazzitat aus einem Lob des allmächtigen Vermögens taucht in verschiedenen Sprichwörtersammlungen auf und lebt bis in die Neuzeit als Motto weiter. Was hier lediglich interessiert, ist die autoritative Belegung der Behauptung. Durch die Kombination werden Dramenvers, horazische Hexameter und sprichwörtliches Distichon ihrem spezifischen Argumentationskontext entfremdet und werden zur Tatsachenbehauptung. Der lateinische Unterbau grundiert die folgenden deutschen Sprüche durch den Klagegestus, mit dem, wenn auch etwas diffus, am mangelnden Respekt für Lehrautorität Moralverfall grundsätzlich konstatiert wird, wichtiger aber: formalargumentativ bildet die Autorität lateinischen Schulwissens eine sichere Basis. Es ist diese düstere Perspektive, die den Ton für die deutschen Verse vorgibt. Nachdem der grundsätzliche Moralverfall mit der Autorität des antiken Wissensguts präsentiert und kommentiert worden ist, kann in der Volkssprache die Didaxe direkt bei den Einzelphänomenen ansetzen, die statt auf einen allegorisierenden Kommentar auf Anschaulichkeit setzen: Trägheit, Hurerei und mangelnde Bußfertigkeit werden neben der bereits exponierten Geldgier drastisch als Laster präsentiert, die eine un41
Das Problem im Neuen Testament ist, dass zwar die Kinder dieser Welt/Zeit nicht weise, aber klug sind, vgl. Lc 16,8: filii huius saeculi prudentiores filiis lucis in generatione sua sunt. Sie haben ihre eigene Form der Weltweisheit, wenn diese auch vor Gott nichts gilt. vgl. 1 Cor 1,20: nonne stultam fecit Deus sapientiam huius mundi. Der Redaktor/Schreiber dieses Textes interessiert sich hier aber weniger für die Perspektive der Mächtigen und Klugen, sondern für die Position Homers bzw. der Weisheit, hinter der ein wie auch immer geartetes klagendes Sprecher-Ich steht. Es deutet sich hier schon die Verbindung von Heische, Mahnung und Selbstdarstellung der Spruchdichtung an.
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mittelbare Gefährdung des Seelenheils darstellen. Von hier aus lassen sich intentional die Sprüche verstehen, wenn auch ihre präzise Bedeutung hinter den Bildfeldern der gnomisch verknappten Sprache teilweise undeutlich bleibt. Vers 15–18: Ob die Vorstellungen vom ›blauen Montag‹42 und von dem ›mit dem linken Fuß aufstehen‹43 schon um 1200 verbreitet waren, ist nicht sicher; die genaue metaphorische Valenz muss aber nicht bekannt sein, damit deutlich wird, worauf die Sver-der-Regel zielt und dass die Woche auf diese Weise schlecht anfängt. Der Rat zählt zu dem Typ derer, die zu einem guten Anfang mahnen, und entsprechend häufig am Anfang von Ratschlägen stehen. Angesichts der Überschrift De despectu sapientis wird dabei v. a. an den Leitspruch der weisheitlichen Literatur zu denken sein: Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang, aber die Törichten verachten sie,44 der auch das Motto der Freidank-Sammlung bildet: Gote dienen aˆne wanc deist aller wıˆsheit anevanc (1,5 f.).45 Der zweite Abschnitt folgt diesem falschen Weg ein Stück weiter. Vers 19–22: Das Verhalten bei Furten und Frauen wird auch im ‘Parzival’ gekoppelt, als Herzeloyde ihren Sohn liste lehrt: er solle an ungebanten straˆzen dunkle Furten vermeiden, sondern schnell durch die reiten, die sıˆhte unde luˆter sıˆn. Bei Frauen solle er sich an die halten, die kiusche unde guot seien.46 Und: wenn ihn ein graˆ wıˆse man unterrichte, solle er sich daran halten. Alle drei Ratschläge haben, wie bekannt, desaströse Folgen. Das liegt aber nicht an den Ratschlägen oder daran, dass Parzival den Weisen verachtet habe; er ehrt vielmehr den graubärtigen Gurnemanz, der wie ein Prototyp des sapiens erscheint. Die Ursache, würde wohl der Redaktor des Ms C 58 konstatieren, liegt in der Zielperspektive der Didaxe, die Herzeloyde formuliert: Sie soll gelücke und hoˆhen muot geben. Es ist der alte Zielkonflikt zwi42
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Umlautung des maˆntag im Bairischen, Schwäbischen und Schweizerischen. Im späteren Mittelalter hatten die Handwerksgesellen den Anspruch, an bestimmten Montagen nicht für ihren Meister zu arbeiten. Schon im 14. Jahrhundert wird in Handwerkssatzungen der »gute Montag« verboten (Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, hg. von Lutz Röhrich, Bd. 3, S. 1046, s. v.). Bei der Winsbeckin findet sich ein aus Verliebtheit stehengebliebener Fuß: daz dir ze walde steˆt der vuoz (29,4), zitiert nach: Kleinere mittelhochdeutsche Lehrgedichte, hg. von Albert Leitzmann, 1. Heft: Tirol und Fridebrant, Winsbecke, Winsbeckin (ATB 9), Halle 1928; eine Gegenvorstellung ist der Fuß auf dem Weg des Herrn, Hiob 23,11: vestigia eius secutus est pes meus viam eius custodivi et non declinavi ex ea. Prv 1,7: timor Domini principium scientiae sapientiam atque doctrinam stulti despiciunt, wiederholt u. a. in Ps 110,10, Prv 9,10 und Sir 1,16. Die Verbindung des Textes zur schulischen Unterweisung wird etwa noch bei der Lateinschule in Brugg (CH) von 1638/40 sichtbar, bei der über dem Eingangsportal Prv 1,7 steht. Fridankes Bescheidenheit, hg. von Heinrich E. Bezzenberger, Halle 1872. Die vier vorhergehenden Verse sind der Titel; der erste Spruch begegnet teilweise auch in einer Sver-derForm (CDGO). ‘Parzival’, 127,15–28 und 128,2 f. Furt wird im Parzival auch metaphorisch für den Heilsweg gebraucht, ‘Parzival’, 114,4: ir schimph ertranc in riuwen vurt. Wolfram von Eschenbach, Parzival, mhd. Text nach der Ausgabe von Karl Lachmann, übers. von Peter Knecht, Einführung zum Text von Bernd Schirok, Berlin/New York 1998.
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schen höfischer und klerikaler Literatur, der hier bei der Verwendung des gleichen sprichwörtlichen Materials besonders eklatant deutlich wird. Wenn man den Spruch als Fortsetzung des ersten liest, lassen sich in der trüben Furt und der schönen Frau zwei der Gefährdungen sehen, die den Montag so gestalten, dass darunter der Rest der Woche leidet, also den fuoz laˆn = ze gach sıˆn. Mit der Kirche wird in Vers 23 dann ein dritter Ort eingeführt, der an sich heilsamer sein sollte als die vorher genannten, bei dem aber gerade die Heiligkeit zur Falle werden kann: Es reicht nicht, die Füße am richtigen Ort zu haben, sondern die gesamte Haltung muss dem Ort entsprechen, sonst verdirbt nicht nur die Woche, sondern das Seelenheil. Der 23. Vers bot überhaupt den Anlass zur ersten Aufnahme der Zürcher Handschrift in den Kontext von ›Minnesangs Frühling‹, denn es ist das gleiche Initium wie das der Sangspruchstrophe MF 28,34, die beginnt: Swer gerne zuo der kirchen gaˆt und aˆne nıˆt daˆ staˆt, der mac wol frœlichen leben. dem wirt ze jungest gegeben der engel gemeine.
Carl von Kraus nahm daher den entsprechenden Abschnitt als Umkehrung der Verheißung in seinen Kommentar zur Spervogel-Stelle auf. Die Drohung mit der waffenlosen Tötung ist auch sonst weit belegt, bis hin zu Kaufringer: er was oun swertzsleg worden wund (Bürgermeister und Königssohn, V. 172).47 Insgesamt lässt sich die Reihe der Verse als priamelartiger Katalog sich steigernder Verfehlungen lesen; dann wird auch verständlich, warum der letzte Reim mit einem Großbuchstaben von dem vorangegangenen abgesetzt wird. Er subsumiert unter dem endgültigen Urteil des Jüngsten Gerichts auch die scheinbar belanglosen Nachlässigkeiten des Alltags: Die Fußabschweifung am Montag führt zur via lata nach Art der Jugend, wie sie weiter hinten in der Handschrift die Vagantenbeichte48 schildert. Die Abtrennung von Versen und Strophen, wie sie sich in der Interpunktion der Handschrift darbietet, erlaubt kein Urteil über die ursprüngliche Gestalt der Verse und darüber ob sie – wie es wahrscheinlich ist – als eigenständige Sprüche umliefen, wobei das summierende letzte Verspaar wohl zum dritten Spruch gehörte. Der Redaktor der Handschrift, der in sein gesamtes Vorlagenmaterial stark eingriff, hat dieses mündlich umlaufende Gut so in seinen Kontext eingebunden, dass wir kaum hinter seinen Text zurückkönnen, der eine Folge von Dikta zu einer logischen Kette verknüpft. Die volkssprachigen Ratschläge füllen die Dicta aus den lateinischen Schulschriften mit konkreten Anweisungen: Während in der ‘Ars amatoria’ dem Liebhaber abgeraten wird, mittellos zur Liebsten zu gehen, wird hier von der Werberei an sich 47 48
Heinrich Kaufringer, Werke, hg. von Paul Sappler, Bd. 1: Text, Tübingen 1972, S. 45. Nr. 365, f. 153va18–154ra6. Die Strophe Via lata gradior more iuventutis [. . .] mortuus in anima curam gero cutis bildet in der Handschrift, anders als in der Mehrheit der Überlieferungszeugen, die Schlussstrophe, vgl. Werner, S. 200 f.
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abgeraten, denn sie setzt das Seelenheil aufs Spiel. Die deutschen Verse wirken also im Unterschied zu dem lateinischen Umfeld durch ihren direkten Appell, der durch die Klangketten und die Bildlichkeit unterstrichen wird. Die lautlichen, lexematischen und strukturellen Korrespondenzen ermöglichen eine Gesamtlektüre, die die gnomischen Merksprüche als eine kontinuierliche Lehrrede mit sich ergänzenden und steigernden Elementen versteht. Die versus sind kein Gedicht im modernen Sinne einer notwendigen, lyrischen Vers- und Strophenfolge, aber sie sind deutlich mehr als eine zweisprachige Aphorismensammlung. Die Didaxe hat einen guten Magen: Sie kann die Liebeskunstverse ebenso verdauen wie mündliches Strandgut und die Unterbrechung der gebundenen Sprache durch eine Prosaerklärung. Der Titel ‘de despectu sapientis’ setzt die Klammer, obwohl sich im Verlauf des Gedichts die Verachtungsrichtung umkehrt: Vom Objekt der Verachtung wird der Weise zum Subjekt der Belehrung sub specie eternitatis.49 Die lateinischen Verse bieten die innerweltlich-ethische Artes-Grundlage für die theologisch eindeutigen deutschen Verse: hier führt der Weg durch die Gelehrsamkeit hin zur Volkssprache, analog zu Williram von Ebersberg, der beklagt, dass die antiken Autoren nicht mehr als Propädeutik für Bibelstudien gelesen würden, und dann das Gegenteil daran demonstriert, dass er mit antiken Formulierungen zu einer volkssprachigen Bibelauslegung vorstößt.50 Es liegt sicher keine intendierte Komik in der moralisierenden Umwandlung von Liebeskunst in Moraldidaxe; die Distichen und Einzelverse sind schon vorher so durch den klerikalen Unterricht als eigenständige ethische Aussagen proverbiell isoliert, dass sie ohne gedankliche Umwege in einen christlichen Denkrahmen eingebaut werden können.
4. Gnomisches Wissen zwischen Mündlichkeit und Großform Die Stellung des Komposittextes ‘Von der Verachtung des Weisen’ im moraldidaktischen Kontext der Zürcher Handschrift zeigt den hohen Stellenwert zweisprachigen gnomischen Sprechens um 1200. Den Romanautoren und Lyrikern der höfischen Literatur begegnete es in der Form von belehrenden Dikta, Predigten und alltäglichen Ratschlägen. Einiges davon lässt sich durch die Aufzeichnungen des alemannischen Klerikers fassen, der nicht aus einem antiquarischen Sammelinteresse oder zu Repräsentationszwecken die bereits etablierte Literatur in prächtige Handschriften fassen ließ, wie es dann die Manessische Liederhandschrift bezeugt oder fürstliche Auf49
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Der Titel könnte formal auch ein Genitivus subjectivus sein: Der Weise würde dann die Welt verachten, wie es in der Contemptus mundi-Tradition geschieht. Umgekehrt könnte christlich gelesen die Verachtung auch Auszeichnung sein, da sie etwa in der Auslegung der Gottesknechtslieder und im Ärgernis vom Kreuz ein Signum Christi ist, der verachtet wird, Is 53,3: despectum et novissimum virorum virum dolorum et scientem infirmitatem et quasi absconditus vultus eius et despectus unde nec reputavimus eum. ›Praefatio‹ zur ‘Expositio in Cantica Canticorum’, 2 (zitiert nach: Williram von Ebersberg, ‘Expositio in Cantica Canticorum’ und das ‘Commentarium in Cantica Canticorum’ Haimos von Auxerre, hg. und übers. von Henrike Lähnemann und Michael Rupp, Berlin 2004).
Versus de despectu sapientis
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traggeber tun, sondern aktuelles Wissen, Belehrung und Unterhaltung festhielt in der Sprache, in der sie sich ihm präsentierte. Indem man die deutschen Texte nicht als Trouvaillen isoliert, sondern als literarische Bausteine innerhalb eines größeren Interessenverbundes betrachtet, wird etwas von dem literarischen Rohmaterial der Zeit wieder greifbar. Diese adaptation clericale lässt im Unterschied zur adaptation courtoise der gleichzeitig entstehenden höfischen Romane die ursprüngliche Form des verarbeiteten Materials erkennen. Die Textelemente tragen noch deutlich die Spuren ihrer Existenzform vor der Verschriftlichung. Gleichzeitig gibt die nicht-fiktionale Sammlung mit ihrem Wissenskontinuum einen zeitgenössischen Deutungshorizont für das verarbeitete Material. Parallel dazu wurden auch die frühmittelhochdeutschen Sammelhandschriften in einem sonst lateinischen Kontext aufgezeichnet. Hier finden sich zahlreiche gnomische Formulierungen, die auf ein ähnliches Umfeld weisen, z. B. in der ‘Hochzeit’: swer sich selben durch daz reht versmæhet, der wirt in mıˆnes vater rıˆche gehoˆhet. (V. 944 f.)51
Die Epochen sind nicht so eindeutig trennbar in ein geistliches Frühmittelhochdeutsch im lateinischen Umfeld gegenüber höfischer Literatur mit französischem Einfluss. Die Zürcher Handschrift Ms C 58 ist nicht nur ein »schönes Denkmal eines fleißigen Klerikers«, wie Werner in der neunzeiligen Auswertung seiner 151seitigen Teiledition schreibt.52 Für die Germanistik ist der ›Gelehrte‹ und seine Rezeption universitärer Texte zusammen mit mündlich umlaufenden Traditionen ein ideales und noch viel zu wenig beachtetes Testfeld für Fragen nach oraler Überlieferung, für die Entwicklung der Volkssprache und grundsätzlich für das sich schubweise mit den Reformen wandelnde Verhältnis von Volkssprache und Latinität, Klerikerkultur und höfischer Literatur. Es gilt also auch für die Germanistik, den Weisen nicht zu verachten!
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Kleinere deutsche Gedichte des 11. und 12. Jahrhunderts, hg. von Albert Waag und neu bearb. von Werner Schröder (ATB 71/72), Bd. 1 und 2, Tübingen 1972. Werner [Anm. 1], S. 151.
Narziß und Venus Der lyrische Blick auf die Antike bei Heinrich von Morungen, Konrad von Würzburg und dem Wilden Alexander von Michael Rupp
Die Tradition des mittelhochdeutschen höfischen Romans beginnt mit der Rezeption antiker Mythen, Figuren und Erzählstoffe. Neben den Alexanderromanen gelangen vor allem Nachdichtungen der ‘Aeneis’ Vergils oder antiker Epen um den Trojanischen Krieg an den Fürstenhöfen zur Aufführung; Stoffe also, die für jeden Lateinkundigen zur Schulbildung gehörten.1 Neben Vergil2 wird im 12. Jahrhundert vor allem Ovid zum wichtigen lateinischen Schulautor und bleibt ebenfalls nicht ohne Einfluß auf die volkssprachige Literatur.3 Insbesondere am Thüringischen Hof scheinen mittelalterliche Versionen antiker Literatur gepflegt worden zu sein. Die in diesem Zusammenhang entstandenen Epen, etwa die ‘Eneide’ Heinrichs von Veldeke oder der Trojaroman Herborts von Fritzlar, versuchen, durch höfisierende Tendenzen in der Bearbeitung ihrer Vorlage die Herrscher und ihre Umgebung als Urbilder zeitgenössischer Fürsten und ihrer Höfe auszuweisen. Ganz anders erscheint das Bild einer anderen Form höfischer Repräsentation, namentlich des Minnesangs. Manches gilt hier als von Ovid beeinflußt, etwa die Beschreibungen von Liebe als Krankheit oder als einer numinosen, übernatürlichen Macht. Doch werden solche Entlehnungen fast nie an der Oberfläche der Texte als spezifisch antik kenntlich gemacht. Bei der Darstellung höfischer Liebe scheinen antike Motive und Mythen als eindeutige Anspielungen tatsächlich schwer integrierbar gewesen zu sein. Figuren wie Paris und Helena oder Dido erscheinen bis auf wenige Ausnahmen auch nicht als Exempla;4 vielleicht auch, weil man deren Geschichten in 1
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Zur Antikenrezeption im deutschen Mittelalter allgemein informiert die Einleitung bei Manfred Kern, in: Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters, hg. von Manfred Kern und Alfred Ebenbauer unter Mitw. von Silvia Krämer-Seifert, Berlin/ New York 2003, S. IX−LVII. In Bezug auf die mittelhochdeutsche Literatur zwischen 1200 und 1300 ders., Edle Tropfen vom Helikon: Zur Anspielungsrezeption der antiken Mythologie in der deutschen höfischen Lyrik und Epik (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 135), Amsterdam 1998. Erwähnt werden sollte auch Elisabeth Lienert, Deutsche Antikenromane des Mittelalters (Grundlagen der Germanistik 39), Berlin 2001, insbes. S. 13–25. Über die Verbreitung Vergils informiert am schnellsten und besten Franz Josef Worstbrock, Art. ›Vergil‹, in: 2VL 10 (1999), Sp. 248–284. Zum Einfluß Ovids auf die mittelhochdeutsche Epik Renate Kistler, Heinrich von Veldeke und Ovid (Hermaea N. F. 71), Tübingen 1993, zur Ovidrezeption insbes. S. 4–29. Eine Ausnahme neben den hier behandelten Liedern wäre z. B. Friedrich von Hausen, MF 42,1–5.
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ihren Einzelheiten wohl kaum beim Publikum als bekannt voraussetzen konnte. Eindeutige Verweise auf die Antike tauchen im klassischen Minnesang nur sehr selten auf. Vor allem Heinrich von Morungen setzt sich immerhin in ein paar Liedern mit antiker Mythologie im weitesten Sinne auseinander. Bezeichnenderweise läßt sich sein Schaffen im Umkreis Dietrichs von Meißen lokalisieren, des Neffen des Landgrafen Hermann von Thüringen, an dessen Hof neben den bereits genannten Antikenromanen auch die Übersetzung der ‘Metamorphosen’ Ovids durch Albrecht von Halberstadt entstanden ist. Zu diesen Liedern kommen die einige Jahrzehnte später entstandenen Minneleichs Konrads von Würzburg und des Wilden Alexander – damit wäre die Reihe der nennenswerten Beispiele bis 1300 auch schon wieder geschlossen.5 Minnelieder, hinter denen die Antike als Anspielungshorizont aufscheint, bleiben bis weit ins Spätmittelalter hinein die Ausnahme. Es ist das große Verdienst der Arbeiten von Manfred Kern, die Hauptlinien der Entwicklung umrissen zu haben, im Zuge derer antike Stoffe in die mittelhochdeutsche Literatur Einzug hielten und sich nach und nach festsetzten. Damit ist ein Überblick über die verschiedenen literarischen Orte der Antikenrezeption möglich geworden. Dennoch lohnt sich gleichsam zwischen diesen Linien hindurch der genauere Blick auf den kleineren Zusammenhang der sich wandelnden Rezeption in der Lyrik. Denn gerade zwischen den ersten Übernahmen antiker Motive im Minnesang bei Morungen und den späteren in Leichs des ausgehenden 13. Jahrhunderts lassen sich deutliche Unterschiede beschreiben, die auch die jeweiligen Phasen der Gattungsentwicklung noch einmal charakteristisch gegeneinander abgrenzen. Dem ist der vorliegende Beitrag gewidmet. Zunächst also zu Heinrich von Morungen. Sein Schaffen setzt man zwischen 1190 und 1220 an; die oben erwähnte besondere Interessenlage am Meißner Hof könnte der Grund dafür sein, daß er in seine Lyrik mehr aus der Antike einfließen ließ als die Kollegen seiner Zeit. Die antike Mythologie lieferte ihm allerdings nur vordergründig das Material für eine Erweiterung poetischer Bilder durch intertextuelle Bezüge. Zusammenhänge aus der Mythologie werden in den Liedern Morungens ausschließlich wahrnehmbar an Stellen, an denen es darum geht, eine unüberbrückbare Kluft zwischen dem Sänger und seiner ersehnten Dame zu beschreiben, eine Kluft, die ausschließlich in der Phantasie überwindbar gedacht werden kann. So ist es zunächst im so genannten Narzißlied, das zweifelsfrei zu den am meisten besprochenen Werken Morungens gehört.6 Dem Lied liegt eine mythologische Kon5
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Manfred Kern behandelt in seinem Überblick ausschließlich diese Beispiele: Von Parisjüngern und neuen Helenen. Anmerkungen zur antiken Mythologie im Minnesang, in: Neophilologus 83 (1999), S. 577–599; ausführlicher in: Edle Tropfen [Anm. 1], S. 28–93 (zu Morungen), S. 457–489 (zu Konrad und dem Wilden Alexander). Die neueste Studie stammt von Nicola Zotz, Inte´gration courtoise. Zur Rezeption okzitanischer und französischer Lyrik im klassischen deutschen Minnesang (Beihefte zur Germanisch-Romanischen Monatsschrift 19), Heidelberg 2005, S. 229–238. Ferner (und mit weiterer Literatur) Christoph Leuchter, Dichten im Uneigentlichen. Zur Metaphorik und Poetik Heinrichs von Morungen, Frankfurt a. M. u. a. 2003; Beate Kellner, Gewalt und Minne.
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stellation zugrunde, die aber nie als solche explizit gemacht wird: Der Sänger besingt in gattungstypischer Weise seine Liebe zu einer unerreichbaren Dame. Diese wird zu einer Idee, auf die er fixiert bleibt und deren Unerreichbarkeit er gleichzeitig beklagen muß. Mit Hilfe von Elementen des Narziß-Mythos hebt Morungen das Bild der Dame auf eine andere ontologische Ebene der Unerreichbarkeit. Die folgende Interpretation konzentriert sich dementsprechend auf die Funktion des Mythologischen innerhalb des Liedes. Die ersten drei Strophen bilden eine innere Einheit: In der ersten beschreibt der Sänger eine durchlebte Situation mit Hilfe eines Vergleichs (Mir ist geschehen als einem kindelıˆne, MF 145,1).7 Berichtet wird eine Schau der Geliebten; dabei ist die Faszination eines kleinen Kindes für sein Spiegelbild der Vergleichspunkt für den gebannten Blick des Sängers auf die Dame. Morungen inszeniert hier schon auf der Vergleichsebene die unbedingte Unerreichbarkeit, mehr noch: Das Kind versucht, sein Ebenbild zu berühren, und dies soˆ vil, biz daz ez den spiegel gar zerbrach (MF 145,4). Die kindliche Freude am Schauen schlägt um in Leid und Trauer über den Verlust des betrachteten Objekts – oder besser den Verlust des Anblicks. Mit der Wendung alsoˆ daˆhte ich iemer vroˆ ze sıˆne (MF 145,6) wird wieder die Perspektive des Sängers eingenommen. Im Verlauf der zweiten Strophe schildert dieser nun das konkret Erlebte: Die Minne selbst habe ihm seine Dame im Traum gezeigt und er sich in der Schau ihrer makellosen äußeren und inneren Schönheit ergangen. Doch wie in der ersten Strophe bereits geschildert, wird die Freude getrübt und der Glanz verdüstert. Es ist die rätselhafte Verletzung des Mundes seiner Dame – niuwen daz ein lützel was verseˆret / ir vil vröuden rıˆchez (roˆtez) mündelıˆn (MF 145, 15–16) –, deren Wahrnehmung auf den Sänger verstörend wirkt. In der dritten Strophe führt diese Verstörung zum Einbruch der existentiellen Angst um das Leben der Dame in die Freude des Sängers. Sein Blick bleibt indes fixiert auf die Dame; dies führt zu niuwer klage über den erlittenen Verlust des Geschauten und der Freude. Abermals vergleicht er dieses Schauen mit dem gebannten Blick eines Kindes auf sein Spiegelbild, das es allerdings diesmal in einer Quelle erblickt – eine Situation, in der er bis zu seinem Tode verharren muß. Erst in dieser Konstellation ist es eindeutig die Situation von Narziß am Wasser, wie sie Ovid in seinen ‘Metamorphosen’ beschreibt.8 Der befürchtete Tod der
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Zu Wahrnehmung, Körperkonzept und Ich-Rolle im Liedcorpus Heinrichs von Morungen, in: PBB 119 (1997), S. 33–66, zum Narzißlied S. 56–66, und Christoph Huber, Narziß und die Geliebte. Zur Funktion des Narziß-Mythos im Kontext der Minne bei Heinrich von Morungen (MF 145,1) und anderen, in: DVjS 59 (1985), S. 587–608. Ich schließe mich hier dem allgemeinen Usus an, das Lied in der Fassung der Würzburger Liederhandschrift e (die es als einzige mit allen Strophen überliefert, allerdings unter dem Namen Reinmars) Morungen zuzuschreiben. Ich zitiere die Lieder Heinrichs von Morungen nach: Des Minnesangs Frühling. Band I: Texte. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann, Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus, bearb. von Hugo Moser und Helmut Tervooren. 38., erneut revidierte Aufl., Stuttgart 1988. Publius Ovidius Naso, Metamorphoses, hg. von William S. Anderson, Stuttgart 1991, III, 415–426.
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Dame wird den Sänger bis zu seinem eigenen Lebensende gefangen halten. Die beschriebene klage lässt er dann in der letzten Strophe hörbar werden: Nach einem erneuten Lob seiner vollkommenen Dame beklagt er nochmals ihre Unerreichbarkeit. Die ersten drei Strophen hindurch wird auf jeweils verschiedene Weise dieselbe Konstellation beschrieben, und zwar die beglückende Schau eines Idealbildes, das allein durch die Häufung von Begriffen wie Spiegel, Traum, Glanz und Bild schon als Abbild charakterisiert wird. Tatsächlich kann es stets nur medial vermittelt wahrgenommen werden. Die Medien wie Spiegel oder Traum markieren einen unüberbrückbaren »Bruch in der Realitätseinheit«,9 der die Unerreichbarkeit allein schon des Abbildes festschreibt. Mehr noch: Jeder Versuch, diesen Graben zu überschreiten, führt nur zu verstörenden Resultaten, die den Einbruch des Leids herbeiführen: In der ersten Strophe zerbricht der Spiegel – der ja in Analogie zur zweiten Strophe für die Dame selbst stehen müsste – beim Versuch, das darin enthaltene Bild als real und materiell begreifbar aufzufassen. Ähnlich ist es mit dem verletzten Mund der Dame in der zweiten Strophe: egal, ob man die Verletzung als Zeichen ihrer Abschiedstränen,10 als Vorbedeutung der in der dritten Strophe zum Ausdruck kommenden Sorge des Sängers11 oder als nahezu unverhülltes »Symbol eines Deflorations-Tabus«12 auffasst, jede Deutung geht stets von der Vorstellung einer wie auch immer gearteten imaginierten Affizierung der Dame durch den Sänger aus.13 Diese lediglich imaginierte Affizierung setzt dann jenen unheilvollen Prozeß in Gang, der bestenfalls nur zum Verlust der Freude führt. Die letzte Strophe ist vor diesem Hintergrund der Versuch zur Wiedergewinnung des verlorenen Idealbildes mit Mitteln der Poesie. Von hier aus lässt sich das Lied auch poetologisch deuten.14 9 10 11
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Huber [Anm. 6], S. 592. So Carl v. Kraus, Heinrich von Morungen, München 21950, S. 18. Roswitha Wisniewski, Narzißmus bei Heinrich von Morungen, in: FS Helmut de Boor, hg. von den Direktoren des Germanischen Seminars der Freien Universität Berlin, Tübingen 1966, S. 20–32, hier S. 22. Hans-Herbert S. Räkel, Das Lied von Spiegel, Traum und Quell des Heinrich von Morungen (MF 145,1), in: LiLi 7 (1977), S. 95–108, hier S. 107. Diese vergeblichen Versuche, das Spiegelbild zu fassen, beschreibt Ovid ebenfalls, indem er Narziß ins Wasser hineingreifen und dessen Oberfläche küssen läßt (Metamorphosen [Anm. 8] III, 427–429). Interessanterweise aber illustriert Ovid damit nur die Vergeblichkeit der Liebe, die den Prozeß der Erkenntnis in Gang setzt, an dessen Ende Narziß das Bild als sein Spiegelbild erkennt (463 f.). Kern, Von Parisjüngern [Anm. 5], S. 580, betont die aus den Bildern resultierende Permanenz des Sangs und überträgt dies schlüssig auch auf das Venuslied. Zur poetologischen Deutung v. a. Alexandra Stein: vntz daz sin hant den spiegel gar zebrach. Reflexionen über die Destruktion virtueller Realität in hern reymars ‘mir ist geschehen als eime kindeline’, in: Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur. Kolloquium Reisensburg, 4.–7. Januar 1996, in Verbindung mit Wolfgang Frühwald hg. von Dietmar Peil u. a., Tübingen 1998, S. 147– 168. Zur Poetologie des Narzißlieds Volker Mertens, Fragmente eines Erzählens von Liebe. Poetologische Verfahren bei Heinrich von Morungen, in: Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters, hg. von Martin Baisch, Jutta Eming u. a., Königstein (Taunus) 2005, S. 34–55, insbes. S. 43–51.
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Christoph Huber hat mit einem Blick auf zahlreiche Bearbeitungen des NarzißMythos gezeigt, daß Morungen diesen in der ganzen Komplexität und Bedeutungsvielfalt, in der das Mittelalter ihn verstanden hat, in das Lied integriert. Dies läßt sich beispielsweise an der Frage nach den Analogien durchspielen: Setzt man das kindelıˆn der ersten Strophe mit dem Sänger gleich, wird das Medium, der Spiegel, zur Dame, in der er ein (ideales?) Abbild seiner selbst erblickt. Die zweite Strophe variiert dies: Hier wird der Traum gleichsam zum Spiegel, den die Minne selbst dem Sänger vorhält, und er erblickt die ideale Geliebte. Der Mythos konnte die Spiegelung des Selbst in der geliebten Person symbolisieren, die Brechung einer idealen Welt im Ich als Spiegel wie auch das Sich-verlieren in der Schau eines Ideals, das dem Betrachter unerreichbar bleibt, ihm aber das Bild des eigenen Ideals zurückgibt.15 Das Motiv vom Spiegel erscheint zweimal. Im Vergleichsbild der ersten Strophe blickt ein kleines Kind, ein kindelıˆn, in einen Spiegel, nicht auf einen Wasserspiegel. Hier kann das Publikum die Faszination für das eigene Ebenbild möglicherweise auch aus der realen Lebenswelt heraus nachvollziehen, in der sich so etwas an Kleinkindern beobachten läßt. Auf mehr wird Morungen nicht rekurriert haben; keinesfalls auf Spezifika der Persönlichkeitsentwicklung, wie sie in der Moderne Jacques Lacan an dieser Situation aus psychoanalytischer Sicht beschrieben hat, so sehr es natürlich einen heutigen Rezipienten verlocken mag.16 Von hier aus ist das Rezeptionsmuster vorgeprägt, mit dem die erneute Schilderung derselben Situation in der dritten Strophe erst verstanden werden kann: Hier ist das Bild wie bei Ovid entworfen, ohne daß der Bezug explizit gemacht würde. Die Parameter werden dabei nur leicht verschoben: Nun ist es ein kint (das kann auch ein Jugendlicher sein), das von seinem Spiegelbild auf einer Wasseroberfläche gebannt ist. Mit diesem Kunstgriff führt Morungen die Rezipienten zum Verständnis der Situation des Mythos, ohne diesen auch nur irgendwie als Prätext kenntlich zu machen. Kenner antiker Literatur werden es sogleich verstanden haben, man muß aber als Rezipient keiner sein, denn alles zum Verständnis des Liedes Notwendige liefert der Text selbst mit. Man ist versucht, den Begriff ›Anspielungsdichtung‹ für dieses Lied in Frage zu stellen, denn der Bezug zum Mythologischen ist nur zu erahnen. Zwar wird die Situation von Narziß am Wasser beschreibend eingearbeitet; im Gegensatz zu den provenzalischen Vorbildern Bertrands de Ventadorn oder der von Bartsch angeführten anonymen Kanzone wird der Name Narziß nie genannt oder sonst ein Zeichen gegeben, das den Bezug deutlich machen würde.17 Morungen scheint dies regelrecht 15 16
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Huber [Anm. 6], S. 594–606. Auf die Ähnlichkeit mit den Thesen Lacans wurde bereits hingewiesen; vgl. die Diskussion von Stein [Anm. 14], S. 151 und Anm. 20, die sehr zu Recht davor warnt, das Lied daraufhin mit Kategorien der Psychoanalyse zu interpretieren. Es geht Morungen um die Schilderung kindlicher Faszination an einem rätselhaften Gegenstand, der in diesem Fall aus anderen Gründen ein Spiegel ist. Der Text der von Bartsch publizierten Kanzone ist mit einer Übersetzung bequem zugänglich in: Deutsche Lyrik des Frühen und Hohen Mittelalters, hg. und komm. von Ingrid Kasten, übers. von Margherita Kuhn (Bibliothek deutscher Klassiker 129), Frankfurt a. M.
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zu vermeiden: Das Lied soll offenbar auch ohne Vorkenntnisse verstanden werden können. Durch die aus dem Mythos entlehnte Konstellation wird hier der Bereich, in dem sich die Dame befindet, von der Realität des Sängers abgegrenzt. Es ist eine unerreichbare, fast jenseitige Sphäre, die nur medial vermittelt wahrgenommen werden kann. Die geschaute ideale Dame erhält eine fast schon numinos zu nennende Aura, die ihre prinzipielle Unerreichbarkeit unterstreicht. Das so konstruierte Gegenüber einer Welt des Mythos und einer anderen des Sängers scheint typisch zu sein für den Umgang Morungens mit der Antike. Dies zeigt sich im sogenannten Venuslied. Hier wird eine ähnlich unüberbrückbare Kluft zwischen Sänger und Dame aufgebaut. Der Bezug zur Antike wird durch die Nennung der Liebesgöttin Venus bei ihrem Namen deutlich gemacht, mit welcher der Sänger seine Dame identifiziert. Im vorliegenden Zusammenhang konzentriere ich mich wieder nur auf die poetische Konstruktion dieser Reminiszenz und ihre Funktion. Im Venuslied beklagt der Sänger wieder den Zustand seiner unglücklichen Liebe zu einer für ihn vollkommenen Dame, die ihn allein durch ihren Anblick beglücken und gleichzeitig Verstand und Freude, vröide und al die sinne (MF 138,35), rauben kann. Eingangs charakterisiert er sich selbst als ganz im Bann seiner Dame, er sei ganz und gar an sıˆ verdaˆht (MF 138,22). Er beschreibt sie dann mit Bildern, wie sie ihm in diesem Zustand des verdaˆht-seins in den Sinn kommen – nicht mit solchen, die er von realen Erlebnissen im Gedächtnis haben könnte. Dies scheint die einzig mögliche Form, mit ihr zusammenzukommen, nämlich tougen (MF 138,25). So berichtet er in der zweiten Strophe weiter: swen ich eine bin, si schıˆnt mir vor den ougen. Wenn er sich also allein seinen Gedanken überläßt, erscheint ihm ihr Bild. Im Geiste sehe er dann (soˆ bedunket mich), wie sie aldur die muˆren hindurch zu ihm käme, um ihn durch ihre Anwesenheit glücklich zu machen.18 Mehr noch: sie sei imstande, auch ihn in ihre Sphäre zu ziehen und davonzuführen zeinem venster hoˆh al über die zinnen (MF 138,27–32). Diese glückliche Begegnung findet also in der Imagination, auf einer Art Phantasiereise statt.19 So vermutet der Sänger in der dritten Strophe ein Veˆnus heˆre hinter dieser Erscheinung, wan si kan soˆ vil (MF 138,33 f.). Sie kann ihm erscheinen, wenn sie will, und kann ihm auch Freude und Verstand rauben. An dieser Stelle bleibt im Unklaren, ob ihm die Dame immer noch nur in der Imagination erscheint oder ob hier eine Begegnung in der Realität abgebildet werden soll. Bezeichnenderweise zeigt sie sich ihm aber auch jetzt nicht direkt, sondern an einem
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1995, S. 803 f. Auf S. 807 finden sich die relevanten Verse des ‘Lerchenlieds’ Bernhards von Ventadorn. Die Version in der Kleinen Heidelberger Liederhandschrift (A) ist noch genereller gehalten: si wont mir zallen zıˆten vor den ougen / unde dunket mich, / wie si geˆ dort her zuo mir dur ganze muˆren. Zit. nach: Deutsche Lyrik [Anm. 17], S. 272. So schon Kern, Edle Tropfen [Anm. 1], S. 35. Die jüngste Arbeit zum Venuslied mit weiterer Literatur stammt von Jan-Dirk Müller: Beneidenswerter kumber, in: DVjS 82 (2008), S. 220– 236.
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nicht näher beschriebenen vensterlıˆne. Morungen verwendet also ein Bildelement, das abermals eine grundsätzliche Trennung der Sphären beider anzeigt. Darüber hinaus entzieht sie sich auch in dieser Situation rasch wieder, denn sobald er sie länger anschauen wolle, wende sie sich ab, wie er klagt: ach, soˆ geˆt si dort zuo andern vrouwen (MF 139,2). Im Venuslied nennt der Dichter also zwar einen Namen aus der antiken Mythologie, integriert damit aber keinen Mythos, der einen Erzählzusammenhang beinhalten würde. Die Kenntnis der antiken Liebesgöttin konnte Morungen bei seinem Publikum voraussetzen; sie war die wohl bekannteste Figur der Mythologie im deutschen Mittelalter. Im Venuslied setzt er vor allem ihre Aura als Gottheit ein, denn aufgrund ihrer Macht über ihn und seine Gedanken vermutet der Sänger, seine Dame sei ein Veˆnus heˆre. Damit wird ihre Erscheinung am Fenster in der Phantasie des Sängers zur Epiphanie einer Göttin. Die beschriebene phantastische Begegnung in der Imagination und die Anteile am Phantastischen, welche die Dame in ihr erhält, verstärken diesen Eindruck. Inszeniert Morungen in vielen Liedern die Überhöhung seiner Dame, verlängert er hier die Distanz zu ihr gleichsam bis in die Sphäre des Numinosen hinein. Daß eine solche Art der Überhöhung auch in den Bereich des Religiösen zielen kann, macht die Revocatio in der letzten Strophe deutlich: Weˆ, waz rede ich? jaˆ ist mıˆn geloube boese / und ist wider got (MF 139,11 f.). Dieser Topos soll wohl am ehesten anzeigen, wie weit die Überhöhung der Dame geht: Die Liebe – oder vielmehr der Lobpreis – des Sängers macht aus seiner Dame eine Göttin, und das wird ihm mit leisem Schrecken bewußt. Um eine generelle Infragestellung der Hohen Minne handelt es sich dabei kaum, denn erst durch die Revocatio wird die Überhöhung ins Religiöse zur galanten Übertreibung. Man wird die Absicht der Rücknahme auch auf die Situation im Ganzen beziehen: auf den in die Schau versunkenen Sänger, der angesichts dieser Erscheinung in Gefahr gerät, sich selbst und alles andere zu vergessen. Als letztes Lied Morungens wäre noch ein in mancher Hinsicht anderer Fall anzuführen, nämlich MF 136,25: Diu vil guote. Von der eben beschriebenen Funktionalisierung der Antike aus kann man es aus einer anderen Perspektive sehen, als es bislang dargestellt wurde.20 Doch der Reihe nach: Einen Bezug auf die Antike weist nur eine der drei überlieferten Versionen auf, nämlich die in der Heidelberger Liederhandschrift A. Hier erscheint in der Schlußstrophe eine Anspielung auf den Troja-Mythos. A weist die Strophenfolge 1,2,3,5 aus ‘Minnesangs Frühling’ auf, entbehrt demnach der dort enthaltenen vierten Strophe, die in C, also dem Codex Manesse, und in p, einer Berner Sammelhandschrift, als letzte Strophe überliefert wird. Das Lied wird also in der Fassung von A den folgenden Überlegungen zugrunde gelegt.21 20
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Kern, Edle Tropfen [Anm. 1], S. 74–88 mit weiterer Literatur, und ders., Von Parisjüngern [Anm. 5], S. 582–584 zu diesem Lied. Zur Diskussion der verschiedenen Fassungen zuletzt Kern, Von Parisjüngern [Anm. 5], S. 580 f.
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Der Sänger klagt zunächst die Instanz der huote an, die ihn von seiner Dame trenne. Diese Art der Unerreichbarkeit steigert sich in der zweiten Strophe, wenn er die Geliebte mit der Sonne vergleicht, die ihm morgens aufgeht. Die dritte Strophe erklärt dann mit der abermaligen Wendung gegen die huote die Schau der Dame zum höchsten Glück, das ihm niemand verwehren dürfe. Zum Anschauen sei sie geschaffen, Daz si waer ein spiegel, al der werlde ein wunne gar (MF 137,2). Hier steht auch die Vision eines im Spiegel sichtbaren Ideals im Hintergrund, wie sie der oben angesprochenen Sicht des Narziß-Mythos entspricht. Die letzte Strophe verlegt ganz unvermittelt die geschilderte Situation allegorisch in den Bereich des Mythos. Zunächst wird die Dame mit Helena gleichgesetzt: Ascholoie / diu vil guote heizet wol.22 Daraus ergibt sich aber für den Sänger eine gleichsam mythologische Konsequenz: erst von Troie / Paris, der sie minnen sol (MF 137, 9–12). Die Minnedame wird also zu einer neuen Helena, wie Kern es plausibel gemacht hat. Der hier in Gang gesetzte Überbietungsmechanismus hat seinen Zielpunkt in der Revision des Parisurteils im Abgesang dieser Strophe. Die Frage ist allerdings, ob der Sänger auch zu einem neuen Paris werden muß – bzw., ob er es wird.23 Wäre es so, dann würde er die Identifikation mit Paris nutzen, um die huote radikal zu durchbrechen – und damit das Modell der Hohen Minne in Frage zu stellen. Die Folgerung ist aber alles andere als zwingend; weitaus wahrscheinlicher erscheint mir die genau gegenläufige Konsequenz: Die Überhöhung der Dame in den Bereich des Mythos führt wie im Venuslied zu ihrer absoluten Unerreichbarkeit, besiegelt diese geradezu. Sie wird Teil einer nur der Imagination zugänglichen Welt. Erreichbar ist sie dort nur für einen Heroen, der sich, unter Verachtung aller katastrophalen Konsequenzen, nicht an die huote kehrt. Das wäre eben ein Heros wie Paris, der hier immerhin in der dritten Person genannt wird. Ihr, der unerreichbaren Dame, würde er den Apfel geben, wenn er in der Gegenwart des Sängers neu wählen sollte. Das bedeutet aber eine Dissoziierung des Sängers vom Entführer Helenas und damit auch von antikem und mittelalterlichem Minnemodell: Der Vollzug der in der Realität nicht zu verwirklichenden Liebe rückt in den Bereich des Mythos; für den Sänger ist dieser Bereich in der Imagination erreichbar und im Sang zu vergegenwärtigen; in der Realität bleibt er ihm verschlossen. In diesem Lied setzt Morungen offenbar voraus, daß sein Publikum die Geschichte vom Parisurteil und dem folgenden Raub der Helena kannte, denn ohne dieses Wissen bleibt die letzte Strophe unverständlich. Wie in den anderen beiden Liedern kann schon die Schau der Dame allein den Sänger beglücken. Und wie dort entzieht sie sich ihm hier letztlich durch ihre Teilhabe an der Welt des Mythos, indem sie zu einer Idealgestalt wird. Neu ist allerdings, daß die Entsprechung einer Instanz auf der 22
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Daß mit Ascholoie Helena gemeint sein muß, ist unstrittig. Es ergibt sich vor allem aus dem Kontext, wenn Paris ihr Liebhaber werden soll. Für diesen Namen lassen sich Erklärungen finden; dennoch verrätselt er an dieser Stelle den Mythos, zumindest für Laien. Vgl. hierzu Kern, Edle Tropfen [Anm. 1], S. 81–85. So zuletzt Kern, Edle Tropfen [Anm. 1], S. 81 f., und ders., Von Parisjüngern [Anm. 5], S. 582 f.
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realen Ebene benannt wird, nämlich die huote, die den Sänger an der Schau hindert. Endgültig besiegelt wird die Unerreichbarkeit der Dame aber erst durch ihren Übertritt in den Bereich der Heroinen. In allen drei Liedern wird also der antike Mythos zur Illustration von Idealität und Unerreichbarkeit verwendet. Überschaut man den Minnesang der folgenden Zeit, so bleibt die Verwendung antiker Versatzstücke in der Lyrik immer noch äußerst selten, auch wenn die Dichter inzwischen deutlich mehr an geschulter Rhetorik in ihren Liedern durchscheinen lassen. Das genutzte Bildrepertoire hat seine Wurzeln zum größten Teil in der realen Erlebniswelt des Publikums, also in der Sphäre des Hofs – oder, seit Neidhart, in der Gegenwelt zum Hof.24 Bezeichnenderweise sind die beiden Hauptzeugen für Antikerezeption im 13. Jahrhundert Minneleichs, gehören also einer Gattung an, die sich in dieser Zeit zu einer lyrischen Prunkform entwickelt hatte, in der die Autoren ihr ganzes dichterisches Vermögen demonstrieren konnten.25 Doch auch innerhalb dieser Gattung nehmen die beiden im Folgenden zu besprechenden Werke durch die Einarbeitung mythologischer Elemente eine Sonderstellung ein.26 Gemeinsam ist ihnen allerdings, daß sie das Thema Liebe mit Kriegsmetaphorik verbinden. Die Nähe beider Bereiche ist schon in den Stoffen der bereits genannten Trojaromane und der ‘Eneide’ angelegt, doch die Vorstellung der Liebesgöttin als Kriegspartei oder der Minnenden als Krieger ist in der volkssprachlichen Dichtung nicht verbreitet. Der erste der beiden Leichs stammt von Konrad von Würzburg, mit dessen Werk Begriffe wie Rhetorik und Sprachartistik verbunden werden.27 Von ihm ist bekannt, daß er um 1287 in Basel verstorben ist, also etwa 60 Jahre später als Morungen, und somit wohl zwei oder drei Generationen jünger gewesen sein dürfte. Sein Minneleich ist so angelegt, daß er allegorisch zwei einander entgegenstehende Welten miteinander konfrontiert und die mißliche Lage dieser Situation beklagt. Auf der einen Seite ist der Bereich der Liebesgöttin, die in Schlaf versunken ist:28 Veˆnus diu feine diu ist entslaˆfen, / diu wıˆlent hoˆher minne wielt (V. 1 f.). Demgegenüber steht der andauernde Feldzug des Kriegsgottes Mars, der Amor bezwungen und dafür gesorgt hat, daß die Reize und Freuden der Venus am Hof nichts mehr gelten: 24
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Zur Situation im 13. Jahrhundert sei verwiesen auf den konzisen Überblick mit weiterer Literatur von Gert Hübner, Minnesang im 13. Jahrhundert. Eine Einführung, Tübingen 2008; ein Überblick über die bisherigen Forschungsansätze S. 7–13. Ingeborg Glier, Der Minneleich im späten 13. Jahrhundert, in: Werk − Typ − Situation. Studien zu poetologischen Bedingungen in der Älteren Deutschen Literatur. FS Hugo Kuhn, hg. von I. Glier u. a., Stuttgart 1969, S. 161–182, hat als erste die Entwicklung der Gattung jenseits der musikalischen Zusammenhänge beschrieben. Die jüngste groß angelegte Untersuchung zum Minneleich stammt von Christina Kreibich, Der mittelhochdeutsche Minneleich. Ein Beitrag zu seiner Inhaltsanalyse (Würzburger Beiträge zur Deutschen Philologie 21), Würzburg 2000, mit einem Forschungsbericht S. 13–27. Glier [Anm. 25] spricht S. 169 von einem Ausweichen »in die lateinische Schultradition«; vgl. auch Kreibich [Anm. 25], S. 177; zu Konrads Minneleich im Ganzen S. 177–183. Zuletzt Hübner [Anm. 24], S. 132–145. Ich zitiere nach folgender Ausgabe: Deutsche Lyrik des späten Mittelalters (Bibliothek deutscher Klassiker 191), hg. von Burghart Wachinger, Frankfurt a. M. 2006, S. 258–266.
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Her Mars der rıˆhset in dem lande, der haˆt den werden got Amuˆr verhert mit roube und ouch mit brande. des sint die minne worden suˆr. (V. 15–18)
Als positives Gegenbeispiel höfischer Liebe führt Konrad Riwalin und Blancheflur an, die Eltern Tristans und damit die des höfischen Liebhabers schlechthin. Hinter dieser Exposition scheinen mit den folgenden Zeilen die Umrisse einer bedrückenden Gegenwart auf, die vom männlichen Kriegstreiben beherrscht wird, welches den weiblich konnotierten Bereich der Liebe niederhält. Der Sänger richtet seine Hoffnung auf ein Erwachen der Venus und damit auf die Wiederkehr einer Zeit der Minne. Diese zwei Stränge, Kriegsdienst und höfische Liebe, werden dann thematisch durchgeführt. Mit Worten, die deutlich auf die entsprechende Passage der ersten Reichstonstrophe Walthers von der Vogelweide anspielen, wird der gegenwärtige Zustand als untragbar charakterisiert: Gewalt ist uˆf der straˆze michel, gerihtes haˆt man sich verschamt. diu reht steˆnt krumber danne ein sichel, fride und genaˆde sint erlamt. (V. 51–54)29
Diesen Zustand schreibt der Sänger dem Wirken der frouwe wendelmuot zu. Exemplarisch führt er im Anschluß daran das Wirken kriegerischer Gottheiten in der Antike auf, das zur Katastrophe geführt hatte, illustriert am Beispiel Trojas. Das Exempel faßt die Grundkonstellation des Leichs mythologisch zusammen: Im trojanischen Krieg, dem Urbild des Krieges in der mittelhochdeutschen Literatur, fand Paris, der klassische Liebhaber im Altertum, den Tod. Die weiteren Strophen nimmt ein Aufruf an Amor und Venus ein, ihre Waffen dafür einzusetzen, daß die Welt wieder in Frieden und höfischer Festesfreude leben könne.30 Die Wendung an die Damen, nicht zu verzagen, beschließt zusammen mit der Dichtersignatur das Werk. Der Schluß, der das Ganze als Tanzleich kennzeichnet, macht nochmals die Aufteilung der Bereiche klar, wie sie im Lied entworfen werden: Die Damen sind unter Führung der momentan schlafenden Venus (und in Komplizenschaft des Sängers) auf die Freuden der Liebe aus, die Männer unter der Ägide des Mars auf Krieg. Die tröstende Prophezeiung iuwer sorge wirt woˆl raˆt (V. 136) weist auf verdeckte Weise über den Text hinaus, denn hinter der ganzen Konstruktion scheint deutlich die Liebesepisode von Mars und Venus hervor. In diesem Zusammenhang könnte man sie so deuten, daß Venus den Kriegsgott im Sinne der Aufforderung des Sängers mit ihren Waffen bezwingt, indem sie ihn verführt. Überliefert ist dies bei Ovid in den ‘Metamorphosen’, und auch der Eneasroman Heinrichs von Veldeke berichtet davon.31 Belesene Rezipienten konnten also wissen, woher der Sänger seine Zuversicht nahm. 29
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Gemeint sind bei Walther die Verse L. 8,24–26: untriuwe ist in der saˆze / gewalt vert uˆf der straˆze / fride unde reht sint seˆre wunt. Zur Interpretation Kern, Edle Tropfen [Anm. 1], S. 466–478, und ders., Von Parisjüngern [Anm. 5], S. 591–594. Ovid, Metamorphosen [Anm. 8], IV, 169–189; Heinrich von Veldeke, Eneasroman. Nach
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Konrad von Würzburg nutzt Bilder des Mythos, um die Gegenwart zu beschreiben. Dies tut er aus der Perspektive eines Außenstehenden, der von der Handlung nicht unmittelbar betroffen ist. Bei ihm fungieren diese Bilder als Teil eines literarischen Anspielungshorizonts, mit dessen Hilfe sich die Gegenwart komplexer beschreiben lässt. Dabei ist die Antike nicht der einzige genutzte Bereich: Die Darstellung der kriegerischen Gegenwart gestaltet Konrad im Anklang an Walthers erste Reichstonstrophe; Riwalin und Blancheflur gelten als das beispielhafte Liebespaar. Literatur ganz allgemein also liefert das Bildarsenal zur Beschreibung der Gegenwart, und so wird die Welt des antiken Mythos zu einer Allegorie auf jene. Auf dieser allegorischen Ebene führt Konrad von Würzburg seine Gegenwart dann einer Deutung zu, die auch auf die literarischen Kontexte der anzitierten Bilder ausgreift. Darstellung und Deutung sind damit in den Bereich der Literatur verschoben. Und, nimmt man die Anspielung an die Metamorphosen ernst, dann wird auch die Lösung des geschilderten Dilemmas auf dieser Ebene entwickelt.32 Hier wird abermals der entscheidende Schritt der Literatur in Richtung ihrer Autonomie sichtbar, wie ihn Thomas Cramer am Beispiel der staufischen Lyrik des früheren 13. Jahrhunderts schon beschrieben hat.33 Ein kurzer Blick auf den Minneleich des Wilden Alexander soll den Überblick beschließen. Der fahrende Dichter und gelehrte Magister wirkte wohl in etwa gleichzeitig mit Konrad von Würzburg. Sein Minneleich greift auf andere Weise das Motiv des Krieges auf: Er beginnt mit einer Klage über sein Leid in und an der Liebe.34 Dabei stilisiert sich der Sänger im Gegensatz zu dem in Konrads Leich als unmittelbar betroffenen Werbenden und als schiltgeverten der Venus. Das greift ein Motiv der zeitgenössischen lateinischen Lyrik auf, in der sich die Protagonisten im Anklang an Ovid als Teil einer Streitkraft der Liebe, der militia amoris, beschreiben.35
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dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Dieter Kartschoke, Stuttgart 1986, 21997 (RUB 8303), 157,38–158,33. Noch einen Schritt weiter in die Richtung auf ein nahezu gleichwertiges Nebeneinander von Beispielen aus Antike und Mittelalter geht Rudolf von Rotenburg in seinen Leichs; v. a. in Leich III, V. 45–60 (nach: Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts, hg. von Carl von Kraus, 2. Aufl., durchges. von Gisela Kornrumpf, Tübingen 1978, Bd. I: Text, S. 367). Allerdings gehören fast alle von ihm zitierten antiken Figuren zum Personal mittelhochdeutscher Antikenromane, sind also auch in mittelalterlicher Literatur zu finden. Thomas Cramer, Soˆ sint doch gedanke frıˆ. Zur Lieddichtung Burgharts von Hohenfels und Gottfrieds von Neifen, in: Liebe als Literatur. Aufsätze zur erotischen Dichtung in Deutschland, hg. von Rüdiger Krohn, München 1983, S. 47–61. Ich zitiere nach: Deutsche Lyrik [Anm. 28], S. 292–300. Zur Stellung in der Tradition der Leichdichtung Kreibich [Anm. 25], S. 184–194. Weiterhin Kern, Edle Tropfen [Anm. 1], S. 457–466, und ders., Von Parisjüngern [Anm. 5], S. 589–591. So beschreibt es Francisco Pejenaute: La »Militia amoris« en algunas colecciones de poesı´a latina medieval, in: Helmantica 29 (1978), S. 195–204, vgl. auch Peter Godman, Literary Classicism and Latin Erotic Poetry of the Twelfth Century and the Renaissance, in: Latin Poetry and the Classical Tradition. Essays in Medieval and Renaissance Literature, hg. von Peter Godman und Oswyn Murray, Oxford 1990, S. 149–182.
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Im zweiten Teil beschreibt er dann die Eigenschaften der Minne zunächst in der Form einer kurzen Schildbeschreibung: Nu nemet war, daz ist der schilt dar under manger haˆt gespilt uˆf roˆtem velde ein nacket kint daz ist gekroenet unde ist blint, von golde ein straˆle in einer hant und in der andern ist ein brant. Daz kint haˆt uˆf den rant gesprenget zweˆne vlügel mit snellem vluge. Der schilt ist uˆz und uˆz gespenget an dem zeichen und an dem zuge. (V. 67–76)
Nach dem eindringlichen Verweis auf die eigentliche, allegorische Bedeutung dieses Bildes (V. 79–80: Schilt unde kint, daz ist ein wint, / irn nemet ouch der gloˆsen war) folgt ein zweiter Durchgang in Form einer längeren, detailreicheren Beschreibung mit integrierter Deutung (V. 85–132), also eine Allegorese.36 Schildbeschreibung wie die anschließende Allegorese beginnen jeweils mit einer Anrufung der Minne – ein im Mittelalter häufig übernommener antiker Topos – und einer Wendung des Sängers an sein Publikum, mit der er sich dessen Aufmerksamkeit versichert. Die Descriptio an sich ist ebenfalls eine poetische Praxis aus der Antike, die man im Mittelalter vor allem in der Epik in großer Breite übernahm.37 Indem der Sänger den Schild der Minne beschreibt, greift er die bekannteste und älteste Art der Kunstbeschreibung auf: Von der homerischen Darstellung des Achilleus-Schildes hatte sie über die Schilderung der Waffen des Aeneas durch Vergil ihren Weg zu Heinrich von Veldeke und damit in die mittelhochdeutsche Literatur gefunden. Der Wilde Alexander bindet an die kurze Schildbeschreibung eine mittelalterliche Allegorese an und läßt den Sänger so ein Wappen auf dem Schild entwerfen, das für die Liebe steht und damit auch das Signum aller Minneritter der militia amoris ist. Sämtliche hierin enthaltenen Attribute – roter Hintergrund, Kindlichkeit, Krone, Blindheit, der goldene Pfeil und die Flammen – werden in der Allegorese im Hinblick auf die Zweischneidigkeit der Liebe und die in ihr enthaltene Gleichzeitigkeit von Freude und Leid ausgedeutet, und zwar »nach den Intentionen der Ars amandi«:38 Als Kind werde Amor dargestellt, weil er stets unberechenbare Tücke zeige (V. 91– 94). Die Krone signalisiere die Macht, die manchen Fürsten überwinde (V. 95–98), die Blindheit stehe für die Ungerechtigkeit bei der Auswahl seiner Günstlinge (V. 115– 117). Pfeil und Flammen symbolisierten den Moment des Sich-verliebens und den folgenden Brand (V. 87–90), das rote Feld findet eine Ausdeutung als das im Minnekampf fließende Blut (V. 128–132); und das Gefieder, mit dem Amor fliegt, sym36 37
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Vgl. auch Kreibich [Anm. 25], S. 184–192. Dies zeigt für die mittelhochdeutsche Epik im Überblick Haiko Wandhoff, Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters (New Trends in Medieval Philology 3), Berlin/New York 2003. Kreibich [Anm. 25], S. 189.
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bolisiere die Gedanken der Liebenden, die er zu lenken vermag (V. 121–124). In dieser Darstellung eines Abbilds von Amor als Wappen der Minneritter (der ersten Ausgestaltung eines Amorbildes in der deutschen Literatur) verschränkt der Wilde Alexander kunstvoll Bestandteile zeitgenössischer Minneauffassung mit der antiken Bildlichkeit. Und dies tut er noch auf einer ganz anderen weiteren Ebene, wenn er nämlich antike Schildbeschreibung mit zeitgenössischer Allegorese verbindet, antike Inspirationsbitten an die personifizierte Minne des Mittelalters richtet – und dies alles in die zeitgenössische Form des Leichs gießt. Wo Konrad von Würzburg antike und mittelalterliche Literatur als Anspielungshorizonte miteinander in Zwiesprache kommen läßt, verschmelzt der Wilde Alexander beide auf inhaltlicher und formaler Ebene in einer Art, mit der seine Dichtung sich sehr der lateinischen Lyrik seiner Zeit annähert. Es ist wichtig, sich vor einer Schlußbetrachtung noch einmal vor Augen zu führen, daß Anspielungen an antike Mythen im Minnesang stets Ausnahmen markieren. Für Morungen war der Thüringische Hof ein Auditorium, bei dem er ein gewisses Interesse voraussetzen konnte. Die jeweils disparate und komplizierte Überlieferung der hier behandelten Beispiele sprechen dafür, daß solche Lieder jedenfalls nicht die bekanntesten außerhalb dieses Hofs waren. Der Ausnahmecharakter gilt, wie schon erwähnt, im Kern auch noch für die beiden Leichs im Oeuvre der beiden Berufsdichter Konrad von Würzburg und Wilder Alexander. Doch läßt sich auch unter diesen Sonderfällen eine Entwicklung umreißen: In Morungens Liedern markiert der Mythos stets eine fremde Welt des Unerreichbaren, die für die Beschreibung des Idealen genutzt wird. Diese Welt dient nicht als Vergleichsfolie zur allegorisierenden Beschreibung, sondern zur Überhöhung der Minnedame oder zur Illustration ihrer Unerreichbarkeit. Die Bildlichkeit drückt eine für Morungen typische Situation aus, die ähnlich auch mit dem Bild der Geliebten als Sonne oder Morgenstern zum Ausdruck kommt, wie es nicht nur in den hier besprochenen Liedern auftaucht.39 Diese Welt des Mythos entwickelt eine intensive Präsenz in der Realität des Sängers, auch wenn sie – wie im Narzißlied – nicht spezifisch markiert wird. Sie gibt dem Lied aber das Grundthema vor. Operiert also Morungen mit einer unmittelbaren Präsenz des Mythos, benutzen die Minneleichs Elemente der Mythologie für ein literarisches Spiel, das sich schon wesentlich gelehrter präsentiert als die Anspielungen in Morungens Lyrik. Konrad von Würzburg beschreibt und deutet allegorisch eine defiziente Realität, deren Lösung sich im Kontext des anzitierten Mythos andeutet. Auf ähnliche Weise kann die Antike didaktisch funktionalisiert werden, wie es vor allem der Wilde Alexander vorführt: Die Allegorese des Minneschilds ist zugleich Belehrung über das Wesen der Minne. Auch er greift auf die Kontexte seiner antiken Bilder zurück, und nur in einem solchen Verfahren wird eine solche Didaxe in der Lyrik möglich. Morungens Bildlichkeit verschließt sich solchen Verfahren.
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Z. B. die Strophen MF 123,1; 124,32 und 134,36.
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Im Überblick wird deutlich, wie antike Mythen im Zuge der Allegorisierung zunehmend ihrerseits als Bestandteile von Literatur aufgefaßt und verwendet werden. Dies läuft parallel mit dem bereits an der Leichdichtung beobachteten einsetzenden Übergang zur Leselyrik.40 Zeigt sich dies bei Konrad bereits an seinem Umgang mit den Versatzstücken der Mythologie, geht der Wilde Alexander hier noch weiter. Er übernimmt neben den Bildern aus der Antike auch formale Elemente der sie überliefernden Literatur. Damit sind die Antike und ihre Rezeption vollständig literarisiert. Die Unmittelbarkeit, mit der der Mythos allerdings bei Morungen in die Welt des Sängers eingebrochen ist, welche die Leuchtkraft der poetischen Bilder seiner Lyrik ausmacht, diese Unmittelbarkeit in der Begegnung mit Figuren der Mythologie läßt sich in einem solchen gelehrten Spiel nicht mehr erzeugen.
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Glier [Anm. 25], S. 163 f.
Die ›Köche‹ in Walthers ‘Spießbratenspruch’ (L. 17,11)1 Zum performativen Rahmen einer politischen Warnung von Derk Ohlenroth
Auf der Stadtburg von Oransche, Glorjet, versengt der Küchenmeister frühmorgens einem in der Küche schlafenden Knappen, Rennewart, Bart und Mund, wofür dieser ihn gebunden in die Glut unter einem Kessel wirft (Wolfram, ‘Willehalm’ VI 286,1– 18). Der Erzähler kommentiert das so: her Vogelweide von braˆten sanc: / dirre braˆte was dicke und lanc: / ez hete sıˆn vrouwe dran genuoc, / der er soˆ holdez herze ie truoc. (19–22) – ‘Herr Vogelweide sang von Bratenstücken: / Dieses Bratenstück war dick und lang. / Seine Herrin hätte daran genug gehabt, / der er stets so zugetan war.’ Daß Wolfram damit auf Walthers bekannten ‘Spießbratenspruch’ (L. 17,11) anspielt, sichern die Stichwörter 19 braˆten und 20 dicke. Der Spruch im ‘Zweiten Philippston’ lautet:
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Wir suln den kochen raˆten, sıˆt ez in alsoˆ hoˆhe steˆ, daz si sich niht versuˆmen, daz si der vürsten braˆten snıˆden grœzer baz danne eˆ, doch dicker eines duˆmen. Ze Kriechen wart ein spiz versniten, daz tet ein hant mit argen siten, si enmoht ez niemer haˆn vermiten: der braˆte was ze dünne. des muose der heˆrre vür die tür, die fürsten saˆzen ander kür. der nuˆ daz rıˆch alsoˆ verlür, dem stüende baz, daz er nie spiz gewünne.
(‘Wir wollen den Köchen raten, / nachdem für sie von so herausragender Bedeutung ist, / daß sie ihre Pflicht nicht vernachlässigen, / sie möchten die Bratenstücke der Fürsten / merklich größer schneiden als zuvor, / jedenfalls um einen Daumen breiter (dicker als daumenbreit?). / In Byzanz wurde ein Spießbraten tranchiert; / das besorgte eine Hand auf knauserige Art / (sie hätte niemals anders gekonnt): / Das Bratenstück war zu dünn ausgefallen. / Dafür wurde der Herrscher vor die Tür gesetzt. / Die Fürsten saßen [für eine andere Wahl (?)] zusammen. / Wer jetzt die Königsherrschaft ebenso verlöre, / dem hätte es besser angestanden, nie über einen Spießbraten zu verfügen.’)
Walthers kecker Spruch erinnert an Ereignisse in der Endphase des byzantinischen Kaiserreiches. Isaak II. Angelos, Schwiegervater Philipps von Schwaben, wurde 1195 1
Zitiert wird nach der Ausgabe: Walther von der Vogelweide. Leich, Lieder, Sangsprüche. 14., völlig neu bearbeitete Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner, hg. von Christoph Cormeau, Berlin/New York 1996.
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von seinem Bruder, Alexios III., im Wege einer Palastverschwörung gestürzt und geblendet. Mitte 1203 kehrte er mit Kreuzfahrerhilfe (neben seinem Sohn Alexios IV. als Mitregenten) für nur kurze Zeit wieder zur Herrschaft zurück. Schon im Februar 1204 nämlich wurde die Kaiserherrschaft der Angeloi auf spektakuläre Weise gewaltsam beendet: Alexios IV. »wurde in ein Verlies geworfen und dort allgemein und verdientermaßen unbeklagt erdrosselt. Sein Vater Isaak starb einige Tage später an Kummer und wohlüberlegter Mißhandlung.«2 Nun »sind weder Alexios und seine Vorgänger noch sein Nachfolger im untergehenden Byzanz bzw. im Restreich jemals gewählt worden [. . .]«;3 erst im März 1204 wurde die »bisherige Erb- in eine Wahlmonarchie umgeformt [. . .] daß aber diese Wahlen von Fürsten vorgenommen sein oder werden sollten, davon ist keine Rede.«.4 »Ein Wahlgremium aus Venezianern und Franken wählte Balduin von Flandern zum ersten Herrscher eines neu errichteten sog. lateinischen Kaisertums.«5 Walthers Spruch, der eine kür anspricht (17,22), ist deshalb nach allgemeiner Auffassung entsprechend spät, nämlich »[. . .] zwischen 1204 und 1208 [. . .] zu datieren.«6 Wolframs ‘Willehalm’ wiederum pflegt man auf etwa 1210–1220 anzusetzen, womit das VI. Buch um eine unbestimmte Zeitspanne von dem hier erinnerten Walther-Spruch abrückt. Mackensen meint dazu: »Daß Wolfram gerade in diesem hochkomischen Augenblicke [. . .] an Walthers Verse erinnert wird, zeigt, wie er sie verstanden, wie er sie ein Jahrzehnt mindestens im Gedächtnis behalten hat.«7 We n n nämlich Wolfram »im Herbst 1203 über Erfurt nach Eisenach geritten ist« – so Mackensen – so ist »die Vermutung, daß die Spießbratenstrophe damals in Eisenach entstanden ist und vorgetragen wurde, [. . .] erneut gestützt: Wolfram hat die erste Wirkung des Spruches miterlebt!«8 Es fragt sich jedoch, ob dies für 2
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Vgl. Steven Runciman, Geschichte der Kreuzzüge, Dritter Band: Das Kaiserreich Akkon und die späteren Kreuzzüge, München 1960, S. 116–136, hier S. 125. – Eine knappe Übersicht über die historischen Fakten ferner in: Walther von der Vogelweide. Werke. Gesamtausgabe, Bd. 1: Spruchlyrik. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hg., übers. und komm. von Günther Schweikle, Stuttgart 22005 (RUB 819), S. 358 f.; Ursula Liebertz-Grün, Rhetorische Tradition und künstlerische Individualität. Neue Einblicke in L. 19,29 und L. 17,11, in: Walther von der Vogelweide. Beiträge zu Leben und Werk, hg. von Hans-Dieter Mück, Stuttgart 1989, S. 281–297, hier S. 292. Bernd Ulrich Hucker, Kaiser Otto IV., Hannover 1990, S. 158. Lutz Mackensen, Zu Walthers Spießbratenspruch, in: Studien zur deutschen Philologie des Mittelalters. FS Friedrich Panzer, hg. von Richard Kienast, Heidelberg 1950, S. 48–58, hier S. 52. Im Westen war bekannt, »daß die neue, lateinische Herrschaft sich auf eine Wahl gründete, wenn auch die Wahlmänner nur zum Teil Fürsten, nämlich Bischöfe waren.« (Hucker [Anm. 3], S. 158). Schweikle [Anm. 2], S. 358. – Man möchte den ‘Spießbratenspruch’ »nach Juni 1204, nach dem Bekanntwerden der Kaiserwahl von Byzanz«, datieren (Manfred Günter Scholz, Walther von der Vogelweide, Stuttgart/Weimar 1999 [SM 316], S. 67). Mackensen [Anm. 4], S. 51; vgl. S. 55: »nach mehr als einem Jahrzehnt«. In gleichem Sinne Wolfgang Mohr, Die ‘vrouwe’ Walthers von der Vogelweide, in: ZfdPh 86 (1967), S. 1–10, hier S. 7: »Reichlich ein Jahrzehnt später erinnert Wolfram von Eschenbach im ‘Willehalm’ (286,19–22) sein Thüringer Publikum an Walthers Spießbratenspruch.« Mackensen [Anm. 4], S. 55 f.
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eine Überbrückung des namhaften Zeitintervalls hinreicht. Was nämlich für den Erzähler, sollte ebenso für sein Publikum gelten: Die gewünschte Wirkung im Vortrag setzt für alle Anwesenden d i e s e l b e lebhafte Präsenz der Spruchstrophe voraus. Kann ein so pointiert aktualitätsbezogener Spruch wie L. 17,11 einem gesammelten Hörerpublikum nach gut einem Jahrzehnt noch hinreichend lebendig vor Augen gestanden haben?9 Wir belassen es vorläufig bei der Frage und wenden uns den Texten selbst zu, vorab Wolframs kurzer Erzählerreplik. Daß der so gewagt anmutende Seitenhieb gegen Walthers vrouwe – ez hete sıˆn vrouwe dran genuoc, / der er soˆ holdez herze ie truoc (286,21–22) – nicht nur den halben Umfang der Erzählerbemerkung ausmacht, sondern diese abschließt, bekundet seinen besonderen Stellenwert im vorgegebenen Rahmen. Doch gilt die provokante Bemerkung mindestens in gleichem Maße dem Sänger selbst. Ja, die innere Gewichtung der knappen Erzählerrede scheint zu verraten, daß Wolfram sein Publikum nicht allein mit einem treffsicher-steigernden Fortspielen des braˆte-Motivs erheitern, sondern zugleich den Dichterkollegen humorvoll-ironisch ›vorführen‹ wollte. Gerade das deiktische soˆ (286,22) bezeugt ein durchaus zielgerichtetes Einvernehmen mit den Hörern. Wenn es von einem verallgemeinernden ie begleitet wird, so spielt Wolfram auf eine Haltung Walthers an, die jeder kannte. Die Verallgemeinerung entspricht einem gezielten Sarkasmus, dessen optimale Bedingung die Anwesenheit des Adressaten wäre – der Pointe des knappen ›Zitats‹ käme Walthers leibhafte Präsenz sehr wohl zugute. All dessen ungeachtet gibt nun der Inhalt von Wolframs kurzer Bemerkung Anlaß zu einer ernsthaften Irritation. Wenn wirklich Walthers vrouwe gemeint ist, stehen unter den herkömmlichen Rezeptionsvorzeichen die alten höchst beunruhigenden Fragen im Raum: welch enormer ›Appetit‹ der vrouwe diesen brüsken Hieb Wolframs gerechtfertigt hätte – denn was sonst käme als Motiv für einen solchen Ausfall in Betracht? – und wie sie selbst samt der übrigen prominenten Gesellschaft eine solche Freiheit des Erzählers aufgenommen haben mag.10 Man pflegt ja die kurze 9
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Ulrich Müller, Untersuchungen zur politischen Lyrik des Mittelalters, Göppingen 1974 (GAG 55/56), S. 55, akzentuiert umgekehrt: »Die Anspielung Wolframs (Willehalm 286,19 ff.) spricht für die Bekanntheit der Strophe [. . .]« – »Wolframs Anspielung auf diese Strophe [. . .] zeigt, welchen Erfolg Walther mit seinem Bild [»der fleisch-schneidenden Köche«] hatte [. . .]« (ebd., S. 520). Harald Haferland, Hohe Minne. Zur Beschreibung der Minnekanzone, Berlin 2000 (Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie 10), S. 356, vermutet: »Daß an Walthers vrouwe irgendetwas aufgefallen sein muß – was immer es war –, setzt Wolframs Anspielung sicher voraus.« – Mohr [Anm. 7] sah bekanntlich »das Rätsel der Willehalm-Stelle« gelöst (S. 9), wenn Walthers vrouwe Hermann von Thüringen wäre, gegen welchen sich dann Wolframs Spott mehr als gegen Walther richtete (S. 8): »[. . .] der Scherz mit Walther und seiner vrouwe war doch nur möglich, wenn die Vorstellung vom politischen Dichter im Herrendienst und vom Minnesinger im Hofdienst einer vermeintlichen vrouwe sehr nahe beieinanderlag.« (ebd.). Die Hypothese einer »vermeintlichen vrouwe« jedoch und ihre Implikationen sind geeignet, die Geister zu entzweien; hier wird der Text unbefangen wörtlich genommen. Joachim Heinzle, Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Mittelhochdeutscher Text, Übersetzung, Kommentar, hg. von
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Erzählerbemerkung im ‘Willehalm’ etwa so zu rezipieren: Nachdem v. 19 Walther und seinen ‘Spießbratenspruch’ in Erinnerung gerufen hat, lenkt schon v. 20 mit dirre braˆte in die Koordinaten des Erzählinhalts zurück. Man sieht infolgedessen in v. 21 entsprechend überrascht die vrouwe Walthers, bereits losgelöst vom Spruch-Kontext, dieser ungefügen Kost gegenüber und fragt sich, wie Wolfram auf sie verfallen konnte, warum ihr dieses ungeheuerliche Format zugemutet, ja geradezu ›vorgeworfen‹ wird und über welch mörderischen Appetit sie verfügt haben muß. Mit einem Wort: Die Vorstellung ist bizarr und ein entsprechend bestürzender Affront gegen Walthers vrouwe. Es müßte aber wohl nicht so sein: Eine (hypothetische) leibhafte Präsenz Walthers – könnte sie am Ende nicht dasselbe bedeuten wie eine aktuelle Präsenz seines von Wolfram ›in Erinnerung gerufenen‹ ‘Spießbratenspruchs’? Unterstellte man hypothetisch, Wolframs Erzählerbemerkung b l i e b e gewissermaßen in der Funktionalität eines soeben erst zum besten gegebenen Spruches, führe also gleichsam auf dessen ›Schiene‹ fort, so fügte sich v. 20 (dirre braˆte [. . .]) ohne weiteres der Perspektive von Walthers – noch aktueller! – Forderung: ›Dies entspräche dem angemahnten Braten‹. Es bedürfte lediglich der – nicht beweisbaren, doch naheliegenden – Vorannahme, die vrouwe Walthers, der ja f ü r die ›Fürsten‹ g e g e n den herrscherlichen Hof Partei nimmt, sei nicht Königin gewesen (also etwa Philipps Gemahlin, Irene, die Tochter Isaaks II. von Byzanz), sondern habe im Rang einer ›Fürstin‹ gestanden. Während sonst die Frage unbeantwortet bliebe, warum Wolfram überhaupt in diesem Zusammenhang Walthers vrouwe so unvermittelt ins Spiel gebracht habe, wäre sie so geradezu automatisch in d e n Empfängerkreis gerückt, für dessen Belange Walther eintrat. Dies hätte Wolfram die Möglichkeit eröffnet, Walthers Einmischung gezielt zu persiflieren: Er hätte scherzhaft ein p e r s ö n l i c h e s Anliegen des Sängers konstruiert, ›seine‹ Fürstin üppiger als bisher bewirtet zu sehen. Ein gegen sie stets bewiesenes holdez herze (22) des Sänger-Kollegen hätte er spaßhaft in ein besonderes Interesse für ihr leibliches Wohl verkehrt, also die Metaphorik zu Wa l t h e r s Lasten wörtlich genommen. Der Akzent dieser gutgelaunten Replik läge in v. 21 weniger auf vrouwe als auf dem – von Walther selbst vorbereiteten – Begriff genuoc. Über Walthers ahnungslose und gewiß höfisch-kultivierte vrouwe wäre die monströse Zumutung ebenso unversehens wie u n v e r s c h u l d e t hereingebrochen. Darin, daß indirekt Walther selbst ihr diesen ›Braten‹ vorgesetzt hätte, daß ihm also mit seiner noch im Raum stehenden Forderung mutwillig etwas in den Mund gelegt worden wäre, was er so weder gesagt noch gemeint hatte, läge das erheiternde Moment – nicht in der zügellosen Gefräßigkeit seiner vrouwe. Wolframs Gegenschlag wäre hiermit weit weniger anzüglich; alle ›Schuld‹ läge auf seiten des (wörtlich genommenen) WaltherSpruches. Die Bedingungen dafür jedoch sind klar: Der Bezug funktioniert nur, wenn Joachim Heinzle. Mit den Miniaturen aus der Wolfenbütteler Handschrift und einem Aufsatz von Peter und Dorothea Diemer, Frankfurt a. M. 1991 (Bibliothek des Mittelalters Bd. 9), sucht die drastische Vorstellung zu entkonkretisieren: »wahrscheinlich ist die von dem Minnesänger Walther angebetete Minnedame gemeint; der Typus, nicht eine bestimmte Person« (S. 1014).
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der Spruch noch in ungebrochener Aktualität im Raum steht; Walthers Forderung nach größeren Bratenstücken ebenso wie die damit wachgerufene Erwartung des Publikums bestünde gerade j e t z t und würde j e t z t ›bedient‹. In der Spannung, die die Aktualität entwirft, wäre Wolframs Replik automatisch richtig gesteuert. Jahre später, wenn diese Spannung längst verfallen war, fehlte die tragende ›Schiene‹, auf welcher die Replik ins Ziel kommen konnte. Bei einer aktuellen Präsenz des Walther-Spruches im ‘Willehalm’-Vortrag käme es nicht zu jener ebenso willkürlichen wie unverschämten Brüskierung der vrouwe Walthers von der Vogelweide, die so viel Mühe gemacht hat. Unter den hiermit entworfenen hypothetischen Voraussetzungen mag es sich lohnen, die Aufmerksamkeit nunmehr speziell auf Walthers ‘Spießbratenspruch’ zu lenken. Im Walther-Spruch kommt das erste Stichwort des Eingangsverses, koche, ohne textexternen Zusammenhang wahrgenommen, bei aller Originalität, die man ihm zu attestieren gewohnt ist, durchaus unmotiviert. Dabei sollten die Hörer mit Beginn des Spruchs nicht allein auf Anhieb wissen, wer mit den kochen gemeint sei,11 sondern von Anfang an auch, warum die Metapher, deren Sinn sich ja erst drei Verse später mit der des vürsten braˆten (17,14) zu enthüllen beginnt, überhaupt gewählt wurde. Man hat sich Walthers Küchenmetaphorik offenbar unter einer der Vortragswirklichkeit verpflichteten Perspektive bisher nicht vergegenwärtigt und an den so unvermittelt präsentierten kochen nichts ›Anstößiges‹ gefunden: »[. . .] das witzige, verschleiernde Spiel mit den Worten koch, fürst [sic] und heˆrre [. . .] all das zeugt von Einfallsreichtum, Geist und der damals wohl doppelt geschätzten Gabe, überraschen zu können.«12 War aber, wenn die Reichsministerialen gemeint waren, die »überraschende« Metapher koche auch problemlos verständlich? Welche Situation setzt sie voraus, und vermochte das Publikum einer späteren Reminiszenz im ‘Willehalm’ diese noch zu realisieren? Doch die Irritationen verschärfen sich: Auf die zwei Folgeverse des Eingangsstollens – sıˆt ez in alsoˆ hoˆhe steˆ und daz si sich niht versuˆmen (17,12–13)13 hat offenbar kaum jemand wirklich achtgehabt. Zunächst: Inwiefern käme für die ›Köche‹ so viel ›darauf‹ an oder käme ›es‹ sie ›so hoch zu stehen . . .‹? v. Kraus14 behilft sich mit einer Vorwegnahme der Schlußpartie: »[. . .] daß nämlich der heˆrre (21) das rıˆche nicht verliert (23).« Doch hieße das wohl die appellative Struktur des Spruches aus den 11
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Man denkt an »Reichshofbeamte« (Kurt Herbert Halbach, Walther von der Vogelweide, Stuttgart 31973, S. 89), »Reichsministeriale« (Hucker [Anm. 3], S. 157), »Ratgeber, welche die Reichsgüter zu verwalten (und zu verteilen) hatten« (Schweikle [Anm. 2], S. 358). Mackensen [Anm. 4], S. 55. BMZ II/2 (Sp. 575a) geben zu 17,12: »so viel für sie darauf ankommt«; v. Kraus (Carl v. Kraus, Walther von der Vogelweide. Untersuchungen, Berlin/Leipzig 1935, S. 45 Anm. 1): »[. . .] Ich meine [. . .], der Wortlaut gestattet nur den Sinn: ›da sie so hohen Einsatz machen müssen, da es ihnen so hoch zu stehen kommt‹, s. Nib. B 330,3 [. . .]«. Wapnewski (Walther von der Vogelweide, Gedichte. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung, ausgewählt und übersetzt von Peter Wapnewski, Frankfurt a. M./Hamburg 1976, S. 143) und Schweikle ([Anm. 2], S. 97) übersetzen ähnlich: »da es sie so teuer zu stehen kommen kann«. v. Kraus [Anm. 13], S. 45 Anm. 1.
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Augen lassen: Das mißliche Schicksal des heˆrren, vor dessen neuerlicher Erfüllung die Strophe warnt, ist deren eigentlicher Clou und zu ihrem Beginn der Hörerschaft natürlich noch nicht gegenwärtig. Für v. Kraus wird der Text hier zum Material einer Lektüre, die von der Textwirklichkeit abstrahiert und die die Frage nach einer rhetorisch-performativen Funktion der Strophe vernachlässigt. Dagegen steht in v. 17,12 sogar ein alsoˆ: Es muß einen Bezug ansprechen, den das Publikum augenblicklich hat realisieren können. Gesetzt, in der politischen Situation, die Walther anspricht, sei das der Fall gewesen – schon wenige Jahre später konnte sicher, ähnlich wie heute, kaum noch jemand etwas mit dem Hinweis anfangen. Die Bemerkung in ihrem unverkennbaren Sarkasmus gehört aber zum Wesenskern der Strophe. Man wird noch einen Schritt weiter gehen dürfen: Gerade solange die ›metaphorische‹ Ebene, welcher die koche angehören, nicht für jedermann auf ihre Anwendung transparent geworden ist, sollten die zwei Folgeverse (17,12–13) in ihrem Bezug auf die koche erst recht einen schlüssigen Sinn ergeben, in dessen Rahmen sich insbesondere das deiktische alsoˆ stringent beziehen ließe. Befremden mag in dem Zusammenhang auch, daß jenes hohe Risiko ausgerechnet den kochen zugewiesen wird und nicht dem, der es in erster Linie tragen würde, dem Herrscher selbst. Eine zweite sensible Frage lautet aber: Worin sollen sich die ›Köche‹ nicht ›verspäten‹? Nachmalige Hörer wie moderne Leser müßte die Strophe in der Frage nach Inhalt und Gewicht des sich versuˆmen ratlos lassen. Die ›Lösung‹, welche die gängigen Übersetzungen bieten, verschleiert das Problem: Sie geben zunächst vor, 17,13 daz si sich niht versuˆmen hänge von 17,11 raˆten ab. So übersetzt Wapnewski:15 »Wir halten es für unsere Pflicht, den Küchenmeistern den Rat zu geben / – da es sie so teuer zu stehen kommen kann –, / sie möchten dringlich darauf achten, / den Braten der Fürsten / großzügiger zu tranchieren denn bisher [. . .]«. Schweikle:16 »Wir müssen den Köchen raten, / da es sie so teuer zu stehen kommen kann, / daß sie es nicht versäumen, / daß sie der Fürsten Braten / lieber in größere Stücke schneiden als früher [. . .]«. Schließlich Margherita Kuhn:17 »Wir müssen den Köchen raten, / weil es sie so teuer zu stehen kommen kann, / daß sie nicht zögern, / den Braten der Fürsten / größer und besser zu schneiden als bisher [. . .]«.18 Eine Abhängigkeit des Verses 17,13 15 16 17
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Wapnewski [Anm. 13], S. 143. Schweikle [Anm. 2], S. 97. Deutsche Lyrik des Frühen und Hohen Mittelalters. Edition der Texte und Kommentar von Ingrid Kasten, Übersetzung von Margherita Kuhn (Bibliothek des Mittelalters 3; Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 6), Frankfurt a. M. 2005, S. 483 f. Ähnlich übersetzt den Vers 17,13 zuvor Liebertz-Grün [Anm. 2], S. 289: »Wir wollen den Köchen raten, / – da es sie so teuer zu stehen kommen kann –, / sie sollen nicht zögern, / den Braten der Fürsten / in dickere Stücke als vorher zu zerlegen, / um mehr als Daumendicke.« – Entsprechend auch Joerg Schaefer, Walther von der Vogelweide: Werke. Text und Prosaübersetzung, Erläuterung der Gedichte, Erklärung der wichtigsten Begriffe, Darmstadt 1972, S. 265: »Wir wollen den Köchen raten, da sie’s doch so teuer zu stehen kommt, sie sollen schleunigst den Braten der Fürsten in größere Stücke schneiden als früher, mindestens um Daumendicke.« – Schon Karl Simrock hatte in diesem Sinne übertragen: »Man soll den Köchen raten, / Da ihrem Wink so viel bereit, / Daß sie es nicht vermeiden, / Und ja der
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von 17,11 raˆten hat alsdann offenbar wie eine fatale syntaktische Weichenstellung gewirkt: Sie scheint eine weitere Abhängigkeit suggeriert zu haben, die des Objektsatzes 17,14–15 daz si der fürsten braˆten [. . .] von 17,13 daz si sich niht versuˆmen: Alle zitierten Übersetzungen stellen einen solchen Bezug her: die Wapnewskis und Schweikles über die antizipierenden Ausdrücke (» d a r a u f achten – e s nicht versäumen«), welche erst der folgende Objektsatz (»daß sie der Fürsten Braten [. . .]«) expliziert; die Kuhns über das – sonst inhaltsleere – »nicht zögern«, das ebenfalls eine Ergänzung fordert.19 Was »so teuer zu stehen kommen kann«, müßte sich hiernach wohl mit Carl v. Kraus erklären; worin die Köche sich niht versuˆmen sollen, stünde unmittelbar im Text: nämlich in der Portionierung der Bratenstücke. Das unbemerkte Problem liegt in der Verwendung von mhd. sich versuˆmen. BMZ (II/2, Sp. 730a) zitieren – unter Auslassung von v. 17,12 (!) – als festen Zusammenhang: »wir suln den kochen raˆten, daz si sich niht versuˆmen Walth. 17,13 vgl. 110,32.«, führen dann aber Belege für präpositionale (neben mit vor allem an) und eine Gen.-Konstruktion an; Lexer20 liefert neben Belegen für die präpositionale Konstruktion mit an auch einen für die mit gegen. Was sich in beiden Lexika n i c h t findet, ist die Konstruktion von sich versuˆmen mit einem daz-Satz. Das dürfte heißen: Die Unterstellung einer solchen Konstruktion und eine entsprechende Übersetzung sind, solange entsprechende Belege fehlen, nicht hinreichend fundiert. Die Strophe meint allem Anschein nach nicht das, was man aus ihr herausliest. Vielmehr hängt 17,13 daz si sich niht versuˆmen von 17,12 ez ab und 17,14 f. daz si der fürsten braˆten [. . .] von 17,11 raˆten. Daraus folgt eine harmonische Verteilung des regierenden Satzgefüges auf den ersten und des vom Hauptsatz abhängigen Objektsatzes – über den Reim verbunden – auf den zweiten Stollen: Genau dieselbe Rücksicht auf die metrischen Bauteile des Aufgesangs findetsich in der gedanklichen Gliederung a l l e r weiteren Strophen des ‘Zweiten Philippstons’. Damit jedoch sind die beiden Verse 17,12–13 syntaktisch und semantisch direkt miteinander verbunden. Nicht allein der betonten Dringlichkeit des sich niht versuˆmens fehlt so die plausible Motivation: Vor allem der Bezug des sich niht versuˆmens ist unversehens offen. Unbeantwortet im Raum steht mithin die Fra-
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Fürsten Braten, / Wär’ es auch nur daumenbreit, / Ein wenig dicker schneiden [. . .]« (Walther von der Vogelweide: Gedichte, übertragen von Karl Simrock, zusammengestellt und mit Nachwort und Anmerkungen versehen von Andreas Schaefer, Essen/Stuttgart 1985, S. 55). – So versteht die Partie auch Franz Viktor Spechtler: »Wir müssen den Köchen raten (weil’s ihnen sonst recht schlecht ergeht), dass sie es nicht versäumen, der edlen Fürsten Braten größer schneiden [sic] als je zuvor und dicker als ein Daumen. [. . .]« (Walther von der Vogelweide: Sämtliche Gedichte, aus dem Mittelhochdeutschen ins Neuhochdeutsche übertragen von Franz Viktor Spechtler, Klagenfurt/Celovec 2003, S. 25 f.). Allein Paul Stapf kommmt – allerdings wohl nur über eine ›Auflösung‹ von v. 17,13 im benachbarten Kontext – zu einer Abhängigkeit des Verses 17,14 von v. 17,11: »Seitdem ihr Amt so wichtig geworden ist, halten wir es für unbedingt notwendig, den Köchen den beherzigenswerten Rat zu geben, den Braten der Fürsten ein gut Teil dicker als bisher zu schneiden – wenigstens um einen Daumen breiter. [. . .]« (Walther von der Vogelweide, Sprüche. Lieder. Der Leich. Urtext. Prosaübertragung, hg. und übers. von Paul Stapf, Wiesbaden o. J., S. 27). Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Bd. 3, Leipzig 1879, Sp. 258.
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ge, i n w i e f e r n es den kochen [. . .] alsoˆ hoˆhe steˆ, daß sie sich – w o r i n ? – niht versuˆmen. Ein solcher Strophenbeginn muß einen Bezug haben. Doch weder der moderne Leser könnte ihn dem Wortlaut mehr abringen noch auch dürfte ihn ein damaliger Hörer aus Anlaß einer Rückerinnerung nach Jahren noch haben rekonstruieren können. Für sich genommen, d. h. ohne einen plausiblen textexternen Bezug, bleiben maßgebliche Akzente der Walther-Strophe, auch wenn dies bisher – infolge einer syntaktischen Fehldeutung – nicht aufgefallen zu sein scheint, funktionslos. Das macht die Suche nach einer Lösung unausweichlich. So wie wir den ‘Spießbratenspruch’ aufzufassen gewohnt sind, setzt die Strophe hart mit einer zunächst unaufgelösten Metaphorik ein: Auf v e r s c h i e d e n e n Ebenen überkreuzen sich die Begriffe koche und braˆte einerseits und vürsten andererseits. Der Wolframschen Anspielung im ‘Willehalm’ geht nun allerdings im erzählenden Text eine Situation voraus, in welcher es eben um k o c h e und v ü r s t e n geht, in primärem geschehenspragmatischem Zusammenhang, auf d e r s e l b e n , nicht-metaphorischen Ebene: den k o c h e n was daz vor gesaget, daz wære bereit, soˆ ez taget, vil spıˆse, swer die wolde, und daz ieslıˆch v ü r s t e solde enbıˆzen uˆf dem palas. durch daz vil manec kezzel was über starkiu viur gehangen. daˆ wart ein dinc begangen, des dem küchenmeister was ze vil. der warp, als ich nuˆ sagen wil [. . .]. (285,23–286,2) (‘Den Köchen war das zuvor aufgetragen, / daß mit Tagesbeginn / reichliche Speise bereit sei für jeden, den danach verlangte, / und daß ein jeglicher Fürst / auf dem Palas speisen solle. / Deshalb waren Kessel die Menge / über kräftige Feuer gehängt worden. / Da kam es zu einem Vorfall, / dessen Opfer der Küchenmeister wurde. / Der handelte, wie ich jetzt erzählen will. [. . .]’)
Es folgt der Übergriff des Küchenchefs auf den schlafenden Rennewart. Könnte sich also Walthers ‘Spießbratenspruch’ auf die zitierte ‘Willehalm’-Stelle beziehen? Die Beziehung seiner ›Köche‹ zu den genannten ›Fürsten‹ wäre augenblicklich klar. Als ›Zwischenrufer‹ brauchte Walther die Begriffe koche und vürsten nur aufzugreifen, um sich mit seinem Hörerpublikum auf der von Wolfram zur Verfügung gehaltenen geschehenspragmatisch kohärenten Ebene zusammenzufinden. Während zum einen Funktion und Bezug der ›Köche‹ für jeden Hörer sofort einsichtig wären, hätte der Sänger zugleich, mit dem Stichwort vürsten schon auf die Vortragsgegenwart herüberspielend, unbeschadet der weitergetriebenen Metaphorik (braˆte, snıˆden, spiz), die koche in schlagendem Zusammenhang n e u in Szene gesetzt. Ihre natürliche Position als ›lyrischer Zwischenruf‹ fände die Strophe vor dem zuletzt zitierten Vers, also zwischen ‘Willehalm’ 286,1 und 286,2. Obwohl durch den Reim mit dem voraufgehenden Vers verklammert,21 scheint v. 286,2 – nach zwei vorgreifenden Versen und 21
Vgl. den Übergang vom Prolog des ‘Willehalm’ zur Erzählung (5,15–16).
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durchaus im Sinne des folgenden bestürzenden Geschehens – neu anzusetzen. Das ließe ein geringfügiges Innehalten erwarten – Gelegenheit für ein improvisiertes Intermezzo. Der Inhalt des Voraufgehenden käme Walthers politischem Anliegen sehr wohl entgegen, da von einem großen Aufwand zugunsten der F ü r s t e n die Rede ist: vil spıˆse (285,25), vil manec kezzel (28), über starkiu viur (29). Walthers Anspielung: sıˆt ez in alsoˆ hoˆhe steˆ, / daz si sich niht versuˆmen würde sich dem Zusammenhang der Verse 285,23–286,1 lückenlos fügen: Wolframs kochen ist der – offenbar ungewöhnliche – Auftrag erteilt worden, mit Tagesbeginn, also besonders früh, ein reichliches Menü für das Großaufgebot der entsatzschaffenden französischen Fürsten bereit zu haben. Für die Köche kommt angesichts der ranghohen Gästegesellschaft einiges darauf an, daz si sich niht versuˆmen – ‘sich nicht zu verspäten’, ‘ihre Schuldigkeit zu tun’; das opulente Frühmahl muß unweigerlich beizeiten parat sein. Eben wegen der verordneten unverhältnismäßig frühen Stunde kann der Küchenmeister Rennewart noch schlafend in der Küche finden. Das Motiv spielt sich fort: Als der Küchenmeister im Kesselfeuer umkommt, flüchten die anderen Köche in alle möglichen Richtungen (286,24–26), und es gibt k e i n Frühmahl; dieses wird erst im Anschluß an die große Fürstenversammlung nachgeholt, und als es beendet wird, ist wol mitter morgens tac (312,26) – ‘schon hoher Vormittag’. Nach dem allen dürfte evident sein: Einen Kontext wie den vermißten böte in idealer Weise die zitierte ‘Willehalm’-Partie. Die Ironisierung des Stichwortgebers Walther, die den halben Umfang der folgenden kurzen Erzählerbemerkung ausmacht, erfordert zwar von sich aus noch keine Anwesenheit des Betroffenen, würde sich aber mit einer solchen sehr wohl vertragen, ja für eine gelingende Performanz des ‘Spießbratenspruchs’ wäre seine Positionierung an einschlägiger Stelle unmittelbar innerhalb des ‘Willehalm’-Vortrags die ideale Voraussetzung. Im epischen Vorfeld von Wolframs Anspielung scheint Walthers Spruch wie von selbst seine authentische Situation zu finden.22 Der ›Antwortende‹ in erster Instanz wäre dann nicht mehr Wolfram, sondern Walther, dessen Stichwortgeber.23 Es bedarf auch kaum einer Hervorhebung, mit welch glücklicher ›Treffsicherheit‹ der Lyriker einer von ihm schwerlich vorausgesehenen Eskalationsstufe des Küchengeschehens deren neues Stichwort, braˆte, lieferte und wie bruchlos-geistesgegenwärtig Wolfram es erzählerisch umsetzte: er enhiez uˆf in niht salzes holn, / er rach über in brende unde koln. / her Vogelweide von braˆten sanc: / dirre braˆte was dicke und lanc [. . .] (286,17–20) – ‘Er ließ, um ihn zu bestreuen, kein Salz holen; / er scharrte brennendes Holz und Kohlen über ihn’ usw. Sofern es zutrifft, daß Wolframs kurze Bemerkung a l l e n seinen Hörern eine spontane und lebhafte Detailerinnerung abverlangt, so steht – durchaus im Bewußtsein der widerständigen Chronologie – die hypothetische Möglichkeit zur Debatte, Walthers ‘Spießbratenspruch’ sei als aktualer ›lyrischer Zwischenruf‹ allen beim Vortrag der ‘Willehalm’-Passage Anwesenden aus frischester Erinnerung gegenwärtig. 22
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In Wolframs ‘Willehalm’-Publikum ließe sich demzufolge auch die Zielgruppe seiner warnenden Mahnung als anwesend denken. Mit dem stropheneröffnenden wir scheint Walther ›seine‹ Parteigänger, wenn nicht gar nach Möglichkeit die Hörerschaft des ‘Willehalm’-Vortrags als ganze, gegen die Reichshofbeamten zusammenzuschließen.
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Insbesondere ist nicht zu überhören, wie sich Tonart und Habitus der Waltherschen Mahnung von Grund auf verändern würden. So wie man den Spruch zu rezipieren gewohnt ist, werden die Reichsministerialen direkt als koche[] tituliert. Walther würde mit diesen eine schroffe Konfrontation suchen, deren geringschätzighämische Metaphorik am wenigsten geeignet wäre, die Unverbindlichkeit der Offensive zu mildern. Als lyrischer Zwischenruf verlöre der Spruch dagegen weitgehend seine unbehagliche Schärfe: Intendiert sind vordergründig die ›Köche‹ des epischen Kontextes, und der Rat des Sängers betrifft spielerisch die Zukunft des epischen Geschehens. Den aktuellen Bezug auf die politische Gegenwart (fürsten) soll man freilich heraushören; aber eingebunden in den epischen Zusammenhang und mit der Zielrichtung auf die Köche von Glorjet gibt sich die Mahnung an der Oberfläche als heitere Anspielung von eher freundlicher Eleganz. Je nachdem, auf welcher Realitätsebene das Hörerpublikum die fürsten anzusiedeln geneigt ist, macht sich die wahre Brisanz der Mahnung verhaltener oder entschiedener geltend – unüberhörbar immerhin mit 17,15 dan eˆ, unausweichlich indessen erst mit der Anwendung in den zwei letzten Versen der Strophe. Derselbe Text vermag – dies demonstriert das hier durchgespielte Modell – je nach referentieller Ebene beiderlei vorzuführen: die derb zufahrende, giftige Provokation eines subalternen Fahrenden oder den spielerischüberlegenen, vielsagend-indirekten Wink eines versierten Diplomaten. Man ist seit alters gewohnt, im ‘Spießbratenspruch’ das initiale Stichwort und in Wa l t h e r den ›Gebenden‹ zu sehen, an dessen originellen Text Wolfram nachmals (nämlich aus eigenem Anlaß) erinnere. So etwa Schweikle:24 »Wolfram von Eschenbach [. . .] spielt im Willehalm anläßlich der Rennewart-Küchenszene auf den Spruch Walthers an.« Entsprechend führt Ulrich Müller den ‘Willehalm’-Vers 286,19 als »eindeutige [. . .] Zitierung Walthers (17,11)« unter »dichterische Nachwirkung« auf.25 Doch sieht es nicht danach aus. Walthers Spruch scheint infolge einer syntaktischen Fehldeutung in seinen authentischen Voraussetzungen bis heute mißverstanden worden zu sein. Die für ein angemessenes Verständnis so entscheidende Frage nach seiner plausiblen Einbettung in eine spezifische Vortragswirklichkeit konnte damit praktisch nicht in den Blick treten. Sogar Walthers vrouwe hatte bis heute darunter zu leiden. Erst mit einer korrekten Textrezeption bricht die Frage nach dem ›Sitz‹ beider Texte ›im Leben‹ auf; es zeigt sich, daß diese Frage isoliert aus den Einzeltexten nicht zu beantworten ist: Walthers Strophe setzt einen nicht explizierten externen Bezugspunkt voraus; hier sollten ›Köche‹ eine maßgebliche und dem gesamten Publikum unmittelbar einsichtige Rolle spielen. Daß eben diese Leerstelle ausgerechnet der der Walther-Reminiszenz unmittelbar voraufgehende ‘Willehalm’-Kontext paßgenau füllt, sollte schwerlich auf einem Zufall beruhen. Wiederum macht erst die Plazierung der lyrischen Strophe im Erzählzusammenhang selbst die wahre Intention auch der Wolframschen Erzähler-Replik sichtbar. Beide an diesem wechselseitigen Zusammenspiel beteiligten Texte halten jeweils triftige Argumente dafür bereit, Walthers 24 25
Schweikle [Anm. 2], S. 359. Müller [Anm. 9], S. 330.
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‘Spießbratenspruch’ als lyrischen Zwischenruf innerhalb des ‘Willehalm’-Vortrags zu positionieren. Walthers Spruch scheint etwas von seinem originären Umfeld zurückzugewinnen, wenn man n i c h t annehmen muß, Wolfram habe ihn »in einen anderen Kontext« verlagert.26 Es sind die konkreten Rezeptionsbedingungen im originären mündlichen Vortrag und deren implizit-kritisches Moment, die geeignet sind, auf etwaige Defizite in der modernen Rezeption aufmerksam zu machen. Was die Texte w o l l e n , ist hiermit deutlich: Mit Walthers ‘Spießbratenspruch’ als lyrischem Zwischenruf im aktualen Darbietungskontext jener Küchenszene auf Glorjet würden beide ›Kommentare‹, die lyrische Strophe wie die Erzählerbemerkung, jeweils als spontane Replik ohne verbleibende Irritationen in sich stimmig. Eine Synchronisierung beider Passagen würde indes erfordern, mindestens eine von ihnen aus ihren ›angestammten‹ zeitlichen Koordinaten zu lösen – mit mehr oder minder gravierenden Konsequenzen für das chronologische Gesamtgefüge. Wollte man denn die Versetzung einer Strophe des ‘Zweiten Philippstons’ ins zweite Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts prinzipiell tolerieren, so wäre hilfreich, sich entsprechend deutlich das ins Bewußtsein zu rufen, was bisher nie bezweifelt worden ist: den unüberhörbar vom Zeitgeschehen bestimmten Impetus jenes warnenden Hinweises auf den byzantinischen Thronverlust. Die unstreitige Absicht des Spruches ist, seine Adressaten, die koche, aufzurütteln und zur Revision ihres bisherigen politischen Verhaltens zu bestimmen. Dazu sollte das byzantinische Geschehen noch hinreichend drohend vor Augen stehen. Rhetorik und Stilistik der Strophe scheinen wiederholt eine noch ungebrochene Virulenz jenes Herrschaftsverlustes zu unterstreichen: mit den Korresponsionen 14 braˆten – 20 braˆte und 14 vürsten – 22 fürsten; der adverbialen Zuspitzung 23 nuˆ [. . .] alsoˆ (‘ebenso’!), die nicht zuletzt von einer noch wirkungsmächtigen Sinnfälligkeit des Bezugsgeschehens lebt; auch über die Aussagefunktion der besonderen metrischen Struktur – im Dreireim des Abgesangsbeginns (17) bei zweisilbigen Kadenzen artikuliert sich ein zügig-lebhafter Neueinsatz, der die dringlich-konsequente Verbindlichkeit der beschworenen Unheilsvision hervorhebt; und welcher Abgesang einer ‘Zweiten-Philippston’-Strophe folgte nicht dem Zuge ungebrochen durchgehender Aktualität? Vor allem jedoch setzt das zeitlich strukturierende danne eˆ (15) ein vergleichsweise ›unproblematisches‹ Ehedem gegen eine Gegenwart ab, die noch im Bann jener beunruhigenden byzantinischen Ereignisse steht. Wen aber hätte rund ein Jahrzehnt nach dem Erlöschen der byzantinischen Erbmonarchie, längst nach dem Tode ihres letzten Repräsentanten, ja sogar Jahre nach dem gewaltsamen Ende seines Schwiegersohnes, des Stauferkönigs Philipp, fernab vom einstigen Geschehen jenes Einzelschicksal noch interessiert? Ihre Adressaten aufzurütteln, darauf kommt der Waltherschen Spruchstrophe alles an. Um ein Jahrzehnt verspätet, bliebe ihr Verweis auf jenen Isaak II. eine dürftig-verlegene, letztlich wirkungslose Reminiszenz. Dabei ist der gängige Zeitansatz für den ‘Spießbratenspruch’ seinerseits schon ein unbefriedigender Kompromiß. Überraschenderweise ist nämlich in diesem Spruch 26
Vgl. Scholz [Anm. 6], S. 67.
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»vom Tod des Angesprochenen keine Rede«.27 Gleichwohl soll die Strophe »[. . .] nach allgemeiner Meinung auf die Vertreibung der Angeloi Isaak II. und Alexios IV. (Ende 1203)« anspielen.28 Wenn aber nach dem Juni 1204 die Wahl Balduins als neuen byzantinischen Herrschers in Deutschland bekannt geworden war, dann doch erst recht der zuvor erfolgte schmähliche Tod Isaaks II., des Schwiegervaters Philipps, in der Haft. Walthers unmißverständlich mit einem bösen Beispiel warnende Anspielung auf die byzantinischen Thronwirren macht indessen vom (makabren) To d der kaiserlichen Herrscher nicht die leiseste Andeutung. Im Gegenteil, der Spruch stellt mit 17,23 der nuˆ daz rıˆch a l s oˆ verlür ausdrücklich den Bezug auf 17,21 her: des muose der heˆrre vür die tür – dafür wurde der Herrscher ›vor die Tür gewiesen‹, d. h. ›aus- (ob auch ein-?) -gesperrt‹. Der Formulierung liegt erkennbar die Vorstellung zugrunde, daß es dem Herrscher nicht auch ans Leben ging. Dies müßte eine Datierung des Spruches noch v o r einem Bekanntwerden des gewaltsamen Endes von Alexios IV. (Februar 1204), wenn nicht gar schon vor dem Ende der Angeloi-Herrschaft (1203) empfehlen. Eine solche Option befürwortete seinerzeit Mackensen, der den Spruch früher, nämlich schon auf die »Herbstmonate« (S. 56) des Jahres 1203 (S. 53) ansetzen wollte: »Indessen: was nötigt uns, die Spießbratenstrophe mit dem Tode Isaaks, mit der Ermordung Alexios’ IV. zusammenzubringen? [. . .] des muose der heˆrre für die tür. Genau dies war 1195 in Byzanz geschehen. [. . .]«29 Mit einer solchen Genauigkeit in den Modalitäten des Herrschaftsverlustes (17,21 vür die tür) vertrüge sich wiederum nur schwer jene ärgerliche Unschärfe, welche die F o r m des Herrschaftswechsels (17,22 kür) dem Hörer zumutet. G e g e n die Überlieferung (an der AC) hatten die Ausgaben nach Lachmann, dem einzig Burdach seinen Beifall versagte,30 den Text im Blick auf die Wahl Balduins von Flandern so wiedergegeben: die fürsten saˆzen a n d e r kür – also etwa: ‘die Fürsten saßen für eine andere Wahl zusammen’.31 Mit dem Ausdruck kür sitzen – ‘Wahl abhalten’32 würde sitzen gewissermaßen transitiv gebraucht.33 Aber die überlieferte Version – saˆzen an der kür34 – frei von einer solchen Mißlichkeit – scheint eben die 27 28 29 30 31
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Hucker [Anm. 3], S. 158. Vgl. Müller [Anm. 9], S. 55. Mackensen [Anm. 4], S. 52. Vgl. v. Kraus [Anm. 13], S. 45. Schweikle [Anm. 2], S. 97. – Die Konstruktion ist unglücklich, da sie nichtsdestoweniger eine voraufgehende ›Wahl‹ suggerieren könnte. Wapnewski [Anm. 13], S. 266. Nach v. Kraus [Anm. 13], S. 45 »kann man bei saˆzen wohl bleiben, für das Michels passend auf gerihte sitzen verweist.« Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Bd. 1, Leipzig 1872, Sp. 1790 nennt einen Beleg für die vürsten an der kür (‘Die gute Frau’, hg. von E. Sommer, in: ZfdA 2 [1842], S. 385–481, hier S. 476: v. 2902). Einer Königin, deren Mann gestorben ist, empfehlen die Fürsten: kieset selbe einen man. / swen ir welt, der ist uns guot (2750 f.) – ‘Wählt selbst einen Mann. Wen immer ihr wollt (wählt?), er ist uns recht.’ Sie sind dann einmütig dafür, daß der von ihr Ausersehene König werden solle (2777–2782). Zur gegebenen Zeit holt sie ihn: doˆ si in braˆhte her vür, / si bat die vürsten an der kür, / daz si im wæren undertaˆn. (2901–2903) – ‘Als sie ihn hereinholte, / bat sie die Fürsten in der Wahlversammlung, / ihm
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anstößige Vorstellung einer innerhalb der byzantinischen Erbmonarchie im Rahmen einer Fürstenversammlung veranstalteten Herrscher w a h l zu bezeugen. Das Dilemma möchte ausweglos scheinen – es sei denn, dem Vers 17,22 wäre ein anderer Sinn zuzutrauen. Muß kür an dieser Stelle unausweichlich ‘Wahl’ bedeuten? BMZ I liefern kaum einen Anhaltspunkt.35 Vergegenwärtigt man sich das Anliegen des Spruches, so scheint er sagen zu wollen: Vernachlässigt die F ü r s t e n (17,14) nicht – wenn ze Kriechen der Kaiser seiner Herrschaft entsetzt wurde, waren s i e , die ›Fürsten‹ (17,22), als maßgebliche Kraft im Spiel! Es käme im Plädoyer für die Belange der Fürsten ja weniger darauf an, wie die byzantinischen Mächtigen n a c h dem Herrschaftsverlust tätig wurden, als auf ihre maßgebliche Rolle im direkten Zusammenhang der hier beschworenen A b s e t z u n g . Weitere Bedeutungen von kür gibt nun Lexer (Bd. I [vgl. Anm. 31], Sp. 1791) an, nämlich: »entschluss, beschluss, bestimmung u. das recht dazu [. . .] strafbestimmung, strafe, zu erlegende busse: poenae quae korin appellantur.« Dies würde es erlauben, v. 17,22 probeweise den Sinn zu unterlegen: Eine F ü r s t e n versammlung war es, die ‘an diesen Umständen’ oder ‘am Beschluß dieser Strafmaßnahme’ (an der kür) mitwirkte; von einer Wa h l des byzantinischen Herrschers durch Fürsten wäre dann nicht mehr die Rede. Wohl mag man dem entgegenhalten, bei dem gewaltsamen Putsch des Alexios III. gegen die Herrschaft des Isaak II. habe es keine ›Fürstenversammlung‹ gegeben. Anstelle von ›Fürsten‹ hatten im Byzantinischen Kaiserreich aber feudalistische Kräfte, die ›Pronoiare‹ (Großgrundbesitzer), zunehmend an Einfluß gewonnen.36 Sie wurden die eigentlichen »Träger des neuen Staatsgebäudes«.37 Hier könnte man Walther im Sinne einer Warnung, der es auf die Kongruenz des maßgeblichen politischen Kräftespiels ankam, wohl eine ›Übersetzung‹ in die heimische politische Terminologie (›Fürsten‹ statt ›Grundherren‹) zutrauen. Eine solche Deutung des Verses 17,22 könnte es zulassen, den ‘Spießbratenspruch’ ohne gravierende Härten auf den Sturz Isaaks II. Angelos durch Alexios III. zu beziehen und ihn (mit Mackensen) auf einen Zeitpunkt zu datieren, noch ehe Tod oder Inhaftierung eines byzantinischen Herrschers im Westen bekannt geworden war. Je früher aber der Spruch entstanden wäre, desto delikater wiederum wirkte sich der Sog aus, in welchen die Datierung des ‘Willehalm’ geriete. Schon der geläufige Ansatz verlegt ja den ‘Spießbratenspruch’ ins zeitliche Umfeld der für das geltende chronologische Gefüge zentralen ›Weingarten‹-Anspielung im VII. Buch des ‘Parzi-
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untertan zu sein.’ Dem wird entsprochen; von einer ›Wahl‹ durch die vürsten an der kür ist bemerkenswerterweise keine Rede. Jene scheinen mit ihrer Bestätigung nur einem Protokoll zu genügen – die Königin ist es, die ›gewählt‹ hat: Unter kür scheint hier das bloße InAugenschein-Nehmen durch die zeremoniell und pro forma anwesenden Fürsten am festgesetzten Termin der Gatten- und Herrscherwahl verstanden zu sein – gänzlich o h n e deren aktives Mitwirken an der Auswahl. Als zweite Bedeutungsvariante bieten sie immerhin »die art und weise, wie etwas sich zeigt, gekorn ist« (Sp. 829a). Vgl. Georg Ostrogorsky, Byzantinische Geschichte 324–1453. Unveränd. Nachdruck der zuerst 1965 erschienenen Sonderausgabe, München 1996, S. 312–314. Ebd., S. 316.
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val’ (379,18–29); doch öffnet sich nunmehr für den Spruch allem Anschein nach ein merklicher Spielraum nach oben. Eine Verquickung des Walther-Spruches mit dem ‘Willehalm’ scheint indessen schon vorab der vermeintlich sicherste Anhaltspunkt für dessen Datierung zu verbieten: Man sieht ja in den Versen VIII 393,30–394,5 eine Anspielung auf die am 4. Oktober 1209 erfolgte Kaiserkrönung Ottos IV.38 Sie lauten: doˆ der keiser Otte ze Roˆme truoc die kroˆne, kom der alsoˆ schoˆne gevarn naˆch sıˆner wıˆhe, mıˆne volge ich dar zuo lıˆhe, daz ich im gihe, des wære genuoc. (‘Als der Kaiser Otto / in Rom die Krone trug, / zog der ebenso prächtig / nach seiner Kaiserkrönung einher, / dann trage ich meine Stimme dazu bei / und bestätige ihm, das wäre den Ansprüchen gerecht geworden.’)
Sobald man mit einem früheren Ansatz des Walther-Spruches zugleich den des ‘Willehalm’ ernstlich in Erwägung ziehen wollte, würde sich – je auch nach der (wechselnden) Parteinahme Hermanns von Thüringen39 – ein anderer Sinn dieser Anspielung aufdrängen. Schon mit einer Königswahl, also der Ottos IV. am 9.6.1198 in Köln, war die Perspektive einer späteren Kaiserkrönung realisiert.40 Aber bis dahin war es noch weit. Im Lager Ottos konnte der Vers doˆ der k e i s e r Otte [. . .] als Huldigung verstanden werden. Für je abwegiger wiederum man im Lager Philipps eine spätere Kaiserkrönung Ottos ansah, desto erheiternder konnte – entsprechend ›inszeniert‹ – derselbe Vers wirken. Erst im Fortgang gab sich die Erzählerbemerkung als Reminiszenz der O t t o n e n zu erkennen. So gesehen, gewänne die bekannte Anspielung auf die ›Kaiserkrönung Ottos IV.‹ in Buch VIII ein anderes Gesicht: Sie wäre für den ‘Willehalm’ kein so sicherer chronologischer Anhaltspunkt mehr, wie es bisher geschienen hat: Terminus a quo wäre theoretisch wohl schon die Königswahl Ottos im Juni 1198. Doch dürfte Walthers Spruch, den wir ja in Verbindung mit Buch VI sehen, mit Vers 17,23 der nuˆ daz rıˆch alsoˆ verlür eine schon bestehende Königswürde voraussetzen. Das chronologische Dilemma gibt sich wie eine Anfrage an unser historisch-philologisches ›Gewissen‹ – sollte es möglicherweise einer ernsthaften Neubesinnung über die schütteren Stützen der etablierten Chronologie bedürfen? Sofern man gleichwohl bemüht sein wird, alles weiterhin so zu halten wie gewohnt – man sollte nicht ganz übersehen: Die Texte möchten es anders.
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Zur Datierung des ‘Willehalm’ vgl. Heinzle [Anm. 10], S. 792 f. Vgl. dazu Wilhelm Wilmanns, Leben und Dichten Walthers von der Vogelweide, 2., vollst.umgearb. Aufl., besorgt von Victor Michels, Halle 1916, S. 113. Vgl. dazu etwa: Karl Hampe, Deutsche Kaisergeschichte in der Zeit der Salier und Staufer, Heidelberg 111963, S. 241.
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Nachbemerkung Eine weitere Walther-Reminiszenz Wolframs findet sich im ‘Parzival’ (VI 297,25), wo mit einem Gruß Walthers guoten tac, bœse unde guot! offensichtlich der Beginn einer (verlorenen) Walther-Strophe anzitiert wird.41 Was den epischen Kontext des Zitats angeht, so ist Wolframs gedankliche Linie absolut stringent: Lanze für Keie (5–15) – Wendung mit direkter Anrede an Hermann von Thüringen mit Blick auf die kritikwürdigen gegenwärtigen Zustände an dessen Hof (16–18) – Wünschbarkeit eines Keie für die gegenwärtige Situation (19–23) – Reaktion Walthers auf dieselbe (24–25) – Kritik an Walthers vorgeblich indifferenter Haltung, wie sie nicht den Grundsätzen (u. a.) Keies entsprochen hätte (26–29). Irritiert hat von jeher, daß Wolfram – dem knappen wörtlichen Zitat nach zu urteilen – seinem Zunftgenossen augenscheinlich unrecht tut. Scholz42 zitiert Karl Simrock (Wartburgkrieg 1858, S. 287): Ihm zufolge »enthielte die Unterscheidung zwischen Bös und Gut dieselbe Rüge wie Wolframs Wortspiel mit Ingesinde und Ausgesinde. Daß beide gegrüßt wurden, könnte Wolfram nicht im Ernst rügen wollen: Das wäre ein Mißverständnis eines S p o t t l i e d e s [. . .]«. So steht die Frage im Raum, wie sich Wolframs unsachlicher Ausfall gegen Walther rechtfertigt. Der Zusammenhang ergibt, daß dieser das Publikum am Thüringer Hof meinte. Obwohl aus dem Präsens des muoz her Walther singen [. . .] (24) noch keine Anwesenheit Walthers folgt, ist eine solche jedenfalls nicht ausgeschlossen. Räumt man sie hypothetisch ein, so könnte sich Walther, ›verführt‹ durch die Chance, das soeben (16–18) von Wolfram angesprochene aktuelle Defizit satirisch ›in Szene zu setzen‹, nach 18 ([. . .] daz uˆzgesinde hieze baz) mit der (von Wolfram alsbald zitierend aufgegriffenen) provokanten Begrüßung als Zwischenrufer eingemischt haben. Hätte er dabei nicht bedacht, daß es Wolframs Absicht sein konnte, angesichts der herrschenden Verhältnisse Keie in ein günstiges Licht zu rücken? Jedenfalls hätte er mit seiner dreisten Intervention Wolfram geradezu die Wunsch41
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Ausführlich dazu Manfred Günter Scholz, Walther von der Vogelweide und Wolfram von Eschenbach. Literarische Beziehungen und persönliches Verhältnis (Diss.), Tübingen 1966, S. 5–33. Scholz’ Einschätzung der Grußadresse: »Genauso gut könnte der Vers mitten aus einer Str. Walthers stammen, mit größerer Wahrscheinlichkeit vielleicht gar Schlußpointe gewesen sein [. . .]« (19), will mir nicht recht einleuchten. Ebensowenig die Auffassung Max Schiendorfers (Ulrich von Singenberg, Walther und Wolfram. Zur Parodie in der höfischen Literatur, Bonn 1983 [Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 112]): Schiendorfer glaubt nicht an die »einstige Existenz dieses Spruchs« (S. 221), hält das ›Zitat‹ für parodistisch verzerrt (S. 243–244) und meint, obschon der Erzähler selbst mit Nachdruck gerade das Gegenteil betont (296,19–23), »dass Wolfram seine Hochschätzung Keies lediglich vortäuscht« (S. 222; vgl. S. 222–226): »Es handelt sich bei dem vermeintlichen Zitat um eine echt Wolframsche Kapriole, in welcher er die Schizophrenie des Vogelweiders gleichsam ›wissenschaftlich‹ nachweisen will, einerseits das besagte ›Scheiden‹ vorzunehmen und es andererseits doch allen Leuten recht machen zu wollen« (S. 241). »Auch der in Pz. 297,24 angesprochene heˆr Walther, der es den Leuten recht machen will, i s t natürlich nicht der wirkliche Walther, er ist von diesem in spiegelbildlichem Sinn ebensoweit entfernt wie Keie« (S. 242). Scholz [Anm. 41], S. 22.
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Vorgabe für eine treffsichere ad-hoc-Replik geliefert: Hier wäre ein Keie am Platze; der nämlich schiet (10) valsche diet / von den werden (9–10), während Walther – dem zitierten Wortlaut nach – einen guoten tac gleichermaßen beiden, Schlechten und Tüchtigen, entbietet.43 Der Umstand immerhin, der die Forschung von Anbeginn irritiert hat, nämlich daß Wolfram Walther drastisch ›mißversteht‹, indem er dessen Gruß, ungeachtet seines offenkundigen Sarkasmus, wörtlich nimmt, steht hiermit unter pointiert anderen Vorzeichen: Ein provokanter Zwischenruf verlangt nach einer schlagfertigen Replik, und zwar nach einer s t i l g e r e c h t e n . Dies ist der entscheidende Punkt. Wird ein vorlauter Zwischenruf pariert, so handelt es sich nicht um einen sachlichen Disput. Worauf es bei einer Stegreif-Replik ankommt, ist Treffsicherheit an der O b e r f l ä c h e , welche die Lacher gewinnt; es geht um einen geistesgegenwärtigen und zielsicher gelandeten Gegenschlag als Quittung an den Herausforderer. Wolfram hatte, bestimmt durch das Keie-Lob, seine gedankliche Linie zu seinem Glück so angelegt, daß er, von Walther in der zitierten Weise herausgefordert, diesen mutwillig mißverstehen durfte. Ihn vor allem, als gegenwärtigen ›Adressaten‹, sollte man während dieser Parade mit im Blick haben. Die Irritationen, die im gelesenen Text das Wörtlichnehmen einer offenkundig ironischen Formulierung auslöst, sind ein deutliches Indiz für verfehlte Vorannahmen einer modernen Rezeption, die die Erzählerrede mit einem Lesetext verwechselt und ihren performativen Rahmen ausblendet; die vermeintliche Unstimmigkeit weist vielmehr auf die besondere Situation einer ad-hoc-Replik hin, und sie löst sich wie von selbst unter deren besonderen Voraussetzungen. Es ist der letztlich schon von Simrock unterstellte U n e r n s t , ein geradezu lustiger Humor dieser aus der Situation geborenen improvisierten Replik, welcher ihr alles scheinbar Inadäquate nimmt, den Rivalen nicht beleidigt und uns das entscheidende Argument liefert, den zitierten Walther-Vers für den Eingang eines auf Pz. VI 297,18 hin eingeworfenen ›lyrischen Zwischenrufs‹ zu erklären.
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Wie Keie verfuhr, geschah übrigens ze scherme dem herren sıˆn (8), also Artus. Walther wiederum übte – wie schon zuvor Wolfram selbst (16–18) – indirekt ›Kritik‹ auch am Landgrafen: Ihn würde Wolfram mit seinem Hinweis auf dessen waˆre milte (20) als die triftige Ursache für den bunt gemischten Zulauf (20–23) souverän entlasten: Dem freigebigen Hermann wäre ein Hofpersonal zu wünschen, wie jenes, über das Artus verfügte. – Zur Wertschätzung Hermanns vgl. Heinz Mettke, Wolfram in Thüringen; in: Studien zu Wolfram von Eschenbach. FS Werner Schröder, hg. von Kurt Gärtner und Joachim Heinzle, Tübingen 1989, S. 3–12, hier S. 5–6.
