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CARL JOACHIM CLASSEN -
Die Bedeutung· der Rhetorik für Melanchthons Interpretation ...
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CARL JOACHIM CLASSEN -
Die Bedeutung· der Rhetorik für Melanchthons Interpretation profaner und biblischer Texte
V&R VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN
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Vorgelegt in der Sitzung vom 17. April 1998
Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen
Texte antiker Autoren sind schon früh erläutert und gedeutet worden. R. Pfeiffer formuliert in seiner Geschichte der klassischen Philologie sogar: "Homer hat seine eigene kraftvolle Sprache nicht nur geschaffen, sondern sie auch immer wieder im Verlauf seines Gedichtes selbst interpretiert. ,,1 Zur Erklärung einzelner Wörter (Namen und Sachen) tritt allmählich die Würdigung komplexerer Ausdrucks mittel und ihrer Funktionen. Die Beobachtung ihrer Wirkung führt zur Reflexion über die Möglichkeiten der Sprache und deren Systematisienmg, d. h. das Erlebnis von Rhapsodenvorträgen, Dramenvorfühnmgen und öffentlichen Reden, verbunden mit dem Wunsch, sich der Sprache in ihrem ganzen Reichtum bedienen zu können, läßt die Rhetorik entstehen, die Lehre von der Vielfalt sprachlicher Ausdrucksmittel, von den verschiedenen Formen ihrer Anwendung und von den dabei im einzelnen zu berücksichtigenden Faktoren. Diese Lehre erweist sich bald als nützlich, wenn es gilt, Texte abzufassen, aber auch wenn es gilt, vorhandene Texte zu analysieren, und so beginnt die Rhetorik, die in Griechenland und Rom allmählich zum unverzichtbaren Bestandteil der höheren Bildung wird, nicht nur die spätere literarische Proktion zu beeinflussen, sie wird auch zu einem wichtigen Hilfsmittel der Literaturtfitik. 2 . Darauf .daß auc~ die Te~te des Alten Testa~rtes ~cho~ frü~ von den Gläubigen erklärt und mterpretlert wurden, brauche Ich hIer mcht emzugehen, vollends nicht darauf, daß Jesus und Paulus sich immer wieder auf Passagen aus dem Alten Testament be!Ufen und sie auslegen. 3 Hervorgehoben zu werden verdient dagegen, daß sich die Kirchenväter bei ihrer Exegese bald häufiger, bald zurückhaltender rhetorischer Kategorien bedienen, sei es daß sie die Funktion einzelner Wörter erklären, sei es daß sie den Aufbau einer Schrift analysieren. Im Mittelalter tritt diese Tendenz weitgehend zugunsten einer an der Dialektik orientierten Exegese zurück. 4 So stellt sich die Frage, welche Rolle die Rhetorik in der Schrifterklänmg Melanchthons spielt, und es ist ergänzend zu fragen, ob er gegebenenfalls Anregungen dafür von früheren Exegeten bekommt oder durch seine eigene Beschäftigung mit paganen Texten und deren Kommentie-
1 R. Pfeiffer, Geschichte der Klassischen Philologie. Von den Anfängen bis zum Ende des Hellenismus, Reinbek 1970, 18. 2 Vgl. dazu nur c.]. Classen, Rhetoric and Literary Criticism: Their Nature and Their Functions in Antiquity, Mnemosyne 48, 1995,513-535. 3 Vgl. nur meine Hinweise c.]. c., Melanchthon's Use of Rhetorical Categories in Criticism of the Bible, in: L.Ayres (Hg.), The Passionate Intellect. Essays on the Transformation of Classical Traditions Presented to Professor 1. G. Kidd, New Bnmswick 1995, 297298 mit Anm. 1-3 (Lit.). (Der Titel meines Beitrages ist vom Herausgeber ohne mein Wissen entstellend umformuliert worden). 4 Zu den Kirchenvätern s. die Bibliographie von H.]. Sieben, Exegesis Patrum: Saggio bibliografico sull' exegesi biblica dei Padri della Chiesa, Rom 1983, ferner, auch zum Mittelalter, H.Graf Reventlow, Epochen der Bibelauslegung I-IH, München 1990-1997; s. auch u. Anm. 36.
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rung dazu veranlaßt wird, rhetorische Kategorien auch auf Texte der Bibel anzuwenden. 5
I. N ach sehr gründlicher Ausbildung in Bretten und vor allem auf der Schule in Pforzheim durch Georg Simler und ergänzend durch seinen Förderer Johannes Reuchlin 6 beginnt Melanchthon schon früh (puer adhuc, wie er selbst später formuliert) sein Studium in der Artistenfakultät in Heidelberg, wo allein die via antiqua die Lehre beherrscht. Unzufriedenheit mit dem offiziellen Lehrprogramm (garrula dialectice) läßt ihn quadam aviditate puerili Dichter lesen, dazu historiae et fabulae. Was immer sich hinter diesen Formulierungen seines späteren Berichtes wohl aus dem Jahre 1541 verbergen mag, mittelalterliche Geschichten oder auch zeitgenössische, humanistisch beeinflußte Dichtung - er selbst nennt Politian - er fährt fort: haec me consuetudo paulatium deduxit ad auctores veteres? 1512 wechselt Melanchthon nach Tübingen, wo er 16jährig den Grad eines magister artium in der via moderna erwirbt und Konventor an der ModemistenBurse wird. 8 Zu seinen Pflichten gehört es, Rhetorik und Dialektik zu lehren und Aristoteles zu behandeln. In seinen ersten Veröffentlichungen fordert er ganz im Sinne der Humanisten die Pflege eines klaren, korrekten lateinischen Stils 9
5 Zu Melanchthon s. K. Hartfelder, Philipp Melanchthon als Praeceptor Germaniae, Berlin 1989; H. Scheible, Melanchthon, Theologische Realenzyklopädie 22, 1992, 371-410 (mit reichen Literaturangaben) und jetzt ders., Melanchthon und die Reformation. Forschungsbeiträge, Mainz 1996 sowie Melanchton. Eine Biographie, München 1997, zu seiner Exegese H. Siek, Melanchthon als Ausleger des Alten Testaments, Tübingen 1959; T.]. Wengert, Philip Melanchthon's Annotationes in Johannem in Relation to its Predecessors, Genf 1987; J. R. Schneider, Philip Melanchthon's Rhetorical Constmal of Biblical Authority: Oratio Sacra, Lampeter 1990; noch nicht zugänglich sind mir T.]. Wengert M. P. Graharn (Hgg.), Philip Melanchthon (1497-1560) and the Commentary, Sheffield 1997 und T.]. Wengert, Human Freedom. Christian Righteousness: Philip Melanchthon's Exegetical Dispute with Erasmus of Rotterdam, Oxford 1997. Für viele Schriften Melanchthons ist man noch immer angewiesen auf C. G. Bretschneider H. E. Bindseil (Hgg.), Philippi Melanchthonis Opera I-XXVIII, Halle 1834-1860. 6 Zu Melanchthons frühe~ Ausbildung s. W. Maurer, Der junge Melanchthon I-lI, Göttingen 1967-1969, I 14-44. Zu G.Simler s. H.Scheible, Melanchthon und die Reformation (wie Anm.5) 35-44; 47-50; 55-61 (zuerst 1989), dort auch zu Reuchlins Einfluß auf Melanchthon 71-97 (zuerst 1993); zu]. Reuchlin allgemein H. Scheible, Reuchlin, Contemporaries of Erasmus 3, 1987, 145-150 und A. Seele, Reuchlin, Literatur Lexikon 9, 1991, 398-400. 7 Vgl. die als Einleitung zur Ausgabe seiner Werke verfaßte, nicht verwendete Vorrede de seipso: Opera (wie Anm. 5) IV 715-722; die Zitate: 715; zur Datiemng s. Heinz Scheible W. Thüringer (Hgg.), Melanchthons Briefwechsel. Regesten I-VIII, Stuttgart 1977-1995, III 212 (Nr.2780). ' 8 Vgl. W. Maurer (wie Anm. 5) I 43. 9 Vgl. die Vorrede zur Ausgabe der Claronlm viromm epistolae latinae graecae et he-
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und rühmt im Vorwort zu seiner Terenzausgabe von 1516 im Anschluß an Erasmus Terenz als den optimus dicendi arti/ex; und wenn er auch inhaltlich manches an einzelnen Figuren der Komödien auszusetzen hat, kommt er doch zu dem Urteil: Multa sunt eiuscemodi apud hunc poetam quae vitae moribusque parandis~ quae dictionis elegantiae conveniunt. IO Hier spricht ein rein humanistisch gebildeter, allein an der heidnischen Antike und ihren Maßstäben sich orientierender junger Gelehrter in der Tradition jener Italiener, die seit Pier Paolo Vergerio, also seit Beginn des fünfzehnten Jahrhunderts im Anschluß an Cicero und Quintilian ihre Gnmdsätze für die Erziehung und Ausbildung der Jugend aufstellen. I I Dieselbe Gnmdhaltung bestimmt auch die nächsten uns greifbaren Zeugnisse und Äußerungen Melanchthons, vor allem seine Rede ,De artibus liberalibus, die besonders den enttäuschen muß, der mit Spannung auf seine Bewertung der Rhetorik im Kreis der artes wartet; reichlich knapp heißt es dort zur Rhetorik: 12 Quid vero illa? Pars dialecticae~ quosdam argumentorum locos populariter instruens. Dabei kommt er selbst, wie er später betont, aus Verärgerung über diejenigen, die Philosophie lehren, obwohl sie fern von der Lebenswirklichkeit otiosi in scholis et in umbra wirken und weder das politische Leben noch die religiösen Strei-
braicae variis temporibus missae ad Ioannem Reuchlin ... , Tübingen 1514, fol. a IIr-v, s. dazu Briefwechsel (wie Anm. 7) Regesten I 43 (Nr. 1) und R Wetzel Helga Scheible (Hgg.), Melanchthons Briefwechsel. Texte I-lI, Stuttgart 1991-1995, I 35-36; s. ferner die Vorrede zur Ausgabe des Dialogus Mythologicus des Bartholomaeus Coloniensis (i. e. B. Zehender), Tübingen 1514, vgl. Regesten I 43 (Nr. 3) und Texte I 38-39. 10 Vgl. Briefwechsel (wie Anm. 7) Regesten I 45 (Nr. 7) und Texte (wie Anm. 9) I 45-51, Zitat 49. Ebenso wie seine Zeitgenossen nutzt Melanchthon praefationes und Vorreden gern zu programmatischen Äußenmgen; eine Liste seiner praefationes findet sich Opera (wie Anm. 5) V 219-224, s. ferner die Liste der Vorreden und Widmungsvorreden Luthers: D. Martin Luthers Werke 1-66, Weimar 1883-1995, 61, 1983, 90-92 (Nr.855-890) und 93-97 (Nr. 907-955); E. F. Rice Jr. (Hg.), The Prefatory Epistles of Jacques Lefevre d'Etaples and Related Texts, New York 1972; C. Longeon (Hg.), Etienne Dolet. Prefaces fran~ai ses, Genf 1979; B. Botfield (Hg.), Praefationes et epistolae editionibus priI1~bus auctomm vetemm praepositae, Cambridge 1863. (:>J 11 Zu P.P. Vergerio (1370-1444) s. C.Bischoff, Studien zu P.P. Vergerio de Älteren, Berlin 1909, auch o. Herding et al. (Hgg.), Jacobi Wimpfelingii Opera Selecta I~ I, München 1965-1990, I: Adolescentia, 85-95 und D. Robey, Humanism and Education in the Early Quattrocento: The de ingenuis moribus of P. P. Vergerio, Bibliotheque d'Humanisme et Renaissance 42, Genf 1980, 27-58, zu ihm und anderen vgl. ferner G. Müller, Bildung und Erziehung im Humanismlls der italienischen Renaissance. Gnmdlagen, Motive, Quellen, Wiesbaden 1969 und ders., Mensch und Bildung im italienischen Renaissance-Humanismus. Vittorino da Feltre und die humanistischen Erziehungsdenker, Baden-Baden 1984; A. Grafton L.J ardine (Hgg.), From Humanism to the Humanities. Education in the Liberal Arts in Fifteenth- and Sixteenth-Century Europe, London 1986. 12 De artibus liberalibus oratio, Hagenau 1518, fol. B Ir, s. auch R Stupperich (Hg.), Melanchthons Werke I-VII, Gütersloh 1951-1975, III, 1961 (Hg.: RNürnberger), 17-28, Zitat: 22; zur Ausgabe s. K.Steiff, Der erste Buchdmck in Tübingen (1498-1534), Tübingen 1881, 218-219 und 242 und Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Dmcke des 16. Jahrhunderts 1-20, Stuttgart 1983-1993, 13, 1988, 300 M 2587.
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tigkeiten (ecclesiasticae pugnae) kennen, dazu, nach dem Wert der Regeln zu fragen. 13 Und da er als Konventor Rhetorik und Dialektik zu lehren hat, verfaßt er Lehrbiicher, die dann 1519 und 1520 in Wittenberg erscheinen, wohin er 1518 auf eine Professur fiir Griechisch in der Artistenfakultät benlfen wird und wo er am 28. August 1518, drei Tage nach seiner Ankunft, seine Antrittsvorlesung hält. 14 Man kann ihr nur gerecht werden, wenn man sich nicht nur der zahlreichen Schriften iiber die rechte Erziehung seit Beginn der fiinfzehnten Jahrhunderts erinnert, sondern vor allem der Bedeutung, die die Humanisten - etwa Leonardo Bnmi oder Guarino, Ermolao Barbaro, Rudolf Agricola oder Konrad Celtis - solchen Veranstaltungen und den aus ihrem Anlaß vorgetragenen programmatischen Äußenmgen beimessen. Spürbar verwandelt tritt Melanchthon uns hier entgegen, nicht etwa, daß er jetzt auf Angriffe gegen diejenigen verzichtet, die nach seiner Meinung zu Unrecht mit Hilfe von Macht, List und Tiicke (vis etfraus) Titel und Vorteile in den hohen Schulen für sich beanspruchen und vor denen er bonae litterae und renascentes Musae schiitzen zu müssen glaubt. Schon in seiner einleitenden Polemik tritt er fiir das Griechische und das Hebräische ein, und in seinem historischen Riickblick läßt er keinen Zweifel daran, welche Folgen sich aus der Vernachlässigung des Griechischen nicht nur für die Philosophie, sondern auch für die Theologie ergeben haben, für die Christiani ecclesiae ritus ac mores ebenso wie für die studia litterarum . Es ist hier nicht der Ort, die ganze Rede im einzelnen zu würdigen; ich muß mich darauf beschränken, zweierlei herauszustellen: 15 Zum einen gratuliert Melanchthon den Studenten zu dem Privileg, das ihnen der Landesherr ermöglicht, nämlich "die Quellen selbst der freien Künste aus den besten Autoren zu schöpfen" (fontes ipsos artium ex optimis auctoribus hauritis). Hier spiirt man das Gliicksgefühl des Humanisten, der gleichsam von den Fesseln der alten Kommentare und Lehrbücher befreit, sich der neuen Möglichkeiten bewußt ist, zu den Autoren selbst vordringen' zu können. Zum anderen geht der neu in die Artistenfakultät benlfene Professor der Gräzistik auf die sacra ein, die besonderen Anfordenmgen des Studiums der Heiligen Schrift, etwas unerwartet einsetzend mit einem Zitat aus dem Hohen Lied, und zwar nicht in griechischer oder hebräischer Form (wie sonst bisweilen), sondern allen leicht verständlich auf lateinisch: Auf den Hinweis, daß die sacra der Begabung"der sorgfältigen Bemühung und der regelmäßigen Übung bediirfen, folgt die Begriindung: "Denn der Duft der Salben des Herrn ist köstlicher als die Geriiche der menschlichen Wis-
Opera (wie Anm. 5) IV 715-716. Sermo habitus apud iuventutem Academiae Wittemberg. de corrigendis adulescentiae studiis, Wittenberg 1518, s. auch Werke (wie Anm.12) III 30-42; zur Erstausgabe s. Verzeichnis (wie Anm.12) 13, 1988, 505 M 4233, andere Ausgaben: 505-506 M 4234-4237; allgemein zu Melanchthons Bildungsprogramm s. H. Scheible, Melanchthon und die Reformation (wie Anm. 5) 99-114 (zuerst 1986). ) 15 Die ersten Zitate: 30, der Rückblick: 31-33, Zitat: 33, der Hinweis auf die/ontes: 38, vgl. zur Formulierung Lucr. 1927-928 = IV 2-3, auch Tert. resurr. 63, 10. 13
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senschaften" (Est enim odor unguentorum domini super humanarum diseiplinarum aromata), und er fährt dann fort: "Wird man vom (Heiligen) Geist geleitet, von der Pflege unserer menschlichen Künste begleitet, dann ist es einem gestattet, zu den saera zu gelangen" (Duee Spiritu eomite artium nostrarum eultu ad saera venire lieet). Die Formulierung überrascht weniger, wenn man sich daran erinnert, daß das Hohe Lied zu den bevorzugten Texten der mittelalterlichen Exegeten gehört. 16 Hier spricht nicht der Professor der griechischen Sprache, der die Zahl seiner Hörer mit der Forderung vermehren will, man müsse die fremden Sprachen erlernen (linguae externae diseendae sunt), hier spricht der Kenner, der weiß, welche Freude, aber auch welche Einsichten solide Sprachkenntnisse zu vermitteln vermögen: "Wenn wir den Buchstaben verstehen, werden wir zum Nachweis für die Dinge kommen" (eum litteram pereepimus sequemur elenehum rerum), wie er im Anschluß an Hebräer 11, 1, formuliert. Besonders deutlich wird Melanchthons Bemühen, die Ernmgenschaften der Humanisten für das Studium der Bibel fnlchtbar zu machen, dort, wo er frigidae glossulae eoncordantiae - was er mit einem witzigen Wortspiel durch diseordantiae ergänzt - aliae ingenii remorae zurückweisend verkündet: "Wenn wir uns den Quellen zugewandt haben, werden wir Christus verstehen, wird uns sein Auftrag klar erkennbar werden, werden wir von dem seligen Nectar der göttlichen Weisheit durchdrungen werden" (eum animos ad fontes contulerimus Christum sapere ineipiemus mandatum eius lueidum nobis fiet et nectare illo beato divinae sapientiae peifundemur 17 ). Das sind die Formulierungen, die Melanchthon zu Beginn seiner Lehrtätigkeit als Professor des Griechischen am neuen Ort wählt, für die er zunächst Vorlesungen über Homer und über Paulus' Brief an Titus ankündigt. In Abwandlung von Aischines' bekanntem Dictum könnte man sagen: Nicht nur den 'tono<;, sondern auch den 'tQono<; hat er verändert. 18 Und im Lichte dieses Programms und dieser neu eingenommenen Position müssen wir Melanchthons Wirken in Wittenberg zu verstehen versuchen, zunächst seine 1519 gednlCkten De Rhetoriea libri tres) die Antwort darauf geben, wie weit er auch in einem Lehrbuch der Rhetorik 7
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16 Werke (wie Anm.12) III 40. Zur Bedeutung des Hohen Liedes im Mittelalters. H. Riedinger, Lexikon des Mittelalters 5, 1991,79-81 und H. U. Schmid ebda. 81. 17 Alle Zitate: Werke (wie Anm. 12) IU 40. 18 Aisch. or. IU 78. Der Hinweis auf die VOrlesunin zu Homer und den Titusbrief: Werke (wie Anm.12) IU 41. Ergänz.end zur Vorlesung t Melanchthon 1518 eine Ausgabe des griechischen Textes des Titusbriefes bei Grunen~ in Wittenberg drucken (vgl. dazu Supplementa Melanchthoniana VI: O. Clemen [H .], Melanchthons Briefwechsel I (1510-1528), Leipzig 1926, 46-47, Nr.41), 1519 ein mit griechischem und lateinischem Text bei Maler in Erfurt (ein Exemplar dieser Ausgabe mit zahlreichen handschriftlichen Marginalien und ergänzenden Notizen am Schluß konnte ich in der Universitätsbibliothek in Cambridge einsehen), vgl. Verzeichnis (wie Anm.12) 2, 1984,724 B 5174 und B 5175. Neben Vorreden und Widmungsbriefen (s. o. Anm. 10) wird in dieser Zeit auch den Vorlesungsankündigungen von den Autoren besondere Bedeutung beigemessen und von den Hörern besondere Aufmerksamkeit geschenkt. J
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die Bibel berücksichtigt, und die friihesten Spuren seiner Bibelerklänmg, die andeuten, wie weit er sich dabei auf die antike Rhetorik bezieht.
