Gökce Yurdakul · Y. Michal Bodemann Staatsbürgerschaft, Migration und Minderheiten
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Gökce Yurdakul · Y. Michal Bodemann Staatsbürgerschaft, Migration und Minderheiten
Gökce Yurdakul · Y. Michal Bodemann
Staatsbürgerschaft, Migration und Minderheiten Inklusion und Ausgrenzungsstrategien im Vergleich Übersetzt von Sungur Bentürk
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Katrin Emmerich / Marianne Schultheis VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Titelbild: Copyright Bundesdruckerei, Fotomuster Tafel für ePass: http://www.bundesdruckerei.de/de/service/service_downloads/service_buerger_ePassMstr_05_7 2dpi.pdf ; Idee: kaygalak.com Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, Scheßlitz Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17028-2
Schweigen des Gegenstandes und über den Gegenstand war das Gebot der Stunde. Manchmal wurde das Schweigen gebrochen, und manchmal wurde es von den Autoren, die mit und innerhalb der tonangebenden Erzählung lebten, aufrechterhalten. Mich interessieren vor allem die Strategien, mit denen das Schweigen aufrechterhalten, und die Strategien, mit denen es gebrochen wurde. TONI MORRISON, Im Dunkeln spielen (1994: 79)
Inhalt
Vorwort.................................................................................................................. 9 Irene Bloemraad, Anna Korteweg, Gökce Yurdakul Staatsbürgerschaft und Einwanderung: Assimilation, Multikulturalismus und der Nationalstaat ..................................... 13 Y. Michal Bodemann Deutschland und die orientalische Welt. Der Jude/Fremde in der klassischen deutschen Soziologie ................................. 47 Anna Korteweg und Gökce Yurdakul Islam, Gender und Integration von Immigranten: Grenzziehungen in den Diskursen über Ehrenmorde in den Niederlanden und Deutschland............................................................................ 71 Pascale Fournier und Gökce Yurdakul Hinter dem Schleier: Zur sozialen Stellung muslimischer Frauen mit Kopftuch in Frankreich und Deutschland ..................................................... 93 Gökce Yurdakul Governance Feminism und Rassismus: Wie führende Vertreterinnen von Immigranten die antimuslimische Diskussion in Westeuropa und Nordamerika befördern .......................................................... 111 Gökce Yurdakul Juden und Türken in Deutschland: Integration von Immigranten, Politische Repräsentation und Minderheitenrechte ........................................... 127 Y. Michal Bodemann mit Olena Bagno In der ethnischen Dämmerung. Die Pfade russischer Juden in Deutschland. ...................................................... 161
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Inhalt
Literaturverzeichnis ........................................................................................... 183 Quellennachweis................................................................................................ 207 Kurzbiografien der Autor/innen ........................................................................ 209
Vorwort
Für die letzten zwei Jahrzehnte können wir einen bemerkenswerten Wandel in den soziologischen Interessenrichtungen feststellen: weg von Analysen zur sozialen Ungleichheit, Klassen- und Schichtenlagen, hin zu Ethnizität und dann weiter zu Migration, citizenship und Integration. In Europa haben diese neuen Debatten ihren Ursprung in der großen Zahl von Studien zur Gastarbeiterfrage in den 70er Jahren; Castles’ und Kosacks (1973) Arbeiten mögen hier für die vielen anderen stehen. Hier wiederholt sich freilich ein Prozess, den wir vor knapp hundert Jahren in den Arbeiten der Chicagoer Schule, vor allem Robert Park und später Everett C. Hughes, wiederfinden: Auch ihr Interesse, im grossen Laboratorium der Stadt Chicago, galt eben der Adaptation und Integration von Einwanderern, dem citizenship im breiteren Sinne, dem Status der Hybridität – einem auch heute problematischen Begriff – sowie der Marginalität, die heute als „Parallelgesellschaft“ wiederkehrt. Wie sich später die Migration in fester gefügte, ethnisierte, Einwanderergruppen stabilisierte, so fixierte sich auch die Soziologie auf das Studium der Ethnizität, weg vom Migrationsprozess und Transnationalismus. Noch 1916 schrieb Randolph Bourne einen Aufsatz mit dem Titel Trans-National America, in dem er über Immigranten als Akteure schrieb: über das Einbringen eigener Traditionen nach Amerika, ihren Beitrag zur amerikanischen Gesellschaft auch in der Art und Weise wie diese die Alteingesessenen mit angelsächsischem Hintergrund zu „Kosmopoliten“ innerhalb eines neuen, „transnationalen Amerika“ verwandeln. Diese Ideenlinien waren nach Beginn des 2. Weltkriegs weitgehend verschwunden. In Deutschland freilich, zur Zeit als Park in Chicago wirkte, und trotz der recht massiven Einwanderung zunächst von osteuropäischen Juden und später vor allem von polnischen Migranten ins Ruhrgebiet und andernorts nach Deutschland, kam es zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu keinerlei Debatte und Analyse der Immigration und ethnisch diverser Arbeitsteilung schlechthin. Dies wird deutlich an den ersten beiden Soziologentagen 1910 und 1912, als sich die deutsche Soziologie überhaupt zu konstituieren begann. Die Vortragenden, führende Vertreter des Fachs, blieben entweder sprachlos angesichts dieser „Fremden“, sprachlos auch gegenüber Antisemitismus, und statt soziale Ungleichheit oder die Lage der eingewanderten wie der alteingesessenen Arbeiter zu diskutieren, zogen sie es vor, sich recht ratlos mit der „Rassenfrage“ auseinanderzusetzen.
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In Europa begann also diese Migrations-Diskussion erst mit der Gastarbeiterfrage, einer „transnationalen“ Mobilität, demnach nicht definiert als klassische Einwanderersituation wie in Nordamerika und anderswo. Gerade die Einwanderung von Muslimen in die Industrieregionen Westeuropas verwies auf die zunehmende Bedeutung der (transnationalen) Menschenrechtsgesetzgebung (Soysal 1994) – hier insbesondere auf die Lage der Einwanderinnen. Es ist deshalb kein Zufall, dass die citizenship-Debatte, ursprünglich angestossen durch T.H. Marshall und Rogers Brubaker, in der Analyse der verschiedenen staatsbürgerlichen Regimes in Europa auf ein fruchtbares Feld gestossen waren. Dieser Band und seine englischsprachigen Vorgänger (Bodemann und Yurdakul 2006; Yurdakul und Bodemann 2007) befassen sich mit diesen Fragen und berufen sich auf die Rolle der Migranten als Akteure, nicht als passive Subjekte – die Art und Weise also, in der nicht nur westliche Gesellschaften die Migranten verändern, sondern auch, wie diese neuen Migranten die neuen Gesellschaften verändert haben und weiter verändern. Wer diesen Band aufmerksam liest, wird sehen, wie bestimmte, lieb gewordene Begriffe zumindest indirekt hinterfragt und fragwürdig werden. So ist „Integration“ in der Öffentlichkeit zum Schlagwort und als Gegenpart zur „Parallelgesellschaft“ geworden. Doch wann ist ein Migrant „integriert“? Ist ein Migrant als integriert zu sehen, wenn er oder sie fließend Deutsch spricht und vielleicht sogar schreibt, auch mit Alteineigessenen Kontakt hat, aber auf Grund von Hautfarbe oder auch persönlicher Motivation und Persönlichkeit keine festen Anstellungen findet? Ist eine Migrantin dagegen schlecht integriert, weil sie wenig Deutsch spricht und vor allem mit eigenen Landsleuten verkehrt, aber ihre Familie etwa über einen Dönerladen oder ein türkisches Reisebüro zu etwas Wohlstand gebracht hat, mit Kindern im Gymnasium? Tatsächlich lenkt der Begriff der Integration ab von sozialer Ungleichheit und segmentiertem Arbeitsmarkt, und sucht üblicherweise darüberhinaus die Schuld bei den MigrantInnen, nicht dem Wirtschaftssystem, in dem sie ausgebeutet oder aus dem sie ausgeschlossen werden. Auch andere Begriffe finden wir wenig produktiv und präzise. Multikulturalismus beispielsweise ist im optimalen Falle die gesellschaftliche Inklusion und die Anerkennung des Anderen und der anderen Lebensweise. Multikulturalismus wurde aber auch verstanden als eine Form des „benign neglect“, wo Einwanderergruppen sich selbst überlassen bleiben, ohne wesentliche Förderung, schulisch und anderweitig. Grenzziehungen zwischen Einheimischen und Einwanderern, etwa im Fall der Niederlande und Deutschland, wie hier aufgezeigt, können deshalb durchaus verschiedenartig verlaufen. Diese verschiedenen gesellschaftlichen Formationen führen sodann zu der Frage nach der Rolle des Staates und der Medien in Diskursen über Migranten. Wie wir zeigen, etwa im Fall von Necla
Vorwort
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Kelek in Deutschland und Ayaan Hirsi Ali in den Niederlanden, erzeugen politische Eliten und die mediale Öffentlichkeit Figuren aus dem Einwandererbereich selbst, um bestimmte Einwanderergruppen zu stigmatisieren – etwa über Ehrenmorde als Charakteristiken einer Enwanderergruppe. Es sind also nicht so sehr die ethnischen Vertreterinnen selbst, sondern einheimische Deutsche, die diese Diskurse gegen Einwanderergruppen verwenden. Hier wie auch in anderen Richtungen wird die Rolle des Staates oft unterschätzt. Tatsächlich, aller Globalisierung, allem Transnationalismus zum Trotz, hat sich die Rolle des Staates in den letzten Jahrzehnten eben auch bezüglich der Migranten, verstärkt. Staatliche Einwanderungstests prüfen personenbezogene Sicherheitsrisiken, nationale Geschichte und nationale Werte, der Staat ist stärker noch präsent über Sozialhilfe und vielerlei andere Institutionen, wie etwa neuerdings die Supervision von Religon durch den Islamrat oder durch die Agentur für Arbeit. Hier und andernorts hat sich staatliche Präsenz ausgeweitet, werden Datenerhebungen ausgeweitet und das Verhalten auch von Einwanderern zu lenken versucht. Es ist immer eine Freude, Kollegen und Freunden zu danken, mit denen wir Gedanken austauschen konnten, und die zur Entstehung dieses Bandes beigetragen haben. Wir danken Irene Bloemraad an der University of California, Berkeley, Pascale Fournier an der University of Ottawa und Anna Korteweg an der University of Toronto für ihre Zusammenarbeit bei der Wiederveröffentlichung unserer gemeinsam verfassten und ursprünglich auf englisch veröffentlichten Artikel. Danken möchten wir auch Sungur Bentürk für die fachkundige Rechercheassistenz sowie für die Übersetzungen und Juliane Karakayalt für ihre Hilfe bei der Vorbereitung des Manuskripts für die Publikation. Yurdakuls Projekte zur Staatsbürgerschaft und Immigration wurden während ihrer Zeit an der Brock University in Kanada durch das Social Sciences and Humanities Research Grant (SSHRC) gefördert. Bodemanns SSHRC Research Grant förderte seine Arbeit an der Joint Initiative for German and European Studies an der Universität Toronto und in Deutschland. Wir danken beide dem SSHRC für die großzügige Unterstützung. Insbesondere die Forschungsarbeiten und das Verfassen des Kapitels zu „Juden und Türken in Deutschland: Politische Repräsentation, Integration von Immigranten und Minderheitenrechte“ in den Jahren 2008-9 wurden durch das Forschungsstipendium für Postdoktoranden im Rahmen des „Berlin Program for Advanced German and European Studies“ der Freien Universität ermöglicht. Hier dankt Yurdakul Karin Goihl für ihre Unterstützung während ihrer Forschungstätigkeit an diesem Institut. In diesem Buch ist eine Auswahl unserer Arbeiten enthalten, im Besonderen die zwischen 2005 und 2009 verfassten Artikel zur Staatsbürgerschaft, Ethnizität und Religion sowie zu Genderfragen. Wir haben während der Zeit, in der wir diese Arbeiten geschrieben haben, mit vielen Kollegen Gedanken ausgetauscht,
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Vorwort
zahlreiche Konferenzen, Kolloquien und Tagungen besucht und an bedeutenden akademischen Einrichtungen gearbeitet: an der University of Toronto und der Brock University in Kanada, der Universität Haifa in Israel, am Trinity College Dublin in Irland, an der Freien Universität Berlin und der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihnen allen gilt unser Dank, denn die dort zur Verfügung stehenden Ressourcen haben dazu beigetragen, unsere Forschungen zu ermöglichen. Wir danken weiterhin Steven Aschheim, Nadine Blumer, Elisabeth Beck-Gernsheim, Avi Cordova, Sander Gilman, Hanna Herzog, Vered Kraus, Esra Özyürek, Anson Rabinbach, Galya Benarieh Ruffer, Riem Spielhaus, Ayse K. Üskül für Anregungen und Kritik und vielseitige Hilfe. Gökce Yurdakul und Y. Michal Bodemann Berlin 2009
Staatsbürgerschaft und Einwanderung: Assimilation, Multikulturalismus und der Nationalstaat Irene Bloemraad, Anna Korteweg, Gökce Yurdakul
Die große Zahl und die unterschiedliche Herkunft internationaler Migranten stellen althergebrachte Vorstellungen von der Staatsbürgerschaft innerhalb nationalstaatlicher Grenzen zunehmend in Frage. Im Jahr 2005 lebten laut Schätzungen der Vereinten Nationen 191 Million Menschen außerhalb ihres Geburtslandes. Diese Zahl hat sich seit 1975 verdoppelt und steigt weiterhin an (UN Population Division 2006). Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist jeder vierte oder fünfte Einwohner von Ländern wie Australien (24%), der Schweiz (24%), Neuseeland (19%) und Kanada (18%) im Ausland geboren. In Deutschland (13%), den Vereinigten Staaten (13%) und Schweden (12%) gilt dies für jeden achten Einwohner (OECD 2007).1 Was geschieht mit dem Konzept der Staatsbürgerschaft als potentielle Größe für Gerechtigkeit, Gleichbehandlung und nationale Kohäsion, wenn große Zahlen an Personen unterschiedlicher Hautfarbe, sprachlicher, ethnischer, religiöser und kultureller Hintergründe sich grenzüberschreitend bewegen? Wie wirkt sich dies auf die Staatsbürgerschaft im Zielland aus? Wenn die persönlichen Bindungen und Aktivitäten ebenfalls grenzüberschreitend sind, was sind dann die Konsequenzen für die Bedeutung und die Substanz des Konzeptes der Staatsbürgerschaft? Die Staatsbürgerschaft wird für gewöhnlich als eine Form der Mitgliedschaft in einer politischen und geografischen Gemeinschaft definiert. Sie kann in vier Dimensionen unterschieden werden: bezüglich des rechtlichen Status, der Rechte, der politischen und anderen Formen der gesellschaftlichen Partizipation Wir danken Y. Michal Bodemann, Tomás Jiménez, Christian Joppke, S. Karthick Ramakrishnan, Sarah Song, John Torpey and Phil Triadafilopoulos für ihr wertvolles Feedback beim Verfassen dieses Artikels. Deanna Pikkov assistierte mit ihrem Fachwissen bei der Recherche. 1
Internationale Grenzen überschreitende Migration bezeichnet für gewöhnlich die Wanderung von Personen mit einer Staatsbürgerschaft in ein Land mit einer anderen Staatsbürgerschaft, obwohl dies nicht notwendigerweise der Fall sein muss. So ist beispielsweise die Migration aus einem ehemals kolonisierten Land in das die ehemalige Kolonialmacht darstellende Land von internationalem Charakter, diese Migranten können jedoch durchaus bereits die Staatsbürgerschaft des Ziellandes besitzen. Alternativ hierzu ist die Geburt in einem bestimmten Land nicht unbedingt ein Garant für den Erhalt der dortigen Staatsbürgerschaft.
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sowie des Gefühls der Zugehörigkeit. Mithilfe des Konzepts der Staatsbürgerschaft können wir analysieren, in welchem Ausmaß Immigranten und deren Nachkommen in die Zielgesellschaften eingebunden sind. Immigration stellt eine Herausforderung – in einigen Fällen auch eine Bestätigung – für Vorstellungen über nationale Identität, Souveränität und staatliche Kontrolle dar, die historisch mit dem Konzept der Staatsbürgerschaft verbunden waren. Diese Herausforderung kann aus zwei unterschiedlichen Perspektiven untersucht werden: erstens als Staatsbürgerschaft innerhalb nationalstaatlicher Grenzen und zweitens, indem diese Grenzen in Frage gestellt werden. Aus der Perspektive innerhalb der Staatsgrenzen untersuchen wir drei theoretische Ansätze aus der Literatur. In einem dieser Ansätze werden die Grundlagen von Staatsbürgerschaft beleuchtet, indem bestimmte Konzepte nationaler Zugehörigkeit oder institutioneller Konfigurationen mit der Staatsbürgerschaft als rechtlichem Status oder bestimmten Rechten verknüpft werden. Im zweiten Ansatz, der sich größtenteils auf die normative politische Theorie stützt, werden die Zweckmäßigkeit des Multikulturalismus und die Verknüpfung von Gruppenrechten mit dem Konzept der Staatsbürgerschaft diskutiert. Im dritten Ansatz wird die Frage der Gleichstellung in der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Partizipation im Zielland untersucht. Diese Ansätze berücksichtigen dabei jeweils bis zu einem gewissen Grad, inwiefern sich eine Dimension der Staatsbürgerschaft auf andere Dimensionen auswirken könnte. Für zukünftige Arbeiten ist es jedoch erforderlich, das Zusammenspiel aller Dimensionen der Staatsbürgerschaft tiefergehend zu untersuchen. Wir gehen davon aus, dass ein stärker integrierter Ansatz deutlich machen kann, dass beispielsweise die trennende Kluft zwischen multikulturell und assimilatorisch begründeten Darstellungen der Staatsbürgerschaft überbetont sein könnte. Die Anwesenheit sowie die Aktivitäten von Migranten haben einige Wissenschaftler dazu bewegt, die Relevanz eines einzigen, staatsbasierten Konzepts der Staatsbürgerschaft in Frage zu stellen und an dessen Stelle ein grenzübergreifendes wie -überschreitendes Konzept von Staatsbürgerschaft zu entwerfen. In einem Ansatz wird dabei die Quelle staatsbürgerschaftlicher Rechte vom Staat auf die Person verschoben, wodurch eine kosmopolitische oder postnationale Form der Staatsbürgerschaft entsteht, die Grenzen transzendiert. Ein zweiter Ansatz aus der Literatur konzentriert sich auf grenzüberschreitende Formen der Staatsbürgerschaft, entweder als rechtlichen Status in der Form doppelter Staatsbürgerschaften oder als partizipatorische Staatsbürgerschaft auf der Grundlage transnationaler Praktiken und Bindungen. In unserer Arbeit wird argumentiert, dass die Globalisierung eine Herausforderung für das einfache Verständnis von Staatsbürgerschaft als staatsbasiert und staatlich kontrolliert darstellt. Nationalstaaten besitzen jedoch weiterhin substantielle Macht hinsichtlich der formalen
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Staatsbürgerschaftsregeln und -rechte, wie auch in der Ausgestaltung der Institutionen, die einen differenzierten Zugang zu Partizipation sowie subjektive Zugehörigkeit ermöglichen, was wiederum wichtige Konsequenzen für die Eingliederung und die Gleichstellung von Immigranten mit sich bringt. In dieser Arbeit soll durchgängig versucht werden, die informelle Trennung zwischen der Forschung zu Staatsbürgerschaft in Europa und der Parallelliteratur in Nordamerika, im Besonderen in den Vereinigten Staaten, zu überwinden. In Europa wird beispielsweise eher das Konzept postnationaler Staatsbürgerschaft diskutiert, während in den Vereinigten Staaten eher die transnationale Perspektive vorherrscht. Es ist nicht klar, ob die Unterschiede in der Ausrichtung empirische Unterschiede hinsichtlich der Erfahrungen von Immigranten oder die Notwendigkeit eines verstärkten akademischen Austauschs zwischen europäischen und nordamerikanischen Wissenschaftlern widerspiegelt. Darüber hinaus soll versucht werden, einen Dialog zu schaffen zwischen den Feldern der politischen Theorie der Staatsbürgerschaft – häufig als normative Theorie bezeichnet – und der Soziologie der Immigration und Integration, die häufig die Form einer Analyse empirischer Bedingungen annimmt. Abschließend an dieser Stelle noch einige Vorbehalte: das Hauptaugenmerk dieser Arbeit liegt auf Immigranten in industrialisierten Staaten, besonders in Nordamerika und Westeuropa, d. h., dass Fragen zur Staatsbürgerschaft und Immigration im globalen Süden außerhalb des Blickfeldes bleiben. Die Begriffe „Immigration“ und „Immigrant“ werden verwendet, weil diese in USamerikanischen Studien zur Migration gebräuchlich sind. Wir erkennen aber an, dass diese Begriffe im Sinne einer dauerhaften Ansiedlung konnotiert sind, die nicht notwendigerweise erfolgt. Darüber hinaus werden weder die der Migration zu Grunde liegende Motivation (politische Aufstände, wirtschaftliche Not, Familienzusammenführung usw.) noch der jeweilige Status von Immigranten (papierlos, mit befristetem oder unbefristetem Aufenthaltsrecht, Flüchtlinge, Asylsuchende usw.) beleuchtet. Einige mögliche Auswirkungen durch Statusunterschiede werden zwar gestreift, durch die Beschränkung des Umfangs dieser Arbeit sind wir jedoch nicht in der Lage, den Effekt der großen Zahl an nicht dokumentierten Wirtschaftsmigranten, Asylsuchenden und Flüchtlingen in Nordamerika und Europa auf die Bedeutung und die Praxis der Staatsbürgerschaft vollständig zu erfassen. Darüber hinaus ist diese Arbeit darauf beschränkt, eher die internationale als die nationale Migration in den Fokus zu stellen, wobei Theorien zur Staatsbürgerschaft jedoch auch auf bestimmte Arten interner Migration zutreffen können, beispielsweise auf Migrationsbewegungen von den ländlichen in die urbanen Gebiete Chinas. Entsprechend ist die Ethnizität, obschon sie ein wiederkehrendes Thema in der Literatur darstellt, nicht das einzige Unterscheidungsmerkmal. Weitere Arbeiten zur Beziehung zwischen Staatsbür-
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gerschaft und den Merkmalen Gender, Hautfarbe, Sexualität, Klasse, legaler Status und Religion der Immigranten sind nötig, da der Blick durch die Brille der Staatsbürgerschaft nicht nur die rechtlichen Grenzen von Nationalstaaten offenbart, sondern auch deren soziale Grenzen. Im Folgenden sollen zunächst die vier theoretischen Dimensionen der Staatsbürgerschaft diskutiert werden. Danach wenden wir uns der Literatur zu, die sich mit Fragen der Staatsbürgerschaft innerhalb nationaler Grenzen beschäftigt, um anschließend Beiträge zu betrachten, die eben diese Grenzen in Frage stellen. Dabei sollen durchgängig die methodologischen und theoretischen Herausforderungen skizziert werden, mit denen sich Soziologen in diesem Feld auseinander setzen müssen. Zur Theorie der Staatsbürgerschaft Das Konzept der Staatsbürgerschaft umfasst ein Spannungsfeld zwischen Inklusion und Exklusion. In der westlichen Tradition entstand das Konzept der Staatsbürgerschaft im Stadtstaat Athen in Form eines partizipatorischen Modells, in dem politisches Engagement in einem ausschließlich männlich dominierten öffentlichen Raum die höchste Form gesellschaftlicher Betätigung darstellte (Aristotle 1992; Dynneson 2001; Heater 2004). Diese Auffassung von Staatsbürgerschaft schränkte die Partizipation ein, da sie Frauen, Besitzlose, Sklaven und Neuankömmlinge in Athen ausschloss (Heater 2004; Pocock 1995). Eine alternative westliche Tradition, entwickelt aus der Notwendigkeit, unterschiedliche Völker in das Römische Reich einzubinden, führte zur Entwicklung der Staatsbürgerschaft als juristischem Konzept des rechtlichen Status, in dem der Bürger als Untertan des Staates gilt (Dynesson 2001). Während der Aufklärung führte die Rechtfertigung des Untertanentums zu Lockes Ideen der Übereinkunft und Vereinbarung (consent and contract), wodurch der Weg für den liberalen Diskurs der Individualrechte geebnet wurde, der eine zentrale Rolle im zeitgenössischen Konzept der Staatsbürgerschaft spielt. Die Erweiterung der Rechtssprache im zwanzigsten Jahrhundert führte zu den Idealen unveräußerlicher Menschenrechte, obschon die Untersuchungen Arendts (1979/1951) zu staatenlosen Individuen deutlich machen, dass nur der Staat die Macht und den institutionellen Apparat besitzt, durch die das Recht auf Rechte garantiert werden kann (siehe auch Somers 2006). Die aktuellen Diskussionen zur Staatsbürgerschaft spiegeln weiterhin die Spannungen wider, die zwischen den Auffassungen der Staatsbürgerschaft als politische oder anderweitige Partizipation und der Staatsbürgerschaft als rechtlichem Status mit oder ohne entsprechenden Rechten und Pflichten bestehen.
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Diese Diskussionen sind auch ein Abbild der andauernden Auseinandersetzung mit den Exklusionsaspekten der Staatsbürgerschaft, im Besonderen jenen Aspekten, die auf Gender, Sexualität, Klasse, Hautfarbe, Ethnizität und Religion basieren. Die vier Dimensionen zeitgenössischer Staatsbürgerschaft Die Entwicklung verschiedener westlicher Definitionen von Staatsbürgerschaft haben zu einem Verständnis von Staatsbürgerschaft geführt, das vier verschiedene Dimensionen umfasst: rechtlicher Status, Rechte, (politische) Partizipation sowie ein Gefühl der Zugehörigkeit (Bloemraad 2000; Bosniak 2000). Diese Dimensionen können einander ergänzen oder in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Wissenschaftler, die die Staatsbürgerschaft im Sinne eines rechtlichen Status untersuchen, gehen der Frage nach, wer Anspruch auf den Status des Bürgers hat. Die Staatsbürgerschaft kann auf dem Geburtsort (jus soli) oder auf der elterlichen Herkunft (jus sanguinis) oder beidem basieren. Für Bewohner eines Staates, denen der Zugang zur Staatsbürgerschaft qua Geburt verwehrt ist (wie dies für die überwältigende Mehrheit internationaler Migranten der Fall ist), muss die Staatsbürgerschaft über die Einbürgerung erworben werden. Die einzelnen Länder unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Einbürgerungsanforderungen, für gewöhnlich umfassen diese aber einen gewissen Zeitraum legalen Aufenthalts sowie ein bestimmtes Maß an Kenntnissen über das entsprechende Land sowie die (dominante/n) Landessprache(n) (Bauböck 2001; Bloemraad 2006; Odmalm 2005). Ein erweitertes Verständnis der rechtlich basierten Staatsbürgerschaft legt das Hauptaugenmerk auf die eine Staatsbürgerschaft begleitenden Rechte. Diese Perspektive, die in vielen Staatsbürgerschaftstheorien dominiert, ist ein Widerhall der Auffassungen des Liberalismus bezüglich der Beziehungen zwischen Individuen und dem Staat als Vertrag, in dem beide Seiten Rechte und Pflichten haben (Bauböck 1994; Janoski 1998; Somers 2006; Tilly 1996; Yuval-Davis 1997). Zur Aufrechterhaltung dieses staatsbürgerschaftlichen Vertrages garantiert der Staat dem Individuum Grundrechte, während diese Individuen einer Steuerpflicht sowie einer umfassenden Schulpflicht unterworfen sind und darüber hinaus die Gesetze des Landes zu beachten haben (Janoski 1998). Der rechtebasierte Ansatz enthält das Versprechen vollständiger Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz, das Problem der Überführung der formalen in eine substantielle Gleichheit bleibt jedoch ungelöst.
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Staatsbürgerschaft kann auch als politische Partizipation in einer vom Volk in einem bestimmten Gebiet gewählten Regierung bestehen (Bauböck 2005; Somers 2005). Historisch war dies ein nach Gender, Hautfarbe, Ethnizität, Religion und Klasse exklusives Privileg (Magnette 2005; Pocock 1995; Smith 1997; Yuval-Davis 1997). Im Laufe der Zeit wurden solche Barrieren wenigstens auf formaler Ebene eingerissen. In der Praxis haben aber alte Ausschlussmechanismen weiterhin einen Einfluss auf die politische Partizipation. In Kämpfen gegen solche Ausschlusspraktiken laufen partizipatorische und liberale Orientierungen zur Staatsbürgerschaft zusammen, da die politische Partizipation zunehmend als individuelles Recht, und in einigen Fällen als Menschenrecht angesehen wird, das unabhängig vom jeweiligen rechtlichen Rahmen bestehen sollte (Brysk/Shafir 2004; Hayduk 2006). In einigen Ansätzen wird die partizipatorische Dimension der Staatsbürgerschaft noch stärker erweitert, indem herausgestellt wird, dass die Fähigkeit zur politischen Teilhabe teilweise vom sozialen und wirtschaftlichen Einschluss abhängt (Marshall 1950; Somers 2005; YuvalDavis 1999). Eine letzte Dimension der Staatsbürgerschaft, die der Zugehörigkeit, findet sich in einer Vielzahl von Texten, von Philosophien zur republikanischen Staatsbürgerschaft sowie zum Kommunitarismus bis zu Untersuchungen des so genannten Nation Building. Vorstellungen der Zugehörigkeit besitzen inhärente Ausschlusstendenzen; damit ein „wir“ bestehen kann, müssen andere aus der Gemeinschaft herausfallen (Bosniak 2001). Solche Ausschlüsse werden oft mit der Notwendigkeit der sozialen Kohäsion gerechtfertigt, was zur Frage führt, welche Art sozialer Kohäsion für gegenwärtige Gesellschaften erforderlich ist (Brubaker 1992; Calhoun 2007; Joppke 1999). John Stuart Mill (1993/1859) sprach sich für eine an die „Nationalität“ gebundene Staatsbürgerschaft aus, da ein Verständnis gemeinsamer politischer Geschichte dazu führen würde, dass der „Wunsch [entstünde,] vereint unter derselben Regierung zu leben [...], einer Regierung, gebildet ausschließlich aus den Ihren oder einem Teil der Ihren...“ (S. 391). Die Verbindung zwischen Nationalismus und Staatsbürgerschaft wirkt sich bis heute auf Theorie und Praxis der Staatsbürgerschaft aus (Brubaker 2004; Koopmans et al. 2005; Miller 2000), was deutlich macht, dass Staaten nicht allein rechtliche und politische Institutionen darstellen, sondern auch in kulturellen oder sozialen Zusammenhängen Sinn stiftend wirken (Benhabib 2002). Die vier Dimensionen der Staatsbürgerschaft überschneiden sich und verstärken oder untergraben dabei die Begrenzungen wie auch den Inhalt des Konzepts der Staatsbürgerschaft. So können beispielsweise die auf dem Prinzip der Zugehörigkeit basierenden exklusiven Annahmen zur Staatsbürgerschaft zu Beschränkungen hinsichtlich des Status und der Rechte von Immigranten führen, was sich auf deren gesellschaftliche Teilhabe auswirken kann. Wenn im Gegen-
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satz dazu Rechte breiter verstanden und unabhängig vom Geburtsort zugestanden werden, könnte die rechtliche und partizipatorische Gleichstellung von Immigranten dazu führen, dass das bestehende Verständnis der Zugehörigkeit in Frage gestellt wird. Wenden wir uns nun einer versuchten Integration der vier Dimensionen der Staatsbürgerschaft zu. Das Versprechen und die Grenzen der Ansichten Marshalls zur Staatsbürgerschaft Die vier Dimensionen der Staatsbürgerschaft – rechtlicher Status, Rechte, politische Partizipation und selbst die Zugehörigkeit – klingen bereits in T.H. Marshalls (1950) Klassiker „Citizenship and Social Class“ an, einem Werk, das für viele soziologische Arbeiten zur Staatsbürgerschaft als Ausgangspunkt dient (Somers 2005). Marshall beginnt mit einer Definition der Staatsbürgerschaft als „Anspruch darauf, als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft akzeptiert zu werden“ (ebd.: 8), und untersucht, ob Marktwirtschaften mit ihren inhärenten Ungleichheiten mit der Vorstellung einer vollwertigen Mitgliedschaft in Einklang gebracht werden können. Anhand einer Skizzierung der geschichtlichen Entwicklung der Rechte formuliert Marshall die These, dass wirtschaftliche Veränderungen zu einer Erweiterung der bürgerlichen Rechte und anschließend der politischen Rechte führten. Durch die Nutzung dieser politischen Rechte errang dann schließlich die britische Arbeiterklasse bestimmte soziale Rechte. Laut Marshalls (1950: 11) Definition reichten diese sozialen Rechte vom Recht auf „ein Mindestmaß an wirtschaftlichem Wohlstand und Sicherheit über das Recht der Teilhabe am sozialen Erbe bis zum Recht auf ein dem vorherrschenden gesellschaftlichen Standard entsprechendes zivilisiertes Leben.“ Er hoffte, dass diese sozialen Rechte eine formale und substantielle Gleichstellung bewirken würden (Lister 2003; Somers 2005). In Marshalls Vorstellung der vollständigen gesellschaftlichen Mitgliedschaft werden diese Rechte nicht nur als Wert an sich betrachtet, sondern auch als Mittel zur Sicherung der Solidarität gesehen, die für das Funktionieren eines demokratischen Wohlfahrts- und Sozialstaates erforderlich ist. Auf diese Art befördern staatsbürgerschaftliche Rechte und der jeweilige rechtliche Status die Partizipation sowie ein Zugehörigkeitsgefühl, was wiederum das Entstehen einer sozialen Kohäsion und die Umsetzung gemeinschaftlicher politischer Projekte erleichtert. Inwiefern kann nun Marshalls Ansatz auf Studien zur Immigration angewendet werden? Kritiker argumentieren, dass Marshalls Definition der Staatsbürgerschaft von kulturellen Werten der „zutiefst englischen, weißen, männlichen Mittelklasse abgeleitet ist“ (Smith 1999: 214), die weder subjektiv-
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individuelle, noch kulturelle Unterschiede berücksichtigt, ganz besonders hinsichtlich der Stellung von Frauen, Kindern und ethnischen Minoritäten (Benhabib 2002; Brysk 2004; Maher 2004; Mann 2001;Yuval-Davis 1997). In frühen Studien der „neuen“ Migration nach dem zweiten Weltkrieg wurden Immigranten auf der Grundlage von Klassenbegriffen wahrgenommen, und das Hauptaugenmerk lag auf sozialen Ungleichheiten (z. B. Castles 1986; Castles/Kosack 1973, Portes/Bach 1985). Heute werden Immigranten jedoch häufig anhand ihrer ethnischen Unterschiede oder nach Hautfarbe identifiziert, zunehmend auch anhand ihrer Religion (Alba 2005; Kastoryano 2002; Waters 1999). Abgesehen von anderen Konsequenzen führt Marshalls Fokussierung auf einheimische Mitglieder der Arbeiterklasse dazu, dass er nicht in der Lage ist zu erkennen, dass kulturelle Rechte eine eindeutige Voraussetzung für die volle gesellschaftliche Teilhabe darstellen (Bauböck 2001). Diese Kritikpunkte heben Ursachen der Ungleichheit hervor, die über die Klassenzugehörigkeit hinaus gehen und legen nahe, dass anders begründete Ungleichheiten differenzierte Gruppenrechte notwendig erscheinen lassen können. Eine Betrachtung der Ungleichheiten jenseits der Klassenzugehörigkeit macht auch deutlich, dass die von Marshall in Form der historischen Progression postulierte Erweiterung der bürgerlichen, politischen und sozialen Rechte nicht einheitlich vonstatten ging. In Großbritannien und vielen anderen Ländern erhielten Frauen soziale Rechte, bevor ihnen politische Rechte zuerkannt wurden (Lister 2003; Skocpol 1992). Entsprechend können Immigranten ohne den rechtlichen Status des Staatsbürgers soziale Rechte erhalten (Bauböck 2005; Hansen/Koehler 2005; Soysal 1994) oder am politischen Entscheidungsprozess partizipieren (Hayduk 2006; Leitner/Ehrkamp 2003). Trotz der Probleme, die hinsichtlich Marshalls Auffassung zum Staatsbürgertum bestehen, sind seine Überlegungen zu Rechten, substantieller Gleichstellung, politischer und sozialer wie auch wirtschaftlicher Partizipation, zur Mitgliedschaft in der Gemeinschaft und der sozialen Solidarität für den akademischen Diskurs, aber auch die öffentliche Diskussion zur Staatsbürgerschaft und Immigration relevant. Ermöglicht aber sein Ansatz auf der Grundlage erweiterter Rechte die volle Staatsbürgerschaft von Immigranten, oder führt er lediglich zu einer partiellen Gleichstellung? Ist Marshalls Annahme korrekt, dass ein bestimmtes Maß an sozialer Solidarität notwendig ist, um allen Mitgliedern einer Gesellschaft eine umfassende Staatsbürgerschaft zu ermöglichen? Und wenn dem so ist, kann eine solche Solidarität im Kontext einer Immigration in großem Maßstab gefördert werden? Welche Implikationen zieht ein Pluralismus der Ethnien, Religionen und Hautfarben für das Versprechen der staatsbürgerlichen Gleichheit nach sich? Fragen wie diese tauchen immer wieder sowohl in Beiträ-
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gen auf, die die Staatsbürgerschaft im Nationalstaat verorten, aber auch in der Literatur, die nationalstaatliche Grenzen zu transzendieren sucht. Staatsbürgerschaft innerhalb von nationalstaatlichen Grenzen: Der Umgang mit Differenz Es lassen sich drei Untersuchungsbereiche ausmachen, die theoretische oder empirische Anhaltspunkte zur Staatsbürgerschaft und Immigration im Kontext des Nationalstaates bieten. Erstens führte die Migration in großem Maßstab dazu, dass politische Soziologen die bürgerlichen Grundlagen der Staatsbürgerschaft im Vergleich zu deren ethnischen Grundlagen untersuchten und damit auch auf die Implikationen der unterschiedlichen Vorstellungen der Zugehörigkeit für den rechtlichen Status, die Rechte und die Partizipation von Immigranten eingingen. Zweitens steht die Beziehung zwischen den Rechten und der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft auch im Zentrum der theoretischen Diskussionen über den Multikulturalismus, in denen danach gefragt wird, in welchem Maße Rechte dem Individuum innewohnen sollten oder ethnischen, religiösen oder anderen kulturell differenzierten Gruppen innerhalb des Nationalstaates zuerkannt werden sollten. Abschließend finden Marshalls Überlegungen zur sozialen Gleichheit auch in jenen Beiträgen der Literatur einen Widerhall, in denen wirtschaftliche, soziale und politische Partizipation hinsichtlich einer Staatsbürgerschaft „zweiter Klasse“ diskutiert werden. Diese Forschung konzentriert sich auf die Assimilation, Integration und Eingliederung von Immigranten und lotet die Wege zur partizipatorischen Staatsbürgerschaft und sozialen Kohäsion wie auch deren Grenzen aus. Zur Klassifizierung der Zielländer: Ethnische gegenüber bürgerschaftlichen Grundlagen der Staatsbürgerschaft Von den späten 1980er bis Ende der 1990er Jahre haben Fragen danach, wann und wo Immigranten die Staatsbürgerschaft erlangten, zu einer empirischen Literatur geführt, in der nationale Modelle oder einzelstaatliche Verläufe verknüpft wurden mit der Bereitschaft von Staaten, Immigranten in die Bürgerschaft einzugliedern. Ethnischer Nationalismus ist mit einer Zugehörigkeit verbunden, die auf der Abstammung beruht, eine Sichtweise, die Migranten üblicherweise ausschließt, wie z. B. in Deutschland (vor dem Jahr 2000). Im bürgerschaftlich begründeten Nationalismus ist die Zugehörigkeit an Rechte geknüpft, sowie an eine universalistische, freiwillige politische Mitgliedschaft, wodurch Migranten
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möglicherweise eine größere Chance auf Inklusion eröffnet wird, wie dies beispielsweise in Frankreich der Fall ist. Der Nationalismus beeinflusst die gesellschaftliche Mitgliedschaft von Immigranten, da er die formalen rechtlichen Strukturen zum Erwerb der Staatsbürgerschaft sowie die Diskurse strukturiert, die die Staatsbürgerschaft im Sinne einer Partizipation und Zugehörigkeit formulieren (Brubaker 1992; Koopmans et al. 2005). Die Unterscheidung zwischen ethnischen und bürgerschaftlichen Grundlagen hat zum Entstehen einer umfangreichen, hauptsächlich europäischen Literatur geführt, in der die Reaktionen von Staaten auf die Immigration durch vergleichende Analysen untersucht werden. In der Mehrheit dieser Studien wird eine fallorientierte Methode verwendet, in der Länder als Ganzes in eine Typologie eingeordnet werden. Solche Studien untersuchen, wie kulturelle, institutionelle oder ideologische Verschiedenheiten zu unterschiedlichen Möglichkeitsstrukturen für die nachfolgende Eingliederung und Staatsbürgerschaft von Migranten führen (Bloemraad 2006; Castles/Miller 1993; Favell 2001b; Ireland 1994; Joppke 1999; Kastoryano 2002; Koopmans et al. 2005). In einem Forschungsansatz wird die Staatsbürgerschaft als rechtlicher Status in den Mittelpunkt gestellt. Hier führt die Unterscheidung zwischen ethnischer/bürgerschaftlicher Grundlage zu einem kulturellen oder historischinstitutionellen Argument dafür, weshalb Staaten bestimmte Praktiken zur Gewährung der Staatsbürgerschaft verwenden (Brubaker 1992; Koopmans et al. 2005; Odmalm 2005). Der ethnische Nationalismus entspricht einem jus sanguinis-Abstammungsprinzip der Staatsbürgerschaft, der Einbürgerungsprozess ist entsprechend schwieriger. Wohlbekannte Beispiele für Länder dieser Kategorie sind Deutschland (vor dem Jahr 2000), Österreich, Griechenland und die Schweiz. Ein bürgerschaftliches Verständnis der Nationalstaatlichkeit fällt zusammen mit einem für Immigranten und ihre Nachkommen vereinfachten Zugang zur formalen gesellschaftlichen Mitgliedschaft durch das jus soli mit einer Staatsbürgerschaft als Geburtsrecht und einer einfacheren Einbürgerung.2 Zu den Ländern dieser Kategorie zählen Australien, Kanada, Frankreich und die Vereinigten Staaten. Bei der Unterscheidung zwischen ethnischen und bürgerschaftlichen Grundlagen bleibt jedoch eine große Grauzone an Praktiken bestehen, die nur schwer in einer einzelnen Kategorie zusammengefasst werden können. Der Anspruch, 2
Die Unterscheidung zwischen bürgerschaftlichen und ethnischen Grundlagen entspricht nicht unbedingt den in einem bestimmten Land geltenden Regelungen bezüglich der doppelten Staatsbürgerschaft. In Ländern mit bürgerschaftlichen Grundlagen wie den Vereinigten Staaten wird die doppelte Staatsbürgerschaft oft eher argwöhnisch betrachtet, während ethnisch basierte Länder, wie die Schweiz, ihren Bürgern bei Auswanderung und Erwerb einer anderen Staatsagehörigkeit durchaus eine doppelte Staatsbürgerschaft zuerkennen können (Faist 2007b; Hansen/Weil 2002).