Eine bezzerunge Neidharts? von Burghart Wachinger
In der Debatte um die Echtheit der unter Neidharts Namen überlieferten Lieder muß das Lied Meie dıˆn liehter schıˆn1 eine Schlüsselrolle spielen; denn es ist das einzige Lied, das Moriz Haupt für unecht erklärt hat, obwohl es in der Riedegger Handschrift R steht,2 der Handschrift, die Haupt als Kronzeugin für Echtheitsfragen diente. »Was in R nicht steht das hat keine äussere gewähr der echtheit«, lautet Haupts viel zitierter, viel kritisierter Satz.3 Ulrich Müller hat versucht, den Satz umzukehren: »Was in R steht, das ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit echt, da es eine bewußte Auswahl aus Neidharts Werk darstellt; daraus ergibt sich aber nicht, daß alles, was nicht in R steht, unecht sein muß.«4 Daß alles unecht sei, was in R fehlt, hatte Haupt nicht behauptet, und das Wort von R als einer »bewußten Auswahl« halte ich für eine falsche Zuspitzung der Beobachtungen von Ingrid BennewitzBehr.5 Richtig ist immerhin, daß R nicht alles enthält, was wir mit guten Gründen als höchstwahrscheinlich ›echt‹ ansehen, mindestens einmal scheint mir in R sogar eine Strophe zu fehlen, die zum Verständnis unentbehrlich ist.6 Das soll hier nicht weiter 1
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Zitierte Ausgaben: Neidharts Lieder, hg. von Moriz Haupt, 2. Aufl. neu bearb. v. Edmund Wießner. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1923, [mit Ergänzungen] hg. von Ingrid Bennewitz-Behr, Ulrich Müller und Franz Viktor Spechtler, Stuttgart 1986 [zitiert Haupt/Wießner], dort S. XIX−XXIII (S. XI−XIV der Erstauflage); Die Lieder Neidharts, hg. von Edmund Wießner, fortgeführt von Hanns Fischer, 5., verb. Aufl. hg. von Paul Sappler. Mit einem Melodienanhang von Helmut Lomnitzer (ATB 44), Tübingen 1999 [zitiert Wießner/Sappler], dort Sommerlied 30; Neidhart-Lieder. Texte und Melodien sämtlicher Handschriften und Drucke, hg. von Ulrich Müller, Ingrid Bennewitz, Franz Viktor Spechtler [. . .], 3 Bde. (Salzburger Neidhart-Edition), Berlin/New York 2007 [zitiert SNE], dort Lied I R 37. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. fol. 1062, entstanden gegen Ende des 13. Jahrhunderts in Niederösterreich; Meie dıˆn liehter schıˆn steht auf Blatt 57v. Vgl. Abbildungen zur Neidhart-Überlieferung I. Die Berliner Neidhart-Handschrift R und die Pergamentfragmente Cb, K, O und M, hg. von Gerd Fritz (Litterae 11), Göppingen 1973; Franz-Josef Holznagel, Wege in die Schriftlichkeit. Untersuchungen und Materialien zur Überlieferung der mittelhochdeutschen Lyrik (Bibliotheca Germanica 32), Tübingen/Basel 1995, S. 285–309; SNE Bd. 3, S. 513–516. Haupt/Wießner, S. XIII. Ingrid Bennewitz-Behr und Ulrich Müller, Grundsätzliches zur Überlieferung, Interpretation und Edition von Neidhart-Liedern, in: ZfdPh 104 (1985), Sonderheft S. 52–79, dort S. 64 Anm. 46; zustimmend zitiert auch noch SNE Bd. 3, S. 548 Anm. 41. Ingrid Bennewitz-Behr, Original und Rezeption. Funktions- und überlieferungsgeschichtliche Studien zur Neidhart-Sammlung R (GAG 437), Göppingen 1987. Bedenken gegen die Charakterisierung von R als bewußt selektiv auch bei Becker [Anm. 11], S. 728 Anm. 14, und Holznagel [Anm. 2], S. 308 f. Die Strophe Füeget iuch, arm unde rıˆche von Winterlied 36 (Wießner/Sappler), die bei Haupt/Wießner, S. 318, noch in die Anmerkungen verbannt war; vgl. Deutsche Lyrik des
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verfolgt werden. Müllers erster Satz aber, daß das, was in R steht, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit echt sei, steht und fällt mit dem Lied Meie dıˆn liehter schıˆn, das ich hier diskutieren möchte. Wießner hatte dieses Lied ohne Begründung, wohl weil es in R steht, nur mit den R-Strophen in seine kleine ATB-Ausgabe aufgenommen, aber zu den unechten und zweifelhaften Strophen in den Anhang gestellt. Paul Sappler hat es seit der vierten Auflage dieses Bändchens als Sommerlied 30 eingeordnet, aber im Petitsatz des zweifelhaften Guts belassen; in der Einleitung bemerkt er lakonisch dazu, daß das Lied mit guten Gründen auch unter den Winterliedern stehen könnte.7 Damit bezieht er sich auf ein Merkmal, das für Haupt wohl der wichtigste Grund für die Ausscheidung des Lieds aus dem Corpus der echten Neidhart-Lieder war:8 Das Lied hat sommerlichen Natureingang, stellt sich aber mit der ausladenden Kanzonenform zu den Winterliedern. Trotz dieser Schlüsselposition des Liedes in der Echtheitsfrage geht es mir hier aber nicht primär um die Frage der Autorschaft, sondern um den Versuch, das Lied in seinen verschiedenen Fassungen zu verstehen. Denn wichtiger als die Frage, wer einen Text verfaßt hat, bleibt noch immer die Frage nach seinem Sinn, nach dem, was er leistet. Ohne Konjekturen und Hypothesen werde ich bei meinem Versuch nicht auskommen. Das Bild, das sich mir ergeben hat, ist nicht beweisbar, aber hoffentlich plausibel. An der Überlieferung des Liedes sind drei vollständige Handschriften und zwei Fragmente beteiligt. Eine Konkordanztabelle mag die Übersicht erleichtern:9 R 1 2 3
Ma ×
G
s 1 2 3
..]×
4 5 6
4
c 1 2 3 4 5 6 7 8 9
Schon ein Blick auf diese Tabelle legt die Vermutung nahe, daß ein dreistrophiges Lied in verschiedenen Überlieferungszweigen in verschiedene Richtungen erweitert worden ist. Mein Interesse richtet sich jedenfalls darauf, in den überlieferten Fassungen Schichtungen und Pointen zu entdecken. Dazu gehe ich die Strophengruppen und Fassungen durch.
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späten Mittelalters, hg. von Burghart Wachinger (Bibliothek des Mittelalters 22), Frankfurt a. M. 2006, S. 669; ebd. S. 675 f. bereits eine Skizze zu den folgenden Ausführungen zur Fassung der Riedegger Handschrift. Wießner/Sappler, S. XII. Haupt/Wießner, S. XXIII. Vgl. die ausführlichere Tabelle SNE Bd. 1, S. 260.
Eine bezzerunge Neidharts?
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Das Maastrichter Bruchstück Ma kann dabei unberücksichtigt bleiben. Es enthält nur die erste Strophe, nachgetragen auf dem unteren Rand eines fragmentarischen Doppelblatts; dabei läßt sich nicht entscheiden, ob auf weiteren verlorenen Blättern weitere Strophen eingetragen waren oder ob nur eine versprengte Einzelstrophe festgehalten werden sollte.10 Auszugehen ist von der Riedegger Handschrift R bzw. von den vier Strophen, die R und c gemeinsam bezeugen. Den Anstoß zu meinen Überlegungen hat ein Aufsatz von Hans Becker gegeben, in dem er die Fassung R gründlich untersucht hat.11 Bekker hat erstens gezeigt, daß das Lied nahe stilistische und motivliche Beziehungen zu einigen Neidhart-Liedern aufweist, insbesondere zu den beiden in R folgenden Winterliedern,12 in denen die Minneklage stark dominiert; und er hat zweitens dafür plädiert, daß das Wort bezzerunge am Ende der vierten Strophe, das in Handschrift c zum Titelstichwort geworden ist, anders zu verstehen sei, als man es bisher verstanden hat. Der Vers heiße nicht »diese Strophen sende ich der Welt, daß sie sich bess’re« (wie etwa Beyschlag13 übersetzt hat), sondern er bedeute »diese Strophen sende ich der Welt als Ausgleich, als Entschädigung«.14 Diese Darlegungen Beckers haben mich überzeugt, und ich knüpfe an sie an. Nicht so überzeugt bin ich von Beckers Folgerungen. Das Lied sei, so meint er, ein Versuch Neidharts, auf Publikumskritik an der traurigen Stimmung einiger seiner Winterlieder zu antworten mit einem betont kunstvollen, inhaltlich betont konventionellen Minnelied. Neidhart habe hier einmal »die von ihm selbst etablierten Gattungsgrenzen übersprungen, um [. . .] die Klage durch Freudenstimmung und Preis zu ersetzen«.15 Auf meine abweichende Deutung bin ich durch einen anderen Text verfallen, der ebenfalls von einer ›Besserung‹ spricht. In der ‘Limburger Chronik’, entstanden um 1400, wird zum Jahr 1347 berichtet, daß im Gefolge Kaiser Ludwigs des Bayern ein Herr Reinhart von Westerburg ein Absagelied an eine unzugängliche Dame gedichtet habe, das dann auch vollständig zitiert wird; es endet mit den Worten uf ir genade achte ich kleine, sich, daz laße ich si vurstan. Die ‘Limburger Chronik’ erzählt dann 10
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Helmut Tervooren und Thomas Bein, Ein neues Fragment zum Minnesang und zur Sangspruchdichtung, in: ZfdPh 107 (1988), S. 1–26, bes. S. 10 u. 18; vgl. auch Holznagel [Anm. 2], S. 372 f. und 387–395, bes. S. 394 f.; SNE Bd. 3, S. 511 f. Hans Becker, Meie dıˆn liehter schıˆn. Überlegungen zu Funktion und Geschichte des Minnelieds HW XI,1 ff. in den Neidhart-Liedern der Riedegger Handschrift, in: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger, Tübingen 1992, Bd. II, S. 725–742. Haupt/Wießner 97,9 ff. und 62,34 ff.; Wießner/Sappler Winterlied 32 und 19; SNE I R 38 und R 39. Vgl. schon Hans Becker, Die Neidharte. Studien zur Überlieferung, Binnentypisierung und Geschichte der Neidharte der Berliner Handschrift germ. fol. 779 (c), Göppingen 1978 (GAG 255), S. 357 Anm. 16; Bennewitz-Behr [Anm. 5], S. 128–135. Die Lieder Neidharts. Der Textbestand der Pergament-Handschriften und die Melodien. Text und Übertragung, Einführung und Worterklärungen, Konkordanz, hg. von Siegfried Beyschlag, Edition der Melodien von Horst Brunner, Darmstadt 1975, S. 105. Becker [Anm. 11], S. 740 f. Ebd., S. 741.
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weiter: Da der vurgenant keiser Ludewig daz lit gehorte, darum so strafte he den herren von Westerburg unde saide, he wolde ez der frauwen gebeßert haben. Da nam der herre von Westerburg eine kurze zit unde saide, he wolde den frauwen beßeren, unde sang daz lit [. . .]. Es folgt der Anfang eines konventionellen Minnelieds, einer Klage zwar auch, aber zweifellos einer Klage, die in die Beteuerung weiteren treuen Minnedienstes mündete. Denn die Chronik fährt fort: Da sprach keiser Ludewig: ‘Westerburg, du hast uns nu wol gebeßert.’16 Die ›Besserung‹, von der hier erzählt wird, ist eine Genugtuung, eine Bußleistung, die, wenn man den Text genau liest, gefordert wird für die eine Dame, zugleich aber für alle Frauen, die in der einen gekränkt sein könnten; zufriedengestellt wird aber auch der Kaiser als Vertreter der Gesellschaft, weil dem Comment höfischer Rede Genüge getan wird: du hast uns nu wol gebeßert. Solche Sensibilität für den gehörigen Ton gegenüber Damen hatte Tradition, auch wenn sie sich gegen die Omnipräsenz frauenfeindlicher Rede immer neu behaupten mußte. Ich erinnere nur an die berühmte Selbstverteidigung Wolframs von Eschenbach. Sıˆn lop hinket ame spat, swer allen frouwen sprichet mat durch sıˆn eines frouwen.17 Man bezieht die Stelle meist auf die Kontroverse zwischen Walther und Reinmar und meint, es gehe um ein zu hohes Loben der eigenen Minneherrin auf Kosten der übrigen Damen. Aber schon der Bezugspunkt bei Reinmar ist wohl anders zu verstehen,18 und im Zusammenhang von Wolframs Selbstverteidigung ist offenbar eher gemeint, man dürfe aus einer Liebesenttäuschung, aus dem Zorn auf die eigene Dame, nicht eine Schelte aller Frauen ableiten: »Wer wegen seiner eigenen Dame allen Frauen Schach bietet, dessen Ehre hinkt wie ein lahmender Gaul.«19 Wenn man diese Stellen im Ohr hat, wird man bei einer neuen Lektüre unseres Liedes über den Schluß der zweiten Strophe stolpern: sol ich dienen und des aˆne loˆn von ir belıˆben, so ist des übelen meˆre danne des guoten an den wıˆben. von dem gelouben möhte mich ein keiser niht vertrıˆben.
Ich widerstehe der Versuchung, den keiser des Liedes mit dem Kaiser Ludwig der ‘Limburger Chronik’ zu verknüpfen und etwa eine Wanderanekdote anzunehmen. Die Regelverletzung aber ist hier wie dort ähnlich. Der Satz, daß an den Frauen, d. h. an allen Frauen, mehr Schlechtes als Gutes sei, wenn die eine mich nicht erhört, bringt den Ansatz eines frauenfeindlichen Tons in die Minneklage und kann als Ver16
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Die Limburger Chronik des Tilemann Elhen von Wolfhagen, hg. von Arthur Wyss (MGH Deutsche Chroniken IV,1), Hannover 1883, S. 28 f. Wolfram von Eschenbach, hg. von Karl Lachmann, 6. Ausg. Berlin/Leipzig 1926, Parzival 115,5–7. Vgl. jetzt Nellmann in: Wolfram von Eschenbach, Parzival. Nach der Ausgabe Karl Lachmanns rev. und komm. von Eberhard Nellmann, übertr. von Dieter Kühn (Bibliothek des Mittelalters 8), Frankfurt a. M. 1994, Bd. II, S. 516. Für solche Auffassung spricht auch, daß ein Possessivum bei lop im Mittelhochdeutschen fast immer nicht das Subjekt, sondern das Objekt des Lobs bezeichnet, vgl. die Wörterbücher.
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stoß gegen den höfischen Comment aufgefaßt werden, als ein Verstoß, für den eine bezzerunge angebracht ist. Und eine solche bezzerunge, das ist die These, die ich versuchen möchte durchzuspielen, wird geboten in dem allgemeinen Preis tugendhafter Minne und Frauenverehrung, den die vierte Strophe formuliert. Leider ist nun diese vierte Strophe in R nicht gut erhalten. Es gibt einen falschen Kasus, ein Reimwort kehrt identisch wieder, einmal fehlen an einer Stelle, wo auch radiert wurde, drei Silben und mit ihnen das Verbum finitum des Satzes. Das alles ist in der Textfassung von Wießner/Sappler bereits korrigiert, soweit möglich nach der zweiten, ihrerseits nicht guten Überlieferung in Handschrift c.20 Das Ergebnis ist allerdings weder gedanklich noch syntaktisch ganz überzeugend. Ich glaube nun, daß man durch andere Interpunktion und zwei kleine Konjekturen eine Fassung herstellen kann, die eine passende Pointe bietet. Um den Zusammenhang präsent zu machen, drucke ich zunächst die drei ersten Strophen ab, und zwar, da die Fassungsdifferenzen hier unbedeutend sind, in der normalisierten Fassung der kleinen Ausgabe von Wießner/Sappler;21 anschließend biete ich, abgetrennt durch ein Sternchen, eine neue Fassung der vierten Strophe, ebenfalls in normalisierter Graphie, aber mit Apparat und in der Druckeinrichtung bezogen auf R als ›Leithandschrift‹: I
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Meie, dıˆn liehter schıˆn und diu kleinen vogelıˆn bringent vröuden vollen schrıˆn. daz si willekomen sıˆn! ich bin an den vröuden mıˆn mit der werlde kranc. Alle tage ist mıˆn klage, von der ich daz beste sage unde ir holdez herze trage, daz ich der niht wol behage. von den schulden ich verzage, daz mir nie gelanc, Alsoˆ noch genuogen an ir dienest ist gelungen, die naˆch guoter wıˆbe loˆne höveschlıˆchen rungen. nu haˆn ich beidiu umbe sust gedienet unde gesungen. Lieben waˆn, den ich haˆn gein der lieben wolgetaˆn, der ist immer unverlaˆn unde enkan mich niht vervaˆn. sol diu guote mich vergaˆn, sanfter wære ich toˆt. Ich was ie, swiez ergie, sıˆt daz ich ir künde vie, in ir dienste, des si nie
Literatur zu dieser s. unten Anm. 24. Ich markiere lediglich die Anfänge der Stollen und Abgesänge durch Majuskeln.
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selten mich geniezen lie, dort und etewenne hie, swie si mir geboˆt. Sol ich dienen und des aˆne loˆn von ir belıˆben, so ist des übelen meˆre danne des guoten an den wıˆben. von dem gelouben möhte mich ein keiser niht vertrıˆben. Ungemach mir geschach, do ich von eˆrste ein wıˆp ersach. der man ie daz beste sprach unde ir guoter dinge jach, diu ir kiusche nie zebrach unde ir hövescheit. Ist mıˆn haˆr grıˆsgevar, daz kumt von ir schulden gar. ir vil liehten ougen klaˆr nement mıˆn vil kleine war, soˆ diu mıˆnen blickent dar aˆne kunterfeit. Wolte sıˆ mit einem geˆn den mıˆnen beiden zwieren! minne diu gebiutet, daz diu ougen scharmezieren, liebe zwischen wıˆben unde mannen underwieren.
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Hoˆchgemuot dar zuo fruot ist an jungem manne guot. der vor schanden ist behuot und daz beste gerne tuot, den begiuzet sælden fluot, minnent werdiu wıˆp. Fürhte scham! wıˆbes nam der enwirt dir nimmer gram. ist er guoten wıˆben zam, ist sıˆn zunge an schelten lam, so ist er aller tugende stam, sælic sıˆ sıˆn lıˆp! Der daz lop behalte, der ist aˆne missewende. aller sælden sælic muoz er sıˆn unz an sıˆn ende. diz liet ich der werlde zeiner bezzerunge sende.
1 Hoher mut c. 2 an ivngen manne R, den jungen ma¯en c. 3 fehlt c. 4 Vn¯ R, Wer c. e 5 c] Der ist mit lobe wol behvt R (identisches Reimwort!). 6 minnet werdiv R, mynnet er rayne c. 7 Fvrht scham R, Hat er c. 8 Ds wirt dir R, Dem enwirt er c. 10 Ist R, Vnd c. 11 So plüet im der tugent stam c. 13 Wer c. behaltet c. 14 sælden sælich [Rasurlücke von ca. 4 Buchstaben] unz R, selden muß er selig sein vncz c. 15 Div liet R, Die leide c. ich zupessrung in die welde c.
Eine bezzerunge Neidharts?
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In der neugefaßten Strophe IV hätte sich die stilistische Härte eines Wechsels von der dritten in die zweite Person in v. 7 und wieder zurück in v. 9 durch ein Lavieren zwischen R und c leicht vermeiden lassen, etwa so: Fürht er scham, wıˆbes nam der enwirt im nimmer gram. Aber darauf kommt es hier nicht an. Bedenklicher sind meine Konjekturen in v. 6 (minnent für minnet R, mynnet er c) und v. 15 (daz für div R, die c). So geringfügig die Eingriffe sind, sie ändern punktuell den Sinn. Zu rechtfertigen sind sie nur dadurch, daß sie im größeren Kontext allererst einen plausiblen Sinn herstellen. Eine Übersetzung soll dies verdeutlichen: ‘Hoher Sinn und gute Art stehen einem jungen Mann wohl an. Wenn er sich vor Schande hütet und sein Bestes gerne tut, dann benetzt ihn auch der Strom des Glücks, lieben ihn edle Frauen. Fürchte, was der Ehre schadet! Dann wird dir, was eine wahre Frau ist (wıˆbes nam), niemals gram sein. Wenn einer guten Frauen folgt und ihm die Zunge lahmt beim Schelten, ist er ein Hauptstamm aller Trefflichkeit, gepriesen soll er sein. Wer solches Lob verdienen kann, ist ohne Fehl und Tadel. Mit allem Glück wird er gesegnet sein bis an sein Ende. Diese Strophe widme ich der Welt, um’s wiedergutzumachen.’ Der ursprüngliche Kern des Liedes, den R, s und c bezeugen und von dem eine Strophe auch ins Maastrichter Fragment gelangt ist, bestand, so scheint mir, aus einer dreistrophigen Minneklage mit Natureingang, einer topischen Klage, die aber in ihrer Intensität an einem Punkt zu weit geht und eine Höflichkeitsregel verletzt, indem sie, wenn auch nur bedingt, einen frauenfeindlichen Ton anklingen läßt. Dieses Vergehen, das offenbar von Rezipienten kritisiert worden war, versuchte eine nachgeschobene vierte Strophe, bezeugt nur durch R und c, wettzumachen, indem sie behauptete, ein tugendhafter, die Frauen verehrender Mann werde immer glücklich sein und auch die Zuneigung der Frauen finden. Da mein Verständnis und meine Herstellung von Strophe IV nicht ohne Eingriffe in den überlieferten Wortlaut auskommen, bleiben Alternativen bedenkenswert. Nachdem ich diesen meinen Lösungsversuch zu Paul Sapplers 65. Geburtstag vorgetragen hatte, entwarf Derk Ohlenroth auf der Basis meiner Annahme, daß Kritik am Schluß von Strophe II den Anlaß zum Abfassen der Strophe IV gegeben habe, einen Gegenentwurf mit detaillierter Begründung. Da er nicht weiß, ob und wann er ihn druckfertig machen wird, hat er mir erlaubt, sein Ergebnis zu zitieren. Ohlenroth hält sich auch in v. 5 an R mit der Begründung, das zweimalige behuot sei semantisch differenziert. Damit wird auch die von mir angenommene syntaktische Struktur hinfällig. In v. 8 aber schließt er sich an c an, so daß wıˆbes nam gegen R vom Subjekt zum Dativobjekt wird. Das führt ihn zu folgender Herstellung der Strophe (editionstechnisch zum besseren Vergleich meinem Verfahren angepaßt): Hoˆchgemuot, dar zuo fruot ist an jungem manne guot. der vor schanden ist behuot und daz beste gerne tuot, der ist mit lobe wol behuot, minnet werdiu wıˆp,
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Fürhtet scham. wıˆbes nam dem enwirt er nimmer gram. ist er guoten wıˆben zam, ist sıˆn zunge an schelten lam, soˆ ist er aller tugende stam. sælic sıˆ sıˆn lıˆp! Der daz lop behalte, der ist aˆne missewende. aller sælden sælic muoz er sıˆn unz an sıˆn ende. diz liet ich der werlde zeiner bezzerunge sende.
In dieser Fassung wäre die Strophe zu verstehen als eine von einem anderen verfaßte Kritik an dem Ansatz einer allgemeinen Frauenschelte, gekleidet in die Form einer allgemeinen Paränese für den jungen man. Nach Ohlenroth könnte der Anfang von v. 13 den Gedanken weiterführen und bedeutete dann ‘Wer an seinem Frauenpreis festhält . . .’ Für bezzerunge wäre auf die Parallele zur ‘Limburger Chronik’ zu verzichten, es hieße nicht ‘Bußleistung, Wiedergutmachung’, sondern einfach ‘Besserung’. Vielleicht kann Paul Sappler zwischen beiden Versuchen entscheiden oder einen dritten Vorschlag machen. Die Sterzinger Miszellaneen-Handschrift s,22 entstanden in den ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts, vielleicht nicht in Südtirol, wo sie später war,23 überliefert das Lied in einer sechsstrophigen Fassung mit Melodie. Auf die drei Strophen Minneklage folgen hier drei Dörperstrophen. Diese stehen auch in der Handschrift c, die in den 1460er Jahren im Nürnberger Raum geschrieben worden ist.24 s und c gehen also in diesem Punkt auf eine gemeinsame Vorstufe zurück. Ich nehme an, daß s den Strophenbestand dieser Vorstufe bewahrt hat, während c eine Erweiterung darstellt. Dazu später. Nur von der ersten der drei Dörperstrophen findet sich der Schluß ab v. 7 schon früher auch in dem Fragment G (westmitteldeutsch, 14. Jahrhundert).25 22
23
24
25
Vipiteno/Sterzing, Stadtarchiv, ohne Signatur, 53v–54v. Vgl. Die Sterzinger MiszellaneenHandschrift, in Abbildung hg. von Eugen Thurnher und Manfred Zimmermann (Litterae 61), Göppingen 1979; Manfred Zimmermann, Die Sterzinger Miszellaneen-Handschrift. Kommentierte Edition der deutschen Dichtungen (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanist. Reihe 8), Innsbruck 1980, unser Lied dort S. 202–204 (Text) und 361–363 (Kommentar); Holznagel [Anm. 2], S. 396–402, 570–574; SNE Bd. 3, S. 529–531. Max Siller, Wo und wann ist die Sterzinger Miszellaneen-Handschrift entstanden?, in: Entstehung und Typen mittelalterlicher Lyrikhandschriften. Akten des Grazer Symposiums 13.– 17. Oktober 1999, hg. von Anton Schwob und Andra´s Vizkelety (Jahrbuch für internationale Germanistik. Reihe A. 52), Bern u. a. 2001, S. 255–280. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ms. Germ. fol. 779, 150v–152r; vgl. Abbildungen zur Neidhart-Überlieferung II. Die Berliner Neidhart-Handschrift c (mgf 779), hg. von Edith Wenzel, Göppingen 1976 (Litterae 15); Ingrid Bennewitz-Behr unter Mitwirkung von Ulrich Müller, Die Berliner Neidhart-Handschrift c (mgf 779). Transkription der Texte und Melodien (GAG 356), Göppingen 1981, unser Lied dort S. 62–64; SNE Bd. 3, S. 518–523. Freiburg i. Br., Universitätsbibliothek, Hs. 520; hier nach dem Abdruck: Moriz Haupt, Zu Neidhart. Grieshabers bruchstücke, in: ZfdA 6 (1848), S. 517–519; seit diesem Abdruck scheint das Fragment noch gelitten zu haben, vgl. Volker Schupp in: Handschriften und
Eine bezzerunge Neidharts?
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Was der Strophe vorausging, ist verloren; man darf vermuten, daß es die dreistrophige Minneklage war, auf die sich der Strophenanfang noch zurückbezieht. Deutlich ist aber, daß die Strophe hier den Liedabschluß bildete; denn ein anderes Lied schließt unmittelbar an. Ich gebe die drei Strophen wieder nach s mit den Lesarten von G und c:26 s IV
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13
s V
7
26 27
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Al mein not die wer tot, möht ich wenden aines spot, des har ist im ringelot. er ist gehaizzen Sigelot. seinen pecher er mir pot und zuckt in hin wider. Er satzt in nach dem sin auf sein haupt in freuden vin nach dem newen hofesin, auf den zehen slaif er hin. do was das mein bester gewin, das der pecher [] nider o Über die augen und den munt in seinen pusen stürzet. der da vor den raigen trat so üppiclich geschürzet,27 der wart da mit seinem har unhofelich gehürzet. Sein ist für war dreizzig jar, das der törper Engelmar Fridraun iren spiegel chlar prach, des trag ich grawes har peide stille und offenbar, das es ie geschach. Immer seit von der zeit o trug ich seinen chrumpen neit und auch eteswenne streit stete in dem lande weit. ei, das ir so lützel leit,28 das ist mein ungemach.
Faksimileausgaben zur deutschen und lateinischen Literatur des Mittelalters. Ausstellungskatalog, Freiburg i. Br. 1981, S. 71 und Abb. 5; s. auch Holznagel [Anm. 2], S. 396–402, 570–574; SNE Bd. 3, S. 509. Graphie von s reguliert; das Einfügen eines unbetonten e wird nicht nachgewiesen. Die Lesart von c wird durch G gestützt und paßt zum üblichen Kleiderspott: ‘(den Rock für den Tanz) in eitler Weise geschürzt’. Die Lesart von s ist schwierig. Mit seiner Verbesserung wollte der Schreiber ein identisches Reimwort vermeiden. Wenn er dabei an lürzen ‘täuschen, betrügen’ gedacht haben sollte (so SNE Bd. 3, S. 136), hat er ein hier unpassendes Wort gewählt. Zimmermann [Anm. 22], S. 362, vermutet einen Zusammenhang mit lerzen ‘lustig, übermütig sein’; aber dieses Verbum ist äußerst schlecht bezeugt und würde hier syntaktisch schwerlich passen. Wenn die s-Lesart einen Sinn hat, dann am ehesten, wenn man lürzen mit lurtschen ‘lahmen mit den Füßen, schlürfen’ gleichsetzt (DWb 6, Sp. 1314). Das Part. Prät. wäre dann zu trat gestellt in Analogie zu Konstruktionen mit komen, vgl. Hermann Paul, Mittelhochdeutsche Grammatik, 23. Aufl. neu bearb. von Peter Wiehl und Siegfried Grosse, Tübingen 1989, § 331 Abs. a. Wohl ‘daß so wenige von ihnen tot liegen’.
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Burghart Wachinger 13
s VI
7
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Doch frew ich mich aines an dem maier Dersprechte: o e den zugen durch sein aigen plut zwen ungefuge chnehte, Cotelpolt und Amelreich, des schampt sich sein geslehte. Laut erhal da der schal von den geuchen überal, da man den Dersprechten kal sach derslagen auf dem wal. do wart mir gen Rewental offenlich gesait.29 Hacken, spieß man da hieß pringen, des man nit enließ. Erkenpolt, der starke vieß, Williprehten nider stieß, des freut sich der mein genieß. seuse, wie er strait! o Do slug mein her Erkenpolt da den von Pottenprunne durch den schedel auf den kropf, wie wol ich im das gunne! o do vant man in toten [] in den schuhen an der sunne.
IV,1 die wer] weren c.
3 ist geringlott c. 7 Mit saste in setzt das Fragment G ein. 8 in fremdelin (oder fremdesin?) G. 9 newen] meinen c. hobe din G. 11 do was das cG] das was da s. best G, peste c. 12 cG] viel nids s. 13 den munt] seinen mu¯dt c. seinen cG] den s. sich stortz G. 14 G] vppiclichn¯ sc. geschürczet c, gescortz G, gestürczt verbessert zu gelürczet s. 15 da s] do c, fehlt G. mit seinem har sc] mit hare vber den tantz G. G] vnhofflichn¯ s, vnhoffenlich c. gehortz G. e V,2 torppell c. 7 von s] vor c. 8 chrumpn¯ s] kvnen c. 9 Und c] Das undeutlich verbessert s, Zimmermanns [Anm. 22] Lesung des kann ich nicht nachvollziehen. etwe¯ ein c. 13 den mair dersprechte s, dem torpper dorfftprecht c. 14 c] zugens s. 15 Doczelpolt vnd amelrutt c. VI,1 da c] do s. der schal c] erschal s. 3 da s] do c. den sprechn¯ dazwischen vo¯ nachgetragen s, dorff prechten c. die (oder der, verbessert zu da) slahn¯ s, erslagen c. 5 Das ward c. mir c] mit s. 10 Wildeprechten c. 11 der s] da c. 12 Sausa c. 13 hers her c. von fehlt c. e portn¯ prun¯e s, bottenbrunn c. 14 wol auf den korpper c. wie Haupt/Wießner] fehlt sc. gun¯de s. 15 ligen (nach toten nachgetragen) s. sunnen s.
***** Die Strophen V und VI, bezeugt erst seit dem Anfang des 15. Jahrhunderts, sind ohne Zweifel relativ späte Weiterdichtungen mit der Dörperthematik der Gattung Neidhart. In Strophe VI findet sich einer der Anstöße, die Haupt veranlaßt haben, das ganze Lied für unecht zu erklären. Hier stellt sich ›Neidhart‹ als in Reuental lebend dar, gleichzeitig aber erscheint der österreichische Ortsname Pottenbrunn. Die Unterscheidung von bayerischen und österreichischen Liedern, von Liedern, in denen der Dichter von Riuwental als seinem Eigentum und dem Ort seines Aufenthalts 29
So viel wie offenliche widersaget?
Eine bezzerunge Neidharts?
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spricht, einerseits und Liedern mit österreichischen Orts- und Personennamen, in denen auf Riuwental höchstens noch zurückgeblickt wird, andererseits, diese Unterscheidung gehört zu den Grundannahmen der frühen Neidhart-Philologie. Sie beruht auf der Bevorzugung der Handschrift R als Zeugnis des ›echten‹ Neidhart; denn außerhalb von R gibt es sehr wohl bayerisch-österreichische Vermengungen wie in dieser Strophe. Ich meine allerdings, daß die eigentümliche und nicht gleich offen sichtbare Differenzierung nach zwei Gegenden und zwei Lebensphasen, die in R steckt, kaum dem Zufall oder dem Redaktionswillen eines Sammlers zu verdanken sein wird, sondern daß wir hier tatsächlich ein authentisches biographisches Element fassen können (ohne daß wir darum die zu vermutende Biographie des historischen Neidhart auf eine bayerische und eine österreichische Phase reduzieren dürften). Auch sonst scheinen mir die beiden Strophen, so dezidiert sie sich in die NeidhartTradition stellen, vom Typus der durch R bezeugten Dörperstrophen abzuweichen. Die Brutalität, mit der hier von tatsächlichen Totschlägen geredet wird, gibt es in R allenfalls in Drohphantasien. Und wenn ich den Text richtig verstehe, impliziert er eine Vorstellung von Fehde, wie sie dem R-Neidhart fremd ist: VI,5 f. kann ich zumindest im Wortlaut von s nur als öffentliche Fehdeansage verstehen, und Erkenpolt scheint als Bundesgenosse des Reuentalers zu agieren. Vorsichtiger möchte ich über Strophe IV (G/s4/c7) urteilen. Der als männlich gewertete Reim hinwider : nider weist sie wohl noch ins 13. Jahrhundert. Die einleitende Überbietung des Minneleids durch das Dörperleid, die Provokationsszene mit Trinkangebot und -verweigerung, das Balancieren des Bechers beim Tanz,30 das in die Selbstbesudelung des Dörpers mündet, all das klingt durchaus neidhartisch, das würde nicht schlecht zur ältesten Schicht der Neidharte passen. Nun ist diese Strophe, wie gesagt, im Fragment G als Schlußstrophe einer sonst verlorenen Liedfassung überliefert. Setzen wir voraus, daß ihr dort wie in s nur die dreistrophige Minneklage vorausging, so können wir auf eine frühe Liedfassung schließen, die die Minneklage durch eine Dörperklage überbot und in ihrer Zusammensetzung der Themen noch näher als die R-Fassung bei den Winterliedern 32 und 19 stand, auf die Becker hingewiesen hat. Unterschieden von ihnen war allerdings auch sie durch den Frühjahrseingang, und ihrer Dörpermotivik fehlte die gerade in den beiden Vergleichsliedern wichtige Einbindung als konkurrierende Werbung um die Geliebte. Es bleibt noch der Restbestand der Handschrift c zu überprüfen. In c steht wie in allen vollständig überlieferten Fassungen am Anfang die Minneklage, das Ende bilden wie in der Sterzinger Handschrift die drei Dörperstrophen. Dazwischen findet sich 30
Vgl. die Anmerkungen zur Stelle bei Haupt/Wießner, S. XXIII und bei Edmund Wießner, Kommentar zu Neidharts Liedern, Leipzig 1954, S. 226. Seit dem 14. Jahrhundert auch in bildlichen Darstellungen von Bauerntänzen bezeugt, vgl. Eckehard Simon, The Rustic Muse: Neidhartschwänke in Murals, Stone Carvings, and Woodcuts, Germanic Review 46 (1971), S. 243–256, dort S. 250, und Nikolaus Henkel, Ein Neidharttanz des 14. Jahrhunderts in einem Regensburger Bürgerhaus, in: Neidhartrezeption in Wort und Bild, hg. von Gertrud Blaschitz, Krems 2000, S. 53–70, dort Abb. 4 und 6 (nicht als Gefäß identifiziert); ebd. S. 293 eine Abbildung des Wandbilds von Burg Trautson nach der Renovierung.
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Burghart Wachinger
ein Mittelstück von drei Strophen. Die Schlußstrophe von R ist hier in die Mitte gerückt, je eine weitere Strophe steht vor ihr und nach ihr. Ich sehe nun keine Möglichkeit, diese Mittelgruppe und damit das Gesamtarrangement von c als konzeptionelle Einheit zu verstehen. Zwar ist die Frage der Liedeinheit in der Neidhart-Tradition vielfach problematisch. Scharfe thematische Brüche gehören insbesondere bei den Winterliedern zum Genre. Es gibt Lieder, in denen die Brüche kunstvoll ins Stropheninnere verlegt sind, so daß die Einheit über die Form gesichert ist. Es gibt andererseits Lieder mit einer in großen Partien lockeren Struktur, die sich dann eher am Typus der Sangspruchdichtung zu orientiern scheinen. Hier scheint ein dritter Typus von Relativierung der Liedeinheit vorzuliegen, nämlich Alternativstrophen, die nicht zum Nacheinandersingen gedacht zu sein scheinen, sondern einander in verschiedenen Vortragsfassungen ersetzen können. So etwas hat man auch sonst in der Neidhart-Überlieferung schon beobachtet, freilich kaum in solcher Dichte wie hier. Der Redaktor der c-Fassung hat offenbar verschiedene konkurrierende Liedfassungen ohne viel Rücksicht auf eine Gesamtkomposition zusammengeführt. Leider sind nun die Strophen in der späten Handschrift offensichtlich teilweise entstellt. Bei der Strophe c VI, der ich mich zuerst zuwenden möchte, bleiben dadurch wichtige Züge unklar. Ich gebe die Strophe mit leichter Regulierung der Graphie und den unproblematischen formalen Besserungen von Haupt/Wießner wieder, übernehme von ihren sinnverändernden Konjekturen jedoch nur die in v. 10: c VI
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Ich bin fro. swache dro schat mir klain als umb ein stro. e es erwendt ir gut also, die ich vind, ich wais wol wo. secht, des wirt mein trauren ro. das sei ir gesait. Ich bin hie der doch nie sein gesangk von ir erlie, der ir für die oren gie und in nie zu vor empfie. des wurd ich an freuden schie und an seligkait. Doch so wil ich mit den jungen nach ir hulden singen. was ob noch mein dienst †an gieng-† mag bös ende bringen? e mich wundert, das ir gute mich so sere mag bezwingen.
1 swachen c. 5 das c. 6 sie ir gesagt c. 9 gieng c. 10 nie] nu c. empfieng c. 13 jren c. 14 gieng- (der abschließende Suspensionsstrich von Haupt/Wießner als s gedeutet: giengs; eher dürfte giengen gemeint sein) c. bos ende mag c. 15 mich jr gut c.
Eine bezzerunge Neidharts?
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Was ist der Sinn dieser Strophe? Haupt und Wießner31 haben sie offenbar als klassische Minnekanzone verstanden und dementsprechend zu bessern versucht. Ihre Eingriffe, teilweise mit Fragezeichen versehen, sind kräftig, in v. 14 massiv: v. 7 doch → noch; v. 10 nu → nie; v. 11 wurd → wird (so nur Haupt, Wießner möchte mit Verweis auf v. 1 bei c bleiben); v. 14 waz ob noch mıˆn dienst ein guotez (oder: liebez) ende mac gebringen. Mit der Motivfolge Freude – Singen – Gesang dringt zu den Ohren der Geliebten – Angst vor Freudeverlust – Festhalten am Singen ist die klassische Minnesangsituation in der Tat strukturbestimmend. Aber es gibt Widerständiges. Das Motiv der swachen dro bleibt blind. Es wird am ehesten verständlich, wenn man an Neidharts Dörperfeindschaft denkt. Die Situation eines konkurrierenden Werbens um eine Dorfschöne, wie sie einige Neidhart-Lieder zeigen, ist aber auszuschließen. Mindestens v. 13 stünde ihr entgegen. Ist an eine Dame am Hof zu denken? Dafür finde ich in der Neidhart-Tradition keine überzeugende Parallele; das Verhältnis von Neidhart zu der Herzogin in den Schwänken ist von anderer Art. Die Ambivalenz des Schlußverses v. 15 läßt mich vermuten, daß Frau Welt gemeint ist. Sie ist Personifikation der höfischen Gesellschaft, der das Singen dient, die dem Sänger auch gegen die swache dro der Dörper Sicherheit zu geben scheint. Ihrer Gunst ist sich der Sänger allerdings nicht sicher. Der Umschlag von sicherer Freude im ersten Stollen zur Angst am Ende des zweiten ist freilich nur durch eine Konjektur plausibel zu machen.32 Rätselhaft bleibt schließlich der gestört überlieferte v. 14. Wenn man an die zu Beginn der Strophe angedeutete Dörperfeindschaft denkt, liegt es nahe, den Vers mit einem kleinen Eingriff zu heilen: was ob noch mein dienst den giegen mag bös ende bringen. Hat man aber die Tradition der Weltklagen im Ohr, so möchte man eher meinen, daß das Ich für sich selbst ein bös ende seines Weltdienstes fürchtet. In diesem Fall müßte v. 14 ursprünglich anders gelautet haben.33 Ich wage keine Entscheidung. Keinesfalls aber sollte man das bös ende mit Haupt/Wießner wegkonjizieren. Wenn diese Überlegungen wenigstens im Prinzip richtig sind – einige Einzelheiten der Rekonstrunktion bleiben problematisch –, dann stellt sich diese Strophe durch Andeutung einer Dörperdrohung in eine typisch Neidhartsche Situation. Daß diese durch Dörperszenen in weiteren vorhandenen oder geplanten Strophen ausgeführt werden sollte, ist sehr wahrscheinlich. So gut wie sicher aber gingen der Strophe c VI die drei Minnestrophen voraus, die ja offensichtlich den Kern des Komplexes bilden. Sie werden durch c VI als Klage über die Hofgesellschaft gedeutet, die in der Minnedame Welt oder, wie eine nur in C überlieferte Strophe sagt, Werltsüeze personifiziert ist. Die Verbindung von Weltklage und Dörperthematik ist in der Neidhart-
31 32
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Haupt/Wießner, S. XXI f., sowie Wießner, Kommentar [Anm. 30], S. 225. Ich folge daher in v. 10 Haupt/Wießner. Der Vers ist allerdings in dieser Form noch nicht idiomatisch befriedigend. Vielleicht und in nie vür guot empfie? Passen würde vielleicht was ob noch mein sangk von giegen mag bös ende bringen. Aber damit würde man sich sehr weit von der Überlieferung entfernen.
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Tradition nicht häufig, aber doch gut belegt,34 und die Schelte der personifizierten Minne variiert nur den Typus.35 In der Schelte der Damen Welt oder Minne ist aber fast immer, in der älteren Überlieferung ausnahmslos, ein zentraler Vorwurf der, daß sie sich mit den Dörpern gemein machen. Hier dagegen bleibt die personifizierte Dame ganz der höfischen Sphäre zugeordnet, scheint geradezu einen Gegenpol zu den Dörpern zu bilden. Der Ton ist dementsprechend gemäßigt, ja der Dienst noch nicht wirklich abgebrochen. Insofern ist die Strophe eher einer in der Schwebe gehaltenen Weltklage wie der in Konrads von Würzburg Lied 6 zu vergleichen.36 Auch bei Strophe c IV muß man sich ein Stück weit hinter den Wortlaut der Handschrift zurücktasten, wenn man auf einen plausiblen Sinn stoßen will. Aber man wird leichter fündig. Ich gebe auch von dieser Strophe eine rekonstruierte Fassung. Der Text beruht in fast allen Verbesserungen auf Haupt/Wießner, nur mit nu in v. 10 und man in v. 15 habe ich mich ein Stückchen weiter zurückgewagt: c IV
7
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‘Herzenlait, wer das trait, dem hat Selde widersait; seneliche arebait ist im zu aller zeit berait’, sprach ein frauwe vil gemait, ‘daz ist mir wol bekant. Mich bezwank, des ist niht lank, minniclicher umbevank, darnach ie mein herze rank. nu ist die minne worden krank und stet gar auf zwerchem schrank. we dir, teutsches lant! Sol in deiner ordenunge minne also verderben, o so muß schöner frauwen vil von deinen schulden sterben und werden schuldig man, die umb ir liebe solten werben.’
3 Haupt/Wießner] eren braitt c. 10 Nu fehlt c. 11 Haupt/Wießner] offt c. 12 Haupt/ Wießner] teusche c. 13 Haupt/Wießner] mein c. 14 Haupt/Wießner] mu´ssen c; Haupt/ Wießner] an den schulden c. 15 schuldig die c, schuldic die die Haupt/Wießner.
***** In dieser Strophe, die in c ja unmittelbar auf die Minneklage folgt, wird eine Frau als Sprecherin eingeführt. Sie bestätigt zunächst, daß Minneleid schweres Leid ist, das habe auch sie erfahren. Ihr Leid ist aber von anderer Art als der zuvor so ausführlich 34
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Haupt/Wießner 82,3 ff., 86,31 ff.; Wießner/Sappler WL 28, WL 30; SNE I R 13, R 20, II c 89; e vgl. Ingrid Bennewitz-Behr, »Fro welt ir sint gar hüpsch und schon . . .« Die ‘Frau-Welt’Lieder der Handschriften mgf 779 und cpg 329, JOWG 4 (1986/87), S. 117–136. Haupt/Wießner 95,6 ff., Wießner/Sappler WL 34, SNE I R 40. Konrad von Würzburg, Kleinere Dichtungen, hg. von Edward Schröder, III, Berlin 21959, Lied 6.
Eine bezzerunge Neidharts?
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dargelegte Schmerz des Minnesängers. Sie war an das Ziel ihrer Wünsche, zum minnichlıˆchen umbevanc, gelangt, aber jetzt37 ist die Liebe schwach geworden und steht – eine Neidhartsche Wendung ausgerechnet aus dem stilistisch nahestehenden Winterlied 32 – auf zwerchem schrank ‘auf verquerem Gestell’ oder ‘in schiefer Umarmung’. Offenbar ist der Liebespartner untreu geworden, hat jedenfalls anderes im Sinn. Das Minneversagen des einen wird aber nun allen Männern38 Deutschlands angelastet, sie verursachen mit ihrem Verhalten den Tod vieler schöner Frauen. Diese Strophe steht in einer eigentümlichen kontrapunktischen Entsprechung zu der Schlußstrophe der Fassung R, die in c folgt. Auch sie hat offenbar den Commentverstoß in der Minneklage, den Schluß von der eigenen Liebessituation auf die Frauen im allgemeinen, bemerkt. Sie reagiert nur auf andere Weise darauf, indem sie revanchierend eine Frau ihre Erfahrung mit einem Mann auf alle Männer ausdehnen läßt und generelle Männerkritik gegen generelle Frauenfeindlichkeit setzt. Daß einem männlichen Ich-Lied in der Schlußstrophe mit einer Frauenrede die andere Perspektive entgegengestellt wird, kommt in der mittelhochdeutschen Lyrik auch sonst vor. Innerhalb der Neidhart-Tradition wäre allenfalls der Rollen- und Perspektivenwechsel in den Trutzstrophen vergleichbar. Beide Typen dienen als effektvolle Schlußpointen in Aufführungssituationen. Ich versuche, die Einzelbeobachtungen zu einem Gesamtbild zu ordnen. Eine dreistrophige Minneklage ist zum Ausgangspunkt von mehreren Liedfassungen geworden. Diese Minneklage wirkt recht konventionell. Daß sie am Ende der zweiten Strophe einen höfischen Comment verletzt und einen frauenfeindlichen Ton anklingen läßt, kann man leicht überhören. Zweimal wurde es immerhin bemerkt. Die Strophe c IV antwortet auf den Verstoß spiegelbildlich durch eine Frauenklage mit männerfeindlichen Nebentönen. Die Strophe R IV/c V andererseits versucht eine bezzerunge in einem allgemeinen Preis der Frauenverehrung. Wenn Derk Ohlenroths Herstellungsversuch den Vorzug verdient, ist die Strophe poetische Kritik in Form einer allgemeinen Paränese. Wenn mein Versuch näher am Richtigen liegt, muß die Strophe wohl vom selben Autor gedichtet sein wie die Minneklage, zumindest ist dies die einfachste Annahme. Sie setzt aber ein dazwischen liegendes kritisches Echo auf die Minneklage voraus. Ob dieses Echo in Gesprächen stattfand oder literarische Form hatte, wissen wir nicht. Alle Strophen und Fassungen des Liedkomplexes sind in Neidhart-Kontexten überliefert. Nach Beckers Beobachtungen gibt es auch schon in der Minneklage stilistische Beziehungen zu einigen Neidhart-Liedern. Daß diese Minneklage von Neidhart selbst gedichtet sei, kann ich nicht mit Sicherheit ausschließen, glaube es aber nicht. Sie scheint mir vielmehr zu belegen, daß Neidhart auch jenseits seiner spezifischen Dörper- und Reigenmotive Beachtung und Nachahmung gefunden hat, wie es
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Meine Konjektur nu ist nur eine Verdeutlichung des überlieferten Tempusgegensatzes. Auch hier verdeutlicht meine Konjektur nur, was im überlieferten Wortlaut schon gesagt ist.
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ja auch die Tonentlehnungen der Carmina Burana und Heinrichs von Mügeln und die Nennungen bei Lupold Hornburg bezeugen.39 In der Frage nach dem Eigentum der »Person Neidhart«, des »einen ersten Autor[s], der den Liedtypus der Neidharte geschaffen hat« (um Paul Sappler zu zitieren),40 wird heute niemand mehr mit Überzeugung scharfe Grenzen ziehen wollen. Aber mit Wahrscheinlichkeiten, mit Kernbereich und Randzonen, dürfen, sollten wir sehr wohl operieren. Und in diesem Sinn stelle ich die dreistrophige Minneklage, obwohl sie bereits in R überliefert ist, an den äußeren Rand der Randzone. Wenn sie denn dreistrophig war. Immerhin denkbar ist, daß schon in der Ausgangsfassung auf die Minneklage eine diese überbietende Dörperklage folgte, wie sie in der Strophe G (s IV, c VII) erhalten ist.41 In diesem Fall würde ich das Ausgangslied zwar innerhalb der Randzone belassen, aber doch näher an deren inneren Rand, an die Grenze zum Kernbereich rücken. Der kritische Umgang von Frauenstrophe und bezzerunge mit einem solchen Lied wäre dann allerdings umso erstaunlicher. Sie hätten ein spezifisch Neidhartsches Element ausgeschieden, um nur die Minneklage, ja nur einen Punkt in dieser, auf höfische Diskurse zu beziehen. Mit mehr Wahrscheinlichkeit wird man die G-Fassung verstehen dürfen als einen Versuch, ein von Neidhart beeinflußtes und im Kontext von Neidhart-Liedern überliefertes Lied näher an die typischen Neidharte heranzuholen. So oder so. Die Autorschaftsfrage bleibt offen. Das Beobachtete scheint mir dennoch der Mühe wert zu sein. Es hat sich ein ganzes Nest von Sang und Gegensang, Bessersingen und Weiterspinnen gezeigt, ein produktives, auf neue Pointen bedachtes, teilweise kritisches Umgehen mit einem Liedtext, das über das hinausgeht, was man an Weiterdichten in der Neidhart-Tradition auch bisher schon beobachtet hat. Und es hat sich gezeigt, daß es in der Neidhart-Tradition neben den Tendenzen der Vergröberung und Brutalisierung auch Versuche der Rückbindung an höfische Sprachund Verhaltensnormen gegeben hat. Beteiligt waren offenbar verschiedene Sänger. In der jüngsten Handschrift c sind alle ihre Stimmen zusammengekommen, wenn auch teilweise nur bruchstückhaft und im Detail durch Mißverständnisse entstellt.
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40 41
Vgl. Eckehard Simon, Neidharte und Neidhartianer, in: Neidhart, hg. von Horst Brunner (WdF 556), Darmstadt 1986, S. 196–250, dort S. 233 f. und 247 f. Wießner/Sappler, S. XX. Die beiden weiteren, deutlich brutaleren Dörperstrophen (s V/VI, c VIII/IX) sind sicher spätere Erweiterungen.
Die Spruchtöne Marners* von Horst Brunner
In Handschriften des 14. Jahrhunderts – in erster Linie in C – werden dem Marner zehn Spruchtöne zugewiesen.1 Drei davon stammen mit Sicherheit nicht von ihm: Ton XII ist identisch mit Stolles Alment, unter Marners Namen sind drei Strophen überliefert (RSM 1Marn/4);2 Ton XIII ist Kelins Ton III, C weist dem Marner vier darin abgefaßte Strophen zu (1Marn/5); Ton XVIII, der ihm in der lateinischen Cantionensammlung Augsburg, UB, II.1.2° 10 zugeschrieben wird – als Textautoren erscheinen Estas (1ZYEstas/1 und 2) und Mersburch (1ZYMersb/9) –, ist der sonst in J überlieferte Ton XVII des Meißners. Als ungesichert gelten die Töne XVI (1Marn/14) und XVII (1Marn/15), in denen E je eine dem Marner zugeschriebene geistliche Einzelstrophe überliefert.3 Fünf Töne schließlich werden als unbezweifelt echt angesehen: Ton VI (1Marn/2) und XI (1Marn/3), zu denen C jeweils drei Strophen bietet; breit überliefert sind die von den Meistersingern rezipierten Töne I (Goldener Ton; 1 Marn/1), XIV (Hofton oder Kurzer Ton; 1Marn/6) und XV (Langer Ton; 1Marn/7). Lediglich zu den drei zuletzt genannten Tönen sind auch Melodien erhalten. Neben den in der Überlieferung teilweise dem Marner zugeschriebenen, jedoch sicher fremden Tönen bleiben im folgenden auch die ihm von den Meistersingern seit dem 15. Jahrhundert untergeschobenen unechten Töne unberücksichtigt.4 Die Analyse beginne ich mit den drei mit Melodie überlieferten Tönen: Ton I (Goldener Ton) 4 4 7’ a a b c c5 b
4 7’ d e d e10
4 7 7’ f f b
* Die nach einer Vorbereitungsphase seit 1968 in den Jahren 1973/74 begonnene Arbeit am ‘Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts’ (RSM) wurde im März 2009 mit dem Erscheinen des Tönekatalogs (RSM Bd. 2/1 und 2/2) endgültig abgeschlossen – endlich! Mitarbeiter und Herausgeber wären wahrscheinlich nicht imstande gewesen, das Unternehmen zu einem guten Ende zu führen, hätte nicht Paul Sappler von Anfang an darauf gedrungen, soweit irgend möglich die EDV zu nutzen – in der ersten Hälfte der siebziger Jahre, lange vor dem Aufkommen des PCs (hätte es diesen schon gegeben, wäre vieles mit Sicherheit rascher gegangen). Der im Umkreis des Tönekatalogs angesiedelte Beitrag, den ich hier vorlege, versteht sich als bescheidenes Zeichen des Dankes an Paul Sappler. 1 Vgl. RSM Bd. 2/1, S. 127–131; Bd. 4, S. 263; Bd. 5, S. 647 und 649. 2 Vgl. Gisela Kornrumpf und Burghart Wachinger, Alment. Formentlehnung und Tönegebrauch in der mhd. Spruchdichtung, in: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Gedenkschrift für Hugo Kuhn, hg. von Christoph Cormeau, Stuttgart 1979, S. 356–411, hier S. 360 f. 3 Vgl. dazu Jens Haustein, Marner-Studien, Tübingen 1995 (MTU 109), S. 98 f. 4 Vgl. RSM Bd. 2/1, S. 127–131.
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Horst Brunner
Mit 13 Verszeilen ist Ton I (vier Strophen in C) der kürzeste der im Meistergesang noch bekannten Marnertöne.5 Die Bauform ist überaus klar und übersichtlich: auf dreizeilige Stollen folgt der in einen repetierten Steg und einen abschließenden metrisch und melodisch in der vorletzten Zeile erweiterten 3. Stollen gegliederte Abgesang, der sieben Zeilen umfaßt. Die Verslängen und die Reime unterstreichen den Aufbau: In den Stollen werden zwei paargereimte männliche Vierheber jeweils mit einem abschließenden langen weiblichen Siebenheber kombiniert, ein Schema, das sich am Abgesangsende wiederholt, wobei jedoch an vorletzter Stelle ein männlicher Siebenheber erscheint. Die Stollenenden und das Abgesangsende sind aufeinander gereimt. Im Steg folgt auf einen männlichen Vierheber jeweils ein weiblicher Siebenheber, die vier Verse reimen über Kreuz. Somit begegnen mit Ausnahme des einen männlichen Siebenhebers ausschließlich Verse der Form 4 (sechsmal) und 7’ (fünfmal) sowie sechs verschiedene Reimklänge. Der Ton besteht aus 70 Verstakten, wobei der Abgesang mit 40 Takten deutlich länger ist als der Aufgesang mit 2 × 15 Takten. Die älteste erhaltene Melodiefassung bietet die Kolmarer Liederhandschrift t (um 1460).6 Inwieweit die Fassung in t freilich noch den ursprünglichen Melodieverlauf wiedergibt, bleibt fraglich. Das in t verwendete Melodiematerial ist sehr beschränkt. Die Stollen sind aus drei Distinktionen gebildet: a (Melodiebogen g – d – g), b (fallende Zeile d – D), g (Melodiebogen D – c – D – g); der Steg kombiniert erneut b (leicht variiert) mit g; die drei letzten Abgesangszeilen, der erweiterte 3. Stollen, variieren die Stollenmelodie, wobei die Distinktion b erweitert wird. Schematisiert: AB BB A’B’. Ton XIV (Hofton oder Kurzer Ton)
Mel.
3’ a a5 a
°4 b b b
°6 c c g
°7 d d d
7 e
4’ f10
e+b e
°4 e
°6 g
4’ f
4 g
°6 °7 h15 h
b
g
e
b
g
d
(° bezeichnet regelmäßig auftaktlose Verse)
Obwohl nicht wirklich kurz, wurde Marners Hofton (21 echte Strophen, vorwiegend in C) von den Meistersingern zur Unterscheidung vom Langen Ton auch Kurzer Ton genannt.7 Der Ton besteht aus 16 Zeilen, die sich auf je vierzeilige Stollen und den achtzeiligen Abgesang verteilen. Auch in der Taktzahl herrscht – anders als bei Ton I – Ausgewogenheit zwischen den Teilen: 40 Takte bilden den Aufgesang, 42 den Abgesang. Die Struktur ist bei weitem nicht so durchsichtig wie bei Ton I. Die Stollen
5
6
7
Vgl. auch Johannes Rettelbach, Variation – Derivation – Imitation. Untersuchungen zu den Tönen der Sangspruchdichter und Meistersinger, Tübingen 1993 (Frühe Neuzeit 14), S. 89– 91. Die Überlieferung des 16./17. Jahrhunderts kann hier außer Betracht bleiben, vgl. dazu Horst Brunner, Die alten Meister, München 1975 (MTU 54), S. 283 f. Vgl. Rettelbach [Anm. 5], S. 91 f.
Die Spruchtöne Marners
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sind aus Versen unterschiedlicher Länge in aufsteigender Reihe gebildet, die durchgehenden Reime unterstreichen die in der Versanordnung sich ausdrückende Dynamik. Am Abgesangsende überlagern sich zwei Strukturen. Die letzten drei Zeilen stellen einen um das Eingangsglied (3’a) verkürzten 3. Stollen dar, voraus geht ein metrisch leicht variierter repetierter Steg: 7e 4’f °4e/°6g 4’f 4g – die Anordnung der Kreuzreime unterstreicht die Zusammengehörigkeit der beiden Teile. Die letzte Stegzeile (4g) ist freilich zugleich die erste Zeile des verkürzten 3. Stollens. Der Paarreim am Schluß betont das Achtergewicht der beiden Schlußzeilen. Insgesamt verwendet der Marner hier acht unterschiedliche Reimklänge – mehr als in den anderen Tönen – sowie fünf unterschiedliche Versarten (3’, 4, 4’, 6, 7), wobei in einer Reihe von Zeilen regelmäßig auf den Auftakt verzichtet wird. Den Forschungen Gisela Kornrumpfs verdanken wir die Kenntnis einer aus dem 14. Jahrhundert stammenden Melodiefassung.8 Deren Struktur unterstreicht die am metrischen Schema ablesbare Bauform (vgl. das oben angegebene Melodieschema). Die Stollen sind aus vier Distinktionen zusammengesetzt, der Abgesang beginnt mit einem neuen Melodieglied (e), das mit b kombiniert wird. Die Stegrepetition wird entsprechend der Metrik melodisch nachgezeichnet, unschwer ist auch die Überlagerung des Stegendes mit dem um das a-Glied verkürzten 3. Stollen zu erkennen: Zeile 14 (b) gehört zu beiden Abgesangsteilen. Ton XV (Langer Ton) 4 3 4 4 °8 a b a b c5 a b a b c10
°7 6 3 8 7 2 °3 °4 8 8 d d e e f15 f f f f c20
Der 20zeilige Lange Ton (21 echte Strophen, vorwiegend in C) – bei den Meistersingern einer der berühmtesten und am häufigsten benutzten alten Töne – ist äußerst kunstvoll, er stellt vor allem durch die Art der Reimgestaltung hohe Anforderungen.9 Die Stollen sind aus je fünf Zeilen gebildet, der Abgesang aus zehn. Mit 56 Takten ist der Abgesang gleichwohl länger als der 46-taktige Aufgesang. Verwendet werden sechs ausschließlich männliche, teilweise wiederum regelmäßig auftaktlose Versarten: 2, 3, 4, 6, 7, 8. Die Zahl der Reimklänge ist auf sechs begrenzt. 1. und 2. Stollen verwenden identische Reime, die über Kreuz angeordneten a- und b-Reime erscheinen je viermal, abgeschlossen werden beide Stollen mit einem c-Reim, mit dem auch das Abgesangsende markiert wird. Im Abgesang, der durch den häufigen Wechsel der Verslängen auf den ersten Blick etwas regellos gebaut erscheint, ändert sich die Reimstruktur: Auf zweimaligen Paarreim folgt fünffacher Tiradenreim, ehe, wie erwähnt, der c-Reim wiederholt wird.
8
9
Gisela Kornrumpf, Eine Melodie zu Marners Ton XIV in Clm 5539, in: ZfdA 107 (1978), S. 218–230. Zu den jüngeren Melodiefassungen vgl. Brunner [Anm. 6], S. 284. Vgl. Rettelbach [Anm. 5], S. 92–94.
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Horst Brunner
Eine Analyse der Abgesangsstruktur anhand der ältesten erhaltenen Melodiefassung (t) habe ich früher bereits vorgelegt,10 ich kann mich daher an dieser Stelle kurz fassen. Der Abgesang scheint zunächst in zwei Blöcke oder Stege gleicher Länge und Bauform gegliedert zu sein, auf die dann eine einzeilige Coda folgt: I. Z. 11–14 (24 Takte); II. Z. 15–19 (24 Takte); Coda Z. 20. Die Melodie zeigt jedoch, daß – vergleichbar mit Ton XIV – die beiden letzten Zeilen der Stegrepetition (Z. 18 und 19) zusammen mit der Coda (Z. 20) zugleich einen um das Anfangsglied verkürzten 3. Stollen darstellen. Metrisch und melodisch entsprechen die Abgesangsverse 18–20 den Stollenversen 2/7–5/10: °4 8 8 : 3 4 4 °8. Wie in Ton XIV überlagern sich hier zwei strukturbildende Abschnitte. Ich schließe den melodielos überlieferten Ton XI an (drei Strophen in C), den Ton der berühmten Haßtirade gegen Reinmar von Zweter: Weˆ dir von Zweter Regimaˆr (XI, 3), der mit Ton XV nahe verwandt ist: Ton XI 4 4 4 a b a a b a
4 °4’ b c5 b c10
7 6 4 d d e
2 2 2 4 4 °4’ f f15 g g g c
Mit 19 Verszeilen ist der Ton nur wenig kürzer als Ton XV. Wie bei diesem sind die Stollen fünfzeilig, der Abgesang umfaßt neun Zeilen. Der Taktzahl nach ist Ton XI allerdings erheblich kürzer: Mit 75 Takten (40 im Aufgesang, 35 im Abgesang) steht er hinsichtlich des Textumfangs zwischen dem kürzeren Ton I (70 Takte) und dem längeren Ton XIV (82 Takte) – Ton XV hat hingegen 102 Takte. Ursache für den geringeren Umfang gegenüber Ton XV ist der Umstand, daß lange Zeilen bis auf eine Ausnahme, den männlichen Siebenheber, der den Beginn des Abgesangs markiert, gemieden werden. Es finden sich fünf Versarten: 2, 4, 4’, 6, 7. Die Zahl der Reimklänge beträgt sieben. Die Bauform insgesamt stimmt indes mit der des Langen Tons überein: Die Reimfolge der Stollen sind in beiden Tönen identisch, ferner wird auch hier der abschließende Reim der Stollen am Abgesangsende wiederholt; der Abgesang beginnt ebenfalls mit der paargereimten Versfolge 7 6 (13 Takte), die folgenden Verse 13–17 (14 Takte) stellen einen zweiten Stegteil dar – das Stegende wird dann wieder überlagert durch einen verkürzten 3. Stollen (Z. 17–19). Schließlich noch Marners kürzester Ton: Ton VI 5’ a a
10
°6 b b
1/°2 c/c5
5’ a
°6 b
Vgl. Brunner [Anm. 6], S. 284–287.
Die Spruchtöne Marners
85
Erstmals in der Geschichte der Spruchdichtung findet sich beim Marner neben einem besonders langen ein ausgesprochen kurzer Ton. Im späteren 13. und im 14. Jahrhundert begegnet dieses Phänomen etwa beim Meißner, bei Süßkint von Trimberg, Wizlav, Regenbogen, Frauenlob und dem Kanzler.11 Der siebenzeilige, nur 36 Takte umfassende Ton VI (drei Strophen in C) gliedert sich in zweizeilige Stollen aus je 11 Takten und einen dreizeiligen, 14taktigen Abgesang. Die Stollen sind über Kreuz gereimt, der Abgesang besteht im wesentlichen aus einem 3. Stollen mit den gleichen Reimen wie in den Stollen. Man kann die Besonderheit, den Abgesang mit dem Schlußreim der Stollen abzuschließen – sie findet sich mit Ausnahme von Ton XIV in den als echt angesehenen Tönen überall –, geradezu als ein Markenzeichen Marners ansehen. Dem 3. Stollen voraus geht ein sehr kurzer einzeiliger Steg, durch den der Ton zum »früheste(n) Sangspruchton mit Kurzreimen«12 wird. Später begegnen derartige Kurzreime vor allem bei Konrad von Würzburg.13 Außer dem Kurzvers 1/°2 finden sich nur ein weiblicher Fünf- und ein männlicher Sechsheber. Fünfheber gibt es übrigens in den unzweifelhaft echten Marnertönen sonst nicht. Nun noch zu den als zweifelhaft geltenden Tönen XVI und XVII: Ton XVI 8 3’ 3’ 3’ a b c d a5 b c d
6 4 9’ e e10 d e e
Der dreizehnzeilige, 63-taktige Ton setzt sich aus je vierzeiligen Stollen (jeweils 17 Takte) und einem fünfzeiligen Abgesang (29 Takte) zusammen. Charakteristische Züge, die an unbezweifelt echt geltende Marnertöne erinnern, sind die durchgereimten Stollen, vgl. auch Ton XIV, vor allem aber das an den Stollenschluß angereimte Abgesangsende. Die genaue Stegrepetition am Abgesangsbeginn begegnet auch in Ton I, Tiradenreime wie in Z. 9–12 sind aus Ton XV bekannt; melodisch könnte der ungewöhnliche weibliche Neunheber am Abgesangsende einen verkürzten 3. Stollen dargestellt haben: in ihm könnten die letzten drei Stollenzeilen zusammengefaßt gewesen sein. Hinsichtlich der übrigen Versarten bietet der Ton nichts ungewöhnliches, da sich Verse der Formen 3’, 4, 6 und 8 auch in den als echt geltenden Tönen finden. Fazit: Es kann sich hier um einen echten Marnerton handeln.
11
12 13
Vgl. Horst Brunner, Die Spruchtöne Frauenlobs, in: Studien zu Frauenlob und Heinrich von Mügeln. FS Karl Stackmann, hg. von Jens Haustein und Ralf-Henning Steinmetz, Freiburg (Schweiz) 2002, S. 61–79, hier S. 78. Rettelbach [Anm. 5], S. 227. Vgl. Horst Brunner, Die Spruchtöne Konrads von Würzburg, in: Röllwagenbüchlein. FS Walter Röll, hg. von Jürgen Jaehrling, Uwe Meves und Erika Timm, Tübingen 2002, S. 95– 106.
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Horst Brunner
Etwas weniger glaubhaft, gleichwohl denkbar, scheint mir die Echtheit bei dem zweiten lediglich in E überlieferten Ton: Ton XVII 4 4 a b a b5
5’ c c
4 5’ 3 2 4 4 5’ d e f f g g e15 d e10
Der fünfzehnzeilige, 62taktige Ton besteht – wie Ton I – aus dreizeiligen Stollen (je 13 Takte) und einem neunzeiligen Abgesang (36 Takte). Folgende Versarten finden sich: 2, 3, 4, 5’ (Verse der Form 5’ gibt es sonst nur in Ton VI). Durchgereimte Stollen finden sich auch in Ton XIV, nur dort fehlt auch Marners Markenzeichen, die Anreimung des Abgesangsendes an den Stollenschluß. Wie in Ton I (und XVI) findet sich eine genaue Stegrepetition. Die drei letzten Abgesangszeilen stellen wahrscheinlich einen exakten 3. Stollen dar – das wäre, abgesehen vom sehr kurzen Ton VI, für den Marner ungewöhnlich. In struktureller Hinsicht fragwürdig ist die Rolle der paargereimten Zeilen 11 und 12: Übergangszeilen vom Steg zum 3. Stollen, etwas was es in den übrigen Tönen nicht gibt? Erweiterung des 3. Stollens um ein neues Anfangsglied – auch am Schluß des Tones I findet sich ein erweiterter 3. Stollen? Ohne Kenntnis der Melodie sind diese Fragen nicht zu entscheiden. Abschließend noch einige knappe Bemerkungen zur formgeschichtlichen Einordnung der Töne. Zunächst zu den Umfängen. Wie ich an anderer Stelle bereits festgestellt habe,14 scheint der Marner der erste gewesen zu sein, der Spruchtöne mit mehr als 16 Verszeilen gestaltete. Die Töne Walthers von der Vogelweide bestehen – abgesehen vom Sonderfall des Reichstones – aus 7 bis 16 Zeilen, die Bruder Wernhers mit Ausnahme eines 14zeiligen Tones aus jeweils 12 Zeilen, die Reinmars von Zweter aus 9 bis 15 Zeilen. Dagegen weisen die Marnertöne (abgesehen vom kurzen Ton VI), 13, 15 (der fragliche Ton XVII), 16, 19 und 20 Zeilen auf. In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts finden sich vielfach Töne vergleichbarer Länge, etwa bei Konrad von Würzburg, Rumelant von Sachsen, dem Meißner, Hermann Damen und Frauenlob. Die beim Marner verwendete Anzahl von 12 Versarten (2, 1/2, 3, 3’, 4, 4’, 5’, 6, 7, 7’, 8; 9’ nur in Ton XVII) bewegt sich im Mittelfeld: Walther benutzt in seinen Spruchtönen im wesentlichen nur acht Versarten, Friedrich von Sonnenburg sieben, Frauenlob elf, Konrad von Würzburg zwölf, Bruder Wernher und Rumelant von Sachsen je 14, der Meißner gar 19. Auffällig ist allerdings das Fehlen von Langzeilen, die etwa für den Zeitgenossen Bruder Wernher von großer Bedeutung waren.15 Beim Marner begegnen nur lange Zeilen. Hinzuweisen ist schließlich auf die erstmalige Verwendung eines Kurzreimes in einem Spruchton. Wichtig für die formgeschichtliche Einordnung ist die Frage nach der Gestaltung der Abgesänge. Dabei geht es in erster Linie um die Frage nach der Verwendung des 3. Stollens. Als ältester datierbarer Spruchton mit 3. Stollen gilt Ton II des ‘Wart14 15
Vgl. Brunner [Anm. 11], S. 78. Vgl. ebd.
Die Spruchtöne Marners
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burgkrieges’, später geläufig als Klingsors Schwarzer Ton, der um 1239 entstanden ist. In der zweiten Jahrhunderthälfte benutzte insbesondere Konrad von Würzburg den 3. Stollen regelmäßig, andere folgten ihm.16 Der Marner vermied es – sieht man vom Ton VI (dessen Melodie freilich nicht erhalten ist) ab (und ebenso vom problematischen Ton XVII) –, 3. Stollen genau zu realisieren. In Ton I erscheint der 3. Stollen erweitert, in den Tönen XIV, XV und wohl auch XI (außerdem in XVI) in verkürzter Form. Friedrich von Sonnenburg,17 der Meißner und Frauenlob haben diese Formmöglichkeit dann aufgegriffen. Außer in Ton I (und eventuell in XVI und XVII) ging der Marner zudem der genauen Stegrepetition aus dem Weg. Vergleicht man die Töne Marners mit denen seines Zeitgenossen Bruder Wernher,18 so fällt die Rationalität auf, mit der er sich um eine variable, gleichwohl gewissen Prinzipien verpflichtete Gestaltung bemühte – für die späteren Spruchdichter war dies offensichtlich richtungweisend. Das formale Interesse Bruder Wernhers (wie auch Reinmars von Zweter) erscheint dagegen eher gering. Er variiert in allen seinen Tönen auf vergleichsweise bescheidene Art lediglich einen einmal gefundenen Bautyp, den er im übrigen wahrscheinlich der unter dem Autornamen Stolles verbreiteten Alment entlehnte.19
16 17
18
19
Vgl. Brunner [Anm. 13], S. 105. Vgl. Horst Brunner, Die Töne Friedrichs von Sonnenburg, in: Artes liberales. FS Karlheinz Schlager, hg. von Marcel Dobberstein, Tutzing 1998, S. 59–67. Vgl. Horst Brunner, Die Töne Bruder Wernhers, in: Liedstudien. FS Wolfgang Osthoff, hg. von Martin Just und Reinhard Wiesend, Tutzing 1989, S. 47–60. Vgl. ebd., S. 56–58.
Sprachspiel und Differenz Zur Textur von Minnesangs Ende in Frauenlobs Lied 6 von Annette Gerok-Reiter
Für Paul Sappler, geschuldet dessen Liebe zum Detail
I Frauenlobs Œuvre führt in eminentem Maß auf jene Frage zu, die vom 22. Kapitel in Aristoteles’ ‘Poetik’ bis zu Celans ‘Meridian’ immer von neuem dichtungstheoretischen Zündstoff gegeben hat, die Frage, ab welchem Punkt ein sprach-bildlicher Überschuss lediglich Gelächter produziert, als schnarrend-artifizieller Automatismus die Dichtung selbst desavouiert. Bedeutet Frauenlobs exzessiver Umgang mit redebluomen lediglich ornamentale Verdunkelung a` la mode?1 Oder vermag Frauenlob durch seine eigenwillige Fahrt auf dem vindelse der Sprache in prägnanter Weise neue Positionen und Perspektiven zu öffnen?2 D. h. ist Frauenlobs Sprache als differenzierend modellierendes Analyseelement eingesetzt, das Irritation und Aufwand rechtfertigt, oder Resultat eines irrationalen Sprachgestöbers? Hinter der Alternative steht die Frage nach der – in der Regel – hauchdünnen Scheidelinie zwischen Künstlichkeit und Kunst, eine grundsätzliche Frage, deren heuristischer Wert sich allerdings nur in historischer Differenzierung, d. h. vom Einzelfall her und seinen jeweiligen literaturgeschichtlichen Bedingungen, erweisen kann. Die Frage nach Sinn, Funktion und poetischer Strategie von Frauenlobs eigenwilliger Sprachmodellierung ist in der Forschung immer wieder diskutiert worden,3 seit 1
2
3
Mit Unverständnis reagierte die ältere Forschung: Vgl. Ludwig Pfannmüller, Frauenlobs Marienleich (Quellen und Forschungen 120), Straßburg 1913, S. 13–17; Gustav Ehrismann, Geschichte der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters. Schlussband (Handbuch des deutschen Unterrichts, Bd. 6,2), München 1935, hier etwa S. 304. Gemäßigter -zwischen »manieristischer Sprachquälerei und zugleich hoher Ahnung« – ortet ihn Max Wehrli, Geschichte der deutschen Literatur vom frühen Mittelalter bis zum Ende des 16. Jahrhunderts (RUB 10294), Stuttgart 1980, S. 450; in der Verbindung von Gelehrsamkeit und Manierismus sieht Joachim Heinzle, Wandlungen und Neuansätze im 13. Jahrhundert (1220/30– 1280/90), Tübingen 21994 (Geschichte der deutschen Literatur von ihren Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit II/2), die »stilistische Wende angebahnt, die dann in der dritten nachwaltherschen Generation mit Vehemenz vollzogen wurde« – insbesondere bei Frauenlob (S. 129, vgl. auch S. 124). Dazu Beate Kellner, Vindelse. Konturen von Autorschaft in Frauenlobs ‘Selbstrühmung’ und im ‘wıˆp-vrouwe-Streit’, in: Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995, hg. von Elizabeth Andersen u. a., Tübingen 1998, S. 255–276. Grundlegend: Christoph Huber, Wort sint der dinge zeichen. Untersuchungen zum Sprachdenken der mittelhochdeutschen Spruchdichtung bis Frauenlob (MTU 64), München 1977, S. 126–186. Vgl. auch Gert Hübner, Lobblumen. Studium zur Genese und Funktion der
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Annette Gerok-Reiter
Stackmann4 auf wertschätzendem Boden. Ich möchte diese Forschungsdiskussion in Bezug auf Frauenlobs Minnelieder fortsetzen, indem ich die Frage unter dem Aspekt spezifischer Gattungsvorgaben beleuchte. Gewählt wird ein Beispiel aus dem Bereich des Minnesangs, weil sowohl die Gattungskriterien des Ich-Liedes der Hohen Minne als auch die literarhistorische Situation dieses Liedtyps um 1300 auf eine besondere Zuspitzung der Frage hinführen. Dies ist von den Grundkonstituenten des Ich-Liedes der Hohen Minne aus kurz zu erläutern. Das traditionelle Ich-Lied der Hohen Minne, wie es sich nach französischem Vorbild um 1200 im deutschsprachigen Raum etabliert,5 geht aus von einer Dreieckskonstellation, die sich auf zwei Ebenen realisiert: der Handlungsebene und der poetologischen Reflexionsebene, die in der Regel als interne und – nicht nur, aber auch – externe Sprechsituation zu fassen sind.6 Auf der ersten Ebene, der Handlungsebene, wirbt ein liebendes Ich um eine Dame in Auseinandersetzung mit den Forderungen und Normen der Gesellschaft. Jeder Position sind dabei feste Verhaltensvorschriften vorgegeben. Das liebende Ich muss sich in treuem Dienst (dienst, staete) um die Dame bemühen. Die Dame muss einerseits soweit auf die Werbung reagieren, dass sie sie zulässt, andererseits darf sie jedoch auf das Begehren des werbenden Ich nicht mit dem gewünschten Trost oder Lohn eingehen, da sie als summum bonum unerreichbar zu sein hat. Die Gesellschaft unterstützt die Unerreichbarkeit der Dame, indem sie als huote, als Aufpasser, fungiert. Dieses doppelte Hindernis – die hoch erhabene Dame sowie die wachsame Gesellschaft – führt zum Leid (leit, kumber, smerze) des werbenden Ich, einem Leid, aus dem es kein Entrinnen gibt, das aber genau dadurch die Authentizität der Minne (auf erster Ebene) beweist. Sinn und Zweck dieses auf Handlungsebene durchaus erfolglosen Werbens und insofern auch zwecklosen Authentizitätsbeweises sind kaum greifbar, allenfalls im programmatischen Übersprung zur Didaxe, die lapidar bleibt.7 Sie werden in ihrem spezifischen Anspruch erst in
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5
6
7
›Geblümten Rede‹ (Bibliotheca Germanica 41), Tübingen/Basel 2000, S. 189–201, 263–279, 289–301, 335–390, sowie den literarhistorischen und geistesgeschichtlichen Problemaufriss bei Susanne Köbele, Frauenlobs Lieder. Parameter einer literarhistorischen Standortbestimmung (Bibliotheca Germanica 43), Tübingen/Basel 2003, S. 1–20. Karl Stackmann, Bild und Bedeutung bei Frauenlob, in: Frühmittelalterliche Studien 6 (1972), S. 441–460; Karl Stackmann, Redebluomen. Zu einigen Fürstenpreisstrophen Frauenlobs und zum Problem des geblümten Stils, in: Verbum et Signum. Friedrich Ohly zum 60. Geburtstag, hg. von Hans Fromm, Bd. 2, München 1975, S. 329–346. Zur Position des Ich-Liedes der Hohen Minne im Kontext des benachbarten Minnesangs: Burghart Wachinger, Was ist Minne?, in: PBB 111 (1989), S. 252–267; Helmut Tervooren, Gattungen und Gattungsentwicklungen in der mhd. Lyrik, in: Gedichte und Interpretationen. Mittelalter, hg. von Helmut Tervooren, Stuttgart 1993, S. 11–42; paradigmatisch zum Liedtypus: Trude Ehlert, Das »klassische« Minnelied. Heinrich von Morungen: Vil süeziu senftiu toeterinne, ebd., S. 43–55. Vgl. zu dieser Kategorisierung sowie ihrer Problematik Rainer Warning, Lyrisches Ich und Öffentlichkeit bei den Trobadors, in: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken, hg. von Christoph Cormeau, Stuttgart 1979, S. 120– 159. Vgl. Albrecht von Johansdorf (MF 93,12: Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der
Sprachspiel und Differenz
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der stringenten Korrelation von Handlungs- und poetologischer Reflexionsebene des Ich-Liedes deutlich. Auf der Ebene poetologischer Reflexion mutiert das Klagelied des betroffenen Ich zum Preislied. Denn das singende Ich muss im Blick auf die Dame die Klage zum Preis läutern, um der Vorzüglichkeit der Dame jenes Gewicht zuzusprechen, das die anhaltende Werbung und damit auch den anhaltenden Gesang rechtfertigt. Erst der Preis der Dame im Lied kann wiederum der vroide der Gesellschaft dienen, die in der Rezeption des Frauenpreises sowie der geläuterten Klage des Mannes zum Gesellschaftsideal des hoˆhen muotes geführt wird. Für diese Inszenierung des hoˆhen muotes zollt die Gesellschaft dem singenden Ich Anerkennung, bestätigt ihm seine poetischästhetische Souveränität, die um so strahlender hervortritt, je mehr das betroffene Ich auf Handlungsebene im vergeblichen Netz der Liebeswerbung seinem Leid ausgeliefert ist. Es ist sicherlich ein äußerst eigentümlicher und ausgeklügelter konzeptioneller Balanceakt, der hinter dem Ich-Lied der Hohen Minne steht: In einer für die Zeit um 1200 durchaus progressiven Weise wird im öffentlichen Diskurs eine frappierende Liebesnähe beschworen, deren Äußerung jedoch von der Distanz der Beteiligten – Werber, Dame und Gesellschaft – lebt, deren Sinn von der Differenz zweier Ebenen abhängt. Oder noch deutlicher formuliert: Erst das distante Verhältnis von Ich, Dame und Gesellschaft innerhalb der Dreieckskonstellation sowie das simultane Doppelspiel8 auf zwei widersprüchlichen Ebenen eröffnen in der extremen Spannung zueinander jenen Raum, in dem sich nicht die Liebe selbst, aber eine Sprache der Liebe zum allerersten Mal im deutschen Sprachkontext reflektiert, nuanciert und mit dem Anspruch der Authentizität im gesellschaftlichen Diskurs (auf zweiter Ebene)9 etablieren kann.
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Ausgaben von Karl Lachmann, Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl v. Kraus bearb. von Hugo Moser und Helmut Tervooren, Bd. 1, Stuttgart 371982): daz ir dest werder sint unde daˆ bıˆ hoˆchgemuot (94,14). Die Simultaneität der Diskursmöglichkeiten als Miteinander und Ineinanderblenden von verschiedenen Diskursausschnitten wie Preis der Dame, Ich-Reflexion etc. sieht Margareth Egidi, Poetik der Unterscheidung. Zu Frauenlobs Liedern, in: Studien zu Frauenlob und Heinrich von Mügeln. FS Karl Stackmann, hg. von Jens Haustein und Ralf-Henning Steinmetz, Freiburg (Schweiz) 2002, S. 103–123, als gattungsspezifische Kennzeichen des Minnesangs an im Gegensatz zum segmentierenden Verfahren der Spruchdichtung, die dieselben Ausschnitte thematisiert, jedoch »unvermittelt nebeneinander« perspektiviert (S. 106). Ich unterscheide damit zwei Authentizitätsebenen: Authentizität auf Handlungsebene betrifft die Kategorien ›wahre‹ oder ›vorgetäuschte Minne‹. Ob Minne auf dieser Ebene authentisch ist, kann ebenso wenig heuristisch geklärt werden, wie eine solche Klärung für das poetologische Konzept notwendig wäre. Poetologisch notwendig ist es jedoch, die Fiktion der Authentizität auf Handlungsebene aufrechtzuerhalten, denn sie ist Bedingung für die glaubwürdige Konstruktion des Authentizitätsanspruchs auf zweiter Ebene, d. h. im Rahmen der gesellschaftlichen Aufführungs- und Inszenierungssituation. Auf dieser Ebene geht es um die Kategorien eines ›sinnvoll‹ oder ›nicht sinnvoll geführten Liebesdiskurses‹, der als Diskurs mit aktueller Brisanz Verbindlichkeit beansprucht. Authentisch ist Minnesang somit nicht, weil eine reale Liebesgeschichte gespiegelt wird, sondern weil bzw. solange eine ernsthaft geführte gesellschaftliche Wertediskussion damit impliziert ist. Im disparaten Diskus-
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Annette Gerok-Reiter
Die große Zeit des Ich-Liedes der Hohen Minne – jener intensive, äußert produktive und durchaus gesellschaftskritische Diskurs über das Verhältnis der Geschlechter, von dem die Liebeskultur des Abendlandes nachhaltig profitiert hat – ist jedoch um 1250 vorbei. Mit Frauenlob ist die Spätphase des Minnesangs erreicht. Das Thema der Hohen Minne wird zwar im Ich-Lied immer noch gepflegt, fort- und fortgesungen – aber im doppelten Sinn: als Fortsetzung der Tradition in einem immer raffinierteren Formen-, Bilder- und Motivspiel,10 zugleich aber auch im Sinn einer sich selbst entleerenden Perpetuierung.11 Dennoch muss festgehalten werden, dass das Renommee des Ich-Liedes mit dem Thema der Hohen Minne auch um 1300 noch von jenem existentiellen Anspruch zehrt, der ihm einst – bei Reinmar, bei Morungen oder Walther – das Gepräge gegeben hat. Wer sich somit als Meister auch dieser Gattung beweisen will, kann an diesem traditionell höchstgeachteten Liebeskonzept nicht vorbeigehen,12 ohne sich seinem spezifischen Anspruch zu stellen, einem Anspruch, der – im Gegensatz zur Sangspruchdichtung – mit dem liebenden, werbenden, dem betroffenen Ich als Kontrapost eines bloßen Formenspiels aufs Engste verbunden ist. Damit aber dürfte deutlich werden, dass sich gerade für das Ich-Lied der Hohen Minne in der literarhistorischen Situation um 1300 in besonderer Weise die Frage stellt nach dem Verhältnis von artifizieller Redundanz einerseits und konzeptioneller Stringenz andererseits, d. h. die Frage nach der Ökonomie der eingesetzten Mittel und ihrer poetischen Strategie im Verhältnis zum tradierten Anspruch der Authentizität (auf erster und zweiter Ebene) als literarhistorisch und gesellschaftlich hochwirksamem ›Salz‹ dieser Gattung. Ich möchte diese Frage im Folgenden an Frauenlobs Lied 6 (XIV,26−XIV,30) herantragen, denn in ihm lassen sich einerseits besonders deutlich die Grundkonstituenten der Hohen Minne mit ihren semantischen Eckpunkten wiedererkennen; d. h. durch das immer selbe Set an Begriffen (not, smerze, senen, hulde, tot, wunne, hoher mut, wunsches leben, gruz usw.) und Begriffsrelationen wird die immer ähnliche Konstellation und Paradoxie des Ich-Liedes der Hohen Minne aufgezeigt. Andererseits jedoch weist dieses Lied in eminentem Maß ein verwirrendes Vexierspiel an
10
11
12
sionsfeld um Authentizität und Fiktionalität folge ich somit im Prinzip dem Vorschlag von Jan-Dirk Müller, Die Fiktion höfischer Liebe und die Fiktionalität des Minnesangs, in: Text und Handeln. Zum kommunikativen Ort von Minnesang und antiker Lyrik, hg. von Albrecht Hausmann, Heidelberg 2004, S. 47–64. Insbesondere anknüpfend an die Technik des blüemens; zur neueren Diskussion vgl. Hübner [Anm. 3], S. 289–335. Sind Frauenlobs Lieder somit lediglich als »rituelle Verbeugung des Autors« (Köbele [Anm. 3], S. 277) vor einer Gattung zu verstehen, die im Begriff ist, sich selbst zu überleben, Pflichtübungen also, die, geschuldet dem Gedanken der Vollständigkeit, lediglich als bloßer Anhang aufzufassen sind, so wie die Göttinger Frauenlob-Ausgabe sie ja denn auch ganz am Ende präsentiert? Vgl. dazu auch: Burghart Wachinger, Hohe Minne um 1300. Zu den Liedern Frauenlobs und König Wenzels von Böhmen, in: Wolfram-Studien 10 (1988), S. 135– 150. Ebd., S. 135 und 144.
Sprachspiel und Differenz
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Bildern, Reimvarianten, Perspektivsprüngen und Assoziationen auf, verstärkt durch eine unruhige, atemlose, sich fast auflösende Syntax. Diese dezidierte – inhaltliche wie formale – Zweipoligkeit des Liedes zwischen traditionellem Inventar und irritierendem Sprachspiel bringt das genannte Problem forciert zur Darstellung. Zu klären ist, welche Funktion jenes überbordende sprach-bildliche Vexierspiel im Lied, insbesondere in der Relation zur inszenierten Grundkonstellation der Hohen Minne, einnimmt. Die Analyse soll sich dabei en de´tail Strophe für Strophe voranarbeiten, um im Verlauf des Liedes auch Veränderungen innerhalb der Relation von sprachlichem Impuls und Aussage markieren zu können.
II XIV,26 [A]
5
10
15
Mir ist ein wip so nahen durch die ougen min gebrochen in daz herze. nu merket, welch ein strazen sie ir hat erkorn!
[A]
Mir ist eine Frau so nah durch meine Augen ins Herz eingebrochen! Nun passt auf, welch eine Straße sie sich gewählt hat!
Des muz min lip von schulden ir gefangen sin. dannoch so wil der smerze im nicht genügen lazen, des bin ich verlorn.
Mein Körper muss dadurch mit gutem Grund ihr Gefangener sein. Doch noch immer will der Schmerz es sich nicht genug sein lassen, deshalb bin ich verloren.
Der hat mir brende so behende an mins herzen pin gebrant, des hat ein siuche sich erhaben:
Der hat mir Feuersbrände so schnell an meiner Herzensqual entzündet – eine Krankheit begann sich dadurch auszubreiten: Was ich je an Bränden erfahren habe, das kann man, was die sehnsuchtsvolle Qual betrifft, verglichen mit solchen Bränden vergessen.
swaz ich von brenden ie bevant, daz ist an sender arebeit gein solchen brenden wol begraben.13
Die erste Strophe nimmt im Bild des Eindringens der Dame durch die Augen, im Bild der Gefangenschaft, der Erfahrung des Liebesschmerzes und des Liebesbrandes traditionelle Bild- und Beschreibungstopoi auf.14 Doch die Art der sprachlichen Inszenierung deutet die Bildtopoi in eigenwilliger Weise um. Der Topos des Eindringens der Dame durch die Augen, als typisches Liebesstimulans hervorgehoben etwa von 13
14
Zitiert nach: Frauenlob (Heinrich von Meissen), Leichs, Sangsprüche, Lieder, aufgrund der Vorarbeiten von Helmuth Thomas hg. von Karl Stackmann und Karl Bertau, 2 Bde., Göttingen 1981 (= GA), S. 570–572. Ich übernehme die Konjekturen Stackmanns; nur an einer Stelle weiche ich ab. Mögliche Alternativen und Abweichungen werden, wo relevant im Zusammenhang, an Ort und Stelle diskutiert. Rüdiger Schnell, Causa amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur (Bibliotheca Germanica 27), Bern/München 1985, S. 24–40.
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Annette Gerok-Reiter
Andreas Capellanus, findet sich in zahlreichen Minneliedern – auch bereits in der provenzalischen Trobadorlyrik; das Eindringen der Dame durch die Augen signalisiert den Liebesbeginn als Akt visueller Affizienz, bei der sich das Bild der Dame im Herzen des Liebenden festsetzt und ihn dadurch in seinem Streben nach der Dame außerhalb seines Herzens beflügelt.15 Doch statt um Affizienz geht es nun um einen gewaltsamen Durchbruch (durch [. . .] gebrochen 26,2 f.), statt um Differenz zwischen realer und abgebildeter Dame allein um eine bedrängende Nähe (so nahen 26,2), statt um daraus resultierende Aktivität um ein völlig passives Ich. Alle Aktivität geht von der Dame aus. Sie ist Subjekt (ein wip . . . 26,1); sie ist eingebrochen; sie hat sich den Weg erwählt. Damit hat sich die traditionelle Werbungsrichtung, die vom Werbenden zur unerreichbaren Dame hinverläuft, radikal umgekehrt, erscheint als Inversionsbewegung. Dieser Perspektiv- und Aktionswechsel spiegelt sich in der Pronominalstruktur, in der das Ich auch grammatikalisch zum Objekt gemacht wird (mir ist . . . 26,1), und setzt sich im zweiten Stollen im Bild der Gefangenschaft fort. Erst am Ende des zweiten Stollens tritt das Ich in der Subjektposition hervor, jedoch nur um zu formulieren, dass es als aktives Ich in diesem Procedere verloren gegangen ist. Die Dame hat für sich gewählt (sie ir hat erkorn 26,5), das Ich dagegen ist verlorn (26,10). Der Abgesang schildert den Liebesschmerz als sich ausbreitenden Brand. Dabei unterstützen Reimart und -struktur sowie Laut- und Rhythmusreize jene thematische Leitlinie in prononcierter Weise. Viermal taucht das Wort brende innerhalb des siebenzeiligen Abgesangs in identischem oder grammatischem Reim auf (brende 26,11, gebrant 26,13, brenden 26,15, brenden 26,17), d. h. das Wort breitet sich – parallel zur Bildvorstellung – über den gesamten Abgesang in rasantem Ausgriff aus, so dass die neu hinzutretende Metapher der siuche (26,14) jenen Akt des Ausbreitens, dem nichts entgegenzusetzen ist, nurmehr passgenau zu belegen scheint.16 Weit stärker suggerieren die Assonanzen und Alliterationen der Endreime brende (26,11) – behende (26,12) und gebrant (26,13) – bevant (26,15) das Übergreifen des Brandes als Lautbewegung über die Semantik hinaus. Und selbst die Reime erhaben (26,14) – begraben (26,17), die semantisch und positionell nicht direkt an die Brandsemantik 15
16
Vgl. Andreas Capellanus, De Amore. Über die Liebe. Lateinisch-Deutsch, hg. und mit einem Nachwort versehen von Florian Neumann (Excerpta Classica 22), Mainz 2003, S. 10–17, S. 24 f. u. ö. Vgl. Schnell [Anm. 14], S. 241–274. Reiches Material bieten auch: Xenia von Ertzdorff, Die Dame im Herzen und das Herz bei der Dame. Zur Verwendung des Begriffs ›Herz‹ in der höfischen Liebeslyrik des 11. und 12. Jahrhunderts, in: ZfdPh 84 (1965), S. 6– 46; Friedrich Ohly, Cor amantis non angustum, in: ders., Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, S. 128–155. Zu Frauenlob: Eva B. Scheer, Daz geschach mir durch ein schouwen. Wahrnehmung durch Sehen in ausgewählten Texten des deutschen Minnesangs bis zu Frauenlob, Frankfurt a. M./Bern/New York/Paris 1990, S. 179– 239. Vgl. zum Motiv ›Liebe als Krankheit‹: Werner Hoffmann, Liebe als Krankheit in der mittelhochdeutschen Lyrik, in: Liebe als Krankheit. 3. Kolloquium der Forschungsstelle für europäische Lyrik des Mittelalters, hg. von Theo Stemmler, Mannheim 1990, S. 221–257; Benedikt Konrad Vollmann, Liebe als Krankheit in der weltlichen Lyrik des lateinischen Mittelalters, ebd., S. 105–125. Es erscheint signifikant, dass das extreme Vergleichsbild der siuche bei Frauenlob singulär ist.
Sprachspiel und Differenz
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anschließen, scheinen ›angesteckt‹, indem sie den a-Laut des reimenden Wortstamms – Echo auf gebrant (26,13) – in einer Kette von Assonanzen bis zum Ende durchziehen. Das Gefälle auf den Schluss zu wird zudem forciert durch die Reimstruktur. Im Kontrast zu den fünf verschiedenen Reimen in den fünf Zeilen der beiden Stollen (abcde/abcde) entlädt sich die Reimspannung in der Reimkaskade des Abgesangs in nur drei rasch aufeinanderfolgenden Reimen (ffghgxh), die zudem in unmittelbarer Vokalnachbarschaft liegen (a – e). Die Hilf- und Haltlosigkeit des Ich schlägt sich somit in einem Crescendo an Struktur-, Laut- und Reimstimulantien in einer Weise nieder, die über die rational zu erfassende Ebene von Lexik, Bild und Bedeutung hinaus eine performative Überzeugungs- und Suggestivkraft entwickelt.
XIV,27 [B]
5
10
15
Ich clage min not, ich clage min unbewante zit, daz ich nach ‹den› ir hulden mit senen habe gerungen wol nach friundes rat.
[B]
Ich beklage meine Not, ich beklage meine vertane Zeit, dass ich nach ihrer Gunst (so) sehnsuchtsvoll gerungen habe genau nach dem Rat eines Freundes.
Der gicht, der tot müze enden miner helfe strit. bistu von solchen schulden, min heil sust were verdrungen. secht, nu stille stat
Der sagt, (erst) der Tod könne mein (zerreißendes) Ringen um Erhörung beenden. Bist du von solcher Art, wäre mein Heil chancenlos. Seht, nun steht mein
Min rücken: [] gelücke,17 daz e flücke ‹was› und wande ouch immer wesen, ich wene, im si ‹der› vederen zal
Sich-Fortbewegen still: Glück, das einst flügge war und auch immer zu sein glaubte – ich glaube, ihm sind von den zahlreichen Federn aus seinem Fittich viele ausgefallen, so dass es, wann immer es in die Höhe fliegen will, hinab stürzen muss.
zu sinen vetchen vil gelesen, swenn ez die höhe fliegen wil, daz ez muz vallen hin zu tal.
In der zweiten Strophe könnte Ich clage (27,1 f.) – anaphorisch wiederholt – Signal sein für den Umsprung auf die poetologische Ebene des Lieds, könnte Aufruf des singenden Ich sein, das die Situation der Betroffenheit reflektiert, in der Reflexion läutert und zum Frauenpreis transformiert. Doch die Klage hier stößt sich nicht in ihrem zweifachen Anlauf ab von der Handlungsebene, um in jenen poetologischen Transformationsprozess hineinzugelangen, der Leid in Preis zu wandeln versteht, 17
Vgl. Deutsche Lyrik des späten Mittelalters, hg. von Burghart Wachinger (Bibliothek des Mittelalters 22), Frankfurt a. M. 2006, S. 420–425. Wachinger konjiziert (ähnlich wie bereits Ettmüller – gegen F) Min ruchend gelücke (‘mein fürsorgliches Glück’). Dies wird m. E. jedoch weder der Dramatik der Aussage noch dem Bild des im Flug angehaltenen Vogels gerecht und nimmt auch der Assonanz-Trias rücken – gelücke – flücke mit inhärenter Zäsur zwischen Stillstand (nach rücken) und Absturz ihre lautliche Prägnanz.
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sondern fällt ganz in die Beschreibung des Leids aus der Perspektive des betroffenen Ich zurück, ja expandiert dieses nurmehr. Beklagt wird nicht nur, dass die Geliebte kein Zeichen ihrer Huld sendet, sondern das Werben insgesamt wird im Rückblick als unbewante zit (27,2), als ‘vertane Zeit’, bezeichnet. Der Gedanke der erzieherischen Kraft gerade der unerfüllten Liebe erscheint damit weit entfernt, ebenso wie das beständige Werben nicht zum hoˆhen muot, sondern in qualvolle Ausweglosigkeit führt. Danach aber wäre die Dame nicht Heilbringerin, sondern Heilvernichterin: bistu von solchen schulden, / min heil sust were verdrungen (27,8 f.): Revocatio der Dame als summum bonum? Zumindest haben sich – wie zuvor schon – sämtliche Perspektiven pervertiert. Gefasst wird diese ›Perversion‹ im Bild des gefiederten Glücks, das dem Fall ausgesetzt ist. Es geht nicht mehr um einen Aufschwung im Zeichen des Eros, wie er im ‘Phaidros’ beschrieben wurde18 und – transformiert als erotisches Ascensus-Konzept – in die mittelhochdeutsche Dichtung (etwa in Gottfrieds ‘Tristan’, V. 16960 ff.) Eingang finden konnte,19 sondern um die Umkehrung dieser Bewegung: Statt Aufschwung Fall, statt der Realisation des hoˆhen muotes ein klägliches Scheitern. Statt befreiender Reflexion über sich hinaus rekurriert das Ich nurmehr auf sich selbst in Positionen der eigenen Dissoziation (ougen 26,2 – herze 26,3 u. 13 – lip 26,6 – friunt 27,5), kreist – statt in der traditionellen Dreieckskonstellation – orientierungslos zwischen eigener Vergangenheit (unbewante zit 27,2) und eigner Zukunft (tot 27,6), zwischen Stillstand (stille stat 27,10) und einem Sich-Fortbewegen (rücken 27,11), zwischen strit (27,7) und heil (27,9), um schließlich – nach kurzem Zögern im Enjambement zwischen Vers 10 und 11 – gleichsam mitsamt dem Glück in einen syntaktischen Sog hineinzugeraten, der über ein komplexes Gefälle von Haupt- und Nebensätzen sowie Satzellipsen von der höhe (27,16) des flücke-Seins (27,12 f.) zum tal (27,17) hin führt.
XIV,28
5
Ich suchte mich, da vant ich min da heime nicht. ich wante, ein ding daz wolte mich töten ‹gar› mit lüste. lip, wa was ich do?
10
Hilf, Minne, rich die wunderliche wechselschicht, gib wider mir zu solde, ob ich erner min brüste vor ir lichte also,
[C]
18 19
[C]
Ich suchte mich, da fand ich mich daheim nicht. Ich glaubte, irgendetwas wollte mich töten (gar) mit Lust. Körper, wo war ich da? Hilf, Minne, räche den wunderlichen Tausch, gib mir als Gegenleistung wieder – wenn ich meine Brust vor ihr vielleicht in der Weise retten kann –,
Platon, Phaidros, 246de. Siehe Walter Haug, Die höfische Liebe im Horizont der erotischen Diskurse des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Wolfgang Stammler Gastprofessur 10), Berlin/New York 2004, S. 58 f.
Sprachspiel und Differenz
15
Daz ich behalde mit gewalde unter wilen minen mut, und mich von ir gewünschen mag. ei, müste ich tun, daz sie mir tut – ich meine [] dich – und gebe ir mich,20 daz were ein wunne wernder tag.
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dass ich (zumindest) ab und an meine Sinneskräfte zu beherrschen vermag und mich von ihr hinwegwünschen kann. Ach, könnte ich doch tun, was sie mir antut – ich meine dich –, und ihr mich geben, das wäre ein glückspendender Tag.
Die Dissoziation des Ich, die durch keine Reflexion mehr gebändigt werden kann, erreicht ihren Höhepunkt im ersten Stollen der dritten Strophe. Die Ebene des singenden, des ästhetisch-distanzierten Ich wird hier vollständig verlassen, geht gleichsam unter in der ruhelosen Suchbewegung des betroffenen Ich, die sich im rasanten Wechsel der Satzarten, der Anreden und Satzmodi spiegelt. Zunächst sucht sich das Ich in der Spannung von Subjekt und Objekt: Ich suchte mich (28,1). Die Sprachformel, die Subjekt und reflexives Objekt syntaktisch zusammenführt, suggeriert dabei eine Identität, die inhaltlich nicht mehr gegeben ist: da vant ich min da heime nicht (28,2). Dem Ich, dissoziativ aufgelöst und ortlos gemacht, entzieht sich denn auch die Sicherheit der Wahrnehmung; es kann nur noch glauben (wante 28,3) oder in hilflose Fragen übergehen: lip, wa was ich do? (28,5). Der lip übernimmt die Führung: Die Reflexion ist hinfällig geworden. »Man müsste wohl schon bis zu den Mystikern gehen, um in der mittelalterlichen Literatur vergleichbare Formulierungen zu finden«, so hat Burghart Wachinger die Verse 1 und 2 der Strophe kommentiert.21 Aber bei den Mystikern gibt es – auch noch in der absoluten Differenz – den Absturz in Gott. Hier jedoch fällt das Ich in ein Nirgendwo, gibt es kein verstecktes oder offenes oder nur erhofftes Fangnetz mehr. In diesem Moment des bodenlosen Absturzes scheinen die Parameter des IchLiedes verlassen: Das Ich sucht nicht mehr die Dame, sondern nurmehr sich – und dies nicht mehr im Gespräch mit der Gesellschaft, sondern im Gespräch mit Dissoziationen seiner selbst. D. h. die für das traditionelle Ich-Lied der Hohen Minne konstitutive Dreieckskonstellation wird in der hybriden Ich-Expansion, die im Gegenzug zugleich Ich-Verlust bedeutet, aufgehoben, aufgesogen: Ende des Minnesangs? Doch genau an diesem Punkt, der zugleich die Mitte des Lieds markiert, erfolgt die Wende: Hilf, Minne (28,6). Die Minne soll nach außen vermitteln, soll das rächen, was dem Ich angetan wurde. Die Rettung (erner 28,9) aus der desaströsen Situation des in sich selbst hilf- und haltlos zirkulierenden Ich besteht darin, soviel an Sinneskraft aufzubringen (Daz ich behalde / [. . .] minen mut 28,11 ff.), dass eine Differenz
20
21
Wachinger [Anm. 17] konjiziert: ich neme ir mich und gebe ir dich. Die Konjektur – inhaltlich völlig überzeugend – würde die Unruhe der Syntax, die in die reflektierende Aussage in der 3. Person eine Anrede schiebt, mildern und erscheint gerade deswegen im Kontext der vorliegenden Interpretation weniger plausibel. Wachinger [Anm. 11], S. 149. Vgl. zu den poetischen Vorstufen dieser extremen Darstellungsform in Frauenlobs Liedern sowie zum literarhistorischen Kontext: Harald Bühler, Zur Gestaltung des lyrischen Ichs bei Cavalcanti und Frauenlob, in: Wolfram-Studien 10 (1988), S. 179–189.
98
Annette Gerok-Reiter
zwischen Dame und Ich wieder möglich ist (und mich von ir gewünschen mag 28,14). Damit zeichnen sich die Positionen der traditionellen Dreieckskonstellationen zumindest in zwei Polen, somit vorsichtig wieder ab. In einem weiteren Schritt wünscht sich das Ich, dass es der Geliebten in der Weise nahe kommen dürfe, wie es selbst dies erfahren habe (ei, müste ich tun, daz sie mir tut 28,15), jedoch ohne Gewalt, ohne distanzlose Bedrängnis. D. h. auch Werbung und Werberichtung vom Ich auf das Du hin, in der ersten Strophe ›verkehrt‹, geraten ins Lot. Angedeutet ist mit dieser ReInstallation der traditionellen Positionen und Aktionsrichtungen die Möglichkeit der Rückkehr ins vertraute Darstellungsmuster der Hohen Minne. Zugleich jedoch wird diese Möglichkeit deutlich als Fiktion markiert: Sie bleibt ein sprachliches Konstrukt, modelliert über die Imaginationskraft des Konjunktivs (müste, were 28,15 u. 17) und die bekannten Topoi der waˆn-Minne: daz were ein wunne wernder tag (28,17).
XIV,29 [D]
5
10
15
Min meienschin, min wunne wernder vogelsanc, min lustgezierte heide, min heilschilt tragende blüte und min hoher mut, Daz kan sie sin, ‹al› miner freuden anevanc, ei, wunsches ougenweide, heilflut der senften güte. Minne, bistu gut, Erteile ir herzen minnen smerzen. ouwe, wes gan ich ir nu teil? daz gebe ir zu swere hebe. sie tu mir halt, swie sie mir tu: ‹owe, Minne›, ich wil durch min leit ir nimmer sweren wunsches leben [].
[D]
Mein Maienglanz, mein glückspendender Vogelgesang, meine lustgezierte Heide, meine den Schild des Heils tragende Blüte und mein hoher Mut, das kann sie sein, all meiner Freuden Anfang, ach, der Vollkommenheit Augenweide, Heilflut der sanften Güte! Minne, bist du gut, (dann) füge ihrem Herzen Liebesschmerz zu! O weh, was will ich ihr nun zuteil werden lassen? Das wäre zu schwer für sie zu tragen! Behandle sie mich eben, wie immer sie will! O weh, Minne, ich will durch mein Leid niemals ihre Vollkommenheit beschweren!
Trotz der Akzentuierung der lediglich sprachlichen Konstruiertheit der Hoffnung wird jedoch gerade an dieser Hoffnungsfiktion weitergesponnen. Sie stellt offenbar die entscheidende Scharnierstelle dar, mit deren Hilfe die Re-Installation des traditionellen Konzeptes gelingen könnte. In einer anaphorisch-hymnischen Aufzählung wird die Dame nun paraphrasiert mit einem Kaleidoskop an Bildern, die aus der reichen Metapherngalerie der Geliebten innerhalb des Minnesangs stammen22 und zugleich auf die vorausgegangenen Sinn- und Bildebenen anspielen, indem sie Gegenakzente setzen. Hier wird endlich, so scheint es, die Klage in den obligaten Preis 22
Susanne Köbele, Der Liedautor Frauenlob. Poetologische und überlieferungsgeschichtliche Überlegungen, in: Andersen [Anm. 2], S. 277–298, spricht zu Recht von »NatureingangStichwörtern« (S. 282).
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transformiert: Statt der Kommunikationslosigkeit nun der vogelsanc (29,2), statt der unbewante[n] zit (27,2) nun die lustgezierte heide (29,3), statt des verdrängten Heils nun die heilschilt tragende blüte (29,4), statt des zu Fall gekommenen Glücks nun wieder der hohe mut (29,5), statt eines Leidens bis ans Ende nun miner freuden anevanc (29,7), statt des gewaltsamen Eindringens durch die Augen wunsches ougenweide und der meienschin (29,8 u. 1), statt des heillos sich ausbreitenden Brandes die heilflut der senften güte (29,9).23 All das kan (29,6) die Dame sein – das Modalverb situiert die aufgerufene Möglichkeit genau in der Mitte zwischen Realität und Irrealität. Zur realen Heilspenderin für das Ich würde die Dame jedoch erst, wenn auch sie in Liebe entbrennen würde, also Liebesschmerzen erdulden müsste. Dies jedoch – vom Ich einen Augenblick lang erwogen – darf nicht sein: Soll die Dame weiterhin als summum bonum gelten, darf ihre Idealität nicht angegriffen und beschwert werden. Das Ich ist beim traditionellen Minneparadox angekommen, und es klinkt sich fast lapidar in dieses traditionelle Spiel wieder ein: sie tu mir halt, swie sie mir tu (29,15). Dies wird abschließend noch einmal bestätigt: ich wil durch min leit / ir nimmer sweren wunsches leben (29,16 f.). Das Ich hat seine Identität wiedergewonnen (ich wil); der Dame ist ihre unantastbare Position sicher (wunsches leben); die Regeln des höfischen Minnespiels sind wieder eingesetzt: D. h. das alte Konzept ist inthronisiert. Und doch: Stimmig, ausbalanciert ist es nicht. Denn mit kompromissloser Klarheit ist offengelegt, dass die Scharnierstelle der Re-Installation nurmehr der sprachliche Akt fiktionaler Imagination ist – jenseits der Authentizität (auf erster Ebene). Dies aber bedeutet: Der Frauenpreis am Anfang der Strophe ist nicht mehr – als integraler Fluchtpunkt – berechtigter, ja notwendiger waˆn, sondern nur Fiktion, nichts als Fiktion. Der Frauenpreis mitsamt der hymnisch-blümenden Repetitio, mit dem die traditionelle Konstellation eingeholt schien, wird damit parallel zur Einholbewegung aus- und bloßgestellt als lediglich projektiertes, letztlich redundantes Sprachspiel, das den Authentizitätsanspruch somit auch auf zweiter Ebene – in Hinsicht auf gesellschaftliche Verbindlichkeit – nicht aufrechterhalten kann.
23
Im Gegensatz zu Köbele betone ich die Differenz zum vorausgehenden Liedteil. Köbele [Anm. 22] spricht von »Übergänge[n]« (vgl. S. 283, ebd. auch Anm. 20) und sieht Frauenlob dabei »auf immer neue Paradoxien zusteuernd« (S. 283). Ihre Auslegung ist der Intention geschuldet, die »paradoxale Gesamtlage« (ebd.) des Liedes auf allen Ebenen herauszustellen: »Alle fünf Strophen des Liedes halten Heils- und Negativitätsbestimmungen gleichzeitig« (S. 284). Dem ist einerseits entgegenzuhalten, dass innerhalb der fünf Strophen sich deutlich zu differenzierende Schwerpunktsverlagerungen abzeichnen, was Bildsprache, rhythmische und lautliche Valeurs sowie die emotive Lage betrifft, andererseits bedeutet »identifizierende Bildrede« (S. 283) keineswegs per se ein Paradox. Zur Kritik an der Fokussierung der »Paradoxie« als Interpretament vgl. auch Egidi [Anm. 8], S. 103, Anm. 3. Zurückgenommener Köbele [Anm. 3], S. 100–103.
100
Annette Gerok-Reiter
XIV,30 [E]
5
Sol frouwen pris an mir verderben an[]‹der› clage?24 ich was doch ie des mutes, daz ich ‹in› ere gunde, als ich in noch gan.
[E]
Soll Frauenpreis an mir zugrunde gehen in der Klage? Ich war doch immer willens, dass ich ihnen Ehre gönnte, wie ich sie ihnen noch immer gönne.
10
In welcher wis sol ich sie fürbaz mine tage ‹nu› loben [] riches gutes, [] als ich bi wilen kunde, do ich von in san
In welcher Art und Weise soll ich sie nun zukünftig für ihre reichlichen Vorzüge loben, wie ich es einst konnte, als ich von ihnen
15
Daz aller beste? eren veste waren gute frouwen ie. nu muz ich sprechen als ich sol: ir keine wart so süze nie,
das Allerbeste (er)dachte? Eine Festung der Ehre waren vortreffliche Frauen von jeher. Nun muss ich sprechen, wie ich soll: keine von ihnen erschien je so lieblich (wie dann) – käme von ihrem Mund ein freundlicher Gruß, er täte vortrefflichen Männern wohl.
queme ab ir munde ein lieplich gruz, er tete guten mannen wol.
Eben deshalb fragt die 5. Strophe dezidiert aus der Perspektive des singenden Ich: Sol frouwen pris / an mir verderben (an der clage)? (30,1 f.). Sinn ergibt diese Frage nur, wenn implizit vorausgesetzt wird, dass eine Rückkehr zum Frauenpreis im Ich-Lied der Hohen Minne dem Ich nicht mehr möglich scheint. D. h. für ein wirklich betroffenes Ich, das sich im Liebesschmerz selbst zu verlieren droht, führt – so darf man den Text verstehen – kein Weg zurück zu einem Minnesang, der trotz des Leids und zugleich mit ihm Lob und Ehre der Frau verkünden könnte.25 Wie aber soll dann einer, der sich namentlich dem Frauenlob verschrieben hat, Minnesang betreiben? Allenfalls – so erklärt der Abgesang – durch die Rückkehr in die geforderte Norm, deren normativer Anspruch jedoch als bloße Fiktion – jenseits eines authentischgesellschaftlichen Anspruchs auf Verbindlichkeit – durchsichtig bleibt: nu muz ich sprechen als ich sol (30,14). In entsprechender Manier klingt das Lied aus. Ein knappes Spektrum allbekannter Topoi wird aufgerufen als Lösung des Dilemmas, aber als eine Lösung, die in ihrer fiktiven Konstruktion, ihrer sol-Geste durchschaubar geworden ist und bei der das radikal betroffene Ich, das im ersten Teil des Liedes dominierte, hinter der pluralen Abstraktion (guten mannen) verschwunden ist: Die 24
25
Ich übernehme hier die Konjektur Wachingers [Anm. 17] – statt ane bei Stackmann; F hat an –, da sie stimmiger im Gesamtkontext erscheint. Die Spannung zwischen Leid/clage und Gesang/vreude gehört zur Minnesangtopik (vgl. etwa Reinmar [MF 165,10]). Der Widerspruch, der in der Regel jedoch durch textuelle Verfahren aufgefangen wird, die die Simultaneität von Handlungs- und poetologischer Reflexionsebene indizieren, wird nun, durch das gegenteilige textuelle Verfahren, als unlösbare Opposition bloßgelegt.
Sprachspiel und Differenz
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süze, ihr munde, ein lieblich gruz – all das tete guten mannen wol (30,15 ff.). Mit der »generalisierenden Redeweise« schwenkt das Lied somit nicht in die Perspektive der Spruchdichtung ein, um »eine Balance zwischen den Gattungen und ihren je spezifischen Sehweisen zu gewinnen«,26 sondern schwenkt zurück »ins alte Sprachspiel Minnesang«,27 aber genau so, dass das System Minnesang als altes, überholtes, ja möglicherweise entleertes deutlich wird, ein System, das – ohne Verbindlichkeit – ›nur noch‹ Sprachspiel ist.28
III Im Durchgang durch die Strophen lässt sich die Funktion der Bildsprünge, Perspektivwechsel, Lautassoziationen sowie Redemodi genauer fassen: Für die erste Strophe kann festgestellt werden, dass die Laut-, Reim- und Rhythmusstruktur weit mehr als die Semantik die Suggestivkraft des Brand- und Seuchenbildes bestimmt. In der zweiten Strophe setzt sich die Dramatik des stürzenden Glücks in einem syntaktischen Gefälle um, das – unterstützt durch starke Enjambements – auf den Fall hin zu tal (27,17) gleichsam ohne Atem zu holen zuläuft. Die rasanten Perspektivwechsel, Satzartenwechsel und Modiwechsel demonstrieren in der dritten Strophe die Orientierungslosigkeit eines Ich, das sich zwischen Selbstverlust und höchstem Glück irgendwo – aber wo? – zu orten versucht. Bis hierher kleidet die poetische Sprache keineswegs nur ein vorgegebenes Thema möglichst attraktiv ein. In den ersten drei Strophen bringt vielmehr die syntaktisch-lautlich-dynamisierte Sprachaventiure die emphatisch mitzuvollziehende Suggestion des sich ausbreitenden brennenden Schmerzes, des fallenden Glücks, des orientierungslosen Herumirrens allererst hervor. Dieses generierend-suggestive Verfahren über eine rasante Mobilisierung lautlicher und rhythmischer Valeurs, das man als weitere und vielleicht forcierteste Facette des »poetologischen Programm[s]« des »Wiederfinden[s] der verborgenen Sprachschichten«29 verstehen kann, weist nicht in die Moderne voraus, sondern auf die Modernität, die vielleicht – für seine Zeitgenossen – anstößige Modernität in Frauenlobs Werk selbst, ohne dass man dafür die Begriffe Autonomie oder Autarkie bemühen müsste. Gemeint ist vielmehr eine Form der »Selbstbezüglichkeit«30 oder »semioti26 27 28
29 30
Wachinger [Anm. 11], S. 147. Köbele [Anm. 3], S. 102. Dies würde sich mit der brüsken Kritik an der Tradition decken, die Kellner [Anm. 2] für die Autorrolle Frauenlobs herausgearbeitet hat: »Der eigene Gesang entsteht in der Vereinnahmung des Wortmaterials der anderen, ein Verfahren, das sich grundlegend unterscheidet von einem bewundernd-distanzierten, vom Interesse des Sammelns und Archivierens geleiteten Blick eines Epigonen auf die Klassiker« (S. 260) – im vorgeführten Fall mit der doppelten Ausrichtung der Kritik a) an einem Minnesangkonzept, das nur noch fiktionales Spiel ist, b) an einer Sprache, die sich mit abgegriffenen Versatzstücken, Schablonen, Zitaten begnügt und nicht von grunt (GA V,115,6) auf wirkt. Kellner [Anm. 2], S. 275, vgl. auch S. 268. Gert Hübner, Die »geblümte Rede«. Zur Theorie und Praxis einer poetischen Technik im späteren Mittelalter, in: Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft 12 (2000), S. 175–184, hier S. 181.
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sche Autoreferentialität«,31 die nicht den Autor, sondern das Sprachmaterial selbst betrifft und in ihrer performativen Verve nicht eine reflektierend-distanzierte, sondern eine emphatisch-emotionale Rezeptionshaltung einfordert. Die vierte Strophe jedoch signalisiert eine Wende im Sprachgestus. Die zu emphatischem Mitvollzug suggestiv auffordernde lautliche und rhythmische Verve wird aufgegeben: Das Gleichmaß des Zeilenstils und die anaphorische Bildreihung, unterstützt durch den syntaktischen wie bildlichen Parallelismus, führen in gewohnte Tempi und Bildfelder zurück und stellen im demonstrativen Umschwung die Rückführung als solche heraus. Eben dieser demonstrative Umschwung in den traditionellen Sprachgestus wirft jedoch um so mehr die Frage nach der Redundanz der bekannten Topoi und der Authentizität des Gesagten in der gewohnten Struktur auf. Die Topoi, in der Häufung als solche markiert, entlarven sich als Zitat auf lediglich hypothetischem Boden. In der fünften Strophe schließlich siedelt sich das Ich auf der Metaebene poetologischer Reflexion an – keine Bilderflut, keine auffallenden Klangassoziationen, keine Perspektivwechsel: Das brennende, stürzende, orientierungslose Ich tritt hinter einem singend-reflektierenden Ich zurück, das sich und seine poetische Verfahrensweise aus der Traditionserwartung heraus definiert: nu muz ich sprechen als ich sol (30,14). Damit wird in Lied 6 zweierlei deutlich: Greifbar wird nicht nur ein überbordendes sprach-bildliches Vexierspiel, sondern zugleich auch dessen differenzierter und differenzierender Einsatz, insofern sich die Qualität des sprachlich-bildlichen Vexierspiels im Verlauf des Liedes signifikant ändert. D. h. signifikant ist neben dem subtilen, polyvalenten und polyphonen Einsatz von Klängen, Satzstrukturen, Perspektiven und Bildern, dass diese offenbar nur in strategischen Schnitten, in Wechseln der poetischen Technik ihrem Thema gerecht zu werden vermögen. Welchem Thema? Und warum die stilistischen Abstufungen innerhalb des Liedes, die unterschiedliche poetische Verfahrensweisen miteinander korrelieren und divergente Relationen von Sänger-Ich und Sprechgestus demonstrieren? Herausgestellt als Frauenlobs Thema in den Liedern wurde wiederholt die Sezierung der Liebesqual in intertextueller Rückkoppelung an Verfahrensweisen der Sangspruchdichtung,32 die Radikalisierung der Ich-Entfremdung innerhalb der Hohen Minne,33 die »Ich-Auflösung, die Spaltung« der Ich-Rolle34 – all dies ist richtig. Den31
32 33 34
Christoph Huber, Herrscherlob und literarische Autoreferenz, in: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991 (Germanistische Symposien Berichtsbände 14), hg. von Joachim Heinzle, Stuttgart u. a. 1993, S. 452–473, hier S. 454 f., erläutert den Begriff in Anlehnung an Jakobsons Modell der »poetischen Funktion« der Sprache und demonstriert dies anhand von Beispielen aus Frauenlobs Sangspruchœuvre. Vgl. auch Jens Haustein, Autopoietische Freiheit im Herrscherlob. Zur deutschen Lyrik des 13. Jahrhunderts, in: Poetica 29 (1997), S. 94–113; allerdings irritiert hier die nicht problematisierte Korrelation mit dem Begriff Autonomie. Egidi [Anm. 8], S. 103–115. Wachinger [Anm. 11], zusammenfassend S. 148–150. Köbele [Anm. 22], S. 284; weitere Beschreibungskategorien: »Pluralisierung«, »Aspekt-Differenzierung«, »Dissoziation« (Köbele [Anm. 3], S. 115 Anm. 304, und S. 130).
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noch betrifft die in Frauenlobs Liedern so auffällige Dissoziation des Ich – genau besehen – nur die Hälfte von Lied 6, ebenso wie sie in Frauenlobs Liedern 3, 4 und 5 nur Teile der Gesamtstruktur beschreibt. Im ersten Teil des Liedes würde sich somit die Verfahrensweise der »Konzentration und Konsequenz« widerspiegeln, die Burghart Wachinger als Kennzeichen der Lieder Frauenlobs ausgemacht hat,35 ebenso wie das Verfahren der Segmentierung, das Margareth Egidi bei Frauenlob – gegenläufig zur Gattungstradition – geltend gemacht hat und das – verbunden mit auffächernden und zergliedernden Beschreibungsvarianten – ein Liebeskonzept der »Ungleichheit« entwirft.36 Vollzieht man jedoch den differenzierten und differenzierenden Verlauf des gesamten Liedes mit, so wird deutlich, dass das Lied nicht in dieser einen Position und Verfahrensweise aufgeht, sondern dass ihm ein konzeptueller Kontrast37 eingeschrieben ist, der auf Konfrontation drängt. Und diese Konfrontation, ausgetragen mit aller sprachlichen Raffinesse, setzt am konzeptionell empfindlichsten Punkt der alten Minnesangkonzeption an: der unabdingbaren Korrelation von Handlungs- und Reflexionsebene. Für das traditionelle Minnesangkonzept des Ich-Liedes der Hohen Minne war – so wurde anfangs ausgeführt – die Spannung zwischen Handlungs- und poetologischer Reflexionsebene konstitutiv. Dem Rollen-Ich des Werbenden auf Handlungsebene wurde das Rollen-Ich des Sängers auf Reflexionsebene korreliert. Die Spannung beider Ebenen zueinander – nicht anteilig auflösbar – ermöglichte den gedanklichen Balanceakt des Hohen Minnesangs. Frauenlob thematisiert diese Minnesangkonzeption von ihren Grundfesten her, indem er eben jenes equilibre Zusammenspiel der beiden Ebenen und ihrer Sprechhaltungen aus der Balance bringt. Die Rolle des betroffenen Ich und die Sänger-Rolle scheinen in Lied 6 gerade nicht mehr vereinbar in einem simultanen Doppelspiel. Vielmehr werden die Ebenen und ihre Sprechhaltungen dezidiert auseinanderdividiert: Statt in der Gleichzeitigkeit eines Miteinanders sind sie – in Lied 6 – deutlich hintereinander positioniert: Zuerst ist die Rede vom betroffenen (Handlungs-)Ich; dann kristallisiert sich langsam das Sänger-Ich heraus, das am Ende von Lied 6 den Ton angibt. Das Verfahren der Segmentierung geht somit nicht darin auf, das betroffene Ich freizusetzen, somit nur ein Segment zu fokussieren, sondern schaltet gleichsam zwei Segmente hintereinander. Dieses von der poetischen Strategie tendenziell dem Sangspruch angehörende Verfahren38 bleibt jedoch 35 36 37
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Wachinger [Anm. 11], S. 149. Egidi [Anm. 8], S. 107 f. und S. 109–115 (Zitat S. 109). Dass dem Kontrast auf Textebene der kongruente Ton der Strophen entgegensteht, sollte nicht überbewertet werden; so sind Modulationen im Vortrag, analog zu inhaltlicher, stilistischer oder lautlicher Differenzierung innerhalb der Strophenabfolge, auch bei metrisch und musikalisch gleichgestalteten Strophen durchaus denkbar und in der Gesangspraxis üblich. Vgl. Egidi [Anm. 8], S. 106 f. Was Egidi für die Kombination von Diskursausschnitten durch Zusammenstellung verschiedener Strophen im Vortrag für den Sangspruch festhält, gilt dann – komprimiert in einem Text – auch für Frauenlobs Lied 6: »Bei solchen Kombinationen entstehen potentiell Unbestimmtheitsstellen, was die Relationierung der erwähnten, textintern nicht verknüpften Segmente betrifft. Diese Relationierung ist dann von Vortrag zu
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durch die Wahl der beiden dem traditionellen Minnesang angehörigen simultanen Ebenen als sukzessive Segmentausschnitte der Minnesangkonzeption verpflichtet. Entscheidend ist, dass im Nacheinander, in der segmentierenden Abfolge beide traditionell simultanen Sprechhaltungen des Ich-Liedes der Hohen Minne ihren Charakter deutlich verändern: Indem das betroffene Ich in der ersten Hälfte ohne Korrektiv völlig entfesselt erscheint und in eine Hilflosigkeit abdriftet, aus der es sich kaum zu retten weiß, spricht dieses Ich nicht mehr von der hoˆhen minne in der Weise, dass es diese im Sprechen zu beherrschen scheint, es ist vielmehr einer zerstörerischen Liebe ohne Aufschwungspotential ausgeliefert, derer nicht sprachlich Herr zu werden ist,39 die nur suggestiv-performativ mitzuteilen und vom Rezipienten mitzuvollziehen ist. Hoffnungsverlust wie (selbstverständlich inszenierte) Relativierung der inaugurativen Sprachmächtigkeit aber desavouieren das traditionelle Konzept der Hohen Minne von seinem Grundimpetus her. Das Sänger-Ich dagegen zieht sich in der zweiten Hälfte zunehmend auf eine Position formeller Redundanz zurück, mit der es der Tradition Genüge zu tun gedenkt, dezidiert ohne den Anspruch der Betroffenheit und damit auch der Authentizität auf zweiter Ebene aufrechterhalten zu wollen. Die Hoffnung des traditionellen Minnesangkonzepts nunmehr aufseiten der sprachlich produzierten Fiktion, die als sprachlich produzierte herausgestellt wird, festzuschreiben, gleichsam im anderen Extrem zu arretieren, bedeutet jedoch – zusammen mit einer Autoreflexivität des Singens, die nicht mehr auf der Fiktion der Authentizität der Minne basiert – ebenso einen eklatanten Regelverstoß. Von zwei Seiten aus ist somit die Spannung aufgehoben, die die Hohe Minne des Ich-Liedes konstitutiv bestimmte, d. h. die Sprachmodulationen in Frauenlobs Lied 6 zielen – zumindest in der Differenzierung zwischen erster und zweiter Hälfte des Liedes – gerade nicht auf eine Enthierarchisierung von Positionen oder deren Umbesetzungen, so dass jede dezidierte Position in die Schwebe geraten und ungreifbar würde. Sie zielen vielmehr auf eine sezierende Analyse auf verschiedenen Ebenen: Die Differenz unterschiedlicher stilistischer Verfahrensweisen markiert die Diversität von Handlungs- und poetologischer Reflexionsebene, so dass diese nicht mehr in simultaner Korrelation, sondern im Kontrast aufeinander bezogen sind. So erscheint die Authentizität verbürgende Hilflosigkeit des Werbenden in Opposition zu einer hyperbolisch-sprachmächtigen Fiktion konzipiert. Zugleich divergieren auch die Relationen von werbendem Ich und Sänger-Ich zum jeweiligen Sprechakt. Während das Ich auf Handlungsebene sich einer oszillierenden Sprachmodulation auszuliefern scheint, deren autoreferentielle Textur in der Verve von Rhythmus, Reim und Lautklängen einen performativen Mitvollzug emotiv einfordert, rekurriert die Autore-
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Vortrag je neu von den Teilnehmern zu leisten, von Sänger und Publikum gleichermaßen« (S. 106 Anm. 11). Vgl. zum Aspekt der Selbstermächtigung in der Reflexion auf den poetischen Akt etwa Walthers Lied Lange swıˆgen des haˆt ich gedaˆht: L 72,31. Am Beispiel Morungens erläutert diesen Zusammenhang differenziert und unter Berücksichtigung der Genderperspektive Beate Kellner, Gewalt und Minne. Zu Wahrnehmung, Körperkonzept und Ich-Rolle im Liedcorpus Heinrichs von Morungen, in: PBB 119 (1997), S. 33–66.