11. Die De Rhetoriea libri tres, im Januar 1519 dem Verleger übergeben und im März gedruckt erschienen,19 mögen in ihren Grundzügen auf Melanchthons Lehrtätigkeit in Tübingen zurückgehen, wie er selbst später andeutet; sie sind jedoch unzweifelhaft von dem Geist geprägt, der uns in der Wittenberger Antrittsvorlesung entgegentritt, in Tübingen dagegen nicht' spürbar ist. Ich gehe hier nicht auf Melanchthons Polemik ein, obwohl sie sich nicht nur gegen die Philosophen richtet mit Namen nennt er Johannes Eck - und die ungezählten Scharen der Sententiarii (Sententiariorum sex millia), sondern auch etwa gegen die Lyrani, also Bibelexegeten wie Nikolaus von Lyra und allgemein gegen Theologen seiner Zeit - er erwägt einen Vergleich mit den Pharisäern - auch nicht auf solche Neuenmgen wie die Einführung des genus didactieum seine Unterscheidung von Rhetorik und Dialektik20 oder die gelegentlichen Hinweise auf christliche Autoren aus der Antike (Gregor von Nazianz, Origenes, Chrysostomos, Boethius) sowie auf Tauler, Georg von Trapezunt, Rudolf Agricola, Polizian, Reuchlin, Luther und vor allem auf Erasmus, dessen Werke er häufig anführt. 21 Wichtig erscheint mir zunächst, daß Melanchthon nicht nur auf die Vorlesung anspielt, die er als Professor für Griechisch über den Titusbrief gehalten hat, sondern daß er dem Leser nun das aus ihr empfiehlt, was er seinen Hörern geraten hatte, nämlich die loei eommunes die Paulus dort knapp formuliert, mit eigenen Überlegungen, Argumenten, Begründungen und Exempla wiederz.ugeben. Er illustriert das selbst an einigen Beispielen - etwa daß Herrscher zu sein nichts anderes bedeute als dem Allgemeinwohl zu dienen - und er unterstreicht ab7
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19 Die Widmung ist im Januar datiert (vgl. auch Briefwechsel [wie Anm.7] Regesten I 35-36 [Nr. 4] und Texte [wie Anm. 9] 199-103), der Dmck im März beendet. Zur Ausgabe s. Verzeichnis (wie Anm.12) 13, 1988, 497 M 4180, zu weiteren Ausgaben: 497-498 M 4179 (Basel, Mai 1519, hier .benutzt; Vorrede: fol. a 1v-4v) - M 4185; vgl. dazu jetzt J. Knape, Philipp Melanchthons "Rhetorik", Tiibingen 1993 (enttäuschend) und o. Berwald, Philipp Melanchthons Sicht der Rhetorik, Wiesbaden 1994 (s. dazu Gnomon 70, 1998,81). 20 Polemik gegen Eck: p.46; 108 (zu ihm s. E.Iserloh, Eck, Johannes, Theologische Realenzyklopädie 9, 1982, 249-252), gegen die Sententiarii und Lyrani: p.4 (zu Nikolaus von Lyra s. u. Anm. 41); Vergleich mit den Pharisäern: p. 54; zum genus didacticum s. p. 1247; 65; 93-94; zur Unterscheidung von Rhetorik und Dialektik s. p. 5-8 (Vorrede), 41-42 u.ö. 21 Zu Gregor s. p. 49; zu Origenes: p. 34; 106; Augustin:p. 106; Boethius: p. 106; Tauler: p.34; Gregor von Trapezunt: p.49; 78; Agricola: p.45; 70; Politian: p.41; Reuchlin: p.4; Ltlther p. 4; Erasmus: p. 4; 7; 30; 35; 40-41; 62-63; 67; 68; 70; 114; 129 u. ö.
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schließend, wie oft in diesem Werk, den Nutzen, den die Studierenden von solchen Paraphrasen und den durch sie angeregten Gedanken haben können (p. 3031). Auch sonst greift Melanchthon in diesem Lehrbuch der Rhetorik gern auf Schriften der Bibel zurück, um einzelne Regeln oder Figuren zu verdeutlichen. So wählt er als Beispiel dafür, wie man eine Erzählung in sacris durch die Beschreibung der circumstantiae, also der äußeren Umstände illustrieren kann, den Hebräerbrief (p. 33), ohne eine einzelne Stelle anzuführen; und wie Erzählungen spiritu magistro allegorisch ausgelegt werden können, zeigt er anhand des Berichtes von Abrahams Opfer (Genesis 22: p. '33-34). Er selbst gibt im Abschnitt über allegorische Erzählungen (p.39-40) eine allegorische Erklänmg der Geschichte von Kain (Genesis 4), wobei er übrigens das hebräische nod (4, 16) mitjluctuans übersetzt, und zeigt, daß der Vergleich Kains mit dem Sünder allgemein die Möglichkeit eröffnet, die verhängnisvolle Wirkung der Sünde eindrücklich zu schildern; gleich anschließend bemerkt er (pAO), daß sich ähnlich auch die Nazaräer besonders gut zu verdeutlichenden Vergleichen eignen. Im Abschnitt zu den ratgebenden Reden, den Suasorien im genus deliberativum, nennt Melanchthon drei Aufgaben des Redners (p. 35), nämlich den Status festzulegen, dann die aus ihm sich ergebenden Argumente sowie drittens die Emotionen und Figuren zu ermitteln, die er zulasse; und er illustriert diese drei Schritte dann (p. 35) mit Hilfe von Paulus' These aus dem Römerbrief legem non iustificare~ gratiam iustificare (3, 20; 24) zusammen mit litteram occidere~ spiritum vivificare (2. Kor. 3,6) und einem weiteren Argument neminem esse qui non peccato sit obnoxius, das er so allgemein formuliert, daß man es nicht auf eine bestimmte TextsteIle zurückführen kann (vgl. immerhin Röm. 3,9; Joh. 8,34). Übrigens führt er Paulus' These lex non iustificat noch ein weiteres Mal an (p. 46), wie er auch später erneut die Bedeutung des Status unterstreicht, und zwar ausdrücklich für die Exegese sowohl der Reden Ciceros wie der sacra (p.76). Das genus suasorium nimmt Melanchthon auch zum Anlaß, auf die Notwendigkeit zu verweisen, bei der Erläuterung der Psalmen jeweils den status (seu summa argumenti) festzustellen (p. 35). Im Abschnitt über Lob und Tadel verweist Melanchthon darauf (p.60), daß man Elias' Bitte um Regen (1 Reg. 18, 41-46) oder Moses' Gebet für das kämpfende Heer als Beispiele dafür zitieren kann, daß Gebete der Menschen etwas bei Gott bewirken, während er Dathan und Abiron (Num. 16, 1-35) als exempla für Unruhestifter (seditiosi) nennt. Die Behandlung der Argumentation schließlich läßt Melanchthon argumenta ab honesto vorführen (p. 84-86), z. B. wenn man von einem Krieg gegen die Türken abraten will (confirmatio ab honestolcon/utatio ab honesto). Solche Beispiele sind übrigens in jener Zeit sehr häufig - sowohl Argumentationen gegen einen Krieg mit den Türken als auch 'für einen solchen Krieg, ebenso wie auch adhortatio13f;zu einem
Türkenkrieg.
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Als Argumente gegen einen solchen Krieg nennt
Mel~tthon et-
Vgl. p. 84-86, s. auch 79-82; 113; 128-129. Einige einschlägige Schriften aus den Jah-
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wa, daß es sich für Christen nicht ziemt, Krieg zu führen, und daß Christen sich nicht selbst schützen (sich nicht selbst zu schützen brauchen), wofür er allgemein auf exempla cum nostra~ tum Iudaica (p. 85) verweist, im einzelnen dann nur auf das Buch der Könige und Jeremias' Prophezeihung (38, 17, cf. 27, 12, auch 38, 2; 21,9). Für den Epilog einer solchen Rede empfiehlt Melanchthon wiederum, die abschließende Aufforderung zu Frieden und Buße auch mit Evangelica und Iudaica exempla zu unterstützen, also mit Beispielen aus dem Neuen und dem Alten Testament (p. 86). Auch im dritten Buch seiner Rhetorik, in dem Melanchthon die Stilistik behandelt, greift er gern auf die Bibel, und zwar immer wieder auf die Paulusbriefe, zurück. Zum einen führt er den Brief an die Römer als Beispiel für das genus grave an, den Galaterbrief für das genus medium, und belegt auf diese Weise, daß derselbe Gegenstand und dieselben Argumente durch einen Autor eine je verschiedene Gestaltung erfahren können (p. 117), um dann die Eigenart des Römerbriefes im einzelnen zu charakterisieren - die zahlreichen Wort- und Gedankenfiguren, die Allegorien (etwa vom neuen und alten Adam oder vom Buchstaben und Geist), sowie die Beispiele aus der Geschichte - und Paulus als ItQu'ttO''toc; aVI1Qc01tWV AEYEtV zu bezeichnen. Zu dieser Formulierung ist anzumerken, daß sie entgegen Melanchthons Meinung in der Antike nicht für Perikles verwendet wurde (weder von Thukydides noch in der Komödie), vor allem aber daß Melanchthon sie nur mit Bedenken auf Paulus überträgt, d. h. nur mit dem vorsichtigen Zusatz, "wenn es statthaft ist, ihn mit menschlichen Worten zu preisen" (si Jas est eum verbis humanis praedicare): Aus Respekt vor dem Apostel zögert er, ihn mit Hilfe von verba humana zu charakterisieren - eine umso erstaunlichere Tatsache, als er gleich darauf mehrere Beispiele aus Paulus' Briefen (bzw. aus den ihm zugeschriebenen Briefen) für einzelne Figuren anführt, für die minutio (p. 119) Galater 1,6 und 3,1 mit dem Hinweis: "Wie Paulus sagt, daß die Galater sich von dem, der sie berufen hat, abwenden usw., dann anderer Stelle sagt, er hat euch bezaubert, nicht der Wahrheit zu gehorchen; im ersten Ausdruck ist eine geringere Betonung gegeben als im zweiten, im übrigen ist die Sache dieselbe" (ut Paulus trans/erri dicit Galatas~ ab eo qui vocarit etc. deinde alio ait 10 co " Quis vos /ascinavit non oboedire veritati~ in priore verba minor est emphasis~ quam in posteriore~ ceterum res est eadem); für interrogationes verweist er auf die Verse Römer 6,1-3 im Anschluß an 5,20-21, die hier zugleich, wie Melanchthon richtig betont, die dispositio verdeutlichen und eine praesumptio ermöglichen (p. 124-125), für eine subiectio auf dieselbe Stelle Römer 6,1-2 (p.12s), für eine dubitatio auf Römer 4,10 (p.12s), für eine praesumptio wohl auf Römer 9,6 (obwohl er statt qui ex ren 1452-1474 behandelt und ediert (teilweise) J. Hankins, Renaissance Cmsaders: Humanist Cmsade Literature in the Age of Mehmed II, Dumbarton Oaks Papers 49,1995,111207 (Texte: 148-207). Auch in den folgenden Jahrzehnten entstehen zahllose weitere kürzere oder umfangreichere Aufrufe zum Kampf gegen die Türken, die hier nicht im einzelnen aufgeführt werden können.
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Israel sunt im Anschluß an Römer 4, 12 und Kolosser 4, 11 qui sunt ex circuncisione sagt). So wie sich Melanchthon scheut, Paulus mit verba humana zu charakterisieren, betont er gelegentlich auch die Sonderstellung der Heiligen Schrift, die für ihn offensichtlich nicht ein Text wie jeder andere ist. Die Siebenzahl etwa der sieben Säulen des Tempels (der Weisheit: nach Proverbia 9,1) mit den sieben artes liberales zu vergleichen, verwirft er mit der Begründung, es sei unwürdig, eine heilige Sache mit den artes pueriles in einer Allegorie zusammenzubringen (p.38-39). Entsprechend ist es zu verstehen, wenn er vorher die Praxis seiner Zeitgenossen, Geschichten aus der Bibel allegorisch zu deuten, im Vergleich mit der früheren Praxis kritisiert (p. 34) und dann im Anschluß an Hebräer 4, 12 (und Jeremias 23, 29, vgl. auch Jes. Sir. 48, 1) betont: "Wahrhaft wirksam ist das Wort Gottes und lebt und brennt" (Vere est efficax vivitque et ardet verbum domini). Für Melanchthon besteht weder ein Zweifel daran, daß die Schriften der Bibel als Texte eine Sonderstellung einnehmen, noch daran, daß ihnen für die Erziehung und Bildung junger Menschen eine zentrale Bedeutung zukommt. "Zugleich mit der Kenntnis der biblischen Geschichten wächst die Zuneigung zum Anstand (amor honesti) und der Glaube (jides), die Abneigung gegen Untaten und gegen alles Weltliche, und jene himmlischen Pflanzen Gottes, d. h. die von den heiligen Früchten des Geistes erfüllten Gemüter - was willst du zweifeln? - sie werden benetzt, dazu mahnt Christus bisweilen, dazu häufiger Paulus" (p. 53: Ita simul cum cognitione sacrorum crescit amor honesti jidesque, odium seelerum, seculique, et coelestes illae dei plantae, hoc est, sacris imbutae mentes, /ructibus spiritus, quid enim dubites? rigantur, id aliquotiens CHRISTUS, saepe Paulus commonuit). Wenige Sätze können besser als dieser, in dem sich eine Formulierung Ovids (crescit amor: A. A. 2,559) und eine aus dem Galaterbrief finden (5, 22: /ructus spiritus), Melanchthons Anliegen in diesem Handbuch verdeutlichen: Es geht ihm nicht nur um die Vermittlung einiger Regeln der Rhetorik, es geht ihm um die Erziehung der Jugend (s. etwa auch p. 46), und zwar um eine christliche Erziehung, zu deren Zielen es auch gehört, den sprachlichen Ausdruck der Kinder zu verbessern und ihnen die Formenvielfalt der Sprache und deren möglichst wirkungsvolle Verwendung vor Augen zu stellen, aber vor allem darum, sie durch Beispiele und Vorbilder zu einer anständigen Lebensweise anzuleiten (z. B. p. 52-54), und das heißt für ihn zu einem Leben im Glauben. Es ist daher' nur konsequent, daß Melanchthon im letzten Abschnitt des ersten Buches seiner Rhetorik nach genus deliberativum, iudiciale (p. 74-93) und· demonstrativum (p. 93-103) de sacris concionibus spricht, beginnend mit Polemik gegen zeitgenössische Prediger (103-107), der klärende Bemerkungen folgen, daß conciones entweder" demonstrativae oder suasoriae seien, und dann Ratschläge zur Behandlung von simplex thema und complexum thema verbunden mit Hinweis~ auf Aristoteles und Chrysostomos, Platon und Augustinus. Die Behandlung di~r ses Gegenstandes ist aus Melanchthons Sicht selbstverständlich, und doch ist/sie überraschend. Denn die ersten Handbiicher der Rhetorik, die von den Humani-
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sten neben Grammatiken und Wörterbüchern, Schi.ilergesprächen und Briefstellern verfaßi werden, beschränken sich auf Vorschriften und Regeln für die Kunst der Rede im allgemeinen und illustrieren diese ebenso wie die Briefsteller allein mit Beispielen aus der antiken Literatur (gelegentlich einschließlich der Kirchenväter) oder aus dem zeitgenössischen politischen Leben, allenfalls mit solchen Fragen wie der, ob man gegen die Türken Krieg führen solle, aber nicht mit Hilfe von Bibelstellen. Das gilt für die erste in der Neuzeit erarbeitete Rhetorik, die Rhetoricorum libri quinque des Georg von Trapezunt (verfaßt etwa 1433, zuerst gedruckt in Venedig nicht vor 1472)23 ebenso wie für die späteren Werke, von denen ich hier vor allem an die einiger deutscher Verfasser erinnere: Des AIbrecht von Eyb aus einem Rhetoriklehrbuth entwickelte Margarita poetica (1459 noch in Italien entstanden, zuerst 1472 in Nürnberg gedruckt) zitiert zwar neben Cicero gern den christlichen Cicero Laktanz, aber biblische Texte werden nicht zur Erläuterung rhetorischer Phänomene herangezogen. Dasselbe gilt für die Rhetoriken bzw. Briefsteller von Pontius (Straßburg 1486), Paul Lescher (Ingolstadt 1487), Konrad Celtis (Ingolstadt 1492), Jacob Mennel (Freiburg 1494) oder Jacob Locher (Freiburg 1494), mag der zuletzt Genannte auch in seiner Theologica emphasis sive Dialogus super eminentia quatuor doctorum ecclesiae Gregorii Hieronimi Augustini Ambrosii (Basel 1496) das Studium der Kirchenväter fordern;24 Beispiele aus der Bibel und Bezugnahmen auf die Predigtlehre fehlen etwa auch in den drei 1480 abgeschlossenen, aber erst 1515 gedruckten und dann sehr einflußreichen Büchern De inventione dialectica des Niederländers Rudolf Agricola oder in den Büchern zur Rhetorik (39 und 40) in Giorgio Vallas zu Beginn des
23 Vgl. Gesamtkatalog der Wiegendmcke 9, Stuttgart 1991, 384 Nr.l0657, weitere Ausgaben: 384-390 Nr. 10658-10665; zum Autor s. J. Monfasani, George of Trebizond. A Biography and a Study of his Rhetoric and Logic, Leiden 1976, s. auch J. Monfasani (Hg.), Collectanea trapezuntiana. Texts, Documents and Bibliographies of George of Trebizond, Binghamton 1984. 24 A. v. Eyb, Praecepta artis rhetoricae, Basel um 1488 und Toulouse um 1495 und Margarita poetica, Niirnberg 1472, oft nachgedruckt (s. Gesamtkatalog der Wiegendrucke 8, 1978,177-186 Nr.9529-9541); zum Autor s. G.Klecha, Albrecht von Eyb, Verfasserlexikon 1, 1978, 180-186. Rhetorica Poncii. Copia latinitatis et Epistolae Bruti et Cratis. De arte notariatus, Straßburg 1486. P. Lescher, Rhetorica, Ingolstadt 1487, mehrfach nachgedruckt, zum Autor s. F.J. Worstbrock, Lescher, Verfasserlexikon 5, 1985, 733-734. K. Celtis, Epitoma in utramque Ciceronis rhetoricam cum arte memorativa et modo epistolandi utilissimo, Ingolstadt 1492, zum Verfasser s. D. Wuttke, Celtis, Literatur Lexikon 2, 1989, 395-400. J. Mennel, Rhetorica Minor, Freiburg 1494, eine Brieflehre, zum Autor s. K. H. Burmeister G. F. Schmidt, Mennel, Verfasserlexikon 6, 1987, 389-395. J. Locher, Epithoma rhetorices graphicum, Freiburg 1496 und Compendium rhetorices ex Tulliano thesauro diductum, Straßburg 1518, zum Autor s. G. Heidloff, Untersuchungen zu Leben und Werk des Humanisten Jakob LocherPhilomusus (1471-1528), Diss. phil. Freiburg 1971, Münster 1972 (dort zur Theologia 31-33 und 223-252), P. Ukena, Locher, Neue deutsche Biographie 14,1985,743-744 und W.Kiihlmann, Locher, Literatur Lexikon 7,1990,317-318.