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dass Immigranten beispielsweise die Mehrheitssprache lernen sollen, kann als Bekräftigung eines ethnisch begründeten Staatsverständnisses verstanden werden, oder aber als Förderung einer bürgerschaftlichen Partizipation im politischen Prozess (Brubaker 2004: 139/40). Innerhalb eines Staates können sowohl auf Einschluss als auch auf Ausschluss ausgerichtete Tendenzen vorhanden sein (Kastoryano 2002). Im Nachkriegsdeutschland wurden sowohl eine ethnisch basierte Gesetzgebung zur Staatsbürgerschaft als auch eine liberale Flüchtlingspolitik verabschiedet (Herbert 2001; Joppke 1998), während Länder mit bürgerschaftlichen Grundlagen der Staatsbürgerschaft die Integration von Muslimen zusehends als kulturelles Problem definierten. Dies führte zum Entstehen von Kursen, die das Ziel hatten, den Glauben und die Praktiken der Immigranten im Namen der bürgerschaftlichen Integration zu verändern (Entzinger 2003; Joppke/Morawska 2003). Eine Reaktion auf Kritiken dieser Art bestand darin, die Kategorisierung nach ethnischen/bürgerschaftlichen Grundlagen mit anderen Faktoren zu kombinieren, die einen Einfluss auf die Staatsbürgerschaft von Immigranten haben können. So unterscheiden beispielsweise Koopmans und seine Kollegen (2005: 8–16) zwischen dem Zugang von Immigranten zur politischen und rechtlichen Staatsbürgerschaft (vorgestellt als ein ethnisch/bürgerschaftliches Kontinuum) und der Orientierung von Staaten hinsichtlich von Gruppenrechten (ein Spektrum, das von kulturellem Monismus bis zum Pluralismus reicht). Ihre Analyse der Gesetzgebungen und Politikformen deutet darauf hin, das zwischen 1980 und 2002 in Frankreich, Deutschland, den Niederlanden und der Schweiz im Umgang mit Immigranten eine Verschiebung hin zu einer stärker bürgerschaftlichen Orientierung stattgefunden hat. Die Variationen hinsichtlich des kulturellen Pluralismus in den Orientierungen dieser Länder machen es in der Forschung jedoch erforderlich, zwischen dem bürgerschaftlich republikanischen Universalismus Frankreichs und dem bürgerschaftlichen Multikulturalismus der Niederlande zu unterscheiden, da auf der Grundlage dieser beiden staatsbürgerlichen Modelle Immigranten ganz unterschiedliche Ansichten zur gesellschaftlichen Mitgliedschaft entwickeln. Die Verwendung der Unterscheidung zwischen bürgerschaftlichen und ethnischen Grundlagen und deren Varianten basiert auf einer relativ stabilen, vielleicht deterministischen Sicht auf Gesellschaften, die in ihrer Reaktion auf die Immigration durch lange bestehendes kulturelles Verständnis sowie institutionelle Strukturen befangen sind. Zukünftige Arbeiten werden zu berücksichtigen haben, wie und weshalb sich Praktiken der Vergangenheit angesichts der Immigration verändern. Einige Wissenschaftler stellen deshalb den Ansatz der „nationalen Modelle“ vollständig in Frage und argumentieren, dass dieser den Nationalstaat als Einheit der Analyse künstlich überhöht. Deshalb ruft Favell (2001a)
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zu einer Reorientierung der Migrationsforschung auf, die sich weniger auf Nationalstaaten als vielmehr auf große Ballungsräume konzentrieren sollen (siehe auch Penninx et al. 2004; Sassen 2006). Eine Studie zur relativen Auswirkung zwischenstaatlicher gegenüber innerstaatlicher Unterschiede gelangt zu dem Schluss, dass der nationalstaatliche Kontext gegenüber internen Variationen immer noch dominant erscheint (Koopmans 2004), wobei hier noch weitere Forschung nötig ist. Abschließend kann gesagt werden, dass einige jüngere Forschungsrichtungen sich von einem typologiebasierten Ansatz zu entfernen scheinen, hin zu einer an Variablen orientierten Methodologie. Länder werden anhand der Unveränderlichkeit oder der Durchlässigkeit bestimmter sozialer Grenzen für Immigranten bewertet (Alba 2005; Zolberg/Woon 1999). Alternativ wird ein Index verwendet, mit dessen Hilfe bestimmt wird, in welchem Maße diese Länder bestimmte Merkmale, wie beispielsweise den Multikulturalismus, aufweisen (Banting et al. 2006). Wie im nächsten Abschnitt diskutiert, zielt besonders der zuletzt genannte Ansatz darauf ab, die bestehende Kluft zwischen normativer politischer Theorie zur Staatsbürgerschaft von Immigranten und der empirischen Sozialwissenschaft zu überwinden. Gruppenrechte und Multikulturalismus Eine andere Reihe von Diskussionen zur Staatsbürgerschaft innerhalb nationalstaatlicher Grenzen hat die Versprechen und Stolperfallen des Multikulturalismus zum Gegenstand, einem Konzept, dessen Bedeutung je nach Kontext und Autor variiert. Der Begriff kann als demographische Beschreibung einer Gesellschaft verwendet werden (beispielsweise sind die Vereinigten Staaten eine multikulturellere Gesellschaft als Japan); er kann sich auf individuell oder staatlich begründete Ideologien beziehen, die eine Vielfalt der Ethnien, Hautfarben, Kulturen und Religionen hoch halten; er kann sich auf bestimmte Politikformen oder Programme von Regierungen oder Institutionen beziehen (z. B. multikulturelle Lehrpläne); oder er kann sich auf eine spezifische normative politische Theorie beziehen, die Prinzipien zur Regierung durch Vielfalt geprägter Gesellschaften skizziert (Abu-Laban 1994; Bloemraad 2007a; Faist 2000; Fleras/Elliott 1992; Joppke 1999; Kallen 1982; Roberts/Clifton 1990). Als politische Theorie stellt der Multikulturalismus eine Herausforderung für die liberale Philosophie eines Universalismus dar, der Menschen als frei wählend und handelnd betrachtet, und davon ausgeht, dass sie Anspruch auf identische individuelle Schutzmechanismen haben. Verschiedene Kommentatoren verweisen darauf, dass die Betonung des Individuums im Liberalismus bestehende Ungleichheiten perpetuieren oder sogar verschärfen kann. Kommunita-
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ristische Kritiker gehen davon aus, dass individuelles Handeln in bestimmte soziale und kulturelle Kollektive eingebettet ist, die für Individuen bedeutungsschaffend wirken. Hierdurch würden die Interessen der Gruppe zu bestimmten Zeiten legitim über die des Individuums gestellt, wobei dies eine Politik der Anerkennung erfordere, in der kulturelle Gruppen in die politische Gemeinschaft eingebettet sind (Miller 2000: 99; Taylor 1994). Andere hinterfragen den Liberalismus als westliches kulturelles Konstrukt, das Völkern verschiedener Traditionen auferlegt wurde (Parekh 2006), oder behaupten, dass kulturelle Neutralität ein Mythos sei, dass es in allen Ländern eine „Gesellschaftskultur“ gebe, in der sich Minoritäten gegenüber der Mehrheit in einer Position der kulturellen Ungleichheit befinden (Kymlicka 1995, 2001; Schachar 2000, 2001). Während im Liberalismus traditioneller Prägung die Forderung vorherrscht, der Staat solle sich kultureller Vielfalt gegenüber neutral verhalten oder blind stellen, argumentieren Kritiker, dass eine solche Blindheit unmöglich sei, und dass statt dessen eine Ungleichheit bezüglich der Rechte, der Zugehörigkeit und der Partizipation im öffentlichen Raum entstehe. Mit den Worten Youngs (2000: 81) ausgedrückt, müssen Theorie und Praxis „Unterschiede der sozialen Position, strukturierter Macht und kultureller Bindung in politischer Diskussion und Entscheidungsfindung [berücksichtigen], die darauf abzielen, Gerechtigkeit zu fördern.“ Diesen Kritikern zufolge würde ein traditionell liberaler Ansatz zur Staatsbürgerschaft Immigranten die volle gesellschaftliche Mitgliedschaft und Gleichstellung vorenthalten. In Theorien zum Multikulturalismus wird entsprechend gefordert, dass kulturelle Minderheiten, einschließlich der Immigranten, anerkannt und eingebunden werden, und dass staatlicherseits durch Politik und Gesetzgebung ermöglicht werden muss, dass Minderheitengruppen ihre gesellschaftliche Partizipation innerhalb ihrer kulturellen Gemeinschaft verwurzeln können (Kymlicka 1995, 2001; Kymlicka/Norman 1994; Parekh 2006; Taylor 1994).3 Kymlicka, einer der führenden Theoretiker zum Multikulturalismus, versucht, Kollektivrechte in den individualistischen Rahmen des Liberalismus einzubetten. Er argumentiert, dass Minderheitengruppen ihre Kultur und Sprache gegenüber den Mehrheitspraktiken in Schutz nehmen dürfen, da kulturelle Gruppenzugehörigkeit einen integralen Bestandteil von individueller Freiheit und Selbstachtung darstellt. In Kym3
Ein großer Teil der frühen Multikulturalismustheorien stammt von kanadischen und britischen Autoren, die versuchten, zwei verschiedene Arten des Anspruchs auf den Minoritätenstatus miteinander zu vereinbaren. Zum einen den der Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund, zum anderen den lang zurückreichender, schon früh eingegliederter Nationen, wie Quebec und Schottland. Der Multikulturalismus Kymlickas und Taylors beispielsweise, die sich beide mit kanadischer Politik befassten, gesteht diesen Anspruch nationalen Binnenminoritäten eher zu als Immigranten. Der kontinentaleuropäische Diskurs zum Multikulturalismus hingegen befasste sich fast ausschließlich mit der Situation der Immigranten (Joppke 2004).
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lickas Liberalismus ist es auch erforderlich, dass Gruppen die Handlungen ihrer einzelnen Mitglieder nicht beschränken, einschließlich des Rechtes auf die Änderung bestimmter Praktiken oder darauf, die Gruppe zu verlassen. Der explosionsartige Anstieg des wissenschaftlichen Interesses am Multikulturalismus während der 1990er Jahre drehte sich hauptsächlich um die normative Theorie, während spezifische Politikansätze und deren Auswirkungen in nur wenigen empirischen Studien untersucht wurden. Wenn jedoch Regierungen und Politikschaffende auf der Grundlage von Prinzipien des Multikulturalismus oder des universellen Liberalismus Gesetzgebungen entwerfen oder Programme finanzieren, können abstrakte Diskussionen durchaus von realer Relevanz sein (Abu-Laban 2002). So brechen beispielsweise politische Kontroversen darüber aus, ob religiöse Bekleidungsformen wie das Kopftuch oder der Kirpan in öffentlichen Institutionen wie z. B. Schulen getragen werden dürfen. In den 1990er Jahren schienen verschiedene Länder den Multikulturalismus angenommen zu haben, gegen Ende des Jahrzehnts bemerkten Beobachter allerdings den „Rückzug“ von Regierungen aus dem Multikulturalismus (Brubaker 2001; Entzinger 2003; Joppke 2004; Korteweg 2006b). Zukünftige Forschungen müssen die Kluft zwischen gedanklichem Konzept und tatsächlicher Praxis zum Gegenstand haben, da der Mangel an empirischen Studien es politischen Akteuren auf allen Seiten ermöglicht, auf der Grundlage einer schwachen Faktenlage starke Behauptungen aufzustellen. Multikulturalismustheorien implizieren, dass eine multikulturelle Staatsbürgerschaft die Partizipation und Loyalität gegenüber dem Staat durch politische und bürgerschaftliche Anbindungen fördert. Taylor (1993) verweist auf einen Kontext „tiefgehender Vielfalt“, in der Individuen gegenüber einer Kultur- und Schicksalsgemeinschaft die größte Loyalität verspüren und in der die übergeordnete politische Einheit, in die die Schicksalsgemeinschaft eingebettet ist, einer sekundären Identifikation dient. Kritikern des Multikulturalismus erscheint die implizierte Vielzahl an Loyalitäten als Grund zur Sorge. Sie befürchten, dass die bürgerschaftlichen, politischen und sogar moralischen Grundlagen der Gemeinschaft im Lande ohne eine primäre Loyalität zum Nationalstaat fragmentiert würden, was zu Problemen führen würde, die von eingeschränktem demokratischen Engagement bis zu einem mangelnden Interesse an den Verfahren der Umverteilung reichen können (Barry 2001; Gitlin 1995; Huntington 2004; Okin 1999; Pickus 2005; Schlesinger 1998). Kymlicka (2001) reagiert hierauf mit dem Postulat, es sei „das Fehlen von Minderheitenrechten, das die Bande bürgerschaftlicher Solidarität erodieren lässt“ (ebd.: 36). Es ist empirisch nicht belegt, ob Länder mit multikultureller Orientierung weniger kohäsiv sind als andere, oder ob Immigranten, die in Staaten mit traditionell liberaler Ausrichtung leben,
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sich weniger als vollwertige Bürger fühlen, als solche in Ländern, in denen kulturelle Gemeinschaften anerkannt und eingebunden sind. In einer anderen Kritik zum Multikulturalismus wird behauptet, dass dieser zur Reifikation kultureller Unterschiede beiträgt, wodurch diese wichtiger erscheinen, als sie sind. Einigen Meinungen nach werden hierdurch künstliche Unterscheidungen nach Hautfarbe und Ethnizität verschärft, die durch eine universelle Staatsbürgerschaft besser zu überwinden wären (Barry 2001; Bissoondath 1994; Hollinger 2000). Genderforscher wie Susan Moller Okin (1999) haben das Problem der Reifikation in ihrer Argumentation dahin gehend verwendet, dass der Multikulturalismus die Unterdrückung von Frauen innerhalb von Migrantenkulturen begünstige, und dass diese Unterdrückung am besten dadurch zu überwinden sei, dass allen Frauen universelle Rechte auf individuelle Freiheit zugestanden werden (siehe aber auch die Kritik bei Okin 1999; Song 2005). Andere Feministinnen befürchten, dass durch eine Betonung kultureller Gemeinschaften Minoritätengruppen homogenisiert würden, wodurch interne Diskussionen unterbunden und randständige Positionen innerhalb dieser Gruppen dazu gezwungen würden, sich mit einheitlichen Gruppenzielen zu identifizieren (Yuval-Davis 1997: 18). Der Diskurs über den Multikulturalismus leistet zudem einer unkritischen und entpolitisierten Lesart der Kultur Vorschub, die einem Verständnis struktureller Machtunterschiede und deren Ausschlusswirkungen, wie sie im Rassismus und Sexismus offenbar werden, entgegenstehen (Bannerji 2000). Weitere empirische Forschungen könnten dazu beitragen zu klären, ob der Multikulturalismus, wie von Okin angeführt, Geschlechterungleichheiten begünstigt, oder ob er Politikformen untergräbt, die sich mit strukturellen Ungleichheiten in den Bereichen Gender, Hautfarbe u.a. befassen, wie dies von Yuval-Davis und Bannerji angeführt wird. Darüber hinaus wird die künftige Forschung auch die Bedeutung und Praxis des Multikulturalismus zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten detailliert untersuchen müssen. Kritiker des Multikulturalismus nehmen häufig an, dass seine Bedeutung und sein Inhalt leicht benennbar und universell gleich seien. Und doch ist eine liberal-nationalistische Auffassung eines passiven Multikulturalismus, in dem die Ursprungskulturen auf die Privatsphäre beschränkt sind, wie dies in Frankreich oder eventuell auch in den Vereinigten Staaten der Fall ist, völlig anders als ein kultureller Pluralismus oder aktiver Multikulturalismus, in dem Minderheitenkulturen in politischen Diskussionen akzeptiert und im öffentlichen Raum institutionalisiert sind, wie dies in Kanada und in geringerem Ausmaß in den Niederlanden geschieht (Bloemraad 2006, 2007a; Entzinger 2003; Faist 2000). In der jüngeren Forschung wird der Multikulturalismus als Index behandelt, für den spezifische Politikbereiche untersucht werden, beispielsweise in der
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Bildung, der Ausübung der Religion, den Medien, der doppelten Staatsbürgerschaft, in kulturellen Aktivitäten von Minderheiten, der zweisprachigen Erziehung und der sog. „affirmative action“, also der positiven Diskriminierung (Banting et al. 2006: 56/57). Evaluiert werden können aber auch die kulturellen Anforderungen für die Einbürgerung, religiöse Rechte (besonders hinsichtlich des Islam), kulturelle Rechte, Institutionen der politischen Repräsentation sowie die „affirmative action“ (Koopmans et al. 2005: 51–71).4 Diese Versuche, den Multikulturalismus in seine Bestandteile zu zerlegen, dienen zwei Zwecken. Erstens zwingen sie Forscher, die Variationen innerhalb und zwischen Staaten anzuerkennen, die bezüglich der Politikformen und Diskurse zur Immigration bestehen. Zweitens helfen Versuche zur Messung und Operationalisierung Sozialwissenschaftlern bei der Bewertung möglicher Auswirkungen verschiedener Ausprägungen des Multikulturalismus auf bestimmte Resultate. Wenn beispielsweise der Erwerb des rechtlichen Status der Staatsbürgerschaft durch Einbürgerung als Maßstab der politischen Integration verwendet wird, findet sich eine positive Korrelation zwischen staatlichem Multikulturalismus und dem Anteil der Einbürgerungen (Bloemraad 2006; Koopmans et al. 2005). Eine letzte Reihe empirischer Fragen bezieht sich auf die Vielfalt, soziale Ungleichheiten und die Umverteilung; Fragen, die wiederum auf Themen verweisen, die von T.H. Marshall aufgebracht wurden. Einige Wissenschaftler und öffentliche Kommentatoren äußern die Sorge, dass der Multikulturalismus sozioökonomische wie auch kulturelle Unterschiede verschärft. Nach Meinung von Koopmans und Kollegen (2005) kann der Multikulturalismus räumliche Trennungen begünstigen und die Integration von Migranten in den Arbeitsmarkt sowie in das Bildungssystem behindern und dadurch zu wirtschaftlichen Ungleichheiten führen. Allgemeiner gefasst fragen sich Beobachter, ob multikulturelle Politikformen die öffentliche Daseinsvorsorge unterminieren können (Barry 2001; Gitlin 1995; Gwyn 1995). Eine einflussreiche Gruppe von Wirtschaftswissenschaftlern hat die These formuliert, dass Länder weniger stark im Sinne einer Umverteilung agieren, je größer die Vielfalt an Ethnien und Hautfarben ist (Alesina et al. 2001; Alesina/Glaeser 2004). Tatsächlich legt eine jüngere Studie nahe, dass eine größere Vielfalt an Ethnien und Hautfarben mit einem schwächeren Sozialkapital und geringerem gesellschaftlichen Vertrauen einhergeht, obschon diese Erscheinungen durch staatliche Maßnahmen gemildert werden kön4
In der von Banting et al. (2006) entwickelten Klassifizierung stellen Kanada und Australien die einzigen beiden „stark“ multikulturellen Staaten dar; die Vereinigten Staaten, die Niederlande, Schweden und Großbritannien gelten als „moderat“; und Frankreich, Deutschland, Japan und Norwegen als „schwach“. Nach Koopmans et al. (2005) können die Niederlande als das am stärksten multikulturell geprägte Land gelten, Großbritannien und möglicherweise Deutschland nach 2000 befinden sich auf der Mitte der Skala, während Frankreich und die Schweiz die am wenigsten multikulturellen Länder sind.
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nen (Putnam 2007). Solche Spekulationen über mildernde Effekte werden von Forschungen gestützt, die nahe legen, dass bei gegebener demografischer Vielfalt „Länder mit stark ausgeprägter [multikultureller Politik] die größten Steigerungen an Sozialausgaben und die größten Bemühungen im Bereich der Umverteilung erlebten“ (Banting et al. 2006: 66; Banting/Kymlicka 2003). Durch solche Diskussionen wird eine grundlegende Frage aufgebracht: Wie können Gesellschaften bestmöglich mit multiplen Ungleichheiten umgehen, die auf Kultur, Religion, Hautfarbe, sozioökonomischer Stellung oder Genderunterschieden basieren? Können einzelne Ungleichheiten verschärft werden, wenn anderen Aufmerksamkeit geschenkt wird? Soziologen können, indem sie derlei Fragen bearbeiten, philosophische Diskussionen auf eine Basis empirischer Forschung zurückführen. Partizipation und Assimilation Ein weiterer Forschungsbereich aus der Perspektive der nationalstaatlichen Staatsbürgerschaft untersucht die Partizipation von Immigranten in den Zielgesellschaften. Traditionell werden Auffassungen der partizipatorischen Staatsbürgerschaft als Engagement in der politischen Gestaltung betrachtet. Und doch müssen, wie bereits von Marshall (1950) verdeutlicht, auch andere Formen der Partizipation berücksichtigt werden, insbesondere jene, die einen Bezug zu wirtschaftlichem Wohlstand und sozialer Inklusion aufweisen und die Fähigkeit zu bürgerschaftlichem Handeln stärken. Feministische Theoretikerinnen problematisieren die vielen Theorien der Staatsbürgerschaft zu Grunde liegende Unterscheidung zwischen Öffentlichem und Privatem und verweisen damit darauf, dass die Art, wie familiäre Beziehungen im Nationalstaat geregelt sind, sich auf die Partizipation auswirken, wodurch (migrierten) Frauen häufig die volle Staatsbürgerschaft verwehrt bleibt (Korteweg 2006a; Lister 2003; Pateman 1989; Yuval-Davis 1997, 1999). Aus diesem Blickwinkel betrachtet geht es bei der Staatsbürgerschaft nicht notwendigerweise um den rechtlichen Status, da eine formale Staatsbürgerschaft und gleichberechtigte Partizipation sich nicht unbedingt überschneiden. So unterscheiden sich beispielsweise Deutschland und Frankreich im Staatsbürgerschaftsrecht und damit darin, wie stark Immigranten an formalen politischen Prozessen partizipieren können. Es ist jedoch nicht sicher, ob sich die Integration am Wohnort, die Beschäftigungssituation und Bildungserfolge für Maghrebiner in Frankreich besser darstellen, als dies bei Türken in Deutschland der Fall ist. Messgrößen der Integration, wie z. B. wirtschaftlicher Aufstieg, Bildungserfolge oder kulturelle Akzeptanz können unabhängig vom rechtlichen Status auch zu
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Messgrößen einer Staatsbürgerschaft zweiter Klasse werden (Alba/Silberman 2002; Brysk 2004; Ong 1996; Portes/Rumbaut 2001, 2006). Umgekehrt können gesellschaftlich relevante Aktivitäten, die Menschen zu einem integralen Bestandteil ihrer örtlichen Gemeinschaften machen, etwa die Teilhabe am Arbeitsmarkt oder im Geschäftsleben, das Zahlen von Steuern, die Partizipation an örtlichen Schulen, elterliche Verantwortung oder ähnliche Tätigkeiten, als eine Form partizipatorischer Staatsbürgerschaft verstanden werden, die es Immigranten selbst bei fehlendem rechtlichen Status oder ohne Aufenthaltsstatus erlaubt, dem Staat und anderen gegenüber Ansprüche zu formulieren (Carens 1987; Coll 2004; Hondagneu-Sotelo 1994; Leitner/Ehrkamp 2003; Rosaldo 1997). In der amerikanischen Soziologie findet sich ein derart breit gefasstes Verständnis der Partizipation hauptsächlich in Diskussionen über die Assimilation von Immigranten, entweder in der ersten oder in nachfolgenden Generationen (für tiefere Einblicke in diese Literatur, siehe Alba/Nee 2003; Bean/Stevens 2003; Waters/Jimenez 2005). Für gewöhnlich wurde die Assimilation in den Vereinigten Staaten als meist linearer Prozess gesehen, in dessen Verlauf Immigranten ihre früheren Sprachen, Identitäten, kulturellen Praktiken und Loyalitäten aufgeben, um „Amerikaner zu werden“. Hierbei, so die Annahme, würden aufeinander folgend verschiedene Ebenen der Integration durchlaufen (Alba/Nee 2003; Gordon 1964; Park 1930; Park/Burgess 1969/1921; Warner/Srole 1945). Die spezielle Abfolge dieser Ebenen ist je nach Autor verschieden, genau wie die Meinung, über wie viele Generationen sich eine vollständige Assimilation ergibt. Diese Ausführungen legen allerdings nahe, dass eine Integration möglich, ja sogar unvermeidlich ist. Heute sind zahlreiche US-amerikanische Wissenschaftler weniger zuversichtlich über den Prozess der Integration und dessen Ergebnis. Von den 1960er Jahren bis heute stellen Modelle der wieder auflebenden oder reaktiven Ethnizität sowie der segmentierten Assimilation die Vorstellung eines einzelnen, schrittweise erfolgenden Weges zur Assimilation in Frage und legen nahe, dass auf der Hautfarbe basierende Hierarchien und/oder eingeschränkte wirtschaftliche Möglichkeiten Identitäten und den Integrationsprozess bestimmen (Glazer/Moynihan 1963; Portes/Rumbaut 2006; Portes/Zhou 1993; Zhou 1999). In diesen Beiträgen wird argumentiert, dass sich durch das Zusammenwirken von Hautfarbe und ökonomischer Stellung von Immigranten drei getrennte Wege zur Eingliederung ergeben: die traditionelle Assimilation in die weiße Mittelschicht; eine selektive Integration, wenn Immigranten dunklerer Hautfarbe ethnische und kulturelle Bindungen beibehalten, um einen sozioökonomischen Aufstieg zu begünstigen; oder eine Assimilation „nach unten“ in eine urbane Minderheit dunklerer Hautfarbe mit eingeschränkten ökonomischen Möglichkeiten.
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Die Diskussion über die Assimilation dauert weiterhin an. Alba/Nee (1997, 2003) behaupten, dass die intergenerationelle Integration in den amerikanischen kulturellen, sozialen und ökonomischen Mainstream weiterhin das empirisch dominante Muster darstellt. Der Forderung dieser Autoren nach stellt das Wort Assimilation (das gegenwärtig eher negativ gesehen wird) eine akkurate Beschreibung der sozialen Welt dar (siehe auch Brubaker 2001). Aktuell bezeichnet der Begriff der Assimilation (oder begriffliche Alternativen wie Integration oder Eingliederung) für gewöhnlich die Verringerung von Unterschieden bezüglich bestimmter Aspekte des sozialen Lebens zwischen Immigranten und der einheimischen Mehrheitsgesellschaft (z. B. hinsichtlich der Partizipation am Arbeitsmarkt). Keine Beachtung finden hingegen andere Unterschiede, die häufig kultureller Art sind und von Ernährungspräferenzen bis zu „grundlegenden Glaubenssätzen und Auffassungen des Daseins“ reichen (Zolberg/Woon 1999: 8). Solche Neuformulierungen unterminieren die oft postulierte Dichotomie zwischen einer Ideologie des Multikulturalismus und der der Assimilation. Das Konzept der „Integration“ rückt so entsprechend näher an bestimmte Auffassungen des Multikulturalismus heran. Innerhalb der Forschung zur Assimilation liegt das Hauptaugenmerk auf kultureller Assimilation, sozialer Integration und der ökonomischen Mobilität, während bürgerschaftliche und politische Integration nur als sekundär betrachtet werden (siehe aber auch Bloemraad 2006; Chung 2005; Cordero-Guzman 2005; Portes/Rumbaut 2006; Smith 2005). Diese eingeschränkte Aufmerksamkeit für die bürgerschaftliche und politische Integration ist möglicherweise die Ursache oder die Konsequenz der Tatsache, dass die Beziehungen zwischen der politischen Staatsbürgerschaft von Immigranten und anderen Formen ihrer Partizipation in der Theorie unterrepräsentiert sind. Eine politische Eingliederung kann zur sozioökonomischen Assimilation beitragen, wenn Immigranten und deren Kinder politische Macht verwenden, um institutionelle Hürden abzubauen, die sie in ihrer Mobilität einschränken. Alternativ hierzu kann eine begrenzte sozioökonomische Eingliederung die politische Mobilisierung von Immigranten befördern oder deren politische Partizipation behindern. In zukünftigen Forschungsarbeiten sollte die wechselseitige Auswirkung zwischen politischer Staatsbürgerschaft und anderen Formen der Partizipation untersucht werden. Zusätzlich könnte sich die Forschung zur Partizipation und Assimilation im amerikanischen Kontext jenseits von Zugangsregelungen oder Antidiskriminierungsmaßnahmen auch verstärkt der Rolle des Staates widmen. In der europäischen Forschung werden hingegen eine Vielzahl verschiedener, staatsbasierter Politikformen betrachtet, die mehr oder weniger stark auf Assimilation oder Multikulturalismus beruhen, sowie deren Auswirkungen auf die Integration (Entzinger 2003; 2006; Fournier/Yurdakul 2006; Joppke 2004;
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Korteweg 2006b). In der europäischen Politik rückt die Frage der Kultur zusehends in den Mittelpunkt, wobei die Integration muslimischer Immigranten als zentrale Problematik angesehen wird. Bei kulturellen Bedenken stehen häufig die Geschlechterbeziehungen im Vordergrund, besonders in aktuellen Diskussionen über die Regulierung und Sanktionierung von Zwangsehen und Ehrenmorden, aber auch über das Tragen von Hijab, Niqab und Burqa (Fournier/Yurdakul 2006; Korteweg 2006b; Razack 2004; Yurdakul 2006b). Diese Praktiken werden oft als antithetisch zu europäischen Werten der Geschlechtergleichheit und damit als emblematisch für den als antiliberal und antidemokratisch wahrgenommenen Einfluss des Islams angesehen (Okin 1999). Solche europäischen Bedenken zu problematischen Immigrantenkulturen stehen im Kontrast zu großen Teilen der amerikanischen Forschung, in der Immigrantenkulturen als Schutz gegen negative Einflüsse der US-amerikanischen Kultur angesehen werden, wodurch die Integration erleichtert und bessere sozioökonomische Ergebnisse erzielt werden können (Portes/Rumbaut 2001; Zhou/Bankston 1998; siehe aber auch Huntington 2004). Einige aktuelle Forschungsarbeiten versuchen den Brückenschlag zwischen den amerikanischen und europäischen Ansätzen, indem sie die Stellung von Immigrantengruppen in den Vereinigten Staaten, Frankreich und Deutschland vergleichen (Alba 2005; Zolberg/Woon 1999; siehe auch Joppke/Morawska 2003). Unter Verwendung der in den Vereinigten Staaten entwickelten Theorien zur Assimilation von Immigranten benutzen diese Wissenschaftler die Sprache der Grenzziehungen, um soziale, kulturelle, rechtliche und politische Praktiken zu identifizieren, durch die Immigranten und deren Nachkommen gegen die Mehrheitsgesellschaft abgegrenzt werden. Dadurch werden die USamerikanischen Ansätze zu sozialen Grenzziehungen mit dem europäischen Augenmerk auf staatliche Politikansätze zum Prozess der Integration von Immigranten kombiniert. In der Methodik entfernen sich diese Wissenschaftler auch von einer komparativen Fallorientierung, hin zu einer Variablenorientierung, in der die Grenzziehungen zum analytischen Hauptangelpunkt werden. Die verschiedenen Diskussionen zu Staatsbürgerschaft und Immigration innerhalb von Nationalstaaten betonen also verschiedene Dimensionen der Staatsbürgerschaft. In den Debatten um den Gegensatz zwischen ethnisch und bürgerschaftlich begründeter Staatsbürgerschaft werden die Verbindungen zwischen rechtlichem Status, politischer Partizipation und Zugehörigkeit zum Nationalstaat untersucht. Die Diskussionen über den Multikulturalismus stellen die Frage der Rechte und der Zugehörigkeit in den Mittelpunkt. Die Forschung zu Assimilation und Integration geht implizit oder explizit von einem erweiterten Begriff von Staatsbürgerschaft als Partizipation in allen Bereichen des sozialen Lebens aus. Allen gemein jedoch ist die problematische Frage, wie das staatsbürgerliche
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Versprechen substantieller Gleichheit eingelöst werden kann. Und doch könnte jeder einzelne dieser Forschungsbereiche erweitert und vertieft werden, wenn die Schnittstellen zwischen den verschiedenen Dimensionen der Staatsbürgerschaft umfassender in die empirische und theoretische wissenschaftliche Arbeit eingebettet würde. Grenzen transzendieren: Postnationale und Transnationale Staatsbürgerschaft In einem Großteil der Diskussionen um die Staatsbürgerschaft – ob als rechtlichem Status, in Form von Rechten, als volle Partizipation oder als Zugehörigkeit – werden Forschung und Analyse direkt in den Grenzen des Landes verortet, in dem sich Immigranten ansiedeln. In den vergangenen zwei Jahrzehnten stellt aber eine umfangreiche und wachsende Literatur einen derart begrenzten Ansatz zunehmend in Frage, indem normative und empirische Fragestellungen über die Relevanz von Staatsgrenzen formuliert werden. Wird die staatliche Souveränität durch neue, überstaatliche Institutionen und globale Menschenrechtsnormen untergraben, und, wenn dies der Fall sein sollte, schwindet damit gegenwärtig die Bedeutung der formalen Staatsbürgerschaft für Immigranten? Sollte auf der normativen Ebene die staatsbasierte Staatsbürgerschaft der Schlüssel zum Verständnis für gesellschaftliche Zugehörigkeit und die Zuordnung von Rechten sein? Sollten Auffassungen zur Zugehörigkeit ausschließlich an Einzelstaaten gebunden sein, oder können solche Konzepte auch über Staatsgrenzen hinweg gefördert werden, so dass Menschen ein kosmopolitisches oder transnationales Leben ermöglicht werden kann? Wenn immer mehr Einzelpersonen ihr Leben und ihre Bindungen zunehmend als politische Grenzen überschreitend betrachten, wie wirkt sich dies dann auf die politische Partizipation und die soziale Kohäsion aus, die Themen also, die für die Diskussion über die Staatsbürgerschaft von Immigranten „innerhalb der Staatsgrenzen“ als so wichtig erachtet werden? In diesem Abschnitt wird die Staatsbürgerschaft aus der kosmopolitischen und postnationalen Forschungsperspektive als den Nationalstaat transzendierend betrachtet, aber auch als mehrere Nationalstaaten umfassend, wie dies in der Forschung zum Transnationalismus sowie zur doppelten Staatsbürgerschaft der Fall ist.
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Staatsbürgerschaft jenseits von Grenzen: Kosmopolitische und Postnationale Staatsbürgerschaft Im Rahmen der liberalen Theorie stellen kosmopolitisch und liberalnationalistisch begründete Ansätze zwei Pole in einer theoretischen Diskussion zur Beziehung zwischen Staatsgrenzen und den durch die Staatsbürgerschaft garantierten Rechten dar (Vertovec/Cohen 2002). Im politisch-kosmopolitischen Ansatz wird argumentiert, dass Rechte nationale Grenzen transzendieren sollten; liberalnationalistisch wird hingegen argumentiert, dass Individualrechte am sichersten innerhalb des nationalstaatlichen Kontextes garantiert werden können (Bosniak 2001, 2006; Calhoun 2007; Carens 1987). Eine noch unbeantwortete empirische Frage lautet, ob die für demokratische Partizipation und Sozialpolitiken im Sinne einer Umverteilung für notwendig befundene soziale Solidarität außerhalb des nationalstaatlichen Kontextes (oder im Kontext eines extrem durchlässigen Nationalstaats) gefördert werden kann, besonders vor dem Hintergrund, dass die emotionalen Aspekte einer solchen Solidarität außerhalb gefühlsbasierter Gemeinschaften nur schwer zu berücksichtigen sind (Calhoun 2007; Turner 1993). Auf praktischer Ebene ist außerdem unklar, wie ohne eine staatsähnliche Struktur mit ihren rechtlichen und polizeilichen Institutionen überhaupt Rechte garantiert werden können. In ihren Reflexionen über die Gräuel des Zweiten Weltkriegs merkte Arendt (1979/1951) bereits an, dass, obschon Rechte unveräußerlich und universell sein mögen, für Staatenlose nur geringer Schutz besteht. Dies führte Bosniak (2006) dazu, ein Paradoxon des Liberalismus zu formulieren: Nur durch die Beschneidung der Freiheiten von Individuen, die nicht zu einem gegebenen Nationalstaat gehören, können die Freiheiten der Bewohner dieses Staates garantiert werden. Und doch verweisen zahlreiche Wissenschaftler darauf, dass Kapital- und Güterflüsse, wie auch Personen und Ideen zunehmend Staatsgrenzen überwinden (z. B. Castles 2002; Castles/Davidson 2000; Portes et al. 1999; Smith/Guarnizo 1998; Vertovec 2004). Durch den internationalen Kapitalismus werden grundlegend verschiedene Wirtschaftsräume und Regionen mit einander verbunden, wodurch in einigen Fällen Migrationsbewegungen vom Süden in den Norden entstehen, etwa wenn ausländische Investitionen oder große Entwicklungsprojekte traditionelle Ökonomien destabilisieren (Massey et al. 1998; Sassen 1998). Mächtige multinationale Konzerne beschränken die Souveränität einzelner Staaten, während die wachsende Zahl an internationalen Freihandelsabkommen die Märkte über die Staatsgrenzen hinweg verschieben. Die Fortschritte im internationalen Reiseverkehr sowie im Bereich der Kommunikationstechnologien ermöglichen es Migranten, grenzüberschreitende Bindungen nachhaltiger aufrecht zu erhalten. Darüber hinaus erleichtern solche Fortschritte auch die globale
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Verbreitung von Ideen und Kulturen, was zusätzlich von transnationalen oder internationalen wirtschaftlichen, sozialen, religiösen und politischen Organisationen gefördert wird (Portes et al. 1999; Levitt 2001; Smith 2003). Abschließend verweisen Wissenschaftler auch auf die Verbreitung und Institutionalisierung der Menschenrechte als eine mögliche Beschränkung staatlichen Handelns (Brysk/Shafir 2004; Soysal 1994). Diese Dynamik legt nahe, dass es sich bei der Globalisierung um eine Realität handelt, die die Relevanz von Grenzen sowie die staatliche Souveränität untergräbt. In differenzierten kosmopolitischen Theorien wird argumentiert, dass politische Institutionen notwendig sind, damit (kollektive) soziale Akteure sich mit globalen Wirtschaftakteuren auf eine Ebene begeben können (Habermas 2003), und dass solche Institutionen bei gleichzeitiger Anerkennung kultureller Besonderheiten auf gemeinsamen universellen Werten basieren sollten (Beck/Grande 2007). Das Argument zum globalen Charakter der Menschenrechte findet sich besonders häufig in der Forschung zur postnationalen gesellschaftlichen Mitgliedschaft. Es besagt, dass die Ausweitung eines Menschenrechtsdiskurses sowie des entsprechenden rechtlichen Apparates Nationalstaaten dazu zwingen würde, Migranten Rechte der gesellschaftlichen Mitgliedschaft eher auf individuellpersönlicher Basis als auf der Grundlage der Mitgliedschaft in einer bestimmten politischen Einheit zuzugestehen (Bauböck 1994; Jacobson 1996; Soysal 1994). Nach Aussagen der in diesem Bereich Forschenden wird eine staatsbasierte Staatsbürgerschaft durch die moralische Macht der Menschenrechte, aber auch durch die Entwicklung internationaler Körperschaften wie den Vereinten Nationen, der Europäischen Union und der internationalen Gerichtshöfe sowie durch das Engagement internationaler sozialer Bewegungen unterminiert.5 Obschon Staaten eine wichtige Rolle spielen, werden sie zunehmend durch internationales Recht und die Menschenrechte beschränkt, wodurch eine enge, staatsdefinierte Form der Staatsbürgerschaft immer mehr an Legitimität verliert. Die meisten Nachweise zur Stützung einer postnationalen Auffassung von Staatsbürgerschaft kommen aus Westeuropa. In Soysals (1994) einflussreicher Studie von sechs europäischen Ländern wird argumentiert, dass unabhängig vom Aufenthaltsland türkischen Immigranten Bürgerrechte, eine Vielzahl von sozialen Rechten und sogar einige politische Rechte zugestanden werden. Die politischen Rechte sind für gewöhnlich am engsten mit einer nationalstaatlichen Staatsbürgerschaft verknüpft, aber Länder wie die Niederlande, Schweden und Neuseeland gewähren auch Ausländern ein kommunales Wahlrecht (Bauböck 2005; Hayduk 2006). Selbst in Japan, so die Argumentation von Gurowitz 5
Es sind auch andere Quellen von Rechten und einer nicht territorialen Staatsbürgerschaft vorstellbar, beispielsweise auf der Grundlage neoliberaler Ideen zur Freizügigkeit von Arbeitskräften (Hollifield 1992).
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(1999), verwendeten Fürsprecher von Migranten internationale Menschenrechtsnormen und Appelle im Sinne „internationaler gesellschaftlicher Maßstäbe“, um kommunale und Präfekturregierungen unter Druck zu setzen, damit diese auch Ausländern weitergehende Rechte einräumten (ebd.: 445). Obwohl Nationalstaaten in näherer Zukunft nicht aufhören werden zu existieren, erkennen doch verschiedene Wissenschaftler „eine Verschiebung in den Hauptorganisationsprinzipien zur Mitgliedschaft im modernen Staatswesen: die Logik des individuellen Personenstatus verdrängt die der nationalen Staatsbürgerschaft“ (Soysal 1994: 164). Die Europäische Union ist eine der Einheiten, in der möglicherweise eine postnationale Staatsbürgerschaft heranreifen kann. Mit Hilfe der EUStaatsbürgerschaft wird versucht, eine neue Idee der Zugehörigkeit zu einer übergeordneten „europäischen“ Identität und Institution zu schaffen. Darüber hinaus wird in diesem Rahmen eine Norm wie auch ein Ideal der Europäischen Staatsbürgerschaft definiert, gegenüber der nationale oder lokale Politikformen zum Umgang mit Immigranten verglichen werden können (Lahav 2004). Und doch ähnelt die EU-Staatsbürgerschaft auch der traditionell nationalstaatlichen Form: Der Status des EU-Bürgers steht nur Bürgern aus EU-Mitgliedsstaaten offen und kann Immigranten aus nichteuropäischen Ländern nicht direkt verliehen werden (Parekh 2006). Hieraus ergeben sich zwei Fragen: Wie bedeutend ist diese Form postnationaler Staatsbürgerschaft für diejenigen, die darauf zugreifen können? Und wie wirken sich die ausschließlichen Aspekte der EUStaatsbürgerschaft auf die Eingliederung von Immigranten auf nationaler Ebene aus? Der postnationale Ansatz wurde aus mindestens drei Gründen kritisiert. Erstens ist der Postnationalismus trotz einiger Belege für die Rechte von Ausländern nicht ausreichend empirisch gestützt (Faist 2000; Koopmans/Statham 2003; Tambini 2001). Postnationalismusforscher scheinen eher eine Voraussage zu machen oder eine Norm zu beschreiben, als objektiv bestehende Bedingungen (Stasiulis 1997). Zweitens wird in einigen Quellen konstatiert, dass die Ankündigung der „Wiederentdeckung“ der Menschenrechte im globalen Diskurs redundant sei, da diese bereits ein Bestandteil liberaler demokratischer Praxis sind (Joppke 1999). Abschließend wird von Kritikern angeführt, dass Forscher der postnationalen Staatsbürgerschaft es versäumt haben, sowohl das tätige Handeln von Migranten als auch den Rahmen und die Ziele der Mobilisierung von Migranten auf lokaler Ebene zu analysieren. Wird eine solche Analyse vorgenommen, wird deutlich, dass der Referenzrahmen für die politische Mobilisierung vieler Immigranten innerhalb ihrer eigenen ethno-nationalen Netzwerke oder auf der Ebene der nationalen Öffentlichkeit oder nationaler Regierungen besteht, und nicht im Rahmen internationaler Akteure oder überstaatlicher Institutionen, ob-
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wohl Immigranten durchaus manchmal auf die Menschenrechte verweisen, um Ihren Forderungen Vorschub zu leisten (Jacobson/Ruffer 2004; Koopmans/Statham 1999; Koopmans et al. 2005; Yurdakul 2006a). Eine Frage, die zukünftig in der Forschung Beachtung finden sollte, bezieht sich auf eine angemessene Einordnung der sozialen Rechte sowie des ökonomischen Schutzes. In vielen postnationalen Argumenten wird davon ausgegangen, dass es sich bei der Erosion der staatsbasierten Staatsbürgerschaft insofern um etwas Gutes handelt, als dass die Menschenrechte dem Schutz der Menschen vor einem willkürlichen Staat dienen. Und doch könnte im selben Ausmaß, wie der Staat die Menschen vor den Launen des internationalen Marktes schützt, die postnationale Staatsbürgerschaft einen Weg darstellen, über den Sozialleistungen abgebaut werden, und zwar in dem Maße, wie das Konzept der Staatsbürgerschaft mit Blick auf einen globalen Markt und nicht hinsichtlich einer politischen oder Gemeinschaftszugehörigkeit umdefiniert wird. Die Forschung muss sich also folglich der Frage widmen, welche Rolle eine staatsbasierte Staatsbürgerschaft im alltäglichen Leben von Migranten spielt, und wie sich die globalen Menschenrechte auf die Staatsbürgerschaftspraxis gegenüber Immigranten auswirkt (Somers 2006; siehe aber auch Brysk 2004; Lentin 2007). Wie auch in anderen Theorien zur Staatsbürgerschaft, in denen einfache Dichotomien zwischen Bürgern und Nichtbürgern verwendet werden, berücksichtigen postnationale Ansätze häufig nicht, dass Migranten innerhalb eines Landes oft einen unterschiedlichen Status besitzen können, etwa den des Asylsuchenden, des Flüchtlings oder den des papierlosen Immigranten (Morris 2002). Die schwerpunktmäßige Aufmerksamkeit für den staatsbürgerlichen Status kann zu einer Vernachlässigung der Tatsache führen, dass ein legaler Aufenthaltsstatus die Lebenschancen von Migranten stärker strukturieren kann als eine Unterscheidung nach Bürgerschaft oder Nichtbürgerschaft. Massey (2007) stellt in seiner überzeugenden Argumentation fest, dass ein fehlender rechtlicher Status sich somit neben den Merkmalen der Hautfarbe, Klasse und Gender in die zentrale Schichtungsachse der amerikanischen Gesellschaft einreiht. Geschätzte 30% der im Ausland geborenen Bevölkerung der Vereinigten Staaten und 10% aller Migranten in Europa haben keinen legalen Aufenthaltsstatus in den Ländern, in denen sie leben (Koser 2007: 59; Massey 2007; Passel 2006). Ohne rechtsgültige Dokumente wird auch das Gefühl der Sicherheit und der Zugehörigkeit untergraben. Aber auch die Möglichkeit zur vollen Partizipation im politischen System und die Fähigkeit, mit Arbeitgebern über Arbeitsbedingungen zu verhandeln wird empfindlich eingeschränkt (Menjívar 2006; Stasiulis/Bakan 2005). Was bedeutet es für die Legitimität liberaler demokratischer Staaten, wenn Millionen von Migranten mit zeitlich begrenztem Aufenthalt oder ohne offiziellen Status in diesen Gesellschaften leben und an ihnen teilhaben,
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ohne je eine Perspektive auf den legalen Erwerb der Staatsbürgerschaft zu haben und eine Ausweisung befürchten müssen? Die Herausforderungen, denen sich papierlose Migranten gegenüber sehen, heben die fortdauernde Bedeutung des Staates deutlich hervor, der die Chancen im Leben von Migranten durch das Erteilen oder Verweigern der Staatsbürgerschaft massiv beeinflusst. Grenzüberschreitende Staatsbürgerschaft: Transnationalismus und doppelte Staatsbürgerschaft Während Postnationalisten glauben, überstaatliche Institutionen und Menschenrechtsnormen würden die traditionell staatsbasierte Staatsbürgerschaft untergraben, wird im transnationalen Ansatz mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass im aktuell bestehenden System der staatlichen Souveränität mehrfache Staatsbürgerschaften durchaus vorhanden (und normativ vielleicht sogar vorzuziehen) sind (Faist 2000; Vertovec 2004). Mehrfache gesellschaftliche Mitgliedschaften befördern eine „entterritorialisierte“ Staatsbürgerschaft, die geografisch definierte politische und rechtliche Einheiten transzendiert (Basch et al. 1994). Im Gegensatz zu anderen Arbeiten zu Staatsbürgerschaft und Migration, findet hier der Emigrantenstatus mindestens genauso viel Aufmerksamkeit wie der Immigrantenstatus. Transnationalismus In der Transnationalismusforschung wird davon ausgegangen, dass der Druck hinsichtlich einer entterritorialisierten Staatsbürgerschaft von mindestens zwei verschiedenen Quellen ausgeht. Erstens „schaffen Migranten durch die alltäglichen Aktivitäten ihres Lebens sowie durch ihre sozialen, wirtschaftlichen und politischen Beziehungen soziale Felder, die über nationale Grenzen hinausgehen“ (Basch et al. 1994: 27). Durch Verbindungen zu ihren Heimatstädten, geschäftliche Investitionen wie auch durch religiöse und politische Bindungen halten Migranten Kontakte zu ihren Ursprungsländern aufrecht und leben in zwei oder mehr Lebensumgebungen (Levitt 2001, 2007; Portes et al. 1999). Zweitens können transnationale Aktivitäten und Zugehörigkeiten auch von den Ursprungsund Zielländern bewusst gefördert werden (Faist 2007b; Levitt 2000; Smith 2003). Besonders in den Ursprungsländern wird eine fortdauernde Bindung der Emigranten möglicherweise als Instrument angesehen, durch die ein Finanztransfer in Form von Überweisungen oder Investitionen im Ursprungsland angeregt und politische, soziale und wirtschaftliche Grenzen auf die Diaspora ausgeweitet
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werden können (Itzigsohn 2007). Zusammengenommen tragen so die Handlungen von Migranten und von Staaten zum Prozess eines entterritorialisierten Nation Building bei. Die simultane Dynamik der transnationalen Staatsbürgerschaft wird in der grenzüberschreitenden politischen Partizipation am deutlichsten, obschon diese Form der Partizipation sicherlich nicht die einzige Art des Transnationalismus darstellt. Nationalstaaten, politische Parteien oder politische Bewegungen können sich um ideologische, finanzielle und organisatorische Unterstützung durch ihre im Ausland lebenden Bürger bemühen, während diese in den Ziel- oder Ursprungsländern Druck auf politische Entscheidungsträger ausüben können, um bestimmte Themen in den Vordergrund zu stellen (Fox 2005; Guarnizo et al. 2003; Itzigsohn 2000, Itzigsohn et al. 1999). Eine Studie zu mexikanischen und dominikanischen Immigranten in den Vereinigten Staaten verdeutlicht beispielsweise, dass politische Funktionsträger der Ursprungsländer eine doppelte Staatsbürgerschaft befürworten, um damit den Finanzfluss in Form von Überweisungen zu fördern. Darüber hinaus können doppelte Staatsbürgerschaften auch die Politik der Vereinigten Staaten gegenüber den Ursprungsländern beeinflussen (Itzigsohn 2007). Entsprechend versuchen Kurden in Deutschland, Einfluss auf die Menschenrechtssituation der Kurden in der Türkei zu nehmen, indem sie politische Strategien entwickeln, die auf politische Entscheidungsträger in Deutschland ausgerichtet sind (Østergaard-Nielsen 2002). Allgemeiner formuliert, argumentieren Transnationalismusforscher, dass eine Integration in die Zielgesellschaft und die Beibehaltung grenzüberschreitender Bindungen durchaus miteinander in Einklang gebracht werden können (Levitt/Glick Schiller 2004). Wissenschaftler, die die Breite und die Tiefe des Transnationalismus zu bestimmen suchen, kommen oft zu dem Ergebnis, dass nur ein kleiner Teil der Immigranten als aktive Transmigranten charakterisiert werden kann. Darüber hinaus lassen transnationale Aktivitäten mit zunehmender Aufenthaltsdauer im Zielland nach und lassen sich in der zweiten Generation oft gar nicht mehr nachweisen. Es muss allerdings angemerkt werden, dass unter Wissenschaftlern noch diskutiert wird, wie Transnationalismus überhaupt korrekt gemessen werden kann (DeSipio et al. 2003; Levitt/Waters 2002; Rumbaut 2002). Einige Forschungsbeiträge legen nahe, dass sich (insbesondere männliche) Immigranten angesichts einer erschwerten Mobilität als Ausgleich zum Statusverlust der politischen Partizipation im Heimatland zuwenden (Itzigsohn/Giorguli-Saucedo 2005; Jones-Correa 1998). In anderen Beiträgen wird dagegen das transnationale Paradigma als Ganzes mit Hilfe des Arguments in Frage gestellt, dass Ausländer im Zielland durch eine veränderte Wahrnehmung der Zugehörigkeit letztlich in Einheimische transformiert werden (Waldinger 2007). Trotzdem kann durch
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solche Ergebnisse nicht ausgeschlossen werden, dass Zugehörigkeitsgefühle zur neuen Heimat mit Aktivitäten zu Gunsten des Ursprungslandes zusammen kommen. Zu den Aufgaben des Studiums transnationaler Staatsbürgerschaft zählen empirische Fragen hinsichtlich ihrer Tragweite und Bedeutung, aber auch die theoretische Untersuchung der Frage, weshalb bestimmte Gesellschaften oder Gruppen dem Konzept der transnationalen Staatsbürgerschaft mehr oder weniger geneigt gegenüber stehen. Doppelte Staatsbürgerschaft Eine Manifestation entterritorialisierter gesellschaftlicher Mitgliedschaft stellt die wachsende Zahl der Staaten dar, die eine doppelte oder mehrfache Staatsbürgerschaft zulassen oder gar fördern (Bauböck 2007; Faist/Kivisto 2007; Fox 2005; Hansen/Weil 2002; Jones-Correa 2001; Weil 2001). Während die doppelte Staatsbürgerschaft noch vor einem Jahrhundert in den meisten Staaten als Bigamie betrachtet wurde, lässt heute eine zunehmende Zahl an Staaten rechtliche Bindungen an mehrere Staaten zu. In einigen Fällen geschieht dies auf Grund internationaler Konventionen, in anderen Fällen sind die Ursachen in der Innenpolitik oder in der Mobilisierung von Emigranten zu suchen (Spiro 2004). In verschiedenen Ländern werden unterschiedliche Regelungen zur doppelten Staatsbürgerschaft angewendet. In Ländern, die eher von Auswanderungsbewegungen betroffen sind, können solche Regelungen beispielsweise auf die im Ausland lebenden eigenen Emigranten abzielen, während die in den eigenen Grenzen lebenden Immigranten keine Möglichkeit zur Erlangung einer doppelten Staatsbürgerschaft haben, wie dies in Polen der Fall ist (Faist 2007b; Górny et al. 2007). Umgekehrt zeigen einige traditionelle Einwanderungsländer bei der Abwägung zwischen politischer Autonomie und transnationaler Staatsbürgerschaft eine eher geringe Begeisterung für die doppelte Staatsbürgerschaft (Bauböck 2007: 81). In den Vereinigten Staaten ist eine mehrfache Staatsangehörigkeit nach Entscheidungen des obersten Gerichtshofs und des Außenministeriums zulässig, und doch enthält der Eid, den alle Anwärter auf die Staatsbürgerschaft zu schwören haben, das Versprechen, jeder früheren Gefolgschaft zu entsagen (Duckett 2000; Kelly 1991/1992; Spiro 1997). Diejenigen, die Probleme mit der doppelten Staatsbürgerschaft haben, sehen sich hinsichtlich einer mehrfachen gesellschaftlichen Mitgliedschaft mit Fragen widerstreitender Loyalitäten und Verpflichtungen konfrontiert: für welche Seite wird im Falle eines militärischen Konflikts gekämpft werden? Daneben bestehen aber auch Bedenken hinsichtlich der Integration von Immigranten sowie der politischen Kohäsion (Hammar 1985; Pickus 2005; Renshon 2001; Schuck 1998; siehe aber auch Bloemraad 2007b).