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flexivität des Sänger-Ich auf eine kalkuliert-souveräne Versatzstück-Rhetorik im Umgang mit den traditionellen semantischen, bildlichen und gesellschaftlichen Topoi. Im Abschied von der Hohen Minne lässt das Lied jedoch nicht einfach das alte Modell zurück, sondern demonstriert in der Aufhebung noch einmal dessen Bedingungen und Implikationen. Genau darin aber überzeugt dieses Lied, gelangt es zu neuer Authentizität, einer Authentizität auf dritter Ebene: Ein glaubwürdiger Rekurs auf die alte Konzeption der Hohen Minne kann um 1300 nur darin bestehen, die Bedingungen und Implikationen von deren historischem Ende zu reflektieren, ja mehr noch: dieses Ende von der sprachlichen Modulation her uz kezzels grunde (GA V,115,7) und zugleich polyphonisch zu inszenieren. Frauenlobs Lied 6 vollzieht des Minnesangs Ende und holt zugleich alle Errungenschaften dieser artifiziellen Gattung als Spielraum ihrer Möglichkeiten ein.
der herzoge Liddamus Bemerkungen zum 8. Buch von Wolframs ‘Parzival’ von Hans-Joachim Ziegeler
Dass das achte Buch des ‘Parzival’1 in mancher Hinsicht eine besondere Position im Roman einnimmt, ist mittlerweile Konsens der Forschung. Markant sind die Abweichungen von Chre´tiens ‘Conte du Graal’,2 auffällig ist die Selbstreflexion des Erzählens,3 auffällig die Menge der Anspielungen auf Politisches, Persönliches, Literarisches,4 die kaum immer in ihrem ganzen Gehalt zu entschlüsseln sind, auffällig die Vogeljagd-Motivik5 und auffällig insbesondere die Serie der intertextuellen Verweise.6 Gegenüber früheren, relativ eindeutigen Bewertungen insbesondere der Antikonie-, der Kingrimursel- und der Liddamus-Figur wird jetzt eher betont, dass die »Erzählwelt [. . .] nicht auf eindeutige Lösungen, moralische Urteile oder Hierarchisierung divergierender Sichtweisen hin angelegt« sei, »sondern auf Anspielungen und Querverweise, auf Ausfaltung eines mehrschichtigen Gesellschaftsbildes und auf kontroverse Wertediskussionen«.7 Doch scheint aus diesem Erzählen, das im Übrigen die »Hierarchisierung divergierender Sichtweisen« zu vermeiden sucht, die Figur des Liddamus (und auch die des Königs Vergulaht) ausgeklammert. Zwar hat sich der Tenor der Bewertungen geändert. Nicht mehr ist die Rede davon, dass in Liddamus »die erste humoristische Selbstdarstellung eines toren in der deutschen Dichtung« begegne, »der, zugleich Thersites und pervertierter Miles Gloriosus, sein unsoldatisches Lebensprinzip rechthaberisch und mit Zitaten aus antiker und deutscher 1
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Zitate nach: Wolfram von Eschenbach, Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann, Übers. von Peter Knecht, Einführung zum Text von Bernd Schirok, Berlin/New York 1998. Wolfgang Mohr, Landgraf Kingrimursel. Zum VIII. Buch von Wolframs Parzival, in: ›Philologia Deutsch‹. FS Walter Henzen, hg. von Werner Kohlschmidt und Paul Zinsli, Bern 1965, S. 21–38, Nachdruck in: Wolfgang Mohr, Wolfram von Eschenbach. Aufsätze (GAG 275), Göppingen 1979, S. 120*–137*; Joachim Bumke, Wolfram von Eschenbach, Stuttgart/ Weimar 82004, S. 83–86. Michael Curschmann, Das Abenteuer des Erzählens. Über den Erzähler in Wolframs ‘Parzival’, in: DVjs 45 (1971), S. 627–667, bes. S. 665 f. So die ähnliche Formulierung bei Karl Bertau, Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter, München 1973, Bd. 2, S. 987. Rüdiger Schnell, Vogeljagd und Liebe im 8. Buch von Wolframs ‘Parzival’, in: PBB (Tübingen) 96 (1974), S. 246–269. Ulrike Draesner, Wege durch erzählte Welten. Intertextuelle Verweise als Mittel der Bedeutungskonstitution in Wolframs ‘Parzival’ (Mikrokosmos 36), Frankfurt a. M. u. a. 1993, hier vor allem S. 321–335. Manfred Eikelmann, Schanpfanzun. Zur Entstehung einer offenen Erzählwelt im ‘Parzival’ Wolframs von Eschenbach, in: ZfdA 125 (1996), S. 245–263, hier S. 252, zustimmend zitiert von Bumke [Anm. 2], S. 169.
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Heldensage gewürzt« zur Schau stelle und rechtfertige,8 aber dass Liddamus »eine zweckorientierte Politik« gegenüber dem »Ethos des Altadels« vertrete,9 wird gleichwohl angenommen, denn das »Hauptinteresse der Darstellung« liege »auf der Selbstvergewisserung eines Hofes, dessen Ordnungsgefüge durch einen schwachen König grundsätzlich in Frage gestellt ist,«10 demgegenüber »König Artus als Repräsentant einer idealen Gesellschaft« herausgestellt wird.11 Es ist kaum zu bestreiten, dass die Darstellung solcherart Einstellungen suggerieren kann, freilich nur dann, wenn sie bestimmte Vor-Einstellungen bedient. Man wird deswegen noch einmal nachfragen dürfen, ob die Weise des Erzählens im 8. Buch nicht grundsätzlicher noch die Literarizität aller Figuren herausstellt und ihr Agieren und die von ihnen vertretenen Positionen ironisch in Frage stellt. In der Integration der Episode in das Erzählen folgt Wolfram seiner Vorlage mit gewissen Variationen durchaus:12 Nach der Anklage Percevals durch das hässliche Gralfräulein (damoisele, V. 4611 ff.) wegen der unterlassenen Frage auf der Burg des Fischers nennt sie weitere Abenteuer, die zu bestehen seien. Gauvain verpflichtet sich zunächst, eine auf dem Berg Montesclaire belagerte damoisele zu befreien, wird jedoch durch die Anschuldigung des Guigambresil, er, Gauvain, habe seinen Herrn verräterisch getötet, am sofortigen Aufbruch zum Montesclaire gehindert. Innerhalb der üblichen Frist von 40 Tagen habe er sich im Zweikampf vor dem König von Escavalon zu rechtfertigen, dieser sei schöner noch als Absalom. Gauvain kann pflichtgemäß das Angebot seines Bruders Engrevain abwehren, für ihn einzutreten, und folgt gleich danach Guigambresil mit sieben Knappen. Er nimmt als Ritter des Fräuleins mit den kleinen Ärmeln, die Wolframs Obilot entspricht, am Turnier von Tintaguel (Wolframs Bearosche im 7. Buch) teil. Danach verbringt er eine Nacht in einem Kloster und macht am Morgen vergeblich Jagd auf eine weiße Hirschkuh (V. 5636 ff.). Darauf begegnet er einer Jagdgesellschaft; deren Herr, der die anderen an Schönheit übertrifft, begrüßt ihn als Gast und sendet ihn mit seinem Gefährten zu seiner Schwester, welcher er ausrichten lässt, den Gast auf das Freundlichste zu behandeln. Li chevaliers s’en part adonques, Qui monseignor Gavain conduit La ou de mort le heent tuit; Mais il n’i est pas coneüs, Que onques mais n’i fu veüs, Si n’i quide pas avoir garde. (V. 5748–5753)
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Mohr [Anm. 2], S. 29/128*. Eikelmann [Anm. 7], S. 261. Ebd., S. 260. Ebd., S. 257 und 257 f. Chre´tiens ‘Conte du Graal’ wird, einschließlich Übersetzung, zitiert nach: Chre´tien de Troyes, Le Roman de Perceval ou le Conte du Graal. Der Percevalroman oder die Erzählung vom Gral. Altfranzösisch/Deutsch, übers. und hg. von Felicitas Olef-Krafft, Stuttgart 1991.
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(‘Damit bricht der Ritter auf und bringt Herrn Gauvain zu dem Ort, wo alle ihn bis auf den Tod hassen. Doch bleibt er unerkannt, da keiner der Leute ihn jemals zuvor gesehen hatte, und daher glaubt er, nichts befürchten zu müssen.’)
Gauvain wird durch die Stadt geführt, deren Händler und Handwerker in ihren vielfältigen Tätigkeiten ausgiebig geschildert werden. Der Gefährte richtet seinen Auftrag aus, entfernt sich dann wieder, und Gauvain bittet die Dame um ihre Liebe, was sie ihm freiwillig gewährt, doch werden sie durch einen vavasors (V. 5832) gestört, der Gauvain kennt. Er klagt die Dame laut an, dass der, der da an ihrer Seite liege, ihren Vater getötet habe (V. 5862 f.). Es entsteht in der Stadt der von der Dame befürchtete Tumult, doch kann sie Gauvain eine Rüstung und als Schild ein Schachbrett besorgen; er wehrt sich mit dem Schwert gegen die Eindringlinge (V. 5990), sie bewirft den vilain (‘Mob’, V. 6007) mit den Schachfiguren. An dem Versuch, den Turm, in dem sich die beiden verschanzt haben, zum Einsturz zu bringen, kann auch Guigambresil, der nichts von alledem weiß, sie zunächst nicht hindern. Er reitet dem König, der von der Jagd kommt, entgegen und berichtet ihm von den Vorfällen; der König befiehlt, weil Gauvain sein Gast sei, darauf dem maire (V. 6059) den Rückzug, was auch geschieht. Ein weiterer vavasor, der als sehr weise bezeichnet wird (de molt grant sen, V. 6091), gibt den Rat, man solle Gauvain auf die Suche nach der Lanze, aus der Blut quillt, schicken, und nach Jahr und Tag solle er zurückkehren, dann könne man ihn mit Recht gefangen nehmen, und dann solle er den Kampf gegen Guigambresil antreten. Guigambresil entschuldigt sich bei Gauvain für die Verletzung des Gastrechts, allerdings habe er ihm freies Geleit nur zugesichert unter der Bedingung, dass er weder Burg noch Stadt seines Herrn betrete (V. 6140 ff.). Nach einigem Hin und Her geht Gauvain auf die Bedingung ein, verabschiedet sich von der Dame, schickt seine Knappen heim und zieht fort. Mit Recht hat Wolfgang Mohr die Abwägung zwischen verschiedenen Rechtsgütern, die hier vorgeführt wird, einen »Casus« genannt;13 der Ratschlag des vavasors ist die Lösung, um aus dem Dilemma – Verletzung des Gastrechts vs. Pflicht Guigambresils, Gauvain zu beschützen, bis er seine Behauptung im Kampf gegen Gauvain beweisen könne – zu entkommen. Die Figurenkonstellation ist dadurch gekennzeichnet, dass alle Adligen, der König, seine Schwester, Guigambresil und Gauvain sich einig sind in der Verachtung der Stadtbevölkerung; alle werden denunziatorisch als vilains bezeichnet, deren Bruch des Gastrechts gleichwohl als verständlich, wenn nicht berechtigt erklärt wird, da sie sich für ihren verstorbenen Herrn an Gauvain rächen wollen. Das doppelte Fehlverhalten Gauvains, die Verführung der nur allzu bereitwilligen Schwester des Königs und die Verletzung der Bedingungen des – allerdings erst im Nachhinein erklärten – freien Geleits, das mit Ausnahme der Burgen und Städte des Königs gelten sollte, fällt demgegenüber nicht ins Gewicht. Beides ist jedoch, wenn auch nicht ganz deutlich, miteinander verknüpft. Die entsprechenden Worte Guigambresils an Gauvain lauten:
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Mohr [Anm. 2], S. 122*ff.
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Sire Gavain, sire Gavain, Je vos avoie en conduit pris, Mais tant i ot que je vos dis Que ja tant hardis ne fuissiez Que vos en chastel entrissiez N’en chite´ que me sire eüst, Se destorner vos en pleüst. De ce que l’en vos a chi fait N’estuet ore tenir nul plait. (V. 6140–6148) (‘Herr Gavan, Herr Gavan, ich hatte Euch freies Geleit zugesichert, aber doch nur unter der Bedingung, dass Ihr Euch, Eure Zustimmung vorausgesetzt, niemals erkühnen solltet, eine Burg oder eine Stadt meines Herrn zu betreten. Über die Vorkommnisse hier dürft Ihr Euch also nicht beschweren.’)
Dies spielt ersichtlich darauf an, dass auch Gauvain nach dem Willen seines Erzählers sehr wohl wusste, wo er sich befand (s. o., V. 5748 ff.),14 und deswegen die Einladung des Königs, sein und zunächst einmal allein der schönen Schwester Gast zu sein, mit der Aussicht auf ein – unter diesen risikoreichen Umständen besonders attraktives – erotisches Abenteuer dankend angenommen hat. Dass sich diese Hoffnung nicht erfüllt, sondern einigermaßen kläglich endet, war für aufmerksame Leser/Hörer vermutlich schon durch die ebenfalls wegen zweier Missgeschicke, einer falschen Jagdwaffe und eines verlorenen Hufeisens, missglückte Jagd auf die weiße Hindin vorweggenommen.15 Das Motiv der missglückten Jagd hat Wolfram also von Gawan/ Gauvain auf Vergulaht übertragen; gleichwohl wird Gauvain auch bei Chre´tien in ironischer Perspektive vorgeführt. Die ironische Inszenierung seiner Figuren hat Wolfram vor allem durch das Mittel der Korrelation diskrepanter Elemente erreicht, und hier nehmen die intertextuellen Verweise eine besonders prominente Stellung ein. Es beginnt vermutlich bereits mit der hyperbolischen Beschreibung von Schanpfanzun, auf die Gawan blickt. Der Erzähler vergleicht Gawans Blick auf die Stadt (V. 398,28 ff.) im Zuge einer Andeutung, angesichts von Gawans bevorstehendem Unglück nicht weiter erzählen zu wollen, mit des Eneas Blick auf Karthago und dem Leid der Dido, die Menge der dort erblickten Türme mit der von Acraton, einer sonst unbekannten Stadt, die in ihrer Größe allenfalls von Babylon übertroffen werde.16 Die Diskrepanz zwischen dem Aufzug Vergulahts, dessen Schönheit mit dem Mai und – in Gawans Augen (V. 400,13 ff.) – mit Parzival oder Gahmuret bei dessen Einzug in Kanvoleiz verglichen wird, und seinem Sturz in den Sumpf, bei dem Versuch, dem Falken zu helfen, ist zu oft behandelt worden, als dass dies hier wiederholt werden müsste.17 14 15 16 17
Anders dagegen Schnell [Anm. 5], S. 252. Vgl. den Kommentar von Olef-Krafft [Anm. 12], S. 610 f. zu V. 5675 ff. Zur Szene vgl. vor allem Draesner [Anm. 6], S. 311 ff. Die gleiche Folge von Schönheitsvergleichen, nun jedoch ohne jeden ironischen Zwischenton auf Anfortas bezogen, erscheint im 16. Buch im Anschluss an Parzivals endlich gestellte Erlösungsfrage 795,29 ff.
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Anders der folgende Vergleich, in dem der Empfang Gawans durch den frisch mit Kleidern versorgten Vergulaht mit dem Empfang Erecs verglichen wird, als dieser zu Artus zurückkehrt – in Begleitung der ausdrücklich noch nicht mit angemessenen Kleidern versorgten Enite nach Erecs Sieg über Iders. Ausgespart wird in dem einigermaßen umfänglich nacherzählten ersten Cursus des ‘Erec’ aber gerade das Kleidermotiv, ausgespart wird auch, dass die Ankunft der Enite mit ihrer alles überstrahlenden und von allen anerkannten höchsten Schönheit den möglichen Konflikt um die schönste Frau am Artushof vermeiden hilft, nachdem Artus die costume wieder hat aufleben lassen, dass derjenige, der den weißen Hirsch erjagt, die schönste Frau am Hof küssen und damit als solche auszuzeichnen hat. Vor dem großen Unheil, das angesichts der Konkurrenz von 500 schönen Damen und ihren Rittern am Artushof entstehen könnte, hat gerade Gawan gewarnt.18 Die Brücke zum Vergleich zweier im Übrigen ganz unvergleichbarer Ereignisfolgen bildet also einzig das Stichwort enpfaˆhen (V. 401,9); alle sonstigen möglichen Assoziationen werden ausgeblendet oder dem Rezipienten anheimgestellt. Der Vergleich der Antikonie mit der Markgräfin vom Heitstein (V. 403,25–404,8)19 und den Marktfrauen von Dollnstein (V. 409,5–15) dürfte ähnlich kalkuliert angelegt sein; dies gilt vermutlich auch für den Vergleich, den Antikonie selbst anstellt, als sie das, was sie Gawan bietet, nachdem man sich einen kus, der ungastlıˆch (‘nicht wie unter Fremden’) war, gegeben hat (V. 405,21), als etwas bezeichnet, was Ampflıˆse Gamurete / mıˆnem œheim nie baz erboˆt (V. 406,4 f.), bleibt doch das, was Ampflise Gahmuret ›geboten‹ hat oder bieten könnte, in ihrem Brief an Gahmuret im 2. Buch (V. 76,23 ff.) nur angedeutet, und Antikonie weiß nicht einmal, mit wem sie es zu tun hat (V. 406,9 ff.). Keine Figur des bislang im 8. Buch erzählten Geschehens also bleibt von den ironischen, sarkastischen, aber immer auch wieder verständnisinnig offenen Vergleichen verschont, bei keiner Figur auch wird versäumt, die Diskrepanz von Wort und Tat, von Anlass und Folge und, wenn man so will, von Schein und Sein anzudeuten oder herauszustellen – eine Gedankenfigur, die Wolfram des Öfteren gebraucht hat; zu denken ist etwa an das Ausspielen von innerer und äußerer Schönheit und Hässlichkeit durch Cundrie gegenüber Parzival (V. 315,16 ff.). Dies betrifft als erste auch Antikonie. Nach dem Zeter-Geschrei des Ritters, der Gawan und Antikonie entdeckt und Gawan erkannt hat (V. 407,11 ff.), in eine neue Situation gestellt, bewährt sie sich mit allen denkbaren Mitteln in Gawans großer Not, der der Vergewaltigung beschuldigt wird. In ihrer großen Anklagerede gegenüber ihrem Bruder und Herrn Vergulaht weist sie auf zwei Dinge hin, zum einen, dass sie Vergulahts Gebot befolgt habe, ihn als Gast aufzunehmen (V. 414,26), zum andern aber, dass nach Gewohnheitsrecht derjenige, der sich in den Schutz einer Frau begebe, vor seinen Verfolgern sicher sein könne: 18
19
Vgl. Chre´tien de Troyes, Erec et Enide. Erec und Enide, Altfranzösisch/Deutsch, übers. und hg. von Albert Gier, Stuttgart 1987, V. 27–66. Fritz Peter Knapp, Baiern und die Steiermark in Wolframs ‘Parzival’, in: PBB 110 (1988), S. 6–28, hier S. 6–16.
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ich hoˆrt ie sagen, swa ez soˆ gezoˆch daz man gein wıˆbes scherme vloˆch, daˆ solt ellenthaftez jagen an sıˆme strıˆte gar verzagen, op daˆ wære manlıˆch zuht. (V. 415,1–5)
Und sie leitet ihre Rede damit ein, dass sie ihrem Ritter (V. 414,25) mangels einer Rüstung, wie sie ein Mann hat, an Schutz und Schirm nur guot gebærde und kiusche site (V. 414,23) habe bieten können. Das ist angesichts des nach dem Erzählten ›tatsächlich‹ Vorgefallenen keine ganz adäquate Beschreibung des Sachverhalts. Das betrifft auch Vergulaht. Bei ihm stellt der Erzähler das Unangemessene seines Verhaltens angesichts seines Herkommens, seiner Familie, heraus, als Vergulaht, anders als der König in Chre´tiens Roman, sich nach seiner Rückkehr von der Jagd offen auf die Seite des bovels [. . .] uˆz der stat (V. 408,3) stellt, und dies, ohne dass von einer Nachricht an ihn über das Vorgefallene etwas erzählt worden wäre. Bezeichnend auch, dass von Vergulahts Herkommen aus der Gandin-Gahmuret-Parzival-Sippe im Rahmen einer Vorausdeutung auf Vergulahts Verhalten berichtet wird, an dem es nichts zu beschœnen gebe (V. 410,17), bevor man überhaupt erfährt, wie der König agiert: doˆ kom der künec Vergulaht. der sach die strıˆteclıˆchen maht gegen Gaˆwaˆne kriegen. ich enwolt iuch denne triegen, sone mag i’n niht beschœnen, ern well sich selben hœnen an sıˆnem werden gaste. der stuont ze wer al vaste: doˆ tet der wirt selbe schıˆn, daz mich riwet Gandıˆn der künec von Anschouwe, daz ein soˆ werdiu frouwe, sıˆn tohter, ie den sun gebar, der mit ungetriwer schar sıˆn volc bat seˆre strıˆten. (V. 410,13–27)
Ein ganz entscheidender Vorwurf gegenüber dem König ist also, dass er sich mit dem bovel gemein macht, sogar Seite an Seite mit ihm kämpft; es ist dies auch ein entscheidender Eingriff Wolframs in die Figurenkonstellation der Episode. Unangemessen ist jedoch auch des Landgrafen Kingrimursels Verhalten. Das mag verwundern angesichts des dieser Figur durchgängig zugesprochenen ehrenhaften Verhaltens: »Dieser ehrenwerte Mann, der bereit war, für das vermeintliche Unrecht, das seinem König geschehen war, mit der Waffe einzutreten, der Gawan vorgeladen und ihm ausdrücklich freies Geleit im Feindesland zugesichert hatte, sah sich durch seinen König und Verwandten tief in seiner Ehre gekränkt.«20 Der Ton sollte liegen auf dem »vermeintlichen Unrecht«, denn wieder einmal wird eine Haltung, die als 20
Mohr [Anm. 2], S. 127* f.
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»Ehre« bezeichnet, als eˆre jedoch an keiner Stelle in Zusammenhang mit Kingrimursel gebracht wird, durch den Einsatz für etwas im Ansatz Vergebliches, gar Falsches inszeniert. Denn unmittelbar, nachdem Kingrimursel sich geselleclıˆche (V. 411,20) auf die Seite Gawans und gegen seinen Herrn gestellt hat – dies bedeutet auch, dass er ein öffentlich gegebenes Versprechen gegenüber einem anderen über die vasallitische Treue gestellt hat – und bevor man in langen Verhandlungen, deren Ausgang nach all den Ängsten, die um Gawan auszustehen sind, gleich ungewiss erscheint, eine suone (V. 428,23) erzielt hat, erklärt der Erzähler gegenüber dem Rezipienten, dass der Anlass des ganzen ein Nichts war, jedenfalls nicht von Gawan ausging: unschuldec was heˆr Gaˆwaˆn: ez hete ein ander hant getaˆn, wande der stolze Ehcunat ein lanzen durch in leˆrte pfat, do er [Kingrisin, Vergulahts Vater] Jofreyden fıˆz Ydœl fuorte gegen Barbigœl, den er bıˆ Gaˆwaˆne vienc. durch den disiu noˆt ergienc. (V. 413,13–20)
Es ist dies eine »nur hier erwähnte Episode«.21 Chre´tiens Roman kennt dergleichen nicht, Gauvain scheint durchaus verantwortlich zu sein für den Tod von Guigambresils Herrn, er bestreitet lediglich, dass dies durch Verrat (traı¨son, V. 4763, 4789) geschehen sei. Nichts könnte – zusammen mit dem immer als enttäuschend beiläufig apostrophierten Hinweis im 10. Buch, dass man den Zweikampf zwischen Gawan und Kingrimursel ausgesetzt habe, weil sich herausgestellt habe, dass beide miteinander verwandt gewesen seien und ein anderer, eben Ehcunat, verantwortlich für Kingrisins Tod gewesen sei – nichts könnte deutlicher machen, dass Wolfram an dieser Stelle des 8. Buches die Sinnlosigkeit des früheren und des gesamten weiteren Agierens von Kingrimursel für den Leser/Hörer deutlich vor Augen oder Ohren stellen wollte. Es mag dies eine Haltung sein, die man gern dem »Ethos des Landesfürsten von altem Adel«22 zuschreiben möchte. Doch ist der so sehr herausgestellte Rang des lantgraˆven Kingrimursel gerade nicht »alt«. Die Bezeichnung lantgraˆve im ‘Parzival’ ist, nach den Wörterbüchern (Lexer und BMZ) einer der ältesten Belege überhaupt,23 und »vor dem 12. Jh. tritt der Begriff der Landgrafschaft an keiner Stelle auf«; das Institut gilt geradezu als Ergebnis einer »Staatsreform der Hohenstaufen«, die auf eine »Abschwächung feudaler und leibherrlicher Bindungen und ein unmittelbares Verhältnis freier Bevölkerungsteile zum Königtum« abzielte.24 21
22 23 24
Wolfram von Eschenbach, Parzival. Nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann, übertragen von Dieter Kühn, 2 Bde. (Bibliothek des Mittelalters 8/1 u. 2), Frankfurt a. M. 1994, hier Bd. 2, S. 650. Mohr [Anm. 2], S. 129*; ähnlich Eikelmann [Anm. 7], S. 261. Lexer, Bd. 1, Sp. 1824; BMZ, Bd. 1, S. 568a. Karin Blaschke, Landgraf, -schaft, in: LexMA, Bd. 5, Sp. 1662 f.; ausführlicher: Theodor Mayer, Über Entstehung und Bedeutung der älteren deutschen Landgrafschaften, in: ZRG (Germ. Abt.) 58 (1938), S. 138–162.
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Dass ein »Ethos des alten Adels« ausgerechnet einem Landgrafen zugeordnet wird, den die Erzählung in eine vehemente Auseinandersetzung mit einem Herzog stellt, dem umgekehrt eine »zweckorientierte Politik«25 attestiert wird, wird dem Versuch zuzuschreiben sein, auch die Diskrepanzen von »Ethos« und Amt herauszustellen. Wenn die Position des Landgrafen und seines Amtes auch mit der Absicht verbunden gewesen sein sollte, »die Inhaber der herzoglichen Gewalt mit ihrer gegen das Königtum gerichteten Interessenpolitik in die Schranken zu weisen«,26 dann ist die Auseinandersetzung zwischen Kingrimursel und Liddamus um so interessanter, denn hier treten sich präzise lantgraˆve und herzoge gegenüber. Liddamus wird zunächst als des küneges man (V. 416,18) bezeichnet, d. h. als Vasall des Königs. Dadurch, dass er kurz darauf der fürste Liddamus genannt wird (V. 417,1), wird er mitnichten »erhöht«;27 das erste hält seine Stellung gegenüber dem König fest, das zweite seinen hochadligen Stand, das dritte – der herzoge Liddamus (V. 418,27) – sein Amt, und das vierte, der rıˆche Liddamus (V. 419,11), das, worauf Macht und Herrschaft eines »alten« Fürsten idealiter beruhen, auf Eigentum, Besitz und Lehen an Grund und Boden und Einkünften. Wie wird nun die Auseinandersetzung der beiden Figuren inszeniert? Nachdem Vergulaht seine Leute weiterhin auf Gawan und nun auch gegen Kingrimursel hetzt (V. 412,4 ff.), der, wie man dabei erfährt, sein Vetter ist,28 kommen einige zur Vernunft, da sie gegen den Landgrafen nicht anrennen wollen (V. 412,13–15); sie ermahnen Vergulaht, nicht weiter Krieg gegen den Gast, gegen den Verwandten und gegen die eigene Schwester zu führen, sondern einen vride (V. 412,25–27) zu machen. Dazu kommt es, und dies gibt dem Erzähler Anlass, ausdrücklich ein Wort aus dem Anfang des Buches zu zitieren und nun endlich zu erklären, wie es dazu kam, daz luˆtr gemüete trüebe wart (V. 414,1–3 und 402,2 f.), nämlich das gemüete Vergulahts. Dieser hört sich die Strafreden seiner Schwester und Kingrimursels ohne Widerrede an, bittet vielmehr von schame um Verzeihung (V. 414,9–11). Die Widerrede besorgt Liddamus; sie richtet sich an Kingrimursel, aber mittelbar auch an Vergulaht, den er seines Rufes wegen dazu auffordert, den Tod seines Vaters selbst an dessen Mörder zu rächen (V. 417,1–8). Darauf bezichtigt Kingrimursel ihn, der sonst beim Fliehen im Kampf vornedran sei, des wohlfeilen Muts; er werde Gawan weiterhin beschützen und hätte ihn längst vor den Fürsten zum Zweikampf gestellt, wenn es nicht durch das Verhalten seines Herrn anders gekommen wäre. Falls ihn dieser aber nun – er ist der Gerichtsherr – leben lasse, fordert er Gawan zum Kampf in einem Jahr heraus, der nun am neutralen Ort vor Meljanz stattfinden solle. Gawan verspricht dies. Nachdem Vergulaht dem nicht widersprochen hat, greift Liddamus den Vorwurf der Feigheit auf, nun aber nicht, wie sonst bei solchen Reizreden üblich, indem er den Gegner zum Kampf fordert, sondern indem er diesem, von dem er niemals Sold erhalten werde,29 erklärt, es sei ihm gleichgültig, was dieser von ihm denke (V. 419,1– 25 26 27 28 29
Eikelmann [Anm. 7], S. 261. Blaschke [Anm. 24], Sp. 1663. Mohr [Anm. 2], S. 129*. V. 412,6; anders V. 324,13 (vgl. den Kommentar von Nellmann [Anm. 21], S. 649 u. 621). Vermutlich eine ausgesprochen boshafte oder höhnische Bemerkung, deren tieferen Sinn die Kommentare nicht erläutern.
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10). Er überlasse gerne ihm, Kingrimursel, die Rolle des Turnus, dafür wolle er ebenso gern die Rolle des Tranzes übernehmen. Zwar sei er, Kingrimursel, unter den vürsten der höchste, solle sich aber nicht über ihn, der ebenfalls Landesherr sei, erheben; vielmehr solle er an dem Rache nehmen, der zum Zweikampf gekommen sei und ihm den Herrn und den Verwandten, dessen Vasall er gewesen sei, erschlagen habe. Dies gehe ihn, Liddamus, nichts an, er empfange gern aus der Hand von des Erschlagenen Sohn, dessen Adelsrang in seiner väterlichen Familie begründet sei, sein Fahnlehen. Deutlich geht es hier um Interessenabwägungen und unterschiedlich gewichtete Bindungsverpflichtungen. Kingrimursel sei zur Rache am Mörder seines ehemaligen Herrn Kingrisin, Vergulahts Vater, verpflichtet, da er mit diesem eng verwandt und sein Vasall gewesen sei. Es reiche ihm, Liddamus, hingegen die Sicherung seiner Herrschaft und das Fahnlehen, das er von einem Fürsten aus einer Familie erworben habe, deren Berühmtheit garantiere, dass er es aus der Hand des Nachkommen empfangen könne. Die Erwähnung von Turnus und Tranzes (oder Dranzes) aus Veldekes ‘Eneit’ perspektiviert die nachfolgende Polemik wohl auf diese Weise: Turnus ist ein edeler herzoge (V. 3983),30 dem König Latinus seine Tochter Lavinia und die Nachfolge in seiner Herrschaft versprochen hatte, die er aber nun aus Einsicht in den Ratschluss der Götter dem Trojaner Eneas zu geben bereit ist. Des Turnus ganzes Tun und Trachten ist nun darauf ausgerichtet, Eneas um jeden Preis auszuschalten. Eben diesen Preis will Dranzes, einer der Fürsten im Rat des Latinus, dem man als schlimmsten Vorwurf nachsagt, dass er gerne hete gemach (V. 8535), nicht zahlen. Er empfiehlt, da er weder erbe noch leˆhen (V. 8563) von Turnus habe und ihm zu nichts verpflichtet sei, dass Turnus in einem Zweikampf mit Eneas ausfechten solle, wer rechtens den Anspruch auf Lavinia und die Königsherrschaft erheben könne; das sei besser, als dass man drumbe laˆze slaˆn / unscholdige luˆte (V. 8620 f.). Darauf beschuldigt ihn Turnus der Feigheit und dass er von Eneas bestochen worden sei, erklärt sich aber zum Zweikampf mit Eneas bereit. Dazu kommt es nicht, weil die Trojaner des Turnus Heer angegriffen haben, worauf alle in die Schlacht gegen Eneas ziehen – auch der kluge Dranzes. Die beiden Beispielfiguren sind klug gewählt; wer will, kann daraus hören, dass auch Kingrimursel wie Turnus nur seine eigenen Interessen verfolgt, während Dranzes klug einen solchen Krieg vermeiden will. Dass er nicht feige ist, wie Turnus ihm und Kingrimursel dem Liddamus vorwirft, zeigt sich in der Bereitschaft des Dranzes, mit Turnus im Krieg gegen Eneas die gemeinsamen Interessen zu wahren, wenn die anderen die Angreifer sind. Die Position des Dranzes ist aller Ehren wert, und Veldeke lässt sie auch nur von dem stets zornigen Turnus kritisieren. Für die anderen Beispielfiguren gilt das nicht in dieser Weise. Dass er kein Wolfhart sein möchte (V. 420,22), ist nachvollziehbar; sein bekanntes, zorniges, unbe30
Zitate nach: Heinrich von Veldeke, Eneasroman. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Dieter Kartschoke, Stuttgart 1986.
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herrschtes Agieren wird im ‘Nibelungenlied’ für den Tod fast aller Nibelungen und aller Gefolgsleute Dietrichs von Bern verantwortlich gemacht. Dietrich selbst hat das vorweggenommen, als er ihm nicht erlaubt, den Burgunden die Frage nach dem Grund des Klagens nach Rüdegers Tod zu stellen: Doˆ sprach der herre Dietrıˆch: ‘swaˆ man zornes sich versiht, ob ungefüegiu vraˆge denne daˆ geschiht, daz betrüebet recken vil lıˆhte danne ir muot. jaˆne wil ich niht, Wolfhart, daz ir die vraˆge daˆ zin tuot.’ (C 2299)31
Doch ist dies kein Argument gegen den Vorwurf, andere zum Kampf aufzufordern, selbst aber feige zur Flucht zu neigen. Problematischer ist die danach verkündete These, dass er selbst wie Rumold handeln würde, statt sich des Wohlwollens von Kingrimursel zu versichern (V. 420,25 f.). Problematisch daran ist nicht der sprichwörtlich gewordene Rat Rumolds, nicht zu den Hiunen zu ziehen – diesen Rat hatte auch Hagen zuvor gegeben und hatte auf den von Gernot geäußerten Verdacht hin, er fürchte den Tod, und auf Gunthers Aufforderung, soˆ sult ir hie belıˆben (C 1491,3), epischer Regel gemäß im Zorn gerade das Gegenteil seines ersten Rates verkündet. Rumold rät aber nicht aus kluger Einschätzung der Situation wie Hagen, sondern wegen des heimischen bequemeren Lebens zum Dableiben: Ob ir niht anders heˆtet, des ir möht geleben, ich wolde iu eine spıˆse den vollen immer geben, sniten32 in öl gebrouwen: deist Ruˆmoldes raˆt, sıˆt ez sus angestlıˆchen erhaben daˆ zen Hiunin staˆt. (C 1497 [Text nach a])
Vollends fragwürdig wird Liddamus, als er, auf eine weitere Polemik Kingrimursels gegen seine Haltung, seine Argumentation wie zuvor im Falle von Wolfhart und Rumold aufbaut. Zunächst behauptet er, kein Segramors zu sein, setzt dann aber dagegen, er werde sich wie Sibeche verhalten, der zwar stets floh, aber doch vom König gehört worden sei. Sibeche aber ist in der Dietrichepik der Verräter am Herrn par excellence – er verrät nicht nur die Amelunge, sondern auch aus Rache den Herrn, dem er sich angeschlossen hat, Ermenrich.33 So zeigt sich in der Reihe der Beispielfiguren, mit denen sich die Liddamus-Figur scheinbar selbst charakterisiert, eine genaue Dramaturgie der Demaskierung, von der Vorsicht aus Klugheit (Dranzes), zum Rückzug aus Bequemlichkeit (Rumold) endlich zum erfolgreichen Verräter am eigenen Herrn (Sibeche).
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Zitate nach: Das Nibelungenlied nach der Handschrift C, hg. von Ursula Hennig (ATB 83), Tübingen 1977. Statt sniten liest Bumke mit Werner Schröder sieden, vgl. Joachim Bumke, Die vier Fassungen der ‘Nibelungenklage’. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert, Berlin 1996, S. 575: »In Öl Kochen, Brauen, das ist Rumolds Rat.« Wilhelm Grimm, Die deutsche Heldensage, Darmstadt 1957, bes. S. 332–334.
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Aber auch diese Haltung wird nicht nur denunziert und abgelehnt. Wie Chre´tiens vavasors (V. 6149 ff.) gibt Liddamus im Rat des Königs, der ohne Kingrimursel abgehalten wird, den Rat, die Aufgabe des Königs, die dieser in der Niederlage im Kampf gegen Parzival erhalten hat, auf Gawan zu übertragen. Der Versuch, damit den König von einer gefahrvollen Auflage zu befreien und sie auf eine andere Figur zu übertragen, zeigt einerseits den Sibeche in Liddamus und demonstriert anderseits, dass gerade dies Ende zu Gawans Glück führt: sus behielt heˆr Gaˆwaˆn daˆ sıˆn leben (V. 426,10).
Durchkreuzte Pläne, undurchschaubare Intentionen Zum ‘Mauritius von Crauˆn’ von Anna Mühlherr
An der unikal im Ambraser Heldenbuch überlieferten Erzählung vom Ritter Mauritius von Crauˆn und der Gräfin von Beamunt ist nicht ohne Weiteres eine Aussagetendenz abzulesen. So interpretiert beispielsweise Heimo Reinitzer den Text als eine fundamentale Kritik am ritterlichen Turnierwesen und an der Handlungsweise des Mauritius;1 die konträre Position nimmt etwa Hubertus Fischer ein, der in seiner Monographie den Titelhelden als Idealfigur eines Ritters darstellt, dessen Werbung um die Gräfin gerade in ihren exzessiven Zügen faszinierend gewirkt habe und insofern vorbildhaft sei.2 Im Gegensatz dieser beiden Positionen wird eine zentrale Streitfrage sichtbar, nämlich ob nun Mauritius oder aber die Gräfin3 am desaströsen Ende ihrer Liebesgeschichte Schuld trage oder wie die Schuld verteilt sei. Diese Frage wird von einem dritten neueren Interpretationsansatz von vornherein unterlaufen: Dorothea Klein beschreibt den Text als »ein literarisches Spiel mit dem literarischen Denkmodell der Hohen Minne.«4 In Bezug auf die Frage nach der vom Text geforderten Rezeptionshaltung, welche seiner Tonlage entspräche, lässt sich in neuerer Zeit, seit das Komische, Ironische, Schwankhafte des Textes stärker gesehen wird, eine Stoßrichtung gegen jegliche Thesenbildung über die Schuldfrage ausmachen.5 Eva Willms spricht von einem »Spott1
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Heimo Reinitzer, Zeder und Aloe. Zur Herkunft des Bettes Salomos im ‘Moriz von Crauˆn’, in: Archiv für Kulturgeschichte 58 (1976), S. 1–34; ders., Zu den Tiervergleichen und zur Interpretation des ‘Moriz von Crauˆn’, in: GRM 27 (1977), S. 1–18. Hubertus Fischer, Ritter, Schiff und Dame. Mauritius von Crauˆn: Text und Kontext, Heidelberg 2006. Für die – hauptsächliche oder vollständige – Schuld der Dame im deutschen Text wird, was naheliegt, gerne votiert, z. B. von Karl-Heinz Borck, Zur Deutung und Vorgeschichte des ‘Moriz von Crauˆn’, in: DVjs 35 (1961), S. 494–520; Kurt Ruh, ‘Moriz von Crauˆn’. Eine höfische Thesenerzählung aus Frankreich, in: Formen mittelalterlicher Literatur. FS Siegfried Beyschlag, hg. von Otmar Werner und Bernd Naumann (GAG 25), Göppingen 1970, S. 77–90, wieder in: ders., Kleinere Schriften, Bd. 1, hg. von Volker Mertens, Berlin 1984, S. 129–144; in neuerer Zeit: Christa Ortmann, Die Bedeutung der Minne im ‘Moriz von Crauˆn’, in: PBB 108 (1986), S. 385–407; Ricarda Bauschke, Sex und gender als Normhorizonte im ‘Moriz von Crauˆn’, in: Manlıˆchiu wıˆp, wıˆplıˆch man. Zur Konstruktion der Kategorien ›Körper‹ und ›Geschlecht‹ in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. von Ingrid Bennewitz und Helmut Tervooren, Berlin 1999, S. 305–325. Dorothea Klein in ihrer Einleitung zur Textausgabe: Mauricius von Crauˆn. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, nach dem Text von Edward Schröder hg., übers. und komm. von Dorothea Klein, Stuttgart 1999; Einleitung: S. 7–43, hier S. 42. Ruh [Anm. 3], S. 138, sieht die These der deutschen ›Thesenerzählung‹ gegenüber dem französischen Text gerade umgedreht: Die französische Dichtung »illustriert die Minnethese
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gedicht«;6 Waltraud Fritsch-Rößler von einer »durchgängig parodistische[n] Dichtung«;7 auch Dorothea Klein hält es »[g]rundsätzlich [. . .] für richtig«, den ‘Mauritius von Crauˆn’ als »Zeugnis für die ironisch-parodistische Rezeption der Ideologie von Frauendienst und amour courtois bzw. Hoher Minne zu lesen.«8 Nicht nur hinsichtlich der Frage nach einer Gesamtkonzeption und der Beurteilung des Erzähltones macht es der ‘Mauritius von Crauˆn’ den Interpreten nicht leicht. Die Überlieferung im Ambraser Heldenbuch weist auch an zahlreichen Stellen einen schwierigen Wortlaut auf. Heimo Reinitzers Verdienst ist es, eine Edition vorgelegt zu haben, die den Text neu diskutierbar macht.9 Im Folgenden soll auf der Grundlage einer genauen Betrachtung bestimmter Textsegmente und im vergleichenden Blick auf das altfranzösische Fabliau ‘Du chevalier qui recovra l’amor de sa dame’10 eine Lektüre erprobt werden, die einen in der Forschung bisher nicht hinreichend ausgewerteten Aspekt in den Mittelpunkt rückt: dass nämlich – anders als im Fabliau – die Erzählung es nicht erlaubt, Intentionen und Pläne der Figuren durchgängig zu erschließen und von daher ihr Handeln einzuschätzen. Das Fabliau, das ich zum Vergleich heranziehe, ist nach einhelliger Forschungsmeinung eine mit dem ‘Mauritius von Crauˆn’ eng verwandte Fassung, aber nicht die direkte Vorlage des deutschen Textes.11 Die Diskussion der Vorlagenfrage ist für die
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›Der Schlaf des Liebhabers vor dem Stelldichein ist eine Minnesünde‹, wobei das revenantMotiv dem Ritter die Chance gibt, in listiger und zugleich diskreter Weise die Huld der (hier mit Fug) beleidigten Dame wieder zu erlangen.« Im deutschen Text ist dieses Recht der Dame, beleidigt zu sein, seiner Meinung nach nicht gegeben. Eva Willms [u. a.], Der ‘Moriz von Crauˆn’ als politische Satire. Eine alte These – neu begründet, in: GRM N. F. 44 (1994), S. 129–153, hier S. 148. Waltraud Fritsch-Rößler, ‘Moriz von Crauˆn’. Minnesang beim Wort genommen oder Es ˆ f der maˆze pfat. FS Werner Hoffmann (GAG 555), hg. von schläft immer der Falsche, in: U ders., Göppingen 1991, S. 227–254, hier S. 228. Klein [Anm. 4], S. 39. Mauritius von Crauˆn, hg. von Heimo Reinitzer (ATB 113), Tübingen 2000. Diese Ausgabe wird im Folgenden zitiert. Das Fabliau ist in beiden neueren Editionen abgedruckt und mit einer Übersetzung versehen: In der Ausgabe von Dorothea Klein [Anm. 4], S. 147–163; in der Ausgabe von Reinitzer [Anm. 9], S. 98–112 (Anhang). Ein knapper forschungsgeschichtlicher Abriss zur Quellen- und Vorlagenfrage findet sich in der Einleitung zur Textausgabe bei Klein [Anm. 4], S. 27–30; die Forschung geht von einer direkten Dependenz aus; dabei wird allerdings fest mit einer verlorenen französischen Vorlage gerechnet, die den entscheidenden Schritt der Umarbeitung vollzogen habe (S. 30) – Klein, ebd. S. 35, zieht als Indiz für eine relativ getreue Übersetzung einer verlorengegangenen Quelle den Schluss des Textes (V. 1777–1784) heran. Er lautet: tiutschiu zunge diu ist arm. / swer darinne wil tihten / sal die rede rihten, / so muoz er worte spalten / und zwei zesamen valten. / daz tæte ich gerne, kunde ich daz, / meisterlıˆcher unde baz. – Doch es wird in diesen Versen nicht klar gesagt, woher die Worte kommen, die in deutsche Verse gefügt werden sollen. Dass der Epilog die »Mühen des wortgenauen Übersetzens aus dem Französischen« thematisiere und in dieser Hinsicht eine »deutliche Sprache« spreche, ist immerhin bezweifelbar.
Durchkreuzte Pläne, undurchschaubare Intentionen
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Darstellung von sinnerheblichen Differenzen zweier Fassungen, um die es hier geht, allerdings nicht entscheidend. Die Handlung wird im ‘Mauritius von Crauˆn’ so präsentiert, dass Unvorhergesehenes, auf welches die Figuren reagieren, letztlich ihre Absichten, ihr Kalkül ungreifbar werden lässt. Ihre Intentionen sind komplex-widersprüchlich oder undurchschaubar; Handlungsschritte, vor allem die des Mauritius in seiner Reaktion auf die Abweisung, folgen keinem ›stringenten‹ Plan. Was also hier interessiert, ist die Ungesichertheit und Undurchschaubarkeit der Haltung der Gräfin und vice versa die gerade nicht ›vorbedachte‹ Racheaktion des Ritters. Wenn man diesen Grundzug des Textes vorweg und sehr generell als Mittel der Komisierung oder der Distanznahme zu literarischen Modellen lesen wollte,12 dann bliebe die konzeptionelle Sorgfalt unterbelichtet, mit der die Störungen glatter Handlungsabläufe zum irritierenden Moment für die erzählten Figuren wird, die ›aus der Bahn geworfen werden‹, die sich anders bedenken oder gar nicht zu überlegen scheinen, was sie tun. Möglicherweise war das Publikum angesichts dieser Erzählung nicht weniger irritiert als die darin agierenden Figuren. Die schwankhaften Handlungsmuster funktionieren nicht wirklich, die Geschichte läuft aus dem Ruder – und dies keineswegs so, dass man sich als einzige Rezeptionsweise das Lachen über so viel Komik vorstellen müsste. Insbesondere der Schluss der Erzählung weist in eine andere Richtung. Da der ‘Mauritius von Crauˆn’ nur noch formal auf einer Mechanik von Fehler und Wettmachen des Fehlers, von Schlag und Gegenschlag basiert, wie sie das schon erwähnte motivverwandte Fabliau aufweist, handelt es sich um ein literarisches Experiment. In dieser gegenüber dem Fabliau-Typus neuartigen Erzählung wird eine sehr spezifische Rollenverteilung zwischen der Gräfin und Mauritius generiert: Das Kalkulieren und strategische Verhalten der Frau wird undurchschaubar, sie wird am Ende klar als die Verliererin gezeichnet. Der Mann hingegen handelt am Ende im zorn reaktiv ohne erkennbaren Plan, er kommt aber dennoch zum Ziel. Nur völlig anders, als er es im Sinne hatte: Er erhält, wenn auch erzwungen, seinen ›Minnelohn‹ von der Gräfin. Dies soll nun an den entscheidenden Handlungsstationen auf der Folie des französischen Textes entwickelt werden. Der Kern des französischen Textes besteht darin, dass ein chevalier sein Versagen gegenüber seiner Geliebten, die ihn wegen dieses Versagens verstoßen hat, wieder wettmacht. Sein listiges Arrangement zielt darauf, dass er den Ehemann der Geliebten zu seinem Fürsprecher macht. Sein Plan geht auf. Die Geschichte, von der behauptet wird, sie habe sich vor kurzer Zeit in der Normandie abgespielt (V. 4 f.), geht so: Ein Ritter wirbt um die Liebe einer Dame; sie sagt, er habe keinen Grund sie anzuhimmeln, denn er habe weder eine Rittertat für sie erbracht noch eine Heldentat, die ihr gefallen könnte. Sie stellt ihm riant sanz ire, ‘lachend, ohne Zorn’13 (V. 21), 12
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So etwa Dorothea Klein [Anm. 4], S. 40: Die Ereignisse nach der Einbestellung des Ritters in die Kemenate »lesen sich [. . .] wie eine Kette von Störungen im Modell von Frauendienst und Hoher Minne.« Ich zitiere im Folgenden den französischen Text nach der Edition von Reinitzer [Anm. 9]. Es
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ihre Gewogenheit in Aussicht, wenn er sich beweisen könne. Die beiden verständigen sich auf ein Turnier, das der Ritter ausrichten und auf welchem er gegen den Ehemann antreten soll. Gesagt, getan, die besten Ritter finden sich ein. Der verliebte Ritter hebt den Ehemann ohne Weiteres aus dem Sattel; darüber ist die Dame einerseits betrübt, andererseits freut sie sich über den Erfolg ihres amis (V. 83). Schließlich kommt einer der Ritter zu Tode, wird hastig begraben. Das Turnier wird aufgelöst. Die Dame lässt ihren Ritter durch eine Dienerin zu einem Stelldichein rufen. Als ihr Ehemann eingeschlafen ist, eilt sie dahin. Dort findet sie ihn schlafend, verlässt den Ort, schickt ihr Mädchen als Botin zu dem Ritter zurück. Deren Bescheid an den Ritter lautet, er solle sich ja nie mehr in die Nähe ihrer Herrin wagen, denn er hätte keineswegs in Erwartung ihrer edlen Herrin einschlafen dürfen, einer Dame si bele et si blanche et si tandre / et si vaillant, ‘so schön und so weiß und so zart und so vortrefflich’ (V. 174 f.). Kurz darauf steht der Ritter im Schlafzimmer des Ehepaars und gibt sich als Geist des beim Turnier verstorbenen Ritters aus, der gekommen sei, um Vergebung der Dame für eine Missetat zu erlangen, derer er sich ihr gegenüber schuldig gemacht habe. Die Dame kann ihre ›Einschätzung‹ beim Ehemann nicht durchsetzen, dass es sich nur um ein Trugbild handle; der Ehemann fleht sie an, sie möge dem Verstorbenen verzeihen. Sie bleibt hart – bis der Geist auf die Nachfrage des Ehemanns hin, woher denn ihre Härte rühre, erwidert, das könne er nicht sagen, das sei ein großes Geheimnis. Nachdem er hier nun ›Standhaftigkeit‹ bewiesen und das geplante außereheliche Abenteuer der Dame nicht verraten hat, spricht diese ihm ihre Verzeihung zu und er erhält, so heißt es, ihre Liebe (amor, V. 247) zurück. Wenn man den deutschen Text danebenhält, so sind vor allem zwei Unterschiede festzuhalten: Erstens ist die Handlung wesentlich ›breiter‹ angelegt, was auch impliziert, dass weit größere Sorgfalt auf Details verwendet wird; zweitens werden an einzelnen für das Verständnis der Erzählung entscheidenden Handlungspunkten logische Spannungen erzeugt. Ich gehe nun einzelne für meine Argumentation zentrale Aspekte entlang der Handlung durch, beschränke mich dabei strikt auf das für meine Thesenbildung Wichtige und lasse naheliegende weitere Beobachtungen, die den ‘Mauritius von Crauˆn’ unter der von mir gewählten Perspektive zu einem literarhistorisch interessanten Text machen, beiseite. Der Kontrakt zwischen Dame und Ritter ist die erste Szene, die ins Auge zu fassen ist: Abgesehen von einer gegenüber dem Fabliau ungemein gesteigerten Darstellung der Minnesymptomatik, des Schweigens des Ritters vor der Dame (das einerseits eine ›Regel‹ höfischer Werbung verletzt, aber eben gerade die Intensität seiner Liebe ›beweist‹) sowie der von der Gräfin perfekt beherrschten ›Redekunst‹, mit der sie den Ritter scheinbar naiv zum Arzt schicken will, ist die am Ende stehende emphatische Beteuerung der Minnebindung mit Ringübergabe bemerkenswert. Sie ist als eindeuhandelt sich um einen Abdruck des Textes aus folgender Ausgabe: Nouveau receil complet des fabliaux (NRCF), Bd. 7, Assen 1993, hier S. 247–253. Die Übersetzung zitiere ich nach der Ausgabe von Klein [Anm. 4], sie stammt von Trude Ehlert.
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tiges Signal der Umworbenen an den Ritter zu werten. Doch es fällt gleichzeitig auf, dass sie dem Ritter zwar einerseits Minnelohn in Aussicht stellt, wenn er ein Turnier vor ihren Augen ausrichtet, andererseits aber signalisiert, dass es nicht in ihren Händen liege, ob sich die Möglichkeit der Erfüllung ihres Versprechens einstelle. Zunächst sagt sie: ich wil iu loˆnen als ich mac (V. 586); der letzte Vers ihrer Rede lautet abgewandelt: ich wil dir loˆnen, ob ich kan (V. 603). Das Duzen setzt kurz vorher mit der – als zitathaft empfundenen? – Wendung duˆ bist mıˆn und ich dıˆn (V. 592) ein; d. h., die Dame redet von da an auf der einen Seite vertraulich als Geliebte. Auf der anderen Seite schließt sie ihre Rede mit einem deutlichen Unsicherheitssignal bezüglich der Realisierbarkeit der Belohnung ab: An der Bereitschaft der Dame, dem Ritter ihre Liebe zu schenken, soll nicht gezweifelt werden (als ich mac), aber es wird offengelassen, ob die Dame einen Weg finden wird, den Minnelohn zu gewähren (ob ich kan). Im zweiten für unseren Zusammenhang wichtigen Handlungssegment erweist sich erstens das, was die Gräfin ›kommuniziert‹, als weit komplizierter, zum andern wird durch Kommentierung Unsicherheit darüber erzeugt, wie die Intention der Gräfin einzuschätzen ist. Es handelt sich um die Einbestellung des Ritters direkt nach den Turnierkämpfen in eine Kemenate, in welcher sich ein Prunkbett befindet, auf dem das Thema der Liebe mit großer Kunstfertigkeit bildnerisch umgesetzt ist, bis zum Entschluss der Dame, den Ritter wegen seines Einschlafens abzuweisen. Im Prinzip ist die Handlungsführung mit dem französischen Fabliau identisch: Der Ritter muss sehr lange warten; allerdings hat die Dame auch einen stichhaltigen Grund für ihr spätes Erscheinen, denn ihr Ehemann ist – anders als im Fabliau – untröstlich wegen des von ihm verursachten Todesfalls auf dem Turnier und sie muss warten, bis er zur Ruhe kommt. Der Ritter wird missmutig und schläft, völlig erschöpft vom Turnier, schließlich ein. Während das Fabliau keinen Anlass gibt, von einer Verzögerungstaktik der Dame auszugehen, ist es möglich, den deutschen Text, der die Verzögerung ihres Eintreffens gleichsam überdehnt, so aufzufassen, dass die Dame einen Plan zur Prüfung des Ritters gefasst habe. Demgemäß würde er über das notwendige Maß hinaus unverhältnismäßig lange hingehalten, er würde also in diesem Fall von ihr auf die Probe gestellt und diese Probe nicht bestehen. Dingfest zu machen ist diese Leseart zwar nur an einem Vers, doch dieser Vers ist in seiner Funktion eindeutig. Als die Dame endlich herbeieilt, sagt der Erzähler: doˆ kam diu frouwe rıˆche / mit vorhten tugentlıˆche, / diu lıˆhte eˆ komen möhte sıˆn (V. 1255–57). Wie auch immer man lıˆhte hier auffassen mag, ob nun also nur Zweifel gestreut werden sollen (‘vielleicht’) oder ob eine klare Aussage getroffen werden soll (‘leicht’),14 das späte Kommen der Dame ist ihr möglicherweise als Intention, in jedem Fall aber als problematisches Verhalten (wie auch immer begründet) zuzurechnen. Am Vers 1256 haben alle Herausgeber, abgesehen von Reinitzer, das handschriftlich überlieferte Adverb tugentlıˆche durch tougenlıˆche ersetzt, d. h., sie haben eine Angleichung an das Nomen vorhte vorgenommen und den Ausdruck leichter verständlich gemacht: Die Dame schleicht sich 14
Vgl. Fischer [Anm. 2], S. 181.
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heimlich und in Furcht vor dem Entdecktwerden zum Geliebten. Das handschriftliche tugentlıˆche würde demgegenüber akzentuieren, dass es zur tugent der Dame gehört, in dieser Situation mit vorhten zu agieren, weil ihr nämlich das Risiko, das sie eingeht, bewusst ist. Dies würde genau zu der ›Erläuterung‹ ihrer Abweisung des eingeschlafenen Ritters passen, die sie später gegenüber ihrer Dienerin äußert. Insofern gibt es keinen Grund, von der Handschrift abzuweichen. Während das Fabliau hier einen klaren und einsinnigen Motivationszusammenhang für die Abweisung des Ritters durch die Dame aufweist – er hat sich, wie schon gesagt, nicht der Vollkommenheit der Dame gemäß verhalten, und deshalb entzieht sie ihm ihre Gunst –, begründet im deutschen Text die Dame ihr Verhalten gegenüber ihrer Dienerin, von der sie vehemente Vorwürfe wegen ihrer unfairen Behandlung des Ritters zu hören bekommt, folgendermaßen: 1340
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‘mir ist leit, daz ich mich minne ie underwant soˆ verre. ich vürhte daz mir gewerre. swem zuo der minne ist ze gaˆch, daˆ gaˆt vil lıˆhte schaden naˆch. swer sich an stæte minne laˆt, ich sage iu wie ez dem ergaˆt. als der ein netze stellet und selbe dar ıˆn vellet, alsoˆ vaˆhent si selbe sich. des wil ich bewaren mich. ich wil ouch gerner wesen frıˆ danne ich ie mannes sıˆ. die man sint unstæte. swaz ich durch disen tæte, daz wære als ein bıˆhte. ez ervunden morgen lıˆhte drıˆ oder viere, dar nach drıˆzehen schiere unser zweier bruˆtlouft. so wære mıˆn eˆre verkouft umbe harte kleinen gewin. von diu wil ich sıˆn als ich bin.’
Diese von der Gräfin hier vorgetragene Erläuterung ihres Verhaltens steht in eklatantem Widerspruch zu ihrem dem Ritter gegebenen Versprechen, dass sie ihm nach seiner Erfüllung ihrer Forderung Minnelohn gewähre, wenn sie könne (nichts könnte sie nämlich hindern, der Ehemann schläft endlich); schon gar nicht passt diese Rede dazu, dass sie ihm einen Ring ansteckte und ihre Bereitschaft mit der emphatisch formulierten Wendung duˆ bist mıˆn und ich dıˆn (V. 592) bekräftigte. Es liegt also ein Gesinnungswandel vor: Die Dame lehnt nun stæte minne kategorisch ab. Sie zieht es vor, frıˆ (V. 1351) zu sein, sie will keinem Mann angehören (V. 1352). Diese Erkenntnis muss mit dem Zustand zusammenhängen, in welchem sie ihren Ritter vorgefunden hat: Er hat geschlafen. Und deshalb hält sie es, wie sich aus ihren weiteren Ausführungen ergibt, für ausgeschlossen, dass das Geheimnis dieser Liebe – und
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konkret: dieser Liebesnacht – bewahrt werden könnte. Was ihn disqualifiziert, ist sein Mangel an Wachsamkeit. So einer verrät sich früher oder später. Und sie geht noch einen entscheidenden Schritt weiter: Männer sind unstæte (V. 1353), prinzipiell ist mit allem zu rechnen, vom Ausplaudern des Liebeserfolgs bis zur Abwendung des Mannes von der Dame. Der deutsche Text schafft also einen gegenüber der französischen Version viel komplexer zu beschreibenden Motivationszusammenhang für die Reaktion der Dame. Wenn man sich die in Vers 1257 stehende Erzählerbemerkung in Erinnerung ruft (diu lıˆhte eˆ komen möhte sıˆn), dann bleiben Fragen offen. Wollte sie ihn möglicherweise auf die Probe stellen, um sicherzugehen, dass sie die Liebesnacht riskieren kann? Oder hat sich die Prüfung des Ritters ungeplant (wegen besonderer Umstände) ergeben, so dass ihre Haltung eher zufällig neu konfiguriert wurde und sie es erst angesichts des schlafenden Ritters plötzlich für unmöglich hält, eine stæte minne dieser Art, nämlich eine heimliche Bindung, einzugehen? Zusammengefasst: Der Ritter hat, wie auch immer im Einzelnen motiviert – hier lassen sich Planung und zufällige Entwicklungen nicht restlos analytisch auseinanderhalten –, die Probe auf Tauglichkeit nicht bestanden; kategorisch lehnt die Dame angesichts seines Versagens stæte minne ab. So gesehen geht es nicht darum zu diskutieren, ob der Ritter sich wirklich in dieser Situation unentschuldbar danebenbenommen habe oder ob die Dame zu hartherzig reagiere. Es wird vielmehr ein besonderer Fall vorgeführt, in welchem die Verhaltensweise der Dame, welche weitestreichende Konsequenzen hat, einerseits auf planerisches Kalkül zurückgehen, aber auch genauso gut auf Zufall beruhen kann. Die Ausrichtung auf bestimmte Leitideen von minne und die Realisierung von damit verbundenen Wertvorstellungen oder aber deren Ablehnung scheinen in einem beunruhigenden Ausmaß unkalkulierbar zu sein. Was für die Entscheidung der Gräfin, den Minnelohn zu verweigern, gilt – dass nämlich das Umsetzen von vorgestellten Handlungszielen und das situativ bedingte Entwickeln von Haltungen und Zielen nicht auseinandergehalten werden kann – trifft in noch weit höherem Maße auf die Handlungsweise des Ritters zu, nachdem die Gräfin ihre Minneofferte zurückgenommen hat. An dieser Stelle lohnt wieder ein vergleichender Blick auf das französische Fabliau: Dort bittet der Ritter die Dienerin, die ihm die Nachricht überbrachte, er solle sich in der Nähe ihrer Herrin nie mehr blicken lassen, darum, dass sie ihn zu ihr führen möge. Damit ist sie auch einverstanden, sie bringt ihn zum Schlafgemach des Ehepaares; er geht rasch hinein und posiert dann vor dem Bett als Geist des verstorbenen Ritters. Innerhalb der Erzähllogik des französischen Textes ist es also evident, dass der Held intellektuell überlegen agiert und raffiniert seine Handlungsmöglichkeiten ausschöpft. Mit der wohlgesetzten Pointe, dass ausgerechnet der Ehemann Gnade für ihn erfleht, erlangt er die Gunst der Dame zurück. Dagegen stolpert der Ritter im deutschen Text mehr oder minder von einem Handlungszug zum nächsten. Der Eindruck eines ›Plans‹ stellt sich hier gerade nicht ein; es ist vielmehr so, dass er aus neu sich ergebenden Situationen für sich das Beste macht. Die zweite einschneidende Differenz ist, dass der Handlungsbogen nicht mit der Restitution eines Minnever-
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hältnisses abgeschlossen wird. Am Ende steht eine Vergeltungsaktion, die dem Ritter aber nicht im Sinne einer von ihm geplanten, sondern nur als Ergebnis seiner affektgesteuerten Aktion zugerechnet werden kann. Die Dienerin, so bittet er, soll seine Botin sein und ein zweites Mal versuchen, die Gräfin umzustimmen. Dabei geht er der Botin nach (was nicht abgesprochen ist) und dringt gewaltsam in die Kemenate des Ehepaares ein, nachdem sie ihm wiederum denselben Bescheid der Dame gegeben hat. Er schreckt vor nichts zurück. Dieses Verhalten wird nun aber auch als Ausdruck von triuwe [] (V. 1518) gewertet:15 Nach dem Bescheid, den die Dienerin ihm überbringt,
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[. . .] wart sıˆn herze in riuwen, und sprach iedoch mit triuwen: ‘frouwe, ich wil iuch gote ergeben. mir ist unmære daz leben. nu wil ouch ichz verliesen hie, ich enspreche selbe wider sie. ich wil dar ıˆn zuo im gaˆn und vernemen waz ich habe getaˆn.’
Das heißt, es geht ihm allein um die nochmalige Konfrontation der Gräfin mit ihrem Versprechen, das sie gebrochen hat – ganz gleich, welchen Ausgang diese Konfrontation nimmt. Da ihm das Leben verleidet ist, kann er es auch auf der Stelle verlieren. Er geht ohne Weiteres das Risiko ein, dass er (wohl doch vom Grafen) getötet werden könnte. Der Vers 1523, den alle Herausgeber außer Reinitzer in der Weise geändert haben, dass sie das handschriftliche im durch ein anderes Pronomen ersetzten,16 ergibt dann einen Sinn, wenn diese Verständnismöglichkeit genutzt wird:17 Mauritius’ triuwe bestünde also hier in seiner Beteuerung, dass ihm sein Leben nach der Abweisung nichts mehr wert sei. Es gibt nicht das kleinste erzählerische Indiz dafür, dass seine Rede gegenüber der Dienerin Teil eines listigen Plans wäre. Erst dann – als er schon im Schlafzimmer des gräflichen Paares steht und der Graf auf die blutige Gestalt in der derangierten Rüstung mit blankem Entsetzen reagiert – scheint er aus der Situation heraus zu realisieren, welche Möglichkeit sich ihm bietet. Die Beschreibung des ›Aufzugs‹ des Ritters findet sich übrigens nur im deutschen Text, zum Beispiel das Detail, dass die rechte Beinschiene erklanc uˆf dem esterich (V. 1551). Mauritius scheint sich zunächst einfach nur zornig-wild zu gebärden und sich erst angesichts des entsetzten Ehemanns dann als Geist auszugeben. Der Ehemann springt vom Bett hoch, stößt sich das Schienbein an und fällt in Ohnmacht. Damit, als ditz der ritter gesach (V. 1581), ist der Weg frei – nicht etwa dafür, dass er Verzeihung der Dame erhalten will, sondern dass er auf eine sehr eigentümliche Art und Weise auf seinem Minnelohn ›beharrt‹: 15
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Man könnte selbstverständlich einwenden, dass der Vers 1518 ausschließlich auf Vers 1519 zu beziehen sei, doch das scheint mir nicht sehr wahrscheinlich. zuoz gaˆn Massmann, zuo ir gaˆn Moriz Haupt, Edward Schröder, zuo zir gaˆn Pretzel 1. Aufl., zuo zin gaˆn Pretzel 2.–4. Aufl. Wenn man, wie zuletzt Fischer [Anm. 2], den Ehemann zu einer höchst komischen Gestalt erklärt, wird man diese Möglichkeit allerdings für wenig plausibel halten.
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er gienc ze dem bette und sprach: ‘ditz bette ist halbez lære, ichn weiz, wer hie wære, ich wil geruowen her an.’ daz decklachen legete er dan, er slouf zuo ir hin under, daz was ein michel wunder.
In Angst und Schrecken versetzt, wagt es die Gräfin nicht, nach ihrem Ehemann zu sehen (V. 1591), weiß nicht, ob er überhaupt noch lebt, und denkt bei sich: nu lıˆde ichz guotlıˆche, / daz im sıˆn zorn entwıˆche (V. 1607 f.). Nun sieht sie zu, dass es zwischen ihr und dem Ritter, der sich dabei zunächst passiv verhält, zu einer sexuellen Vereinigung kommt, weil sie andernfalls Schlimmeres befürchtet: 1610
1615 1618
siu kuste in und kuste in aber. deheine antwort engap er, swes si in gefraˆgete. als si des betraˆgete, si begreif in mit den armen. nu begunde er ouch erwarmen und tet der frouwen, ichne weiz waz. [. . .] ir wizzet wol, waz man tuot. also taˆten sie ouch hie.
Kaum ist dies vollbracht (zehant, V. 1620), steht der Held auf und gibt ihr den Ring zurück, beschimpft sie und schleudert ihr seine Unversöhnlichkeit entgegen (ich wil iu niemer werden holt, V. 1626; ich vergilte iu niemer meˆre / disen lasterbæren roup, V. 1636 f.). Die Gräfin ist das Opfer eines vor Enttäuschung Zornigen, der sein Handlungsziel auf eine Weise erreicht, die es abgesehen von seiner Funktion als Racheakt sinnlos macht. Hierzu passt genauso abgründig boshaft die Tatsache, dass die Gräfin die Unbescholtenheit ihres Rufs als Ehefrau des Grafen, ihre gesellschaftliche eˆre, deren Bewahrung sie gegenüber der Dienerin als oberstes Handlungsziel genannt hat, nach wie vor genießt, aber innerlich zerstört ist. Sie verzehrt sich in Sehnsucht nach dem Verlorenen. »Die Tragfähigkeit des literarischen Konstrukts ›Hohe Minne‹ wird«, so Dorothea Klein, »ausgetestet im Medium der Erzählung.«18 Insofern die Geschichte glückverheißend beginnt und so in die Katastrophe mündet, dass die von den Figuren deklarierten Ziele – für die Frau die Bewahrung ihrer Ehre, für den Mann der Beischlaf – ereicht sind und gleichzeitig ein beklemmendes Ausmaß an Zerstörung vorgeführt wird, kann dieser Aussage zugestimmt werden. Sie präzisiert ihre Feststellung dann aber auf eine Weise, die mir problematisch scheint: »genauer: im Medium des Schwanks« (ebd.). Denn die vielen Störungen, die in den Handlungsablauf eingebaut sind, machen eine Gattungszuordnung dieser Art schwierig; diese legt sich letztlich nur mit Blick auf das Fabliau nahe. Demgegenüber wären aber eher die Unterschiede zu betonen: Wenn es typisch für den Schwank ist, dass 18
Klein [Anm. 4], S. 40. Vgl. dazu auch ihren Aufsatz: ‘Mauricius von Crauˆn’ oder Die Destruktion der hohen Minne, in: ZfdA 127 (1998), S. 271–294.
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sich der intelligentere Plan durchsetzt, dass das Zurückzahlen eines Schadens oder das Überbieten eines empfangenen Schlags nur dem Klügeren gelingt, dann ist diese Regel hier in auffälliger Weise gebrochen: Es siegt, aber auf ›gebrochene‹ Weise, der nur aus dem Affekt heraus sich von einem Handlungspunkt zum nächsten bewegende Mauritius, dessen Zorn und kalter Hass in desillusionierender Entsprechung zu seinem zuvor gezeigten Minneheldentum steht. Es verliert die aus rationalen Erwägungen heraus vor der Umsetzung ihres Minneversprechens zurückschreckende Gräfin, der nur der traurige Trost bleibt, dass das ihr aufgezwungene ›Minneabenteuer‹ ihr Geheimnis bleibt; jedenfalls wird nicht erzählt, dass Mauritius sie bloßstelle. Im Gegenteil, sie verzehrt sich ja heimlich in Sehnsucht nach ihm. Es ist der Hass des Helden auf die – wie er es sieht – wortbrüchige Frau, die ihn zur diffidatio veranlasst (ebd.). Diesem Hass verleiht er unverzüglich nach dem Beischlaf im Ehebett brutalen Ausdruck. Sie hätte keinesfalls mit dieser rüden Behandlung rechnen müssen, wenn sie auf dem anscheinend doch eigens zu diesem Zwecke von ihr an ›geheimem Ort‹ bereitgestellten Prunkbett mit ihm geschlafen hätte. In der hasserfüllten Aufkündigung des Mauritius eine Probe aufs Exempel zu sehen, welche das literarische Konstrukt der Hohen Minne ad absurdum führe, wie Dorothea Klein es vorschlägt, fällt dann schwer, wenn man an einem Minimum an innerer Textlogik festhalten will. Sie argumentiert folgendermaßen: Was die Szene im Schlafgemach vorführt, ist nichts anderes als die Aufhebung jenes paradoxe amoureux, der für das Modell der Hohen Minne konstitutiv ist [. . .]: Voraussetzung für Werbung und Dienst sind Wert und Attraktivität der Dame, die sie jedoch einbüßt, sobald sie den liebenden Mann erhört. Aus diesem Grund darf sie den Mann unter keinen Umständen erhören (ebd., S. 41).
Nun ist es ja gerade die Nicht-Erhörung, die er ihr vorwirft. Man muss entschieden auf der Suche nach zur Demontage geeigneten literarischen Konstrukten sein – und die Frage zurückstellen, wieviel Anteil daran die literaturwissenschaftliche Konstruktion hat –, um den Text auf diese Weise zu entschlüsseln. Demgegenüber zielt meine Argumentation darauf, in dieser Erzählung, die im literarischen Umfeld ihrer Zeit eine auffallend singuläre Erscheinung darstellt, ein beunruhigendes literarisches Experiment zu sehen, in welchem Undurchschaubarkeit und Unübersichtlichkeit geschaffen wird: Die Intentionen und Aktionen der Gräfin werden opak, sie gehorchen keinem nachvollziehbaren Handlungsbogen; die auf die Entscheidung der Gräfin zur Absage an die Minne folgende Handlung des Mauritius lässt sich zwar als Handlungssequenz identifizieren, aber sie setzt sich zusammen aus Schritten, die sich bloßem Affekthandeln und zufällig sich einstellenden Handlungsoptionen verdankt. Dabei ergeben sich innerhalb des Textes überraschende Umkehrungen: Nachdem sich die Gräfin auf höfische Liebe eingelassen hat, bekommt sie, die sich an Vorsichtigkeits- und Klugheitsmaximen hält, den irrationalen Schrecken ins Ehebett geliefert. Der sich zunächst in Liebe nach der Gräfin verzehrende Ritter schleudert ihr seinen Hass entgegen und tobt sich anschließend ruhmreich aus, während sie vor Sehnsucht und Reue krank wird. Die Rede des Mauritius, dass er sterben müsse, falls er nicht erhört werde, erhält im Nachhinein einen bedrohlichen zweiten Sinn, der brutal sar-
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kastisch umgesetzt wird: Nach der ›Erhörung‹ jedenfalls ist er der munterste Turnierheld, den man sich denken kann. Ein Mann, der sich im Zorn als rasselndes Schreckgespenst Zutritt zum Ehebett einer Frau verschafft und zudem noch das Glück hat, dass der Ehemann sich selbst außer Gefecht setzt, eine Frau, die sich aus Angst vor diesem Mann im Bett zum ›Liebesspiel‹ genötigt sieht – so lässt sich das in dieser Erzählung aufgebotene Finale zusammenfassen, einer Erzählung, in der die Figuren den Überblick über ihr Tun verlieren. Das Handlungsfeld ›höfische Liebe‹ wird als spiegelglattes Parkett vorgeführt, doch nicht negiert oder negativiert. Dafür ist die erzählte Welt zu ›offen‹; die Liebesgeschichte hätte ja auch ein besseres Ende finden können. Aber als Handlungsfeld, das man literarisch entwerfen und erproben kann, ist es besonders geeignet für ein Erzählen, das Intentionen der Figuren entwirft und zugleich verdunkelt, sie Ziele erreichen lässt um den Preis der Entwertung des Ziels. Diese nicht gerade optimistisch stimmende Art erzählerisch umgesetzter ›Handlungstheorie‹ lässt sich als Eigenprofil dieses Textes festhalten.
Wer sieht wen? Zum Erzählverfahren in der ‘Kudrun’ von Heike Sahm I Die ‘Kudrun’ steht im Schatten des ‘Nibelungenliedes’. Nicht nur gilt das ‘Nibelungenlied’ als mehr oder minder wichtiger »hermeneutischer Schlüssel« zur ‘Kudrun’, weil Kudrun am Ende als eine Art Anti-Kriemhild eine Politik der Versöhnung verfolgt.1 Auch formal ist die Zusammengehörigkeit der beiden Werke nicht zu leugnen: Wie das ‘Nibelungenlied’ baut die ‘Kudrun’ auf dem Erzählschema der Brautwerbung auf, nur wird dieses Schema vielfach variiert;2 die Kudrunstrophe gilt als Modifikation der Nibelungenstrophe,3 ja die ‘Kudrun’ enthält sogar eine ganze Reihe von Nibelungenstrophen,4 und schließlich sind die Parallelen in Satzbau und Wortwahl der beiden Texte immer wieder so auffallend, daß der in der Forschung gezogene Schluß naheliegend erscheinen kann, die ‘Kudrun’ sei letztlich nichts als eine epigonale Stilkopie des ‘Nibelungenliedes’.5 Das Unbehagen an dieser Bewertung ist nicht gering, und die folgenden Überlegungen schließen an andere Versuche an, der ‘Kudrun’ Aspekte abzugewinnen, die sich als eigener Beitrag zum Facettenreichtum großepischen Erzählens im 13. Jahrhundert verstehen lassen.6 1
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Eine Skizze der Forschungsdiskussion und Literaturangaben in: Werner Hoffmann, Kudrun, in: Mittelhochdeutsche Romane und Heldenepen, hg. von Horst Brunner, Stuttgart 1994 (bibliogr. erg. Ausg. 2004), S. 293–310. Hinrich Siefken, Überindividuelle Formen und der Aufbau des ‘Kudrun’-Epos (Medium Aevum 11), Stuttgart 1967, S. 164: »Neunfach wird das Schema der Brauterwerbung verwendet«; Tatjana Rollnik-Manke, Personenkonstellationen in mittelhochdeutschen DietrichEpen (Europäische Hochschulschriften I/1764), Frankfurt a. M. u. a. 2000, S. 127–153. Zum Strophenbau Karl Stackmann in der Einleitung zu seiner Ausgabe: Kudrun, hg. von Karl Bartsch. Neue ergänzte Ausgabe der 5. Aufl., überarb. und eingel. v. K. S., Wiesbaden 1980, S. XC ff. Vgl. zuerst Emil Kettner, Der Einfluß des ‘Nibelungenliedes’ auf die Gudrun, in: ZfdPh 23 (1891), S. 145–217; ferner Stackmann in der Einleitung zu seiner Ausgabe aus dem Jahr 1980 [Anm. 3], S. XLVI f. mit weiterführender Literatur; diese Einl. wieder in: Nibelungenlied und Kudrun, hg. von Heinz Rupp (WdF 54), Darmstadt 1976, S. 561–598; vgl. auch die neue Auflage der Ausgabe von Stackmann (ATB 115), Tübingen 2000. Dazu Mark Pearson, Fremdes Heldentum: der Fall ‘Kudrun’, in: Fremdes wahrnehmen – fremdes Wahrnehmen. Studien zur Geschichte der Wahrnehmung und zur Begegnung von Kulturen in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. von Wolfgang Harms und C. Stephen Jaeger, Stuttgart/Leipzig 1997, S. 153–166, hier S. 163; Barbara Siebert, Rezeption und Produktion. Bezugssysteme in der ‘Kudrun’ (GAG 491), Göppingen 1981, S. 39 f. Kerstin Schmitt, Poetik der Montage. Figurenkonzeption und Intertextualität in der ‘Kudrun’ (Philologische Studien und Quellen 174), Berlin 2002 ; Gisela Vollmann-Profe, Kudrun – eine kühle Heldin, in: Blütezeit. FS L. Peter Johnson, hg. von Mark Chinca, Joachim
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Ansetzen möchte ich bei der Frage nach den Perspektivenwechseln in der ‘Kudrun’. Während der höfische Roman bevorzugt aus der Perspektive des Helden erzählt wird, sind häufige Perspektivenwechsel gattungstypisch für die Heldenepik,7 wie aus den folgenden Beispielen hervorgeht. Das eigentliche Augenmerk gilt jedoch einer Textpassage in der ‘Kudrun’, deren hohe Dichte an Perspektivenwechseln in Hinblick sowohl auf die Gattung im Allgemeinen als auch auf das ‘Nibelungenlied’ im Besonderen das Übliche bei weitem übersteigt.
II Einen typischen Anlaß für den Wechsel von Perspektiven in der Spielmanns- und Heldenepik bietet das Strukturmodell der Brautwerbung: Der unterschiedliche Informationsstand der listigen Werber und der Seite der Braut wird dadurch bewußt gemacht, daß mit der Ankunft Rothers in Konstantinopel oder Gunthers auf Isenstein die Perspektive zu denjenigen wechselt, die die Schauseite der Ankömmlinge wahrnehmen sollen.8 Einen solchen Strangwechsel können wir in der ‘Kudrun’ ebenfalls beobachten. Mit der Ankunft der Hegelinge vor Irland und für die Dauer ihres Aufenthaltes dort wird die Perspektive im wesentlichen darauf gelegt, wie die Irländer die Fremden wahrnehmen.9 Auch die Entführung Hildes wird nicht aus Sicht
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Heinzle und Christopher Young, Tübingen 2000, S. 231–244; Franz H. Bäuml, ‘Kudrun’ lesen: Zum Körper in der Mündlichkeits-/Schriftlichkeitsforschung, in: 7. Pöchlarner Heldenliedgespräch: Mittelhochdeutsche Heldendichtung außerhalb des Nibelungen- und Dietrich-Kreises (Kudrun, Ortnit, Waltharius, Wolfdietriche), hg. von Klaus Zatloukal (Philologica Germanica 25), Wien 2003, S. 21–35; Ian R. Campbell, ‘Kudrun’. A Critical Appreciation, Cambridge 1978. Hans-Joachim Ziegeler, Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispeln und Romanen (MTU 87), München/Zürich 1985, S. 268 f. mit Anm. 22; zur Begriffswahl Wolf Schmid, Elemente der Narratologie (Narratologia 8), München u. a. 2005; Gert Hübner, Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im ‘Eneas’, im ‘Iwein’ und im ‘Tristan’ (Bibliotheca Germanica 44), Tübingen/Basel 2003; Burkhard Niederhoff, Fokalisation und Perspektive. Ein Plädoyer für friedliche Koexistenz, in: Poetica 33 (2001), S. 1–21. Zur Ankunft der Burgunden auf Isenstein vgl. Monika Schausten, Der Körper des Helden und das ‘Leben’ der Königin: Geschlechter- und Machtkonstellationen im ‘Nibelungenlied’, in: ZfdPh 118 (1999), S. 27–49; Joachim Bumke, Die Quellen der Brünhildfabel im Nibelungenlied, in: Euphorion 54 (1960), S. 1–38; Hans-Hugo Steinhoff, Die Darstellung gleichzeitiger Geschehnisse im mittelhochdeutschen Epos. Studien zur Entfaltung der poetischen Technik vom Rolandslied bis zum ‘Willehalm’ (Medium Aevum 4), Marburg 1963, S. 83 f.; Horst Wenzel, Szene und Gebärde. Zur visuellen Imagination im ‘Nibelungenlied’, in: ZfdPh 111 (1992), S. 321–343; zu Rothers Ankunft in Konstantinopel Haiko Wandhoff, Der epische Blick. Eine mediengeschichtliche Studie zur höfischen Literatur (Philologische Studien und Quellen 141), Berlin 1996, S. 225 f. Hilde und ihre Tochter Hilde sehen die reichen Geschenke der Fremden (300,1); die Kämmerer sollen kommen und die Schätze der Gäste schouwen (307,3): doˆ sis rehte ersaˆhen, doˆ nam si der gaˆbe michel wunder (307,4); man redet so viel von ihnen, daß Hilde sie gerne sehen möchte (328,4); die Königin sieht Wate (334,3); alle wollen sehen, wie die fremden Leute sich verhalten (338,4); Hilde sieht, daß Wate sich in der Gegenwart von Frauen
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ˆf der Entführer, sondern aus der Wahrnehmung der Zurückbleibenden geschildert: U zuhten si die segele, die liute saˆhen daz (446,1); doˆ der wilde Hagene die gewaˆfenten sach (447,1); erzogen sach man waˆfen (449,3); man sach die kocken von dem stade vliezen (449,4). Kaum sind sie außer Sichtweite, wechselt die Perspektive zu den fliehenden Dänen und dem ihnen entgegeneilenden Hetel – bis sie ihren Verfolger Hagen mit seinen Schiffen erkennen (489; 492) und es zum Kampf kommt. Danach wird die Perspektive für den Rest des Hildeteils wieder zu Hagen verlegt.10 Der Strang- und Perspektivenwechsel in ‘Nibelungenlied’, ‘Rother’ oder ‘Kudrun’ ist in diesen Fällen eine Funktion des Erzählschemas der listigen Brautwerbung. Ähnlich verhält es sich bei der Ankunft der Boten Hildes bei Hetel. Sie sollen Hetel, der seinem künftigen Schwiegersohn Herwig gegen einen Überfall durch den abgewiesenen Sifrid beisteht, über den Überfall und die Entführung Kudruns durch den dritten Werber, Hartmut, unterrichten. Hier wird zunächst berichtet, wie Hilde ans Fenster eilt, um die Boten abreisen zu sehen (802); dann werden die Boten auf ihrer Reise begleitet, bis sie am zwölften Tag dorthin kommen, wo sie die Hegelinge sehen (812). Kaum erkennen sie das Ziel ihrer Reise, werden sie ihrerseits wahrgenommen: Zunächst sieht Fruote sie kommen (814), dann geht Hetel dorthin, wo er sie sieht (815). Der Perspektivenwechsel dient hier der Zusammenführung der beiden Erzählstränge. – Solche optischen oder akustischen Verknüpfungen von Handlungssträngen finden wir auch im ‘Nibelungenlied’ oder im ‘Willehalm’: »Wenn eine Figur des zweiten Stranges die Ereignisse des ersten sieht oder hört, benötigt der Erzähler keine eigene Übergangsform – die Handlung wechselt den Strang gleichsam ohne sein Zutun.«11 Nicht als epische Technik, sondern als Thema behandelt Haiko Wandhoff das Vorherrschen optischer Eindrücke in der höfischen Literatur. Für Wandhoff ist die »Kultur der Sichtbarkeit« eine Folge des Medienwechsels: Die Schrift biete Möglichkeiten, das Sehen umfassend zu thematisieren, und so sei in der Klassik eine Dominanz der optischen Wahrnehmung in den Texten auszumachen.12 Der epische Blick –
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unwohl fühlt (345,2), usw. Diese Wahrnehmung der Fremden durch die Irländer wird, abgesehen von jener Passage, in der sich die Verschwörer mit Hilde und untereinander über die Flucht besprechen (393–430), im wesentlichen beibehalten bis zur überstürzten Abreise. Nach der friedlichen Beilegung des Kampfes sieht er Hilde auf sich zukommen (538,1); er will sein Kind seine Wunden nicht sehen lassen (539,1); er fährt mit nach Dänemark und sieht die Macht Hetels (550,1). Hagen wird dann zum Ende des Hildeteils aus der Handlung verabschiedet mit dem Kommentar, er hätte zu weit entfernt gewohnt, um seine Tochter weiterhin zu sehen (559,2). Steinhoff [Anm. 8], S. 40 f. zum ‘Willehalm’; ebd., S. 82 zum Strangwechsel im ‘Nibelungenlied’; vgl. dazu etwa die Ankunft der Burgunden an Etzels Hof im ‘Nibelungenlied’, Strophe 1719: Dietrich reitet den Burgunden entgegen; 1720 Hagen sieht Dietrich und die Seinen kommen; 1723 Dietrich sieht, daß die Burgunden ihm entgegen kommen. Wandhoff [Anm. 8], hier S. 387. Vgl. auch Horst Wenzel, Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995; sowie den Sammelband: Audiovisualität vor und nach Gutenberg. Zur Kulturgeschichte der medialen Umbrüche, hg. von Horst Wenzel, Wilfried Seipel und Gotthard Wunberg (Schriften des Kunsthistorischen Museums 6), Wien 2001.
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so Wandhoff – richte sich vor allem auf die Darstellung der sozialen Interaktion und der materiellen Prachtentfaltung beim höfischen Fest, denn die Inszenierung des Festes wie auf einer Schaubühne sei zentral für die Selbstvergewisserung der höfischen Gesellschaft.13 In diesem Entwurf findet auch die ‘Kudrun’ ihren Platz: Daß Königin Uote im ersten Teil der ‘Kudrun’, dem Hagenteil, ihren Mann, Sigeband, ermahnt, endlich einmal wieder ein Fest auszurichten, weil er sich mit seinen Leuten zu selten »sehen lasse«, zeigt nach Wandhoff an, daß das Fest »in verblüffender Ausschließlichkeit mit der Auslösung von Blickkontakten identifiziert« werde.14 – Die im Hagenteil erkennbare Visualisierung der höfischen Festkultur kann der »modernen« Seite des Epos zugerechnet werden; sie läßt sich auch in den Festschilderungen der anderen ‘Kudrun’-Teile finden.15 Doch die Frage nach höfischen Schauräumen läßt jenen Passus in den Aventiuren 26–28 unberücksichtigt, in dem sehr viel öfter als in den Festschilderungen thematisiert wird, wer wen sieht.
III Bereits Hinrich Siefken hat in Bezug auf einige Strophen dieses Abschnitts (Strophen 1354–1493) von einem »Vorherrschen der optischen Eindrücke« gesprochen:16 Kudrun soll nach 14 Jahren in der Gefangenschaft Hartmuts von Ormanie von ihren Verwandten befreit werden. Die Situation der Schlacht wird so geschildert, daß den gegnerischen Parteien auf dem Schlachtfeld zwei gegnerische Parteien in der umkämpften Burg entsprechen: Den Kampf der Hegelinge gegen die Entführer Hartmut und Ludwig beobachten von der Burg aus Hartmuts Mutter (Gerlint) und Schwester (Ortrun) einerseits und Kudrun und ihre 62 mitgefangenen Mädchen andererseits. In der Forschung wird darauf hingewiesen, daß Kudruns Rolle während der Schlacht der Rolle der Frauen bei höfischen Schaukämpfen entspreche.17 Siefken hat für die 27. Aventiure ferner hervorgehoben, daß der Erzähler die »Darstellung der Teichoskopie« gewählt habe,18 und Gisela Vollmann-Profe vermutet, er habe sich dabei am ‘Willehalm’ orientiert. Wie Gyburg und Willehalm von der Mauer Oransches herab die immer neuen Ankömmlinge ihres Heeres beobachten, so halte Hartmut vor dem Beginn der Schlacht von der Zinne herab Umschau über das Schlachtfeld.19 Betrachtet 13 14
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Vgl. Wandhoff [Anm. 8], S. 169–258. Ebd., S. 198; vgl. zu dieser Szene auch Vollmann-Profe [Anm. 6], S. 234 f.; Schmitt [Anm. 6], S. 220 f. Tobias Bulang, Visualisierung als Strategie literarischer Problembehandlung. Beobachtungen zu ‘Nibelungenlied’, ‘Kudrun’ und ‘Prosa-Lancelot’, in: Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Texten und Bildern, hg. von Horst Wenzel und C. Stephen Jaeger (Philologische Studien und Quellen 195), Berlin 2006, S. 188–212. Siefken [Anm. 2], S. 146 Anm. 11 mit Hinweis auf die Strophen 1395–1398. Pearson [Anm. 5], S. 160–162; Theodor Nolte, Das ‘Kudrun’-Epos – ein Frauenroman? (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 38), Tübingen 1985, S. 40, in diesem Sinne zu Herwigs Angriff als Schaukampf. Siefken [Anm. 2], S. 145. Vollmann-Profe [Anm. 6], S. 242; zur Fensterschau im ‘Willehalm’ auch Steinhoff [Anm. 8], S. 41–43 und 83; Schmitt [Anm. 6], S. 170 und 264.
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man, wie nachdrücklich in dieser Textpassage von der Wahrnehmung der Figuren her erzählt wird, dann erscheinen beide Aspekte: Augenzeugenschaft der Frauen und Fensterschau als Resultat eines spezifischen, für diesen Passus gewählten Erzählverfahrens: In der Nacht vor der Schlacht beziehen die Angreifer unterhalb der Burg Stellung. Sie sind den Blicken der Feinde verborgen, können aber ihrerseits den Wohnsitz Ludwigs sehen. Am nächsten Morgen wechselt die Darstellung zu Kudrun und ihren Mädchen in der Burg. Eine Magd Kudruns hält nach den Rettern Ausschau, um sich den versprochenen Lohn zu verdienen (1355,3); sie sieht das Heer (1356,3) und weckt Kudrun, die nun ihrerseits zum Fenster geht und nach den Schiffen der Retter sieht (1359,1). Damit ist die zweite Partei auf der Höhe der Ereignisse, es folgt nun unmittelbar darauf die Wahrnehmung durch die dritte. Als der Ruf von Ludwigs Wächter morgens die Belagerung durch die Hegelinge und ihre Verbündeten verkündet (1360), hört ihn allein Gerlint. Sie steht auf, sieht nach und findet die Warnung des Wärters bestätigt. Als sie Ludwig unterrichtet, will er nichts hören, sondern selber sehen, was geschehen ist (1363). Er sieht die Zeichen seiner Gegner und weckt Hartmut. Beide sehen gemeinsam durch das Fenster (1366). Es folgt nun jene viel beachtete Rede Hartmuts, in der er seinen Vater darüber unterrichtet, wen er sieht: Er erkennt ein Zeichen, das wohl zu Sifrid von Morland gehört (1367,4), er sieht, daß dieser Held wohl 20.000 Mann mitgebracht hat (1369,2); ferner sieht er das Zeichen Horands (1369,4); er sieht Fruote (1370,2); er kann Ortwin sehen (1371,1), und er sieht die Fahne Hildes (1372,1); er sieht eine weitere Fahne mit dem Zeichen Herwigs (1373,1), und schließlich kann er im Gefolge Irolts die Friesen und Holsteiner sehen (1374,2). Nach dieser Umschau laufen die Kampfvorbereitungen an, und gegen den Willen Gerlints werden alle vier Burgtore geöffnet. Horand bläst dreimal in sein Horn (1392–1394), ehe noch einmal völlige Ruhe eintritt (1395). Kudrun steht obene in der zinne (1395) und sieht die Hegelinge, die mit Hartmut kämpfen wollen. Nun wird Hartmut auf dem Kampfplatz eingeführt, und danach werden noch einmal sämtliche Angreifer mit ihrem Gefolge und ihrer Position benannt (1397–1402). Im Rahmen dieser Aufzählung wird betont, daß Gerlint und Ortrun ebenfalls oben auf der Zinne stehen (1400). Die Umschau über den Kampfplatz endet dann wieder bei Hartmut (1403). Hartmut wird von Ortwin gesehen (1404), der zunächst fragt, wer er sei, und auf die Antwort hin den Kampf beginnt. Die Schilderung des Zweikampfs wird unterbrochen durch einen weiteren Überblick über die Kämpfenden mit Nennung aller Hegelinge (1411–1416), darunter Herwigs, dessen Erwähnung den Anlaß bietet, an Kudruns Augenzeugenschaft zu erinnern (1413,4 ez sach allez Kudrun diu junge). Dann kehrt die Erzählung zu Ortwin und Hartmut zurück: Ortwin wird von Hartmut verletzt und von seinen Leuten gerettet (1418–1419). Daß Ortwin verwundet ist, sieht Horand (1420). Als er erfährt, daß Hartmut der Urheber sei, reitet Horand Hartmut nach. Hartmut hört Kampflärm und will seine verwundeten Getreuen rächen. Er wendet sich um und sieht Horand (1423,1). Sie kämpfen, und auch Horand wird verwundet (1424). Dann kommt Herwig ins Blickfeld: Herwig sieht Ludwig
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(1430,3) und fragt nach seiner Identität. Ludwig hört ihn und gibt sich selbst zu erkennen. Nach der Reizrede beginnt der Kampf. – Als Herwig stolpert, sieht er hinauf zur Burg in der Sorge, Kudrun könne Zeugin gewesen sein (1440,3). Es bleibt unklar, ob Kudrun den Stolperer tatsächlich gesehen hat. Die Angst vor einer Blamage aber läßt Herwig Ludwig ein weiteres Mal angreifen. Ludwig hört ihn kommen (1443,1), wendet sich um, und es kommt zum Kampf, in dessen Verlauf Herwig Ludwig erschlägt. Die Kämpfe gegen Hartmut und Ludwig zerfallen jeweils in zwei Phasen: Die Sichtbarkeit von Wunde bzw. Stolperer führt zur Erneuerung des Kampfes, im einen Fall durch Horand, im anderen Fall durch Herwig selbst. Der Erzähler zieht sich weitgehend zurück; die Handlung schreitet im wesentlichen fort, indem Wahrnehmung und Handeln der jeweiligen Akteure aneinandergereiht werden. Im nun folgenden Abschnitt (1441–1493) werden die raschen Wechsel in der Figurenperspektive noch genauer miteinander verzahnt: Von der Burg herab sehen die Leute Ludwig sterben; sie klagen laut, und diese Klage ist nun wiederum einerseits auf der Burg von Kudrun zu hören, die es mit der Angst zu tun bekommt, und andererseits hört man die Klagerufe auf dem Schlachtfeld, wo sie den noch uninformierten Hartmut zu dem Versuch veranlassen, wieder in die Burg zu gelangen. Er sieht, daß man ihm von der Burg aus zu Hilfe kommt, indem man Steine auf Wate herabwirft. Wate aber kümmert allein die Frage, wie man den Sieg erreichen kann (1455). Nun sieht Hartmut Wate im Weg stehen (1456,1). Es folgt die zweite teichoskopische Umschau Hartmuts: Er spricht seine Leute an: Ir recken, schouwet selbe (1458,1), und nun zählt Hartmut auf, was er sieht: Er sieht das Zeichen des Herrn von Morriche vor dem einen Burgtor (1459,3); vor derm zweiten Burgtor sieht er den Bruder Kudruns (1460,1 f.); vor dem dritten sieht er Herwig (1461,1) und kommentiert, daß Kudrun ihn wohl gerne sehe (1461,4). Die Augenzeugenschaft der Frauen ist also auch Hartmut bewußt. Vor dem letzten Burgtor schließlich steht Wate (1462). – Wie zu Beginn der Kampfhandlungen, so wird auch kurz vor deren Abschluß die Umschau über das Schlachtfeld aus Hartmuts Perspektive gegeben, ungeachtet jeder Wahrscheinlichkeit. Denn daß Hartmut alle vier Burgtore seiner Burg gleichzeitig ›sehen‹ kann, ist von seinem Standpunkt im Schlachtgetümmel her kaum plausibel zu machen. – Hartmut beschließt aufgrund seiner aussichtslosen Lage, weiter zu kämpfen und es mit Wate aufzunehmen (1466). Der Standpunkt wechselt nun zu Wate, der Hartmut kommen sieht (1467,1). Während sie kämpfen, hört Hartmut die Klage von Gerlint (1471,1). Die allgemeine Klage der Burgleute, von der zuvor die Rede gewesen war, wird nun auf Gerlint zentriert, die von der Klage zum Handeln übergeht und – hier erweisen sich Kudruns Befürchtungen nach dem Totschlag an Ludwig als berechtigt – einen Mörder für Kudrun dingt (1471). Der Mörder will gleich ans Werk gehen und eilt dorthin, wo Kudrun sich mit ihren Mädchen aufhält (1472). Wieder wechselt der Standpunkt: Kudrun sieht den Mörder mit gezückter Waffe auf sich zukommen und schreit (1474). Den Schrei nun wiederum hört unten auf dem Schlachtfeld Hartmut (1475,1), er blickt auf und sieht (1475,2), warum Kudrun sich so ängstlich verhält. Er schreit hinauf zur
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Burg, und der Mörder tritt von seinem Vorhaben zurück. Die Handlung wird nun zunächst auf der Burg fortgesetzt: Zu Kudrun kommt Ortrun, die weiß, daß Hartmut gegen Wate kämpft, und die Niederlage ihres Bruders befürchtet. Kudrun geht ans Fenster, winkt und fragt nach der Identität der Angreifer. Nach der stereotypen Wechselrede, in der Kudrun und Herwig sich einander zu erkennen geben, findet Kudrun Gehör, und Herwig unterbricht unter Einsatz seines Lebens den Kampf zwischen Wate und Hartmut (1493). In der skizzierten Textpassage wird aus der Wahrnehmung der Figuren heraus erzählt. Freilich kann man fragen: Macht es einen großen Unterschied, ob gesagt wird: Man half ihnen von der Burg aus mit Steinschleudern – oder ob es heißt: Sie sahen, daß man ihnen von der Burg aus mit Steinschleudern half? Ob gesagt wird: Wate stand vor dem Burgtor – oder ob es heißt: Hartmut sah Wate vor dem Burgtor stehen? Ob gesagt wird: Einer von Hartmuts Leuten will Kudrun erschlagen; oder ob es heißt: Kudrun sieht, daß sie ermordet werden soll. Die Dimension der Perspektivierung ist gering, und vermutlich deshalb ist sie bislang nicht herausgestellt worden. Doch auch wenn die Figurenperspektive kaum durch Innenweltdarstellung vertieft wird, ermöglicht sie dem Erzähler, sich weitgehend aus der Darstellung der Handlung zurückzuziehen. Zwar fallen zunächst noch disponierende Bemerkungen (1427,1 Nu laze wir si muoten swaz si nu gezeme oder 1428,1 Man kunde iu von in allen geliche niht gesagen), dann aber wird die Sukzession der Handlung im Alternieren der Standpunkte zwischen den gegenerischen Parteien erzählt, und der rasche Wechsel zwischen den Perspektiven von Freund und Feind, von Burg und Schlachtfeld macht den Reiz dieses Erzählabschnittes aus. Die angestrebte szenische Unmittelbarkeit, die mit dem Schwinden der narrativen Vermittlungsinstanz einhergeht, kann womöglich erklären, warum die Erkennungsszenen Eingang in die Schlachtschilderung gefunden haben: Ortwin und Hartmut, Herwig und Ludwig, Kudrun und Herwig müssen sich in Wechselreden umständlich gegenseitig identifizieren, obwohl sich die jeweiligen Gesprächspartner ja bereits an ihren Zeichen bzw. – bei Herwig und Kudrun – im Gespräch am Vortag erkannt haben.20 Das Interesse an der szenischen Vertiefung, wie der Dialog sie ermöglicht, ist in diesen Fällen größer gewesen als das an der Wahrung der Erzähllogik. Entsprechend ist die zweimalige teichoskopische Darstellung ein Mittel, Hartmut und nicht den Erzähler eine Beschreibung der Situation geben zu lassen. Die Rolle der Frauen geht in der höfischen Beobachterrolle nicht auf. Auch wenn Kudruns »Handlungsspielraum während der militärischen Operationen auf eine weibliche Sphäre eingeschränkt ist«,21 handeln Kudrun, Gerlint und Ortrun, wenn sie klagen, zur Rache aufrufen, schreien, um Hilfe bitten und das Kampfgeschehen zu unterbrechen suchen. An keiner anderen 20
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Zur Doppelung der Erkennungsszene zwischen Herwig und Kudrun vgl. Siefken [Anm. 2], S. 152; Stackmann [Anm. 3], S. XVI. Zur Reizrede: Norbert Voorwinden, Kampfschilderungen und Kampfmotivationen in der mittelhochdeutschen Dichtung. Zur Verschmelzung zweier Traditionen in der deutschen Heldendichtung, in: Helden und Heldensage. Otto Gschwantler zum 60. Geburtstag, hg. von Hermann Reichert und Günter Zimmermann (Philologica Germanica 11), Wien 1990. Schmitt [Anm. 6], S. 250.
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Stelle in der ‘Kudrun’ wird die Doppelseitigkeit von Vorgängen mit einer vergleichbaren Intensität vorgeführt: Das zeigt der Abgleich mit einer ähnlichen Konstellation, nämlich dem Überfall Herwigs auf Hetels Burg, mit dem er nach der Ablehnung durch Hetel Kudrun doch noch für sich gewinnen will: Der morgendliche Ruf des Wächters kündet von fremden gesten (vgl. 693,3); Hetel und Hilde gehen ans Fenster (641) und erkennen, daß Herwig ihre Burg überfällt. Hetel eilt hinunter zum Kampf, während Kudrun von oben zusieht und schließlich zum Frieden mahnt (644, 649). Die Wahrnehmung bleibt im ganzen Abschnitt auf seiten der Hegelinge. Wir erfahren nichts darüber, was Herwig sieht. – Aus der wichtigsten Vorlage erscheint die Dichte der Perspektivenwechsel nicht angeregt.22 Zwar finden wir auch im ‘Nibelungenlied’ im Rahmen der Kampfhandlungen an Etzels Hof Perspektivenwechsel: So heißt es etwa im ‘Nibelungenlied’, nachdem die Kampfhandlungen an Etzels Hof eskaliert sind, wiederholt, daß der Spielmann Volker sieht, daß ein Angriff erfolgen wird (1837,2; 2252,1). Mehrfach wird die Kampfsituation erzählt, daß ein Recke sieht, wie ein anderer erschlagen wird (2284,1; 2289,1; 2298,3) und daraufhin in den erwartbaren furor verfällt.23 – Doch als ein mit dem erzählten Geschehen über eine vergleichbar lange Passage logisch verbundenes Gestaltungsprinzip ist der Wechsel der Figurenperspektive im ‘Nibelungenlied’ nicht auszumachen. Somit bleibt diese Passage von rund 150 Strophen ein Einzelfall in der ‘Kudrun’, der nicht mit dem Hinweis auf die Gattung allein zu erklären ist. Auffallend ist, daß die neuen Errungenschaften höfischer Synchronisationstechnik bei der Ausgestaltung in diesem Erzählabschnitt allenfalls eine untergeordnete Rolle spielen. Der ‘Kudrun’-Dichter erreicht in dieser Passage keine Mehrsträngigkeit, sondern der Effekt von Gleichzeitigkeit wird allein durch die rasche Reihung der Perspektivenwechsel erreicht; der Modus der Darstellung bleibt die nach Andreas Heusler so benannte »einsträngige Reduktionsform«.24
IV Es ist wohl kein Zufall, daß sich die Leistung des Epikers ausgerechnet in der Weiterentwicklung eines vorhöfischen Erzählverfahrens erweist; die Perspektivenwechsel sind ein weiteres Indiz dafür, daß sich in dem so spät überlieferten Text Spuren seiner
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Zur Literaturkenntnis des Kudrun-Dichters vgl. die Arbeit von Schmitt [Anm. 6]; Vollmann-Profe [Anm. 6], S. 236. Jan-Dirk Müller, Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998, S. 201–248 zur nibelungischen Anthropologie. Anders Vollmann-Profe [Anm. 6], S. 242 Anm. 40, die im Blick auf die hier behandelte Aventiurenfolge von »souveräner Gestaltung einer Parallelhandlung« spricht; zur Erzähltechnik in der Heldenepik vgl. Andreas Heusler, Lied und Epos in germanischer Sagendichtung, Dortmund 1905; Burghart Wachinger, Studien zum ‘Nibelungenlied’. Vorausdeutungen, Aufbau, Motivierung, Tübingen 1960; zur Mehrsträngigkeit Steinhoff [Anm. 8].
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Entstehung im Übergangsbereich zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit erhalten haben. Perspektivenwechsel gelten in der anglistischen Forschung als Merkmal der Nähe zur Mündlichkeit. Die ‘Beowulf’-Forschung begründet das Verfahren der shifting points of view mit den Erfordernissen einer Gesellschaft der Oralität: Der Sänger habe im Vortrag eine größere Wirkung auf sein Publikum erzielen können, indem er aus der jeweiligen Figurenperspektive berichte und dies durch die entsprechende Pantomime unterstütze. Dies werde im ‘Beowulf’ dadurch erreicht, daß mal aus der Sicht Beowulfs erzählt werde, mal aus der Perspektive des Strandwächters, der Beowulfs Schiff am Strand landen sieht, mal aus der Perspektive der Gefolgsleute, mal aus der von Beowulfs Neffen Wiglaf, und last but not least: aus der des Monsters Grendel. Als Grendel sich der Methalle nähert, wird nicht sein Aussehen oder sein Gang beschrieben, weil die Annäherung an die Methalle aus der Sicht des Monsters gegeben wird: Raþe æfter þon on fagne flor feond treddode, eode yrremod. Him of eagum stod ligge gelicost leoht unfæger. Geseah he in recede rinca manige, swefan sibbegedriht samod ætgædere, magorinca heap. (724b–730a) (‘After that the fiend advanced, angry at heart, swiftly stepped on to the patterned floor. From his eyes, very like fire, there gleamed an ugly light. Within the hall he saw many warriors, a band of kinsmen sleeping, a troop of young warriors all together.’)25
Aufgrund der Beobachtungen zum Perspektivenwechsel im ‘Beowulf’ hat Alain Renoir die Visualisierung nicht zur Errungenschaft der Schriftlichkeit, sondern zur besonderen Leistung mündlicher Dichtkunst erklärt: The visual evocation of an action, if it is to prove effective upon a first hearing, requires not only a careful selection of details, but also – and perhaps especially – the presentation of these details from an appropriate point of view. A given action visualized at close range is likely to assume in the beholder’s mind a much greater importance than the same action visualized at a great distance.26
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Text und Übersetzung nach: Beowulf. Revised edition, ed. with an Introduction, Notes and New Prose Translation by Michael Swanton, Manchester/New York 1997. Vgl. auch: Beowulf und die kleineren Denkmäler der altenglischen Heldensage Waldere und Finnsburg. Mit Text, Übersetzung, Einleitung und Kommentar sowie einem Konkordanz-Glossar, in drei Teilen, hg. von Gerhard Nickel (Germanische Bibliothek, vierte Reihe: Texte), Heidelberg 1976; Beowulf. Ein altenglisches Heldenepos, übers. und hg. von Martin Lehnert, Stuttgart 1986. Alain Renoir, Point of View and Design for Terror in ‘Beowulf’, in: Neuphilologische Mitteilungen 63 (1962), S. 154–167, hier S. 157, wieder in: The Beowulf Poet. A Collection of Critical Essays, ed. by Donald K. Fry, Englewood Cliffs, New Jersey 1968, S. 154–166. Für diese These von einer Nähe des Erzählverfahrens zur Mündlichkeit spricht, daß – und hier folge ich den Ausführungen Peter Clemoes’ – das Prinzip des Perspektivenwechsels im Mittelenglischen nicht mehr anzutreffen ist. Vgl. Peter Clemoes, Action in ‘Beowulf’ and the Perception of It, Old English Poetry: Essays in Style, ed. by Daniel G. Calder, Berkeley/
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Nun nimmt die ‘Kudrun’ in der Debatte um die mündliche oder schriftliche Entstehung mittelhochdeutscher Heldenepen nur eine Nebenrolle ein.27 Nachdem sich der Versuch Edward Haymes’, die Mündlichkeit des Textes in Anlehnung an die oral poetry-Forschung mit seiner Formeldichte zu begründen, nicht durchsetzen konnte,28 wird die Entstehung des überlieferten Textes in einer Kultur der Schriftlichkeit nicht mehr bezweifelt, denn die Abhängigkeit der ‘Kudrun’ vom ‘Nibelungenlied’ wiegt schwer und scheint schon an sich gegen einen eigenen Zeugniswert der ‘Kudrun’ für eine mündliche Erzähltradition zu sprechen. Zwar ist bekannt, daß es eine mittelhochdeutsche Erzähltradition zum Hilde-Stoffkreis im 12. Jahrhundert gegeben hat.29 Im überlieferten Text aus dem ‘Ambraser Heldenbuch’ sei nichts mehr davon greifbar, und die Forschung hat den vorliegenden Text zum Produkt des 13. Jahrhunderts erklärt.30 Auch Harald Haferland schätzt – ganz gegen die generelle
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Los Angeles 1979, S. 147–168. Vgl. auch Peter Richardson, Point of View and Identification in ‘Beowulf’, in: Neophilologus 81 (1997), S. 289–298. Harald Haferland, Mündlichkeit, Gedächtnis und Medialität. Heldendichtung im deutschen Mittelalter, Göttingen 2004. Alfred Ebenbauer, Improvisation oder memoriale Konzeption? Überlegungen zur Frühzeit der germanischen Heldendichtung, in: Varieties and Consequences of Literacy and Orality. Formen und Folgen von Schriftlichkeit und Mündlichkeit. FS Franz H. Bäuml zum 75. Geburtstag, hg. von Ursula Schaefer und Edda Spielmann, Tübingen 2001, S. 5–31, bes. die Bibliographie S. 25–31; zur Kritik an den gängigen Modellbildungen auch Lorenz Deutsch, Die Einführung der Schrift als Literarisierungsschwelle. Kritik eines mediävistischen Forschungsfaszinosums am Beispiel des ‘König Rother’, in: Poetica 35 (2003), S. 69–90; Fritz Peter Knapp, Das Dogma von der fingierten Mündlichkeit und die Unfestigkeit heldenepischer Texte, in: Chanson de geste im europäischen Kontext. Ergebnisse der Tagung der Deutschen Sektion der ICLS 2004, hg. von Hans-Joachim Ziegeler (Encomia Deutsch 1), Göttingen 2008, S. 73–88; Jan-Dirk Müller, »Improvisierende«, »memorierende« und »fingierte« Mündlichkeit, in: ZfdPh, Sonderheft zum Band 124, 2005: Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur, hg. von Joachim Bumke und Ursula Peters, S. 159–181; Joachim Heinzle, Nibelungensage und ‘Nibelungenlied’ im späten Mittelalter, in: Forschungen zur deutschen Literatur des Spätmittelalters. FS Johannes Janota, hg. von Horst Brunner und Werner Williams-Krapp, Tübingen 2003, S. 15–30. Edward Haymes, Mündliches Epos in mittelhochdeutscher Zeit, Göppingen 1975 (GAG 164); zum Formelschatz s. auch: James Graham Torrance, A Concordance to the Middle High German ‘Kudrun’, Los Angeles 1993; Einwände gegen die Anwendung der oral poetry-Theorie auf die europäische Heldendichtung zusammengefaßt bei Klaus von See, Was ist Heldendichtung?, in: Europäische Heldendichtung, hg. von dems. (WdF 500), Darmstadt 1978, S. 1–38; vgl. auch Karl Stackmann, ‘Kudrun’, in: 2VL 5 (1985), Sp. 410–426. Zur Stofftradition Stackmann in der Einleitung zu seiner Ausgabe [Anm. 3]; vgl. auch Inga Wild, Zur Überlieferung und Rezeption des ‘Kudrun’-Epos. Eine Untersuchung von drei europäischen Liedbereichen des ‘Typs Südeli’ (GAG 265), Göppingen 1979; Roswitha Wisniewski, Kudrun, Stuttgart 1963, S. 71–73; Werner Hoffmann, Die Hauptprobleme der neueren ‘Kudrun’-Forschung, in: WW 14 (1964), S. 183–196, hier S. 187–190; Donald J. Ward und Franz H. Bäuml, Zur ‘Kudrun’-Problematik: Ballade und Epos, in: ZfdPh 88 (1969), S. 19– 27; Theodor Nolte, Wiedergefundene Schwester und befreite Braut: Kudrunepos und Balladen, Stuttgart 1984 (Helfant Studien 4), Göppingen 1979. Schmitt [Anm. 6], S. 12; vgl. auch Nolte [Anm. 17], S. 45. Auch bei Alois Wolf, Heldensage und Epos. Zur Konstituierung einer mittelalterlichen volkssprachlichen Gattung im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit (ScriptOralia 68), Tübingen 1995, spielt die
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Stoßrichtung seines Buches – die Beweiskraft des Textes für die mündliche Erzähltradition gering ein: »Vielmehr ist der Dichter der ‘Kudrun’ offensichtlich eingehört in das Nibelungische, er hat dessen Lexik und Syntax im Ohr und nutzt beides in freier Verfügung.«31 Einiges aber spricht dafür, die ‘Kudrun’ in die Diskussion um die Entstehung und Tradierung der Heldenepik wieder einzubeziehen. Wenn man zu den bekannten Indizien der mitunter fehlenden Stringenz des Textes32 den hier vorgestellten Perspektivenwechsel und den von Bäuml als vortragstypisch herausgestellten Gebärdenstil rechnet,33 dann gibt es durchaus Anhaltspunkte dafür, daß die Kudrun ist, was man ihr in der neueren Forschung überwiegend abspricht: ein fehlendes Zwischenglied auf dem Weg von der Dialogizität des Liedes zur Narrativik des Epos.
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‘Kudrun’ keine Rolle. Zur Überlieferung vgl. Kudrun. Die Handschrift, hg. von Franz H. Bäuml, Berlin 1969. Haferland [Anm. 27], S. 93. Vgl. Stackmann in der Einleitung zu seiner Edition [Anm. 3], S. XVIII; ders., ‘Kudrun’ [Anm. 28]. Bäuml [Anm. 6], S. 33 f.
Hamhleypa – Skaldik als Verwandlungskunst Zur ‘Ho˛fuðlausn’-Episode in der ‘Egils saga skalla-grı´mssonar’ von Philipp Theisohn
Die Sonderstellung der Skaldendichtung innerhalb der älteren germanischen Literaturen liegt zweifellos in ihrem Erscheinungszusammenhang begründet. Wenn wir von ›Skaldik‹ sprechen, dann meinen wir in der Regel damit jene Lyrica, die die altnordische Erzählprosa des 12. und 13. Jahrhunderts durchziehen, die innerhalb des jeweiligen Textes gleichwohl als ›Dokumente‹ der hinter der Erzählung liegenden historischen Wirklichkeit des 9. und 10. Jahrhunderts fungieren. Folgt man den Be´ lafs saga helga’ gibt,1 so lassen gründungen, die etwa Snorri in seiner Vorrede zur ‘O sich die Verse als ein Textelement begreifen, das den Zusammenschluss des SagaErzählers mit seinem Gegenstand authentifizieren soll.2 Die Altnordistik ist dieser Vorstellung lange Zeit gefolgt und hat ihr Augenmerk folgerichtig vorzugsweise auf die Textgenealogie, auf verborgene Textschichten, auf die Beziehung von mündlicher Dichtung und schriftlicher Narrativik gerichtet. (Und das gilt eben nicht nur für Fragen der Konjekturalkritik, sondern kann sich durchaus auch auf die mündliche ›Vorprägung‹ ganzer Erzählstränge beziehen.)3 Der Zusammenhang zwischen Epik und Lyrik wird somit primär in einer Konstellation der Originarität gesucht.4 Han1
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Snorri Sturluson, Heimskringla, hg. von Bjarni AdÑalbjarnarson, Bd. II. (I´slenzk Fornrit 27), Reykjavı´k 32002, S. 422: En þo´ þykki me´r þat merkiligast til sannenda, er berum orðum er sagt ı´ kvæðum eða o˛ðrum kveðskap, þeim er sva´ var ort um konunga eða aðra ho˛fðingja, at þeir sja´lfir heyrðu, eða ı´ erfikivæðum þeim, er ska´ldin fœrðu sonum þeira. Þau orð, er ı´ kveðskap standa, eru in so˛mu sem ı´ fyrstu va´ru, ef re´tt er kveðit, þo´tt hverr maðr hafi sı´ðan numit at o˛ðrum, ok ma´ þvı´ ekki breyta. (‘Gleichwohl scheint mir das die bedeutsamste Bekräftigung zu sein, welche in klaren Worten in Liedern und sonstiger Dichtung über Könige und andere Herrscher gesprochen wurde, und zwar auf jene Weise, in der diese selbst es gehört haben, oder in Gedenkliedern, die ihren Söhnen durch Skalden vermacht wurden. Die Worte, welche in der Dichtung stehen, sind so, wie sie ursprünglich waren – spricht man sie in rechter Weise –, wenn sie auch bereits mancher von anderen übernommen hat [also nicht mehr vom Skalden selbst], und sie sind nicht zu ändern.’) Ausführlich hierzu Preben Meulengracht Sørensen, The Prosimetrum Form. 1: Verses as the Voice of the Past, in: Skaldsagas. Text, Vocation, and Desire in the Icelandic Sagas of Poets, hg. von Russell Poole (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 27), Berlin/New York 2001, S. 172–190. Dies bei Torfi H. Tulinius, The Prosimetrum Form. 2: Verses as the Basis for Saga Composition and Interpretation, ebd., S. 191–217. Zur mittlerweile 30 Jahre zurückliegenden Debatte um die genealogischen Verhältnisse zwischen prosaischer und poetischer Rede in der Sagaliteratur vgl. Theodore M. Andersson, Skalds and Troubadours, in: Mediaeval Scandinavia 2 (1969), S. 7–41; Bjarni Einarsson, On the Role of Verse in Saga-Literature, in: Mediaeval Scandinavia 7 (1974/75), S. 118–125; Klaus von See, Skaldenstrophe und Sagaprosa. Ein Beitrag zum Problem der mündlichen Überlieferung in der altnordischen Literatur, in: Mediaeval Scandinavia 10 (1977), S. 58–82;
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delt es sich um Skaldensagas, dann ist dieser Zusammenhang biographischer resp. dokumentarischer Natur: Der Protagonist der Erzählung tritt mit seiner eigenen Stimme hervor. Die Worte, in denen sich die Wirklichkeit des Skalden nochmals abbildet, sind seine eigenen, oder zumindest sind es die Worte, die er ›gesagt haben könnte‹.5 Abseits jener Logik der ›Authentifikation‹, in der reinen Funktionalität des Erzählens, erweist sich die Einbettung des lyrischen Sprechens in das chronistische Erzählen indessen als eine hermeneutische Herausforderung. Die Skaldendichtung ist in höchstem Maße situativ determiniert. In der Regel übersetzt der Skalde ein bereits im Erzähltext vorweggenommenes oder durch ihn nachträglich expliziertes Geschehen in die Sprache der kenningar und heiti. Prosaische und poetische Darstellung laufen parallel. Das lyrische Sprechen spiegelt das Erzählgeschehen in einem Modus der Verrätselung ab, überführt die Fakta (bei denen es sich freilich auch um Träume handeln kann)6 in das dro´ttkvætt und den skaldischen Thesaurus, in dessen unentwegter Erweiterung auch die poetische inventio gesucht werden muss. Von einer ›Poetologie‹ der Skaldik ist man hier also weit entfernt. Über die situative Notwendigkeit der Lyrik erfahren wir in der Regel nichts, auch wenn klar sein sollte, dass die Skaldik nicht zuletzt auch als eine Sprachhandlung aufgefasst werden muss,7 deren spezifische Signifikanz eben im Akt (und nicht im Inhalt) zu suchen wäre. Das lyrische Sprechen fände seine Begründung somit in der Handlungslogik der erzählten Welt – und dort müsste diese Begründung, wenn man sich bestimmte Handlungsfolgen einmal genauer anschaut, auch wieder aufzufinden sein. Auf der Suche nach einer strukturell schlüssigen Erklärung der Lyrisierung fällt unsere Aufmerksamkeit dabei auf die ‘Egils saga skalla-grı´msonnar’. Die Egils-Saga, entstanden zwischen 1225 und 1230, nimmt innerhalb des Genres zweifellos eine exponierte Position ein. Mit Egil Skalla-Grimsson, geboren um 910 und gestorben nicht vor 990, steht im Grunde die Präfiguration des isländischen Skalden in ihrem Zentrum. Das Interesse der Erzählung gilt gleichwohl nur sehr bedingt der poetischen Begabung Egils. Im Vordergrund steht zweifellos seine modellhafte kulturelle Identität, die sich aus dem ererbten Konflikt mit dem norwegischen Königshaus einerseits und Egils offiziellem Übertritt zum Christentum (den er – viel früher als seine isländischen Zeitgenossen – in England durch die Primtaufe vollzieht) andererseits ergibt. Das Hauptaugenmerk der Saga gilt dem Wikinger, nicht dem Skalden Egil. Sein angeborenes dichterisches Potential wird freilich thematisiert. Schon früh zeigt sich, dass Egil bra´tt ma´lugr ok orðvı´ss – ‘ein gesprächiges und wortweises Kind’ – ist.8 Im Alter von drei Jahren dichtet er seine ersten beiden Strophen, und
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Dietrich Hofmann, Sagaprosa als Partner von Skaldenstrophen, in: Mediaeval Scandinavia 11 (1978/79), S. 68–81. Vgl. Meulengracht Sørensen [Anm. 2], S. 189 f. Zentral ist die Skaldik als Medium der Traummitteilung fraglos in der ‘Gı´sla saga su´rssonar’, die ihren Protagonisten – Gı´sli – einer wiederkehrenden Traumprophezeiung aussetzt, die der Außenwelt nur über den Vers mitgeteilt werden kann. Zu dieser Perspektivierung Thomas Bredsdorff, Speech Act Theory and Saga Studies, in: Representations 100 (2007), S. 34–41. Zitation im Folgenden nach: Egils Saga Skalla-Grı´mssonar, hg. von Sigurður Nordal (I´slenzk Fornrit 2), Reykjavı´k 1988, hier S. 80.
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man feiert ihn für seine Dichtkunst. Seine besondere Sprachfähigkeit tritt allerdings alsbald völlig zugunsten der zweiten Beigabe der väterlichen Abstammung, seiner übernatürlich anmutenden Kräfte, zurück. Nur selten erinnert sich der Erzähler an Egils skaldisches Talent, im Grunde wird dieses als bekannt vorausgesetzt und ab und an durch die Einschaltung von Skaldenstrophen exemplifiziert. Eine direkte Reflexion auf die Prinzipien, die Bedeutung oder die Praxis der Dichtung fehlt dementsprechend vollkommen. ›Am Werk‹ sieht die Saga den Skalden Egil allerdings dennoch einmal, nämlich in der sogenannten Ho˛fuðlausn (‘Haupteslösung’). Zur Vergegenwärtigung: Auf seiner zweiten Fahrt nach England erleidet Egil Schiffbruch und muss in Nordimbraland an Land gehen. Dort erfährt er, dass das Gebiet mittlerweile unter der Verwaltung des ins englische Exil geflohenen Eirik Blodöx – Egils Erzfeind und Erbfolger König Haralds von Norwegen – steht. In Sorge um sein Leben sucht Egil nun in Jorvik seinen Freund Arinbjörn auf, der in Eiriks Diensten steht. Dieser rät ihm, eine mögliche Konfrontation mit Eiriks Männern um jeden Preis zu vermeiden und statt dessen in seiner Begleitung Eirik selbst aufzusuchen und ihn um Aussöhnung zu bitten. In diesem Zusammenhang kommt nun erstmals wieder die Skaldik als strategisches Vermögen Egils zum Vorschein: Nach Arinbjörns Plan soll Egil sein Leben in die Hand Eiriks geben und durch ein Loblied auf den König sein freies Geleit aushandeln. Im Gespräch mit König und Königin trifft Arinbjörn die Abmachung, dass Egil eine Nacht bleibt, um seine zwanzigstrophige dra´pa zu dichten. Diese eine Nacht, die über sein Leben entscheidet, verbringt Egil in Arinbjörns Schlafhaus. Das Vorhaben lässt sich zunächst aber nicht gut an. Als Arinbjörn sich nach Egils Vorankommen erkundigt, bekommt er die Antwort, dass bisher noch nichts gedichtet sei: hefir he´r setit svala ein við glugginn ok klakat ı´ alla no´tt, sva´ at ek hefi aldregi beðit ro´ fyrir.9 (‘Hier hat eine Schwalbe beim Fenster gesessen und die ganze Nacht gezwitschert, so dass ich niemals davor Ruhe finden konnte’.) Arinbjörn will der Sache auf den Grund gehen, er setzt sich an das besagte Fenster, an dem vormals die Schwalbe Egils Dichtung gestört hatte. Hier beobachtet er nun etwas Seltsames: hann sa´, hvar hamhleypa no˛kkur fo´r annan veg af hu´sinu.10 (‘Er sah, wie irgendeine hamhleypa das Haus auf einem anderen Weg verließ.’) Der Gast, der sich aus Egils Zimmer entfernt, ist eine hamhleypa, ein Wesen, das seine Hülle (hamr) von sich ‘springen lassen’ (hleypa) und eine neue annehmen kann. Von der Herkunft und Bedeutung dieser Figur wird gleich zu handeln sein; im Rahmen der angesprochenen Passage besitzt sie zweifelsfrei eine katalytische Funktion. Kaum hat die hamhleypa den Raum verlassen, beginnt Egil mit der Komposition und wird bis zum Morgen mit ihr fertig. Wir erfahren nichts über die Beziehungen zwischen der Schwalbe, dem Skalden, seiner Dichtung und der hamhleypa, und es liegt somit ganz beim Leser, einen sinnvollen Zusammenhang herzustellen oder es einfach bei der Abfolge der Phänomene 9 10
Ebd., S. 182 f. Ebd., S. 183.