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neuen Jahrhunderts (1501) in Venedig erschienenem enzyklopädischen De expetendis et /ugiendis rebus opus, um noch ein Beispiel aus Italien zu nennen. 25 Als Ausnahme unter den deutschen Autoren hat Jakob Wimpfeling zu gelten, auch er wie Reuchlin ein Förderer Melanchthons. Für den richtigen Gebrauch einzelner Wörter führt er in seiner Elegantiarum Medulla (Speyer 1493) zwar nur gelegentlich Beispiele aus dem christlichen, weil täglichen Leben an oder auch aus der Bibel - und solche stets im Anschluß an Lorenzo Valla (vgl. auch dessen Elegantiae maiores: s.l., s. a.); doch wie viele andere - auf die ich hier nicht eingehen kann - um die Jugend besorgt, fordert er immer wieder nicht nur eine neue Ausrichtung der Erziehung, sondern als Grundlage für die Ausbildung - im Gegensatz zu anderen - weniger die Dichter, Philosophen und Redner der Antike als die Kirchenväter; ich erinnere nur an seinen Isidoneus Germanicus (Speyer 1497) und an das Nachwort zu seiner Ausgabe von Hrabanus Maurus' De laudibus sanctae crucis (Pforzheim 1501). Darüber hinaus verweist er in einem 1499 datierten Abschnitt Rhetorica utilissima, der sich als Anhang in den Elegantiae maiores findet, für die Lobrede auf die Kirchenväter, auf die laus patrum im Ecclesiasticus (44-50) und auf das neunte Kapitel des Hebräerbriefes, den er Paulus zuschreibt. 26 So begegnen in der Generation vor Melanchthon erste, allerdings sehr spärliche Anzeichen dafür, daß neben den Kirchenvätern auch einzelne Texte der Bibel in Lehrbüchern berücksichtigt werden, die nicht speziell der Ausbildung von Geistlichen und Predigern dienen wollen wie die mittelalterlichen artes praedicandi oder die zahlreichen Predigtsammlungen und Predigtlehren der Zeit, an die ich wenigstens kurz erinnern möchte. 27 Denn dank der Erfindung der Buchdruk-
25 Dialectica, Löwen 1515 und De inventione dialectica libri omnes ... und Lucubrationes aliquot lectu dignissimae, beide Köln 1539, s. dazu jetzt L. Mundt (Hg.), Rudolf Agricola. De inventione dialectica libri tres, Tübingen 1992 (mit Lit.), ferner F.]. Worstbrock, Ag,ricola, Verfasserlexikon 1, 1978, 84-93 und K. Meerhoff, Bulletin de l'Association d'Etude sur I'Humanisme, la Reforme et la Renaissance 30, 1990, 5-22; W. Kühlmann (Hg.), Rudolf Agricola 1444-1485. Protagonist des nordeuropäichen Humanimus zum 550. Geburtstag, Bern 1994. Zu G.Valla s. J.F. D'Amico T.B. Deutscher, Giorgio Valla, Contemporaries of Erasmus 3, 1987, 371; in den Büchern zur Rhetorik verdient die Kürze der Abschnitte 40, 39: De genere epistolico (Il fol. KK Ilv-IlIr) und 40, 40 De imitatione (Il fol. KK IIlr) besondere Beachtung. 26 Zu]. Wimpfeling s.]. Knepper, Jakob Wimpfeling (1450-1528). Sein Leben und seine Werke, Freiburg 1902 und D.Mertens, Wimpfeling, Literatur Lexikon 12, 1992, 341-342; s. ferner Wimpfelingii Opera Selecta (wie Anm.ll) IIl: Briefwechsel, Nr.115a und b: Vorwort (352-354) und Nachwort (354-357) zur Ausgabe des Hrabanus Maurus. 27 Zu den artes praedicandi s. H. Caplan, Medieval Artes Praedicandi. A Handlist, Ithaca 1934; Medieval Artes Praedicandi. A Supplementaty Handlist, Ithaca 193; Th. M. Charland, Artes praedicandi. Contribution l'histoire de la rhetorique au moyen age, Paris 1936; zu den gedruckten Ausgaben die (nicht immer zuverlässige) Übersicht von S. Gallick, AG;,' Mediaeval Studies 39, 1977, 477-489; s. ferner].]. Murphy, Rhetoric in the Middle~ A Histoty of the Rhetorical Theoty from St. Augustine to the Renaissance, Berkeley 197
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kerkunst finden neben solchen allgemein bekannten Schriften aus der Spätantike wie dem vierten Buch von Augustins De doctrina Christiana, einer Predigtlehre aufgnmd heidnischer Rhetorik mit Beispielen aus der Bibel, die man mit dem Titel De arte praedicandi mehrfach dnlckt (drei Ausgaben bis 1500, außerdem als Teil von de doctrina Christiana, vor allem in den Opuscula: 7 Drucke), oder wie Gregor des Großen Regula pastoralis (10 Drucke bis 1500) zahlreiche spätere Werke große Verbreitung. 28 Melanchthons Pforzheimer Lehrer Georg Simler gibt 1504 (und erneut aufgrund einer besseren Handschrift 1505) Hrabanus Maurus' De institutione clericorum libri tres heraus, in deren drittem Buch (im Anschluß an die acquisitio et exercitio virtutum) eine Art Predigtlehre vorgetragen wird, die auf weite Strecken Augustin wörtlich folgt. 29 Neben diesen und einigen anderen, aus dem Hochmittelalter stammenden bewährten Artes werden jetzt auch spätere Lehrbücher gedruckt, deren Wert man teilweise dadurch zu mehren sucht, daß man sie bekannten Autoren wie Albertus Magnus oder Thomas von Aquino zuschreibt. 30 Wichtiger sind die neu entstehenden Predigtlehren wie das Manuale
269-355 und jetzt M. G. Briscoe, Artes praedicandi, Turnhout 1992, 11-76 (nützliche Bibliographie: 11-16). 28 Zu den Frühdrucken des vierten Buches von De doctrina Christiana s. Gesamtkatalog der Wiegendrucke 3,1928,80-82 Nr.2871-2873, zu denen der ganzen Schrift ebda. 102103 Nr.2902 und 71-78 Nr. 2862-2866 und 2868 (Opuscula), zu Gregors Regula pastoralis s. ebda. 10, 1992,98-105 Nr.11440-11449. 29 Zu diesen Ausgaben s. Verzeichnis (wie Anm.12) 9, 1987, 417 Nr. H 5270 (1504) und 5268 (1505), zu diesem Werk D. Zimpel, Hrabanus Maurus. De institutione clericorum libri tres. Studien und Edition, Frankfurt 1996, zu Hrabanus s. R. Kottje, Hrabanus Maurus, Lexikon des Mittelalters 5,1991, co!. 144-147, zu Simmler s.o. Anm.6. 30 S. Ps.-Albertus Magnus, De arte intelligendi, docendi et praedicandi, -zuerst Ulm 1478-1480 (vgl. dazu Gesamtkatalog der Wiegendrucke 1, 1925, 273-274 Nr.590 [hier benutzt] und 274 Nr. 591; Verfasser: Wilhelm von Auvergne, s. D.Roth, Die mittelalterliche Predigttheorie und das Manuale Curatomm des Johann Ulrich Surgant, Diss. phil. Basel 1956, 45-48) und Tractatulus solennis de arte et vero modo praedicandi ex diversis sacrorum doctorum scripturis. et principaliter sacratissimi christianae ecclesiae doctoris Thomae de Aquino ex parvo suo quodam tractatulo recollectus, Nürnberg 1477 (hier benutzt); der Incunabula Short Tide Catalogue, London 1994, registriert 16 Frühdrucke, von denen einige im Titel den Zusatz "una cum tractatulo eximii doctoris Henricus de hassia de arte praedicandi" haben, z. B. Leipzig 1487-1495 (hier benutzt), obwohl dieser Traktat tatsächlich überall zu fehlen scheint. Zum Tractatulus s. H. Caplan, Of Eloquence. Studies in Ancient and Mediaeval Rhetoric, Ithaca 1970, 40-78 (zuerst 1925) und D.Roth (wie oben) 140147, auch zu dessen Quellen, von denen zwei als Frühdrucke vorliegen, der Libellus artis praedicationis des Jacobus de Fusignano (zu ihm s. D. Roth 87-102, zu den Drucken s. Gesamtkatalog der Wiegendrucke 10, 1996, 282-286 Nr.II716 [Köln 1476]; 11718; 11720; 11723 [Straßburg 1484-1486, hier benutzt], jeweils zusammen mit dem Manipulus curatorum des Guido de Monte Roterio [Rochen]; das gilt vielleicht auch für die angeblichen Einzelausgaben Köln um 1475, s. L.Hain, Repertorium Bibliographicum I-lI, Stuttgart 1826-1828, I 2,424-425 Nr.7399 [hier benutzt] und 7400) und der Henricus de Hassia fälschlich zugeschriebene Tractatulus de arte praedicandi, gedruckt Leipzig 1493-1495 und Köln 1494 (vgl. Bayerische Staatsbibliothek. Inkunabelkatalog I-IlI, Wiesbaden 1988-
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curatorum praedicandi praebens modum des Basler Theologen J ohann Ulrich Surgant, das in seinem Aufbau dem traditionellen Lehrbuchschema folgt, seine Beispiele der Bibel entnimmt und auch auf solche Fragen wie De quadruplici scripturae sensu eingeht. 3 ! Neben ihm sei nur das schmale Bändchen von Melanchthons Mentor Reuchlin aus dem Jahre 1502 genannt, De arte praedicandi, das die antike rhetorische Theorie mit den Erfordernissen des Gottesdienstes, d. h. der Predigt verknüpft. 32 So heißt es etwa (fol. a Ilr) SERMO constat. Principio. Lectione. Divisione. Confirmatione. Co n/utatione. Conclusione. Seine Definitionen entnimmt Reuchlin gern antiken Theoretikern, erläutert sie dagegen in der Regel mit Beispielen aus der Bibel und nur selten aus paganen Autoren: SIMILITUDO est eadem rerum diffirentium qualitas. Ab hac ita argumentabimur. Jacobi V. Ecce agricola expectat preciosum /ructum terrae~ patienter /erens donec accipiat temporaneum et serotinum~ patientes igitur estote et vos et confirmate corda vestra quoniam adventus domini appropinquabit Gac. 5, 7), und er fügt hinzu: Maxima propositio De similibus idem esse iudicium (fol. a Vv-VIr). Ich erinnere hier an diese vor Melanchthon verfaßten Werke, um dessen erste Rhetorik in ihren historischen Zusammenhang einzuordnen, aus dem heraus sie in ihrer Eigenart erst erkennbar und verständlich wird. Denn es gehört zu den
1993, III 127 H 81 und H 82 = L.Hain [wie oben] II 1,9 Nr.8398 und 8399=8397; zum Werk s. H. Caplan [wie oben] 135-159; D. Roth [wie oben] 137-140, auch F.]. Worstbrock et al., Heinrich von Langenstein, Verfasserlexikon 3, 1981, 763-773, bes. 768). Andere damals gedmckte zeitgenössische artes verzeichnet H. Caplan (wie Anm. 27) 1934, 36-37 und 1936, 27, z. B. die anonym gedmckte Informatio notabilis et praeclara de Arte praedicandi In thematibus De tempore et de sanctis artificialiter deducta, Deventer 1479 (s. Gesamtkatalog der Wiegendmcke 2, 1926, 747 Nr.2669, hier benutzt, s. auch 747-748 Nr. 2670 und 1,274 Nr.591 mit der oben genannten Schrift des Wilhelm von Auvergne), die dem Franziskaner Johannes Gallensis (gest. um 1300) zuzuschreiben ist (vgl. D.Roth [wie oben], 76-86) und den zu Beginn des Evagatorium Benemy gedmckten anonymen optimus praedicandi modus, Köln 1499 (fol. Aa2r-Aa 4, hier benutzt), den er Of Eloquence (wie oben) 112-113 Anm.32 Michael von Ungarn zuweist, vermutlich da dessen Sermones tredecim dem praedicandi modus auch in den späteren Dmcken stets folgen, s. Verzeichnis (wie Anm.12) 6,1986,446-447 Nr. E 4327-4332 und 13,1988,654-655 M 5150-5155. Ergänzend ist zu erinnern an die Rethorica (sic) divina de oratione domini Guilermi Parisiensis, eine Rhetorik des Gebets, die auch dem oben schon erwähnten Wilhelm von Auvergne (1180-1223) zuzuschreiben ist (vgl. Gesamtkatalog der Wiegendmcke 10, 1996, 373-375 Nr.11862: Opera, Nürnberg um 1497 [und später, z.B. Paris 1516, hier benutzt] und 378382 Nr.11865-11868, hier zitiert 11866: Freiburg um 1491, s. auch D.Roth [wie oben] 4445; dort 48-54 zur ars praedicandi desselben Autors, die erst 1923 gedmckt wurde). 31 Zu den Ausgaben s. Verzeichnis (wie Anm.12) 20, 1993, 145 Nr. S 10229-10237 (1503-1520), hier benutzt: Straßburg 1516 (darin I 5: De quadruplici scripturae sensu: fo!. 9r-l0v), s. dazu D. Roth (wie Anm. 30) 150-186, zum Verfasser auch F.]. Worstbrock, Surgant, Verfasserlexikon 9, 1995, 544-547. 32 Die Schrift ist datiert 1502, gedmckt in Pforzheim zuerst 1504, s. Verzeichnis (wie Anm.12) 17, 1991, 103 Nr. R 1250 (Liber Congestomm de arte praedicandi) und R 1251: 150 8 (diese Ausgabe ist hier benutzt).
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bedauerlichen Aspekten der Humanismusforschung, daß sie vielfach - gewiß nicht immer - einzelne Werke herausgreift und analysiert, ohne den breiten Strom der Überlieferung mit seinen vielfachen Verzweigungen und Verästelungen und den jeweils verschiedenen geistig~n Voraussetzungen der einzelnen Autoren und deren Absichten zu berücksichtigen. Melanchthons Lehrbuch steht in der Tradition der antiken Rhetorik und ihrer Wiederbelebung etwa durch Georg von Trapezunt und die italienischen Humanisten; doch die Berücksichtigung der sacrae conciones zeigt ebenso wie die Vorlesung über den Titusbrief, daß er sich auch noch einer anderen Tradition - vielleicht sogar noch stärker - verpflichtet fühlt, und wie die Christen seit alters die antike Rhetorik für die Predigtlehre (und, wie wir gleich sehen werden, auch für ihre Exegese) nutzen, so erweitert jetzt Melanchthon die Rhetorik um die christliche Predigtlehre und um den Schatz der Beispiele aus der Bibel. Wie ungewöhnlich Melanchthons Vorgehen ist, lehrt ein Vergleich mit der 1534 in Köln zuerst gedruckten Rhetorik des Johannes Caesarius, der, obwohl Schüler von Jacques Lefevre d'Etaples in Paris, zwar Melanchthon bisweilen zitiert, christliche Elemente jedoch fast nie aufnimmt und ganz der antiken Tradition und der humanistischen, etwa Georg von Trapezunt, verpflichtet bleibt. 33 Ebenso wie der Philologe Melanchthon in seiner Rhetorik den Bedürfnissen des Predigers ganz unbefangen und wie selbstverständlich gerecht zu werden ~er sucht und die biblischen Texte neben paganen berücksichtigt, geht er auch in seinen Handbüchern zur Dialektik vor, was in der ersten, 15Z0 in Wittenberg unter dem Titel Compendiaria Dialectices ratio gedruckten Fassung nicht so deutlich wird wie in der zweiten, den Dialectices libri quatuor. 34 Auch in diesem Lehrbuch beklagt sich Melanchthon, daß man in seiner Jugend zwar die praecepta gelehrt habe, nichts jedoch über deren Anwendung beim eigenen Reden oder b<:i der Beurteilung der Schriften anderer (in dicendo ut in iudicandis aliorum scriptis: fol. A lv-Zr, s. auch E lv-Zr). Deswegen, so betont er schon in der Einleitung, habe er
33 Zu Caesarius s. E. F. Hirsch, Johannes Caesarius, Contemporaries of Erasmus 1, 1985, 238-239, zu den Ausgaben von dessen Rhetorik s. Verzeichnis (wie Anm.12) 3, 1984,644 Nr. C 139 (Köln 1534, hier benutit) -144, ebda. 639-643 Nr. C 98-137 zu dessen Dialektik (zuerst Köln 1525 ?). Zu J. Lefevre d'Etaples s. H. Heller, Jacques Lefevre d'Etaples, Contemporaries of Erasmus 2, 1986, 315-318 und Anm. 10 und 44. Da K. Bullemer, Quellenkritische Untersuchungen zum 1. Buch der Rhetorik Melanchthons, Diss. phil. Erlangen 1902, Wiirzburg 1902, von der letzten Fassung, d. h. den Elementorum rhetorices libri duo, Wittenberg 1531 (s. Opera [wie Anm.5] XIII 417-506; hier benutzt Ausgabe Wittenberg 1536) ausgeht und sich auf das erste Buch beschränkt, behandelt er das hier angesprochene Problem nicht. 34 Die erste Auflage (Wittenberg 1520) ist von mir benutzt in Oxford und später in einer Kopie des Exemplars in Rostock, die ich der Freundlichkeit von J. Leonhardt verdanke, s. dazu Verzeichnis (wie Anm.12) 13, 1988, 327 M 2798, zum Druck Leipzig 1520 ebda. M 2797, zu späteren (1521-1523): 327-328 M 2799-2800, und 350-352 M 2996-3021 zu den libri quatuor, zuerst Hagenau 1528, hier benutzt: Leipzig 1531 (M 3000).