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In der Europäischen Union stellte die Frage der doppelten Staatsbürgerschaft von Nicht-EU-Bürgern ein zentrales Problem in den Diskussionen über die Reform des deutschen Staatsbürgerschaftsrechts dar. Die Parteien, die Vorbehalte gegenüber einer mehrfachen gesellschaftlichen Mitgliedschaft hatten, argumentierten dabei, dass eine doppelte Staatsbürgerschaft der Integration von Immigranten hinderlich sein könnte (Faist et al. 2007). 6 In Schweden wurde die im Jahr 2001 zugelassene doppelte Staatsbürgerschaft eher als Frage der Menschenrechte betrachtet (Spång 2007). Der Kontrast zwischen Deutschland und Schweden verdeutlicht, dass Argumente gegen die Möglichkeit der doppelten Staatsbürgerschaft darauf abzielen, „die Staatsbürgerschaft an Bedingungen zu knüpfen, die auf der Annahme basieren, dass Immigranten bestimmte Pflichten haben, während die Argumente zu Gunsten der doppelten Staatsbürgerschaft eher individuelle Rechte in den Vordergrund stellen“ (Gerdes/Faist 2007: 138). Es gibt mindestens drei Aspekte der mehrfachen Staatsbürgerschaft, die noch eingehender untersucht werden müssen. Von Kivisto (2007) wird angeführt, dass es nötig ist, insbesondere aus vergleichender Perspektive mehr über Entscheidungsprozesse zur Staatsbürgerschaft und die staatlichen Akteure in Erfahrung zu bringen (sowohl hinsichtlich der Eliten als auch der Nichteliten), die sich für oder gegen die doppelte Staatsbürgerschaft aussprechen. Zweitens muss tiefer gehend untersucht werden, welche Personen aus welchen Gründen sich für oder gegen eine doppelte Staatsbürgerschaft entscheiden (siehe aber auch Bloemraad 2004). Drittens ist es erforderlich, die Beziehung zwischen der doppelten Staatsbürgerschaft und ihren Auswirkungen auf die Aktivitäten von Migranten zu erforschen. Es ist beispielsweise noch unbekannt, wie sich die doppelte Staatsbürgerschaft auf mögliche Rückflüsse auswirkt. Die verfügbaren Hinweise legen jedoch nahe, dass durch mehrfache Staatsangehörigkeiten eine politische Eingliederung von Immigranten eher gefördert als geschwächt wird, da die Schwelle zur Einbürgerung niedriger gelegt und damit der politische „Übungsbereich“ erweitert wird, in dem Menschen übertragbare politische Fertigkeiten erwerben (Bloemraad 2004; DeSipio et al. 2003; Jones-Correa 2001). Beim Lesen der Literatur zum Transnationalismus ist auffällig, dass sich der Großteil der empirischen Forschung hauptsächlich auf die Vereinigten Staaten als primäres Zielland konzentriert, während dieser Forschungszweig in Kanada oder Europa noch relativ jung ist (siehe aber auch Ça lar 2001; Faist/Kivisto 6
Deutschlands neues Staatsbürgerschaftsrecht, das seit 2000 in Kraft ist, ermöglicht in Deutschland geborenen Kindern von Immigranten eine doppelte Staatsbürgerschaft, wobei das Kind seine andere Staatsbürgerschaft zwischen dem 18. und 23. Lebensjahr aufgeben muss, um weiterhin deutscher Staatsbürger bleiben zu können (Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2000).
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2007; Faist/Özveren 2004; Landolt 2007). Es ist nötig zu ergründen, ob dies daran liegt, dass Immigranten in den Vereinigten Staaten mit größerer Wahrscheinlichkeit ein transnationales Leben führen, oder daran, dass Wissenschaftler in anderen Ländern zögerlicher bei der Annahme eines transnationalen Rahmens sind. Darüber hinaus konzentriert sich die Mehrheit der Wissenschaftler auf die mehrfache Staatsbürgerschaft in Nationalstaaten, obschon auch eine mehrfache politische Mitgliedschaft in verschiedenen territorialen Einheiten leicht vorstellbar wäre (Bauböck 2003; Favell 2001a). In einer Reihe von Städten wird zunehmend versucht, ein gewisses Maß an Kontrolle über die Rechte und Pflichten ihrer Einwohner auszuüben, und zwar in einer der staatsbasierten Staatsbürgerschaft vergleichbaren Art und Weise. Dadurch ließe sich beispielsweise in der Art über einzelne Migranten sprechen, dass sie Bürger von New York City und Mexiko (Rogers M. Smith 1998) oder von Berlin und der Türkei sind (Ça lar 2001). Von Bedeutung ist dabei, dass in allen Versionen der mehrfachen Staatsbürgerschaft als Quelle von Rechten und des Mitgliedsstatus immer noch eine politische Einheit betrachtet wird, die ein gewisses Maß an politischer Entscheidungsmacht besitzt und diese Entscheidungen auch durchsetzen kann. Zusammenfassend kann bemerkt werden, dass sowohl für die postnationale als auch für die kosmopolitische Staatsbürgerschaft gilt, dass der rechtliche Status eher an Personen als an Territorien geknüpft ist, was zur Frage führt, wie normalerweise überwiegend staatlich garantierte Rechte sicher gestellt werden können. Transnationale und doppelte Staatsbürgerschaften ermöglichen Menschen, sich mehreren territorial basierten politischen Gebilden zugehörig zu fühlen und daran zu partizipieren. All diesen Formen des Umgangs mit der Frage der Staatsbürgerschaft ist gemein, dass sie die Verknüpfung der Staatsbürgerschaft mit einem einzelnen Nationalstaat in Frage stellen. Jedoch bleiben die Dimensionen der Staatsbürgerschaft – Status, Rechte, Partizipation und Zugehörigkeit – die entscheidenden Punkte für die Bewertung von verschiedenen Auffassungen der Gleichheit. Schlussfolgerung und zukünftige Ausrichtungen: Die Überschneidung von Theorie und Methodik In dieser Arbeit wurde im Sinne einer breit basierten Konzeptualisierung der Staatsbürgerschaft argumentiert, die sich an vier Dimensionen orientiert: Status, Rechte, Partizipation und Zugehörigkeit. Diese Konzeptualisierung ermöglicht eine Verknüpfung normativer Fragen zu Gleichheit und gesellschaftlicher Inklusion mit empirischer Forschung, die untersucht, (a) ob die Chancen im Leben von Immigranten denen von einheimischen Nichtimmigranten entsprechen, (b)
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in welchem Ausmaß Immigranten an formalen und informalen politischen Prozessen partizipieren und (c) in welchem Zusammenhang die soziale, wirtschaftliche und politische Partizipation zum Gefühl der Zugehörigkeit stehen. Und doch lässt sich eine Kluft zwischen der abstrakten politischen Theorie und der empirischen Sozialwissenschaft ausmachen. Weiter oben wurden Bereiche hervorgehoben, in denen normative Ansprüche an die Staatsbürgerschaft erforschbare Implikationen mit sich bringen. In Bezug hierauf kann mit einigen Beobachtungen zu den normativen Implikationen der empirischen Forschung sowie der Empfehlung geschlossen werden, dem aktiven Handeln von Immigranten mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Soziologen, die im Bereich von Staatsbürgerschaft und Immigration arbeiten, sehen sich Dilemmata der Methodologie, der Messverfahren sowie der Referenzpunkte gegenüber, die den Kern der normativen und theoretischen Diskussionen über die Staatsbürgerschaft ausmachen. Empirische Daten zur gesellschaftlichen Mitgliedschaft und Partizipation von Immigranten lassen sich schnell und einfach in Belege für eine „erfolgreiche“ oder „gescheiterte“ Integration umdeuten, mit einer Fülle impliziter oder expliziter Auffassungen zu einer „guten Staatsbürgerschaftlichkeit“ und Unterscheidungen zwischen „besseren“ und „problematischen“ Gruppen von Immigranten. In den Vereinigten Staaten sind die Klagen Huntingtons (2004) darüber, dass mexikanische Migranten sich nicht in die amerikanische Gesellschaft integrieren und dass die Vereinigten Staaten sich auf ihre anglo-protestantischen Wurzeln zurück besinnen sollten stark mit der assimilatorischen Auffassung einer „guten Staatsbürgerschaftlichkeit“ verbunden, die entscheidend durch religiöse und kulturelle Anklänge geprägt ist.7 In europäischen Ländern wie Großbritannien, Deutschland, Frankreich und den Niederlanden drehen sich viele Studien zur Immigration hauptsächlich um die Probleme bei der Integration muslimischer Gemeinschaften sowie um staatliche Strategien zur Verbesserung der Integrationspolitik (Kastoryano 2002; Koopmans et al. 2005). Die Herausforderung für Wissenschaftler besteht hierbei darin, die Verschiedenartigkeit der ethnisch-nationalen und religiösen Hintergründe von Muslimen zu berücksichtigen. Außerdem sollte vermieden werden, eine „gute Staatsbürgerschaftlichkeit“ anhand des Grades der „Europäisierung“ zu messen, die in der öffentlichen Diskussion häufig als Assimilation in eine jüdisch-christliche Kultur verstanden wird, sich aber wenigstens in der Aufgabe sichtbarer Kennzeichen äußert, die mit dem Islam assoziiert werden. 7
Es gab viele, meist kritische, Reaktionen auf die These Huntingtons. Siehe beispielsweise Telles (2006), Citrin et al. (2007) und die Ausgabe vom Juni 2006 von Perspectives on Politics.
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Solche Aufrufe zur Vorsicht bedeuten aber nicht, dass die Forschung die Versuche aufgeben sollte, zwischen erfolgreicher und fehlgeschlagener Integration zu unterscheiden. Es geht eher darum, Erfolge und Fehlschläge sorgfältig zu spezifizieren, um normative Stolpersteine zu umgehen. Die meisten Menschen, einschließlich Immigranten, würden beispielsweise zustimmen, dass das Erlernen der Mehrheitssprache des Ziellandes das wirtschaftliche Fortkommen, aber auch die politische und bürgerschaftliche Partizipation sowie die soziale Integration erleichtert. Folglich wird der Spracherwerb häufig als Kenngröße für die Integration verwendet. Erst kürzlich haben Länder wie die Niederlande die sprachlichen Anforderungen für den Erwerb eines legalen Aufenthaltsstatus oder der Staatsbürgerschaft hoch gesetzt. Aber sind eingeschränkte Kenntnisse der Mehrheitssprache notwendigerweise gleichbedeutend mit fehlgeschlagener Integration und schlechter Staatsbürgerschaftlichkeit? Welchen Stellenwert aber hat das Beibehalten der Ursprungssprache? Historisch betrachtet wurde in den Vereinigten Staaten bei den Bemühungen zur „Amerikanisierung“ die Aufgabe der Muttersprache von Immigranten befürwortet. Forschungsergebnisse legen jedoch nahe, dass vollständig zwei- oder mehrsprachige Personen bessere kognitive Leistungen und größere Bildungserfolge erzielen und, im Falle von Immigrantenfamilien, bessere generationenübergreifende Beziehungen pflegen (Peal/Lambert 1962; Portes/Hao 2002; Portes/Rumbaut 2001). Ist für eine gute lokale oder globale Staatsbürgerschaftlichkeit eine Mehrsprachigkeit von Immigranten und Mehrheitsbevölkerungen notwendig? Die Frage angemessener Indikatoren ist für die öffentliche Politik und für die akademische Wissenschaft von entscheidender Bedeutung. Ein weiteres, dorniges methodologisches Problem bezieht sich auf folgende Fragen gesellschaftlicher Beziehungen: Wer sollte wann und im Vergleich zu wem als integriert gelten? Sollen Integration und vollwertige Staatsbürgerschaft über die gesamte Lebensspanne von Immigranten beurteilt werden, oder sollten statt dessen die Fortschritte in der zweiten und dritten Generation beurteilt werden, wie dies von amerikanischen Forschern getan wird? Die europäische Forschung hat sich großenteils auf die erste Generation der Immigranten konzentriert, teilweise auch, weil die statistische Datenlage zur Erfassung der zweiten Generation nur eingeschränkt verfügbar ist. Grund hierfür können jüngere Migrationsbewegungen oder auch politische Beschränkungen hinsichtlich der Erfassung solcher Daten sein (siehe aber auch Alba/Silberman 2002; Simon 2003). Zusätzlich zu anderen Methodologien wird eine sorgfältige statistische Arbeit von Bedeutung sein, wenn es um die Beurteilung der Frage geht, ob Immigranten und deren Nachkommen im Sinne T.H. Marshalls (1950) holistischer Auffassung der Staatsbürgerschaft „Staatsbürger zweiter Klasse“ sind.
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Zukünftig muss in der Forschung auch sorgfältig überlegt werden, welche Maßstäbe auf Immigranten angewendet werden. Für gewöhnlich beruhen Belege für die gescheiterte Integration oder die Diskriminierung von Immigranten (häufig sind dies nur alternative Interpretationen derselben Daten) auf einem Vergleich mit angestammt einheimischen „Durchschnittsbürgern“. Es ist jedoch eine Argumentation denkbar, nach der Immigranten mit Personen verglichen werden sollten, die ein vergleichbares Humankapital aufweisen (Alba/Nee 2003; Bean/Stevens 2003), oder dass Immigranten an einem höheren Maßstab gemessen werden sollten, da es sich bei der Immigration um ein Privileg handelt, dass von der etablierten Bürgerschaft gewährt wird (Borjas 1999). Länderübergreifende Vergleiche zwischen Immigrantengruppen können auch dazu beitragen, die Auswirkungen bestimmter sozialer und geschichtlicher Kontexte auf die Integration von Immigranten zu erhellen, einschließlich der möglicherweise bestehenden historischen Hinterlassenschaft einer Stratifikation nach Hautfarbe. Trotz der Tatsache, dass Entscheidungen über Messverfahren und Referenzpunkte häufig in mit „Daten und Methoden“ übertitelten Abschnitten eines Artikels oder im „methodologischen Anhang“ eines Buches versteckt werden, spiegeln diese Entscheidungen wichtige theoretische Annahmen hinsichtlich der Bedeutung und Ausformung der Staatsbürgerschaft wider. Über die Messmethodik hinaus gehend, müssen zukünftige wissenschaftliche Arbeiten auch das aktive Handeln von Immigranten mit berücksichtigen. Viele Studien sind hauptsächlich auf die Zielländer und deren Politikansätze ausgerichtet und vernachlässigen dabei den Umgang von Immigrantengruppen mit der Gesetzgebung zur Staatsbürgerschaft und mit Politikansätzen zur Integration. Aber auch die Frage, wie sich ihre Anwesenheit und gesellschaftliche Partizipation auf die Bedeutung und die Praktiken der Staatsbürgerschaft auswirkt, verdient größere Beachtung (siehe aber auch Foner 2003; Jacobson/Ruffer 2004; Yurdakul/Bodemann 2006). Zukünftig sollte erforscht werden, wie Immigrantengruppen ihre eigene Staatsbürgerschaft definieren und verhandeln. Dabei sollten dynamischere Theorien gebildet werden, die Raum für sich im Laufe der Zeit ergebende Veränderungen bieten. Abschließend sollte das Studium von Fragen der Staatsbürgerschaft und Immigration nicht ausschließlich als Domäne der Immigrationsforscher gelten. Viel eher wirft doch die Überschneidung der Felder Staatsbürgerschaft und Immigration allgemeinere Fragen zur Ungleichheit, der Macht des Staates sowie zur sozialen Kohäsion auf. Schon in T.H. Marshalls grundlegendem Text über Staatsbürgerschaft und Klasse finden sich diese Fragen wieder. Und doch basiert seine Arbeit auf einem Verständnis, nach dem Bürger eines Landes in diesem Aufenthaltsland geboren und aufgewachsen sind. Im 21. Jahrhundert macht die internationale Migration nicht nur den Umgang mit den Achsen interner Diffe-
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renzierung komplexer, sie stellt auch die besondere Bedeutung der Grenzen in Frage, die zwischen den Nationalstaaten verlaufen. Wenn die Immigration sich in großem Maßstab fortsetzt – und alle Zeichen deuten darauf hin – werden Sozialwissenschaftler aller Richtungen sich mit den Auswirkungen der Migration auf die Auffassungen von Status, der Zuweisung von Rechten, der Partizipation in der globalen und in multiplen lokalen Gesellschaften sowie mit Gefühlen der Zugehörigkeit auseinander setzen müssen, die im Konzept der Staatsbürgerschaft enthalten sind.
Deutschland und die orientalische Welt. Der Jude/Fremde in der klassischen deutschen Soziologie Y. Michal Bodemann
Wie hat sich die klassische deutsche Soziologie mit Nation und ethno-nationalen Vergemeinschaftungen befasst? Die Begründer der deutschen Soziologie, gleichzeitig auch die institutionellen Gründer der Deutschen Gesellschaft für Soziologie: Weber, Simmel, Sombart und Tönnies, mussten sich, zusammen mit Robert Michels und Franz Oppenheimer, mit zwei unterschiedlichen Traditionen befassen, die ihrer eigenen, zur Jahrhundertwende fest etablierten bürgerlichen deutschen Soziologie gegenüber standen. Die eine dieser Traditionen war, was Werner Sombart später als „proletarischen Sozialismus“, als eine undeutsche, wurzellose und jüdisch beherrschte Bewegung verurteilte, die sich in Heinrich Heines Begeisterung für das republikanische Frankreich und in Marx’ und Engels’ Internationalismus ausdrückte, der wiederum in der deutschen, Marseillaisebegeisterten Arbeiterbewegung seine Fortsetzung fand (Sombart 1924: 45 und passim); ein Internationalismus in der Tradition des europäischen Geistes der Napoleonischen Zeit zwischen 1804 und 1814 (Michels 1913: 396). Der vielleicht wichtigste Ausdruck dieses Internationalismus’ war Marx’ und Engels’ Herabwürdigung der „geschichtslosen Völker“ zugunsten eines (europäisch definierten) Kosmopolitismus, der sich um die „historischen“ Völker, Frankreichs, Deutschlands und Englands zentrierte. Hierbei blieben breitere Fragen ethno-nationaler Vergemeinschaftungen auf der Strecke. Der zweite Traditionsstrang, dem die bürgerliche deutsche Soziologie damals gegenüber stand, war jener der Rassenhygiene mit einem breit ausdifferenzierten Korpus von Rassentheorien; dieser Ideenstrang breitete sich auf ganz Europa aus, war aber insbesondere durch Gobineau und Chamberlain in Deutschland besonders populär geworden (Arendt 1950/1966; Mosse 1978: 79; Ruppin 1911). Diese Theorien, insbesondere die eugenischen, waren freilich im gesamten politischen Spektrum von rechts nach links verbreitet, unter Juden im übrigen nicht anders als unter nicht-Juden (Mosse 1978: 156; Ruppin 1911). Deutsche Rassen-Ideologeme wurden durch drei damals neue Phänomene bestärkt: erstens, der Zusammenbruch der alten Feudalordnung mit dem Aufstieg einer industriellen und ethnisch diversen Arbeiterklasse und der massiven Verstädterung. Die zweite Entwicklung war die der kolonialen Erfahrung, zunächst
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eher indirekt über Grossbritannien und Frankreich als Kolonialmächte ersten Ranges und später durch Deutschlands eigene Kolonien in Afrika (1884) und China (1897). Die deutsche „Entdeckung“ Amerikas (Diner 1993) spielt hier ebenfalls eine Rolle. Gobineaus Theorien zu weißen, gelben und schwarzen Rassen und zum fränkisch-germanischen Ursprung des französischen Adels gegenüber den inferioren keltischen Unterklassen beziehen sich auf beide Phänomene. Schließlich wurden Rassenideologien begünstigt durch die Judenemanzipation während der napoleonischen Kriege und, besonders seit dem späten 19. Jahrhundert, durch die Migration osteuropäischer Juden nach Deutschland und der Rolle der Juden in der Entwicklung einer modernen Gesellschaft. Dieses anti-jüdische Thema wurde um den Bayreuther Kreis von Richard und Cosima Wagner insbesondere von Chamberlain forciert entwickelt. Der erste Soziologentag Die ersten beiden deutschen Soziologentage in den Jahren 1910 und 1912 wurden nun von diesen Themen stark in Beschlag genommen, und die heftigen Debatten sind ein guter Indikator dafür, wo sich die sich herausbildende deutsche Soziologie damals befand. Angesichts der damaligen Debatten in Deutschland war es deshalb kein Wunder, dass die Organisatoren des ersten Deutschen Soziologentages einen langen Vortrag von Alfred Ploetz, dem führenden Rassenbiologen dieser Zeit präsentierten, der auch der Herausgeber des Archivs für Rassenund Gesellschaftsbiologie war. Ploetz wollte die wesentlichen Punkte der Polarität, wie er es sah, von Rasse und Gesellschaft skizzieren. Rasse, und mit Darwin „die Erhaltung der begünstigten Rassen im Überlebenskampf“ waren verbunden mit Egoismus und individuellem Überleben; Gesellschaft war dagegen verbunden mit Nächstenliebe oder Altruismus. Ploetz argumentierte, Gesellschaften, insbesondere hochzentralisierte, sollten – laut Ploetz „zugegebenermaßen ein gewagter Begriff“ – als ganzheitliche Organismen gesehen werden – den Bienen und Ameisenkolonien nicht unähnlich. Sobald menschliche Gesellschaften als einheitliche Organismen gesehen werden, werden einige auf die Gesundheit des Gesellschaftskörpers bezogenen Punkte kritisch; in Tönnies klarer Zusammenfassung der Position von Ploetz, „Der Kern… [von Ploetz’] Behauptungen ist darin gegeben, dass er sagt, es ist diese gegensätzliche Tendenz vorhanden: einmal die Tendenz der Gesellschaft, die sich in der Moral des Altruismus ausprägt, zu helfen und also die Schwachen zu unterstützen; andrerseits aber das Interesse der Rasse, der biologischen Dauereinheit, sich zu
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erhalten. Dieses letztere Interesse fordert Ausmerzung der Schwachen, während die Gesellschaft die Schwachen erhalten will.“ (Verhandlungen I: 148)
Das Hauptproblem hier ist zweifellos die Vorstellung von der Kollektivität der Rasse als einheitlichem Organismus und nicht also einer Kollektivität zusammenhängender, aber getrennter Elemente. Ein Organismus ist notwendig insgesamt betroffen durch inneren Zerfall, durch Angriffe von außen, interne Spaltung oder durch Fusion mit einem anderen Organismus. Dieses Bild bezog sich also auf Grundprobleme der deutschen Unterschichten, des Anwachsens der Arbeiterklasse und der Apperzeption des Fremden. Ploetz’ Bild von Rasse als Organismus zielte auf eine Reihe von Themen, die zum Teil auch von anderen Rassentheoretikern bereits verhandelt wurden. Erstens würde die Rassenmischung auf Grund reduzierter Fruchtbarkeit von nur kurzer Dauer sein, oder aber sie würde „kulturell minderwertige“ Gesellschaften hervorbringen. Ploetz behauptete, dies sei im Falle der „kulturell minderwertigen Republiken des tropischen Amerika“ bereits geschehen, und reduzierte Fruchtbarkeit auf Grund von Rassenmischung sei bereits vorzufinden, wo „die Indianer [in Nordamerika] und in der Südsee die Polynesier im Kontakt mit Weißen wie Schnee vor der Sonne schmelzen“ (ebd.: 118). Bei Ploetz sind Rasse und Gesellschaft meist nicht klar unterschieden und sie werden als Organismen angesehen und in medizinischer Terminologie beschrieben. So spricht Ploetz von Rassenphysiologie, der Rassenpathologie und Rassenhygiene und davon, dass die Rassengesundheit durchaus beeinträchtigt werden mag durch destruktive äußere Kräfte wie die Industrialisierung oder die Einfuhr fremder Bakterien oder Gifte, berauschende Getränke etwa (ebd.: 121). Schädliche, von Außen kommende Einflüsse können vor allem jene Individuen auszehren oder schwächen, die in Randregionen leben. Darüber hinaus besteht eine parasitäre Beziehung wo eine Zelle von wenigen Bakterien angegriffen wird, die sie zurückschlagen kann; eine größere Zahl solcher Bakterien freilich würde die Resistenz der Zelle überwältigen und würde sie zur Nahrung der Bakterien machen. Entsprechend sind sodann jene Staaten überlebensfähiger, die zahlenmäßig größer und deren Bürger fähiger und tüchtiger sind; jene Gesellschaften, in denen die Solidarität und gegenseitige Hilfe der Einzelnen stark ist, eine „Waffe“ in Unterstützung der Rasse, wohingegen Degenerierung das soziale Gewebe lockert. In der Einführung zur Diskussion über Ploetz’ Vortrag und indem er versuchte, sprachlich vorsichtig und wissenschaftlich zu sein, dankte Werner Sombart als Vorsitzender Ploetz dafür, dass er außerordentliches Ferment in die Versammlung gebracht hat. Es ist nun bemerkenswert, wie die Zuhörerschaft den Rassenbiologen „gelesen“ hat. Im Kontext von Umweltfaktoren und Genetik forderten Sympathisanten der Rassenbiologie die Soziologie auf, Phänomene wie
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Landstreicherei, Betteln, Prostitution und sexuelle Perversion sowie Jugendkriminalität zu erklären. Umweltbezogene Erklärungen wurden mit der Sozialdemokratie in Verbindung gebracht, und Rassenbiologie wurde mit den großen Tagesfragen verbunden: waren moderne Industriebeziehungen noch im Sinne von gesellschaftlicher Solidarität verstehbar, oder waren sie stattdessen ausbeuterische Beziehungen? Wie könnte der Ruhm des deutschen Volkes wenigstens über einen kurzen Zeitraum erhalten bleiben, und bis zu welchem Grad war das antike Griechenland ein Spiegel der heutigen Zeit? Ferdinand Tönnies, starker Kritiker von Ploetz, stellte die Frage, wer die gesellschaftlich und rassisch schwachen Individuen denn seien? Sollten die physisch Starken vorgezogen werden, und sollten die Hochintelligenten, doch physisch Schwachen nicht erhalten bleiben? Familien großer Geister, so Tönnies, waren mit ihrem Tod oft ausgelöscht, wie im Falle Goethes, und Moses Mendelssohn war ein Krüppel – seine Familie brachte den Komponisten Mendelssohn-Bartholdy und andere fähige Individuen bis auf den heutigen Tag hervor; also könnte die Erhaltung von Krüppeln von höchstem Wert sein (ebd.: 149). Der zweite Teil der Debatte bestand im Wesentlichen aus Max Webers Kritik an Ploetz. Doch im Gegensatz zu Tönnies schien Weber in seiner Kritik weniger radikal. Zunächst akzeptierte Weber die These einer rassischen Selektion, wie etwa die Wirkung der negativen Auslese weniger privilegierter Individuen im Mittelalter; doch oft wurden die Falschen ausgelesen. Das soziale Prinzip der Nächstenliebe, beispielsweise, schloss durch das Zölibatssystem einige der fähigsten und intelligentesten Menschen von der Fortpflanzung aus. Die Sozialpolitik, eine moderne Version der Nächstenliebe, mag auf der anderen Seite jene auslesen, die wirtschaftlich schwach, aber stark im Sinne der Rassenhygiene seien; Nächstenliebe könnte hier die Rassenhygiene stärken – offenkundig Webers Antwort auf die damalige konservative Kritik am Wohlfahrtssystem. Der Untergang des Römischen Reiches konnte laut Weber nicht durch Rassenkriterien erklärt werden: nicht die physisch Kräftigsten wurden eliminiert, wie die Rassenbiologen meinten, sondern die römischen Familien wurden bewusst aus Armee und Verwaltung ausgeschlossen und ersetzt durch „traditionslose Völker, Völker ohne Kultur“ (ebd.: 152). Mit dem Emporkommen dieser „Barbaren“ verschwanden die alten Traditionen, der „antike Geschmack und die antike Bildungsschicht“, dadurch die Traditionen des Heeres und die hergebrachte Verwaltungspraxis und auch „keine Spur irgendeiner Rassentheorie“ (ebd.) sei zur Erklärung erforderlich; für Weber war es subjektiv höchstwahrscheinlich, dass vererbte Charakteristiken eine Rolle spielen, vielleicht sogar eine große Rolle. Doch zu welchem Grad und in welcher Richtung war ungewiss (ebd.: 154). Weiterhin verwarf Weber die Idee von Rasseninstinkten und einer angeborenen Aversion von Weißen gegenüber Schwarzen, wie es von geachteten Her-
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ren in Dr. Ploetz’ Zeitschrift behauptet wurde. Solche Rasseninstinkte seien in der angeblichen Aversion einer Rasse gegenüber einer anderen ausgedrückt. Er könne, so Weber, sich auf seine eigene Nase beziehen und im engsten Kontakt habe er nichts dieser Art wahrgenommen (ebd.). Tatsächlich würden selbst im Norden die Schwarzen verachtet und gefürchtet – weil sie, aus Gründen der Tradition, Arbeitskräfte darstellten, die wenig verlangten. Darüberhinaus wollte der bürgerliche Amerikaner im Europäischen Sinne Aristokrat sein und musste deshalb eine Gruppe finden, die er verachten konnte (ebd.: 155). In Antwort auf seine Kritiker wünschte sich Ploetz, dass die Leistungen der alten Griechen bis in unsere Tage hätten andauern können. Doch dies wäre nur möglich gewesen, wenn die rassischen Eigenschaften in der Oberschicht des griechischen Volkes (ebd.: 159) aufrecht erhalten worden wären. Ploetz wünschte sich eine solche ruhmreiche Zeitspanne „für unsere deutsche Nation“ (ebd.: 159). In den herrschenden Schichten entwickelte sich ein derartiger Mangel an menschlichem „Material“, dass Mischehen mit der Sklavenschicht eingegangen wurden, die gänzlich anders strukturiert war. Er räumte zwar ein, dass einige Individuen in eine Lage ohne Zugang zu Ressourcen geboren wurden, doch „In den ärmeren Klassen befindet sich eine große Anzahl von Menschen, die durch gewisse Defekte in diese Klasse hineingedrängt worden sind. Sie selbst wissen und können jeden Tag beobachten, wie ein Mensch, dem weiter nichts fehlt, als der alleineinfachste wirtschaftliche Spartrieb, der sein Geld zum Fenster hinauswirft, schließlich gezwungen ist, nach Amerika zu gehen, um dort Teller aufzuwaschen, oder in irgendeiner Weise verkommt.“ (ebd.: 160)
Ploetz kehrte schließlich zurück zur „Negerfrage“. Yankees und andere bessere Einwohner weigerten sich, mit den Schwarzen gesellschaftlich zu verkehren auf Grund der mangelnden sittlichen Hemmungen, der mangelhaften Intelligenz und dem „durchschnittlich eher albernere[n] Betragen der Neger“ (ebd.: 163), sie würden „ausgeschlossen auf Grund ihrer Inferiorität im geistigen und sittlichen Sinne“ (ebd.: 164). Max Weber wandte dagegen ein, dass der hervorragendste Soziologe der Südstaaten, Burckhardt DuBois, ein Schwarzer sei und dass Weber Gelegenheit hatte, mit ihm in St. Louis zu frühstücken, während ein Gentleman der Südstaaten es als skandalös empfände, mit ihm verbunden zu sein. Ploetz antwortete, man könne mit einer derartigen Frage nicht zu sehr in Einzelheiten gehen, und die allgemeine Empfindung der Bevölkerung und das Bewusstsein der weißen Rasse sei basiert auf einer Unmenge von Erfahrungen, „die schließlich diese soziale Scheidung hervorgebracht haben“ (ebd.: 164) und die als Naturphänomen gesehen werden müssten. Weber schoss zurück, er erwarte von den
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„Herren Rassenbiologen und was (…) wir von ihnen sicherlich irgendwann geleistet erhalten werden, das ist der exakte Nachweis ganz bestimmter Einzelzusammenhänge, also der ausschlaggebenden Wichtigkeit ganz konkreter Erbqualitäten für konkrete Einzelerscheinungen des gesellschaftlichen Lebens. Das, meine Herren, fehlt bisher.“ (ebd.: 156)
Angesichts derartiger feindseliger Reaktion schloss Ploetz resignierend: „es kann uns Rassenbiologen ja im Grunde ganz gleich sein, wie die Soziologie vorgeht. Wir haben bei uns bestimmte Bedürfnisse, die wir erfüllen müssen“ (ebd.: 164). Werner Sombart, der Vorsitzende dagegen, der Ploetz gegenüber positiver eingestellt war, bestand in seinen Schlussbemerkungen darauf, auch „im Namen meines Freundes Max Weber“ dass die Soziologie tatsächlich ein gemeinsames Interesse mit der Biologie habe, und er hoffe, trotz offenkundiger Ablehnung von Soziologen, das sie zukünftig dies Problem mit Dr. Ploetz und seinen Freunden „sehr oft“ diskutieren würden (ebd.: 165). Was waren nun, zusammengefasst, die Hauptthemen dieser Debatte zur Rassenfrage in Frankfurt am Main an einem Morgen des 21. Oktober 1910? In den erwähnten Schlussbemerkungen bezog sich Sombart auf die Bedeutung der Biologie für den Niedergang Griechenlands und der „Negerfrage in Amerika“. Es ist meine These, dass diese Themen freilich verdeckt heikle Fragen bezüglich der inneren und äußeren Verfassung des damaligen Deutschlands berührten. Das erste Thema bezog sich auf die durch den Kapitalismus entstandenen Umwälzungen und den Aufstieg der Arbeiterklasse als Bedrohung der etablierten Ordnung und bürgerlichen Kultur. Hier missbilligten die Soziologen die sozialdarwinistischen Erklärungen der Rassenbiologie. Die Überlegenheit oder Minderwertigkeit einer bestimmten sozialen Gruppe musste durch die materiellen Ressourcen erklärt werden, die diesen Gruppen zur Verfügung standen sowie durch deren jeweilige Tradition und Kultur. Statt minderwertige genetische Anlagen zu eliminieren, wie die Rassenbiologen vorschlugen, mussten die Soziologen eine Sozialpolitik unterstützen, die die sozialen Bedingungen verbessern würde. Das zweite große Thema bezog sich demnach indirekt auf den Status – und die Überlegenheit – Deutschlands gegenüber anderen Nationen. Dies war ein Thema, das für die Soziologen nicht weniger wichtig war als für Ploetz. In seinem Vortrag beschwor Ploetz wiederholt, wie wichtig Solidarität und wechselseitige Hilfe für die Stärke von Rasse und Gesellschaft waren. Solidarität war wichtig angesichts der Bedrohungen wie Parasitentum, Rassenmischung und die Bedrohung durch sich stark reproduzierende Gruppen; andernorts hatte er davon gesprochen, dass die hohe Geburtenrate der Polen „uns zurückdrängt“ (ebd.: 163). Während dieser zweite Komplex sich nicht direkt auf Deutschland, sondern auf das antike Rom und Griechenland bezog, machte Ploetz dennoch den Bezug offenkundig. Mehr als andere verwarf Weber Ploetz’ Theorien über bio-
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logisch geschwächte Eliten – Theorien, die so offenkundig durch Chamberlain und Gobineau beeinflusst waren. Stattdessen stellte er fest – für die Antike, doch offenkundig auch für Deutschland –, dass ein historisch bedeutsames Volk am besten mittels einer starken und kulturell reichen Elite überleben könnte; einer Elite, die in ihrem Geschmack und in ihren Traditionen gefestigt war. Es ist freilich erstaunlich, dass es im Laufe dieser langen Debatte weder eine offene Debatte über die mögliche genetische Minderwertigkeit der eigenen, deutschen Arbeiterklasse gab,1 noch eine Diskussion des Anderen/Fremden im deutschen Kontext. Für Deutschland selbst wurde eine Diskussion über Ethnos und Nation ausgeblendet. In den Augen der Mehrzahl sowohl der versammelten Soziologen wie auch der Rassenbiologen schien Deutschland offenbar ethnisch homogen, obgleich die fruchtbaren Polen an der Ostgrenze des Reichs als Bedrohung empfunden wurden. Doch die Dänen und Friesen im Norden, Belgier und Elsässer im Westen der Monarchie oder die Immigration von Osteuropäern, insbesondere auch vom Balkan nach Deutschland, und einer so sichtbaren Immigration wie die der Ostjuden, wurde ignoriert. Ein wichtiger jüdischer Name, Moses Mendelssohn, wurde mehrfach erwähnt, sowohl von Tönnies wie auch von Robert Goldscheid, einem Wiener Juden. Sollte er erhalten bleiben (ebd.: 149) oder „ausgesondert“ (ebd.: 160) werden. Trotz der offenkundigen Relevanz wurde Mendelssohns jüdischer Hintergrund auch nicht einmal erwähnt – sein Fall wurde eben als der eines Krüppels diskutiert; eine offenkundige Chiffre für Juden, weil physische Deformierung mit Juden assoziiert wurde. Statt nun ethnonationale Diversität zu Hause zu debattieren, wurde die gesamte Debatte über die ethnischen oder rassischen Fremden und deren Körpergeruch auf ein sichereres und exotischeres Terrain verschoben: die Vereinigten Staaten. Bei anderen Anlässen haben sich zumindest fünf wichtige deutsche Soziologen, Simmel, Sombart, Tönnies, Weber und Michels, mit dem Phänomen des Fremden/Juden befasst und es mag von Interesse sein, sich diese Diskussionen genauer anzusehen. Im Folgenden möchte ich die von Simmel, Tönnies und Sombart untersuchen.
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Allerdings mit einigen bezeichnenden Ausnahmen. Im Lauf der Diskussionen während des Zweiten Soziologentages richtete Sombart die folgende Bemerkung an Oppenheimer: „Oppenheimer scheint einfach alles aus dem Milieu erklären zu wollen; er scheint zu glauben, dass der erste beste Arbeiter genauso gut einem großen Betriebe würde vorstehen können wie der kapitalistische Unternehmer, der sich mit Hilfe des Milieus in seine Stellung heraufgearbeitet hat; dass Begabung und Veranlagung auch ein Teil dazu beigetragen haben könnten, kommt ihm offenbar gar nicht in den Sinn. Ich halte eine so völlige Gleichgültigkeit gegen alle Veranlagung für eine prähistorische Betrachtungsweise.“ (Verhandlungen II: 185)
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Drei Fremde Der erste der drei Soziologen, der auch am direktesten über den Fremden geschrieben hat, war Georg Simmel. Sein Aufsatz hierzu erschien zunächst als „Exkurs über den Fremden“, in seiner „Soziologie“ (1908/1992), doch können frühere Formulierungen bereits in seiner „Philosophie des Geldes“ (1900/1989) gefunden werden,2 sowie in Aufsätzen wie „Die Großstadt und das Geistesleben“ (1903/1950). Es ist deshalb wichtig zu sehen, dass Simmels Interesse am Fremden von seinem Interesse an der Moderne ableitbar ist: Der Fremde ist Produkt der zunehmenden Arbeitsteilung und in früheren Zeiten war sein3 Terrain in der Sphäre des Geldes lokalisiert; der Fremde ist weder Feind noch Freund – wichtig im Kontrast zu Carl Schmitt – und ist stattdessen geprägt durch Indifferenz (1900/1989: 290). Simmels Aufsatz beginnt mit der wichtigen Beobachtung, dass der Fremde die Einheit zweier Bestimmungen darstellt, die des Wanderns, der Losgelöstheit vom Raum, und die der Fixierung im Raum. Im Gegensatz also zum Wanderer steht nun Simmels Fremder, in seiner vielzitierten Formulierung: Der Fremde, der „heute kommt und morgen bleibt“, der, „obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat.“ (1908/1992: 63). Der Fremde ist demnach konstituiert als eine Einheit aus Nähe und Ferne; vor allem ist er „ein Element der Gruppe selbst“, er ist also in der Gruppe und ist doch konstituiert als „Außerhalb” und „Gegenüber“, durch Ausschließung und Gegensatz. Die historische Erscheinung des Fremden geht Hand in Hand mit der Ausdifferenzierung der wirtschaftlichen Sphäre. Der Fremde erscheint „allenthalben als Händler“, als Mittler macht er die außerhalb der Gruppe produzierten Güter verfügbar. Er erscheint in seiner vollen Ausbildung, sobald er sich im Umfeld seiner Tätigkeit niederlässt; er ist kein Bodenbesitzer, ist ausgeschlossen von der „Urproduktion“, einer, der „gewissermaßen als Supernumerarius in einen Kreis dringt, in dem eigentlich die wirtschaftlichen Positionen schon besetzt sind. Das klassische Beispiel gibt die Geschichte der europäischen Juden.“ (1908/1992: 64) 4
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Siehe hierzu auch das Zitat aus seiner „Philosophie des Geldes“ in Fußnote 10. Da die drei Soziologen, wie in dieser Zeit kaum anders zu erwarten, den Fremden nur als Maskulinum beschreiben, halte ich mich auch hier an diesen Gebrauch. Doch ist dieser Diskurs zweifellos männlich zentriert, und die Abwesenheit von Frauen von dieser Analyse ist eine zusätzliche Schwäche, die noch getrennt behandelt werden müsste. Die Idee des „Supernumerarius“ erinnert deutlich an Sombarts „zwanzigste Familie“ (Sombart 1911: 44f). Siehe dazu auch Fußnote 13.
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Der Fremde, sagt Simmel, ist nicht organisch eingebunden durch Verwandschaft, Ort oder Beruf, was ihn zu besonderer Objektivität befähigt. Dies ist nicht nur eine Frage von Distanz und nicht-Involvierung, sondern ist „ein besonderes Gebilde aus Ferne und Nähe, Gleichgültigkeit und Engagiertheit“. Objektivität bedeutet Freiheit, und birgt doch potentielle Gefahren, denn oft werden angebliche „fremde Sendlinge und Hetzer“ für „Aufstände aller Art“ verantwortlich gemacht: Der Fremde ist der „Freiere, praktisch und theoretisch“, weil er nicht „durch Gewöhnung, Pietät, Antezedenzien gebunden“ ist. Doch ist es wichtig, nicht zu vergessen, dass er immer ein Mitglied der Gruppe ist; dies unterscheidet ihn von „den Bewohnern des Sirius“ welches eine nicht-Beziehung ist, oder vom Verhältnis der Griechen zu den Barbaren: Menschen, denen allgemein-menschliche Charakteristika verweigert werden. Fremde im Simmelschen Sinn dagegen haben menschliche Charakteristika, obgleich sie nicht als Individuen gesehen werden, sondern einen bestimmten Typus repräsentieren, wie beispielsweise im Falle der mittelalterlichen Judensteuer, die ganz unabhängig vom Einkommen des einzelnen Juden erhoben wurde; der „Jude hatte seine Position als Jude“. Dagegen zeigt Sombarts Phänomenologie des Fremden, nur wenige Jahre später in seinem Buch „Die Juden und das Wirtschaftsleben“ (1911) niedergeschrieben, einige interessante Parallelen und bezeichnende Unterschiede. Um die besonderen kapitalistischen Fähigkeiten der Juden verstehen zu können, sagt Sombart, müssen wir die besondere Stellung der Juden in den einzelnen „Volksgemeinschaften“ untersuchen, in denen sie aktiv sind. Diese Stellung bezieht sich vor allem auf ihre räumliche Verbreitung, ihren Charakter als „Halbbürger“, ihren Reichtum und ihre Rolle als Fremde. Genau dort, wo die Juden am wenigsten zu Hause waren, war ihre Tätigkeit am wirksamsten. Als „Neusiedler“ meint Sombart, sicherlich nicht ohne Bewunderung, mussten sie ihre „Augen offen halten“, um in der neuen Umgebung Fuß fassen zu können und um „unter den neuen Verhältnissen doch ihren Unterhalt [zu] erwerben“ (Sombart 1911: 205): „Wenn die Alteingesessenen in ihren warmen Betten liegen, stehen sie draußen in der frischen Morgenluft und müssen erst trachten, sich ein Nest zu bauen.“ (ebd.)
Als Eindringlinge müssen sie praktisch über die Art von Produktion oder Handel nachdenken, der sie nachgehen wollen, mit welchen Personen sie Beziehungen anknüpfen sollten um sich durchzusetzen; „das heißt aber nichts anderes als den ökonomischen Rationalismus an Stelle des Traditionalismus setzen. Wir sahen die Juden das tun; und wir finden nun einen ersten, sehr zwingenden Grund, weshalb sie es taten: weil sie Fremde in den Ländern waren, wo sie wirtschaften sollten.“ (ebd.)