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bewenden zu lassen. Entscheidet man sich für ersteres, so liegt es auf der Hand, dass der Schlüssel zur Deutung dieser Szene in der Erwähnung der hamhleypa zu suchen ist. Deren Fährte führt letztlich von den historischen Erzählungen in die Welt der fornaldarsögur, zu denen auch die ‘Vo˛lsunga Saga’ zählt, in der die Mutter König Siggeirs in Gestalt einer Wölfin neun Brüder Signys tötet, bis sie Sigmund im Kampf bezwingt.11 Signy bittet dort ihrerseits eine seið kona, eine ‘zauberkundige Frau’, um einen Gestaltentausch (skiptum ho˛mum), der ihr dann zur Flucht vor ihrem Gemahl, zum Inzest mit ihrem Bruder und zur Geburt des Völsungensprosses Sinfjötli verhilft.12 Auch Sigurd und Gunnar vertauschen – wie es Grimhild sie gelehrt hat – die Gestalt, um Sigurds Pferd Grani durch Brynhilds Waberlohe reiten zu lassen.13 In der Hauptsache bezieht sich das Phänomen der hamhleypa allerdings auf die Verwandlung von Menschen in Tiere.14 In den ‘Völsungen’ werden etwa Sigmund und Sinfjötli kurzzeitig in Wölfe verwandelt (nachdem sie Wolfsfelle zur Tarnung angelegt haben),15 in der ‘Ha´lfdanar saga Eysteinssonar’ verwandeln sich Valr und seine Söhne Köttr und Kisi in Flugdrachen.16 Auf dem Feld der I´slendinga sögur, deren Anspruch ein historischer ist, verliert sich die Spur der hamhleypur allmählich. Wenn sie doch einmal dort auftauchen, wie etwa in der ‘Þorskfirðinga saga’, in der sich sowohl die Gegner als auch die Verbündeten Þorirs aus Notsituationen zu retten versuchen, indem sie sich in Schweine verwandeln,17 dann geschieht dies bereits im Gestus des mythischen Zitats.18 Es handelt sich im Grunde weniger um Kulturphänomene als um narrative Strategien, um Ironisierungen, die mit der Figurentradition arbeiten, ohne ihr eine Funktionalität zuzugestehen, die über die Erzählsituation hinausreicht. Für die Szenerie, in der Arinbjörn die hamhleypa beobachtet, gilt das gleichwohl nicht. Die Erscheinung ist hier nicht vordergründig motiviert, sondern in ihrer Kontextualisierung geradezu rätselhaft. Welche Verbindung besteht zwischen Egils kreativem Prozess und der Figur? Und welche Bedeutung hat hier überhaupt das Motiv des Gestaltwandels, das im Text nicht einmal präzisiert wird? 11
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Vo˛lsunga Saga. The Icelandic Text according to MS Nks 1824 b, 4°, hg. von Kaaren Grimstad, Saarbrücken 2000, S. 90 [6v]. Ebd., S. 92 f. [7r und 7v]. Ebd., S. 172 [31v]. Mit dieser Verwandlungsform, die natürlich vor allem die berserkerhaften Transformationen in Bären und Wölfe betrifft, beschäftigt sich ausführlich Hilda R. Ellis Davidson, Shapechanging in the Old Norse sagas, in: Animals in folklore, hg. von J. R. Porter und W. M. S. Russell, Ipswich/Cambridge 1978, S. 126–142. Vo˛lsunga Saga [Anm. 11], S. 96 f. [8v und 9r]. Ha´lfdanar saga Eysteinssonar, in: Fornaldar sögur Norðurlanda IV, hg. von Guðni Jo´nsson, Reykjavı´k 1954, hier S. 284 f. Þorskfirðinga saga, in: HardÑar Saga, hg. von Þo´rhallur Vilmundarson und Bjarni Vilhja´lmsson (I´slenzk Fornrit 13), Reykjavı´k 1991, S. 200 f. und 217. Hierzu ausführlich Phil Cardew, Hamhleypur in Þorskfirðinga saga: a postclassical ironisation of myth?, in: Proceedings of the 11th International Saga Conference, hg. von Geraldine Barnes und Margaret Clunies Ross, Sydney 2000, S. 54–64.
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Man kann dieses Geschehen auf zweifache Weise auflösen. Naheliegend wäre es, Egil beim Wort zu nehmen. Die Schwalbe hat ihn beim Dichten gestört, und wenn man nun voraussetzt, dass sich hinter der Schwalbe die genannte (und doch unspezifizierte) hamhleypa verbirgt, dann übersetzt sich das Szenario wie folgt: Jemand möchte Egils Rettung verhindern, verwandelt sich in das Tier, wird von Arinbjörn gestört und flieht in anderer Gestalt. Nach der Logik der Erzählung käme hierfür nur eine Person in Frage, das ist Eiriks Frau Gunnhild, von der Arinbjörn zuvor sagt, dass sie ‘all ihr Sinnen darauf richten wird, deine Sache misslingen zu lassen’ (mun allan hug a´ leggja at spilla þı´nu ma´li).19 In der Unterredung zwischen Arinbjörn und Eirik ist sie es, die jegliche Schonung Egils – des Mörders ihres Sohnes Bard – ablehnt und betont, dass sie das Loblied nicht hören wolle (vil ek eigi heyra orð hans ok eigi sja´ hann).20 Eine Motivation wäre also gegeben, und auch die Typologie wäre durchaus stimmig: die Verwandlungskünste sind in der Hauptsache ein Metier der Frauen. Nach dieser Lesart entziffert sich diese Passage demnach als ein vereitelter Anschlag der Königin auf Egils Leben. Das macht Sinn, und die Forschung hat dementsprechend die Identität von Königin und Gestaltwandlerin nie hinterfragt.21 Dennoch gibt die Art und Weise, wie das Geschehen durch den Erzähler wiedergegeben wird, Anlass zum Zweifel. Zum einen ist es doch auffällig, dass Gunnhilds Beteiligung an dieser Szene nirgends explizit und auch später nicht wieder aufgegriffen wird. Es wäre ein Leichtes gewesen, die hamhleypa in irgendeiner Weise Gunnhild zuzuordnen oder gar für die Folgeauseinandersetzung fruchtbar zu machen. Dass der Text diesbezüglich alle Möglichkeiten ausschlägt und nicht einmal einen Hinweis auf einen Anschlagsplan Gunnhilds gibt, muss irritieren. Zum zweiten finden sich in der altnordischen Literatur keine weiteren Belege für einen solchen Störzauber. (Dementsprechend muss Nordal bei der Kommentierung dieser Stelle auch auf die christliche Patrologie ausweichen, die natürlich die Störung des Gebetes durch den Teufel kennt.)22 Hinzu kommt ein Drittes: Gunnhild mag sich zwar aufs Giftmischen verstehen;23 davon aber, dass sie in den fiolkyngi kundig sei, ist nirgends die Rede. Im Gegenteil ist derjenige, der sich auf den Umgang mit Zauberei versteht, vielmehr Egil, der seine ‘Sigrdrifuma´l’ gründlich gelesen hat und die Runenmagie beherrscht.24 Nehmen wir die drei Einwandsargumente zusammen, so scheint es nicht unredlich, noch eine andere Spur zu verfolgen, um das Rätsel dieser Passage aufzuhellen. Womöglich ist es nur bedingt sinnvoll, Egil beim Wort zu nehmen. Jene Verzögerung der Dichtung durch den Schwalbengesang dient offensichtlich nicht zuletzt dazu, den 19 20 21
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Egils Saga Skalla-Grı´mssonar [Anm. 8], S. 182. Ebd., S. 181. Kurt Schier etwa fasst die Passage in seinem Kommentar ganz unmissverständlich unter dem Titel ‘Gunnhilds Zauber’ (Egils Saga. Die Saga von Egil Skalla-Grimsson, hg. und aus dem Altisländischen übers. von Kurt Schier, München 1996, S. 283). Vgl. Egils Saga Skalla-Grı´mssonar [Anm. 8], S. 183 Anm. 1. Ebd., S. 108 f. Ebd., S. 109, 229 f.
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Genius des Skalden besonders hervorzuheben, dem die dra´pa nun nicht nur in einer einzigen Nacht, sondern sogar nur innerhalb weniger Stunden gelingt. Die Lektüre wäre demnach auf den Kopf zu stellen: Das Erscheinen der Schwalbe bewahrheitet erst den echten Skalden – und gleiches gilt entsprechend dann auch für die verwandelte Gestalt. Hinter dem unvermittelten und unzulänglich motivierten Auftauchen der hamhleypa verbirgt sich dann weniger ein stringenter Handlungsfaden als vielmehr ein Handlungsprinzip, aus dem heraus der dichterische Prozess sich erklären lässt. Es ginge dann also um ein Inspirationsgeschehen, und das, was der Herse Arinbjörn von außen beobachtet, wäre tatsächlich ein Vorgang, der die Funktionalität der Skaldendichtung innerhalb der altnordischen Literatur bestimmbar machen würde. Wird die Skaldik strukturell enggeführt mit dem Motiv der Transformation, so ergeben sich hieraus drei Deutungsmöglichkeiten: 1. In der Skaldik manifestiert sich eine Verwandlung, deren Gründe strategischer Natur sind, mit deren Hilfe man sich eben ggf. aus einer misslichen Lage befreien könnte. 2. Die Skaldik setzt einen Verwandlungsvorgang voraus. Sie ist Ausdruck eines Vermögens, das nicht von Mensch zu Mensch weitergegeben werden kann, sondern von einer Instanz verliehen wird, die sich den Menschen nur auf dem Umweg des skiptum ho˛mum nähern kann. 3. Schließlich: Die Skaldik besitzt selbst Kräfte der Verwandlung. Ihr kultureller Wert läge demnach in der Möglichkeit eines aktiven Eingreifens in bestehende – historische – Verhältnisse durch die Sprache. Für jeden dieser drei Aspekte lassen sich mit Blick auf die ‘Ho˛fuðlausn’ Argumente finden, nimmt man sich die Zeit, den Signalen des Textes zu folgen und diese in der Vorstellungswelt des 13. Jahrhunderts zu verankern. Beginnen wir beim Nächstliegenden. Fragen wir uns, wo die Praxis der Verwandlung in der ‘Egils Saga’ wirklich ihren Sitz hat, dann stoßen wir einzig und allein auf ´ lfr, der – wie sein Egils Familiengeschichte, zuvörderst auf seinen Großvater Kveld-U Name andeutet – gegen Abend sein Wesen verändert, so dass seine Zeitgenossen davon ausgingen, at hann væri mjo˛k hamrammr – ‘dass er fähig war, seine Gestalt zu verändern’.25 hamrammr bezeichnet letztlich einen Spezialfall der hamhleypa: die Verwandlung in eine Gestalt von übermenschlicher Stärke (rammr), ein Attribut, das – im Gegensatz zur hamhleypa – ausschließlich Männern zuerkannt wird. In Egils Familie vererbt sich diese Fähigkeit bekanntlich: auch Egils Vater Skalla-Grim wächst am Abend zu solch einer Stärke heran, dass er im Spiel versehentlich Egils Freund Thord tötet.26 Diese Verwandlungsvorstellung entstammt letztlich dem Bereich des bersercsgangr, und nicht von ungefähr ist das Berserkertum in der ‘Egils Saga’ in ´ lfrs Gefährte Berðlu-Ka´ri ein Berauffälligem Maße präsent. So ist bereits Kveld-U 25 26
Egils Saga Skalla-Grı´mssonar [Anm. 8], S. 4. En um kveldit eptir so´larfall, þa´ to´k þeim Agli verr at ganga; gerðisk Grimr þa´ sva´ sterkr, at hann greip Þo´rd upp ok keyrði niðr sva´ hart, at hann lamðisk allr, ok fekk hann þegar bana (ebd., S. 101).
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serker, und eine der eindrücklichsten Episoden der Saga ist zweifellos Egils Aufeinandertreffen mit dem Berserker Ljo´tr, den er im Holmgang tötet. Was hat nun das Berserkertum mit der Skaldik zu tun, und inwiefern betrifft dies nun Egils ‘Ho˛fuðlausn’? Die Verbindung zwischen Berserkern und Skalden schlägt ein Text, der sich nicht nur in Details mit der ‘Egils Saga’ des öfteren überschneidet, sondern aller Voraussicht nach auch den Autor teilt (nämlich Snorri): die ‘Heimskringla’.27 Im sechsten Kapitel der dort enthaltenen ‘Ynglinga saga’ erfahren wir, dass Skalden und Berserker zum gleichen Volk gehören, nämlich zum Hofstaat Odins, von dem es dort heißt: Mælti hann allt hendingum, sva´ sem nu´ er þat kveðit, er ska´ldskapr heitir. Hann ok hofgoðar ´ ðinn kunni sva´ gera, hans heita ljo´ðasmiðir, þvı´ at su´ ı´þro´tt ho´fsk af þeim ı´ Norðrlo˛ndum. O at ı´ orrostu urðu o´vinir hans blindir eða daufir eða o´ttafullir, en va´pn þeira bitu eigi heldr en vendir, en hans menn fo´ru brynjulausir ok va´ru galnir sem hundar eða vargar, bitu ı´ skjo˛ldu sı´na, va´ru sterkir sem birnir eða griðungar. Þeir dra´pu mannfo´lkit, en hva´rtki eldr ne´ ja´rn orti a´ þa´. Þat er kallaðr berserksgangr.28 (‘All sein [Odins] Reden war in Versen, die Weise, wie er sprach, nennt man heute Skaldenkunst. Ihn und seine Tempelpriester nannte man Liederschmiede, denn die höfische Kunst in den Nordländern stammt von ihnen. Odin vermochte es, in der Schlacht seine Feinde blind oder taub oder furchtsam werden zu lassen, und ihre Klingen waren ihm nichts mehr als Stäbe; seine Männer aber zogen aus ohne Rüstung und waren toll wie Hunde oder Wölfe, sie bissen in ihre Schilde, waren stärker als Bären oder Bullen. Sie töteten viele Männer, und weder Feuer noch Stahl konnte ihnen etwas anhaben. Das nannte man berseksgangr.’)
Besagte Verwandtschaft in Odins Gefolge – dies unser Verdacht – stiftet den eigentlichen, den strukturellen Zusammenhang zwischen Egil, der hamhleypa und der ‘Ho˛fuðlausn’. Der Skalde steht vor der übermenschlichen Aufgabe, eine ganze dra´pa in einer Nacht zu dichten. Es steht außer Frage, dass es sich hierbei um keinen ›Arbeitsprozess‹ handelt, sondern vielmehr um ein eruptives Geschehen – und der Erzähler macht aus dieser Tatsache auch keinen Hehl. Zu erwarten wäre demnach, dass die Episode in Arinbjörns Haus nichts anderes verhandelt als das Moment skaldischer Inspiration. Alle menschliche Dichtkunst, also das, was man eben ska´ldskapr nennt, kommt – wie uns die ‘Ynglinga saga’ wissen lässt – von Odin. Egil wird dieses Wissen in der ‘Ho˛fuðlausn’ selbst mehrfach aufrufen; so beginnt er die dra´pa mit den Versen: Vestr fo´rk of ver, en ek Viðris ber munstrandar mar, sva´’s mitt of far; dro´k eik a´ flot við ı´sa brot,
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Zum Verhältnis von ‘Egils Saga’ und ‘Heimskringla’ vgl. Melissa A. Berman, Egils saga and Heimskringla, in: Scandinavian Studies 54 (1982), S. 21–50. Snorri Sturluson, Heimskringla, hg. von Bjarni AdÑalbjarnarson, Bd. I. (I´slenzk Fornrit 26), Reykjavı´k 42002, S. 17.
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hlo´ðk mærðar hlut mı´ns knarrar skut. Buðumk hilmir lo˛ð, þar a´k hro´ðrar kvo˛ð, ´ ðins mjo˛ð berk O a´ Engla bjo˛ð; lofat vı´sa vann, vı´st mærik þann; hljo´ðs biðjum hann, þvı´ at hro´ðr of fann29
und unterstreicht gegen Ende, in der vorletzten Strophe, die Herkunft seiner Worte nochmals mit folgender Strophe: Jo˛furr hyggi at, hve´ ek yrkja fat, go´tt þykkjumk þat, es ek þo˛gn of gat; hrœrðak munni af munar grunni ´ ðins ægi O jo˛ru fægi.30
Durchgängig erscheint die Dichtung als Viðris munstrandar mar (‘Vidrirs Sinnstrand´ ðins mjo˛ð (‘Odins Met’) oder auch O ´ ðins ægi (‘Odins Meerflut’). Der Skalde, See’), O der dem König sein Lied vermacht, hinterlässt darin immer auch den Nachweis seiner wahren Abkunft – die ihn als einen Menschen kennzeichnet, der, hätte er sich nicht für den Moment dem König unterstellt, grundsätzlich zu fürchten wäre. Denn auch die Berserker, die toll wie Hunde oder Wölfe werden und dann in ihre Schilde beißen (wie das dann im übrigen auch von Ljo´tr berichtet wird),31 sind eben ´ ðinns menn. Egils Handeln steht somit in doppelter Beziehung unter göttlichem O Einfluss, und die Frage stellt sich, ob der Skalde nicht gerade deswegen auf dem Wege des Berserkers zu seiner Dichtung gelangt. Dort, wo seine Vorfahren am Abend zu Wölfen werden und ungeahnte Kräfte entwickeln, dort entfaltet Egil sein ungeheures poetisches Potential ebenfalls aus einer nächtlichen Verwandlung heraus. Die Skaldik verbindet sich in dieser Perspektive unmittelbar mit der Sphäre des Kampfes und der
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Egils Saga Skalla-Grı´mssonar [Anm. 8], S. 185 f. (‘Nach Westen fuhr ich / und trug von dort Vidrirs / Sinnstrand-See, / so steht es mit meiner Fahrt; / zog das Fährboot zur Flotte [ins Wasser] / als das Eis brach, / belud mit der Fracht des Liedes / das Heck meines Knörrs. // Zum Gast der Herrscher mich lud, / dort sprach ich ihm zum Ruhme, / bringe Odins Met / in der Angeln Land; / verrichtete das Lob des Fürsten, / gewiss will ich ihn rühmen; / um Gehör bitte ich ihn, / da ich zum Ruhm [ihm etwas] fand.’). Ebd., S. 192 (‘Der Fürst merke darauf, / wie ich dichtete, / gut scheint mir das, / dass ich Schweigen [also Gehör] bekam; / mit dem Mund bewegte ich / vom Grund des Sinnes / Odins Meer / für den Schmuck der Schlacht [Eirik].’). Ebd., S. 202: Ok er hann gekk fram a´ vo˛llinn at ho´lmstaðnum, þa´ kom a´ hann berserksgangr, to´k hann þa´ at grenja illiliga ok beit ı´ skjo˛ld sinn.
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Schlacht. Sie selbst ist – in der Inszenierung der Saga – Kriegswerkzeug, das über Leben und Tod befindet, kein Beiwerk, sondern ein Sprechen, das sich am äußersten Rande menschlicher Kulturalität erhebt. Vergegenwärtigen wir uns, dass die ‘Ho˛fuðlausn’ das erste der zwei in den Prosatext integrierten großen Sprachmonumente darstellt, die nicht nur als Ausweis der poetischen Ausnahmestellung Egils, sondern überhaupt als dessen ›Authentifikanten‹ fungieren sollen, so kann die Signifikanz dieser strukturellen Beobachtung nicht hoch genug eingeschätzt werden. Wenn sich in der Figur Egil Berserkertum und Skaldik überschneiden und analog funktionalisiert werden, dann wurzelt die altnordische Poesie nach Konstruktion des Saga-Erzählers in der Überführung des sprachlosen Bundes von Gott und Mensch im Berserkertum in Sprachkunst. Nun geht sich das nicht so einfach aus, denn wiewohl die hamhleypa jetzt über eine durchaus weitreichende strukturelle Begründung verfügt, so ist sie auf der Handlungsebene immer noch nicht wirklich erschlossen. Sie ist keineswegs nur Motiv, sondern in das Geschehen in Arinbjörns Schlafhaus offensichtlich involviert. Wenn die Skaldik – wie gezeigt und durch Egil bestätigt – wirklich ein Göttergesang ist, der sich in die Brust des Skalden senkt und ihn übermannt, dann sollte das hier zu sehen sein. Wie kommt Egil nun zu seiner dra´pa? Erneut hilft uns ein Blick auf die ‘Ynglinga saga’ weiter. In deren Perspektive sind göttlicher Gesang und göttliche Verwandlungskunst enggeführt; so heißt es dort: En þat bar till þess, at hann kunni þær iþro´ttir, at hann skipti litum ok likjum a´ hverja lund, er hann vildi. O ˛ nnur var su´, at hann talaði sva´ snjallt ok sle´tt, at o˛llum, er a´ heyrðu, þo´tti þat eina satt.32 (‘Man erzählte sich, dass er [Odin] sich auf derlei Künste verstand, dass er sich verwandeln und in jeder Gestalt erscheinen konnte, die er annehmen wollte. Und man sagte auch, dass er so ebenmäßig und geschickt reden konnte, dass alle, die ihn hörten, das, was er sagte, für wahr nahmen.’)
Diese Fähigkeit, die eben in der skaldischen Rede besteht, unterhält offensichtlich enge Verbindungen zum Gestaltenwandel des Sprechers, von denen es wenig später dann präziser heißt: ´ ðinn skipti ho˛mum. La´ þa´ bu´krinn sem sofinn eða dauðr, en hann var þa´ fugl eða dy´r, fiskr O eða ormr ok fo´r a´ einni svipstund a´ fjarlæg lo˛nd at sı´num ørendum eða annarra manna.33 (‘Odin pflegte seine Gestalt zu wechseln. Dann schien sein Leib, als ob er schliefe oder tot wäre, und dann wurde er ein Vogel oder eine Bestie, ein Fisch oder ein Drache und begab sich in einem Augenblick in abgelegene Länder, um seiner oder anderer Männer Sache zu walten.’)
Odin sorgt für seine Leute, und zwar ebenfalls durch das Prinzip des skipta ho˛mum. Denen, die ihn brauchen, erscheint er in jeder Gestalt – auch als Vogel. Mehr als dies: Verwandlung und Gesang sind offensichtlich zwei Seiten derselben Medaille. Die Überkreuzung beider Künste in der Manipulation der Wirklichkeit gewährleistet 32 33
Snorri Sturluson, Heimskringla, Bd. I [Anm. 28], S. 17. Ebd., S. 18.
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Odin die erfolgreiche Durchführung der Pläne, die er mit den Seinen hat. Dies fügt sich nun auch zum Bild, das wir von der Entstehung der ‘Ho˛fuðlausn’ bekommen. Aus dem vereitelten Anschlagsplan einer Königin wird mit einem Mal ein Akt göttlicher Hilfeleistung. Hinter jener Schwalbe, deren Gesang Egil angeblich vom Dichten abhält, kommt der Vater der Berserker und Skalden zum Vorschein, der seinem Schützling sein Lied eingibt und ihn dann wieder, in anderer Gestalt, verlässt. Akzeptieren wir diesen alternativen Erklärungsversuch der Szene, dann ließe sich zum grundsätzlichen Charakter der Skaldik resp. zur kulturellen Verortung, die das 13. Jahrhundert an ihr vornimmt, Wesentliches festhalten. Im besonderen Maße betrifft dies die Trennung von mythologischem und historischem Erzählen, die Snorri, wie Baldur Hafstad das ausführlich gezeigt hat, immer wieder geschickt unterläuft, indem er etwa Kernsätze aus den ‘Ha´vama´l’ zitiert und sie für die Handlungsprinzipien seiner Protagonisten fruchtbar macht.34 In der unvermittelten Erscheinung der hamhleypa wird diese verdeckte Integration für einen kurzen Moment öffentlich – und lässt hierbei das poetische Sprechen als den mythischen Untergrund des Erzählens sichtbar werden. Dies führt unweigerlich zu einem weiteren Schluss. Wenn wir die ‘Ho˛fuðlausn’ als den inszenierten Einbruch einer göttlichen Gewalt in das historische Erzählen begreifen, dann kann dies letztlich nur bedeuten, dass sich hier in der Geschichte etwas vollzieht, was außerhalb historischer Gesetzmäßigkeiten liegt. Und so ist es dann auch: Der Skalde verwandelt sich, er empfängt seine Verse aus der Verwandlung – und er verwandelt die historische Wirklichkeit selbst durch seine Dichtung hindurch. Wo Odins Gestalt ›wie tot‹ darniederliegt, während er in fremder Gestalt fortwirkt, dort macht auch der Gesang des Skalden das Tote wieder lebendig.35 Eben diese Aufgabe misst die Saga der Dichtung zu. Um die ‘Ho˛fuðlausn’ arrangiert sie ein Geschehen, das der Skaldik selbst die Funktion einer historischen Transformation zukommen lässt. In seiner dra´pa verlängert Egil zum einen das Andenken des Eirik Blodöx, und gibt ihm damit das zurück, was er ihm in seinem Sohn genommen hat.36 Zum anderen ›löst‹ er eben damit sein eigenes ›Haupt‹ aus, das sich in der Gewalt Eiriks und damit im Grunde sich bereits ›im Tode‹ befindet. In der Skaldik erhält sich die altnordische Prosaliteratur somit eine Rede, die nicht nur hinter sie zurückreicht und das Subjekt hinter der Erzählung zum Sprechen bringt, sondern durch die sich auch eine Verwandlung des Geschehens vollzieht. Der Vers doppelt das Erzählte, er scheint an der Oberfläche nichts weiter zu sein als ein decorum. Für den Saga-Schriftsteller des 13. Jahrhunderts verbirgt sich in der Dich34
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Vgl. Baldur Hafstad, Die Egils Saga und ihr Verhältnis zu anderen Werken des nordischen Mittelalters, Reykjavı´k 1995, S. 93–134. Die strategische Bedeutung der Skaldik in der ‘Egils Saga’ akzentuiert Laurence de Looze, Poet, Poem and Poetic Process in Egils Saga Skalla-Grı´mssonar, in: Arkiv för Nordisk Filologi 104 (1989), S. 123–142. Gleiches gilt dann auch für ‘Sonatorrek’, die zweite große Dichtung, mit der Egil seinen toten Söhnen ein Monument setzt und damit im Gedicht auch die eigene Erinnerung befestigt, die mit dem Verlust der Blutlinie auf dem Spiel steht.
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tung jedoch zugleich das verschüttete Prinzip eines ›wirksamen Sprechens‹, in welchem die Historie nicht nur gespiegelt, sondern auch gewandelt werden kann. Die Agenten dieses Wandels sind dabei Gestalten des Wandels, die Söhne des Vaters aller Verwandlungskünstler: der Berserker und der Skalde. Die Wunden, die der Berserker schlägt, vermag der Skalde zu heilen, und wen der Berserker tötet, der lebt fort im Gesang des Skalden. Egil ist beides – gut trifft sich das.
Zur Genese eines Herrscher-Mythos am Beispiel des serbischen Fürsten Lazar von Slavica Stevanovic´
Die osmanische Expansion feiert bereits um die Mitte des 14. Jahrhunderts ihren ersten Erfolg auf dem europäischen Kontinent – die Eroberung von Gallipoli im Jahr 1354; es folgt die Einnahme von Adrianopel (Edirne), das 1362 neuer Sultansitz wird; 1371 werden die vereinigten Heere der Balkanstaaten Bulgarien, Serbien, Bosnien und Ungarn in der Schlacht bei Marica (Bulgarien) geschlagen; danach fällt Makedonien den türkischen Siegern zu, 1382 fällt Sofia, 1386 Nisˇ (Serbien), 1393 ist schon ganz Bulgarien erobert. So kommt es in diesem Teil Europas bereits ab dem 14. Jahrhundert zu ersten konkreten Erfahrungen der Unterworfenen mit den türkischen Usurpatoren. Vereinzelte Berichte vom Schrecken der türkischen Expansion verbreiten sich zwar auch im übrigen Europa, zu einer wirklichen Verfestigung einer Türkenfurcht im kollektiven Bewusstsein der lateinischen1 Christenheit kommt es aber erst nach dem Vormarsch der Osmanen auf Konstantinopel um die Mitte des 15. Jahrhunderts und besonders nach ihrem ersten Siegeszug bis vor Wien (1529). Ihren Niederschlag findet diese Furcht auch in Deutschland in der umfangreichen ›Türkenliteratur‹2 (Türkenkalendern, Flugschriften, Traktaten, Türkenliedern, Chroniken u. v. m.). Den meisten dieser frühen Quellen ist ein generalisierend negativ gefärbtes Türkenbild und entsprechend eine überwiegend positive Charakterisierung der Christen gemeinsam. Eine Rückbesinnung auf die Einheit stiftende Kraft des Christentums und des Opfers Christi3 ist in diesen Schriften nicht zu übersehen: Zur Verteidigung gegen die Türken wird ein innerchristlicher Zusammenhalt4 beschworen, und die Türken wer1
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Nach der konfessionellen Aufteilung Europas im 11. Jh. zieht sich mitten über die Balkanhalbinsel die Grenze zwischen der (byzantinisch/griechisch geprägten) orthodoxen und der lateinischen Christenheit (katholische und später protestantische Kirchen), die bis ins späte Mittelalter am Latein als Kirchensprache festhalten. Der Balkan bleibt bis heute auch in kultureller Hinsicht eine Art ›Limeszone‹, wo der Übergang zwischen der westlichen und den östlichen (orthodoxen und muslimischen) Konfessionen verläuft. Diese Grenze betrifft nicht nur die Konfession, sondern auch die Schrift, denn die orthodoxen Slaven behalten bis heute das Kyrillische als ihre Schrift, während die katholischen und protestantischen Slaven die lateinische Schrift übernehmen. Vgl. auch Christiane Ackermann, Dimensionen der Medialität: Die Osmanen im Rosenplütschen ‘Turken Vasnachtspil’ sowie in den Dramen des Hans Sachs und Jakob Ayrer, in: Fastnachtspiele. Weltliches Schauspiel in literarischen und kulturellen Kontexten, hg. von Klaus Ridder, Tübingen 2009, S. 189–220. Vgl. exemplarisch Hans Sachs, ‘Türkische tyranney’: O unser hyrte, Jhesu Christ, / Der du gnedig barmhertzig bist, / [. . .] Errett uns aus des Thürcken hendt! Zitiert nach: Hans Sachs, hg. von Adelbert von Keller und Edmund Goetze, Bd. XXIV, Tübingen 1900, S. 23. Vgl. Balthasar Mandelreiß, ‘Türkenschrei’, 14,2: ach kristenheit, las dich erwecken [. . .]. Zi-
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den als die Andersartigen, die Fremden, als grausame Feinde stilisiert.5 Ein solches Türkenbild wird in einem Lande gezeichnet, das bis dahin keinen direkten Kontakt mit den Türken hatte, noch weniger von eigenen negativen Erfahrungen mit einer Türkenherrschaft berichten konnte; mit entsprechender Vehemenz erwacht schon hier, angesichts einer möglichen Fremdbedrohung, ein neues christliches Einheitsbewusstsein. Dieser Beitrag geht der Frage nach, wie man in anderen Ländern, die das Joch der Fremdherrschaft leidvoll zu spüren bekamen, auf die gegnerische Seite reagiert hat. Er vergegenwärtigt am Beispiel einiger wichtiger Texte des serbischen Mittelalters die historische Wende der Schlacht auf dem Amselfeld (Kosovo) im Jahr 1389. Zugleich aber versucht er zu zeigen, dass und auf welchen Wegen gerade die Situation extremer Not die Idee einer gemeinsamen Identität hervorgebracht hat.6 Es geht um das Bild des serbischen Fürsten Lazar,7 dessen Name sich im allgemeinen Bewusstsein mit dem Anfang der Türkenherrschaft über die Serben verbindet.8
I. Der historische Kontext Fürst Lazar war der erste Herrscher des serbischen mittelalterlichen Reiches, der im ausgehenden 14. Jahrhundert an die Macht kam, ohne der erbcharismatischen9 Adelsfamilie der Nemanjiden zu entstammen, einer Familie, die seit ihrem Ahnherrn Stefan Nemanja im 12. Jahrhundert allein das Recht hatte, die weltlichen und geistlichen Herrscher in Serbien zu stellen. Entsprechend schwer lastete die Bürde des Erbes seiner berühmten Vorgänger auf ihm. Von besonderer Tragweite war seine Niederlage gegen die Türken, die es ihm unmöglich machte, die Unterwerfung seiner Länder zu verhindern. Gleichwohl galt Lazar der Nachwelt als der mittelalterliche Herrscher schlechthin, und er erfährt in Serbien bis heute rückhaltlose Verehrung. Sie geht so weit, dass er sogar in einem Atemzug mit dem heiligen Sava10 genannt wird, der nicht weniger ist als der Begründer der serbischen Orthodoxie zu Beginn des 13. Jahrhunderts. Dass Fürst Lazar als erster Nichtnemanjide eine breite Anerkennung sowohl
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tiert nach: Thomas Cramer, Die kleineren Liederdichter des 14. und 15. Jahrhunderts, Bd. 2, München 1979, S. 278. Vgl. Balthasar Mandelreiß, ebd., 13,2–3: ein Türck der sei lank und preit / und hat ein pöß grausam gestalt; Sachs, ‘Türkische tyranney’ [Anm. 3]: der thürckisch wütend thyran [. . .] Ellendt ermort junckfrawen und frawen, / die kindt mitten entzwey gehawen, / Zertreten und entzwey gerissen, / An spitzig pfäl thet er sie spissen. Im vorgegebenen Rahmen muss ebenso auf eine kritische Auseinandersetzung mit der aktuellen Theoriedebatte wie auf die Einbeziehung entsprechender Texte mit Kreuzzugsthematik verzichtet werden. Priorität hat die Präsentation serbischer Primärtexte für eine deutschsprachige Leserschaft. Lazar Hrebljanovic´, geboren um 1329 in Prilepac, Kosovo, gestorben am 28. Juni 1389 in der Schlacht auf dem Kosovo polje (dt. ‘Amselfeld’). Vgl. auch Jelka RedÑep, Kosovska legenda, Novi Sad 2007, S. 111. Terminologie nach Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Studienausgabe, hg. von Johannes Winckelmann, Köln/Berlin 1956, S. 183 f. Auch er ist ein Nemanjide.
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seitens des Klerus als auch des Volkes gefunden hat, verdankt er – so besagt es jedenfalls die Überlieferung – einer Entscheidung, die auf die Niederlage in der Schlacht auf dem Amselfeld, den Verlust seines Lebens und die fast völlige Vernichtung seines Heeres11 hinauslief. Lazars Beliebtheit wuchs nach seinem Tode derart an, dass ihm im Volk der Zarentitel zuerkannt wurde; sogar eine Reihe sog. epischer Heldenlieder schmückt ihn mit dem Titel ›Zar‹. Diese Popularität wiederum war es, die zu einer frühen Heiligsprechung (bald nach seinem Tode) seitens der serbischen orthodoxen Kirche führte; der Titel ›Heiliger Märtyrer Prinz Lazar‹ als verbale Manifestation der Heiligsprechung in der orthodoxen Kirche basierte auf der Verehrung durch das Volk. Lazars Nähe zur Kirche erklärt sich u. a. damit, dass er im Jahr 1375 in Konstantinopel die Aussöhnung der serbischen orthodoxen Kirche mit der byzantinischen ›MutterKirche‹ und die Aufhebung des Kirchenbanns erwirken konnte und dass er einige Klöster gegründet und für ihren Unterhalt gesorgt hat. Doch würden diese Verdienste Lazars allein nicht ausreichen, aus ihm eine mythische Figur werden zu lassen, wie sie bis heute in Serbien in Erinnerung geblieben ist. Wenn Fürst Lazar in der serbischen Literatur seit dem Ende des 14. Jahrhunderts als charismatisch-wirkungsmächtige Figur, als eine der meistgelobten und -gefeierten Persönlichkeiten des serbischen Mittelalters gehandelt wird, dann bedeutet dies, dass sich sein Bild aus den historischen Bedingtheiten gelöst und tiefgreifend gewandelt hat. Sein Bild muss auf einer zeitlos verbindlichen Grundlage verklärt worden sein, um nachhaltig für die Nachkommenschaft ›wegweisend‹ zu werden. Auch der Weg, auf welchem der Kult um Lazar sich ausbreitete, wäre von Interesse, denn mit der Ausbreitung der osmanischen Macht geht nicht nur die weltliche Herrschaft der Serben allmählich zu Ende, sondern auch die bis dahin an den Höfen gepflegte Schriftlichkeit: Die serbische Gesellschaft wird im Grunde genommen auf die Stufe oraler Gesellschaften zurückversetzt; die Skripturalität reduziert sich fast ausschließlich auf die Kirche und die Klöster, die als einzige schrift- und traditionswahrende Institutionen im zerfallenden Serbien noch übrig waren; das Volk bleibt für Jahrhunderte des Lesens und Schreibens unkundig. Somit stellt sich die Frage, auf welchem Wege der Mythos eines charismatischen Herrschers dem Volk so nahe gebracht wurde, dass es ihn als Retter und als Ikone12 anbetete? Wie kann man sich den Vorgang vorstellen, dass jemand, der streng genommen das Unglück des Volkes zu verantworten hat, zu jemandem wird, an den sich die Hoffnung auf ein besseres Leben knüpft, zu dem man betet, um von der Gegenwart erlöst zu werden? Diesen Fragen möche ich nachgehen, indem ich zunächst das kirchliche Schrifttum und dann die entsprechenden Passagen in den Volksliedern vorstelle.
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Dies war nahezu gleichbedeutend mit der Vernichtung des serbischen Adels. Ikone ist hier im ursprünglichen Sinne des Wortes zu verstehen. – Die Bildlichkeit in Form von Ikonen, die die Wände der Klöster und Kirchen schmücken, ist für die Orthodoxie typisch.
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II. Die Figur Lazars in der Literatur für Geistliche und Gebildete13 Als Entstehungsorte für die liturgischen14 und hagiographischen Werke über den Fürsten Lazar vermutet man die zahlreichen Klöster – allen voran Ravanica, Lazars Stiftskloster. Auf diese Literatur scheinen die soteriologischen Elemente, die man mit dem Namen Lazars verbindet, zurückzugehen und von da aus ihre Ausbreitung in die epischen Volkslieder gefunden zu haben.15 Fürst Lazar und die Kosovokrieger werden hier mit den christlichen Märtyrern gleichgestellt, der Fürst in Analogie zu Jesus Christus betrachtet: Er opfert sein Leben – nicht nur für die Verteidigung der Freiheit des serbischen Volkes, also allein aus patriotischem Impuls, sondern in erster Linie für die Verteidigung des Christentums. Als charismatischem Herrscher gelingt es ihm, sein ganzes Heer für den aussichtslosen Kampf um die Rettung des heiligen Kreuzes zu motivieren – dies mit einer ermutigenden Rede, wie sie etwa in Danilos ‘(Lobes-)Wort’ bezeugt ist: Wenn Schwert und Wunden, wenn die Düsternis des Todes uns ereilt, so lasst sie uns bereitwillig für Christus und für die Ehre unseres Vaterlandes empfangen. Besser ist uns ein tapferer Tod als ein Leben in Schande.16
Bei Danilo wird die Aufopferung für Jesus Christus und für das ewige Leben hervorgehoben. Ähnlich den Abschiedsworten Jesu an seine Jünger spricht Lazar in friedlichem, ermutigendem Ton zu seinen Mitstreitern: Viel haben wir für diese Welt gelebt, lasst uns jetzt durch die heldenhafte Hinnahme des Martyriums das ewige Leben im Himmel erlangen und uns Soldaten Christi, Märtyrer in Ehren, nennen, damit wir unsere Namen in das Buch des Lebens eintragen können. Lasst uns unsere Körper nicht schonen in der Schlacht, damit wir die glanzvollen Ruhmeskränze empfangen können von dem, der über alles richtet. Die Qualen gebären den Ruhm, und die heroischen Taten führen zur ewigen Ruhe. [. . .] Und diese so mit seinen Worten zurüstend, bereitete er die Märtyrer für den bevorstehenden Heldengang.17
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Hierzu zähle ich etwa: ‘Die Vita des heiligen Fürsten Lazar’ (aus der Feder eines unbekannten Mönchs aus Ravanica, ‘Povesno slovo o knezu Lazaru’, gegen 1392–98); ‘(Lobes-)Wort an den Fürsten Lazar’ (‘Slovo o knezu Lazaru’, gegen 1392–93) des Erzbischofs Danilo III. und unter gleichem Titel eines weiteren unbekannten Mönchs aus Ravanica (zweite Hälfte des 14. Jh.s); ‘Lobgesang auf den Fürsten Lazar’ der Despotin Jelena, späterer Nonne Jefimija (zu deutsch Euphemia) (‘Pohvala knezu Lazaru’, um 1402); ‘Der ehrwürdige Fürst Lazar’ (‘Blagocˇastivi knez Lazar’, um 1402) des David, die liturgischen Lieder, aber auch die ‘Inschrift auf der Marmorstele von Kosovo’ (‘Recˇi na stubu mramornu na Kosovu’) des Despoten Stefan Lazarevic´, des Sohnes Lazars, nach 1402. All diese Texte sind vermutlich vor den epischen Gedichten des Kosovo-Zyklus entstanden. Die liturgischen Lieder werden wohl bereits ab 1390 in den Gottesdienst für den Fürsten Lazar integriert und mitgesungen, vgl. Kosovski boj u srpskoj knjizˇevnosti, hg. von Vojislav Ðuric´, Beograd 1990, S. 276 f. Vgl. auch ÐordÑe Sp. Radojicˇic´, Pocˇetak Kosovske legende, in: Knjizˇevna zbivanja i stvaranje kod Srba u srednjem veku i u tursko doba, Novi Sad 1967, S. 214. ‘(Lobes-)Wort an den Fürsten Lazar’, in: Ðuric´ [Anm. 14], S. 265. – Die Übersetzungen dieses und der folgenden serbischen Texte (ausgenommen der epischen Heldenlieder) von mir, S. St. Ebd., S. 265.
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Aus diesen Worten spricht die feste eschatologische Zuversicht in die künftige Erlösung, wenn Jesus erneut kommen wird, um über die Lebenden und die Toten zu richten. Zu solcher Art Hoffnung ermutigt der literarische Lazar die Menschen, weil sie genau das ist, was sie in schweren Zeiten brauchen. Er besitzt offensichtlich große Gewandtheit im Ausdruck, sein Führungsstil profitiert von einer gekonnten Rhetorik, getragen von der häufigen Bezugnahme auf Christus und das ewige Leben, welches auf den bevorstehenden Märtyrertod folgen werde. Die Aufforderung, lieber im Kampf zu sterben, als dem Christentum zu entsagen (denn der Sieg der Türken drohte eine potentielle Islamisierung mit sich zu bringen), ist im obigen Textausschnitt klar ausgedrückt; sie begegnet aber auch im liturgischen Lied eines unbekannten Mönchs aus dem Kloster Ravanica: [. . .] gegen die Türkenscharen hast du dich erhoben, weil du nicht ertragen konntest, dass die Gebetshäuser und heiligen Tempel in Brand gesetzt werden; deswegen wolltest du lieber für ihre Rettung sterben und dein Leben opfern. Auch hast du ertragen, dass dir der Kopf abgeschlagen wurde, und jubeltest: »Ehre sei deiner Macht, o Gott!« »[. . .] mein Blut soll fließen aus Liebe zu Christus, denn lieber liege ich am Boden in der Obhut meines Gottes, als dass ich im Vergänglichen noch lebe.«18
Man darf dabei freilich nicht außer Acht lassen, dass die oben zitierte Rede Lazars der Feder eines Erzbischofs entstammt, dem Vorbild und Lehre Jesu Christi am Herzen lagen. Entsprechend viele biblische Reminiszenzen sind in die Texte über Lazar eingeflossen. Ebenso sind andere maßgebliche Texte über Lazar von Mönchen oder Nonnen verfasst worden – ein Indiz mehr dafür, dass es die serbisch-orthodoxe Kirche war, die die wichtigsten Anstöße für eine Mythisierung Lazars gegeben hat. Die Mitstreiter des Fürsten verstehen seine Botschaft und antworten ihm nach seiner ermutigenden Rede in ähnlichem Sinne, um zu unterstreichen, dass Fürst Lazars Entscheidung für das himmlische Reich zugleich auch die einhellige Entscheidung seiner Krieger ist: Sie nehmen den Tod und das Martyrium freiwillig auf sich, aus Liebe zu Christus, ähnlich wie auch die Märtyrer der frühen christlichen Kirche: Gib uns den Tod, damit wir ewig leben können. Opfern wir unser Leben für Gott [. . .], schonen wir nicht unser Leben, damit wir dadurch für andere zum lebhaften Beispiel werden. Fürchten wir uns nicht vor einer Angst, die uns überkommt, oder vor dem Überfall der teuflischen Feinde. Wenn wir wirklich an die Angst und an den Verlust denken würden, wären wir des Guten nicht mehr würdig. [. . .] Wir werden mit den Ismailiten [Türken] kämpfen. Wenn auch das Schwert den Kopf, die Lanze die Rippen und der Tod unser Leben bedrohen, werden wir mit den Feinden kämpfen. Wir, Freunde und Mitstreiter, übernehmen von den vormaligen Kämpfern, die bereits bei Christus sind, ihre Bürde, damit wir durch Christus zum Ruhm gelangen. [. . .] Und ein Grab soll uns allen gemeinsam sein, und ein Feld soll unsere Körper und Gebeine in sich aufnehmen, damit der Garten Eden uns glorreich empfängt.19
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Viertes liturgisches Lied, Textstelle übersetzt nach: Projekat Rastko, ‘Srpski srednjovekovni spisi o Kosovu’ (‘Serbische mittelalterliche Schriften zu Kosovo’): http://www.rastko.org.yu/ istorija/spisi o kosovu.html, letzter Zugriff am 01.03.2009. ‘(Lobes-)Wort an den Fürsten Lazar’, in: Ðuric´ [Anm. 14], S. 266.
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»Gib uns den Tod, damit wir ewig leben können« – das entspricht sinngemäß der Aufforderung, die laut Danilo (s. o.) Lazar zuvor an sie gerichtet hatte: »Lasst uns jetzt durch die heldenhafte Hinnahme des Martyriums das ewige Leben im Himmel erlangen«; dies erinnert an den Leitgedanken christlicher Märtyrer, wie er schon im Neuen Testament anklingt: [. . .] wenn wir denn mit ihm leiden, damit wir auch mit zur Herrlichkeit erhoben werden. Denn ich bin überzeugt, daß dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. (Röm 8,17 f.)20
oder: Darum dulde ich alles um der Auserwählten willen, damit auch sie die Seligkeit erlangen in Christus Jesus mit ewiger Herrlichkeit. Das ist gewiss wahr: Sterben wir mit, so werden wir mit leben; dulden wir, so werden wir mit herrschen; verleugnen wir, so wird er uns verleugnen. (2. Tim 2,10–12)
Durch die Hinnahme des Martyriums und des Todes gaben Fürst Lazar und seine Krieger dem Geistigen die Priorität über das Körperliche (Irdische) und dem Ewigen über das Vergängliche. Ihre Entscheidung ist im Einklang mit der Wahl christlicher Märtyrer, für die Christi Mahnung wortwörtlich gegolten hatte: Denn wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden. (Mt 16,25)
In der geistlichen Literatur kommt vielerorts die moralische Vorbildhaftigkeit Lazars zum Ausdruck. Es werden viele nachahmenswerte Tugenden genannt, die seine Person kennzeichnen, er wird stets mit Eigenschaften wie ›ehrenhaft‹, ›gerecht‹, ›sanftmütig‹, ›barmherzig‹, ›mitfühlend‹, ›gütig‹, ›huldreich‹, als ein ›wunderbarer Mensch und heiliger Fürst‹ bezeichnet: moralisch vorbildlich, tugendhaft, in strengstem Sinne religiös – charismatisch.21 Sein Charisma wird Lazar jedoch eindeutig erst nach seinem Tod zugeschrieben – mit nachhaltigen Folgen. Mit der positiven Darstellung Lazars in der ›Klosterliteratur‹ geht die negative Darstellung seiner Gegner einher, vor allem in ihrer Benennung. ›Widersacher‹, ›Gottesleugner‹, ›Schlange‹, ›Höllenfürst‹ – solche Begriffe treten sehr früh (bereits ab 1392) in der serbischen religiösen Literatur auf. Die Möglichkeit einer Identitätsstiftung durch Lazar ließ mythische Gegenbilder entstehen: In der ‘Vita des Fürsten Lazar’ erscheint der Anführer der Türken wie ein als »Wildtier brüllender Löwe«,22 20
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Diese und folgende Bibelreferenzen nach: Die Bibel. Lutherbibel, Standardausgabe mit Apokryphen, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 1985. Vgl. Weber [Anm. 9], S. 182: »Das Charisma ist die große revolutionäre Macht in traditional gebundenen Epochen. Zum Unterschied von der ebenfalls revolutionierenden Macht der ›ratio‹, die entweder geradezu von außen her wirkt: durch Veränderung der Lebensumstände und Lebensprobleme [. . .] kann Charisma eine Umformung von innen her sein, die [. . .] eine Wandlung der zentralen Gesinnungs- und Tatenrichtung unter völliger Neuorientierung aller Einstellungen zu allen einzelnen Lebensformen und zur ›Welt‹ überhaupt bedeutet. In vorrationalistischen Epochen teilen Tradition und Charisma nahezu die Gesamtheit der Orientierungsrichtungen des Handelns unter sich auf.« Ðuric´ [Anm. 14], S. 269.
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bei der Despotin Jelena (späteren Nonne Euphemia) als »Schlange und Feind göttlicher Kirchen«,23 bei Stefan Lazarevic´, Lazars Sohn, als »wildes Tier«, »Drache« und »Schlangennachkomme«, als »Widersacher« und »unersättlicher allesverschlingender Hades«.24 Über Metaphern, die in der christlich-religiösen Literatur gewöhnlich dem Satan gelten, wird so auch der Sultan Murat dem Satan gleichgesetzt. Die mittelalterliche Schlacht um das Kosovo wird folgerichtig zum Krieg zwischen Gut und Böse stilisiert: heiliges Kreuz und heiliges Martyrium auf der einen, Schlange, Wildtier, Drache, Teufel, Herrscher des Hades auf der anderen Seite. Es wird suggeriert, die Schlacht zwischen den Serben und Türken sei eigentlich die zeitliche Entsprechung der apokalyptischen Schlacht zwischen Gott und seinem Widersacher Satan. Man hörte ein Krachen und ein unbeschreibliches donnerndes Lärmen, die Menschen jaulten, die Pferde wieherten, die Waffen klirrten, die Pfeile flogen umher, die Sonne verdunkelnd, Feuerdonner grollten, die Erde stöhnte laut, die Luft dröhnte und umhüllte alles wie ein dunkler Nebel, [. . .], Blut floss in alle Richtungen, überall lagen Leichen [. . .].25
Dieses erschütternde Bild der Schlacht, wie es der unbekannte Mönch aus Ravanica im ‘(Lobes-)Wort’ zeichnet, beschreibt in der Tat eine fast endzeitliche Atmosphäre.26 In einer schauderhaften Schlacht lassen Lazar und seine Leute ihr Leben für das ehrwürdige Kreuz und für den Glauben. Der Überlieferung zufolge war es Lazar nicht beschieden, im Kampf eines heroischen Todes zu sterben; er wurde gefangen genommen und enthauptet. So beschreibt ein unbekannter Mönch aus Ravanica in Lazars kurzer ‘Vita’ dessen Tod: Dieser wunderbare Mann, der heilige Fürst Lazar, wurde von einer großen Menge von Agarenen [Türken] umzingelt und festgenommen, und zusammen mit vielen seiner Adeligen wurde er wie ein Schaf zum Abschlachten hingeführt. Da wurde ihm, zusammen mit vielen seiner Adeligen, sein ehrwürdiges Haupt abgeschlagen im Monat Juni am 15. Tag.27
Im folgenden Zitat hält sich der Verfasser, David, in der Aussage zurück, ob denn Lazar – wie Christus – verraten wurde:28 Jener [der Zar des Ostens, Murat] trat mit gottlosen Völkern auf, während dieser [Lazar] seine Ehre nicht mit Füßen treten ließ. Und es kam zur Schlacht zwischen den beiden, und in dieser Schlacht fiel vom Schwert der gewalttätige Höllenfürst mitten auf dem Schlachtfeld; er verlor seine Seele und sein Leben samt der Mehrheit seiner Gott leugnenden Kämpfer. Und einer seiner Söhne blieb am Leben. Und am Ende dieser Schlacht – darüber kann ich nichts sagen, ob er von seinen eigenen Leuten verraten wurde oder ob es einfach Gottes Wille war, der ihn traf – wurde er [Lazar] von ihm [dem Sohn Murats] gefangen, und nach vielen Martern wurde sein ehrwürdiger und gläubiger Kopf von ihm [Bayazit, dem Sohn Murats] abgeschlagen.29
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Ebd., S. 274. Ebd., S. 278. Ebd., S. 271. Eine ähnliche Beschreibung der Kosovoschlacht findet sich auch in der ‘Vita’ des Fürsten Lazar (Ðuric´ [Anm. 14], S. 270). Ebd. Die Volksdichtung spricht eine deutlichere Sprache, wie weiter unten zu zeigen sein wird. Ðuric´ [Anm. 14], S. 280.
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Wenn in der ›Klosterliteratur‹ behauptet wird, der Sohn Murats, Bayazit, habe die Hinrichtung angeordnet oder sogar selbst vollzogen, so bestätigt dies Stefan Lazarevic´, der Sohn Lazars (um 1402), in der Inschrift auf der Marmorstele von Kosovo: [. . .] gefangen wurde der edelmütige Märtyrer von den gottlosen Agarenen [Türken], und er stand tapfer das Ende seiner Leiden durch und wurde zum Märtyrer Christi, der große Fürst Lazar. Denn niemand anders [. . .] schlug ihm den Kopf ab als eben die Hand des Mörders, des Sohnes Murats.30
In der religiösen Literatur ist der Tod Lazars also in einigen Details beschrieben, während der Tod seiner Krieger nur erwähnt wird, ohne dass Einzelnamen genannt werden – dies im Unterschied zu den Heldenliedern, wo das Gegenteil der Fall ist. Die oben zitierte Wendung aus Lazars ‘Vita’ »wie ein Schaf zum Abschlachten« dürfte als biblische Anspielung (vgl. Ps 44,23; Jes 53,7; Röm 8,36) den Märtyrergedanken wachrufen. Auch der Hirtenvergleich31 wird auf Lazar angewendet: An einigen Stellen, etwa in den liturgischen Liedern, wird er als »ein guter Hirte«, »ein wacher Hirte« oder »ein von Christus auserwählter Hirte« gerühmt. Auf der Marmorstele von Kosovo heißt es: Wie ein guter Hirte und Anführer führte er weise seine einsichtigen Lämmer an, damit sie ihr Leben für Christus gut zu Ende brächten, den Märtyrerkranz empfingen und Teilhaber des himmlischen Ruhmes würden.32
Ähnlich spricht Fürstin Milica, Lazars Frau, spätere Nonne Jevgenija (Eugenia), zu Lazar: Sammle meine verstreuten Kinder [. . .], versammle sie in meinen Zaun, weide sie, dass der Wolf nicht von meiner Herde frisst [. . .], weide meine Herde, die ich dir anvertraut habe,33
was an Joh 21,15–17 anklingt, wo Christus zu Petrus sagt: »Weide meine Lämmer« und »Weide meine Schafe«. Unter den mehrfachen Wundertaten Jesu Christi wird eine bekanntlich mit dem Namen Lazarus in Verbindung gebracht. Durch ein vergleichbares Wunder war auch dem serbischen Lazar die Anerkennung und Bewunderung durch seine Nachkommen sicher. Wie in der ‘Vita des heiligen Fürsten Lazar’ überliefert, verpflichtete Fürst Lazar seine Söhne, dass wo auch immer er das Ende seines Lebens finden sollte, er nur innerhalb einer der von ihm errichteten Kirchen ruhen sollte. Und nachdem seine »Söhne zu Dienern dessen wurden, der ihren Vater ermordet hat«, gingen sie (unter anderem im Beisein eines Patriarchen und eines Metropoliten und eines Hegumenos) zum Grab ihres Vaters und
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Ebd., S. 278 f. Jesus nennt sich einen guten Hirten (Joh 10,12–18). Ðuric´ [Anm. 14], S. 278. Ebd., S. 273.
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öffneten die Gruft und fanden seinen Körper unversehrt und unbeschädigt, viele sanfte Düfte verströmend [. . .], und sie überführten und legten in Ehren seinen Leib im Kloster nieder, das er errichten ließ; und so kann man ihn auch heutigentags noch sehen, wie er Heilung und Genesung allen gewährt, die ihm mit festem Glauben nahen.34
In einem liturgischen Lied wird Ähnliches berichtet – allen Gläubigen zum Staunen über ein Wunder der Natur: Gott ließ deinen Körper nicht allzu lange in der Gruft des Vergessens liegen, sondern er befahl der irdischen Natur, dass sie ihn nicht verfaulen lasse, sondern dass er unversehrt bleibe [. . .].35
So sehr die Formulierungen vieler dieser Texte auch beeindrucken mochten, in ihrer originären Sprache waren sie dem einfachen Volk nicht unmittelbar zugänglich: Das Volk konnte nicht lesen und schreiben. Auch der relativ komplizierte mittelalterliche Satzbau und die kirchenslavische Sprache erschwerten ein zwangloses Verstehen. Doch kam es zu einer raschen Aufnahme der liturgischen Lieder über Lazar in den Gottesdienst; dem Singen in der Kirche folgte dann das Singen zuhause, im kleineren Kreis, in der Volkssprache, in Form von Heldenliedern, so dass der Mythos auf diesem Wege seine soziale Funktion zu erfüllen begann. Thematisch ist jedoch – wie auch an späterer Stelle des vorliegenden Beitrags deutlich werden wird – in der frühen Überlieferung zu Lazar als Herrscher keine tiefer gründende Opposition von geistlichen und weltlichen Texten zu verzeichnen; es begegnet lediglich eine andere Sprache, eine andere Stilistik.
III. Die Figur Lazars in der Literatur für das Volk Während in der liturgischen Literatur36 wie im Neuen Testament (Mt 4,8–11) der Teufel als Versucher in Erscheinung tritt, stellt in der Volksliteratur die Mutter Gottes Lazar vor eine Entscheidung. Ihre ›persönliche Präsenz‹ lässt die Schlacht auf dem Amselfeld als göttlichen Willensakt37 erscheinen, wobei die endgültige Entscheidung für eine Niederlage zugunsten einer höheren Belohnung im Jenseits letztlich Lazar anheim gegeben ist:
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Ebd., S. 270. Sechstes liturgisches Lied, Projekat Rastko [Anm. 18]. Lazar widersteht der Versuchung dank seines festen Glaubens: »Mit seinem überheblichen Auge deine guten Taten gewahrend, versuchte er [Widersacher Gottes] mit verlogenen Ränken dich einzunehmen, und du hast, die Weisheit des Herrn Christi in deinem Herzen beheimatend, den Überheblichen in die Knie gezwungen, preisend: ›Es gibt keinen heiligeren als dich, o Herr Gott!‹« (Drittes liturgisches Lied, Projekat Rastko [Anm. 18]). Das Lied ‘Untergang des serbischen Reiches’ endet sogar – trotz des blutigen Ausganges der Schlacht – mit dem Vers: »Dies war heilig alles und voll Ehren / Und dem lieben Herrgott wohlgefällig«.
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Untergang des serbischen Reiches38 Aufgeflogen war ein grauer Falke Von Jerusalem, vom Heiligtume; Mit sich trug er einen Schwalbenvogel. Dies indessen war kein grauer Falke, Sondern war der heilige Ilija [Elias]; Mit sich trug er keinen Schwalbenvogel, Sondern einen Brief der Gottesmutter; Diesen brachte er zum Amselfelde, Ließ ihn nieder auf das Knie des Kaisers, Und der Brief, der sprach dann selbst zum Kaiser: »Kaiser Lazar, ehrenreicher Nachfahr, Welchem Reiche willst du dich verschreiben? Willst du dich dem himmlischen ergeben Oder dich fürs irdische entscheiden? Wenn du dich fürs irdische entscheidest, Sattle dann die Pferde, spann die Gurte! Auf ihr Ritter, legt euch an die Säbel! Stürmt voran zum Angriff auf die Türken: Und das ganze Türkenheer wird fallen! Wenn du dich fürs Himmelreich entscheidest, Baue auf dem Amselfeld ’ne Kirche, Füge ihren Sockel nicht aus Marmor, Sondern ganz aus Seide und aus Scharlach; Führe dann das Heer zum Abendmahle: – und dein ganzes Heer wird hierauf fallen, Du, o Fürst, wirst mit ums Leben kommen!« Als der Kaiser dieses Wort vernommen, Dachte er so mancherlei Gedanken: »Lieber Gott, was tu ich, und wie mach ich’s? Welchem Reiche soll ich mich verschreiben? Soll ich mich dem himmlischen ergeben Oder mich fürs irdische entscheiden? Wenn ich diesem Reiche mich ergebe, Mich ergebe diesem ird’schen Reiche, Bleibt das irdische von kurzer Dauer, Doch das himmlische auf stets und ewig.« Es begehrt der Fürst das Reich des Himmels, Aber nicht das kurze Reich auf Erden [. . .].
Der Fürst baut eine Kirche nach dem von der Mutter Gottes empfohlenen Modell, ruft die Patriarchen und Bischöfe zusammen und läßt sein Heer zum Abendmahl antreten und die heilige Kommunion empfangen.39 Kurz darauf kommen die Türken, und die Schlacht beginnt. Es folgt im Lied noch die Beschreibung, wie die einzelnen Ritter Lazars samt ihren Tausenden von Gefolgsleuten nacheinander ums Leben kommen. Gegen Ende des Liedes heißt es, dass Fürst Lazar die Schlacht sogar ge38
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Serbische Heldenlieder, übers. von Stefan Schlotzer, mit einem Kommentar von Erika Beermann, München 1996, S. 111 f. Dass es eine gemeinsame Kommunion am Vorabend der Amselfelder Schlacht gegeben habe, wird in einem weiteren Lied, ‘Amselfelder Mädchen’, erwähnt: »Weißt du es noch, unbekannter Recke, / Als Fürst Lazars Heer zur Kommunion ging / Nächst der prächt’gen Kirche Samodrezˇa« (Serbische Heldenlieder [Anm. 38], S. 124).
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wonnen hätte, wenn er denn nicht von einem seiner Ritter, dazu seinem Schwiegersohn – Vuk Brankovic´ –, verraten worden wäre. Diese kleine Ungereimtheit geht möglicherweise darauf zurück, dass das Lied, das bis ins 19. Jahrhundert nur mündlich vortragen/vorgesungen wurde, durch die Hände mehrerer Bearbeiter gegangen ist. Wenn Fürst Lazar sich bewusst gegen das irdische Reich entscheidet, dann sollte die Niederlage unausweichlich sein und es bedürfte keines Verräters. Ein Sieg wäre Folge einer Entscheidung für das irdische Reich gewesen, wie sie Lazar nicht getroffen hatte. Die Vermutung liegt nahe, dass die Sänger den doch schmerzhaften Verlust für ihre Zuhörerschaft später etwas mildern oder verhindern wollten, dass Lazars Größe in Frage gestellt würde: Vor dem Hintergrund des Verrats käme Lazar auch als kampftüchtiger Held gebührend zur Geltung. Überdies stellt die Ergänzung eine weitere Parallele zur Geschichte Jesu dar. Historisch ist zwar nicht bewiesen, dass Vuk Brankovic´ ein Verräter war; trotzdem gelten im Volksglauben er und seine Nachkommen immer noch als solche – ihr Familienname ist sogar zum Synonym für ›Verräter‹ geworden. Dies bestätigt einmal mehr, dass am Mythos nicht so sehr sein historischer Kern interessiert wie das, was die Überlieferung aus ihm gemacht hat.40 Mit der Parallele zu Christus und zum letzten Abendmahl scheint auch das Lied ‘Das Nachtmahl des Fürsten’41 zu spielen. Hier wird beschrieben, wie Fürst Lazar am Abend vor der entscheidenden Schlacht seinen jüngeren Schwiegersohn des Verrats bezichtigt: [. . .] Alle Herren setzte er zur Tafel, [. . .] Es ergreift der Fürst den goldnen Becher, Und er spricht zu allen serb’schen Herren: »Wem verehr’ ich diesen Becher Weines? [. . .] Doch nichts anderm soll mein Zutrunk gelten Als dem Wohle von Milosˇ Obilic´. Heil dir, Milosˇ, Treuer und Verräter! Einst Getreuer, späterhin Verräter! Du wirst mich im Amselfeld verraten Und zum Kaiser Murad überlaufen! Auf dein Wohl! Genieße diesen Zutrunk, Trink den Wein, und dein sei auch der Becher!«
Ähnlich wie in der biblischen Überlieferung (vgl. Mt 26,17–25; Mk 14, 17–21; Lk 22,7–23; Joh 13,1–30) geht dem tragischen Geschehen ein gemeinsames Abendmahl voran, im Verlauf dessen der bevorstehende Verrat angesprochen wird. Während allerdings Jesus genau wusste, wer ihn verraten werde, irrt sich Fürst Lazar und bezichtigt den Falschen. Die Volksdichtung geht in der Parallelisierung von Lazar und Christus noch einen Schritt weiter: Anders als die religiöse Literatur, in der nur der nicht verwesende Körper bezeugt wird, schreibt sie Lazar eine leibliche Auferstehung zu – nur dass lediglich sein abgeschlagener Kopf und nicht der ganze Körper aufersteht:42 40
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Das Verräter-Motiv kommt auch in anderen Liedern zur Sprache, etwa in ‘Kaiserin Milica und der Vojvode Vladeta’ oder in ‘Dienstmann Milutin’. Serbische Heldenlieder [Anm. 38], S. 107 f. ‘Die Auferstehung des Kopfes Lazars’ (‘Obrtenije glave kneza Lazara’), in: Ðuric´ [Anm. 14], S. 246 f. Übersetzung von mir, S. St.
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Es lag sein Kopf in der Quelle, hübsche Zeit, volle vierzig Jahre. Unversehrt blieb auf dem Amselfeld sein Körper: Es fressen ihn weder Adler noch Raben, es treten auf ihn weder Pferde noch Menschen. Liebster Gott, dank sei dir für alles! [. . .] Und er trat ins Quellwasser, und er holte den Kopf aus der Quelle, den Kopf des serbischen Heiligen Lazar, und er legte ihn auf das grüne Gras, und er holte etwas Wasser in einem Krug. Bis sich die Durstigen mit dem Wasser gestärkt und sich nach dem Kopf umgesehen, verschwand der Kopf von der schwarzen Erde und es rollte allein der Kopf über das Feld, der heilige Kopf hin zum heiligen Körper, und es vereinigte sich der Kopf mit ihm wie einst!
Wie in der ›Klosterliteratur‹ opfern sich Lazars Gefolgsleute auf – gleichsam als Märtyrer: Im Lied ‘Zar Lazar und Zarin Miliza’ hat die Zarin bei Lazar erwirkt, dass er ihr zumindest einen ihrer (in der Literatur: neun) Brüder am Hofe lässt. Als das ritterliche Gefolge dann an ihr vorbeizieht, bittet sie vergebens einen Bruder nach dem anderen, bei ihr zu bleiben. Die Antwort, die sie erhält, ist eindeutig: »Geh, o Schwester, heim zum weißen Turme; Doch ich selber würde nie zurückgehn, Noch vergäb’ ich aus der Hand das Banner, Schenkte mir der Kaiser auch Krusˇevac [Herrschaftssitz Lazars]; Sollen meine Kampfgefährten sagen: Seht den Hasenfuß Jugovic´ Bosˇko! Er getraut sich nicht, ins Feld zu ziehen, Für das heil’ge Kreuz sein Blut zu geben Und für seinen Glauben dort zu sterben!« [. . .] »Geh, o Schwester, heim zum weißen Turme; Niemals kehrt’ ich Recke um, o Schwester, Noch verließe ich des Kaisers Pferde, Wüßte ich auch, daß ich fallen würde! Will zum ebnen Amselfelde ziehen, Für das heil’ge Kreuz mein Blut vergießen, Für den Glauben mit den Brüdern sterben.«43
»Für das Kreuz« und »den heiligen Glauben« wollen sie einmütig ihr Leben lassen. Auch Milosˇ Obilic´, (literarischer) Schwiegersohn Lazars und Sultanmörder, schwört, nachdem er des Verrates beschuldigt wird, dass er »auf dem Amselfelde [. . .] für den Christenglauben fallen«44 wird. Ein Neffe Lazars, Stevan Music´, äußert in dem mit seinem Namen benannten Lied denselben Wunsch. Er kommt sogar zu spät zur 43 44
Serbische Heldenlieder [Anm. 38], S. 105 f. Ebd., S. 108.
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Schlacht, und obwohl er erfährt, dass sie praktisch verloren ist, stürzt er sich in den Kampf, um »im hochheil’gen Namen Jesu Christi«45 zu sterben. In der Volksdichtung ist also das christliche Motiv des Selbstopfers erhalten geblieben; auch hier geben Lazar und seine Mitstreiter ihr Leben nicht einfach für die Verteidigung ihres Landes hin, sondern vor allem aus höheren Beweggründen. Ihre Portraits vereinen in sich das Idealbild mittelalterlicher Ritter mit dem vorbildlicher Christen.46
IV. Gründe für die Überhöhung Lazars Bei seinem Start hatte Lazar nicht die besten Voraussetzungen, sich als der Herrscher unter den Serben zu beweisen: Er gehörte nicht der Familie an, bei welcher die Qualifikation ›kraft Abstammung‹47 erfolgte wie bei der erbcharismatischen Familie der Nemanjiden; sein Charisma verdankte sich nicht einer ›Qualität des Blutes‹.48 Daher musste er in der Volksliteratur zusätzlich zur historischen Heirat mit einer Nemanjidennachkommin, Milica, noch durch die Empfehlung seines Vorgängers, des mächtigen Zaren Dusˇan, und durch ein Orakel aus allwissenden Büchern als Nachfolger ausersehen und bestätigt werden. Nur so akzeptierte die Familie Milicas (immer noch schweren Herzens) ihre Heirat mit jemandem, der nicht von den Ihrigen abstammte: »Halt, ihr Söhne, wenn ihr Gott erkennet! Wenn den Zaren ihr mir heute tötet, Ewiglich wird Fluch euch dann verfolgen. Halt, bis ich die Bücher nachgeschlagen, Bis die Bücher ich befragt, ihr Söhne, Ob dem Laso Miliza bestimmt sei.« In den altberühmten Büchern liest er, Liest darin, und bittre Tränen weint er: »Halt, ihr Kinder, wenn ihr Gott erkennet! Wohl bestimmt ist Miliza dem Laso, Und das Zarenreich wird ihm verbleiben, Wird mit Miliza einst Laso herrschen!«49
Wie aber ist es zu erklären, dass Fürst Lazar, historisch gesehen eher eine gescheiterte Herrscherpersönlichkeit, zur Identifikationsfigur und zum Vorbild für viele geworden ist? Es war nicht zu allererst das Volk, das den ersten Nichtnemanjiden für seine so zweifelhafte Heldentat auf dem Amselfeld gleichsam in den Himmel hob, so dass 45 46
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Ebd., S. 118. Vgl. auch Barbara Lomagistro, Il principe serbo Lazar cavaliere e martire della fede, in: Krieg, Helden und Antihelden in der Literatur des Mittelalters. Beiträge der II. Internationalen Giornata di Studio sul Medioevo in Urbino, hg. von Michael Dallapiazza, Göppingen 2007, S. 76–93, hier S. 79. Im Sinne Max Webers [Anm. 9], S. 183. Ebd. Serbische Volkslieder, gesammelt und hg. von Vuk Stefanovic´ Karadzˇic´, Teile einer historischen Sammlung, Leipzig 1980, S. 18.
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die Kirche gar nicht anders gekonnt hätte, als ihn heilig zu sprechen. Es war die Kirche selbst, die Gründe sah, Lazar zum Märtyrer und Heiligen zu erklären, und daher versuchte, ihn dem Volk so nahe zu bringen, dass es von ihm Hilfe in schwerer Zeit oder gar die Befreiung von der Herrschaft der Türken erhoffte, ihn als Retter anbetete und seine Heiligsprechung forderte. Wollte man Lazar zu einem charismatischen Herrscher ›machen‹, so lag es nahe, sich als Vorbildes der charismatischen Identifikationsfigur schlechthin zu entsinnen – Jesu Christi. Erst dank der Parallelen in der Vita Lazars mit biblischen Geschichten wurde Lazar zur angebeteten Ikone und stieg in unzähligen Schriften zur kulturellen Leitfigur empor. Das einzige Medium aber, das für das Volk zur Verfügung stand, das es verstand und in welchem es in seinem Alltag regelrecht ›lebte‹, war das mündlich vorgetragene Lied der Volkssänger, das einem einfachen Schema folgte, mnemotechnisch (am häufigsten im einfachen Zehnsilbler verfasst) leicht zu beherrschen und problemlos weiter zu tragen war. Der Inhalt, der sich hierfür empfahl, der breiten Masse wohl bekannt und verständlich, sowohl für die Kirche als auch für das Volk einschlägig und eindeutig, war eine ›Heilsbotschaft‹: eine entsprechend enge Anbindung Lazars an das allgegenwärtige Vorbild Jesu Christi. Hintergrund des Personenkultes um Lazar war die gegenseitige Nähe von Geschichtsdeutung und Religiosität im serbischen Mittelalter: Der Märtyrertod verklärte die historische Person Lazar und führte zu seiner Überhöhung als Heiliger. Hieraus erklärt sich die auf ihn gerichtete Erlösungshoffnung. Bemerkenswert ist dabei, dass sich die religiöse Note in der Mythosbildung um Lazar nicht nur in den geistlichen Texten und in den liturgischen Liedern findet, die in den Gottesdienst integriert waren, sondern dass derselbe religiöse Inhalt auch die weltlichen Texte prägt, hier vor allem die sog. Heldenlieder des Volkes, die Lazars Leben und Sterben thematisieren. Man kann sogar noch weiter gehen und sagen, dass es sich bei einigen epischen Liedern des Lazar-Zyklus (obwohl in der Volkssprache und für das Volk verfasst)50 vom Inhalt her um ›Kirchenlieder‹ eigener Sprachform handelt. Wohlgemerkt: von ihrem Inhalt her. So sprach der Lazar-Mythos insbesondere die emotionale Seite der Menschen an. Über das volksläufige Liedgut wurde ein möglichst breiter Rezipientenkreis angesprochen und eine stärkere Wirkung auf die einfachen Menschen ausgeübt – die Botschaft konnte besser verinnerlicht werden. Rekurrenz51 und Perzeption waren so gründlich gesichert, dass sich dieser Mythos im kollektiven Gedächtnis festsetzen und bis heute überleben konnte – ein Wiedererkennen des Schemas52 sicherte den Sinn, ebenso eine Fortdauer über Jahrhunderte hinweg. 50
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Wichtig ist gerade die Tatsache, dass trotz der fast allerorts vertretenen Diglossie (Altkirchenslavisch als Sprache der Literatur und des Gottesdienstes und ›Serbisch‹ als Volkssprache) diese Lieder in der Volkssprache verfasst werden, damit sie dem Volk verständlich und nahe bleiben. Später wurden diese Inhalte über mehrere Gattungen und verschiedene Medien tradiert (Lieder, Gedichte, Dramen, Romane, literarische Verfilmungen). Vgl. auch Mircea Eliade, Der Mythos der ewigen Wiederkehr, Düsseldorf 1953, S. 73: »Der Charakter des Volksgedächtnisses ist ahistorisch, das kollektive Gedächtnis ist nicht in der
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Die ersehnte Zukunft wurde nach einem bekannten ›Muster‹ konstruiert. Das Modell dieser besseren Zukunft53 war bereits in der kollektiven Erinnerung des Volkes an die vergangene glorreiche Nemanjiden-Ära angelegt. Es musste dem Volk lediglich in seiner ›Sprache‹ vermittelt werden. Tragende Idee wurde, dass jener Verlust auf dem Amselfeld nicht ohne tieferen Sinn war. Das Volk musste begreifen, weshalb denn Lazar den Türken den Sieg54 auf dem Amselfeld überlassen hatte: nicht etwa aus fehlendem Heldenmut oder weil die Türken zahlenmäßig überlegen oder größere Helden waren – nein, Lazars Größe musste woanders liegen, schon deswegen, weil bereits die Nemanjiden vor ihm nahezu aus allen Schlachten als Sieger hervorgegangen waren und beinahe alles erobert hatten, was zu erobern sie sich vornahmen.55 Damit er von den breiten Massen akzeptiert werden konnte, musste Lazar in seiner Niederlage größer erscheinen als die Nemanjiden in ihren Siegen. Durch das im Mythos enthaltene ›Sinnversprechen‹ konnte die durchaus unangenehme Gegenwart ausgeblendet werden. Dank der Wiedererkennbarkeit der religiösen Motive wurde Lazar zum überzeitlichen Symbol56 für die Wiederherstellung einer neuen Ordnung, die Herrschaftsbegründung und die Konstruktion eines neuen christlichen, implizit aber auch des serbischen Reiches: Das Opfer Christi auf der einen Seite steht für die Rettung der Menschheit, das Opfer Lazars auf der anderen Seite für die Rettung eines Volkes und die Rettung des Christentums. Die Festigung der Position Lazars bedeutete eine Stärkung der orthodoxen Kirche im Volk zu einer Zeit, als nach der Auslöschung des Großteils des serbischen Adels in der Kosovo-Schlacht und angesichts der zu befürchtenden Islamisierung durch die Türken die serbische Kirche als einzige Halt gebende Institution geblieben war. In dieser Situation schuf die Kirche ein Wunschbild, das ewigen Bestand haben sollte; sie erschuf aus dem bekannten lokalen weltlichen Helden nach biblischem Vorbild einen Mythos – von einem Herrscher, der das himmlische Reich dem irdischen vorzieht
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Lage, die historischen Ereignisse und Individualitäten festzuhalten, wenn es sie nicht in Archetypen verwandelt, also ihre ›historischen‹ und ›persönlichen‹ Besonderheiten aufhebt.« Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1997, S. 42: »Auch das Neue kann immer nur in der Form rekonstruierter Vergangenheit auftreten. [. . .] Das kollektive Gedächtnis operiert daher in beiden Richtungen: zurück und nach vorne. Das Gedächtnis rekonstruiert nicht nur die Vergangenheit, es organisiert auch die Erfahrung der Gegenwart und Zukunft.« Historisch ist der türkische Sieg in der Schlacht auf dem Amselfeld nicht eindeutig geklärt. Der Tod des Sultans ließ manche vom Sieg der Kräfte Lazars sprechen. Doch damit, dass nahezu der gesamte Adel in der Schlacht ums Leben kam, Serbien tributpflichtig wurde und eine mehrere Jahrhunderte währende Herrschaft der Türken ertragen musste, verfestigte sich die Einsicht: Es war eine verlorene Schlacht. Zar Stefan Dusˇan, an dessen Hofe Lazar seine höfische Laufbahn startete, sah sich sogar nach der Eroberung des Großteils Griechenlands als legitimer Erbe der Byzantiner. Vgl. auch Assmann [Anm. 53], S. 38: »Jede Persönlichkeit und jedes historische Faktum wird schon bei seinem Eintritt in dieses Gedächtnis in eine Lehre, einen Begriff, ein Symbol transponiert; es erhält einen Sinn, es wird zu einem Element des Ideensystems der Gesellschaft. Aus diesem Zusammenspiel von Begriffen und Erfahrungen entstehen, was wir Erinnerungsfiguren nennen wollen.«
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und dafür den Märtyrertod stirbt. Der Mythos um Lazar lebt noch heute weiter, dank der Einbettung des historischen Geschehens in den religiösen Kontext.
Erzählen als Therapeutikum? Der wahnsinnige Königssohn im ‘Bussard’ von Sandra Linden
Räuberische Vögel, die buchstäblich aus heiterem Himmel edlen Damen glitzernde Ringe stehlen, sind ein dankbares Erzählmotiv: Sie motivieren den ritterlichen Helden zum Rückgewinn des Kleinods und lassen ihn, getrennt von seiner Geliebten, eine Zeit abenteuerlicher Bewährung durchleben, bevor sich das Paar glücklich wiederfinden kann. Noch im 20. Jahrhundert inspiriert der diebische Bussard den Schweizer Autor Peter Bichsel zu einer Kurzerzählung, die er als »solothurnische Operette« überschreibt.1 Wenn dort der unglücklich verliebte Stallbursche Ueli den Ring der Magelone Lehmann, von der man nicht so recht weiß, ob sie nun die Tochter des Königs von Neapel oder doch nur eine einfache Sekretärin ist, bei dem reichen Herrn Busant in Zahlung gibt, hat der Erzählstoff schon eine lange Reise durch die Weltliteratur hinter sich. Eine Station auf dieser Reise ist die mittelhochdeutsche Verserzählung ‘Der Bussard’ (FB 18).2 Die 1074 Verse lange, anonym in einer Handschrift und 3 Fragmenten3 überlieferte Reimpaarverserzählung wird aufgrund ihres höfischen Erzählstils als romanartiges Märe4 klassifiziert. Der ‘Bussard’ ordnet sich nicht nur in die Tradition der Magelonenerzählungen ein,5 sondern weist auch deutliche Anklänge an die Dichtungen 1
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Peter Bichsel, Der Busant. Eine solothurnische Operette, in: ders., Der Busant. Von Trinkern, Polizisten und der schönen Magelone, Frankfurt a. M. 1998, S. 7–22. Der Bussard, in: Friedrich Heinrich von der Hagen, Gesamtabenteuer. Hundert altdeutsche Erzählungen, Bd. 1, unveränderter Nachdruck der Ausg. von 1850, Darmstadt 1961, Nr. 16, S. 337–366. Die Zitate werden im Folgenden verkürzt nach dieser Ausgabe belegt. Eine Neuedition des ‘Bussard’ ist im Rahmen des DFG-Projekts ›Edition und Kommentierung der deutschen Versnovellistik des 13. und 14. Jahrhunderts‹ von Klaus Ridder, Paul Sappler und Hans-Joachim Ziegeler vorgesehen. Zur Überlieferungssituation vgl. Hans-Friedrich Rosenfeld, ‘Der Bussard’ (früher ‘Der Busant’), in: 2VL 1 (1978), Sp. 1145–48, hier Sp. 1145 f., oder Eugen Glaser, Ueber das mittelhochdeutsche Gedicht: Der Busant, Phil. Diss., Göttingen 1904, S. 1–3. Hanns Fischer, Studien zur deutschen Märendichtung, 2., durchges. Aufl. besorgt von Johannes Janota, Tübingen 1983, S. 58, ordnet den ‘Bussard’ einer Gruppe von »zwar strukturell bereits romanartigen, aber doch darstellerisch noch verhältnismäßig schlanken ›langen Mären‹« zu, in Fußnote 129 spricht er von »›potentielle[n]‹ Romane[n]«. Vgl. auch HansJoachim Ziegeler, Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispeln und Romanen (MTU 87), München 1985, S. 265. Ihre detaillierteste Ausführung erfährt die Magelonengeschichte zwar erst im französischen Prosaroman von 1453 und der deutschen Übertragung durch Veit Warbeck im Jahr 1527, doch ist der Stoff in seiner Grundform mit Ringraub und getrenntem Paar freilich älter. Zum Magelonenstoff vgl. Armin Schulz, Poetik des Hybriden. Schema, Variation und intertextuelle Kombinatorik in der Minne- und Aventiureepik (Philologische Studien und Quellen
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Konrads von Würzburg und den Iwein-Stoff auf. Zusammen mit dem Jean Renart zugeschriebenen Roman ‘L’Escoufle’,6 in der eine diebische Weihe die Trennung von Guillaume und Aelis verursacht, geht das Märe auf eine gemeinsame französische Vorlage zurück.7 Die Beliebtheit des im frühen 14. Jahrhundert entstandenen ‘Bussard’ zeigt sich vor allem in bildlichen Zeugnissen, die sich in die Ikonographie unglücklicher Liebe, aber auch in das Darstellungsmotiv der Wildleute fügen.8 Die Handlung, im ‘Bussard’ um die Thematik der Wildheit und des Wahnsinns erweitert, ist schnell umrissen: Während seines Studiums in Paris verliebt sich ein englischer Königssohn in die Prinzessin von Frankreich, die bereits dem König von Marokko versprochen ist. Als Spielmann verkleidet, kann der englische Prinz seine Geliebte mit ihrem Einverständnis entführen. Während einer Rast im Wald betrachtet der Königssohn zwei Ringe der schlafenden Prinzessin, als plötzlich ein Bussard herabstürzt und eines der Schmuckstücke raubt. Der Prinz eilt dem Vogel nach, verirrt sich im Wald und findet nicht zurück. In Trauer und Verzweiflung über die Trennung wird er wahnsinnig und lebt ein Jahr wie ein wildes Tier im Wald. Die ahnungslose Prinzessin flüchtet sich unterdessen in eine Mühle und lebt dort – stets auf die Rückkehr des Prinzen hoffend – von Näharbeiten, bis sie unerkannt am Herzogshof des Onkels und der Tante des Prinzen Aufnahme findet. Eines Tages entdecken die Jäger des Herzogs den völlig verwilderten Prinzen im Wald und nehmen ihn mit an den Hof, wo er einer sechswöchigen Kur unterzogen wird. Als er bei einer Jagd seine Zugehörigkeit zur höfischen Gesellschaft beweisen soll, kommt es zu einem drastischen Zwischenfall: Der Prinz erbeutet bei der Falkenjagd einen Bussard, beißt dem Tier den Kopf ab und zerreißt es. Nach dem Grund für dieses eigenartige Verhalten befragt, erzählt er seine Geschichte, und die Liebenden erkennen einander.
Die folgende Untersuchung fragt nach dem Zusammenhang von Wahnsinn, Minne und Erzählen im ‘Bussard’, wobei der Wahnsinn des Prinzen nicht in einer psychologisch argumentierenden Deutung, sondern in einer poetologischen Lesart erschlossen werden soll.9 Der erzählende Rückblick des Prinzen auf sein eigenes Schicksal avanciert dabei zu einer Schlüsselstelle, die mit einem Fokus auf die narrative Strategie sowohl des Erzählers als auch der erzählenden Figur analysiert wird. Das Märe ist, wie Armin Schulz gezeigt hat,10 durch einen Gegensatz von Natur und Kultur geprägt: Einerseits finden Kulturleistungen wie das Studium in Paris oder
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161), Berlin 2000, S. 153 ff. Auf Parallelen zu drei orientalischen Märchen verweist Alev Tekinay, Materialien zum vergleichenden Studium von Erzählmotiven in der deutschen Dichtung des Mittelalters und den Literaturen des Orients (Europäische Hochschulschriften I, 344), Frankfurt a. M./Bern u. a. 1980, S. 215 ff. Vgl. Jean Renart, L’Escoufle. Roman d’aventure, hg. von Franklin Sweetser (Textes litte´raires franc¸ais 211), Genf 1974. Vgl. Rosenfeld [Anm. 3], Sp. 1146 f.; Reinhold Köhler, Das altdeutsche Gedicht ‘Der Busant’ und das altfranzösische ‘L’Escoufle’, in: Germania 17 (1872), S. 62–64, sowie Glaser [Anm. 3], S. 65 ff. u. 83 ff. Vgl. Betty Kurth, Die deutschen Bildteppiche des Mittelalters, 3 Bde., Wien 1926, Bd. 1, S. 239 ff. und Abbildungen Nr. 142 ff. Um zu markieren, dass es nicht um realistische psychopathologische Befunde, sondern um die literarische Konstruktion einer psychischen Andersheit geht, wird im Folgenden der aus Sicht der modernen Psychologie nicht angemessene Begriff des Wahnsinns bewusst beibehalten. Vgl. Armin Schulz, Dem buˆsant er daz houbt abe beiz. Eine anthropologisch-poetologische Lektüre des ›Busant‹, in: PBB 122 (2000), S. 432–454; programmatisch S. 433 f.
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Gegenstände höfischer Sachkultur wie die Ringe der Prinzessin, ein kunstvoll gefertigter Sattel (V. 385 ff.) oder eine kostbare Fiedel (V. 397 ff.) breites deskriptives Interesse, andererseits begeben sich die Liebenden auf ihrer Flucht in einen Raum fernab jeder höfischen Disziplinierung. Dieser Raum wird mehrfach als gewilde (V. 547, 551, 572), als Wildnis, benannt und in seinem bedrohlichen, unkontrollierbaren Charakter markiert.11 Als der Prinz bei der Verfolgung des Bussards verre in daz gewilde (V. 572) läuft, kann er sich der Gefährdung, die nicht nur von der wilden Natur, sondern auch von einer radikalen Minne ausgeht, nicht mehr entziehen. Wenn es schließlich heißt, dass er sich im Wald vergie (V. 574), schwingt zudem die Komponente einer moralischen Verfehlung mit, da er die Prinzessin schutzlos im Wald zurücklässt. Das psychische Minneleid des Prinzen manifestiert sich in einem physischen Vorgang und mündet schließlich in den Wahnsinn:12 Es beginnt mit einem aggressiven Impuls auf das Herz (V. 597 f.: Der klage er niht abe liez, / unz ez im an sıˆn herze stiez), dann verlagert sich der Effekt auf das Gehirn, wo die mittelalterliche Medizin die körperliche Basis des Wahnsinns lokalisiert.13 Parallel zu Hartmanns ‘Iwein’14 heißt es in physiologischer Konkretheit: Sıˆn leit, sıˆn jaˆmer was [al]soˆ stark, daz im hirn’ unde mark Verswant, daz er von sinnen kam.
(V. 605–607)
Wie es für Darstellungen des Wahnsinns in der höfischen Literatur topisch ist,15 entledigt sich der Wahnsinnige selbst sämtlicher Zeichen der Kultur und nähert sich 11
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Vgl. Klaus Hufeland, Das Motiv der Wildheit in mittelhochdeutscher Dichtung, in: ZfdPh 95 (1976), S. 1–19, der das Faszinationspotential herausarbeitet, das die höfische Literatur der Wildheit verleiht, indem sie das Wilde als ein nicht domestizierbares Element zeigt, das sich dem höfischen Denksystem entzieht. Vgl. Dirk Matejovski, Das Motiv des Wahnsinns in der mittelalterlichen Dichtung (stw 1213), Frankfurt a. M. 1996, S. 184 ff., der den ‘Bussard’ in den literarischen Wahnsinnsdiskurs einordnet. Der medizinisch-psychologische Diskurs ist für diesen Bereich gut erschlossen, vgl. etwa den frühen Beitrag von Edith A. Wright, Medieval Attitudes towards Mental Illness, in: Bulletin of the History of Medicine 7 (1939), S. 352–56, oder auch E. Ruth Harvey, The Inward Wits. Psychological Theory in the Middle Ages and the Renaissance, London 1975, und Simon Kemp, Medieval Psychology, New York/London 1990. Zur Verbindung von Wahnsinn und Minnekrankheit vgl. Anm. 18. Vgl. Hartmann von Aue, Iwein, hg. von Georg Friedrich Benecke und Karl Lachmann, neu bearb. von Ludwig Wolff, Bd. 1: Text, Berlin 71968, V. 3231 ff. Es fehlt hier der Raum, um parallele Fälle literarischer Beschreibungen des Wahnsinns zu analysieren. Verwiesen sei lediglich neben der schon erwähnten Iweinfigur auf Lancelots Wahnsinn im ‘Prosalancelot’: Prosalancelot I/II. Lancelot und Ginover I/II, nach der Heidelberger Hs. Cod. Pal. germ. 147 hg. von Reinhold Kluge, übers., komm. und hg. von Hans-Hugo Steinhoff (Bibliothek des Mittelalters 14, 15), 2 Bde., Frankfurt a. M. 1995, Bd. 1, S. 1248,29 ff. (I,466 ff.), und Bd. 2, S. 306,34 ff. (I,596 f.). Vgl. auch Konrads von Würzburg Partonopierfigur (Konrad von Würzburg, Partonopier und Meliur, hg. von Karl Bartsch [Texte des Mittelalters], Nachdruck Berlin 1970, V. 9383 ff.) oder auch Gaweins durch den Minnetrank induzierten Identitätsverlust in der Amurfina-Episode der ‘Croˆne’ (Heinrich von dem Türlin, Die Krone [Verse 1–12281], hg. von Fritz Peter Knapp und Manuela Niesner [ATB 112], Tübingen 2000, V. 8660 ff.).
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einem tierischen, naturhaften Zustand an:16 Der Prinz zerstört – zunächst noch im Rahmen einer extremen, aber durchaus gängigen Trauergestik17 – seine äußere Schönheit durch Kratzen und Schläge, reißt sich dann durch noˆt (V. 610) die Kleider vom Leib, schließlich verliert er die Fähigkeit zum aufrechten Gang. Die Fallhöhe des Wahnsinns wird verdeutlicht, indem die tiergleiche Fortbewegung auf allen vieren und der soziale Status des Prinzen kontrastiv enggeführt werden: Die wıˆle er ruowet’ an ein want, nider liez er sich zehant Und gieng uˆf allen vieren, glıˆch den wilden tieren, Durch dorn unde durch hürst(e), der hoˆch geborn(e) vürst(e). (V. 611–616)
Die Verbindung von Wahnsinn und Minne ist dabei nicht nur in der Logik des Textes angelegt, die die Minneklage des Prinzen in den Wahnsinn münden lässt, sondern auch von der literarischen Tradition vorgegeben: Sämtliche Wahnsinnsdarstellungen zeigen einen Konnex zur Minneproblematik; der Wahnsinn wird stets durch eine unglückliche Liebe ausgelöst.18 16
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Laut Schulz [Anm. 10], S. 441 f., ist der Wahnsinn lediglich die extreme Fortführung dessen, was als höfischer Kulturverlust bereits mit der eiligen Flucht des Paares in den Wald begonnen hat. Auf die Verschränkung des medizinischen Diskurses des Wahnsinns mit dem literarischen Diskurs des wilden Mannes hat Theodor Nolte, ‘Wilde und zam’. Wildnis und Wildheit in der deutschen Literatur des Hochmittelalters, in: Methodisch reflektiertes Interpretieren. FS Hartmut Laufhütte, hg. von Hans-Peter Ecker, Passau 1997, S. 39–60, hier S. 48, hingewiesen. Topische Klagegesten wie exzessives Weinen, Raufen der Haare, Züchtigung des eigenen Körpers sind häufig für Frauen belegt, vgl. beispielsweise Laudine in Hartmanns ‘Iwein’ [Anm. 14], die über den toten Ascalon trauert (V. 1310 ff.), oder Enite, die Erec für tot hält: Hartmann von Aue, Erec, hg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff, 7. Aufl. besorgt von Kurt Gärtner (ATB 39), Tübingen 2006, V. 5739 ff. Kindliche Trauergesten finden sich für den jungen Parzival, vgl. Wolfram von Eschenbach, Parzival. Nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann, übertragen von Dieter Kühn (Bibliothek des Mittelalters 8), Frankfurt a. M. 1994, V. 118,9 f. Eine Untersuchung des Motivs aus emotionstheoretischer Sicht bietet Elke Koch, Inszenierungen von Trauer, Körper und Geschlecht im Parzival Wolframs von Eschenbach, in: Codierungen von Emotionen im Mittelalter, hg. von C. Stephen Jaeger und Ingrid Kasten, Berlin/New York 2003, S. 143– 158; auf den inszenatorischen Charakter der Trauergesten verweist Gerd Althoff, Empörung, Tränen, Zerknirschung. Emotionen in der öffentlichen Kommunikation des Mittelalters, in: ders., Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997, S. 258–281. Dies schlägt sich auch in der medizinischen Diskussion um den amor hereos und die Liebeskrankheit nieder, wenn diese in ihren Symptomen deutlich in die Nähe der Melancholie und einer defekten psychischen Verfassung gerückt werden, vgl. Mary Frances Wack, Lovesickness in the Middle Ages. The Viaticum and Its Commentaries, Philadelphia (PA) 1986, S. 8 ff., die den Diskurs von Galen an detailliert nachvollzieht; Alfred Karnein, Europäische Minnedidaktik, in: Europäisches Hochmittelalter, hg. von Henning Kraus und Thomas Cramer (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft 7), Wiesbaden 1981, S. 121–144, hier S. 125 ff., der von der breit rezipierten Definition der Liebe als insania mentis (S. 125) aus-
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Das Jahr, das der Prinz im Wahn verbringt, wird – anders als etwa bei Chre´tien und Hartmann im ‘Yvain’ bzw. ‘Iwein’ – nicht narrativ entfaltet. Sobald der Erzähler dem Prinzen attestiert hat: [m]enschlıˆche(r) sin im gar verswant (V. 617), fällt dieser aus dem Fokus der erzählerischen Aufmerksamkeit heraus, und der Blick wird auf die Prinzessin gelenkt. Erst in V. 769 wird der Erzählstrang wieder aufgenommen, indem die Jäger des Herzogs dem tierähnlichen Mann begegnen. Mit dem Prinzen wird die Kreatur, die vom Erzähler in fast penetranter Wiederholung als wilder man (V. 777, 781, 788) tituliert wird, allerdings nur dadurch identifiziert, dass die Eigenschaft wiederholt wird, die dem Rezipienten als letzte Handlung des Prinzen in Erinnerung geblieben ist, nämlich die Fortbewegung auf allen vieren. Er kann nicht in eine verbale Kommunikation mit den Jägern eintreten, sondern flieht wie ein Tier vor den Hunden auf einen Baum. Allein der Herzog erkennt hinter der wilden Fassade – der Prinz ist mittlerweile am ganzen Körper mit spannen langem haˆre (V. 806) bedeckt – den menschlichen art.19 Die Heilung des Prinzen nimmt der pragmatische, auf die physiologische Komponente des Wahnsinns vertrauende Herzog mit gesunden Bädern sowie ein paar warmen Mahlzeiten in Angriff und meint: wonte er der warmen spıˆse bıˆ, Und der in sanfte bæte er kœme [wider] uˆf der stete.
(V. 800–802)
Und er scheint Recht zu behalten, denn nach sechs Wochen guter Pflege stellt sich ein körperlicher Effekt ein: Hirn und Mark erstarken, so dass der Prinz nicht nur wieder gehen und reiten kann, sondern auch seinen Verstand zurückerlangt (Daz er sich begunde wol verstaˆn, V. 821). Ein wichtiges Element der Restitution ist, wie sich später zeigt, der Wiedergewinn der Sprache, auch wenn diese in der aus Speise, Bädern, Rasur und Salbungen bestehenden Kur20 nicht explizit thematisiert wird. Die
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geht, sowie Alfred Karnein, Krankheit, Sünde, Leidenschaft, in: ders., Amor est passio. Untersuchungen zum nicht-höfischen Liebesdiskurs des Mittelalters, hg. von Friedrich Wolfzettel (Hesperides 4), Triest 1997, S. 57–72, hier S. 62 ff. Zum Begriff amor hereos vgl. Bernhard D. Haage, ‘Amor hereos’ als medizinischer Terminus technicus in der Antike und im Mittelalter, in: Liebe als Krankheit. 3. Kolloquium der Forschungsstelle für europäische Lyrik des Mittelalters, hg. von Theo Stemmler, Mannheim 1990, S. 31–73. Vgl. mit Bezug auf den Iweinroman Michael Graf, Liebe − Zorn − Trauer − Adel. Die Pathologie in Hartmann von Aues ‘Iwein’. Eine Interpretation auf medizinhistorischer Basis (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700, 7), Bern/Frankfurt a. M. u. a. 1989, S. 120 ff., der einen Schwerpunkt auf die Schrift ‘De melancholia’ und das ‘Viaticum’ des Constantinus Africanus sowie den Traktat ‘De amore heroico’ des Arnald von Villanova legt. V. 799. Der Begriff art verweist auf die basale Wesenheit eines Menschen, die ihm auch in größter Not nicht abhanden kommt. Während im art des Prinzen nur noch eine grundsätzliche Zugehörigkeit zur Menschheit zu erkennen ist, hat er bei der Prinzessin noch soziale Konnotation, wenn die Herzogin sofort bemerkt, dass ihr art nur zu einer adeligen Lebensweise passt, vgl. V. 728: duˆ bist von art ein edel barn. Vgl. auch die grundlegende Studie von Julius Schwietering, Natur und art, in: ZfdA 91 (1961), S. 108–137. Dass die Therapie durchaus auf der Höhe zeitgenössischer Medizin erfolgt, zeigt die auf dem ‘Viaticum’ des Constantinus Africanus basierende Zusammenstellung bei Wack [Anm. 18], S. 139 ff.
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vollständige Genesung soll der Prinz durch die Teilnahme an einer Jagd unter Beweis stellen, er soll demonstrieren, dass er von der Seite der Gejagten wieder auf die der Jäger gewechselt ist. Dabei ist die Jagd in ihrer literarischen Stilisierung häufig nicht nur gesellige Unterhaltung, sondern zugleich Minnemetapher, werden ars venandi und ars amandi aufs Engste miteinander verknüpft.21 Jagd und Minne sind gleichermaßen ständisch elitäre Konzepte, die man erfolgreich, aber auch auf eine ästhetisch anspruchsvolle Weise üben will. Was für den Prinzen als Probe auf die Beherrschung einer adeligen Kulturtechnik proklamiert wird, ist somit zugleich eine Minneprobe. Doch gerade die Jagdszene, in der es um die souveräne Kontrolle sowohl über den Jagdfalken als auch über das zu jagende Wild geht, demonstriert, dass der Prinz Wahnsinn und ungezügelten Affekt keineswegs völlig hinter sich gelassen hat. Im Gegensatz zu den meisten literarischen Wahnsinnsbeschreibungen verläuft die Reintegration des Prinzen keineswegs problemlos: Als er in einem Bussard den Verursacher seines Minneleids erspäht und ihn waidgerecht durch seinen Falken erlegt hat, bricht er im Umgang mit dem erlegten Tier auf eklatante Weise den höfischen Comment: Dem buˆsant er daz houb[e]t abe beiz, huˆt unde vleisch er im abe reiz, Gebein’ und daz gevidere daz warf er von im nidere. (V. 847–850)
Die aggressive Zerstörung des Bussards legt eine psychologische Ausdeutung als nachträgliche Bewältigung des Animalischen und des Wahnsinns nahe; so versteht etwa Dirk Matejovski die Szene als Regression in den Wahnsinn, die zugleich einen Heilungsprozess auslöst.22 Schulz sieht in dem animalischen Verhalten aber auch ein symbolisch-kulturelles Potential der Rachehandlung,23 d. h., er rechnet mit einem Anteil bewussten Handelns – ein Ansatz, der sich auf die rationale Interaktion unmittelbar nach dem Zerfleischen des Bussards stützt: Als die Aufpasser den vermeintlich Rückfälligen schon wieder einfangen wollen, argumentiert der Prinz ganz ruhig und höfisch, dass man nicht ohne Jagdgeschenk für den Herzog an den Hof zurückkehren solle (V. 856 ff.), und demonstriert mit der waidgerechten Jagd einer Ente (V. 860 ff.), dass er keineswegs die Kontrolle über sein Handeln verloren hat. 21
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Die ausführlichste allegorische Auslegung der Jagd auf das Bedeutungsfeld der Minne findet sich in der ‘Jagd’ Hadamars von Laber, doch bereits der Minnesang kennt diese Bildlichkeit, so etwa in Lied 9 von Burkhard von Hohenfels, wo das Herz vom Verstand ausgeschickt wird, um die Liebe der Dame als Wild zu erjagen. Matejovski [Anm. 12], S. 191, ähnlich Klaus Grubmüller, Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter: Fabliau − Märe − Novelle, Tübingen 2006, S. 169 f. Vgl. auch Helmut de Boor, Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. Zerfall und Neubeginn. Erster Teil: 1250–1350 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. von Helmut de Boor und Richard Newald, III,1), S. 256. Schulz [Anm. 10], S. 448 f., sieht den Zwischenfall bei der Jagd als Auslöser eines memorativen Effekts, der der vollständigen Restitution diene. Vgl. Schulz [Anm. 10], S. 448 f.
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Dieser schnelle und übergangslose Registerwechsel von extremem Gefühlsausbruch zur Beherrschtheit fügt sich kaum in eine Logik menschlicher Affekte und führt zu der Frage, ob man nicht auch ohne eine psychologische Lesart der Aggression gegen den Bussard auskommt, wenn man nämlich die Figuren nicht so sehr als realistisch gestaltete Menschen, sondern als Funktionen des literarischen Textes versteht, die primär nach poetologischen und gar nicht so sehr nach anthropologischen Gesetzen agieren. Dass es dem ‘Bussard’-Autor nicht um die genaue psychologische Motivierung der Figurenhandlung geht, zeigt sich mehrfach, wenn die Figuren unplausibel handeln, sobald es das Erzählschema erfordert. Hätte der Erzähler die Prinzessin – den Gesetzen der Plausibilität folgend – am Herzogshof ihre Geschichte erzählen lassen, wäre die Verbindung mit dem wilden Mann nicht so lange unentdeckt geblieben. Auch der marokkanische Verlobte, der nach dem Verlust seiner Braut ohne größere Reaktion wieder von der Bildfläche verschwindet, ist nicht nach den Gesetzen nachvollziehbaren Verhaltens, sondern nach den Bedingungen des Schemas komponiert. Tatsächlich ist auch die im ‘Bussard’ wie ein Signum des Wahnsinns wirkende Zerstörung des Vogels stoffgeschichtlich vorgegeben: Auch Guillaume, der in der Trennung keineswegs wahnsinnig wird, erjagt in ‘L’Escoufle’ eine Weihe, reißt ihr das Herz heraus und verspeist es. Abweichend von der Tradition wird im ‘Bussard’ nun die zweite, normkonforme Jagdhandlung eingefügt. Die drastische Aggression gegen den Bussard bekommt in Kombination mit der formvollendeten Entenjagd und durch die deutliche Hyperbolik ein symbolisches Potential. Das Zerfleischen des bereits vom Falken getöteten Bussards ist weniger zweckgerichtet als demonstrativ, es ist kein echter Racheakt, sondern ein symbolischer. Die Tat scheint in ihrer überzogenen Drastik beinahe absichtlich und zeichenhaft vom Prinzen (oder vom Erzähler?) eingesetzt, um im Zitat des Wahnsinns zugleich souveräne Kontrolle über die Wildheit zu demonstrieren. Auffällig sind in diesem Abschnitt die Benennungen des Prinzen: Während der Erzähler ihn vor der Kur konsequent als wilden Mann tituliert hatte, nutzt er bis zur Jagd das neutrale Personalpronomen er, um ihn ausgerechnet unmittelbar vor und nach dem Zwischenfall mit den Bezeichnungen junger herre (V. 846) und junger vürste (V. 864) zum ersten Mal wieder in seiner adligen Existenz anzuerkennen.24 Der Erzähler hält also gerade in der Jagdszene den höfisch-adligen Stand bewusst und markiert deutlich, dass hier ein junger Fürst und eben kein Wahnsinniger agiert. Das Handeln des Prinzen zeigt ein direktes Aufeinanderfolgen von Brechung und Einhaltung der höfischen Normen, von irrationaler Aggression und rationalem Kalkül. Das dynamische Potential des Wahnsinns und der extremen Affekte bleibt ihm durchaus erhalten, aber anders als zuvor kann er es nun steuern. Der zügellose, unkontrollierbare Wahnsinn ist durch einen inszenierten oder performierten Wahn24
Nur noch ein weiteres Mal wird ihm im weiteren Verlauf der Fürstentitel vom Erzähler versagt, nämlich als mit dem Vers Der herzoge zuo dem wilden [man] saz (V. 875) eine Fokalisierung auf die Perspektive des Herzogs erfolgt, der den Prinzen wegen seines ungewöhnlichen Jagdverhaltens wieder für einen Wilden hält.
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sinn ersetzt. Das irrationale Moment der Minne, das den Königssohn in den Wahnsinn geführt hat, ist mit seiner Rückkehr in die höfische Gesellschaft keineswegs getilgt, sondern kann – nicht als unkontrollierter Affekt, sondern als zeichenhafte Geste – in die höfische Welt überführt werden. Erst das sonderbare Verhalten des Prinzen provoziert die neugierige Nachfrage des Herzogs, erst die zeichenhafte Geste wird zum Auslöser dafür, dass der Prinz seine Geschichte erzählt und damit das Wiedererkennen des Paares einleitet. Das normkonforme Jagen der Ente ist Voraussetzung dafür, dass man den Prinzen überhaupt für gesprächsfähig hält: Indem er höfisches und unhöfisches Verhalten kombiniert, sind ihm beide Ebenen verfügbar, kann er sein irrationales Verhalten im rationalen Gespräch erklären und sozial nachvollziehbar machen. Nach der Stummheit im Wahnsinn kommt der Prinz im Gespräch mit dem Herzog rund 50 Verse lang ununterbrochen zu Wort und skizziert nach kurzem Zögern zunächst unter Betonung seines Leids die Grundkonstellation der Beziehung, um dann das Entführungsgeschehen ab dem Zeitpunkt der Rast im Wald detailliert nachzuvollziehen. Freilich präsentiert sich das Erzählen der eigenen Geschichte wie ein Therapeutikum, wie ein Mittel der Selbstvergewisserung, mit dem der Prinz die Phase unbewusster wahnsinniger Existenz noch einmal gedanklich nachvollzieht und endgültig hinter sich bringt.25 Doch auch hier bleibt neben den psychologischen Signaturen genauer nach den poetologischen Konsequenzen dieses Erzählens zu fragen. Auffällig ist, dass die Schilderung des Prinzen – abgesehen vom Perspektivenwechsel und geringen Varianten – die Beschreibung der Waldszenerie durch den Erzähler wiederholt. Die Verse 902–932 entsprechen den Versen 552–595; lediglich die lange Klagerede wiederholt der Prinz in seinem Bericht nur verkürzt mit dem Gedanken, dass er lieber gestorben wäre, als die Prinzessin allein zurückzulassen.26 Man mag geneigt sein, dieses abschreibende Wiederholen als simple Bequemlichkeit eines nicht sonderlich bemühten Autors zu klassifizieren, und so bezeichnet Schulz den Prinzen aufgrund des ausführlichen Berichts als »Assistenten des Erzählers«,27 gesteht ihm mit Betonung der repetitiven Elemente der Erzählung aber wenig Eigenverantwortung zu. Dennoch ist das Erzählen der eigenen Geschichte als Wendepunkt, der zum gegenseitigen Erkennen führt, genauer in seiner poetologischen Relevanz zu betrachten und die Wiederholungsstruktur auf einen semantischen Wert zu prüfen. Um die verbale Souveränität des Prinzen in dieser Passage beurteilen zu können, muss man seine Sprecherrolle nicht nur nach, sondern auch vor dem Wahnsinn betrachten. Schon vor dem Wahnsinn zeichnet sich der Prinz durch ein Sprechen aus, das bewusst mit Doppeldeutigkeiten28 operiert und die übrigen Figuren mit geschick25 26
27 28
So Matejovski [Anm. 12], S. 194. Eine genaue Gegenüberstellung der beiden Passagen findet sich bei Glaser [Anm. 3], S. 53 ff., wobei zu bedenken ist, dass in der Hs. beide Passagen verderbt sind und man sie durch gegenseitigen Abgleich gebessert hat. Dennoch ist die grundsätzliche Parallelität der beiden Textabschnitte ein überlieferungsgeschichtliches Faktum und nicht wesentlich durch diesen editorischen Eingriff forciert worden. Schulz [Anm. 10], S. 452. Schulz [Anm. 10], passim, hat das metaphorische Netz des Textes, das immer wieder in
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ten Formulierungen hinters Licht führt – stets zum Vergnügen des Rezipienten, der die Ambivalenz freilich durchschaut. Am deutlichsten zeigt sich die verbale Überlegenheit in der Begegnung mit dem Brautvater vor der geplanten Hochzeit, als der Prinz seine Entführungsabsichten indirekt benennt, ohne dass der französische König die übertragene Bedeutung der Worte verstehen kann.29 Auf die Einladung zur Hochzeit entgegnet der als Spielmann verkleidete Prinz: vor eim(e) jaˆr haˆn ich geleit Ein wıˆz(e) tuˆbe(n) in ein strik, zuo der ich manigen ougen blik Under wıˆlen haˆn getaˆn; solt’ ich die [ie] meˆre warten laˆn, Soˆ würde si [vil] lıˆhte ei[ne]m’ ander(n) man, dem ich der tuˆben niht engan. (V. 478–484)
Da der König in der Taube nicht seine eigene Tochter erkennt, kann er sich über die Prioritäten des Spielmanns nur wundern. Mit seinem abschätzigen Kommentar, sehent, wie der tobet (V. 472, ähnlich V. 485 f.), erfolgt eine implizite Vorwegnahme des Wahnsinns, doch geht dieses doppeldeutige Sprechen nicht auf das Originalitätskonto des Königs, der die Tragweite seiner Aussage nicht erkennt, sondern allein auf das des Erzählers. Es scheint fast so, als würde er im Spiel der Doppeldeutigkeiten den Ball wieder zurück spielen und hier dem Prinzen seine überlegene auktoriale Weitsicht demonstrieren. Doch auch wenn der Prinz die Vorausdeutung auf den Wahnsinn nicht versteht, ist er ein durchaus würdiger Spielgegner des Erzählers: Anders als der König, der die Doppeldeutigkeit seiner eigenen Worte nicht sieht, setzt der Prinz seine Metaphern stets mit genauem Kalkül ein und beansprucht für sich eine Deutungsautorität, wenn er zum König sagt: ir wizzent niht, wie ez lıˆt, / Ez würde iu danne geseit (V. 476 f.). Bereits an dieser Stelle werden Erzähler und Prinz parallelgeführt, denn beide gehen ähnlich geschickt und bewusst mit Sprache um und werden im zweideutigen Sprechen nicht von den anderen Figuren, wohl aber vom Rezipienten verstanden. Die Taubenepisode hat somit keinen anderen Effekt, als die überlegene intellektuelle Raffinesse des Prinzen zu betonen.30 Sie fügt sich in das gelehrte Setting eines universitären Studiums in Paris, das keineswegs nur ein blinder Anklang an die Erzählung vom ‘Schüler von Paris’ (FB 118–120) ist, sondern elementar zur Figurencharakterisierung beiträgt. Das Geschick des kunstvollen Sprechens entwickelt der Prinz bezeichnenderweise erst mit der Minneerfahrung, denn seine erste längere Rede ist das Liebesgeständnis (V. 201 ff.). Zuvor bietet das Märe kaum direkte Rede des Prinzen, doch nun scheint ihn die Minne beredt zu machen.
29 30
Realität umschlägt, genau nachgezeichnet, vgl. S. 439: »Metaphorisches System und Handlung gehen erneut ineinander über, indem die Metapher zur Realität und die Realität zur Metapher wird«. Vgl. zu dieser Passage Schulz [Anm. 10], S. 438, und Matejovski [Anm. 12], S. 192. Vgl. Ziegeler [Anm. 4], S. 285.
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Wenn der Prinz nach dem Wahnsinn mit einer Erzählung in der Erzählung gegenüber dem Herzog noch einmal das Geschehen referiert, von dem der Leser zuvor schon durch die vermeintlich neutralere Quelle des Erzählers erfahren hat, kann sich die Aufmerksamkeit von der bloßen Handlung auf signifikante Unterschiede in der Darstellung verschieben. Der Prinz nähert sich im Wiederholen des bereits Erzählten der Sichtweise des Erzählers an, zugleich zeigen kleine semantische Nuancen, die sich aus dem Perspektivenwechsel ergeben, dass der Autor die Wiederholung durchaus bewusst komponiert. So heißt es beispielsweise aus der Perspektive des Erzählers, dass der Prinz jæmerlıˆche (V. 577) schrie, was in der Schilderung des Prinzen zu innenklıˆche (V. 931) geändert ist. Während das Adverb jæmerlıˆche auf das Mitleid zielt, das der Prinz bei anderen erweckt, bietet innenklıˆche eine subjektivere Perspektive, die nicht mit einer Außenwirkung auf andere rechnet. Zudem ist auffällig, dass der Prinz seine Geschichte nicht wie im Erzählschema des getrennten Paares üblich bis zur Gegenwart fortführt,31 sondern die Zeit des Wahnsinns ausklammert. Eine nahe liegende, psychologisch argumentierende Erklärung ist, dass der Figur die Erlebnisse im Wahnsinn nicht zugänglich sind und diese Phase einer unbewussten Existenz schlicht nicht erzählbar ist.32 Doch fügt sich diese Lesart eines verbalen Versagens wenig zum souveränen Umgang mit der Sprache, den der Prinz im restlichen Verlauf des Märes zeigt. Vielmehr scheint es so, dass in der narrativen Vergegenwärtigung der eigenen Existenz der Wahnsinn ganz bewusst in einer selbständigen Setzung vom Prinzen ausgeblendet wird. Indem er die Geschehnisse einem erzählerischen Filter unterzieht und den anderen Figuren eben nicht eine lückenlose Faktenkette, sondern eine interpretierte Sicht bietet, kann er sein Leben im Erzählen aktiv modellieren, denn nur das, was er erzählt, wird im Folgenden seiner Person zugerechnet. Als in der Handlungsabfolge des Berichts der Wahnsinn an der Reihe wäre, setzt der Prinz eine Leerstelle, indem er mit der geschickt platzierten Nennung beider Namen die Wiedererkennenshandlung in Gang setzt, die so turbulent und freudig verläuft, dass niemand mehr eine Fortsetzung des Berichts fordert: [»]mir het’ der toˆt niht getaˆn soˆ weˆ, Als[oˆ] daz ich si al eine sizzen lie, unde ich niht weiz, wie ez ir ergie. O weˆ! si was von Frankenrıˆch eins küniges tohter adellıˆch, Unde ich des sun von Engellant.« uˆf sprang diu junkvrouwe al ze hant, Mit wein[en]den ougen si in umb vienk.
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(V. 932–939)
Hans-Jürgen Bachorski untersucht den Bericht der Liebenden über das, was sie während der Trennung erlebt haben, als charakteristisches Merkmal des Liebes- und Reiseromans, vgl. ders., grosse vngelücke und vnsälige widerwertigkeit und doch ein guotes seliges ende. Narrative Strukturen und ideologische Probleme des Liebes- und Reiseromans in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: Fremderfahrung in Texten des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit, hg. von Günter Berger und Stephan Kohl (LIR 7), Trier 1993, S. 59–86, hier S. 76 ff. So Matejovski [Anm. 12], S. 196.
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Man mag einwenden, dass hier nicht die Regie der Figur, sondern die des Erzählers greift, da der Prinz nichts von der Anwesenheit der Prinzessin weiß und somit die Konsequenzen seiner Namensnennung nicht ahnen kann. Oder weiß er mehr, als er vorgibt? Während die Prinzessin ihm überrascht und mit Freudentränen in die Arme fällt und der Herzog freudig aufspringt, zeigt der Prinz keinerlei Gesten der Überraschung, sondern schweigt einfach. Wie immer es in dieser Episode um die strategische Situationsmacht des Prinzen bestellt sein mag, festzuhalten ist, dass er seiner Erzählung mit der Namensnennung einen deutlichen Schlusspunkt verleiht und den Wahnsinn bewusst ausblendet. Der erzählende Rückblick des Prinzen besitzt direkte soziale Relevanz. Anders als Iweins einsamer Identitätsmonolog nach dem Wahnsinn, von dem außer dem Rezipienten niemand erfährt, ist der Bericht des Prinzen in eine öffentliche Situation eingebunden und wird zur Basis für seine Wiedereingliederung in die höfische Gesellschaft. Der Schlusspunkt im Erzählen bekommt konsequente Gültigkeit in der Realität: Auch auf der Handlungsebene spielt der Wahnsinn nun keine Rolle mehr, der Prinz wird uneingeschränkt als Herrscher anerkannt. Das strategisch platzierte Selbstbild wird von der Gesellschaft unkritisch akzeptiert, und das ist nicht weiter ungewöhnlich, denn die Figuren im ‘Bussard’ fügen sich ohnehin stets bereitwillig den Setzungen autoritärer Erzählregie, wie man es etwa nach der Entführung für die vom Erzähler lancierte Erklärung, ein Engel habe die Prinzessin geraubt, beobachten kann. Anstatt dass die phantastische Engelsgeschichte, die unverbürgt aus dem Nichts auftaucht, hinterfragt würde, wird das, was im Erzählen als real gesetzt wird, schnell als Wirklichkeit anerkannt und verhindert eine ausführliche Suche nach der Prinzessin. Nach der Zeit des Schweigens im Wahnsinn hat der Prinz nun seine narrative Souveränität in vollem Maß wiedererlangt. Die zu Beginn so mühsam installierte intellektuelle Überlegenheit ist – wie der Bericht beweist – wiederhergestellt; das passive Verhalten während des Wahnsinns ist wieder in eine aktive Lenkung der Situation verwandelt. Und so kann sein Diktum in der Begegnung mit dem König auch als Leitsatz für das Erzählen seiner eigenen Geschichte stehen: ir wizzent niht, wie ez lıˆt, / Ez würde iu danne geseit (V. 476 f.). Die Welt wird nur dann dem Verstehen zugänglich, wenn man sie aussagt und interpretiert, und der Prinz ist die einzige Figur, die dazu in der Lage ist und ihre Position in der Gesellschaft aktiv im Erzählen modelliert. Indem er das tierähnliche Waldleben einfach aus dem narrativen Fokus ausklammert, ist die vom Prinzen erzählte Version der Geschichte in letzter Konsequenz auch ein Eingriff in die Autorität des Erzählers. Was der Erzähler zuvor geschildert hat, wird vom Prinzen nicht einfach als schicksalhaft vorgegebenes Ereignis akzeptiert, sondern im Wiedererzählen nach eigenem Ermessen korrigiert. Die Figur dringt so mit ihrem Erzählen in das exklusive Terrain des Erzählers, in den Bereich narrativer Regie vor. Trotz des glücklichen Ausgangs der Liebesgeschichte im ‘Bussard’ bleibt beim Rezipienten ein gewisses Unbehagen gegenüber der Figur des Prinzen zurück, eine
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gewisse Ambivalenz, die über das Gefährdungsmoment der Minne erklärt werden kann. Während der Prolog in klarer ethischer Ausrichtung ein triuwe-Konzept der Minne betont, als dessen Voraussetzungen tugent, gelimpf, kunst und schimpf (V. 21 f.) definiert werden, wie sie der Prinz in seiner Ausbildung erhält,33 und der Epilog den Protagonisten eine solche reht[e] liebe34 attestiert, steht der Wahnsinn für ein gefährdendes Element der Minne. Diese Gefährdung trifft die schutzlosen Figuren elementar und bleibt unterschwellig bis zum Ende erhalten, auch wenn der Prinz dieses Risiko in seiner Selbstsicht nachträglich negiert. Was als höfische Minnebindung zweier Königskinder beginnt, entfaltet schnell eine Dynamik, die der Prinz spätestens im kulturfernen Raum des Waldes nicht mehr kontrollieren kann – mag man nun sein Betrachten der Ringe und das Zurücklassen der Prinzessin als schuldhafte Verfehlung werten35 oder ihn als passives Opfer eines radikalen Minneaffekts sehen. Und dennoch ist die Liebe der beiden rehtiu triuwe, gehen Ideal und Risiko direkt zusammen. Zwar erschließt sich, wie der Prinz in seiner Renarration zeigt, im Erzählen ein Korrekturpotential gegenüber der Gefährdung durch die Minne. Das Risiko radikaler Minne kann durch ein alternatives Wiedererzählen nachträglich mit einer höfischen Fassade überdeckt werden, doch endgültig bändigen und sicher kontrollieren lässt es sich nicht. Die Literatur kann im Erzählen neue Realitäten setzen, und dennoch bleibt gerade im Verschweigen das bedrohliche Moment der Minne als faszinierende Leerstelle stehen und hält in Erinnerung, dass in der absoluten getriuwen minne höfisches Ideal und existentielle Gefährdung nah beieinander liegen. Das Risiko, das mit der Minne verknüpft ist und das die Figuren aus ihrer sicheren Umgebung in eine Welt der Gefahr und der Kontingenz führt, lässt sich nicht tilgen und ist zugleich in seinem dynamischen Potential als positiver Wert zu sehen, vor allem, wenn man die narrative Ergiebigkeit der Minnegefährdung bedenkt. Gerade die Trennung und die Bewährung in der Fremde bzw. das Durchleben des Wahnsinns fasst die unbedingte triuwe des Paares in ein angemessenes Bild, kann die Radikalität ihrer Liebe erzählerisch ansprechend vermitteln. Erst Peter Bichsels Magelonenvariation verzichtet auf spannende Bewährungsabenteuer, versetzt die Liebeshandlung in die sichere Unverbindlichkeit des Konjunktivs und die Geschichte in die Handlungslosigkeit: Ueli hätte Magelone das Mieder öffnen können, damit sie besser hätte atmen können. Er hätte sie auf die weiße Brust küssen können. Er hätte sie auf seine Arme nehmen können und auf sein Zimmer tragen. Das hat Ueli nicht getan. Hier hat niemand niemanden getroffen. Hier geschieht nichts, hier geschieht nichts – arme Magelone, armer Peter von Provence – reicher Herr Busant.36 33 34 35
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Vgl. V. 59 ff.: Der kapelaˆn [. . .] / Leˆrt’ in tugent unde glimpf. V. 1071. Der Begriff der rehten liebe findet sich bereits im Prolog, V. 7. So Schulz [Anm. 10], S. 443, der auf Gemeinsamkeiten zwischen Prinzen und Bussard hinweist. Eine moralische Schuld ist im Magelonenstoff angelegt, wo Peter die schlafende Magelone entkleidet und in sexueller Ekstase betrachtet, doch scheint sich der Prinz im ‘Bussard’ eher an den perfekt gearbeiteten Ringen zu ergötzen – ein Faible für artifizielle Produkte höfischer Kultur, das sich gut zu seiner Rolle als gelehrter Wortkünstler fügt. Bichsel [Anm. 1], S. 22.
Der Ritter in der Maultierhaut Zu Motiven und zur Gattung der ‘Königin vom brennenden See’ von Gudrun Felder I Es war ein uns unbekannter Literaturliebhaber, der seine Lektüreerfahrungen in eigene schriftstellerische Tätigkeit umgesetzt und den kurzen (ca. 3000 Verse umfassenden) Roman ‘Die Königin vom brennenden See’ verfaßt hat.1 Der Roman, der mit seinem Erzählen von Ritter und Fee, Liebe und Abenteuer2 dem Zeitgeschmack v. a. des 13./14. Jahrhunderts entspricht, ist in einer einzigen, nach 1470 entstandenen ostschwäbischen Handschrift überliefert, in der er, thematisch abgestimmt, zusammen mit Schondochs Märe ‘Die Königin von Frankreich’ das dritte Faszikel füllt.3 Weder der Text noch die Handschrift bieten einen Hinweis auf die Identität des Verfassers (abgesehen von seiner durch Reime und Überlieferung gesicherten ostschwäbischen Herkunft). Auf jeden Fall entsprach der Autor nicht dem Typus des gelehrten Dichters, wie er in vielen anderen Werken begegnet: Es fehlen jegliche Wissenskompilationen oder vergleichbare Ausführungen; weder kompliziertere Rhetorik noch Fremdwörter deuten auf einen besonderen Ehrgeiz. Der Roman beschränkt sich auf das einfache Erzählen einer Geschichte, ähnlich dem in mancherlei Hinsicht vergleichbaren ‘Friedrich von Schwaben’, der ebenso einen sich selbst genügenden Erzählstil pflegt.4 Der folgende Überblick soll zunächst die Handlung des weitgehend unbekannten Werks nachzeichnen, bevor genauer auf die im Roman verwendeten Motive und die Frage nach der Gattungszugehörigkeit eingegangen wird. V. 1–974: Der tugendreiche Königssohn Hanns von Frankreich verirrt sich auf der Jagd und gelangt auf eine ihm unbekannte Burg, wo ihn die Burgherrin sehr freundlich empfängt. Nach zwei keusch miteinander verbrachten Nächten bietet sie ihm Heirat und Landesherrschaft an, unter der Bedingung, daß er sie nie verletzen dürfe. Hanns akzeptiert, und die beiden verbringen zehn glückliche Ehejahre, in deren Verlauf zwei Söhne geboren werden. V. 975–1266: Als Hanns seine Frau eines Tages zärtlich in den Arm nimmt, sticht sie sich an einer Stecknadel in ihrem Gewand und blutet – das Tabu ist gebrochen, und die Königin muß 1
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Die Königin vom brennenden See, hg. von Paul Sappler, in: Wolfram-Studien 4 (1977), S. 173–270, Edition: S. 184–270. Vgl. z. B. seine Einordnung in das entsprechende Kapitel in: Johannes Janota, Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, Bd. III/1: Orientierung durch volkssprachige Schriftlichkeit, Tübingen 2004, S. 210 f. Augsburg SB und StB 2° cod 170, fol. 64ra–85ra. In diesem Sinne z. B. Christian Kiening, Wer aigen mein die welt . . . Weltentwürfe und Sinnprobleme deutscher Minne- und Aventiureromane des 14. Jahrhunderts, in: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991, hg. von Joachim Heinzle (Germanistische Symposien-Berichtsbände 14), Stuttgart 1993, S. 474–494, hier S. 492 f.