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den Regeln viele aus guten Autoren und aus der Heiligen Schrift entnommene Beispiele beigegeben, obwohl das sonst unpassend erscheinen wird, auch damit man sehen könne, wie viel Nutzen diese ars bringe, um die Disputationen gelehrter Männer zu verstehen (fol. A 2r: Itaque~ quamquam alicubi videri poterit ineptum~ adscripsi praeceptis multos locos ex bonis autoribus~ et ex sacris literis sumptos~ et ut lumen adferrent exempla praeceptis~ et ut videri posset~ quantum utilitatis adferat haec ars~ ad intelligendas doctorum hominum disputationes ). Gerade diese Bemerkung läßt Melanchthons Ziel und zugleich seine Sorge deutlich erkennbar werden: Es geht ihm nicht um Regeln und angelerntes Wissen, sondern um erwerbbare und anwendbare Fähigkeiten, die Fähigkeit selbst zu reden und selbst zu schreiben, selbst zu predigen und selbst zu diskutieren, aktiv an theologischen Debatten teilzunehmen, also die Fähigkeit, selbst zu argumentieren und andere zu widerlegen, das gesprochene Wort kritisch zu überprüfen und ebenso auch das geschriebene - kurzum: es geht nicht um die Rezeption und Weitergabe traditioneller Lehrinnalte, sondern darum, junge Menschen zu befähigen, in Auseinandersetzung mit der Tradition und mit anderen eigene Positionen zu entwicklen und zu rechtfertigen, so wie es Melanchthon selbst in diesen Handbüchern tut. Es ist hier nicht möglich, diese Schrift in ihren beiden Fassungen im einzelnen zu charakterisieren und erneut ausführlich die vielfältigen Rückgriffe auf biblische Texte zu illustrieren. Es muß genügen, zusammenfassend festzustellen: Auch in diesem Werk berücksichtigt Melanchthon die conciones ecclesiasticae, daneben die theologischen Disputationen, von denen er bemerkt, daß in ihnen viel nicht zur Sache Gehörendes über die Personen der Disputierenden und über aus anderen Quellen stammende Verwirrungen und Unnlhen gesagt werde (fol. L 4v: multa extra caussam de personis docentium et de tumultibus alicubi exortis dicunt). Das gleiche Gewicht wie für Beweisfühnmgen (demonstrationes) beansprucht Melanchthon hier auch für alles, was in der Bibel steht, da auch ihm eine sichere Wahrheit innewohne (fol. I 4v-Sr: Nam in his etiam certa est veritas), und er fordert, dies den jungen Menschen deutlich vor Augen zu halten. Immer neu illustriert er den richtigen Gebrauch einzelner Regeln und Schlußformeln in der Argumentation mit Hilfe von Zitaten aus der Bibel und nutzt die Zitate zugleich, um eigene dogmatische Positionen mit NachdnlCk zu vertreten und gegen andere zu polemisieren. Ich führe wenigstens zwei Beipsiele an: Im Abschnitt über die propositio betont Melanchthon die Notwendigkeit, bei jedem Fall (caussa) den entscheidenden Sachverhalt als Gegenstand (propositio) festzulegen, und fährt nach Hinweisen auf Ciceros Reden für Milo und für Roscius Amerinus fort: In epistola Pauli ad Romanos Iustitia coram Deo non sunt humana merita~ sed iustitia coram Deo est credere quod propter Christum recipiamur in graciam patris (fol. E 2v). Die Regeln der Argumentation geben Melanchthon Anlaß, auch deren fehlerhafte Verwendung durch folgendes Beispiel zu illustrieren: Pontifices Levitici habuerunt certas caeremonias. ergo oportet Romanos pontifices instituere certos ritus; dann zeigt er, wanlm diese Argumentation unzulässig ist: Nam hic multa sunt dissimilia~ Pontifex leviticus non instituit ceremonias~ sed divinitus accipit et verbum et [ 17]
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caeremonias. Romanus pontifox non accepit aut divinitus aut mandatum de /aciendis ritibus~ aut illam varietatem rituum (fol. H Sv-6r). Am Ende unterstreicht Melanchthon, daß er alle Regeln behandelt habe, die bei schwierigen Diskussionen zur Festigung der eigenen Position und für die kritische Beurteilung der gegnerischen nützlich und üblich seien, und fügt antiker Tradition entsprechend hinzu, sie seien durch Praxis im Diskutieren und durch stilistische Übungen zu ergänzen (fol. L 6r-v). Ebenso wie Melanchthons Antrittsrede und seine ersten Vorlesungen zeigen auch seine beiden Lehrbücher, daß nach seiner Meinung die Schriften des Alten und des Neuen Testamentes, wenn sie auch mit besonderem Respekt zu behandeln sind, wie andere Texte analysiert und erklärt und zur Illustration der Theorie angeführt werden können.
111.Wie weit nutzt nun Melanchthon selbst die Möglichkeiten, die er in seinen theoretischen Schriften ausführlich entwickelt und erläutert, bei der Erklänmg biblischer und paganer Texte? Bevor ich mich dieser Frage zuwende, möchte ich kurz an die früheren Formen der Bibelexegese erinnern, zum einen an die Exegese der Kirchenväter, die in der Regel mit der Rhetorik ebenso vertraut sind wie mit der Dialektik und die die dadurch gebotenen Möglichkeiten zu nutzen pflegen - auf Augustins De doctrina Christiana habe ich schon hingewiesen - zum anderen an die Exegese des Mittelalters und des frühen Humanismus. Zahllos sind die Predigten, von denen viele nach der Erfindung des Buchdnlcks vermehrt Verbreitung finden; doch dienen sie in der Regel weniger der Texterschließung als der Erbauung, gehen also weniger auf den Text ein als vielmehr vom Text aus, wie z. B. die unter dem Namen des Guilelmus Parisiensis gednlckten Postilla super evangelia und Postilla super epistolas Pauli. 35 Bei der Erläutenmg biblischer Texte schenkt das Mittelalter besondere Aufmerksamkeit der Einzelerklänmg, der Deutung einzelner Wörter oder einzelner Formulienmgen in verschiedenen Arten von Glossae; und auch in der Entwicklung der Quaestiones findet das Interesse am einzelnen seinen besonderen Ausdruck. Von der Einzelerklärung ist das Werk des Guilelmus Brito geprägt, das mit dem Titel Vocabularius perutilis terminos bibliae novi et veteris testamenti praegnantes ac difficiles optime declarans Heinrich von Hessen (s. Anm.30) zugeschrieben, um 1476 in DIrn gednlckt wird, und ähnlich ist auch der teilweise auf etymologischer Grundlage
35 Wilhelm von Paris (gest. um 1485) ist wohl nur der Herausgeber; als Verfasser gilt Johannes Herolt (gest. 1468, s. F.]. Worstbrock, Herolt, Verfasserlexikon, 3, 1981, 11231127, zu den Ausgaben s. Gesamtkatalog derWiegendmcke 10,1996,438-480 Nr.1192112025, hier benutzt 11960: Nürnberg 1488. Vgl. dazu. allgemein J. Longere et al., Predigt, Lexikon des Mittelalters 7, 1995, 171-183 (darin 172-174: Predigtsammlungen); s. auch o. Anm. 27 und 30.
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Die Bedeutung der Rhetorikfür Melanchthons Interpretation profaner und biblischer Texte
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deutende, um 1300 von dem Minoriten Giovanni Marchesini verfaßte Mammetractus von dem Bemühen um Einzelerklärung geprägt, der trotz zahlloser Irrtümer bis in die ersten Jahre des sechzehnten Jahrhunderts immer neu gedruckt wird. 36 Nur der Einzelerklärung dient vollends ein Werk mit so verheißungsvollem Titel wie Elucidarius scripturarum~ verfaßt von Heinrich Jerung und 1476 in Nürnberg gedruckt, tatsächlich ein alphabetisches Wörterverzeichnis mit elementaren Erklärungen zur Deklination und Konjugation einzelner Wörter sowie der Angabe biblischer Belege und der deutschen Äquivalente, in dem wichtige Termini wie evangelium und gratia, lex und pax fehlen und andere wie fides oder peccatum sehr knapp behandelt sind. 37 Noch weniger erleuchtend ist der sehr verbreitete Vocabularius praedicantium von Johannes Melber, in dem im Anschluß an Predigten von Jodocus Eichmann meist nur deutsche Äquivalente gegeben werden, gelegentlich lateinische Paraphrasen, jedoch keine biblischen Belege. 38 Die Beliebtheit dieser Werke zeigt, auf welchem Niveau sich die Bibelerklärung gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts vielfach bewegt. Größeren Wert dagegen besitzen solche Sammlungen wie die bis ins sechzehnte Jahrhundert hinein gedruckte umfangreiche Summa praedicantium des englischen Dominikaners Johannes von Bromyard, in der der Autor unter Stichwörtern wie z. B. abiectio~ abstinentia~ absolutio~ accidia~ caro~ castitas~ cor., gloria jeweils einleitend einige Ge-
36 Zur glos(s)a ordinaria s. B. Smalley, Glossa ordinaria, Theologische Realenzyklopädie 13, 1984, 452-457; F. Stegmüller (Hg.), Repertorium Biblicum Medii Aevi I-XI, Madrid 1950-1980, IX, 465-556 (zu den einzelnen Büchern der Bibel mit Angaben zu den benutzten Autoren und den Handschriften) und zu den frühen Ausgaben der Biblia eum glos(s)a ordinaria Gesamtkatalog der Wiegendrucke 4, 1930, 134-142 Nr.4282 (Straßburg um 1481, hier benutzt) - 4284, ferner die durch zahlreiche Ergänzungen erweiterte Ausgabe Biblia sacra cum glossa ordinaria I-VI, Antwerpen 1634 und (aufgrund irrtümlicher Zuschreibung in) Walafridi Strabi ... Opera Omnia, Patrologia Latina, Paris 1852, 113, 671316 und 114, 9-752. Zum Vocabularius s. Gesamtkatalog 10, 1996, 385 Nr.11871 (hier benutzt), s. auch L. W. Daley F. A. Daley (Hgg.), Summa Britonis sive Guillelmi Britonis Expositiones vocabulorum Biblie I-II, Pavia 1975. Zum Mammetractus s. L. Hain (wie Anm.30) II 1, 333-336 Nr.l0551-10574 (hier benutzt: Nürnberg 1489); nach 1500 wird das Werk offenbar nur noch in Frankreich gedruckt: Metz: 1509; 1511; Paris 1521; zum Verfasser vgl. A Teetaert, Reggio, Dictionnaire de Theologie Catholique 13, 1936-1937, 2102-2104. Zur Bibelerklärung im Mittelalter s. zu den Glossen J. Gribomont L. Hödl, Bibel: Bibelglossen, Lexikon des Mittelalters 2, 1983, 42-43, zu den Kommentaren J. Gribomont, Bibelkommentare ebda. 43-44, zu den einzelnen Phasen der historischen Entwicklung H. Riedlinger, Geschichte der Auslegung, ebda. 47-58 und 62-65 (N.T.) sowie J. Gamberoni, ebda. 58-62 (A.T.), zu den Quaestionen L. Hödl, Quaestio, Quaestionenliteratur, ebda. 7, 1995, 349-350. 37 Zum Verfasser s. F. Stanonik, Jerung, Allgemeine Deutsche Biographie 13, 1881, 779. 38 Zu J. Melber und seiner Kompilation vgl. K. Kirchert D. Klein, Melber, Verfasserlexikon 6, 1987, 367-371, zu den Ausgaben s. F. Claes, Bibliographisches Verzeichnis der deutschen Vokabulare und Wörterbücher, gedruckt bis 1600, Hildesheim 1977, 235 (Register); zu<)~~chmann s. F.J. Worstbrock, Eichmann, Verfasserlexikon 2, 1980, 394-397;
hier berttt: Ausgabe Nümberg um 1481.
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sichtspunkte für deren Erörtenmg aufführt (Wesen, Besonderheiten, Nutzen, Gefahren, Beispiele) und dann eine Fülle von Zitaten aus der Bibel, aus den Kirchenvätern, aus antiken Autoren, aus mittelalterlichen theologischen Schriften und Rechtsquellen zusammenträgt und inhaltlich bespricht, teilweise im Hinblick auf die Verkündigung. 39 Dasselbe gilt für das von dem italienischen Augustinereremiten Antonio de Rampegolis verfaßte oder herausgegebene, zuerst gleichsam anonym von Frater N. de Ianua publizierte compendium morale, das später mit verschiedenen Titeln wie z. B. Liber manualis ac introductorius in bibliae historias figurasque veteris et novi testamenti peroptimus Aurea biblia vocitatus gedruckt wird. 40 In diesem Werk wird jeweils nach einer Definition oder einer Paraphrase eine Fülle von Gedanken oder Zitaten vor· allem aus der Bibel zu den einzelnen alphabetisch geordneten Stichwörtern oder Begriffen zusammengestellt, z. B. cap. 46: fides ad deum, cap. 47: fides magna mulierum, cap.53 gratia reddenda deo, cap. 107: lex divina observanda est. Diese Sammlungen lassen unmittelbar den Vorrang des inhaltlichen Interesses vor jeder Berücksichtigung der Form, also der Würdigung der einzelnen biblischen Schriften als Schriften mit einem eigenen Charakter und einem bestimmten Argumentationszusammenhang erkennbar werden und außerdem die Betonung moralischer Aspekte (neben den theologischen). Dieselbe Konzentration auf die inhaltlichen Fragen, auf einzelne theologische Probleme prägt auch die mittelalterlichen, vor allem gerade auch die spätmittelalterlichen Kommentare, von denen mancher dazu neigt, nicht den einzelnen Vers
39 Zum Autor s. F. Wagner, Johannes von Bromyard, Lexikon des Mittelalters 5, 1991, 558, zu dessen Datierung (gest. vor 1352, nicht 1409) und der des Werkes 1. E. Boyle, Speculum 48, 1973, 533-537, zur Charakterisierung des Werkes P. Binkley, in: J. W. Drijvers A.A. MacDonald (Hgg.), Centres of Leaming. Leaming and Location in Pre-Modem Europe and the Near East, Leiden 1995, 255-275, der 257 mit Recht betont, daß es sich nicht nur um eine einfache Beispielsammlung handelt. Zu den Ausgaben s. Th. Kaeppeli, Scriptores Ordinis Praedicatorum Medii Aevi II, Rom 1974, 394; in der hier benutzten großformatigen Ausgabe, Basel nicht nach 1484, umfaßt der Artikel fides etwa sechzehn Seiten,gratia fast zehn, lex/leges mehr als fünf, pax etwa elf und,-peccatum zehn, dazu peccator sechs. 40 Auf die Frage, ob Bindo vQn Siena (gest. 1390) der Verfasser und Antonio de Rampegolis (um 1360-um 1423) nur der Herausgeber ist, kann hier nicht eingegangen werden. Der Liber qui dicitur compendium morale. utilis pro sermonibus et collacionibus faciendis erschien zuerst in Augsburg wohl 1473 (hier benutzt), dann in fünf weiteren Frühdrucken in Italien und Frankreich, zuerst Mailand 1494 (auch hier benutzt), teilweise mit demTitel Figurae Bibliae; etwas ausführlicher ist das demselben Verfasser zugeschriebene Reportatorium Bibliae aureum, Augsburg 1474, auch mit anderen Titeln, z. B. Liber manualis ... (wie im Text), Ulrn 1475; oder Aureum repertorium bibliae, Nümberg 1481 (hier zitiert; insgesamt elf Wiegendrucke). Das Verzeichnis (wie Anm.12) 1, 1983, 431-432 registriert vom Repertorium drei deutsche Drucke: A 2968-2970 , von den Figurae fünf: A 2971-2975 (hier benutzt Straßburg 1516); daneben gibt es französische und italienische Ausgaben; die letzte erschien 1849.
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Die Bedeutung der Rhet~kfiir Melanchthons Interpretation projCmer und biblischer Texte
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selbst zu interpretieren, sondern ihn zum Ausgangspunkt einer weitschweifigen Erärtenmg allgemeiner theologischer Grundfragen zu nutzen. 41 Lorenzo Valla (1407-1457), der als erster Humanist auch der Bibel seine Aufmerksamkeit schenkt, bekämpft in seiner Collatio Novi Testamenti vor allem die mittelalterliche Exegese und begnügt sich unter Verzicht auf die traditionellen allegorischen, tropologischen und analogischen Deutungsweisen mit dem Versuch, jeweils den wörtlichen Sinn einer TextsteIle zu ermitteln. Ihm geht es um philologische und auch um historische Kritik einzelner Verse, um Fragen der Textüberlieferung, um Varianten im griechischen' Urtext und um angemessene Übersetzungen, um die genaue Bestimmung des Gebrauchs einzelner Wörter im Griechischen und im Lateinischen, wobei er gelegentlich das Bemühen der Vulgata um stilistische Variation rügt. Wenn er z. B. zum Anfang des Markusevangeliums notiert: incipiendum /uit a dignitate aliqua et nuncupatione viri potius quam ab eius actione tamquam de eius nomine /uisset iam facta mentio, 42 so will er nicht den
41 Allgemein,zu verweisen ist auf F. Stegmüller (wie Anm. 36) sowie auf B. Smalley, The Study of the Bible in the Middle Ages, Oxford 1941, 3. Aufl. 1985 und H. de Lubac, Exegese medievale I-II, Paris 1959-1964, vgl. auch Anm. 36. Gedmcktwerden z. B. die Glossa ordinaria ac magistralis super epistolas beati pauli apostoli, Esslingen 1473 und Glossa ordinaria in prophetam, Nürnbergum 1476 (auch 1478) des Petms Lombardus, der nur die Erläutemngen einiger Kirchenväter und frühmitttelalterlicher Exegeten zusammenstellt, von Hugo de Sancto Caro (um 1200-1263) Postilla super evangelium, Basel 1482 und postilla super psalterium, Venedig 1496 und Nürnberg 1498, sowie die Biblia cum postillis Hugonis, Basel 1498-1502, von Albertus Magnus neben sermones notabiles ... de tempore et de sanctis (acht Inkunabeln, s. GesamtkatalogderWiegendmcke 1,1925,374-381 Nr.771-778) die ... postillainevangelium beatiJohannis, Köln um 1478 (s. Gesamtkatalog 1, 1925, 287-288 Nr. 612), von Thomas von Aquin Postilla ... in job, Esslingen 1474, continuum (in quattuor evangelistas), Rom 1470 (auch: Glosa continua super quatuor evangelistas, Nürnberg 1475; insgesamt acht Inkunabeln) und comentaria super epistolas ... pauli, Bologna 1481 (drei Inkunabeln), von den spätmittelalterlichen Erläutemngswerken Nikolaus Gorranus (um 1210-1295), Postilla multum solennis super epistolas Pauli, Köln 1478, die mit verschiedenen Titeln, auch in Teilausgaben sehr oft (zuerst Rom 1471-1472) gedmckte Postilla super totam Bibliam des Nikolaus von Lyra (1270-1349), der Liber ... super totum corpus evangeliorum oder Liber de gestis domini salvatoris, Straßburg 1484-1487 (außerdem zwei italienische Übersetzungen als Inkunabeln) des Simon Fidati von Cascia (1290-1348), die Expositio ... in Psalterium, Speyer 1491 des Ludolfvon Sachsen (1300-1378), die Postilla superepistolas Pauli, Köln 1478 und die Postilla cum sermonibus evangeliomm dominicalium, Straßburg 1496 des Nikolaus von Dinkelsbühl (1360-1433), die Expositio brevis etutilis super toto psalterio, Rom 1470 (einundzwanzig Inkunabeln) und die Quaestiones Evangeliorum tarn de tempore quam de sanctis collectae, Rom 1477 (zwölfInkunabeln) desJohannes von Turrecremata (1388-1468); die Expositio super librum psalmorum des Petrus de Herenthals (1322-1390) stellt wieder nur Auszüge aus den älteren Erklärern zusammen. Mehrere der genannten Werke liegen nicht nur als Inkunabeln vor, sondern werden auch noch nach 1500 gedruckt. 42 Die Collatio wurde von L.Valla 1442-1448 verfaßt (erst 1970 in Florenz gedruckt: Hg. A. Perosa), dann 1453-1457 überarbeitet und 1505 gedmckt: ... in latinam Novi Testamenti interpretationern ... Adnotationes apprime utiles, s. dazu J. H. Bentley, Humanists and Holy Writ. New Testament Scholarship in the Renaissance, Princeton 1983, 32-69; zu
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Text mit rhetorischen Mitteln erklären, sondern den Vorschlag einer Textänderung begründen. Dieses Werk Vallas wird erst 1505 von Desiderius Erasmus in Paris publiziert, der sich seinerseits als Schiiler von Jacques Lefevre d'Etaples ansieht. Lefevre 43 veröffentlicht 1509 (2. Auflage 1513) in Paris ein Quincuplex Psalterium mit mehreren Übersetzungen, grammatischen Bemerkungen, einer Expositio continua und einer Sammlung von Parallelstellen sowie 1512 (2. Aufl. 1516, datiert 1515) ebenfalls in Paris Paulus' Briefe mit der Vulgata, einer eigenen Übersetzung (aus dem Griechischen), einem theologischen Kommentar und Examinationes circa litteram, in denen er die verschiedenen Übersetzungen vergleicht und Parallelen aus dem Neuen Testament anführt: Philologische Einzelinterpretation und theologische Deutung bestimmen das Bild. Und Erasmus?44 Auch ihm geht es zunächst um die Herstellung eines korrekten griechischen Textes, um eine adäquate lateinische Wiedergabe - er erkühnt sich, die Vulgata durch eine eigene Übersetzung zu ersetzen - und um das wörtliche Verständnis eines jeden einzelnen Verses und Versteiles im Sinne des jewei-: ligen Autors - auch bei ihm unter Verzicht auf den vierfachen Wortsinn. Fast jedes einzelne Wort wird erläutert, Lesarten werden erörtert, griechische Wörter werden erklärt, Probleme der Vulgatafassung werden besprochen, Kommentare zur Sache werden vorgetragen - nicht zuletzt mit dem Ziel, die ethischen Aussagen der Texte zur vollen Wirkung zu bringen. Das ist in groben Zügen das Bild, das sich uns bietet, wenn wir nach den Voraussetzungen für Melanchthons exegetischen Bemühungen fragen. Man kann es ergänzen durch Hinweise auf einzelne andere Interpreten wie Melanchthons Mentor J ohannes Reuchlin oder Wimpfelings Schützling Thomas Wolf, der Psalmen wie Schriften paganer antiker Autoren vor allem mit dem Ziel moralischer Erziehung erläutert. 45
L. Vallas Erläutenmgen zur Vulgata s. Ch. C. Celenza, The Journal of Medieval and Renaissance Studies 24, 1994, 33-52 (mit. Lit.) und allgemein Ch. Trinkaus, Lorenzo VaIla, Contemporaries of Erasmus 3, 1987,371-375. 43 Vgl. G. Bedouelle, Lefevre d'Etaples et l'Intelligence des Ecritures, Genf 1976 und o. Anm.33. 44 Vgl. nur H.]. Bentley (wie Anm.42) 112-193; E.Rummel, Erasmus' Annotationes on the New Testament, Toronto 1986; F. Krüger, Humanistische Evangelienauslegung. Desiderius Erasmus von Rotterdam als Ausleger der Evangelien in seinen Paraphrasen, Tübingen 1986. Zu den zahlreichen Ausgaben seiner Kommentare und Paraphrasen s. Verzeichnis (wie Anm.12) 6, 1986, 192-308 E 2459-2461; 2504; 2727-2743; 3052-3071; 30933131; 3320-3387; zu seinen Zielen vgl. Ratio seu compendium verae theologiae, per Erasmum Roterodamum, Basel 1519, 12: Hic primus et unicus tibi sit scopus, hoc votum, hoc unum age, ut muteris, ut rapiaris, ut affleris, ut transformeris in ea, quae discis. 45 Reuchlins In septem psalmos poenitentiales hebraicos interpretatio de verbo ad verbum, et super eisdem commentarioli sui ad discendum linguam hebraicam ex rudimentis, Tübingen 1512 (vgl. V~rzeichnis [wie Anm.12] 2, 1984, 505 B 3406) wollen dem Sprachunterricht dienen. Zu Thomas Wolf (1475-1509) vgl. Djyus Bernardus in Symbolum Apostolorum .,. Thomas Wolphius Iunior in Psalmum Benedicam (Straßburg 1507) mit gelegentlichen Hinweisen aus rhetorischer Sicht (z. B. fol. D VIv zu 33, 12 [venite, filii ... ] Nunc
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Nicht auslassen will ich einen Hinweis auf Martin Luther. Er ist nicht nur mit den rhetorischen Schriften der heidnischen Theoretiker der Antike vertraut, wie fraglos viele seiner Zeitgenossen, er liest auch Augustins De doctrina Christiana und notiert sich einige, allerdings sehr wenige dort vorkommende rhetorische Termini. 46 Es überrascht daher nicht, daß in seiner ersten Vorlesung über die Psalmen nur sehr selten rhetorische Bemerkungen begegnen, und dies gilt ebenso für die Vorlesung über den Römerbrief von 1516-1518 und die 1519 gedruckte, wohl von Melanchthon bearbeitete und mit Vorwort und Nachwort versehene Vorlesung zum Galaterbrief. 47 Von einer systematischen Anwendung rhetorischer Kategorien zur Erklärung einer biblischen Schrift, ihrer Struktur oder ihrer stilistischen Gestaltung kann man sicherlich nicht sprechen.