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Im „psychologisch-sozialen Sinne“, weil sie sich als „etwas Besonderes empfanden“, waren die Juden darüber hinaus fremd auf Grund einer durch die Religion vorgegebenen „innerlichen Gegensätzlichkeit zu der sie umgebenden Bevölkerung, im Sinne einer fast kastenmäßigen Abgeschlossenheit gegen die Wirtsvölker“. (ebd.: 206) Sie sind gekennzeichnet durch fremdenfeindliche Gesinnung und Abschließungstendenz, sie „wollten abgeschlossen leben“ als das auserwählte Volk: „Abgesondert und darum zusammengeschlossen oder wenn man lieber will: zusammengeschlossen und darum abgesondert.“ (ebd.: 282)
Dies führte zu „Handlungsweisen und Gesinnungen bei den Juden… die notwendig sich im Verkehr mit ‚Fremden’… ergeben müssen“: es mit einem Fremden zu tun zu haben „erleichterte das Gewissen“ und „lockerte die Bande der sittlichen Verpflichtungen“ (ebd.: 206); der Verkehr mit Fremden ist stets „rücksichtsloser“, „sie selbst haben das Ghetto geschaffen” und behaupteten ihr Judentum „mit Eifer“; die Tatsache, dass die „Wirtsvölker“ die Juden von sich fernhielten durch „feindseliges Verhalten“ und Gesetze ist also sekundär, eine Reaktion auf das enge Zusammenhalten der Juden selbst (ebd.: 282). Die Unterschiede zu Simmel sind deshalb offenkundig. Sombarts Bild des Fremden deckt sich mit seinem Bild des Juden, während für Simmel der Jude lediglich der prototypische und metaphorische Fremde war. Für Simmel sind die Juden, obwohl nicht organisch mit der Umwelt verbunden, doch Mitglieder der Gruppe und stehen mit allen in Verbindung: Sombarts Jude dagegen ist deutlich segregiert vom Rest der Gesellschaft. Und während Simmels Fremder fern und nah, indifferent und involviert ist, nicht von der „Wurzel her für die singulären Bestandteile oder die einseitigen Tendenzen der Gruppe“ festgelegt ist – was seine Objektivität erklärt – so ist Sombarts Jude/Fremder zwar auch, wie der Simmels, nicht traditionell und rational; doch Simmels Fremder ist engagiert und involviert. Sombarts Fremder dagegen ist gerade gegenüber dem Staat indifferent und politisch „farblos“. Besonders wichtig: während Simmels Fremder fern und nah ist, heute kommt und morgen bleibt, so ist Sombarts Jude der ferne Fremde, der Eindringling, der heute kommt und morgen geht: der Wanderer, der gegenüber seiner Umgebung völlig indifferente mittelalterliche Ahasver.5 Ein bezeichnendes Beispiel von Sombarts Bild des Juden: wurzellos, als Fremder, der heute kommt und morgen geht, ist die folgende Episode, die er im Zusammenhang mit seiner Charakterisierung von Juden als anti-mystisch und gegenüber Natur und ihrer Umgebung unsensibel erzählt. Eines Tages sei ein 5
Zur Trope des Ahasverus siehe z. B. die neue Sammlung von Mona Körte und Robert Stockhammer (1995).
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jüdischer Student aus Ostsibirien zu ihm nach Breslau gekommen, allein um die Werke von Karl Marx mit ihm zu lesen: „Er hatte fast drei Wochen zu der weiten Reise gebraucht; und schon den Tag nach seiner Ankunft suchte er mich auf und bat sich eine Schrift von Marx aus. Nach einigen Tagen kam er wieder, sprach mit mir über das Gelesene, brachte die Schrift zurück und nahm eine neue mit. So ging das ein paar Monate weiter. Dann reiste er wieder drei Wochen in sein ostsibirisches Nest zurück. Seine Umgebung hatte er überhaupt nicht wahrgenommen, Menschen keine kennengelernt, spazieren gegangen war er überhaupt nicht; er wusste gar nicht recht, wo er sich denn nun die Zeit über aufgehalten hatte. Er war durch die Breslauer Welt gegangen, ohne sie wahrzunehmen, ebenso wie er durch seine frühere Welt gegangen war, und wie er die künftigen Jahre durch die Welt gehen wird, ohne von ihr einen Hauch zu spüren; nur Marx im Kopf. Ein typischer Fall? Ich denke doch.“ (ebd.: 317)
Doch Sombarts Vorstellung vom Juden als Fremden steht keineswegs isoliert und viele seiner Zeitgenossen teilten ähnliche Auffassungen. Als Beispiel soll hier kurz das Bild des Fremden bei Ferdinand Tönnies skizziert werden, der in anderen Zusammenhängen und vor allem in der Diskussion über Rasse durchaus eine mit Sombarts Vorstellungen kontrastierende Position einnahm. Tönnies befasst sich mit dem Fremden/Händler nur zwei Jahre nach Sombart, im Jahre 1913, in einem Aufsatz mit dem Titel „Individuum und Welt in der Neuzeit“, neu erschienen in einer Aufsatzsammlung im Jahre 1926. Zunächst weist er eine derartige Ähnlichkeit zu Simmel auf, dass es kaum vorstellbar ist, dass Tönnies Simmels Texte nicht kannte.6 So meint Tönnies, dass das Individuum und der Individualismus sich in der Neuzeit voller und zunächst vor allem in der Wirtschaftssphäre ausbilden. Der im Handel großen Stils tätige Geschäftsmann nimmt nun als Teil des Bürgertums eine vorherrschende Stellung ein, ist sich seines Eigeninteresses deutlicher bewusst als die traditionellen feudalen Stände und er ist weniger sesshaft; Reisen ist Teil seines Berufs, von den engen Schranken seiner Stadt hin zur großen Wirtschaftsregion, die er vor sich ausgebreitet sieht. Ähnlich ermutigen die Fremdheit und der Fremde insgesamt das Wachstum des Geschäftsgeistes, d. h. also des Interesses, sich primär um seinen eigenen Vorteil zu sorgen.
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Tönnies war mit Simmels Werk wohl vertraut und zollte ihm Respekt, doch die soziale Distanz zwischen den beiden war groß: Tönnies kam aus einem provinziellen protestantischen Milieu im Gegensatz zu Simmels Metropolitanismus. Dies wird deutlich in einem Brief von Tönnies an einen Kollegen: „Kennst Du G. Simmel? Ich erhielt sein Buch ‚Über sociale Differenzierung‘ zur Rezension (…) Das Buch ist gescheit, aber aus der Studierstube des Großstädters.“ (Zitiert aus Steffen, S. (1993): Georg Simmel in Berlin. Berliner Journal für Soziologie, (2), 1993: 161-181).
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Am offenkundigsten in Europa ist in diesem Zusammenhang der Fall der Juden, „ein zerstreutes Überbleibsel einer alten städtischen Kultur“; als „heimatloses Volk der Religion“ über weite Entfernungen zuammengehalten durch Verwandschaftsnetze und den Glauben an ihren Gott, als Vermittler also prädestiniert, spielen sie im Prozess der Kommodifizierung und der Intensivierung des Verkehrs in der Neuzeit eine zunehmend wichtige und mit dem Kapitalismus kongruente Rolle. Sie werden „gehasst, gefürchtet und verfolgt, je mehr die mittelalterliche Kultur sich in ihrem Kampf gegen feindliche Mächte mobilisiert.“ (Tönnies 1913/1926: 23f) Wie dieser Kampf fortschreitet, beginnt die Toleranz erst in den protestantischen Gebieten und bringt schließlich die rechtliche Emanzipation hervor. Während Simmel den Händler mit dem Fremden gleichsetzt, setzt Tönnies die Fremden mit den Juden gleich; ihr Wesen nämlich verschmilzt mit Handel und Kapitalismus in einem solchen Maß, „dass einige Charakterzüge, die als jüdische angesehen werden, den Handel beschreiben, insbesondere das Geld- und Bankwesen, obgleich diese oft durch jüdische Eigenschaften noch intensiviert werden. Auf der anderen Seite wird ihre Fremdheit gegenüber dem Gastvolk erhalten oder verstärkt je mehr im modernen Leben sie in großen Zahlen zuammengebracht werden, das heißt, in der Großstadt, und je mehr verbreitet Fremdheit und der Kampf aller gegen alle in der Neuzeit werden.“ (ebd.: 24)
Genauso wie „am deutlichsten im Fall der Juden“, so formieren sich auch andere rassische oder religiöse Fremde ebenfalls gemeinschaftlich, „also als eine Art Verschwörung“, die zur „Rücksichtslosigkeit“ gegenüber anderen tendiert (ebd.: 24). Hier sind die positiven Aspekte des Fremdseins, die wir in Simmels eher optimistischer Analyse fanden, völlig verschwunden. Im Tönniesschen Kulturpessimismus ist der Jude-als-Fremder eine sehr ferne Figur, ist weder durch Freiheit noch durch Objektivität gekennzeichnet. Der Jude stellt hier den modernen Händler/Fremden dar, und soweit er im Zentrum des Kapitalismus steht, fördert er den Krieg aller gegen alle. Wir sehen also, dass im Gegensatz zu Simmels Fremdem/Juden, der immer auch ein involviertes Mitglied der Gruppe bleibt, der Fremde/Jude bei Tönnies, wie auch bei Sombart und Weber, aus eigenem freien Willen segregiert ist: sein Verhalten gegenüber seinem Gastvolk ist berechnend und voller List. Diese Fremden lösen die traditionellen Bande innerhalb der Gemeinschaft des Gastvolks. Weder Tönnies noch die anderen Soziologen mit Ausnahme Webers vermitteln eine Vorstellung von Juden/Fremden als Ethnos, also Vorstellungen ihrer internen sozialen Strukturierung; gemeinschaft-
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liche Strukturen des fremden Ethnos werden bestenfalls auf verschiedene Weise als Verschwörung gedeutet. Der zweite Soziologentag, das Archiv und das Handwörterbuch Es war Tönnies’ Vorschlag, dass der zweite Soziologentag sich mit den „Begriffen von Volk und Nation mit Bezug auf Rasse, Staat und Sprache“ (Lenger 1994: 204) beschäftigen sollte. Das Thema von Rasse und Ethnos blieb also ein zentraler Punkt in den frühen soziologischen Debatten in Deutschland, war aber auch das Resultat verschiedenartiger Interessen und Ideen. Ich stimme Friedrich Lenger, dem Biographen Werner Sombarts, zu, dass in diesen frühen Debatten das Thema der Rasse und der ethno-nationalen Beziehungen dazu benutzt wurde, um marxistische Ansätze an die Seite zu drängen. Anti-marxistische Strömungen wurden bereits offenkundig, als Alfred Ploetz gleich zu Anfang seines Vortrags auf dem ersten Soziologentag die Frage der Arbeiterklasse unter dem Gesichtspunkt der Rassenhygiene abhandelte und davon sprach, die Medizin, die Hygiene und die Sozialgesetzgebung verbreiterten zunehmend ihre Aktivitäten „auf einen immer steigenden Teil besonders unserer schwächeren Volksgenossen“ (Verhandlungen I: 112). Dadurch würde die hier inhärente „ethische Idee der Nächstenliebe“ (ebd.: 112) die „schädlichen Folgen einer fortgesetzten erhöhten Erhaltungsmöglichkeit schwach veranlagter Individuen“ verursachen (ebd.: 113), dass sogar die Industrialisierung selbst, wie man in England schon längst beobachtet habe, die Rasse schädigen könnte (ebd.: 116). Dieses offenkundige Ablenkungsmanöver, das die Klassenfrage durch die Rassenfrage und die Frage der Nation ersetzte, wurde nun durch Sombart auf dem Zweiten Soziologentag unverblümt ausgesprochen: „Aber wir wollen doch nicht das große augenblickliche Verdienst der Rassentheorie unterschätzen, dass sie uns von der Alleinherrschaft der materialistischen Geschichtsauffassung befreit, uns endlich wieder einen neuen Gesichtspunkt gegeben hat.“ (Verhandlungen II: 186)
Wie sich herausstellte, fanden sich auf dem Zweiten Soziologentag überhaupt keine marxistisch-orientierten Beiträge; dies hatte gewiss auch damit zu tun, dass, die austro-marxistische Schule ausgenommen, die Mehrzahl der marxistisch orientierten Gelehrten die Frage der ethno-nationalen Identitäten umging. Es ist meine These, dass eine zweite heikle Frage, oft untergründig und über Umwege, in diesen Vorkriegsdebatten der Soziologie doch eine Rolle spielte, und gerade auch, als die Planungen für den zweiten Soziologentag anliefen. Diese zweite Frage wird von Sombart klar ausgesprochen:
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„wie sollten wir sonst eine Position finden in Bezug auf das was heute die wichtigste Nationalitätenfrage überhaupt ist, nämlich die jüdische? Wir würden die Frage umgehen, wenn wir in der Diskussion nicht in irgendeiner Form die Frage angingen, die für Millionen von Juden eine brennende Frage ist: sind wir ein Volk, sind wir eine Nation – und haben wir das Recht, als solche zu handeln?“ (Sombart in Lenger 1994: 204)
Sombart, und im Übrigen auch Max Weber, hatten erkannt, dass die jüdische Frage ein wichtiges Thema war, das von den Soziologen angegangen werden musste. Trotz alledem widersetzte sich Ferdinand Tönnies dem Gedanken, das Thema für den zweiten Soziologentag aufzunehmen, und Georg Simmel wollte mit den Fragen von Rasse, Volk und Nation überhaupt nichts zu tun haben, weil „wir Themen wählen sollten, wo die dilettantischen Schwätzer den Mund halten müssen“. (ebd.) Möglich ist es, dass Simmel selbst Sorge hatte, in die jüdische Frage und anti-jüdische Debatten hineingezogen zu werden, wobei er möglicherweise mit seiner jüdischen Herkunft, zu der er insgesamt negativ stand,7 hätte konfrontiert werden können. Diese Vermutung bietet sich an, wenn wir uns etwa Sombarts ad hominem und gegen Franz Oppenheimer gerichtete Spitzen ansehen; Oppenheimer war auch einer der schärfsten Kritiker der Rassentheorie. So attackierte anfangs der Diskussion zum zweiten deutschen Soziologentag Sombart Franz Oppenheimer mit den folgenden Worten: „Und wenn er so verbittert die Rassentheorie bekämpft, sollte er nicht selbst ein Interessierter sein?“ (Verhandlungen II: 185).8 Diese Bemerkungen im soziologischen Establishment der Zeit werfen
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Siehe hierzu Bodemann (1998: 138) Doch sollte der gesamte Kontext ins Auge gefasst werden. Dieser Kommentar wurde hervorgerufen durch Oppenheimers polemische Darstellung, in der er versuchte, deutsche und jüdische Positionen voneinander abzugrenzen. Oppenheimer machte sich lustig über die „Germanomanie“, einem Begriff, von dem er dachte, er hätte ihn erfunden, bis er entdeckte, dass der deutsch-jüdische Schriftsteller Saul Ascher ihn bereits im Jahre 1815 benutzt hatte (Verhandlungen II: 100). Sich auf H.S. Chamberlains Theorie unterschiedlicher Gehirnstrukturen, plis de la pensée, von Juden und Deutschen beziehend, und den wissenschaftlich unhaltbaren Theorien, bemerkte Oppenheimer in seinem Vortrag, „Zum Glück für mich finde ich, dass die ernste Kritik mit… staunenswerter Einhelligkeit zu demselben Ergebnis gelangt, dass die „Grundlagen“ [Chamberlains] wissenschaftlich vollkommen wertlos sind. Sonst würde ich mir die Frage vorlegen müssen, ob nicht meine spezifische Hirnanlage mich dauernd verhindere, die plis de la pensée des reinen Germanen zu begreifen. Glücklicherweise bestätigt mir das gleichlautende Urteil meiner arischen Mitkritiker, dass es doch nur eine Logik in der Welt gibt, die auch „allmenschlich“ ist wie Hunger und Liebe.“ (ebd.: 119) Darüberhinaus verwarf Oppenheimer in seinem Vortrag am Soziologentag ohne Umschweife Sombarts Idee der Rassenreinheit der alten Israeliten.
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jedenfalls ein aufschlussreiches Bild auf den damaligen Stand deutsch-jüdischer Beziehungen in der Soziologie. Doch die jüdische Frage, die Frage um die jüdische Nationalität, ganz zu schweigen von der Frage des Antisemitismus in Deutschland, wurde auf den Soziologentagen vor dem Ersten Weltkrieg nie thematisiert, jedenfalls wenn wir eine kurze Bemerkung Webers ausnehmen, mit der er in einem Satz knapp darauf einging, ob die Juden als Nation gelten könnten (ebd.: 49). Ähnliches gilt für Tönnies’ erwähnten Zwischenruf zu Ploetz’ Vortrag bezüglich Moses Mendelssohn. Was nun wurde dann auf dem zweiten Soziologentag tatsächlich debattiert? Die Vorträge versuchten eine systematische Diskussion der Begriffe Volk und Nation, und anschließend an eine allgemeine einführende Rede von Alfred Weber zum soziologischen Kulturbegriff befasste sich Paul Barth mit der Frage der „Nationalität in ihrer soziologischen Bedeutung“; Ferdinand Schmid sprach über „Das Recht der Nationalitäten“, Ludo Moritz Hartmann über „Die Nation als politischer Faktor“, Franz Oppenheimer über die „rassentheoretische Geschichtsphilosophie“ und Robert Michels schließlich über „die historische Entwicklung des Vaterlandsgedankens“. Das Resultat zeichnete sich durch die Schwäche und Lustlosigkeit der Beiträge aus. Barths Papier war eine trockene Diskussion der Nation, die aus seiner Sicht durch die Geschichte hinweg eine Konstante geblieben war, von der Antike bis heute, und die er sodann dem universalistischen Menscheitsgedanken gegenüberstellte. Mit einer Fülle von Zitaten von Plato, Kant und Fichte schloss Barth, dass die Zuneigung zum eigenen Volk emotional bereichernd sei. Die Debatte zu diesem Papier war entsprechend dünn, mit pflichttreuen, doch kritischen Kommentaren von Tönnies und Weber. Der zweite Vortrag über Nationalitäten und Recht, noch dünner, erbrachte überhaupt keinen Kommentar, und die insgesamt matte Diskussion fand Ludo Moritz Hartmanns Definition der Nation als Kulturgemeinschaft problematisch. Max Weber etwa stellte die Frage, wieviel Kulturgemeinschaft es denn gäbe zwischen der „Aristokratie und dem Proletariat eines Landes“ (ebd.: 72); er bestand überdies auf dem Statut der DGS zur Wertfreiheit, denn sonst führe dies zu einem „allgemeinen Chaos gegenseitiger nationaler Rekriminationen“ (ebd.: 75). Hartmanns Papier, das in Richtung der austro-marxistischen Schule tendierte, evozierte ein etwas höheres Interesse, obgleich Weber sich mit Hartmanns mystischen Begriffen unveränderlicher ethnogeographischer Grenzen zwischen germanischen, französischen und slavischen Kulturen in Europa nicht abfinden wollte. Mit Otto Bauer argumentierte Hartmann, dass der intensive Kontakt zwischen ethnischen Gruppen zur Assimiliation führen würde. Nur mit Oppenheimers beißender Attacke gegen die Rassentheorie hätte die Versammlung etwas
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aufregender werden können, denn er versagte rundweg der Rassentheorie einen wissenschaftlichen Wert, was wiederum, wie erwähnt, Sombart aufs Parkett rief, doch selbst Max Weber sah sich verpflichtet, Distanz zu Oppenheimer zu bewahren, indem er meinte, es gäbe möglicherweise einen Kausalnexus zwischen Rasse und künstlerischem Ausdruck (ebd.: 189). Selbst Robert Michels’ gelehrter, enzyklopädischer Überblick über die Idee des Patriotismus brachte keine nennenswerte Reaktion, und wenige neue Ideen wurden aus der Diskussion hervorgebracht. Es war insbesondere bemerkenswert, dass trotz Michels’ enzyklopädischer Reise durch die europäischen Patriotismen der jüdische Patriotismus, die Zionistische Bewegung oder die hier sehr zentralen Schriften von Moses Hess nicht einmal Erwähnung fanden. Man gewinnt insgesamt also den Eindruck, dass die Debatte zu Nation, Ethnos und Rasse die Idee des Soziologentriumvirats Weber, Tönnies und Sombart war und nur noch das Thema Rasse für das Gros der Soziologen von Interesse schien. Dies trotz der virulenten Nationalismen überall in Europa in der Zeit, und gerade eben zwei Jahre vor Kriegsausbruch. Es ist weiterhin bemerkenswert, dass der zweite Soziologentag dem Vorschlag Sombarts nicht gefolgt war, sich die Rolle der jüdischen Minorität in Deutschland oder anderweitig in Europa anzusehen – tatsächlich eine der akuten ethno-nationalen Fragen bereits in der Vorkriegszeit. Auf den späteren Soziologentagen – der dritte wurde nach einer langen kriegsbedingten Unterbrechung im Jahre 1922 abgehalten, rückten Fragen der ethno-nationalen Solidarität weiter in den Hintergrund der deutschen soziologischen Debatten. Die Themen, die nun diskutiert wurden, waren die Revolution (1922), Wissenssoziologie, Sozialwissenschaften und Sozialpolitik (1924), Demokratie, Naturrecht und soziologische Methoden (1926). Im Jahre 1928, auf dem sechsten Soziologentag und in einem Panel über Migration brachte nicht einmal Oppenheimer, sonst noch am ehesten geneigt, ethno-nationale Themen zur Sprache. Schließlich, auf dem letzten Soziologentag vor dem Zweiten Weltkrieg im Jahre 1930 und mit dem und unter den Vorzeichen des ansteigenden Faschismus und Antisemitismus, wurde nun tatsächlich wieder ein ethnonationales Thema auf die Tagesordnung gesetzt, nämlich das der „deutschen Stämme“ wie die Bayern oder die Sachsen. Dieses Panel versank in rassischgermanischen Diskursen und schloss natürlich die Diskussion nicht-deutscher Minoritäten aus. Die Indifferenz gegenüber Fragen der Nationalität, ethnischen Minoritäten und des Anderen, Fremden spiegelt sich auch beispielsweise im Inhaltsverzeichnis des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik wider, unter der Herausgeberschaft von Deutschlands prominentesten Soziologen, Weber, Sombart und später Tönnies. In den Jahren zwischen 1910 und 1933 befasste sich nur eine
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sehr kleine Zahl von Aufsätzen mit Fragen zu Nation, Rasse und Volk. Zwei von diesen, Berichte über die anti-jüdischen Pogrome und über den jüdischen Bund wurden kommentarlos anonym im „Archiv“ veröffentlicht (Anonym 1923). Wie wurde diese Thematik schließlich im Handwörterbuch der Soziologie (Vierkandt 1931) angegangen – das Kompendium soziologischen Wissens vor dem Nazismus überhaupt? Als systematische Übersicht geht das Handwörterbuch diese Fragen gewiss in bestimmtem Maße an: Robert Michels zum Patriotismus, Friedrich Hertz – dazu kritisch – über Rassentheorie und Waldemar Mitscherlich über Volk und Nation. Die Stichwörter von Ferdinand Tönnies zu Gemeinschaft und Gesellschaft, von Sombart über „Grundformen menschlichen Zusammenlebens“ und von Franz Oppenheimer über Macht befassen sich mit diesen Themen ebenfalls, zumindest en passant. Es ist freilich bezeichnend, dass Mitscherlich als ziemlich unbekannte Größe den in dieser Frage wichtigsten Artikel über „Volk und Nation“ schreiben sollte, und dass weder er noch die anderen die Frage ethno-nationaler Minoritäten angesprochen hätten, von den Juden als Schlüsselminorität in Deutschland ganz zu schweigen. Nur Goetz Briefs erwähnte in seinem Beitrag über das Proletariat die Bildung der Arbeiterklasse aus der Land-Stadt-Wanderung und aus der ethnisch heterogenen Migration heraus. Es ist wiederum nur Sombart, der diese Fragen geradeheraus in seinem Beitrag über die „Grundformen menschlichen Zusammenlebens“ anspricht. Sombart spricht hier vom Begriff vom „Volk [als] eine Gruppe neben der Nation, und unterschieden von dieser, wenn auch u.U. in ihr erhalten“ (Vierkandt 1931: 229). Sombart unterscheidet „statistische Gruppen“ d. h. „Vielheiten von Menschen, die bestimmte ethnische Merkmale, wie namentlich Abstammung, Sprache, Überlieferung, Kulturgüter gemeinsam haben“ ohne sich dessen bewusst zu sein, wohingegen „selbständige und zwar intentionale Verbände“ sich ihrer gemeinsamen Merkmale bewusst werden. Volk wird heideggerianisch auf Grund gemeinsamer Herkunft, Nation auf Grund gemeinsamer „Hinkunft“ definiert. Die Juden seien demnach „zweifellos in ihrer Gesamtheit auf der Erde ein Volk als statistische Gruppe, die Orthodoxen und die nicht organisierten Zionisten bilden als Volk einen ,intentionalen‘, die organisierten Zionisten… einen ,finalen‘ (Zweck-) Verband und die palästinensischen Juden ein Staatsvolk“.9 Die Anomalie für Sombart sind hier ethno-nationale Gruppen, die sich ihrer Identität bewusst sind, ohne den Willen zu haben, eine Nation zu werden. Ein Beispiel dafür seien die Deutschen in Brasilien, ein anderes die Franco-Kanadier, die sagten, „Vive le drapeau anglais et la langue française“. Diese Anomalie, die 9
Sombart handelt dies ähnlich und zum Teil wörtlich wiederholend ab in seinem „Deutschen Sozialismus“. Die Unterscheidung von Volk und Nation war freilich in den Diskussionen der Zeit weit verbreitet. Siehe hierzu Stoelting (1986: 348), und Michels (1913).
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Sombart interessanterweise freilich nicht zu Hause in Deutschland zu erkennen scheint, lässt sich nicht weiter analysieren, sondern es ist „Das berüchtigte Minoritätenproblem!“ (ebd.: 229). Wir können also zusammenfassend sagen, dass ethno-nationale Probleme nur in geringem Maße in der klassischen deutschen Soziologie behandelt wurden, insbesondere im Vergleich zur frühen amerikanischen Soziologie. Die wenigen Beiträge hierzu können angesehen werden als die Antwort der Soziologie einerseits auf die Rassentheorie (Weber), oder um die Rassentheorie in die Soziologie zu integrieren (Sombart). Rassentheorien wiederum wurden aufgenommen um der massiven, vor allem außeruniversitären Invasion des Marxismus zu begegnen, und die Sozialisten, mit begrenzter Ausnahme der Austromarxisten, waren obsessiv internationalistisch beschäftigt und vermochten nicht, die Bedeutung ethno-nationaler Identitäten zu würdigen. Die Soziologie war so theoretisch völlig unvorbereitet auf die nationale Raserei, die mit Beginn des Ersten Weltkrieges losbrach, und für den zunehmenden Antisemitismus und die Entwicklung des Faschismus gegen Ende des Krieges. Werner Sombart und der jüdische Geist Trotz alledem lässt sich argumentieren, dass in dieser frühen deutschen Soziologie fünf Beiträge zur ethno-nationalen Frage herausragen. Diese sind Sombarts Schriften zur Rolle der Juden im Wirtschaftsleben (1911), Webers Antikes Judentum und seine anderen Schriften zu ethno-nationalen Solidaritäten (1921/1988), Franz Oppenheimers Theorie ethnischer Herrschaftssysteme und Staatsstrukturen (1907), Michels Schriften über Patriotismus (1913) und Carl Schmitts Abhandlungen über das Freund-Feind Verhältnis und den nationalen Mythos (1932/1963). Im Folgenden werde ich nun Sombarts Beitrag untersuchen, der gleichzeitig der erste wichtige Beitrag der klassischen deutschen Soziologie zu den Juden ist, und ich werde fragen, in welcher Weise dieser noch heute für uns brauchbar ist.10 Im Wesentlichen waren Sombarts Arbeiten zu den Juden, ursprünglich offenbar gedacht als ein Kapitel in Sombarts Werk zum modernen Kapitalismus, eine Antwort auf Max Webers Schriften über die Protestantische Ethik. Wie Sombart hierzu in seiner Einführung zu „Die Juden und das Wirtschaftsleben“11 schreibt: 10 11
Eine umfassende Untersuchung über Sombarts Werk liefert die vorzügliche Biographie von Lenger (1994). Bereits 1913 von M. Epstein ins Englische übersetzt unter dem freilich ungenauen Titel „The Jews and Modern Capitalism“ (1913/1951).
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„Ich bin ganz durch Zufall auf das Judenproblem gestoßen, als ich darauf aus war, meinen ,Modernen Kapitalismus’ von Grund aus neu zu bearbeiten. … Max Webers Untersuchungen über die Zusammenhänge zwischen Puritanismus und Kapitalismus mussten mich notwendig dazu führen, dem Einflusse der Religion auf das Wirtschaftsleben mehr nachzuspüren, als ich es bisher getan hatte, und dabei kam ich zuerst an das Judenproblem heran. Denn wie eine genaue Prüfung der Weberschen Beweisführung ergab, waren alle diejenigen Bestandteile des puritanischen Dogmas, die mir von wirklicher Bedeutung für die Herausbildung des kapitalistischen Geistes zu sein scheinen, Entlehnungen aus dem Ideenkreise der jüdischen Religion.“ (Sombart 1911: v)
Hier ist nicht der Ort, uns mit allen Ideen Sombarts zu der Rolle der Juden im Wirtschaftsleben zu befassen. Sombart fand, dass die Juden im Wesentlichen verantwortlich waren für Entstehen und Wachstum des Kapitalismus und für ökonomisches Wachstum im Allgemeinen: „Und wir erstaunen, dass man bisher nicht wenigstens die äußere Parallelität zwischen den örtlichen Bewegungen des jüdischen Volkes und den ökonomischen Schicksalen der verschiedenen Völker und Städte wahrgenommen hat. Wie die Sonne geht Israel über Europa: wo es hinkommt, sprießt neues Leben empor, von wo es wegzieht, da modert alles, was bisher geblüht hatte.“ (ebd.: 15)
In den ersten Abschnitten seines „Judenbuches“ malt Sombart ein Porträt der Juden von der Zeit Spaniens vor der Inquisition bis zu den Niederlanden; er nimmt uns dann mit zu den Juden Brasiliens, denen der Vereinigten Staaten und von dort zurück in das moderne Westeuropa. Im zweiten Teil erörtert Sombart die Bedeutung der jüdischen Religion für den Kapitalismus. Im dritten Abschnitt befasst er sich mit der Entstehung des „jüdischen Wesens“ – dem Problem der Rasse und der „anthropologischen Eigenart der Juden“: der Bildung des jüdischen Volkes aus unterschiedlichen rassischen Elementen in der Antike und der Erhaltung ihrer „Blutreinheit“ in der späteren Geschichte;12 schließlich kehrt er nach Deutschland und in die „moderne Metropole“ zurück, die er als Erfüllung jüdischer Existenz sieht. Im Gesamten dieses Werkes und seiner anderen Schriften sieht Sombart die Juden aus der Starre und der Leere der Wüste hervortreten: als die Macht kalter Rationalität, Zielstrebigkeit, des (nomadischen) Wanderns und der Anpassbarkeit. Die Juden stehen somit im deutlichen Kontrast zur my12
Dies findet sich sehr ähnlich noch zwei Jahrzehnte später, als „unerlässlichen“ Abschnitt, in Arthur Ruppins „Soziologie der Juden“ (1911); beide stützen sich hierbei auf den Rassenkundler Felix von Luschan. Auch Max Weber ging von der ethnischen Heterogenität des antiken Judentums aus (hierzu Bodemann 1993), erklärte diese jedoch nicht in rassischer, sondern in ethnischer Nomenklatur und vor allem auf Grund der Arbeiten von Wellhausen und Eduard Meyer.
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stischen deutschen Seele, in die Natur eingebettet, vor allem im Wald und auf „dampfender Erde“ wandelnd. So dient bei Sombart das in Simmels Terminologie nahe Fremde als ein Mittel, das Deutsche zu definieren. Die Juden sind also die Ikone der Fremdheit bei Sombart, und trotz aller ihrer Parallelen zu Simmel unterscheiden sich die Vorstellungen der beiden deutlich.13 Sombarts Juden sind nicht nur die ewigen Fremden; sie erzeugen selbst Fremdheit und Anonymität. Vor allem anderen sind sie die Komponente, die die moderne Gesellschaft hervorgebracht hat: die Gesellschaft der Fremden, wie sie sich in all jenem wiederfindet, das der deutschen Gemeinschaftlichkeit gegenübersteht, nämlich Amerika und die moderne Stadt. Eine Reihe von Charaktermerkmalen sind dafür verantwortlich; das Hauptmerkmal ist freilich die mutmaßliche jüdische Praxis des Wuchers, der unterscheidet zwischen den eigenen und der anderen. Auf Grund dieser Praxis und verschiedener anderer – unpersönlicher – Neuerungen nahmen die Juden nicht nur eine besondere Rolle ein in der Schaffung des Kapitalismus, sondern sie erzeugten auch den unpersönlichen Charakter der modernen Gesellschaft. Während die europäischen Nationen und vor allem Deutschland viel von seiner gemeinschaftlichen Mentalität aufrecht erhielt, fehlt den USA, einer zum Teil durch Juden hervorgebrachten Gesellschaft, dieser Geist der Tradition und der Gemeinschaft völlig; es ist deshalb „in allen seinen Teilen ein Judenland“. (ebd.: 31) „Was wir Amerikanismus nennen, ist zu einem Großteil nichts anderes als geronnener jüdischer Geist“ (ebd.: 44). Dies ist insbesondere so auf Grund des Siedlungsprozesses in den Vereinigten Staaten, meint Sombart in einer Wendung, die stark an Simmels „Supernumerarius“ erinnert: „… ein Trupp kernfester Männer und Frauen – sage zwanzig Familien – zog in die Wildnis hinein, um hier ihr Leben neu zu begründen. Unter diesen zwanzig Familien waren neunzehn mit Pflug und Sense ausgerüstet und gewillt, die Wälder zu roden, die Steppe abzubrennen und mit ihrer Hände Arbeit sich ihren Unterhalt durch Bebauung des Landes zu verdienen. Die zwanzigste Familie aber machte einen Laden auf, um rasch die Genossen auf dem Weg des Handels… mit den notwendigsten 13
In Simmels Sichtweise und im Gegensatz zu Sombart sind Juden nicht inhärent Fremde und ihre Fremdheit ist lediglich durch ihre strukturelle historisch kontextualisierte Position erklärbar. In einem glänzenden Passus seiner Philosophie des Geldes, der den Exkurs über den Fremden vorwegnahm, schrieb Simmel freilich in tendenziell essentialistischer Richtung inhärenter jüdischer Charakterzüge. So setzt Simmel die „besondere Eignung und das Interesse der Juden für das Geldwesen“ in Beziehung zu ihrer „monotheistischen Schulung… ein Volksnaturell, seit Jahrtausenden daran gewöhnt, zu einem einheitlichen höchsten Wesen aufzublicken“ (1900/1989: 305). Darüberhinaus muss „Der tiefe Zug jüdischer Geistigkeit: sich viel mehr in logisch-formalen Kombinationen als in inhaltlich-schöpferischer Produktion zu bewegen, … mit dieser wirtschaftsgeschichtlichen Situation in Wechselwirkung stehen.“ (ebd.: 287)
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Gebrauchsgegenständen, die der Boden nicht hervorbrachte, zu versehen… Sehr häufig gliederte sich an den ,Laden’, den sie offen hielt, eine Art von Landleihbank an. Oft wohl auch eine Landverkaufsagentur und ähnliche Gebilde. Der Bauer in Nordamerika wurde also durch die Wirksamkeit unserer zwanzigsten Familie von vornherein mit der Geld- und Kreditwirtschaft der Alten Welt in Fühlung gebracht. … jene ersten Zellen kommerzialistischen Wesens wuchsen sich alsobald zu alles umspannenden Organisationen aus. Und von wem ist… von wem ist diese ,Neue Welt’ kapitalistischen Gepräges erbaut worden? Von der zwanzigsten Familie in jedem Dorf. Nicht nötig zu sagen, dass diese zwanzigste Familie jedesmal die jüdische Familie war, die sich einem Siedlertrupp anschloss oder ihn bald nach seiner Niederlassung aufsuchte.“ (1911: 44-5)
Sombarts jüdische Stereotypisierungen hatten also zweifellos einen rassistischen Einschlag, obgleich er viele jüdische Charakteristiken auch aus dem Milieu heraus zu erklären versucht. Er bemühte sich zu zeigen, dass Juden über zweitausend Jahre kaum Mischehen eingingen, dass Juden die Reinheit ihrer ethnisch/rassischen Erbmasse erhalten hätten. Er hoffte darüber hinaus, dass die neuere Entwicklung der Mischehen gestoppt werden könne, und die [rassische] Trennung bestehen bliebe. Seine stärkste Befürwortung für eine getrennte (und ungleiche) Stellung der Juden in Deutschland findet sich in seinem Pamphlet „Die Zukunft der Juden“ (1912), das von den deutschen Zionisten sehr positiv bewertet und später durch Ben-Gurion ins Hebräische übersetzt wurde. Hier bestand Sombart nochmals auf der „rassischen“ Trennung der Juden von den Deutschen, er unterstützte das zionistische Ziel der Ansiedlung in Palästina und warb für eine individualisierte jüdische Präsenz in Deutschland anstelle eines kollektiven jüdischen Ethnos. Eine der vielen Parallelen zu Gobineau und anderen Rassentheoretikern wie Ploetz war Sombarts These, dass Rassenmischung zu einer Schwächung der darin involvierten Menschen führen würde (Mosse 1978: 79). In Sombarts erwähntem Pamphlet „Die Zukunft der Juden“ (1912) liest sich dies wie folgt: „…ich glaube freilich, dass wir dem Zufall (oder der Vorsehung) Dank schulden für die nicht allzu karge Zuteilung jüdischer Elemente zu dem schon recht bunten Gemisch, das ,wir Deutschen’ darstellen. Zumal dort, wo wir am reinsten germanisch sind, ist das Stück Orient, das mit den Juden in unsere graue Nordlandswelt hineinragt, ein wahres Labnis. Denn wir möchten an lauter Blondheit sonst am Ende zugrunde gehen. Rein körperlich betrachtet: welche Buntheit bringt der dunkle orientalische Typ in unsere nordische Umgebung! Wie sollten wir die rassigen Judiths und Mirjams missen wollen. Freilich: sie müssen rassig sein und bleiben wollen. Den schwarz-blonden Mischmasch wollen wir nicht. Und auf geistigem Gebiet ist’s nicht anders… Das lebhafte Temperament, die anregende Betriebsamkeit, die große
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Beweglichkeit ihres Geistes: all dessen bedürfen wir für unsere Kultur… wie das Mehl des Sauerteigs, wenn es Brot werden will.“ (Sombart 1912: 71-2)
Keineswegs freilich sollte die Rassentrennung, ganz im Sinne der damaligen sozialhygienischen Theorien, auch eine gesellschaftliche Absonderung, sondern lediglich die Zerstreuung der Juden sein – ganz im Sinne seiner impliziten Klage, dass die Juden sich selbst von ihrer Umwelt absonderten: „Eins möchte ich wünschen: dass die Juden, die bei uns leben, besser, das heißt gleichmäßiger, über das Land und über die verschiedenen Kulturgebiete verteilt wären, als sie es jetzt an vielen Stellen sind. Wir würden ihrer gewiss noch mehr froh werden, wenn sie sich nicht an einzelnen Punkten zu großen Klumpen zusammenballten und uns dann etwas den Atem nähmen. Aber diesen Mangel wird die Zeit vielleicht heilen.“ (ebd.: 72)
Juden und Deutsche müssten deshalb getrennt bleiben, doch die Präsenz einer begrenzten Anzahl von Juden, ähnlich wie im Falle der Besiedlung Amerikas, wäre für Deutschland von großem Vorteil. Trotz dieser offenkundigen rassistischen Ideen leugnete Sombart heftigst, dass seine Vorstellungen rassistisch seien; Diese Art des Vorurteils war freilich auch ganz ähnlich unter zeitgenössischen jüdischen Autoren zu finden, wie etwa bei Artur Ruppin, auf den sich Sombart wiederholt und in lobender Weise bezog.14 „Semit“ war für ihn andererseits ein „rein linguistischer Begriff“. In großen Teilen seines Werkes und besonders in den späteren Jahren und der Zeit des Nationalsozialismus fand Sombart jüdischen Geist auch durchaus außerhalb jüdischer Körper. Dies drückt sich bereits in seinen Ansichten über England aus. Sombarts Charakterisierung Englands in seinem Kriegsbuch „Händler und Helden“ (1915) muss zumindest in großen Teilen als untergründige Repräsentation seiner Ideen über den jüdischen Geist gesehen werden, ein Geist, der sich von den Juden abgelöst hat und ohnehin – seine Antwort auf Max Weber – dem Puritanismus innewohnt: Der händlerische Geist orientiert sich an nüchternem Profit und praktischen Zwecken, er ist flach und sucht Kompromisse, mit einer Neigung zu körperlichem Behagen und materiellem Wohlsein. Von diesem Geist erfüllt, betreiben die Engländer Wuchergeschäfte und Gaunerei, sind „toll nach Geld“ (Sombart 1915: 12-13) und fördern die Kommerzialisierung und Industrialisierung der Menschheit (ebd.: 21); sie sind feige und kämpfen nicht (ebd.: 39); sie „streuen den Samen der Zwietracht unter den Feinden aus“ (ebd.: 32) und sie nehmen nicht am Leben in seiner Gänze teil, sondern sind spezialisiert.
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Siehe etwa Sombart 1911: 353f. und 1912: 10.
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Die Ideale der Französischen Revolution, denen auch sie huldigen, sind „Händlerideale“ mit denen sich „das Gesindel der Caféhausliteraten“ identifiziert (ebd.: 109); deutsche Menschen müssen herangebildet werden, die in der „Welt der Ideale“ mehr zu Hause sind als in den „Gassen der großen Stadt“ (ebd.: 123), die charakterisiert ist durch „Snobismus, Ausländerei, Blasiertheit und kaltes Können“ (ed.: 125) und englischem „Dünkel“ (ebd.: 13). Gegen diese kalte neue Welt, eine Welt des sinnlosen Fortschritts, steht nun das Heldentum des deutschen Volkes, wobei die jüdische Auserwähltheit des biblischen Israel auf das heutige Deutschland projiziert wird: „Das auserwählte Volk dieser Jahrhunderte ist das deutsche Volk“ das auf Grund seiner „ungeheuren geistigen Überlegenheit“ von den anderen Völkern mit Hass verfolgt wird (ebd.: 142): „So wurden die Juden im Altertum gehasst, weil sie die Statthalter Gottes auf Erden waren, solange nur sie die abstrakte Gottesidee in ihren Geist aufgenommen hatten. Und sie gingen erhobenen Hauptes, mit einem verächtlichen Lächeln auf den Lippen, durch das Völkergewimmel ihrer Zeit, auf das sie von ihrer stolzen Höhe geringschätzig herabsahen.“ (ebd.: 143)
Ein starker Sieg sei in diesem Krieg notwendig, damit das „Sittlichgroße doch auf dieser Erde noch eine Wohnstatt habe“ (ebd.: 131), und zwar in einem Deutschland, das recht antiquierte Züge trägt: „Ein starker Sieg verschafft uns aber auch erst die Möglichkeit, uns um die, die um uns herum sind, nicht weiter kümmern zu müssen. Wenn der Deutsche dasteht, gestützt auf sein riesiges Schwert, stahlgepanzert von der Sohle bis zum Haupte, dann mag da unten um seine Füße herumtanzen was will, da mögen sie ihn beschimpfen und mit Schmutz bewerfen…“ (ebd.: 131)
Als Modell stehen für diese Ästhetik die „Griechenjünglinge“, und es gilt, dass die deutsche Nation darauf bedacht sein muss, „den Körper zu stählen und alle Körperkräfte harmonisch zu entwickeln, damit wir ein Geschlecht kühner, breitbrüstiger, helläugiger Menschen heranwachsen sehen. Denn die braucht das Vaterland. Breithüftige Frauen, um tüchtige Krieger zu gebären, starkknochige, sehnige, andauernde, mutige Männer, damit sie tauglich zu Kriegern seien.“ (ebd.: 121)
In seinem „Deutscher Sozialismus“, 1934 veröffentlicht und in vielem eine – nun zweifellos antisemitische – Anbiederung an die Nationalsozialisten, verwarf er dennoch explizit biologistisch-rassische Vorstellungen. „Wissenschaftlich erweisbar“, meint Sombart, sei weder, dass in einer bestimmten Rasse nur ein
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Geist wohnen könne, noch, dass ein „bestimmter Geist nur in einer Rasse Wurzel schlagen“ könne. „Der deutsche Geist in einem Neger liegt ebenso sehr im Bereiche der Möglichkeit wie der Negergeist in einem Deutschen.“ (Sombart 1934: 191) Der „jüdische Geist“ hatte also längst seinen Körper verlassen, und Sombart schrieb hierzu die folgenden ominösen Worte: „Nun ist aber eine andere Feststellung noch wichtiger: das ist die, dass der jüdische Geist keineswegs an die Person des Juden gebunden ist, dass er vielmehr weiter bestehen kann, wenn auch der letzte Jude und Judenstämmling vernichtet worden wäre…“ (ebd.: 194)
Schließlich, obgleich Sombart zwar viel zu sagen hatte über die jüdische Kollektivseele, besteht hier praktisch kein mit Inhalten gefüllter soziologischer Begriff von den Juden als Ethnos, d. h. als korporative Gruppe, die durch innere normative/institutionelle Strukturen konjugiert wäre. Zwar ist richtig, dass Sombart keine jüdische Ethik postuliert, die unsichtbar von einer Generation zur anderen übertragen würde: er akzeptiert tatsächlich die wichtige Rolle von Rabbinern und religiöser Unterweisung – aber er sieht die ethnische Gemeinschaftlichkeit nicht: ethnische Führung, innere Kontrollmechanismen, Traditionen und Gedächtnis. Juden sind für Sombart instinktuelle Nomaden und nur das zionistische Projekt verspricht, sie in normale, gesunde Menschen zu verwandeln. So wie Sombart beeinflusst war durch Simmels „Philosophie des Geldes“, so gab Sombarts Werk zweifellos auch einen wichtigen Anstoß zu Webers „Antikem Judentum“, trotz seiner ganz anderen Vorgehensweise. Die Idee eines jüdischen Ethos – das heißt, Ethik und Mentalität als inhärentes Merkmal eines Volkes und die Vorstellung von der Unveränderlichkeit des jüdischen Charakters, insbesondere in seinen negativen Zügen wie auch, schließlich, das Herunterspielen der Unterdrückung und das Beharren darauf, dass das Ghetto nicht von Außen, sondern von Innen her errichtet wurde, dies hatten Sombarts und Webers Vorstellungen gemeinsam. Doch war es der bedeutende Unterschied zu Sombart und das große Verdienst Webers, jüdische Charakterzüge nicht in einer vorgestellten nomadischen Vergangenheit und in der Wüste gesucht zu haben, sondern in Institutionen und Eliten, die nicht nur eine jüdische Ethik hervorgebracht, sondern Juden auch als Volk geschaffen haben. Schließlich ist es meine These, dass wo die jüdische Problematik auch die soziologische Bühne betrat, es nicht erstrangig darum ging, die Juden, jüdische Kultur und soziale Strukturen zu verstehen. Es ging vielmehr um das Eigene und das Fremde, um die Unterscheidung der deutschen Nation; um dies zu bewerkstelligen, wurden die Juden zur Ikone des Fremden/Anderen an sich gemacht.