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in großer Trauer mit ihren beiden Söhnen in das Land vom brennenden See zurückkehren. Hanns findet den Weg von der hinter ihm verschwundenen Burg zurück an seinen Hof in Frankreich, wo er mit großer Freude empfangen wird. Er trauert allerdings Frau und Söhnen nach. V. 1267–1586: Nach einem halben Jahr macht er sich endlich auf, um das Land vom brennenden See zu finden. Mit einer seinem königlichen Stand angemessenen Ausrüstung und einem ihm besonders wichtigen Leibdiener wird er von seinen Eltern verabschiedet. Erste Station seiner Reise ist ein bereits weit entferntes Land, in dem Frankreich nur noch vom Hörensagen bekannt ist; er wird durch diverse Lustbarkeiten geehrt. Auf die Frage nach dem Land vom brennenden See kann ihm niemand weiterhelfen. Da er nicht von seiner Suche abzulassen bereit ist, wird er an einen Ritter in Indien weiterverwiesen. V. 1587–2020: Nach sechs Monaten gelangt er dorthin; der Ritter, der ihn ebenfalls von seinem Anliegen abzubringen versucht, kann ihm schließlich nur einen Eremiten empfehlen, der ihm einst von diversen Aventiuren berichtet hatte. Hanns schickt sein Gefolge nach Frankreich zurück und zieht weiter in die tiefste Wildnis hinein, nur noch von seinem treuen Diener und einem mit Gold beladenen Maultier begleitet. Er lernt, sich von wilden Beeren und Wurzeln zu ernähren, und gelangt schließlich zu dem Einsiedler, der sich als ehemaliger französischer Ritter zu erkennen gibt. Allerdings kann auch er nicht helfen und schickt Hanns weiter zu einem anderen Einsiedler, der 1000 Meilen entfernt lebt. Dieser wiederum schickt ihn zu einem dritten Eremiten, der bereits 100 Jahre alt ist und einmal ein solches Land erwähnt habe; nach einigen Tagen gelangt er zu ihm. Hanns erhält endlich die gewünschte Auskunft, verbunden mit der Warnung, niemand könne in das Land gelangen, weil es von einem unüberwindbar hohen Gebirge und einem brennenden See umgeben sei. V. 2021–2252: Nach beschwerlichem Weg gelangen Hanns und sein kneht endlich an das Gebirge, wo sie von Greifen attackiert werden. Da sie keine Passage finden, ersinnt Hanns nach einigen Tagen eine List: Sein Diener näht ihn mit seinem restlichen Besitz von 2000 Gulden sowie seinem Schwert in die Haut des Maultiers ein und deponiert ihn auf einem Felsen. Der kneht möchte in dem Wald sein Leben verbringen. Ein Greif packt das vermeintliche Maultier und trägt es auf den Gipfel des Berges, wo sich Hanns mit seinem Schwert aus der Haut befreit und erfolgreich gegen den Greifen verteidigt. Nach einem mühsamen Abstieg gelangt er an das Ufer des brennenden Sees. Dort findet er nach kurzer Suche ein feuerresistentes Schiff, das von einem Riesen geführt wird. Etwas ratlos, wie er gegen den Riesen ankommen könnte, gibt er sich als armer Diener aus und fragt nach dem Weg – woraufhin der Riese ihn freundlich über den See setzt und ihm den Weg zur Hauptstadt des Landes weist. V. 2253–2706: Hanns verdingt sich dort als Diener bei einem Wirt und bleibt ein halbes Jahr unerkannt. In dieser Zeit erfährt er, daß die Königin in ständiger Trauer lebt und nie ihre Burg verläßt; sie soll aber in kurzer Frist mit einem Lehnsmann verheiratet werden, der ihr Land verwüstet. Als der Wirt die Abwesenheit von König Hanns beklagt, gibt sich dieser schließlich zu erkennen. Bei dem bevorstehenden Hochzeitsturnier will er an den ersten beiden Tagen inkognito teilnehmen, am dritten Tag dann die französischen Farben tragen. Der Wirt hilft ihm bei den Vorbereitungen. An den ersten beiden Tagen kämpft Hanns siegreich, nimmt aber nicht an den anschließenden Festlichkeiten teil. Trotzdem meint die Königin, ihn erkannt zu haben. Am dritten Tag zieht er mit großem Prunk und dem französischen Wappen ein; nach dem wiederum erfolgreichen Kampf wird er von der Königin aus seiner Rüstung befreit und mit großer Freude willkommen geheißen. Der unerwünschte Freier verläßt den Hof heimlich, während die Familie ihr Wiedersehen feiert. V. 2707–2923: Hanns holt seinen treuen Diener zu sich: Der Riese setzt ihn über den See und öffnet den Berg. Ein Bote wird zu Hanns’ Eltern nach Frankreich geschickt. Der gewalttätige
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Freier der Königin wird in einem Krieg vertrieben. Schließlich lebt das Paar noch viele Jahre glücklich; nach ihrem Tod wird der ältere Sohn Nachfolger, der jüngere hingegen König von Frankreich.
Die Handlung läßt sich, entsprechend den großen Vorbildern, in zwei Teile gliedern: 1. die Gewinnung der Frau (mit Krise und Verlust), 2. die Aventiurenfahrt zur Wiedergewinnung.5 Der Protagonist gewinnt seine übernatürliche Partnerin dadurch, daß er eine Art Tugendprobe besteht, die sie ihm auferlegt: zwei keusch neben ihr verbrachte Nächte. Die Krise, die unbeabsichtigte Tabuverletzung und der damit verbundene Verlust der geliebten Ehefrau, führt König Hanns zurück an seinen eigenen Hof, von dem er sechs Monate später aufbricht, um seine Frau zu suchen. Die Aventiurenfahrt führt ihn über Indien bis ans Ende der Welt – die einzigen wirklichen Aventiuren, die er dabei zu bestehen hat, sind die Überwindung des Gebirges, das das Land vom brennenden See abschirmt, sowie die Kämpfe bei dem Hochzeitsturnier. Ansonsten stellt der Autor seinem Helden keinerlei Hindernisse in den Weg, die eine Verkomplizierung seines Weges (und des Erzählfadens) mit sich bringen könnten – allerdings beeindrucken die enormen Ferndimensionen, räumlich wie zeitlich. Die Erzählung konzentriert sich auf Hanns und bleibt immer an dessen Seite; einzige Ausnahme bilden die Verse 937–974, in denen sie die Trauer am französischen Hof nach dem Fortbleiben des Thronfolgers beschreibt. Die strikte Erzählweise ohne jede Abschweifung von der eigentlichen Kernhandlung führt zu einer eher isolierten Stellung des Werkes in seiner literarhistorischen Umgebung. Es ist keine Vorlage bekannt; einiges über seine Anregungen läßt sich aber aus dem Text herauslesen: Der Autor hat auf diverse, aus anderen Erzählungen bekannte Motive zurückgegriffen (am prominentesten wohl die aus der Sage von Heinrich dem Löwen und dem ‘Herzog Ernst’ bekannte Greifenszene), aber nie in der unmittelbaren Zitiertechnik, die z. B. den ‘Friedrich von Schwaben’ kennzeichnet. Der Stil ist ungekünstelt und direkt, teilweise ein wenig unbeholfen; die Figuren erhalten keine Namen (abgesehen von dem Protagonisten, König Hanns) und bleiben insgesamt blaß, ihre Charakterisierung stützt sich hauptsächlich auf funktionsabhängige Konstanten (vgl. z. B. den Tugendkatalog zur Einführung des Helden V. 5–42, die Schönheitsbeschreibung der Königin V. 185 ff.). Solche knapp gehaltenen Kataloge und Beschreibungen fügt der Erzähler passend zum Zeitgeschmack und Anspruch seines Publikums mehrfach ein. Entsprechend seinem insgesamt nüchternen Erzählstil verzichtet der Autor auf programmatische Äußerungen, nicht einmal ein Prolog ist dem Werk vorangestellt. Auch das Erzähler-Ich tritt äußerst selten und fast nur in formelhaften Wendungen auf.6
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Dabei ist die Krise nicht durch den Helden bedingt, sondern auf Äußeres zurückzuführen; die Strukturbedingungen des klassischen doppelten Kursus sind hier nicht gegenwärtig. In Berufung auf die awentür z. B. V. 34, 177, 1432 f. und 1488, die Hochzeitsnacht V. 862, 880, eine Überleitung V. 936; eine eigene Meinung wird V. 1933 ff. formuliert als Reaktion auf Hanns’ Entscheidung, gegen alle Ratschläge seinen Weg fortzusetzen; der Roman endet mit Schlußgebet und -formel des Dichters V. 2920–23.
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Eine Datierung des Romans fällt schwer: nicht vor der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, da er das Lilienwappen des französischen Königshauses erwähnt (unter Karl V. [1364–80] wurde die Zahl der goldenen Lilien auf blauem Grund auf drei reduziert, vgl. entsprechend V. 2613 f.: ain schilt plaw kostlich, / darinn dry gilgen von gold rich), terminus ante quem ist aber erst die Entstehung der Handschrift nach 1470.7 Wenn auch auf recht eigenwillige Weise,8 folgt ‘Die Königin vom brennenden See’ dem Schema der sogenannten ›gestörten Mahrtenehe‹9 und wurde bislang auch hauptsächlich unter diesem Aspekt in der Forschungsliteratur erwähnt:10 Erzählungen, die die Verbindung eines ritterlichen Helden mit einer Fee schildern; ihr Gelingen hängt von einem Tabu ab, dessen mehr oder weniger beabsichtigte Verletzung zur Trennung der Liebenden führt. Konrads von Würzburg ‘Partonopier und Meliur’ hatte das z. B. in den altfranzösischen Lais bewährte Schema11 zuerst in die deutsche Literatur eingeführt, das bis hin zur ‘Melusine’ des Thüring von Ringoltingen immer wieder gern aufgegriffen wurde. Gerade im späteren Mittelalter scheinen diese Erzählungen von der Liebe zwischen Rittern und Feen eine besondere Faszination ausgeübt zu haben; sie sind auch Grundlage von Konrads von Stoffeln ‘Gauriel von Muntabel’, ‘Friedrich von Schwaben’, ‘Ritter von Staufenberg’ sowie von Ulrich Füetrers ‘Poytislier’ und ‘Seifrid de Ardemont’. Die ursprünglich wohl auf keltisches Sagengut zurückgehenden Feenerzählungen leben von dem Kontrast zwischen der christlich-zivilisierten höfischen Sphäre einerseits, dem (erotische) Freiheit und Ungebundenheit versprechenden, geheimnisvollen und märchenhaften Bereich der (meist im Wald anzutreffenden) Feen andererseits. Die Fee ist nur um den Preis eines zu respektierenden Tabus zur Gewährung ihrer Minne bereit, bei Verstößen reagiert sie häufig rachsüchtig. Dieser dämonische Aspekt erhöht den Reiz der Gefahr; charakteristisch ist zudem die aus der Begegnung resultierende Weltvergessenheit des Ritters. Hier wird das Schema der ›gestörten Mahrtenehe‹ jedoch so weit verharmlost, daß es der offensichtlich als Minneroman konzipierten Handlung nicht entgegensteht – wichtigstes Anliegen der ‘Königin vom brennenden See’ scheint es, zu demonstrieren, »welche Leiden zur Rettung einer wahren Liebe notwendig sind«.12 7
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Allerdings unter Berücksichtigung eines gewissen zeitlichen Abstands, innerhalb dessen die Überlieferungsfehler entstehen konnten, vgl. Sappler [Anm. 1], S. 182. Vgl. die ausführliche Analyse in der Einleitung zur Edition: Sappler [Anm. 1], S. 177 ff. Vgl. Friedrich Panzer in seiner Einleitung zu: Merlin und Seifrid de Ardemont von Albrecht von Scharfenberg. In der Bearbeitung Ulrich Füetrers hg. von Friedrich Panzer (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart 227), Tübingen 1902, S. LXXII−LXXX. Vgl. Armin Schulz, Spaltungsphantasmen. Erzählen von der ›gestörten Mahrtenehe‹, in: Wolfram-Studien 18 (2004), S. 233–262, hier S. 233, 254 f.; Paul Sappler, ‘Friedrich von Schwaben’, in: Positionen des Romans, hg. von Burghart Wachinger und Walter Haug (Fortuna Vitrea 1), Tübingen 1991, S. 136–145, hier S. 140; Brigitte Schöning, Friedrich von Schwaben. Aspekte des Erzählens im spätmittelalterlichen Versroman (Erlanger Studien 90), Erlangen 1991; v. a. S. 202 ff. Vgl. unter anderem den ‘Lai de Graelent’ oder den ‘Lai de Lanval’. Janota [Anm. 2], S. 211.
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II Die Edition des eher unbedeutend erscheinenden Romans war unter anderem mit dem Hinweis gerechtfertigt worden, daß die Erzählforschung dadurch ihr »Netz der Belege für ihre Systematik der Motive und Erzählmuster« ausbauen könne.13 Mittlerweile wurde ‘Die Königin vom brennenden See’ tatsächlich entsprechend für den ›Motif-Index‹ zur mittelalterlichen deutschen Literatur herangezogen.14 Die etwas genauere Betrachtung der einzelnen Motive des Romans zeigt, daß diese Parallelen in den verschiedensten literarischen Bereichen haben, aus denen der Autor seine Inspiration bezogen haben könnte – neben möglichen Anleihen an die höfische Literatur oder aus dem Bereich der Minne- und Aventiureromane der Zeit finden sich ebensolche aus Legenden oder Heldenepik. Die Eingangshandlung ist klassisch und entspricht den Bedingungen der Feengeschichten: Der Held verirrt sich bei der Verfolgung eines prächtigen Hirschs im Wald15 und kann so zur feste der Fee in der Anderswelt gelangen – diese Vereinzelung ist Bedingung dafür, den höfischen Bereich verlassen zu können.16 Später erwähnt der Roman, das Land sei umbeschlossen / mit gepirg und wieste gar, / das niemant mocht komen dar (V. 559–561) – auch dies sind übliche Merkmale für die Anderswelt.17 Dort trifft Hanns auf die Landesherrin, die ihn namentlich begrüßt (V. 241), ihren eigenen Namen allerdings nicht nennen mag. Solches Kennen ist (z. B. in Sigunes Gruß für Parzival, ‘Parzival’ 140,16) auch anderweitig geläufig und wird gerne als Charakteristikum einer außerweltlichen Umgebung verwendet;18 hier wird ihm sogleich eine rationale Begründung mitgegeben: Die Königin hat Hanns bei einem Turnier in Frankreich heimlich beobachtet. Der Zweck dieser unerkannt unternommenen Reise wird zwar nicht weiter ausgeführt; das Heiratsangebot, das Hanns zwei Tage später erhält, zeigt aber, daß die Dame sich ihren künftigen Ehemann offenbar nicht spontan erwählt hat (wenn auch ihre lobenden Ausführungen über seine Kampfesleis-
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Vgl. Sappler [Anm. 1], S. 173. Motif-Index of German Secular Narratives from the Beginning to 1400, hg. von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Helmut Birkhan, Karin Lichtblau, Christa Tuczay, Berlin/New York 2005 f., hier Bd. 3, S. 102–106. Vgl. z. B. die in einen Hirsch verwandelte Angelburg, die Friedrich von Schwaben zu ihrer Burg lockt. Vgl. beispielsweise Kalocreants und Iweins Weg zur Gewitterquelle (‘Iwein’, V. 259 ff. bzw. 911 ff.), Parzival und Gawein auf dem Weg zur Gralsburg (‘Parzival’, 224 ff., ‘Croˆne’, V. 13935 ff. zu Beginn der dem Besuch vorangehenden ersten Wunderkette), ähnlich Wigalois auf dem Weg nach Glois (V. 6254 ff.) oder Meleranz, der auf dem Weg zu Artus Tydomie trifft (V. 330 ff.). Entsprechend später im Roman das Land vom brennenden See (V. 1992 ff., 2025 ff.); vgl. auch das Land Cluˆse in Strickers ‘Daniel’, den Weg durchs Gebirge zu Amurfina in Heinrichs von dem Türlin ‘Croˆne’, V. 7898 ff. oder das Land Jorams in ‘Wigalois’, V. 599 ff. So äußerst pointiert in der ‘Croˆne’ (Begrüßung Gaweins durch Gansguoter V. 13057, in den Wunderketten V. 14475, 14610 f., 14637, 16091 ff., 16194 sowie in der Aventiure vom Schwarzen Ritter V. 19025, 19323), daneben z. B. auch im ‘Friedrich von Schwaben’, V. 145 ff.
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tung eher topisch anmuten, vgl. V. 287 ff.). In dieser wohlüberlegten Werbung steht die Königin nicht allein, sondern in einer Reihe mit prominenten Vorgängerinnen, die sich ebenfalls Partner nach deren Leistung erwählt haben: sei es als Sieger über die bisherigen Landesherren (Laudine ‘Iwein’ V. 2033 ff., Amurfina ‘Croˆne’ V. 7901– 7963), als Gewinner eines extra zu diesem Zweck ausgerichteten Turniers (Herzeloyde ‘Parzival’ 60,9 ff.; Flursensephin ‘Croˆne’ V. 17578 ff. – allerdings hat hier der Vater das Turnier einberufen) oder aber als Retter aus höchster Not (Belakane ‘Parzival’ 44,1 ff., Condwiramurs ebd. 199,26 ff., die Mutter des ‘Gregorius’ V. 2234 ff.). Ähnlich planvoll geht etwa auch Jerome im ‘Friedrich von Schwaben’ vor. Das keusche Beilager,19 zu dem die Dame Hanns in den beiden ersten Nächten zwingt, hat keine wirklichen Parallelen außerhalb der ‘Königin vom brennenden See’. Während die komplizierte Regelung um mehrere ähnlich keusche Minnenächte im ‘Friedrich von Schwaben’ durch die Erlösungsbedürftigkeit Angelburgs ausreichend motiviert wird, läßt der vorliegende Text jegliche Begründung vermissen;20 nicht einmal als ordentlicher Treuetest (so verzeichnet der ›Motif-Index‹ diese Partie) mag die »gewöhnliche Minnekasuistik«21 der Königin dienen, die beliebig die Regeln ändern kann: Nach der ersten Nacht wird Hanns gelobt, nach der zweiten hingegen getadelt dafür, daß er sich an die Bedingung gehalten hat (V. 660–675, 706 ff.). Daß der Minnequalen leidende Hanns für seine Zurückhaltung von der Frau als zag (V. 708) beschimpft wird, weil er nicht gegen ihren Willen gehandelt habe, ist einer der wenigen Widerhaken des Romans: Was die Königin bemängelt, steht zum einen im Widerspruch zu den Erfahrungen der ersten Nacht sowie dem am ersten Tag ausgesprochenen Angebot, ihr Reich werde seines, sofern er sich an ihr gebot halte (V. 564– 569), zum andern ganz allgemein zum Ethos des Rittertums, zu dessen Grundpfeilern der Respekt vor den Damen zählt. Der Erzähler verzichtet auf eine wie auch immer geartete Vertiefung der Problematik. Auch bei dem ehebegründenden Tabu, die Frau nicht verletzen zu dürfen (V. 758 ff.),22 ist es lediglich die Ausprägung, die als romanspezifisch angesehen werden kann.23 In anderen Fällen droht der Verlust der übernatürlichen Partnerin (bzw. des Partners, vgl. das Frageverbot in ‘Lohengrin’ V. 227 f., 708 ff.) z. B. bei der Verletzung eines Sichttabus entsprechend der Amor-und-Psyche-Tradition (so in Konrads von Würzburg ‘Partonopier’ und in ‘Friedrich von Schwaben’), des Verbots eines Schönheitslobs im ‘Gauriel’ des Konrad von Stoffeln, eines Eheverbots wie in der 19
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V. 370 wäre wohl bett anstelle von tisch zu bessern: der Tisch wurde bereits V. 352 erhaben; der kostbare, feststehende staubhil (Himmel), der hier beschrieben wird, dürfte sich wohl eher über einem Bett denn über einem (üblicherweise transportablen) Tisch befinden. Die beiden Nächte könnten höchstens in ihrem Verbotscharakter als Vorbereitung auf die tabubedingte Ehe gewertet werden; oder aber die Königin hofft, Hanns in seinem Minnebegehren um so sicherer an sich zu binden (vgl. V. 652 f.: die min hett iren straul/ geschossen durch sin hertz). So Schulz [Anm. 10], S. 254. Schöning [Anm. 10], S. 203, zeigt sich dabei erstaunt, daß der Text die naturbedingte Blutung in der Hochzeitsnacht nicht weiter berücksichtige. Der ›Motif-Index‹ bietet keine Parallelen (Motiv C 31.8, »Tabu: striking supernatural wife«).
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Versnovelle ‘Der Ritter von Staufenberg’, des Verbots, samstags nach der Frau zu suchen, das in Ringoltingens ‘Melusine’ das Eheglück bedingt, oder schließlich, bereits stark vom Schema abweichend, die Trennung des Paars dadurch, daß Poytislier das Minneangebot der Fee in Füetrers gleichnamigem Roman zurückweist. Bevor die Frau nun verschwindet, kommt es zu einer ausführlichen Klage- und Abschiedsszene, in der sie Hanns von ihrem Bestimmungsort erzählt und dem Glauben Ausdruck verleiht, daß ein Wiedersehen völlig unmöglich sei (V. 1090 ff.); dann wird sie, ganz höfische Dame, zunächst noch uff die fart in schwarze Tauergewänder gekleidet (V. 1107). Anders als z. B. Parzival bzw. Gawein bei ihrem jeweils ersten, erfolglosen Besuch auf der Gralsburg, findet sich Hanns nicht einfach beim Erwachen in einer völlig verlassenen Burg (vgl. ‘Parzival’ 245,28 ff., ‘Croˆne’ V. 14880 ff.), sondern er erhält von den Dienern zunächst seine Ausrüstung wieder, mit der er zehn Jahre zuvor gekommen war (sogar sein Pferd ist noch in guoter acht, V. 1134); erst nach seinem Abschied verschwindet die Burg hinter ihm. Hanns verbringt ein halbes Jahr am Hof seiner Eltern in stummer Trauer; er verschweigt seine Geschichte selbst seinen Eltern gegenüber. Entsprechend offen läßt er den Anlaß seiner Reise – erst als er sich in Indien von seinem Gefolge verabschiedet, nennt er das Ziel seiner Fahrt: zuo suochen die allerliepsten frawen (V. 1731). Diese Suche gehört wiederum zum Schema der Mahrtenerzählungen, vgl. z. B. ‘Meleranz’ oder ‘Friedrich von Schwaben’; sie findet sich aber auch in anderen Gattungen (vgl. Wolfdietrichs dreijährige Suche nach Liebgart oder die Geschichte Willehalms und Eˆreˆnes in Rudolfs von Ems ‘Der guote Gerhart’). Auch wenn die Reise in Richtung Osten über Indien ans Ende der Welt führt, bleibt sie doch weitaus beliebiger und unkonkreter als die meisten Orientfahrten anderer Helden (z. B. Gahmuret, Herzog Ernst oder Reinfried von Braunschweig) – der Kontext der Kreuzzüge scheint weit entfernt und daher uninteressant für den Autor. Einziges Ziel, das Hanns auf seinem Weg verfolgt, ist die Suche nach Informationen über das Land vom brennenden See, in dem er seine Frau und Söhne weiß. So reist er von einem möglichen Helfer zum nächsten, immer auf Empfehlung hin. In dem ersten Land wird er an einen weitgereisten Ritter in Indien verwiesen, dieser schickt ihn zu einem Einsiedler in der Wüste (der ehemals ein französischer Ritter war); erst der dritte der Eremiten (der bereits über hundert Jahre alt ist – dem Gesetz der Steigerung und Übertreibung folgend, übertreffen sich die drei an Weltentferntheit und Alter) kann endlich die gesuchten Auskünfte geben. Sowohl für Ritter als auch für Eremiten als Helferfiguren bietet der ›Motif-Index‹ eine ganze Reihe von Parallelen aus den verschiedensten literarischen Bereichen; der zweite Einsiedler zeigt v. a. deutliche Anklänge an Trevrizent, indem er seine Gäste mit wurtzen und krut verköstigt (V. 1775 ff., vgl. ‘Parzival’ 485,21 ff.). Eins der auffälligsten Motive, die sich in der ‘Königin vom brennenden See’ finden, dürfte hingegen die Art und Weise sein, wie Hanns schließlich das sein Ziel abschirmende Gebirge überwindet: Er läßt sich von seinem Diener in die Haut des letzten ihnen verbliebenen Maultiers einnähen, ausgerüstet mit einem Schwert und seinen letzten 2000 Gulden. Ein Greif packt das vermeintliche Beutetier und trägt es auf den Gipfel des Gebirges; dort befreit sich Hanns mit Hilfe seines Schwertes und verjagt
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den Greifen. Diese List findet sich vor allem in den Erzählungen von Herzog Ernst: Während dort gleich mehrere Gefährten nach dem Schiffbruch am Magnetberg in Ochsenhäute eingenäht und von Greifen von der Insel gerettet werden, ist es in der stofflich eng verwandten Sage von Heinrich dem Löwen lediglich der König, der von seinem Diener in die Haut eines Ochsen eingenäht wird, so daß ihn ein Greif von dem durch Windstille festsitzenden Schiff und vor dem Hungertod retten kann.24 Die Vorgehensweise, mit der Hanns endlich seine Frau zurückgewinnt, steht wiederum in engem Zusammenhang mit vielen anderen Texten: Er gibt sich zunächst als Diener aus, um die Lage zu erkunden, und tritt dann als unbekannter, erfolgreicher Kämpfer im Turnier auf, der sich am Schluß zu erkennen gibt; es folgen Versöhnung und Wiedervereinigung der Eheleute und Herrschaftsübernahme. Das Verkleidungs-/Verstellungsmotiv ist vor allem im Rahmen der Brautwerbung verbreitet, vgl. nur Siegfried als Gunthers Werber um Brünhild (‘Nibelungenlied’), Hugdietrich, der sich als Frau verkleidet, um Zugang zu Hildeburg zu erhalten (‘Wolfdietrich B’), oder Ortnit, der sich auf Brautfahrt als Kaufmann ausgibt. Es findet sich aber auch häufig genug in anderen Handlungszusammenhängen, wie in ‘Salman und Morolf’, in der Karlmeinet-Tradition oder in Kaufringers Märe ‘Bürgermeister und Königssohn’, wo sich der französische Königssohn inkognito an der Universität Erfurt aufhält. Zumindest teilweise kommt es auch zur Erniedrigung durch die Verkleidung, wie sie Hanns als Diener des Wirtes erduldet, vgl. Siegfried als angeblichen Lehnsmann von König Gunther, Morolf oder Tristan als Bettler bzw. Pilger. Allein der ‘Königin vom brennenden See’ ordnet der ›Motif-Index‹ zu, daß Hanns Hilfe durch den Wirt, seinen vorherigen Dienstherren, für die Turniervorbereitungen zuteil wird und daß dieser dafür belohnt wird.25 Mit keinem Wort läßt der Erzähler hier irgendwelche Zweifel des Wirts aufkommen, daß Hanns wirklich der ist, der er zu sein vorgibt – die Selbsterklärung reicht völlig aus. Für Hanns’ Turnierteilnahme als Unbekannter hatte der Autor zahlreiche mögliche Vorbilder, erwähnt seien nur Gawein im Turnier um Flursensephin (‘Croˆne’ V. 18596 ff.) oder Lanzelet im Turnier von Djofleˆ (‘Lanzelet’ V. 2868 ff.), ähnlich Parzivals unerkannter Auftritt als roter Ritter vor Beˆaˆrosche (‘Parzival’ 383,23 ff.).26 Turniere, die in verschiedener Hinsicht den Charakter von Testsituationen hatten, sind fester Bestandteil der meisten höfischen Romane. Die große Anzahl von Gefährten, die sich Hanns für die einzelnen Turniertage erbittet, ist im Vergleich zu historisch belegten Zahlen gar nicht so groß: Am ersten Tag 40 (V. 2438), am zweiten Tag 60 Mann (V. 2445), für den dritten Tag alle Ritter, die nit herren habent (V. 2470 f.), dazu pfiffer und busaner guot (V. 2475). Bumke berichtet von Turnieren (im 12. Jahrhun24
25 26
Vgl. Deutsche Sagen, hg. von den Brüdern Grimm, ediert und kommentiert von Heinz Rölleke, Darmstadt 1999, S. 585 ff. (Nr. 520). Motiv K 1812.1, »Incognito king helped by humble man. Gives reward.« Der ›Motif-Index‹ verweist unter Motiv Nr. R 222 unter anderem noch auf Pleiers ‘Meleranz’ und ‘Tandareis und Flordibel’, auf den ‘Willehalm von Orlens’ sowie ‘Lohengrin’ und den ‘Schwanritter’. Vgl. darüberhinaus auch Ulrichs von Liechtenstein ‘Frauendienst’ oder ‘Reinfried von Braunschweig’.
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dert) mit 3 000 oder gar 20000 Rittern und entsprechend großen Gefolgen der einzelnen Turnierteilnehmer.27 Auch der Abschluß der Erzählung greift noch einige Motive auf, die Parallelen in anderen Werken kennen, so neben dem glücklichen Wiederfinden der getrennten Gatten vor allem die Vertreibung des unerwünschten Freiers (so z. B. Clamide in ‘Parzival’, der namenlose Bewerber um die Mutter von Gregorius oder der Sieg Gaweins über Reimambram zur Rettung Belahims in der ‘Croˆne’). Auffällig ist noch eine Gemeinsamkeit mit dem ‘Friedrich von Schwaben’: Das Gebirge läßt sich durch den Hornruf des Riesen öffnen, als Hanns mit Gefolge auszieht, um seinen treuen Diener im Wald zu suchen – ähnlich läßt sich der Berg, in dem Jerome Friedrich gefangen hält, mit einem magischen Stein öffnen (vgl. ‘Friedrich von Schwaben’ V. 3099 ff.).28 Allerdings finden sich auch weitere magische Berge, wie z. B. die mit einem Schlüssel zu öffnende Bergfalle des Baingranz (‘Croˆne’ V. 26632 ff.). Ein Erzähldetail sei hier noch als Beleg dafür erwähnt, daß der Autor trotz aller Schlichtheit seines Stils doch zuweilen über ausdrücklichen Gestaltungswillen verfügte: An den beiden ersten Tagen, die Hanns bei seiner zukünftigen Frau verbrachte, hatte diese ihm zunächst weiße, dann rote Kleider bringen lassen und sich selbst in denselben Farben gekleidet. Im Turnier tritt Hanns nun entsprechend am 1. Tag weiß, am 2. Tag rot gekleidet auf – die Königin erkennt ihn wohl auch nicht zuletzt an diesem Signal (vgl. V. 2525 ff., 2561 ff.).
III Hat der kursorische Durchgang durch die Motive und Erzählmomente gezeigt, aus welchem literarischen Spektrum die möglichen Anregungen für den Autor der ‘Königin vom brennenden See’ stammen könnten, so sagt er doch weniger über das Erzählanliegen und die Gattungszuordnung des kleinen Romans. Der herkunftsmäßig und inhaltlich nahestehende ‘Friedrich von Schwaben’ hatte ebenso wie z. B. ‘Der Ritter von Staufenberg’, ‘Melusine’ oder auch ‘Gauriel’ ein dynastisches Anliegen – die Erzählungen verknüpfen die Geschichte eines Herrscherhauses mit ihrem mythischen Stoff und tragen somit zur Verstärkung eines Stammes- bzw. Landesbewußtseins bei. König Hanns von Frankreich wird zwar ebenfalls einer realen Dynastie zugeordnet, es läßt sich aber keinerlei vergleichbares historisches Anliegen damit verbinden.29 Falls dem Roman über den konkreten Unterhaltungswert hinaus überhaupt ein soziales Interesse zugeschrieben werden darf, dann ließe sich das höchstens im Blick auf die Frage nach der Verantwortung eines 27
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Joachim Bumke, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, München 51990, S. 349 f. Der ›Motif-Index‹ bringt nur diese Parallele (Motiv D 1552.1, »Mountain opens at blow of divine rod«). Die Zuordung des Helden zum frz. Königshaus als Einpassung in einen geographischen Raum erscheint ebenso funktionslos wie z. B. die Identifikation der Romanhelden Bertholds von Holle als ungarischer Königssohn oder als englischer König.
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Herrschers sehen: Der ansonsten in jeder Hinsicht idealisierte Hanns ordnet seine Pflichten als Thronfolger völlig seiner Minne unter und entzieht sich ihnen. Allerdings wird diese Minnevergessenheit, die zu den Konstanten der Feengeschichten gehört, im Text mit keinem Wort problematisiert. Erst der Romanschluß bietet zumindest eine Lösung des unausgesprochenen Konflikts, indem brieflich ausgehandelt wird, daß der jüngere der beiden Söhne in Paris erzogen und zum Thronfolger herangebildet werden soll (V. 2871 ff.). ‘Die Königin vom brennenden See’ bietet also, anders als die verwandten Romane, kaum Anhaltspunkte für eine sozial- oder regionalhistorische Interpretation. Auch wenn ein Held ohne innere Konflikte und Wandlungen, der Verzicht auf die klassische Form sowie eine gute Kenntnis der höfischen Literatur die Nähe zum bürgerlichen höfischen Roman des Spätmittelalters zeigen,30 verdankt der Roman seine bereits früh konstatierte Isolierung im Blick auf eine Gattungsanknüpfung auf erzählerischer Ebene vor allem seinem Umgang mit dem Schema der Mahrtenehe.31 Abgesehen von dem außerweltlichen Auftauchen der Burg im Wald und dem der Ehe zugrundeliegenden Tabu, hat bereits die gesamte Eingangssequenz keine sehr ausgeprägte Feenwelt mehr zu bieten: Die Dame wird nach Kräften dem Ideal der höfischen Liebenden angepaßt, sie kennt Hanns vom Turnier in Frankreich, sie besucht die Messe, sie unterhält ihn mit höfischen Vergnügungen. Auch die Hochzeit und ersten Ehejahre lassen nichts Anderweltliches erkennen: Ein Priester schließt die Ehe, Hanns übernimmt die Herrschaft, zwei Söhne kommen zur Welt – das entspricht der realen Lebenserfahrung von Autor und Publikum. Erst nach zehn Ehejahren32 gerät der Feencharakter der Dame wieder in den Blick, als es zum Bruch des Verletzungstabus kommt: Im Rahmen einer zärtlichen Umarmung sticht sich die Königin an einer glufe und blutet; obwohl sie Hanns verzeiht, muß sie ihn mit den Söhnen verlassen. Aber selbst hier bleibt der höfische Charakter bestimmend; die Frau verfügt über keinerlei bedrohliches Potential (anders z. B. die dramatischen Folgen der Tabuverletzung in ‘Der Ritter von Staufenberg’ oder in ‘Melusine’). Stattdessen betont der Autor bei der Schilderung des Tabubruchs vor allem den Kontrast von kleinstmöglicher Ursache und größtmöglichem Leid: Die Stecknadel als kaum wahrnehmbare ›Waffe‹, die in ihrer Nichtigkeit anderweitig z. B. zur Illustration von Negationen verwendet wird, verbunden mit der liebevollen, all30
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Vgl. z. B. die Auflistung der typischen Charakteristika bei Derk Ohlenroth, ‘Reinfried von Braunschweig’. Vorüberlegungen zu einer Interpretation, in: Positionen des Romans [Anm. 10], S. 67–96, hier S. 67. Vgl. Sappler [Anm. 1], S. 182 f., der überlegt, ob es sich um eine »Rückbildung des höfischen Romans [. . .] mit einem sehr starken Verlust seiner literarischen Möglichkeiten« handelt, aber eher dazu neigt, in ihm eine »weitere Unterströmung der klassischen und nachklassischen Zeit neben Helden- und Spielmannsepik« literarisch werden zu sehen, »welche sich bis zu einer primitiven Parallele zum höfischen Roman erheben konnte«. In der christlichen Symbolik ist die Zehn Zahl der (vor allem irdischen) Vollkommenheit und Vollendung, so z. B. die Zehn Gebote; vgl. Gerd Heinz-Mohr, Lexikon der Symbole, München 1998, S. 340.
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täglichen Situation, hebt den völlig unbeabsichtigten Charakter der (Tabu-)Verletzung hervor und scheint eher in einen Minneroman zu gehören. Außerweltlichen Charakter haben im weiteren Verlauf ansonsten vor allem das Verschwinden der Burg hinter dem fortreitenden Hanns sowie die Abschottung des Landes vom brennenden See durch hohe Berge und den brennenden See. Dagegen ist die Handlung um Turnier, gewalttätigen Freier und abschließende Wiedervereinigung der Liebenden gänzlich vom höfischen Stil geprägt; der kleine Disput der Eheleute um den im Wald zurückgebliebenen Diener bringt sogar noch schwankmäßige Züge hinein (V. 2707–2750). Daß die Feen in den meisten mittelalterlichen Erzählungen – und nicht nur hier – kaum anders als höfische Damen erscheinen, führt Schulz auf die Verdikte der zeitgenössischen Theologie zurück.33 Die Figuren seien gespalten in einen freundlichen Part, den der höfischen und sanften Geliebten, sowie in einen mehr oder weniger ausgeprägt bedrohlichen Teil, der allerdings in den meisten Fällen auf andere Figuren und Wesen übertragen werde, um den kirchlichen Dämonieverdacht zu entkräften. Im Fall der Königin vom brennenden See scheint der dämonische Part weitgehend unterdrückt zu sein – nicht einmal die ihr Reich schützenden Greifen und Riesen erweisen sich als wirklich gefährlich (die Greifen lassen sich überlisten; der Riese auf der feuerresistenten Fähre ist entgegen allen Befürchtungen hilfsbereit und freundlich zu Hanns). Damit entfernt sich der Roman so weit von dem ursprünglichen Schema, wie er es in dessen Rahmen nur irgend kann. Alles, was vom Übernatürlichen bleibt, sind die aus der normalen Welt entrückten Herrschaftsgebiete der namenlos bleibenden Dame sowie deren außerordentliches Verschwinden. In diesem Sinne kann die pseudo-geographische Verortung des Landes im brennenden See, zu dem Hanns jahrelang bis an das Ende der Welt reist, als Ausdruck einer erwünschten Rationalisierung verstanden werden. In diese Beobachtung fügt sich, daß Hanns auf seiner Reise die christliche Sphäre nie verläßt: Noch in den entferntesten Gegenden trifft er auf Christen, die ihn mit Kreuzzeichen empfangen und sich mit ihm verständigen können – so ist der erste Einsiedler Franzose (V. 1775 ff.), der Hanns sogar kennt; sowohl der alte Mann im Wald (V. 1872 ff.) als auch der 100-jährige biderman, der Hanns schließlich die gewünschten Auskünfte geben kann, sind ebenso Christen. Dabei findet sich aber kein Hinweis auf eine besonders fromme oder gar missionarische Haltung des Erzählers. Es scheint lediglich, als habe der Autor eine Art Experiment versucht: ein bewährtes Erzählschema, das strukturbedingt eigentlich stark außerweltliche Züge trägt, so völlig in die höfisch-christliche Sphäre zu übersetzen, wie dies nur irgend möglich schien. Damit unterscheidet sich der Roman, der zwar unterhaltsam zu lesen, in seiner Schlichtheit aber wohl kaum zur großen Literatur zu zählen ist, auf seine Weise von seinen Gattungsgenossen – indem sein Autor es unternimmt, einen Beitrag zu den Mahrtenerzählungen zu leisten, der zugleich die größtmögliche Distanz zu dieser Gattung einnimmt. 33
Vgl. Schulz [Anm. 10], S. 234 f.
Grauzonen Moral und Lachen bei Heinrich Kaufringer von Nicola Zotz I Heinrich Kaufringers »eigentümlichste« Geschichte ist, so Paul Sappler,1 die von der ‘Unschuldigen Mörderin’, jener Gräfin, die mehrere Menschen umbringt und dabei schuldlos bleibt.2 Diese Paradoxie macht sicherlich einen Aspekt der Eigentümlichkeit aus. Ich frage mich, ob dieses meistgedeutete und vielleicht »beste«3 Märe Kaufringers nicht noch aus einem anderen Grund die Forschung so herausgefordert hat: Neben der offensichtlichen, wenn auch schwierigen, moralischen Aussage arbeitet die Geschichte, wie ich zeigen möchte, auch mit Komik, die sich zu der moralischen Ebene nur schwer zu fügen scheint. Komische Züge hat die Forschung gerade diesem Text bisher, soweit ich sehe, einhellig abgesprochen,4 obwohl die Diskussion von Kaufringers Mären neben der hinter den Geschichten stehenden Aussage, also der Moral (sei sie als christlich, laizistisch oder kaufmännisch-städtisch beschrieben worden), auch immer wieder Kaufringers spezifische Komik in den Blick genommen hat. Die ‘Unschuldige Mörderin’ freilich ist nur unter erstgenanntem Aspekt betrachtet worden. Dies ist um so merkwürdiger, als eine Mehrschichtigkeit oder Mehrstimmigkeit schon länger als für Kaufringer typisch angesehen wird. Auch die Zusammensetzung des Autor-Korpus ist heterogen. Überliefert ist Kaufringers Werk in zwei Haupthandschriften.5 Am wichtigsten ist der Münchner Cgm 270, dessen zweiter Faszikel, von einem Schreiber geschrieben, ausschließlich die 17 Texte Kaufringers überliefert, darunter seine 13 Mären; weitere zehn Stücke überliefert die Berliner Handschrift Ms. germ. fol. 564. Zu den Mären gesellen sich geistliche Er1 2
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Paul Sappler, Art. ›Kaufringer, Heinrich‹, in: 2VL 4 (1983), Sp. 1076–1085, hier Sp. 1084. Heinrich Kaufringer, Werke, hg. von Paul Sappler, Bd. 1: Text, Tübingen 1972, Bd. 2: Indices, Tübingen 1974, Nr. 14. Karl Stackmann, Art. ›Kaufringer, Heinrich‹, in: 1VL 5 (1955), Sp. 506–510, hier Sp. 508. Vgl. etwa Kurt Ruh, Kaufringers Erzählung von der ‘Unschuldigen Mörderin’, in: Interpretation und Edition deutscher Texte des Mittelalters. FS John Asher, hg. von Kathryn Smits, Werner Besch und Victor Lange, Berlin 1981, S. 165–177 (»entbehrt Kaufringers Erzählung gerade des Komischen«, S. 175), oder Marga Stede, Schreiben in der Krise. Die Texte des Heinrich Kaufringer, Trier 1993. – Manche Autoren zählen die Geschichte noch nicht einmal zu den Mären Kaufringers, sondern bezeichnen sie als Exempel: »Ich schlage vor, die ‘Mörderin’ als ein verkapptes und überdimensionales geistliches Exempel aufzufassen«; Ralf-Henning Steinmetz, Heinrich Kaufringers selbstbewußte Laienmoral, in: PBB 121 (1999), S. 47–74, hier S. 60. Oder: »‘Die unschuldige Mörderin’ als radikales Exempel«; Klaus Grubmüller, Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter: Fabliau − Märe − Novelle, Tübingen 2006, S. 176–179. Dies und die folgenden Informationen nach Sappler [Anm. 2], S. IX f.
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zählungen, Bıˆspeln und Reden. Der in beiden Handschriften erkennbare, vielleicht auf Kaufringer selbst zurückgehende Korpusgedanke legt es nahe, die Texte im Zusammenhang zu behandeln. Auch für eine Untersuchung wie die vorliegende, die sich ausschließlich mit weltlichen Texten beschäftigt, ist das insofern von Interesse, als auch deren Argumentation nicht immer deutlich von einer geistlichen zu unterscheiden ist: Selbst die als weltlich einzuordnenden Texte oszillieren, sie weisen schwankhafte ebenso wie exempelhafte Züge auf, es begegnet Derbes und Komisches neben Lehrhaftem. Wie Udo Friedrich6 zusammenfasst, entzieht sich Kaufringer einer einsinnigen Didaktik, er irritiert Erwartungen und schafft in der Variation und Verbindung von Typen neue, komplexere Muster. Die dadurch entstehende »Pluralisierung plausibler Handlungs- und Deutungszusammenhänge« führt zu einer offeneren Struktur und ebnet, wie man immer wieder zeigen konnte, den Weg zur Novelle.7 Diese Komplexität stellt auch die Voraussetzung meiner Untersuchung dar, in der eine moralische und eine komische Lesart des Textes miteinander verbunden werden sollen. Komik und Moral müssen sich zunächst einmal nicht ausschließen, und es scheint mir eine lohnende Frage zu sein, wie und mit welchem Ziel Kaufringer sie zusammenbringt.
II Bevor ich an einem Beispiel vorführe, was ich damit meine, möchte ich kurz auf die methodischen Grundlagen eingehen, mit denen ich im Folgenden arbeite. Während für die moralische Deutung von mittelalterlichen Texten mit dem moraltheologischen und juristischen Diskurs vergleichsweise sichere Bezugsgrößen gegeben sind, mit deren Hilfe Kaufringers Texte auch bereits vielfach gedeutet worden sind, sieht es auf dem Feld der Komik sehr viel schwieriger aus. Nach einer grundlegenden Lexikon-Definition beruht Komik auf einer »überraschend wahrgenommenen Inkongruenz«.8 Ferner besteht Konsens, dass eine Distanz zum Geschehen vonnöten ist, damit man es als komisch empfindet;9 das wiederum bedeutet, dass es wesentlich vom Umfeld abhängt, ob etwas als komisch empfunden wird. Hier nun liegt, worauf zuletzt Schnyder10 nachdrücklich aufmerksam gemacht hat, das grundsätzliche Problem für denjenigen, der sich über die Komik von Zeugnissen vergangener Epochen äußern möchte: Das Lustige unterliegt einer historischen und soziokulturellen Relativität.11 Mit dem Bewusstsein und der Reflexion der his6
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Udo Friedrich, Metaphorik des Spiels und Reflexion des Erzählens bei Heinrich Kaufringer, in: IASL 21 (1996), S. 1–30, hier S. 4. Vgl. beispielsweise Ruh [Anm. 4], S. 177. Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen, hg. von Dieter Burdorf, Christoph Fasbender und Burkhard Moennighoff, 3., völlig neu bearb. Aufl., Stuttgart 2007, S. 389. Ebd. Andre´ Schnyder, Zum Komischen in den Mären Heinrich Kaufringers, in: Bausteine zur Sprachgeschichte der deutschen Komik, hg. von Alexander Schwarz, Hildesheim/Zürich/ New York 2000, S. 49–73. Um dieser zu begegnen, hat Schnyder zunächst nach Reflexionen über das Lachen oder das
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torischen Differenz möchte ich mich dem Komischen in den Texten nähern, indem ich zunächst von meinem eigenen Komikempfinden ausgehe, und stelle dafür im Folgenden ein paar definitorische Merkmale von Komik zusammen, mit deren Hilfe sich jenes Gespür vielleicht untermauern lässt. Ich gehe nochmals aus von der oben genannten »überraschend wahrgenommenen Inkongruenz«. Häufig lässt diese sich derart spezifizieren, dass eine Erwartung durchbrochen wird. Mit Henri Bergson gesprochen, reizt es zum Beispiel zum Lachen, wenn man erwartet, dass jemand flexibel reagiert, der aber stattdessen starr und unflexibel handelt: »Ce qu’il y a de risible [. . .], c’est une certaine raideur de me´canique la` ou` l’on voudrait trouver la souplesse attentive et la vivante flexibilite´ d’une personne.«12 Solche raideur de me´canique kann zum Beispiel vorliegen, wenn man einem Hindernis (einer Bananenschale, einem Laternenpfahl) nicht flexibel ausweicht. (Übrigens lässt sich das auch umkehren, wenn beispielsweise ein Gegenstand, von dem man eine raideur de me´canique erwarten würde, überraschenderweise eine menschlich scheinende Flexibilität an den Tag legt.) Der komische Effekt kann durch Wiederholungen gesteigert werden (man reagiert unflexibel, obwohl man aus der Erfahrung gelernt haben müsste). Überhaupt haftet jeder Wiederholung etwas Starres, Mechanisches an, was Komik hervorrufen kann.13 Eine andere Herangehensweise, die Inkongruenz genauer zu bestimmen, wählt Odo Marquard: »Komisch ist und zum Lachen bringt, was im offiziell Geltenden das Nichtige und im offiziell Nichtigen das Geltende sichtbar werden läßt.«14 Bei Marquard prallen nicht vivant und me´canique aufeinander, sondern grundsätzlicher Geltendes und Nichtiges. Auch er erklärt den komischen Effekt also über die Durchbrechung einer Erwartung: Das, mit dem man rechnet, sei das Geltende, welches aber nicht ungebrochen existiert. Wenn diese Brüche aufscheinen, reizt das zum Lachen. (Und auch Marquard denkt die Umkehrung mit: Auch Geltendes, wo man es nicht vermutet, wirkt komisch.) Über den Aspekt der durchbrochenen Erwartung kann nun Komik auch in literarischen Texten eingesetzt werden. Es gibt Situationen, die vom Leser nicht antizi-
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Komische gesucht, was freilich ergebnislos geblieben ist: Mit Ausnahme von formelhaften Kennzeichnungen von Geschichten, etwa des doch guot ze lachenne ist, finden sich hier wie in anderen Mären keine reflektierenden Passagen über das Komische. Ebenso wenig zum Ziel führt Schnyders Zusammenstellung lexikalischer Hinweise auf das Lachen (smielen, spot, lachen etc.). Man kann über das Lachen reden, ohne dass diese Rede im Mindesten komisch sein muss. Und es können Figuren in einer Geschichte lachen, ohne dass das Publikum einstimmt. Und so greift Schnyder, wie auch andere Forscher, letztlich doch auf sein eigenes Gespür zurück und nutzt es als Gradmesser für das Komische. Henri Bergson, Le rire. Essai sur la signification du comique, Paris 1924 (le texte a e´te´ originalement publie´ en trois articles dans la Revue de Paris, 1er fe´vrier, 15 fe´vrier et 1er mars 1900), S. 13 (Hervorh. im Original). »La` ou` il y a re´pe´tition, similitude comple`te, nous soupc¸onnons du me´canique fonctionnant derrie`re le vivant« (ebd., S. 22). Odo Marquard, Exile der Heiterkeit, in: Das Komische, hg. von Wolfgang Preisendanz und Rainer Warning (Poetik und Hermeneutik 7), München 1976, S. 133–151, hier S. 141.
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piert werden können, die ihn daher überraschen oder ihm unangemessen scheinen. Erwartungen können auch gezielt aufgebaut und dann durchbrochen werden, was dann auch am Text nachweisbar ist. Auch wenn diese Nachweise nun immer noch keine Komikbeweise darstellen,15 können sie im Folgenden als Hilfsmittel bei der Untersuchung genutzt werden.
III Eine junge sittsame und tugendhafte Gräfin wird vom König, edel, jung und reich (27), zur Frau begehrt. Ihr Bruder stimmt der Vermählung gerne zu. Nun hat der König in seinem Gefolge aber einen betrügerischen Ritter, der wiederum einen bösen Knecht hat. Dieser verleumdet seinem Herrn gegenüber die Gräfin als unkeusch, was der Ritter sogleich testen möchte, und wartet mit einem Plan auf: Der Ritter habe sich in der kommenden Nacht, der letzten Nacht vor der königlichen Hochzeit, auf die fast verlassene Burg der Gräfin zu begeben und sich im Schutz der Dunkelheit als der König auszugeben, um Einlass zu erhalten. Genau so geschieht es. Die Gräfin erschrickt ob der Meldung des Pförtners, dass der König nächtlichen Einlass begehre, gibt aber schließlich dem Drängen des Besuchers nach aus Angst, sich sonst das ganze Eheleben lang seinen Vorwürfen auszusetzen. Unerkannt vermag der Ritter mit ihr zu schlafen. Anschließend aber verrät er sich durch eine unbedachte Bemerkung. Als die Gräfin sieht, dass sie sich einem Betrüger hingegeben hat, holt sie ein Messer und schneidet dem schlafenden Ritter den Kopf ab. Da sie die Leiche nicht allein entsorgen kann, wendet sie sich an den Pförtner um Hilfe, die dieser ihr um den Preis ihrer Liebe gewährt. All ihr Flehen und alles Gold der Welt können nicht hindern, dass sie schließlich auch mit diesem Mann schlafen muss. Als er anschließend auf ihr Geheiß den Körper des Ritters in den Brunnen wirft, kann sie ihn ebenfalls hineinstoßen. Den Rest der Nacht verbringt sie damit, die Blutspuren zu beseitigen. Am nächsten Morgen kehrt der Graf auf seine Burg zurück; im Wald trifft er den bösen Knecht an, der auf die Rückkehr seines Herrn wartet. Da er zwei Pferde bei sich hat, hält ihn der Graf für einen Pferdedieb und knüpft ihn am nächsten Baum auf. Anschließend findet das Hochzeitsfest statt. Alle sind fröhlich, nur die Gräfin sorgt sich wegen ihrer verlorenen Jungfräulichkeit. Um diese zu vertuschen, bittet sie ihre treueste Magd, sich an ihrer Stelle zum König zu legen. Der Tausch gelingt. Doch im Anschluss an das Beilager weigert sich die Magd, das königliche Bett wieder zu verlassen. Als kein Bitten hilft, zündet die Gräfin die Schlafkammer an, rettet ihren Ehemann und überlässt die Magd den Flammen. Nach 32 glücklichen Ehejahren überrascht der König seine Frau dabei, wie sie vor Kummer weint. Nachdem er ihr versprochen hat, dass er ihr weder has noch zorn (V. 652 f.) entgegenbringen werde, beichtet sie ihm, was damals vorgefallen ist. Gerührt über all die Not, die sie um seinetwillen erlitten hat, verzeiht er ihr.
Es herrscht eine auffällige Diskrepanz zwischen den offensichtlichen Übeltaten der Dame und der Tatsache, dass diese weder vom König noch von der Geschichte noch vom Erzähler problematisiert werden. Kaufringer erzählt die Morde mit Genauigkeit und Akribie, er verschweigt nichts, und dennoch haftet der Dame kein Mangel an, wie es der ebenso paradoxe wie treffende Titel ‘Die unschuldige Mörderin’ auf den Punkt bringt. Ein genauer Blick auf die Erzählung, ihre Wertungen und Zuspitzungen soll zeigen, wie dieser Widerspruch im Einzelnen inszeniert ist. 15
Nicht jede durchbrochene Erwartung muss bei jedem und unter allen Umständen Lachen hervorrufen. Die Kritik an der Komikforschung ist ebenso bedeutend wie sie selbst und konnte immer wieder zeigen, dass Komik eben nicht vorhersagbar ist.
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Der Erzähler schickt seiner Geschichte ein Promythion voraus, in dem dieser Konflikt noch nicht zu erahnen ist. Der erste Teil (der prologus praeter rem) versichert, dass Gott denjenigen nicht verlässt, der auf ihn vertraut. Im zweiten Teil (dem prologus ante rem) spricht der Erzähler zum ersten Mal von der Schuldlosigkeit der Gräfin, deutet ihre aribait (‘Mühen’, V. 13) an und betont wiederum die Hilfe Gottes, die ihr zuteil wurde. Dies ist deswegen bemerkenswert, weil die Erzählung selbst nur ein einziges Mal berichtet, wie die Gräfin sich in ihrer Not an Gott wendet.16 Die Deutungen der Forschung gehen entweder dahin, die göttliche Gnade als allzu zweifelhaft in Frage zu stellen und ihr beispielsweise die Autonomie der Erzählung gegenüberzustellen,17 oder aber die ganze Geschichte, wie es das Promythion nahe legt, als Zeugnis göttlicher Führung und Fügung zu lesen,18 was zu Glättungen in der Geschichte selbst führt, da sie offensichtlich mit anderen Motivationen als der göttlichen arbeitet. In der Exposition wird die Gräfin als vollkommen, gut und integer vorgestellt: keusch und frumm, vein und zart / und geporn von hoher art (‘sittsam und rechtschaffen,19 edel, fein und von hoher Geburt’, V. 19 f.). Erhärtet wird dies zusätzlich dreifach: durch ihren tugendhaften Bruder, durch die Werbung des gleichfalls edlen Königs sowie durch ihren untadeligen Leumund. Das Böse der Gegenwelt erscheint demgegenüber um so verdorbener. Der Ritter des Königs zeichnet sich durch gevär (‘Hinterlist, Betrug’, V. 46) aus, das reine Böse hingegen verkörpert sein Knecht. Von ihm geht die Verleumdung der Gräfin aus, noch dazu lässt sich kein Motiv ausmachen, er ist böse um des Bösen willen, wohingegen der Ritter etwas zu erreichen sucht (er ist üppig, ‘übermütig, überheblich’, V. 66, wobei eine Standesproblematik aufscheint – er will dem König zuvorkommen beim Beilager) und, auch im weiteren Verlauf der Geschichte, wesentlich durch seine Dummheit gekennzeichnet ist (bedort, ‘töricht’, V. 46). Diese ist es wohl auch, die ihn übersehen lässt, dass der Plan des Knechts gerade nicht von einer unkeuschen Frau auszugehen scheint, sondern richtigerweise den einzigen Weg zu ihr in der Maske des Königs annimmt. Die vermeintliche Unkeuschheit wird mithin als Motiv dafür ge16 17 18
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Wegen ihrer verlorenen Jungfräulichkeit (V. 448 f.). Ruh [Anm. 4]. Michaela Willers, Schwankmuster und deren Funktionalisierung in den Texten Heinrich Kaufringers (unter besonderer Berücksichtigung des Märes ‘Die unschuldige Mörderin’), in: Komik und Sakralität. Aspekte einer ästhetischen Paradoxie in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. von Anja Grebe und Nikolaus Staubach, Frankfurt a. M. 2005, S. 129–140. Man könnte diskutieren, wie viel von der ursprünglichen Bedeutung ‘tatkräftig’ an dieser Stelle mitschwingt; gerade mit Bezug auf eine Frau und in der Paarformel mit keusch sehe ich den Aspekt des Nützlichen, Tatkräftigen allerdings eher im Hintergrund. Zu erwägen wäre auch die Übersetzung durch das neuhochdeutsche ‘fromm’. Eine religiöse Bedeutung würde in der Paarformel einen guten Sinn ergeben und ist für das 15. Jahrhundert schon belegt (vgl. Mittelhochdeutsches Handwörterbuch von Matthias Lexer. Zugleich als Supplement und alphabetischer Index zum Mittelhochdeutschen Wörterbuche von Benecke-Müller-Zarncke. Nachdruck der Ausg. Leipzig 1872–1878 mit einer Einleitung von Kurt Gärtner, 3 Bde., Stuttgart 1992, Bd. 3, Sp. 549).
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nutzt, die Leichtgläubigkeit, Überheblichkeit und Dummheit des Ritters zu inszenieren. Davon sticht die Klugheit der Frau in dem Moment um so stärker ab, da er sich als König ausgibt und Einlass begehrt: Sie erschrickt und beginnt sehr differenziert nachzudenken, was (nur bei dieser Figur) als innerer Monolog gestaltet ist. Durch die Innenperspektive, die das Publikum auf diese Weise gewinnt, wird ein weiteres getan, um Sympathie in diesem Text zu verteilen; nicht zuletzt zeigen ihre Gedanken, dass die Gräfin ganz rein ist. Selbst als sie Freude am Liebesspiel bekundet, kommentiert der Erzähler, dass das ganz im Sinne eines frummen weibes (V. 240) sei; nur der törichte Ritter deutet das als Bestätigung der vermeintlichen Unkeuschheit und macht einen diesbezüglichen Kommentar, der ihn sogleich verrät. Die Erzählhaltung wechselt radikal in dem Moment, wo die Dame den Betrug erkennt und den ersten Mord begeht. Kein innerer Monolog bereitet uns darauf vor, kein Kommentar versichert, sie habe keine andere Chance. Sie leuchtet dem Ritter ins Gesicht: vil pald si da erkante das, das er nicht der künig was. des erschrack sie da vil ser, das si also hett ir eer von dem bösen man verlorn. si gieng mit laid und in zorn und mit grossem unmuot und vand ain messer scharpf und guot; das truog si in die kemenat. damit schnaid si dem ritter trat das haubet von dem pottich dan; das muost er ir ze pfande lan. (V. 269–280) (‘Sofort erkannte sie, dass dieser nicht der König war. Sie erschrak sehr heftig darüber, dass sie so ihre Ehre durch den bösen Mann verloren hatte. Sie ging leidvoll und zornig und sehr wütend und fand ein scharfes und gutes Messer. Das nahm sie mit in die Kemenate. Damit schnitt die dem Ritter schnell den Kopf vom Rumpf ab. Das war das Pfand, das er ihr lassen musste.’)
An die Stelle eines inneren Monologs tritt eine äußerst knappe Beschreibung ihres seelischen Zustands (mit laid und in zorn / und mit grossem unmuot). Und mit einemmal ist die Gräfin nicht mehr von den edelsten Motiven geleitet, sondern Verzweiflung und Wut beherrschen sie. Diese Stelle ist von der Forschung meines Wissens noch nicht zur Kenntnis genommen worden. Dabei ist der heftige innere Aufruhr ein wichtiger Zug der Gräfin in diesem Moment, denn er schafft einen Übergang zu dem brutalen Mord, der mit Blick auf die Liebenswürdigkeit der Gräfin nur schlecht erzählbar wäre. Dessen Vorbereitung und Durchführung nun wird von einem entfernteren Standort aus geschildert. Man sieht die Gräfin nüchtern und pragmatisch eine Handlung nach der anderen erledigen. Diese Distanz stellt, wie oben angesprochen, die Voraussetzung für eine mögliche Komik dar. Die sanfte, edelmütige Gräfin, die stets alle Ar-
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gumente klug gegeneinander abwägt und zu moralisch untadeligen Lösungen kommt, verwandelt sich – nach einer Phase von Trauer und Zorn – in eine souveräne Mörderin. Sie, die bisher reagierte, wechselt in dem Moment, wo sie zum unwiderruflichen Opfer geworden ist, auf die Seite der Täter. Dieser Umschwung durchbricht die Erwartung, so dass der Leser verwundert ist und vielleicht sogar mit Lachen reagiert. In Anlehnung an Marquards Terminologie hätte die Geschichte dann bis zu diesem Punkt die Gräfin als untadelig etabliert, was als Geltendes zu fassen wäre, und nun würde sichtbar, dass sie auch andere Züge hat, die sich nicht innerhalb der etablierten Ordnung verstehen lassen, also gleichsam nichtige; Verunsicherung und Hilflosigkeit angesichts dieser unvorhergesehenen Wendung sind die Folge beim Leser. Wenn er lacht, dann nicht aus Bosheit, sondern aus Überraschung. Der Erzähler sorgt ferner dafür, dass man kein Mitleid mit dem betrügerischen Ritter hat, denn dass er unbesorgt eingeschlafen ist, kann als Teil seiner Überheblichkeit und damit als raideur de me´canique verstanden werden, indem er sich hilflos ausgeliefert hat. Der abschließende Erzählerkommentar (das muost er ir ze pfande lan) tut ein Übriges zur Komik: Als ob es ihr darauf angekommen wäre, von diesem Betrüger irgendein Pfand zurückzubehalten! Die folgende Handlung nimmt wieder die Augenhöhe der Gräfin ein: Wie vor dem Mord wird sie als klug dargestellt, argumentiert umsichtig mit dem Pförtner und erklärt ihre Notsituation und ihre Bitte. Sogar ihre Hilfe beim Tragen bietet sie an. Ist das komisch? Auch noch den Kopf zu tragen, würde für den Pförtner vermutlich keinen Unterschied machen. Aber die Zerstückelung des Übeltäters entmenschlicht diesen, was wiederum die Frau bei der Entsorgung entlastet. Ihre Sorge um den Kopf mag, wie Steinmetz meint, die Gräfin in die Nähe der Judith mit dem Kopf des Holofernes rücken und ihre Tat dadurch veredeln.20 Ebensosehr verweist sie aber auch darauf, dass die Gräfin die Verantwortliche bei der Planung ist und dass sie bei dieser Leichenentsorgung nichts dem Zufall überlässt. Nachdem die Gräfin auch den Pförtner nicht davon abhalten kann, mit ihr zu schlafen, erfüllt er nun seinen Teil der Abmachung: Da er sein boßhait volbracht, das weib da mit dem portner gacht und fuort in zuo der kemenat. den toten körpel nam er trat und swang in über den hals sein; das haubt truog das frawelein. (V. 337–342) (‘Nachdem er seine Schlechtigkeit an ihr ausgetobt hatte, führte die Frau den Pförtner eilig in die Kemenate. Schnell nahm er den toten Körper und warf ihn sich über den Hals; den Kopf trug das Fräulein.’)
Hier nun scheint mir deutlich eine Sprach- und Situationskomik vorzuliegen. Erst wird die heftige, schwungvolle Bewegung des Pförtners berichtet. Damit aufs deutlichste kontrastiert die zarte Frau (Diminutiv), die jedoch das Haupt trägt, was wie20
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derum ihrer Zartheit krass entgegensteht. Hier nun ist nicht mehr sicher, ob man überrascht lacht, weil die zarte Frau den brutalen Mord verübt (das Nichtige im Geltenden), oder ob man über das Diminutiv schmunzelt, das die kaltblütige Mörderin bezeichnet (das Geltende im Nichtigen). Merkwürdig scheint die Formulierung swang in über den hals sein. Nach Ausweis der Wörterbücher scheint das keine gängige Formulierung für ›über die Schulter‹ zu sein; und ein Um-den-Hals-Legen müsste auch im Mittelhochdeutschen mit der Präposition umbe stehen. Hat man sich also vorzustellen, dass der Pförtner so gebückt geht, dass der tote Körper über seinem Hals zu liegen kommt? An der Stelle, wo eigentlich der Kopf des einen sitzen müsste, befindet sich jedenfalls nun der Körper des anderen. Beide Übeltäter werden in dieser Szene also kopflos, gesichtslos, sie verschmelzen zu einem Bösewicht, zu einem Objekt, mit dem das Subjekt, die kopftragende Gräfin, verfährt. Klug fädelt sie nun die Entsorgung beider Bösewichte ein: Indem sie dem Pförtner sagt, er möge sich weit über den Brunnen beugen, um die Leiche möglichst lautlos hineinfallen zu lassen, sorgt sie gleichzeitig dafür, dass er seinen Schwerpunkt über den Brunnen verlagert, so dass sie ihn leicht hineinstoßen kann. Der Pförtner, der sie bereits als Mörderin kennt, ahnt dennoch nichts von der Gefahr, in der er schwebt, und liefert sich ihr aus; dumm und unflexibel kann man es als raideur de me´canique lesen, als er sich über den Brunnen beugt: und begraif in bei den füessen sein und sturzt in in den waug hinein, den valschen portner, vil schon. also ward im der minne lon. er muost verderben ze der stund in des diefen wassers grund. das haupt si selb hinein swang. (V. 357–363) (‘und fasste ihn an den Füßen und warf ihn richtig schön ins Wasser, den falschen Pförtner. So bekam er seinen Liebeslohn. Er musste gleich sterben am Boden des tiefen Brunnens. Den Kopf warf sie selber hinterher.’)
Zum dritten Mal, und wiederum mit einem nüchternen erzählerischen Nachklapp, wird man darauf hingewiesen, dass sie sich persönlich um den abgeschlagenen Kopf kümmert: Während im Brunnen beide Männer über-, ja durcheinander zu liegen kommen (erst der Rumpf des einen, dann der Körper des anderen, dann der Kopf des ersten), zieht sie die Fäden, spielt sie die Haupt-Rolle. Man kann nicht übersehen, wie kaltblütig sie ist. Inzwischen aber ist es nicht mehr der Kontrast zu ihrer Feinsinnigkeit und Klugheit, der überrascht. Der Erzähler scheint vielmehr in dieser Szene Wert darauf zu legen, beide Seiten der Gräfin miteinander zu verbinden. Ihre Klugheit erweist sich auch und gerade in der Entsorgung der Leiche(n). Der komische Effekt resultiert nun nicht mehr aus einer Überraschung oder der Inkongruenz verschiedener Züge. Sondern wenn man lacht, dann weil sie so souverän mit allen sich stellenden Hindernissen zurechtkommt. Oder weil sie das Haupt in den Brunnen schwingt, eine nonchalante Bewegung, die nicht zuletzt die Bewegung des Pförtners
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zitiert, der die Leiche schultert: Wer zuletzt schwingt, schwingt am besten. Schließlich ist die Stelle durchaus auf Schadenfreude hin erzählt: Das dem Mord nachgestellte vil schon (V. 359) und der im Reim dazu stehende minne lon (V. 360) tragen deutlich ironische Züge. – Ein Wort noch zur Moral: In der ganzen Szene gibt es keine Andeutung, dass sie oder der Erzähler moralische Skrupel hätten angesichts dieser zwei Morde. Sie werden auch nicht explizit verteidigt. Allerdings mag die stringente Erzählung andeuten, dass sie die einzige mögliche Lösung in der ausweglosen Situation der Gräfin sind. Mit deutlichen Wertungen hingegen durchsetzt der Erzähler die sich anschließende Szene vom Ende des bösen Knechts. Bereits vor dem Hängen wird nochmals betont: er fuort nit rechte sach (‘er hatte keine gerechte Sache im Sinn’, V. 399). Sein Tod wird entsprechend als schändlich und als hässlich markiert: darnach an ains boumes ast ward er gehenkt unverborgen. daran muost er also worgen, bis er daran starb vil trat. (V. 404–407) (‘Danach wurde er öffentlich an einem Ast aufgehängt. An dem Strick musste er so lange würgen, bis er bald darauf starb.’)
Anschließend wertet der Erzähler stark und eindeutig: Er gibt dem Knecht die volle Schuld am Ehrverlust der Gräfin und an den beiden Toden. Die Verkettung der bösen Vorkommnisse ist auf einen Urheber zurückzuführen. Dadurch wird indirekt die Gräfin vollständig entlastet, denn den Knecht trifft ja die ganze Schuld, und sie hat nur reagiert und konnte auch nicht anders als reagieren. Des Erzählers zehn Verse lange Rekapitulation des Geschehenen, das dem Knecht angelastet wird, wird unvermittelt abgebrochen mit dem Satz: wir süllen in da hangen lan (‘nun wollen wir ihn da hängen lassen’, V. 418). Durch die erste Person Plural wird der Vers als dem Exkurs zugehörig markiert, gleichzeitig enthält er aber keine Metaaussage mehr, sondern leitet zum Re´cit zurück. Auch dies ist ein Bruch, der eine komische Wirkung haben kann, diesmal aber in Bezug auf die Erzählebenen. Zu einem vergleichbaren Verfahren in Kaufringers ‘Drei listige Frauen’ hat Keller angemerkt: »Le pluriel ›nous‹ [. . .] unit le narrateur et le public et souligne en meˆme temps l’aspect formel de la mise en sce`ne.«21 Dem Publikum wird bewusst gemacht, dass die ganze Geschichte eine gemachte ist, die einzig von der Lenkung durch den Erzähler abhängt. Nach den Hochzeitsfeierlichkeiten, während derer die Königin kummer und ouch schmerzen (V. 449) leidet, die sie, wie erwähnt, Gott klagt, scheint sich durch die List der untergeschobenen Braut zunächst alles zum Guten zu wenden. Aber obwohl die Königin eine Jungfrau ausgewählt hat, zu der sie besunder trawen (‘ein besonderes Vertrauen’, V. 476) hat, verweigert diese ihrer Herrin die Treue und will das Bett nach 21
Johannes Keller, Comique et violence: ‘Les trois femmes ruse´es’ de Heinrich Kaufringer ˆ ge. dans le contexte des fabliaux et des nouvelles, in: La circulation des nouvelles au Moyen A Actes de la journe´e d’e´tudes (Universite´ de Zurich, 24 janvier 2002), hg. von Luciano Rossi u. a., Alessandria 2005, S. 201–222, hier S. 207.
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dem Beischlaf nicht mehr verlassen. Auch hier sehe ich eine Ambivalenz, eine Grauzone: Ist die Jungfrau eigentlich gut und wird durch die Versuchung oder einen anderen Einfluss böse? Oder hat sich die Königin in ihr getäuscht und hätte die Gefahr erkennen können und müssen? Oder klingt hier die Problematik des Motivs von der untergeschobenen Braut an, dass nämlich das Opfer der Dienerin allzu groß ist, insbesondere wenn man berücksichtigt, dass es durch einen Fehltritt der Herrin nötig geworden ist? Wiederum reagiert die Königin mit Erschrecken; pein, grosser ungemach und unermessliches laid sind die Folge (V. 558–560). Ihre Bedrängnis bringt sie an die Grenze des Wahnsinns: si was nachet worden tumb / und von ir sinnen komen (‘sie wurde fast wahnsinnig und verlor schier ihren Verstand’, V. 562 f.). Diese Szene ist überhaupt nicht komisch, da die Bedrängnis stark auserzählt ist: Der Erzähler steigert das Mitleid mit der Königin; die Distanz und damit eine wesentliche Bedingung für Komik geht verloren. Als sie ein weiteres Mal versucht, die Magd aus dem Bett zu locken, wird diese laut, so dass der König beinahe erwacht und sich die Situation als verloren darstellt: Die künigin muost sich sein verwegen (‘die Königin musste auf den König verzichten’, V. 577). da si mit betrüebtem sin also stuond in herzenlait, da hort si wol, das die mait auch nun ser entslafen was. sie gedacht ir genzlich das, sie wölt ir auch füegen pein.
(V. 582–587)
(‘Als sie da so traurig und mit Herzensqualen stand, hörte sie deutlich, dass das Mädchen auch in tiefen Schlaf gefallen war. Sie nahm sich fest vor, ihr nun auch Schmerz zuzufügen.’)
Das ist interessant: Wieder, wie schon beim ersten Mord, scheint ein unlauteres Motiv bei der Königin auf. Das genauere Verständnis hängt an dem Wort auch: Will die Königin der Magd Schmerz zufügen, da diese ihr welchen zugefügt hat? Dann wäre Rache der Beweggrund. Oder beschließt sie, den zwei (oder drei) anderen Morden nun auch noch diesen anzuhängen? Dann reflektiert sie sehr genau ihre Rolle als Mörderin und bejaht sie. Von hier ist es kein großer Schritt mehr zu einem ›nun kommt es auch nicht mehr drauf an‹. Ich tendiere eher zur ersten Lesart, halte aber in jedem Fall fest, dass die vom Erzähler zu Beginn so nachdrücklich versicherte Untadeligkeit der Gräfin ein weiteres Mal einen Kratzer bekommen hat. Das schwarzweiße Raster, das der Erzähler in Promythion und Exposition angelegt hat, wird zu uneindeutigen Grautönen verwaschen. Ich sehe zwei mögliche Reaktionen beim Publikum: Befremden und Befriedigung. Hinerzählt ist die Geschichte wohl auf letztere: Man nimmt die ganze Zeit die Perspektive der Gräfin ein und stört sich an der Magd als letztem Hindernis auf dem Weg zur Ehe mit dem König. Jedenfalls überrascht es nicht mehr und ist dementsprechend auch nicht mehr komisch, wie souverän die Gräfin auch dieses Hindernis noch aus dem Weg räumt. Allenfalls ein Detail mag komisch wirken: Als sie den König aus der brennenden Kammer zieht, versäumt sie es nicht, den Riegel vorzu-
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schieben und so das Verbrennen der Magd zu garantieren. Diese Umsichtigkeit in größter Not kann vom Publikum wohl nicht antizipiert werden. Wieder hat sich der Erzähler während der Mordschilderung jeglicher Wertung enthalten. Den Tod der Magd aber beurteilt er abschließend als vollkommen gerechtfertigt, ein Verfahren, das man bereits von den früheren Morden kennt: in der kamer da verpran die junkfraw ze pulver schon. also ward ir der recht lon umb ir untrew gros gegeben, das si da verlos ir leben. (V. 612–616) (‘Die Jungfrau in der Kammer verbrannte hübsch fein zu Asche. So bekam sie den gerechten Lohn für ihre große Untreue, indem sie dabei ihr Leben verlor.’)
Auch die Ironie des schon Sterbens, um dafür den (im Reim stehenden) lon zu erhalten, ist die gleiche wie beim Mord an dem Pförtner. Beide Male handelt es sich um eine passivische Konstruktion, die die Urheberschaft der Gräfin ausklammert. Nur das Endergebnis wird betrachtet, der Tod, und den wertet der Erzähler als gerecht. Zwei Mal noch werden nun die Taten der Gräfin wiederholt, aus dem Mund der Gräfin bei der Beichte gegenüber dem König und im Epimythion durch den Erzähler; beide Male liegt ein großes Gewicht auf den bösen Handlungen der anderen. Die Morde der Gräfin werden genannt, aber stets als Reaktionen auf gegen sie gerichtete böse Handlungen. Wie im Promythion versichert der Erzähler auch am Ende mehrfach, dass die Bösen ihre gerechte Strafe bekommen haben und dass die Gräfin unschuldig war. Und hier führt er ihre Rettung nun wiederum auf die göttliche Hilfe zurück.
IV Das Problem der Deutung dieser Geschichte liegt auf der Hand: Wie kann der Erzähler die Gräfin als unschuldig bezeichnen, nachdem sie drei Morde (wenn man den aufgeknüpften Knecht mitrechnet, sogar vier Morde) auf dem Gewissen hat? Sie selbst hat denn auch nach 32 Jahren gehörige Gewissensbisse. Aber der Erzähler lässt den König sie freisprechen. Im Gegensatz zu den europäischen Parallelfassungen, wo Gott selbst in einem Mirakel oder Gottesgericht diese Rolle zukommt, erdet er damit die Justiz.22 Man hat im Einzelnen nachgewiesen, dass die Morde weder nach mittelalterlichem Rechtsverständnis noch moraltheologisch zu entschuldigen seien.23 Man hat die Geschichte mit ihren Parallelfassungen verglichen und konnte zeigen, dass genau dieser Aspekt der vom Text behaupteten Schuldlosigkeit bei Kaufringer hinzutritt (in den anderen Fassungen ist die Protagonistin schuldig, kann aber erfolgreich büßen und erfährt deswegen göttliche Gnade). Die Forschung begegnet diesem 22
23
Oder führt er Menschlichkeit und Verständnis vor? So Grubmüller in: Novellistik des Mittelalters. Märendichtung, hg., übers. und komm. von Klaus Grubmüller (Bibliothek des Mittelalters 23), Frankfurt a. M. 1996, S. 1287. Ruh [Anm. 4].
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Problem entweder, indem sie die Geschichte vom moraltheologischen Diskurs abkoppelt und die Autonomie der Literatur behauptet24 oder indem sie die Aussage von Pro- und Epimythion auf die erzählte Geschichte aufpfropft und dabei Nuancen und Brüche glättet.25 Offensichtlich also will die Geschichte nicht glatt lesbar sein. Es scheint mir wesentlich im Sinne Kaufringers zu sein, die Geschichte so zu nehmen, wie er sie erzählt, mit den Brüchen und Unklarheiten und Grautönen. Die Gräfin wird uns zwar als keusch und frumm, vein und zart vorgestellt, bei genauerem Hinsehen aber handelt sie mit laid und in zorn und mit grossem unmuot und will ihrer untreuen Dienerin auch füegen pein. Ich verschiebe also die Fragestellung: Wa r u m erzählt Kaufringer so? Und hier glaube ich, dass die Komik weiterhelfen kann. Das Lachen verweist den Rezipienten auf sich selbst. Nur indem der Erzähler so ausdauernd die Unschuldigkeit der Mörderin betont, kann sich die Befriedigung einstellen, dass sie selbst es ist, die die Übeltäter bestraft. Rache wird denk- und erzählbar. Nur durch Lachen kann der erzählte und auch der erlebte Schrecken kompensiert werden. Lachen kann die Hilflosigkeit des Lachenden aufzeigen, die er bei der Erzählung und beim Erleben von Ungerechtigkeiten empfindet.
V Ich blicke zum Abschluss kurz auf einige andere Texte Kaufringers, bei denen mir ein Blick auf die spezifische Verbindung von Lachen und Moral lohnend scheint. In dem Märe ‘Chorherr und Schusterin’ finde ich bemerkenswert, dass der Ehebruch an keiner Stelle moralisch problematisiert wird. Auch die Wiederherstellung der Ordnung am Ende betrifft nicht etwa die Ehe, sondern die glückliche Bindung zwischen Chorherrn und Schusterin. Der ganze Konflikt, um den die Geschichte kreist, bezieht sich auf Gefährdung und Restitution der ehebrecherischen Liebe. Interessanterweise kann in diesem Zusammenhang der Ehemann recht positiv dargestellt werden; er ist ein Trottel, aber unsympathisch ist er nicht. Gelacht wird auch über ihn, viel mehr aber noch über die Listen, mit denen sich die Liebhaber gegenseitig ärgern. Das Marquard’sche offiziell Geltende ist hier der Ehebruch geworden, der eigenen Gesetzen gehorcht und dessen Infragestellung es ist, die zum Lachen reizt. Auch ein solches Lachen kann moralische Implikationen haben. Ebenso wäre das Märe ‘Der feige Ehemann’ auf seinen Einsatz von Komik zu untersuchen. Der Text läuft darauf hin, dass der Ehemann den unliebsamen Galan der Frau mit deren Einverständnis in flagranti stellt. Stattdessen stellt er sich überraschend als so feige heraus, dass er lieber der Vergewaltigung seiner Frau zuschaut. Wie die europäischen Parallelen vorführen, kann das komisch inszeniert sein. Bei Kaufringer hingegen kippt das Lachen, woran ganz wesentlich die Innenperspektive der vergewaltigten Frau und die differenzierte Schilderung des Liebhabers beteiligt sind. Zu schauen wäre hier, wo das Lachen angelegt ist, aber unterlaufen wird. 24 25
Am profiliertesten Ruh [Anm. 4]. Steinmetz [Anm. 4], Friedrich [Anm. 6], Grubmüller [Anm. 4], Willers [Anm. 18].
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An all diesen Stellen scheinen die titelgebenden Grauzonen auf: Gerade durch die Erwartung des Publikums (nicht zuletzt durch Motiv- und Stoffgeschichte) wird eine Lesart vorgegeben, die immer wieder durchbrochen wird. Der Grund dafür ist wohl nicht, oder nicht nur, in den Epimythien zu finden, sondern die Antwort liefert der Text selbst und sein dialektisches Verhältnis zu den reflektierenden Passagen. Solches Lachen kann aufrütteln, indem es zeigt, dass das Leben nicht innerhalb von Erwartungen verläuft.
Der ›Blick zurück‹ in Texten vom Alten Testament bis ins Spätmittelalter von Manuela Gliesmann
Einige Visionstexte des Hoch- und Spätmittelalters enthalten ein für das Erzählte entscheidendes Handlungsmoment: Der Protagonist wendet sich um und blickt zurück. Bereits in zwei älteren Texten – aus dem Alten Testament und der griechischen Mythologie – wirkt sich ein ›Blick zurück‹ des Protagonisten entscheidend auf dessen Schicksal aus: in dem im 1. Buch Mose enthaltenen Bericht über die Frau des Lot, die beim Verlassen der Stadt Sodom zurückblickt, und in Ovids Darstellung von Orpheus, der sich während der Rückkehr aus der Unterwelt des Hades zu seiner Frau Eurydike umsieht. Auch in zwei Jenseitsberichten, der ‘Visio Tnugdali’ und der Prosaerzählung ‘Preventa und Adoptata’, die beide von Erlebnissen im Fegefeuer berichten, ist ein solcher ›Blick zurück‹ handlungsbestimmend.1 Während in den beiden älteren Texten das Zurückblicken verboten und verhängnisvoll ist, gibt in den mittelalterlichen Erzählungen der ›Blick zurück‹ den Ausschlag dafür, dass sich die jeweilige Situation zum Guten wendet. Der vorliegende Beitrag möchte die Aufmerksamkeit auf die Inszenierung dieses Motivs in den vier zu untersuchenden Texten lenken und zeigen, wie verschiedenartig sich ein Motiv wie das des ›Blicks zurück‹ vom Alten Testament bis in das späte Mittelalter präsentieren kann. Es sind Texte über Fahrten in fremde Welten und in unbekannten Räumen, in denen das Motiv des ›Blicks zurück‹ am häufigsten zu entdecken ist.
Lots Frau Fündig wird man bereits im Alten Testament. In der Genesis wird beschrieben, wie die Bewohner der Städte Sodom und Gomorrha Gott durch ihr lasterhaftes Treiben aufgebracht haben; er beschließt daher, die Städte und ihre Bewohner zu vernichten. Nur der gerechte Lot und seine Familie sollen aufgrund der Fürsprache Abrahams verschont werden.2 Gott erscheint in Sodom in Gestalt zweier Männer, die Lot und 1
2
Für die Zitate und Referenzen aus den Überlieferungen der ‘Visio Tnugdali’ wurde die Edition des frühesten erhaltenen Druckes Dx aus der Bayerischen Staatsbibliothek, Tondolus der Ritter, hg. von Nigel F. Palmer, München 1980, ausgesucht. Er entspricht einer repräsentativen Fassung der irischen Jenseitsvision aus der Spätzeit des deutschen Mittelalters. Die Zitate aus der Edition sind unverändert übernommen, lediglich Satzzeichen und Interpunktion wurden zur besseren Lesbarkeit eingefügt. Die Prosaerzählung ‘Preventa und Adoptata’ ist bisher nicht in edierter Form zugänglich. Zitiert wird aus einer Transkription der Hs. K (W 8° 56*, Historisches Archiv der Stadt Köln) aus meiner Magisterarbeit: Preventa und Adoptata – Eine geistliche Prosaerzählung. Überlieferung, Transkription, Interpretation, Köln 2007 (unveröffentlicht). Vgl. Die Bibel, Einheitsübersetzung: Altes und Neues Testament, Freiburg/Basel/Wien 1980, 1. Mose 18,23–33.
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seine Familie warnen sollen. Lot lädt sie in sein Haus ein. Am Morgen des Tages, der zur Vernichtung von Sodom und Gomorrha bestimmt ist, berichten die Boten Lot vom Schicksal der Städte und drängen ihn, eilig aus der Stadt zu kommen: »Lauft jetzt, so schnell ihr könnt! Es geht um euer Leben! Bleibt nicht stehen und schaut nicht zurück. Rettet euch auf das Gebirge, sonst seid auch ihr verloren.«3 Durch die auktoriale Erzählerstimme erfährt der Leser nun in der Rolle des Beobachters von dem Geschehen im Rücken der vor Gottes Zorn fliehenden Familie Lots: Als die Morgenröte aufzieht, vernichtet Gott Sodom und Gomorrha und ihre Bewohner, indem er Schwefel und Feuer auf die Städte regnen lässt.4 Als die Frau Lots zurückblickt, wird sie zu einer Salzsäule. Warum wendet sich Lots Frau trotz der Warnung der Boten um und blickt zurück auf die Stadt Sodom? Aus Sorge um die zurückgelassenen Familienangehörigen? Hört sie vielleicht Geschrei, riecht und spürt sie die Wut des Feuers hinter sich? Fürchtet sie sich vor Geräuschen der Zerstörung hinter ihr? Oder will sie nicht wahrhaben, dass ihre Stadt tatsächlich zerstört wird? Nichts dergleichen wird erwähnt; das Zuwiderhandeln der Frau des Lot gegen Gottes Verbot erfolgt kommentarlos. Damit bleibt offen, ob ihr ›Blick zurück‹ dem Schicksal der in Sodom Verbliebenen oder dem Schrecknis der Zerstörung ihrer Heimatstadt gilt. Der Leser wird auf der Suche nach Motivation und innerer Regung der Akteurin seinen eigenen Spekulationen überlassen. Nach ihrem Zurückblicken muss die übrige flüchtende Familie die Erstarrte zurücklassen, ohne sich nach ihr umsehen zu dürfen. Es braucht daher den Leser, der den Blick auf die gesamte Szene vor seinem inneren Auge entwirft und die Dramatik des Geschehens mitvollzieht. Für ihn als erstes sichtbar, wird die Frau des Lot im Zurückbleiben zum Menetekel, einem Bild der Warnung und des Schreckens.
Orpheus’ ›Blick zurück‹ auf dem Pfad zur Oberwelt Während das Geschehen im Alten Testament sich als äußere Szenerie erfüllt, ist die Schicksalswende des Orpheus in Ovids ‘Metamorphosen’ psychologisch motiviert. Als Orpheus’ Gemahlin, die Najade Eurydike, eines Tages von einer Natter in die Ferse gebissen wird und daraufhin stirbt, steigt der Sänger aus Liebe zu ihr hinunter in den düsteren Hades und bittet singend und dazu die Leier spielend die Unterweltherrscher, Eurydike wieder als Lebende in die Oberwelt zurückführen zu dürfen. Sein trauriger Gesang rührt die Bewohner der Unterwelt und ihre Herrscher, so dass sie dem Schatten Eurydikes gewähren, dem Sänger in die Oberwelt zu folgen. Eine Auflage gibt man Orpheus jedoch mit auf den Weg: Er darf nicht eher die Augen wenden, bis er die Schlucht des Avernus ganz durchschritten hat, sonst werde sein Geschenk zunichte.5 3 4 5
1. Mose 19,17. 1. Mose 19,23–26. Vgl. Ovid, Metamorphosen, lateinisch und deutsch, hg. und übers. von Hermann Breitenbach, Zürich 1958, X, V. 50–52.
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Auf dem Weg durch die Unter- zur Oberwelt muss Eurydikes Schatten hinter Orpheus gehen, und hier geschieht die Übertretung des Gebots: Aufwärts führt sie der Pfad durch schweigende Stille. Sie steigen Steil in finsterer Nacht, von dichtestem Nebel umschattet. Nicht mehr fern ist die Grenze der oberen Welt; da befürchtet Er, der Liebende, daß sie ermatte; er sehnt sich nach ihrem Anblick und schaut sich um: schon ist die Geliebte entglitten. Und sie breitet die Arme: sie will ihn halten, sich halten Lassen und greift, die Unselige, nichts als entweichende Lüfte. Mag sie sterben zum zweiten Mal: sie hat für den Gatten Keinerlei Tadel; was soll sie denn tadeln, als daß er sie liebe? Nur ein letztes »Lebwohl«, das kaum seine Ohren vernehmen, Spricht sie, dann trägt sie es wieder davon nach dem nämlichen Orte.6
Der verzweifelte Orpheus versucht, dem Schatten Eurydikes nachzueilen, doch der Eintritt in den Hades bleibt ihm diesmal verwehrt. Orpheus muss seine Gemahlin verloren geben. Er hat, als er zurückblickt, um sich des Nachfolgens der Geliebten zu versichern, die Auflage der Götter missachtet. Sein Zuwiderhandeln folgt dem Antrieb von Besorgnis und Liebe. Die kleine, scheinbar unbedeutende Bewegung des Zurückblickens folgt der Macht innerer Regungen und besiegelt das Verhängnis des Orpheus: Gewissheit über sein Glück zu erlangen bedeutet zugleich, den Verlust desselben zu erleiden. Worin unterscheidet sich die Szene bei Ovid von der des Alten Testaments? Wie in der Genesis ist eine weibliche Gestalt auf dem fehlschlagenden ›Weg zur Rettung‹ zurückgeblieben, die Frau des Lot als Schreckbild, Eurydike als Ersehnte. Vor allem anders aber als die Frau des Lot bewegt sich Orpheus i m verhängnisvollen Bereich der Unterwelt, und infolge der psychologischen Figurenzeichnung Ovids vollzieht der Leser mit, was Orpheus erfährt: Während von der Frau des Lot einzig die erstarrte Gestalt bleibt, kommt es bei Ovid zu einer emotionellen Erschließung der unterweltlichen Sphäre, denn die innere Bindung des Orpheus und sein Blick gelten einem Element, das jenem gefährdenden Bereich zugehört und zugleich den Blick des Lesers lenkt. Psychologisch erfahrbar wird jene Sphäre besonders deutlich dann im dramatisch ausgestalteten Abschied der Liebenden. Auch in den beiden folgenden Texten bewegen sich zwei Akteurinnen – wie Orpheus – in der ›Unterwelt‹ und machen dort innere Erfahrungen, die allerdings zu einem glücklichen Wandel führen.
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Carpitur adclivis per muta silentia trames, / Arduus, obscurus, caligine densus opaca. / Nec procul afuerunt telluris margine summae: / Hic, ne deficeret, metuens avidusque videndi / Flexit amans oculos, et protinus illa relapsa est; / Bracchiaque intendens prendique et prendere certans / Nil nisi cedentes infelix adripit auras. / Iamque iterum moriens non est de coniuge quicquam / Questa suo (quid enim nisi se quereretur amatam?) / Supremumque »vale«, quod iam vix auribus ille / Acciperet, dixit revolutaque rursus eodem est (ebd., X, V. 53– 63).
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Der Jenseitsbericht des Ritters Tondalus Die 1148 von einem irischen Mönch Marcus aus Regensburg verfasste lateinische ‘Visio Tnugdali’ wurde bereits kurz nach ihrem Entstehen in fast alle europäischen Volkssprachen übersetzt und ist im deutschen Sprachraum in zahlreichen Prosa- und Versfassungen bis in das 16. Jahrhundert hinein einer der beliebtesten Berichte über die Erlebnisse einer Seele in der anderen Welt.7 In der Rahmenhandlung wird von dem Ritter Tondalus berichtet, dessen ausschweifend-weltliches Leben ein abruptes Ende findet, als er während einer Mahlzeit bei einem Freund leblos zu Boden fällt und sein Körper für drei Tage wie tot darniederliegt. Nach drei Tagen des Scheintodes fährt seine Seele wieder in seinen Körper. Der Ritter erwacht und berichtet nun als Ich-Erzähler von den Erlebnissen seiner Seele, die in dieser Zeit entrückt war und von ihrem Schutzengel begleitet die verschiedenen Straforte des Fegefeuers und der Hölle bis zu den Freudenorten des Himmels durchwandert hat. Die Fahrt stellt dem Leser die beispielhafte conversio eines Sünders vor Augen, der durch Gottes Barmherzigkeit bereits zu seinen Lebzeiten auf diese drastische Weise auf seine Fehler aufmerksam gemacht wird. Implizit ist die Vision des Ritters auch eine Ermahnung für alle Schuldbeladenen. Für den Ritter hat sie zur Folge, dass er nach dieser Zeit der Läuterung seine Jahre als frommer Prediger beschließt. Auf seiner Unterweltreise muss Tondalus’ Seele an sechs Orten des Fegefeuers und einer Höllenstätte einen Teil ihrer irdischen Sünden sogleich abbüßen und eine Zeitlang die Qual des jeweiligen Ortes erleiden. Immer dann, wenn an dem Ort, an den ihr Begleiter sie führt, eine Sünde gestraft wird, die der Ritter selbst auf Erden begangen hat, verlässt der Engel seinen Schützling. Fünfmal geschieht dies im Laufe der Unterweltfahrt. Dabei sind die ersten vier Peinigungssituationen in ihrem Aufbau beinahe identisch. Sobald Tondalus’ Seele die nächste erblickt, beschreibt sie sie ausführlich und macht den Engel dann voller Angst darauf aufmerksam. Dieser bestätigt stets, dass diese Pein auch für sie vorgesehen ist, und verlässt die Seele darauf, die sofort von Teufeln ergriffen und den vorgesehenen Torturen zugeführt wird. Aus diesem Schrecken kommt sie wieder heraus, ohne eigentlich zu merken, wie dies geschieht, und ist dann so krenklich, dass der Engel erst die ihr bei der Tortur zugefügten Wunden heilen muss. Er tröstet die Verzagte und ermutigt sie, weiter zu gehen.8 Die Sünden müssen an den Straforten stets durch körperliches Leiden abgebüßt werden: Am ersten Ort, der pin der wucherer und rauber, der dieb und geittigen, wird die Seele im Inneren eines höllischen Tieres von Bären, Hunden, Löwen und Wölfen zerrissen, am zweiten Ort muss sie eine störrische Kuh über eine mit Nägeln gespickte Brücke treiben, da der Ritter seinem Verwandten eine Kuh stahl.9 Am dritten Strafort wird Tondalus’ Seele zusammen mit Seelen weltlicher und geist7
8
9
Vgl. Nigel F. Palmer, Visio Tnugdali. The German and Dutch Translations and their Circulations in the later Middle Ages, München 1982. Tondolus der Ritter, hg. von Nigel F. Palmer (Kleine deutsche Prosadenkmäler des Mittelalters 13), München 1980, S. 56, Z. 1–3; S. 59, Z. 411–416; S. 60, Z. 484 f. Ebd., S. 58, Z. 377–415.
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licher Sünder für das wollüstige Benutzen ihrer heimlichen stetten gezüchtigt und muss am vierten Ort mit den Seelen unkeuscher Kleriker unter Schmerzen Schlangen gebären. Am fünften Ort, dem »Bad des ewigen Todes«, wird Tondalus’ Seele auf dem Amboss des höllischen Schmiedes Vulcanus geläutert.10 Als der Engel seine Seele schon so tief in die Unterwelt geführt hat, erreichen sie einen weiteren Ort, der kalt und voller Gestank ist. Hier ängstigt sich Tondalus’ Seele unter dem Eindruck, die Erde bewege sich. Auf die Frage an ihren himmlischen Beschützer, was der Grund des Erdbebens und ihrer entsetzlichen Furcht sei, verschwindet der Engel unerwartet und ohne Antwort und lässt die entsetzte Seele schutzlos zurück. So allein gelassen, verzweifelt die Seele und stellt selbst die Barmherzigkeit Gottes in Frage. In diesem Jammer hört sie plötzlich das Klagen zahlreicher Seelen und einen furchtbaren Donnerschlag. Trotz ihrer grässlichen Angst muss sie Gewissheit haben, woher diese Laute kommen: vnd kort mich vmb, vnd hort wo dz iemerlich geschrei wer. do wart ich es gewar in einer gruben.11 Tondalus’ Seele blickt zurück in die Richtung der jämmerlichen Schreie und entdeckt die fürchterliche Szene einer neuen Höllentortur: Mehr als hunderttausend Teufel und ebenso viele Seelen werden in einer mit Rauch und Flammen gefüllten, zisternenähnlichen Grube bis in die Wolken geschleudert, um sofort wieder in die Grube zurück zu fallen. Als dieser gros jammer für die Seele sichtbar wird, will sie wieder hindersich tretten, doch sie kann keinen Fuß vor den anderen setzen.12 Ihre körperliche Unfähigkeit zu fliehen, der Anblick und die grässlichen Geräusche der ihr bevorstehenden Tortur provozieren einen verzweifelten Ausbruch der gepeinigten Seele: do reiß ich min fleisch von minen backen vnd schrei lut vber mich selber Vnd sprach: Eya tod wo bistu? vnd warum kann ich nit ersterben? vnd warum han ich der geschrift nit gefolgt? Eya, wie iemerlich hat mich betrogen diese welt!13
Dieser emotionale Ausbruch lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers auf die innere Befindlichkeit der Figur und lässt ihn an ihrer Angst teilhaben. Die Teufel werden durch das Wehgeschrei auf die Seele aufmerksam. Sie umringen sie und halten eine Schmährede, in der sie ihr ihre aussichtslose Lage darlegen und noch mehr Pein in der Hölle androhen. Gerade, als die Teufel sie in den Abgrund mitnehmen wollen, erscheint wieder der Engel und vertreibt die Teufel. Die Seele grüßt er zum ersten Mal mit den Worten frowe dich dochter des ewigen lichtes und verspricht ihr, sie solle nun noch mehr Pein sehen, diese aber nicht mehr selbst erleiden müssen.14 Tondalus’ Seele darf als Beobachterin die restlichen Höllenorte zum Himmel durchschreiten, um sich ihrer Errettung noch mehr zu freuen und Gott noch mehr zu loben. Die Begrüßung des Engels zeigt, dass etwas Entscheidendes geschehen sein muss: Die Seele hat nach Abbüßen aller ihrer Sünden ihre Bekehrung erfahren. Sie wird nun 10 11 12 13 14
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. 54–56, Z. 242–319; S. 56–61, Z. 375–425; S. 63–66, Z. 553–628; S. 66–68, Z. 629–705. S. 69, Z. 735 f. S. 70, Z. 744. S. 70, Z. 747–750. S. 71, Z. 780–783.
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Anteil an der göttlichen Herrlichkeit haben und muss die Hölle nicht mehr fürchten. Doch was genau ist an diesem letzten Strafort geschehen, das den Teil der Bußfahrt beendet hat? Anders als an den vier vorhergehenden Orten bleibt die Seele hier von körperlicher Pein verschont. Dennoch wird sie nun am stärksten getroffen, und an entscheidender Stelle steht das Zurückblicken der völlig schutzlosen Seele, das die Reue über ihr Leben und ihre Taten erweckt, die sie schuldbewusst bekennt. Nicht durch tatsächliche körperliche Züchtigung wird das entscheidende Leid, das zur erlösenden Reuerede führt, ausgelöst, sondern durch das ›Erblicken‹ einer Züchtigung. In direkter Verbindung von Auge und Seele wird ein innerlicher Prozess der Zerknirschung in Gang gesetzt, dem die Reuerede Ausdruck gibt. Die Antizipation des Leidens allein durch den Blick und die inneren Augen und die Drohung der Teufel läutert Tondalus’ Seele. Im Gegensatz zu den übrigen Strafstätten, an denen Tondalus’ Seele ›physisch‹ gepeinigt und ihr ›innerliches‹ Leid kaum erwähnt, nur als ›unermesslich‹ bezeichnet wurde, tritt hier eine neue Qualität der Strafe zu Tage. Statt Bestrafung des – seelischen – Körpers, des ›Äußerlichen‹, ist nun allein zu sein unter den Teufeln, deren genüssliche Strafankündigung und das ›Sehen‹ der Tortur die größte Probe ihrer Unterweltfahrt. Die Aussicht auf Strafe ist die schlimmste Züchtigung, denn sie antizipiert die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit der armen Seelen in der Hölle. Dass schließlich der Engel kommt und sie mit in die himmlischen Orte nimmt, ohne dass die Teufel sie peinigen können, bedeutet nicht, dass Tondalus’ Seele dieses letzte Mal von ihrer Strafe verschont geblieben wäre. Ihre Strafe war die Verzweiflung und Reue beim Anblick des Höllenortes. Ihr ›Blick zurück‹ hin zum fünften Höllenort markiert die Hinwendung zur bitteren Selbsterkenntnis über ihr irdisches Leben, die sie beim Anblick der grausigen Tortur hinausschreit. Die weiteren Jenseitsorte darf die Seele mit dem Engel als vollkommen Geläuterte betreten.
Der erlösende ›Blick zurück‹ in ‘Preventa und Adoptata’ Ein weiterer Bericht aus dem Fegefeuer, in dem sich eine Figur in gefahrvoller Situation umsieht, ist die Prosaerzählung ‘Preventa und Adoptata, Eine siele vandinge’.15 Sie ist in sechs Handschriften aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts mit Texten aus dem Umkreis der Erbauungsliteratur enthalten. In diesem Dialog einer drei Tage zuvor verstorbenen jungen Frau Preventa mit ihrer noch lebenden Freundin Adoptata, der sie in der Nacht erscheint, berichtet Preventa von ihren Qualen im Fegefeuer, aber auch von ihrer durch Maria in Aussicht gestellten Errettung, mit der Absicht, Adoptata für ein weltabgewandtes, jungfräuliches Leben zu gewinnen.16 15
16
vandinge f. ‘Heimsuchung, Besuch’, siehe Karl Schiller und August Lübben, Mittelniederdeutsches Wörterbuch, 5 Bde., Bremen 1880, Bd. 5, S. 197, s. v. Den Titel ‘eine siele vandynge’ – ‘eine Heimsuchung der Seele’ – überliefern, teils geringfügig vom Wortlaut abweichend, die vier Texte aus Bo, K, D und B2. Vgl. Nigel F. Palmer, Preventa und Adoptata. Eine erbauliche Klosterlegende des 15. Jahrhunderts, in: Poesie und Gebrauchsliteratur im deutschen Mittelalter, hg. von Volker Honemann u. a., Tübingen 1979.
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Die Erzählung gliedert sich in zwei Teile: Im ersten überredet Preventa die zunächst zweifelnde Adoptata zu einem Gelübde der Jungfräulichkeit und dem Versprechen, die Welt zu verlassen. Im zweiten berichtet Preventa davon, wie es ihr erging, nachdem sie gestorben war. Kurz vor ihrem Tod hatte sie sich beim Bedenken des Lebens Christi und der Heiligen in ›innerer Bewegung‹ bekehrt und daraufhin ein Gelübde abgelegt, Jungfrau zu bleiben und die werlt zu lassen.17 Kurz darauf wurde sie jedoch krank und starb, ohne ihr Gelübde einlösen zu können. Im Jenseits sieht sie sich nun sofort von Teufeln umringt, die sie verspotten und sie in die Hölle mitnehmen wollen. Sie offenbaren sich als heimtückische Unterstützer der weltlichen Eitelkeit und Putzsucht Preventas und zählen der Seele nacheinander ihre zu Lebzeiten begangenen Sünden und unterlassenen Tugendübungen auf. Die Verzweifelte muss ihnen in Gedanken in allen Punkten zustimmen und ergänzt in tiefer Reue sogar noch ihren Sündenkatalog. Als ihre Situation immer bedrängender wird, erinnert sich Preventa schließlich an ihr kurz vor ihrem Tod abgelegtes Versprechen, ihr Leben vollkommen zu bessern und Gott von jetzt an zu dienen, das sie nicht mehr hatte einlösen können. Sie fragt sich, ob ihr dieses Gelübde nun helfen könne: do dachte ich in my selven ende sprach: unde mach mir dit nu neit helpen? Want ich gehoirt hadde, dat man unsen leven herren mit einem goden willen mach betzalen.18
Verzweifelt wendet sich Preventa das erste Mal um, in der Hoffnung, jemanden zu sehen, der sie erlösen werde. Als sie niemanden sieht, verliert sie beinahe die Hoffnung auf Rettung, doch dann wendet sie sich noch einmal um: do dachte ich als den hoffen over zo geven: ›och herre got, nu mus ich ummers mit den lilichen duvelen in der hellen sin!‹ Nochtant sach ich zo dem lesten noch ens ume, of ich emans sege der mich verlosen wolde. [. . .] und do ich alsus ume sach, do sach ich komen unse leve frauwe ende vil engelen.19
Maria erscheint, wie der Engel in der Tondalus-Vision, in der verzweifeltsten Situation. Sobald die Teufel der Mutter Christi ansichtig werden, ergreifen sie murrend die Flucht, denn sie dürfen Preventa nun nichts antun. Maria tröstet Preventa, versichert, das Gelöbnis, Jungfrau zu bleiben, rette sie vor der Hölle, und stellt ihr die Krone der Jungfrauen in Aussicht. Preventa müsse jedoch noch drei Tage im Fegefeuer jene Taten abbüßen, die sie zu Lebzeiten nicht mehr abgegolten habe. Danach werde sie zu ihrer Freundin Adoptata geschickt werden, um dieser von ihren Erlebnissen zu berichten und sie dadurch zu bekehren. Preventas und Tondalus’ Seelen sind zum Zeitpunkt ihres Zurückblickens in einer sehr ähnlichen Lage: Beide befinden sich in jenem Augenblick ohne Begleitung schutzlos im Jenseits – Tondalus’ Seele auf dem Pfad, der zur Hölle führt, Preventa offenbar an einer Art Scheideort, weder in der Hölle noch im Himmel noch im Fegefeuer. Während Tondalus’ Seele sich aber wie von innerem Zwang zu dem schrecklichsten Höllenort wendet, ist das Umsehen Preventas ein Sich-Abwenden vom Bösen, das 17 18 19
Kruck [Anm. 1], K, fol. 3v, Z. 1–6. Ebd., K, fol. 23v, Z. 10–14. Ebd., fol. 24r, Z. 9–12.
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der Leser vor dem inneren Auge mitvollzieht. In beiden Texten werden sowohl eine ›innere‹ als auch eine ›äußere‹ Läuterung vorgestellt, die zu ihrer Erlösung bzw. Bekehrung führen: Tondalus wird zunächst äußerlich, an seinem seelischen Körper, gestraft. Seine Erfahrung des tiefen Verderbens zeitigt einen inneren Wandel, den er in seiner Reuerede bekennt. Preventa dagegen hat bereits vor ihrem Tod eine innerliche Bekehrung vollzogen. Durch ihren ›Blick zurück‹ in größter Verzagtheit beweist sie, dass ihr Glaube an die Barmherzigkeit Gottes größer ist als ihre Verzweiflung. Die Verzweiflung ist Bestandteil des innerlichen Leidens im Erlösungsprozess, der die ungeheure Größe der Barmherzigkeit Gottes und der Rettung der beiden Seelen in seiner Bedeutung unter Beweis stellen soll. Beide Seelen müssen daher zwangsläufig einer Situation ausgesetzt werden, in der nur noch Gottes Barmherzigkeit ihnen helfen kann. Äußerlich entspricht dieser Zustand bei Tondalus der Angst beim Anblick der letzten Strafe; bei Preventa der hoffnungslosen Lage, sich von Teufeln umringt zu sehen. Innerlich werden beide Seelen in diesen Situationen mit der temptatio desperationis konfrontiert, der Versuchung zur Verzweiflung.20 Umgeben von den Teufeln, ist Preventa zwar nahe daran, ihrer Verzweiflung nachzugeben, aber sie wendet sich doch noch einmal um und blickt zurück. Auch wenn dies mehr ein körperlicher Reflex als ein Willensakt zu sein scheint, sieht sie doch genau in diesem Moment der letzten Anstrengung gegen die absolute Verzweiflung Maria, ihre Retterin, auf sie zukommen. Tondalus dagegen gibt auf dem Pfad zur Hölle dieser Verzweiflung nach. Auflösende des Dilemmas sind jeweils die Botschafter der Barmherzigkeit Gottes – der Engel und Maria –, aber durch die innere Erfahrung, die bei beiden Seelen einen ›Blick zurück‹ zeitigt, haben auch diese selbst einen aktiven Anteil an ihrer Errettung. Bei Tondalus ist dieser Anteil der innere Wandel durch Schrecken, bei Preventa der ›Blick zurück‹ in ihrer Hoffnung auf Hilfe. Gesten, Gebärden und Modi des Zeigens und Blickens in literarischen Texten des Mittelalters haben in jüngerer Zeit verstärkt die Aufmerksamkeit der mediävistischen Forschung auf sich gezogen und sich zu einem Feld differenzierter Überlegungen über sprachliche und nichtsprachliche Strategien der Visualisierung in literarischen Texten des Mittelalters entwickelt.21 Die mittelalterliche Bedeutung von innerem und äußerem Auge wird deutlich in zahlreichen Sprichwörtern, die die Bedeutung des Augenlichtes und die Erkenntnismöglichkeit des Menschen durch Augen thematisieren.22 Auge und Seele werden in der aristotelischen Philosophie direkt miteinander 20
21
22
Zur scholastischen Bestimmung der Verzweiflung als Sünde gegen den hl. Geist siehe Peter Fonk, Art. ›Verzweiflung‹, in: Lexikon für Theologie und Kirche, begr. von Michael Buchberger, 3., völlig neu bearb. Aufl., hg. von Walter Kasper, 10 Bde., Freiburg i. Br. 1993–2001, hier Bd. 10, Sp. 750 f. Unter den grundlegenden Untersuchungen zu Gesten seien hier genannt: Jean-Claude Schmitt, Die Logik der Gesten, Stuttgart 1992; Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Bildern und Texten, hg. von Horst Wenzel und C. Stephen Jaeger (Philologische Studien und Quellen, Heft 195), Berlin 2006, bes. Einleitung, S. 9 f. Vgl. Thesaurus proverbiorum medii aevi. Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters, 13 Bde., Berlin 1995–2002, hier Bd. 1, s. v. ›Auge‹, S. 275 f.; vgl. ebd., Bd. 4, s. v. ›Sehen‹, S. 356 f.
Der ›Blick zurück‹
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verbunden. Dieses Auge-Seele-Modell wurde im Mittelalter fast durchgängig rezipiert, wie unter anderem zahlreiche erhaltene Abbildungen der menschlichen Sinne zeigen.23 Der Sehsinn ist dort zwar nur einer, jedoch der wichtigste der fünf Sinne, die Informationen an die Seele weitergeben. Das menschliche Auge mit seiner Fähigkeit, die natürlichen Dinge zu erkennen, hat seine innere Entsprechung in der menschlichen Vorstellungskraft, die in der Lage ist, mentale Bilder zu stimulieren und dadurch körperliche Reaktionen und Handlungen zu provozieren. Der ›Blick zurück‹ ist in allen vier Texten Indikator einer inneren Gemütsbewegung der handelnden Figur. In den beiden antiken Texten wird diese jedoch nur bei Ovid erzählerisch ausgestaltet. In der Genesis hingegen ist der emotionale Zustand von Lots Frau überhaupt nicht erwähnt und eine Deutung somit erschwert. In den beiden mittelalterlichen Texten wird der Gemütszustand der Figuren in der Situation des Umblickens zwar beschrieben, das Zurückblicken selbst aber nicht vom Erzähler gedeutet. Der Leser wird dazu eingeladen, die Bedeutung der Handlung mit Hilfe seines Wissens aus dem Text zu finden.24 Dabei lenkt die Ich-Erzählung der Akteurinnen in den beiden mittelalterlichen Texten die Wahrnehmung des Lesers. So entwickeln beide Texte ein viel stärkeres identifikatorisches Potential als der alttestamentliche und der mythologische Text. Der Perspektivwechsel, den nicht nur die zurückblickende Seele vollzieht, sondern der auch den Leser ›mitnimmt‹, bringt diesen dazu, eine spezifische Wahrnehmungshandlung mitzuvollziehen: Bei Tondalus ist es Reue über die eigene Schuld, bei Preventa der Umschwung von Verzweiflung zu Hoffnung.25 Die Bewegung des Umsehens und der ›Blick zurück‹ sind damit wie Gesten und Gebärden Teil der nichtsprachlichen Kommunikation, die, wenn sie nicht genau erklärt werden, vom Leser selbst gedeutet werden müssen: In der alttestamentlichen Szene wird der Leser verstärkt zur Konstruktion eines mentalen Bildes aufgefordert, da er zwei wichtige Informationen nicht aus dem Text entnehmen kann, die bei Ovid erzählerisch ausgestaltet sind: Der Leser erfährt nicht den Grund, warum Lots Frau sich umsieht, und auch nicht, was sie sieht, bevor sie zur Salzsäule wird. Bei Ovid wird das mentale Bild des Lesers stark von den vergleichsweise ausführlichen Informationen der Erzählerstimme bestimmt, die den Leser auf eine auktoriale Lesehaltung festlegt. Er sieht vor seinem inneren Auge jenes Bild, das Orpheus in seinem Zweifel nicht imaginieren kann: die hinter ihm folgende Eurydike. Vor dem Hintergrund der beiden antiken Texte lassen sich die beiden mittelalterlichen Jenseitsberichte als ein Weg verstehen, der gemeinsam mit dem Leser gegangen werden soll. Der Gang durch die verschiedenen Straforte bereitet die Seele des Tondalus und damit auch den Leser auf die innere Bekehrung am Ende vor; Preventas innere Bekehrung, 23
24
25
Vgl. Michael Camille, Before the Gaze: The internal senses and late medieval practices of seeing, in: Visuality before and beyond the Renaissance. Seeing as Others Saw, hg. von Robert S. Nelson, Cambridge 2000, S. 197–223. Vgl. Katharina Berger-Meister, Mittelalterliche Textrezeption zwischen sinnlicher Wahrnehmung und mentaler Visualisierung, in: Der unfeste Text. Perspektiven auf einen literaturund kulturwissenschaftlichen Leitbegriff, Würzburg 2001, S. 165 f. Vgl. ebd., S. 164 f.
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Manuela Gliesmann
ihr Gelübde und ihr schließlich belohntes Vertrauen in Gottes Barmherzigkeit zeigen auf, dass auch eine späte conversio nicht umsonst ist. Der ›Blick zurück‹ beider Seelen steht dabei jeweils im unmittelbaren Zusammenhang mit der Wendung zur Reue und der Hoffnung auf Erlösung, die der Leser durch die Ich-Erzählhaltung unmittelbar mitempfinden kann. Der ›Blick zurück‹ als perspektivische Wende sowohl des Protagonisten wie des Lesers wiederholt sich zum Ende noch einmal in Tondalus’ Jenseitsvision. Als die Seele des Ritters Abschied von ihrem Engel genommen hat, wendet sie sich um. Im nächsten Augenblick empfindet sie die Bürde ihres Leibes wieder und beschreibt ihr Aufwachen: Vnd do dis der engel zu mir gesprach, da kert ich mich vmb, vnd do ich mich bewegt, da enpfand ich dz ich beladen wz mit der sweren birdi minß lichnamß in einigen einzigen augenblick, und tet krenklich mein augen vff [. . .].26
Diese Bewegung aus dem Jenseits hinaus zurück in die irdische Wirklichkeit muss notgedrungen auch der Leser der Tondalusvision mitvollziehen, und er wird – ähnlich meiner gegenwärtigen Leserschaft – aus der Lese- in seine wahre Welt befördert.
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Tondolus der Ritter [Anm. 8], S. 87, Z. 1312–1316.
Einige Bemerkungen zu übersetzten Namen* in der Diemeringen-Version von Mandevilles ‘Reisen’ von Reinhard Berron
In den letzten acht Jahren widmete sich die internationale Mandeville-Forschung vor allem dem Fragenkomplex zur Darstellung des Fremden,1 vermittelt durch die Arbeiten von Stephen Greenblatt2 und Iain MacLeod Higgins.3 Verstärktes Interesse fanden auch Untersuchungen zum Einfluss Jean de Mandevilles auf andere literarische Produktionen.4 * Als kleiner Dank für Paul Sapplers spannende onomastische Erklärungen auf diversen Handschriftenexkursionen. 1 Mit der hohen Anzahl der genannten Publikationen soll die Gelegenheit wahrgenommen werden, einen Teil der internationalen Mandeville-Forschungsbeiträge der letzten Jahre an einem Ort aufzuführen: Andrew Fleck, Here, There, and In Between. Representing Difference in the Travels of Sir John Mandeville, in: Studies in Philology, XCVII/4 (Fall 2000), S. 379–400; Nicholas Koss, A Fleeting but Never Disappearing Medieval Image of Chinese Wealth and Women, in: Fu Jen Studies, Literature & Linguistics 33 (2000), S. 27–45; Linda Lomperis, Medieval Travel Writing and the Question of Race, in: Journal of Medieval and Early Modern Studies 31/1 (Winter 2001), S. 147–164; Martin Przybilski, Die Zeichen des Anderen. Die Fremdsprachenalphabete in den ‘Voyages’ des Jean de Mandeville am Beispiel der Übersetzung Ottos von Diemeringen, in: Mittellateinisches Jahrbuch 37/2 (2002), S. 295– 320; Sebastian I. Sobiecki, Mandeville’s Thought of the Limit. The Discourse of Similarity and Difference in The Travels of Sir John Mandeville, in: The Review of English Studies. The Quarterly Journal of English Literature and the English Language, New Series 53/209 (2002), S. 329–343; Geraldine Heng, Eye on the World. Mandeville’s Pleasure Zones, or, Cartography, Anthropology and Medieval Travel Romance, in: dies., Empire of Magic. Medieval Romance and the Politics of Cultural Fantasy, New York 2003, S. 239–305 (= Chapter 5); Sarah Salih, Idols and Simulacra. Paganity, Hybridity and Representation in Mandeville’s Travels, in: The Monstrous Middle Ages, hg. von Bettina Bildhauer und Robert Mills, Cardiff 2003, S. 112–133; Paul Smethurst, The Journey from Modern to Postmodern in The Travels of Sir John Mandeville and Marco Polo’s Divisament dou Monde. Postmodern Medievalisms, in: Studies in Medievalism XIII (2004), S. 159–179; Norman Housley, Perceptions of Crusading in the Mid-Fourteenth Century. The Evidence of Three Texts, in: Viator. Medieval and Renaissance Studies 36 (2005), S. 415–433; Charles W. R. D. Moseley, Mandeville and the Amazons, in: Jean de Mandeville in Europa. Neue Perspektiven in der Reiseliteraturforschung, hg. von Ernst Bremer und Susanne Röhl (MittelalterStudien des Instituts zur Interdisziplinären Erforschung des Mittelalters und seines Nachwirkens 12), München 2007, S. 67–78. 2 Stephen Greenblatt, Wunderbare Besitztümer. Die Erfindung des Fremden: Reisende und Entdecker, Berlin 1994 (v. a. Kapitel 2 »Vom Felsendom zum Rand der Welt«, S. 47–83). 3 Iain MacLeod Higgins, Writing East. The »Travels« of Sir John Mandeville, Philadelphia 1997. 4 Michael Bärmann, »Sunder dass er zue den sternen kam, die der gross Alexander fand«. Zur Rezeption des Alexanderstoffes in der spätmittelalterlichen Hausbuch-Literatur, in: Daphnis 30 (2001), S. 1–36; Rebecca Fensome, Mandeville’s Travels and medieval myths of Africa on
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Reinhard Berron
Aber auch über die Entstehungsbedingungen5 der ‘Reisen’ wurde geforscht, v. a. in den Beiträgen des von Ernst Bremer und Susanne Röhl herausgegebenen Tagungsbands.6 Dazu kommen zwei Neueditionen, einmal der insularfranzösischen Fassung,7 einmal des Pynson-Textes.8 Wie auch bei den anderen bisherigen Editionen der ‘Reisen’ wurden dabei der Edition des Textes Namensregister nachgestellt: in Tamanskis Edition nur ein zusammenfassendes, bei Deluz dagegen ein nach Orts- und Personennamen aufgeteiltes. Das Ziel dieser Art der Beschäftigung mit der in den ‘Reisen’ enthaltenen großen Menge an Namen ist es, die Namen in ihrer oftmals verderbt überlieferten Form zu entschlüsseln und zuzuordnen. Dabei werden häufig zu einem Ort mehrere Namensvarianten angegeben, weil antike Benennungen beibehalten wurden:
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the early English stage, in: Shakespeare in Southern Africa 18 (2006), S. 21–28; Fre´de´ric Hartweg, La condamnation des voyages. La Nef des fous de Sebastian Brant entre le Livre des merveilles du monde et Fortunatus, in: Bremer und Röhl [Anm. 1], S. 93–110; Monica Manolescu, »Verbal Adventures in the Inky Jungle«. Marco Polo and John Mandeville in Vladimir Nabokov’s The Gift, in: Cycnos 24/1 (2007), S. 119–129. Marı´a Mercedes Rodrı´guez Temperley, Narrar, Informar, Conquistar. Los Viajes de Juan de Mandevilla en Aragon, in: Studia Neophilologica 73 (2001), S. 184–196; Martin Camargo, The Book of John Mandeville and the Geography of Identity, in: Marvels, Monsters, and Miracles. Studies in the Medieval and Early Modern Imaginations, hg. von Timothy S. Jones und David A. Sprunger, Kalamazoo (Mich.) 2002, S. 67–84; Rosemary Tzanaki, Mandeville’s Medieval Audiences. A Study on the Reception of the Book of Sir John Mandeville (1371– 1550), Aldershot 2003; Susanne Röhl, Der livre de Mandeville im 14. und 15. Jahrhundert (MittelalterStudien des Instituts zur Interdisziplinären Erforschung des Mittelalters und seines Nachwirkens 6), München 2004; Alexandra Nusser, Zu spätmittelalterlichen Autorenbildern am Beispiel der Überlieferung von Jean de Mandevilles ‘Reisen’ in Europa, in: Kleidung und Repräsentation in Antike und Mittelalter, hg. von Ansgar Köb und Peter Riedel (MittelalterStudien des Instituts zur Interdisziplinären Erforschung des Mittelalters und sei˝ rsi, Ways and nes Nachwirkens 7), München 2005, S. 95–116 u. Farbabb. S. 124–132; Tibor O means of French lexical influence in the Cotton version of Mandeville’s Travels, in: Rethinking Middle English. Linguistic and Literary Approaches, hg. von Nikolaus Ritt und Herbert Schendl (Studies in English Medieval Language and Literature 10), Frankfurt a. M. 2005, S. 161–168; Michael J. Bennett, Mandeville’s Travels and the Anglo-French Moment, in: Medium Aevum 75/2 (2006), S. 273–292. Christiane Deluz, L’originalite´ du Livre de Jean de Mandeville, in: Bremer und Röhl [Anm. 1], S. 11–18; Michael C. Seymour, More Thoughts on Mandeville, ebd., S. 19–30; Alda Rosse` propos de la source de la version italienne des Voyages de Jean de Mandeville, bastiano, A ebd., S. 31–40; Randall Herz, Apropos binding waste: A new manuscript finding of Mandeville’s Reisen in the abridged Velser redaction, ebd., S. 41–66; Rosemary Tzanaki, Aspects of Mandeville’s Audiences, ebd., S. 79–92; Werner Paravicini, Fakten und Fiktionen. Das Fegefeuer des hl. Patrick und die europäische Ritterschaft im späten Mittelalter, ebd., S. 111– 164. Jean de Mandeville, Le Livre des Merveilles du Monde, hg. von Christiane Deluz (Sources d’Histoire Me´die´vale. Publie´es par l’Institut de Recherche et d’Histoire des Textes 31), Paris 2000. The Book of John Mandeville. An Edition of the Pynson Text with Commentary on the Defective Version, hg. von Tamarah Kohanski (Medieval and Renaissance Texts and Studies, Volume 231), Arizona 2001.
Namen in der Diemeringen-Version von Mandevilles ‘Reisen’
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Ein Faktum mag die geographische Ortsnamengebung zusätzlich belastet haben: manche Landschaften und Städte wurden auch im Mittelalter noch weiter mit ihren antiken Benennungen belegt, Konstantinopel, Antiochia, Alexandria, Palästina usw. Dies mag es manchem Zeitgenossen, Dichter wie Zuhörer oder Leser, zusätzlich erschwert haben, sich chronologisch und geographisch zu orientieren.9
Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Mandeville-Forschung stützt sich auf die Namen. Die Namensvarianten einander zuzuordnen, möglicherweise unter der Hinzufügung der aktuellen Bezeichnung, hilft, die Route Mandevilles von Europa nach China nachzuvollziehen und seine ethnologischen Beobachtungen geographisch zu lokalisieren. In den quellenkundlichen Aufstellungen bieten die Namen Anhaltspunkte zur Textgenese – so stützt sich Christiane Deluz10 bei ihrer These, Mandeville sei zumindest bis in den Nahen Osten gereist, auf die Erwähnung arabischer, in den Quellen nicht verwendeter Namen. Die große Ansammlung von Namen speist sich aus den Quellen, denen Jean de Mandeville sein Werk verdankt; er übernimmt sie aus den Texten, die seit Bovenschen11 und Warner12 zum Großteil bekannt und seit Deluz13 in aufwändiger Arbeit für fast alle Textstellen der ‘Reisen’ aufgeführt sind. Ausschnitte aus den in der Hauptsache lateinischen Quellentexten14 werden von Mandeville zum Teil Wort für Wort übertragen; die der Urfassung am nächsten stehende Textversion ist nach weitgehend15 übereinstimmender Meinung der Forschung die kontinentalfranzösische Version und ist in einer von Malcolm Letts besorgten Transkription16 der ältesten bekannten Handschrift, des so genannten Paris-Textes,17 zugänglich. Die nach den französischen oder den bald darauf erstellten lateinischen Versionen der ‘Reisen’ angefertigten Übersetzungen in andere europäische Volkssprachen transportierten die Namen und Namensaufzählungen Mandevilles weiter. Meist wurden die ursprüngliche Ordnung und damit auch die entsprechenden Namen beibehalten, 9
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Paul Kunitzsch, Zur Typologie orientalischer Namen in der mittelalterlichen deutschen und europäischen Literatur, in: NAMEN in deutschen literarischen Texten des Mittelalters. Vorträge Symposion Kiel, 9.–12.9.1987, hg. von Friedhelm Debus und Horst Pütz (Kieler Beiträge zur deutschen Sprachgeschichte, Bd. 12), Neumünster 1989, S. 43–56, hier S. 44 f. Deluz [Anm. 7], v. a. S. 11; dies., Le livre de Jehan de Mandeville. Une »ge´ographie« au XIVe s. (Publications de L’Institut d’E´tudes Me´die´vales – Textes, E´tudes, Congre`s 8), Louvain-LaNeuve 1988, v. a. S. 61. Albert Bovenschen, Die Quellen für die Reisebeschreibung des Johann von Mandeville, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 23 (1888), S. 177–306. The Buke of Sir John Maundeuil, hg. von George F. Warner, London 1889. Deluz [Anm. 10]. Zu den Quellen ebd., v. a. Kapitel III La ›Librairie‹ de Mandeville, S. 39–72, v. a. die Auflistung der ›Sources de Mandeville‹, S. 57 f. Kritik an dieser Rekonstruktion übte zuletzt Bennett [Anm. 5]; er schlägt die insularfranzösische Version als erste, von einem Engländer verfasste Fassung vor. Siehe dort v. a. S. 277 f. Mandeville’s Travels. Texts and Translations, hg. von Malcolm Letts, London 1953, S. 225– 413. Beschreibung der Handschrift P13 in: Röhl [Anm. 5], S. 110–114.