IV. Wir kehren zu Melanchthon zuriick und wenden uns den Veröffentlichungen der Jahre 1521 und 1522 zu. 1521 publiziert er die erste Fassung seiner loei communes. 48 Die Geschicht~ der Entstehung dieser Schrift und deren Bedeutung für die
propheta more oratorio auditores reddit benivolos ... ), s. ferner In Psalmum Domine quis habitiibt (sic) in Tabernaculo tuo, Straßburg 1508, vgl. Verzeichnis (wie Anm.12) 22, 1995, 308 W 4278-4280; zum Autor s. O. Herding et al. (Hgg.) (wie Anm.11) Adolescentia 144-151. 46 Vgl. Luthers Werke (wie Anm.10) 9, 1893, 11-12, s. dazu H.Junghans, Der junge Luther und die Humanisten, Göttingen 1985, 209-210. 47 Vgl. Dictata super Psalterium 1513-1516: Luthers Werke (wie Anm.10) 3, 1885, 1652 und 4, 1886, 1-462, s. auch Auslegung der Bußpsalmen in deutscher Sprache, Werke 1, 1883, 158-220 (zuerst gedmckt Wittenberg 1517) und Auslegung des 109. (110.) Psalms, Luthers Werke 1,1883,687-710 (zuerst Augsburg 1518, beide ohne rhetorische Hinweise); zum Römerbrief s. Luthers Werke 56, 1938, 3-154 (Glossen) und 157-528 (Scholien) und zum Galaterbrief Luthers Werke 75 II, 1939, 5-108, s. ferner In Epistolam Pauli ad Galatas commentarius, Leipzig 1519: Luthers Werke 2, 1884, 436-618 mit 443-445 Vorwort von Otho Germanus (= Melanchthon, vgl. Briefwechsel [wie Anm.7] Regesten I 60 [Nr. 54] und Texte [wie Anm. 9] I 121-1124) und 618 Nachwort (s. Briefwechsel, Regesten I 64 Nr.65 und Texte I 148-149; hier eingesehen Dmck: Basel 1520 mit Vorwort: fol. IvIIr und Nachwort p. 245-246) sowie 442 Vorwort Melanchthons zur Ausgabe Wittenberg 1523 (vgl. Briefwechsel [wie Anm.7] Regesten I 148 [Nr.283] und Texte [wie Anm.9] II 75-76 ). 48 Loci communes remm theologicamm, seu Hypotheses theologicae, Wittenberg 1521, s. Verzeichnis (wie Anm.12) 13, 1988, 428 M 3584, ferner 428 M 3583: Basel 1521 (hier benutzt) und 42.8-429 M 3585-3600, außerdem in deutscher Sprache 429-430 M 36013603; die unten angeführten Abschnitte finden sich in der Ausgabe Basel 1521: fol. A Vr-B IVr; B IVr-D IVr; D IVr-F VIlv und G Vr- H IIIr; F VIlv-G Vr und H IIIr-H Vv, vgl. auch Werke (wie Anm.12) II 1, 1952 (Hg.: H.Engelland), 1-163: 8-17; 17-40; 40-66 und 74-82; 66-73 und 82-85; zu den Vorarbeiten s. Opera (wie Anm. 5) XXI 11-48; 49-60, die drei verschiedenen Fassungen ebda. 81-230; 253-560 und 601-1106. Zur Bedeutung der 10-
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Entwicklung von Melanchthons theologischen Anschauungen sind häufiger und intensiver untersucht worden als die Anregungen und Einflüsse, die ihn bei deren Abfassung bestimmt haben. Er selbst weist eingangs erst auf die veteres, die auch für die Theologie wie für jede ars üblich die Gesichtspunkte zu suchen pflegten, die deren Wesen ausmachen und an denen man seine Studien ausrichten kann, und wendet sich dann kritisch gegen einige reeentiores~ Johannes von Damaskus, der zu viel philosophiert, und Petrus Lombardus, der lieber die Meinungen anderer zusammenträgt als den Sinn der Schrift wiedergibt. 49 Denn das ist für Melanchthon das Ziel, der Sinn der Schriftzeugnisse, und um ihn zu erfassen, die zentralen Gedanken in eine Ordnung zu bringen und klarer verständlich werden zu lassen, stellt er die Schlüsselbegriffe, die er bei der Lektüre des Römerbriefes als solche erkannt hat, an den Anfang. Einige von ihnen wie z. B. hominis vires~ peeeatum~ lex - divinae leges~ eonsilia~ monaehorum vota~ iudieiales et eaeremoniales leges~ humanae leges - evangelium etc. wählt er sich dann aus, um mit ihrer Hilfe die wesentlichen Lehren des christlichen Glaubens unter ständigem Hinweis auf einzelne Stellen der Bibel in großer Ausführlichkeit systematisch darzustellen. Wie weit er sich von solchen Schriften hat anregen lassen wie denen, gegen die er sich hier wendet, oder etwa von den seit dem dreizehnten Jahrhundert verfaßten Realkonkordanzen oder von anderen der Exegese oder der Verkündigung dienenden Werken, die ihren Inhalt für eine systematische Erschließung entweder durch die Anordnung des Stoffes selbst unmittelbar bereitstellen oder durch ein Register leicht zugänglich machen, kann hier nicht geklärt werden, verdient aber eine eingehende Untersuchung. 50 Jedenfalls lassen Melanchthons 10 ei sowohl
ci für die Exegese s. z. B. H. Sick (wie Anm.5) 47-60, zu den loci allgemein s. Melanchthons kleine Schrift De locis communibus ratio (Vorwort datiert 18. Oktober 1526), hier benutzt: D. Basilii Magni de instituenda studiorum ratione ... Praeterea Rodolpus Agricola de formando studio, et Erasmi Roterodami, ac Philippi Melanchtonis studiorum rationes, atque locorum communium index, Basel 1537, 253-258 (index des Petrus Flandrunus: 259-261 ). 49 Gemeint sind die "Ex8o(Ju; aXQlß~~ Lfj~ oQ{}oöot;ou n(J'tEro~ des Johannes Damascenus (um 650-um 750), die in der lateinischen Übersetzung von Jacques Lefevre d'Etaples: In hoc opere Contenta Theologia Damasceni quatuor libri explicata zuerst 1507 in Paris gedruckt wird - der griechische Text erst später - und die von ihr teilweise abhängigen, sehr weit verbreiteten Sententiarum libri IV, Straßburg vor 1471 (hier benutzt, insgesamt 22 Inkunabeln) des Petrus Lombardus (um 1095-1160), s. dazu M.L. Colish, Peter Lombard In, Leiden 1994; zu Johannes von Damaskuss. B. Kotter, Johannes von Damaskus, Theologische Realenzykloädie 17, 1988, 127-132, zu Petrus Lombardus L. Hödl, Petrus Lombardus, ebda. 26, 1996, 296-303. 50 Zu den Realkonkordanzen s. J. Gribomont, Bibel. Bibelkonkordanzen, Lexikon des Mittelalters 2, 1983, 44. Die Anm. 41 genannten Werke werden teilweise durch gesonderte Publikationen erschlossen, z. B. durch das Famosissimi atque doctissimi viri domini Nicolai de lyra ... Repertorium super bibliam, Lyon um 1484 (insgesamt vier Inkunablen), teilweise durch vorangestellte Register, vgl. zu den Sermones.A.lberti Magni: tabula sive directorium (Ausgabe Speyer um 1476) oder registrum (Ausgabe DIrn 1478), ähnlich vor den Postillae
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seine starken theologischen, dogmatischen Interessen erkennbar werden, die für das Verständnis seiner Werke und seines Wirkens in Wittenberg wesentlich sind , .. wie seine Uberzeugung von einer durchgängig geordneten Welt, die sich schon in seinen frühen Werken andeutet (s. z. B. De rhetorica libri tres p. 44). Die schon genannten, 1522 auf Veranlassung Luthers in Nümberg gednlckten und im Folgejahr auch auf deutsch erschienenen Annotationes ... in Epistolas Pauli ad Rhomanos Et Corinthios sind von der Forschung nicht immer freundlich behandelt worden. In der Ausgabe der Werke Melanchthons im Corpus Re/ormatorum fehlen sie völlig, und in der Studienausgabe sind nur die Annotationes zu den Korintherbriefen berücksichtigt. 51 Gnmd für die Ablehnung ist teilweise wohl Melanchthons eigenes, späteres Urteil, teilweise ihr angeblich elementarer Charakter. Das ist wichtig; denn mustert man die Annotationes ganz durch, so findet man zahlreiche rhetorische Bemerkungen, wie es denn gleich am Anfang zu "Innhalt und mainung des sendbrieffs" heißt (fol. a IHr) : "In dem ersten thayle dises sendbrieffs in acht Capitelln wirt vonn der gnade von dem gesetz vonn der sunde gehandlet. Unnd das in wolgeschickter ordnung und ganntz künstlichem wege" (fol. a IHr: prior pars epistolae octo capitum Gratiam. Legem. peccatum. tractat. Idque aptissimo ordine et plane Rhetorica methodo ). Der
des Hugo de Sancto Caro, vor der Postilla cum sermonibus evangeliomm dominicalium des Nikoalaus von Dfnkelsbühl und vor den Quaestiones Evangeliomm des Johannes de Turrecremata. Die Summa praedicantium des Johannes von Bromyard (s. Anm. 39) ist nicht nur selbst alphabetisch angeordnet, ihr gehen zwei tabulae vocales und eine sehr ausführliche tabula realis vorauf. Ergänzend sei daran erinnert, daß viele Enzyklopädien des Mittelalters systematisch angeordnet sind, etwa die des Bartholomaeus Anglicus: De proprietatibus remm, Basel um 1470 (zwölf Frühdmcke und zwölf weitere von volks sprachlichen Übersetzungen), s. dazu G. Bemt, Enzyklopädie, Enzyklopädik. Lateinisches Mittelalter und Humanismus, Lexikon des Mittelalters 3, 1986, 2032-2033. - Zu anderen Einflüssen z. B. von R.Agricola und D. Erasmus auf Melanchthon s. P.Joachimsen, Gesammelte Aufsätze I-lI, Aalen 1970-1983, I 387-442 (zuerst 1926). 51 S. Opera (wie Anm.5) XV 441-442 und Werke (wie Anm.12) IV, 1963 (Hg.: P.F. Barton), 16-84 und 85-132; zur Ausgabe selbst s. Verzeichnis (wie Anm.12) 13, 1988,283 M 2447 (hier benutzt; Luthers Vorrede 1522: fol. a lIr-v, s. auch Luthers Werke [wie Anm.10] 10, 2, 1907, 309-310), weitere Ausgaben: ebda. 283-285 M 2448-2456 und 2460-2469. Die deutschen Übersetzungen, die hier teilweise zitiert werden, um auch von ihnen einen Eindmck zu vermitteln: Annotationes Philippenn Melanchthons Verzaichnung: unnd kurtzliche anzaigung des rechtenn und aigentlichen verstands der Epistel die S. Paulus zu den Rhömem geschrybenn hat verdeutscht, Nümberg 1523 (hier benutzt; Luthers Vorrede: fol. Ir-v), s. Verzeichnis (wie Anm.12) 13, 1988,284 M 2458 und M 2457: Augsburg 1523; 284 M 2459: Auslegung der Episteln S.Pauls eine an die Römer und zwo an die Corinthier Philippi ·Melanchthons gedeudscht, Wittenberg 1527 zusammen mit der Übersetzung der Kommentare zu den Korintherbriefen (hier eingesehen); diese einzeln 285 M 2470: Annotationes oder Anzeygung Philippi Melanchthonis über die Ersten Epistel S. Pauli zu den Corinthiem verteutscht. Nümberg 1524 und 285 M 2471: Annotationes oder Anzeygung Philippi Melanchtonis über die Andem Epistel S. Pauli zu den Corinthiem verteutscht, Nümberg 1524 (beide hier benutzt).
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Verfasser - und wenn Melanchthon auch diese Annotationes nicht selbst veröffentlicht hat, so wird er diese Hinweise doch wohl mündlich gegeben haben, so daß sie mitgeschrieben werden konnten, wir dürfen also sagen Melanchthon - ist offenkundig der Überzeugung, daß Paulus sich hier eines methodischen Vorgehens bedient, das den Regeln der Rhetorik folgt. Und so stellt er im einleitenden Abschnitt (exordium: fol. B Ir zu 1,8) die dort von der rhetorischen Theorie geforderten Elemente heraus, die Wohlwollen erzeugen und Aufmerksamkeit wekken sollen (loci benevolentiae et attentionis). Später faßt er den Inhalt einzelner Abschnitte jeweils im Voraus zusammen (fol. B IIv zu 1,18): "Im Bericht geht es um Folgendes" (summa narrationis): "Die These und der Gegenstand der Erörtenmg ist: allein der Glaube an Christus wird als Gerechtigkeit angerechnet, angesehen" (propositio et status huius disputationis est. solam fidem in christum reputari pro iustitia), und er fügt hinzu: "Diese These erschließt er aus einigen anderen mit Hilfe rhetorischer Steigerung" (quam propositionem ex aliis quibusdam rhetorica amplificatione colligit). Dann zählt er die weiteren Themen auf (s. auch fol. C IIIr zu \ 21). Sonst markiert Melanchthon bisweilen die einzelnen Teile einer These (z. B. fol. B IVv zu 2,17) oder betont den Zusammenhang zweier Abschnitte (fol. B Iv zu 1,16) bzw. sogar die rhetorische Anordnung überhaupt, etwa wenn er zu Beginn des vierten Kapitels notiert: "Die These, die die zentrale Behauptung der Erörterung in diesem Brief darstellt, ist im dritten Kapitel dargelegt worden, nämlich daß Gerechtigkeit allein im Glauben besteht; es ist eine These, die er (in rhetorischer Ordnung), in einer durch die Regeln der Rhetorik empfohlenen Anordnung durch die folgende bestätigende Argumentation abgesichert hat; er beginnt aber diese bestätigende Argumentation nicht in einfacher Form, sondern durch einen rhetorischen Gegeneinwand, mit dem er den fragenden Juden antwortet" (fol. C IVv: Propositio. qua status disputationis in hac Epistola continetur~ absoluta capitulo 3. Iustitiam s(olam) esse fidem. quam propositionem Rhetorico ordine sequenti confirmatione communivit. Orditur autem confirmationem non simpliciter sed Rhetorica subiectione qua respondet quarerentibus Iudaeis). Die Formulierung non simpliciter sed Rhetorica subiectione zeigt besonders deutlich, daß Melanchthon nicht nur eine rhetorisch orientierte Erklänmg geben will, sondern eine Wertung aus rhetorischer Sicht vornimmt. Es ist weder möglich noch notwendig, hier alle rhet()rischen Bemerkungen Melanchthons zu registrieren; es geniige der Hinweis, daß sie den Aufbau (allgemein: z.B. fol. G Iv zu 8,12; zu digressiones fol. B IIIv zu 2,1; C IIr zu 3,9; E IIIv zu 6,8), die Argumentation (fol. C Ir-v zu 3, 1; C IIr zu 3,9; D Iv-Ur zu 4,13; D lUv zu 4,16; G IIIr zu 8,13) und den Stil betreffen; so verweist Melanchthon immer wieder auf einzelne Figuren wie eine occupatio S2 aber auch auf y
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S2 S. fol. C Ir zu 3, 1; C Ur zu 3, 9; C Uv zu 3, 19; Hinweise auf eine allegoria in vocabulis: fol. L Iv-L Ur zu 13, 1; auf eine oratio ecliptica: fbl. K IIIv zu 12, 3; auf eine gravis et sublimis sententia: fol. K IUr zu 12, 2.