Islam, Gender und Integration von Immigranten: Grenzziehungen in den Diskursen über Ehrenmorde in den Niederlanden und Deutschland Anna Korteweg und Gökce Yurdakul
In Deutschland und den Niederlanden wurde im Jahr 2005 die Frage familiärer Gewalt bei muslimischen Immigranten, darunter besonders die Ehrenmorde, verstärkt Gegenstand der öffentlichen Diskussion. In den Niederlanden entzündeten sich diese Debatten an der Ermordung Theo van Goghs, in dessen Film ‚Submission’ Gewalt gegen Frauen in muslimischen Gesellschaften kritisiert wird. Nach seiner Ermordung kam es zu einer Überschneidung zwischen der bereits laufenden politischen Diskussion zum Auftreten häuslicher Gewalt in den Niederlanden und der Diskussion über die Position von Muslimen in der niederländischen Gesellschaft. Nachdem in Berlin die 23-jährige Hatun Sürücü an einer Bushaltestelle von ihrem Bruder brutal ermordet wurde, entstanden in Deutschland ähnliche Fragestellungen, die sich auf das Problem der Ehrenmorde konzentrierten (Ewing 2008). In diesem Artikel soll die Ehrenmord-Diskussion in den Zeitungen als Feld betrachtet werden, an dem in den Niederlanden wie auch in Deutschland Grenzen zwischen Immigranten und der Mehrheitsgesellschaft gezogen werden. Diese Grenzen führen zu einer Stimmung des ‚sie sind nicht wie wir, weil...’, oder dem Eindruck eines ‚wir’ gegenüber ‚den anderen’, wobei gleichzeitig die soziale oder kulturelle Distanz zwischen Immigranten und der Mehrheitsgesellschaft abgebildet wird (Alba 2005: 22/23; Zolberg/Woon 1999: 8). Ob die Grenzziehungen dabei ‚klar’ sind, oder ob Grenzen verblassen, bringt Implikationen für die möglichen Formen der Integration von Immigranten mit sich. Klare Grenzen Eine frühere Version dieser Arbeit wurde vorgestellt beim „Seventh Mediterranean Social and Political Research Meeting“ in Florenz und Montecatini Terme vom 22.-26. März 2006, organisiert vom „Mediterranean Programme of the Robert Schuman Centre for Advanced Studies at the European University Institute“ sowie bei der „European Studies Conference“ in Chicago im März 2006. Wir danken Stefano Allievi, Martin van Bruinessen, Randall Hansen, Marcel Maussen, Ruud Peters, Elisabeth Beck-Gernsheim, Bob Brym, Y. Michal Bodemann, Jim Davis, Adam Green, Linn Clark und Nadine Blumer für ihr Feedback.
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bedeuten implizit, dass die entsprechende Gesellschaft um eine deutliche‚ Unterscheidung zwischen ,Dazugehörigen’ und ,Außenseitern’ herum strukturiert ist, so dass einzelne Angehörige von (nicht aber vollständige) Minoritätengruppen nur in die Mehrheitsgesellschaft überwechseln können, wenn sie ihre Gruppenidentität teilweise aufgeben und einige der Praktiken der Mehrheitsgesellschaft übernehmen (Alba 2005; Zolberg/Woon 1999: 8). Ein Verblassen der Grenzziehung hingegen impliziert Toleranz gegenüber einer Vielzahl von Unterschieden sowie gegenüber einer mehrfachen Mitgliedschaft in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, so dass eine Migrantengruppe beispielsweise als muslimisch und niederländisch gelten kann. Ein Verblassen ansonsten klarer Grenzziehungen führt zu einer Veränderung der dominanten Wahrnehmung von Immigranten als drastisch unterschiedlich im Vergleich zur Mehrheitsgesellschaft (Alba 2005). In der Literatur werden Grenzen als kulturell (Zolberg/Woon 1999) oder ethnisch bedingt betrachtet, was teilweise auf den von Weber formulierten ,subjektiven Glauben an eine gemeinsame Abstammung’ (in Alba 2005: 22/23) zurück geht. Die Analyse von Grenzen erfolgt in den unterschiedlichen Domänen von Sprache, Religion, Staatszugehörigkeit (citizenship) und ethnischer Zugehörigkeit, wobei aufgezeigt wird, wie kollektive Identitäten und angenommene Unterschiede durch verschiedene Institutionen geformt werden. Dieser Artikel konzentriert sich auf eine solche Institution, nämlich die der Medien. In der vorliegenden Analyse werden Grenzen als kulturell bedingt betrachtet, wobei der Kulturbegriff dahingehend definiert sei, dass Kultur die ebenso sinnstiftende wie gemeinschaftliche Grundlage für den Ausdruck der Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Gruppen darstellt. Die Grenzen zwischen Muslimen und den Mehrheitsgesellschaften in europäischen Einwanderungsländern sind in der Regel klar gezogen (Alba 2005; Zolberg/Woon 1999). Eine Analyse des Phänomens der Ehrenmorde, das im medialen Diskurs als extremes Beispiel für die Unterschiede zwischen Muslimen und der Mehrheitsgesellschaft behandelt wird, ermöglicht aufzuzeigen a) welche kulturellen Elemente im Prozess der Grenzziehung mobilisiert werden, b) dass solche Grenzen verblassen können und c) welche Implikationen dieser Prozesse für die Integration von Immigranten hat. In diesem Fall werden kulturelle Unterschiede augenscheinlich mit Verweis auf Ethnizität, Ursprungsland, Religion und Gender getroffen, wodurch eine Intersektionsanalyse erforderlich scheint, um illustrieren zu können, wie diese Elemente bei der klaren Grenzziehung oder beim Verblassen von Grenzen zusammen wirken.
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Erweiterung der Theorien zur Grenzziehung Die gesteigerte Aufmerksamkeit für Grenzziehungen zwischen Immigranten und den Mehrheitsgesellschaften entstammt einem neuerlichen Interesse am Konzept der Assimilation (Alba/Nee 1997, 2003; Brubaker 2001; deWind/Kasinitz 1997; Joppke/Morawska 2003). Gegenwärtig integrieren sich viele Immigranten letztlich in die aufnehmende Gesellschaft und behalten lediglich einige Aspekte ihrer (Gruppen-) Identität bei. Durch diese empirische Realität kam es in der Definition des Assimilationsbegriffes zu einer Verschiebung weg von der traditionellen Annahme, ja sogar dem normativen Ziel einer vollständigen Absorption in der Mehrheitsgesellschaft, hin zu einer Definition, nach der die Assimilation erreicht ist, wenn (wahrgenommene) Unterschiede sich nicht mehr auf die Möglichkeiten der Lebensgestaltung auswirken (Alba/Nee 2003; Alba 2005; siehe auch Brubaker 2001). In Theorien zur Entstehung von Grenzen werden verschiedene Integrationsoder Assimilationsverläufe mit drei unterschiedlichen Verhandlungsmustern zwischen Neuankömmlingen und Gastgebern in Verbindung gebracht: Überschreiten, Verblassen und Verschieben von Grenzen (Alba 2005; Alba/Nee 2003; Bauböck 1994; Zolberg/Long 1999: 8). Das Überschreiten sowie das Verblassen von Grenzen sind hier von besonderer Bedeutung. Das Überschreiten von Grenzen fällt mit dem Konzept von klaren Grenzen zusammen – nur Individuen können solche Grenzen überschreiten, und dieses Überschreiten umfasst die Annahme bestimmter Attribute, Praktiken oder Werte der Mehrheitsgesellschaft (Alba 2005; Alba/Nee 2003; Zolberg/Long 1999 ). Darüber hinaus wirkt sich dieses Überschreiten nicht auf die Grenze selbst aus, eher wird die Existenz einer solchen Grenze dadurch bestätigt. Im Extremfall ist bei klaren Grenzziehungen eine Einbindung von Gruppen mit entsprechenden Identitätsmerkmalen nicht möglich, und eine Assimilation wäre in einem solchen Fall mit der Aufgabe wichtiger Aspekte der Immigrantenkultur verbunden. Ein Indikator für das Verblassen von Grenzen ist hingegen die Möglichkeit für Immigranten, als Gruppe in die Mehrheitsbevölkerung einzutreten, ohne spezifische Aspekte ihrer Identität aufgeben zu müssen. Gleichzeitig erfolgt dabei eine Veränderung der rechtlichen, sozialen und kulturellen Institutionen der Mehrheitsgesellschaft, so dass eine mehrfache Mitgliedschaft sowie die Partizipation von Immigranten ermöglicht wird (Zolberg/Woon 1999: 8). Grenzen besitzen starke kulturelle Komponenten, und tatsächlich ist es der Bereich der Kultur, der hier relevant ist (siehe auch Alba/Nee 2003; Lamont/Molnar 2002). In der Grenztheorie bezieht sich der Begriff ,Kultur’ dabei auf alles von landestypischer Küche und bestimmten Freizeitaktivitäten (Alba/Nee 2003) bis hin zu ,grundlegenden Vorstellungen und Auffassungen zur
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Existenz’ (Zolberg/Woon 1999: 8). In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff verwendet, um eine sinnstiftende und gemeinschaftliche Grundlage zu beschreiben, einschließlich der zugeschriebenen Normen, Werte und Traditionen einer wahrgenommenen Gruppe. Im europäischen Kontext trägt das vorherrschende Verständnis des Islam zur Ziehung einer klaren Grenze zwischen muslimischen Immigranten und der Mehrheitsgesellschaft bei (Alba 2005; Zolberg/Woon 1999). Und doch ist es häufig nicht der Islam im Allgemeinen, sondern die ihm zugeschriebene Geschlechterungleichheit, die die Grundlage für diese Grenzziehung bildet (siehe Norris/Inglehart 2002; Razack 2004). Deshalb wird an dieser Stelle dahin gehend argumentiert, dass es zu ergründen gilt, welche Bedeutungsquellen in Prozessen der Grenzziehung mobilisiert werden. Um die Verknüpfungen zwischen den kulturellen Elementen zu verstehen, die bei dieser Grenzziehung eine Rolle spielen, findet hier die Theorie der Intersektionalität Anwendung. In dieser Theorie werden Kennzeichen für Bedeutung schaffende Unterschiede, wie z. B. Ethnizität, Klasse oder Gender, als sich gegenseitig bedingend verstanden, die Bedeutung einzelner Elemente entsteht mithin durch die Bedeutung der übrigen (Glenn 1999; Yuval-Davis 1997). Nachfolgend wird argumentiert, dass in der Debatte über Ehrenmorde die Faktoren Ethnizität, nationale Herkunft, Religion und Gender die relevanten Unterschiede darstellen, und dass die Art ihrer Überschneidung und der daraus resultierende Ausschluss von Immigranten aus der Mehrheitsgesellschaft unzureichend untersucht ist. Indem diese kulturellen Quellen von Bedeutung und ihre Überschneidungen explizit gemacht werden, wird das Konzept der Grenze auf zweierlei Arten weiter entwickelt. Zum einen werden die interagierenden Auswirkungen von Ethnizität, nationaler Herkunft, Religion und Gender sowie deren kulturelle Dimensionen hinsichtlich des Prozesses der Grenzziehung in den Vordergrund gerückt. Hierbei soll auf die Argumentation früherer Arbeiten aufgebaut werden, nach denen sich Ethnizität und nationale Herkunft dergestalt überschneiden, dass enthnonationale Identitäten entstehen, aber auch Religion und Gender eine vergleichbare Rolle spielen (Brubaker 2004; Fenton/May 2002). Zum anderen erlaubt diese Analyse, einige vorsichtige empirische Schlüsse bezüglich der Art der Integration (oder Assimilation) zu ziehen, die für Immigranten aus vornehmlich muslimischen Ländern in westeuropäischen Ländern möglich ist.
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Integration von Immigranten in den Niederlanden und Deutschland Immigranten aus vornehmlich muslimischen Ländern sind zu Beginn der 1960er Jahre als Gastarbeiter in die Niederlande und nach Deutschland gekommen, und die gegenwärtige Immigration geht hauptsächlich auf Familienzusammenführungen und Heirat zurück. Schätzungsweise machen diese Immigranten aktuell 4,5 % der Gesamtbevölkerung der Niederlande aus. Für Deutschland liegt dieser Wert in Abhängigkeit der verwendeten Quellen zwischen 3,8 % und 4,2 % (Forum 2008). Im Vergleich zur Mehrheitsgesellschaft hat diese Bevölkerungsgruppe sozioökonomischen Aufholbedarf. So waren beispielsweise Immigranten aus nicht-westlichen Staaten zwischen 1996 und 2006 im Vergleich zu einheimischen Niederländern mit einer 3,5 mal so hohen Wahrscheinlichkeit arbeitslos (Jaarrapport Integratie 2007: 139). Im Jahr 2006 belief sich die Arbeitslosenquote unter türkischen Immigranten in Deutschland auf 31,4 %, unter Deutschen lag dieser Wert bei 10 % (Bundesagentur für Arbeit 2007). Geschichtlich betrachtet haben die Niederlande und Deutschland bei der Integration von Immigranten unterschiedliche Wege beschritten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts begegneten die Niederlande konfessionspolitischen Konflikten mit ‚Säulenbildung’, d. h. die institutionalisierte Anerkennung verschiedener Formen des Christentums, indem protestantische und katholische Schulen, politische Parteien und soziale Wohlfahrtsorganisationen gebildet wurden. Die umfängliche Immigration aus muslimischen Ländern veranlasste die niederländische Regierung dazu, eine muslimische ,Säule’ zu errichten, wodurch Immigranten aus vornehmlich muslimischen Ländern durch ihre Religion wie auch durch ihre nationale Herkunft gekennzeichnet wurden (Entzinger 2003; Koopmans et al. 2005). In jüngerer Vergangenheit jedoch erfuhr der niederländische Multikulturalismus eine Herausforderung durch die neue Akzentuierung kultureller Integration in Form von verpflichtenden Sprachkursen und Integrationsprüfungen, an denen selbst lange im Land lebende Immigranten teilnehmen müssen (Entzinger 2003, 2006; Korteweg 2006b). In Deutschland ist der religiöse Diskurs häufig durch Diskussionen über ,kulturelle Kompetenz‘ und nationale Unterschiede zwischen Türken und Deutschen überlagert. Dies entspricht auch dem historischen Verständnis der Staatsbürgerschaft, dem entsprechend die Zugehörigkeit in einer ethnischen Konzeptualisierung der Nationalstaatlichkeit verwurzelt ist (Brubaker 1992; Koopmans et al. 2005). Gleichzeitig entwickelte sich in den 1990er Jahren in Folge der RotGrünen Koalition aus SPD und den Grünen ein stärker multikulturell orientierter Ansatz im Umgang mit der Immigration. Diese unterschiedlichen nationalen Verläufe zeigen, dass Grenzziehungen unterschiedlich erfolgen können; in den
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Niederlanden stand der religiöse Aspekt stärker im Vordergrund, während in Deutschland ein ethnisch basiertes Verständnis vorherrschte. Gewalt gegen Frauen, Ehrenmorde und Grenzziehungen Auch in der Genderdiskussion werden muslimische Immigranten in beiden Ländern als von der Mehrheitsgesellschaft abweichend dargestellt, wobei Gewalt gegen Frauen – in extremster Form als Ehrenmord – als Hindernis zur Integration weiblicher Immigranten in beiden Gesellschaften angeführt wird. In den Niederlanden zeigen Studien auf, dass häusliche Gewalt in Immigrantengemeinschaften noch höher ist als in der einheimischen Bevölkerung (Commissie Blok 2004; Privé Geweld, Publieke Zaak 2002; TransAct 2005). Entsprechend bestätigt auch die jüngere deutsche Forschung, dass Gewalt gegen Frauen in Deutschland zwar ein Problem für die gesamte weibliche Bevölkerung darstellt, weibliche Immigranten, besonders aus der Türkei, allerdings überproportional darunter zu leiden haben (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2004). In der Literatur wie auch in der öffentlichen Diskussion gilt der Ehrenmord als spezifische Reaktion auf den Eindruck, eine Frau oder ein Mädchen hätte die Familienehre beschädigt, für gewöhnlich durch als unangemessen empfundene sexuelle Verhaltensweisen (Mojab 2004; Sev’er/Yurdakul 2001; Van Eck 2003). Männer seien demnach verpflichtet, die Familienehre zu schützen, und Ehrenmorde werden durch einen Familienrat beschlossen. Zahlreiche Wissenschaftler argumentieren, dass Ehrenmorde eher auf patriarchale Strukturen als den Islam zurück zu führen sind (Mojab 2004; Kvinnoforum 2005: 16; Pitt-Rivers 1974). In diesem Kontext stellt das Patriarchat eine auf familiären Banden beruhende Herrschaftsform dar, in der es starke Überschneidungen zwischen Familie und Gesellschaft gibt und eine auf Gender und Alter basierende Hierarchie herrscht (Kandiyoti 1988). Gleichzeitig haben auch gegenwärtige wirtschaftliche und soziale Entwicklungen, einschließlich der Migrationserfahrung, Einfluss auf die vermeintliche Schutzbedürftigkeit weiblicher Ehre (Abu-Lughod 2002; Koac]olu 2004; Maris/Saharso 2001; Warrick 2005). Auf europäischer Ebene lassen sich in den Diskussion über Ehrenmorde verschiedene Standorte ausmachen, an denen unterschiedliche kulturelle Elemente hinsichtlich ihrer Rolle bei der Grenzziehung zwischen Immigranten und der Mehrheitsgesellschaft analysiert werden können. Die Ehrenmorddiskussion ermöglicht das Ziehen klarer Grenzen, da sie einen Rahmen bietet, innerhalb dessen Vorbehalte über muslimische Immigranten geäußert werden können, die in anderen Zusammenhängen als antireligiös, ethnozentrisch oder rassistisch ge-
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wertet werden könnten. Im Gegensatz hierzu könnten Diskussionen, die sich auf Gemeinsamkeiten zwischen Immigranten und Mehrheitsgesellschaften konzentrieren, dazu beitragen, Grenzen aufzuweichen (siehe auch Abu-Lughod 2002; Razack 2004). Methodologie In der vorliegenden Arbeit werden Zeitungsartikel analysiert, in denen Ehrenmorde diskutiert werden. Untersucht werden Nachrichten, Hintergrundberichte und Gastkommentare in je drei Zeitungen aus den Niederlanden und Deutschland. Die Verwendung von Zeitungen erfolgt nicht etwa, weil sie allgemeine öffentliche Diskussionen unmittelbar widerspiegeln, sondern vielmehr, weil sie einen Referenzpunkt für diskursive Strategien darstellen, die eben diese Diskussionen beeinflussen (Gamson/Modigliani 1989). Für jedes der beiden Länder wurden drei landesweit vertriebene seriöse Tageszeitungen ausgewählt, die das politische Spektrum abbilden. Für die Niederlande wurden die Zeitungen De Volkskrant, NRC und Trouw ausgewählt. Im Fall Deutschlands wurden die Tageszeitung [taz], Süddeutsche Zeitung [SZ] sowie die Frankfurter Allgemeine Zeitung [FAZ] gewählt. Die Wahl fiel auf Tageszeitungen gehobenen Standards, weil in diesen Medien Ehrenmorde diskutiert wurden. Die Recherche in Zeitungen mit Boulevardcharakter zeitigte nur sehr geringe Erfolge hinsichtlich einer tiefer gehenden Diskussion (für ähnliche Ergebnisse, siehe Koopmans et al. 2005: 27). Darüber hinaus wird durch eine Auswahl von Zeitungen, die das gesamte politische Spektrum abbilden, sicher gestellt, dass die Schlussfolgerungen aus angestellten Vergleichen nicht auf der politischen Weltsicht einzelner Zeitungen basieren. Die Auswahl der Artikel, in denen Ehrenmorde diskutiert wurden, erfolgte auf der Grundlage einer Suche nach den Begriffen ,Ehre’ oder ,Ehrenmorde’ oder ‚eerwraak’ (wörtlich übersetzt ,Ehrenrache’, ein Begriff der sowohl Ehrenmorde als auch entsprechend motivierte Gewalttaten umfasst) entweder im Titel oder im Text. Aus diesen Artikeln wurden dann diejenigen ausgewählt, die sich mit Ehrenmorden in den Niederlanden oder Deutschland befassen (siehe Tabelle 1).
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Tabelle 1: Verteilung von Artikeln über Ehrenmorde für je drei Zeitungen in den Niederlanden und Deutschland für das Jahr 2005 Niederländische Zeitungen Volkskrant
Deutsche Zeitungen 33
TAZ
36
NRC
30
SZ
17
Trouw
38
FAZ
15
Summe
101
68
In der qualitativen Analyse wurde untersucht, welche zugrunde liegenden Auffassungen über Unterschiedlichkeiten in den vorherrschenden Diskursen über Immigranten in den Berichten über Ehrenmorde mobilisiert werden. In der ersten Einteilung der Zeitungen wurde der Frage nachgegangen, wie Ehrenmorde definiert wurden. Auf der Grundlage der Literatur zur Grenzziehung und der Kategorien, die nach mehreren Durchläufen zur Einteilung deutlich wurden, konnte festgestellt werden, dass ein Diskurs eine klare Grenzziehung verstärkt, wenn Ehrenmorde auf eine Weise dargestellt werden, die Unterschiede zwischen Immigranten und der Mehrheitsgesellschaft in den Vordergrund rückt. Andere Diskurse, die dagegen Ähnlichkeiten zwischen Immigranten und der Mehrheitsgesellschaft betonen, weisen Elemente eines Verblassens von Grenzen auf. In Abhängigkeit von den zum Ausdruck gebrachten Ansichten können einzelne Artikel auch die Merkmale sowohl einer klaren wie auch einer verblassenden Grenzziehung aufweisen. Bei der Vorstellung der Ergebnisse werden Zitate verwendet, die deutlich machen, auf welche Art klare Grenzziehungen etabliert werden, oder in denen ein Verblassen von Grenzen möglich erscheint. Selbst verfasste oder von Dritten verwendete Zitate von Immigranten werden hervorgehoben, weil ihre Positionierung in der Diskussion die Frage, wie Grenzen zwischen Immigranten und der Mehrheitsgesellschaft errichtet werden, in besonderer Weise beleuchten. Grenzziehungen: Ehrenmorde in den Niederlanden Im Fall der Niederlande konnten Hinweise sowohl für klare wie auch für verblassende Grenzziehungen identifiziert werden, obwohl in allen drei Zeitungen die Tendenz zur klaren Grenzziehung dominierte. Artikel, die Elemente
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eines Verblassens von Grenzen enthalten, stellen sowohl in den einzelnen Zeitungen wie auch im untersuchten Gesamtkorpus den kleineren Anteil dar (siehe Tabelle 2).1 In beiden Fällen fanden sich Definitionen des Ehrenmordes als muslimische, aber auch als durch Ethnizität und nationale Herkunft motivierte Praktik und/oder als Form der Gewalt gegen Frauen. Diese Verweise auf Religion, Ethnizität, nationale Herkunft und Gender zeigen jedoch in Abhängigkeit von einer jeweils klaren oder eher verblassenden Grenzziehung verschiedene Grade der Überschneidung und deuten auf unterschiedliche Integrationsverläufe hin. Klare Grenzziehungen In 53 von 86 Artikeln, in denen eine Grenzziehung erfolgte, wurden Ehrenmorde in einer Art diskutiert, die ausschließlich auf eine klare Grenze hinauslief. Zwei einflussreiche niederländische Frauen mit muslimischem Hintergrund, die Autorin, Kolumnistin und Übersetzerin Nahed Selim, sowie die Autorin und Politikerin Ayaan Hirsi Ali, stellen Beispiele dafür dar, wie solche klaren Grenzziehungen zwischen muslimischen und einheimischen Niederländern im Überschneidungsbereich von Ethnizität, nationaler Herkunft, Religion und Gender gezogen werden. Tabelle 2: Klare und verblassende Grenzziehungen in niederländischen Zeitungen Klar
Verblassend
Beides
Gesamt
Volkskrant
16
8
6
30
NRC
18
3
4
25
Trouw
19
7
5
31
Gesamt
53
18
15
86
Selim, die in den frühen 1980er Jahren aus Ägypten in die Niederlande emigrierte, bezeichnet sich selbst als religiös aber nicht orthodox. Sie beschreibt einen drastischen Unterschied zwischen der muslimischen Gemeinschaft in den Nie1
Einige Artikel, die sich auf faktische Berichterstattung beschränkten, wurden nicht berücksichtigt.
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derlanden und der niederländischen Gesellschaft. Sie bezieht sich dabei auf verschiedene Formen genderbasierter Gewalt, die auch häufig in den Zeitungsartikeln als Beweis für diesen Unterschied angeführt werden: „Der größte Teil muslimischer Jugendlicher in den Niederlanden erhält von ihren analphabetischen, ungebildeten Eltern eine traditionelle Form der Bildung, in der die schlechtesten Eigenschaften des Islam (Diskriminierung von Frauen, Homosexuellen, Atheisten und Juden) mit den Traditionen der unterdrückten und unterentwickelten Herkunftsregionen (Zwangsheiraten, Misshandlung von Frauen und Kindern, Beschneidungen, Ehrenmorde usw.) zusammen kommen. Die zweite und dritte Generation von Muslimen betrachten diese Mischung aus Religion und Tradition der Herkunftsländer ihrer Eltern – in denen sie natürlich nie leben wollen würden – als ihre Identität, als etwas, das über den westlichen Normen und Werten steht. Die niederländische Gesellschaft ermutigt die Entstehung dieser ,eigenen Identität’, indem sie die Entstehung von Moscheen, islamischen Stiftungen, Organisationen und Schulen unterstützt und subventioniert – und damit letztlich eine AntiIntegrationspolitik schafft.“ (Trouw, 19. Februar 2005)
Selim schreibt Geschlechterungleichheiten dem Islam zu, genderbasierte Gewalt der nationalen Herkunft oder Ethnizität und verwendet Ehrenmorde beispielhaft für die spezifische Form von Gewalt gegen Frauen. Dem entsprechend dient die Überschneidung von Ethnizität, nationaler Herkunft, Religion und Gender der Abgrenzung von Muslimen gegenüber der niederländischen Gesellschaft und ihren „westlichen Normen und Werten“. Anschließend argumentiert Selim, dass sich die niederländische Gesellschaft zum Komplizen dieser Segregation macht, weil die Art, wie diese besondere Mischung aus Ethnizität, nationaler Herkunft, Religion und Gender die Identität von Muslimen formt, durch multikulturelle Politikformen verstärkt würde (siehe auch Okin 1999). Während Selim den Ursprung von Ehrenmorden in der Tradition verortet und die Geschlechterungleichheit im Islam verwurzelt sieht, stellt Ayaan Hirsi Ali sowohl für Ehrenmorde als auch für die Geschlechterungleichheit eine Verbindung zum Islam her: „Ehrenmorde sind Teil eines größeren Ganzen. Das hat etwas mit der Sexualmoral im Islam zu tun, dem Bedürfnis, die weibliche Sexualität zu kontrollieren. ... Eine Frau, die sich nicht den Regeln beugt, darf [aus der Gemeinschaft] ausgestoßen, geschlagen, ermordet werden.“ (Volkskrant, 2. Februar 2005)
In diesem Interview wiederholt Hirsi Ali ihren Vorschlag, Ehrenmorde als terroristische Akte einzustufen und an Stelle von Einzeltätern ganze Familien zur
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Rechenschaft zu ziehen. Sie verknüpft dies mit ihrer Ablehnung von islamischen Schulen, durch die „...wir Scharen von Kindern erziehen, die zwar hier geboren sind, die aber ein Verständnis von Beziehungen zwischen Männern und Frauen in ihren Köpfen haben, das wir in den Niederlanden nicht gutheißen.“ (Volkskrant, 2. Februar 2005)
Für Hirsi Ali sind Ehrenmorde ein Anzeichen dafür, dass die Beziehung zwischen Islam und der Geschlechterungleichheit es für orthodoxe Muslime unmöglich macht, sich in die niederländische Gesellschaft zu integrieren. Diese muslimischen Werte stehen den Werten diametral entgegen, die „wir in den Niederlanden“ teilen, ein „wir“, zu dem sich auch Hirsi Ali zählt.2 Solche Analysen der Verknüpfung zwischen Ehrenmorden als Form der Gewalt gegen Frauen und dem Islam ermöglichen rechtsgerichteten Politikern wie Marco Pastors von „Leefbaar Rotterdam“ (Lebenswertes Rotterdam)3, zu argumentieren, dass hinsichtlich der Integration von Muslimen in die niederländische Gesellschaft der „Wandel nicht von beiden Seiten kommen muss“ (NRC, 19. Februar 2005, Hervorhebung hinzugefügt). Statt dessen sollten Muslime die Werte der niederländischen Gesellschaft annehmen, und diese basieren laut Pastors auf „Jüdisch-Christlichen humanistischen Normen und Werten . ... das ist, wer wir sind.“ (ebd.) In solchen Äußerungen besitzt der Islam wenige positive Attribute, und Menschen mit einer Bindung an traditionelle Formen des Islams werden als deutlich abweichend zur niederländischen Gesellschaft dargestellt, besonders hinsichtlich ihrer Religion und deren Auswirkungen auf das Geschlechterverhältnis. Diese Auswirkungen scheinen darüber hinaus durch „traditionelle“ Praktiken verstärkt zu werden, die der nationalen Herkunft und Ethnizität zugeordnet werden. Durch solche Diskurse wird eine Trennlinie zwischen Immigranten und der Mehrheitsgesellschaft festgeschrieben, die überschritten werden, nicht aber verblassen kann.
2
3
Ihre Zugehörigkeit in diesem „wir“ stellte sich als äußerst fragil heraus. Im Frühjahr 2006 wurde Hirsi Ali beschuldigt, in ihrem Antrag auf Anerkennung als Flüchtling falsche Angaben gemacht zu haben und die niederländische Staatsbürgerschaft wurde ihr (zeitweilig) entzogen. Sie gab ihren Sitz im Parlament auf und zog in die Vereinigten Staaten, um für das American Enterprise Institute zu arbeiten. Im Jahr 2005 war Leefbaar Rotterdam die stärkste Partei in der städtischen Regierung von Rotterdam: mit 13 von 45 Sitzen stellte die Partei 3 der 7 Mitglieder des regierenden Stadtrates (www.rotterdam.nl).
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Elemente des Verblassens von Grenzen In 18 von 86 Artikeln wurde der Eindruck vermittelt, dass die zuvor beschriebenen klaren Grenzen auch verblassen könnten (weitere 15 Artikel enthalten Elemente, die sowohl auf klare wie auch auf verblassende Grenzziehungen hinweisen, siehe Tabelle 2). In einer Reihe dieser Artikel wird die Frage der feministischen Organisation unter säkularen und religiösen Frauen mit muslimischem Hintergrund in den Niederlanden diskutiert. Dabei werden Immigrantinnen nicht als Opfer ihrer Religion, Ethnizität oder nationalen Herkunft dargestellt, sondern als Personen, die volle Mitgliedschaft in ihren Immigrantengemeinschaften beanspruchen und gleichzeitig Praktiken innerhalb der Gruppen hinterfragen. So beschreibt beispielsweise die Kolumnistin Nazmiye Oral, deren Eltern noch vor ihrer Geburt aus der Türkei in die Niederlande einwanderten, in einer ihrer Kolumnen ihre Teilnahme an einer Versammlung, auf der eine gemischte Gruppe von Frauen türkischer Herkunft das Phänomen der Ehrenmorde diskutierte. „Der Raum war voll von Mädchen und Frauen, mit und ohne Kopftuch, die alle das selbe Anliegen hatten: ,Die Gewalt gegen uns Frauen muss ein Ende haben’“ (Volkskrant, 21. Juni 2005). Auf der Grundlage der nachfolgenden Diskussion argumentiert Oral: „Die große Mehrheit der Türken muss nicht davon überzeugt werden, dass Mord keine Lösung zur Rettung der Familienehre ist. ... [aber] es gibt keine Antwort auf die Frage, die bestehen bleibt: was ist die Definition von ‚namus’ (Ehre)? Die Frau spielt hierbei eine wichtige Rolle. Sie muss den Mann von der schweren Verantwortung entbinden, der Hüter ihrer Ehre zu sein, indem sie diese Verantwortung wieder selbst übernimmt.“ (Volkskrant, 21. Juni 2005)
Während Oral anerkennt, dass der Ehrenmord eine schwere Form der Gewalt gegen Frauen darstellt, positioniert sie die Frauen in der weiteren türkischen Gemeinschaft aber als fähig, dieses Problem anzusprechen. Hierdurch wird das Bild der Immigrantin oder der muslimischen Frau als rettungsbedürftiges Opfer unterminiert, ein Bild, das eine klare Grenzziehung zwischen Immigranten und der Mehrheitsgesellschaft verschärft (siehe auch Abu-Lughod 2002; Ahmed 1992). Oral macht deutlich, dass unterschiedlich stark religiöse Frauen (von denen einige ein Kopftuch trugen), die anhand ihrer nationalen Herkunft auch als Türkinnen identifiziert werden können, es nicht akzeptieren, dass Gewalt gegen Frauen inhärenter Bestandteil ihrer Religion oder nationalen Herkunft sein soll. Oral argumentiert darüber hinaus, dass Normen und Werte, die angeblich nur auf der niederländischen Seite der Kluft zwischen Immigranten und der niederländischen Gesellschaft zu finden seien, schon längst von beiden Seiten ge-
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teilt werden: „Freiheit und das Recht auf Selbstbestimmung entsprechen einem universellen menschlichen Bedürfnis, das von niemandem vereinnahmt werden kann. Es ist kein westliches Bedürfnis. Es ist ein menschliches.“ (Volkskrant, 21. Juni 2005). Diskussionen dieser Art stellen Ressourcen dar, mit deren Hilfe die vorherrschende Wahrnehmung von Immigranten, besonders aber von Immigrantinnen, verändert werden kann und stellen damit ein Schlüsselelement für ein Verblassen von Grenzziehungen dar. Zunächst einmal zeigt Oral die Möglichkeit auf, Mitglied in mehreren Gemeinschaften sein zu können. Zweitens wird den Immigrantinnen durch den Verweis auf universelle Menschenrechte eine Position eingeräumt, die deutlich macht, dass sie sich in einigen, aber längst nicht allen Aspekten von den übrigen Frauen in der niederländischen Gesellschaft unterscheiden, wodurch rein auf Religion oder Nationalität basierende Identitäten transzendiert werden. Dies ist jedoch nur die eine Seite der Geschichte. Oral argumentiert, dass die Frage der Gewalt gegen Frauen in der Türkei in einem „organischen“ Prozess behandelt wird, wo es seit 2004 dramatische rechtliche Änderungen hinsichtlich der Ehrenmorde gegeben hat. In den Niederlanden sind solche Änderungen „infiziert von der Bezeichnung ,Verwestlichung’. Jedes Stück Freiheit bedeutet ... einen Betrug an den eigenen Traditionen und das Aufgeben der Gruppen- oder Herkunftsidentität“ (Volkskrant, 21. Juni 2005). Hier zeigt Oral auf, wie ein mögliches Verblassen der Grenzziehung durch die bestehenden klaren Grenzen eingeschränkt wird. Die Diskussionen, über die sie berichtet, sind durch negative Darstellungen der Religion (Islam) und der Nationalität (türkisch) belastet, was sich auch in großen Teilen der niederländischen Diskussion über Ehrenmorde wiederfindet und jede Empfehlung von Mitgliedern der türkischen Gemeinschaft hinsichtlich der Änderung ihrer Tradition verdächtig erscheinen lässt. Ein weiterer Hinweis auf ein Verblassen von Grenzziehungen kommt von Geert Mak, einem viel gelesenen Sozialhistoriker. Mak argumentiert, dass es bei der von Hirsi Ali angeregten parlamentarischen Debatte um die Bestätigung der Überlegenheit der niederländischen Normen und Werte geht, während eine wahrhafte Begegnung zwischen den neuen und den alten niederländischen Bürgern vermieden wird. Anders ausgedrückt dienen solche Diskussionen lediglich der Verstärkung bestehender klarer Grenzen. In einer längeren Arbeit zum Stand der Integration in den Niederlanden argumentiert Mak folgendermaßen: „Worte besitzen zwar eine enorme Macht, wie aber ist es um das tätige Handeln bestellt? Es ist auffällig, wie ... doppelzüngig sich diese Regierung äußert. Einerseits klare Worte zu Ehrenmorden, arrangierten Hochzeiten, Gewalt gegen Frauen und anderen mit dem Islam in Verbindung gebrachten Exzessen. Andererseits bietet die aktuelle Politik den (Frauen-)Gruppen, die in diesem Kampf an vorderster Front stehen, wenig bis gar keine Unterstützung.“ (NRC, 14. Mai 2005)
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Mak übt direkte Kritik an der Tatsache, dass Gewalt gegen Frauen als muslimisches Problem dargestellt wird, während einer Reihe von Frauenorganisationen, die mit Frauen marokkanischer oder türkischer Herkunft arbeiten, die finanzielle Unterstützung gekürzt wird. Seiner Sichtweise nach verhindern die in den Niederlanden politisch Verantwortlichen aktiv die Emanzipation von Frauen mit Migrationshintergrund. Seiner Argumentation nach wird hierdurch deutlich, dass diese Debatten dem Zweck dienen, ein „Feindbild“ (ebd.) zu entwerfen, wobei dieser Feind durch muslimische Immigranten verkörpert wird. Solche Aussagen zeigen auf, wie ein Verblassen von Grenzziehungen erreicht werden kann, indem die Notwendigkeit zur Veränderung auf der Grenzseite der Mehrheit herausgestellt wird. Durch die Positionierung von muslimischen Frauen als fähig, die Gewalt gegen Frauen innerhalb ihrer Gemeinschaften anzugehen, wird auch die Verknüpfung der Geschlechterungleichheit mit dem Islam und/oder der nationalen Herkunft aufgebrochen, und die Identität von Immigranten erscheint weniger abweichend. Implizit bedeutet dies, dass eine Integration bei gleichzeitiger Beibehaltung einer (fließenden) kollektiven Identität von Immigranten möglich ist. Aus Tabelle 2 geht jedoch hervor, dass die von Oral und Mak vertretenen Elemente verblassender Grenzziehungen die niederländische Diskussion nicht maßgeblich bestimmen. Grenzziehungen: Ehrenmorde in Deutschland Auch in Deutschland ist die klare Form der Grenzziehung vorherrschend, wenn auch weniger deutlich als in den Niederlanden (siehe Tabelle 3). Dies hängt größtenteils mit der vorwiegend an einem Verblassen der Grenzen orientierten Berichterstattung in der Tageszeitung taz zusammen, die einen links orientierten Diskurs repräsentiert, der durch die Partei „Die Grünen“ und ihre multikulturelle Politik beeinflusst ist. In Tabelle 3 wird jedoch deutlich, dass der bei der taz vorherrschende Ansatz zur Darstellung von Immigranten in anderen Zeitungen nicht vorzufinden ist. Vielmehr enthalten diese einen geringeren Anteil an Elementen, die auf ein Verblassen von Grenzen hindeuten, als vergleichbare Zeitungen aus den Niederlanden. Wie im Fall der Niederlande werden für beide Formen der Grenzziehung die Ethnizität, die nationale Herkunft sowie Religion und Gender in einer Art mobilisiert, die auch auf bestimmte Integrationsverläufe hindeutet.
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Islam, Gender und Integration von Immigranten
Tabelle 3: Klare und verblassende Grenzziehungen in deutschen Zeitungen
1
Klar
Verblassend
Beides
Gesamt
TAZ
5
17
2
24
SZ
12
4
1
17
FAZ
12
2
1
15
Gesamt
29
23
4
56
Klare Grenzziehungen
In 29 von 56 deutschen Zeitungsartikeln erfolgt eine ausschließlich klare Grenzziehung. Im deutschen Kontext wäre zu erwarten, dass klare Grenzziehungen hauptsächlich mit Hilfe von Verweisen auf ethnonationale Herkunft und Traditionen erfolgen, wobei die Ethnizität eher durch die Mitgliedschaft in einer Gruppe bestimmter Nationalität als durch eine religiöse Zugehörigkeit definiert wird (Kastoryano 2002; Koopmans 2005 et al.; Yurdakul 2006a). Tatsächlich argumentiert der FAZ-Autor Mark explizit folgendermaßen: „Nicht einmal den Islam kann man hier, wie sonst oft üblich, verantwortlich machen…es ist tatsächlich die Kultur, die da so mörderisch wirkt.“ (FAZ, 3. März 2005); eine Aussage, der muslimische Geistliche zustimmen (taz, 22. Februar 2005; taz, 11. April 2005). In einem Artikel über Berichte, einige Oberschüler hätten die Ermordung Sürücüs begrüßt, heißt es entsprechend: „Offensichtlich, wenn auch verschämt unausgesprochen, waren die türkisch- oder arabischstämmigen Jugendlichen der Ansicht: die Frau hat sich wie eine Deutsche benommen – selbst schuld. Hatun Sürücü war eine Deutsche und wollte so leben wie eine Deutsche, nämlich emanzipiert, frei, westlich.“ (taz, 22. Februar 2005).
Diese Beschreibung entspricht einer klaren Grenzziehung, da hier die Eigenschaft „türkisch- oder arabischstämmig“ dem „emanzipierten, freien, westlichen“, in einem Wort „deutschen“ Leben Hatun Sürücüs gegenüber gestellt wird. Ein solcher Diskurs beschwört eine klare Unterscheidung zwischen einem deutschen „wir“ und den „anderen“, den Immigranten, herauf. Hier wird deutlich, wie an der Schnittstelle von Ethnizität und Nationalität eine klare Grenze gezogen wird, wobei durch die Bezeichnung Hatun Sürücüs als „deutsche Frau“ noch die Genderdimension hinzu gefügt wird.