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Reinhard Berron
teilweise verschwanden sie mit vorgenommenen Textkürzungen, oder es kamen durch neue Einschübe (z. B. über die Ogier-Sage in der Lütticher Version) auch neue Namen hinzu. Den Bedarf, die vielen Namen zueinander in Bezug zu setzen und zu erläutern, sahen bereits der Bearbeiter Diemeringen, der Autor Mandeville sowie teilweise schon die Verfasser seiner Quellen. Diesem Bereich der Namensreflexion werden alle Namen zugeordnet, denen eine erläuternde Ergänzung beigegeben ist. Die Art und Weise, in der dies geschieht, ist unterschiedlich – es ergeben sich die im Folgenden aufgeführten Gruppen: – Alternativnamen: Angabe eines zweiten Namens ohne Erläuterung, wie: Den berg [Ätna] heissent ouch ettelich Gybee oder / / glottan,18 oder Vnd an eime ende von Gallilee lit ein berg heisset Endor oder Hermon.19 – Namensentwicklung: Angabe weiterer Namen mit historischer Erläuterung, wie: o Vnd vur Melchisedech geziten pflag su´ Jebus zu heissende. Dar nach hies su Salem o o bicz zu Dauides geziten, vnd der det die zwene nammen zu samen vnd hiese su´ Jebusalem. Vnd dar nach hies su´ Salomon Jerasoloma vnd do von heisset si nu´ Jerusalem.20 Dieses Verfahren kann in eine ausführliche Beschreibung von Entstehung und Namensgebung ausufern.21 – Namensbedeutung: der im eigentlichen Sinne onomastische Versuch, en passant das Zustandekommen des jeweiligen Namens zu erklären, wie: Ouch heisset es daz Dote mer vmb daz, daz es niht [. . .] louffet alz ander mere. Wand ez ist niht ein reht mer, me ez ist alz ein wog oder ein sewe.22 18
19 20 21
22
B1, 16ra, 16rb. Die kritische Edition, die von Klaus Ridder besorgt wird, liegt noch nicht im Druck vor, es konnte jedoch für diesen Beitrag der quasi fertige Text in einem aktuellen Ausdruck benutzt werden. Da die Ausgabe noch nicht erschienen und damit die Seitenzahlen noch nicht fixiert sind, erfolgt die Zitierung nach der Blattzählung der Leithandschrift. Der Text wurde nach folgenden Handschriften erstellt: »Die Wahl von B1 als Leithandschrift ist zwingend. B1 bietet die beste Textqualität und Textgestalt und ist die älteste erhaltene Handschrift; die Schreibsprache (Elsässisch) weist in den ersten Rezeptionsraum der Übersetzung; der Schreiber beherrscht ein einheitliches Graphemsystem und führt teilweise eine sinngerechte Interpunktion des Textes durch. B1 besitzt ferner in Se eine Parallelhandschrift, die sie stützt und bei Textausfällen einspringen kann« (Klaus Ridder, Übersetzungsnaher und wirkungsintensiver Text. Zu einer Ausgabe der deutschen Mandeville-Übertragung des Otto von Diemeringen, in: Editionsberichte zur mittelalterlichen Literatur. Beiträge der Bamberger Tagung »Methoden und Probleme der Edition mittelalterlicher deutscher Texte«, 26. bis 29. Juli 1991, hg. von Anton Schwab, Göppingen 1994, S. 325–331, hier S. 327). Die Wiedergabe des Textes folgt also den von Ridder aufgestellten Kriterien (ebd.) bezüglich der verschiedenen s-Schreibung und der Diakritika. Als Vorlage wird der Text P11 angenommen; zur Diskussion und den Gründen dieser Wahl: Klaus Ridder, Jean de Mandevilles ‘Reisen’. Studien zur Überlieferungsgeschichte der deutschen Übersetzung des Otto von Diemeringen (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 99), München 1991, S. 147–150. Eine Beschreibung der Handschrift findet sich ebd., S. 36 ff. B1, 29va. B1, 21rb. Z. B. die Städtetäufer Alexander (38rb, 38va, 65vb), Ogier (39va, 39vb), Nebukadnezar (12ra), Ninus (37va), Adrianus (24rb), Melchisedek (21rb). B1, 27rb.
Namen in der Diemeringen-Version von Mandevilles ‘Reisen’
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– Namensübersetzung: Vermittlung der Bedeutung eines Namens an Rezipienten, die der Sprache, in der die Benennung stattfand, nicht mächtig sind, wie: Von Jerusalem zwo milen verre ist der berg, den man heisset Mont Joie, das ist der fröyden berg.23 – Die letztgenannte, wegen ihres Variantenreichtums besonders beachtenswerte Gruppe soll hier exemplarisch vorgestellt werden. Die Übersetzung von Namen erfolgt nach drei Varianten: Fremdsprachige Namen werden als feststehend angenommen und ihre Bedeutung im Deutschen erklärt; der Erzähler gibt die verschiedenen einzelsprachlichen Varianten eines Namens an; bei einigen wenigen Fällen handelt es sich um Übersetzungsfehler.
1. Fremdsprachige Namen als Signifikanten Dass die Bereitschaft, einen Namen überhaupt zu erklären, bereits bei Mandeville vorhanden war, zeigt sich, wenn man die komplizierte Textgeschichte bis zu den Quellen zurückverfolgt. Der so genannte Pseudo-Odorico beispielsweise hatte sich noch mit der bloßen Mitteilung des Namens begnügt: IIII o miliario a Iherusalem est mons Iore, vbi Samuel propheta est sepultus.24 Mandeville macht daraus eine umfassendere Information, indem er nicht nur die scheinbare französische Form des lateinisch rezipierten Namens angibt, sondern auch dessen Bedeutung: Jtem a x lieus de Jerusalem est le mont de Joye qui est moult bel lieu et delicieu / et gist samuel le prophete en vne belle tombe / Et ce mont appelle on mont de joye / pour tant quil donne joye aux pelerins qui vont en Jerusalem.25
Mehrere dieser französischen Namen übernahm Otto von Diemeringen nun aus seiner Vorlage.26 Im Gegensatz zu den zusammengesetzten sprechenden Namen wie Jungbrunnen,27 verzaubertes Tal28 usw. wollte er sie jedoch nicht nur übersetzen, sondern er behielt das ›Original‹ in der führenden Position bei, so Mont Joie (s. o.), 23 24
25 26
27 28
B1, 26ra. Pseudo-Odorico nach: Peregrinatores medii aevi quatuor, hg. von Johann Christian Moritz Laurent, Leipzig 1864, S. 143–158, hier C. LXI, S. 156. P11, 21v. Ridder [Anm. 18], S. 326: »Ausgangstext Diemeringens [. . .] war eine Textform der Lütticher Version, die zwei Handschriften überliefern. Die direkte Vorlage des Übersetzers ist nicht erhalten; in der Edition wird die Quelle nach der Handschrift Paris, B. N., f. fr. 24436 [Sigle: Q] gelesen.« Von der Lütticher Version existiert noch keine kritische Edition; es wird daher nach der Handschrift P11 zitiert (Beschreibung Josephine Waters Bennett, The Rediscovery of Sir John Mandeville [The Modern Language Association of America Monograph Series XIX], New York 1954, S. 282). Kürzel werden wie allgemein üblich aufgelöst, so hochgestelltes s zu re, Nasalstrich zu zweitem m; gestrichenes p zu par und Ihrs zu Ierusalem. Großschreibung und Interpunktion werden nur übernommen, wo sie sich in der Handschrift erkennen lassen. Ju´ngel bu´rne (Se, 43ra) aus fontaine de Jouuent (P11, 35r). Verzouberte tal (B1, 61ra) aus val enchanteys (P11, 54v).
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Reinhard Berron
Castel Cor (Vnd bi Damascke lit eine gar starcke vesten heisset Castel Cor, daz ist die gu`ldin burg.)29 und Mont Royal: Den sun hette vor Gwycboga gefangen geleit in eyner vesten heisset Mont Royal, daz ist gesprochen ku´ngesberg.30 Diemeringen hat diese Namen wohl als Eigennamen aufgefasst, die in der Zielsprache zu bewahren seien. Bemerkenswerterweise verfährt er aber bei Bedarf auch anders: Wo der französische Text nämlich seinerseits aus ihm fremden Sprachen übersetzt, wie im Falle der Kreuzfahrerburg Krak (a vn chastel fort et bel en la montaigne qui est au souldant / et a nom carach en sarrazmois / cest a dire en francois Royal mont ou mont royal),31 erscheint es ihm durchaus ratsam, das französische mont royal nicht mitzuzitieren, wie an anderer Stelle geschehen, sondern sofort ins Deutsche zu übersetzen – ohne allerdings die Sprachbezeichnung francois dementsprechend umzuwandeln: o
Vnd von dem Toten mere, do der Jordan in vellet, wider der sunnen vfgang zu gande vssen dem lande, daz da heisset Terra Promissionis, lit eine schöne vnd veste burg vf eyme berge, die ist des soldans vnd heisset Carach; daz ist also vil gesprochen als ku´ngesberg.32
Die lateinischen Namen behandelt Diemeringen ähnlich wie die französischen. Der bereits aus der Vorlage stammende lateinische Name Campus Floridus wird geläufig ins Deutsche übersetzt: Vnd zwu´schent der selben kyrchen vnd der stat lit ein plon heisset Campus Floridus, das ist gesprochen daz blügende velt.33 In einem anderen Fall wird allerdings aus nicht nachvollziehbaren Gründen der lateinische Name dem deutschen nachgestellt: Vnd bi Ancon flusset ein kleiner bach o o heisset Belean. Vnd v`ber der bach stot eine grube heisset Moymon grube oder Fossa 34 Moymon. Hat Otto von Diemeringen nur seine Lateinkenntnisse beweisen wollen? In der Lütticher Version lautet die Stelle: Jtem de ancon iusques a la grande montaigne con nomme scala de thil a cent stadiens / delez ancon court vne petite riuiere qui a nom beleon / et la delez est la fosse meymon / ce est vne fosse ronde qui a bien cent cubites de large.35
Es gibt also für den lateinischen Namen keine Vorlage in der französischen Handschrift. Bei Diemeringen wird ein Vallis luctus übersetzt: O vch heissent etteliche den tal Vallis luctus, daz ist der Weinende tal, / / wand Adam weinete do hundert jare, do yme Cayn hette Abel erslagen.36 Dieses Tal, streng genommen das Tal der Trauer, nicht der Tränen, hat in der Vorlage keinen lateinischen Namen: 29 30
31 32 33
34 35 36
B1, 31rb. Dagegen P11, 26v: Et assez pres de Damas est le chastel Darque qui est moult fort. B1, 10vb. Dagegen P11, 10v: Et finablement il sacorderent a melechnasser le fil melechnasser que Gwickboga auoit mis en prison a mont royal. P11, 23v. B1, 28rb. B1, 20rb. Dagegen P11, 17r: Et entre celle eglise et la cite est Campus floridus cest a dire champ flours pourtant que une pucelle estoit encoulpee a tort quelle auoit fait form et la pucelle fait fornicacion si la deuoit on ardoir en celle place et furent les espines alumees. B1, 9ra. Lütticher Version P11, 9v. B1, 19ra, 19rb.
Namen in der Diemeringen-Version von Mandevilles ‘Reisen’
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De bersabee on vient a la cite de hebron / ou il a ij bonnes lieues / et est autrement appellee le val mambre et autre le nomment le val des larmes / pour tant que adam ploura la cent ans la mort son fil abel que cayn son autre fil auoit ocis.37
Wie bei der Fossa Moymon wird der lateinische Name also gewissermaßen als Alternativname eingeführt. Liegt hier ein Indiz dafür vor, dass Diemeringen, wie er es zu Beginn der ‘Reisen’ ankündigt, auch aus einer lateinischen Version übersetzte? – so o o o han ich, Otte von Diemeringen, dumherre zu Mecze, daz selbe buch von latine vnd o von weltsche zu tu´tsche gezogen [. . .].38 Nicht nur von französischen und lateinischen Namensformen werden Übersetzungen angeboten: Den biblischen39 Namen Hakeldama zitiert Diemeringen als Acheldemach, ohne dass er dabei angibt, aus welcher Sprache diese Urform stammt; danach übersetzt er ihn: Vnd vf ginesite dez berges, wol eins wurffez verre, ist daz o velt, daz su´ nennent Acheldemach. Daz ist gesprochen daz b l u t i g e v e l d e vnd wart gekouft mit den xxx d.40 Er folgt damit seiner französischen Vorlage: Et dautre part le mont de Syon vers midy oultre la valee le get dune parre est aceldemach ce est adire le c h a m p d e s a n c / le quel fu achatez pour les xxx denairs pour les quelz dieu ot estre vendus.41
Diese Passage, im Übrigen mit nahezu identischem Wortlaut im Paris-Text,42 wurde nach Deluz’ Recherchen dem Reisebericht Wilhelms von Boldensele entnommen: Supra vallem Josaphat versus meridiem est ager ille Aceldema in sepulturam peregrinorum pretio Christi sanguinis comparatus, ubi multorum corpora sanctorum requiescunt, sub quo in petris excisa sunt multa Christianorum habitacula et oratoria gratiosa.43
Dieser verzichtet anders als Mandeville auf eine explizite Erklärung des Eigennamens Aceldema.44 37 38 39 40 41 42
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P11, 16r. B1, Ira. Mt 27,8 und Apg 1,19. B1, 26ra. P11, 21v. Letts [Anm. 16], S. 279: Et de lautre part du mont de Syon vers midy, oultre la valee le giet dune pierre, est Aceldemach, cest a dire le c h a m p d e s a n c , qui fut achatez les xxx. Deniers, que nostre Seigneur fut vendus. Itinerarius Guilielmi de Boldensele: Des Edelherren Wilhelm von Boldensele Reise nach dem gelobten Lande, hg. von Carl Ludwig Grotefend, in: Zeitschrift des historischen Vereins für Niedersachsen (1855), S. 237–286, hier S. 272. Dieser Unterschied rechtfertigt einen kleinen Exkurs in den Bibeltext. Boldenseles Bericht unterscheidet sich von der Apostelgeschichte, denn in der Vulgata wird der aramäische Name (ha˘qel d·ma¯’) übersetzt: Et hic quidem possedit agrum de mercede iniquitatis et suspensus crepuit medius et diffusa sunt omnia viscera eius et notum factum est omnibus habitantibus Hierusalem ita ut appellaretur ager ille lingua eorum Acheldemach hoc est a g e r S a n g u i n i s (Actus Apostolorum I,18 f., in: Biblia Sacra, iuxta vulgatam versionem, Editionem quartam emdendatam cum sociis B. Fischer et al., praeparavit Roger Gryson, Stuttgart 1994). Das Matthäusevangelium hingegen, in welchem auch die zugehörige Geschichte an-
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2. Einzelsprachliche Namensversionen Eine weitere Variante der Namensübersetzung besteht darin, dass der Erzähler mindestens eine weitere einzelsprachliche Namensversion des Ortes aufführt, von dem er zu sprechen ansetzt. Besonders im Nahen Osten wird diese Methode häufig angeo wendet. Der hebräische Name des Berges Ararat Vnd dar nach kummet man zu einem andern [berg] heisset Arelach. Vnd heissent in die Juden Chano45 wird ebenso genannt wie der angebliche arabische Name Mekkas: vnd xxxij tageverte verre von Babilone ist eine stat heisset Mech oder Merks. Vnd nennent su´ die heyden Jachribe vnd lit die stat in den deserten von Arabien.46 Der Name Jachribe ist eigentlich die arabische Bezeichnung Medinas und wird hier irrtümlich Mekka zugeordnet.47 Teilweise werden bei Namen aus dem Nahen Osten auch mehrere Namensformen nebeneinander gestellt, v. a. arabische und hebräische, wie zum Beispiel für Ägypten: Vnd so man vßer dem deserte kummet, so kummet man in Egypte. Vnd daz lant Egipte heisset in heydenescher sprachen Canopat, vnd andern heissent es Mersin.48 Da hier nicht ausdrücklich gesagt wird, um welche Sprachen es sich handelt, könnte sich
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ders erzählt wird (nach Mt 27,6–8: Die Hohenpriester kauften das Feld vom ›Blutgeld‹ des Judas. Nach Apg 1,19 stürzte Judas auf das vorher gekaufte Feld und starb qualvoll), nennt in der griechischen Fassung den aramäischen Namen nicht: oië deÁ aÆrxiereiÄw laboÂntew taÁ aÆrgyÂria eiËpan´ oyÆk eÍjestin baleiÄn ayÆtaÁ eiÆw toÁn korbana Ä n, eÆpeiÁ timhÁ aiÏmatow eÆstin. symboyÂlion deÁ laboÂntew hÆgoÂrasan eÆj ayÆtv Ä n toÁn aÆgroÁn toyÄ kerameÂvw eiÆw tafhÁn toiÄw jeÂnoiw. dioÁ eÆklhÂûh oë aÆgroÁw eÆkeiÄnow aÆ g r oÁ w a Ïi m a t o w eÏvw th Ä w shÂmeron (KataÁ MaûûaiÄon 27,6–8, in: Novum Testamentum Graece cum apparatu critico curavit Eberhard Nestle. Novis curis elaboraverunt Erwin Nestle, Stuttgart 251963). Die Vulgatafassung hingegen zitiert den Namen auch im Matthäusevangelium: principes autem sacerdotum acceptis argenteis dixerunt / non licet mittere eos in corbanan quia pretium sanguinis est / consilio autem inito emerunt ex illis agrum figuli in sepulturam peregrinorum / propter hoc vocatus est ager ille Acheldemach a g e r s a n g u i n i s usque in hodiernum diem (Secundum Mattheum 27,8, in: Biblia Sacra, s. o.). Boldensele kann den Namen somit aus einer der beiden Bibelstellen der Vulgata oder aus dem griechischen Matthäusevangelium entnommen haben, wo er jeweils auch übersetzt wird. B1, 36ra. Dagegen P11, 31r, 31v: De celle cite de aitrion vient on a une montaigne que a nom sabisacolle / / Et delez est une autre qui a nom aralach / maiz les Juyfz le nomment chano. B1, 12ra. Dagegen P11, 11v: Jtem la cite de melech que les pagens appellent Jathribe est es grans desers darabe. Auf Grund dieser Namensverwechslung und der verderbten Form für Al-Tı¯h: Und heisset daz desert in der sprachen Alhylech (B1, 9va. Dagegen P11, 10r: Et est ce desert nomme en leur langaige / Alhylech), deren Quellen nicht ausfindig gemacht werden können, geht Christiane Deluz von einem Aufenthalt Mandevilles im Nahen Osten aus und vermerkt an den entsprechenden Stellen ihrer tabellarischen Quellenauflistung: »Appris sur place?« (Deluz [Anm. 10], S. 436) und »recueillis sur place (?)« (ebd., S. 434): D’autre part, il semble difficile »d’expliquer autrement que par un se´jour en Orient la pre´sence de noms arabes (plus ou moins de´forme´s par lui ou par les copistes) qui e´maillent son re´cit et dont, la` encore, il a l’exclusivite´, comme ›Alhilet‹ (Et tih) pour le de´sert entre Egypte et Syrie; ›Calahelic‹ (El Kalah, plus la terminaison lik propre aux noms de lieux) pour la citadelle du Caire; noms du baume, dont il a e´te´ question plus haut« (ebd., S. 61). B1, 9va. Dagegen P11, 10r: Et quant on est de ce desert on entre en Egipte / que on appelle en sarrasmoie Canopat / Et autres lappellent mersin.
Namen in der Diemeringen-Version von Mandevilles ‘Reisen’
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die Form Mersin sowohl auf den hebräischen Namen Ägyptens, Misraim, als auch ˙ auf die arabische Form Misr beziehen.49 Normalerweise werden heidnisch und sara˙ zenisch, also arabisch, äquivalent gebraucht – so zum Beispiel in der Gegenüberstellung von arabischem und hebräischem Namen für Hebron: Vnd heissent su´ [Hebron] die heyden in irre sprachen Caria charba, daz ist gesprochen der patriarchen stat. Vnd die Juden heissent su´ Arboch.50 Auch von Personengruppen werden unterschiedliche einzelsprachliche Namensfassungen angegeben, so von den drei Gefährten Daniels in der Löwengrube und von den drei Heiligen Königen. Die Namen ersterer werden in ihrer hebräischen und babylonischen Form mitgeteilt: Die kinde hiessent in abrahemmer sprachen Ananians, Azarias, Misahel, als in dem salter stat in dem psalmen: »Benedicite omnia opera domini domino.« Doch hiesse sie Nabogodosor anders, es hies sie Sydrag, Mysag vnd Abdenago, daz ist gesprochen: »Glorifiettur got, vnu`ber wintlicher got, got v`ber alle ku´ngriche.« Vnd daz waz vmb daz wunder, daz er gesach, daz daz fu´r die gottes kinde niht enleczete.51
Die Namen werden also in beiden Fällen in Bezug zu einem Preisen der göttlichen Macht gesetzt. Von den Namen der Heiligen Drei Könige dagegen werden drei Versionen mitgeteilt: die erste Form, die als die übliche vorgestellt wird, wiewohl sie nicht weiter spezifiziert ist, die hebräische und die griechische: Vnd wie wol wir die drie ku´nige nennent Kaspar, Melchior vnd Baltasor, so nennent su´ doch die Juden anders, wande su´ nennent sy Apellius, Amerius vnd Damasus. Vnd die Kryechen nennent sie Algelach, Malgelach vnd Serafus.52
3. Übersetzungsfehler Von den beiden Übersetzungsfehlern ist der eine wohl auf Mandeville, der andere auf Diemeringen zurückzuführen. Im ersten Fall handelt es sich um den Namen der großen Kirche in Byzanz, Hagia Sophia, der sich nicht einer Heiligen Sophia, son49
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Der Name Canopat wird wenig später wiederholt: Die ku´ngriche heissent eins Canopat oder Egypte, das ander Jerusalem, daz Dauit besaz vnd do ku´ng waz vnd nach ime Salomon (B1, 10ra). Nach dem Namensregister in: Sir John Mandevilles Reisebeschreibung in deutscher Übersetzung von Michel Velser, hg. von Eric John Morrall (Deutsche Texte des Mittelalters LXVI), Berlin 1974, S. 190, handelt es sich um eine antike Stadt in Ägypten. B1, 19va. Dagegen P11, 16r, 16v: Et les sarrazins le nomment en leur langage Caria charba ce est a dire le lieu des patriarches. Et les Juyfs / / lappellent arboch. B1, 9vb. Dagegen P11, 10r: la mersniss fist nabugodonosor mectre les trois enffanz en la fornaise ardat / pourtant quil estoient de bone foy / les quelz furent nommez en ebrieu anania azaria et misael / et ainsi les nomme vn psalme con nomme benedicite dia opera mais nabugodonosor les appella autrement cest assanom sidrat misat et abdenago. Cest a dire dieu glorieux / dieu vittorieux dieu sur tot royaumes. B1, 20va. Dagegen P11, 17r: et assez pres est le puis on lestoile chey qui auoit conduit les iij Roys Jaspar melchior et baltazar / Jtem les Juyfz appellent les iij Roys in hebrieu Appellius amerius et damasus / et les grigois les nomment algalach malgalach et surphus.
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dern der ‘heiligen Weisheit’53 verdankt: Vnd in der selben stat [Konstantinopel] ist die merreste vnd die schöneste kyrche in der welte vnd ist gebuwen in sant Sophien ere.54 Der zu vermutenden Quelle, dem Pilgerbericht Boldenseles, ist das Missverständnis nicht zuzuschreiben, denn dort steht richtig erklärt, worum es sich bei der Hagia Sophia handelt: Pluraque sunt palatia pulcherrima in eadem; tenet tamen principatum in ipsa civitate [Constantinopolis] ecclesia sanctae Sophiae, id est Sapientiae, quae Christus est, quam Justinianus sanctissimus imperator fundavit et mirabiliter singularibus praerogativis ac praeconiis decoravit.55
Auch im zweiten Fall ist der falsch hergeleitete Name griechischen Ursprungs: Zur Stadt Heliopolis gibt Diemeringen einen Alternativnamen an, der aus einem Verständnisfehler entstanden zu sein scheint. Die französische Handschrift hat hier: En egipte est la cite de elyopal ce est a dire la cite de solea;56 Diemeringen übersetzt zunächst die namenkundliche Erklärung völlig richtig: Jn Egypte lit eine stat heisset Elyopel, daz ist der sunnen stat. Er scheint also die französische Herleitung korrekt verstanden zu haben. Dass er aber als Namensalternative den Satz anfügt: Vnd heisset die stat Desola,57 widerspricht dieser Annahme. Weder die Übersetzung Michel Velsers58 noch die englische Cotton-Version59 kennen diese merkwürdige Variante. Kann der Metzer Otto von Diemeringen tatsächlich den französischen Text derart missverstanden haben, oder geht dieser Fehler auf ein lateinisches de sole in einer zusätzlichen Vorlage oder einer Quelle zurück? Ein Bestandteil des Mandevilleschen Werkes, die Namensreflexion, eröffnet die Möglichkeit, über mehrere Schichten die außergewöhnlichen Bedingungen der Textentstehung von den Quellen über die französische Fassung bis hin zur deutschen Bearbeitung zu verfolgen. Eine Reflexion auf Namen findet sich wie am Beispiel des ›Blutackers‹ gezeigt bereits in der Bibel – das Onomastikon des Eusebius60 legt Zeug53
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»aÏgiow [. . .] heilig, ehrwürdig, mit dem gen. der Gottheit« (Griechisch-Deutsches Schulund Handwörterbuch von Wilhelm Gemoll, 9. Aufl., durchges. und erw. von Karl Vretska, mit einer Einführung in die Sprachgeschichte von Heinz Kronasser, München 1991, s. v.); »sofiÂa, aw, hë, ion. -iÂh (sofoÂw) 1. Geschicklichkeit, Gewandtheit, Kunstfertigkeit, [. . .]. 2. übertr. a. das Verstehen, Kenntnis, Einsicht, Klugheit, Schlauheit, [. . .]. b. Lebensklugheit, Weisheit, Philosophie« (ebd., s. v.). B1, 1vb. Dagegen P11, 3v: En ceste cite de constantinoble est la plus grande eglise et la plus belle du monde qui est fondee en honeur de sainte sophie. So auch in Paris-Text, vgl. Letts [Anm. 16], S. 232: La est la plus belle eglyse et la plus noble du monde, qui est de Sainte Sofie. Itinerarius Guilielmi de Boldensele [Anm. 43], S. 238. P11, 12v. B1, 13va. Morrall [Anm. 49], S. 32: In Egypten ist ain statt die haisset Elyapole, das ist als vil gesprochen als die statt von der sunnen. Mandevilles’s Travels, hg. von Michael C. Seymour, Oxford 1967, S. 34: In Egipt ist he citee of Elyople, that is to seyne the cytee of the sonne. Eusebius von Caesarea, Das Onomastikon der biblischen Ortsnamen, Edition der syrischen Fassung mit griechischem Text, englischer und deutscher Übersetzung, eingel., hg. und mit Indizes vers. von Stefan Timm (Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristli-
Namen in der Diemeringen-Version von Mandevilles ‘Reisen’
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nis vom frühen Interesse an ihnen ab; über die Quellen Mandevilles, wie die Etymologiae Isidors von Sevilla oder die Livres dou tresor von Brunetto Latini gelangen sie in den Text der ‘Reisen’. An vielen Stellen setzt Mandeville die Namensreflexionen bewusst ein – sei es anekdotisch, sei es im Zeichen der Wissensvermittlung. Sein Übersetzer und Bearbeiter Otto von Diemeringen treibt diesen Prozess weiter. Je nach Art der Namensreflexion (Alternativnamen, Namensentwicklung, Namensbedeutung, Namensübersetzung) wird er seinerseits unterschiedlich stark produktiv. Im hier behandelten Bereich, dem der Namensübersetzungen, verändert Diemeringen seine Vorlage insgesamt eher selten: Die Gruppe der einzelsprachlichen Varianten entnimmt er seiner Vorlage, die auch für einen der beiden Übersetzungsfehler verantwortlich ist. Die erste Gruppe jedoch legt Zeugnis ab von der Intention Diemeringens, wo möglich dem Rezipienten eine breite Wissenspalette zu vermitteln, indem er den Grund für die Benennung eines Ortes angibt, ohne aber den durch die Vorlage überlieferten ›Originalnamen‹ aufzugeben. Darüberhinaus finden sich einige Indizien, die die zusätzliche Verwendung einer lateinischen Fassung wahrscheinlich machen. Auch die eigenartige Form des zweiten Übersetzungsfehlers ist schließlich auf die geradezu hyperkorrekte Methodik seitens des Übersetzers und Bearbeiters zurückzuführen.
chen Literatur 152), Berlin/New York 2005. Einige der dort vorgestellten Namensbedeutungen finden sich auch bei Mandeville: Arbok, Hebron (Nr. 5); Bethlehem, Ephrata (Nr. 196); Pischon, Ganges (Nr. 398); Die Dörfer der Vier (Quryat ‘Arba’), Hebron (Nr. 584); Mamre, Hebron (Nr. 652); Tigris (Nr. 903); Pischon (Nr. 915).
Ästhetik des Bösen Die Herodesfigur im geistlichen Schauspiel von Ulrich Barton und Klaus Ridder
Mit seiner Theaterleidenschaft hat Herodes der Große schon immer Anstoß erregt: Als er, ein großer Freund der griechischen Kultur, ein Theater in Jerusalem bauen ließ, stieß das auf erbitterte Ablehnung vonseiten der jüdischen Bevölkerung.1 Ähnlich war die Reaktion auf christlicher Seite, als Herodes, inzwischen selbst zur Theaterfigur geworden, die Bühne des liturgischen Dramas betrat. Und diese Reaktion ist durchaus verständlich, wenn man bedenkt, dass mit der Herodesfigur erstmals das Böse Einzug in das christliche Kultschauspiel hält,2 das in seinem vermutlich frühesten Vertreter, der Osterfeier, zunächst nur Figuren wie den Engel und die drei Marien am Grab, dann auch Christus und die Apostel kannte. Die Entstehung und Entwicklung des geistlichen Spiels lässt sich wohl am ehesten erklären aus einem zunehmenden Bedürfnis der Gläubigen nach subjektivem Mitund Nachvollzug der heilsgeschichtlichen Ereignisse über Formen der Veranschaulichung und Vergegenwärtigung. Die sinnliche Teilnahme an den dargestellten Geschehnissen verbindet die Zuschauer zu einer Kultgemeinde, der auf diese Weise die Grundlagen ihres Glaubens und die religiösen Normen präsent und erfahrbar werden.3 Die Figuren des geistlichen Spiels sind Vermittlungsinstanzen, über die und mit 1
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Josephus, Antiquitates Iudaicae, XV,8,1 (hg. von Allen Wikgren, Cambridge (Mass.)/London 1963, S. 128), wobei Herodes nicht nur ein Theater für Schauspiele baute, sondern auch ein prächtig gestaltetes Amphitheater, was die jüdische Bevölkerung selbstverständlich noch weit mehr abgeschreckt haben dürfte als das Schauspieltheater. Vgl. Werner Weismann, Kirche und Schauspiele. Die Schauspiele im Urteil der lateinischen Kirchenväter unter besonderer Berücksichtigung von Augustin, Würzburg 1972, S. 69 Anm. 1; Abraham Schalit, König Herodes. Der Mann und sein Werk, 2. Aufl., mit einem Vorwort von Daniel Schwartz, Berlin/New York 2001, S. 370 f. Heinz Kindermann, Theatergeschichte Europas, Bd. 1: Das Theater der Antike und des Mittelalters, Salzburg 1957, nennt Herodes den »ersten Theaterbösewicht der europäischen Bühne« (S. 235). Am meisten Beachtung hat die Herodesfigur in der anglistischen Forschung gefunden, da sie in den englischen Mystery Plays eine so herausragende Rolle spielt; vgl. Roscoe E. Parker, The Reputation of Herod in Early English Literature, in: Speculum 8 (1933), S. 59–67; Warren E. Tomlinson, Der Herodes-Charakter im englischen Drama, Leipzig 1934; David Staines, To Out-Herod Herod: The Development of a Dramatic Character, in: The Drama of the Middle Ages. Comparative and Critical Essays, hg. von Clifford Davidson u. a., New York 1982, S. 207–231; Carolyn Coulson-Grigsby, Enacting Herod the Great’s Diseased Spirit, in: Early Drama, Art, and Music Review 23 (2001), S. 110–126. Den Herodes der französischen Mysterienspiele untersucht Isaak Sondheimer, Die HerodesPartien im lateinischen liturgischen Drama und in den französischen Mysterien, Halle a. d. S. 1912. Eine Beurteilung aus gesamteuropäischer Perspektive unternimmt Miriam Anne Skey, Herod the Great in Medieval European Drama, in: Comparative Drama 13 (1979), S. 330– 364. Zum gottesdienstähnlichen Charakter der Spiele vgl. Ursula Schulze, Formen der Reprae-
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Ulrich Barton und Klaus Ridder
denen die Zuschauer am vergegenwärtigten Heilsgeschehen partizipieren: Mit den drei Marien entdecken sie das leere Grab und teilen mit ihnen die Osterfreude; mit Christus bzw. Maria erleiden sie die Passion. Das geistliche Spiel ist ein Medium der Partizipation an und Identifikation mit Figuren der Heilsgeschichte und wird, wie es immer wieder heißt, aufgeführt zu Ehren Gottes und zur Besserung der Menschen. Seine Intention liegt also auch, neben den religiös-kultischen Funktionen, in Belehrung und Normenvermittlung. Normenvermittlung über literarische Identifikationsfiguren hat Hans Robert Jauß untersucht und dabei fünf Identifikationsmodelle unterschieden (assoziative, admirative, sympathetische, kathartische, ironische Identifikation).4 Die Normbildung kann bei allen Modellen in je spezifischer Weise scheitern, was an der »Grundambivalenz [. . .] aller ästhetischen Erfahrung«5 liegt: Gerade die ästhetische Erfahrung über Identifikation kann Normen besonders eindringlich vermitteln; zugleich besteht jedoch immer die Gefahr, dass der Rezipient am Ästhetischen hängenbleibt und die Norm, die dadurch vermittelt werden soll, gar nicht aufnimmt. Jauß geht in erster Linie von positiven Identifikationsfiguren aus, was auch sein Begriff ›Held‹ nahelegt; Normen können jedoch auch über negative Figuren vermittelt werden, eben ex negativo; diese müssen dann aber auch als negative kenntlich gemacht werden, d. h. so, dass sich der Rezipient gerade nicht im positiven Sinn mit ihnen identifiziert; sie müssen als AntiIdentifikationsfiguren konzipiert sein, müssen beim Rezipienten Distanzierung statt Identifikation auslösen, also: statt admirativer Identifikation, bei der man zu dem Helden aufschaut, eine Distanzierung, in der eine Figur verächtlich oder lächerlich erscheint; statt sympathetischer Identifikation, bei der man mit einer positiv gezeichneten Figur fühlt und leidet, eine Distanzierung von einer etwa als unmenschlich grausam und bedrohlich gezeichneten Figur. Doch auch solche ›Distanzierungsmodelle‹ sind stets von der Grundambivalenz ästhetischer Erfahrung geprägt. Wie wirkt sie sich bei ihnen aus? Hier dürfte das Hängenbleiben am Ästhetischen verhängnisvollere Konsequenzen haben als bei Vorbildfiguren. Das soll im Folgenden an der besagten Herodesfigur untersucht werden, der ersten ›Anti-Identifikationsfigur‹ des geistlichen Spiels. Damit man beurteilen kann, welche Art Anti-Identifikationsfigur den Spielschreibern mit Herodes vor Augen gestanden haben muss und welche Eigenschaften sie zu seiner Darstellung ausgewählt haben, gilt es zunächst nachzuzeichnen, mit welchen Mitteln der historische Herodes der Große zu einer negativen Exempel- und einer Symbolfigur des Bösen stilisiert wurde und welche Züge dabei besonders dominant sind.6
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sentatio im Geistlichen Spiel, in: Mittelalter und Frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, hg. von Walter Haug (Fortuna vitrea 16), Tübingen 1999, S. 312–356, hier S. 327–330. Hans Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1991, S. 244–292 (›Ästhetische Identifikation – Versuch über den literarischen Helden‹). Ebd., S. 251. Die Thematik des Bösen ist eines der am intensivsten bearbeiteten Gebiete in der Forschung zum geistlichen Spiel, wobei jedoch das Böse zumeist in Form des Teufels in den Blick
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Grundlegend für die christliche Herodesdarstellung ist Mt 2,1–8 und 16–18: Als Herodes erfährt, dass Weise aus dem Morgenland nach Jerusalem gekommen sind, um den neugeborenen König der Juden anzubeten, erschrickt er, befragt die Schriftgelehrten und lässt heimlich die Weisen zu sich kommen; er schickt sie auf die Suche nach dem Kind mit der listigen Bitte, sie möchten wiederkommen und ihm verraten, wo das Kind sei, damit auch er dorthin gehen und es anbeten könne. Als sie jedoch nicht wiederkommen, gerät Herodes in Zorn und lässt alle Kinder unter zwei Jahren töten. Die entscheidenden biblischen Vorgaben für alle künftige Darstellung des Herodes sind seine Angst, seine List und Heuchelei sowie sein Zorn. Seine Angst zeigt ihn in menschlicher Schwäche; seine Tat, der Kindermord, dagegen erweist ihn als unmenschlich grausam. Die zweite wichtige antike Quelle für das Herodesbild neben dem MatthäusEvangelium ist der jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus. Er behandelt Herodes gleich in zwei Werken und baut ihn in beiden zu einer Symbolfigur auf, einmal zu einer positiven, einmal zu einer negativen, je nach der Intention des jeweiligen Werkes. Mit dem ‘Bellum Iudaicum’ will Josephus zeigen, dass ein friedliches Zusammenleben von Juden und Römern möglich ist; Beweis dafür sei die über 30 Jahre lange Regierungszeit des Herodes, die eine Zeit des Friedens und Wohlstands gewesen sei; Herodes selbst wird als ehrlicher Mann, treuer Bundesgenosse Roms und von Gott begnadeter König dargestellt.7 »His virtues are Graeco-Roman«, und griechisch verstanden sind auch seine Laster: »Herod resembles tyrants in Greek historiography«;8 dies beinhaltet, dass er tragisch-ambivalent wahrgenommen werden kann: »as a historiographical figure [he] bears many allusions and similarities to tragic heroes.«9 Ziel der ‘Antiquitates Iudaicae’ dagegen ist es, die Größe des jüdischen Glaubens vor Augen zu stellen und darzulegen, dass die Befolgung des mosaischen Gesetzes zu einem glücklichen Leben führt. Als warnendes Gegenbeispiel dafür dient Herodes: Seine Regierungszeit gilt hier als »Epoche des Verfalls der von Mose entworfenen staatlichen Ordnung«;10 er selbst erscheint niederträchtig und von zweifelhafter Herkunft. Sein qualvolles Ende, das Josephus in allen Einzelheiten beschreibt, ist nur die gerechte Strafe für seine ständigen Übertretungen des mosaischen Gesetzes. »Herod’s misfortunes, viewed more as self-inflicted in the B[ellum] J[udaicum],
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genommen wird, derjenigen Figur also, die die Zuschauer selbst in ihrer alltäglichen Lebenswirklichkeit betraf; vgl. Walter Haugs Forschungsüberblick und seine Stellungnahme dazu: Rainer Warning, Friedrich Ohly und die Wiederkehr des Bösen, in: Walter Haug, Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Tübingen 2003, S. 650–663. Da es die Zuschauer im Fall Herodes mit einer Form des Bösen zu tun haben, die ihnen nicht unmittelbar in ihrer Alltagswirklichkeit, sondern nur im Rahmen der Aufführung begegnen konnte, dürften hier ganz eigene, vornehmlich ästhetisch-theatralische Aspekte des ›Bösen auf der Bühne‹ in den Blick kommen. Manuel Vogel, Herodes. König der Juden, Freund der Römer, Leipzig 2002, S. 15 f. Tamar Landau, Out-Heroding Herod. Josephus, Rhetoric, and the Herod Narratives, Leiden/Boston 2006, S. 194. Ebd. Vogel [Anm. 7], S. 17.
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Ulrich Barton und Klaus Ridder
become an example for the ways divine retribution works.«11 Unter dem übermächtigen Einfluss der biblischen Darstellung halten sich die mittelalterlichen Bearbeiter naheliegenderweise an das negative Herodesbild, wie Josephus es in den ‘Antiquitates’ zeichnet. Interessant ist, dass Josephus den bethlehemitischen Kindermord nicht erwähnt, obwohl er in seine tendenziöse Darstellung bestens hineingepasst hätte. Die Forschung geht überwiegend davon aus, dass der Kindermord gar nicht stattgefunden hat.12 Für die christliche Überlieferung ist er jedoch das entscheidende Charakteristikum des Herodes, und wenn etwa die ‘Legenda Aurea’ dann sein Leben nach den Vorgaben bei Josephus nachzeichnet,13 markiert hier nun der Kindermord den entscheidenden Wendepunkt in seiner Herrscherlaufbahn: Von da an vollzieht sich an ihm die Bestrafung durch Gott bis hin zu seinem unseligen Ende. Ließ sich der historische Herodes hinter Josephus’ tendenziöser Darstellung ohnehin nurmehr erahnen, verschwindet er nahezu völlig, wenn seine Biographie ganz unter das Zeichen einer Tat gestellt wird, die er womöglich gar nicht begangen hat. Nun erst jedoch hat Herodes seine im christlichen Sinne wahre Biographie bekommen. Sie erweist ihn als Exempel für die Bestrafung des Gottlosen. Als Negativexempel erscheint Herodes auch in theologischen Schriften seit den Kirchenvätern:14 Sein Wüten gegen den Gottessohn ist für Gregor den Großen (540– 604) Zeichen seiner geistigen Blindheit;15 auf sie lässt sich auch seine Angst zurückführen, die Augustinus (354–430) in seinen Predigten immer wieder betont.16 Hochmut, Neid, Jähzorn, Eitelkeit werden als feste Wesensmerkmale des Herodes tradiert. Von Zorn und Neid sei er laut Johannes Chrysostomus (347–407) wie von Dämonen getrieben worden.17 Der Teufel selbst habe ihn, so Origenes (185–254), zum Kindermord angestiftet.18 Auch Petrus Chrysologus (ca. 380–451) sieht den Teufel durch Herodes hindurchwirken und damit diesen als ein Werkzeug des Teufels.19 Noch weiter geht Leo der Große (ca. 400–461), wenn er sagt, Herodes sei der Teufel selbst.20 Auch für Isidor von Sevilla (560–636) verkörpert Herodes die diaboli forma[].21 Diesen Auslegungen zufolge handelt Herodes nicht nur unmenschlich, er ist schon gar kein Mensch mehr. 11 12 13
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Landau [Anm. 8], S. 198. Vgl. Vogel [Anm. 7], S. 327–331; vorsichtiger Schalit [Anm. 1], S. 648 f. Anm. 11. Jacobus de Voragine, Legenda Aurea, X: De innocentibus (hg. von Giovanni Paolo Maggioni, 2., durchges. Aufl., 2 Bde., Florenz 1998, Bd. 1, S. 97–102). Vgl. Miriam Anne Skey, Herod the Great in Medieval Art and Literature, Diss. Oxford 1976, S. 30–60. Homilia in Evangelia X, PL 76, Sp. 1111. Sermo CXCIX: ‘In Epiphania Domini, I’, PL 38, Sp. 1027; Sermo CC: ‘In Epiphania Domini, II’, PL 38, Sp. 1029; Sermo CCII: ‘In Epiphania Domini, IV’, PL 38, Sp. 1033. Johannes Chrysostomus, Kommentar zum Evangelium des Heiligen Matthäus, übers. v. P. Johannes Chrysostomus Baur, 1. Bd., Kempten/München 1915, IX. Homilie, S. 146. Origenes, Contra Celsum, hg. von Paul Koetschau, Leipzig 1899, I,61. Sermo CL: ‘De Fuga Christi in Aegyptum’, PL 92, Sp. 601. Sermo XXXVI: ‘In Epiphaniae Solemnitate, VI’, PL 54, Sp. 254C. Allegoriae quaedam Scripturae Sacrae, PL 83, Sp. 118.
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Hrabanus Maurus (ca. 780–856) nennt Herodes, den Christusverfolger, Typus aller späteren Christenverfolger.22 Gerhoch von Reichersberg (ca. 1092–1169) spannt typologische Beziehungsnetze zwischen Herodes und anderen Tyrannen wie dem Pharao und Nero; zusammen gelten sie als verschiedene Antichristen oder als Vorläufer des einen Antichrist am Ende der Zeit.23 Der historische Herodes der Große wird in der christlichen Überlieferung zu einem Negativexemplum für die Todsünden Hochmut, Neid und Jähzorn, für Angst als geistige Blindheit, für Gottlosigkeit und Teufelsbesessenheit, ja zum Teufel selbst sowie zu einem Glied des Corpus Antichristi. In seinem Zorn und seiner Grausamkeit erscheint er bedrohlich, in seiner Angst und seiner Verblendung verächtlich. Mit Herodes betritt demnach eine durch und durch negativ, anti-admirativ und antisympathetisch gezeichnete Figur die ›Bühne‹ des geistlichen Spiels. Die Herodesfigur hat ihren Platz in Spielen des Weihnachtszyklus, insbesondere denen zum Tag der Unschuldigen Kinder am 28. Dezember (Ordines Rachelis) sowie zum Dreikönigstag (Officia Stellae).24 Die ältesten überlieferten Officia Stellae stammen aus dem 11. Jahrhundert, und einige von ihnen weisen bereits Herodesszenen auf, in ganz unterschiedlich breiter Ausgestaltung. Wie gesagt, ist Herodes wohl die erste Bösewicht- oder Anti-Identifikationsfigur des geistlichen Spiels. Damit markiert er einen entscheidenden Bruch in der Tradition dieser auf andächtige Identifikation und Anbetung ausgerichteten Theaterform, denn er verändert die theatrale Situation grundlegend: Mit seinem Erscheinen sind die vorgeführten Figuren und Handlungen nicht mehr fraglos verehrungs- und anbetungswürdig, so dass die Zuschauer sich einfach ›gut-gläubig‹ und unreflektiert dem Miterleben der Geschehnisse anvertrauen dürften; stattdessen sind sie nun gefordert, selbst zu differenzieren zwischen ›guten‹ und ›bösen‹ Figuren und damit auch die jeweils entsprechende Rezeptionshaltung (Verehrung bzw. Abscheu) einzunehmen. Dadurch verwandelt sich das liturgische Drama noch lange nicht in ›Kunsttheater‹, aber das dargestellte Geschehen rückt doch in eine gewisse Distanz von den Zuschauern, eine Distanz, die Reflexion und Urteil des Rezipienten möglich und auch nötig macht; das Schauspiel wird ästhetisch ›anspruchsvoller‹. Damit die Zuschauer diesem Anspruch gerecht zu werden vermögen, muss die ›böse‹ Figur so dargestellt werden, dass sie als böse erkannt werden kann. Mit welchen Mitteln also inszenieren die Spiele Herodes als Anti-Identifikationsfigur?
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PL 107, Sp. 765.
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Vgl. dazu Fritz Peter Knapp, Herodes als Antichrist im Lambacher Freskenzyklus, bei Gerhoch von Reichersberg und im ‘Benediktbeurer Weihnachtsspiel’, in: Deutsche Literatur und Sprache von 1050–1200. FS Ursula Hennig, hg. von Annegret Fiebig und Hans-Jochen Schiewer, Berlin 1995, S. 137–162, hier S. 145–147. Zu den Dreikönigsspielen allgemein vgl. Norbert King, Mittelalterliche Dreikönigsspiele. Eine Grundlagenarbeit zu den lateinischen, deutschen und französischen Dreikönigsspielen und -spielszenen bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, 2 Bde., Freiburg (Schweiz) 1979.
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Die Herodesszenen konstituieren sich und beziehen ihre dramatische Wirkung aus der Entgegensetzung des scheinbar mächtigen, jedoch unterliegenden weltlichen Herrschers Herodes und des ohnmächtig in einer Krippe liegenden, schließlich aber triumphierenden Christuskindes. Dieser Kontrast wird dadurch ausgespielt, dass Herodes von einem prächtigen Hofstaat aus Dienern und Soldaten umgeben wird. So lässt sich seine Macht in ihrer ganzen Eitelkeit und (wenn auch erfolglosen) Bedrohlichkeit zeigen. Gerade hierin liegt die Spannung der Herodesszenen, und je bedrohlicher Herodes erscheint, als desto größerer Triumph kann Christi Sieg über den Tyrannen empfunden werden. Herodes’ Bedrohlichkeit wird oftmals auch gestisch augenfällig gemacht: In einigen Officia Stellae schwingt er ein Schwert in der Luft herum, einmal nach der Verabschiedung der Magi (Fleury),25 einmal nach seinem Kindermordbefehl (Freising);26 in der Feier von Montpellier besteht dieser Befehl sogar allein aus der Geste des Schwertschwingens.27 In der Bilsener Feier wirft er bei seinem Wutanfall Schwerter zu Boden und bedroht die Magi während der Befragung mit seinem Zepter oder einem Knüppel.28 Eine andere Geste, die ihn vollends als verworfenen Gottesfeind kenntlich macht, findet sich in den Feiern von Freising, Fleury, Montpellier und in einem süddeutschen Spielfragment: In der Schriftgelehrtenszene nimmt Herodes die prophetischen Bücher, d. h. mindestens einen Teil der Heiligen Schrift, und schleudert sie in seinem Zorn zu Boden.29 Eine wirklich unerhörte Geste, zumal die Aufführung im Kirchenraum stattfindet! Nun machen fatalerweise gerade diejenigen Mittel, durch die Herodes, der Tradition gemäß, negativ dargestellt und distanziert werden soll, ihn als Theaterfigur für den Rezipienten attraktiv: Da ist zunächst die prächtige Erscheinung des Herodes mitsamt seinem ihm ergebenen Hofstaat; freilich wird dieser höfisch-weltliche Bereich allein deswegen so aufwendig inszeniert, damit seine Eitelkeit und Verworfenheit erwiesen werden können, aber im Rahmen des Mediums Schauspiel gibt er den Zuschauern einfach mehr zu sehen, ist performativ wirkungsvoller als das Kind in der Krippe. Zugleich lässt die Größe seines Hofes ihn selbst als um so bedrohlicher erscheinen, und gerade seine Bedrohlichkeit erzeugt dramatische Spannung. Schon bei Matthäus ist Herodes als Heuchler gekennzeichnet, wenn er vor den Weisen behauptet, er wolle das Kind anbeten, und als Heuchler ist er die Schauspie25
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Ordo ad representandum Herodem von Fleury (13. Jh.), in: Karl Young, The Drama of the Medieval Church, 2 Bde., Oxford 1962, Bd. 2, S. 84–89, hier S. 88: Herodes et Filius minentur cum gladiis. Officium Stellae von Freising (11. Jh.), ebd., S. 92–97, hier S. 97: Rex gladivm versans. Officium Trium Regum von Montpellier (12. Jh.), ebd., S. 68–72, hier S. 72: Herodes acceptum gladium librans hac et illac reddat a quo sumpsit. Ordo Stelle von Bilsen (12. Jh.), ebd., S. 75–80, hier S. 77: Ira tumens gladios sternens, und S. 78: rex fuste minando. Freising [Anm. 26], S. 95: Et proiciat librum; Fleury [Anm. 25], S. 87: Herodes, uisa prophetia, furore accessus, proiciat librum; Montpellier [Anm. 27], S. 71: Herodes prospiciens in libro prophetie iratus proiciat; süddt. (Meyers) Weihnachtsspielfragment (12. Jh.), ebd., S. 448 f., hier S. 449: ille longe a se debet eum [sc. librum] proicere.
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ler-Figur par excellence: Der Böse spielt sich als den Guten, aber so, dass die Zuschauer dieses Spiel durchschauen; auf diese Weise gewinnt das liturgische Drama – allein schon durch die Aufnahme einer Figur, der das Schauspielerische von vornherein eingeschrieben ist – eine bis dahin nicht gekannte Doppelbödigkeit und Reflexivität; die Herodesszenen bieten die dramatisch reizvolle Möglichkeit eines Spiels im Spiel, und die Zuschauer, die mehr wissen als die Weisen, werden nolens volens sogar zu Komplizen des Bösen. Fest zum tradierten Bild von Herodes gehört seine Eigenschaft, von Affekten, insbesondere Angst und Zorn, beherrscht zu sein, und gerade sein Zorn wird in den Spielen gestisch-performativ erfahrbar gemacht, wenn er Schwerter schwingt oder zu Boden schmettert; solche Gesten beleben höchst eindrucksvoll die theatrale Darstellung, ebenso wie das zornige Niederwerfen der Heiligen Schrift. Bei diesem performativen Akt kommt noch etwas hinzu, was über die bloß ästhetische Lust am Schauspiel hinausgeht: Der Zuschauer kann hier miterleben, wie die für ihn religiös verbindliche Schrift einmal schmählich zu Boden geschleudert wird, und angesichts solcher Darstellung des Ordnungsbruches eine subversive Freude empfinden. Die Möglichkeit der Subversivität ergibt sich aus der Beschaffenheit theatraler Darstellung selbst: Der Darsteller ist immer zugleich als er selbst sinnlich-leiblich präsent und, als Rollenträger, Repräsentant eines anderen; als Darsteller steht er auf derselben Ebene, in derselben Wirklichkeit und Präsenz wie der Zuschauer,30 und für beide gelten dieselben Normen; in seiner Rolle aber können ihm Normbrüche erlaubt und vorgeschrieben sein. Diese Normbrüche finden, indem sie spielerisch re-präsentiert werden, immer in der dem Darsteller und dem Zuschauer gemeinsamen sinnlich-leiblichen Wirklichkeit statt, erhalten also eine, wenn auch durch den theatralen Rahmen limitierte, Präsenz; der Zuschauer kann für den Augenblick der Performanz diese Limitation ignorieren und sich insgeheim an der Darstellung des Normbruches selbst erfreuen.31 Dasselbe gilt, ganz unmittelbar und dadurch in noch höherem Maße, für den Darsteller: Er hat die Erlaubnis, den Normbruch selbst leibhaftig zu vollziehen. Der Gläubige, der Herodes zu spielen hat, wirft als Darsteller die Heiligen Schriften hier und jetzt tatsächlich zu Boden;32 er verwirklicht das ›Böse‹ hier und jetzt im Augenblick und im Rahmen der theatralen Performanz. So gesehen, ist Gerhochs von Reichersberg Sorge vielleicht gar nicht so unberechtigt:
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Vgl. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004, insbes. S. 240– 261. Fischer-Lichte, ebd., S. 257, nennt diesen Vorgang das »Umspringen« der Zuschauerwahrnehmung von der Repräsentation zur Präsenz des Schauspielers (wie es umgekehrt genauso möglich ist). Auch wenn, wie zu vermuten, die geworfenen Schriften nur ›Theaterrequisiten‹, nicht die ›echten‹ biblischen Bücher sind, so bedeuten sie diese doch im Rahmen der Aufführung. Bedingung für die Subversivität der Darstellung wäre also, dass man zwar die ›Zeichenhaftigkeit‹ des Schauspielers absichtlich außer acht lässt, sich dafür aber derjenigen des Requisits immer bewusst bleibt.
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Was Wunder also, wenn diejenigen, die jetzt in ihren Spielen den Antichrist oder Herodes nachahmen, dieselben nicht, wie es ihre Absicht ist, nur vorspiegeln, sondern in Wirklichkeit darbieten, steht doch ihr loser Lebenswandel dem Antichrist ohnehin nahe genug? [. . .] Und wer kann wissen, ob sie nicht auch die übrigen Nachahmungen wie die Darstellung des Antichrist, die Teufelsmasken, den Wahnsinn des Herodes in Wirklichkeit darbieten? Wie nämlich der Weise ganz richtig sagt, dass ein Gottloser, wenn er flucht, sich selbst zu einem Teufel verflucht, so kann man folgerichtig genauso gut sagen, dass ein Gottloser, wenn er den Teufel oder eines seiner Glieder nachahmt, sich selbst darstellt.33
Diese Sorge äußert Gerhoch in seiner um 1162 verfassten Schrift ‘De investigatione Antichristi’, in der er die verschiedenen historischen und gegenwärtigen Ausgestaltungen des Antichrist aufzudecken sucht. Gerhoch stellt hier eine Identität von Darsteller und Rolle fest, die sich gerade bei negativen Rollen verhängnisvoll auswirken muss. Er ignoriert damit den Spielcharakter von Theater, schon allein deshalb, weil für ihn jede Form von Theater überhaupt ein Werkzeug des Teufels bzw. des Antichrist ist. Liturgische Dramen verwandelten die Kirche in ein Theater und seien Götzen- und Teufelsdienst. In Figuren wie Herodes und Antichrist zeigt sich Theater demnach unmaskiert als das, was es ist: die Wirklichkeit des Bösen. Das geht sehr weit und mag auch für Gerhochs Zeit eine Extremposition in der Bewertung des liturgischen Dramas sein; dennoch muss man sagen, dass gerade der Spielcharakter des inszenierten Geschehens sowohl den Darstellern als auch der zuschauenden Gemeinde eine subversive Freude und Lust an den vorgeführten ›bösen‹ Handlungen, am Bruch der gültigen Ordnung erlaubt. Das ›Böse‹ wird tatsächlich, zumindest im Rahmen des Spiels, Wirklichkeit, und es liegt am Darsteller bzw. Zuschauer, wie weit er sich auf diese Wirklichkeit einlässt bzw. mit welcher Einstellung er sie wahrnimmt. So radikal Gerhochs Meinung auch sein mag, immerhin zeigt sich in seinen Äußerungen ein Gefühl für das Prekäre des geistlichen Schauspiels, gerade der Darstellung des Bösen. Den gefährlichen Reiz, der vom Bösen, insbesondere von der Herodesfigur ausgeht, hat er schon früh miterlebt: In seinem ‘Tractatus in psalmos’, geschrieben noch vor 1120, erinnert er sich voller Missbilligung, dass während seiner Domschulmeisterzeit in Augsburg die Mönche dort sich nicht ins Dormitorium oder ins Refektorium bewegen ließen »außer an sehr seltenen Festtagen, hauptsächlich solchen, an denen Herodes, der Verfolger Christi, oder der Kindermord zur Aufführung gebracht wurden«34 neben anderen, nicht näher genannten Spielen. Nicht die erbaulichen Elemente des Weihnachts- bzw. Dreikönigsspiels, z. B. die Geburt des 33
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Quid ergo mirum si et isti nunc Antichristum vel Herodem in suis ludis simulantes eosdem non, ut eis intentioni est, ludicro mentiuntur sed in veritate exhibent, utpote quorum vita ab Antichristi laxa conversatione non longe abest? [. . .] Et quis scire potest, an et cetera simulata Antichristi scilicet effigiem, daemonum larvas, Herodianam insaniam in veritate non exhibeant? Sicut enim in veritate a sapiente dicitur, quia maledicens impius diabolum maledicit se ipsum, ita consequenter dici ab eadem veritate potest, quod impius effigians diabolum vel ejus membrum effigiat vel exhibet se ipsum (zitiert nach: Bernd Neumann, Geistliches Schauspiel im Zeugnis der Zeit, 2 Bde. (MTU 84, 85), München 1987, Bd. 2, S. 888 f., Nr. 3726). [. . .] exceptis rarissimis festis, maxime, in quibus Herodem repraesentarent Christi persecutorem, parvulorum interfectorem seu ludis aliis aut spectaculis quasi theatralibus exhibendis comportaretur symbolum ad faciendum convivium in refectorio (ebd., S. 887 f., Nr. 3725).
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Erlösers oder die Anbetung der Könige, werden erwähnt, sondern ausdrücklich die grausamen: Herodes in der Eigenschaft als persecutor und der Kindermord. Darauf kam es den Mönchen an, obwohl gerade diese Elemente nicht die eigentliche Botschaft der an jenen rarissimis festis aufgeführten Spiele waren.35 Hier, zu einem so frühen Zeitpunkt in der mittelalterlichen Theatergeschichte bereits, lässt sich ein Auseinandergehen von Intention – Feier des jeweiligen Festtages durch eine erbauliche und belehrende Aufführung – und Wirkung der Spiele greifen, ein Auseinandergehen der intendierten Distanzierung einer Figur und ihrer tatsächlichen ästhetischen Anziehungskraft: Wie oben gezeigt, machen gerade die inszenatorischen Mittel, die Herodes als den Bösen vom Gläubigen distanzieren sollen, ihn für den Zuschauer ästhetisch interessant. In der Herodesfigur prallen zum ersten Mal in der Geschichte des geistlichen Schauspiels das, was man glauben soll – und dies wollen die Feiern ja vermitteln –, und das, was man sieht und sehen will, unvereinbar aufeinander. In einer negativen Figur wie Herodes muss die innere Spannung der Gattung ›liturgisches Drama‹ offensichtlich werden. Sie ergibt sich aus der Grundambivalenz des Ästhetischen, das zwar zur eindringlichen Vermittlung der normativen Grundlagen einer Kultgemeinschaft erforderlich ist, das aber darin ein nicht zu bändigendes Eigenleben führen kann. Diese Problematik wird gerade bei der Darstellung einer negativen Figur um so gefährlicher. Denn wenn, nach Jauß, die Normvermittlung über Identifikationsfiguren scheitert, weil der Rezipient an deren ästhetischer Erscheinung hängenbleibt, dann liegt darin nichts Schlimmeres, als dass er eben die Norm nicht aufnimmt; gravierender wirken sich das Hängenbleiben am Ästhetischen und das Scheitern der Normvermittlung bei Anti-Identifikationsfiguren aus, denn hier findet der Rezipient mindestens ästhetisches Gefallen an Handlungen, die die gewünschten Normen gerade brechen. Nicht viel später als Gerhoch geht auch Herrad von Landsberg in ihrem ‘Hortus Deliciarum’ (um 1175 vollendet) auf diese Problematik der Vermittlung ein: Die Kirchenväter hätten vorgeschrieben, durch welche Kultbräuche man der Suche der Weisen nach Christus, der Wildheit und arglistigen Bosheit des Herodes, des Kindermordes, des Kindbettes Marias, des Engels, der die Weisen vor Herodes warnt, so gedenken solle, dass der Glaube des Gläubigen vergrößert, die göttliche Gnade stärker verehrt und sogar der Ungläubige zur Frömmigkeit gereizt werde. Aber was [geschieht] heutzutage? Was wird zu unserer Zeit in einigen Kirchen getrieben? Nicht religiöse Vorschrift, nicht der Gegenstand göttlicher Verehrung und Anbetung werden dargeboten, sondern jugendliche Zügellosigkeit von Gottlosigkeit und Ausschweifung. Das geistliche Gewand wird gewechselt, der Soldatenstand eingeführt, so dass kein Unterschied mehr besteht zwischen Priester und Soldaten; das Haus Gottes wird in Unordnung gebracht durch die Vermischung von Laien und Klerikern, es herrschen Gelage, Trunkenheit, Possen35
Wie sehr Herodes ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, lässt sich auch daran erkennen, dass die Dreikönigsfeiern von Palermo (13. Jh.; in: Young [Anm. 25], Bd. 2, S. 59–62) und Fleury [Anm. 25] in der jeweiligen Handschrift nicht als ‘Officium Stellae’ o. ä. bezeichnet werden, sondern als ‘Ordo ad representandum Herodem’ bzw. ‘Versus ad Herodem faciendum’ – die Spiele definieren sich über Herodes!
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reißereien, böse Scherze, gefällige Spiele, Waffenlärm, es ist eine einzige Ansammlung von Vergnügungen, ein zuchtloses Ausschweifen aller Eitelkeiten.36
Herrad kritisiert hier vermutlich weniger theatrale Darstellungen an sich als die Zügellosigkeit, in die sie leicht ausarten können, und wenn man ihre Beschreibung solcher Zügellosigkeit betrachtet (Soldaten, Waffenlärm, böse Scherze), dann kann man sich des Eindrucks schwer erwehren, dass sie gerade die Herodesszenen im Auge hat, zumal sie explizit von den Bräuchen des Dreikönigstages spricht. In solchen Spielen »werden Gott und die geistliche Ordnung entehrt, der Nächste nicht erbaut, der Ungläubige zum Bösen verführt.«37 Es wird also gerade das Gegenteil dessen erreicht, was durch das Gedenken jener Ereignisse angestrebt werden soll. Daher plädiert Herrad dafür, »lieber durch Lesung der Evangelien ins Gedächtnis zu rufen, was bei der Geburt Christi geschah, als durch derartige Spiele die Grundlagen des Glaubens aufzulösen.«38 Es sei also für den Glauben förderlicher, die Ereignisse wie z. B. Herodes’ Untaten durch eine evangelica lectio zu vermitteln als sie szenisch darzustellen, d. h. auf die ästhetische Erfahrung vorsichtshalber zu verzichten, um so der Gefahr ihrer Ambivalenz zu entgehen. Ähnlich scheint sich Papst Innozenz III. um 1234 in einem Dekret gegen das Schauspiel und für die Predigt auszusprechen: Statt an den Festtagen der Weihnachtszeit das Volk durch Predigt zu besänftigen, zögen Geistliche vor dessen Augen die priesterliche Würde in den Schmutz durch mimisch dargestellte schamlose Rasereien; dieser Brauch solle aus den Kirchen ausgetrieben werden.39 Es ist jedoch nicht eindeutig klar, ob dieses Dekret auf liturgische Weihnachtsfeiern im engeren Sinne zielt oder auf karnevaleske Erscheinungsformen wie z. B. das Narren- oder Knabenbischofsfest (festum stultorum, festum asinorum o. ä.);40 vielleicht eben deswegen und 36
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Quid nunc? Quid nostris agitur in quibusdam ecclesiis temporibus? Non religionis formula non divinae venerationis et cultus materia sed irreligiositatis dissolutionis exercetur iuvenilis lascivia. Mutatur habitus clericalis, incohatur ordo militaris, nulla in sacerdote vel milite differentia, domus Dei permixtione laicorum et clericorum confunditur, commessationes, ebrietates, scurrilitates, ioci inimici ludi placesibiles armorum strepitus, ganearum concursus omnium vanitatum indisciplinatus excursus (Neumann [Anm. 33], S. 895, Nr. 3733). clericalis ordo Deus exhonoratur proximus non edificatur, incredulus scandalizatur (ebd.). Beatos igitur ecclesiae principes spiritales dixerim qui talia prohibenda malunt evangelica lectione quae in ortu Christi gesta sunt ad memoriam revocare quam huiusmodi spectaculis fundamenta fidei resolvere (ebd.). in aliquibus anni festivitatibus, quae continue natalem Christi sequuntur, diaconi, presbyteri ac subdiaconi vicissim insaniae suae ludibria exercere praesumunt, per gesticulationem suarum debacchationes obscoenas in conspectu populi decus faciunt clericale vilescere, quem potius illo tempore verbi Dei deberent praedicatione mulcere. [. . .] mandamus, quatenus [. . .] ludibriorum consuetudinem [. . .] curetis e vestris ecclesiis [. . .] exstirpare (ebd., S. 870, Nr. 3694). Wilhelm Creizenach, Geschichte des neueren Dramas, 3 Bde., Halle a. d. S. 1911, Bd. 1, S. 94, vermutet letzteres, hält aber für möglich, dass »Rigoristen vom Schlage Gerho[c]hs die Verbote auch auf die Dramen des Weihnachtszyklus ausgedehnt wissen wollten« (S. 95). Zum Knabenbischofsfest vgl. Michael Straeter, Knabenbischoftum und geistliches Spiel des Mittelalters, in: ‘Et respondeat’. Studien zum deutschen Theater des Mittelalters. FS Johan No-
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um Missverständnissen vorzubeugen, hat Bernard de Botone 1263 ihm folgende Glosse angeschlossen: Nicht jedoch ist dadurch verboten, die Krippe des Herrn, Herodes, die Weisen darzustellen, auch nicht, wie Rachel ihre Söhne beweint, und sonstiges, was jene Festtage betrifft, an die hier erinnert werden soll, weil derartiges die Menschen eher zu Erschütterung hinführt als zu Zügellosigkeit oder Begierde, wie man an Ostern das Grab des Herrn und anderes darstellt, um zur Andacht anzureizen.41
Nicht allein bedeutet dieser Zusatz eine ausdrückliche Befürwortung des geistlichen Spiels von höchster kirchlicher Stelle, er weist auch ebenso ausdrücklich Bedenken wie diejenigen Herrads und Gerhochs zurück: Die Weihnachtsspiele, namentlich die Herodes- und Kindermordszenen, führten gerade nicht zu Ausschweifungen (es fällt das Wort lascivia, wie bei Herrad), im Gegenteil: gerade diese Szenen erregten bei den Zuschauern den positiv bewerteten Affekt compunctio – hier wohl am ehesten zu verstehen als ›Erschütterung‹,42 wobei über die zweite, gerade im religiösen Kontext vorherrschende Bedeutung ›Reue‹, ›Zerknirschung‹, die hier bezüglich der Rezeptionshaltung gegenüber den Kindermordszenen weniger passend erscheint, immerhin der religiöse Charakter dieses Affekts mit anklingt. In jedem Fall wird den Herodesund Kindermordszenen ein besonders hoher Wirkungsgrad darin bescheinigt, die Zuschauer emotional zu packen und mitzureißen und sie damit in die dargestellte Heilsgeschichte hineinzuziehen – also genau die Funktion des geistlichen Spiels zu erfüllen, vergleichbar dem Osterspiel, das als wohl unproblematisches Vergleichsobjekt genannt wird. Gerade die sinnliche, die Emotionen ansprechende Darstellung in Gestalt des Schauspiels vermag das zu leisten, und die Herodesfigur sowie die Herodeshandlung werden als besonders emotionalisierende Elemente hervorgehoben. Nichts könnte die Ambivalenz des Ästhetischen deutlicher bekunden als dieser Gegensatz zwischen der päpstlichen Stellungnahme zugunsten der theatralen Darstellung des Bösen und Grausamen, wie sie sich in Herodesfigur und -handlung konzentriert, und Gerhochs und Herrads Bedenken gegen die Inszenierung des Bösen. Für beide Seiten ist Herodes der Bezugspunkt in ihrer Befürwortung bzw. Ablehnung des geistlichen Spiels. Die Herodesfigur versinnbildlicht sowohl die Grundambivalenz des Ästhetischen als auch die innere Problematik und Ambivalenz des Mediums geistliches Schauspiel.
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we´, hg. von Katja Scheel (Mediaevalia Lovaniensia, Series I / Studia XXXII), Leuven 2002, S. 176–194. Non tamen hoc prohibetur representare presepe Domini, Herodes, Magos et qualiter Rachel plorat filios suos, et cetera, que tangunt festivitates illas de quibus hic fit mentio, cum talia potius inducant homines ad compunctionem quam ad lasciviam vel voluptatem, sicut in Pasca sepulchrum Domini et alia representantur ad devotionem excitandam (Neumann [Anm. 33], S. 870, Nr. 3694). Mittellateinisches Wörterbuch bis zum ausgehenden 13. Jahrhundert, begr. von Paul Lehmann und Johannes Stroux, hg. von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. II: C, München 1999, Sp. 1125, s. v. ›compunctio‹: II. B »affectus, commotio – Ergriffenheit, Rührung, Erschütterung«.
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Dass Herodes’ Sprengkraft bis ins Spätmittelalter hinein wirksam bleibt, bezeugt Gottschalk Hollen (ca. 1411–1481), Prediger und Lektor im Osnabrücker Augustinerkloster, in seinem 54. Sermo mit Bezug auf das oben genannte päpstliche Dekret. Hier führt er aus, dass von kirchlicher Seite aus solche Spiele erlaubt seien, die »die Passion Christi darstellen oder wie die Weisen Christus suchen oder wie Herodes die Knaben tötet usw.«: Diese Spiele rufen im Volk Andacht hervor und sind deshalb zugelassen. Aber manchmal werden so viele Eitelkeiten und Sünden hineingemischt, dass es besser wäre, wenn solche Spiele unterlassen würden, weil hier sonst Verspottung und Beleidigung Christi stattfänden, dort Hochmut und eitler Ruhm aufgeführt würden und weil man Christus Verachtung und Unehrerbietigkeit entgegenbrächte. 43
Hollen führt damit beide Bewertungen des Herodesspiels zusammen, die befürwortende und die ablehnende, und zeigt gerade dadurch seine Ambivalenz auf. Zugleich stellt er es hier neben das Passionsspiel, das erst relativ spät entstanden ist (im 13. Jahrhundert), sich aber immer breiter entfaltet hat und im 15./16. Jahrhundert als die dominante Spielgattung angesehen werden kann. Hollen schätzt Herodes- und Passionsspiele als vergleichbar ein, was ihre Ambivalenz und Gefährlichkeit angeht. Das lässt sich gut verstehen, wenn man das Egerer Passionsspiel44 betrachtet und seine Darstellung des bethlehemitischen Kindermordes. Das Spiel wird auf die Zeit zwischen 1499 und 1502 datiert und führt an drei Tagen mit insgesamt über 200 Darstellern die gesamte Heilsgeschichte von der Schöpfung bis zu Christi Auferstehung vor Augen. Kurz vor dem Ende des ersten Tages steht die sehr ausgedehnte Kindermordszene (V. 2357–2546). Nachdem die Heilige Familie geflohen ist, ruft Herodes seine lieben treuen knecht (V. 2357) zusammen, und es folgt ein auffällig regelmäßig, gewissermaßen rhythmisch gebauter Dialog zwischen Herodes und seinen Soldaten: Die ersten drei Soldaten rühmen sich ihrer Mordfähigkeit in je sechs Versen, auf die Herodes immer mit vier Versen antwortet; der vierte Soldat spricht zweimal sechs Verse, Herodes darauf zweimal vier; der letzte acht, Herodes darauf vier. Ein gewisser, wenn auch nicht konsequent durchgehaltener Stilwille lässt sich also erkennen. Weiterhin kann man beobachten, dass sich die Aussagen der mordgierigen Soldaten in ihrer Grausamkeit steigern: Der erste Soldat sagt lediglich, er wolle verbringen dise that (V. 2367); der zweite spricht schon vom erwurgen (V. 2377), zur hauen und durch stechen (V. 2379) der Kinder; der dritte wil si stechen durch die kragen (V. 2389) als die jungen schwein (V. 2387); der vierte wiederum wil si alle 43
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repraesentantur passio Christi vel repraesentare Magos quaerentes Christum vel Herodem interficientem pueros etc. [. . .] hi ludi devotionem excitant in populo ergo admittuntur. Sed interdum tot miscentur vanitates et peccatam (sic!), quod melius esset quod huiusmodi ludi dimitterentur, quia aliquin ibi fit Christo derisio et contumelia, ibi exercetur superbia et vana gloria, et fit Christo despectio et irreverentia (Neumann [Anm. 33], S. 897, Nr. 3735). Egerer Fronleichnamsspiel, hg. von Gustav Milchsack (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart 156), Tübingen 1881; dazu Brigitte Lehnen, Das Egerer Passionsspiel (Europäische Hochschulschriften, Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 1034), Frankfurt a. M. u. a. 1988; Bernd Neumann, Art. ›Egerer Passionsspiel‹, in: 2VL 2 (1980), Sp. 369–371.
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spissen an / Als die krotten aüff dem feldt (V. 2400 f.) und nennt das sein lüstspil (V. 2403); der fünfte betont seine gar grosse freud (V. 2417) daran, die Kinder aufzuspießen, und setzt sich als besonderes Ziel, den judenkünig [. . . zu] erschnappen (V. 2420). In der Abfolge der Soldatenreden erhöht sich sowohl die Grausamkeit in der Ausmalung des Kindermordes – gerade durch die drastischen Vergleiche, die die Kinder zu Tieren herabwürdigen – als auch die zum Ausdruck gebrachte Lust an dieser Grausamkeit. Indem sich der Dialog zwischen Herodes und seinen Soldaten fünfmal wiederholt und die Grausamkeit sich dabei von Mal zu Mal steigert, wird den Zuschauern das Grausige des Kindermordes bereits im Vorfeld regelrecht eingehämmert, wodurch diese in die angemessene Disposition gebracht werden, in der sie den Kindermord selbst mit voller Anteilnahme rezipieren können. Die Kindermordszene dann ist vergleichbar regelmäßig aufgebaut wie die Befehlsszene:45 Auf jeweils vier Verse der Soldaten folgen zwischen 12 und 16 Klageverse der fünf Mütter. Die Grausamkeit der Soldaten zeigt sich, abgesehen von ihren Taten, an ihren höhnischen und spöttischen Reden: Der zweite Soldat sagt, er wolle das Kind laufen lehren, der dritte, er wolle es stillen; der vierte meint, er nehme der Mutter die Mühen des Kochens und Einkaufens ab, und der fünfte, er entlaste die Mutter beim Baden des Kindes, indem er es mit dessen eigenem Blut wasche. Die Reden der Soldaten zeichnen sich also durch düster-grimmigen Wortwitz aus, was den Zuschauern die gefährlich-subversive Möglichkeit eröffnet, mit den Bösewichten zu lachen. Die meisten Mütter sprechen in ihren Klagereden direkt zu Herodes: Die erste e beginnt ihre Klage mit O Herodes, du schnoder man (V. 2431); von der zweiten und vierten heißt es in der Regieanweisung, dass sie sich zu Herodes wenden;46 die dritte spricht von Herodes, dem verstockten man (V. 2475) und dem verplentten verflüchten hündt (V. 2478), und die fünfte meint wohl auch Herodes, wenn sie darüber klagt, dass Gott dich nitt hat lassen plagen, / Do du pist kümmen von mütter leib, / Das du heint betrübts so manigs weib (V. 2516–2518). Während des gesamten Mordgeschehens bleibt Herodes also die zentrale Figur; seine durchaus eigenständig grausamen Soldaten erscheinen durch die Klagen der Mütter nur als seine Handlanger. Er bleibt auch nicht im Hintergrund, sondern steht wohl nahe am Geschehen; so spricht ihn etwa der fünfte Soldat an, während dieser das Kind umbringt, und nach der Klage der fünften Mutter setzt Herodes seiner Herzlosigkeit noch die Krone auf, wenn er befiehlt: e
Treubt die waschen [= Schwätzerinnen] all von dannen, e das ich nit hor ir gschrai und zannen; Si treiben das gspai all zu vil, Das es mich die leng verdriessen wil. (V. 2523–2526)
Er dürfte also nicht allzu weit von dem gschrai entfernt sein.
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Vgl. dazu Lehnen [Anm. 44], S. 371 f. erga Herodem (V. 2449a, V. 2485a).
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Nachdem die Zuschauer in der Szene des Mordbefehls sehr ausgiebig auf das Blutbad eingestimmt wurden, wird dieses nun derartig breit entfaltet, dass sie sich wohl einer affektiven Beteiligung kaum entziehen können. Damit erfüllt die Szene genau die Funktion, die die oben genannte Glosse zum päpstlichen Dekret den Herodesund Kindermordszenen bescheinigt hat. »Wie die Marienklagen des Passionsteils, die mit dem grausamen Spott der Peiniger abwechseln, so intendieren auch die Klagen der fünf Mütter die compassio der Zuschauer«47 – compassio und compunctio dürften hier synonym zu verstehen sein. Das Egerer Passionsspiel verwendet also zweimal dasselbe Mittel zur Affektsteigerung, und der Kindermord ist sozusagen die Passion des ersten Aufführungstages, bevor am zweiten und dritten die eigentliche Passion folgt. Lässt sich demzufolge eine Ähnlichkeit in der Darstellungsweise der Kindermordszene mit derjenigen der Passionsszenen feststellen, so darf man an jene wohl mit denselben Fragen herantreten wie an diese. Rainer Warning hat für französische Passionsspiele nachzuweisen versucht, dass der rhythmische Aufbau der Peinigungsszenen – in Form des ›rondeau triolet‹ – diesen einen ritualartigen Charakter verleiht, der die Zuschauer unmittelbar in das dargebotene Geschehen hineinzieht, so dass sie zusammen mit den Peinigern ein Sündenbockritual an Christus vollziehen.48 JanDirk Müller wandte zu Recht ein, dass es sich bei den in den Spielen vorgeführten Ritualen, gerade denjenigen der Gegenfiguren, um gespielte Rituale handelt und dass den Zuschauern dieser als-ob-Charakter auch bewusst war: »Das Spiel zielt in solchen Fällen nicht auf rituelle Integration, sondern inszeniert eine Abgrenzung: der Zuschauer sieht, was nicht sein sollte.«49 Doch gerade die offensichtliche Gespieltheit des Rituals birgt eigene Gefahren: Gespielte Spottrituale sind [. . .] Kipp-Phänomene; es ist nie auszuschließen, daß sie sich gegen das wenden, was sie eigentlich als verehrungswürdig erscheinen lassen wollen, indem sie es dem Spott der Verblendeten preisgeben; auf die ›anderen‹, die die Norm verletzen, weil sie von Anfang an auf der falschen Seite stehen, kann projiziert werden, was als Aggression gegen die Gottheit verboten ist. Der Betrachter wird zwar instruiert, was richtig ist, aber gegen den Zuschauer eines Spiels gibt es keine Sanktion, wenn er der Instruktion nicht folgt. Daß sich mindestens prinzipiell solch eine Möglichkeit eröffnet, ist Konsequenz der beginnenden Ablösung des literarischen vom kultischen Ritual.50
Gerade weil das Gegenritual nur gespielt ist, d. h. wegen der grundsätzlichen Ambivalenz des Literarischen bzw. Ästhetischen, kann der Zuschauer sich frei fühlen, insgeheim daran teilzunehmen. Als gespieltes Spottritual kann man auch die Egerer 47 48
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Lehnen [Anm. 44], S. 373. Rainer Warning, Funktion und Struktur. Die Ambivalenzen des geistlichen Spiels, München 1974, S. 184–204; ders., Hermeneutische Fallen beim Umgang mit dem geistlichen Spiel, in: Mediävistische Komparatistik. FS Franz Josef Worstbrock, hg. von Wolfgang Harms, JanDirk Müller u. a., Stuttgart/Leipzig 1997, S. 29–41, hier S. 36–40. Jan-Dirk Müller, Kulturwissenschaft historisch. Zum Verhältnis von Ritual und Theater im späten Mittelalter, in: Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie, hg. von Gerhard Neumann und Sigrid Weigel, München 2000, S. 53– 77, hier S. 72. Ebd.
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Kindermordszene bezeichnen; auch hier fiel die rhythmische Gestaltung, die Stilisierung und Ästhetisierung der Darstellung auf: Das abstoßend-grausame Geschehen ist für die Zuschauer ästhetisch genießbar gemacht; es kann anziehend, ja mitreißend wirken. Dazu trägt auch der bitterböse Humor im Spott der Soldaten bei: Die Zuschauer können Gefallen an den Wortspielen finden und mit den Gewalttätern lachen. Sie sind also frei, dem impliziten compassio-Appell durch die Klagen der Mütter nicht zu entsprechen. Dem versuchen die Klagen durch ihre Länge im Vergleich zu den Spott-Vierzeilern der Soldaten gegenzusteuern: Ihre Länge und Lautstärke51 sollen die Zuschauer zum besonders intensiven Mitleiden bewegen. In Herodes dagegen, der wie die Zuschauer selbst passiver Beobachter des Geschehens ist, rufen sie Verdruss hervor. Herodes soll also bewusst gegen die Zuschauer gestellt werden; es soll vermieden werden, dass diese irgendein Gefallen an ihm finden. Herodes ist nicht nur die Gegenfigur auf der Ebene des dargestellten Geschehens, sondern sein Verhalten gegenüber den Klagen der Mütter, seine Hartherzigkeit, die offene Verweigerung der compassio, führt das genaue Gegenteil der intendierten Zuschauerhaltung vor. Nur zu leicht jedoch können sich die Zuschauer gerade Herodes zum Rezeptionsmodell nehmen, wie in umgekehrter Richtung andernorts, bei den Passionsszenen, die das Leiden ihres Sohns mitleidend mitansehende Maria als Modell für die gewünschte Rezeptionshaltung der Zuschauer dient.52 Wegen der Grundambivalenz des Ästhetischen hindert nichts die Zuschauer, sich gegen die Intention des Spiels Herodes zur Identifikationsfigur zu wählen und mit ihm und seinen blutrünstigen Handlangern den Kindermord ästhetisch zu genießen oder sogar innerlich an diesem gespielten Ritual teilzunehmen. Die Egerer Herodesszenen zeigen, wie die ›anti-sympathetische Distanzierung‹ der Bösewichtfigur an der Ambivalenz des Ästhetischen scheitern kann. Ein anderes Distanzierungsmodell, das man auf die Herodesfigur angewandt und das sie sehr stark geprägt hat, ist das, wenn man so will, ›anti-admirative‹, d. h. die lächerlich und verächtlich machende Darstellung. Hierbei werden nicht so sehr die Bedrohlichkeit und Grausamkeit einer Figur hervorgekehrt als vielmehr ihre Schwächen, und das wären im Falle des Herodes insbesondere seine in der Tradition immer wieder hervorgehobenen Affekte: Angst, Zorn sowie unberechtigter und schließlich gestürzter Hochmut.53 Ansätze einer komischen oder zumindest ironischen Herodesdarstellung 51 52
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lamentabilitter clamat (V. 2449a). Vgl. Ursula Schulze, Schmerz und Heiligkeit: Zur Performanz von Passio und Compassio in ausgewählten Passionsspieltexten (Mittelrheinisches, Frankfurter, Donaueschinger Spiel), in: Forschungen zur deutschen Literatur des Spätmittelalters. FS Johannes Janota, hg. von Horst Brunner und Werner Williams-Krapp, Tübingen 2003, S. 211–232, insbes. S. 219 und 230. Wie ein hochmütiger, zorniger Tyrann um 1200 szenisch dargestellt worden sein könnte und welch hohen Unterhaltungswert diese Darstellung haben mochte, lässt sich vielleicht der ‘Visio Thurkilli’ entnehmen, in der folgende Höllenstrafe ausgemalt wird: Die Teufel versammeln sich samstags abends in einem Theater, wo sie sich an den Bühnendarbietungen der Sünder belustigen, die ihre zu Lebzeiten begangenen Sünden in diesem höllischen Theater immer wieder vor aller Augen wiederholen müssen. Einer dieser Sünder ist der Hochmütige: »In schwarzem Gewand führte er die Bewegungen eines Menschen von hemmungslosem
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lassen sich mitunter bereits in den Officia Stellae und im lateinischen Benediktbeurer Weihnachtsspiel finden;54 zu einer wirklich komischen Figur scheint sich Herodes jedoch vor allem in der englischen Spieltradition zu entwickeln.55 In seiner völlig grotesk überzogenen superbia bezeichnet er sich als Schöpfer von Himmel, Erde und Hölle; in seinen Angst- und Wutanfällen ist er kaum noch zu sinnvollen Sätzen fähig.56 Seine Raserei geht so weit, dass er im ‘Pageant of the Shearmen and Taylors’ ragis in the pagond and in the strete also,57 dass er also von der Wagenbühne hinunterspringt und inmitten des Publikums herumtobt – man kann sich die große performative Wirkung einer solchen Herodesdarstellung bestens vorstellen. Herodes wird dem Gelächter und Gespött der Zuschauer preisgegeben; über solch einen Bösewicht kann man nur lachen. Damit ist das Böse ins Lächerliche distanziert, die normbildende Intention des Spiels geglückt. Jedoch gehört es zu einer komischen Distanzierung, dass der Rezipient dabei seinen Spaß hat: Wie Clowns attraktiv auf das Publikum wirken, so entwickelt sich auch der clownesk dargestellte Herodes zu einem Publikumsliebling. Als Charakter kann man ihn gar nicht mehr ernstnehmen und nur ablehnen, aber die Mittel, die für diese Rezeption eingesetzt werden, machen ihn ästhetisch-theatral interessant: Man will ihn sehen, eben weil man über ihn lachen kann. Herodes wird zu einer der beliebtesten Figuren der englischen Spiele, und seine Darstellung prägt die aller anderen Bösewichte.58
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Stolz vor, wobei die Teufel auf allen Seiten in wildes Gelächter ausbrachen. Er reckt den Hals, hebt den Kopf, richtet die Augen schräg aus, zieht die Augenbrauen hoch und erteilt mit lauter Stimme pompöse Befehle. Seine Schultern zucken unruhig, als sei es eine Zumutung für sie, die Arme tragen zu müssen. Seine Augen funkeln, seine Miene droht. Er stellt sich auf die Zehenspitzen, verdreht das Schienbein, wirft sich in die Brust, neigt den Hals weit zurück, wird rot im Gesicht und verrät seinen Zorn durch die geröteten Augen, schlägt sich mit dem Finger auf die Nase und stößt gewaltige Drohungen aus. Dieser aufgeblasene Stolz, der sich so rasch in Zorn verwandelte, brachte die abscheulichen Geister zum Lachen. Als er mit seiner Kleidung prunkte und seine weiten Ärmel mit einer Nadel enger nähte, da verwandelte sich plötzlich sein Gewand zu Feuer und setzte seinen ganzen Körper in Brand« (Die Vision des Bauern Thurkill, mit deutscher Übersetzung hg. von Paul G. Schmidt, Weinheim 1987, S. 51). Vgl. aber das treffende Fazit von Staines [Anm. 2], S. 213: »Yet the comedy remains potential rather than realized; liturgical drama prepares the way for comedy, but does not create a comic figure.« Vgl. Tomlinson [Anm. 2], S. 36–39; Robert Weimann, Shakespeare and the Popular Tradition in the Theater: Studies in the Social Dimension of Dramatic Form and Function, hg. von Robert Schwartz, Baltimore/London 1978, S. 64–72; Staines [Anm. 2], S. 222–227; HansJürgen Diller, Lachen im geistlichen Schauspiel des englischen Mittelalters, in: Komische Gegenwelten. Lachen und Literatur in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Werner Röcke und Helga Neumann, Paderborn u. a. 1999, S. 175–197, insbes. S. 185–188. Vgl. Tomlinson [Anm. 2], S. 14–41. Two Coventry Corpus Christi Plays, hg. von Hardin Craig (Early English Text Society, Extra Series 87), London 1902, 21957, V. 783a. Vgl. Tomlinson [Anm. 2], S. 44; Theo Stemmler, Liturgische Feiern und geistliche Spiele. Studien zu Erscheinungsformen des Dramatischen im Mittelalter, Tübingen 1970, S. 285: Dieser kommt zu dem Ergebnis, dass »alle in den englischen Zyklen auftretenden Gegen-
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Es ist bezeichnend, dass Herodes, der in der gesamten literarischen und theologischen Rezeptionsgeschichte nie komisch gesehen wurde, erst hier, im Medium Theater, komische Wirkungen hervorruft: Die Performanz negativer Affekte wie Angst, Zorn, Hochmut usw., die von sich aus schon leicht ins Komische kippen kann, reizt erst recht zum Lachen, wenn sie im Dienste der Distanzierung maßlos übertrieben wird. Aus diesem Dienst kann sie sich aufgrund der Ambivalenz des Ästhetischen, hier konkret des Komischen, befreien: wenn nämlich die Zuschauer Gefallen an der komischen Darstellung selbst finden und an ihr hängenbleiben, ohne die dadurch vermittelte Botschaft aufzunehmen; dann findet die komische Darstellung ihren Zweck in sich selbst, und das erbaulich-belehrende Spiel verwandelt sich in Unterhaltungstheater. Die komisch-übertriebene Darstellungsweise ist noch für Shakespeare fest mit der Herodesfigur verbunden. So beschwört Hamlet seine Schauspieltruppe in folgender, vielzitierter Stelle: O, it offends me to the soul to hear a robustious periwig-pated fellow tear a passion to tatters, to very rags, to split the ears of the groundlings, who for the most part are capable of nothing but inexplicable dumb shows and noise; I would have such a fellow whipped for o’erdoing Termagant. It out-herods Herod. Pray you, avoid it.59
Herodes kommt hier rein als ästhetische Figur in den Blick, als Verkörperung einer in Hamlets (und Shakespeares?) Augen verfehlten Darstellungstechnik. Immerhin scheint der durch Herodes repräsentierte Figurentyp so wirkungsmächtig gewesen zu sein, dass man in der Forschung immer wieder mit mehr oder weniger überzeugenden Ergebnissen nachzuweisen sucht, inwiefern die Herodesfigur noch die Shakespeareschen Bösewichte beeinflusst hat.60 Die Ausführungen dürften deutlich gemacht haben, dass Herodes als eine Schlüsselfigur des geistlichen Spiels angesehen werden kann: Von höchster kirchlicher Instanz wird ihm bescheinigt, dass er und die mit ihm verbundenen Handlungen wesentlich sind für die intendierte Wirkung der Weihnachts- und Kindermordspiele, dass er
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spieler Gottes nach dem typologischen Vorbild des Herodes Magnus durch ira und superbia gekennzeichnet sind«, wenngleich er dieses Ergebnis nicht ausschließlich auf die ästhetische Attraktivität der Herodesfigur zurückgeführt wissen will, sondern auf das dahinterstehende typologische Modell des Antichrist (S. 259 f.). William Shakespeare, Hamlet, III,2 (Englisch-deutsche Studienausgabe. Übersetzung mit Anmerkungen von Norbert Greiner, Einleitung und Kommentar von Wolfgang G. Müller, Tübingen 2006, S. 245). Übersetzung: »Oh, es kränkt mich in tiefster Seele zu hören, wie ein lärmender Kerl mit einer Perücke auf dem Schädel eine Leidenschaft in Fetzen, [ja] geradezu zu Lumpen reißt, um das Trommelfell der Zuschauer im Parterre platzen zu lassen, die meistens für nichts anderes aufnahmefähig sind als für nichtssagende Pantomimen und Lärm. Ich würde solch einen Kerl auspeitschen lassen, dafür, daß er [selbst] Termagent übertrifft. Es ist herodischer als Herodes. Bitte, vermeidet es« (ebd., S. 244). Vgl. z. B. Tomlinson [Anm. 2], S. 66–69; Scott Colley, Richard III and Herod, in: Shakespeare Quarterly 37 (1986), S. 451–458; Chris R. Hassel, ‘No boasting like a Fool?’ Macbeth and Herod, in: Studies in Philology 98 (2001), S. 205–224.
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die entscheidende Figur dieser Spieltypen ist; Kritiker dagegen sehen in ihm eine Kraft, die die religiöse Intention der Spiele geradezu sprengt. Und man muss zugeben, dass beide Seiten recht haben, eben weil ästhetische Darstellung grundsätzlich ambivalent ist, wie Jauß an Identifikationsfiguren gezeigt hat. An Herodes lässt sich die ästhetische Ambivalenz einer Anti-Identifikationsfigur erkennen, die ganz eigene und durchaus gefährliche Probleme mit sich bringt: Wenn der Rezipient hier am bloß Ästhetischen hängenbleibt, dann lässt er sich zumindest ästhetisch den Normbruch, das ›Böse‹, gefallen, eine Einstellung, die nur zu leicht zu einer subversiven Lust an der Darstellung des Verbotenen und Normsprengenden oder auch zur innerlichen Teilnahme an einem gespielten Gegenritual führen kann; aufgrund der ästhetischen Ambivalenz kann sich die Anti-Identifikationsfigur in eine Identifikationsfigur verwandeln. Im Falle des komischen Herodes insbesondere der englischen Spieltradition bleibt dieser als der Verlachte zwar distanziert, aber als komische Figur wird er einer der Publikumslieblinge der Mystery Plays, wodurch das eigentlich religiöse Spiel in die Nähe von bloßem Unterhaltungstheater rückt. Diese Gefahren sind für Herodes wie für keine andere negative Figur des geistlichen Spiels seit frühester Zeit belegt, und damit führt er eine Grundspannung dieser Spielgattung vor Augen, nämlich diejenige zwischen religiösem Kult und Theatralität, die eine entscheidende Ursache für den Niedergang des mittelalterlichen geistlichen Spiels im Zeitalter der Reformation darstellt.61 Mit der Herodesfigur trägt das geistliche Spiel von früh auf das Element des rein oder überschüssig Ästhetisch-Theatralischen in sich, das sich immer gefährlich in den Vordergrund drängen kann und das bereits auf das säkulare neuzeitliche Theater vorausweist.
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Vgl. Schulze [Anm. 3], hier S. 345–353.
Von der Spiel- zur Lesehandschrift Jakob Rufs ‘Weingarten’ als Beispiel von Johannes Janota
Jakob Rufs1 konfessionspolemische Dramatisierung des neutestamentlichen Gleichnisses von den ungetreuen Weingärtnern (Mt 21,33–46) ist sein erstes Spiel, für das auch ein gesichertes Aufführungsdatum (Pfingstmontag 1539)2 vorliegt. Das Spiel, das wohl wegen seiner massiven konfessionellen Polemik nach unserer Kenntnis nur einmal in Zürich aufgeführt wurde und anschließend auch nicht zum Druck kam,3 überliefert unikal eine repräsentative Handschrift, die vielleicht sogar der Autor selbst wohl in deutlicher Nähe zum Aufführungsdatum – vermutlich um 1540 – geschrieben hat.4 Dieser Aufzeichnung kommt für die Spielforschung vor allem aus zwei Gründen ein herausgehobener Rang zu: Sie überliefert im Anhang eine Liste der Spieler, die an der Zürcher Aufführung beteiligt waren,5 und sie dokumentiert eindrucksvoll, wie unter der offenkundigen Verantwortung des Autors sein Spieltext in eine Lesehandschrift umgestaltet wurde. Trotz dieser bemerkenswerten Charakteristika stand die Handschrift bislang völlig im Schatten der Spielforschung, obwohl der Text bereits seit 1893 in einer ersten Edition vorliegt.6 Nur Max Herrmann fragte 1914 nach der theatergeschichtlichen Relevanz der beigegebenen Textillustrationen;7 für diese 76 Federzeichnungen eines Anonymus selbst fehlt jedoch bis heute eine 1
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Sein literarisches Werk liegt erstmals in einer geschlossenen Ausgabe vor: Jakob Ruf, Kritische Gesamtausgabe, hg. von Hildegard Elisabeth Keller, 3 Teile, Zürich 2008 (Jakob Ruf. Leben, Werk und Studien Bd. 2–5). Der Normierung der varianten Namensschreibungen zu ›Ruf‹ stehe ich skeptisch gegenüber, behalte aber hier die Schreibweise der Gesamtausgabe bei, um keine Verwirrung zu stiften. Vgl. dazu die Ausgabe des Spieltexts durch Stefan Schöbi: Weingarten, in: Gesamtausgabe [Anm. 1], Bd. 2, S. 215–233 (Einleitung), S. 234–371 (Edition) und S. 373–410 (Kommentar); zur Datierung der Aufführung und der Handschrift vgl. S. 216 f. und 373 f. Zur Frage der unterbliebenen Drucklegung vgl. Stefan Schöbi, Der Ludius auf Zürichs Bühne, in: Mit der Arbeit seiner Hände (Bd. 1 der Gesamtausgabe [Anm. 1]), S. 155–171, hierzu S. 166. Zur Handschrift und ihrem Schreiber vgl. Schöbi [Anm. 2], S. 223–225 und S. 229 f. Vgl. Stefan Schöbi, Notz, Escher und Engelhard. Die Funktionen des städtischen Theaters am Beispiel von Jakob Rufs Weingarten-Aufführung 1539. Mit Biographien der 66 Spieler, in: Die Anfänge der Menschwerdung. Perspektiven zur Medien-, Medizin- und Theatergeschichte des 16. Jahrhunderts (Bd. 5 der Gesamtausgabe [Anm. 1]), S. 120–192. Von des Herren Weingarten. Von Jacob Ruf. 1539, hg. von Bernhard Wyß, in: Schweizerische Schauspiele des sechzehnten Jahrhunderts, bearbeitet durch das deutsche Seminar der Züricher Hochschule unter der Leitung von Jakob Bächtold, 3. Bd., Zürich 1893, S. 137–310. Vgl. auch die Hinweise von Jakob Bächtold, Geschichte der Deutschen Literatur in der (Schweiz)/Frauenfeld 1892, S. 320–322. Max Herrmann, Forschungen zur deutschen Theatergeschichte des Mittelalters und der Renaissance, Berlin 1914, S. 474–500.
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kunstgeschichtliche Analyse.8 Erst Stefan Schöbi erinnert 2008 mit seiner ausführlich kommentierten Neuedition (Anm. 2) an die Bedeutung dieses Spiels und seiner besonderen Überlieferungsform. Leider ging Schöbi trotz seiner Skizze »Struktur und theatrale Mittel« in der Einleitung (S. 221–223) zur Neuausgabe nicht genauer auf diesen prominenten Fall einer Umwandlung von einer Spiel- in eine Lesehandschrift ein. Mein Beitrag, der sich wegen des vorgegebenen Umfangs auf exemplarische Beispiele beschränken muß, möchte zeigen, daß sich eine umfassende Untersuchung, bei der auch die Text-Bild-Korrespondenzen einzubeziehen sind, zum Nutzen der Spielforschung lohnte. Um den ausgewählten Befunden eine Repräsentanz für den in fünf Akten eingeteilten Gesamttext zu sichern, buche ich für die Fragestellung zwar besonders markante Fälle, die sich jedoch – wenn nicht anders angegeben – keinesfalls auf die nachgewiesenen Stellen beschränken. Ein erstes und augenscheinlich völlig eindeutiges Zeugnis für den Status einer Lesehandschrift mit einem Spiel als Inhalt liefert die Vorrede Ad lectorem (Bl. 1v; V. 1–32),9 die den Text zugleich als grimbt [. . .] spil (V. 3) ausweist, das 1539 entstanden ist (V. 5 f.). Diesen dokumentierenden Gestus, zu dem auch das Spielerverzeichnis am Schluß (S. 370 f.) gehört, präzisiert das nachfolgende Titelblatt (Bl. 2r), das nach der Titelangabe ‘Von deß herren wingartten’ die Aufführung auf den Pfingstmontag, 26. Mai 1539, datiert (S. 235). Die darunter stehende Federzeichnung, welche den Titel durch die Darstellung eines Weingartens und einiger der im Spiel handelnden Personen visualisiert, gibt dem gesamten Titelblatt eine Form, die an eine Druckausgabe10 erinnert und die damit den Eindruck eines Lesetexts zusätzlich verstärkt. Dazu zählen auch die wenigen Marginalglossen mit Nachweis der biblischen Quelle (zu V. 1434, V. 1436, V. 4241).11 Dagegen scheint mir die singuläre Angabe Finis primi Actus (nach V. 1106), die man auf den ersten Blick auch für eine Leserinformation halten könnte, schreibtechnisch bedingt zu sein: Sie steht offenkundig gegen Ende einer Lage, deren vorletzte Seite (Bl. 24r) – anders als bei den übrigen Aktgrenzen – nur teilweise beschrieben ist.12 8
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Zu den Illustrationen vgl. Schöbi [Anm. 2], S. 226–230. Alle 76 Federzeichnungen sind abgebildet in Bd. 5 der Gesamtausgabe [Anm. 1], S. 349–420 und auf der dem Band beigegebenen Multimedia-CD; sie werden nachfolgend mit ›Abb.‹ bzw. ›Abbildung(en)‹ zitiert. Zur Vorrede vgl. den Kommentar [Anm. 2], S. 373 f. Vgl. dazu Seline Schellenberg Wessendorf, »Damit sie gelesen möchten werden«. Zur Überlieferung von Zürcher Spieldrucken und -handschriften zwischen 1538 und 1550, in: Bd. 5 der Gesamtausgabe [Anm. 5], S. 82–118, hierzu S. 93–95; zum vorliegenden Titelblatt vgl. auch den Kommentar [Anm. 2], S. 374 f. Nicht zuletzt die Aufmachung des Titelblatts mag Wyß/Bächtold [Anm. 6], S. 140, neben der Charakterisierung als »sehr saubere Handschrift« dazu bewogen haben, in der Handschrift die Vorlage für einen Druck zu sehen. Tatsächlich dienten einige Federzeichnungen des ‘Weingarten’ später als Vorlagen für Holzschnitte anderer Spieldrucke; vgl. die Hinweise von Schöbi [Anm. 2], S. 228. Zu den Glossen vgl. die Einleitung [Anm. 2], S. 218 f. Actus secundus beginnt auf Bl. 24v. Den Zusammenhang hat Schöbi im Kommentar [Anm. 2] zur Stelle (S. 385) nicht erkannt.
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Das Vorwort Ad lectorem und die Gestaltung des Titelblatts nach Art einer Druckausgabe erweisen sich allerdings bei genauerer Überlegung keinesfalls als völlig eindeutige Merkmale einer Lesehandschrift, die – mit Unterstützung der beigegebenen Illustrationen – zur frommen Lektüre anregen soll. Die Vorrede gibt nämlich keinerlei Hinweise, die in diese Richtung deuten, ja: sie erwähnt nicht einmal die Ergänzung der Text- um eine reich ausgestaltete Bildebene. Dieser Befund stellt gleich zu Beginn die Frage nach dem Zweck der Aufzeichnung. Überblickt man die ganze Handschrift, dann wird anhand vieler Eingriffe (etwa durch die weitgehende Tilgung der Angaben zur Bewegungsregie) rasch deutlich, daß in ihr kein Spieltext für eine weitere Aufführung archiviert werden sollte. Vielmehr sprechen die Datierungen in der Vorrede und auf dem Titelblatt ebenso wie das abschließende Spielerverzeichnis dafür, daß diese Repräsentationshandschrift die Aufführung von 1539 dokumentieren wollte.13 Auf diese Weise entstand zwar eine Lesehandschrift, in der die zahlreichen Abbildungen gleichfalls zur Dokumentation der Aufführung dienten, aber sie nimmt damit einen anderen Status ein als eine Lesehandschrift mit einem Text-Bild-Ensemble, das zur religiös betrachtenden und erbauenden Lektüre bestimmt ist (obschon sie selbstredend auch dazu verwendet werden kann). Doch bei intensiverem Zusehen verschwimmt ebenfalls diese scharfe Trennung zwischen zwei eigenen Funktionstypen von Lesehandschriften. Denn trotz Anlage der Handschrift als Dokumentation einer konkreten Aufführung schieben sich vielfach Elemente nach Art einer Erbauungslektüre ein. Dieses Oszillieren zwischen zwei ganz unterschiedlichen Ausprägungen einer Lesehandschrift machen die ‘Weingarten’-Aufzeichnung zu einem lohnenden Untersuchungsgegenstand für die Spielforschung wie allgemein für die Literaturwissenschaft: Der Literaturwissenschaft bietet sie die Möglichkeit, den Begriff der Lektüre weiter auszudifferenzieren, der Spielforschung – auf der nachfolgend das Augenmerk ruhen soll – gibt sie Anhaltspunkte, innerhalb des bislang weitgehend pauschal verwendeten Begriffs der Lesehandschrift genauer zu unterscheiden. Ansätze zu einer solchen Differenzierung liefern bereits die Illustrationen der ‘Weingarten’-Handschrift: Geht man vom Dokumentationszweck der Handschrift aus, dann scheinen sie – wenn auch typisiert – die Akteure und andere Reminiszenzen der Zürcher Aufführung von 1539 wiederzugeben. Davor warnen jedoch etwa die unterschiedliche Gestaltung des Höllenrachens (Abb. 9 vs. Abb. 54) oder die differierende Gestaltung mehrfach auftretender Figuren (vgl. etwa den Heroldt in Abb. 3, 75 und 76).14 Dennoch stehen die Illustrationen in einem deutlichen Zusammenhang mit der Spielaufführung. Denn im Gegensatz zum Titelblatt, auf dem die Federzeichnung lediglich eine den Spieltitel illustrierende Funktion besitzt, helfen die im Text inserierten Abbildungen, bei der Lektüre den Aufführungscharakter zu imaginieren. Dazu trägt bei, daß die Bilder in der Regel15 den Erstauftritt einer Figur 13
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Für Schöbi wurde die Handschrift zu »Erinnerungszwecken« hergestellt; vgl. Einleitung [Anm. 2], S. 225. Andere Funktionsaspekte wurden von ihm in der Einleitung nicht thematisiert. Vgl. dazu den Kommentar [Anm. 2], S. 409. Zur Verteilung der Federzeichnungen im Text vgl. die Einleitung [Anm. 2], S. 227.
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(oder Figurengruppe) markieren und in einem unmittelbaren Bild-Text-Bezug stehen: Die Illustrationen stehen entweder nach oder vor einer Rollenbezeichnung (oder Regieangabe), die damit zugleich die Funktion einer Bildlegende übernimmt. Zur Imagination trägt aber auch bei, daß in die Zeichnungen immer wieder Elemente aufgenommen werden, die sich im Text identifizieren lassen: der Redegestus etwa, mit dem der Vatter das Gespräch mit seinem Sun eröffnet (Abb. 4), oder – mit Rückgriff o auf genannte Requisiten – die Schlüssel (Abb. 8) vor der Regieanweisung Handbub o nimpt die schluißel / vnd gat zum husknecht (vor V. 811). Diese offensichtliche Orientierung an einer Imagination der Aufführung führt schließlich zur Darstellung von Attributen ohne Stütze im Text: so u. a. der Kochlöffel zur Kennzeichnung des Koch (Abb. 24). Im Extremfall werden dabei sogar Informationen vermittelt, die keinerlei Textbezug besitzen, die aber den Zuschauern auf der Bühne präsent waren: Ein hervorstechendes Beispiel für diese Spielimagination ist der Spielführer (Ludius), der in Abb. 3 und 75 mit Dirigierstab und Textbuch neben dem Heroldt auftritt. Bereits diese wenigen Hinweise lassen erkennen, daß hinter der Charakterisierung der Aufzeichnung als Dokumentation einer konkreten Spielaufführung ein vielschichtiger Umformungsprozeß steht. Gegenüber diesen beispielhaft genannten Fällen führen die Illustrationen teilweise aber auch ein Eigenleben, das über diese Charakterisierung der Handschrift deutlich hinausgeht und den Horizont einer genuinen Lesehandschrift in den Blick kommen läßt. Besonders auffällig ist die Tötung des Zacharias (= Sacharja; Abb. 32), zu der es nur die Regieangabe Sathan zum Zacharia / schlacht Jnn ztod mitt dem bischoff stab / der koch vnd die anderen veriagend Jsaiam vnnd Malachiam (nach V. 2333) und einen späteren Texthinweis (V. 2403) gibt, oder die Tötung des präfigurativen (Gottes-)Sun (Abb. 52, nach V. 3523), zu der die Regieanweisung erst nach V. 3579 (Jetz schland sy Jnn ztod), der Textbeleg – aus dem Munde des Sathan – sogar erst V. 3639 erfolgt. Handelt es sich dabei um stumme Szenen der Aufführung, die im Lesetext ins Bild gesetzt werden, oder um (vorwegnehmende) Visualisierungen für den Leser ohne direkten Bezug zur Aufführung in Zürich?16 Zumindest bei der Tötung des Sun stellt die Illustration eine Antizipation der Handlung dar, die nur für den Leser einen Sinn ergibt, die aber nicht der tatsächlichen Aufführung entsprechen kann. Daneben finden sich auch Bilder, denen bereits ein Bezugstext vorausgegangen ist: So Abb. 7 (nach V. 762), in der sich der Vatter mit Redegeste an den buwmeister wendet, während die Gesprächseröffnung bereits V. 749–762 erfolgte; dadurch kommt das Bild vor die Rollenangabe und den Sprechtext des buwmeister zu stehen.17 Komplexer 16
17
Schöbi meint in seiner Einleitung [Anm. 2], S. 227, daß diese Illustrationen »den Tötungsszenen durch die Visualisierung zusätzliches Gewicht« verleihen. Gemeint ist damit wohl der Leser der Handschrift; über die Realisierung auf der Bühne ist damit noch nichts ausgesagt. Diese auffällige Verlegung des Bildes erklärt sich wohl dadurch, daß die Rede des Vatter am Ende von Bl. 17r erfolgt und der von ihr beanspruchte Platz nicht für die Abb. 7 reichte; sie steht daher zu Beginn von Bl. 17v. Eine gewisse Unsicherheit bei dieser Plazierung deutet sich in der funktionslosen Rollenbezeichnung buwmeister am Schluß von Bl. 17r an, die nach
Von der Spiel- zur Lesehandschrift
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erweist sich die Plazierung von Abb. 29, die in die Rede des Batt (V. 2264–2277) eingelagert ist.18 Das Bild zeigt Batt (= Papst) und Carli (= Kardinal) im Ornat und mit den Insignien eines Papstes bzw. eines Kardinals. In diesen Rollen als Ausweis höchster geistlicher Macht treten sie der ersten Prophetengruppe feindlich entgegen. Das Bild hätte daher an den Beginn der Begegnung mit der Prophetengruppe (nach V. 2197) gehört. Die spätere Plazierung weist auf eine Diskrepanz zwischen Aufführung, in der die beiden bei ihrem Auftritt nach V. 2197 bereits ihre kirchliche Amtskleidung tragen mußten, und nicht nur dokumentierender Lesehandschrift, bei der die Text-Bild-Bezüge im Rahmen einer Lektüre einen breiteren Spielraum zuließen, ohne dabei – wie bei einer strengen Dokumentation einer Aufführung – den Sinnzusammenhang zu stören. In einem Fall scheint eine Bildplazierung andererseits so sehr von der Vorgabe des Spieltextes bestimmt zu sein, daß ein angemessenes Bildverständnis vom Betrachter einigen Aufwand fordert. Es handelt sich dabei um Abb. 38 (nach V. 2689), welche die Tötung des Propheten Jeremias durch zwei Weingärtner zeigt – eine Szene, zu der es weder eine Regieangabe noch einen Bezugstext gibt; erst V. 2811 bestätigt der Prophet Johel die (zwischendurch mehrfach vermutete) Tötung: Jeremias ist geschlagen zthod. Abb. 38 steht zwischen der Regieangabe In dem sol der Sathan vnd der koch den Abdiam vnd den Zephoniam veriagen (nach V. 2689) und der o Redeanweisung Jeremias Jmm vßfuren (vor V. 2690). In seiner anschließenden Rede (V. 2690–2693) erwartet Jeremias seine Tötung: Her gott nun sich / min lyden an min läben gern / ich wil verlan vmb dinentwillen / wie du weist her ich entphilch / dir minen geist
Offenkundig folgte danach im Spieltext eine Regieangabe, die in einer stummen Szene die Darstellung der Jeremias-Tötung vorsah. Dieser Hinweis ist in der Leseausgabe getilgt und durch die vorgezogene Abb. 38 ersetzt worden, die dem Leser die nachfolgenden Jeremias-Worte (V. 2690–2693) eindeutig machen sollte. Von dieser Rezeptionsvorgabe geleitet, mußte allerdings die folgende Rede (V. 2694–2699) zu Irritationen führen, in der Carli zwei Bauern auffordert (V. 2694 f.):
18
Abb. 7 vor der Rede des buwmeister wiederholt wird. Dieser Befund bleibt im Kommentar [Anm. 2], S. 384, unerwähnt. Anders gelagert ist die gleichfalls unkommentierte (vgl. S. 391) o Doppelung der Rollenbezeichnung Tischbub am Ende von Bl. 39v und nach Abb. 21, die – o hier richtig plaziert – zu Beginn von Bl. 40r das Gespräch zwischen Tischbub und Carli eröffnet. Vgl. auch die Parallele bei der Abb. 22 (Batt spricht mit dem Kellermeister; dabei ist im Zusammenhang mit dem Seitenwechsel Bl. 40r/v die Rollenbezeichnung Käller ebenfalls verdoppelt). Abb. 29 steht nach V. 2275 am Ende von Bl. 54v, die beiden restlichen Verse eröffnen Bl. 55r. Eine Verlagerung von Abb. 29 auf Bl. 55r war nicht möglich, weil dort nach den beiden abschließenden Versen der Batt-Rede gleich Abb. 29 zur Eröffnung der Malachias-Rede folgte. Wie in Anm. 17 skizziert, deuten sich auch hier gelegentliche Spannungen bei der Text-Bild-Verteilung an.
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Johannes Janota e
Nun futschend Jnn / vß disem huß o Vnd schlachend Jnn / mit rutten vß
Diese Irritation wird erst nach einer weiteren Rede des Batt (V. 2700–2703) behoben, o der die Regieanweisung schlachend Johelem mitt ruten vß und danach Abb. 39 mit der Züchtigung des Johel als Abschluß des Actus tertius folgt.19 Das zuletzt diskutierte Beispiel stellt innerhalb der Handschrift einen singulären Fall dar, der aber im Kontext der anderen Beispiele zeigt, daß sich bei der Umwandlung einer Spieltextvorlage in eine – sei es zur Dokumentation einer Aufführung, sei es zur genuinen Lektüre bestimmten – Lesehandschrift (oder gar in einen Druck) sehr unterschiedliche Absichten kreuzen und überlagern können. Dieser komplexe Konvertierungsprozeß läßt sich auch am Umgang mit den Regieanweisungen beobachten, die so radikal getilgt wurden, daß die Bewegungsregie des aufgeführten Spiels nicht mehr verläßlich rekonstruiert werden kann.20 Sie blieben in der Regel nur dort erhalten, wo sie für den Leser zur Imagination des Bewegungsvorgangs notwendig sind. Oft müssen dafür aber auch andere Elemente eintreten. Das gilt etwa bei der Markierung von Szenengrenzen, für die aus dem Spieltext häufig die Anweisung Musica übernommen wurde; nicht selten tritt für diese Zäsurierung aber auch eine Abbildung (teils kombiniert mit dem Hinweis Musica) ein. So wird etwa die eben besprochene Szene mit der Züchtigung des Johel durch Abb. 39 und Musica abgeschlossen. Nur ein Bild trennt hingegen etwa die Teufelsszene (V. 3638–3675) vom Auftreten des Erzengels Gabriel (Abb. 55, nach V. 3675) und seiner Rede (V. 3676– 3684). Auch dabei kann es allerdings zu Differenzen zwischen Spieltextdokumentation und Lesehandschrift kommen. Am einfachsten sind noch die Fälle, bei denen die Regieangabe zu einem Bewegungsvorgang getilgt wurde, dieser aber vom Leser durch Textsignale nachvollzogen werden kann. Als Beispiel sei das Gespräch zwischen o o Handbub und Husknecht (V. 811–930) genannt, bei dem der Handbub den Husknecht nicht dazu bewegen kann, gemeinsam mit ihm zum Buwmeister zu gehen. o Daß der Handbub allein zum Buwmeister eilt, läßt sich allein der Rede (V. 931–940) des Husknecht entnehmen (V. 931 f.): Ein finer knab / mir das kan sin fragt mich nitt drumb / vnd loufft da hin o
Während der Handbub mit dem Buwmeister spricht (V. 941–953), bemüßigt sich der o Husknecht, dessen Befehl (den der Handbub zuvor überbracht hatte) nachzukommen und beim Buwmeister zu erscheinen. Auch dieser Bewegungsvorgang, zu dem o ein Regietext in der Lesehandschrift fehlt, läßt sich nur aus der Rede des Handbub ableiten (V. 949–953): 19
20
Der komplexe Zusammenhang ist im Kommentar [Anm. 2], S. 397, unbefriedigend erklärt. Nicht auszuschließen ist, daß bei den in kurzem Abstand folgenden Abb. 38 (Bl. 65v) und 39 (Bl. 66r) außerdem Fragen der Text-Bild-Verteilung mitgespielt haben; vgl. dazu Anm. 17. Das merkt auch Schöbi in seiner Einleitung [Anm. 2], S. 225, an. Der radikale Eingriff in die Bewegungsregie beschränkt natürlich den dokumentarischen Wert der Aufzeichnung zugunsten einer genuinen Lesehandschrift.
Von der Spiel- zur Lesehandschrift
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grad wie ich dschuißel / han genon hieß ich den husknecht / mitt mir gon o sagt er zu mir / wett sich nitt summen grad vff der stett / glich nochher kummen o botz lugend nun / er ist schon da
Zuweilen schiebt sich aber auch ein größerer Handlungsblock zwischen die textinterne Bewegungsregie und deren im Text erkennbaren Vollzug. Die Propheten Nahum und Amos etwa ermuntern sich nach ihrem Mißerfolg bei Batt und Carli, schnell zum Vatter zu laufen, um ihm davon zu berichten (V. 3056–3065). Danach folgt aber zuerst ein Dialog zwischen Batt und Carli, die Tötung des Propheten Ezechiel, die Steinigung des Propheten Micheas und die Züchtigung des Propheten Hoseas (V. 3066–3115). Erst dann wendet sich Amos zum heren (= Vatter; nach V. 3115). Mit dieser knappen Regieangabe wird sowohl der Abschluß der textinternen Bewegungsregie als auch der Szenenwechsel markiert (der dem Leser mit Musica bereits vor V. 3110 signalisiert wurde). Dies verlangt eine aufmerksame Lektüre, während die Handlungsabläufe in der Aufführung und dem ihr zugrundeliegenden Spieltext sicher leichter nachzuvollziehen waren. Ein letztes Beispiel mag verdeutlichen, wie durch solche Verschiebungen der Handlungsablauf und die Bildfunktion innerhalb der Handschrift zueinander in Spannung stehen. Die Tötung des Sun (als Präfiguration des Gottessohnes) wird mit Abb. 52 (nach V. 3523) eingeleitet, was die nachfolgende Rede des Sun zum volck (V. 3524– 3569) in einen angemessenen religiösen Rahmen stellt;21 danach wendet sich der Sun kniend in einem Gebet an Gott (V. 3570–3579), und erst dann folgt auf einer neuen Seite (Bl. 87v) die Regieanweisung: Jetz schland sy Jnn zthod (nach V. 3579). Hier müßte nach den Regeln des Spielverlaufs Abb. 52 stehen; nach den Intentionen einer Lesehandschrift aber, bei der über die Aufführungsdokumentation hinaus oft auch eine eigene Lektürefunktion mitschwingt, ist das Tötungsbild zu Recht vor der Hinwendung des Sun zum volck eingefügt.22 Schließlich möchte ich noch auf das Problem der Figurenidentifizierung durch Nennung ihres Namens (oder ihrer Funktion) hinweisen, das sich freilich nicht bei der Lesehandschrift, wohl aber beim Spieltext als ihrer Vorlage stellt. Denn für den Leser ist anhand der Figurenbezeichnung vor jeder Rede innerhalb der Lesehandschrift eine Identifizierung aller Sprecherrollen möglich. In einer Aufführung dagegen – und dafür hat der Spieltext zu sorgen – müssen zumindest die spieltragenden Figuren eindeutig in ihrer Rollenfunktion erkennbar sein. Dies geschieht entweder durch die Selbstnennung des Namens, der Standes- bzw. Berufsbezeichnung oder durch die entsprechende Anrede seitens anderer (in der Regel bereits identifizierbarer) Figuren. Ergänzend und z. T. ersatzweise können allgemein bekannte Attribute hinzutreten (etwa Petrus mit dem Schlüssel, der Papst mit der Tiara). Diese Möglichkeiten sind teilweise auch in die Lesehandschrift des ‘Weingarten’ eingeflossen. 21
22
Dabei stellt sich wieder einmal die Frage, ob die Text-Bild-Verteilung angemessen gelöst ist: Abb. 52 beschließt Bl. 86r, die Rede Sun zum volck hingegen beginnt auf Bl. 86v. Vgl. dazu auch Schellenberg Wessendorf [Anm. 10], S. 102 f.
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Johannes Janota
Das zeigt sich gleich zum Beginn des Spiels, das ein Knabenherold eröffnet. Er stellt sich selbst als jung vor (V. 37 f.): das ich der Juingst / Jn disem spil vch alsannd hie / ermanen wil
Mit der Eigencharakterisierung als der Juingst wird die Regieangabe Ein Junger knab o redt zu allen gsellen Jm spil (vor V. 33) für die Zuschauer wie für die Leser sprachlich umgesetzt; das ermanen benennt seine konventionelle Rolle als proclamator, die mit dem Schild,23 den er trägt und am Schluß der Rede an den Heroldt übergibt, als junger Herold konkretisiert wird (V. 92–98): Im besten sond / ir mich verston wo ich zfil grett / hett zluitel gseit e die Jngfurt red / nitt wol vsgleit o der sols zu miner / Jugat rächnen mitt miner kindtheit / das verträchen darumb Heroldt / so nim den schiltt das argument / sag wann du wilt
Mit der Anrede an den Heroldt führt er damit zugleich den nächsten Sprecher in seiner Funktion ein. Ähnlich weist der Heroldt am Ende seiner Rede auf die beiden nachfolgenden Figuren hin (V. 284–286): vnd losen vff / des vatters wort der mitt sim sun / ist vff der fart vnd kumpt dört har / Jm grawen bart
Entsprechend leitet der Vater seine Rede ein mit Liber sun / nun merck mich eben e (V. 287) und der Sohn seine Antwort mit Das fruwt mich vatter / eben fast (V. 305). Solche Apostrophen zur Identifizierung einer Figur finden sich öfters in der Lesehandschrift (wo sie wegen der Rollenbezeichnung vor einem Sprechtext oder in einer Regieangabe eigentlich überflüssig sind), aber noch häufiger fehlen sie. Als bezeichnendes Beispiel seien die zwölf Apostel genannt, denen der Vatter am Schluß seinen Weinberg übergibt (V. 4020–4045), die er jedoch nicht persönlich anspricht und die sich auch nicht selbst oder gegenseitig vorstellen.24 Für den Leser bereitet dies wegen der Rollenbezeichnungen in der Lesehandschrift keine Schwierigkeiten, wohl aber in der Aufführung – es sei denn, sie traten wie in den Abbildungen 63–74 mit ihren eingeführten Attributen auf. Eine solche Kennzeichnung fehlt dagegen den Prophe23
24
Einen Teil dieser Identifizierungsmerkmale setzt die Abb. 2 um: Ein junger Mann trägt als Rolleninsigne einen Stab, der einfacher gestaltet ist als der verzierte Stab des Heroldt (vgl. Abb. 3), dazu den Schild, den er am Schluß seiner Rede an den Heroldt überreicht. Da der Schild einen Greifenkopf trägt, der als Wappen Rufs nachgewiesen ist, gibt die Lesehandschrift für den Kenner zugleich einen Hinweis auf den Autor des Spiels. Ob der Knabenherold auch bei der Aufführung einen Schild mit Greifenkopf trug, muß offenbleiben. Zur Abb. 2 vgl. den Kommentar [Anm. 2], S. 375. Ausnahmen sind lediglich Petrus, der von Andreas mit Namen angesprochen wird (V. 4054), und Matheus, der sich selbst als zoller (V. 4128) anspricht; dazu kommen gelegentliche Textanspielungen als Figurencharakteristika; vgl. dazu den Kommentar [Anm. 2], S. 408 f.
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ten. Zwar wird etwa die erste Prophetengruppe vom Vatter namentlich angesprochen (V. 2130–2132: Jsaia, Zacharias, Malachias; vgl. zuvor schon V. 2005), aber in ihren anschließenden Sprecherrollen (V. 2154–2163) lassen sie sich nicht differenzieren. Selbst im Gruppenbild (Abb. 26) können die einzelnen Figuren nur mit Rekurs auf die Rollenangaben zu den Abbildungen 28, 30 und 31 halbwegs identifiziert werden (wobei dem Jsaia hier und natürlich im Text – die Reihenfolge der Apostrophen in V. 2130–2133 vertauschend – Malachias und Zacharias folgen). Im Spiel selbst mögen die einzelnen Figuren beim Sprechen der V. 2130–2132 durch Fingerzeig vom Vatter individualisiert worden sein, aber in der überwiegenden Zahl der Auftritte ist selbst diese Möglichkeit ausgeschlossen. Ich nenne beispielsweise nur das Auftreten neuer Teufel (V. 3662–3675) in der zweiten Höllenszene. Dieser Befund führt unversehens in ein schwieriges, letztlich kaum lösbares Problem: Entweder kam es Ruf bei der Aufführung seines Spiels nur auf eine grobe Differenzierung der auftretenden Figuren an,25 oder aber zwischen der Spielvorlage und der Lesehandschrift liegt – so schwer diese Vermutung fällt – eine Überarbeitungsstufe des Spieltextes, bei der zahlreiche Identifizierungsmerkmale (Namen und Requisiten im Sprechtext) für die einzelnen Figuren – ebenso wie ein Gutteil der Regieangaben – gestrichen wurden, weil dafür dem Leser die Rollenbezeichnungen zur Verfügung standen. Zuweilen führte dieses Verfahren selbst in der Lesehandschrift zu Verständnisschwierigkeiten: Es sei nur an das bereits diskutierte Beispiel von Batt und Carli erinnert, die ohne entsprechende Regieangabe und dazu noch an einer weniger einsichtigen Stelle in Abb. 29 mit den Ornaten von Papst und Kardinal auftreten. Solche Stellen zeigen mit besonderer Deutlichkeit, wie sehr sich eine Lesehandschrift, dort wo sie eine eigenständige – über die Dokumentation einer Aufführung hinausgehende – Lektüre eines Spiels impliziert, nicht nur durch äußere Merkmale,26 sondern auch durch ihre innere Organisation von einer Spielhandschrift unterscheidet, die zur Grundlage einer Aufführung diente. Trotz aller funktionalen Unterschiede zwischen diesen beiden Handschriftentypen gibt es auch Gemeinsamkeiten, die wiederum neben äußeren Merkmalen (etwa Einteilung in Akte) aus dem Spieltext und vielleicht sogar aus der tatsächlich erfolgten Aufführung in die Lesehandschrift eingeflossen sind. Auch dafür nur einige Beispiele: Mit dem Hinweis Musica wird für den Leser vor allem ein Szenenwechsel markiert. Da jedoch Noten fehlen, muß er – vielleicht erinnert an eine Aufführung – eine Melodie imaginieren; oder aber er versteht Musica lediglich als Zäsurzeichen zwi25
26
Bei Nebenfiguren hat ein solches Verfahren Tradition, die auch Ruf weiterführt, wenn er die sechs landsknecht einfach nur durchnumeriert (vgl. vor V. 2904 – vor 2930) und auch sonst nicht weiter individualisiert. Dies leisten eher die sechs Federzeichnungen, die den Einführungsreden dieser Figuren vorangehen; vgl. dazu den Kommentar [Anm. 2], S. 399. Vgl. dazu Hansjürgen Linke, Versuch über deutsche Handschriften mittelalterlicher Spiele, in: Deutsche Handschriften 1100–1400. Oxforder Kolloquium 1985, hg. von Volker Honemann und Nigel F. Palmer, Tübingen 1988, S. 527–589; zu Merkmalen von Lesehandschriften vgl. insbesondere S. 540–543. Auf S. 550 gibt Linke auch einige Hinweise auf das »Fluktuieren von Spieltexten zwischen Aufführung und verschiedenen Formen der Niederschrift«; diese Vorgänge verdienten, ausführlicher untersucht zu werden.