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Die Bedeutung der Rhet'j!ikjür Melanchthons Interpretation profaner und biblischer Texte
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den vulgaris modus loquendi der Heiligen Schrift (fol. B IVr zu 2,6). Besondere Beachtung verdient, daß auch grundsätzliche Hinweise zur Interpretation nicht fehlen. Im Anschluß an die Probleme, die Augustin mit der Aussage Römer 2,14 b hat ("Wenn die Heiden von Natur aus das tun, was das Gesetz zum Inhalt hat": Gentes ... natura quae legis sunt faciunt), betont Melanchthon (fol. c IIvIIIr): "Dan1mb die weil die mainung der geschrifft billiger auß der gantzen disputation dann auß eim einigen spruch genommen werden sol, mißbrauchen die paulus wort so disem spruch die gerechtigkeit menschlicher krefft zu beweysen umb treyben. Ja man soll auch hye die ordnung und art der red ansehen" (fol. B IVr-v: cum sententia scriptorum potius petenda sit ex tota disputatione quam ex uno aliquo versu abutuntur Paulo qui hunc versiculum pro iustitia virium humanarum probanda iactant. farn et hic spectandus est ordo et ratio sermonis). Fraglos ist hier vieles elementar, aber damit ist es noch nicht falsch und vielleicht auch nicht überflüssig, sondern nützlich. So hat es jedenfalls Heinrich Bullinger empfunden, der für seine 1525 gehaltene Vorlesung zum Römerbrief Melanchthons Annotationes zahlreiche Anregungen entnimmt. 53 Und auch Melanchthon selbst scheint einige Aspekte seiner rhetorischen Erläuterungen nicht so negativ beurteilt zu haben, wie es die verleugnende Bemerkung im Widmungsschreiben zur Neuausgabe seines Kommentars von 1532 vermuten läßt: ante aliquot annos edita est silvula quaedam commentariorum in Romanos et Corinthios meo nomine quam ego plane non agnosco. Hanc ut opprimerem paravi enarrationem locupletiorem in Romanos. 54 Denn 1529 veröffentlicht er in Hagenau eine Dispositio orationis in Epistola Pauli ad Romanos, in der er den Römerbrief "ausdrücklich nach rhetorischen Gesichtspunkten bis in die kleinsten Einzelheiten hinein analysiert" (R. Schäfer).55 Dabei bedient er sich eines Verfahrens, das er im Ansatz schon in seiner ersten Ausgabe des griechischen Textes des Römerbriefes von 1520 anwendet, dann im Anhang zu seiner Theologica fnstitutio, im Artifitium Epistolae Pauli ad Romanos in der Exegesis zum Galaterbrief und, wie sich gezeigt hat, in den Annotationes von 1522,56 eines Verfahrens, von dem man an7
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53 Vgl. S.Hausammann, Römerbriefauslegung zwischen Humanismus und Reformation. Eine Studie zu Heinrich Bullingers Römerbriefvorlesung von 1525, Zürich 1970, 145-155, s. auch 211-315; dort 155-158 rhetorische Hinweise aus Melanchthons Kommentar zum Römerbrief. 54 Vgl. Werke (wie Anm. 12) V, 1983 (Hgg.: G. Ebeling; R. Schäfer), 26; das Widmungsschreiben an den Erzbischof von Mainz ist in den Opera (wie Anm. 5) II, 1835, 611-614 abgedmckt (Zitat 611-612, s. auch Briefwechsel [wie Anm 7] Regesten II 79 [Nr.1276J); in der erweiterten Ausgabe von 1540 (s. Anm. 59) ist es durch ein anderes ersetzt. Zur Ausgabe von 1532 s. u. Anm. 59. 55 Vgl. Werke (wie Anm. 12) V 15; zur Ausgabe s. Verzeichnis (wie Anm 12) 13, 1988, 355 M 3042 (auch Opera [wie Anm.5] XV 443-492) und M 3043-3046: spätere Dnlcke, 3043: Braunschweig 1539 (hier benutzt). 56 Zur ersten Ausgabe s. Verzeichnis (wie Anm. 12) 2, 1984, 707 B 5016; zur Theologica Institutio s. E. Bizer (Hg.), Texte aus der Anfangszeit Melanchthons, Neukirchen-Vluyn
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nehmen darf, daß er es auch in seinen Vorlesungen über die Reden des Demosthenes und Ciceros nutzt, und das uns für eine Cicerorede etwa in seiner Dispositio orationis quam pro Archia poeta Cicero habuit (Hagenau 1533) greifbar wird. 57 Melanchthon geht es darum, die Struktur und den Gedankengang einer Rede oder eines Briefes in allen Einzelheiten erkennbar werden zu lassen, nicht nur in groben Zügen, sondern auch mit den einzelnen loci~ den einzelnen Argumentationen, mit Abschweifungen von der Hauptargumentationslinie und mit Hinweisen auf die einzelnen verwendeten rhetorischen Mittel. Einleitend formuliert er 1529 nach einer allgemeinen Vorbemerkung (auch zum genus) und Hinweisen zu den Loci exordii (benevolentia und attentio) zur propositio des Römerbriefes: "Dieser Hauptthese ist eine rhetorische Gliederung beigegeben, die die These in einzelne Teile aufgliedert. Die Heiden werden beschuldigt, ebenso die Juden. Diese Glieder werden der Reihe nach behandelt. Die Heiden haben Gott nicht gerühmt. Er steigert dies von den Wirkungen her, denn später werden die Folgen (die' Früchte) der Gottlosigkeit mit Hilfe einer Reihung (Anhäufung) aufgezählt. Die Gott nicht loben, werden einer verworfenen Gesinnung überantwortet, so daß sie in verschiedene Sünden stürzen, daß sie Ehebrecher, Mörder, Diebe werden" (Huic generali propositioni est subiecta rhetorica distributio~ quae partitur propositionem in membra. Gentes accusantur et ludaei. Haec membra ordine tractantu~ Gentes non glorificaverunt Deum. Amplificat ab effectibus~ nam impietatis /ructus postea per congeriem recensentu 0 qui non glorificant Deum~ traduntur in reprobum sensum~ ut ruant in varia peccata~ fiunt moechi~ homicidae~ /ures). 58 Stellt man den Kommentar zum Römerbrief von 1532 daneben, den Melanchthon 1540 erneut verbessert und ergänzt herausgibt,59 so zeigt sich, daß es weiterhin sein Ziel ist, das Ganze in seiner Struktur und das heißt in seiner Argumentationsstrategie mit rhetorischen Kategorien zu erfassen. R. Schäfer hat am
1966, 90-99, der Anhang 97-99, das Artifitium ebda. 20-30, die Exegesis ebda. 34-37, zu den Annotationes s. o. Anm. 51; vgl. dazu meine Bemerkungen Zeitschrift für die Neutestamentliche Wissenschaft 82, 1991, 16-22; Rhetorica 10, 1992, 325-332 und Melanchthon's Use (wie Anm. 3) 311-316. 57 S. dazu u. Anm.69-72. Die Vorlesungen zu den Reden des Demosthenes (1524, 1525, 1526, 1527 u. ö.) und zu denen Ciceros (1524, 1525, 1529, 1530, 1531 u. ö.) verzeichnet K. Hartfelder (wie Anm. 5) 524-566 (nicht vollständig). In der Ausgabe von 1533 folgen auf den Widmungsbrief die Dispositio (fol. A IIIr-B IVr), die Paraphrasis (fol. B IVv-C IVv) und der Text mit wenigen Scholien am Rand (fol. C IVv-E VIv), die in den Opera (wie Anm. 5) XVI 897-920 nicht abgedmckt sind. 58 In der Ausgabe 1539 (s. Anm 55): Vorbemerkung: fol. A 4r-6r, Loci exordii: fol. 6r-v, Propositio: fol. A 7r. 59 Commentarii in epistolam Pauli ad Romanos, Wittenberg 1532, s. Verzeichnis (wie Anm.12) 13, 1988, 321 M 2740 (weitere Ausgaben: M 2741 und 2742) und Opera (wie Anm. 5) XV 495-796; hier benutzt die Neuauflage Commentarii in epistolam Pauli ad Romanos hoc anno M.D.XL. recogniti et locupletati,' Straßburg 1540, s. Verzeichnis (wie Anm.12) 13, 1988,321 M 2743, spätere Dmcke M 2744-2747.
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Schluß seiner Ausgabe nicht nur die einzelnen Hinweise Melanchthons zu einer Gesamtdisposition zusammengestellt (S.373-378); er betont in seiner Einleitung sogar (S.18), daß Melanchthon 1532 "entschiedener" als 1529 "die Form ... zum Schlüssel für den Inhalt macht und dabei zu kritischen Ergebnissen kommt". Schäfer fährt fort: "Als ein Werk nämlich, das nach rhetorischen und dialektischen Regeln komponiert wurde, kann der Römerbrief auch allein nach diesen Regeln ausgelegt werden. Dazu gehört zum Beispiel, daß alle einzelnen Aussagen aufs Ganze bezogen werden müssen, das Ganze aber von der principalis quaestio ... her beurteilt werden muß." Das ist ein Grundsatz, den wir schon aus den Annotationes von 1522 angeführt haben und auch in der Dispositio von 1529 wiederfinden. Es zeigt sich also, daß Melanchthon nicht etwa eine elementare rhetorische Erklärung (wie in der frühen Exegese des Galaterbriefes) durch die Beschränkung auf eine theologische Deutung ersetzt, sondern die rhetorische Erklärung intensiviert, um mit ihrer Hilfe den Inhalt, den theologischen Gehalt, noch angemessener zu erfassen. Wichtig ist zugleich, daß er stets vom Text ausgeht, nicht von der Theorie, also nicht ein Schema aus der rhetorischen Theorie um jeden Preis im Text wiederzufinden sucht, sondern das, was er am Text beobachtet, mit Hilfe der rhetorischen Kategorien erläutert und so das vom Text Gemeinte klarer verständlich macht. Ohne auf die Kommentare zu den Korintherbriefen einzugehen (s. o. Anm. 50), möchte ich ergänzend betonen, daß Melanchthon diese Form der Exegese auch in seinen Scholia zum Kolosserbrief von 1527 60 ausdrücklich rechtfertigt, wo er zu 1,3 schreibt: "Ich mag vielleicht läppisch (ineptus) erscheinen, wenn ich Paulus' Redeweise mit den Regeln der Rhetorik in Verbindung bringe. Doch bin ich der Überzeugung, daß seine Rede besser verstanden werden kann, wenn die Reihenfolge und Anordnung aller Teile bedacht wird. Denn Paulus hat nicht völlig ohne jede Ordnung und ohne jede Überlegung geschrieben, was der Gegenstand selbst zeigt. Er hat seine 10 ei , seine Standardformeln, mit denen er die Gemüter vorbereitet, er hat eine überlegte Art und Weise zu lehren und zu erzählen, die beim Erklären nicht zu bemerken - ja was ist das anderes als das, was die Griechen im Dunkeln tanzen nennen oder wie Chrysostomos sagt, bei Nacht kämpfen. ,,61 Ziel dieser Form der Exegese Melanchthons ist es also nach seinem eigenen Zeugnis, festen Boden unter den Füßen zu gewinnen.
60 Scholia in Epistolam Pauli ad Colossenses, Hagenau 1527 (hier benutzt), s. auch Werke IV (wie Anm. 51) 210-303; Auslegunge der Epist. S. Pauli zu den Colossern durch Philips Melanch., Marburg 1527 (hier benutzt), s. Verzeichnis (wie Anm.12) 13, 1988,499 M 4187, weitere Ausgaben M 4188-4193, deutsche Übersetzung 499-500 M 4194-4195, s. ferner D. C. Parker, Paul's Letter to the Colossians. Philip Melanchthon, Sheffield 1989. 61 Fo!. A 5v: Videar fortassis ineptus, si Pauli sermonem ad Rhetorica praeeepta conferam. Ego tarnen sie existimo intelligi melius posse orationem Paulinam, si series et dispositio omnium partium consideretur. Neque enim omnino nullo ordine, aut nulla ratione seripsit Paulus, id quod res ipsa ostendit. Habet suos locos, quibus praeparat animos, habet
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v. Fünf Fragen oder Fragenkomplexe ergeben sich aus den bisher vorgetragenen Beobachtungen. 1) Wie weit nutzt Melanchthon die Kategorien der Rhetorik und Dialektik zur Erläuterung anderer biblischer Texte, also der Evangelien, des Pentateuchs, der Propheten oder der Psalmen? 2) Wie weit erklärt Melanchthon biblische Texte nicht nur mit den Kategorien der antiken Rhetorik, sondern illustriert sie auch mit Hilfe von Beispielen aus der antiken Literatur? 3) Wie geht Melanchthon bei der Kommentienmg nichtbiblischer Texte aus der Antike vor, führt er ähnliche rhetorische Analysen durch? 4) Wie weit zieht Melanchthon biblische Beispiele bei der Erklärung paganer Texte heran? 5) Woher stammt Melanchthons Methode der rhetorischen Analyse, wie er sie etwa für den Galaterbrief und noch intensiver für den Römerbrief anwendet? 1523 erscheinen Melanchthons Kommentare zum Johannesevangelium und zum Matthäusevangelium, die auf Vorlesungen der Jahre 1522-1523 bzw. 15191520 beruhen und in denen rhetorische Erläuterungen stark zurücktreten. 62 Gelegentlich begegnen Hinweise zum Inhalt einzelner Kapitel oder zu Einzelheiten der Argumentation oder des Stils, etwa auf einen syllogismus oder auf eine antithesis, doch zur Struktur des Ganzen heißt es im Kommentar zum Johannesevange1ium nur: Historicum narrandi ordinem observat Iohannes in eo~ quod historiam de Christo scripturus~ primum quis sit exponit~ deinde cur veneri~ postremo quid gesserit. Zwar wird die totius Evangelii summa einmal angesprochen und die summa
suam quandam docendi et narrandi rationem, quam in enarrando non animadvertere, quid aliud est, quam quod graeci dicunt in tenebris saltare, seu ut Chrysostomus ait vuX:toJ-LUXELV, vgl. auch Werke IV (wie Anm.51) 214-215; in der deutschen Übersetzung (s. Anm.60) fol. b IHr-v: Villeicht mag ich als ein ungeschickter geachtet werden so ich die ,rede Pauli nach den regeln der wolredenheit ermessen wölle. Ich halt es aber dafür das auff solche weise S. pauli rede uffs best müge verstanden werden so man die ordnupg und des teyls gelegenheit betrachte. Denn er hat yn keinen weg on ordnung und on ursach der Rhetoriken geschrieben wie die sach an yhr selbs ausweyset. Er hat seine eygene griff damit er die hertzen und gemüter zu sich reitze und geflissen mache. Er hat auch ein sonderliche weyse zu leeren und die sache zu zelen unnd darzu thun. Wer nun auff die nicht achtung hat ym auslegen was thut der anders denn das er (wie die Kriechen sagen) ynn der finsternis springe oder wie Chrisostomus spricht das er mit der nacht streytet. 62 Zu den Vorlesungen s. K. Hartfelder (wie Anm. 5) 556-557 (nicht vollständig). Die Kommentare: In Evangelium Ioannis, annotationes Philippi Melanchthonis, Basel 1523, s. Verzeichnis (wie Anm. 12) 13, 1988, 285 M 2473, weitere Ausgaben mit verschiedenen Titeln: 286-287 M 2474-2484, M 2474 zusammen mit dem Kommentar zum Matthäusevangelium; hier zitiert: M 2477 (Ha gen au 1523); deutsche Übersetzung: Augsburg 1524: 287 M 2485; Annotationes Phi. Melanchthonis ... In Evangelium Matthaei, 1523 (hier benutzt), s. Verzeichnis (wie Anm. 12) 13, 1988, 287 M 2486, weitere Ausgaben 287-288 M 2487-2497 (eine deutsche Übersetzung ist offenbar nicht erschienen), s. ferner Werke IV (wie Anm. 51) 134-208; in den Opera (wie Anm. 5) XIV 531-536 nur AuszUge, dagegen der Kommentar zum Johannesevangelium vollständig: 1047-1220.