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In Zeitungsartikeln, die sich zur Erklärung von Ehrenmorden auf die Ethnonationalität stützen, findet die Religion nur Erwähnung, um sie als Einflussgröße auszuschließen. Andere Artikel beziehen sich dagegen explizit auf den Islam als Hauptursache von Ehrenmorden: „Bei den so genannten Ehrenmorden handelt es sich nicht um individuelle Dramen, sondern um ein soziales Phänomen in modernisierungsdefizitären Gemeinschaften, die überproportional islamisch geprägt sind.“ (taz, 22. Februar 2005). Entgegen der Erwartung der Autorinnen dieser Arbeit wird die Religion hier herangezogen, um Unterschiede zwischen Immigranten und der deutschen Mehrheitsgesellschaft zu erklären. Zitate wie dieses machen deutlich, dass der Islam mit der selben Wirkung wie die Verweise auf die Ethnonationalität zur Schaffung einer klaren Grenzziehung herangezogen wird. Sowohl ethnonationale wie auch religiöse Erklärungen für Gewalt gegen Frauen dienen somit einer Zuspitzung einer scharfen Trennung zwischen Immigranten als Muslimen und einer deutschen Mehrheitsgesellschaft, einer Trennung, die häufig mit Hilfe des Begriffs der „Parallelgesellschaften“ beschrieben wird. Ein Beispiel für die Verknüpfung dieser Unterschiede stammt aus einer Diskussion über den mit Angela Merkel in Verbindung gebrachten Ansatz der großen Koalition zur Integration von Immigranten: „Merkel will trotz eines offenen Dialogs mit dem Islam in Deutschland Parallelgesellschaften nicht dulden. Der Koalitionsvertrag sei zwar mit ,Gemeinsam für Deutschland’ überschrieben worden. Parallelgesellschaften mit grundlegend anderen Werten des Zusammenlebens passten aber nicht in dieses Denken. Zwangsverheiratungen und sogenannte Ehrenmorde würden nicht geduldet. Voraussetzung für Integration sei die Beherrschung der deutschen Sprache, betonte die Kanzlerin. Dem Dialog mit dem Islam komme große Bedeutung zu, Differenzen dürften aber nicht verwischt, sondern müssten eindeutig benannt werden. Deutschland sei ein tolerantes und weltoffenes Land, das zugleich seine Kultur pflege.“ (FAZ, 30. November 2005)
In diesem Zusammenhang wird das Ende von genderbasierten Praktiken wie Zwangsheiraten und Ehrenmorden mit der erfolgreichen Integration von Immigranten verknüpft, die wiederum durch das Erlernen der deutschen Sprache gekennzeichnet ist. Diese Verbindung von genderbasierten Formen der Gewalt, dem Islam und der Integration durch Spracherwerb macht deutlich, wie die klare Grenzziehung zwischen Immigranten und der deutschen Mehrheitsgesellschaft an der Schnittstelle von Ethnizität, nationaler Herkunft, Religion und Gender erfolgt. Die Diskussion des von der neuen Regierung vorgeschlagenen Umgangs mit Immigranten in der FAZ zeigt, wie durch solche Diskurse Integrationsansätze begünstigt werden, bei denen Veränderungen auf Seiten der Immigranten im
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Vordergrund stehen, während das vorherrschende Verständnis der deutschen nationalen Identität und Institutionen unangetastet bleibt. Wie dies im Fall der Niederlande bereits deutlich wurde, wird bei der klaren Grenzziehung in Deutschland häufig von einer homogenen deutschen Kultur ausgegangen, in die sich Immigranten integrieren sollten. Im Rahmen eines solchen Diskurses hängt die Integration von Immigranten letztendlich von ihrer Fähigkeit ab, sich an die angenommenen Werte der Mehrheitsgesellschaft anzupassen. Elemente des Verblassens von Grenzen Wie in den Zeitungsartikeln aus den Niederlanden, lassen sich auch in deutschen Artikeln Elemente des Verblassens von Grenzen ausmachen. Dieser Kategorie entsprechen 23 von 56 Artikeln (17 davon veröffentlicht in der taz), während 4 von 56 Elementen sowohl eine klare Grenzziehung als auch das Verblassen von Grenzen aufweisen (siehe Tabelle 3). Das Verblassen von Grenzen erfolgt zuerst einmal durch den Versuch, türkische Immigrantengemeinschaften alternativ, mithin also abweichend vom durch klare Grenzen gekennzeichneten Diskurs, darzustellen. Als zweites lässt sich dieses Verblassen als Folge von Appellen ausmachen, die sich auf die Menschenrechte beziehen, die als gemeinsame Grundlage vermeintliche Unterschiede zwischen in Deutschland lebenden Türken und der deutschen Mehrheitsgesellschaft bereits überbrücken. Wie im Fall der Niederlande bedeutet dies, dass alternative Verknüpfungen zwischen der Geschlechterungleichheit, dem Islam und der Ethnonationalität artikuliert werden. In den deutschen Zeitungen werden Repräsentanten muslimischer und säkularer türkischer Organisationen so positioniert, dass sie ein Bild von türkischen Immigranten, dem Islam und der Ethnizität entwerfen können, das in einigen wichtigen Aspekten vom Bild der klaren Grenzziehung abweicht. Diese Repräsentanten sind häufig aktive Mitglieder ihrer Gemeinschaften, während sie gleichzeitig Teil der Mehrheitsgesellschaft sind (Yurdakul 2006a). Sie haben die klare Grenze überschritten, ohne dabei ihre ethnische, nationale oder religiöse Anbindung zu verlieren und verkörpern die Möglichkeit einer auf verblassten Grenzziehungen basierenden vielfachen Mitgliedschaft. Darüber hinaus nehmen türkische Frauen bei der Diskussion über Ehrenmorde eine führende Rolle ein, was im Widerspruch zur Wahrnehmung steht, dass es sich bei ihnen um gezwungenermaßen schweigende Opfer handelt. Zusätzlich lässt sich eine Beschreibung gegenwärtiger türkischer Gemeinschaften in Deutschland ausmachen, nach der die türkische Kultur nicht als vollständig aus einem weit entfernten
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Heimatland ‚importiert’ verstanden wird. Vielmehr wird diese Kultur als sich fortwährend entwickelnd gesehen, auch wenn diese Entwicklung nun in einem anderen nationalen Kontext steht (siehe auch Adelson 2005). Dies widerspricht der im Prozess der klaren Grenzziehung vorherrschenden Sicht, die türkische ethnonationale Identität oder der Islam seien mit der Moderne unvereinbar. Seyran Ate steht beispielhaft für diese Entwicklung. Ate nahm an einem vier Parteien umfassenden Interview mit Repräsentanten muslimischer religiöser und säkularer (türkischer) Organisationen teil, auf das im Weiteren noch näher eingegangen wird. Sie ist Anwältin, Mitglied der Partei „Die Grünen“ und Aktivistin in der schwul-lesbischen Bewegung Deutschlands, nimmt aber auch für sich in Anspruch, eine türkische Identität zu besitzen, einschließlich einer gewissen Religiosität (taz, 28. Februar 2005). Hinsichtlich ihrer Darstellung der türkischen Gemeinschaft in Deutschland nimmt Ate eine komplizierte Position ein – einerseits steht sie dem Multikulturalismus der deutschen Linken sehr kritisch gegenüber und äußert dies auch entsprechend: „Mir kommt Multikulti wie organisierte Verantwortungslosigkeit vor.“ (taz, 28. Februar 2005). Ähnlich wie Selim und Hirsi Ali in den Niederlanden, sieht Ate den Multikulturalismus als einen Weg, der in die Segregation führt. Andererseits trägt sie zum Verblassen der durch einen solchen Diskurs entstehenden klaren Grenzziehungen bei. Ate argumentiert: „[D]er hohe Status von Frauen im Islam ist ein Mythos“ (taz, 22. Februar 2005). Aber statt diese Anklage gegen den Islam zu verwenden, um ihn in einer unveränderlichen Tradition zu verorten, sieht Ate eine Veränderung der Genderbeziehungen als etwas, das aus den türkischen Gemeinschaften in Deutschland heraus geschehen kann. Die beiden an dem Interview teilnehmenden Repräsentanten religiöser Organisationen bestätigten, dass sich die Definition des Ehrbegriffs selbst in der Türkei im Wandel befinde, dass dies aber offensichtlich in den türkischen Gemeinschaften in Deutschland nicht der Fall sei. Diese schienen vielmehr in der Diaspora an ihren Traditionen festhalten zu wollen. Hierauf erwidert Ate: „Das steckt seit Jahrzehnten in den Köpfen. Und um das zu ändern, brauchen wir die Unterstützung Ihrer Organisationen. Rechtsanwältinnen und Sozialarbeiterinnen können Feuerwehrfunktionen erfüllen, aber wir müssen einen größeren Entwicklungsprozess in Gang setzen. Dafür brauchen wir Vorbilder. Die Jugendlichen sollten bestimmte Werte nicht von der Mehrheitsgesellschaft auferlegt bekommen, sondern unsere Männer müssen ihnen sagen: Das sind auch unsere Werte! Es geht um die Position der Frau.“ (taz, 22. Februar 2005, eigene Hervorhebung)
Indem sie argumentiert, dass alternative Definitionen des Ehrbegriffs aus den türkischen Gemeinschaften in Deutschland heraus gestärkt werden können, weist Ate den vorherrschenden Diskurs von sich, in dem Gewalt gegen Frauen mit
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den Praktiken einer explizit türkischen, d. h. ethnonationalen Gemeinschaft oder dem Islam verknüpft wird. Ate zeichnet das Bild einer gegenwärtigen türkischen Gemeinschaft in Deutschland, die sich nicht mehrheitsgesellschaftlichen Werten anpassen muss, um sich zu ändern und bietet gleichzeitig Alternativen zu Diskursen, die eine klare Grenzziehung befördern, indem sie die Ethnonationalität und die Religion mit Gewalt gegen Frauen verknüpfen. Ein weiteres Beispiel für alternative Darstellungen sowohl der türkischen Gemeinschaften, als auch des Phänomens der Ehrenmorde finden sich in einem Interview mit Hatice Akyün, einer Journalistin und Autorin eines viel beachteten Buches über türkische Frauen und Mädchen: „Ich leugne das, was in den Medien berichtet wird, nicht. Natürlich gibt es Zwangsverheiratungen, Ehrenmorde und Frauen, die nicht von zu Hause weg dürfen. Aber es ist nur ein kleiner Teil. Dagegen gibt es tausende, tausende türkische Mädchen in diesem Land, die ein ganz normales Leben führen. Ich habe ein Buch geschrieben, das die Normalität einer jungen deutsch-türkischen Frau repräsentiert. Es ist zumindest repräsentativ für viele türkische Frauen, die ich kenne. Der Mord an Hatün Aynur Sürücü in Berlin ist eine Tragödie. Für uns Türken genauso. Im Koran steht nichts von Ehrenmord. Das ist nicht islamisch und es ist auch nicht türkisch. Ist eine Frau, eine deutsche Mutter, die ihr Kind verhungern lässt, typisch deutsch? Nein, sie ist unmenschlich. Die Leute differenzieren hier nicht.“ (taz, 11. Oktober 2005)
Akyün positioniert sich als Mitglied sowohl der türkischen, als auch der deutschen Gemeinschaft und verwendet in ihrer Selbstbeschreibung als deutschtürkische Frau eine mit Bindestrich versehene Identität, um ihre mehrfache Mitgliedschaft aufzuzeigen. Akyün beschreibt darüber hinaus auch eine türkische Immigrantengemeinschaft, in der das weibliche Dasein nicht durch die Gewalt gegen Frauen definiert ist. Gleichzeitig argumentiert sie, dass Problematiken wie die der Ehrenmorde weder für den Islam noch für die türkische Ethnonationalität repräsentativ sind. So fügt Akyün dem öffentlichen Diskurs ein Bild hinzu, das den sonst zur klaren Grenzziehung verwendeten Bildern widerspricht. Während hierdurch an sich noch kein Verblassen der Grenzen erreicht wird, ebnet Akyün doch, ganz wie Ate, neue diskursive Wege hin zu einem solchen Verblassen, indem sie die Geschlechterungleichheit von der ethnonationalen Herkunft und dem Islam abkoppelt. Eine weitere Möglichkeit zum Verblassen von Grenzen ergibt sich, wenn die Problematik der Ehrenmorde aus der Perspektive der Menschenrechte angegangen wird. Safter Ç]nar, ehemaliger Sprecher der Immigrantenorganisation Türkischer Bund Berlin-Brandenburg (TBB), argumentiert, dass religiöse und andere türkische Organisationen sich folgendermaßen äußern sollten:
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„Wir halten Ehrenmorde, Zwangsheirat und die Unterdrückung der Frau für nicht vereinbar mit unserer Religion. Aber die Mehrheitsgesellschaft muss auch endlich aufhören, über deutsche Werte zu diskutieren, an die sich die Ausländer anpassen müssen. Es geht nicht um deutsche oder türkische Werte. Es geht um universelle Menschenrechte.“ (taz, 22. Februar 2005)
Wie in dem Beispiel Nazmiye Orals in den Niederlanden macht auch Ç]nar deutlich, wie durch die Diskurse zur klaren Grenzziehung ein Ansprechen sowohl der Kluft zwischen Immigranten und der Mehrheitsgesellschaft, aber auch spezifischer Problemstellungen wie die der Ehrenmorde erschwert wird. Er appelliert an einen gemeinsamen Glauben an die Menschenrechte, um diese Grenze zu überwinden. Entsprechend argumentiert Eren Ünsal als prominentes weibliches Mitglied des TBB: „Dabei müssen wir weg von der Diskussion über türkische und deutsche Werte. Es geht hier um universelle Menschenrechte“ (taz, 28. Februar 2005). Anstatt Türken in Deutschland als in muslimischen oder anderen Traditionen verfangen zu kategorisieren, argumentieren diese Immigranten, dass es sich bei libertären Werten bereits um gemeinsame Werte handelt. In diesem Zusammenhang werden die Menschenrechte als weder autochthon deutsch (oder westlich) noch als türkisch, sondern vielmehr als universell dargestellt. Ein solcher Rahmen eröffnet einen Ausweg aus der vorherrschenden Dichotomie zwischen deutschen Werten (Geschlechtergleichheit) und türkischen Werten (Familienehre), die eine klare Grenzziehung sonst so stark befördert. Diese alternativen Diskurse haben zwei wichtige Merkmale gemeinsam. Erstens werden sie meist von Deutsch-Türken angestoßen; nur wenige Deutsche entwerfen Rahmenbedingungen, unter denen die Grenzziehung zwischen Immigranten und der Mehrheitsgesellschaft verblassen könnte. Zweitens sind diese alternativen Darstellungen weniger häufig vorzufinden als jene, die zu klaren Grenzziehungen führen und erscheinen deshalb als „schwächere“ Stimmen. Am häufigsten finden sich diese Positionen in der linken Tageszeitung taz. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass diese Diskurse zwar Alternativen zur vorherrschenden Darstellung dessen bieten, was es bedeutet, als Immigrant türkischer Herkunft in Deutschland zu leben, aber auch dass diese Alternativen in deutschen Tageszeitungen, insbesondere in der FAZ wie auch in der SZ, deutlich seltener erscheinen als Darstellungen, die eine klare Grenzziehung befördern. Schluss Diese Ergebnisse verdeutlichen, dass eine Medienanalyse sehr aufschlussreich sein kann für das Verständnis der Rolle von diskursiven Vorgängen bei der Ausformung von Grenzen zwischen Immigranten und der Mehrheitsgesellschaft.
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Sowohl in den Niederlanden wie auch in Deutschland wird durch die Berichterstattung in Zeitungen eine klare Grenzziehung dadurch verstärkt, dass die Diskussion von Ehrenmorden auf der Grundlage von postulierten enormen Unterschieden zwischen Immigranten und der Mehrheitsgesellschaft erfolgte. Hintergrund ist in diesen Fällen die Beschreibung von Ehrenmorden als einer Form von Gewalt gegen Frauen, deren Ursprung im Islam, der Ethnizität oder der nationalen Herkunft liegt. Dabei werden Religion, Ethnizität und nationale Herkunft als homogene, einheitliche und/oder als ahistorische Einflusskräfte beschrieben, die per Definition zu einer Geschlechterungleichheit führen. In einigen Artikeln fanden sich auch mögliche Ansätze zu einem Verblassen der Grenzziehung, indem a) Ehrenmorde als Verletzung der Menschenrechte von Frauen behandelt wurden, die mit anderen Formen der Gewalt gegen Frauen verglichen werden kann; b) bei der Diskussion über Ehrenmorde in Bezug auf Immigrantengemeinschaften und religiöse Praktiken bestehende Unterschiede betont wurden; oder c) aufgezeigt wurde, welche Anstrengungen von Immigranten selbst unternommen werden, um Formen von Gewalt zu begegnen, die auf einen bestimmten Ehrbegriff zurück gehen. Die sich daraus ergebende Analyse verdeutlicht, dass Ethnizität, nationale Herkunft, Religion und Gender eine Schnittmenge bilden, aus der sich die Bedeutung von Gruppenidentitäten für Immigranten ergibt, obschon es bei der Abbildung dieses Sachverhaltes in niederländischen und deutschen Zeitungen bedeutende Unterschiede gibt. In der vorliegenden Arbeit wurde festgestellt, dass in den Niederlanden klare Grenzziehungen dadurch geschaffen werden, dass Gewalt gegen Frauen mit der Religion, d. h. mit dem Islam, in Verbindung gebracht wird. Dies spiegelt wider, wie in den Niederlanden mit den Differenzen zwischen den christlichen Konfessionen durch Institutionalisierung umgegangen wurde, und dass versucht wurde, diesen Rahmen einfach auch auf den Islam anzuwenden. In Deutschland erfolgt in der Diskussion eine Verknüpfung der Ethnizität mit der nationalen Herkunft, um so ethnonationale Unterschiede zu kreieren, welche wiederum abwechselnd mit der Religion zur Erklärung des Phänomens Ehrenmord heran gezogen werden. In früheren Forschungsansätzen wurden bereits Tendenzen ausgemacht, nach denen Gruppenunterschiede eher auf der Grundlage von nationaler Herkunft als der der Religion diskutiert werden. In der vorliegenden Arbeit wird jedoch deutlich, dass die Diskussion von Ehrenmorden in Deutschland gegenwärtig sowohl vor dem Hintergrund religiöser als auch ethnonationaler Unterschiede erfolgt. In beiden Ländern ergeben sich unterschiedliche Überschneidungen dieser kulturellen Elemente in den Diskursen, die auch Möglichkeiten zum Verblassen von Grenzziehungen enthalten. In diesen Diskursen wird die Geschlechtergleichheit als universeller Wert (als Menschenrecht) verortet, der mit dem Islam,
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der Ethnizität und der nationalen Identität vereinbar ist. Trotzdem sind Diskurse, die gezogene Grenzen verblassen lassen könnten, in beiden Ländern eher rar und werden hauptsächlich von Immigranten artikuliert, was auf eingeschränkte Veränderungsprozesse auf Seiten der Mehrheitsgesellschaft schließen lässt. Die Art und Weise, in der diese Grenzziehung erfolgt, hat Konsequenzen auf allgemeinere Prozesse der Assimilation. Das Vorherrschen von klaren Grenzziehungen in beiden Ländern ist ein Indikator dafür, dass die absorbtive Assimilation, die das Aufgeben der eigenen Gruppenidentität und das Übernehmen der mehrheitsgesellschaftlichen Normen und Werte voraussetzt, als Weg zur Integration angesehen wird. Lediglich die Anzeichen eines möglichen Verblassens von Grenzziehungen lassen auch weniger assimiliative Formen der Integration möglich erscheinen. Die vorherrschend klaren Formen der Grenzziehung und die damit einhergehenden Wege zur Integration führen denn auch zu einigen Problemen. Erstens machen es klare Grenzziehungen unmöglich, die Gewalt gegen Frauen in Immigrantengemeinschaften von Innen heraus zu bekämpfen und zu beenden. Ganz besonders, weil eine gegebene Kultur im Lichte der klaren Grenzziehung als unveränderlich erscheint, wonach Veränderungen nur von außen initiiert werden können. Ein Verständnis der verschiedenen kulturellen Elemente als flexibel jedoch hat Menschen durchaus bereits in die Lage versetzt, Lösungen zu entwickeln, für die es nicht nötig war, Frauen aus ihren jeweiligen Gemeinschaften heraus zu lösen (Maris/Saharso 2001; Mojab 2004: 20 /21). Wenn ein entsprechendes Verständnis der Verknüpfung zwischen Ethnizität, Religion, nationaler Herkunft und den Geschlechterbeziehungen weitere Verbreitung fände, könnte dem Problem der Ehrenmorde sehr viel wirksamer begegnet werden. Zweitens birgt der enge Fokus auf den Bereich der Ehrenmorde die Gefahr, das Ausmaß der häuslichen Gewalt als Problem aller Frauen zu verkennen. Das Risiko, auch als Frau ohne Migrationshintergrund Opfer von häuslicher Gewalt zu werden, ist groß genug, um die implizite Annahme zu hinterfragen, dass Immigrantinnen sicherer wären, wenn sie wie niederländische oder deutsche Frauen lebten (siehe auch Bhabha 1999; Narayan 1997). Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die vorliegende Analyse die Theorien zur Grenzziehung erweitert, indem entsprechende Grenzen als Konstrukt im Überschneidungsbereich verschiedener kultureller Ressourcen wie Ethnizität, nationaler Herkunft, Religion und Gender dargestellt werden. Aus dieser Perspektive kann damit begonnen werden, die diskursiven Kräfte zu identifizieren, die den Prozess der Integration von Immigranten im niederländischen wie auch im deutschen Kontext verzögern. In diesem Zusammenhang sprechen sich die Autorinnen für eine weiter gehende Erforschung der Frage aus, wie sich diese Diskurse auf den Integrationsprozess auswirken.
Hinter dem Schleier: Zur sozialen Stellung muslimischer Frauen mit Kopftuch in Frankreich und Deutschland Pascale Fournier und Gökce Yurdakul „In diesem Sinne wird, was die Fixiertheit des Körpers, was seine Konturen und Bewegungen ausmacht, etwas ganz und gar Materielles sein, aber die Materialität wird als Wirkung von Macht, als die produktivste Wirkung von Macht überhaupt, neu gedacht werden.“ Judith Butler, Körper von Gewicht (1997: 22)
Einleitung Trotz einer offiziellen Trennung von Staat und Religion in Frankreich und eines auf der Idee des Volkes basierenden Konzeptes der Nationalstaatlichkeit in Deutschland,1 erscheint es in immer geringer werdendem Maße plausibel, so-
1
Eine frühere Version dieses Artikels wurde präsentiert bei der Internationalen Konferenz ‚Racisms, Sexisms and Contemporary Politics of Belonging der International Sociological Association, Panel VI: Gender and Nation, vom 25.-27. August 2004, in London, GB, wie auch an der Princeton University („Human Rights and Comparative Constitutionalism“, Professor Oliver Gerstenberg, 12. April 2005). Dank der Anmerkungen von Teilnehmenden und Studierenden konnte der Text erheblich verbessert werden. Für ebenso hilf- wie aufschlussreiche Vorschläge danken wir Alia Hogbens vom Canadian Council of Muslim Women, Roderick A. Macdonald, Shauna Van Praagh, Evan Fox-Decent, Mairtin Mac Aodha, Alexandra Popovici, Kirsten Anker, Oliver Gerstenberg, Xavier Milton und Y. Michal Bodemann. Für die kritische Begleitung wie auch für Ratschläge und das uns entgegen gebrachte Vertrauen verdient besonders der Beitrag von Janet Halley dankende Erwähnung. Die deutsche Nationalstaatlichkeit wurzelt im Konzept des Volksgeistes, d. h. der Bevölkerung als einer organischen kulturellen und rassischen Einheit, die durch eine gemeinsame Sprache gekennzeichnet ist (vgl. von Savigny (1975(1831)). Savignys Rechtstheorie war in Teilen gegen die Ideen gerichtet, die in Frankreich nach der Französischen Revolution vorherrschten, und die sich in ganz Europa verbreiteten: dass die Gesetzgebung als Hauptquelle des Rechts anzusehen ist, und dass die Hauptaufgabe des Gesetzgebers darin besteht, die „Rechte des Menschen“ zu schützen. Entgegen diesen Ansichten befand Savigny, dass das Recht ein integraler Bestandteil des gemeinschaftlichen Bewusstseins der Nation und organisch mit dem Geist und der Seele des Volkes verbunden sei.
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wohl die französische als auch die deutsche Gesellschaft als kulturell homogen zu bezeichnen. In beiden Ländern gibt es eine wachsende Zahl an Muslimen 2, die ihrer religiösen Besonderheit Ausdruck verleihen und deren Anerkennung einfordern. Das Übersetzen, Verstehen und Produzieren solcher Ansprüche ist geprägt vom Blick durch die Brille der „Identitätspolitik“, die den diskursiven Rahmen für die Interaktion zwischen dem freiheitlichen Rechtsstaat und den Minoritäten setzt. Dieser Rahmen, so die hier verwendete Argumentation, steht für die hegemonische und unausweichliche Art der Abbildung der Situation von Muslimen im Allgemeinen und besonders von muslimischen Frauen in Frankreich und Deutschland. In diesem Kapitel sollen die Fälle von muslimischen Frauen mit Kopftuch kritisch untersucht werden, die sich dem französischen Gesetzgeber oder einem deutschen Richter gegenüber sehen. Bei der kritischen Reflektion des Wesens der Macht im Rahmen der Produktion von Subjektivität sowie beim Hinterfragen der Beziehung zum sexualisierten/asexualisierten weiblichen Subjekt soll das Hauptaugenmerk darauf liegen, wie rechtliche Regeln in den freiheitlichen Staaten Frankreich und Deutschland dem Versuch Vorschub geleistet haben, den Körper der muslimischen Frau zu disziplinieren, zu bestrafen und zu regulieren, und sie somit zum Subjekt einer angstbehafteten Sexualität gemacht haben. In diesem Kapitel wird auch und vor allem die Möglichkeit zur Untersuchung dessen aufgezeigt, was durch Identitätspolitik für muslimische Frauen geleistet werden kann, speziell im Bezug auf Fragen der Verteilung. Nach der Diskussion des rechtlichen Rahmens in diesen beiden europäischen Ländern soll die Frage behandelt werden, ob die Identitätspolitik durch ihre perfekte Erfassung der vielfachen Bedeutung des Kopftuchs („das Kopftuch als politische Bedrohung“, „das Kopftuch als Symbol der Geschlechterunterdrückung“, „das Kopftuch als religiöses Zeichen“, „das Kopftuch als Form des Terrorismus“) die Verteilungsinteressen einer solchen Darstellung von Identität bis zur Unsichtbarkeit in den Hintergrund gerückt hat („das Kopftuch in Bezug auf sozioökonomische Bedingungen“). Frankreich: Das Kopftuch als Symbol der Geschlechterunterdrückung Das wichtigste Charakteristikum aktueller französischer Politik ist der neorepublikanische Diskurs zur französischen Identität (Leruth 1998), nach dem die 2
Laut Schätzungen aus dem Jahr 2004 leben über fünf Millionen Muslime in Frankreich, was ungefähr 5 % der Bevölkerung entspricht. Dies ist der höchste prozentuale Anteil an Muslimen in einem westeuropäischen Land. Siehe Basdevant-Gaudemet (2004: 62). In Deutschland zählt die muslimische Gemeinschaft mehr als drei Millionen Mitglieder bei einer Gesamtbevölkerungszahl von 82 Millionen. Die Mehrzahl dieser Muslime (89 %) sind türkischen Ursprungs. Siehe Rohe (2004: 83).
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Mitgliedschaft in der nationalen Gemeinschaft auch ein absolutes Bekenntnis zur Republik und ihren innersten Werten der égalité (Gleichheit) und laïcité (der Trennung von Staat und Religion) erfordert. Dieses republikanische Modell wurde im Kontext der französischen Revolution geschmiedet und war die direkte Reaktion auf den historischen Kampf der Franzosen gegen ihre eigene Monarchie, die herrschende Aristokratie und das religiöse Establishment. In Frankreich wird die strikte Trennung von Kirche und Staat explizit durch zwei juristische Dokumente bestätigt. Erstens durch Artikel 1 der Verfassung vom 4. Oktober, 1958, der u.a. besagt: „Frankreich ist eine unteilbare, laizistische, demokratische und soziale Republik.“3 Zweitens durch das Gesetz über die Trennung von Kirche und Staat von 1905,4 das besagt, dass in Frankreich keine Religion öffentlich anerkannt oder direkt finanziell gefördert werden soll. Als Folge hieraus ist es dem französischen Staat auch nicht gestattet, Ausnahmeregelungen oder Sonderstellungen von Immigranten oder nationalen Minoritäten offiziell zu unterstützen.5 Während für die individuelle Integration in den französischen Staat durchaus Strategien entwickelt werden, wird versucht, der Bildung von „Communities“ oder Gemeinschaften von Immigranten entgegenzuwirken (Safran 1991). In diesem Zusammenhang ließ der französische Staatspräsident Jacques Chirac im Juli 2003 eine Untersuchungskommission gründen (la commission Stasi), die erforschen sollte, wie das Prinzip der laïcité im Bildungskontext angewendet werden sollte. Die Stasi Commission veröffentlichte ihren Bericht am 11. Dezember 2003, mit dem Ergebnis, dass eine demonstrative Zurschaustellung religiöser Bezüge die säkularen Regeln des französischen Schulsystems
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5
Constitution du 4 octobre 1958, Article 1: „La France est une République indivisible, laïque, démocratique et sociale. Elle assure l’égalité devant la loi de tous les citoyens sans distinction d’origine, de race ou de religion. Elle respecte toutes les croyances.“ Loi du 9 décembre 1905, Loi concernant la séparation des Eglises et de l’Etat. Wortlaut des Artikel 2: La République ne reconnaît, ne salarie ni ne subventionne aucun culte. En conséquence, à partir du 1er janvier qui suivra la promulgation de la présente loi, seront supprimées des budgets de l’Etat, des départements et des communes, toutes dépenses relatives à l’exercice des cultes. Pourront toutefois être inscrites auxdits budgets les dépenses relatives à des services d’aumônerie et destinées à assurer le libre exercice des cultes dans les établissements publics tels que lycées, collèges, écoles, hospices, asiles et prisons. Les établissements publics du culte sont supprimés, sous réserve des dispositions énoncées à l’article 3. Es gibt jedoch einige Ausnahmen zu dieser Regel. Wie von Basdevant-Gaudemet korrekterweise angemerkt (2004: 59). „Obwohl es keine direkte öffentliche Finanzierung von Religionen gibt, ist es jedoch nicht verboten, kulturelle oder soziale Institutionen religiöser Natur aus der öffentlichen Hand zu subventionieren, und Religionen können auch von anderen Arten indirekter Unterstützung erheblich profitieren, etwa in Form von steuerlicher Absetzbarkeit im Kontext privater konfessioneller Schulen oder anderem.“
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verletzen würde.6 Der Bericht enthielt die Empfehlung, ein Gesetz zu erlassen, nach dem es Schülern untersagt sein sollte, „auffällige“ Anzeichen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion zur Schau zu stellen; eine Regel, die im Besonderen auf wegen ihrer Erkennbarkeit getragene Symbole abstellte. Zu den verbotenen Kleidungsstücken und Gegenständen zählen explizit das Kopftuch muslimischer Mädchen, die Jarmulke jüdischer Jungen, der Turban für junge Sikhs sowie große christliche Kreuze. Unauffällige Glaubensbezeugungen in Form kleiner Kreuze, Davidsterne, oder der Hand der Fatima sollten weiterhin erlaubt bleiben.7 In dem Bericht wurde außerdem noch einmal die Pflicht des französischen Staates betont, muslimische Mädchen vor verschiedenen Formen der Gewalt zu schützen, einschließlich der Genitalverstümmelung und der Polygamie.8 Die Kommission machte klar deutlich, welches die Rolle der öffentlichen Schulen in Frankreich sei, nämlich „Bildung zu vermitteln, ein kritisches Bewusstsein bei Schülern auszubilden, Autonomie und Offenheit gegenüber kultureller Vielfalt sicher zu stellen und die persönliche Entwicklung zu fördern Der Schulbesuch soll Schüler auf ihre berufliche Laufbahn vorbereiten, aber auch darauf, gute Bürger der französischen Republik zu werden.“9 Ein solcher Auftrag setzt dem Bericht zufolge feste gemeinsame Regeln voraus, wie z. B. Geschlechtergleichheit und die Achtung der Säkularität. Unter Einbeziehung aller Empfehlungen der Kommission wurde am 15. März 2004 das Französische Gesetz zur Säkularität und das Tragen auffälliger religiöser Symbole in Schulen verabschiedet.10 In vielerlei Hinsicht wird durch das bestehende Konzept der laïcité die Identität als etwas notwendigerweise „Privates“ gekennzeichnet, wodurch gleichzeitig die Forderung entsteht, der Staat möge die „Neutralität“ der öffentli6 7
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10
Commission de réflexion sur l’application du principe de laïcité dans la République, Rapport au Président de la République, France, December 11, 2003. Commission de réflexion sur l’application du principe de laïcité dans la République, Ibid. Die Übersetzung stammt von den Autorinnen: „Les tenues et signes religieux interdits sont les signes ostensibles, tels que grande croix, voile ou kippa. Ne sont pas regardés comme des signes manifestant une appartenance religieuse les signes discrets que sont par exemple médailles, petites croix, étoiles de David, mains de Fatimah, ou petits Coran.“ Commission de réflexion sur l’application du principe de laïcité dans la République, Supra, note 7, at Par. 3.3.2.1. Commission de réflexion sur l’application du principe de laïcité dans la République, Supra, note 7. Die Übersetzung stammt von den Autorinnen: „La question de la laïcité est réapparue en 1989 là où elle est née au XIXème siècle: à l’école. Sa mission est essentielle dans la République. Elle transmet les connaissances, forme à l’esprit critique, assure l’autonomie, l’ouverture à la diversité des cultures, et l’épanouissement de la personne, la formation des citoyens autant qu’un avenir professionnel. Elle prépare ainsi les citoyens de demain amenés à vivre ensemble au sein de la République.“ L. n_ 2004–228, 15 mars 2004, art. 1er et 3, 15. März 2004.
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chen Sphäre sicher stellen, indem jedwedes Zeichen religiösen Glaubens von vorne herein daraus ausgeschlossen wird. Die Kommission kommt zu folgender Feststellung: „Im Bereich der Bildung stellt das Kopftuch zu oft eine Quelle möglicher Konflikte, Spaltungen und sogar des Leidens dar. Der sichtbare Aspekt eines religiösen Symbols wird von den meisten Menschen als konträr zum eigentlichen Bildungsauftrag wahrgenommen: einen neutralen Raum zu bieten, in dem ein kritisches Bewusstsein wachsen kann. “11 Aber kann Neutralität denn wahrhaft neutral sein? Die Kopftuchdebatte in Frankreich, die sich bei weitem nicht nur um Kleidungsregeln im französischen Bildungswesen dreht, zeugt von der Unmöglichkeit der Neutralität des französischen Staates, wenn dabei so auffallend deutlich wird, welcher verdeckte Auftrag ihr zugrunde liegt, nämlich „braune Frauen vor braunen Männern zu retten.“12 Die Kommission sieht das Kopftuch tatsächlich auch nicht als Kleidungsstück, sondern eher als implizites Zeichen der Unterdrückung muslimischer Frauen durch ihre männlichen Verwandten: „Junge Frauen sind Opfer einer Form des Sexismus, der sich in verschiedenen Arten sozialen Drucks sowie in Form physischer, psychologischer oder verbaler Angriffe manifestiert. Sie sind gezwungen, sich bis zum Grad der Asexualisierung zu verhüllen und müssen in Gegenwart von Männern den Blick senken; wenn sie diese Maßgaben nicht befolgen, werden sie als „Schlampen“ stigmatisiert.“13
Während islamische Normen gleich gesetzt werden mit der genderbasierten Unterdrückung, werden die französischen kulturellen Praktiken als säkulare emanzipatorische Normen angesehen. Verfangen in einer von liberalen Argumenten geprägten Diskussionen über den Zwiespalt zwischen freier Wahl und Zwang, machte die Kommission also das Kopftuch als ultimatives Symbol des Zwanges aus, als ein Symbol, dessen Verwendung der Staat verhindern kann und sollte. Muslimische Frauen, von denen angenommen wird, sie hätten keine ande11
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Commission de réflexion sur l’application du principe de laïcité dans la République, Supra, Anmerkung 7. Die Übersetzung stammt von den Autorinnen: „Pour l’ensemble de la communauté scolaire, le port du voile est trop souvent source de conflits, de divisions et même de souffrances. Le caractère visible d’un signe religieux est ressenti par beaucoup comme contraire à la mission de l’école qui doit être un espace de neutralité et un lieu d’éveil de la conscience critique.“ Dieser Ausdruck wurde von Spivak (1994) entlehnt Commission de réflexion sur l’application du principe de laïcité dans la République, Supra, Anmerkung 7. Die Übersetzung stammt von den Autorinnen: „Les jeunes femmes se retrouvent victimes d’une résurgence du sexisme qui se traduit par diverses pressions et par des violences verbales, psychologiques ou physiques. Des jeunes gens leur imposent de porter des tenues couvrantes et asexuées, de baisser le regard à la vue d’un homme; à défaut de s’y conformer, elles sont stigmatisées comme ‘putes.’“
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re Wahl, als sich in die ideologische Flagge des Patriarchats zu hüllen, die ihnen von ihrer Religionsgemeinschaft aufgezwungen wurde, werden somit als passive Subjekte dargestellt, geschaffen durch ein autoritäres System, auf das sie keinen Einfluss haben. Gewiss ist aber auch die Auffassung einer Repräsentation muslimischer Frauen (wie auch die Rolle der Gesetzgebung sowie ihre Gültigkeit für die ihr unterworfenen) an sich schon eine Repräsentation, die ideologischen Zwecken dient:14 der französischen Assimilation.15 Während klar ist, dass der französische Staat durch den Erlass von Gesetzen gegen das Kopftuch darauf abzielt, „gefügige Subjekte“16 zu produzieren, die die bestehende Republik „anerkennen“ und dem Staat, dem Präsidenten, der Schule, den Lehrern und der unverschleierten Mehrheit gegenüber Gehorsam zeigen, mag man sich fragen, wie effektiv das Kopftuchverbot wohl außerhalb des Rahmens dieser rechtspolitischen Intervention ist. Könnte dieses Verbot womöglich den gegenteiligen Effekt einer Zunahme der Verschleierung nach sich ziehen? Was wäre das Ergebnis einer Kosten-Nutzen-Analyse der Gesetzgebung gegen das Kopftuch? Beim Eintreten für ein diskriminierungsfreies Bildungssystem wird eine Gesetzgebung gegen das Kopftuch sehr wahrscheinlich eben die Form der Diskriminierung, die es zu bekämpfen gilt, erst erschaffen und verstärken. In anderen Worten werden muslimische Frauen indirekt aus dem öffentlichen Schulsystem ausgeschlossen, wodurch ihr Recht auf Bildung beschnitten wird. Dies ist der Schluss, zu dem Human Rights Watch gelangt: „Die Auswirkungen eines Verbots von sichtbaren religiösen Symbolen werden, auch in neutraler Formulierung, überproportional stark muslimische Mädchen treffen, wodurch die Antidiskriminierungsbestimmungen des internationalen Menschenrechts wie auch das Recht auf Gleichberechtigung beim Zugang zu Bildungsmöglichkeiten verletzt werden. Tatsächlich ist die Förderung des Verständnisses und der Toleranz hinsichtlich solcher Werteunterschiede ein Schlüsselaspekt bei der Durchsetzung des Rechts auf Bildung. In der Praxis werden einige muslimische Familien durch ein solches Gesetz gar keine andere Wahl haben, als ihre Töchter aus dem staatlichen Bildungssystem heraus zu nehmen.“ (Human Rights Watch 2004)
Wie von Human Rights Watch festgestellt, wird eine im Namen der Neutralität verabschiedete Gesetzgebung gegen den Schleier zu einer stärkeren Ghettoisierung einiger muslimischer Mädchen führen (wahrscheinlich der ohnehin verwundbarsten) und eben diese Mädchen darin bestärken, in einer traditionell isla14 15 16
Für eine Analyse des „ideologischen Staatsapparats“ als Produzent legitimierender Diskurse, siehe Althusser (1971: 85–126). Eine Analyse des Modells der französischen individuellen Assimilation findet sich bei Taguieff (1995: 13–28). Dieser Ausdruck wurde entlehnt von Michel Foucault (1992).
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mischen Schule zu bleiben oder einer solchen beizutreten. Derlei soziale Kosten werden von der Identitätspolitik systematisch ignoriert, wenn versucht wird, die Sexualität muslimischer Mädchen auf der Grundlage des „geschriebenen Gesetzes“ an Stelle des „gelebten Gesetzes“ zu regulieren.17 Darüber hinaus ist eine Verordnung von „Freiheit“ durch „Zwang“, d. h. ein Kopftuch- oder Schleierverbot, kaum ein geeignetes Mittel, um die von der Stasi-Kommission geäußerten Bedenken auszuräumen. Diese beziehen sich auf weit verbreitete Formen von Gewalt, denen vor allem muslimische Mädchen in den französischen Satellitenstädten, den banlieus, zum Opfer fallen (einschließlich Vergewaltigung, Zwangsehen und Genitalverstümmelungen). Ein derartiges Verbot würde, wenn überhaupt, lediglich dazu beitragen, die Logik sowie die Dynamik der sozialen und ökonomischen Lebensbedingungen muslimischer Mädchen in Frankreich zu verdunkeln. Ebenso wenig erhellt würde aber auch die mögliche Beziehung zwischen dem Kopftuch und einer politischen Trotzhaltung angesichts der bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Marginalisierung durch die Mehrheitskultur. Deutschland: Das Kopftuch als politische Bedrohung Deutschland ist eine Nation, die historisch dadurch charakterisiert war, dass sie sich auf eine gemeinsame, auf Blutsbanden basierende Abstammung berief (Brubaker 1992: 82). Es ist hierbei wichtig anzumerken, dass das Konzept deutscher Nationalstaatlichkeit wenigstens teilweise im Rahmen einer Gegenreaktion auf Napoleon als externer Gefahr entstand, während das Konzept der französischen Nationalstaatlichkeit intern im Kampf gegen die eigene Monarchie und den etablierten Stand des Klerus entstand. Möglicherweise liegt es an diesem Unterschied, dass es schwieriger ist, in Deutschland Akzeptanz dafür zu finden, dass islamische Religionsgemeinschaften den rechtlichen Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zuerkannt bekommen können. Tatsächlich haben sich islamische Gruppen schon seit den frühen 1970er Jahren um einen rechtlich gesicherten Status für ihre Religionsgemeinschaften bemüht, entsprechende Eingaben sind jedoch bislang von den Gerichten abgewiesen worden. Der Verfassung von 1949 entsprechend können Religionsgemeinschaften den Status einer Körperschaft öffentlichen Rechts erlangen, wenn auf der Grundlage der Satzungsstatuten und der Mitgliederanzahl eine erkennbare Kontinuität garantiert werden kann.18 Wenn diese Voraussetzungen nicht 17 18
Siehe D. Kennedy (1997), besonders Kapitel 11. Dieser Status bringt weit reichende Rechte mit sich, z. B. das Recht von Mitgliedern der Gemeinden Steuern zu erheben und Gemeindebezirke einzurichten, das Recht, Menschen im
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erfüllt werden, bleibt diesen Glaubensgemeinschaften nur, sich als Vereine im zivilrechtlichen Sinne zu organisieren. Im Jahr 1977 hat die islamische Gemeinschaft in Deutschland einen solchen körperschaftsrechtlichen Status beantragt, damit der Islam als vor dem Gesetz gleich gestellte Religion öffentlich anerkannt würde (vgl. Vocking 1993). Das zuständige Gericht in Baden-Württemberg wies den Antrag ab (Jonker 2000: 313). Zwei Jahre später wurde ein vergleichbarer Versuch in Köln unternommen, der ebenso erfolglos blieb, obwohl sich die Antragsteller dieses Mal explizit auf Artikel 4 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland beriefen, in dem die Glaubens- und Religionsfreiheit garantiert wird.19 Mathias Rohe, ein Experte in Fragen der rechtlichen Behandlung von islamischen Minoritäten in Deutschland, meint, die von verschiedenen muslimischen Gruppen gestellten Anträge auf Erteilung eines solchen Status wurden auf der Grundlage abgelehnt, dass keine ausreichende Garantie für den dauernden Fortbestand und die Stabilität der Glaubensgemeinschaften vorlagen: „Entsprechend einer Entscheidung der Innenministerkonferenz im Jahr 1954, muss der Beweis für die Stabilität einer solchen Gemeinschaft über einen Zeitraum von 30 Jahren erfolgen. Bislang hat nur die jüdische Glaubensgemeinschaft diesen Status erlangen können, während noch keine muslimische Gemeinschaft in dieser Hinsicht erfolgreich war. Dies liegt mit Sicherheit an der Tatsache, dass Muslime bis in die jüngere Vergangenheit großenteils keine Vorstellung davon hatten, dass sie längerfristig bleiben würden“ (Rohe 2004: 87). Gerdien Jonker, eine für ihre empirische Arbeit über religiöse Minderheiten in Deutschland bekannte Forscherin, drückt in ihrer Sicht das genaue Gegenteil aus. Sie glaubt, dass diese Entscheidung nicht nur auf der Tatsache beruht, dass die entsprechenden Richter überzeugt waren, die Antragsteller würden rechtsgerichtete Aktivitäten verfolgen. Vielmehr spielte ihrer Meinung nach auch der Eindruck eine Rolle, dass „der ‚Islam’ das Alltagsleben seiner Anhänger auf eine nicht akzeptable Art und Weise bestimmt, die auch nicht mit dem deutschen Verständnis zur Rolle der Religion vereinbar ist “(Jonker 2000: 314). Darüber hinaus formuliert sie die These, diese Gerichtsentscheide seien „Signale, die auf eine Segregation hindeuten und haben spürbare Auswirkungen auf das gegenwärtige islamisch-religiöse Leben. Für gläubige Muslime ergibt sich aus dem Aufeinanderprallen islamischer Rechtskonzepte und den deutschen Rechtsvorschriften die soziale Isolation“ (Jonker 2000: 312). Gegenwärtig besitzt keine
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Rahmen eines auf religiöser Orientierung beruhenden Arbeitsrechts zu beschäftigen, das Recht, Mitglieder für Rundfunkräte zu nominieren und das Recht, Steuernachlässe für Besitz unter öffentlichem Eigentumsrecht zu erhalten, usw. Siehe Rohe (2004: 87). Artikel 4 GG (Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit) lautet: 1. Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. 2. Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.
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islamische religiöse Gemeinschaft den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts. Im Gegensatz zu den christlichen Kirchen und der jüdischen Gemeinschaft werden islamische Organisationen als private Vereine ohne besonderen rechtlichen Status betrachtet. Am 30. September 2003 bestätigte das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung BVerfGe, 2BvR, 1436/02 das Recht einer muslimischen Frau, als Lehrerin einer öffentlichen Schule das Kopftuch zu tragen,20 dies jedoch lediglich auf der Grundlage, dass es zu der Zeit in Baden-Württemberg keine explizite Rechtsgrundlage für ein Verbot des Kopftuchs durch die entsprechende Schulbehörde gab. Während das Gericht in seiner Entscheidung die Wichtigkeit des Prinzips der Glaubens- und Gewissensfreiheit unterstrich, wurde das letzte Wort in dieser Sache doch den demokratischen Gesetzgebungsorganen überlassen: „Dem zuständigen Landesgesetzgeber steht es jedoch frei, die bislang fehlende gesetzliche Grundlage zu schaffen, etwa indem er im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben das zulässige Maß religiöser Bezüge in der Schule neu bestimmt. Dabei hat er der Glaubensfreiheit der Lehrer wie auch der betroffenen Schüler, dem Erziehungsrecht der Eltern sowie der Pflicht des Staates zu weltanschaulichreligiöser Neutralität in angemessener Weise Rechnung zu tragen. Nach der Verfassung sind die Einschränkung von grundrechtlichen Freiheiten und der Ausgleich zwischen kollidierenden Grundrechten aber dem Parlament vorbehalten, um sicherzustellen, dass Entscheidungen von solcher Tragweite aus einem Verfahren hervorgehen, das der Öffentlichkeit Gelegenheit bietet, ihre Auffassungen auszubilden und zu vertreten, und die Volksvertretung dazu anhält, Notwendigkeit und Ausmaß von Grundrechtseingriffen in öffentlicher Debatte zu klären.“ (ebd.: Absatz 72)
Durch die letztendliche Wahl eines Ansatzes staatlicher Neutralität entschied das Bundesverfassungsgericht, nicht gegen den Willen der demokratischen Legislative auf Verfassungsebene für den Schutz von Minderheitenrechten einzutreten. Mit wachsender kultureller und religiöser Vielfalt, so die mahnende Begründung des Gerichts, sei auch die Notwendigkeit staatlicher Neutralität größer geworden. Entsprechend wenig überraschend war denn auch die Entscheidung der Landesregierung in Stuttgart, im April 2004 ein Gesetz zu verabschieden, mit dem der Hijab in Schulen verboten wurde. Dieses Gesetz wurde anschließend gleich von einer ganzen Anzahl weiterer Bundesländer mit der Begründung der religiösen Neutralität des Staates prompt übernommen.21 Bei der Deutung der komplexen Semiotik des Kopftuches weicht das Bundesverfassungsgericht zunächst vom französischen Ansatz ab, indem muslimi20 21
BVerfGe, 2BvR, 1436/02, Entscheidung des Zweiten Senats vom 24. September 2003 auf der Grundlage der mündlichen Anhörung vom 3. Juni 2003. Siehe http://www.dw-world.de/dw/article/0, 1246372,00.html.