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schen Szenen, dann wäre ihm mit einer kurzen Regieangabe mehr gedient. Wenn Musica dennoch in die Lesehandschrift aufgenommen wurde, dann verweist dies auf einen integralen Bestandteil des Spiels. Dies belegt das Ende des Actus primus, wo der Hußknecht zun spilluiten sagt (vor V. 1105 – nach V. 1106): o
Wie sitzend ir / sind gutter dingen o vnd thund ein fart / ein liedlein singen27 Musica
Ein weitere Form, die aus dem Spieltext in die Lesehandschrift übernommen wurde, sind Stichreim und Stichomythie, die effektvoll den Bewegungsrhythmus des Spiels steuern. Man vergleiche etwa, wie V. 3710 f. der Vatter dem Nachpur, der ihn nach der Tötung des Sun trösten will, mit Stichreimtechnik ins Wort fällt: Nachpur [. . .] dir ztrösten warlich gsinnet bin Vatter gott danck dir lieber nachpur min
Oder wie das Erstaunen über das unbemerkte Verschwinden des Sathan (der in der Gestalt des Hanns Olt als Verführer aufgetreten war) mit Stichreim und Stichomythie sprachlich inszeniert wird (nach V. 3591–3597): Batt Ey das ist recht / das er [der Sun] thod ist nun setzend vch / vns einer brist Hanns Olt wo mag / der selbig sin? Bur Hanns Jch weiß nitt vff / die trüwe min Bur Eberli gnediger her / ich weiß ouch nitt Bur Clauß vnd ich ald mich / der ritt ouch schütt
Im Blick auf den zugestandenen Raum muß ich hier abbrechen. Doch dürfte bereits diese knappe Skizze deutlich gemacht haben, daß man sich auf den Unterschied zwischen einem Spieltext oder gar einer Aufführungshandschrift und einer Lesehandschrift aufgrund äußerer Merkmale in vielen Fällen – wie etwa bei der Überlieferung von Rufs ‘Weinberg’ – zwar relativ schnell einigen kann, daß aber hinter der Umwandlung eines Spieltextes in eine Lesehandschrift, bei der außerdem – wie wir sahen – noch zwischen einer Aufführungsdokumentation und einer genuinen Lektürevorlage zu unterscheiden ist, in der Regel ein komplexer Vorgang steht, der allein durch eine sorgfältige Mikroanalyse der Aufzeichnung wenigstens teilweise (nicht nur) zum 27
Musik während eines Bewegungsvorgangs ist auch nach V. 3937 belegt: Jetz zücht Vespasianus vff halben platz mitt trummen vnd pfiffen.
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Nutzen der Spielforschung rekonstruiert werden kann. Die Ergebnisse solcher Untersuchungen wären in meinen Augen eine unverzichtbare Ergänzung zu den freilich gleichfalls notwendigen Bestimmungen äußerer Merkmale, die bis jetzt bei der funktionalen Differenzierung der Überlieferungstypen deutscher ›Spielhandschriften‹ im Vordergrund standen. Da die Lesehandschrift des Rufschen ‘Weingartens’, in die Dokumentationsabsichten wie Lektürevorstellungen eingegangen sind, offenkundig unter der Verantwortung des Spielautors gefertigt, wenn nicht gar von ihm selbst geschrieben ist, wäre sie für diese anstehende Aufgabe ein günstiger Einstieg.
Hurenkomödie oder politische Dichtung? Die ‘Chrysis’ des Enea Silvio Piccolomini von Cora Dietl
Am ersten Oktober 1444 schrieb der poeta laureatus Enea Silvio Piccolomini aus Wien an seinen (ehemaligen) Freund Michael Pfullendorf, Protonotarius in der Kanzlei Kaiser Friedrichs III., einen Brief, der erklären sollte, warum er ihm die Freundschaft aufkündigte. Falschheit und Verstellung wirft er ihm vor und dass er hinter seinem Rücken schlecht über ihn geredet habe, [. . .] nec tu negare potes, quin comediam meam carpseris, quam de Chriside feci Nuremberge. non est mihi cure, quod mea scripta tuo judicio reprobentur, quamvis magnum est, nec ego laudari musam meam ex te volui, quia non est digna laus, que ab homine rei non perito venit, sed noto animum tuum. preterea si quid vitii inerat, decebat te me admonere, ut limassem. at tu nedum carmen sed auctorem quoque irridebas meque perlevem accusahas, qui comediam scripsissem, tanquam non laudi Terentius et Plautus habiti sint, qui comedias scripserunt.1
Pfullendorf könne es nicht verleugnen, dass er Enea Silvios in Nürnberg verfasste Komödie ‘Chrysis’ verrissen habe. Die Geringschätzung seiner Schriften durch Pfullendorf allerdings berühre ihn wenig, fährt Enea Silvio fort, da das Lob eines Unkompetenten wertlos sei. Freilich erkenne (und tadle) er Pfullendorfs Absicht: Den Freundschaftsbruch sieht Enea Silvio darin, dass Pfullendorf, wenn er denn Mängel in dem Werk entdeckt hätte, Enea darauf hätte aufmerksam machen sollen, damit er sie bereinige. Er aber habe nicht so sehr das Werk lächerlich machen wollen wie insbesondere den Autor. Pfullendorf habe ihn als seicht beschimpft, nur weil er eine Komödie verfasst habe, wo doch auch Terenz und Plautus Komödien geschrieben hätten und dafür gelobt worden seien. Die Kritik an der Komödie ist zwar nicht der einzige Grund, weshalb Enea dem Kaiserlichen Protonotar die Freundschaft kündigt, er nennt noch weitere Gründe; deutlich ist aber, dass Enea 1444 mit voller Überzeugung hinter seiner Komödie stand und sie (und sich als frühhumanistischen Dichter) in eine Tradition mit Terenz und Plautus stellen wollte. Später, als Papst Pius II., versuchte Enea Silvio die Verbreitung seiner Jugendkomödie zu unterbinden.2 Darin war er so erfolgreich, dass nur eine einzige Handschrift des Werks überliefert ist: eingebunden in einen Kodex 1
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Enea Silvio Piccolomini an Michael Pfullendorf, Wien, 1.10.1444, in: Enea Silvio Piccolomini. Briefe, übers. und eingel. von Max Mell, Jena 1911, Nr. 33, S. 187–192; Der Briefwechsel des Eneas Silvius Piccolomini, hg. von Rudolf Wolkan (Fontes rerum Austriacarum 2,61), Abt. I, Bd. 1, Wien 1909, Nr. 158. Enea Silvio Piccolomini, Papst Pius II, Ausgewählte Texte aus seinen Schriften, hg. von Berthe Widmer, Basel/Stuttgart 1960, S. 48; Aeneas Silvius Piccolomini, Chrysis. Come´die latine ine´dite, hg. von Andre´ Boutemy (Latomus 1), Brüssel 1939, S. 5 f., dort Verweis auf ‘Epistolae’, Nr. 395.
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aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, der heute in der Universitätsbibliothek in Prag aufbewahrt wird.3 Der Band enthält eine Reihe von Werken Enea Silvios; die Komödie steht zwischen der bissigen, seinem Freund Johannes von Eich gewidmeten, Hofsatire ‘De curialium miseriis’ (November 1444) und einem der politischen Briefe Eneas.4 Der Versuch einer groben chronologischen Gruppierung könnte hinter dieser Zusammenstellung stehen (wenngleich der Band insgesamt nicht chronologisch geordnet ist),5 vielleicht aber auch einer thematischen. Der Inhalt der Komödie6 ist kurz zusammengefasst: In 18 Szenen wird die Geschichte der Prostituierten Chrysis und Cassina erzählt. Sie betrügen ihre Stammkunden, die betagten Kleriker Theobolus und Dyophanes, mit zwei anderen (auch recht alten) Freiern aus weltlichem Stand, Sedulius and Charinus. Theobolus und Dyophanes haben für sich und die beiden Hetären ein opulentes Abendessen herrichten lassen, und zwar im Haus der Kupplerin Canthara. Als sie ankommen und von den beiden Mädchen noch weit und breit nichts zu sehen ist, riechen sie rasch den Braten. Als die beiden Mädchen endlich kommen, kündigen die Alten ihnen die Beziehung auf und ziehen ab. Sedulius und Charinus kommen und übernehmen freudig die Gesellschaft der Mädchen am Abend und in der Nacht. Am nächsten Morgen vermissen die beiden Mädchen aber ihre geistlichen Liebhaber und stellen fest, dass sie diese lieben. Theobolus und Dyophanes kehren zurück und versöhnen sich mit Chrysis and Cassina. Als die Komödie im 19. Jahrhundert von der Forschung wiederentdeckt worden war, wurde sie zunächst als eine recht obszöne Offenbarung klerikaler Phantasien betrachtet, als ein Ausdruck von Eneas lockerem Leben, von welchem es heißt (und er selbst auch behauptet), dass er es in vollen Zügen genossen habe, bevor er 1447 zum Priester geweiht wurde.7 In den 1960er Jahren kritisierte die Forschung die Prüderie des 19. Jahrhunderts; jetzt wurden die literarischen Qualitäten des Werks betont, welches ein lebhaftes Abbild der humanistischen Terenz- und Plautusrezeption biete.8 Nachdem Nicolaus Cusanus, ein späterer Freund des Enea Silvio, 1425 in Köln eine bedeutende Plautus-Handschrift entdeckt hatte, die auf einen Schlag die Zahl der bekannten Plautus-Komödien von acht auf 20 steigerte, gilt Enea Silvio als einer der einflussreichsten Förderer der Rezeption der römischen Komödie im deutschen Frühhumanismus.9 3
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Cod. XXII F 112. Handschriftenbeschreibung in: Boutemy [Anm. 2], S. 14 f.; Franz Josef Worstbrock, Art. ›Piccolomini, Aeneas Silvius‹, in: 2VL 7 (1989), Sp. 634–669, hier Sp. 647. Vgl. Enea Silvio Piccolomini, Chrysis, hg. von Enzo Cecchini, Florenz 1968, S. XIV f. Ebd., S. XIV. Im Folgenden zitiert nach: Humanist Comedies, hg. und ins Englische übers. von Gary R. Grund, Cambridge (Mass.)/London 2005, S. 284–347. Vgl. Paul Bahlmann, Die Erneuerer des antiken Dramas und ihre ersten dramatischen Versuche 1314–1478, München 1896, S. 45–47; Max Niedermann, Deux e´ditions re´centes de la come´die ‘Chrysis’ d’Enea Silvio Piccolomini, in: Humanitas 2 (1948), S. 93–115, hier S. 93, bezeichnet ‘Chrysis’ als eine »Jugendsünde« Enea Silvios. Berthe Widmer, Enea Silvio Piccolomini in der sittlichen und politischen Entscheidung. Basel/Stuttgart 1963, S. 58. Frank Baron, Plautus und die deutschen Frühhumanisten, in: Studia Humanitatis. FS Er-
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Im Dezember 1443 schreibt er einen Brief an Sigismund von Österreich, in dem er den Wert der römischen Komödie und Tragödie für die Erziehung von Fürsten betont: vis regum mores et fastidia principantium perscrutari, secundum Senecam in tragediis legito; vis plebeos homines et milites gloriosos et lenonum insidias et servorum deceptiones, ut evitare illas possis, intelligere, Plautum tibi et Terentium assumito.10
Die Tragödien Senecas seien dazu dienlich, die Sitten der Könige und den Stolz der Regierenden zu ergründen; das einfache Volk, die ruhmsüchtigen Soldaten, die Fallen der Kupplerinnen und die Betrügereien der Diener aber lerne man durch die Komödien des Plautus und Terenz kennen und übe sich so darin ein, sie zu vermeiden. Diese Rechtfertigung der Lektüre von Seneca, Plautus und Terenz wird in den Schriften zahlreicher Humanisten wiederholt.11 Vor dem Hintergrund von Enea Silvios Verständnis von der römischen Komödie darf man die ‘Chrysis’ sicherlich auch als ein moraldidaktisches Werk auffassen. In den letzten Jahren sind verschiedentlich Interpretationen der Komödie vorgelegt worden, die sie als eine Satire auf das Leben von Adel und Klerus begreifen, speziell des Lebens am Kaiserhof, parallel zu dem nur kurz darauf verfassten Traktat ‘De curialium miseriis’.12 Große Beachtung ist bisher den handschriftlichen Anmerkungen geschenkt worden, die sich in der einzigen erhaltenen Handschrift (die zeitnah, noch Mitte des 15. Jahrhunderts, entstanden ist) in den Didaskalien finden.13 Ireneo Sanesi14 und Enzo Cecchini15 beschreiben sie wie folgt: In Szene 2 steht über dem Namen ›Sedulius‹ Eych; in Szene 5 sind über dem Namen ›Archimenides‹ die Buchstaben W T zu erkennen; über ›Dyophanes‹ und ›Theobolus‹ sind in Szene 6 die Hinweise offi bzw. Iacobus geschrieben. Cecchini vermutet wie schon Sanesi, dass Eych für Johann von Eich, den späteren Bischof von Eichstätt, steht, W T für Wilhelm Tacz, den Notar der
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nesto Grassi, hg. von Eginhard Hora und Eckhard Kessler, München 1973, S. 89–101, hier S. 92 f.; Hans Rupprich, Die deutsche Literatur vom späten Mittelalter bis zum Barock, I: Das ausgehende Mittelalter, Humanismus und Renaissance, 1370–1520, München 21994, S. 631 f. Enea Silvio Piccolomini an Herzog Sigismund von Österreich, Graz, 5.12.1443, Wolkan [Anm. 1], I,1,99; Enea Silvio Piccolomini, Ausgewählte Texte aus seinen Schriften. Festgabe der Historischen und Antiquarischen Gesellschaft zu Basel, hg., übers. und eingel. von Berthe Widmer, Basel 1969, S. 280–289, hier S. 286 f. Bsp.: Peter Luders Inauguralrede an der Universität Heidelberg vom 15. Juli 1456 oder Konrad Celtis’ ‘Ars versificandi et carminum’ von 1486. Vgl. dazu Cora Dietl, Die Dramen Jacob Lochers und die frühe Humanistenbühne im süddeutschen Raum (Quellen & Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 37), Berlin u. a. 2005, S. 20 und 37. Worstbrock [Anm. 3], Sp. 647; Emily O’Brien, Prurient Pastime or Something More? Reconsideration of Aeneas Silvius Piccolomini’s Chrysis, nicht publizierter Vortrag vor der Renaissance Society of America, New York, 2.4.2004. Abstract unter http://www.rsa.org/ pdfs/2004/Fri845.pdf (21.11.2008). Boutemy [Anm. 2], S. 12. Enea Silvio Piccolomini, Chrysis. Commedia, hg. von Ireneo Sanesi (Nuova collezione di testi umanistici inediti 4), Florenz 1941, zit. nach: Niedermann [Anm. 7], S. 102. Cecchini [Anm. 4], S. XI Anm. 7.
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römischen Kanzlei und Kanoniker zu Freising. Iacobus könnte Jakob Widerle, einen Mitarbeiter der Kanzlei, bezeichnen.16 Alle Genannten waren in Nürnberg anwesend; daher ist vermutet worden, dass die Namen für die Darsteller stehen, die das Stück aufführten.17 Dies ist allerdings bei einer späteren Auf- bzw. Abschrift eher ungewöhnlich; in neuerer Zeit zweifelt auch Gary Grund an dieser These.18 Zu erwarten wäre bei einer Identifikation der Darsteller, dass bereits beim ersten Auftritt der Figuren der jeweilige Darsteller genannt wäre; Dyophanes und Theobolus, deren Namen in der sechsten Szene die besagte Glosse tragen, treten aber bereits in der ersten Szene auf. – Dieses Argument könnte auch die zweite These, die oft in der Literatur diskutiert wird, in Frage stellen: dass es sich um einen Schlüsseltext handle und die übergeschriebenen Namen also die realen Vorbilder der fiktiven Figuren identifizierten.19 Vielleicht also ist die Komödie als eine Abrechnung mit Mitgliedern des Hofes zu verstehen; zumindest zwischen Wilhelm Tacz und Enea Silvio bestanden nachweislich Spannungen.20 Wie unsicher aber die Zuweisung der historischen Namen zu den Figuren als deren ›Entschlüsselungen‹ ist, zeigt die von Monika FinkLang aufgestellte und von Alfred Wendehorst mit einiger Vorsicht wiederholte These, dass die »unsympathische Figur des Sedulius« in der ‘Chrysis’ für die Lockerung der Freundschaft zwischen Enea Silvio und Johann von Eich nach der Papstwahl Eneas 1458 verantwortlich sei. Das wäre freilich eine recht verspätete Reaktion.21 Schwer vorzustellen ist es auch, dass Johann von Eich, dem Enea ‘De curialium miseriis’ widmet, die zuvor verfasste Komödie als Kritik an seiner Person verstehen sollte. Vielleicht aber deuten die Anmerkungen in der Handschrift auch nur auf einen späteren, gescheiterten Versuch der Identifikation der Rollen mit zeitgenössischen Hofmitgliedern hin, während Enea Silvio nur in ironischer Selbstdarstellung den Hof generell – sich inklusive – darstellen wollte, ähnlich wie etwa fünfzig Jahre später Johannes Reuchlin in der Komödie ‘Sergius’ die sodalitas litteraria ironisierte, der er selbst angehörte, als Rahmen für eine weit bissigere Zeitkritik.22
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Cecchini [Anm. 4], S. XI Anm. 7. Alessandro Perosa, Teatro umanistico, Mailand 1965, S. 186 f. Grund [Anm. 6], S. 446. Ebd.; Niedermann [Anm. 7], S. 102; Cecchini [Anm. 4], S. XI Anm. 7. Grund [Anm. 6], S. 446, verweist auf die Aussage in: Enea Silvio Piccolomini, Commentarii I,ii,3: Is cum legatum caesaris apud Nurembergam ageret, regimen cancellariae Wilhelmo Taz homini Baioario et Italici nominis hosti commisit, a quo miris modis Aeneas afflictus est; Enea aber habe alle Beleidigungen mit einer sprichwörtlichen Eselsgeduld ertragen. Pius II, Commentaries, hg. und ins Englische übers. von Margaret Meserve und Marcello Simonetta, Cambridge (Mass.) 2003, S. 46. Monika Fink-Lang, Untersuchungen zum Eichstätter Geistesleben im Zeitalter des Humanismus (Eichstätter Beiträge 14), Eichstätt 1985, S. 52 f.; Das Bistum Eichstätt, 1.: Die Bischofsreihe bis 1535, hg. von Alfred Wendehorst (Germania Sacra, Historisch-statistische Beschreibung der Kirche des Alten Reiches, Neue Folge, Bd. 45: Die Bistümer der Kirchenprovinz Mainz), Berlin/New York 2006, S. 216. Vgl. Dietl [Anm. 11], S. 161.
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In einer moraldidaktischen Satire, einer selbstironischen Darstellung der Hofgesellschaft oder gar einer Abrechnung mit einzelnen Mitgliedern des Hofes jedenfalls erschöpft sich die Aussage der Komödie ‘Chrysis’ noch nicht. Zwei Punkte in Enea Silvios oben zitiertem Brief an Pfullendorf seien in diesem Zusammenhang besonders hervorgehoben: (1) Wenn der Gegenstand des Spiels (nur) der Hof wäre, den Pfullendorf gut kennt, könnte dann Enea behaupten, Pfullendorf sei ein inkompetenter Richter über sein Werk? – Freilich würde es die Reaktion Pfullendorfs erklären, wenn er sich in der Komödie für seinen ausschweifenden Lebensstil kritisiert fühlte. (2) Enea betont in seinem Brief, dass er die Komödie in Nürnberg geschrieben habe. Diesen Entstehungsort hervorzuheben, wäre sicherlich unnötig, wenn mit der Komödie der Hof oder gar die kaiserliche Kanzlei parodiert werden sollte.23 Die Komödie wurde offensichtlich während des Reichstags zu Nürnberg verfasst, der ursprünglich im Februar 1444 beginnen sollte, dann aber bis auf die Zeit nach Himmelfahrt und schließlich noch ein zweites Mal verschoben wurde, so dass er vom 1. August bis zum 11. Oktober 1444 dauerte.24 Pfullendorf war auf dem Reichstag nicht anwesend. Max Mell äußert in seiner Ausgabe der Enea-Briefe 1911 Erstaunen darüber, dass Piccolomini während des Reichstags »Muße zur Abfassung einer Dirnen- und Kupplerkomödie« fand.25 Spätestens seit den Arbeiten von Dieter Mertens und Thomas Zotz26 allerdings sind die Rolle der Künste auf den Reichstagen (insbesondere ab der Herrschaft Friedrichs III. und unter Maximilian I.) und die Bedeutung der Reichstage als eines Präsentier- und Austauschfeldes für Dichtung und Kunst (wie z. B. auch bereits im Hochmittelalter der berühmte Mainzer Hoftag Barbarossas) bekannt.27 Nicht zuletzt fanden bekanntlich auch die Dichterkrönungen in der Regel während der Reichstage statt. Die Krönungszeremonien markierten sehr deutlich die Rolle der Dichtung für und im Reich; der gekrönte Dichter sollte künftig durch seine Dichtung die Reichspolitik stützen.28 Erst 1442 war Enea Silvio zum poeta laureatus gekrönt worden, daher könnte man erwarten, dass er sich auf dem Reichstag 1444 zu Angelegenheiten des Reichs äußerte. 23 24
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Vgl. Widmer [Anm. 8], S. 58. Deutsche Reichstagsakten unter Friedrich III., 3. Abteilung: 1442–1445, hg. von Walter Kaemmerer (Dt. Reichstagsakten, Ältere Reihe 17), Göppingen 1963, S. 225. Mell [Anm. 1], S. xxxv. Dieter Mertens, Der Reichstag und die Künste, in: Mediävistische Komparatistik. FS Franz Josef Worstbrock, hg. von Wolfgang Harms und Jan-Dirk Müller, Stuttgart/Leipzig 1997, S. 295–314; Thomas Zotz, Der Reichstag als Fest. Feiern, Spiele, Kurzweil, in: Der Kaiser in seiner Stadt. Maximilian I. und der Reichstag zu Freiburg 1498, hg. von Hans Schadek (Schau-ins-Land 117, 1998, Sonderheft), Freiburg i. Br. 1998, S. 146–170. Unverständlich ist daher Thomas Hayes Auffassung, Enea habe auf dem Reichstag »gleichsam zum Zeitvertreib seine später so berühmte Komödie ‘Chrysis’ geschrieben«. Thomas Haye, Die Armagnaken, das Elsaß, der Heidelberger Hof und die Apathie des Reiches – eine unbekannte lateinische Invektive des Jahres 1444, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 153 (2005), S. 241–274, hier S. 265. Grundlegend dazu: Dieter Mertens, Petrarcas Privilegium laureationis, in: Litterae Medii Aevi. FS Johanne Autenrieth, hg. von Michael Borgolte und Herrad Spilling, Sigmaringen 1988, S. 225–247.
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In der Tat weisen einige Aussagen in ‘Chrysis’ über den Rahmen einer reinen Plautus-Nachahmung oder einer moraldidaktischen Verurteilung des lockeren Lebens von Hof und Kurie hinaus und referieren auf zeitgeschichtliche politische Probleme. In Szene 4 (die noch zur Exposition gehört) etwa stellt sich Charinus, einer der beiden weltlichen Freier, vor und beschreibt dabei auch, wie er seine Umwelt sieht: [. . .] Vidi plures in foro nuper propter Armeniacos ire anxios; illos namque invasisse dolent imperium et occidisse quosdam Suicenses truces. Hostem volunt alii externum propulsarier ulciscique suos. Tum post quidam togati non capio quid divisionis flebile inter pontifices aiunt esse maxumos. Ego sapientis verbum mente teneo: curas post tergum decet inanes mittier. Ut in cavea certant pulli gallinacii esce causa, quibus cras est decretum mori, sic propter imperium contendunt homines, quod quam diu tenere debeant nesciunt. At ubi carendum sit, imperio prius quam cibo malim carere. Quid refert mea, Gallus an Theutonicus uter imperet? (V. 160–176)
Vor Kurzem erst habe er die Leute auf dem Marktplatz zusammenlaufen sehen, voller Angst vor den Armagnaken. Man klage darüber, dass diese ins Reich eingedrungen seien und ein paar »wilde Schweizer«29 getötet hätten. Andere wollten irgendeinen äußeren Feind zurückschlagen und sich an ihm für den Tod der Ihrigen rächen. Schließlich verstehe er nicht, was einige Geistliche sagen, dass es eine beklagenswerte Spaltung unter den Päpsten gebe. Da er die Sache eben nicht versteht, beschließt er, sich an die Lehre des Proverbiums zu halten: curas post tergum decet inanes mittier, d. h. sich um Dinge, die außer seiner Sicht sind, nicht zu sorgen (V. 160–169). Sich um das Reich Sorgen zu machen und sich zu streiten sei genauso sinnvoll wie der Streit zwischen Hühnchen und Hähnchen um das Futter im Käfig, wenn sie am nächsten Tag geschlachtet werden sollen. Man wisse ja nicht, ob das Reich noch länger bestehe, und schließlich sei es wichtiger, sich ums Essen als ums Reich zu kümmern. Ihm sei es schließlich egal, wer herrsche, ein Franzose oder ein Deutscher. – Diese Replik des Charinus ist zweifellos auf die aktuellen Fragen des Nürnberger Reichstags bezogen und hinterfragt zugleich ironisch die Relevanz des Verhandelten für den einzelnen Bürger. Der Reichstag zu Nürnberg befasste sich in erster Linie mit vier Themen:30 mit dem Schisma,31 mit dem Konflikt zwischen dem Reich und der Schweiz sowie den 29
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Haye [Anm. 27], S. 265 f. übersetzt die Suicenses als »Elsässer« und deutet die ganze Passage so, als beziehe sie sich auf den Armagnaken-Einfall im Elsass. Kaemmerer [Anm. 24], Einleitung, S. 226–228. Ebd., Nr. 163–196, S. 328–409.
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Armagnaken,32 mit der Osmanengefahr33 und (angesichts der weltpolitischen Ereignisse etwas in den Hintergrund gerückt) mit dem Erbschaftsstreit in Böhmen. Alle vier Themen sind hier angesprochen. Dass Enea Silvio das Problem der ArmagnakenTruppen an erster Stelle platziert, dürfte angesichts der Aktualität der Sache wenig erstaunen. Am 26. August 1444 hatten die von Friedrich III. etwas unvorsichtig gegen die Schweiz zu Hilfe gerufenen französischen Armagnaken bei der Schlacht zu St. Jakob an der Birs ein Schrecken erregendes Massaker unter den Schweizern angerichtet und daraufhin begonnen, Teile des Reichs für Frankreich zu erobern. Während des Reichstags, als die Neuigkeiten über die Armagnaken eintrafen,34 erfuhr Friedrich für sein Verhalten heftige Kritik.35 Auch später nahm Enea Silvio Piccolomini wiederholt kritisch Stellung zu diesem Problem und mahnte Friedrich zu einem entschiedenen Eingreifen. Neben den selbst ins Land gerufenen Feinden (wenngleich sie Friedrich III. als frömbdes gross Volck aus Frankchreich bezeichnet)36 interessieren noch andere ›externe‹ Feinde, die Franzosen und v. a. die Osmanen, gegen die Wladislaw III. von Ungarn zur Zeit des Reichstags einen Kreuzzug leitete, der am 10. November 1444 mit der Schlacht bei Warna katastrophal enden sollte. Immer wieder betont Enea auch später, wie wichtig es sei, Ungarn im Kampf gegen die Osmanen zu stützen, um Europa zu schützen.37 Angesichts dieser Bedrohung erscheinen interne Streitigkeiten im Reich (wie etwa der Erbschaftsstreit in Böhmen) geradezu als ein Hühnerkampf – und auch das Schisma, das und dessen Auslöser Enea schon 1440 in seinem ‘Libellus dialogorum de generalis concilii autoritate et gestis Basiliensium’ ironisch betrachtet38 und dessen Aufhebung er im ‘Pentalogus de rebus ecclesiae et imperii’ 1443 gefordert hatte,39 erschien als ein unnötiges selbstgemachtes Problem gegenüber der globalen Gefahr. Mit den Worten des Charinus werden also die aktuellen Probleme des Reichstags in der Exposition eines Theaterstücks angesprochen, das während dieses Reichstags von einem poeta laureatus verfasst worden ist. Dieser Bezug auf die aktuelle Versammlung könnte als ein Interpretationshinweis für das gesamte Stück dienen. Weitere solche Hinweise folgen an mehreren anderen Stellen der Komödie. In der nächsten, der fünften Szene, kommt Archimenides, ein Freund der beiden Kleriker, zu Canthara, der Kupplerin, in deren Haus das Abendessen schon bereitet 32 33
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Ebd., Nr. 208–223, S. 428–463. Vgl. ebd., Nr. 125, S. 276 f.: Kardinal Julian Caesarini bittet am 21.5.1444 den Kaiser, dass man auf dem Nürnberger Reichstag Maßnahmen gegen sprucissimam Macometi sectam und ihre Verbreitung durch die saraceni ergreife. Kaemmerer [Anm. 24], Nr. 208, S. 428 f. Ebd., Nr. 211–218, S. 435–447; vgl. Haye [Anm. 27], S. 242. Ebd., Nr. 215, S. 441 f. Vgl. Enea Silvio Piccolomini, Constantinopolitana clades (Rede, Frankfurt, 15.10.1454), in: Pius II., Pii II orationes politicae et ecclesiasticae, hg. von Johannes Dominicus Mansi, Bd. 1, Lucca 1755, S. 271: Sive vincitur Hungaria sive coacta iungitur Turcis, neque Italia neque Germania tuta erit neque satis Rhenus Gallos securos reddet. Worstbrock [Anm. 3], Sp. 647. Ebd., Sp. 648 f.
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ist und jeder auf die Gäste wartet. Canthara preist ihren alten Wein, den sie aus einem großen Kelch trinkt, und erklärt dabei, dass ihr Name eine Pluralform von cantharus, ‘Becher’, ‘Kelch’, sei. Sie sagt: Theucris hec largior et Boemis pocula (V. 208). Der Kelch sei größer als der der Türken und Böhmen. Hier wird also noch einmal auf zwei Probleme des Reichstags verwiesen, die damit als große Belastungen gedeutet werden. Welches aber ist die Last, die größer ist als die der Türken und der Böhmen? Ist es das Warten oder ist es die Zerrissenheit zwischen den verschiedenen Freiern? In Szene 8 versucht Sedulius seinen Kameraden Charinus zu trösten. Dieser ist entsetzt, dass die Mädchen weggegangen sind, um andere Männer zu treffen. Sedulius vergleicht die Prostituierte mit einer prosperierenden Stadt: Nam scortum fortunati est oppidi simile, quod rem non servat sine multis viris (V. 402 f.).40 Sie kann ohne zahlreiche Männer ihren Status nicht aufrechterhalten, d. h. nicht existieren. Diese Aussage müsste in anderem Kontext nicht auffallen, im Aufführungs- oder Entstehungskontext eines Reichstags aber dürfte eine Assoziation mit den zahlreichen versammelten Männern zumindest angedacht sein. In Szene 15 beklagt sich Dyophanes, einer der beiden Kleriker, über die Art und Weise, in der die Hetären ihn und seinen Freund Theobolus behandelt haben. Er erinnert sich an frühere, ähnliche Situationen: Dyophanes: Bachidem colui Maguntie. Hec me frustra occepit habere; ego dissimulare; illa me reposcere; revertor. Dum cena coquitur, miles adest; orat me Bachis cedere militi. Ego irasci, illa rogitare magis: amplectitur, osculatur, tractitat. Ego inter basiandum arripio dentibus nasum et fugio. [. . .] At quid illud? Dixin tibi quo pacto Senis dilaniarim mecam? Congrio:
Plus milies.
(V. 700–710)
In Mainz habe er Bacchis umworben, sie habe vergeblich versucht, Besitz von ihm zu ergreifen, er aber habe sich zurückgezogen. Daraufhin habe sie ihn erneut umworben, er kehrte zurück. Dann wurde ein Mahl zubereitet, und da war ein Soldat zugegen, vor dem Bacchis ihn bat zu weichen. Das aber habe Dyophanes erzürnt, während sie um so inständiger bat, ihn umarmte, küsste, streichelte. Er aber, mitten im Küssen, biss ihr die Nase ab und eilte davon. All das aber, so erklärt er kurz darauf, sei nichts dagegen, dass er in Siena eine Hetäre regelrecht zerfetzt habe – was er, wie ihm sein Diener Congrio lakonisch bestätigt, schon mehr als tausendmal erzählt hat. 40
Dies ist ein leicht abgeändertes Zitat aus Plautus’ ‘Cistellaria’, V. 80 f.: verum enim meretrix fortunati est oppidi simillima: / non potest suam rem obtinere sola sine multis viris. Titus Maccius Plautus, Komödien, hg., übers. und komm. von Peter Rau, Darmstadt 2007. Vgl. Cecchini [Anm. 4], S. 21, Stellenkommentar.
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Diese Schilderungen könnten Dyophanes als eine extrem grausame Gestalt erscheinen lassen. Ausgehend aber von der in der achten Szene getroffenen Aussage, dass Prostituierte nur dann existieren können, wenn viele Männer vorhanden sind, bietet sich eine übertragene Interpretation des Zerreißens der Hetäre an: Es könnte auch eine plötzliche Auflösung einer Versammlung von Männern bedeuten, ein Zerreißen gleichsam der ›Stadt‹, mit der die Hetäre verglichen worden war. – Im Juni 1423, während Enea Silvio in Siena studierte, wurde die Synode von Pavia nach Siena verlegt. Spätestens im März 1424 erfuhr der Papst von antipäpstlichen Tendenzen auf der Synode, und deshalb schickte er seinen Legaten Domenico Capranica, um die Synode aufzulösen. Die nächste Synode sollte 1431 in Basel stattfinden. Enea Silvio besuchte diese Synode als Sekretär des Domenico Capranica. Es war die Synode, die das Schisma begründete und die den Grundstein für Eneas Karriere legte. Deshalb ist es unzweifelhaft, dass Enea wusste, was in Siena vorgefallen war. Weniger lang zurück als die Angelegenheit in Siena, die Dyophanes schon 1000mal erzählt hat, liegt der Vorfall in Mainz. Im Jahr 1441 (also 18 Jahre nach der Auflösung der Synode von Siena) fand ein Konzil in Mainz statt, auf dem das Schisma eindringlich diskutiert wurde. Das Abendessen, bei dem die beiden konkurrierenden Freier sich in der Erzählung begegnen, könnte für das Konzil stehen, auf dem sich die Vertreter der beiden Päpste trafen. Piccolomini war zu dieser Zeit gerade der Sekretär des Gegenpapstes Felix. Er zeigt sich in seinen Berichten schwer beeindruckt von den Vertretern des Papstes, nämlich Nicolaus Cusanus und Juan Carvajal. Nach einem hoch theologischen Disput zwischen den beiden Parteien, der jedoch zu keinem Ergebnis führte, gingen die päpstlichen Repräsentanten schlagartig weg. Dadurch verursachten sie indirekt die Auflösung des Konzils, da es seiner prominentesten und wichtigsten Gäste beraubt war,41 so wie die Hetäre ihrer Nase beraubt war und mit dieser ihre Existenzgrundlage in ihrem Gewerbe verlor. Dyophanes, der einmal mit Capranica, einmal mit Cusanus und Carvajal zu identifizieren ist, also in jedem Fall mit dem Abgesandten des Papstes, dem officialis curiae (um die Abkürzung offi über dem Namen ›Dyophanes‹ zu deuten) gleichgesetzt werden kann, hat die Prostituierten entweder eines wichtigen Teils ihres Gesichts beraubt oder aber sie in Fetzen gerissen: Demnach darf man wohl die Huren als metaphorische Abbilder für die Synode bzw. das Konzil deuten. Folglich dürfen wir auch Chrysis, die Hetäre, deren Name der Krise entspricht, derentwegen man nach Nürnberg ging, (oder aber auch Cantharas ganzes Hurenhaus) mit dem Reichstag in Nürnberg (stellvertretend evtl. für alle Reichstage) identifizieren. Das könnte erklären, weshalb es Enea so wichtig war zu betonen, dass das Stück in Nürnberg entstanden ist. Canthara, die dem Hurenhaus vorsteht, könnte demnach entweder den Kaiser selbst repräsentieren oder die zentralen Kräfte des Reichs. Diese müssen große Kelche leeren, größer als die Kelche der Türken oder Böhmen, d. h., es muss für den Kaiser noch größere Belastungen geben als die Türken und die Böhmen. 41
Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Friedrich III. 1. Abteilung: 1440–41, hg. von Hermann Herre (DRA, Ältere Reihe, 15), Gotha 1914, S. 861.
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Wenn wir in Canthara den engen Kreis um Friedrich sehen, dann erschließt sich uns auch eine andere Szene im Spiel: Als Charinus, der in der vierten Szene behauptet hat, sich nicht für die Dinge des Reichs zu interessieren, sich in der achten Szene fragt, wie er in Cantharas Haus gelangen könnte, fordert ihn Lybiphanes (der Diener des Sedulius) auf, ihm eine Münze zu geben: Cedo argentum; cuius est ymagine / sygnatum? (V. 428 f.) – Diese Frage nach dem Abbild auf der Münze wie auch die Antwort, Cesaris (V. 428), sind aus Mt 22,15–22 entnommen. Überraschend ist die Fortsetzung des Dialogs: Lybiphanes erwidert: At hec novit Cesarem, / et te lubentius quam Lubentiam / agnoscet (V. 429–431): Diesen Kaiser kenne Canthara und sie werde ihn noch lieber haben als die Lust, wenn er ihr diesen Kaiser (d. h. Geld) zeige. Durch die biblische Anspielung wird hier Canthara, die Geldgierige, die keinen anderen Kaiser (und keinen anderen Gott) anerkennt als das Geld, als besonders negativ charakterisiert, negativer als man es für eine Kupplerin erwarten könnte, deren Profitdenken selbstverständlich ist. Wenn man allerdings in Canthara ein Abbild des engsten Kreises um Friedrich sieht, dann wirft dies ein sehr negatives Licht auf den Hof, der nur dem Geld des Kaisers dient, nicht ihm selbst. Deshalb kann man den Hof natürlich auch, wie Lybiphanes es beschreibt, mit Geld für sich gewinnen. Ein weiteres zweifelhaftes Licht wird im Text auf Friedrich und seinen Hof geworfen: Während der langen Zeit, als die beiden Kleriker auf die Hetären warten, damit das Abendessen (der Reichstag) stattfinden kann, wird der Koch ungeduldig. Schließlich erliegt er der Versuchung, etwas von den angerichteten Platten zu essen. Sed huius quid si crus alterum voro gruis? Facile hoc genus avis dicam monopedum, que semper in pratis uno consistit pede. (Szene 7, V. 369–371)
Er überlegt sich, dass es nicht schlimm sei, wenn er eines der Beine eines Kranichs essen würde, da man leicht behaupten könne, dass diese Vogelart einbeinig sei, da der Kranich ja auf der Wiese immer auf einem Bein stehe. Diese gewitzte Entschuldigung für den Raub eines dürren Kranichbeins erhält eine zweite, tiefere Dimension, wenn man die Darstellung des Kranichs in der ‘Naturalis historia’ (X,30) des Plinius, welche die Frühhumanisten mit besonderem Eifer rezipierten, mit bedenkt. Dort heißt es, dass, wenn eine Gruppe von Kranichen sich irgendwo niederlasse, um zu schlafen, einer von ihnen wach bleibe und die Verantwortung für die ganze Gruppe übernehme. Er halte dann einen Stein in den Krallen eines Fußes und hebe diesen hoch, so dass, falls er einschlafen sollte, der Stein herunterfalle und ihn aufwecke. Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit gilt daher der Kranich als ein Symbol für Wachsamkeit und Verantwortung für die Gesellschaft. Wenn nun der Koch behaupten will, der Kranich habe nur ein Bein, widerspricht er diesem Bild der Wachsamkeit. In der Tat hatte der ›Kranich‹, der die Verantwortung für die gesamte Gemeinschaft, das Reich und die gesamte christliche Welt, übernehmen sollte, sich verfehlt und war dabei, seinen Fehler zu wiederholen: Er hatte unachtsam die Armagnaken ins Reich geholt, und er tat nichts, um Europa gegen die Osmanen zu schützen, ebenso wenig sah er seine Verpflichtung, dem Schisma endlich ein Ende zu setzen. Ist aber der Kaiser
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selbst schuld daran, oder war es sein Hof, der ihm das zweite Bein nahm und ihm damit verwehrte, seiner Aufgabe nachzukommen? Seit der Synode von Siena hatte Enea Silvio die Fronten mehrfach gewechselt: Von der Seite des Papstes war er auf die Seite des Konzils von Basel gewechselt, und in Nürnberg stand er kurz davor, seine Seite erneut zu wechseln, zurück zum Papst.42 Ebenso wechseln die beiden Hetären von den zwei Klerikern, deren Namen ›Theobolus‹ und ›Dyophanes‹ sie als Repräsentanten der göttlich-kirchlichen Seite markieren, zu den weltlichen Freiern Charinus und Sedulius und bekehren sich schließlich doch wieder zu den von ihnen geliebten Klerikern. Piccolomini hätte es sich gewünscht, dass der Kaiser denselben Weg beschritt und das Reich mit dem Papst versöhnte. Es war aber zu erwarten, dass das Reich seine Neutralität (oder Unentschiedenheit) zwischen Papst und Gegenpapst nicht aufgäbe, weshalb Enea Silvio besonders unzufrieden mit dem Fortgang des Nürnberger Reichstags war. Lybiphanes: Eum qui amat hominem miserrimum. Charinus: Imo, ecastor, qui pendet multo est miserior!43 Sed consule, obsecro atque reobsecro, mihi. (V. 415–417)
Denjenigen, der liebt, halte er für den beklagenswertesten Menschen, erklärt Lybiphanes in Szene 8. Charinus wendet ein, dass es dem, der unentschieden sei, noch weit übler gehe. Um aber nicht in der Klage zu verharren, bittet er flehend um Rat. Die eine Partei ringt mühsam um die Entscheidung, ob sie bleiben oder gehen sollte, die andere Seite aber will sich gerade nicht entscheiden. Canthara will nicht, dass ihre Mädchen sich je nur einem Freier hingeben. Ebenso wenig wollten Friedrich III. und seine engsten Berater die Neutralität des Reichs aufgeben.44 Zusammenfassend sei folgende Interpretation der Komödie gewagt: Das Spiel dient einer ironischen, aber wohlwollenden Kritik der Haltung des Kaisers und seiner engsten Berater (denen es nicht immer um den Kaiser selbst, sondern um Gewinn gehe) sowie des Nürnberger Reichstags. Gehüllt in das Gewand einer Hurenkomödie, wird der Reichstag, das ›Hurenhaus‹, das nur von einem Zusammenkommen vieler Männer leben kann, kritisch dargestellt als ein Ort, der von der Unentschiedenheit lebt. Die Unentschiedenheit, die Freundschaft mit beiden Parteien des Schismas aber kann auf Dauer nur zu Konflikten führen. Im Bild der Hetäre, die sich mal für die eine, mal für die andere, dann wieder für die erste Seite entschieden hat, gibt sich Enea selbst zu erkennen, der sich exemplarisch für die intellektuellen Kräfte im 42 43
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Vgl. Worstbrock [Anm. 3], Sp. 635–637. Dieser Dialog ist – für diesen Hinweis danke ich Herrn Frank Bezner – ein leicht abgeändertes Zitat von Plautus’ ‘Asinaria’, V. 616 f.: Leonida: O Libane, uti miser est homo qui amat. Libanus: Immo hercle vero, qui pendet multo est miserior. Bei Plautus bedeutet pendet ‘hängt’ im Sinne von ‘erhängt sein’. Diese Bedeutung aber ist im gegebenen Kontext auszuschließen, da in ‘Chrysis’ weder eine Gefahr für die Liebenden noch eine sonstige gefährliche Angelegenheit wie die Betrugs- und Diebstahlgeschichte in ‘Asinaria’ thematisiert wird. Zum ‘Pentalogus’ des Enea Silvio Piccolomini als einem Ausdruck der Kritik des Dichters an der ›Schlaffheit‹ des jungen Herrschers vgl. Widmer [Anm. 2], S. 48.
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Reich sieht. Seine endgültige Entscheidung für die Kleriker aber entspricht einer Liebe, die ebenso wie die Namen und der Stand der beiden Freier darauf hinweist, dass dies die Seite des ›echten‹ Papstes sei. Mit dem Spiel scheint es Enea dem Kaiser nahezulegen, dass er eine Entscheidung zu fällen habe, ggf. auch gegen seine Räte, aber im Sinne des Reiches – und zwar eine Entscheidung für den Papst. Diese gehöre zu den Pflichten eines wachsamen, aufmerksamen Kaisers, der leider schon mehrfach nicht aufmerksam war – geblendet durch seine falschen, eigensinnigen Berater. Im Mai 1444, bevor der Nürnberger Reichstag zusammentraf, schrieb Enea an den päpstlichen Legaten Juan Carvajal, auf seine Frage, was er sich vom Reichstag erwarte, dürfe er in seiner Position nicht antworten; er könne nur als Dichter eine Prophezeiung schreiben, quia poetarum est presagia scribere: Er erwarte nicht, dass der Nürnberger Reichstag auch nur im Geringsten steriler sein werde als die anderen, denn: fecunde sunt omnes diete, quelibet in ventre alteram habet.45 Wieder vergleicht hier Enea den Reichstag mit einer Frau: Jeder Reichstag geht bereits mit dem nächsten schwanger. Eine Lösung aus diesem Zirkel scheint es nicht zu geben – es sei denn, dass, um wieder im Bild der ‘Chrysis’ zu sprechen, endlich die ersehnte Versöhnung mit den Vertretern des Papstes stattfinde. Eine Hochzeit zwischen den Huren und den Klerikern freilich wird es auch in der Komödie ‘Chrysis’ nicht geben. Die Kleriker nämlich betonen stolz ihr Privileg, ihre Allianzen so oft zu wechseln, wie sie es wollen. Damit aber muss die Hetäre eine Hetäre bleiben und ist weiter von Reichstagen, von Ansammlungen vieler Männer, abhängig. Die Politik wird nicht zu einem Ruhestand kommen. Mit einer solchen verschlüsselten politischen Aussage in einer Komödie wäre – wofern man meiner Deutung folgen möchte – Enea Silvio ein Vorreiter einer literarischen Tendenz, die sich später u. a. bei Johannes Reuchlin und dem Celtis-Umkreis beobachten lässt.46 Dass freilich gerade die auf Reichstagen präsentierte Literatur, bedingt durch den Entstehungs- und Aufführungskontext, nicht unpolitisch war, liegt nahe und ist auch wiederholt beobachtet worden.47 Eine systematische Erforschung allerdings des (versteckten) kritischen Potenzials im Korpus der für Reichstage entworfenen Werke steht noch aus.
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Enea Silvio Piccolomini an Juan Carvajal, Wien 20. Mai 1444, ebd., S. 192–195; Wolkan [Anm. 1], I,139. Dietl [Anm. 11], bes. S. 160–174. Ich danke Herrn Kollegen Reinhard Strohm, Oxford, für einen Hinweis auf politische Symphonien auf Reichstagen.
Die Editionen der ‘Klage’ Hartmanns von Aue von Kurt Gärtner
Von allen Werken Hartmanns ist seine ‘Klage’, die allgemein als ein Frühwerk angesehen wird, von der Forschung am wenigsten beachtet worden. Dies zeigen auch die editorischen Bemühungen um die ‘Klage’. Nach den im 19. Jahrhundert erschienenen Ausgaben von Moriz Haupt und Fedor Bech sind erst in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder neue Ausgaben erstellt worden, dann allerdings zwischen 1968 und 1979 gleich drei konkurrierende Neuausgaben, die inzwischen jedoch sämtlich wieder vergriffen sind. Ich werde im Folgenden zunächst kurz auf die Überlieferung der ‘Klage’ eingehen (I), dann einen Überblick über die bisher erschienenen Editionen des 19. Jahrhunderts (II) und des 20. Jahrhunderts (III) geben und schließlich einen Vorschlag für eine Neuausgabe machen (IV), bei der ich auf Rat und Hilfe des Jubilars hoffe.
I Die ‘Klage’ ist nur im Ambraser Heldenbuch überliefert, dem Cod. Ser. nova 2663 der Österreichischen Nationalbibliothek.1 Nach der herkömmlichen Gliederung teilt man die in dem umfangreichen Codex überlieferten Werke in vier Bereiche, einen ersten mit Hartmanns Werken im Mittelpunkt, einen umfangreichen zweiten mit Heldenepik, einen dritten mit österreichischer Kleinepik und schließlich einen kurzen Anhang mit Wolframs ‘Titurel’ und dem ‘Priester Johannes-Brief’. Der erste Bereich umfasst die folgenden Werke: 1ra – 2rb 2va – 5vc 5vc – 22rc 1
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1. Strickers ‘Frauenehre’ (unvollständig, nur V. 1321–1820, Hs. d),2 2. ‘Mauritius von Crauˆn’ (einzige Hs.),3 3. Hartmann von Aue, ‘Iwein’ (Hs. d),4
Vgl. Johannes Janota, Ambraser Heldenbuch, in: 2VL 1 (1978), Sp. 323–327 (mit der wichtigsten Lit.); Beschreibungen von Hermann Menhardt, Verzeichnis der altdeutschen literarischen Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek, 3 Bde. (Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur 13), Berlin 1960/61, S. 1469–1478, und Franz Unterkircher, Ambraser Heldenbuch. Vollständige Faksimile-Ausgabe im Originalformat des Codex Vindobonensis ser. nova 2663 der Österreichischen Nationalbibliothek. Kommentar (Codices Selecti 43), Graz 1973. Nach der Ausgabe von Klaus Hofmann, Strickers ‘Frauenehre’. Überlieferung, Textkritik, Edition, literaturgeschichtliche Einordnung, Marburg 1976. Mauritius von Crauˆn, hg. von Heimo Reinitzer (ATB 113), Tübingen 2000. Hartmann von Aue, Iwein, der Ritter mit dem Löwen, hg. von Emil Henrici. Erster Teil: Text, Zweiter Teil: Anmerkungen (Germanistische Handbibliothek VIII), Halle a. d. S. 1891 und 1893, für den Vergleich mit der Überlieferung im Ambraser Heldenbuch besser geeignet als die Standardausgabe: Iwein. Eine Erzählung von Hartmann von Aue, hg. von Georg Friedrich Benecke und Karl Lachmann. Neu bearbeitet von Ludwig Wolff. Siebente Aus-
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22rc –26va 4. Hartmann von Aue, ‘Die Klage’ (auch ‘Erstes Büchlein’; einzige Hs.),5 26va – 28rb 5. ‘Das Büchlein’ (auch ‘Zweites Büchlein’; einzige Hs.),6 28rb – 30rb 6. ‘Der Mantel’ (unvollständig, Schluß fehlt, einzige Hs.);7 direkt anschließend ohne Rubrik und ohne eigenen Anfang folgt: 30rb – 50vb 7. Hartmann von Aue, ‘Erec’ (Anfang fehlt und Lücke in der Mitte, Hs. A).8 Fast 45 von 50 Blättern dieses ersten Bereichs werden mit Hartmanns Werken gefüllt, mehr als ein Fünftel der gesamten Handschrift. Sieht man von den beiden ersten Werken sowie vom pseudo-hartmannschen ‘Zweiten Büchlein’ und dem ‘Mantel’Fragment ab, so haben wir einen ausgesprochenen Œuvre-Block vor uns. Der Codex wurde zwischen 1504 und 1515/16 von Hans Ried für Kaiser Maximilian I. geschrieben und enthält, soweit das nachprüfbar ist, nur Werke, die vor 1300 entstanden sind. Die vielen Unika machen diese Sammlung zu einem einzigartigen Objekt der Mittelalterphilologie. Nicht nur die Textkritik der in dieser Handschrift unikal überlieferten Werke, sondern auch die Textgeschichte und die Frage nach den Vorstufen und Vorlagen aller 25 überlieferten Texte gehören zu den spannendsten Aufgaben, die sich einer an den Überlieferungsfakten orientierten Forschung stellen. Für den Hartmann-Block ist eine Sammelhandschrift oder gar Œuvre-Handschrift als Vorlage wohl nicht ganz auszuschließen, zumindest dürfen als Vorstufen Überlieferungsgemeinschaften angenommen werden wie die so gut wie sichere von ‘Mantel’ und ‘Erec’ und wohl auch die von ‘Klage’ und ‘Zweitem Büchlein’, schließlich auch die heterogene Kombination von Strickers ‘Pfaffen Amis’ und ‘Iwein’. Bei der Untersuchung des einzelnen Textes muss immer die Kopistenleistung Hans Rieds in den Mittelpunkt gerückt werden, gerade nachdem wir über ihn und seine Sprache seit kurzem mehr erfahren können durch das von Angela Mura bekannt gemachte umfangreiche Zollregister von seiner Hand.9 Außerdem hat man bei der Betrachtung des
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gabe. Band 1: Text, Band 2: Handschriftenübersicht, Anmerkungen und Lesarten, Berlin 1968. Hartmann von Aue, Die Klage. Das (zweite) Büchlein aus dem Ambraser Heldenbuch, hg. von Herta Zutt, Berlin 1968 [mit synoptischem Abdruck einer Transkription der Handschrift]; Das Klagebüchlein Hartmanns von Aue und das Zweite Büchlein, hg. von Ludwig Wolff (Altdeutsche Texte in kritischen Ausgaben 4), München 1972, und Hartmann von Aue, Das Büchlein. Nach den Vorarbeiten von Arno Schirokauer zu Ende geführt und hg. von Petrus W. Tax (Philologische Studien und Quellen 75), Berlin 1979. Ausgaben siehe vorige Anmerkung. Zur Verfasserschaft vgl. zuletzt Thomas Bein, »mit fremden Pegasusen pflügen«. Untersuchungen zu Authentizitätsproblemen in mittelhochdeutscher Lyrik und Lyrikphilologie, Berlin 1998, S. 289–295. Zum Werktitel vgl. Wolf Gewehr, Hartmanns ‘Klagebüchlein’ als Gattungsproblem, in: ZfdPh 91 (1972), S. 1–16. Das Ambraser ‘Mantel’-Fragment nach der einzigen Handschrift neu herausgegeben von Werner Schröder (Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main 33,5), Stuttgart 1995, S. 121–177. Erec von Hartmann von Aue. Mit einem Abdruck der neuen Wolfenbütteler und Zwettler Erec-Fragmente, hg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff, 7. Aufl. besorgt von Kurt Gärtner (ATB 39), Tübingen 2006. Angela Mura, Spuren einer verlorenen Bibliothek. Bozen und seine Rolle bei der Entstehung
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Einzeltextes in der Vorlagenfrage stets die gesamte Handschrift vergleichend heranzuziehen, denn nur so lässt sich über Rieds Schreib- und Sprachgebrauch auch in den unikal überlieferten Texten mehr Aufschluss erzielen. Dies gilt für den ‘Erec’ wie für die ‘Klage’; zu beiden Werken hat Albert Leitzmann detaillierte Untersuchungen zur Kopistenleistung Rieds vorgelegt, die immer noch grundlegend sind.10 Leitzmann hat schließlich auch darauf hingewiesen, dass von den Herausgebern der ‘Klage’ im 19. Jahrhundert keiner das Ambraser Heldenbuch selbst eingesehen hat. Im Falle des ‘Erec’ wie der ‘Klage’ bildete eine von der Wiener Bibliothek veranlasste Kopie die Grundlage für die erste kritische Ausgabe.11 Für die drei Ausgaben des 20. Jahrhunderts wurden aber stets Photographien der Handschrift herangezogen.
II Die ersten editorischen Bemühungen um die ‘Klage’ setzen mit Friedrich Heinrich von der Hagen (1780–1856) ein, der als letztes Gedicht in der zweiten Nachlese zu seinen ‘Minnesingern’ den an die Dame gerichteten Schlussteil der ‘Klage’ kritisch edierte.12 Von der Hagen erkannte den kunstvollen Aufbau dieses Teils, der in 15 Strophen gegliedert ist, von denen jede gegenüber der vorausgehenden um zwei Verse abnimmt, bis aus den 32 Versen der ersten Strophe vier Verse der letzten geworden sind. Er zählte die Strophen durch von 1 bis 15 und bezeichnete das Stück als ‘Leich’. Von der Hagen nahm zahlreiche Besserungen vor, die sich meist mit denen späterer Herausgeber decken.13 Auch lokalisierte er den Ausfall zweier Verse richtig nach 1799 statt schon nach 1796 wie die Ausgaben des 19. Jahrhunderts. Das ‘Zweite Büchlein’ schrieb er in seinem Überblick über die Dichter nicht Hartmann zu bzw. er stellte gar nicht die Frage, ob es sich um ein Werk Hartmanns handeln könnte.14 Den ersten vollständigen kritischen Text der ‘Klage’ veröffentlichte Moriz Haupt (1808–1874) in einem 1842 erschienenen Bändchen, das Hartmanns Lieder, die beiden Büchlein und den ‘Armen Heinrich’ enthielt.15 Zum Werktitel schreibt er in der
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des Ambraser Heldenbuchs (1504–1516), in: cristallıˆn wort. Hartmann-Studien 1 (2007). Rahmenthema: Das Ambraser Heldenbuch, hg. von Waltraud Fritsch-Rößler, Wien 2007, S. 59– 128; vgl. Kurt Gärtner, Hartmann von Aue im Ambraser Heldenbuch, in: ebd., S. 199–212. Albert Leitzmann, Die Ambraser Erecüberlieferung, in: PBB 59 (1935), S. 143–234, und ders., Zu den Ambraser Büchlein, in: PBB 57 (1933), S. 413–417. In seinem Erec-Beitrag gibt Leitzmann S. 189–200 auch einen Überblick über die bisherige Beurteilung der Kopierpraxis Rieds, allerdings ohne Kenntnis der Arbeiten von Hubert Schützner, Die Abschrift des Iwein im Ambraser Heldenbuch, Diss. masch. Wien 1930, und Rudolf Zimmerl, Hans Rieds Nibelungenkopie, Diss. masch. Wien 1930. Vgl. Leitzmann, Zu den Ambraser Büchlein [Anm. 10], S. 416. Minnesinger. Deutsche Liederdichter des zwölften, dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts, aus allen bekannten Handschriften und früheren Drucken gesammelt und berichtigt [. . .] von Friedrich Heinrich von der Hagen, 4 Bde., Leipzig 1838 (Nachdr. Aalen 1963), hier der Schluss des Teilbandes 3,1, S. 368ff–hh. So z. B. zu V. 1657 vil; 1693 vrument, 1697 enwerde, 1730 niht, 1837 mich, 1842 war, 1886 er. Minnesinger [Anm. 12], Teilband 4, S. 274 f. Die Lieder und Büchlein und der Arme Heinrich von Hartmann von Aue, hg. von Moriz Haupt, Leipzig 1842; die ‘Klage’ S. 25–85.
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Einleitung (S. VI f.): »[. . .] die beiden ungedruckten büchlein, denen ich diesen namen gegeben habe weil das zweite sich selbst so nennt und das erste derselben gattung angehört«. Zur Verfasserschaft des Zweiten Büchleins stellt er fest (S. VIII): »zum glück ahnte ich, ein gedicht das mitten zwischen Hartmannischen steht, zwischen dem ersten büchlein und dem Erec, bl. 26–28, werde wohl auch von Hartmann sein: jetzt wird niemand daran zweifeln, obwohl sich der dichter nicht nennt.« Als Hauptgrund für die Zuschreibung an Hartmann nennt er die Selbstzitate, besonders die Verse 121– 153, die vielfach den gleichen Wortlaut haben wie Hartmanns Lied MF 214,12. Die fortgesetzten wörtlichen Anlehnungen an alle Dichtungen Hartmanns, einschließlich seines vermutlich letzten Werkes, des ‘Iwein’, waren – neben reimtechnischen und anderen Merkmalen – für die spätere Forschung jedoch der Hauptgrund für die Ablehnung der Zuschreibung. Auch unterscheidet sich die sehr verderbte Überlieferung der ‘Klage’ auffallend von der ausgezeichneten Überlieferung des ‘Zweiten Büchleins’ im Ambraser Heldenbuch. Dennoch erscheint auch in den jüngsten Ausgaben noch nach dem Vorbild Haupts das ‘Zweite Büchlein’ zusammen mit der ‘Klage’. Nachdem 1827 die Ausgabe des ‘Iwein’ von Georg Friedrich Benecke und Karl Lachmann,16 1838 die des ‘Gregorius’ von Lachmann17 und schließlich 1839 Haupts Ausgabe des ‘Erec’ erschienen waren,18 lag nun mit Haupts Edition der ‘Klage’ und der Lieder das gesamte Werk Hartmanns von Aue in kritischen Ausgaben vor. In einer Selbstanzeige der Ausgabe mit der ‘Klage’ resümiert Haupt die editorischen Bemühungen um Hartmanns Werke:19 Zusammenstellung und Herausgabe dieses Buches veranlassten zwei ungedruckte Gedichte Hartmanns von Aue, die ich, mit einem im dreizehnten Jahrhunderte gangbaren und von dem zweiten selbst gebrauchten Ausdrucke, Büchlein genannt habe, weil unter der Bezeichnung Liebesbriefe Niemand Gedichte von 1914 und von 826 Zeilen vermuthen würde. Es schien mir rathsam, diesen Büchlein, die ich aus arger Entstellung nur mit der freundlichen Hilfe des Hrn. Prof. Lachmann herausarbeiten konnte, Hartmanns Lieder und den armen Heinrich beizufügen, damit ein viertes Bändchen zusammenfasste, was ausser dem Erec, dem Gregorius und dem Iwein von diesem Dichter uns übrig ist.
Auf die mangelnde Qualität der Textüberlieferung und die Hilfe Lachmanns hatte Haupt schon in der Einleitung zur Ausgabe des Büchleins hingewiesen:20 dieses büchlein ist in der handschrift auf das ärgste verderbt und ich hätte es aus dieser zerrüttung mit allem fleisse (und an mühe habe ich es nicht fehlen lassen) nicht in leidliche gestalt zu bringen vermocht, wenn nicht der scharfsinn Lachmanns, dessen beistand und gewohnte güte auch bei den übrigen gedichten mich erfreut und ermuntert hat, mir zur hilfe gekommen wäre. dennoch warten noch manche stellen auf verbesserung.
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Iwein der riter mit dem lewen, getihtet von dem hern Hartman dienstman ze Ouwe, hg. von Georg Friedrich Benecke und Karl Lachmann, Berlin 1827. Gregorius. Eine Erzählung von Hartmann von Aue, hg. von Karl Lachmann, Berlin 1838. Erec. Eine Erzählung von Hartmann von Aue, hg. von Moriz Haupt, Leipzig 1839. Repertorium der gesammten deutschen Literatur 33 (1842), S. 475 f. Haupt [Anm. 15], S. VII.
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Haupt hat die Ambraser Handschrift freilich nie selbst eingesehen, sondern stützte sich für seine Ausgabe wie schon beim ‘Erec’ auf eine nicht ganz fehlerfreie Abschrift, die er »der gefälligkeit des aufsehers der Ambraser sammlung, des herrn Joseph Bergmann,« verdankte.21 Nur in der Kennzeichnung der Initialen scheint er seiner Abschrift nicht getraut zu haben und hat deshalb die Übereinstimmung der handschriftlichen Initialen mit den Abschnittsanfängen, die in seiner Ausgabe mit eingerückten Zeilen und Großbuchstaben am Zeilenanfang gekennzeichnet sind, im Apparat nicht festgehalten. An rund 50 Stellen hat Lachmann Besserungen zum edierten Text vorgeschlagen, die Haupt fast alle übernommen hat. Er selbst hat an vielen Stellen den in der späten Handschrift verderbt überlieferten Text durch seine Verbesserungen verständlich gemacht, von denen der größte Teil in die späteren Ausgaben übernommen worden ist. Für den einen Vers 1295, den er nicht zu bessern wusste, setzt er den Wortlaut der Handschrift in den Text und weist im Apparat auf das Problem hin. Haupts Ausgabe bietet einen nach dem Vorbild Lachmanns normalisierten Text und einen übersichtlich gehaltenen Lesartenapparat unter dem Text. Auf die sprachlichen Besonderheiten der handschriftlichen Überlieferung weist er ganz selten hin.22 Nur gelegentlich sind im Apparat erläuternde Anmerkungen zum Verständnis des Textes geboten. Für weit über 100 Jahre hatte Haupts Ausgabe kanonische Geltung, sie bot die wissenschaftliche Textgrundlage für die Forschung, nach ihr wurde in der Regel auch die ‘Klage’ zitiert. Auf Haupts Text geht auch noch die kleine Auswahl von Stücken aus der ‘Klage’ zurück, die Friedrich Maurer 1958 veröffentlichte.23 Eine zweite Auflage der Ausgabe Haupts besorgte Ernst Martin 1881;24 die Lieder sind darin weggelassen, weil sie inzwischen in ‘Minnesangs Frühling’ Aufnahme gefunden hatten.25 In dieser Ausgabe »sind die nachbesserungen in Haupts handexemplar und die grossentheils damit zusammenfallenden in den anmerkungen zur zweiten auflage des Erec« an über 60 Stellen eingetragen worden.26 Dabei handelt es sich in der Mehrzahl um die rund 50 Besserungsvorschläge, die Wilhelm Wackernagel 1844 veröffentlicht hatte.27 Alle Änderungen zu den Lesarten in Haupts Apparat 21
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Vgl. die Einleitung zur Ausgabe [Anm. 15], S. VII; dazu die Kritik Leitzmanns, in: PBB 57 [Anm. 10], S. 416 f. mit einer Auflistung der zahlreichen Abschreibefehler in den Lesarten, die in von der Hagens Abdruck des Schlussgedichts [Anm. 12] richtig wiedergegeben sind. Z. B. zu V. 10 naˆch ir gebote heißt es im Apparat: »10. irem. so durchgängig possessive formen für den gen. ir.« Hartmann von Aue: Der »Arme Heinrich« nebst einer Auswahl aus der »Klage«, dem »Gregorius« und den »Liedern« (mit einem Wörterverzeichnis) hg. von Friedrich Maurer (Sammlung Göschen Band 38), Berlin 1958, S. 9–16, abgedruckt sind die Verse 1–82, 581– 640, 730–792, 1269–1348; 2., verb. Aufl. 1968. Der arme Heinrich und die Büchlein von Hartmann von Aue, hg. von Moriz Haupt. Zweite Auflage der »Lieder und Büchlein und des Armen Heinrich«, besorgt von Ernst Martin, Leipzig 1881. Des Minnesangs Frühling, hg. von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Leipzig 1857, S. 205– 218, Lesarten S. 315–320. Martin [Anm. 24], im Vorwort S. XVIII. Wilhelm Wackernagel, Zu Hartmann von Aue, in: ZfdA 4 (1844), S. 580.
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hatte Martin jedoch durch Joseph Seemüller an der Handschrift in Wien überprüfen lassen.28 Haupts Ausgabe bildete die Grundlage für die 25 Jahre später in Franz Pfeiffers populärer Reihe ›Deutsche Classiker des Mittelalters‹ erschienene Ausgabe von Fedor Bech (1821–1900), die 1867 zuerst herauskam und zwei weitere Auflagen (1873, 1891) erlebte sowie einen unveränderten Nachdruck der zuletzt von Bech besorgten 3. Auflage (1934).29 Bech äußerte gegen Haupt schon Zweifel an der Echtheit des ‘Zweiten Büchlens’30 und hatte den bis dahin gebrauchten Werktitel ‘Erstes Büchlein’ in der 3. Auflage in ‘Klage’ geändert nach der von Hartmann V. 30 gebrauchten Bezeichnung.31 Dem Programm der Reihe entsprechend, die mit ihren kommentierten Ausgaben die mittelhochdeutschen Dichtungen für einen weiten Leserkreis zugänglich machen wollte, versuchte Bech im 2. Teil seiner Hartmann-Ausgabe, die ursprünglich vor dem 1. Teil mit dem ‘Erec’ erscheinen sollte, noch reichlicher zu kommentieren und mit den ausführlichen Erklärungen zugleich »in die Sprache Hartmann’s einzuführen«.32 Was den Text betrifft, so hat sich Bech »in den Liedern und Büchlein, einzelne Stellen abgerechnet, den laufenden Textrecensionen angeschlossen«,33 d. h. dem Text Haupts. Für die 2. und 3. Auflage hatte er die inzwischen erschienenen textkritischen und literaturgeschichtlichen Beiträge berücksichtigt, insbesondere die von Hermann Paul34 und Franz Saran.35 In den fortlaufenden Erläuterungen zum mittelhochdeutschen Text liegt das Hauptverdienst der Ausgabe Bechs. Über die Probleme, die sich ihm dabei stellten, äußert er sich in der Einleitung zum 2. Teil seiner HartmannAusgabe:36 Das Verständniss der Sprache zu erschließen und zu fördern, hat sich der Ausleger nach Kräften bemüht, obwohl er bekennen muß, daß hie und da noch dunkle Stellen übrig geblieben sind, in denen es ihm beim besten Willen nicht hat gelingen wollen, den Schleier zu lüften. Zum größten Theile beruhen derartige Schwierigkeiten auf mangelhafter Überlieferung der Texte. Namentlich war dieß der Fall im ersten Büchlein; diese Dichtung weist verhältnissmäßig die meisten Punkte auf, welche die Kritik noch nicht zu bewältigen gewusst hat. 28 29
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Martin [Anm. 24], im Vorwort S. XIX. Hartmann von Aue, hg. von Fedor Bech. Zweiter Theil: Lieder. Erstes Büchlein. Zweites Büchlein. Greˆgorjus. Der Arme Heinrich, Leipzig 1867, 2. Auflage 1873; 3. Auflage [unter dem Titel: Lieder. Die Klage. Büchlein. Greˆgorjus. Der Arme Heinrich] 1891 (Deutsche Classiker des Mittelalters. Mit Wort- und Sacherklärungen, hg. von Franz Pfeiffer, 5. Band: Hartmann von Aue. Zweiter Theil); die ‘Klage’ S. 35–103. 1. Auflage [Anm. 29], S. 107 f. 3. Auflage [Anm. 29], S. VI; V. 29 f. daz was von Ouwe Hartman, / der ouch dirre k l a g e began. 1. und 2. Auflage [Anm. 29], S. VI. Ebd., S. VII. Hermann Paul, Kritische bemerkungen zu mittelhochdeutschen gedichten. 2. Zu Hartmanns erstem büchlein, in: PBB 1 (1874), S. 205–207. Franz Saran, Hartmann von Aue als Lyriker. Eine literarhistorische Untersuchung, Halle 1889. 1. Auflage [Anm. 29], S. V f., 2. Auflage, S. VI.
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Die Erläuterungen mit ihrer Fülle von Sprach- und Sacherklärungen sind immer wieder auch nachprüfbar gemacht durch Verweise auf Wörterbücher, Grammatiken, den Wortgebrauch in Hartmanns übrigen Werken und anderen mittelhochdeutschen Texten. Die stärkeren Abweichungen vom Text Haupts werden in der Regel begründet; in der 3. Auflage ist aber zu beobachten, dass Bech öfter zum Text Haupts zurückkehrt. Neu gegenüber Haupt waren in der 1. und 2. Auflage die zahlreichen Lesehilfen: Vor allem Verse mit beschwerten Hebungen und mehrsilbigen Senkungen waren durch Betonungszeichen und Elisionspunkte reguliert und die rhythmische Mehrdeutigkeit dadurch beseitigt worden. In der 3. Auflage hat Bech dann von metrischen Regulierungen abgesehen und diese Lesehilfen weggelassen; auch benutzte er nicht mehr den vorwiegend zur Kennzeichnung metrischer Verhältnisse gebrauchten Apostroph zur expliziten Markierung von Enklitika, Wortverkürzungen und Wortverschmelzungen. Aus heutiger Sicht scheint diese Skepsis gegenüber einer zu weit gehenden metrischen Regulierung durchaus berechtigt, denn für sein Frühwerk, zu dem die ‘Klage’ mit dem ‘Erec’ allgemein gerechnet wird, hatte Hartmann als Vorbild hauptsächlich die sehr viel freieren Formen des frühhöfischen Verses, den er dann aber weiterentwickelte.37 Neu gegenüber Haupt in allen Auflagen Bechs ist die Abkehr von der sparsamen Interpunktion nach dem Vorbild Lachmanns, die noch ganz von rhetorischen Prinzipien bestimmt ist und die Reimbrechung sehr viel deutlicher macht als die im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend von syntaktischen Prinzipien geprägte neuhochdeutsche Interpunktion, die von den Herausgebern inzwischen immer stärker auch für die Interpunktion mittelhochdeutscher Texte benutzt wurde. Freilich findet sich bei Bech noch keine Überinterpunktion nach Art der Duden-Prinzipien, sondern es werden z. B. übergeordneten Sätzen folgende Adverbialsätze, Relativsätze und dazSätze ohne Korrelat im vorausgehenden Satz nicht durch Kommata abgetrennt; die ohne Sprechpausen eng anschließenden Teilsätze, vor allem die Subjekt- und Objektsätze, geben dadurch noch deutlich ihren sprechsprachlichen Zusammenhang zu erkennen. Für die fortlaufende Erklärung des Textes ist Bechs Ausgabe bis heute die beste Grundlage geblieben, auch wenn er aus seiner Sicht nicht alle schwierigen Stellen des nur in der späten Ambraser Handschrift überlieferten Werkes zufriedenstellend deuten konnte. Bechs Hartmann-Ausgabe wurde von Haupt, der ganz im Banne des Schulstreits zwischen Lachmannianern und dem Kreis um Franz Pfeiffer stand, mit Absicht ignoriert.38 »Eine fachmännische besprechung ist niemals erschienen«, stellt 37
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Vgl. Helmut de Boor, Über dreisilbige und zweisilbige Komposita und Derivata im Nibelungenlied, bei Gottfried und Hartmann, in: PBB 94, Sonderband FS Hans Eggers (1972), S. 703–725, hier S. 719–725; Ursula Hennig, Untersuchungen zur frühmhd. Metrik am Beispiel der ‘Wiener Genesis’, Tübingen 1968 (Kap. 4: Die beschwerte Hebung im Erec Hartmanns von Aue), S. 187–246. Vgl. die schroffe Ablehnung Haupts zu Beginn des Anmerkungsteils der 2. Ausgabe seines ‘Erec’: Erec. Eine Erzählung von Hartmann von Aue, Zweite Ausgabe von Moriz Haupt, Leipzig 1871 (Nachdruck Hildesheim/New York 1979), S. 326 f.
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Albert Leitzmann 1939 fest, der auch auf die Hintergründe des Gelehrtenstreits näher eingeht.39 Auf der Grundlage der 2. Auflage Bechs hat Paul Piper 1892/93 in Joseph Kürschners Reihe ›Deutsche National-Litteratur‹ eine Auswahl von kurzen Stücken aus der ‘Klage’ veröffentlicht, die eingebettet sind in ein Resümee des Ganzen.40 Die rund 400 Verse umfassenden Teilabdrucke hat er vereinzelt noch weitgehender als Bech mit Lese- und Betonungshilfen in Form von Versakzenten und Elisionspunkten versehen.
III Nach der 3. Auflage von Bechs Ausgabe (1891) sind mehrere Arbeiten erschienen, die für die Feststellung der Sprachformen Hartmanns und in der Regel auch der ‘Klage’ von Bedeutung sind. Bech hatte bereits die Anmerkungen Lachmanns zum ‘Iwein’ und die Haupts zum ‘Erec’ herangezogen. Zu den nach 1891 erschienenen Arbeiten zur Sprache Hartmanns gehören u. a. die von Anton E. Schönbach,41 Konrad Zwierzina,42 Hendricus Sparnaay,43 Erich Gierach,44 Carl v. Kraus,45 Arno Schirokauer,46 Herta Zutt47 und die Hartmann-Konkordanz von Roy Boggs.48 39
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Leitzmann [Anm. 10], S. 162; vgl. auch: Eine Wissenschaft etabliert sich 1810–1870. Mit einer Einführung hg. von Johannes Janota (Deutsche Texte 53; Texte zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik 3), Tübingen 1980, S. 42–46. Höfische Epik. Zweiter Teil: Hartmann von Aue und seine Nachahmer, barb. von Paul Piper (Deutsche National-Litteratur Bd. 4, Abt. 2, 2. Teil), Stuttgart o. J. [1892/93], S. 27–37. Die längsten abgedruckten Stücke V. 344–373 und 427–484 mit 30 bzw. 58 Versen. Anton E. Schönbach, Über Hartmann von Aue. Drei Bücher Untersuchungen, Graz 1894, bes. S. 381–393 (Stellenregister zur ‘Klage’ = ‘Erstes Büchlein’ S. 484–488). Konrad Zwierzina, Beobachtungen zum Reimgebrauch Hartmanns und Wolframs, in: Abhandlungen zur germanischen Philologie. Festgabe für R. Heinzel, Halle 1898, S. 437–511; ders., Mittelhochdeutsche Studien, in: ZfdA 44 (1900), S. 1–116, 249–316, 345–406 und ZfdA 45 (1901), S. 19–100, 253–313, 317–419 (die für Hartmann einschlägigen Stellen sind über die Register zu den beiden Zeitschriftenbänden zu ermitteln). Hendricus Sparnaay, Hartmann von Aue. Studien zu einer Biographie I/II, Halle 1933/1938, Nachdr. in einem Band mit einem Vorwort zur Neuausgabe von Christoph Cormeau, Darmstadt 1975. Erich Gierach, Untersuchungen zum Armen Heinrich. I. Die Bruchstücke des Armen Heinrich, in: ZfdA 54 (1913), S. 257–295; II: Fehler in der Textbehandlung, in: ZfdA 55 (1917), S. 303–336; III: Schreibformen von A im kritischen Text, ebd., S. 503–523; IV: Weitere Verbesserungsvorschläge, ebd., S. 523–561; V. Das Handschriftenverhältnis, ebd., S. 561– 568. Carl v. Kraus, Das sogenannte II. Büchlein und Hartmanns Werke, in: Abhandlungen zur germanischen Philologie. Festgabe für R. Heinzel, Halle 1898, S. 111–172. Arnold Schirokauer, Studien zur mhd. Reimgrammatik, in: PBB 47 (1925), S. 1–128 (Sachregister S. 123–125). Herta Zutt, Der Gebrauch der Negation in der Gießener Iwein-Handschrift, in: Alemannica. Landeskundliche Beiträge. FS Bruno Boesch (Alemannisches Jahrbuch 1973/75), S. 373–391. Roy A. Boggs, Hartmann von Aue. Lemmatisierte Konkordanz zum Gesamtwerk, 2 Bde. (Indices zur deutschen Literatur 12/13), Nendeln 1979 (mit Reimindex und rückläufigem Verzeichnis der Lemmata).
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Der Textkritik der ‘Klage’ kamen die Bemühungen um die editorische Erschließung der andern im Ambraser Heldenbuch überlieferten Werke und die Erforschung der Schreibgewohnheiten ihres Schreibers Hans Ried direkt oder indirekt zugute. Diese Arbeiten setzten bereits 1865 mit Karl Bartschs Rechenschaftsbericht über seine Ausgabe der ‘Kudrun’ ein49 und fanden in mehreren Beiträgen von Edward Schröder50 ihre Fortsetzung.51 Albert Leitzmann nahm 1935 in seinen Vorstudien zur Ausgabe des ‘Erec’ in der ›Altdeutschen Textbibliothek‹ die früheren Ansätze auf. Um sich dem Text der Vorlage Rieds bzw. seiner autornahen Vorstufe zu nähern, zog Leitzmann52 methodisch umsichtig immer wieder die Überlieferung der alten Wolfenbütteler ‘Erec’-Fragmente heran, welche die Formen des 13. Jahrhunderts bewahren und die er gegen Konrad Zwierzinas Abwertung53 konsequent verteidigte. Ebenso verglich er die ‘Iwein’-Überlieferung und die der anderen mehrfach überlieferten Werke des Ambraser Heldenbuchs, um die jüngeren Sonderformen Rieds zu ermitteln und diese als sekundär zu erweisen. Leitzmann zeigte überzeugend, wie nur das Sprachwissen des Forschers, seine Kenntnisse des Sprach- und Bedeutungswandels, zu einer angemessenen Beurteilung der Kopistenleistung von Hans Ried führen können und dass die Beurteilung dieser Leistung viel positiver ausfällt, als Edward Schröders Charakterisierung von Ried als »raffiniertem Faulpelz« suggeriert.54 Eine zusammenfassende Untersuchung, die alle Werke mit Mehrfachüberlieferung einbezieht, fehlt allerdings bis heute. Die verdienstvolle Arbeit von Thomas P. Thornton über die Schreibgewohnheiten Hans Rieds im Ambraser Heldenbuch55 strebte dies wohl an, doch sie beruht auf dem Stichprobenverfahren und bietet daher eine zu schmale Vergleichsbasis für die nur unikal im Ambraser Heldenbuch überlieferten Werke wie die ‘Klage’. Für die Textkritik der ‘Klage’ nur in beschränktem Umfang erheblich sind die Darstellungen in den Literaturgeschichten und die Arbeiten zur Gliederung des Textes, die z. T. auch mit zahlensymbolischen Ansätzen operieren, zu denen das kunstvoll gereimte Schlussgedicht mit seinen jeweils um zwei Verse verminderten Strophen einlädt.56 49
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Karl Bartsch, Beiträge zur Geschichte und Kritik der Kudrun, in: Germania 10 (1865), S. 41–92 und 148–224. Insbesondere der methodisch wichtige Beitrag von Edward Schröder, Der Ambraser Wolfdietrich. Grundlagen und Grundsätze der Textkritik, in: Nachrichten der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Phil.-hist. Klasse 1931, S. 210–240; ders., Zur Kritik von Hartmanns Büchlein, in: ZfdA 56 (1919), S. 247 f. Vgl. den Überblick bei Leitzmann [Anm. 10], S. 189–200. Ebd., S. 185, 205, 211 f. Konrad Zwierzina, Mittelhochdeutsche Studien 13. Zur Textkritik des Erec, in: ZfdA 45 (1901), S. 317–368. Schröder [Anm. 50], S. 213; zitiert von Leitzmann [Anm. 10], S. 145. Thomas P. Thornton, Die Schreibgewohnheiten Hans Rieds im Ambraser Heldenbuch, Diss. (masch.) Baltimore 1953; Auszug in: ZfdPh 81 (1962), S. 52–82. Zu diesen Beiträgen vgl. Wolff [Anm. 5], S. 10–13, und die Überblicke bei Peter Wapnewski, Hartmann von Aue, 7., erg. Aufl. (Sammlung Metzler 17), Stuttgart 1979, S. 43–46; Christoph Cormeau und Wilhelm Störmer, Hartmann von Aue. Epoche − Werk − Wirkung, 2., überarb. Aufl. (Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte), München 1993, S. 98–109; Jürgen
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Erst 1968 erschien wieder eine neue Ausgabe unter dem Werktitel ‘Die Klage’, die Herta Zutt erarbeitet hatte.57 Die Ausgabe umfasst auch ‘Das (zweite) Büchlein’, als dessen Autor nicht länger Hartmann angesehen wurde. Dem kritischen Text ist eine buchstabengetreue Transkription des im Ambraser Heldenbuch überlieferten Wortlauts gegenübergestellt, die immer eine genaue Kontrolle des edierten Textes erlaubt; in diesem sind durch Klammerzeichen alle wesentlichen Abweichungen von der Überlieferung kenntlich gemacht. Unter dem kritischen Text sind in einem Lesartenapparat die Konjekturen und Ergänzungen aus den textkritischen Beiträgen zur ‘Klage’ und vor allem aus den Ausgaben Haupts und Bechs verzeichnet. Da Herta Zutt in den meisten Fällen die Besserungen Haupts übernimmt, ist Haupt als Urheber im einzelnen nicht immer angegeben, sondern nur dann, wenn von ihm abgewichen wird. Der kritische Text ist sprachlich und metrisch normalisiert; allerdings sind bedauerlicherweise keine Längezeichen gesetzt, auch ist u. a. die Schreibung vor w nicht konsequent geregelt (owe für ouweˆ, niwan für niuwan, aber riuwe usw.), und des öfteren sind die Sprachformen der Handschrift gegen Hartmanns Formen beibehalten. Die Einteilung in Abschnitte folgt den Initialen der Handschrift.58 Alle wesentlichen Abweichungen von der Überlieferung und die z. T. vorzüglichen Besserungen sind in einem Anmerkungsteil begründet, auf den im Apparat durch einen Asterisk verwiesen wird. Wie Ludwig Wolff in seiner Rezension der Ausgabe feststellt, »finden wir übersichtlich alles beisammen, was wir brauchen.«59 Die Ausgabe Herta Zutts bietet eine so gut wie vollständige Bilanz der textkritischen Bemühungen um die ‘Klage’ und ist daher für jede Neuausgabe eine wertvolle Hilfe, zumal die Transkription der Handschrift den Blick auf das Überlieferte so bequem macht. Die Transkription ist wohl im Allgemeinen sehr sorgfältig, doch gibt es gelegentlich bei der Beurteilung der Wortzusammenschreibung und Getrenntschreibung Stellen, die anders beurteilt werden können. Bei der Textherstellung versucht Herta Zutt die jüngeren Sprachformen Hans Rieds durch das zu ersetzen, was die zahlreichen Arbeiten für den Sprachgebrauch Hartmanns ermittelt haben. Sie zieht auch immer wieder mit gutem Gewinn die Arbeit von Hubert Schützner60 zur Iwein-Überlieferung im Ambraser Heldenbuch heran; überhaupt wird von ihr Hartmanns Sprachgebrauch im ‘Iwein’ stärker berücksichtigt als der in den andern Werken. In einigen Fällen werden die Ergebnisse der früheren Untersuchungen allerdings nicht in dem Maße herangezogen, wie das wünschenswert gewesen wäre.61 Die mehr oder weniger konsequente Übernahme der Initialensetzung der Handschrift führt allerdings dazu, dass an manchen Stellen der überlieferte Text geändert werden muss.62
57 58
59 60 61 62
Wolf, Einführung in das Werk Hartmanns von Aue (Einführungen Germanistik), Darmstadt 2007, S. 118–123. Siehe Anm. 5. Zur Begründung vgl. Herta Zutt, Zur formalen Struktur von Hartmanns ‘Klage’, in: ZfdPh 87 (1968), S. 359–372. Ludwig Wolff, in: AfdA 80 (1969), S. 151–155, hier S. 151. Zu Schützner [Anm. 10], vgl. Herta Zutts Einleitung S. XI f. und XIV. Beispiele dafür in der Rezension Wolffs [Anm. 59], S. 152–154. Vgl. Wolff [Anm. 59], S. 154 f.
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Als die Neuausgabe Herta Zutts erschien, war eine weitere Neuausgabe schon sehr weit gediehen, die Ludwig Wolff (1892–1968) für die ›Altdeutsche Textbibliothek‹ vorbereitete, die dann aber 1972 in der von Werner Schröder herausgegebenen Reihe ›Altdeutsche Texte in kritischen Ausgaben‹ erschien.63 Der Werktitel ‘Klagebüchlein’ stellt einen Kompromiss zwischen Haupts Gattungsbezeichnung ‘Büchlein’ und der inhaltlichen Bestimmung klage in V. 30 des Prologs dar, das die französische Gattungsbezeichnung complainte übersetzt; die Ausgabe umfasst auch das längst als Epigonenarbeit erkannte und Hartmann abgesprochene ‘Zweite Büchlein’. Ludwig Wolff war als Herausgeber aller epischen Dichtungen Hartmanns wie kein anderer in der Lage, einen kritischen Text aus der späten und verderbten Überlieferung herzustellen. In der Einleitung gibt er einen kurzen Überblick über die wesentlichen Merkmale der Sprache der Ambraser Handschrift, über die bisherigen Ausgaben, die Arbeiten zur Sprache Hartmanns und zur Textkritik der ‘Klage’ und schließlich zur literaturgeschichtlichen Stellung und zu Gattungsfragen. Wolffs Ausgabe steht ganz und gar in der Tradition Haupts und Lachmanns. Der Apparat ist schmal und übersichtlich, die Besserungen Haupts sind meist nicht weiter als solche kenntlich gemacht; die Konjekturen und Emendationen anderer werden in der Regel mit Siglen der Forschernamen, die in runde Klammern gesetzt sind, verzeichnet; diese Siglen sind in einem Schlüssel zum Apparat zwischen Einleitung und Text aufgelöst. In den Anmerkungen werden alle wesentlichen Änderungen, die Wolff selber gegenüber der Handschrift vorgenommen hat, kurz begründet und auch abweichende Textherstellungen angeführt, dabei werden zahlreiche Hinweise auf die Parallelen in Hartmanns übrigen Werken, auf die früheren Ausgaben und – sehr viel umfassender als bei Herta Zutt – auf die einschlägigen Arbeiten zu Hartmanns Sprachgebrauch gegeben. Wie in seinen andern Ausgaben von Hartmanns Werken hat Wolff die für die klassische mittelhochdeutsche Reimpaardichtung nach Lachmanns Vorbild von Haupt eingeführte Interpunktion beibehalten. Für eine Neuausgabe bildet der Text von Ludwig Wolff mit seiner umfassenden Berücksichtigung der Forschung, vor allem der Arbeiten zur Feststellung von Hartmanns Sprachformen, und mit seiner Normalisierung, die auch die für das klassische Mittelhochdeutsche so wesentliche Kennzeichnung der Langvokale durch Zirkumflexe berücksichtigt, eine ideale Basis. Sehr willkommen für die Arbeit an einer künftigen Neuedition sind auch die von Herta Zutt in ihrem Apparat präsentierten Besserungsvorschläge der Forschung und eine ganze Reihe gelungener eigener Besserungen sowie schließlich ihre Transkription des im Ambraser Heldenbuch überlieferten Textes. Von unterschiedlichem Wert für eine Neuausgabe ist dagegen die Edition, die Arno Schirokauer (1899–1954) begonnen hatte und die nach seinem Tode auf Bitten seiner Witwe von Petrus W. Tax – zwischen 1968 und vermutlich 1972 – abgeschlossen wurde und schließlich unter dem Werktitel ‘Das Büchlein’ 1979 erschien.64 Die Aus63 64
Siehe Anm. 5. Siehe Anm. 5.
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gabe sollte von vorherein nicht das pseudo-hartmannsche ‘Büchlein’ umfassen, wie Tax in seinem Vorwort mitteilt, in dem er über die komplizierte Entstehungsgeschichte der Ausgabe und über seinen eigenen Anteil daran berichtet.65 Wie Herta Zutt plante Schirokauer ebenfalls eine synoptische Ausgabe mit einem diplomatischen Abdruck der Handschrift und dem hergestellten Text; diesem sollten Anmerkungen und Erläuterungen beigegeben werden. Das nachgelassene Manuskript mit Transkription und hergestelltem Text reichte nur bis V. 1185; das restliche Drittel der Ausgabe mit Einschluss der Kommentierung versuchte Tax nach dem Muster des vorliegenden Teils und dessen, was er in Schirokauers Materialien und Notizen vorfand, zu vollenden. Als er von der Ausgabe Herta Zutts und der geplanten Faksimilierung des Ambraser Heldenbuchs erfuhr, verzichtete er auf die Transkription, die einen integralen Teil des ursprünglichen Editionskonzeptes bildete. Die Arbeiten an der Ausgabe scheinen 1972 bereits abgeschlossen gewesen zu sein, denn in einer Korrekturnote wird vermerkt, dass die inzwischen erschienene Ausgabe Ludwig Wolffs nicht mehr berücksichtigt werden konnte.66 Das Manuskript muss demnach mehrere Jahre im Verlag gelegen haben. Die Einleitung zur Ausgabe, für die Tax nur ein paar Zettel von Schirokauers Hand zur Verfügung hatte, behandelt auf einer halben Seite die »Überlieferungs- und Textgeschichte«, bringt anschließend Bemerkungen zu einem »Lebensabriß« und zur Gattungsfrage (»Was ist das Büchlein?«) und schließlich eine von Tax verfasste ausführliche Inhaltsanalyse, die aber für editorische Fragen unerheblich ist.67 Als Schüler von Carl v. Kraus war Schirokauer gut vertraut mit den Möglichkeiten der klassischen Textkritik; und er war durch seine Studien zur mittelhochdeutschen Reimgrammatik für die Ermittlung der Sprachformen Hartmanns aus der späten und teilweise sehr verderbten Überlieferung bestens gerüstet. Sein besonderes Augenmerk im Hinblick auf Hartmanns Sprache galt der alemannischen Urkundensprache, die er immer wieder heranzieht, um die in den Text gesetzten Formen zu rechtfertigen. Die Anmerkungen und Erläuterungen zum Text enthalten eine Reihe wertvoller Hinweise, sie decken sich zum Teil mit denen Ludwig Wolffs. Ein prinzipieller Mangel der Ausgabe ist jedoch – bedingt durch die Fortlassung der Transkription – die unregelmäßige Verzeichnung der handschriftlichen Lesarten.68 Das führt dazu, dass die Erläuterungen gelegentlich nur noch teilweise plausibel erscheinen oder aber überhaupt nicht mehr verständlich sind. Die Interpunktion zeigt am deutlichsten, dass zwei Herausgeber am Werk waren: Bis V. 1185 wird im Stile Lachmanns interpungiert und dabei in der Regel die Reimbrechung beachtet, danach aber nach den Duden-Regeln für das Neuhochdeutsche. Der kritische Text ist normalisiert und gelegentlich mit Elisionspunkten unter den tonlosen e versehen; den Wortlaut hat Schirokauer immer wieder an das urkundlich belegte Alemannische als der authentischen Sprache des jungen Hartmann anzugleichen versucht. Die Besserungen Schirokauers 65 66 67 68
Ebd., S. 7–12. Ebd., S. 11. Ebd., S. 16–30, die Inhaltsanalyse S. 19–30. Vgl. auch die Rezension von Herta Zutt, in: ZfdPh 102 (1983), S. 452–455, hier S. 453.
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sind in der Regel begründet, doch führt seine manchmal etwas gewagte Konjekturalkritik sogar zu neuen, bisher noch nicht im Mittelhochdeutschen belegten Wörtern.69 Die Ausgabe hätte einer systematischen Abschlusskorrektur bedurft und einer stringenten Darstellung der Editionsprinzipien. Es ist bedauerlich, dass Schirokauer sie nicht wie geplant selbst zu Ende führen konnte. Der Gewinn für die HartmannForschung wäre vermutlich bedeutend gewesen. Aus den drei beschriebenen modernen Ausgaben und der Ausgabe von Haupt hat Thomas L. Keller 1986 in einem synkretistischen Verfahren einen Lesetext hergestellt und diesen mit einer Übersetzung ins Englische versehen,70 bei der es sich um die erste und einzige Übersetzung in eine neuere Sprache überhaupt handelt, denn ins Neuhochdeutsche ist die ‘Klage’ bisher noch nicht übersetzt worden. Die Einleitung bietet kurze Hinweise auf Hartmanns Leben und Werke, seine Gönner, den Werktitel und die Gattungstradition der ‘Klage’; dem Überblick über den Inhalt der ‘Klage’ folgt eine ausführlichere Interpretation. Über die Textherstellung und Übersetzung heißt es in der kurzen »Final Note on the Edition and Translation«:71 The purpose of the following edition is to present a reliable text which is »readable« and yet as close to the manuscript as is logically possible as the basis for the present translation.
Aus den vorliegenden kritischen Editionen hat er einen normalisierten Mischtext erstellt, der wohl die Lesungen der Herausgeber, die zur Handschrift stimmen, bevorzugen soll, aber die Auswahl nirgends begründet, denn einen Apparat und Anmerkungen zum Text gibt es nicht. Edierter Text und Übersetzung stimmen auch nicht immer überein; denn die Übersetzung folgt gelegentlich dem Text eines anderen Herausgebers, der nicht in die Textmischung eingegangen ist.72 Für eine Neuausgabe, die nach dem Lesartenapparat in einem zweiten Apparat fortlaufende Erläuterungen zum Text bieten soll, ist jedoch die Übersetzung wertvoll.
69
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71 72
Im Wortverzeichnis S. 99–107, das zum größten Teil von Tax stammt, sind z. B. folgende in früheren Ausgaben der ‘Klage’ nicht vorkommende Wörter mit einem Asterisk versehen (er bedeutet: »meistens Lesung der Hs. oder Konjektur Schirokauers«), so z. B. entsprengen, entstaˆn, erhüeten, geiuzern, gerawen, vervliuhen (Verschreibung für vervliehen?), vrœnen; vgl. auch Zutt [Anm. 68], S. 454 f. Hartmann von Aue, Klagebüchlein ed., transl., and with an Introduction by Thomas L. Keller (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 450), Göppingen 1986. Ebd., S. XIX. Zwei Beispiele aus dem Anfang: V. 50/51: Die Interpunktion des Textes folgt Wolff (Komma nach V. 50, Punkt nach V. 51), die Übersetzung aber dem Text von Haupt, Zutt, Schirokauer (Punkt nach V. 50, Komma nach V. 51); V. 56–60: Der mit diu eingeleitete Relativsatz V. 59 wird bezogen auf den Plural diu dinc (Hs. dein ding) V. 58, denn es steht kein Komma nach V. 58, das Relativpronomen V. 59 diu (= diu dinc; Hs. die) im Plural kongruiert nicht mit dem Verb im Singular missezimt (missezimpt Hs.), das die Handschrift bietet (der Keller mit einem unvollständig übernommenen Vorschlag Leitzmanns den Vorzug gewähren will); die früheren Herausgeber haben aber um der Kongruenz willen mit der Lesung missezement den Plural des Verbs hergestellt, der sich auch in Kellers Übersetzung von V. 59 f. findet.
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IV Eine Neuausgabe ist ein Desiderat, nachdem keine der modernen Ausgaben im Buchhandel mehr erhältlich ist. Für eine Neuausgabe, die in der ›Altdeutschen Textbibliothek‹ (ATB) erscheinen soll, will ich daher im Folgenden eine Probe geben. Diese lehnt sich an die in der Reihe erschienenen Ausgaben von Hartmanns ‘Erec’73 und ‘Armem Heinrich’74 an und bietet aber zusätzlich nach dem Modell der letzten Auflage des ‘Gregorius’75 in einem zweiten Apparat fortlaufende Erläuterungen, die an vielen Stellen dem Muster von Fedor Bechs Ausgabe der ‘Klage’ verpflichtet, aber unter Einbeziehung der Forschungsergebnisse von über hundert Jahren neu erarbeitet sind. Zu den beiden Seiten mit den Abbildungen eines Probesatzes der Ausgabe gebe ich im Folgenden die Begründung für die Entscheidungen, die für den kritischen Text und den ersten Apparat maßgebend waren und zu einem gewissen Teil auch für die Erläuterungen im zweiten Apparat gelten. Beide Apparate sollten weitgehend aus sich selbst verständlich sein; die Forschernamen ohne Angabe einer Seitenzahl beziehen sich auf die Ausgaben, wenn sie mit einer Seitenzahl versehen sind, auf die oben genannten Beiträge zur Textkritik und Erklärung der ‘Klage’. Die Hinweise auf die Mittelhochdeutsche Grammatik (= Mhd. Gr.) von Hermann Paul beziehen sich auf deren 25. Auflage.76 V. 1 Im 2. App. zu walten sind grammatische Angabe und Konstruktion angeführt, weil sie vom Neuhochdeutschen abweichen. Für den Gen. von kraft gebraucht Hartmann die Analogieform kraft statt der lautgesetzlichen Form krefte; Schirokauer verweist dafür auf »Zwierzina, Beob. 487; Sparnaay I, 32«.77 V. 3 f. Im Text ist nach unde in V. 3 und 4 jeweils an bereits von Haupt ergänzt, die Ergänzung wird von Wolff z. St. mit Verweis auf Lachmann zu Iwein 3649 und das Iwein-Wörterbuch stichhaltig begründet; aber Zutt, Schirokauer und Keller folgen der Hs. V. 4 Im Text ist jungen statt alten der Hs. eine Besserung Haupts, die von den späteren Herausgebern allgemein akzeptiert wurde und wie alle übrigen allgemein akzeptierten Besserungen Haupts nicht besonders gekennzeichnet ist. V. 8 Im Text steht älliu mit Wolff statt alle der Hs. bzw. alliu aller andern Herausgeber, doch Schirokauer weist in der Anm. z. St. darauf hin: »älliu kommt der Mundart weit sicherer zu, ist aber nicht zu belegen, da der Reimtypus fehlt.« In den 73 74
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77
Siehe Anm. 8. Hartmann von Aue, Der arme Heinrich, hg. von Hermann Paul, neu bearb. von Kurt Gärtner, 17., durchges. Aufl. (ATB 3), Tübingen 2001. Gregorius von Hartmann von Aue, hg. von Hermann Paul, neu bearb. von Burghart Wachinger, 15., durchges. und erw. Aufl. (ATB 2), Tübingen 2004. Hermann Paul, Mittelhochdeutsche Grammatik, 25. Aufl. neu bearb. von Thomas Klein, Hans-Joachim Solms und Klaus-Peter Wegera, Tübingen 2007. Zwierzina [Anm. 42]; Sparnaay [Anm. 43].
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Hartmann-Ausgaben Wolffs sind die Formen unterschiedlich verteilt: im ‘Erec’ steht immer alliu, sonst älliu. Zur Entlastung des 1. App. werden in der Einleitung zur Ausgabe die Wörter bzw. Wortformen zusammengestellt, deren Form im kritischen Text regelmäßig abweicht von der Form in der Hs. V. 9 Im Text steht m u o s e i n i r gewalt ergeben gegen m u e s s e t m i t gewalt ergeben der Hs., eine allgemein akzeptierte Besserung Haupts. – Im 2. App. zu muose ist das nhd. Äquivalent angegeben, denn muose ist die ältere Form des Ind. Prät., die im 13. Jh. verdrängt wird durch die in Analogie zum Prät. der swV. gebildete Form muoste. In den Ausgaben Wolffs ist dies wieder unterschiedlich geregelt: im ‘Erec’ steht immer die jüngere Form muoste, sonst muose. Schirokauer weist in der Anm. z. St. darauf hin: »Ich folge [für die Form muose] der Argumentierung Gierachs, ZfdA 55, 519.« Vgl. auch Mhd. Gr. § M 100. V. 10 Im Text ist der Gen. ir des Pronomens statt der flektierten jungen adj. Form irem der Hs. gesetzt. In Haupts App. steht eine entsprechende generelle Anmerkung. Das flektierte Possessivpronomen gehört zu den regelmäßig abweichenden Formen, die in der Einleitung zusammengestellt sind. V. 11 Im 2. App. ist ze maˆze kommentiert, weil es missverstanden wurde in den Erläuterungen seit Bech (‘in mäßiger, bescheidener Weise’); Schirokauer z. St.: »ze maˆze = ‘angemessen, in mäßiger Weise’, gibt doch kaum einen Sinn; besser wäre uˆzer maˆze = ‘überaus’, für das auch metrische Überlegungen sprechen.« Ähnlich argumentiert Zutt und schlägt eine Änderung in über maˆze (Klage 1514) oder uˆz der/ uˆzer maˆze (Iwein 3274, 6633) vor und verweist zusätzlich darauf, dass ze maˆze im ‘Iwein’ »immer nur mit Ergänzung« belegt sei. Keller lässt ze maˆze unübersetzt. V. 12 schœne sinne: Zutt zweifelt, ob der Ausdruck »Hartmanns Sprachgebrauch entspricht«, und fasst in der Parallele Iwein 8141 schœne sinne unde jugent mit Benecke im Iwein-Wörterbuch die Form schœne als Subst.; sie erwägt daher die Besserung in guote sinne, zögert aber, diese an allen Stellen einzufügen. – schœne Iwein 8141 ist Adj., vgl. Ludwig Wolff: Schoene sinne. Zu einer Stelle im Iwein Hartmanns von Aue, in: Festschrift für Karl Bischoff, hg. von Günter Bellmann, Günter Eifler, Wolfgang Kleiber, Köln/Wien 1975, S. 325–327. – Schirokauer stellt in einer umfangreichen Anmerkung fest: »Wegen ihrer inneren und äußeren Schönheit wird er [der Dichter] zur Liebe verleitet; das Adjektiv kommt also entweder beiden zu oder nur dem letzten, denn sinne sind an sich schon ‘geistige Vorzüge’, aber lıˆp bedarf des auszeichnenden Adjektivs: durch ir sinne und schoenen lıˆp«; es folgen noch Hinweise und ausführliche Zitate aus der Literatur zu diesem Aspekt; in seinem nicht auf die Anmerkung genau abgestimmten kritischen Text liest er aber: durch schoene sinne und schoenen lıˆp. V. 13 Im Text setzen alle Herausgeber einen Punkt am Versende, Schirokauer – wohl versehentlich – ein Komma. In der Anm. zu begunde weist er auf die Doppelformen begunde/began in der ‘Klage’ hin und darauf, dass beide Formen »später im Reim vermieden werden« unter Berufung auf »Zwierzina, Beob. 465«.78 78
Zwierzina [Anm. 42].
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V. 14–18 Der Text wird unterschiedlich interpungiert: Haupt, Bech und Wolff setzen V. 16 in Parentheseklammern mit Komma danach; sie setzen Punkt nach V. 17 und beginnen einen neuen Satz mit V. 18, den Wolff auch als Abschnittsanfang kennzeichnet gegen die Hs., die eine Initiale schon bei V. 17 aufweist. Zutt, Schirokauer und Keller nehmen mit der Hs. einen Abschnittsanfang bei V. 17 an, mit dem sie einen neuen Satz beginnen. V. 16 fasst Zutt als Nachsatz und ändert daher die Wortstellung si sprach in sprach si; die Umstellung nach ihrer Ansicht »ist notwendig, wenn mit der Handschrift der Vers den ersten Abschnitt abschließt.« Im Neuhochdeutschen ist diese Umstellung wohl »notwendig«, aber nicht im Mittelhochdeutschen, wo das finite Verb nicht an der Spitze des Nachsatzes stehen kann; vgl. Mhd. Gr. S 224,2. V. 14 doˆ steht im Text aller Herausgeber gegen da in der Hs.; Ried ändert im ‘Erec’ so gut wie nie temporales do in lokales da, dagegen setzt er öfter do für lokales da. Daher könnte es bei der Angabe der Variante mit Haupt bleiben. V. 16 Die frühneuhochdeutsche Variante sprache mit analogischem -e der swV. in der 3. Pers. Ind. Prät. gehört besser zu den in der Einleitung zusammengestellten Formen, um den Apparat zu entlasten. – Im Text er solde sıˆs [= sıˆ es] erlaˆn: Der Gen. der Sache ist obligatorisch bei erlaˆn, seit Bech ist daher entsprechend gebessert; die Besserung wird von Zutt z. St. durch Verweise auf die Wörterbücher bestätigt. – solde ist mit Wolff gesetzt (seine Begründung in der Anm. zu V. 117) statt solte der Hs. und der übrigen Herausgeber. V. 19 Im Text steht die Besserung entorste mit Haupt, Bech, Wolff und Keller, torst ohne Negation und apokopiert bei Zutt, torste. bei Schirokauer. – Schirokauer zu nieman: »Alemannen vermeiden die abgeschwächte Form«.79 V. 20 ern eine ist eine von den modernen Herausgebern akzeptierte Konjektur Pauls80 (unter Verweis auf V. 310, so auch z. St. Wolff), bei Haupt und Bech heißt es er nimmer für er nymmer der Hs. V. 23 Im Text lesen ez Akk. alle Herausgeber bis auf Schirokauer, der für es Gen. plädiert mit Verweis auf »Paul-Gierach, Mhd. Gr., § 263 A. 3«. Der Gen. d. Sache bei verswıˆgen in der Stelle Gregorius V. 2426 sıˆt daz er michs verswigen haˆt, die Lexer, Mhd. Wb. 3, 263 als einzigen Beleg für verswıˆgen mit Akk. d. Pers. und Gen. d. Sache anführt, ist aber nicht haltbar, die neueren Ausgaben haben michz = mich ez. V. 25 Im Text wird niwan vermutlich aus metrischen Gründen von Haupt ergänzt und diese Ergänzung von Bech (1. und 2. Aufl.), Wolff, Zutt und Keller beibehalten; Bech (3. Aufl.) und Schirokauer (mit Begründung in der Anm. z. St.: niuwan macht den Vers »zu silbenreich und verursacht ein Accelerando, das der Stimmung der stillen Klage nicht günstig ist«) lassen sie dagegen mit der Hs. weg. Textliche Ände-
79 80
Schirokauer [Anm. 46]. Paul [Anm. 53], S. 205.
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rungen aus rein metrischen Gründen, wie sie bei Haupt und den Ausgaben des 19. Jahrhunderts vorgenommen wurden, sollten in der Neuausgabe soweit wie möglich zurückgedrängt werden. Im Lesartenapparat sollte die Konjektur Haupts jedoch wegen ihrer Übernahme in die modernen Ausgaben dokumentiert werden, aber nicht in einer Form, die den Apparat durch die Angabe aller Forscher, die mit Haupt niuwan lesen, überlastet. V. 26 Im Text steht hete mit Wolff, het mit der Hs. lesen Haupt und Bech; Wolff z. St. plädiert aus metrischen Gründen für hete und verweist auf Zwierzina, Beob. 497, der hete und haˆte für Hartmann annimmt. Zutt z. St.: »Ich setze hier, wie immer, hate ein, das Zwierzina und Sparnaay als frühe Form Hartmanns festgestellt haben.« Schirokauer zitiert z. St. Zwierzina, Beob. 498:81 »Hartmann sprach allzeit hete und haˆte« und verweist auf Boesch82 für das Alem. der Urkunden: »Im Prät. gehen die a- und e-Formen nebeneinander her«. Wolff setzt im Versinnern seiner Hartmann-Ausgaben überwiegend hete. Da Zutt auf Längezeichen verzichtet, ist nicht ohne weiteres erkennbar, ob es sich bei dem Stammvokal um eine Kürze oder Länge handelt. Wenn ein Herausgeber normalisiert, sollte er auch die für das Mittelhochdeutsche charakteristische Unterscheidung zwischen a und aˆ, o und oˆ sowie u und uˆ vornehmen, die ebenso zu den Normalansätzen gehören wie die Zeichen für den Sekundärumlaut. Für eine Ausgabe, die von Studierenden benutzt werden soll, gilt das erst recht. V. 28 Im Text setzt Schirokauer ohne Begründung in den Anmerkungen den Gen. es statt des Akk. ez (Versehen?); ez bevinden, mit Akk. also, ist eine Lieblingswendung Hartmanns. V. 29 Zur Lesart der Hs. von Awe herr Hartman bemerkt Schirokauer: »Mir ist keine Stelle bekannt, wo Hartmann sich als herre bezeichnet [. . .]« Zutt z. St.: »Das herr vor Hartmann [sic!] ist sicher Zusatz des Schreibers.« In der Großen Heidelberger (Manessischen) Liederhandschrift, Cpg 848, wird Hartman im Register und der Abv bildung, Bl. 5r bzw. 184v, Her Hartman von Owe (owe Bl. 5r) genannt,83 in der Weingartner Liederhandschrift, Stuttgart, LB Cod. HB XIII 1, S. 33, in der Bildüberschrift: H · HARTMAN · VON · OWE, das H für HER. V. 30 Wolff z. St. weist auf den Ersatz des Gen. durch den Akk. bei Hans Ried hin. – Schirokauer z. St. erwägt zu ouch im Text: »Vielleicht iu.« V. 33 Im Text lesen Schirokauer und Keller dıˆn sin mit der Hs. (dein syn); Schirokauer begründet dies in seinem Kommentar mit Verweis auf die Argumentation Schönbachs.84 Die übrigen Herausgeber haben die Besserung Haupts übernommen. 81 82
83
84
Zwierzina [Anm. 42]. Bruno Boesch, Untersuchungen zur alemannischen Urkundensprache des 13. Jahrhunderts. Laut- und Formenlehre, Bern 1946, S. 201. Zu den Standesbezeichnungen Hartmanns im Cpg 848 vgl. Joachim Bumke, Ministerialität und Ritterdichtung. Umrisse der Forschung, München 1976, Register s. v. Hartmann von Aue. Schönbach [Anm. 42], S. 470.
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Ich sehe außer metrischen Erwägungen keinen andern plausiblen Grund für ein Abgehen von der Hs. V. 34 Im Text steht danne bei allen Herausgebern außer Haupt und Zutt; Wolff und Schirokauer weisen z. St. darauf hin, dass danne und nicht denne Hartmanns Form ist. Da die Form im kritischen Text regelmäßig abweicht von der Form in der Hs., wird sie zur Entlastung des 1. App. nur in der Zusammenstellung in der Einleitung angeführt. V. 37 Im Text liest Wolff gegen alle übrigen Herausgeber den ichs [= ich es] getruˆwe und weist in der Anm. z. St. mit Beispielen aus dem ‘Iwein’ darauf hin, dass die jüngeren Hss. es vielfach durch sıˆn und des ersetzen. Doch nicht jedes des muss deshalb verdächtig sein, vgl. Greg. 596. V. 38 Zutt bessert geruˆwe (geraw Hs.) in ruˆwe mit der Begründung z. St., dass riuwen im ‘Iwein’ stets als Simplex überliefert sei. Die Argumentation mit den Iwein-Belegen ist zu einseitig, Hartmann gebraucht geriuwen in seinen übrigen Werken des öfteren.85 Ich habe mit den vorstehenden Anmerkungen ausführlich zu begründen versucht, wie ich bei Textherstellung und der Anlage der beiden Apparate der geplanten Ausgabe vorzugehen gedenke. Das Ergebnis meiner Überlegungen bieten die beiden Seiten mit den Abbildungen eines Probesatzes. Der neue Text wird nur in begrenztem Maße von dem Ludwig Wolffs abweichen. Eine wesentliche Neuerung wird jedoch darin bestehen, dass alle Eingriffe in den überlieferten Wortlaut, die über das Orthographische und Morphologische hinausgehen, durch Kursivdruck kenntlich gemacht sind. Wolffs Text bietet sonst aber ein gut abgesichertes Fundament für die weitere editorische Arbeit, weil er die einschlägige Forschung und vor allem die Arbeiten zur Ermittlung der Sprachformen Hartmanns schon umfassend ausgewertet hat. Im übrigen freue ich mich darauf, mit dem Jubilar die Probleme der Textherstellung eines nur im Ambraser Heldenbuch überlieferten Werkes diskutieren zu können, denn er selber ist durch die eigene editorische Arbeit86 bestens vertraut mit all den kniffligen Fragen, die sich bei der Beschäftigung mit der jungen Überlieferung eines alten Textes in der Handschrift des Hans Ried ergeben. 85 86
Vgl. Boggs [Anm. 48], S. 336. Herrand von Wildonie, Vier Erzählungen, hg. von Hanns Fischer, 3. Aufl. besorgt von Paul Sappler (ATB 51), Tübingen 1984. Die Erzählungen Herrands mit ihrer unikalen Überlieferung im Ambraser Heldenbuch stellen vor vergleichbare Probleme wie die Edition von Hartmanns ‘Klage’. Aber Editionsprobleme kann man mit Paul Sappler immer mit Gewinn diskutieren; Hilfe und Rat von der Heuristik bis zum Buchsatz vieler Ausgaben hat er immer reichlich und gerne gewährt, und von seinen eigenen Ausgaben ist viel zu lernen: Das Königsteiner Liederbuch. Ms. germ. qu. 719 Berlin, hg. von Paul Sappler (MTU 29), München 1970; Heinrich Kaufringer, Werke, hg. von Paul Sappler, I. Text, Tübingen 1972, II. Indices, Tübingen 1974; Die Lieder Neidharts, hg. von Edmund Wießner, fortgeführt von Hanns Fischer, 5., verb. Aufl. hg. von Paul Sappler, mit einem Melodienanhang von Helmut Lomnitzer (ATB 44), Tübingen 1999.
Die Editionen der ‘Klage’ Hartmanns von Aue
Beispielseite 1 der Neuedition der ‘Klage’, V. 1–20
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Beispielseite 2 der Neuedition der ‘Klage’, V. 21–39
Eine Augsburger Ordnung aus dem 14. Jahrhundert für die Schiff-Fahrt auf dem Lech von Thaddäus Steiner
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Di! sint die reht die der very mins Herren de! Bischofs fron Fischer hat !e Augspurg [2] Da! e o erst da! ist swenn er oder sin kneht auf dem wa!!er varent [3] vnd da! Wargger !u in e gesto!!et auf dem wa!!er. so sol Wargger [4] stille heben mit sinem schef vnd sol den veryen e e für la!!en varen [5] mit seinem schef: [6] Da! ander ist war ob der verge oder wargger fisch e westen vnder dem [7] yse an dem Leche . oder geng ab woltin la!!en . da! ensol entweder [8] v o e an den andern nit tun . vnd war da! sie got da fisch beriet . die [9] sol der very halb nemen . e o Vnd Wargger vnd Merbott da! ander tail [10] da! selb sond sie auch tun ze dem Naslaiche . so v e sol auch entweder [11] an den andern varen . [12] E! sol auch Wargger mit ainem scheff vnd e mit ainer segin varen . [13] vnd nit mit !wayn scheffen auf dem Lech: [14] E! hat auch Wargger mit kainem fischer !e Augspurg niht !e [15] !schaffent weder wenig noch vil hie di!halb de! e e Lechs [16] War auch ob die bruggen an dem Lech hin brachen vnd da! der Lech [17] al! gro!! e e war . so sol der very vnd Wargger !der obern bruggen [18] vnd allenthalb an dem vruar an e e dem Leche . die liut vber furen [19] mit ain ander . vnd swa! sie da mit ain ander verdienent e v da! sond [20] sie glich mit ain ander tailen . an an dem vruar !e Lechusen . da [21] hat . e Wargger aigen . vnd hat der Verye dar mit nit !e schaffent .
Der vorgelegte Text stammt aus dem Bischofsurbar von 1316,1 ist aber ein späterer Nachtrag, wie sich aus seiner Sprache und Schrift gegenüber dem Originaltext ergibt. Das Urbar selbst ist nämlich in lateinischer Sprache verfaßt, abgesehen von Namen und Fachausdrücken, während die Ordnung in spätmittelhochdeutscher Sprache ohne die sonst üblichen Initialen, in kleinerer Schrift und mit stärkerer Buchstabenverbindung niedergeschrieben wurde. Mittelhochdeutsche Langvokale (mins Herren, sin kneht, mit sinem schef, vnder dem yse, Lechusen, usw.) stehen neben vereinzelten Diphthongen (auf dem wa""er, mit seinem schef). Mhd. langes aˆ scheint gänzlich u v diphthongiert: hat, an, mhd. -ou- wird als -au- geschrieben (auch, Augspurg). Mit o e Überzeichen arbeitet der Schreiber beim Diphthong -u-, beim Umlaut von aˆ: a und e e e bei den Umlauten ü: v, u und ö: o. Eigenartig ist, daß der erste Abschnitt (Zeile 2–4), der ganz allgemein von der Begegnung der beiden Kontrahenten auf dem Wasser handelt, im Indikativ steht, also wie ein alltäglicher Vorgang behandelt wird. Alle anderen gelegentlich eintretenden Vorgänge stehen im Konjunktiv, wie etwas, das möglicherweise passieren kann oder e e e unter gewissen Bedingungen eintreten könnte (war ob . . .; westen; wolten; beriet; war e e auch; brachen; gro"" war). Die daraus resultierenden Handlungensanweisungen stehen aber durchaus im Indikativ, ebenso die Feststellung der Landestelle und des e Grundeigentums des Wargger im Schlußsatz (Z. 20/21), das Gegenstück zum ersten Abschnitt mit dem Privileg des Fergen (Z. 2–5). 1
Original im Staatsarchiv Augsburg HA MB Lit. 365, fol. 25v. Publiziert in: Monumenta Boica, Bd. 34, München 1856, S. 405 f.
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Thaddäus Steiner
Auffällig ist der Einsatz des Gerunds statt des neuhochdeutschen Infinitivs in e dem Satz: E" hat auch Wargger mit kainem fischer "e Augspurg niht "e "schaffent (Z. 14/15) und im letzten Verb: "e schaffent (Z. 21). Nur konservative Mundarten benutzen solche Formen noch heute. Eine Unklarheit könnte der verkürzt wirkende Satzbau in Z. 2/3 hervorrufen: da" o erst da" ist swenn . . . und da" Waergger zu in gesto""et. Dieses da" wäre man versucht als Artikel zu verstehen, es leitet aber einen Nebensatz ein und wird etwa nach dem Vorbild des ersten Nebensatzes mit ‘wenn’ oder ‘falls’ zu übersetzen sein. Das schwierigste sprachliche (und sachliche) Problem des Textes dürfte das Wort e Wargger sein. Schon die Bearbeiter des Schwäbischen Wörterbuchs standen ihm ratlos gegenüber.2 Ist es ein Appellativ, dann käme am ehesten mhd. we¨rker ‘Hande werker, Arbeiter’ als Grundlage in Frage. Dabei böte das -a- aus -e¨- keine Schwiee rigkeit, denn in Augsburg wird um diese Zeit auch baerg [barg] ‘Berg’ geschrieben.3 Allein die Schreibung -gg- aus k ließe sich damit wohl kaum erklären. Liegt aber ein Eigenname4 vor, wie es der stetige Gebrauch ohne Artikel und die mindestens überwiegende Großschreibung vermuten lassen, so ist zunächst an einen Herkunftsnamen zu denken, der sich aus dem um 1350 belegten Personennamen Waeringer5 (zu Wehe ringen, im 13. und 14. Jahrhundert als Waringen belegt)6 entwickelt hätte. Man müßte an den Schwund des unbetonten Mittelsilbenvokals -i- denken und an Assimilation von -ng- zu -gg-, was so freilich nicht belegbar ist. Eine lautlich unverfängliche Lösung ergibt sich aus dem allerdings selten belegten altdeutschen Personennamen Wardger/Wartger,7 dessen -tg- natürlich zu -gg- assimiliert wäre. Der Sekundärumlaut ergäbe sich auf Grund des germanischen *gaira, das ja noch in frühkarolingischen Urkunden als Gaire- geschrieben wird.8 Als Vergleichsbeispiel mag der genitivische Vorarlberger Ortsname Möggers dienen. Er ist 1353 als zem Oggers belegt, e e um 1450 mehrfach als zum Okers/Oggers.9 Seine Grundlage ist zweifellos der altˆ tgeˆr mit Assimilation und Umlaut. deutsche Personenname O e Falls die Deutung von Wargger als Personenname richtig ist, wird fast zur Gewißheit, daß es sich bei dieser Ordnung um das Ergebnis der Schlichtung eines Streites 2
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Hermann Fischer und Wilhelm Pfleiderer, Schwäbisches Wörterbuch, Tübingen 1924, Bd. VI, Sp. 435. Christian Schwab, Das Augsburger Offizialatsregister (1348–1352). Ein Dokument geistlicher Diözesangerichtsbarkeit (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht 25), Köln/Weimar/Wien 2001, 63r3, 107r2. Die Anregung dazu verdanke ich Herrn Simon Pickl, Sprachatlas von Bayerisch-Schwaben. Schwab [Anm. 3], 4v1. Walther E. Vock (Bearb.), Die Urkunden des Hochstifts Augsburg 769–1420 (Schwäbische Forschungsgemeinschaft, Reihe 2a, Bd. 7), Augsburg 1959, Reg. 113, 271, 289. Ernst Förstemann, Altdeutsches Namenbuch, Bd. I: Personennamen, 2. völlig umgearb. Aufl., Bonn 1900, Sp. 1539. Norbert Wagner, Mhd. Rüede-geˆr: ahd. Hruod-ge¯r. Das Problem seines Umlauts, in: Beiträge zur Namenforschung NF 24 (1989), S. 322–331. Thaddäus Steiner, Siedlungsnamen auf dem Pfänderrücken und seinem Nordwesthang, in: MONTFORT 38 (1986), S. 203–224, speziell S. 218.
Schiff-Fahrt auf dem Lech
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handelt, in dessen Verlauf die Sonderstellung des bischöflichen Fergen, zugleich ›Fronfischer‹, angefochten wurde. Seine Sonderstellung wird mit dem ›Vorfahrts‹Privileg wieder hergestellt. Allerdings wird in den folgenden Punkten ein kameradschaftliches, gleichgestelltes Verhältnis begründet oder erneuert. Der bischöfliche Fährmann und sein eventueller Konkurrent sollen mindestens in den Sonderfällen des Brückenbruches, des Fischfangs unter dem Eis und beim Laichen der Nasen gemeinsam vorgehen und den Ertrag teilen. Letzterer dürfte besonders ertragreich und arbeitsaufwendig gewesen sein, wenn man die Verhältnisse von der Iller in etwa auf den Lech übertragen darf. Der Fang der laichenden Nasen (auch Näsling oder Speier genannt, Chondostoma nasus) im Illernebenfluß Leubas hat sogar einen Ortsnamen hervorgerufen, nämlich Nasengrub.10 Die dortige Fangmethode wird im Fischereibuch des Fürststifts Kempten in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts folgendermaßen beschrieben: Naasen. Dise Fisch werden hierlandts in der Ihler der Mengen nach gefangen, und auch unter die Raufisch zu zehlen. Ihre Laichzeit ist in dem Monath April oder May fruhe und spath, nachdeme die Witterung sich eraignet. Wann die Ihler mittelmäßig groß anlauffet, so streichen selbe schaarenweis durch die Ihler herauff bis an die Leybas, wo sie alsdann zur Nachtzeit in die Leybas hineinrinnen und so bald solche in disem Fluß seyndt, ziehet man unten ein Garn für und sperret sie hinein. Morgens, so bald es Tag ist, fanget man selbe auf nachstehende Art heraus, nemblichen die Fischer und die hierzu bestellte Leuth sezen zwerchs durch den Bach ein Beeren an dem anderen, daß die Fisch nirgendswo durchrinnen können. Alsdann fangt man selbe mit denen Händen und Fischbeeren herauß und traget sie in denen Beeren in den negst an dem Bach gelegenen hirzu bereitheten Kalter, allwo in einem Fruhe Jahr auch schon über 10 bis 13.000 solche Naasen inner Zeit 10 oder 14 Tägen, nachdeme die Witterung geholffen, gefangen worden.11
Eine Tabelle über den Naasen Fang von 1756–1783 zeigt die riesigen Mengen des Fangergebnisses, die von knapp unter 2 000 bis über 13 000 Stück reichen.12 Erst ganz zum Schluß erfahren wir, wo das eigene Revier des Waerggers war: die Lechüberfahrt bei Lechhausen, also wohl auf der dem bischöflichen Fergen gegenüberliegenden Lechseite. Dort war er allein zuständig: und hat der verye dar mit nit "e schaffent.
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Richard Dertsch, Historisches Ortsnamenbuch von Bayern. Schwaben Band 5, Stadt- und Landkreis Kempten, München 1966, Nr. 842. Dort in Anm. 11 interessante Preisangaben für diese Fische. Das Fischereibuch des Fürststifts Kempten. Verfaßt von Benedict von Schönau, Stifts-Capitular und Fischerherr 1755–1785. Übertragen und kommentiert von Cornelia Oelwein, Augsburg 2007, Nr. 653. Ebd., Nr. 496.
Die ›Innsbrucker Spielhandschrift‹ Überlegungen zu einer Neuedition von Anne Auditor
Die in der sogenannten ›Innsbrucker Spielhandschrift‹ (Cod. 960 der Universitätsbibliothek Innsbruck) enthaltenen Texte, besonders das Osterspiel, sind in den vergangenen Jahren immer wieder von der Forschung in den Blick genommen worden. Bis heute besteht jedoch eine Diskrepanz zwischen dem lebhaften Forschungsinteresse an der Handschrift und der Verfügbarkeit der Texte in einer modernen Anforderungen genügenden Edition. Die einzige alle drei Spiele enthaltende Ausgabe ist diejenige von Franz Joseph Mone (1841);1 sie ist für die Ansprüche heutiger Nutzer in verschiedenerlei Hinsicht unbefriedigend. Im vorliegenden Beitrag möchte ich die Handschrift, Mones Volledition und die beiden Teileditionen des Osterspiels2 kurz vorstellen und daran einige erste Überlegungen zu der von mir geplanten Neuedition anschließen.