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testimonii Ioannis einmal zusammengefaßt, aber der Versuch einer rhetorisch orientierten Erklänmg des ganzen-Evangeliums wird nicht unternommen. 63 Dasselbe gilt für den Kommentar zum Matthäusevangelium. Wie erklärt sich der Unterschied zu den Kommentaren zu den Paulusbriefen? Wesentlich ist fraglos die völlig verschiedenartige Natur der Texte. Die Evangelien berichten, Paulus argumentiert; aber auch in den Evangelien werden Themen behandelt (loei), werden Stilmittel verwendet, allegorische Erklärungen gegeben oder ermöglicht. Entscheidend ist offenbar Melanchthons je verschiedenes Interesse: Bei den Evangelien steht für ihn die Erläuterung des einzelnen Berichtes im Vordergrund oder des einzelnen Gleichnisses, der einzelnen Aussage, und zu deren Erklärung verzichtet er weitgehend auf eine rhetorische Charakterisierung, obwohl er in den De Rhetorica libri tres gerade der Erzählung und Belehrung (genus didacticum) besondere Aufmerksamkeit schenkt (s. Anm.20). Bei den Briefen ist ihm der größere Zusammenhang wichtig, der viele kleine Argumentationsreihen eine zentrale Aussage bestätigen läßt; und um zu verdeutlichen, wie Paulus argumentiert, wie er Argumente im einzelnen sprachlich gestaltet, wie er sie einzeln zur Evidenz bringt, wie er mehrere miteinander verknüpft, greift Melanchthon zu allen durch die Rhetorik und Dialektik gebotenen Erklänmgsformen. Wie geht Melanchthon bei anderen biblischen Texten vor? Aus den frühen Jahren liegen nur Erklärungen der ersten Kapitel der Genesis und des Dekalogs vor sowie - nach Erläutenmgen der Proverbia Salomonis, 1525 in Nürnberg und Hagenau nur aufgnmd einer Vorlesungsnachschrift gedruckt - zunächst eine Übersetzung, dann im Anschluß an eine neue Vorlesung (1527) in überarbeiteter Form Nova Scholia ... in Proverbia Salomonis ad iusti paene commentarij modum conscripta (Hagenau 1529), daneben die Erläuterung einiger Psalmen (1528).64 J
63 Das Zitat: fol. 7r; Evangelii summa: fol. 14 r (zu 1,12); summa testimonii: fol. 23 v (zu 1,27); vgl. auch orationis series et compositio fol. 8v (zu 1,9); mehrfach faßt er die summa eines Abschnitts an dessen Anfang zusammen: z. B. fol. 36r und fol. 42v zu Kapitel 4 bzw. 5 oder am Schluß: fol. 53v zu Kapitel 6, oder er gibt den scopus einer Geschichte; zu Einzelheiten der Argumentation s. auch fol. 19v (zu 1, 18); syllogismus: fol. 7v (zu 1,2); confutatio: fol. 45v-46r (zu 5,37); allgemein zur elocutio fol.13r (zu 1,9: verba simplicia, sed res maximae sunt) und fol.18 v (zu 1,16: Nemo verbis consequi queat magnificam hanc Evangelii seu Christi descriptionem); Einzelheiten: antithesis: fol.13v (zu 1,10) und 17r (zu 1,14); circumstantiae: fol.23v (zu 1,24); 't<xnElVffiCH<; fol.16v (zu 1,14); occupatio: fol.65v (zu 8,26); allegoria: fol. 23v-24r (1,27). In den ersten Versen des siebten Kapitels registriert er mehrere loci: fol. 53v (zu 7,1), 54r (zu 7,2), 54v (7,3), im achten nach Vers 14 acht loci communes: fol. 63v-64v. 64 In obscuriora aliquot capita Geneseos Phi I. Melanc. Annotationes, Hagenau 1523 und Philippi Mel-anchtonis erklärung oder anzaygung in etliche schweresten Capittel des ersten buchs Moysi, kürtzlich auß dem latein ins teutsch gebracht, Augsburg 1524 (hier benutzt), s. Verzeichnis (wie Anm.12) 13, 1988, 411 M 3460 und 3467, weitere Drucke der lateinischen Fassung M 3461-3466, s. auch Opera (wie Anm. 5) XIII 761-792. - In caput Exodi. XX. Philip. Melanchth. Scholia, Hagenau 1523 und Eyn kurcz auszlegung uber das 20. Capitel Exodi der zehen gebott. Philipp. Melanch., Wittemberg 1525 enthalten
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Wie bei den Evangelien steht die Erläutenmg der Einzelheiten bzw. der einzelnen Abschnitte im Vordergnmd. Gewiß, auch hier sucht Melanchthon jeweils einen Grundgedanken, gleichsam ein Thema festzulegen. So heißt es zu Beginn der praefatio zur Genesis: ~~Praeterquam quod Genesis rerum conditionem indicat, ad hoc ea potissimum utendum est, ut inde discas originem peccati~ et primam gratiae promissionem~ ex quibus duobus locis postea universa pendet scriptura" (entsprechend auch in der deutschen Übersetzung) und zum Titel der Proverbia (Salomon filius Davi~ rex Israhel usw.) bemerkt Melanchthon in den Nova Scholia von 1529 (fol. A Vv): Titulus est propositioni additus more veteri. Nam et ad eundem modum historiam suam Thucydides incepit. Thucydides Atheniensis scripsit bellum maxime memorabile. Est autem haec propositionis summa: Ego tradam praecepta pietatis et bonorum morum~ seu tradam praecepta timoris Dei~ et fidei erga Deum~ et bonorum operum. Adscripsit autem nomen suum author, ut sciremus divinitus haec tradita esse. Scriptura enim testatur Salomoni sapientiam a Deo donatam esse~ et infra capite octavo significat se sapientiam Dei docere. Doch wenn Melanchthon auch allgemein zur Schöpfungsgeschichte feststellt: Ut a conditione rerum ordiretur, non historiae tantum ordo postulabat~ sed et ipsa docendae pietatis ratio, so gilt es hier doch nicht, geschlossene, längere Gedankengänge zu erläutern, und entsprechend fehlt jene Form der rhetorischen Gesamtanalyse. Dagegen finden sich gelegentlich einzelne rhetorische Termini; so heißt es gleich in der Einleitung etwas überraschend: Litera sententiae de creatione est hypocrisis et opinio carnalis de conditione rerum. 65 In der Interpretatio, die Melanchthon 1528 auf die Übersetzung einiger
keine rhetorischen Hinweise; zu den Ausgaben s. Verzeichnis (wie Anm.12) 13, 1988, 406407 M 3433-3439 und 3440-3442 und F. Cohrs (Hg.), Philipp Melanchthons Schriften zur Praktischen Theologie I. Katechetische Schriften, Leipzig 1915 (Suppl. Mel. VI), CXXIII-CXXVI, s. auch dort LIX-LXI und 3-19 (Texte). - nUQOlj..llat, sive Proverbia Solomonis, Hagenau 1525 und nUQOlIlLat, sive Proverbia Solomonis, filii D,avidis, Cum Adnotationibus Philippi Melanchthonis, Hagenau 1525; Die spnIch Salomo aus Ebreischer sprach verdeutschet durch D. Mar. Luther mit der auslegung Philipps Melanchthon Verdeutscht durch Justum Menium, Erfurt 1525 und Auslegung Philipps Melanchthon vber die Spriich Salomo mit seiner gunst und willen verdeutschet durch Justum Menium, Erfurt 1526 (alle vier hier benutzt), s. Verzeichnis (wie Anm.12) 2,_J984, 523 B 3572-3574, die deutsche Fassung: 528 B 3622 und 3623, auch die Übersetzung allein: Solomonis sententiae, versae ad Hebraicam Veritatem, Straßburg 1525, sehr oft gedntckt, s. Verzeichnis (wie Anm.12) 2, 1984, 523-528 B 3575,3576, 3578, 3581, 3582,3584-3587,3589, 3590, 3592,3594,3595,3597,3600,3604,3605,3609,3610, 3612, 3613, 3614, 3616, 3619; zu den Nova Scholia s. ebda. 523-526 B 3579, 3580, 3583, 3588, 3593, 3599, 3602, s. auch Werke IV (wie Anm.51) 306-464; in die Opera (wie Anm.5) XIV 1-88 ist nur die 1555 revidierte Fassung der späteren Ausgabe von 1550 aufgenommen worden. - In Psalmos Aliquot Davidicos, Philippi Melanchthonis Enarrationes doctissimae, Hagenau 1528, s. Verzeichnis (wie Anm. 12) 13, 1988, 412 Nr.3468 (hier benutzt). 6S Die bei den Zitate aus der praefatio zur Genesis finden sich Opera (wie Anm. 5) XIII 761 und 762; abgesehen von sehr verbreiteten Termini wie locus, propositio, argumentum, significare, exemplum und simpliciter dicere sind aus den Annotationes (zitiert nach dem Text in den Opera XIII) nur zu registrieren zu 1,27: loquendi figura (771), s. auch zu 3, 1
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ausgewählter Psalmen folgen läßt, begegnen neben Hinweisen auf einzelne Wortfiguren oder Sinnfiguren auch rhetorische Erläuterungen zum genus der einzelnen Gedichte und zu deren Struktur, aber keine Parallelen zu paganen Autoren; dagegen streut er später auch einige pagane Beispiele in die Psalmenerklärung ein. 66 Das führt zur zweiten Frage, die hier auch nur kurz beantwortet werden kann: Während Melanchthon in seinen frühen Annotationes zu den ersten Kapiteln der Genesis nur einmal (1, 1 zu creavit) das chaos Platonicum erwähnt, erinnert er in den Scholia in Proverbia Salomonis bisweilen an griechische oder römische Exempla, erörtert einige griechische Begriffe und zitiert eine sehr große Zahl paganer
(777) und zu 4,9 (784 und 785), zu 2,8 und 3,24: allegoria (775 und 783), zu 3,22: ironia (782) und zu 6,8: OUVf:xooxnüi)c.; (790). Die Bemerkung zum Titel der Proverbia ähnlich auch schon in den beiden Anm.64 zitierten Ausgaben des Jahres 1525: fol. a VIlr (am Rand) und fol. aa IIlr; in den Nova Scholia zu den Proverbia begegnen neben verbreiteten rhetorischen Termini wie propositio, locus, ratio, argumentum, exemplum, figura, metaphora usw. z. B. auch congeries: fol. Sv; 105v; antithesis: fol. 34v; 36v; 53r; al'tLOAoYla: fol. 48v; epiphonemata: fol. 10r; allegoria (aAAllYOQlxroc.;) fol. 8r; 22r; 30v; emphasis: fol. 129v; comparatio: 48v; epitasis: fol. 58v. 66 Mit den Psalmen hat sich Melanchthon nicht erst seit 1553 befaßt, wie das Corpus Reformatorum vermuten läßt, in dem nur die Commentarii scripti partim anno 1555, partim 1553 et 1554 abgedruckt sind: Opera (wie Anm.5) XIII 1017-1472. Die Interpretatio findet sich in der Anm.64 am Ende zitierten Ausgabe von 1528 fol. d IVr-e IVv; spätere Psalmenerklärung: Insignis et luculentissima sacrae scripturae methodus in Mose ostensa, a Philippo Melanthone: cum Anno 1541. Locos suos Theologicos retexeret. Item. Psalmorum CXI ... et CXIl ... pia, erudita et utilis enarratio, Vitebergae nata et nunc primum aedita, Erfurt 1546 (Enarratio zu Psalm CIl: fol. B IVr-D Vrund Commentarius zu Psalm CXIl: fol. D VIr-H Vr, hier auch einige Beispiele [fol. C Ir: Alexander und Scipio, fol. F IVr Athen und Rom] und Zitate [fol. C IIlv: Xenophon, fol. H Ilr: Vergil; Euripides] aus der paganen Antike); s. ferner die Übersetzungen einzelner Psalmen, z. B. in: In Icona Divi Georgii Carmen G.Aemilii ... Item Psalmus LXXXIIII ... Authore Phil. Mel., Wittenberg 1536, mehrere in: Operum Philippi Melancthonis tomi quinque. Cum praefatione Autoris I-V, Basel 1541, V 340-343 (1; 2; 4; 81; 84; 110; 111; 112 (zweimal); 127; 56; 119; 124; 133). Ergänzend sei daran erinnert, daß Melanchthon schon 1519 eine Vorrede für Luthers Psalmenkommentar verfaßt, s. Luthers Werke (wie Anm.10) 5, 1892, 24-25 und Briefwechsel (wie Anm.7) Regesten I 58 (Nr.47) und Texte (wie Anm. 9) I 110-113, 1529 eine zu Eobanus Hessus' Übersetzung einiger Psalmen mit Luthers Scholien, vgl. Opera (wie Anm.5) XX 793-794, Briefwechsel (wie Anm.7) Regesten I 348 (Nr.808) und Ltlthers Werke (wie Anm.5) 31,1,1913,43-48 und 49-64 (ohne Melanchthons Brief), 1523 eine zu Johannes Bugenhagen, In Librum Psalmorum Interpretatio, Basel 1524, fol. 1v, s. auch Briefwechsel (wie Anm.7) Regesten I 154 (Nr.299) und Texte (wie Anm.9) Il 100-101; s. auch die spätere Vorrede zu Luthers Enarratio Psalmi secundi, Wittenberg 1546, vgl. Opera (wie Anm. 5) VI 87-92 und Briefwechsel (wie Anm. 7) Regesten IV 349-350 (Nr.4205) und den Brief an· Eobanus Hessus zu dessen Übersetzung: Psalterium universum carmine elegiaco redditum atque explicatum, Marburg 1537 (hier benutzt: Straßburg 1545, der Brief: 18-20), s. auch Opera (wie Anm. 5) Irr 393-395 und Briefwechsel (wie Anm. 7) Regesten Il 326 (Nr. 1923). Seine Beteiligung an der Bearbeitung des neunzehnten Psalms ist nicht mehr zu ermitteln, vgl. Luthers Werke (wie Anm.5) 31, 1, 1913, 578-579 (zu den Ausgaben) und 580-586 (Text).
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Autoren. 67 In seinem knappen Argumentum in Ieremiam Prophetam (1542) verzichtet er wieder auf derartige Hinweise; dagegen begegnen sie in seinem Kommentar zum Propheten Daniel aus dem folgenden Jahre ziemlich häufig, allerdings in sehr ungleichmäßiger Verteilung, vor allem in den Deutungen der Visionen des neunten und elften Kapitels. Sie nennen Quellen für historische Ereignisse oder die Erklänmg von Eigennamen, sie erinnern an historische oder mythologische Beispiele oder Lehren einzelner Philosophen oder schließlich allgemein an bei den Griechen und Römern verbreitete Anschauungen oder Gewohnheiten als Parallelen oder Kontraste, beziehen sich jedoch nicht z. B. auf Argumentationsstrukturen oder den Aufbau des Ganzen. 68
67 Im Kommentar zur Genesis erinnert Melanchthon nur zu creavit (1,1) an das nach seiner Meinung ganz anders geartete chaos Platonicum (Opera [wi~ Anm. 5] XIII 764), außerdem konfrontiert er mehrfach Moses' Darstellung mit der nicht näher bezeichneter philosophi: zu 1,1; 1,10 und 1,14 (765; 768; 769). In den Scholia zu den Proverbia Salomonis führt er als Exempla Sokrates, Thrason und die Freunde Alexanders, Cicero, Pompeius, Caesar, Brutus, Antonius und Nero an, erörtert Begriffe wie emdxEw. und 1tOA.U1tQa.y~o(JUVTJ und nennt oder zitiert (oft ohne Namensangabe - die entsprechenden Zahlen im folgenden in Klammem) Homer dreimal, Hesiod vierrnal (1), Phokylides einmal, Theognis, Herodot einmal, Thukydides einmal, Epicharrn einmal (1), Euripides fünfmal (4), Xenophon zweimal, Platon einmal, Aristoteles einmal, Aischines einmal, Demosthenes dreimal, die Epikureer einmal, Menander einmal (1), Aesop einmal, Plutarch zweimal, Euseb einmal, Terenz zweimal (1), Catull (2), Cicero fünfmal (1), Nepos einmal (1), Sallust einmal (1), Vergil viermal (1), Horaz elfmal (6), Ovid neunmal (7), Seneca dreimal (2), Plinius der Ältere einmal, Quintilian einmal (1), Juvenal dreimal (2), Publilius Syrus vierrnal (4), außerdem neun Dicta, die sich keinem Autor zuweisen lassen. 68 Im Argumentum in Ieremiam prophetam, Wittenberg 1542 (hier benutzt: Frankfurt 1548, gedruckt im Anschluß an Psalmus LXXXVII". una cum Commentariolo·D. Urbani Rhegii) ordnet Melanchthon den Inhalt neun loci zu und gibt rhetorische Erläuterungen zum Aufbau und zur Argumentation (fol. 27v-32r). In Danielem Prophetam Commentarius, Wittenberg 1543 (ohne Text, mit verwirrender Paginienmg) und Leipzig 1543 (mit lateinischem Text, hier zitiert, vgl. auch: Der Prophet Daniel ausgelegt durch D. Philipp. Melanth. Aus dem Latin verdeudscht durch Justurn Jonam, Wittenberg 1546 [hier eingesehen], s. auch Opera [wie Anm. 5] XIII 823- 980) verweist schon im Argumentum einmal in polemischem Ton auf Epikur (fol. b 2v) und ebenso später vor allem zum elften Kapitel auf epikureische Lehren (p.199; 327; 331; 333; 338; 353; 354; 358), zum vierten Kapitel, aus dem Melanchthon wie aus den drei ersten jeweils die loci praecipui zusammenstellt und erörtert, auf das Stoicum fatum (p. 56), auf einige historische exempla (p. 60; 61, ähnlich später: p. 92-93; 130; 171; 295-296) und auf je ein Dictum des Pompeius und des Atheners Timotheus (p.59; andere Dicta: p. 61: Oedipus bei Euripides, p.244: Seneca, p. 297: Julian [nach Ammian], p. 306: anonym); zum fünften Kapitel nennt Melanchthon Xenophon dreimal (p. 86), zum sechsten einmal (p. 93), zum siebten Kapitel erinnert er nur an historische Ereignisse wie den Zusammenbruch des römischen Reiches (p. 111-112) oder die Erfolge der Mohammedaner, Sarazenen und Türken (p. 113-122), zumachten erwähnt er je einmal Strabon, den älteren Plinius und Oppian (p.128-129; 130) sowie Kirke (Homer: p.131) und die ludi scenici der Griechen (p. 131), auch zum zehnten nur Lukian (p. 216), Pyrrhon (p.219), Euripides und Thukydides (p. 223); sehr zahlreich sind die Hinweise und Zitate in den historischen Erärtenmgen zum vaticinium de LXX hebdomadibus im neunten Kapitel
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Priift man, um die dritte Frage zu beantworten, Melanchthons Erläuterungen zu Ciceros Reden, so fällt zunächst auf, daß die meisten von ihnen, obwohl zwischen 1529 und 1533 in seinen Vosesungen vorgetragen, nur in Kommentarsammlungen 1539 oder erst 1553 oder 1568 veröffentlicht wurden, und Melanchthon selbst nur drei Reden herausgab, und zwar 1533 pro Archia poeta und pro Marcello, jeweils mit einer propositio und einer paraphrasis, die erstgenannte außerdem mit rhetorischen Marginalien, 1535 pro Milone mit einer dispositio. 69 Deutlich ist Melanchthon hier bemüht, einerseits den jeweiligen Sachverhalt knapp und klar zu beschreiben, andererse"its durch eine Analyse des Aufbaus, der Argumentation und der Ausdnlcksmittel die rhetorischen Überlegungen des Red-
und zu den Prophezeiungen im elften: fast ausschließlich griechische Historiker und Geographen wie Herodot (p.l71; 175), Metasthenes (statt Megasthenes: p.174; 175; 177), Polybios (p.181; 259-260; 271; 279), Diodor (p.254), Livius (p.261), Strabon (p.251; 257; 270; 279, 280), Philon (p.174; 175; 176; 203), Josephos (p.169; 199; 256-257), Pausanias (p.246; 252; 256-257; 271; 272), Ptolemaios (p.168) und Euseb (p.279), allgemein Graecae historiae (p. 173), den Redner Demades (p. 243), mehrere Dichter: Homer (p. 302; 307; 351: Kyklops), Hesiod (p.278, Zitat ohne Namensnennung), Theokrit (p.273), allgemein philosophi (p.160), ferner Platon (p.321-322; 325; 330) und Xenophon (p.357), die Suda (p. 302-303), dazu zahlreiche Ereignisse aus der griechischen und römischen Geschichte sowie einige Phänomene der griechischen und römischen Kultur, vor allem religiöse Praktiken. 69 In omnes M. Tullii Ciceronis orationes, quot quidem extant, doctissimorum virorum ... Lucubrationes, Basel 1539; In omnes M. Tullii Ciceronis, quot quidem extant, doctissimorum virorum enarrationes '" 1-11, Basel 1553; St. Riccius (Hg.), In selectiores M.T. Ciceronis orationes Philippi Melanchthonis, lohannis Velcurionis aliorumque doctissimorum virorum ... enarrationes 1-11, Leipzig 1568-1574. Einzelausgaben: Dispositio orationis quam pro Archia poeta Cicero habuit, iam primum a .Philip. Mel. aedita, Hagenau 1533; M. T. Ciceronis Oratio pro M. Marcello distributis omnibus membris ac locis cum paraphrasi Phil. Melanchthonis, Wittenberg 1533; In orationem Ciceronis pro Milone, Dispositio Philippi Melanchthonis iam recens scripta, Hagenau 1535. Die Erläutenmgen Melanchthons zu Reden Ciceros, die als erste gedruckt wurden, waren die Randbemerkungen zu den catilinarischen Reden: C. Crispi Salustii Historici clarissimi, in Catilinam Atque lugurtham opuscula, per Huldericum Huttenum Equitem, atque Philippum Melanchthonem Scholijs ut brevissimis, ita doctissimis illustrata, Hagenau 1529, fol. 97r-30v, auch zu Portii Latronis Declamatio in Catilinam: fol.130v-148r. Die Marginalien, die Melanchthon seinen Übersetzungen einiger Reden des Demosthenes und des Lykurg beigibt (nicht des Aischines), beschränken sich auf wenige elementare rhetorische Bemerkungen zu den Redeteilen oder zu einzelnen Figuren und sind jedenfalls viel zu knapp, um etwa auf Parallelen aus der Bibel zu verweisen, vgl. Demosthenis orationes Olynthiacae tres, et Philippica una per Philippum Melanchthonem et loachimum Camerarium latinitate donatae, et Scholijs, quae prolixi commentarij vice esse possint, illustratae, Basel 153 8 (eingesehen, frühere Ausgaben Hagenau 15-24 mit Vorrede, s. Briefwechsel, Regesten [wie Anm.7] I 166 [Nr.335] und Texte [wie Anm.9] 11 153-154) und Oratio Lycurgi contra Leocratem, desertorem patriae ... Cum Praefatione Phil. Melant. Eadem oratio conversa in latinum sermonem a Phil. Melanth., Frankfurt 1548 (eingesehen, Textausgabe zuerst Wittenberg 1545), s. ferner Opera (wie Anm. 5) XVII 696-706 (01. I), 710-718; 718-724; 724-732 (01. 11), 734-743; 744-751 (01. 111), 762-774 (Phil. I), 777-800 (c. Arist); 942-976 (Lycurg).