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schen Frauen eine aktive Rolle bei der Definition der Bedeutung des Kopftuches außerhalb der patriarchalen Strukturen der Familie zugebilligt wird. Das Gericht betonte in diesem Zusammenhang, dass „. . . die Deutung des Kopftuchs nicht auf ein Zeichen gesellschaftlicher Unterdrückung der Frau verkürzt werden darf. Vielmehr kann das Kopftuch für junge muslimische Frauen auch ein frei gewähltes Mittel sein, um ohne Bruch mit der Herkunftskultur ein selbstbestimmtes Leben zu führen.“ (BVerfGe, 2BvR, Supra, Anm. 24, bei Art. II (5). Eigene Hervorhebung.) Bei der Darstellung des Kopftuches in schulischen Situationen, in denen es nötig erschien „...möglichen Gefahren schon vorbeugend zu begegnen“ (ebd.: Art. III (1)) sah das Gericht das Kopftuch eher als Ausdruck des politischen Islam an: „In jüngster Zeit wird in ihm verstärkt ein politisches Symbol des islamischen Fundamentalismus gesehen, das die Abgrenzung zu Werten der westlichen Gesellschaft […] ausdrückt.“ (ebd.: Art. Ii (5a)) Trotz der Aussage, dass „nach den auch in der mündlichen Verhandlung bestätigten tatsächlichen Feststellungen im fachgerichtlichen Verfahren [...] das jedoch nicht die Botschaft [ist], welche die Beschwerdeführerin mit dem Tragen des Kopftuchs vermitteln will“ (ebd.), äußerte das Gericht doch die Befürchtung, dass ein solches Symbol an und für sich bereits den Bildungsauftrag gefährden könnte: „Das Einbringen religiöser oder weltanschaulicher Bezüge in Schule und Unterricht durch Lehrkräfte kann den in Neutralität zu erfüllenden staatlichen Erziehungsauftrag (…) beeinträchtigen. Es eröffnet zumindest die Möglichkeit einer Beeinflussung der Schulkinder sowie von Konflikten mit Eltern, die zu einer Störung des Schulfriedens führen und die Erfüllung des Erziehungsauftrags der Schule gefährden können. Auch die religiös motivierte und als Kundgabe einer Glaubensüberzeugung zu interpretierende Bekleidung von Lehrern kann diese Wirkungen haben. Das Tragen des Kopftuchs durch eine Lehrerin im Unterricht könne zu einer religiösen Beeinflussung der Schüler und zu Konflikten innerhalb der jeweiligen Schulklasse führen, auch wenn die Beschwerdeführerin glaubhaft jegliche Absicht der Werbung und Missionierung verneint habe. Entscheidend sei allein die Wirkung, die durch den Anblick des Kopftuchs bei den Schülern eintrete. Es handele sich beim islamisch motivierten Kopftuch um ein deutlich sichtbares religiöses Symbol, dem sich der Betrachter nicht entziehen könne.“ (ebd.: Art. I (6))
Eine kausale Beziehung zwischen dem Kopftuch als religiösem (gefährlichen) Symbol einerseits und einem möglichen ideologischen (negativen) Einfluss auf eine deutsche Schülerschaft andererseits wird durch die dem Gericht vorgelegten empirischen Belege nicht gestützt. Tatsächlich wurde diese Argumentation nicht nur von keinem der angehörten Experten vorgebracht, selbst das Gericht verwies darauf, dass dies nicht den realen Erfahrungen der Schülerschaft entspreche: „Für eine konkrete Gefährdung des Schulfriedens durch das Auftreten der Be-
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schwerdeführerin mit Kopftuch sind im fachgerichtlichen Verfahren keine greifbaren Anhaltspunkte sichtbar geworden“ (ebd.: Art.II (5d)). Darüber hinaus könnte die durch das Gerichtsverfahren entstandene Dynamik sogar dazu beitragen, dass sich muslimische Frauen früh- und vorzeitig aus der „öffentlichen politischen Kultur“ in einen zunehmend ghettoisierten islamischen Kulturraum zurückziehen. Obwohl es im westlichen Bildungskontext bereits Machtkämpfe und widerstreitende Verhandlungen über die symbolische Dimension und Funktion des Kopftuches für muslimische Frauen gab (ebd.: Art. I(6)), soll in der vorliegenden Arbeit aufgezeigt werden, dass diese widersprüchlichen Positionen in den jüngsten juristischen Auseinandersetzungen in Frankreich und Deutschland nicht erfasst wurden. Bei der Lektüre sowohl der Analyse der Stasi-Kommission als auch der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts unter Verwendung des Paradigmas der Identitätspolitik, erschließen sich untersuchbare Techniken der Macht, mit denen in freiheitlich-westlichen Staaten Strukturen und Praktiken verdeckt werden, die den Nährboden und das reproduktive Umfeld für eine sozioökonomische Ungleichheit bilden. Wenn die politische Betonung darauf liegt, das Kopftuch in Frankreich als Teil der Geschlechterunterdrückung, als Ungerechtigkeit und Unglück darzustellen, und das Kopftuch im deutschen Kontext als bedrohlich, fremd und gefährlich, dann erfolgt hierbei sicher keine Untersuchung der staatlichen Macht in ihrer Ausdrucksform als Mittel zur Aufrechterhaltung der Klassenherrschaft. Auf dieselbe Weise, wie das Kopftuch als individuelles, persönliches, subjektives und zur Unterscheidung dienendes Merkmal konstruiert wird, trägt die Identitätspolitik zur Mystifizierung der Kräfte bei, die für das Verstecken, Konstruieren und Verschleiern der muslimischen Frau verantwortlich sind. Befinden sich Kopftuch tragende muslimische Frauen in einer schlechteren wirtschaftlichen Situation? Wo leben sie, und wohin bewegen sie sich? Wie steht es um ihre grundlegende rechtliche Situation, die durch die Gesetzgebung zur Einwanderung, sozialen Sicherung und Beschäftigung bestimmt wird? Das Kopftuch in Bezug auf sozioökonomische Bedingungen Im politischen Diskurs haben sich egalitäre soziale Bewegungen von einer Politik der Verteilungsfragen hin zu einer Politik der Anerkennung bewegt (Fraser 1995). Fürsprecher dieser Anerkennungspolitik argumentieren, dass der freiheitliche Staat seine Verpflichtung zur Neutralität verletzt hat, indem die Lebensweise dominanter Gruppen privilegiert wird (vgl. Baker (1994); Kymlicka (1995); Minow (1995); Spinner (1994); Taylor (1994)). Da aber unterdrückte Gruppen verschiedenen Kulturen angehören und unterschiedliche Erfahrungen und Per-
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spektiven auf das gesellschaftliche Leben besitzen, könnte der freiheitlichrechtsstaatliche Staat dadurch angemessen Abhilfe leisten, dass kulturellen Unterschieden im öffentlichen Raum Anerkennung und Bestätigung zuteil wird. Während die Fürsprecher einer Politik der Anerkennung die Konzepte der Identität, der Rechte und der Gegenseitigkeit betonen, konzentriert sich eine auf Verteilungsfragen beruhende Analyse von Gerechtigkeit eher auf Klassenkonflikte innerhalb freiheitlich-rechtsstaatlicher Gesellschaftsformen mit der Forderung nach einer gerechten Verteilung materieller Güter als Antwort auf die in kapitalistischen Gesellschaften erzeugte materielle Ungerechtigkeit. Die moderne Erweiterung dieses Ansatzes geht jedoch über die Behandlung von Klassenfragen hinaus und befasst sich auch mit der Verteilung des Wohlstandes zwischen Männern und Frauen, wie auch zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen (vgl. Butler (1990); Cornell (1991); Crenshaw (1989); Ford (1992); Hooks (1990); Kosofsky/Sedgwick (1990); Williams (1991)), wobei auch untersucht wird, welchen Anteil die Gesetzeslage an der jeweiligen Verhandlungsmacht innerhalb unterschiedlicher Strukturen wie dem Staat oder der Familie hat (vgl. Hale 1923)Für die vorliegende Arbeit soll nun die Argumentation gelten, dass eine liberale Theorie der Minderheitenrechte die Probleme von Immigranten und Minoritäten nicht nur auf die Ebene der „Identitätspolitik“ reduziert, sondern gleichzeitig die Diskussion über die Rechte von Immigranten dehistorisiert und dabei die kapitalistische soziale Formation sowie die damit verbundenen sozialen Realitäten vernachlässigt, mit denen sich Migranten auseinander setzen müssen, wenn sie darum kämpfen, „das Leben eines zivilisierten Wesens zu leben“ (Marshall 1965: 78).22 In diesem Abschnitt soll anhand des Beispiels Kopftuch tragender muslimischer Frauen in Frankreich und Deutschland gezeigt werden, wie Fragen der sozioökonomischen Ungleichheit durch die politische und rechtliche Diskussion über religiösen Symbolismus aus der politischen Arena verdrängt wurden. Die Verfasserinnen dieser Arbeit haben zwar durchaus ein Interesse an den Auswirkungen der Identitätspolitik auf die Verteilungsgerechtigkeit im von Geschlechterrollen geprägten Leben von muslimischen Frauen in freiheitlich-rechtsstaatlichen Staaten. Trotzdem soll in diesem Abschnitt eher eine soziologische Analyse besonders mit Blick auf türkische Immigranten in Deutschland und muslimische Immigranten in Frankreich durchgeführt werden.
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Nach T. H. Marshall beinhaltet das soziale Element der Staatsbürgerschaft „das Recht auf ein Mindestmaß an wirtschaftlichem Wohlstand sowie die Sicherheit auf das Recht, am sozialen Erbe teilzuhaben und ein den vorherrschenden gesellschaftlichen Normen entsprechend zivilisiertes Leben leben zu können“ (1965: 78).
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Türkische Gemeinschaften in Deutschland Das Ungleichgewicht der sozioökonomischen Verteilung in Deutschland ist offensichtlich: so erhalten Menschen aus nicht EU-Mitgliedsstaaten beispielsweise einen verhältnismäßig geringeren Anteil an materiellen Gütern wie Bildung, Einkommen, Wohlstand und Arbeitsplätzen. Im Februar 2000 gab die Bundesausländerbeauftragte, Marieluise Beck, zu, dass „die Arbeitslosenquote unter Immigranten konstant bei fast 20 % liegt, was deutlich macht, dass Ausländer weiterhin fast doppelt so häufig unter Arbeitslosigkeit zu leiden haben wie Deutsche“ (efms 2000). Die Situation türkischer Immigranten ist sogar noch erschreckender: im Stadtteil Kreuzberg, der einen besonders hohen türkischstämmigen Bevölkerungsanteil aufweist, waren 26,2 % aller Immigranten arbeitslos und 42 % erhielten Sozialhilfe (vgl. Beer/Musch 2005).23 Tatsächlich machen Immigranten die Mehrzahl der Arbeitnehmer in den Sektoren Gebäudereinigung, Altenpflege sowie im Baugewerbe aus. Darüber hinaus stehen sie in den Hierarchien dieser Sektoren jeweils an der untersten Stelle. Czarina Wilpert (1990) konnte nachweisen, dass 73 % der weiblichen Immigranten körperliche Arbeiten verrichteten, wie beispielsweise als Putzkraft sowie in anderen Dienstleistungsberufen, während sich die Zahl der in diesen Sektoren beschäftigten deutschen Frauen auf lediglich 30 % belief. In einer jüngeren Studie zur Situation türkischer Immigrantinnen in Berlin sagten 59 % der Befragten aus, dass sie als Putzkraft beschäftigt seien, und 43 % der zu dem Zeitpunkt arbeitslosen Frauen gaben an, in ihrem letzten Beschäftigungsverhältnis als Reinigungskraft tätig gewesen zu sein (Erdem 2004). Türkische Immigranten sind nicht nur arm, vor allem arbeiten und leben sie als isolierte Gruppe in geografisch klar definierten Teilgebieten. Das Problem der chronischen Arbeitslosigkeit wird dazu noch durch eine erschwerte Integration von Immigrantenkindern in das deutsche Bildungssystem erschwert. Deutsche mit türkischer Herkunft der zweiten und dritten Generation sowie türkische Immigrantenkinder beklagen die Tatsache, dass für sie im deutschen Bildungssystem keine Chancengleichheit besteht (am Orde 2002). Zum einen wird im deutschen Bildungssystem die schulische Karriere von Kindern bereits in jungen Jahren festgelegt. Viele deutsch-türkische Kinder werden auf niedere Zweige des Schulsystems verwiesen, häufig auf Grund der Tatsache, dass sie in der Mehrzahl zu Hause Türkisch sprechen und eventuell geringere Sprachkompetenzen im Deutschen aufweisen, als ihre deutschen Mitschüler. Zweitens hat die Diskriminierung von Immigrantenkindern in deutschen Schulen enorme Auswirkungen 23
Die Daten stammen aus dem Jahr 2000, mit Ausnahme der Sozialhilfedaten, diese stammen aus dem Jahr 1998.
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auf die deutsch-türkischen Bevölkerungsanteile gehabt (Keskin 2002), in deren Folge viele dieser Kinder die Schule abbrechen. Deshalb ist es so, dass „während nur 8 % der deutschen Jugendlichen und jungen Erwachsenen ohne Berufsausbildung bleiben, der Anteil ungelernter türkischer Jugendlicher fünfmal so hoch ist, und bei ungefähr 40 % liegt“ (efms 2000). In vielen deutschen staatlichen Behörden wird die Argumentation verwendet, dass hohe Arbeitslosenraten und geringere Bildungsabschlüsse etwas mit der Eingliederung von Immigranten zu tun haben. Dieser Sicht entsprechend werden sich die Probleme der Arbeitslosigkeit und der mangelnden Bildung von selbst lösen, wenn sich Immigranten erst einmal besser in die deutsche Gesellschaft integrieren. Zu diesem Zweck sowie auch zur Beschleunigung der Eingliederung von Immigranten wurden von staatlicher Seite kürzlich verschiedene neue Maßnahmen eingeführt, einschließlich eines neuen Staatsbürgerschaftsrechts. Mit diesem neuen Staatsangehörigkeitsgesetz wurde die traditionelle Auffassung der familiären Herkunft von Seiten des deutschen Staates teilweise verworfen, und es wurde ein Anfang für die mögliche Einbürgerung der Migrantenpopulation gemacht.24 Dem Staatsangehörigkeitsgesetz entsprechend können in Deutschland nach dem Jahr 2000 geborene Kinder eine doppelte Staatsangehörigkeit erhalten: die deutsche und die Herkunftsnationalität ihrer Eltern.25 Obwohl viele türkische Immigrantenorganisationen türkische Immigranten darin bestärken, sich um die deutsche Staatsangehörigkeit zu bewerben, lässt sich eine Abnahme der Zahl dieser Anträge, besonders seit dem Jahr 2000, beobachten. Ein möglicher Grund hierfür ist, dass es gemäß Artikel 85 des Zuwanderungsgesetzes deutschen Staatsbürgern nicht gestattet ist, zusätzlich eine weitere Staatsangehörigkeit zu besitzen, sofern sie nicht den Beweis erbringen können, dass ihnen durch Aufgabe dieser zweiten Staatsangehörigkeit finanzielle 24
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Eine der heftigsten Reaktionen hierauf zeigte die CDU/CSU. Im Januar 1999 organisierten die Unionsparteien eine Kampagne gegen die Änderungen und wurden dabei von Würdenträgern wie dem damaligen Regierenden Bürgermeister von Berlin, Eberhardt Diepgen, unterstützt (Hürriyet 1999). Eines der hauptsächlich verwendeten Schlagworte der Kampagne lautete „Für Integration – gegen doppelte Staatsbürgerschaft“ (Klopp 2002: 2). Zwei türkische Immigrantenverbände, der TBB und Cemaat, reagierten rasch mit einer gemeinsamen Gegenkampagne. In einer Pressemitteilung ließen sie verlautbaren, dass die CDU/CSUKampagne als Hindernis für die Integration von Immigranten gesehen werden sollte, und betonten gleichzeitig, dass eine neue Definition des Konzeptes „Deutsch“ richtigerweise auch Deutsche nicht-deutscher Herkunft umfassen sollte (TBB Pressmitteilung vom 12. Januar 1999). Diese maßgebliche Veränderung weg vom jus sanguinis zum jus soli hat aber den Makel des folgenden Paradoxons: um die deutsche Staatsbürgerschaft erlangen zu können, muss ein in Deutschland geborenes Kind im Alter zwischen 18 und 23 Jahren die Staatsbürgerschaft des Herkunftslandes seiner Eltern aufgeben. (Joppke 1998; Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2000; Schirmer 2002).
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oder rechtliche Nachteile erwachsen.26 Da von Seiten deutscher staatlicher Behörden der dauerhafte Besitz einer doppelten Staatsangehörigkeit nicht erlaubt ist, hat der türkische Staat im Jahr 1995 einen besonderen rechtlichen Status für türkische Staatsbürger eingerichtet, die ihre Nationalität im Zuge einer Einbürgerung in Deutschland aufgeben müssen. Dieser Status ist unter Immigranten als Pembe Kart (Rosa Karte) bekannt und bedeutet, dass türkische Immigranten, die ihre Ursprungsnationalität aufgeben, um deutsche Staatsangehörige zu werden, ihren legalen und finanzrechtlichen Status in der Türkei weitestgehend beibehalten, wenn sie eine solche Rosa Karte von der türkischen Botschaft erhalten. Dem türkischen Recht entsprechend können Inhaber einer Rosa Karte Land in der Türkei kaufen oder verkaufen27 und sind darüber hinaus auch erbrechtlich abgesichert. Es gab allerdings einige Verwirrung hinsichtlich der Verwendung der Rosa Karte. Darüber hinaus hat die Willkürlichkeit des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts zu einem gewissen Misstrauen unter Immigranten geführt. Als Ergebnis hieraus haben sich viele Türken entschlossen, ihren türkischen Pass so lange zu behalten, bis sich das Chaos um die Rosa Karte gelegt hat und die Fragen um die türkischen und deutschen Staatsangehörigkeitsregelungen geklärt sind. Muslimische Gemeinschaften in Frankreich Frankreich stellt im Vergleich zu Deutschland einen anderen Fall dar, was zum Teil auf die Geschichte des französischen Kolonialismus zurück zu führen ist. Bis 1962 kam der Großteil der Immigranten aus der früheren Kolonie Algerien nach Frankreich. Immigranten kamen aber auch aus anderen früheren Kolonien wie Marokko, Tunesien, Senegal, Mali und der Gegend um den indischen Ozean. Obwohl die Türkei nie französische Kolonie war, gibt es aber auch eine bedeutende Anzahl an Türken in Frankreich. Wenn in Frankreich also von „Ausländern“ oder „Immigranten“ die Rede ist, werden hiermit im Allgemeinen Nordafrikaner und/oder Türken assoziiert, die in ihrer Gesamtheit vorwiegend einen muslimischen Hintergrund aufweisen. Tatsächlich ist der Islam die zweitgrößte der in Frankreich vertretenen Religionen (Viorst 1996). Wegen des jus soli-Prinzips im Code de la nationalité (dem französischen Staatsangehörigkeitsrecht) sprechen sich die staatlichen französischen Behörden 26 27
Die betroffenen Bürger sollten nachweisen, dass sich der finanzielle Verlust auf mehr als 10.000 Euro pro Jahr beläuft. Bis 2004 war es Ausländern nicht möglich, Land in der Türkei zu kaufen oder zu verkaufen. Dieses Gesetz wurde kürzlich geändert, so dass jetzt auch Personen nicht-türkischer Nationalität Land erwerben oder veräußern können.
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für die Einbürgerung von Immigranten aus, ganz besonders der zweiten Generation, bis es idealerweise in dieser zweiten Generation gar keine „Ausländer“ mehr gibt. Tatsächlich sind viele Muslime entweder seit ihrer Geburt oder durch Einbürgerung französische Staatsbürger (Bowen 2004; siehe auch Venel 2004). Darüber hinaus sind Immigranten, genau wie in Deutschland, berechtigt, einen Beruf zu ergreifen, und haben das Recht auf Bildung, Krankenversicherung und Rentenzahlungen. Leider ist es jedoch so, dass weder die staatliche Förderung der Einbürgerung noch die offizielle Gleichstellung von Immigranten in ihren sozialen Rechten die Auswirkungen segregierter territorialer Grenzen hinsichtlich sozioökonomischer Möglichkeiten in der französischen Gesellschaft wettmachen. Tatsächlich konnte Patrick Simon auf der Grundlage von Daten der Enquête Histoire Familiale nachweisen, dass die große Mehrheit der Immigrantengruppen in Frankreich in Armut leben (2003). Seinem Bericht nach sind darüber hinaus Jugendliche Immigranten der zweiten Generation, deren Eltern aus der Türkei oder Marokko stammen, mit doppelt so hoher Wahrscheinlichkeit arbeitslos wie andere Anteile der jugendlichen Bevölkerung (Simon 2003; siehe auch Tribalat 1995). Dieses alarmierende Phänomen ist sogar noch offensichtlicher unter Jugendlichen der zweiten Generation mit gehobener Bildung: „Türken und Marokkaner mit höherem Schulabschluss sind häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen, als der Durchschnitt mit gleicher Qualifikation“ (Simon 2003: 1112). Zusätzlich geht aus den Bildungsstatistiken hervor, dass ein hoher Anteil der türkischen und marokkanischen Jugendlichen der zweiten Generation die Schule ohne Abschluss abbricht: 46,4 % aller türkischen Jugendlichen der zweiten Generation und 24,3 % aller Jugendlichen der zweiten Generation mit marokkanischer Herkunft oder aus gemischten Ehen28 brechen die Schule ab. Das Bildungsniveau marokkanischer Frauen liegt dabei jedoch höher als das türkischer Frauen. Während einerseits 22,6 % der marokkanischen Frauen die Schule abbrechen, schaffen es 28,3 bis zur Universität. Dem gegenüber verlassen 51,6% der türkischen Frauen die Schule ohne Abschluss und lediglich 7,7 % absolvieren ein Universitätsstudium. Simon vergleicht diese Zahlen mit den entsprechenden Daten für die französische Arbeiterklasse und stellt fest, dass 26,5 % der französischen Frauen aus der Arbeiterklasse die Schule abbrechen. Diese Zahl liegt also etwas über dem Wert für Frauen marokkanischer Herkunft ohne Schulabschluss (22,6 %). Unter türkischen Frauen ist der Anteil der Schulabbrecherinnen im Vergleich zur französischen Arbeiterklasse jedoch fast doppelt so groß (51,6 %) (Simon 2003: 1105). 28
Es sollte auch angemerkt werden, dass gemischte Ehen bei türkischen Immigranten der zweiten Generation seltener sind als bei entsprechenden Immigrantengruppen marokkanischer Herkunft (Simon 2003).
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Auch die Arbeitslosenquote unter Immigranten der zweiten Generation ist von einer deutlich geschlechtsspezifischen Ungleichheit gekennzeichnet. Es sind mehr Frauen als Männer arbeitslos. Darüber hinaus ist die Arbeitslosigkeit in bestimmten Immigrantengruppen höher. Unter türkischen Immigrantinnen der zweiten Generation liegt die Arbeitslosigkeit bei 47 %, während diese Zahl für vergleichbare Frauen mit marokkanischem Hintergrund bei 29,7 % liegt. Hier werden drastische Unterschiede zu anderen Gruppen weiblicher Immigranten deutlich, etwa Portugiesinnen, für die die Arbeitslosenquote bei 20,4 % liegt (Simon 2003: 1112). Schluss In den konstitutionellen Demokratien der Gegenwart erfolgte zeitgleich mit dem Aufstieg der „Identitätspolitik“ eine Verdrängung und Delegitimierung des Klassenkampfes als politisches Modell zur Erreichung sozialer Gerechtigkeit. Nancy Fraser argumentiert, dass wirtschaftliche Ungerechtigkeiten durch anhaltende Muster kultureller Verunglimpfung verschärft werden, während sich aus Verkennung entstehende Schäden häufig durch wirtschaftlichen Mangel verschlimmern (1995). Sie kommt daher zu dem Schluss, dass die „Gerechtigkeit heute sowohl Umverteilung als auch Anerkennung erfordert.“ (1995: 68). Wie steht es nun um die Beziehung zwischen Anerkennung und Umverteilung in der Kopftuchdebatte in Frankreich und Deutschland? Welches sind die sozialen Kosten und Mängel, um die es im rechtlichen Monopol der Identitätspolitik als vorherrschendem emanzipatorischen Diskurs geht? Wird durch die Erfassung des Kopftuches als Manifestation der Selbst-Identifizierung gleichzeitig das institutionelle Arrangement zur Verteilung von Macht und Begehrlichkeiten in Form von zu Grunde liegenden rechtlichen Regeln und sozialen Normen verschleiert? In Frankreich und Deutschland arbeiten muslimische Immigrantengruppen häufig im segmentierten Arbeitsmarkt und erfahren dabei, wenn überhaupt, nur eine sehr geringe soziale Mobilität. Die ungleiche Verteilung von Ressourcen wird in diesen Empfängergesellschaften dabei durch die Segregation von Immigrantengruppen in bestimmte Sektoren und Bereiche aufrecht erhalten. In beiden Ländern wurde das Kopftuch staatlicherseits jedoch im Zusammenhang mit religiösen Rechten, der Gleichheit vor dem Gesetz oder der staatlichen Neutralität diskutiert, während die sozioökonomischen Aspekte des Lebens muslimischer Frauen ignoriert wurden. Dieses empirische Verschwinden erstaunt dabei nicht einmal, wenn man sich die Begrenztheit sowohl des Umfangs, als auch der diskursiven Kraft der Identitätspolitik vor Augen führt.
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Pascale Fournier und Gökce Yurdakul
Durch den „Anerkennungs“-Diskurs in freiheitlich-rechtsstaatlichen Staaten werden potenziell politische Auseinandersetzungen um die Verteilung von Ressourcen als „privat“ dargestellt. In dieser Arbeit wurde versucht, gegen den französischen wie auch den deutschen Ansatz zu argumentieren, durch den das Kopftuch auf ein individuelles Symbol entweder der Geschlechterunterdrückung oder der politischen Bedrohung reduziert wird, während gleichzeitig versäumt wird, die breitere kollektive Rolle von freiheitlich-rechtsstaatlichen Staaten anzusprechen, die u.a. darin besteht, eine echte und wirksame Integration von Immigranten auf sozioökonomischer Ebene sicher zu stellen. Analytisch betrachtet haben die durch die Identitätspolitik geschaffenen „imaginierten Gemeinschaften“29 wie auch die Repräsentation des Raumes als Bilder der Brüche, Risse und Diskontinuitäten den Effekt der Verschleierung einer ungleichen Verteilung von Gütern und Ressourcen an Gruppen muslimischer Immigranten. In diesem Artikel wurde versucht, solche Fragen der materiellen (Fehl-)Verteilung in den Vordergrund zu rücken, – systematische Verarmung, wachsende materielle Ungleichheit, „strukturelle“ Arbeitslosigkeit, wirtschaftliche Segmentierung usw. – die im kategorischen Rahmen der Theorie der Anerkennung keine Beachtung finden. Um muslimische Mädchen „in Subjekte zu ‚transformieren’“ (Althusser 1971: 118), muss der ideologische Staatsapparat des freiheitlich-rechtsstaatlichen Staates Anfragen an diese Mädchen formulieren, indem er eine sinnvolle Integration unterstützt. Eine solche metissage oder Vermischung könnte sehr wohl dazu beitragen, „genau die Parameter dessen, was in der bestehenden Konstellation als ‚möglich’ gilt“ zum Besseren zu ändern (Žižek 1999: 119).
29
Dieser Begriff und seine Verwendung wurden entlehnt von Benedict Anderson in Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism.
Governance Feminism und Rassismus: Wie führende Vertreterinnen von Immigranten die antimuslimische Diskussion in Westeuropa und Nordamerika befördern Gökce Yurdakul
„Ob solche Bekehrer aus dem Westen nun koloniale Patriarchen, Missionare oder Feministinnen waren, alle bestanden im Wesentlichen darauf, dass Muslime ihre angestammte Religion, ihre Bräuche und ihre Art sich zu kleiden aufzugeben hatten oder wenigstens ihre Religion wie ihre Gepflogenheiten entsprechend der vorgegebenen Empfehlungen reformieren müssten. Und für sie alle stellten der Schleier und die Bräuche im Umgang mit Frauen die Bereiche dar, die am dringendsten der Reform bedurften. Es wurde also offensichtlich, dass der Feminismus, gleich welchen Widerspruch er gegen die weiße männliche Vorherrschaft in westlichen Gesellschaften vorbrachte, sich außerhalb dieser Grenzen vom Kritiker des Systems der weißen männlichen Vorherrschaft zu dessen gefügigem Diener machte.“ Leila Ahmed (1993: 154f) In diesem Essay sollen die politischen Probleme einer bestimmten Ausprägung eines auf die undifferenzierte Institutionalisierung von Frauenrechten ausgerichMein Dank gilt Janet Halley, Pascale Fournier, Gerdien Jonker, Theresa Wobbe, Valentine Moghadam, Barbara Einhorn und Ronit Lentin für ihre Bemerkungen zu den Arbeiten über Feminismus und Antirassismus, entweder nach öffentlich von mir vorgestellten Beiträgen oder nach der Lektüre früherer Versionen dieses Artikels. Von großem Nutzen waren auch die Anmerkungen im Rahmen folgender Veranstaltungen: Konferenz der American Sociological Association in Montreal (2006); Workshop „Transferring Gender: Contested Gender Cultures Across the European Union“ der Universität Erfurt (2007); Konferenz der International Society for the Sociology of Religion zum Thema „Secularity and Religious Vitality“ in Leipzig (2007); Joint Annual Meeting der Law and Society Association und des Research Committee on Sociology of Law, beim Panel zu „Citizenship, Culture, Identities“ in Berlin (2007) sowie das Kolloquium am Institute for International Integration Studies and Immigration Initiative des Trinity College Dublin (2007). Elisabeth Beck-Gernsheim ermutigte mich, diesen Essay zu veröffentlichen. Anmerkungen zur endgültigen Version kamen von Y. Michal Bodemann und Sungur Bentürk. Ihnen allen gilt mein Dank.
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Gökce Yurdakul
teten Feminismus, des so genannten „governance feminism“ untersucht werden. Grundlage für diese Untersuchung bildet eine Fallstudie zum antimuslimischen Diskurs in bestimmten Kreisen weiblicher Repräsentanten von Immigranten in Deutschland, den Niederlanden und Kanada. Wenn hier von GovernanceFeministinnen die Rede ist, beziehe ich mich dabei auf besonders einflussreiche Repräsentantinnen von Immigranten in Ländern der westlichen Welt, die einen muslimischen Hintergrund besitzen1 und einen stigmatisierenden Diskurs befördern, der im Namen der Stärkung von Frauenrechten besonders die Gemeinschaften muslimischer Immigranten zum Ziel hat. Auf der Grundlage von Janet Halleys theoretischer Diskussion des „governance feminism“ lautet meine Argumentation, dass der von führenden Immigrantenvertreterinnen kommende Aufruf zur Bekämpfung der Geschlechterungleichheit in muslimischen Gemeinschaften die Untertöne einer rassistischen Stigmatisierung trägt (BeckGernsheim 2006; Halley 2006; Zaptçto lu 2006). Genauer gesagt, versuchen Governance Feministinnen Immigrantengruppen gegenüber ihre eigenen, ausschließlich an westlichen Maßstäben orientierten Vorstellungen einer Geschlechtergleichheit anzubringen, während sie gleichzeitig dazu beitragen, einen reduzierten Diskurs über muslimische Immigranten in Ländern der westlichen Welt (wie etwa Deutschland, den Niederlanden oder Kanada) zu perpetuieren. Der „governance feminism“ stellt aus zwei Gründen eine hoch komplexe, fragmentierte und unscharfe Perspektive dar. Zum einen versuchen Governance Feministinnen, schrittweise den Feminismus und „feministische Ideen in die Form echter rechtlich-institutioneller Macht“ zu bringen (Halley 2006: 340). Ihrer Ansicht nach stehen Frauenrechte über allen anderen Belangen, weshalb Kontexte ausgeblendet bleiben, innerhalb derer andere zu Opfern gemacht, zum Schweigen gebracht oder mit rassistischen Stereotypen konfrontiert werden. Halleys Ansicht nach ist es für die Vertreterinnen dieser Form des Feminismus unerheblich, wer die letztendlichen Kosten trägt, solange es keine Frauen sind (2006). Zum anderen hängt sich der „governance feminism“ „im Huckepack an bestehende Machtformen, interveniert in deren Rahmen und nimmt in vielerlei ... Hinsicht daran teil“ (ebd. 2006: 341). Im Ergebnis stellt sich der „governance feminism“ als Bestandteil global bestehender Herrschaftsformen, als eine Form der Macht dar, die in staatliche Institutionen eingebettet ist und erweitert auch Bestandteil verschiedener internationaler Diskussionen ist. Er bietet eine umfassende moralische Dimension: eine unkritische Hingabe an den Feminismus. Im 1
Ich verwende diesen Begriff, weil die hier erwähnten führenden Vertreterinnen unterschiedlicher Meinung darüber sind, ob sie als muslimisch bezeichnet werden können oder nicht. Irshad Manji beispielsweise nennt sich selbst „Muslim refusenik“ und sieht sich als muslimische Reformerin, die die Menschen dazu ermutigen möchte, sich kritisch mit dem Islam auseinander zu setzen.
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vorliegenden Fall hängt sich der „governance feminism“ im Huckepack an den rassistisch stigmatisierenden Diskurs zur Förderung eines monolithischen und staatlicherseits diktierten Verständnisses der Geschlechtergleichheit sowie der Emanzipation der Frau. Die spezifische Form des „governance feminism“, den ich in diesem Essay bespreche, wird von weiblichen Immigrantenvertretern geäußert, die selbst einen muslimischen Hintergrund aufweisen.2 Besonders zwei dieser Repräsentantinnen, Ayaan Hirsi Ali und Necla Kelek, unterstellen, dass muslimische Gemeinschaften nicht in der Lage sind, die Geschlechterungleichheit selbst zu beenden und rufen westliche Regierungen dazu auf, gegen muslimische Praktiken vorzugehen, die Frauen in eine Opferrolle bringen. Ihre Aufrufe zum Handeln führen zur Frage der Vereinbarkeit des Umgangs mit Frauen in muslimischen Gemeinschaften und den liberalen Prinzipien westlicher Staaten. Im Wesentlichen entsteht der Eindruck, dass westliche Regierungen dazu aufgefordert werden, muslimische Frauen aus muslimischen Familien, im Besonderen aber vor muslimischen Männern, zu retten (Ewing 2008; Korteweg/Yurdakul in diesem Band; siehe auch Ho 2007). Historisch betrachtet lässt sich der Diskurs zur „Rettung brauner Frauen vor braunen Männern“ in der Zeit der britischen Besatzung Ägyptens verorten, die im Jahre 1882 begann (Ahmed 1993). Leila Ahmed beschreibt, wie das viktorianische Frauenbild als leitende Norm gegenüber muslimischen Frauen verwendet wurde (ebd.: 151), und wie Genderrollen während der Besatzung zu Symbolen der Zivilisation wurden. Darüber hinaus beschreibt Ahmed, dass der damals gängigen Darstellung nach der Islam „von Natur aus und unveränderbar die Frauen unterdrückte, dass Schleier und Geschlechtertrennung diese Unterdrückung im Kern verkörperten, und dass diese Bräuche der ursächliche Grund für die allgemeine und umfassende Rückständigkeit islamischer Gesellschaften waren“ (ebd.: 152). Die britischen Kolonialherren (Ahmeds prägnanter Beschreibung nach besonders der britische Lord Cromer) nutzten die vermeintliche Überlegenheit westlicher Gendernormen zur Rechtfertigung der Besetzung. Cromers Argumentation nach waren islamische Regierungsform und Kultur moralisch verdorben und sollten deshalb durch die britische Herrschaft eine Veränderung erfahren. Die erwähnten Veränderungen wurden jedoch lediglich herbei geführt, um den Kolonialismus weiter zu befördern; außerdem ist es of-
2
Andere Repräsentantinnen in anderen Ländern, beispielsweise Wafa Sultan in den Vereinigten Staaten oder Fadela Amara in Frankreich, hätten hier auch aufgezählt werden können. Es sollte jedoch beachtet werden, dass diese Repräsentantinnen ihre eigenen spezifischen Diskurse pflegen und ihrem jeweils eigenen Kontext entsprechend analysiert werden sollten.
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fensichtlich, dass die britische Herrschaft der Rolle der Frau in der ägyptischen Gesellschaft eher abträglich war (Stockdale 2005: 70-72). Christine J. Walley verweist darauf, dass der „koloniale Feminismus“ in der Zeit des Postkolonialismus durch einen „Staatsfeminismus“ abgelöst wurde, als Frauenorganisationen für nationale Projekte angeworben wurden (2006: 349), um für nationalstaatliche politische Vorhaben (siehe auch Kandiyoti 1991) und religiöse Anbindungen an den Staat eingebunden zu werden (siehe auch Moghadam 2003; Saktanber 2002). In diesem Essay möchte ich mich auf die Frage konzentrieren, wie der Feminismus von einem immigrationsfeindlichen Diskurs vereinnahmt werden kann. Außerdem möchte ich auf die Stigmatisierung von Immigrantengemeinschaften durch Governance Feministinnen hinweisen. Der daraus resultierende, mit rassistischen Untertönen unterlegte Diskurs ist dabei nicht nur auf Frauen ausgerichtet, sondern auch auf Männer, die als aggressiv und ungebildet beschrieben werden sowie als eher geneigt, ihre weiblichen Verwandten zu töten.3 Diese Darstellung ähnelt der von Frantz Fanon hinsichtlich der vermeintlichen Neigung schwarzer Männer zur Promiskuität: „Wer Vergewaltigung sagt, sagt Neger“ (1967: 166). Im vorliegenden Kontext kann diese Aussage folgendermaßen angepasst werden: „Wer Gewalttätigkeit sagt, sagt muslimischer Mann.“ In diesem Essay konzentriere ich mich auf führende weibliche Vertreter von Immigranten, die einen muslimischen Hintergrund besitzen und Frauenrechte auf der Grundlage eines rassistisch gefärbten Diskurses diskutieren. In ihrem provozierenden Buch „The Caged Virgin“ (2006) argumentiert Ayaan Hirsi Ali, eine frühere Abgeordnete des niederländischen Parlaments, dass der Islam eine rückwärts gewandte Religion sei, und dass Frauen in muslimischen Gesellschaften degradiert und misshandelt würden. Eine solche Behandlung sollte in den Niederlanden nicht toleriert werden. Hierzu merkt sie an: „Letztendlich werden muslimische Frauen im Westen von der herrschenden westlichen Kultur, der die Mehrheit der Bevölkerung folgt, eher profitieren. Sie bietet ihnen gute Chancen, ihr Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Ich bin der lebende Beweis dafür.“ (Hirsi-Ali 2006: 6, englische Ausgabe, Übersetzung in Welt Online, 29. Januar 2005)
Im weiteren sagt sie, dass sich Frauen weniger häufig als Opfer wieder finden, wenn Immigranten europäische Werte übernehmen. Entsprechend ihr Aufruf an Europa, aktiv zu werden:
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Beispiele finden sich in den nachfolgenden Zitaten.
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„Dies ist unter anderem der Grund, weshalb es so wichtig ist, eine moralische Position gegen jene Lehren und Praktiken im Islam zu beziehen, durch die Frauen zu einer Spezies im Bereich zwischen Mensch und Tier degradiert werden. Für die Muslime, die mir hierin zustimmen und für die Europäer, die nicht wegsehen möchten, bedeutet diese moralische Einstellung, dass wir handeln sollten.“ (Hirsi Ali 2005, Rede anlässlich der Konferenz der Menschenrechts-Komission der UN; eigene Übersetzung aus dem Englischen)
In den obigen Aussagen postuliert Hirsi Ali eine homogene „westliche Kultur“, die als Allheilmittel gegen jede Form der Geschlechterungleichheit dient. Dabei ignoriert sie, dass Praktiken der Geschlechterungleichheit nicht nur für muslimische Frauen eine Bedrohung darstellen, sondern für alle Frauen (Sezgin 2008). Durch die Relativierung der genderbasierten Ungleichheit in westlichen Ländern zeichnet Hirsi Ali ein Bild eines ebenso befreienden wie imaginären „Westens“, der einer stigmatisierten und ebenso imaginären Version muslimischer Immigrantengemeinschaften in Westeuropa entgegen gesetzt wird (siehe auch Jusovà 2008; Zaptçto lu 2006). Hirsi Ali ist möglicherweise die am stärksten provozierende und freimütigste der Frauen, die den Islam kritisieren, während sie westliche Regierungen dazu aufrufen, im Bereich der Praktiken der Geschlechterungleichheit von muslimischen Immigrantengemeinschaften zu intervenieren. Ähnliche Diskurse werden aber auch von anderen Frauen mit muslimischem Hintergrund angefacht: Necla Kelek, eine deutsch-türkische Soziologin, wurde für ihr 2005 erschienenes Buch „Die Fremde Braut“ mit dem angesehenen Geschwister Scholl-Preis ausgezeichnet; Irshad Manji, eine Kanadierin mit pakistanischem Hintergrund, rückte mit ihrer Veröffentlichung „The Trouble with Islam“ (2004) ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit.4 Die sich überschneidenden Themen der Arbeiten von Hirsi Ali, Kelek, und Manji sollen im Folgenden aufgeführt werden. Erstens zelebrieren sie alle die Überlegenheit einer westlichen Form der Geschlechtergleichheit und verurteilen die Genderbeziehungen in muslimischen Gemeinschaften. Zweitens betonen sie den „Kampf der Kulturen“ und bezeichnen muslimische Praktiken als rückständig und barbarisch, den Westen als modern und zivilisiert. Drittens verurteilen 4
Ich beschränke mich zwar auf diese drei Werke, die Autorinnen haben aber daneben ähnliche Themen bearbeitet. Hirsi Ali veröffentlichte das autobiografische Buch „Mein Leben, meine Freiheit: Die Autobiographie“ (2007). Kelek setzte ihre Kritk am Islam und muslimischen Gemeinschaften mit ihrem Büchern „Die verlorenen Söhne: Plädoyer für die Befreiung des türkisch-muslimischen Mannes“ (2007) und „Bittersüße Heimat: Bericht aus dem Inneren der Türkei“ (2008) fort, diese Bücher erfuhren jedoch nicht dieselbe Resonanz wie „Die Fremde Braut“. Eine weitere Arbeit Manjis, die Bekanntheit erlangte, ist die PBS-Dokumentation mit dem Titel „Faith without Fear“ (2007).
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sie muslimische Familien und insbesondere Männer als Täter bei Verbrechen gegen muslimische Mädchen und Frauen (siehe auch Beck-Gernsheim 2006). Alle drei beschreiben problematische Beziehungen zu ihren jeweiligen Vätern, die sie als muslimische Patriarchen darstellen. Es gibt aber freilich auch Unterschiede. In den Büchern Hirsi Alis und Keleks wird durch die Stigmatisierung muslimischer Immigrantengemeinschaften sowie durch die westlich geprägte Perspektive zu Frauenrechten angedeutet, dass muslimische Frauen durch die westlichen Regierungen vor muslimischen Familien und besonders vor muslimischen Männern gerettet werden müssen (siehe auch Abu-Lughod 2002). Der von Manji verwendete Diskurs unterscheidet sich jedoch hiervon. Sie bezieht sich zwar häufig auf den „Westen“ als befreiende Größe, im Gegensatz zu Hirsi Ali und Kelek formuliert sie jedoch keine offenen Aufrufe an staatliche Behörden zur Rettung muslimischer Frauen: „Die Möglichkeit zur aktuellen Bezugnahme ist für Muslime besonders im Westen verfügbar, denn dort genießen wir die wertvolle Freiheit, zu denken und uns ausdrücken zu können, Herausforderungen formulieren und Herausforderungen begegnen zu können, und zwar ohne Angst vor staatlicher Vergeltung. In diesem Sinne nimmt die muslimische Reformation im Westen ihren Anfang.“ (Manji, offizielle Website, eigene Übersetzung).
Obwohl der „Westen“ in Manjis Diskurs als homogene, utopische Welt vorkommt, formuliert sie keinen direkten Appell an den Staat. Statt dessen ruft Manji in ihrem Buch wie auch auf ihrer Website muslimische Gemeinschaften in westlichen Ländern dazu auf, damit zu beginnen, den Islam zu reformieren. Ihrer Argumentation nach bietet die Meinungsfreiheit eine wichtige situative Voraussetzung für Muslime, sich gegen Praktiken auszusprechen, die sie als problematisch aufführt.5 Das Problem liegt in muslimischen Familien Eines der gemeinsamen Hauptthehmen in den Schriften Hirsi Alis und ihres deutschen Gegenübers Necla Kelek besteht in dem Vorwurf, dass muslimische Immigrantenfamilien junge Frauen versklaven, während sie gleichzeitig junge 5
Manjis Diskurs geht über die Kritik an Praktiken der Geschlechterungleichheit hinaus, obwohl diese einen wichtigen Kernpunkt ihres Moral Courage Project (2009) bildet. Zusätzlich zu Frauenrechten zählt sie als weitere Kernpunkte für eine Reform des Islams die Arbeit gegen den Antisemitismus in muslimischen Gemeinschaften, die Schaffung eines Bewusstseins für Kinderrechte und die Forderung nach Meinungsfreiheit auf.
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Männer zu deren Wächtern, in extremen Fällen sogar zu Gewalttätern erziehen. Ayaan Hirsi Ali spricht von muslimischen Familien als Hüter der weiblichen Keuschheit: „Das Wesen der Frau ist auf ihr Jungfernhäutchen reduziert. Ihr Schleier erinnert die Außenwelt permanent an die erstickende Moral, die muslimische Männer zum Besitzer der Frauen macht und die sie verpflichtet, sexuelle Kontakte ihrer Mütter, Schwestern, Tanten, Schwägerinnen, Nichten und Ehefrauen zu verhindern.“ (HirsiAli 2009: 9/10, deutsche Ausgabe)
Hirsi Ali betont, dass muslimische Frauen durch ihre Familien in eine Opferrolle gedrängt werden, und Necla Kelek sucht die Schuld für die von Söhnen verübten Gewalttaten bei den Eltern, insbesondere türkischer Herkunft: „Necla Kelek hat ja auch eine ungeheure Wut auf türkische Mütter, die es zulassen, dass ihre Söhne ihre Töchter um der so genannten Ehre willen töten. Und auf Väter, die diese Morde verantworten, weil sie finden, die Töchter machten ihnen Schande. ,Was haben diese Eltern für Menschen erzogen?’, fragt sie, ,warum müssen sie ihre Söhne zu Killern machen?’“ (Süddeutsche Zeitung, 12. April 2005)
Durch die Aussage, dass muslimische Familien als Bewahrer von Traditionen letztendlich Gewalttaten verursachen und ausüben, trägt Kelek zu einer moralischen Panik6 in der Politik und den Medien Deutschlands bei. Ihrer Argumentation nach führen türkische Immigranten in Deutschland ihre muslimischen Traditionen, wie beispielsweise Zwangsheiraten und Ehrenmorde, fort. Die Opfer dieser Traditionen, so Kelek, sind Frauen, ihre Folge ist die soziale Desintegration: „Die Bundesregierung hat eine Gesetzesinitiative beschlossen, die das Zuzugsalter bei Familienzusammenführung von sechzehn auf achtzehn Jahre heraufsetzt und von den Zuziehenden einfache Deutschkenntnisse und wirtschaftliche Unabhängigkeit verlangt. Diese Maßnahme richtet sich darauf, den leidigen Tatbestand der ,Importbräute’ zumindest einzudämmen. Gerade der Zwang zur (frühen) Heirat und die völlige Abhängigkeit junger Frauen aus Anatolien von den Familien ihrer meist in Deutschland geborenen Männer, die völlige Unkenntnis der Sprache und Kultur ihrer neuen Heimat haben in den vergangenen Jahren zum weitgehenden Scheitern der Integration und zur Zuwanderung in die Sozialsysteme geführt. Diese Frauen 6
Mit dem Begriff der moralischen Panik beziehe ich mich auf die faszinierende Arbeit Stuart Halls über die moralische Panik in den Medien. Hall und seine Kollegen analysieren, wie eine bestimmte Gruppe (in diesem Fall Schwarze in Großbritannien) zum Ziel der Medien werden, und wie sie in einem bestimmten Zeitraum dafür verantwortlich gemacht werden, die soziale Ordnung zu stören. (Hall et al.1978).
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führen in den Familien in Deutschland ein separiertes, ihrer anatolischen Tradition verpflichtetes Leben, sie erziehen Kinder nach den Vorgaben dieser Kultur, sprechen mit ihnen nur türkisch. Die Folge sind Segregation und Schulversagen der Migrantenkinder. Immer wieder wird so eine erste Migrantengeneration produziert. Wir haben bereits Hunderttausende so lebende Frauen in Deutschland. Weder Islamnoch Türkenverbände haben auch nur eine Hand gerührt, um die Lage dieser Frauen zu verbessern, sondern immer nur ihr Recht und ihre Kultur verteidigt.“ (FAZ, 6. Juli 2007)
Kelek verweist häufig auf die enge Beziehung zwischen Fragen der Geschlechtergleichheit und der Integration von türkischen Gemeinschaften in die deutsche Gesellschaft, denn in ihren Augen sind die Integrationspolitik und die Emanzipation muslimischer Frauen untrennbar mit einander verbunden. In ähnlicher Weise äußert sich auch Hirsi Ali, wenn sie fordert, dass westliche Politik auf muslimische Frauen ausgerichtet sein sollte: „Der Islam ist [...] rückwärts gewandt und er war nicht geeignet, einen moralischen Rahmen für die Gegenwart zu schaffen ... Wenn der Westen die Modernisierung des Islams unterstützen möchte, sollte er in die Frauen investieren, denn sie erziehen die Kinder.“ (Hirsi-Ali 2002; eigene Übersetzung).