Zur Handschrift Das 60 Blatt starke Schmalfoliobändchen beinhaltet drei geistliche Spiele: ein MariäHimmelfahrt-Spiel (fol. 1r–34v), ein Osterspiel (fol. 35v–50r) und ein Fronleichnamsspiel (fol. 51r–59r), die von einem einzigen Schreiber3 innerhalb kurzer Zeit in mitteldeutscher Mundart aufgezeichnet wurden. Die Explicits der Spiele verzeichnen den 26. August, den 1. September und den 5. September 1391.4 Auf fol. 59v–60r wurde von einem zweiten Schreiber relativ zeitnah5 ein lateinischer Text eingetragen und nachträglich wieder gestrichen, der nach diversen Missverständnissen in der Forschung6 schließlich als Anleitung zur Ausführung eines Liebeszaubers identifiziert werden konnte.7 Des Weiteren finden sich Federproben und, am häufigsten im Osterspiel, am 1
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Altteutsche Schauspiele, hg. von Franz Joseph Mone (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 21), Quedlinburg/Leipzig 1841. Das Drama des Mittelalters. Osterspiele, mit Einleitungen und Anmerkungen auf Grund der Handschriften hg. von Eduard Hartl, Darmstadt 1964, unv. reprograf. Nachdr. der Ausg. Leipzig 1937, S. 120–189; Das Innsbrucker Osterspiel. Das Osterspiel von Muri, mhd. und nhd. hg., übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Rudolf Meier, Stuttgart 1962, S. 3–111 (Text) und S. 157–160 (Anmerkungen). Schreiber A; vgl. z. B.: Die Neustifter-Innsbrucker Spielhandschrift von 1391 (Cod. 960 der Universitätsbibliothek Innsbruck), in Abbildung hg. von Eugen Thurnher und Walther Neuhauser (Litterae 40), Göppingen 1975, S. 10 f. Vgl. ebd., S. 13. Vgl. ebd., S. 11 (Schreiber B). Dokumentiert sind diese etwa bei Max Siller, Die Innsbrucker Spielhandschrift und das geistliche Volksschauspiel in Tirol, in: ZfdPh 101 (1982), S. 389–411, hier S. 393 f. Walter Neuhauser, Eine unbekannte lateinische Beschwörungsformel in der sog. Neustifter-
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Anne Auditor
Rand vermerkte Regieanweisungen sowie eine Notiz, die den Tod Oswalds von Wolkenstein (1445) verzeichnet. Aus dieser Notiz kann man schließen, dass sich die Handschrift spätestens zu diesem Zeitpunkt im Kloster Neustift bei Brixen befunden hat.8 Der Haupttext wurde »in einer der Bastarda angenäherten Buchkursive«9 aufgezeichnet, die lateinischen Überschriften und Regieanweisungen in einer Art Textura mit roten Durchstreichungen. Die Verse sind nicht abgesetzt, sondern durch einen Schrägstrich getrennt. Eine Besonderheit des Schreibers des Haupttextes ist »ein eähnliches Zeichen«,10 das in den meisten Fällen Umlaut- oder Längenzeichen zu sein scheint, jedoch nicht als Superskript, sondern schräg neben dem zugehörigen Vokal etwas hochgestellt realisiert ist (etwa bei czu e). Die lateinischen Textteile, meist Lieder, sind gelegentlich vollständig, häufig jedoch nur als Incipits vorhanden. Die Entstehungszeit der Handschrift, 1391, ist aufgrund der Datumsangaben im Text eindeutig zu ermitteln. Schwieriger zu beantworten ist demgegenüber die Frage nach dem Entstehungsort und der weiteren Geschichte des Codex. Die größten Probleme bereitet hier die mitteldeutsche Schreibsprache der Haupttexte in Verbindung mit dem für die Zeit um 1445 so gut wie sicher nachgewiesenen Aufenthaltsort der Handschrift in Neustift. In der älteren Forschung herrschte die Ansicht vor, die Handschrift sei bereits in Neustift entstanden, abgeschrieben durch einen thüringischen Schreiber von einer thüringischen Vorlage, deren Herkunftsort in der Gegend von Schmalkalden vermutet wurde.11 Mittlerweile gilt es jedoch als relativ sicher, dass die Handschrift in Thüringen, allerdings gerade nicht in Schmalkalden, sondern wahrscheinlicher im ostthüringischen Gebiet entstanden ist;12 eine institutionelle Verankerung ist jedoch nicht möglich. Irgendwann zwischen 1391 und 1445 wurde die Handschrift nach Neustift gebracht. Unklar ist, ob, wann und wo die Spiele aufgeführt wurden13 und wann die
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Innsbrucker Spielhandschrift (Cod. 960 der Universitätsbibliothek Innsbruck), in: Serta philologica Aenipontana 3 (1979), S. 221–253. In der Notiz heißt es, Oswald sei huc magno labore et in calore zurückgebracht worden (fol. 60v; vgl. hierzu Thurnher und Neuhauser [Anm. 3]); da Oswald in Neustift begraben ist, liegt die Vermutung nahe, dass mit huc Neustift gemeint ist. Thurnher und Neuhauser [Anm. 3], S. 10; eine detailliertere Beschreibung der Handschrift findet sich ebd., S. 8–13. Ebd., S. 10. Vgl. Thurnher und Neuhauser [Anm. 3], S. 9–13; Mone [Anm. 1], S. 10; zur Herkunft des Schreibers vgl. Rudolf Höpfner, Untersuchungen zu dem Innsbrucker, Berliner und Wiener Osterspiel, Breslau 1913 (Germ. Abh. 45); darauf bezogen Franz Ebbeke, Untersuchungen zur Innsbrucker Himmelfahrt Mariae, Marburg 1929; sowie Dora Franke, Das Innsbrucker Fronleichnamsspiel, Diss. masch. Marburg 1921. Vgl. Jens Haustein und Winfried Neumann, Zur Lokalisierung der ‘Innsbrucker (thüringischen) Spielhandschrift’, in: Magister et amicus. FS Kurt Gärtner, hg. von Va´clav Bok und Frank Shaw, Wien 2003, S. 385–394. Aufgrund der Randbemerkungen lässt sich jedoch zumindest vermuten, dass Aufführungen vorgesehen waren; sie wurden eingehend untersucht von Siller [Anm. 6], der eine Überbringung der Handschrift nach Neustift sehr bald nach 1392 vermutet (ebd., S. 410); vgl.
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Handschrift letztendlich nach Innsbruck gelangt ist: In den Übergabeprotokollen nach der Aufhebung des Klosters Neustift im Jahre 1807 findet sich keine Angabe zur Handschrift; eine Innsbrucker Signatur erhielt sie zudem erst zwischen 1841 und 1857.14
Zu den vorhandenen Ausgaben Die älteste und einzige Ausgabe aller drei Spiele stammt von Franz Joseph Mone aus dem Jahre 1841.15 Neben dem Text, in den häufig stillschweigend eingegriffen wird, liefert Mone eine Beschreibung der Handschrift sowie eine Untersuchung der Sprache. Die Spieltexte sind mit Sacherläuterungen in Form von Stellenkommentaren versehen; was fehlt, ist eine Übersicht über die Eingriffe des Herausgebers in den Text. Rolf Steinbach erwähnt überdies in seiner Monographie über die mittelalterlichen Oster- und Passionsspiele zahlreiche, wenn auch überwiegend nicht sinnentstellende Lesefehler.16 Lediglich das Osterspiel wurde noch zwei weitere Male ediert: 1937 von Eduard Hartl und 1962 von Rudolf Meier.17 Hartl kritisiert an Mone, er lege »dem handschriftlichen Text zuviel Gewicht bei«.18 Er greift dagegen stärker in den Text ein; bisweilen vertauscht er einzelne Redepartien aus Gründen der Aufführungswirksamkeit. So stellt er etwa die Klage Luzifers, die in der Handschrift auf die Ständesatire folgt,19 an deren Beginn, da er sie für einen Ausdruck der Reue Luzifers hält, dem an dieser Stelle das ganze Ausmaß seiner Sündhaftigkeit klar werde. Am Ende der Szene wäre dieser Text seiner Ansicht nach nicht wirkungsvoll genug.20 Hartl begründet diese Umstellungen mit der Annahme, dass dem Schreiber lose Blätter als Vorlage gedient hätten, wofür er auf fol. 38r einen Hinweis gefunden zu haben glaubt. Die
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auch Barbara Thoran, Fragen zu Herkunft und Nachwirkung des Innsbrucker Thüringischen Osterspiels, in: Osterspiele. Text und Musik. Akten des 2. Symposiums der Sterzinger Osterspiele 12.–16. April 1992, hg. von Max Siller (Schlern-Schriften 293), Innsbruck 1994, S. 187–202, welche die sehr konkreten Schlussfolgerungen Sillers kritisiert, jedoch ebenfalls einen Aufführungshintergrund vermutet; sowie Hansjürgen Linke, Versuch über deutsche Handschriften mittelalterlicher Spiele, in: Deutsche Handschriften 1100–1400. Oxforder Kolloquium 1985, hg. von Volker Honemann, Tübingen 1988, S. 527–589, hier S. 541. Mone schreibt in seiner Ausgabe (1841) noch, die Innsbrucker Handschrift habe »keine Nummer« (Mone [Anm. 1], S. 1). Vgl. auch Barbara Thoran, Das Osterspiel der Innsbrucker Handschrift Cod. 960 – ein Neustifter Osterspiel?, in: Tiroler Volksschauspiel. Beiträge zur Theatergeschichte des Alpenraumes, hg. von Egon Kühebacher, Bozen 1976, S. 360–379, hier S. 360 f., die diese Vorgänge zu dokumentieren sucht. Mone [Anm. 1]. Vgl. Rolf Steinbach, Die deutschen Oster- und Passionsspiele des Mittelalters. Versuch einer Darstellung und Wesensbestimmung nebst einer Bibliographie zum deutschen geistlichen Spiel des Mittelalters, Köln/Wien 1970, S. 63. Hartl [Anm. 2]; Meier [Anm. 2]. Hartl [Anm. 2], S. 121. Mone [Anm. 1], v. 406–421; Hartl [Anm. 2], v. 346–361. Vgl. Hartl [Anm. 2], S. 124, sowie die Kritik durch Steinbach [Anm. 16], S. 61 f., der hervorhebt, dass der moralisierende Aspekt der Szene durch die Umstellung verlorengehe.
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Seite beginnt, obgleich sie sich mitten im Osterspiel befindet, mit Text aus dem vorhergehenden Mariä-Himmelfahrt-Spiel. Hartl geht davon aus, dass der Schreiber versehentlich aus den losen und ungeordneten Blättern seiner Vorlage eine falsche Stelle aus einem anderen Stück nochmals abgeschrieben habe. Der Rest der Seite ist mit einigen Federproben verschiedener Hände ausgefüllt. Unter ihnen befindet sich der Beginn der Luzifer-Klage wiederholt, awe awe hoffart daz din ie erdacht wart, die erst einige Seiten später folgt, nämlich auf fol. 41r. Daraus zieht Hartl den Schluss, dass die Vorlage durcheinandergeraten sei, und hält einen Eingriff daher für berechtigt. Karl Konrad Polheim, der den Einträgen auf fol. 38r eine kleine Untersuchung gewidmet hat,21 legt dagegen überzeugend dar, dass es sich bei dem Text aus dem Mariä-Himmelfahrt-Spiel – genau genommen sind es zwei kurz aufeinanderfolgende Textstücke – um die erste Niederschrift handelt, die der Schreiber irrtümlich auf fol. 38r eingetragen hat: Die beiden Textstücke stehen an der ›richtigen‹ Stelle jeweils am Anfang einer neuen Seite, nämlich fol. 31v und 32r. Diese gehören zur selben Lage wie fol. 38r, mit dem zusammen sie einen Bogen bilden, den der Schreiber wohl falsch gefaltet hat, wodurch er – zweimal hintereinander – auf fol. 38r gelandet ist. Somit war also wahrscheinlich nicht die Vorlage durcheinander, sondern – kurzfristig – die Abschrift, und zwar die des Mariä-Himmelfahrt-Spiels und nicht des Osterspiels. Hartls Feststellung, dass der Text der Federprobe in der Handschrift erst an späterer Stelle steht, ist richtig. Die Schlussfolgerung, dem Schreiber müssten deshalb lose Blätter vorgelegen haben, ist jedoch schwer nachzuvollziehen. Ebenso könnte er sich an der späteren Stelle an die ohnehin schon unbrauchbar gewordene Seite 38r erinnert und dort seine Federprobe ausgeführt haben. Dies gilt jedoch nur unter der Voraussetzung, dass es sich bei der Federprobe tatsächlich um die Hand des Schreibers A handelt, was wahrscheinlich zu bezweifeln ist. Zumindest wird die Federprobe, die deutlich blasser ist als der Haupttext und wohl mit einer anderen Tinte geschrieben wurde, nicht zeitgleich mit diesem aufgezeichnet worden sein.22 Hartls Herstellung einer »folgerichtige[n] Ordnung der Szenenfolge«23 sowie die vollständige Einfügung der meist lateinischen Lieder wurde von Rudolf Meier in seiner Edition des ‘Innsbrucker Osterspiels’ von 1962 übernommen. Meier übersetzt den Text ins Neuhochdeutsche; auch er greift in den Text ein, wobei er in der Regel Hartl folgt, im Unterschied zu diesem jedoch ohne jegliche Kennzeichnung. Von den beiden anderen in der Handschrift enthaltenen Spielen, dem Mariä-Himmelfahrt-Spiel und dem Fronleichnamsspiel, liegt nach wie vor als einzige die Ausgabe Mones vor.
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Karl Konrad Polheim, Die doppelte Eintragung. Zur Neustifter-Innsbrucker Spielhandschrift, in: ders., Studien zum Volksschauspiel und mittelalterlichen Drama, Paderborn u. a. 2002, S. 93–96. Auch Siller [Anm. 6], S. 399–402, sieht offenbar keinen Zusammenhang dieser Hand mit der des Schreibers A. Meier [Anm. 2], S. 170.
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Mone ediert und kommentiert lediglich den Haupttext der Handschrift und berücksichtigt keine Zusätze wie etwa die Randbemerkungen. Den gestrichenen lateinischen Zauberspruch hält er für das Fragment eines lateinischen Spiels, erwähnt ihn jedoch nur am Rande. Zur Oswald-Notiz äußert er sich überhaupt nicht. Der Zauberspruch ist Gegenstand eines längeren Aufsatzes von Walter Neuhauser (1979), der ihn eingehend untersucht und an derselben Stelle auch ediert und übersetzt.24 Abschließend ist das Vollfaksimile von Eugen Thurnher und Walter Neuhauser von 1975 zu erwähnen,25 das einen guten Einblick in die äußere Gestalt der Handschrift ermöglicht und in der Einleitung eine ausführliche Beschreibung liefert. Festzuhalten ist, dass die einzige einigermaßen handschriftnahe Edition aller drei Spiele aus dem Jahre 1841 stammt; auch wenn damit eine beachtliche und anerkennenswerte Leistung erbracht wurde, indem die Texte in einer durchaus brauchbaren Form zur Verfügung gestellt wurden, kann diese Edition, vor allem aufgrund des fehlenden textkritischen Apparates, keinesfalls heutigen editorischen Ansprüchen genügen. Von den drei Spielen wurde allein das Osterspiel, zum Teil unter starken Eingriffen in den Text und in die Szenenfolge neu herausgegeben. Die einzige existierende Ausgabe der lateinischen Beschwörungsformel findet sich in einem 1975 erschienenen Aufsatz. Aus diesem Grunde halte ich eine kritische Neuedition der gesamten Handschrift für sinnvoll und notwendig, damit ihr gesamter Inhalt der wissenschaftlichen Öffentlichkeit in einer gegenwärtigen Ansprüchen genügenden Form zugänglich gemacht wird.
Zur Neuedition In den letzten Jahren ist viel über die ›ideale‹ Form für Editionen mittelalterlicher Spiele und ihre Kommentierung diskutiert worden: Immer wieder wurde dabei gefordert, bei einer Neuedition stärker auf den spezifischen Aufführungsaspekt Rücksicht zu nehmen, der bei älteren Editionen in der Regel keine Rolle spielte. Dies ging gelegentlich sogar bis zur Forderung der Rekonstruktion eines ›Aufführungs-Originals‹, das der Ausgangspunkt der Edition sein sollte.26 Bei aller Begeisterung über 24 25 26
Neuhauser [Anm. 7]. Thurnher und Neuhauser [Anm. 3]. Dies ist z. B. bei Klaus Wolf der Fall, der am Beispiel seines Kommentars der Frankfurter Passionsspielgruppe ein neues, grundlegendes System von Kommentaren für mittelalterliche Spiele entwickelt: Klaus Wolf, Für eine neue Form der Kommentierung geistlicher Spiele. Die Frankfurter Spiele als Beispiel der Rekonstruktion von Aufführungswirklichkeit, in: Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der frühen Neuzeit, hg. von Hans-Joachim Ziegeler, Tübingen 2004, S. 273–312. Vgl. außerdem Johannes Janota, Auf der Suche nach gattungsadäquaten Editionsformen bei der Herausgabe mittelalterlicher Spiele, in: Kühebacher [Anm. 14], S. 74–87; allgemein zur Edition mittelalterlicher Spiele vgl. z. B. Paul-Gerhard Völker, Schwierigkeiten bei der Edition geistlicher Spiele des Mittelalters, in: Kolloquium über Probleme altgermanistischer Editionen, Marbach am Neckar, 26. u. 27. April 1966, hg. von Hugo Kuhn, Karl Stackmann und Dieter Wuttke,
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diese Feststellung sollte man sich jedoch immer der Gefahren bewusst sein, die ein solcher Rekonstruktionsversuch mit sich bringt. Selbstredend muss man als Herausgeber eines mittelalterlichen Spiels allen Hinweisen nachgehen, die auf einen Aufführungskontext, vielleicht sogar einen konkreten, schließen lassen; besonders günstig ist es, wenn in den Texten selbst sichtbar wird, dass sie – vielleicht sogar mehrmals – für Aufführungen bearbeitet wurden oder es gar sekundäre Zeugnisse wie Aktenvermerke, Rollenregister oder Bühnenpläne gibt.27 Doch häufig genug fehlen solche Hinweise, oder sie sind nicht detailliert genug, dass man tatsächlich eine zugrundeliegende Aufführung rekonstruieren könnte. Überdies gilt es zu bedenken, dass man Texten, die keine konkreten Aufführungsspuren aufweisen, durch die Rekonstruktion e i n e r Aufführung möglicherweise unrecht tut, wenn man mit Hilfe von Rückschlüssen aus anderen Stücken, über die mehr Informationen erhalten sind, einen konkreten Ablauf zu rekonstruieren sucht. Es ist nicht davon auszugehen, dass solche Texte immer mit Blick auf eine einzige konkrete Aufführung verfasst worden seien, was gerade an solchen Handschriften deutlich wird, die verschiedene Bearbeitungsstufen erkennen lassen.28 Bei einer Neuedition einer Quelle wie der Innsbrucker Spielhandschrift, die gerade hinsichtlich des Aufführungskontextes, abgesehen von den wenigen am Rand eingetragenen Regieanweisungen im Osterspiel, sehr wenige Informationen bietet und bei der sich obendrein ein Versuch, sekundäre Zeugnisse zu finden, als nahezu unmöglich erweist,29 wird der Herausgeber deshalb gut daran tun, sich an das zu halten, was die Handschrift überliefert, darüber hinaus jedoch nicht allzu weitreichende Spekulationen anzustellen. Dennoch ist es, dies sei noch einmal betont, selbstverständlich, dass bei einer Edition auf die Darbietungsform der Aufführung Rücksicht genommen werden muss.30 Was die Textherstellung betrifft, so stellen sich, da es sich um unikal überlieferte Texte handelt, nicht die ›klassischen‹ Probleme, wie sie Mehrfachüberlieferung mit sich bringt.31 Dennoch geht es natürlich nicht darum, einfach einen ›diplomatischen
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Wiesbaden 1968, S. 160–168; Hansjürgen Linke, Die Gratwanderung des Spieleditors, in: Methoden und Probleme der Edition mittelalterlicher deutscher Texte. Bamberger Fachtagung, 26.–29. Juni 1991, hg. von Rolf Bergmann und Kurt Gärtner (Beiheft zu editio 4), Tübingen 1993, S. 137–155; Dieter Trauden, Archetyp oder Aufführung? Überlegungen zur Edition mittelalterlicher Dramen, in: ABäG 37 (1993), S. 131–145. Vgl. Trauden [Anm. 26], S. 138f. Vgl. ebd. Laut Siller [Anm. 6], S. 392, fehlen »für Neustift mittelalterliche archivalische Belege von Spielaufführungen gänzlich«, und falls eine Aufführung an ihrem Thüringer Entstehungsort vorgesehen gewesen sein sollte, wüsste man nicht einmal, wo zu suchen wäre. Ähnliches fordert Trauden [Anm. 26], S. 144. Vgl. z. B. den Überblick über Editionsprobleme und –methoden und ihre Entwicklung bei Hans Fromm, Zur Geschichte der Textkritik und Edition mittelalterlicher Texte, in: Beiträge zur Methodengeschichte der neueren Philologien. Zum 125jährigen Bestehen des Max Niemeyer Verlages, hg. von Robert Harsch-Niemeyer, Tübingen 1995, S. 63–90.
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Abdruck‹ des Textes zu geben, der getreu jeden Fehler des Schreibers wiedergibt, sondern »einen verständlichen Text herzustellen, der dem historisch Überlieferten so nah wie möglich steht.«32 Dies bedeutet, dass an unverständlichen Stellen, sofern eine Besserungsmöglichkeit auf der Hand liegt, oder bei augenscheinlichen Schreiberversehen eingegriffen werden muss. Solche begegnen in der Handschrift, obwohl die Texte insgesamt verhältnismäßig sorgfältig niedergeschrieben wurden, immer wieder, vorwiegend in Form kleinerer Unsicherheiten oder Wortauslassungen, etwa czolczer statt stolczer.33 Die Besserungen müssen selbstverständlich im textkritischen Apparat verzeichnet werden. Ein kleines Beispiel aus dem ‘Innsbrucker Osterspiel’ sei etwas ausführlicher besprochen. In der Hortulanusszene, deren Gerüst die lateinische Marienklage bildet, hat die tertia persona folgenden Text: Awe der mere, awe der jemmerlichen clage, daz grab ist lere, awe myner clage! wo ist nue hin [min] trost, der mich von sunden [hat] erlost?34
Barbara Thoran untersucht diese Textstelle im Zusammenhang mit der Frage einer möglichen Beeinflussung der Tiroler Spieltradition durch das ‘Innsbrucker Osterspiel’.35 Auffällig ist, dass im vorliegenden Spiel gegenüber anderen Textbelegen bereits in der vierten Zeile eine verderbte Stelle auftritt: In allen anderen Belegen, die diese Zeile wiedergeben, steht O we meiner tage.36 Mone folgt hier der Handschrift und setzt clage, während Hartl und mit ihm auch Meier zu tage bessern, ohne ihre Entscheidung näher zu erläutern.37 Bei Kenntnis des Sachverhaltes liegt die Besserung auf der Hand, und man wird bei einer Neuedition Hartl folgen müssen; allerdings ist es angebracht, die Entscheidung durch eine knappe Erläuterung zu begründen. Ebenfalls sollte man die bereits von Mone durchgeführte Einfügung von min bzw. hat in den beiden folgenden Zeilen übernehmen. Bei der ersten Stelle wäre auch die Er32
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Rebekka Nöcker und Martina Schuler, Überlieferung, Edition, Interpretation. Zur Überlieferung der Nürnberger Fastnachtspiele des 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts, in: Fastnachtspiele. Weltliches Schauspiel in literarischen und kulturellen Kontexten, hg. von Klaus Ridder, Tübingen 2009, S. 363–379, Zitat S. 374. Vgl. außerdem: Die deutsche Märendichtung des 15. Jahrhunderts, hg. von Hanns Fischer (MTU 12), München 1966, S. XI; Das Königsteiner Liederbuch. Ms. germ. qu. 719 Berlin, hg. von Paul Sappler (MTU 29), München 1970, S. 11 f. Fol. 46r; Mone v. 843; Hartl v. 930; beide lesen jedoch st am Wortbeginn, was die Handschrift nicht bestätigt. Der Text ist zitiert nach Mone [Anm. 1], v. 1025–1030. Thoran, Fragen [Anm. 13], S. 194–198. Etwa im ‘Wiener Osterspiel’, v. 822 (Das Wiener Osterspiel. Abdruck der Handschrift und Leseausgabe, hg. von Hans Blosen [Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 33], Berlin 1979). Für Thoran ist dies ein Beweis dafür, dass der Innsbrucker Text keine direkte Vorlage für andere Spiele gewesen sein kann (vgl. Thoran, Fragen [Anm. 13], S. 198). Hartl, identisch Meier [Anm. 2], v. 1123–1126.
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Anne Auditor
wägung einer Besserung von hin zu min denkbar, da die Parallelstellen Varianten mit und ohne hin aufweisen. Ein besonderes Problem stellt bei der Edition geistlicher Spiele die »Komplettierung nur andeutungsweise aufgezeichneter Textpartien«38 dar, bei denen es sich größtenteils um lateinische Teile, häufig Lieder, handelt. Diese waren den zeitgenössischen Schreibern und Rezipienten geläufig, so dass normalerweise die Verzeichnung eines Incipits genügte, damit die Texte identifiziert werden konnten.39 Für den heutigen Leser erschließen sich diese anzitierten Texte jedoch nicht mehr ohne weiteres. Die lateinischen Lieder im Osterspiel wurden bereits von Hartl rekonstruiert, allerdings geht er nicht darauf ein, wie er zu seinen Ergebnissen kommt. Für die beiden anderen Spiele stehen diese Rekonstruktionen noch aus. Linke weist mit Nachdruck darauf hin, dass hierbei äußerste Vorsicht geboten sei. Zum einen sei häufig der Kontext einzubeziehen, wenn es um die Länge des einzufügenden Textes gehe, zum anderen müsse man bei Gesangstexten nach Möglichkeit immer zunächst die am Aufführungsort wahrscheinlichste Version des Liedes ermitteln.40 Gerade dies gestaltet sich jedoch bei den Innsbrucker Spielen schwierig, da aufgrund der unsicheren Entstehungsgeschichte ein Aufführungskontext nicht zu greifen ist. Es stellt sich außerdem die Frage, woran man sich überhaupt halten soll: an eine möglicherweise vom mitteldeutschen Schreiber ›intendierte‹ Aufführung in Thüringen mit thüringischem Kontext? Oder an den zumindest für 1445 gesicherten Aufbewahrungsort der Handschrift, Neustift? Dass über mögliche Aufführungen zumindest nachgedacht wurde, zeigen die Randbemerkungen, doch sind diese nicht eindeutig einer Mundart oder einem konkreten Aufführungskontext zuzuordnen. Eine Neuedition der Handschrift schließt m. E. eine Beigabe der Randbemerkungen und Federproben sowie der lateinischen Zauberformel ein, damit ein möglichst genaues Bild vom Aussehen und von der Benutzung der Handschrift vermittelt wird. Die editorische Wiedergabe der Marginalien und Federproben lässt sich jedoch erst im fortschreitenden Prozess der Haupttextedition festlegen, da ihre Funktion erst mit einem Überblick über alle Fälle erkennbar wird. Vorerst erscheint es sinnvoll, sie im textkritischen Apparat aufzuführen. Denkbar wäre auch ein eigener Apparat, der den Vorteil hätte, dass die Einträge gleich an Ort und Stelle kommentiert werden könnten, was etwa bei den Regieanweisungen mit Blick auf einen möglichen Aufführungskontext wünschenswert wäre. Der Zauberspruch könnte mitsamt einer Übersetzung in einem Anhang beigegeben werden, da er weder zum Haupttext gehört noch auf ihn Bezug nimmt. Die Neuedition soll die Texte der Innsbrucker Spielhandschrift im Hinblick auf eine Verwendung im Rahmen literatur- und kulturwissenschaftlicher Forschungen, möglicherweise auch im akademischen Unterricht, aufbereiten. Aus diesem Grunde strebe 38 39 40
Linke [Anm. 26], S. 149. Vgl. ebd. Ebd., S. 149 f.
Die ›Innsbrucker Spielhandschrift‹
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ich bei allen zusätzlichen Informationen über die Texte eine möglichst große Offenheit an, um die Gefahr des ›Veraltens‹ möglichst gering zu halten. Im Kommentar sollen somit keine Interpretationswege vorgegeben, sondern lediglich Möglichkeiten angedeutet werden. Auch an eine vollständige Übersetzung des Haupttextes ist deshalb nicht gedacht.41 Die Festlegung auf eine von mehreren Sinnvarianten, wie sie eine Übersetzung beständig fordert, widerspricht dem Anliegen einer kritischen Ausgabe. Daher erscheint die Beigabe eines zweiten Apparates mit der Funktion eines Stellenkommentars sinnvoll, der zur Erhellung schwer verständlicher Textstellen dienen und überdies zum Verständnis notwendige Sacherläuterungen enthalten soll. Die sprachlichen Lesehilfen werden im Wesentlichen auf die Eigenheiten der mitteldeutschen Schreibsprache einzugehen haben, da diese in ihren Abweichungen von den gewohnten normalisierten Wörterbuchformen vermutlich die größten Schwierigkeiten bereiten. Auch bei den Sacherläuterungen ist wohl eine Konzentration auf die Stellen angebracht, an denen der Text ohne einen entsprechenden Hinweis unverständlich wäre, so dass der Kommentar nicht mit interessanten, aber entbehrlichen Informationen überfrachtet wird. Die Schwierigkeiten, die sich bei der Entscheidung stellen, ob eine Erläuterung zwingend notwendig ist oder nicht, liegen auf der Hand; dennoch halte ich es für vernünftig, zunächst einmal größtmögliche Knappheit und – selbstverständlich nie vollkommen erreichbare – Objektivität anzustreben.42 Wie bereits oben angedeutet, soll außerdem der mögliche, wenn auch vermutlich schwer greifbare Aufführungskontext berücksichtigt werden. Ob hierfür der Stellenkommentar der richtige Platz ist, muss noch entschieden werden.
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Eine Ausnahme könnten die lateinischen Textteile und Regieanweisungen, die über simple dicit-Formeln hinausgehen, darstellen. Vgl. z. B. Marita Mathijsen, Die ‘sieben Todsünden’ des Kommentars, in: Text und Edition. Positionen und Perspektiven, hg. von Rüdiger Nutt-Kofoth u. a., Berlin 2000, S. 245–261, bes. S. 257–259; Trauden [Anm. 26], S. 142 f.
‘Ein spruch von einer geisterin’ von Rosenplüt, vier Priamel und ‘Ein antwu´rt vmb einen ters’ von Christoph Gerhardt
Die im Folgenden erstmals bekannt gemachten sechs deutschen Reimpaartexte, ein Rosenplüt zugewiesenes Märe, vier Priamel und ein Rätsel, sind in der Handschrift Ms. L 1200 der Kantons- und Universitätsbibliothek Freiburg (Schweiz)/Fribourg überliefert, auf die ich durch einen knappen Hinweis Nigel F. Palmers aufmerksam wurde.1 Die Handschrift ist ausführlich beschrieben worden von Romain Jurot,2 dessen Beschreibung ich in aller gebotenen Kürze die wichtigsten Daten entnehme. Die Papierhandschrift (175 Bll., 215 x 145 mm Blattgröße, 155 x 70–80 mm Schriftraum, einspaltig mit 24–26 Zeilen pro Seite) ist in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts vermutlich in Fribourg geschrieben worden und weist Fribourger Besitzervermerke aus dem 16. Jahrhundert auf. Sie enthält verschiedene französische Texte, auf deren Aufzählung ich hier verzichten kann, und nur in dem ebenfalls dem 15. Jahrhundert entstammenden, aber nicht näher zu bestimmenden Nachtrag Bl. 94v–97r die genannten deutschen Texte, dazu vom gleichen Schreiber Bl. 98r–99r ‘Les quatre tempe´raments’ französisch (4 x 6 Verse) und deutsch (4 x 8 Verse).3 Wie die deutschen Texte in die Handschrift gelangt sind, ist nicht geklärt. Zur Sprach- und Literatursituation in Fribourg, auf die ich nicht näher einzugehen vermag, sind die Ausführungen Palmers [Anm. 1] zu vergleichen; die seltene Zweisprachigkeit der Handschrift bringt einen zusätzlichen Aspekt ein. Hier nur der generelle Hinweis auf den alemannischen Charakter der Schreibsprache der Texte, bei dem sich gelegentlich die 1
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S. Nigel F. Palmer, Bibelübersetzung und Heilsgeschichte. Studien zur Freiburger Perikopenhandschrift von 1462 und zu den deutschsprachigen Lektionaren des 15. Jahrhunderts. Mit einem Anhang: Deutschsprachige Handschriften, Inkunabeln und Frührucke aus Freiburger Bibliotheksbesitz bis c. 1600 (Wolfgang Stammler Gastprofessur 9), Berlin/New York 2007, S. 140 Anm. 194. S. Romain Jurot, Catalogue des manuscrits me´die´vaux de la Bibliothe`que cantonale et universitaire de Fribourg, Dietikon/Zürich 2006, S. 252–255. S. bei Jurot [Anm. 2], S. 16, eine Abbildung von Bl. 98v mit dem Anfang der deutschen ‘Vier Temperamente’-Verse. Soweit die Abbildung einen Vergleich zulässt, sind die Verse in der Fribourger Handschrift, sieht man von dialektbedingten Veränderungen ab, identisch mit den Versen, die Ruth Franke, Peter van Zirns Handschrift. Ein deutsches Schulbuch vom Ende des 15. Jahrhunderts (Germanische Studien 127), Berlin 1932, S. 42–45, abgedruckt hat (mit Abb.). Bei Erwin Panofsky und Fritz Saxl, Dürers ‘Melencolia I’. Eine quellen- und typengeschichtliche Untersuchung (Studien der Bibliothek Warburg 2), Leipzig/Berlin 1923, S. 57 Anm. 1, ist ein Einblattdruck (mit Abb. 21), Mitte 15. Jh., nachgewiesen, der diese Verse ebenfalls bietet. Ebenso wie die Peters van Zirn sind die Verse in der Fribourger Handschrift demnach eine Abschrift und keine ›Original‹-Übersetzung der vorausgehenden französischen Verse.
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Christoph Gerhardt
bairische Vorlage zu erkennen zu geben scheint. Denn die graphischen Reimungenauigkeiten können dadurch entstanden sein, dass die bairische Form der Vorlage vom Schreiber nur in einem der beiden Reimwörter in die entsprechende alemannische Lautung umgesetzt worden ist, in einem Reimpaar also bairische und alemannische Lautung aufeinander treffen. Dieses Textcorpus lässt sich als Miniatursammlung aus dem Bereich der ›Kleinstformen der Literatur‹ interpretieren. Es stellt sich, was die drei erfassten Gattungen ›Märe‹, ›Priamel‹ und ›Rätsel‹ anbelangt, neben eine größere Sammlung, wie sie z. B. im Codex Weimar Q 565 (wie zu I,72) vorliegt und wie sie, das Gesamtspektrum in ganzer Breite repräsentierend, die Wolfenbüttler Priamelhandschrift (wie zu I,50) überliefert.4 ***** Bei dem folgenden buchstäblichen Textabdruck glaube ich, mir die stillschweigende Auflösung der üblichen Kürzel – Nasalstrich, er-Kürzel durch hochgestellten Haken, sp ach (vgl. Schneider [wie zu I,10], S. 86 f.) – erlauben zu dürfen, da mit deren Kennzeichnung z. B. durch Kursivierung in aller Regel kein Erkenntnisgewinn verbunden ist. Eine Verszählung ist ebenso eingeführt worden wie bei dem Märe eine moderne Interpunktion; die wenigen Virgel sind zusätzlich beibehalten. Die nur selten notwendigen Konjekturen oder die anfallenden Reimaus- bzw. -angleichungen habe ich in den Anmerkungen z. St. diskutiert, aber nicht in den Text selbst aufgenommen, um nicht die Authentizität des Schreibers in Frage zu stellen oder zu gefährden.
I [94v] Ein spruch von einer geisterin 1
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Horent wunder was beschach o
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Eines morgens fru vor tag Von einer grossen geisterin. e e Horent von ir fromde sin: o e Eines morgens stunt si vf gar fru. e Mit grosser andacht vnd mit mu o Hub si sich vf vß irer zell o Vnd ylet zu der metten snell. o e Si kam zu fru /e / man vf sloß, Jr andacht die wz also groß. e Do si versperret vand die tur, e Andechtig kniet si da fur Vnd wolt sprechen ir gebett, e Bis man die kilchen vf getat.
S. Eulings Einleitung, S. IX.
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Der pfaff, der da pfarrer was, o Der sas ob einem buch vnd las, Der begond dick zem pfenster vs sehen, Ob er den tag icht sech herbrechen. Do er die geisterin ersach, e e Nu mogt ir horen was beschach. o Er warf gar schier von jm dz buch o Vnd zoch an zwen nider schuch o o e Vnd hub sich zu der tur vs schier o Vnd sprach sin gebett vnd gieng zu ir, r Als er in die kilchen solt [95 ] Vnd dar jnn metten sprechen wolt. Do er si sach, do zuckt er wider Vnd sanck uf die erde nider Vnd fiel hin vff den weck, Als er von hertzen ser erschreck. Die geisterin wart sin gewar, o e o Si hub sich zuglich zu jm dar Vnd sprach: »got geb v´ch sine stu´r, Erschreckt nit, ich bin gehu´r.« Er sach vf vnd blickt si an: »Wie hant ir so v´bel getan, Das ir mich hant so ser erschreckt, Das ich ietz hie lig zerfleckt. e e Das konnent ir niemer gebussen, e Giengent ir gen rom mit blossen fussen, Noch wurde es v´ch nit vergeben, e Manig meß vnd gebett belibt vnderwegen. Got ein plag vber v´ch verhengt, Es sy denn dz irs widerbrengt.« o Si sprach: »herre, gent mir v´wern rat, e e Das ich dort nit kom in not, e Wie ich es widerbringen mug, o e Ob vwer hilf icht dar zu tug.« o Er sprach: »ich weis einen guten rat, Den mir min hertz gegeben hat: o Einen andren pfaffen mus ich machen. [95v] Da mit wil ichs vndersachen, e o Das ı´r dort nit kumpt in pin. o ´ wer hilf mus ouch da by sin.« V o Si sprach: »mag ich v´ch da zu nutz gesin?« »Ja«, sprach er / »gan wir in die kilchen / nein.« Do slos er vf sin tu´r gar schier,
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Er furt si hin in vnd sprach zu ir: »Legent v´ch nider vff die erden, So laß ich v´ch jnne werden, Wie wir einen pfaffen gewinnen.« Si sprach: »land mich werden jnne, Ob mir icht geschech we.« »Nein«, sprach er: »jr gerent sin me.« e Er sprach: »ir solt die bein entecken, e Vnd solt v´ch vß ein ander strecken.« o Si hub vf rock vnd hemd e Vnd sprach: »die arbeit ist mir fromd, o Jch hab ir versucht nie.« Do viel er behend vff si Vnd bot ir sinen nagel, e Als in nider slug der hagel. Si sprach: »herre, nemt v´ch an der wil, o Jr hant einen vngefugen stil, Er fu´lt mir min bede hend. o Land mich rucken zu der wend e Das ich v´ch mog her wider gehaben. [96r] e Konnend ir denn, so su´llent ir traben Vnd reget die hindervierteil stark Vnd sint fu´rbz gen mir nit kark.« Dar nach tet si einen grossen su´fzen. Si sprach: »herre, mir wil scheutzen, Jch fu´rcht der armen sele min, e Das si dort icht kome in pin.« Der pfaff sprach: »verhab dich oben! o Jch hab vnden zu geschoben, Dz si nit her vs mag.« Der sigrist in der kilchen lag, e e Der hat gehoret ir gekos. e Der wart von zorn also bos, Das er sich het verwegen, o Er were zu lang gelegen o o Vnd hub sich, zu der tu´r ze luffen Vnd fellet oben vbern huffen. »Nu´merdumen, wz ist do, Das ich wird geeffet so?« Der pfaff sprach: »nu bin ichs, jo.« o Der sigrist sprach: »wz tund ir do?« »Da flick ich min v´berru´ck ze hand, Das hat sich niden vf getrant,
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Jch weis ob ichs vermachen mag.« o Der Sigrist wider zu jm iach: o »Lieber herre, wie tund ir doch, Stechend ir nuwand in ein loch. [96v] Das dunkt mich gar ein seltzen neyen.« o Der pfaff kond wider zu jm jehen: »Da fu´rcht ich, mir zerru´nn der zwirn, Es spint gar vngern mine dirn.« Der sigrist sprach: »netzend vs vnd in, ´ ch wirt lange nit zerru´nn. V Jch sprich es by minen tru´wen, ´ ch hangent zwey grosse klu´ngeln V e Dort niden fu´r der vinster reyn. Zerru´nt v´ch herre, ich wil v´ch liehen, Jr sint vff der rechten ban. Jch wil gan ziehen metten an.« o Do sprach der pfaff zu der tocken, Do der sigrist lief zen gloggen: »Wol vf, der pfaff ist bereit!« Die geisterin jm da widerseit: »Herre, ich hab eins vergessen, Das hand min sin vs gemessen: o Ein pfaff mus einen meßner han. Dar vmb hebent wider an Vnd machend einen oder zwen Vnd land mich wider von v´ch gen.« o Do hub der pfaff wider an Vnd tett, als er vor hat getan Vnd schickt do die geisterin heim. Jr abblas der was so klein, o e Den si zu mettin het gelost, [97r] e Da von ir sel wart klein getrost. v Dar vmb rat ich allen frowen zart, e Das si sich huten vor semlicher mettivart, o Ob si wellen dz got ir er behut. o So het geredt der rosenblut. uu Explicit uu
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II 1
Welcher man einen diep fund ob sim schrin
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Vnd vier jm har die jm vyend sin Vnd einen hu´nd ob sim bachen Vnd oft sin teschen mit leren vachen Vnd einen wolf fund vnder schaffen Vnd sin wip by einem andren slaffen Wenn er si kuste an den munt e e Fu´r War der tate einen bosen fund
III 1
5
Welcher man einen Bock fint by einer zigen v Vnd ein gemeine frowen am ruggen ligen o Vnd einen buben ob eim spil fint allein v Vnd einen fisel zwu´schent frowen pein Vnd in einer rey ein stinkenden broden v Fu´r frowen ars fint mannes hoden Vnd ein beschissen kind in eim bad Der fint iecklichs an siner rechten stat IV
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o
Ein nu´we bruch die man anlegt Vnd falcken die man vf henden tregt [97v] Tutten seckel vornan an meigden o Wenn si sich zu dem tantz kleiden Vnd derm dar vs man macht bratwu´rst Junge sugende kinder die da tu´rst Vnd futzen die da hungrig sin v Den schu´bt man nichtz denn rofleisch in V
1
Welcher man einen hund hat der nit vacht
5
Vnd ein jungfrowen die jm sin wip versmacht o Vnd ein ku die nit milch git Vnd ein tochter die des nachts vß lit Vnd einen sun der gern spilt Vnd ein wip die jm heimlich ab stilt v o Vnd ein knecht der der frowen wartet zu der kerben o Der het ein recht gesind zu verderben
v
‘Ein spruch von einer geisterin’ . . .
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VI & Ein antwu´rt vmb einen ters 1
& Jst er klein / so ist er wacker Jst er kurtz / so ist er tapfer Jst er lang / so reicht er verre Wie er ist so hab ich in gern
Anmerkungen zu einzelnen Stellen Überschrift: Die Überschrift ist rot geschrieben, eingerückt und, u. U. später hinzugesetzt, durch größeres Spatium vom Gedicht abgesetzt. Der Überschriftentyp, der jeweils eine, meist die zuerst auftretende Hauptfigur nennt, ist in der Überlieferung der Rosenplütschen Mären recht verbreitet. Vgl. Die deutsche Märendichtung des 15. Jahrhunderts, hg. von Hanns Fischer (MTU 12), München 1966, Nr. 16a ‘Ain spruch von ainem maler’, Nr. 17b ‘Ain spruch von ainem palbirer’, Nr. 21a ‘Ein spruch vom varnnden schuler’, Nr. 22 ‘Ein Spruch von eynem Edel Man’, Nr. 23 ‘Ein Spruch von eym pawernn’ (aus jeweils unterschiedlichen Handschriften), usw. spruch: Der Begriff taucht gattungsübergreifend in der Überlieferung der Rosenplütschen Texte häufig auf, vgl. die Mären (hg. von Hanns Fischer) und die Reimpaarsprüche und Lieder. S. die Überschriften der Mären jeweils im Lesartenapparat von Nr. 15a, 16a, 17a, b, 18a, b, 21a, 22, 23. Vgl. ferner Hans Rosenplüt, Reimpaarsprüche und Lieder, hg. von Jörn Reichel (ATB 105), Tübingen 1990, Nr. 2a, 4, 11, 17, 18, 20 (aus jeweils unterschiedlichen Handschriften). geisterin: S. DWb IV,1,2,2747; Lexer I,800: ‘geistliche Frau’, ‘Begine’; s. auch u. Anm. zu V. 5–8 und Anm. zu V. 7. 1/2 beschach : tag: Zum Reim s. Karl Weinhold, Alemannische Grammatik, Berlin 1863, Nachdruck: Amsterdam 1967, § 214; er ist also, von der Aussprache her gesehen, im Alemannischen unanstößig. Vgl. V. 101/102. Doch auch im Bairischen ist auslautendes /g/ zu /ch/ geworden, s. Karl Weinhold, Bairische Grammatik, Berlin 1867, Nachdruck: Wiesbaden 1968, § 174. e
1 Horent: Initiale über drei Zeilen in rot. Die Majuskeln zu Versbeginn sind jeweils rot gestrichelt. 5–8 Vgl. Hundert noch ungedruckte Priameln des 15. Jahrhunderts, mit einer Einleitung hg. von Karl Euling (Göttinger Beiträge zur deutschen Philologie 2), Paderborn/Münster 1887, Nr. 62,1–3, 7 f. Wie die geysteryn gen himel furen: Die geisterin in irem wessen, Die altag in den puchern lessen, Und al morgen fru gen metten lauffen, [. . .] die farn gen himel, [. . .] Es err sie den [‘es hindere sie denn’] der teuffel dran.
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7 zell: Ob man den Hinweis auf die Zelle so konkret verstehen darf, dass es sich bei der geisterin um eine Ordensfrau (Nonne, Novizin) handelt und nicht um eine Begine (s. o. Anm. zur Überschrift), ist nicht sicher zu entscheiden. Das Verschlossensein der Kirche (V. 9, 11, 14, 57) und das Nächtigen des sigrist in der Kirche (V. 88) passen nicht so recht zu der Annahme, dass die mette (V. 8) – und die Verführungsszene – in einer der Zelle benachbarten Klosterkirche stattfindet. Aber vielleicht ist eine in sich stimmige, widerspruchsfreie Lokalisierung im Märe auch gar nicht angestrebt und zu erwarten, zumal auch V. 8 ylet keine Rückschlüsse auf eine konkrete Entfernungsangabe erlaubt. 10 wz: Zur im 15. Jahrhundert üblichen Schreibweise s. Karin Schneider, Paläographie und Handschriftenkunde für Germanisten. Eine Einführung (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte. Ergänzungsreihe 8), Tübingen 1999, S. 88. S. noch dz V. 21 u. ö. und fu´rbz V. 80. 14 kilchen: Zur durchgehend gebrauchten alemannischen Form s. Weinhold, Alem. Gr., § 194; vgl. V. 25, 56, 88. 17 pfenster: Zum anlautenden /pf/ in einem Lehnwort s. Weinhold, Alem. Gr., § 157; dens., Bair. Gr., § 128. 18 herbrechen: S. Lexer I, 618 f. erbre(c)hen ‘hervorstrahlen, s. zeigen’ (sonst meist uˆfbrechen, s. Lexer II,1688). Zum für das Alemannische kennzeichnenden »Vortritt eines hauchenden h vor vocalischen Anlaut« s. Weinhold, Alem. Gr., § 230. 19/20 Vgl. zu dieser Formel die Belegsammlung in Arnold E. Bergers Anmerkung zu V. 135 seiner Ausgabe des ‘Orendel’ (Orendel. Ein deutsches Spielmannsgedicht. Mit Einleitung und Anmerkungen hg. von A. E. Berger, Bonn 1888, Nachdruck: Berlin 1974). o
22 nider schuch: S. DWb VII,793 ‘niedriger schuh, schnürschuh, im gegensatz zu den knieschuhen, stiefeln’. 25 als: ‘als ob’, ebenso V. 30, 72, s. MWB I,170,1. 26 metten: S. Lexer I,2125 f. ‘Frühmesse’. 27 zuckt er wider: ‘zurück-, ausweichen’. e
32 zuglich: S. Lexer III,1168 zuclıˆche ‘rapidus’ (ohne literarischen Beleg); DWb XVI,435 (wenige neuzeitliche Belege). 38 zerfleckt: S. Lexer III,1092 ‘zerschlagen, -hauen, -spalten’. 39–44: Natürlich sind hier ganz reale Bußleistungen gemeint, doch gewinnt im Kontext des Märes z. B. die Pilgerschaft auch einen sexuellen ›Beigeschmack‹, s. u. Anmerkung zu V. 130; Malcolm Jones, The Secret Middle Ages, Stroud/Gloucestershire 2002, S. 256 f. ›The Sexual Pilgrim – Medieval Sex-tourists?‹. Vgl. unten S. 277 f.
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42 belibt vnderwegen: Vgl. Lexer, III,720 ‘unterbleiben’, hier eher: ‘sind vergeblich, umsonst’. 44 widerbrengt: Vgl. Lexer III,830, hier soviel als ‘wieder gut macht’. Vgl. V. 47. e
46 dort: S. zu V. 84. 50 hertz: Vgl. Kleinere mittelhochdeutsche Erzählungen, Fabeln und Lehrgedichte. II. Die Wolfenbüttler Handschrift 2. 4. Aug. 2°, hg. von Karl Euling (DTM 14: Die sogenannte Wolfenbüttler Priamelhandschrift), Berlin 1908, Nr. 456 ‘Wo die stuck an dem menschen sind’. In diesem Reimpaargedicht werden u. a. die Geistes- und Seelenkräfte sowie Affekte den Organen des Körpers zugewiesen, Furcht, Sinn und Glaube dem Herzen (V. 5, 12 f.). 52 vndersachen: Für das bei Lexer nicht belegte Verb führt das Findebuch zum mittelhochdeutschen Wortschatz, mit einem rückläufigen Index, hg. von Kurt Gärtner u. a., Stuttgart 1992, s. v. nur einen Beleg aus den Teichnerreden (hg. von Heinrich Niewöhner, 3 Bde. [DTM 44, 46, 48], Berlin 1953–1956), Nr. 693, V. 6, an mit der Übersetzung ‘unterscheiden’. Die Bedeutung ‘beilegen’, ‘schlichten’ bietet sich für beide Stellen eher an, hier u. U. ‘verhindern’. e
53 dort: S. zu V. 84, vgl. V. 46. 55/56 gesin : nein: gesıˆn ist alem., vgl. Frühneuhochdeutsche Grammatik, hg. von Oskar Reichmann und Klaus-Peter Wegera (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte. Hauptreihe 12), Tübingen 1993, § M149, entspricht also der Schreibsprache des Schreibers. Die Form nein ist wohl aus hin ıˆn (s. DWb IV,2,1414) gekürzt, s. aber V. 58. Die Abtrennung von nein durch eine Virgel bleibt auffällig. 59 Vgl. Johannes Müller, Schwert und Scheide. Der sexuelle und skatologische Wortschatz im Nürnberger Fastnachtspiel des 15. Jahrhunderts (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 2), Bern u. a. 1988, S. 117–121 ›Umschreibung des Koitus durch Lage oder Stellung von Mann und Frau‹. 61/62 gewinnen : jnne: Zum Reim mit überschießendem -n vgl. Weinhold, Alem. Gr., § 202, 350, 370; dens., Bair. Gr., § 167; Frühnhd. Gr., § L 62,4, S. 140 f. Zur Bedeutung (kint) gewinnen ‘gebären, zeugen’ s. BMZ III,710a,21–43. 65 Vgl. NGA 19 ‘Der Wirt’, V. 390 ir beinen tet er einen schranc, unz er in die schlingen braht den heber; Die deutsche Märendichtung, hg. H. Fischer, Nr. 3, V. 125 f. ja solt ir in versteinen, den zwischen euwern beinen; vgl. ebd., Nr. A3b, V. 127 und stiß in zwischen ire pein. 67 Zum damit verbundenen ›frechen‹ bzw. ›kühnen Griff‹ vgl. Edmund Wießner, Kommentar zu Heinrich Wittenwilers Ring (DLE. Reihe Realistik des Spätmittelalters. Kommentar zu Bd. 3), Leipzig 1936, Nachdruck Darmstadt 1964, Kommentar zu V. 54 (mit der entsprechenden Zeichnung in der Handschrift); Stefan Zeyen, . . . daz tet der liebe dorn. Erotische Metaphorik in der deutschsprachigen Lyrik des
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12.–14. Jahrhunderts (Item mediävistische Studien 5), Essen 1996, S. 185–189; Gaby Herchert, ‘Acker mir mein bestes Feld’. Untersuchungen zu erotischen Liederbuchliedern des späten Mittelalters. Mit Wörterbuch und Textsammlung (Internationale Hochschulschriften 201), Münster/New York 1996, S. 202 f. Der ›kühne Griff‹ ist nicht auf die Literatur beschränkt, er findet sich auch auf Bildern, z. B. im Palazzo Schifanoia, Ferrara, auf der Ostwand bei der Darstellung des ›April‹, oberes Band: Man sieht zwischen stehenden Musikantinnen und Jünglingen ein sitzendes Liebespaar. Während der Liebhaber den rechten Arm um den Hals der jungen Frau gelegt hat, langt er mit seiner linken Hand ihr ›frech‹ in den Rock hinein. Diesem linken Arm versucht eine weitere sitzende junge Frau einen Blütenkranz überzuziehen. Im Übrigen ist es seit der Antike die linke Hand, die in eroticis aktiv ist, s. Gaston Vorberg, Glossarium Eroticum, Stuttgart o. J. [1928–1932], Nachdruck Hanau a. M. o. J. [1965], S. 297 f. s. v. laeva. e
67/68 hemd : fromd: Zum Reim s. Weinhold, Alem. Gr., § 16, 28; dens., Bair. Gr., § 13. 71 nagel: Zur erotischen Metapher s. Zeyen, S. 161; Müller, S. 83 f., S. 133; NGA 19 ‘Der Wirt’, V. 499 darin er sinen nagel stiez. Vgl. im Fastnachtspiel ‘Ein EhebruchProzeß’ (Rosenplüt-Corpus; Fastnachtspiele aus dem 15. Jahrhundert, hg. von Adelbert v. Keller, Stuttgart 1853, Nr. 10, S. 101,33 f.) Und so wurd im allererst sein zagel Gar ein wol genutzter nagel; Die deutsche Märendichtung, hg. H. Fischer, Nr. A4a, V. 268; ebd., A4b, V. 247. Es ist auch Punkt hinter nagel möglich, Komma nach V. 72. Der Reim nagel : zagel auch in Hundert Priameln, hg. K. Euling, Nr. 13,5 f. 72 Der Vers ist wohl an V. 70 syntaktisch anzuschließen: ‘als ob ihn der Hagel niedergestreckt hätte’. Vgl. Codex Weimar Q 565, bearbeitet v. Elisabeth Kully (Bibliotheca Germanica 25. Deutsche Sammelhandschriften des späten Mittelalters), Bern/ München 1982, S. 81, Nr. 3,13 f. oder mich schlag der hagel, So wais ich, das eines mannes zagell [. . .] 73 nemt v´ch an der wil: Wohl zu anenemen ‘sich einer Sache annehmen, sich etwas zu Herzen nehmen, sich etwas getrauen’ (MWB I,262). Hier etwa: ‘traut euch jetzt etwas zu’. 74 stil: Zu vergleichbaren Umschreibungen (›Stange‹ [s. in: Die deutsche Märendichtung, hg. H. Fischer, Nr. 18a Rosenplüt, V. 124 Lesart Er warde seiner großen stangen gewar], ›Stock‹, ›Stecken‹ [s. noch Wießners Kommentar zu Wittenwilers Ring, zu V. 2159 f.]) s. Müller, S. 81, 84 f., 99; Herchert, S. 208; Karl Filzeck, Metaphorische Bildungen im älteren deutschen Fastnachtsspiel, Diss. phil. Köln/Würzburg 1933, S. 50 f.; Heribert Hoven, Studien zur Erotik in der deutschen Märendichtung (GAG 256), Göppingen 1978, S. 334. Vgl. NGA 21 ‘Minnedurst’, V. 200 f. er bot ir da ze stete den schaffenstil in ir hant (vgl. die Anmerkung zum folgenden Vers); V. 224 f. der knabe bot ir aber dar sinen schaffenstil als e und V. 236 f. der knabe satzt ir aber an zem dritten mal den schaffenstil; Lexer II,632 nur mit diesen Belegen, aber allein
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mit der Bedeutung ‘stiel eines [. . .] schöpfgefässes’; hier gewiß doppeldeutig mit der übertragenen Bedeutung ‘Penis’ gebraucht. 75 Vgl. die Beispiele bei Zeyen, S. 91 und 97, und in: Wießner, Kommentar zu Wittenwilers Ring, zu V. 75. S. ferner Götfrid von Nifen, KLD 15, XXXIX,4,2; Neidhart (hg. von Moriz Haupt und Edmund Wießner, Leipzig 1923), S. XLVI,11 f; Neidhart (hg. von Edmund Wießner, Hanns Fischer und Paul Sappler [ATB 44], Tübingen 1999), Winterlied VIII,Va,6; Neidhart Fuchs (Narrenbuch, hg. von Felix Bobertag, Berlin/Stuttgart 1884), V. 2898; Bergliederbüchlein, hg. von Elizabeth Mincoff-Marriage, Leipzig 1936, Nr. 40,8,2; ‘Die Nachtigall’, GA II, Nr. 25, V. 212; Die deutsche Märendichtung, hg. H. Fischer, Nr. 50,1, V. 4; ebd., Nr. A3a, V. 212, 218; Nr. A3b, V. 134, 137; Codex Weimar Q 565, bearb. E. Kully, S. 81, Nr. 2, 15; das Beispiel u. zu III,4. o
76 rucken zu der wend: Vgl. das Beispiel bei Zeyen, S. 97; Die deutsche Märendichtung, hg. H. Fischer, Nr. 2, V. 361 f. do leint er [sc. der prediger] sie an ein want, biß er die penitenz fant. Dazu slug er ir den pan; Nr. 36, V. 82 auch als nahe zu hauf geruckt. 77 ‘damit ich mich euch entgegen drücken kann’, ‘damit ich einen Gegendruck bieten kann’. 79 hindervierteil: S. DWb IV,2,1522 s. v. ‘Hinterviertel’ ‘der hintere vierte theil von schlachtthieren, [. . .] als schimpfwort’; gemeint ist wohl soviel als ‘Hintertheil’, ebd., Sp. 1520 f.; vgl. Lexer I,1297 und ‘Diu halbe bir’ (hg. von Georg Arnold Wolff, Diss. Erlangen 1893), V. 374 f. des toˆren hinderteile gap si stich über stich; Codex Weimar Q 565, bearb. E. Kully, S. 82, Nr. 4, 12–16 Ein tier [. . .] das tregt vier seyten fleisch an seinem kragen Vnd hinten an seinem halls zwen ers Vnd heißt mit vrlaub uor den hoden ein zers. S. ebd., S. 86, Nr. 4,5 Ars auff vnd ars nyder. Aus den Fastnachtspielen (hg. A. v. Keller) weist Müller, S. 82, nach: Nr. 30, S. 250,27 (Rosenplüt-Corpus?) Darzu han ich zwen groß arspacken und S. 83 aus Nr. 9, S. 96,1–4 (Rosenplüt-Corpus?) Der kund [. . .] Zusamen zimmern vier arspacken Und machet darauß zwen ers Und nagelt sie zusamen mit eim zers. 81/82 su´fzen : scheutzen: Der alemannische Schreiber hat offenbar die diphthongierte Form aus der Vorlage übernommen, s. Weinhold, Bair. Gr., § 84. Zum Reim /z/ : /tz/ s. ebd., § 152; dens., Alem. Gr., § 185. 82 mir wil scheutzen: Vgl. Lexer II,763 s. v. schiuzen ‘mir graut’. e
84 dort: ‘im Jenseits’, s. V. 46, 53; vgl. MWB s. v. [im Druck]. 85 verhab dich oben: ‘mach oben dicht, halt die Klappe’. Nach allgemeiner Vorstellung verließ die Seele den Körper durch den Mund, vgl. z. B. Karl Stüber, Commendatio animae. Sterben im Mittelalter (Geist und Werk der Zeiten 48), Bern/Frankfurt a. M. 1976, S. 133. Weil bei Judas, der sich aufgehängt hat, die Seele nicht durch den Mund dem Leib entkommen kann, macht sie sich den Weg frei, indem sie aus
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dem Leib hervorbricht und alle Eingeweide verschüttet werden, s. z. B. das ‘Donaueschinger Passionsspiel’ (hg. von Anthonius H. Touber, Stuttgart 1985), V. 2505a ff. mit der Anmerkung z. St., und zahlreiche bildliche Darstellungen, auf denen Judas die Eingeweide zum Leib herausquellen, z. B. den linken Flügel des elfenbeinernen Passionsdiptychons im Lübecker St. Annen-Museum (Paris, 1. Drittel des 14. Jahrhunderts). Vgl. Oswald Goetz, ‘Hie hencktt Judas’, in: Form und Inhalt. Kunstgeschichtliche Studien. Otto Schmitt zum 60. Geburtstag, hg. von Hans Wentzel, Stuttgart 1950, S. 105–137. 86 Das ›Verstöpseln‹ bzw. ›Verspunden‹, um in der Metaphorik des Märes zu bleiben, eines zweiten ›Ausgangs‹ für die Seele ist eine neue witzige Pointe. ‘durch schieben verschließen’ (DWb XVI,793) wäre etwas pointelos. 88 sigrist: ‘Messner, Küster’, s. DWb X,1,966 f. ›bis heute auf obd., besonders alemannischem (schweiz.) sprachgebiet lebendig‹; Lexer II,919; WMU II,1576b (»alle Belege alemannisch«). Vgl. V. 98, 102, 109. V. 123 übernimmt der Schreiber offenbar aus der Vorlage meßner, sofern nicht ein Bezeichnungsunterschied zwischen der handelnden Figur und dem ›geplanten‹ Kind intendiert sein sollte. Dass beim vierten Vorkommen eines ihm fremden Wortes einem Schreiber die dialektale Umsetzung des Wortes aus der Vorlage entgeht, wäre nicht weiter auffällig; Konsequenz ist eine seltene Schreibertugend! In dem Fastnachtspiel ‘Vom Werben um die Jungfrau’ aus dem Rosenplüt-Corpus (hg. A. v. Keller, Nr. 70) wird, wie mir Rebekka Nöcker, Tübingen, dankenswerter Weise mitgeteilt hat, S. 613,15; 614,30; 615,7.8.21 messner gebraucht neben pfaff (S. 613,15; 619,22) und pfarrer (S. 614,23.34; 615,6). 91 sich het verwegen: S. DWb XII,1,2153 ‘sich nicht um etwas kümmern, sich über etwas hinwegsetzen’, hier wohl soviel als ‘sich verspäten’, vielleicht ‘verschlafen’. 93 ‘und er erhob sich, um zu . . .’ 94 oben: ‘von oben herab’. Wenn die V. 118 genannten gloggen nicht die bei einer Messe gebrauchten kleinen Glocken sein sollten (vgl. in der Anm. z. St. das eine Beispiel aus dem Rosenplütschen Spruchgedicht), sondern große im Kirchturm hängende, wofür der Plural spräche, dann könnte ein Raum des Messners im Kirchturm z. B. hier angesprochen sein. Wenn hier keine den Raum betreffende Angabe gemeint sein sollte, müsste wohl so etwas wie ‘längelang’ oder ähnliches gemeint sein. 95 Nu´merdumen: Alltagssprachlich, wie im ‘Renner’ (hg. von Gustav Ehrismann, 4 Bde., Stuttgart 1908–1911, V. 13679–13682) beklagt wird, für in nomine domine. Häufig belegt u. a. in den frühen Nürnberger Fastnachtspielen, s. Wießners Kommentar zu Wittenwilers Ring, zu V. 321; Lexer II,119 f. s. v. numen; DWb VII,981 s. v. Numerdum. S. auch Die deutsche Märendichtung, hg. H. Fischer, Nr. 2, V. 115; Nr. 37, V. 237; Nr. 50,1, V. 9. 99 Nichtangezeigter Sprecherwechsel.
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flick: vgl. Filzeck, S. 44. Mit V. 100 f., 104 f., 107–114 ergibt sich ein metaphorisches Feld, das man auch als erotische Allegorie auffassen kann, die sich auf der Basis von ›nähen‹ ausgebildet hat; vgl. Die deutsche Märendichtung, hg. H. Fischer, Nr. A13, V. 75–92; Herchert, S. 213; Müller, S. 84. v´berru´ck: S. Lexer II,1652 s. v. überroc ‘superpellicium’, ‘Chorrock, -hemd’; Moriz Heyne, Fünf Bücher deutscher Hausaltertümer von den ältesten geschichtlichen Zeiten bis zum 16. Jahrhundert. Ein Lehrbuch, Bd. III: Körperpflege und Kleidung bei den Deutschen [. . .], Leipzig 1903, S. 292, Anm. 170, u. a. mit der Form uberruchke; Joseph Braun, Die liturgische Gewandung im Occident und Orient. Nach Ursprung und Entwicklung, Verwendung und Symbolik, Freiburg i. Br. 1907, Nachdr. Darmstadt 1964, S. 125–148. 101/102 mag : iach: S. o. zu V. 1. 101 vermachen: ‘einfassen, stopfen’, s. Lexer III,172. 104 nuwand: ‘in nichts anderes als’. Zur Form mit auslautendem Dental s. die Belege bei Lexer II,91 f. in ein loch stechen: S. Müller, S. 49, 99 und 149 zur erotischen Metapher loch. Vgl. den Beleg für stechen zwar im erotischen übertragenen Sinn, aber ohne den metaphorischen ›Nähen‹-Kontext in: Die deutsche Märendichtung, hg. H. Fischer, Nr. 32, V. 77 und der knecht hett die hurn gestochen; Hundert Priameln, hg. K. Euling, Nr. 13,5 Ein weits loch und ein kleiner nagel (vgl. V. 71). 105/106 neyen : jehen: S. bei Lexer II,29 die zahlreichen Nebenformen zu næjen, u. a. nehen. Aber auch neien würde einen von der Aussprache her gesehen erlaubten Reim ermöglichen, vgl. Weinhold, Alem. Gr., § 58 »ei für e, besonders früh und stark entwickelt«; ebd. § 234 zum Ausfall von /h/ inlautend zwischen Vokalen. Vgl. auch Weinhold, Bair. Gr., § 80 zu /ei/ für /e/. 109/110 in : zerru´nn: S. Weinhold, Alem. Gr., § 22, 82, 115, und dens., Bair. Gr., § 32 zum Zusammenfall von /i/ und /ü/ in der Aussprache. 109 netzen: S. DWb VII,640 ‘netzartig stricken, filet machen’. Im Findebuch zum mittelhochdeutschen Wortschatz s. v. ist ein Verb netzen aus der mitteldeutschen poetischen Paraphrase des Buches Hiob, hg. von Torsten Evert Karsten, Berlin 1910, V. 2980, nachgewiesen in der Bedeutung ‘verbinden, befestigen’; allerdings ist diese Bedeutungsansetzung nicht recht gesichert, s. das Wortverzeichnis s. v. und die Anm. z. St. vs vnd in: Hier wohl ‘(von) außen und innen’. 111/112 tru´wen : klu´ngeln: Der Reim erfordert das Substantiv kliuwe, s. Lexer, I,1627 ‘knäuel, kugel’; im Nachtrag III,275 ist Brun von Schonebeck, hg. von Arwed Fischer, Stuttgart 1893, V. 2730 f. nachgewiesen: min garn ich vaste zwirne und han iz uf ein kluen gewunden. Der Schreiber hat hier wohl das Diminutiv klungelıˆn ‘knäuel’ eingesetzt, s. Lexer I,1637; DWb V,1295 s. v. ‘Klüngel, Klünglein’ und das als »ein
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altes seltenes wort« bezeichnete ‘Klung, Klunge’. S. aber auch das gleichbedeutende kliuwelıˆn mit zahlreichen Nebenformen, Lexer I,1628. 112 hangent: Zu dem in diesem Kontext stereotyp verwendeten Verb vgl. u. a. das Fastnachtspiel ‘Ein Ehebruch-Prozeß’ aus dem Rosenplüt-Corpus (hg. A. v. Keller), Nr. 10, S. 98,15–17: bei den knoten, Die im zwischen nabel und knie hangen An seiner langen wasserstangen; NGA 18, V. 392–393 also daz man sin genoz sach hangen also klein als eins gevüegen ohsen bein; Die deutsche Märendichtung, hg. H. Fischer, Nr. 3, V. 156; Nr. 10, V. 44; Rosenplüt, Nr. 16a, V. 93 f.: er sach dem brobst an sein geschir und sprach: »wie hanget das so ir?«; Nr. 16b, V. 96: »hausfrau, wie hangt es so jagirr?«; Nr. A3a, V. 53, Nr. A3b, V. 51. S. auch Filzeck, S. 52; Müller, S. 99, 103. klu´ngeln: Verwandte metaphorische Ausdrücke im Zusammenhang mit hengen sind ebd. nachgewiesen: klotz, knoden, knopf, glocken, schellen (dazu Müller, S. 102; NGA 9 ‘Die zwei Beichten’, S. 62 Lesarten zu V. 94a-cc: [. . .] mit deinem troster wol gethan Das dy zw schellen hangen an). 113/114 reyn : liehen: Um einen reinen Reim herzustellen, ist einerseits die alemannische nicht diphthongierte, mittelhochdeutsche Normalform rıˆhe (bzw. rıˆhen) anzusetzen, s. Lexer II,430 ‘die vertiefte linie am menschlichen leibe, da, wo sich der bauch an die schenkel schließt’; ebenso s. u. im Priamel III,5. Andererseits ist lıˆhen ‘leihen, borgen’ intendiert. Zu /ie/ für /ıˆ/ s. Weinhold, Alem. Gr., § 63; dens., Bair. Gr., § 52, 89. Dass die Reime gehäuft in den Versen 109–114 ›gestört‹ sind, ist auffällig. Eine punktuelle Unaufmerksamkeit des Schreibers beim Abschreiben und zugleich dialektalen Umsetzen der Vorlagenschreibsprache in die ihm vertraute, einheimische ist die wahrscheinlichste Erklärung. rıˆhe in der genannten Bedeutung belegt mehrfach Andreas Schmeller, Bayer. Wb., 2II, 84; u. U. lag hier der Anlass für die Reimungenauigkeiten, der Schreiber war für einen Augenblick beim Schreiben des ihm befremdlich vorkommenden Wortes abgelenkt. 115 vff der rechten ban: s. MWB I,419 mit Belegen dieser Wendung. 116 ziehen metten an: S. Lexer I,65 früemesse anz. ‘zur frühmesse läuten’. Vgl. Die deutsche Märendichtung, hg. H. Fischer, Rosenplüt Nr. 19, V. 42 biß das man metten wurd anziehen; Rosenplüt, Reimpaarsprüche und Lieder, hg. J. Reichel, Nr. 13,137 Biß man das glocklein zu wandeln anzeucht; ‘Die Legende vom zwölfjährigen Mönchlein’, in: Die Deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse: Mittelalter, hg. von Helmut de Boor, München 1965, Bd. I, S. 351–355, V. 160 f. unz man die gloggen an zoˆch, diu zer samenunge erklanc (s. MWB I,311,47 ff.). 117 tocken: S. Müller, S. 97 zur Mehrdeutigkeit ‘Puppe’, ‘Mädchen’, ‘Brustwarze’. 118 gloggen: »Beliebt ist für das kk im alemannischen noch heute gg zu schreiben«, Weinhold, Alem. Gr., § 209; vgl. dens., Bair. Gr., § 173.
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119 Wol vf: S. DWb XIV,2,1079; hier sicher grob gemeint im Sinne von ‘mach dich fort, scher dich weg’. bereit: Hier: ‘zubereitet, vollendet’, s. MWB I,594. 125 machend: Vgl. zur spezifischen Bedeutung ‘anfertigen, herstellen’, insbesondere ‘zeugen’ Die deutsche Märendichtung, hg. H. Fischer, Rosenplüt Nr. 19, V. 44 f. wann er so treulich het geerbet [‘gearbeitet’] im graben, da man di leut in macht; Hundert Priameln, hg. K. Euling, Nr. 68,5 Reich leut sterben und kinder machen; Nr. 80,66 f. Ich weis ie wol, das ich nit kan Mit kinder machen wol besten; Wittenwilers ‘Ring’, hg. von Edmund Wießner, Leipzig 1931, Prosa nach V. 3524 Z. 6; Müller, S. 144 f. S. auch Lexer I,1572 s. v. kindermachen ‘das kindererzeugen’. einen oder zwen: Der Wunsch nach mehrfachem Beischlaf bzw. die sexuelle Unersättlichkeit der Frau, insbesondere der in ihrer Naivität um die Unschuld gebrachten Jungfrau (Nonne, Begine; aber im ‘Gänslein’ auch des jungfräulichen, jungen Mönchs) ist ein literarisches und gattungskonformes Stereotyp der Mären ebenso wie der Fastnachtspiele oder Priamel. Vgl. u. a. Hans Ehrenploß, ‘Der hohle Baum B’; ‘Das Häslein’; ‘Der Sperber’; ‘Des Teufels Ächtung’ usw. S. ferner Wießners Kommentar zu Wittenwilers Ring, zu V. 2174; NGA 22 ‘Der Pfaffe mit der Schnur’, V. 268; NGA 10 ‘Die zwei Beichten’, S. 60 Lesarten (10x, 3x ‘minnen’); Die deutsche Märendichtung, hg. H. Fischer, Nr. 29, V. 128; Nr. 45, V. 105. Im Allgemeinen z. B.: Hoven, S. 315 ›Das Motiv der sexuellen Unersättlichkeit‹, S. 316 ›Das Motiv der erotischen Naivität‹, S. 318 ›Erotische Zahlenangaben‹. 129/130 heim : klein: Die ›Reimunreinheit‹ m : n ist gemäß Frühnhd. Gr., § L 62,4, S. 140, und Weinhold, Alem. Gr., § 167, 203, im Alemannischen nicht als solche zu interpretieren; vgl. dens., Bair. Gr., § 139, 169. 130 abblas: Zu »Umschreibungen, die auf kirchliche Dinge anspielen« im erotischen Kontext s. o. zu V. 39–44; Filzeck, S. 46, Zeyen, S. 129–131; Jan M. Ziolkowski, The Erotic Paternoster, in: Neuphilologische Mitteilungen 88 (1987), S. 31–34; Elisabeth Lienert, ‘Paternoster-Parodie’ und ‘Ave Maria-Parodie’, in: 2VL 7 (1989), Sp. 356– 358; GA 28 ‘Die Teufelsacht’; NGA 8 ‘Das Almosen’; NGA 9 ‘Die zwei Beichten’; Die deutsche Märendichtung, hg. H. Fischer, Nr. 29 ‘Die zwei Beichten B’; Nr. 30 ‘Umgangene Buße’; Hercherts Textanhang Nr. 54–57 ‘Geile Mönche und Nonnen’. Vgl. auch penitenz in dem zu V. 75 zitierten Beispiel. 134 mettivart: Das bei Lexer nicht belegte Wort ist im Findebuch zum mittelhochdeutschen Wortschatz in verwandter Lautung aus Jans Enikel, hg. von Philipp Strauch, Hannover 1900, ‘Weltchronik’, V. 27562 f. soˆ si zuo der messvart süllen geˆn nachgewiesen: ‘Messgang’. 136 Die Autorsignatur weicht von den beiden in den Mären, Spruchgedichten und Liedern gebrauchten Typen ab. Unserem het geredt steht in der Mehrzahl der Mären (hg. H. Fischer), Spruchgedichte und Lieder (hg. J. Reichel), die ich deshalb nicht alle anführen muss, het geticht gegenüber. In den Spruchgedichten taucht einige Male ein
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davon abweichendes präsentisch gebrauchtes spricht auf (Nr. 2a Lesarten; 3 Lesarten; 4; 16; 19; 22). Einige Autorsignaturen in den Spruchgedichten weichen ganz ab (Nr. 5; 14a, b; 25). Eine Reihe von Mären (Nr. 15a, b; 16a, b; 17b; 18b) und Spruchgedichten (Nr. 2b; 13; 14b) sind ohne Autorsignatur. Der Name Rosenplüt steht, mit und ohne Vornamen Hanns, gelegentlich mit dem Zusatz meister oder Schnepperer. Auch unsere Variante der Rosenplüt ist belegt, z. B. im Märe Nr. 20 Lesarten oder im Spruchgedicht Nr. 9 So hat geticht der Rosenplüt; Nr. 4 Fraw, amen, spricht der Rosenplut, Nr. 16 Spricht der Rosenplüt [. . .] In den Mären Nr. 18 (So list vns der schreiber wolgemut); Nr. 21b (Also sprach der schwler gut) und Nr. 24 (Hanns zapff zue nuremberg barbirerer) finden sich in den Lesarten Ersatzsignaturen, sei es anonymisiert oder mit neuem Namen; und eine Handschrift des anonymen Märes ‘Der Pfaffe in der Reuse’ (NGA 31, Lesarten) nennt am Schluss als Autor: So hat geticht meister hanns schnepperer. Insgesamt gesehen ist die Autorsignatur Rosenplüts im Bestand und im Wortlaut im Einzelnen durchaus unfest. Ob bei diesem Befund die Hauptabweichung von der üblichen Autorsignatur, das singuläre het geredt, ausreicht, um die Autorschaft Rosenplüts nicht anzuerkennen, scheint mir nicht zwingend geboten zu sein. Wortersatz durch den Schreiber (vgl. o. die Anmerkung zu V. 88) ist eine ernstzunehmende Option. Im Spruchgedicht Nr. 7 z. B. gibt es für So hat geticht die Variante So schreibt, und das Märe Nr. 24 schließt Hanns Rosenplüt der schnepperer tut uns die abenteur verjehen. Mit dem Verb verjehen ist man schon dicht bei unserem reden. 137 Explicit: Der erste Kringel vor und der zweite nach Explicit ist rot geschrieben.
II 1 Der Beginn welch(er) man eröffnet zahlreiche Priamel, s. Hansjürgen Kiepe, Die Nürnberger Priameldichtung. Untersuchungen zu Hans Rosenplüt und zum Schreibund Druckwesen im 15. Jahrhundert (MTU 74), München 1984, S. 418 f.; Kleinere mittelhochdeutsche Erzählungen, Fabeln und Lehrgedichte, hg. K. Euling (wie zu I,50), S. 241. 2 vier: Vermutlich ist tier zu lesen, gemeint sein dürften ‘Läuse’, die z. B. in dem Priamel des Codex Weimar Q 565, bearb. E. Kully (wie zu I,72), S. 90, Nr. 12,6 Vnd ein alter peltz an leüß oder in: Hundert Priameln, hg. K. Euling (wie zu I,5–8), Nr. 67,4 Und ein laus in einem grint vorkommen. Zum Vorkommen der Laus in Rätseln vgl. Tomas Tomasek, Das deutsche Rätsel im Mittelalter (Hermaea N. F. 69), Tübingen 1994, S. 291 f., S. 318. 4 Vgl. im Priamel Nr. 7,5, S. 87 des Codex Weimar Q 565, bearb. E. Kully, Vnd ein alte tasch ane vach; vgl. ebd., S. 86, Nr. 4,7; Alte gute Schwänke, hg. von Adelbert von Keller, Heilbronn 21876, Nr. 13,6 und sein gelt legt in locherit taschen; Hundert Priameln, hg. K. Euling, Nr. 4,1 f. Welcher man hat ein taschen gros und weit Do selten pfenning innen leit.
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7 kuste an den munt: Vgl. zu dieser »vorwiegend im Oberdeutschen gebrauchten Wendung« Heimo Reinitzer, Mauritius von Crauˆn. Kommentar (ZfdA. Beiheft 2), Stuttgart 1999, Kommentar zu V. 614.
III 1 Bock: Vnd ein alter pock an ein part kommt auch im Priamel S. 90, Nr. 12,7 des Codex Weimar Q 565, bearb. E. Kully (wie zu I,72), vor; vgl. Alte gute Schwänke, hg. A. v. Keller (wie zu II,4), Nr. 13,1 Wer ain bock zu aim gertner setzt. v
2 ein gemeine frowen: ‘Hure’, s. Lexer I,840. 4 fisel: Vgl. das Fastnachtspiel ‘Vier Bauern vor Gericht’, hg. A. v. Keller (wie zu I,67/68), das möglicherweise dem Rosenplüt-Corpus zugehört, S. 249,17 Gab er ir den fisel in die hant. 5 rey: S. o. die Anmerkung zu V. 113/114 des Märes. Vgl. in: Die deutsche Märendichtung, hg. H. Fischer (wie zu I, Überschrift), Nr. A3b, V. 36 f. du [sc. der zers] ligst in einem pösen rauch und wet dich manger pöser luft an.
IV 3 Tutten seckel: S. das Zitat aus Meister Reuauß (2VL 6 [1987], Sp. 341 f.) bei Lexer, II,1592 s. v. tutensack: ir manche macht zweˆn tuttenseck, daˆ mit soˆ snurt sie umb die eck, daz sie an schau ein ieder knab, wie sie hübsche tütlein hab. Bei Lorenz Diefenbach, Novum Glossarium latino-germanicum mediae et infimae aetatis. Beiträge zur wissenschaftlichen Kunde der neulateinischen und der germanischen Sprachen, Frankfurt a. M. 1867, Nachdruck Aalen 1964, S. 167b s. v. Fascia ist u. a. eyn titten budel belegt, von Karl Schiller und August Lübben, Mnd. Wb. IV, 550 s. v. verzeichnet. Vgl. Alwin Schultz, Das höfische Leben zur Zeit der Minnesinger, Leipzig 21889, Bd. I, S. 249. meigden: es dürfte sich um eine Mischform aus megeden und der kontrahierten Form meiden handeln. 6 sugende kinder: Vgl. Alte gute Schwänke, hg. A. v. Keller (wie zu II,4), Nr. 9,7 und saugende kind und melckend ammen. 7 Vgl. Müller (wie zu I,59), S. 105–107 ›Hunger als Metapher für sexuelle Begierde‹. S. im Codex Weimar Q 565, bearb. E. Kully (wie zu I,72), S. 84, aus dem Spruch 6 die Verse 15–18: Sie [sc. die votz] saugt noch ein dutten als gern, Als wen einem hunt ein fleisch kann wern [‘werden’]. Jr saugen macht mich vaist vnd faull. Sie het heint ein dutten jm maul. S. ferner ebd., S. 85, Nr. 3,1–8; S. 88, Nr. 8,4 f. Vnd hat ein schöns, lieplichs jungs, geils weib Die vnter der gürtel Ist so hungerig vnd geitig. futzen: Häufig in den Fastnachtspielen, s. Lexer III,486 oder im Codex Weimar Q 565, bearb. E. Kully, z. B. S. 83, Nr. 6,4. 9. 14; S. 85, Nr. 1 Überschrift; S. 130,
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Nr. 58,8 f.; S. 140, Nr. 68,1. Die Form mit /u/ auch in Wittenwilers ‘Ring’, hg. E. Wießner (wie zu I,125), V. 1572, vgl. Weinhold, Alem. Gr., § 29. v
8 rofleisch: Lexer, III,394 verweist auf den ‘Jüngeren Titurel’, hg. von Werner Wolf, Berlin 1968, Str. 4152,3 di rohez [Lesart rowes] vleisch da ezzent. Vgl. in obszöner Verwendung im Codex Weimar Q 565, bearb. E. Kully, S. 83, Nr. 5,15–19 Man Ißt es [sc. das pest wilbret] roch vnd vngesoten Vnd Ist rauch vnd hat zwen knoten Vnd wechst an einem klein schmalen flecklein. Das tragen die jungen gesellen zwischen Den paynen jn einem ploben secklein.
V v
2 jungfrowen: Hier: ‘Dienerin’. 4–6 Vgl. Alte gute Schwänke, hg. A. v. Keller (wie zu II,4), Nr. 31a (in den Lesarten), V. 5,7–8 und ein magd, die all nacht außen leit [. . .] und einen sohn, der alls verspielt, und ein weib, die ihm abstiehlt. 6 Vgl. Kleinere mittelhochdeutsche Erzählungen, Fabeln und Lehrgedichte, hg. von K. Euling (wie zu I,50), Nr. 440,6 [ein pos weyb] und stilt mir ab als wie ein rab. o
7 wartet zu der kerben: Vgl. das Spiel aus dem Rosenplüt-Corpus ‘Ein EhebruchProzeß’, hg. A. v. Keller (wie zu I,67/68), Nr. 10, S. 99,4 Das er meiner frauen wart zu der kerben (S. 98,12 Und hat ir gewart zu der krinnen; ähnlich S. 100,6.13); Nr. 17 ‘Das Aristotelesspiel’ aus dem Rosenplüt-Corpus, S. 152,32 f. So muß mir ein ander zu der kerben Warten; Hinweis S. 31 in: Hundert Priameln, hg. K. Euling (wie zu I,5–8); ebd. Nr. 24,10 Lesarten Die ir unten zu der kerben lest warten. S. auch Müller (wie zu I,59), S. 50 f.
VI Die vier Zeilen sind insgesamt stärker eingerückt als die übrigen Texte. Die antwu´rt ist noch ein Stück weiter eingezogen. Überschrift (ganz in schwarz geschrieben): lies zers. Dieser Begriff mit »ausschließlich obszöner Bedeutung« (Müller [wie zu I,59], S. 101) ist in Mären, Fastnachtspielen und Priameln ubiquitär, so dass sich hier Belege erübrigen. S. immerhin die »priapeischen Rätsel« im Codex Weimar Q 565, bearb. E. Kully (wie zu I,72), S. 130 f. (Zitat nach Anm. zu 64/65) oder RSM III, 1Frau/26/7a, b, worauf Tomasek (wie zu II,2), S. 326, als einziges Beispiel für ‘Penis’ in seinem Rätsel-Corpus verweist. Der Typ der antwu´rt ähnelt den Rätsellösungen im Codex Weimar Q 565, bearb. E. Kully, S. 114–127, 130 f., 134, 143, doch stehen diese in der Regel am Ende des Rätsels. Zu vergleichen sind auch die jeweiligen Überschriften in: Kleinere mittelhochdeutsche Erzählungen, Fabeln, und Lehrgedichte, hg. K. Euling (wie zu I,50); s. S. X f. 3 verre: in der Handschrift steht ver s, lies vern um des Reimes willen.
‘Ein spruch von einer geisterin’ . . .
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***** In aller Kürze mögen noch ein paar Bemerkungen folgen, die eine erste, vorläufige literaturgeschichtliche Einordnung der Texte versuchen sollen. Ingeborg Glier charakterisiert Rosenplüts Mären folgendermaßen: Im Unterschied zu seinen geistlichen Erzählungen und Reden verwendet R. in seinen Mären einen streng funktionalen Sprachstil, der vor allem dazu dient, die Handlung energisch voranzutreiben. Auch die Figuren gewinnen in Dialogen oder Monologen nur selten etwas individuellere Konturen. Die meisten Texte bleiben daher im Umfang unter 200 vv. Schwänke dominieren und handeln fast ausschließlich von Ehebruch. Der Ehebrecher ist zumeist ein Pfaffe [. . .]. Wie in anderen Mären der Zeit steht das moralische Urteil in Pro- oder Epimythion oft in einem eigentümlichen Spannungsverhältnis zur Erzählung selbst. Daß R. in seinen Mären Sexuelles häufig direkt anspricht oder nur schwach verhüllt schildert, hat ihm in der Forschung bis vor kurzem viel moralische Entrüstung eingetragen. Hier ergeben sich enge Parallelen vor allem zwischen R.s Mären und den frühen Fastnachtspielen [. . .].5
Der ‘spruch von einer geisterin’ fügt sich naht- und bruchlos dieser Charakterisierung ein. Mit 136 Versen bewegt sich das schwankhafte Märe von einer geisterin in dem für Rosenplüt genannten Rahmen, wenn auch am unteren Ende. Nr. 19 (114 V.) in Hanns Fischers Ausgabe der deutschen Mären des 15. Jahrhunderts (wie zu I, Überschrift), 16a (130 V.) und 18b (134 V.) sind kürzer, Nr. 15a und 16b mit 136 Versen ebenso lang, Nr. 15b (142) ist nur wenig umfangreicher. Nr. 18a (154 V.), 17b (164 V.), 21a (182 V.), 17a (184 V.), 21b (188 V.), 22 (192 V.) und 20 (196 V.) bleiben unter 200 Versen, und nur Nr. 23 (218 V.), 24 (308 V.) und 25 (406 V.) übertreffen unser Märe deutlich. Das Personal des Märes wird von drei Figuren gestellt, der geisterin, dem Pfaffen6 und dem Messner. Die Rolle des geilen Pfaffen als Verführers ist im Märenrepertoire ungemein typisch; die sexuell ebenso unerfahrene wie naive junge Frau – um eine alte geisterin dürfte es keines Falles gehen – nicht viel weniger. Insofern ist der Plot des Märes in Hinblick auf die Gattung – aber auch auf in Hinblick auf die Fastnachtspiele – unproblematisch. Bemerkenswerter und etwas untypisch ist dagegen die Rolle des Messners, der die Verführung beobachtet und mit einem gleichermaßen geistvollen wie zynischen Kommentar begleitet. Dass die Verszahl des Erzählberichtes (62 V., darunter 1–32, 127–136 en bloc) geringer ist als die der Redeverse (74 V.), meist ›Handlungsdialoge‹, ist unauffällig. »Im Gespräch wird die Handlung rasch vorangetrieben und im Gespräch werden auch die wesentlichen Entscheidungen gefällt«.7 5 6
7
S. Ingeborg Glier, Rosenplüt, Hans, in: 2VL 8 (1992), Sp. 195–211, Zitat Sp. 204. Vgl. Hanns Fischer, Studien zur deutschen Märendichtung, 2., durchges. und erw. Aufl. besorgt von Johannes Janota, Tübingen 1983, S. 120 f. S. Ingrid Strasser, Vornovellistisches Erzählen. Mittelhochdeutsche Mären bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts und altfranzösische Fabliaux (Philologica Germanica 10), Wien 1989, S. 54; vgl. die Tabelle S. 53.
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Ein Prolog fehlt dem ‘spruch von einer geisterin’, ein von Glier angesprochenes Epimythion nicht. Auch wenn es nur recht kurz ist,8 so sollte man seine Bedeutung für das Märe nicht unterschätzen. Rüdiger Schnell hat nämlich kürzlich gezeigt, »daß die Erzählstrategie eines Textes zuweilen das Epimythion einbezieht und daß deshalb ein Auseinanderdividieren von narrativer Struktur und Erzählerkommentierung die Sinnkonstitution zahlreicher Kurzerzählungen verfehlt.«9 Einige erzählerische Details machen aus dem Märe etwas Besonderes, geben ihm einen eigentümlichen, fast individuellen ›Pfiff‹: Die gespielte Ohnmacht des Pfaffen, die eingeforderte Wiedergutmachung in Form eines zu zeugenden weiteren Pfaffen, die ›Näh- und Stopf‹-Allegorie, die sich im Dialog zwischen dem Pfaffen und dem Messner ›entspinnt‹ und in ihm ›abgewickelt‹ wird, und schließlich die Forderung der geisterin, nicht nur einen Pfaffen, sondern darüber hinaus noch ein oder zwei Messner zu machen. Das alles fällt aus dem Rahmen des Schwankmären-Üblichen heraus und ist mit einem Rosenplüts würdigen Witz, ja Charme erzählt. ***** Die hier versammelten vier Priamel entsprechen in ihrer Form ganz genau dem, wie ein Priamel definiert wird, dass es nämlich »eine Reihe paralleler Bilder und Gedanken wohlgeordnet an einander reiht, sie gerne anaphorisch verknüpft und – wenigstens in (seiner) geläufigsten Art – zu einer Schlußpointe sich steigert«.10 Ihr Umfang von 8 Versen ist durchaus üblich, ja geradezu normal und dementsprechend gut bezeugt.11 Ihr Inhalt ist konform mit dem Teil der Priamel, der sich nicht ›ernsthaften‹ Themen wie ›Beichte‹, ›Andacht‹, ›Glaube und Kommunion‹ etc. widmet.12 Inhaltlich gesehen ist der Bestand an Priameln des Codex Weimar Q 565 den Fribourger Priameln bis ins sprachlich-metaphorische Detail aufs engste verwandt.
8 9
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12
Ob das Epimythion mit V. 130 oder erst mit V. 133 beginnt, bedarf genaueren Nachfragens. S. Rüdiger Schnell, Erzählstrategie, Intertextualität und ‘Erfahrungswissen’. Zu Sinn und Sinnlosigkeit spätmittelalterlicher Mären, in: Wolfram-Studien 18 (2004), S. 367–404, Zitat S. 403. So Gustav Roethe, zitiert nach Kiepe (wie zu II,1), S. 2. Priamel von 8 Versen in: Alte gute Schwänke, hg. A. v. Keller (wie zu II,4), Nr. 1a,b–5; 8–9; 12–13; 15–20a; 54; Codex Weimar Q 565, bearb. E. Kully (wie zu I,72), S. 85 Nr. 3, S. 86 Nr. 4–5, S. 88 Nr. 9, S. 89 f. Nr. 10–12, S. 91 f. Nr. 15–16 (+ Lesarten), S. 95 Nr. 22, S. 97 Nr. 24; Hundert Priameln, hg. K. Euling (wie zu I,5–8), Nr. 5, 9a, 11–13, 15, 17–18, 20, 22–23, 44, 48, 50, 54, 59, 62, 64, 71, 73, 87, 98. Der Versbestand ist allerdings nicht immer fest. Aber auch sonst sind ›Sprüche‹ und andere Kleinstformen von 8 Versen nicht selten, die sich inhaltlich freilich auf keinen gemeinsamen Nenner bringen lassen, s. z. B. in der Wolfenbüttler Priamelhandschrift (wie zu I,50), die Nummern 292–323, die fast alle einen Umfang von 8 Versen haben. S. Kiepe (wie zu II,1), S. 390 f. Die derb-deftigen bzw. erotischen Priamel des Codex Weimar Q 565 muss man bei Kiepe unter den Rubriken ›Lebensführung‹ (S. 392 ff.), ›Haushalt und Ehe‹ (S. 397 ff.), ›Gesundheit und Alter‹ (S. 399 f.) oder ›Gleich und Ungleich‹ (S. 403 f.) suchen!
‘Ein spruch von einer geisterin’ . . .
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***** Entsprechendes gilt für das Rätsel. Vier gereimte Verse, die das Rätsel formulieren, mitsamt einer meist prosaischen Lösung sind, wenn auch nicht Standard, so doch verbreitet.13 Auch das erotische Ziel des Ratens ist der Gattung nicht fremd, wie ebenfalls der Rätselbestand des Codex Weimar Q 565 bezeugt. Gern gestellt sind allerdings auch solche Rätselfragen, die eine erotische Lösung anvisieren und provozieren, sie aber nicht erfüllen.14 Dass im Gegensatz zum Märe die Priamel und das Rätsel anonym tradiert werden, ist gattungsgemäß und gattungskonform und stellt insofern kein Problem dar. Ob Rosenplüt als Autor der fünf ›Gedichte‹ in Frage kommt, hätte man dennoch gern gewusst. Sieht man von der alemannischen Schreibsprache einmal ab, so spricht gegen seine Autorschaft, soweit ich es beurteilen kann, nichts, aber positive Gründe, die dafür sprächen, vernachlässigt man einmal die bairischen Reliktformen, lassen sich auch nicht aufführen. ***** Der Aufsatz, in dem ich den Schwerpunkt auf die Textkommentierung gelegt habe, ist unter größtem Zeitdruck geschrieben worden, hatte keine ›Reifezeit‹ und weist somit gewiss noch viele Lücken und Schwachstellen auf. Insbesondere ist eine genauere Beschreibung der alemannischen Schreibsprache und der bairischen Reliktformen erwünscht. Des Weiteren müsste man im Nacharbeiten für den Stellenkommentar das Rosenplüt-Corpus der Mären, Fastnachtspiele und Priamel als Ganzes systematisch heranziehen, um so möglichst große Gewissheit bei der Beantwortung der Frage zu bekommen, ob die Autorsignatur des Märes berechtigt ist oder nicht, und schließlich wäre der Frage nachzugehen, wie das kleine deutsche Textcorpus in den französischen Kontext der Fribourger Handschrift gelangt ist. Hiezu sei eine Vermutung gestattet: Möglicherweise hat die kleine Sammlung ein Nürnberger Jakobspilger, vielleicht in Form eines dünnen Heftchens, auf seine Pilgerreise nach Santiago de Compostela mitgenommen, zu seiner und anderer Pilger Unterhaltung. Über Ulm, Konstanz, Bern, Fribourg usw. ging einer der Jakobswege in Deutschland und der Schweiz, so wie ihn z. B. 1495 Hermann Künig von Vach, ausgehend von Einsiedeln, auch gepilgert ist. Die erotischen Tragzeichen der Pilger – vgl. ABäG 59 (2004) – zeigen deutlich und ganz konkret, dass man sich nicht scheute, erotische Darstellungen am Körper mit sich zu führen, Chaucers ‘Canterbury Tales’ zumindest in literarischer Fiktion, dass man sich auf einer Pilgerfahrt auch mit Schwankstoffen 13
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Vgl. im Codex Weimar Q 565, bearb. E. Kully (wie zu I,72), S. 114 Nr. 1–2, S. 115 f. Nr. 4, 8, S. 116 Nr. 10–11, S. 117 Nr. 17, S. 118 Nr. 19, S. 122 Nr. 35. Auch im ‘Strassburger Rätselbuch’ gibt es zahlreiche Rätsel von 4 Versen Länge, s. Rat zu, was ist das. Rätsel und Scherzfragen aus fünf Jahrhunderten, hg. von Ulrich Bentzien, Rostock 1975, z. B. S. 21–23, Nr. 31–32, 35, 39–40 usw. Vgl. z. B. im Codex Weimar Q 565, bearb. E. Kully (wie zu I,72), S. 114 Nr. 1; S. 115 Nr. 5; S. 116 Nr. 10–12 usw.
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unterhalten, sich an ihnen verlustieren konnte. Dieses Heftchen wird dann aus welchen Gründen auch immer in Fribourg zurückgelassen und irgendwann abgeschrieben worden sein.15
15
Vielfältigen Dank habe ich abzustatten: an Nigel F. Palmer, Oxford, für klärende Hinweise die Handschrift betreffend und für die Vermittlung an Stefan Matter, Fribourg, der dankenswerter Weise die Photographien der entsprechenden Seiten aus der Fribourger Handschrift für mich angefertigt hat, an Romain Jurot, Chef du secteur Manuscrits, incunables et archives Bibliothe`que cantonale et universitaire Fribourg, für die bereitwillig erteilte Druckerlaubnis, an Jingning Tao, Trier, für lexikalische und andere Hilfestellungen, und schließlich an die Herausgeber der Festschrift, dass sie diesen Beitrag noch lange nach ›Toresschluss‹ akzeptiert, fürsorglich und gründlich redigiert haben.
Ein unveröffentlichtes Lied des Hans Folz: Die Verkündung des Englischen Grußes von Frieder Schanze
Das Lied-Œuvre des Nürnberger Meistersingers Hans Folz umfaßt in der 1908 veröffentlichten Ausgabe von August L. Mayer1 insgesamt 97 Nummern. Da dort ein Lied zweimal erscheint (Nr. 22 ist mit Nr. 5 identisch) und die Nummern 1, 34 und 75 Zyklen zu je drei Liedern bilden, würde sich die Gesamtzahl auf 102 Lieder belaufen, wenn nicht in mehreren Fällen Folz’ Autorschaft angezweifelt werden müßte. Während diejenigen Lieder, die in den Folz-Handschriften in München (Cgm 6353 von ca. 1485/90: Nr. 1–33 autograph, Nr. 34–49 von anderer Hand) und Weimar (Q 566 von ca. 1475: Nr. 50–70; Nr. 61 ist Nachtrag von 1479) und in Drucken aus der Folzschen Offizin (1483/88: Nr. 95–97) überliefert sind, jedem Zweifel standhalten, müssen einige der Lieder, die Mayer aus der 1517/18 entstandenen Meisterliedersammlung des Hans Sachs (Berlin, Mgq 414) abgedruckt hat, bis zum Erweis des Gegenteils als unecht gelten, und zwar die Nummern 71 und 77–83.2 Damit reduziert sich die Anzahl der Lieder auf 89. Nachdem ein von Mayer übersehenes Lied 1952 von Frances H. Ellis abgedruckt worden ist,3 kann im folgenden nochmals eine Erweiterung des Folzschen Œuvres vorgenommen werden. Hans Folz hat seine Lieder bekanntlich in unterschiedlichen Tönen (Melodien nebst entsprechender Strophenform) abgefaßt, sowohl in eigenen als auch in fremden. Einerseits bediente er sich bereits vorhandener Töne, die entweder von älteren oder von zeitgenössischen Autoren stammten, und andererseits schuf er selbständig eine ganze Reihe neuer Töne (insgesamt 18).4 Die meisten dieser neugeschaffenen Töne sind in Mayers Ausgabe durch mindestens ein Lied vertreten, einige auch mehrfach. Nur vier Töne sucht man dort vergebens: die sogenannte Abenteuerweise, den Kettenton, die Tagweise und den Teilton. Die drei letzten sind nur durch Lieder bezeugt, 1
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Die Meisterlieder des Hans Folz aus der Münchener Originalhandschrift und der Weimarer Handschrift Q. 566 mit Ergänzungen aus anderen Quellen, hg. von August L. Mayer (DTM 12), Berlin 1908. Vgl. Frieder Schanze, Meisterliche Liedkunst zwischen Heinrich von Mügeln und Hans Sachs, 2 Bde. (MTU 82/83), München 1983/1984, hier Bd. 1, S. 300–321. Frances H. Ellis, The solution for the enigmatic concluding lines of the Munich Codex Germanicus 6353, in: PMLA 67 (1952), S. 446–472. Dieses Lied stand ursprünglich am Schluß der Münchener Handschrift, heute ist dort nur noch die Überschrift vorhanden (abgedruckt bei Mayer [Anm. 1], S. 192). Der Text selbst ist dank Hans Sachs in der Berliner Handschrift erhalten geblieben. Verzeichnis in RSM = Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts, hg. von Horst Brunner und Burghart Wachinger, 16 Bde., Tübingen 1986–2009, Bd. 2,1, S. 46–51; vgl. auch Bd. 3, S. 280, und Schanze, Liedkunst [Anm. 2], Bd. 2, S. 298 f. Zur Verwendung der Töne durch Folz ebd., Bd. 1, S. 340–345.
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die Meistersingern des 16. und 17. Jahrhunderts gehören.5 Lediglich in der Abenteuerweise gibt es ein anonymes Lied, dessen Abfassung nachweislich noch in die Lebenszeit von Hans Folz fällt und dessen Überlieferung eindeutig mit seinem Wohnort Nürnberg verbunden ist. Allein schon von daher ist die Wahrscheinlichkeit nicht gering, daß wir es mit einem Werk von Folz selbst zu tun haben, denn natürlich ist der Tonautor unter den gegebenen Umständen der erste, auf den der Verdacht der Textautorschaft fallen muß. Es kommt aber noch etwas Entscheidendes hinzu, und das hängt mit der Art des Überlieferungszeugen und seiner Entstehungssituation zusammen. Der Liedtext ist durch einen illuminierten Einblattdruck6 auf uns gekommen, der um 1490/91 von einem Drucker angefertigt wurde, dessen Produktion, soweit bekannt, ausschließlich aus Texten von Hans Folz besteht.7 Wenn man bedenkt, daß Folz bereits von ca. 1479 bis ca. 1488 zur Veröffentlichung seiner Texte, darunter auch der oben genannten drei Lieder (Mayer, Nr. 95–97), entweder eine eigene Presse betrieb oder einen Drucker eigens für sich arbeiten ließ,8 dann liegt die Vermutung nahe, daß die Herstellung der Folz-Drucke von 1490/91 ebenfalls auf Folz selbst zurückgeht und im Grunde nur eine Fortsetzung des früheren Publikationsbetriebs darstellt. Als Urheber des Lied-Einblattdrucks kommt damit kein anderer in Frage als Hans Folz, dem folglich wie bei den übrigen Erzeugnissen der Presse nicht nur die Autorschaft des Liedtextes, sondern auch die der Begleittexte zugeschrieben werden kann und muß.9 Eine Autorsignatur, wie Folz sie in manchen seiner Lieder anbringt (Mayer, Nr. 20, 32, 38, 50, 52, 94, 96, 97), ist hier nicht zu erwarten, da er auf diese Art der Autorisierung bei geistlichen Liedern grundsätzlich verzichtete.10 5 6
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Vollständige Nachweise in RSM, Bd. 2,1, unter den einzelnen Tonnamen. Abbildung bei Frieder Schanze, Zu Erhard Etzlaubs Romweg-Karte, dem Drucker Kaspar Hochfeder in Nürnberg und einem unbekannten Nürnberger Drucker in der Nachfolge Hochfeders, in: Gutenberg-Jahrbuch 71 (1996), S. 126–140, hier S. 135; zur Druckerbestimmung ebd., S. 138 f. Vgl. auch ders., Inkunabeln oder Postinkunabeln? Zur Problematik der sog. Inkunabelgrenze am Beispiel von 5 Druckern und 111 Einblattdrucken aus der Zeit um 1500, in: Einblattdrucke des 15. und frühen 16. Jahrhunderts. Probleme, Perspektiven, Fallstudien, hg. von Volker Honemann, Sabine Griese, Falk Eisermann und Marcus Ostermann, Tübingen 2000, S. 45–122, hier S. 73 f. und 108 f., sowie Falk Eisermann, Verzeichnis der typographischen Einblattdrucke des 15. Jahrhunderts im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. VE 15, 3 Bde., Wiesbaden 2004, Bd. 2, S. 450, Nr. F-48. Die Angaben in RSM, Bd. 1, S. 492 f., Nr. 319, sind entsprechend zu korrigieren. Zusammengestellt bei Schanze, Romweg-Karte [Anm. 6], S. 138 Anm. 47. Ich habe diesem Drucker den Notnamen ›Drucker der Rechnung Kolpergers‹ verliehen und ihn versuchsweise mit Hans Folz identifiziert, wobei nicht zu entscheiden ist, ob Folz hier selbst an der Presse stand oder nur die Finanzierung besorgte. Zu den Folz-Drucken Ingeborg Spriewald, Hans Folz − Dichter und Drucker, in: PBB (Halle) 83 (1961), S. 242–277; Ursula Rautenberg, Das Werk als Ware. Der Nürnberger Kleindrucker Hans Folz, in: IASL 24 (1999), S. 1–40; John L. Flood, Hans Folz zwischen Handschriftenkultur und Buchdruckerkunst, in: Texttyp und Textproduktion in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. von Elizabeth Anderson u. a. (Trends in Medieval Philology 7), Berlin/New York 2005, S. 1–27. Im RSM [Anm. 4], Bd. 3 ist das Lied unter 1Folz/100 noch als anonym verbucht. Schanze [Anm. 2], Bd. 1, S. 324.
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Der folgende Textabdruck weicht durch moderne Interpunktion, Großschreibung der Eigennamen, Auflösung von Abkürzungen und Vereinheitlichung der s-Formen von der Vorlage ab. Das Rubrikzeichen als Merkmal des Strophenbeginns ist durch eine Leerzeile zwischen den Strophen ersetzt; die Strophen sind außerdem durchgezählt. Die Auszeichnungsschrift des Druckes wird durch Fettdruck wiedergegeben; die in der Vorlage der Textgliederung dienenden Versalien sind ebenfalls durch Fettdruck hervorgehoben.
Die verkundung des engelischen grus mit einem andechtigen gepet [Holzschnitt: Verkündigung an Maria]11 e
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Hort:12 als die gnaden reich zeit kam, e das got erlosen wolt Adam, sant Gabrihel gesendet wart zu Maria, der jungfraun zart, sprechend nach gotes rat zu ir: »aue vol gnad, got ist mit dir! e Forcht dir nit, dan du swanger wirst deß sun gots, den du mensch gepirst. nen yn Ihesus vnd wiß, sein nam wirt werden groß vnd wundersam, reigirend auff dem stul Dauit ym haus Iackob, do ewig nit Seines reiches mag werden ent.« sie sprach: »ich hab nie man erkent. Wy mag es sein, bescheide mich!« »es kumt der heilig geist in dich«, sprach er, »mit gnaden wunderhaft, e vnd dich vm gipt des hosten kraft, wan das dein heilger leip gepirt, der sun gottes genenet wirt.
Zuerst verwendet in einem Druck von ‘Der Heiligen Leben’, Nürnberg, Anton Koberger, 5. Dez. 1488 (Bayerische Staatsbibliothek. Inkunabelkatalog, BSB-Ink. Bd. 3, Wiesbaden 1993, S. 110, H-20); Reproduktion in: Der Bilderschmuck der Frühdrucke, hg. von Albert Schramm, Bd. 17, Leipzig 1934, Abb. 296. Der Buchstabe h im Druck klein mit Spatium über drei Zeilen als Repräsentant für eine handschriftliche Initiale.
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Ob dich sulches verwundern det, so sich, dein mum Elisabet gantz vnberhaft nach leng der frist das sechst menet itz schwanger ist, e wan nichts vnmuglich ist pei got.« dem Maria geantwurt hot: »Eyn dirn des herren pyn ich fort, vnd mir gesche nach deinem wort!« yn dem sie gottes sun enpfing vom heiling geist vnd het gering vmfangen, den ny macht begreiff vnd der vmgreift all vmesweiff e Vnd der mit krafft in seiner feust himel, erd vnd die hell beschleust. Drug den in ir, der all ding dregt, die das wort ›fiat‹ ie bewegt, pracht die weitesten zwei in eyn, e wan das klerest pluts tropflein rein e yrs hertzen in ir keuscheit schoß, wart des hochsten gotes genos. Die wurkung det der heilig geist. e wo wart ye hoer ding erfreist? got, mensch, fleisch, sele, geist, pein, plut, das hochste gut ob allem gut, e wart kurtzer dan in eym moment got vnd mensch ein persan erkent. Als pald sie den engel gehort e vnd zu ym sprach das gutig wort ›nunc fiat michi secundum e verbum tuum‹, ir keuscheit plum e on menschlich steur enpfangen het, do von alß heil der welde neht.13 Vnd hat die kleinst menschlich persan e den grosten aller schatzung an Jn ir beschlossen vnd beckleit e e mit plod vnd schwacher totlikeit, auff daß wir kemen aus dem zorn, den vnß got vater het gesworn. wolt sich der sun hie sehen lan, e den sol wir alle ruffen an.
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Nach dem Maria eilen det zu ir mumen Elisabet, e Iohannes sich frolich erzeigt, als Elisabet selber eigt vnd sprach: »gebenedeiet pist ob allen weiben, auch so ist Deines leibes frucht gebenedeit. von wan kumt her, das sich begeit dy muter gots mir offenborn? so pald dein stim in meinen orn e erscholn ist, hat gefreuet sich dy frucht in meinem leib hertzlich. Glaubt hastu, des du selig pist. was dir von got gesaget ist, Hastu verpracht nach seinen ern.« e sie antwurt: »mein sel grost den hern, e vnd mein geist freuet sich in got, meym heil, der an gesehen hot dy demut seiner dirn worlich. dar vm so sagen selich mich Alle geschlecht, wan zu vor an hat er groß sach an mir getan, der heilig vnd gewaltig ist vnd sein parmhertzigkeit auß mist von geschlechten in dy geschlecht, dy seinen namen furchten recht. Gewalt in seinem arm er dut, e stilt hochfertiger ubermut, e setzt ab von iren stulen die e vnd hocht dy demutigen hie. dy hungrigen er speiset stet, dy reichen er gantz eitel let Vnd Ysrahel nam an, sein kint, gedacht seiner erparmung sint, Als er durch der profeten schar vor lang gerett het offenbar vnd Abraham gehiß14 worlich vnd seinem samen ewiclich.« vnd nach dem pleib Maria stet pei ir mumen Elisabet.
Druckfehler: gchiß.
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Frieder Schanze
hy nach folget das gepet auff dy ystori e
e
Dar15 vm, o iungfrau Maria, so piß hewt ermant der uber großen demutikeit, in welcher du vmfangen hast, den dy himel, dy erd vnd all ir ine woner nit begreiffen, erdencken noch auß sprechen mugen. e O in was sunderlicher ynprunstiger, hoch flamender begir vnd lybe dein e hertz, gemut vnd sele begriffen vnd vmgeben gewesen ist, do du einlitze lich, heimlich, verporgen vnd gantz munder mit hoch wachendem gemut sam in einer tifen verzuckung bedachtest dy wort des profeten Ysaie: nim war ein iungfrau16 wirtt enpfahen vnd ein sun gepern. in wellcher fleissiger betrachtung du, dy selbig iungfrau, so hoch von got begapt, hast begert zu sehen vnd erkenen, do alls pald der engel Gabriel, zu dir ein gend, sprach: e »Ave gracia plena, dominus tecum, Gegrusset seistu voller genaden, der e herr ist mit dir!«, durch welchen sussen vnd heilsamen gruß vnd deyner e demutigen gehorsam du ewig iungfraw durch deyn gebenedeyte frucht vnß mitt wellest deilen dy gnad, so17 du do selbst enpfangen hast. AMEN Man mag dy istori pis zu dem gepet lesen oder singen in Hans Folzen abenteur weis nach vnterschit der versal.
Der Einblattdruck als ganzer bietet sich dem Auge folgendermaßen dar: Oben befindet sich eine einzeilige, in einer Auszeichnungstype (Textura) gesetzte Überschrift, die sich über die ganze Breite des Blattes erstreckt. Der darunter eingefügte querformatige Verkündigungs-Holzschnitt ist geringfügig schmaler, gibt aber das Maß für den folgenden dreispaltigen Textsatz vor. Der Liedtext ist so gesetzt, daß er mit je 50 Zeilen die linke und die mittlere Kolumne ganz ausfüllt. Als Schrift ist eine kleinere Type verwendet, und zwar eine für Nürnberg typische Sonderform der Bastarda (Schwabacher). Die Verse sind abgesetzt; gegliedert ist der Text durch dreizeiligen Einzug am Liedanfang und durch Rubrikzeichen für den Strophenbeginn bei den Folgestrophen. Versalien zu Beginn der Zeilen 1, 7, 13 und 15 in jeder der zwanzigzeiligen Strophen markieren deren Binnengliederung. Die dritte Spalte ist typographisch stärker differenziert und wirkt durch die Verwendung der Auszeichnungstype im Kopf (2 Zeilen) und am Fuß (6 Zeilen) gegenüber dem gleichmäßig gesetzten Liedtext gewichtiger. Diese Spalte hat eine eigene Überschrift: hy nach folget das gepet auff dy ystori (das Wort ‘Historie’ bezeichnet den Inhalt des Liedes). Der nach Durchschuß folgende 28-zeilige Textsatz enthält das angekündigte Gebet. Darunter folgt nach erneutem Durchschuß in gesperrt gesetzten Versalien der Auszeichnungs15
16 17
Der Buchstabe d im Druck klein mit Spatium über drei Zeilen als Repräsentant für eine handschriftliche Initiale. Druckfehler: iungfran. Druckfehler: so verdoppelt.
Hans Folz: Die Verkündung des Englischen Grußes
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type das das Gebet beschließende Wort AMEN. Die Basis der Spalte bildet nach noch größerem Abstand als zuvor ein fünfzeiliger Block in Auszeichnungsschrift mit einer Art Gebrauchsanweisung für die in den beiden linken Spalten stehende ‘Historie’: Man mag dy istori pis zu dem gepet lese¯ oder sı¯nge¯ ı¯ ha¯s folze¯ abe¯teur weis nach vnterschit der v´sal. Demnach ist die ‘Historie’ auf zwei unterschiedliche Weisen zu rezipieren: Sie kann entweder als Reimpaartext gelesen werden, oder man kann sie als Lied singen, und zwar auf die Melodie der ›Abenteuerweise‹ von Hans Folz, deren Bauform im Druck durch Versalien angezeigt ist. Seiner ganzen Anlage nach handelt es sich bei diesem Blatt nicht einfach um einen der üblichen Lieddrucke, wie man sie vor allem aus dem ersten Drittel des 16. Jahrhunderts kennt.18 Das Layout des Druckes und seine typographische Gliederung, die Kombination von Holzschnitt, Erzähltext und Gebet lassen es vielmehr als Medium religiöser Erbauung, als Andachtsblatt, erscheinen. Der Holzschnitt mit der Darstellung der Verkündigung des Engels an die aus der Bibellektüre gerissene Maria und des Vorgangs der Inkarnation (durch ein Fenster schwebt auf von Gottvater ausgehenden Strahlen, der Taube des Heiligen Geistes nachfolgend, das kreuztragende nackte Christkind hin zu Maria) lädt zur Meditation ein. Die ‘Historie’ verbalisiert die Bilderzählung in eingängiger Wiedergabe des entsprechenden Bibeltextes: In den Strophen 1 bis 2,8 des Liedes wird die Verkündigungsszene nach Lk 1,26–38 versifiziert, in den Strophen 4 und 5 Marias Besuch bei Elisabeth nach Lk 1,39–56; das Zwischenstück von Strophe 2,9 bis 3,20 behandelt den Vorgang der Inkarnation. Und das anschließende Gebet an Maria vollendet den Prozeß meditativen Eingedenkens, indem die Gottesmutter unter eindringlicher Berufung auf das Verkündigungsgeschehen um Gnade angefleht wird. Die wohlüberlegte Komposition des Blattes läßt darauf schließen, daß Hans Folz nicht nur alle dafür verwendeten Texte selbst verfaßt hat, sondern daß auch die Konzeption des Ganzen auf ihn zurückgeht. Überdies liegt der Verdacht nahe, daß auch die Erfindung des Tons, in dem das Lied abgefaßt ist, direkt mit dessen Entstehung zusammenhängt. Das gedruckte Blatt wäre dann gewissermaßen zugleich eine Art ›Tonpropaganda‹, auch wenn die Melodie der mündlichen Überlieferung vorbehalten blieb.19 Eigenartig ist die Form der Liedstrophe. Der Ton nimmt nicht nur unter den Tönen von Folz eine Sonderstellung ein, sondern er findet auch sonst im Meistergesang wenig Entsprechung. Die Strophe besteht aus zwanzig männlich gereimten Vierhebern, die durch Paarreim gebunden sind. Sie ist, den Konventionen der Sangspruchtradition gemäß, untergliedert in einen Aufgesang aus zwei je sechszeiligen 18
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Vgl. die zahlreichen Abbildungen bei Rolf Wilhelm Brednich, Die Liedpublizistik im Flugblatt des 15. und 16. Jahrhunderts (Bibliotheca Bibliographica Aureliana 60), Bd. 2, BadenBaden 1975. Sie kam erst im 16. Jahrhundert aufs Papier. Verzeichnis der Melodieüberlieferungen in RSM [Anm. 4], Bd. 2,1, S. 46; Faksimile einer Aufzeichnung in: Die Töne der Meistersinger. Die Handschriften der Stadtbibliothek Nürnberg Will III. 792, 793, 794, 795, 796. In Abbildung und mit Materialien, hg. von Horst Brunner und Johannes Rettelbach (Litterae 47), Göppingen 1980, vgl. die Übersicht S. 22.
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Stollen und einen achtzeiligen Abgesang, der sich aus einem zweizeiligen Steg und einem wiederum sechszeiligen dritten Stollen zusammensetzt. Unkonventionell ist die Stereotypie des Versbaus und der Reimbindung: Vierhebige Reimpaarverse sind sonst das Kennzeichen der Erzähl- und Redendichtung, und in der Tat läßt sich der gesamte Text, wenn man die strophische Gliederung unbeachtet läßt, problemlos als einfaches Reimpaargedicht auffassen. Daraus erklärt sich die dem Druck beigegebene Gebrauchsanweisung: Der Text ist als Strophenlied sangbar oder aber als fortlaufendes Reimpaargedicht rezitierbar. Die mit dem Namen ›Abenteuerweise‹ versehene Strophenform nimmt auf diese Weise eine Zwischenstellung ein zwischen Reimpaardichtung und meistersingerlicher Strophik.20 So wie die Form es nun aber erlaubt, Liedtexte als Reimpaargedichte aufzufassen und sie vorlesend darzubieten, so gestattet sie es umgekehrt auch, einen Reimpaartext entsprechenden Umfangs (originär oder durch Bearbeitung) in strophischer Gliederung als gesungenes Lied aufzuführen. Von daher wäre zu überlegen, ob Hans Folz nicht mit Hilfe der Abenteuerweise in besonderen Fällen Reimpaargedichte zu Liedern umfunktioniert haben könnte. Möglich war das.21 Sollte Folz also auch seine Mären als Schwanklieder präsentiert haben?
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Es gibt in der Sangspruchtradition nur wenige vergleichbare Fälle, d. h. ähnlich gebaute Töne, die ausschließlich oder bevorzugt für Erzähltexte verwendet wurden: die Angstweise von Michel Beheim und aus dem nachreformatorischen Meistergesang Töne von Hans Sachs und Adam Puschman. Vgl. dazu Johannes Rettelbach, Variation – Derivation – Imitation. Untersuchungen zu den Tönen der Sangspruchdichter und Meistersinger (Frühe Neuzeit 14), Tübingen 1993, S. 245–247. Vgl. Schanze [Anm. 2], Bd. 1, S. 340 f. Anm. 134.
Bemerkungen zu den weniger bekannten Lebenszeugnissen über Notker den Deutschen von Ernst Hellgardt
Vorbemerkung Zum Leben und Wirken Notkers des Deutschen von St. Gallen gibt es zwei größere Nachrichten: zum einen das Selbstzeugnis Notkers in seinem Brief an Bischof Hugo von Sitten, das ich an anderer Stelle besprochen habe,1 zum andern den sog. »Nachruf« seines Schülers Ekkehart IV. von St. Gallen in dessen bald nach 1035 entstandenem ‘Liber benedictionum’ (Cod. SG 393). Ich nenne ihn in Anlehnung an Ekkehart selbst ‘Memoriale’.2
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Notkers Brief, in: Die Werke Notkers des Deutschen. Neue Ausgabe, hg. von James C. King und Petrus W. Tax (ATB), 10 Bde., Tübingen 1972–2008, hier Bd. 7 (ATB 109, 1996), S. 348, Z. 6–9; vgl. Ernst Hellgardt, Notkers Brief an Bischof Hugo von Sitten, in: Befund und Deutung. Zum Verhältnis von Empirie und Interpretation in Sprach- und Literaturwissenschaft. FS Hans Fromm, Tübingen 1979, S. 168–192. Ich benutze die Gelegenheit zu einigen Berichtigungen und Nachträgen. Im Editionstext ist in Z. 38 so zu lesen: ipsi soli sine accentu; die Wendung Z. 5 dictis facta compensare findet sich bei Sallust, Catilinae coniuratio, hg. von Alfons Kurfess, Stuttgart 1991, S. 4, Z. 13, quod facta dictis exequenda sunt; ferner zitiert bei Ionas, Vitae Columbani libri II, hg. von Bruno Krusch (MGH SS rer. germ. in us. schol. 37), Hannover u. a. 1905, S. 146, Z. 6 f.: cum facta dictis non exsequentur; diese Vita ist im Cod. SG 553 (9. Jh.) für St. Gallen nachweisbar; vgl. ferner Johannes Alfligensis, De musica cum tonario, hg. von Smits van Waesberghe (Corpus scriptorum de musica 1), Rom 1950, S. 117: ut facta dictis exaequet (freundliche Hinweise von Mechthild Pörnbacher). – Der sentenzhafte Satz Z. 6 conclusi sumus in manu domini et nos et opera nostra, den ich als Sprichwort nicht nachweisen konnte, ist biblisch, eine Reminiszenz an Sap. 7,16 in manu enim illius et nos et sermones nostri. – Lesenswert als Kommentar zu Notkers Brief ist übrigens immer noch Johann Kelle, Die St. Galler deutschen Schriften und Notker Labeo (Abh. der kgl. bayer. Akademie der Wiss. I. Cl. 18. Bd. 1. Abth.), München 1888 (mit 6 Tafeln), S. 207–280; nur die Zweifel daran, daß Notker auch die ‘Disticha Catonis’, die ‘Bucolica’ Vergils und die ‘Andria’ des Terenz zweisprachig bearbeitet habe (Kelle, S. 48 [252]), halte ich nicht für berechtigt, wie neuerdings entschieden wieder Nikolaus Henkel, Art. ›Terenz‹, in: 2VL 9 (1995), Sp. 703. – Gegen eine solche Pressung des Textes hatte sich 1847 bereits Hattemer ausgesprochen (Denkmale des Mittelalters. St. Gallens altdeutsche Sprachschätze, gesammelt und hg. von Heinrich Hattemer, 3 Bde., St. Gallen 1844–1847, hier Bd. 3, S. 6). Zur Datierung des ‘Liber benedictionum’ s. u. S. 341 mit Anm. 20. Die Titulierung des Textes als ›Nachruf‹ ist nicht glücklich, weil sie anachronistisch Vorstellungen aufruft, wie sie heute mit diesem Wort verbunden sind; zu dem hier gewählten Titel ›Memoriale‹ s. das gleich folgende Zitat aus den ‘Casus’ (cap. 80); Ekkehart hat das Wort dort in der Form memoralia.
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Über das Leben Ekkeharts IV., der besonders durch seine ‘Casus Sancti Galli’ bekannt ist,3 findet man das wenige Bekannte bei Dümmler4 und in Eglis Ausgabe des ‘Liber benedictionum’.5 Demnach läßt sich Ekkeharts Geburt (im Elsaß ?) auf die Zeit um 980 ansetzen. Wohl schon als Kind (um 990 ?) wurde er dem Kloster St. Gallen übergeben. Gewöhnlich wird angenommen,6 daß Ekkehart bald nach Notkers Tod (29./30. Juni 1022) von Erzbischof Aribert (1020–1031) als Lehrer nach Mainz an die Domschule berufen wurde. Sicher ist nach seinem eigenen Zeugnis nur, daß Ekkehart als Lehrer der Mainzer Domschule an Ostern 1030 (29. März) vor Kaiser Konrad und seinem Hof in Ingelheim das Hochamt sang.7 Nach Ariberts Tod (1031) soll er nach St. Gallen zurückgekehrt sein, wo er dann als Lehrer der Klosterschule wirkte. Dort ist er an einem 21. Oktober um 1160/70 gestorben.
In den nach 1034, also etwa zeitgleich mit dem ‘Liber benedictionum’ entstandenen ‘Casus’, die vom Ende des neunten Jahrhunderts bis auf Ekkeharts Gegenwart unter Abt Norpert (1034–1072),8 also bis 1034, von Glück und Unglück des Klosters erzählen sollten, aber aus unbekannten Gründen unvollendet blieben, erzählt Ekkehart nur bis in die Zeit von Abt Notker (reg. 971–975). Schade, denn wenn Ekkehart weiter gekommen wäre, besäßen wir in seinen ‘Casus’ sicherlich das Geschenk einer eindrucksvollen Schilderung von Persönlichkeit und Wirken seines verehrten und geliebten Lehrers. So aber müssen wir uns mit einem uneingelöst gebliebenen Versprechen begnügen: Im 80. Kapitel der ‘Casus’ zählt Ekkehart unter den vier Neffen, die einst Ekkehart I. dem Kloster zugeführt hat, auch Notkerum magistrum nostrum auf und sagt weiter über die vier genannten: Quorum quisque e˛cclesie˛ dicendus sit speculum. De quibus loco suo memoralia sua dicemus. Unusquisque enim ipsorum libro suo sufficeret. (‘Von ihnen darf jeder einzelne ein Spiegel der Kirche genannt werden. Über sie aber werden wir je an ihrem Orte das Denkwürdige berichten. Ein jeder nämlich unter ihnen würde genügen für ein eigenes Buch.’)
Über zwei von den vier genannten berichtet Ekkehart später tatsächlich, wenn auch nicht buchumfänglich, aber für Notker blieb es bei der Ankündigung. Er ist unter den vieren der chronologisch letzte und hätte vielleicht den Höhepunkt von Ekke3
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Casus Sancti Galli, hg. von Hans F. Haefele – St. Galler Klostergeschichten, übers. von dems. (Ausgewählte Quellen zur deuts