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ners und die einzelnen Schritte seines Vorgehens erkennbar werden zu lassen. Die gleichen Ziele zeigen sich auch in den Vorlesungsnachschriften, die nicht nur auf verschiedenartige Veranstaltungen zurückgehen, wie die Hinweise scholia dictata privatis discipulis memoriae causa conscripta privatim praelegente excepta oder publice praelegente excepta lehren, sondern auch sehr verschieden lang und sehr verschieden strukturiert sind. 70 Während paraphraseis (zu pro Murena, pro Caelio und pro Caecina), argumenta (zu pro Murena, pro Caelio, pro Sulla und pro Caecina) und das summarium zu pro Ligario jeweils dem besseren Verständnis der inhaltlichen Zusammenhänge dienen wollen,71 geht Melanchthon offenbar mehr7
7
70 Nach den Angaben der Kommentarsammlung von 1568 (wie Anm.69) stammen aus dem Jahre 1529: die dispositio und die paraphrasis zu pro Archia poeta (gedruckt 1533, s. Anm.69; 1568: fol. 72-80 und 81-88), alia dispositio sowie alia paraphrasis primae partis zu pro Marcello (1568: fol. 32-42 und 46-49) und alia scholia: paraphrasis exordii zu pro Murena (1568: fol.150-152), aus dem Jahre 1530 brevia scholia zu in Pisonem (1568: fol.442-447), aus dem Jahre 1531 alia dispositio zu pro Marcello (1568: fol.42-46), alia scholia zu pro Caelio (1568: fol.265-285), alia scholia zu pro Sulla (zuerst gedruckt 1539: p.575-584, 1568 in plurimis locis aucta: fol. 205-250), scholia und alia scholia zur neunten Philippica (1568: fol. 471-473 und 474-479) und scholia zu de lege Manilia (1568: fol. 479482), aus dem Jahre 1532 dispositio und paraphrasis zu pro Marcello (s. Anm.69; 1568: fol.1-8 und 9-16), brevia scholia zu pro Murena (1568: fol.152-189) und alia scholia zu pro Ligario (1568: fol.375-393), aus dem Jahre 1533 alia scholia brevia zu pro Roscio Amerino (1568: fol.189-204), scholia zu pro rege Deiotaro (1568: fol.394-422), fragmentum scholiorum zu pro Rabirio Postumo (1568: fol. 422-425), scholia zu pro Sestio (1568: fol. 425-442), scholia zur ersten, zweiten und dritten Philippica (1568: fol. 447-460; 461469; 469-471), aus dem Jahre 1535 die dispositio (s. o. Anm.69) und alia scholia zu pro Milone (1568: fol.286-305 und 324-363) und aus dem Jahre 1537 alia scholia zu pro Milone (1568: fol. 305-324). Auch aus Vorlesungen wahrscheinlich dieser Jahre stammen (jedoch erst 1568 ohne Zeitangabe gedruckt) scholia zu pro Archia (1568: fol. 88-97, ausführlicher als die Marginalien der Ausgabe von 1533), alia dispositio, paraphrasis und alia scholia zu pro Marcello (1568: fol.17-29; 29-31; 49-64) und scholia zu pro.Caecina (zuerst 1553: I col. 576-579 = 1568: fol. 109-117). In der Kommentarsammlung von 1539 wurden zum ersten Mal gedruckt die Erläuterungen zu pro Murena (489-504 = 1568: fol.117-150), zu pro Caelio (813-820 = 1568: fol.250-264), zu pro Roscio Amerino (95102 = 1568: fol. 98-109) und zu pro Sulla (s.o.), 1553 zu pro Caecina (s.o.) und zu pro Ligario (I col. 2045-2050 = 1568: fol. 363-375), 1568 zu pro rege .geiotaro, zu pro Rabirio Postumo, zu pro Sestio, zu in Pisonern, zur ersten, zweiten, dritten und neunten Philippica und zu de lege Manilia (Einzelheiten s. 0.). 71 Zu den paraphraseis verweise ich auf die Ausgabe von 1568 (wie Anm.68), in Klammern jeweils das Entstehungsjahr soweit dort angegeben: pro Archia: fol. 81-88 (1529); pro Marcello: fo1.46-49 (1529: paraphrasis primae partis), fol.9-16 (1532), fol.17-31; pro Milone: fol. 309-311 (1537: paraphrasis exordii); pro Murena: fol.150-152 (1529: paraphrasis exordii), fol.I21-126 (exordii paraphrasis); pro Caelio: fol.265-266 (1531: paraphrasis exordii); pro Caecina: fol. 112-117; zu den argtlmenta s. in der Ausgabe von 1568 pro Milone: fo1.286-287 (1535); pro Murena: fol.1l7-119; pro Caelio: fol.250-251; pro Sulla: fol. 205-206; pro Caecina : fol.109-1l1 und pro Ligario: fol. 375-376 (1532) und 363-365 (summa). Argtlmenta schickt Melanchthon auch seinen Übersetzungen einiger Reden griechischer Redner voraus, s. zu Reden des Demosthenes: Opera (wie Anm. 5) XVII 695-696
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fach besonders ausführlich auf die exordia) ein, weil er in ihnen gleichsam den Schliissel zum Erfassen einer Redestruktur sieht. 72 Daneben erläutert er in den scholia vor allem die Argumentationen im einzelnen und erklärt die sie unterstützenden Figuren und andere Aspekte der stilistischen Gestaltung. Auch bei der Erklärung von Ciceros Briefen zeigt sich Melanchthon besorgt, stets den Inhalt hinreichend verständlich werden zu lassen, indem er für jeden Brief ein argumentum formuliert mit knapper Darstellung des beh~ndelten Gegenstandes und oft Hinweisen zu genus und status, Aufbau und Argumentation; ergänzend gibt er in den Scholien Erläuterungen zu einzelnen Briefabschnitten, Argumentationen und Figuren. 73 Bemerkungen rhetorischer Art begnen auch in den Kommentaren zu de officiis und de oratore. Doch während Melanchthon in den Erläutenmgen zu de officiis ebenso wie in denen zu den Reden und Briefen Ciceros auf Beispiele oder Parallelen aus der Bibel verzichtee 4 - und damit komme ich zur vierten Frage - finden sie sich in einigen Kommentaren zu den rhetorischen Schriften, noch nicht in den friihen Fassungen des Kommentars zu de oratore oder in dem zum Orator,15
und 696 (01. I); 707-709 (dispositio) und 709 (01. II); 732-733 und 733-734 (01. III); 801-805 (cor.); des Aischines 881-887 (Ctes.) und des Lykurg 941-942. 72 Den exordia widmet Melanchthon seine besondere Aufmerksamkeit in den Erläuterungen (zitiert nach der Ausgabe von 1568) zu pro Marcello: fol. 18-19, zu pro Milone: fol.287-288 (1535) und 306-311 (1537: paraphrasis exordii), zu pro Murena: fol.150-152 (1529: paraphrasis exordii), fol.153-155 (1532) und fol.119-126 (mit exordii paraphrasis), zu pro Caelio: fol. 265-266 (paraphrasis exordii) und fol. 251-255 (mit loci exordii), zu pro Rosco Amerino: fol. 98 (loci exordii) und fol. 190-191, zu pro Sulla: fol. 206-208 (mit brevis ratio retexendi exordii), zu pro Caecina: fol. 111-113 und zu pro Ligario: fol. 365-366. Zur Bedeutung der exordia für die Reden Ciceros s. Ch. Köhler, Die Proömientechnik in Ciceros Reden. Ein Beitrag zum Verständnis von rhetorischer Theorie und rednerischer Praxis, Diss. phil. (masch. ), Jena 1968; c.]. Classen, Recht Rhetorik Politik. Untersuchungen zu Ciceros rhetorischer Strategie, Darmtadt 1985, Register 386 s. v. ,Einleitung'. 73 Cf. M.T. Ciceronis epistolae familiares. Argumentis et scholijs Philippi Melanch. ita illustratae ut vi ce prolixi commentarij esse possint, Schwäbisch Hall 1537, hier benutzt: M. Tullii Ciceronis familiarum epistolarum libri XVI ... Accesserunt doctissima Philippi Melanchthonis in eosdem Argumenta simul et scholia, quae vice prolixi commentarij esse possint, Köln 1540, s. auch Opera (wie Anm. 5) XVII 13-560. Einzelnachweise zu führen ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich; doch verdient Beachtung, daß Melanchthon in den späteren Ausgaben ab 1556 für jeden einzelnen Brief noch mindestens je ein weiteres argumentum, oft noch zwei weitere argumenta hinzufügt. 74 Cf. Officia Ciceronis, cum scholiis Phil. Melan. Quae possint esse vice prolixi commentarij, Hagenau 1525, s. Verzeichnis (wie Anm.12) 4, 1985, 326 C 3180, hier benutzt: M. Tullii Ciceronis officiorum libri III ... Omnia vigilanti cura recognita, per Desiderium Erasmum Roterodamum et Conradum Goclenium, passim etiam Philippi Melanchthonis scholijs appositis, Köln 1537, s. auch Opera (wie Anm. 5) XVI 627-680. 75 M. Ciceronis de oratore dialogi tres, a Phil. Melan. paßim notis quibusdam illustrati, una cum Scholiis in fronte adiectis, quibus loci obscuriores explicantur, Hagenau 1525, hier benutzt M. Tullii Ciceronis de oratore libri tres, a Philippo Melancthone scholijs ac notulis quibusdam illustrati, Paris 1529, s. auch Opera (wie Anm.5) XVI 689-766; erst seit der Ausgabe M. T. Ciceronis de oratore dialogi tres, a Philippo Melanch. nova ac locupletiore
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wohl aber in dem zu den Topica 76 und dann in den allerdings erst sehr spät gednlckten Erläuterungen zu den partitiones oratoriae 77 und zwar vor allem zu Argumentationsformen. So wie Melanchthon in seinen eigenen Handbüchern die Vorschriften und Ratschläge auch mit Hilfe von Beispielen aus der Bibel verdeutlicht, so illustriert er die antiken Lehrbücher mit Belegen aus der Heiligen Schrift. Offensichtlich sind Melanchthon derartige Beispiele ständig gegenwärtig, weil er sich immer wieder intensiv mit der Bibel befaßt und sie in ihren Teilen anderen erläutert und sich dabei stets von dem Bemühen leiten läßt, die dort begegnenden gedanklichen Stnlkturen und sprachlichen Ausdrucksmittel in ihrer Funktion mit Hilfe der Rhetorik und Dialektik zu erfassen. Die abschließende Frage nach dem Vorbild fiir die rhetorische Exegese, wie sie Melanchthon fiir den Galaterbrief und den Römerbrief und andere Teile der Bibel vorfiihrt, ist zu beantworten mit dem Hinweis auf die rhetorischen Analysen antiker Reden der Humanisten seit Antonio Loschi, also seit dem Ende des vierzehnten Jahrhundert,78 mag Melanchthon selbst auch derartige Analysen zu
quam antea umquam, locomm insignium enarratione illustrati, Hagenau 1535, finden sich zu II 215 (argumenta diluere: fol.177v) zwei Beispiele, in denen Christiani bzw. Moisi lex genannt werden, und zu III 202 (fol. 183r) ein Hinweis auf Paulus. S. ferner M. T. Ciceronis ad Marcum Bmtum Orator, a Philippo Melanch. novis Scholijs enarratus, Hagenau 1535, die Scholia am Ende: fol. Y VIr-Z VIIIv, s. auch Opera (wie Anm. 5) XVI 769-804. 76 Topica Ciceronis a Philippo Melanch. atque Boetio diligentissime enarrata, Hagenau 1533 (hier benutzt), s. auch Opera (wie Anm. 5) XVI 807-832; schon im prooemium verweist Melanchthon auf Psalm 1 und 132 (fol. x Sv und 5v-6r), zu § 6 auf Psalm 94, 1 und 94,9 (fol. x 7r), zu §9 auf 2 Cor. 7,2 (fol. x 7v), zu § 13 auf Paulus (fol. x 8v), zu § 15 auf Deut. 25,5; 24,14-15 und 1 Cor 9,24 (fol. y 1r), zu § 16 auf Gal. 3,19-24 (fol. y 1v), zu § 17 auf Rom. 7,10-13 (fol. y 2r), zu § 18 auf 2 Thess. 3,10 (fol. y 2v), zu § 3B auf Rom. 13, 1 (fol. y 6v-7r), zu § 43 auf Matth. 10, 24 und Luc. 24, 26 (fol. y 7v), zu § 46 auf Rom. 6 (fol. y 7v-8r), zu § 53 auf Rom. 2,14 und 25-29 (fol. y 8v), zu § 59 auf Matth. 10, 29 und Act. 17, 28 (fol. z 1v), zu §61 auf Rom. 3,20 (fol. z 1v) und zu § 63 auf provo 16, 33 (fol. z 2r), außerdem auf christliche Vorstellungen und Lehren und Einrichtungen der Kirche zu § 6 (fol. x 7r), zu § 13 (fol. x 8v), zu § 18 (fol. y 2r), zu § 23 (fol. y 4v) und zu § 53 (fol. z 1r). 77 Zuerst 1560 zusammen mit Valentini Erythraei Tabulae partitionum oratoriamm Ciceronis in Straßburg gedmckt, S. Verzeichnis (wie Anm. 12) 6, 1986, 382 E 3908: Commentarius zu Ciceros partitiones oratoriae, hier zitiert nach Opera (wie Anm. 5) XVI 835-888; dort finden sich Zitate oder Hinweise auf Act. 25, 11; Rom. 13, 1; Joh. 10, 34-35; Gen. 3,4 und Gal. 1,8 zu § 8 (837); Luc. 1,6 zu § 9 (839); 3 Reg. 18, 40 zu § 11 (841); Rom. 10, 13-14; 2 Reg. 11,4; Rom. 13, 10 und Jes. 49, 23 zu §11 (843); Rom. 7,23; 1 Cor. 6,11; Act. 5,3-6; Matth. 9,22 und Luc. 10, 27 zu § 7 (846 und 849), Matth. 7,6 zu § 17 (860), 4 Reg. 6,28-29 zu §21 (877), Dan. 7,6 zu §21 (881, s.o. Anm.67), 1 Cor. 4,13 zu §23 (884), außerdem allgemein zu christlichen Anschauungen oder Einrichtungen zu § 7 (836), zu § 8 (837), zu § 9 (839), zu § 11 (840; 841; 843), zu § 7 (845; 847; 849-850; 851). 78 S. dazu c.]. Classen, Cicerostudien in der Romania im 15. und 16. Jahrhundert, in: G. Radke (Hg.), Cicero. Ein Mensch seiner Zeit, Berlin 1968, 198-245; Cicero inter Germanos redivivus, Humanistica Lovaniensia 37,1988,79-114 und 39,1990,157-176, auch Journal of The Warburg and Courtauld Institutes 56, 1993, 75-84.
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Die Bedeutung der Rhetorik für Melanchthons Interpretation profaner und biblischer Texte
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Cicero erst nach denen zu den Paulusbriefen veröffentlicht haben. Das Instrumentarium, das andere vor allem für antike Reden entwickelten und dessen Möglichkeiten er selbst früh erkennt und eingehend theoretisch beschreibt, wendet er konsequenter und erfolgreicher als irgendei1l.. Humanist für einige biblische Texte an, die ihm dafür geeignet ercheinen und die ihm aus inhaltlichen Gründen besonders wichtig sind.
VI. Zusammenfassend möchte ich festhalten: 1) In Melanchthons ersten, ganz vom humanistischen Geist geprägten Publikationen finden sich keine Spuren theologischer Interessen oder eines Einflusses oder einer Berücksichtigung biblischer Texte. 2) Seine Handbücher zur Rhetorik und zur Dialektik sind die ersten seit der Antike, in denen Beispiele aus der Bibel zur Illustration angeführt und conciones sacrae berücksichtigt werden. 3) Seit seinem Wechsel nach Wittenberg beginnt Melanchthon auch biblische Texte zu erläutern und greift dabei sehr weitgehend auf die Kategorien der heidnischen Rhetorik und Dialektik zurück, nicht für alle Texte, sondern vor allem für die, die ihm aus dogmatischen Gründen besonders wichtig sind und sich nach seinem Urteil besonders gut dafür eignen (wie der Galaterbrief oder der Römerbrief, anders als die Evangelien oder Stücke aus dem Alten Testament), und er führt diese rhetorischen Analysen so rigoros durch, daß erst durch sie - wie er meint - die entscheidenden Gedankengänge des Apostels in voller Klarheit und damit auch die Quintessenz seiner Darlegungen uneingeschränkt zu Tage treten. An der Form der rhetorischen Erklänmg hält Melanchthon auch in seinen späteren Jahren fest, wenn sie sich auch bei einigen Texten wie etwa bei den Psalmen als weniger ergiebig erweist. 4) Neben Melanchthons rhetorische Analysen biblischer Texte tritt deren Berücksichtigung nicht nur in den rhetorischen Handbüchern, sondern auch bei der Erläutenmg rhetorischer Schriften aus der Antike. Dagegen verzichtet Melanchthon darauf, bei der Kommentierung anderer heidnischer Texte auf Parallelen aus der Bibel zurückzugreifen, während er umgekehrt die pagane Literatur, Dichter, Philosophen und andere zur Erläutenmg biblischer Texte vor allem zu Sachfragen und sprachlichen Einzelheiten, aber gelegentlich auch zu rhetorischen Phänomenen heranzieht (schon in den ·PCt\jfCl)O{at)79. So erweist sich Melanchthon als der humanistisch geschulte Philologe, der - ähnlich wie mancher Kirchenvater - seine Kenntnis der antiken Literatur, nicht zuletzt seine Vertrautheit mit dem rhetorischen Instnlmentarium, nutzt, um die Texte der Bibel zu erkläreri und ihr Gedankengut zu erschließen. Dagegen scheut er sich offenbar, den umgekehrten Weg zu beschreiten und die biblischen Texte gleichsam zu
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Vgl. E.Bizer (Hg.), Texte (wie Anm.56) 45-85.
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Hilfsmitteln der Erklärung paganer Texte zu degradieren. An uns stellt er die Frage, wie weit sich diese Art der Texterschließung heute empfiehlt, man sollte vielleicht sagen nach Jahrhunderten der Vernachlässigung der Rhetorik wieder empfiehlt, und zwar nicht nur zur Erklärung biblischer Texte, sondern auch der Werke paganer antiker Autoren, von denen Melanchthon mehr kommentiert hat, als gemeinhin bekannt ist, aber auch moderner Literatur. Jedenfalls sollte die Beschäftigung mit Melanchthons Schriften Theologen und Philologen dazu führen, über ihre eigenen Methoden nachzudenken und diese möglicherweise zu ergänzen, d. h. zu bereichern.