Auf Grund ihrer politischen Ansichten zu Frauenfragen werden Hirsi Ali und Kelek von zahlreichen nationalen und internationalen Organisationen angefragt. Hirsi Ali war Parlamentarierin für die rechts-liberale Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD) in den Niederlanden. Nach einer öffentlichen Kontroverse über ihre Staatsbürgerschaft wechselte sie im Jahr 2007 zu einem rechtskonservativen amerikanischen Think-Tank, dem American Enterprise Institute. Kelek war im Auftrag der bundesdeutschen Regierung Mitglied in verschiedenen Ausschüssen als Expertin für Fragen der Integration, Frauenrechte und Islam tätig. Eine besondere Bedeutung kommt hier ihrer Ernennung zum Mitglied der Islamkonferenz in Deutschland zu. Die Rettung muslimischer Frauen vor muslimischen Männern Die Verantwortung des Westens zur „Rettung von braunen Frauen vor braunen Männern“ war Diskussionsgegenstand der postkolonialen Kritik, besonders bei Gayatri Spivak (1994). Der Wunsch zur „Rettung brauner Frauen“ wurde auch deutlich, als im Jahr 2001 amerikanische Truppen in Afghanistan einmarschierten. Die Radioansprache Laura Bushs anlässlich des Thanksgiving-Festes 2001 macht deutlich, wie die Invasion als „Rettung afghanischer Frauen vor afghanischen Männern“ legitimiert wurde:
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„Auf Grund unserer jüngsten militärischen Erfolge in weiten Teilen Afghanistans sind Frauen nicht länger Gefangene in ihren eigenen Heimen. Sie dürfen nun ohne Angst vor Bestrafung Musik hören und ihre Töchter unterrichten. Und doch sind die Terroristen, die dieses Land mit regiert haben, jetzt dabei in vielen Ländern ihre Pläne zu schmieden. Und sie müssen aufgehalten werden. Der Kampf gegen den Terror ist auch ein Kampf für die Rechte und die Würde der Frauen.“ (Bush 2001; eigene Übersetzung)
Während der Invasion Afghanistans gewann die vermeintliche Verantwortung der amerikanischen Regierung zur Rettung muslimischer Frauen immer größere Bedeutung. In einem neu entstandenen globalen Diskurs wurde postuliert, dass auf Grund des islamischen patriarchalen Drucks muslimische Frauen keine Stimme hätten und vor muslimischen Männern gerettet werden sollten. Mit dem während der Bush-Regierung an erster Stelle stehenden Neokonservatismus und besonders nach dem 11. September wurde diese Art des Diskurses in der öffentlichen Diskussion immer stärker betont, wobei häufig die Nöte muslimischer Frauen in den Mittelpunkt gerückt wurden. In diesem antimuslimisch gefärbten politischen Kontext sprechen sich Kelek, Manji und Hirsi Ali für die Rettung muslimischer Frauen aus ihren Gemeinschaften aus. Interessanterweise tun sie dies in der jeweiligen Sprache des Landes, in dem sie leben, was den Gedanken nahe legt, dass ihr Zielpublikum in der Mehrheitsgesellschaft und nicht in den Reihen der kritisierten Immigrantengruppen liegt. Besonders Kelek und Hirsi Ali argumentieren dabei, dass die Befreiung der Frauen aus ihren Familien eine Schlüsselrolle bei der Beendigung der Geschlechterungleichheit im Islam spielt, ebenso wie für die erfolgreiche Integration muslimischer Gemeinschaften in westliche Gesellschaften. Viele Menschen sind der Ansicht, dass Kelek, Hirsi Ali und Manji den muslimischen Frauen, die unter den islamischen Regeln des Patriarchats leben, eine authentische Stimme verleihen, die sonst in ihren Gemeinschaften zum Schweigen gebracht wird. Die von ihnen verbreitete Botschaft passt aber auch in den antimuslimischen Diskurs – nämlich der Aufruf an den „Westen“, muslimische Frauen vor muslimischen Männern zu retten (Scroggings 2005). Keleks Interviews und Zeitungsbeiträge implizieren, dass diese migrantischen Repräsentantinnen den Code muslimischer Kulturen für eine westliche Öffentlichkeit aufschlüsseln. Sie führen sogar Beispiele aus ihren eigenen Lebensverläufen an, um ihre Authentizität zu untermauern: Hirsi Ali floh vor einer Zwangsheirat in die Niederlande, Manji galt als problematische Schülerin in der madrasa, weil sie den Islam hinterfragte, und Kelek sprach 30 Jahre lang nicht mit ihrem Vater, der von ihr als Patriarch beschrieben wird. Ihre individuellen Erfahrungen sind authentisch genug, um zu beweisen, dass sich Frauen nur im Westen und im Rahmen westlicher Kulturnormen emanzipieren können. Manji drückt es so aus: „Ich
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verdanke dem Westen meine Bereitschaft, an der Reformierung des Islam mitwirken zu wollen.“ (Lalami 2006) Die Reaktionen der muslimischen Immigrantengemeinschaften In allen drei Ländern zeigten muslimische Immigranten extreme Reaktionen auf die Aussagen dieser weiblichen Immigrantenvertreter. Besonders Ayaan Hirsi Ali erhielt Todesdrohungen und musste für lange Zeit untertauchen (Korteweg 2006). In Kanada wurde Manji für ihre Meinungsäußerung umfänglich kritisiert und wurde ebenfalls mit dem Tode bedroht. In Deutschland befand sich Necla Kelek in offenem Konflikt mit Gemeinschaften türkischer Immigranten. Ein spezielles Beispiel soll im Folgenden im Detail beleuchtet werden: Kelek warf türkischen Immigrantenorganisationen und türkischen Politikern vor, davon zu profitieren, dass sie im eigenen politischen Interesse Türken als Opfer der deutschen Gesellschaft darstellten: „Keiner der türkischstämmigen Politiker stellt sich hin und sagt: Ja, es gibt spezifische Probleme, die nicht relativiert werden dürfen. Warum reden sie nicht über arrangierte Ehen, Ferienbräute, Ehrenmorde, Gewalt in Familien, Diskriminierung der Frau? ... Diese türkischstämmigen Politiker arbeiten seit Jahrzehnten daran, sich und ihre Klientel als Opfer zu stilisieren und selbst als Opferanwälte aufzutreten.“ (FAZ, 3. Februar 2009)
Kelek wirft den Politikern vor, die Probleme von Immigrantinnen zu übergehen und gleichzeitig ihr eigenes Klientel als Opfer der deutschen Gesellschaft darzustellen. Dies führt zu folgendem Paradoxon: sie selbst bedient auch ein bestimmtes Klientel, nämlich das der deutschen Mehrheitsgesellschaft, die türkische Frauen gern als Opfer ihrer eigenen Gemeinschaften dargestellt sehen möchte, die nur durch die deutschen Behörden errettet werden können. Tatsächlich ist es so, dass Kelek ihre Ansichten häufiger in den Medien des Mainstreams zum Ausdruck bringen kann, als jeder andere Vertreter der türkischen Gemeinschaften in Deutschland. Aus einer ebenso allgemeinen wie detaillierten Untersuchung der Zeitungsarchive für den Zeitraum zwischen 2005 und 2009 ging hervor, dass Kelek durch zahlreiche Auftritte und Interviews häufig in den deutschen Medien präsent war. Sie verfasste eine Vielzahl an (Leit-)Artikeln für angesehene deutsche Zeitungen und kommentierte wichtige politische Entwicklungen, während andere politisch aktive führende Immigrantenvertreter nur selten die Gelegenheit bekamen, anders lautende Meinungen zu Gehör zu bringen. Auf diese Weise spielte der Mainstream der deutschen Medienlandschaft die Rolle, Themen mit vermeintlicher Aktualität zu besetzen, während durch die prominente Positionierung Ke-
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leks in der Diskussion von Integrationsthemen eigentlich eine einseitige Darstellung erfolgte. Die Ausschließlichkeit der von Necla Kelek und Ayaan Hirsi Ali verfolgten Diskurse ermöglichte es im Übrigen führenden Vertretern muslimischer Verbände zu argumentieren, dass die Frage der Geschlechterungleichheit in muslimischen Gemeinschaften nichts als die Ausgeburt des westlichen Journalismus sei, der lediglich das Ziel verfolge, muslimische Gemeinschaften zu verunglimpfen. Die gefährliche Folge hieraus ist, dass innerhalb muslimischer Gemeinschaften die Bedeutung der Praktiken der Geschlechterungleichheit wieder ignoriert oder als unbedeutend abgetan und verdrängt werden kann. Der rassistisch gefärbte Diskurs weiblicher Immigrantenvertreter hat so dazu beigetragen, die Frage der Frauenrechte in den Hintergrund zu drängen. Statt dessen wurde dieser Diskurs auf Grund des angeschlagenen Tons relevant, nicht wegen seiner Inhalte. Dies ist ein bedeutender Rückschritt in der Erreichung einer Gleichberechtigung, die auch die Unterschiede zwischen Immigrantinnen in Deutschland und anderswo berücksichtigt. So waren es also eher die führenden Immigrantenvertreterinnen und ihre rassistisch gefärbten Diskurse, die ins Zentrum der medialen und politischen Diskussion gerückt wurden, statt des eigentlichen Problems der Gewalt gegen Frauen in Immigrantengemeinschaften. Welche Fehler birgt der „governance feminism“? Halley bemerkt, dass der „governance feminism“ Frauen in verschiedensten Kontexten viele Vorteile beschert hat, beispielsweise die Institutionalisierung des Mutterschutzes, das passive wie auch das aktive Wahlrecht sowie Regelungen gegen sexuelle Belästigungen am Arbeitsplatz. Für den Rahmen dieses Essays kann gesagt werden, dass Governance Feministinnen dazu beitragen, ein Bewusstsein für Geschlechterungleichheiten in muslimischen Immigrantengemeinschaften zu schärfen, wie z. B. für Zwangsheiraten. Diese Bemühungen werden durch den Zuspruch führender Feministinnen belohnt. In Deutschland verteidigte Alice Schwarzer, Herausgeberin des Frauenmagazins „Emma“, Necla Kelek und Ayaan Hirsi Ali. Schwarzer bezeichnete das Kopftuch öffentlich als Flagge des Islam und ging sogar so weit, es mit dem Judenstern7 zu vergleichen, weil beide der sichtbaren Kennzeichnung dienten. Ihre Unterstützung für Hirsi Ali und Kelek formulierte sie folgendermaßen:
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Schwarzer sprach auch die Islamisierung Europas an und bemühte einen Vergleich zur Ära Hitlers, womit sie in gewisser Hinsicht die Ängste vor der Entstehung eines „Eurabien“ reproduzierte (Carr 2006).
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„Der Versuch, Necla Kelek als ,zu radikal’ oder gar als ,Verräterin’ zu isolieren, den finde ich aufschlussreich. Der erinnert mich an Reaktionen auf mich früher. Frauen wie Necla Kelek oder Ayaan Hirsi Ali wagen es, nicht nur die Omerta zu brechen, das Tabu des Schweigens, und den Islamismus zu kritisieren, sondern auch den Islam.“ (FAZ, 4. Juli 2006)
Schwarzers antimuslimische Ausdrucksweise erhielt mehr Aufmerksamkeit als der von ihr geäußerte Inhalt. Stigmatisierende Diskurse rückten in den Medien zunehmend in den Vordergrund, während die Frage der Frauenrechte nur sekundär behandelt wurde. Eine weitere Unterstützerin Keleks ist Rahel Volz von Terre des Femmes, die zwar nicht allen Ansichten Necla Keleks zustimmt, die aber darauf verweist, wie wichtig es ist, sich gegen Praktiken der Geschlechterungleichheit auszusprechen und das Bewusstsein für Themen zu schärfen, die dringend mehr Aufmerksamkeit verdienen, wie beispielsweise die Gewalt gegen Frauen in Immigrantengemeinschaften (Volz 2006). Es stelle eine wichtige Verbesserung dar, wenn führende Repräsentantinnen von Immigranten die Gewalt gegen Frauen in Immigrantenfamilien als Problem offen diskutierten. Selbst wenn wir die Bedeutung dieses Diskurses anerkennen, muss er doch in fünffacher Hinsicht als problematisch angesehen werden8: er führt zu einer rassistischen Überformung der Darstellung von Muslimen sowie zur Schaffung eines ahistorischen Kontextes und er kommt einem Aufruf zur Umsetzung einer assimilierenden Immigrationspolitik gleich. Darüber hinaus beinhaltet er die Tendenz zur Verschleierung anderer gesellschaftlicher Ungleichbehandlungen, denen muslimische Frauen möglicherweise ausgesetzt sind und führt zu einer fehlerhaften Interpretation von Forschungsdaten. Rassistische Überformung der Darstellung von Muslimen: Der Diskurs des „governance feminism“ bedient sich eines rassistisch überformten Bildes muslimischer Männer und Frauen. Auf der einen Seite werden im pro-westlichen Diskurs muslimische Männer als ungebildet und gewalttätig dargestellt, die durch ihre Besessenheit vom Phänomen der Jungfräulichkeit, der Familienehre und dem Bedürfnis nach Unterordnung der Frau unter den Mann getrieben sind. Dem gegenüber steht die muslimische Frau als Opfer ihrer eigenen Familie, die der Rettung bedarf. Diese Formen des Verständnisses sind wenigstens zum Teil durch kulturelle Medienikonen inspiriert, wie beispielsweise auf der Titelseite der Spiegel-Ausgabe „Allahs rechtlose Töchter“ aus dem Jahr 2004.
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Siehe auch Rostock/Berghahn 2008.
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Ahistorischer Kontext: Dieser Diskurs ist eine Erweiterung des Konzepts des „Kampfes der Kulturen“, in dem eine scharfe Trennlinie zwischen den jeweils homogenen Konzeptualisierungen des „Westens“ und der „Muslime“ gezogen wird. Auf der theoretischen Ebene tun Governance Feministinnen also lediglich Folgendes: sie „recyclen die selben orientalistischen Tropen, die der Westen seit der Kolonialzeit als Rechtfertigung dafür verwendet hat, Muslime zu kontrollieren und zu unterwerfen“ (Scroggins 2005). In ihrem Diskurs wird der weibliche Körper auf der Trennlinie zwischen Moderne und Rückständigkeit oder auch zwischen Zivilisation und Barbarbei positioniert (Yuval-Davis 1994). Weder der historische noch der politische Kontext der Beziehungen zwischen Okzident und Orient finden Berücksichtigung. Aufruf zur Umsetzung einer assimilierenden Immigrationspolitik: Die politische Agenda, auf der das Argument zur „Rettung“ muslimischer Frauen beruht, stellt auch eine schwer wiegende Kritik der multikulturellen Form der Integration von Immigranten in Europa dar (Korteweg/Yurdakul in diesem Band; Okin 1999). Der Argumentation der Fürsprecher dieser Kritik nach stellen auf einen Multikulturalismus abzielende Politikformen eine Gefahr für das Leben muslimischer Frauen dar. Um muslimischen Frauen eine Emanzipation zu ermöglichen, sollten westliche Regierungen einschreiten und Muslime dazu bewegen, westliche Werte wie beispielsweise die Geschlechtergleichheit zu übernehmen. Dies führt zu der irrigen Annahme, dass bei einer Übernahme des Konzepts der Gleichberechtigung im westlichen Sinne durch Muslime die häusliche Gewalt in den Familien muslimischer Immigranten zurück gehen würde (Korteweg/Yurdakul in diesem Band). Verschleierung anderer sozialer Ungleichbehandlungen von muslimischen Frauen: Durch die Positionierung muslimischer Frauen als Opfer muslimischer Männer verschleiert der „governance feminism“ andere Formen bestehender gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten gegenüber muslimischen Frauen. Bei diesen Feministinnen finden die breiter gefassten gesellschaftlichen Ungleichheiten innerhalb von Immigrantengemeinschaften keine Berücksichtigung, genau so wenig wie rassistische, ethnische oder religiöse Diskriminierung. Wie Halleh Ghorashi es ausdrückt, gehen sie davon aus, dass sich die sozioökonomischen Probleme von Immigranten auflösen, wenn sie sich erst einmal an die westlichen Gesellschaften angepasst haben. Dieser „kulturelle Fundamentalismus“ verschleiert viele Facetten sozialer Ungleichheit (2003: 166). Wenn Governance Feministinnen die Gewalt gegen Frauen in Immigrantenfamilien diskutieren, argumentieren sie, dass nur der „Westen“ oder westliche Regierungen muslimischen Frauen wirklich helfen können. Sie ignorieren dabei aber beispielsweise die geringen Bildungserfolge oder die erdrückende Arbeitslosigkeit unter muslimischen Immigranten in westlichen Staaten. Es wurde z. B.
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berichtet, dass von den Kopftuch tragenden muslimischen Frauen in Deutschland zu 21,5 % der ersten und zu 17,8 % der zweiten Immigrantengeneration entstammen (Deutsche Islam Konferenz 2009). Es gibt jedoch keine Statistiken über die sozioökonomischen Lebensbedingungen dieser Frauen. Es gibt aktuell keine verfügbaren statistischen Informationen über Kopftuch tragende Frauen, die arbeitslos sind oder nur innerhalb ihrer eigenen ethno-religiösen Gemeinschaft Arbeit finden können.9 Tatsächlich kann man in den großen Zeitungen generell nur selten etwas über die Arbeitslosenproblematik türkischer Frauen lesen – sehr viel häufiger hingegen wird über Ehrenmorde und andere Formen der Gewalt gegen muslimische Frauen berichtet, die durch muslimische Männer ausgeübt wurden (Fournier/Yurdakul in diesem Band). Zusammenfassend kann also festgestellt werden, dass Governance Feministinnen nur einen kleinen Ausschnitt dessen präsentieren, was möglicherweise wirklich innerhalb von Immigrantengemeinschaften geschieht. Verzerrte Interpretation von Forschungsdaten: Wie Laila Lalami, eine in den Vereinigten Staaten lebende marokkanische Autorin, es ausdrückt (und wie es sich auch aus dem weiter oben angeführten Punkt ergibt) dienen die von den Befürworterinnen des pro-westlichen Diskurses verfassten Bücher eher dem „Vernebeln denn dem Erhellen“ (siehe auch Zekri 2005). So wurde ihre jeweilige akademische Befähigung sicher nicht allzu kritisch hinterfragt. Darüber hinaus beruht ein großer Teil der von ihnen zur Dokumentation der Situation von muslimischen Frauen verwendeten „Forschungsdaten“ nicht auf empirischen Beweisgrundlagen. Lalami beobachtet hierzu, dass Manji Ereignisse und Anekdoten, die dem Kontrast zwischen „muslimischer Barbarei“ und „westlicher Aufgeklärtheit“ dienen, eher selektiv auswählt (2006). Um ein weiteres Beispiel anzuführen: es ist schlicht nicht möglich, die Zahl der in Deutschland bestehenden Zwangsehen exakt zu beziffern. Wir erfahren nur von Fällen, die den Behörden gemeldet werden. Dies geschieht in der Regel nur, wenn die Eheleute einen juristischen Prozess durchlaufen, da bei den meisten Zwangsehen in erster Linie eine emotionale Manipulation des Opfers erfolgt und nicht immer Formen der physischen Gewalt im Vordergrund stehen. Kelek aber gibt eine Schätzung ab, die offensichtlich weder auf belastbarem statistischen Material beruht, noch durch soziologische Erkenntnisse abgesichert ist.10 9 10
Ich danke Riem Spielhaus für diesen Hinweis. Eine weiter gehende Kritik an der soziologischen Qualität von Keleks Arbeit findet sich im Beitrag „Gerechtigkeit für die Muslime! Die deutsche Integrationspolitik stützt sich auf Vorurteile. So hat sie keine Zukunft. Petition von 60 Migrationsforschern“ in Die Zeit vom 2. Februar 2006. Siehe hierzu auch Keleks polemische Reaktion „Sie haben das Leid anderer zugelassen! Eine Antwort auf den offenen Brief von 60 Migrationsforschern: Sie ignorieren Menschenrechtsverletzungen, weil sie nicht in ihr Konzept von Multikulturalismus passen.“ in
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Und trotzdem müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass diese Frauen weithin Anerkennung gefunden haben und für ihre Anstrengungen entlohnt wurden: Ayaan Hirsi Ali verließ die Niederlande und wurde Mitarbeiterin des rechtskonservativen American Enterprise Institute. Necla Kelek erhielt den angesehenen Geschwister Scholl-Preis für ihren Beitrag zur deutschen Gesellschaft sowie für ihre Courage. Ihr Buch „Die Fremde Braut“ wurde vom ehemaligen Innenminister Otto Schily rezensiert. Irshad Manji erhielt großzügige finanzielle Unterstützung für ihre Forschungen an der Yale University. Schluss In diesem Essay habe ich den Versuch unternommen, auf der Grundlage der aktuellen Genderkritik am Islam antimuslimische Diskurse in Kreisen führender Immigrantenvertreterinnen mit muslimischem Hintergrund in Westeuropa und Nordamerika, besonders in Deutschland, den Niederlanden und Kanada zu untersuchen.11 Ich folge dabei der Argumentation, dass der rassistisch überformte Diskurs von Governance Feministinnen dazu geführt hat, dass das Problem der Gewalt gegen Frauen in den Hintergrund gerückt wurde, während antimuslimische und immigrantenfeindliche Diskussionen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit standen. Eine Aufgabe des Feminismus muss in diesem Kontext darin bestehen, sich um ein kontextuelles Verständnis des Lebens muslimischer Frauen innerhalb unterschiedlicher historischer und politischer Formationen zu bemühen, statt deren Leben ausschließlich aus einer westlich zentrierten Perspektive zu interpretieren. Schließlich geht es beim Feminismus nicht um die Verteidigung von Frauenrechten auf Kosten aller anderen; vielmehr stellt er ein Projekt dar, das auf gesellschaftliche Gleichbehandlung abzielt, um damit auch eine gleichberechtigte und lebenswertere Basis für ein gesellschaftliches Leben auch aller diskriminierten Gruppen zu ermöglichen.
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Die Zeit vom 8. Februar 2006. In jedem Fall lässt Keleks Antwort einen akademischen Mangel erkennen und bietet lediglich polemische Argumente, die in keiner Form auf Fakten basieren. Diese Beispiele könnten sicherlich um weitere Beispiele aus anderen westlichen Ländern erweitert werden, beispielsweise aus Frankreich oder den Vereinigten Staaten.
Juden und Türken in Deutschland: Integration von Immigranten, Politische Repräsentation und Minderheitenrechte Gökce Yurdakul
Erster Exkurs: Im Juli 2008 brach eine öffentliche Diskussion darüber aus, ob Deutsch-Türken1 sich mit der deutsch-jüdischen Trope als politischem Modell in Verbindung bringen können. Diese öffentliche Kontroverse entzündete sich an einer Äußerung von Professor Faruk en, dem Direktor des Zentrums für Türkeistudien (im Folgenden ZfT) in Essen.2 en sagte in einem Zeitungsinterview, dass die Türken die neuen Juden Europas seien:3 „Nach der großen Vernichtung, die die Auslöschung der Juden in Europa zum Ziel hatte, wurden 5,2 Millionen Türken zu den neuen Juden Europas. Unsere Landsleute, die seit 47 Jahren in Mittel- und Westeuropa gelebt haben, hatten trotz der Tatsache, dass sie mit 45 Milliarden Umsatz und 125.000 Unternehmern zur Wirtschaft beitragen, wie die Juden unter Diskriminierung und Ausschluss zu leiden, obschon
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Die Studie, die in diese Publikation mündete, wurde durch ein postdoktorales Forschungsstipendium des Berlin Program for Advanced German and European Studies sowie großzügige Zuwendungen der Freien Universität Berlin (2008-9) unterstützt. Die Schlussfolgerungen, Meinungen und weiteren Aussagen dieser Publikation gehen jedoch lediglich auf mich zurück und entsprechen nicht zwangsläufig denen der angesprochenen Förderinstitutionen. Frühere Versionen dieser Arbeit wurden präsentiert am Van Leer Institute Jerusalem (2009), bei der Association for the Studies in Nationalities New York (2009) sowie im Rahmen des Wissenschaftskollegs Berlin EUME Program (2009). Ich danke den Organisatoren und Teilnehmenden für ihren Bemerkungen und Anregungen. Darüber hinaus möchte ich mich bei Karin Goihl, Umut Azak, Nadine Blumer und Ian Leveson für ihre Anmerkungen zu früheren Versionen bedanken. Der Begriff Deutsch-Türken wird hier zur Bezeichnung von türkischen Immigranten und ihren in Deutschland geborenen Kindern verwendet. Dieses Zentrum ist wohl die etablierteste Forschungsstätte für den Themenbereich türkischer Immigranten in Deutschland. Weitere Informationen unter: www.zft.de. ens Aussage fand sich in der entsprechenden türkischen Zeitung in folgender Form: „Büyük ktytm sonrastnda Yahudilerden artndtrtlmaya çalttlan Avrupa'da 5 milyon 200 bin Türk, yeni Yahudiler haline gelmi bulunuyor. 47 ytldtr yalt kttantn orta ve battstnt da kendisine yurt edinen insanlartmtz; aralartndan 45 milyar euro ciro yapan 125 bin giriimci çtkardtklart halde, farklt ölçek ve görünümlerde de olsa, Yahudilerin kartlattklart ayrtmctltk ve dtlamalara maruz kaltyorlar“ (Referans, 19. Mai 2008).
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in anderem Ausmaß und anderen Formen.“ (ursprünglich aus dem Türkischen; Referans Gazetesi, 19. Mai 2008)
Im Anschluss an diese Äußerung wurde Professor en von verschiedenen Personen des öffentlichen Lebens, u. a. von Politikern, Schriftstellern und Wissenschaftlern, heftig kritisiert.4 Die schärfste Kritik kam dabei vom Integrationsminister Nordrhein-Westfalens, Armin Laschet (CDU): „[…] der Vergleich ist und bleibt inakzeptabel, er ist auch eine Verkennung deutscher Integrationspolitik. Die Aussage trifft insbesondere die deutsche Gesellschaft. [So] darf man ... die Deutschen und die deutsche Gesellschaft nicht mit der Zeit vor 1945 vergleichen. Dieser Vergleich ist auch wissenschaftlich nicht haltbar und en spricht in seiner Funktion als ZfT-Direktor.“ (Dirk Graalman im Interview mit Armin Laschet, Süddeutsche Zeitung, 1. Juli 2008)
In Folge dieser Ereignisse entschuldigte sich en offiziell beim Zentralrat der Juden und in einem Interview mit der Jüdischen Allgemeinen erkannte er an, dass es sich bei seiner Äußerung um einen „Ausrutscher“ gehandelt habe (Tobias Kühn im Interview mit Faruk en, Jüdische Allgemeine, 3. Juli 2008).5 Als Ergebnis dieser Kontroverse,6 und trotz seiner öffentlichen Entschuldigung fand
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Seine Bemerkungen erschienen in deutschen Zeitungen und der europäischen Ausgabe der türkischen Tageszeitung Hürriyet in unterschiedlicher Form. Die deutschen Zeitungen konzentrierten sich auf die Angemessenheit der Äußerung (taz, 5.-6. Juli 2008), und gingen der Frage nach, ob sie Juden gegenüber beleidigend sei (taz, 3. Juli 2008). Außerdem wurde erörtert, ob eine politische Motivation hinter der Kontroverse stünde (FAZ, 3. Juli 2008). In der türkischen Tageszeitung Hürriyet jedoch wurde der Vorfall als politische Falle der FDP diskutiert. Das Geschehen wurde als Versuch der FDP dargestellt, das SPD-Mitglied en durch einen eigenen Kandidaten zu ersetzen (8. Juli 2008), und die Frage nach der Angemessenheit der Äußerung war kaum Bestandteil der Diskussion. In der türkischen Gemeinschaft in Berlin gibt es die Auffassung, en könnte Professor an der Türkisch-Deutschen Universität werden (persönliches Gespräch mit Safter Çtnar, 8. Oktober 2008, Berlin). Dies ist jedoch bislang unbestätigt. Im selben Interview wiederholte en jedoch seine Meinung, Juden hätten eine starke politische Lobby, weshalb sich Türken mit Juden solidarisieren sollten (Jüdische Allgemeine, 3. Juli 2008) Diese Kontroverse war sehr idiosynkratisch. Erstens wurde der ursprüngliche Artikel über en am 19. Mai 2008 auf türkisch veröffentlicht. Die Kontroverse in Deutschland begann jedoch erst im Juli 2008, und dieser Zeitversatz ist problematisch. Zweitens erfuhr en für seine Äußerungen Unterstützung von Seiten türkischer Juden, was in der Presse nur wenig Beachtung fand. Drittens veröffentlichte der Zentralrat der Juden eine Pressemitteilung, aus der hervorging, dass der Zentralrat offensichtlich keine Probleme mit der Äußerung hatte. Trotzdem verspürten einige Personen der deutschen Öffentlichkeit ein gewisses Unbehagen. Die Abfolge dieser Ereignisse kann über die ersten zwei Juliwochen des Jahres 2008 in deutschen Zeitungen nach verfolgt werden.
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sich en zunächst aus seinem Büro ausgeschlossen und schließlich von seiner Position am Zentrum entbunden wieder. Zweiter Exkurs: Im Jahr 2005 gewann Aslt Bayram, die 1981 als Tochter in eine türkische7 Gastarbeiterfamilie geboren wurde, einen Schönheitswettbewerb und wurde damit Miss Germany. In der Folge wurde sie ausgewählt, in einem Stück über die jüdische Heldin Anne Frank die Hauptrolle zu spielen. Sie wurde hierzu in der unter Intellektuellen wohl populärsten Wochenzeitung Die Zeit zu ihrem Erfolg als junge Frau in Deutschland interviewt. Die Redakteure von Die Zeit verwiesen auf den paradoxen Rollentausch zwischen Aslt und Anne Frank: „Aslt, die Muslimin, wird Anne sein, die Jüdin“ (Zeit Magazin Leben, 20. März 2008). Sie führten auch die Gemeinsamkeiten im Leben Aslts und dem von Anne Frank auf: beide wurden Opfer der Gewalt von Nazis. Nach Aslts Aussage war ihre Familie in ihrer Heimatstadt Darmstadt häufig das Ziel verbaler Angriffe von Neonazis. Am 18. Februar 1994 klingelte es bei Familie Bayram an der Tür. Als Aslt die Tür öffnete, stand davor ein Nachbar, der sie und ihre Schwester schon oft beschimpft hatte. Sie rief ihren Vater, und der Nachbar schoss auf sie beide. Ihr Vater starb, Aslt selbst wurde verletzt. Der Nachbar wurde zu neun Jahren Gefängnis verurteilt, wurde aber bereits vor Ablauf der vollen Strafe wieder frei gelassen. Bei einem Besuch im Haus von Anne Frank hinterließ Aslt folgenden Eintrag im Gästebuch, dessen doppelte Bedeutung sich sowohl auf ihr eigenes Leben, als auch auf die Opfer des Nationalsozialismus in Deutschland bezog: „Niemals vergessen“ (Zeit Magazin Leben, 20: März 2008). Dritter Exkurs: In der Ausgabe vom 23. September 2004 erschien im Wochenmagazin Der Stern eine Karikatur, von der zwar in der deutschen Öffentlichkeit kaum Notiz genommen wurde, die aber in der türkischen Gemeinschaft für große Empörung gesorgt hatte. Sie zeigte einen stereotypen älteren türkischen Mann mit finsterem Schnurrbart, der versuchte, durch die Katzenklappe eines großen Tors zu kriechen. Das Tor war mit „Europäische Union“ beschriftet und die Katzenklappe mit einem Zweizeiler in imitiert-arabischer Schrift verziert – obgleich die arabische Schrift im Türkischen bekanntlich nicht benutzt wird. Nicht nur eine orientalistische, sondern auch eine gängige anti-jüdische Grundstruktur ließ sich in 7
Falls nicht anders kenntlich gemacht, bezieht sich die Bezeichnung „türkisch“ auf Personen, die aus der Türkei stammen, gleich welcher Ethnizität.
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der Karikatur erkennen: das Bild des jüdischen Untermenschen, der die deutsche Gesellschaft unterwandert. Vural Öger, prominenter deutsch-türkischer Geschäftsmann und Abgeordneter im Europaparlament schrieb hierzu einen offenen Brief an den Stern und bezeichnete die Karikatur als diffamierend, obszön und als Futter für neo-nazistische Propaganda. Öger schloss seinen Brief wie folgt: „Ein junger Türke mit deutschem Pass, nicht allein hierzulande schon auf die Welt gebracht, nein, auch erzogen, hat im Geschichtsunterricht von Hitlers Anfängen gehört und dann gemeint, das sei eine Zeichnung, wie sie damals auch im ,Stürmer’ stand. Nur hätten die Juden andere Nasen bekommen. Hier im ,stern’ sei die Nase durch den Schnurrbart ersetzt worden, sonst aber sei das alles derselbe rassistische Mist.“ (Hürriyet, 2. Oktober 2004)
Ögers Reaktion auf die Karikatur im Stern verdeutlicht, dass führende deutschtürkische Repräsentanten sich nicht nur kenntnisreich des deutsch-jüdischen politischen Diskurses bedienen können, sondern diesen auch geschickt für ihre eigenen Zwecke zu nutzen wissen. Es ist ihnen bekannt, dass es nur teilweise wirksam ist, Deutsche per se eines antitürkischen Rassismus zu bezichtigen. Die rhetorisch effektivere Variante ergibt sich aus einer Verknüpfung der türkischen Belange mit denen der jüdischen Bevölkerung. Diese Strategie zwingt Deutsche dazu, türkischen Intellektuellen Gehör zu schenken, da das deutsche Umfeld an diesem Punkt noch immer verwundbar ist. Ögers Kommentar und vergleichbare Äußerungen stehen repräsentativ für die grundlegende Art der Verwendung der jüdischen Thematik durch türkische Repräsentanten. Einführung Ob in der akademischen Welt, der künstlerischen Szene oder in politischen Diskussionen – Türken und Juden werden als Partner dargestellt: beide Gruppen sind Opfer „rassistischer“ Diskriminierung8 in Deutschland. In diesem Artikel 8
Obwohl hier die Worte „Rasse“, „Rassismus“ und „Ethnizität“ verwendet werden, sind mir als Autorin die kulturelle Beschränktheit dieser Begriffe durchaus bewusst. Zum einen ist „Rasse“ ein Begriff, der im nordamerikanischen Kontext zur Beschreibung von Unterschieden zwischen der weißen und der schwarzen Bevölkerung verwendet wird. Die geschichtliche Entwicklung des Begriffs „Rasse“ ist in Deutschland jedoch eine andere, weshalb mit der gebotenen Vorsicht von seiner öffentlichen Verwendung abgesehen wird, ebenso in der akademischen Welt wie auch in den Medien. Statt dessen wird rassistische Diskriminierung gegenüber Türken mit dem Begriff „Ausländerfeindlichkeit“ beschrieben (Mandel 2008). Darüber hinaus soll in diesem Artikel aufgezeigt werden, dass das Konzept der „Rasse“ lediglich ein soziales Konstrukt ist (Goldberg 2002; Mills 1997). Weder Türken noch Juden stellen eine „Rasse“ dar und können deshalb eigentlich kein Ziel von Rassismen sein. Die offizielle Definition des Internationa-
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soll versucht werden aufzuzeigen, wie sich politische Beziehungen zwischen Immigranten und Minoritäten in Bezug auf Türken und Juden in Deutschland gestalten, besonders im Umgang mit „rassistischer“, „ethnischer“ und religiöser Diskriminierung. Untersucht werden soll dabei die Frage, inwiefern sich die politische Führung der zahlenmäßig größten und geschichtlich betrachtet jüngsten Immigrantengruppe der Türken zum Zwecke der eigenen zukünftigen Einfügung in die deutsche Gesellschaft die Minorität deutscher Juden zum Vorbild nimmt, die auf Grund ihrer langen Geschichte in Deutschland wie auch wegen der jüngeren deutschen Vergangenheit eine Schlüsselposition einnimmt. Darüber hinaus wird der Frage nachgegangen, wie führende Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland auf die Versuche führender Repräsentanten der türkischen Immigranten reagieren, sich im Kampf gegen Diskriminierung und bei der Suche nach politischer Solidarität in Deutschland mit der jüdischen Bevölkerung zu verbünden. Das gemeinsame Thema aller drei zu Beginn präsentierten Exkurse besteht darin, dass sich führende türkische Repräsentanten in Deutschland auf die deutsch-jüdische Trope als Modell für die „rassistische“ Diskriminierung beziehen, mit der sie sich konfrontiert sehen. Im ersten Diskurs argumentiert en, dass türkische Immigranten diskriminiert werden, selbst wenn sie finanziell erfolgreich sind, gerade wie das bei den Juden vor dem Zweiten Weltkrieg der Fall war. Im zweiten Exkurs wird deutlich, welche Überschneidungen sich zwischen dem Leben einer jungen deutsch-türkischen Schauspielerin und der jüdischen Geschichte in Europa auftun. Selbst Opfer von rassistischen Gewaltangriffen, verkörpert sie als Schauspielerin die junge Anne Frank und stellt eine Verbindung zwischen eigenen Erfahrungen und denen Anne Franks her. Im letzten Exkurs bemerkt Vural Öger bissig, dass türkenfeindliche Darstellungen in deutschen Medien der antisemitischen Propaganda vor und während dem Zweiten Weltkrieg ähneln. In allen drei Exkursen werden Parallelen zwischen türkenfeindlichen Rassismen und dem Antisemitismus gezogen. Ein solches Ziehen von Parallelen zwischen Rassismus und Antisemitismus ist eine von mehreren Strategien, die von den Repräsentanten der deutschlen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung der Vereinten Nationen lautet jedoch folgendermaßen:„Der Ausdruck ,Rassendiskriminierung’ bezeichnet jede auf der Rasse, der Hautfarbe, der Abstammung, dem nationalen Ursprung oder dem Volkstum beruhende Unterscheidung, Ausschließung, Beschränkung oder Bevorzugung, die zum Ziel oder zur Folge hat, dass dadurch ein gleichberechtigtes Anerkennen, Genießen oder Ausüben von Menschenrechten und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen oder jedem sonstigen Bereich des öffentlichen Lebens vereitelt oder beeinträchtigt wird.“ Diese Definition dient als Grundlage für die hier erfolgende vorsichtige Verwendung von Begriffen des Wortfeldes „Rasse“, wobei ein breiteres Verständnis dafür gelten soll, dass Rassismus alle Formen „rassistischer“ Diskriminierung umfasst.
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türkischen Bevölkerung im Bemühen um politische Sichtbarkeit eingesetzt wird. Tatsächlich verwenden sie dabei das deutsch-jüdische Motiv als politisches Modell in drei Hauptbereichen: 1) stellen sie Analogien zwischen Rassismus und Antisemitismus her und kürzlich erfolgte auch die Verknüpfung von Antisemitismus und Islamophobie; 2) sie beziehen sich auf die jüdische Gemeinschaft als strukturelles Modell zur Organisation einer politischen Lobby; und 3) sie verwenden das deutsch-jüdische Motiv als Modell für die Einforderung religiöser Rechte in Deutschland. Bei der Verwendung des deutsch-jüdischen Motivs nutzen die führenden deutsch-türkischen Repräsentanten unterschiedliche aber sich überschneidende politische Strategien: in ihren Ansprachen suchen sie nach Wegen, sich mit der jüdischen Gemeinschaft zu solidarisieren, sie suchen nach Wegen der Kooperation in Kampagnen und bei Veranstaltungen, und sie verwenden diskursive Modelle, um direkte Vergleiche zwischen Antisemitismus, Rassismus und Islamophobie zu ziehen. Im ersten Teil des Artikels liegt das Hauptaugenmerk auf dem theoretischen Hintergrund, bevor im zweiten Teil des Artikels dann die Geschichte der deutschen Juden als Minderheit sowie die der Deutsch-Türken als größte Immigrantengruppe diskutiert werden soll. Im dritten Teil erfolgt die Untersuchung der Frage, welche Bezüge deutsch-türkische Repräsentanten hinsichtlich der Ähnlichkeiten zwischen Antisemitismus, türkenfeindlichem Rassismus und Islamophobie herstellen. Anschließend wird diskutiert, in welcher Form sich türkische Immigrantenvertreter auf jüdische Verbände als Strukturmodell wie auch als politische Lobby zur Organisation einer Minderheit in Deutschland beziehen. Darauf folgend untersuche ich, wie türkische religiöse Verbände die jüdische Trope in ihrem Bemühen um religiöse Gruppenrechte als Modell verwenden. Im vierten Teil des Artikels sollen die Reaktionen der Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft auf die modellhafte Verwendung des deutsch-jüdischen Motivs untersucht werden. An dieser Stelle sollen zwei gegenläufige Ansichten innerhalb der jüdischen Gemeinschaft dargestellt werden: einige fühlen sich mit dem türkischen Ansatz zur Annäherung an die Juden in Deutschland nicht recht wohl (diese sollen als Skeptiker bezeichnet werden), während andere Verbündete ihrem muslimischen Gegenüber mit offenen Armen begegnen. Abschließend soll ein Wechsel der theoretischen Perspektive vorgeschlagen werden, um eine erleichterte und detailliertere Untersuchung der Integration von Immigranten in westeuropäischen Gesellschaften zu ermöglichen. Bevor ich mit einer theoretischen Diskussion beginne, sollten noch drei Klarstellungen hinsichtlich der verwendeten Terminologie und des analytischen Modells erfolgen. Zum ersten erfolgt in diesem Artikel eine Diskussion der Art und Weise, in der führende deutsch-türkische Repräsentanten auf das deutschjüdische Motiv aufbauen, das sie als politisches Modell verwenden, um politisch
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an Sichtbarkeit zu gewinnen und Strategien für die Integration in die deutsche Gesellschaft zu entwerfen. Das verwendete analytische Modell beschränkt sich also nicht auf einen einfachen Vergleich zwischen den türkischen und jüdischen Gemeinschaften in Deutschland. Mit seiner Hilfe soll vielmehr auf vielschichtige Weise analysiert werden, wie Immigranten auf den historischen Erfahrungen bestehender Minoritäten in einem Land aufbauen, um eigene Integrationsstrategien zu entwickeln. Zum zweiten sind die Hauptakteure dieses analytischen Modells führende deutsch-türkische Repräsentanten – und nicht alle türkischen Immigranten in Deutschland. Der Begriff der führenden deutsch-türkischen Repräsentanten bezieht sich dabei auf politisch aktive Mitglieder der deutsch-türkischen Gemeinschaft, die sich in Politik und Parlamenten in Deutschland engagieren. Hierbei handelt es sich um eine kleine elitäre Gruppierung mit signifikanter politischer Sichtbarkeit in der deutschen Politik- und Medienlandschaft. Die von diesen Personen vorgebrachten Ideen stimmen dabei nicht notwendigerweise mit denen der türkischen Immigranten in Deutschland überein – zumal diese eine sehr heterogene Gruppe bilden. Drittens soll mit Hilfe des hier verwendeten deutsch-jüdischen Motivs auf eine spezifische Form der Identitätskonstruktion verwiesen werden. Hierbei geht es um die deutsch-jüdische Minderheit, die Opfer des Holocausts wurde, und deren Nachfahren, die heute in Deutschland leben und um den Zentralrat der Juden herum eine Solidargemeinschaft bilden. Dies bezieht sich eher weniger auf alle in Deutschland lebenden Juden: weder auf die aus der früheren Sowjetunion als Kontingentflüchtlinge emigrierten, noch auf Israelis, die sich entschlossen haben, in Deutschland zu leben. In der abschließenden Argumentation soll dargestellt werden, dass die deutsch-türkischen Repräsentanten aktiv an Integrationsstrategien arbeiten und dabei weder passiv den Integrationsstrategien der bundesdeutschen Behörden folgen, noch die Strategien in Deutschland lebender Juden übernehmen, ohne diese ihren eigenen Zielsetzungen entsprechend anzupassen. Theoretische Herausforderung: Integration von Immigranten neu gedacht Als theoretisches und politisches Konzept bezieht sich die Integration von Immigranten auf das Ausmaß, in dem Immigranten Teil der Mehrheitsgesellschaft werden. In theoretischen Diskussionen wird die Integration von Immigranten häufig anhand der wirtschaftlichen und sozialen Partizipation in der Mehrheitsgesellschaft gemessen. In Studien, deren Hauptgegenstand Immigranten in Westeuropa und Nordamerika sind, wird die mehr oder weniger erfolgreiche
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Integration von Immigranten in einem Kontinuum verortet. In den erfolgreichsten Fällen von Integration entspricht der Status von Immigrantengemeinschaften dem der Mittelklasse und der Oberschicht der Mehrheitsgesellschaft. Die Mitglieder dieser Gemeinschaften gehen fast problemlos in der sie umgebenden Gesellschaft auf und lassen ihre kulturellen Unterschiede dabei hinter sich zurück. Beispiele nicht erfolgreicher Integration finden sich am anderen Ende des Kontinuums. In diesen Fällen findet eine Zuordnung der Immigrantengemeinschaften zu den niederen Klassen statt. Sie bilden eigene Wohngegenden mit eigenen Institutionen, arbeiten nicht für das „Gemeinwohl“ und halten stark an ihren eigenen Traditionen und religiösen Praktiken fest.9 Frühere Theorien zur Integration von Immigranten in der nordamerikanischen sozialwissenschaftlichen Literatur basierten auf der Arbeit von Autoren wie Robert Park von der Chicago School (1928) und Milton Gordon (1964). In diesen Theorien wird davon ausgegangen, dass sich Immigranten durch Assimilation in ein homogenes amerikanisches Kulturmodell einfügen. Zum einen vernachlässigt Gordon dabei, welche Modifikationen dieses Kulturmodell durch die Immigranten erfährt. Darüber hinaus werden Assimilation und vertikale Mobilität in einen Zusammenhang mit der sozialen Mobilität von Individuen und nicht von Immigrantengruppen gestellt; frühe Theorien enthalten auch nicht das Konzept sich mit der Zeit verändernder ethnischer Grenzen. Nachfolgende Ansätze zum Verständnis der Integration von Immigranten, wie der des geteilten Arbeitsmarktes bei Edna Bonacich (1980) oder der Theorie ethnischer Enklaven bei Alejandro Portes (1992) sind als ökonomische Modelle nur eingeschränkt gültig. Außerdem enthalten sie keine Erklärungen zur sozialen, kulturellen und politischen Integration von Immigranten (Alba/Nee 1997; Schmitter-Heissler 1992), den Themen also, die die gegenwärtige Diskussion am stärksten dominieren. Ein bislang vernachlässigtes Thema stellt die Möglichkeit tätigen Handelns von Immigranten dar – die Fähigkeit von Immigranten, Strategien zur eigenen Integration in die Mehrheitsgesellschaft zu entwickeln. Ein gedanklicher Neuansatz der Theorie wird in Modellen deutlich, die im Kontext der Globalisierungsdiskussionen der 1990er und frühen 2000er Jahren entwickelt wurden. Diese Modelle umfassen: Transnationalismus, Postnationalismus sowie eine intensive Diskussion von Gruppenrechten und Multikulturalismus10 (siehe Bloemraad/Korteweg/Yurdakul in diesem Band; Schmitter-Heissler 1992). Und seit noch jüngerer Zeit überdenken Wissenschaftler auch den problematischen Ge9 10
Das Konzept der Integration von Immigranten umfasst zwei analytische Komponenten: Klasse und Rasse/Ethnizität. Der Multikulturalismus erscheint bereits in den Werken Milton Gordons (1964), die jüngeren Diskussionen des Multikulturalismus unterscheiden sich jedoch grundlegend von seinen Modellen.
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brauch des Konzepts der Ethnizität (Brubaker 2004; Wimmer 2007). In einem neuen und flexibleren Modell der Integration von Immigranten wird das Konzept der „Grenzziehung“ als analytisches Werkzeug verwendet, durch das das tätige Handeln von Immigranten ebenfalls berücksichtigt wird (Alba 2005; Korteweg/Yurdakul in diesem Band; Lamont/Molnar 2002; Wimmer 2008; Zolberg/Woon, 1999).11 So ausgefeilt sie auch sein mögen, sind Analysen der Grenzziehungen jedoch durch ein Modell inspiriert, das auf einer zwischen „uns“ und „ihnen“ verlaufenden Achse basiert. Selbst mit Hilfe dieses analytischen Werkzeugs werden also tiefer gehende kulturelle und historische Bedeutungen des größeren sozialen Kontextes noch immer vernachlässigt. Meine Arbeit beruht maßgeblich auf Theorien zur Integration von Immigranten, die der jüngeren Diskussion entstammen. Dabei ist von besonderer Bedeutung, dass das tätige Handeln von Immigranten im Rahmen des historischen Kontexts sowie eines gegebenen kulturellen Repertoires berücksichtigt wird (Geertz 1976; vgl. auch Sayad 2004; Swidler 1986). Ich spreche mich also für ein facettenreiches Verständnis tätigen Handelns von Immigranten aus, bei dem die kulturellen und historischen Bedeutungen des sozialen Umfelds Beachtung finden, dass zur Ausformung der Aktivitäten von Immigranten beiträgt. Unter Bezugnahme auf die von Clifford Geertz formulierte „dichte Beschreibung“12 argumentiere ich, dass sich die Integration von Immigranten um ein kulturelles Repertoire herum entwickelt, das von den Mitgliedern der entsprechenden Gruppe kontinuierlich regeneriert, erlernt und angenommen wird. Manchmal erfolgt dies anonym, in anderen Fällen mit klarem Vorsatz und durch bekannte Akteure (Even-Zohar 2003; Lamont/Fleming 2005). Eine Soziologie der Migration, in der die Integration von Immigranten auf Modelle eines „uns“ und „ihnen“ reduziert wird, stelle ich explizit in Frage. Vielmehr gehe ich vom Vorhandensein eines kulturellen Repertoires aus, dass das tätige Handeln von Immigranten zum Kern hat. In anderen Worten soll hiermit angeregt werden, sich eine „dichte Beschreibung“ der Integration von Immigranten vor Augen zu halten (Geertz 1976). In dieser Studie interethnischer Beziehungen zwischen Juden und Türken in Deutschland soll die Integration von türkischen Immigrantengemeinschaften innerhalb ihres eigenen kulturellen Repertoires erforscht werden. Inwiefern be11 12
Im Kern von auf der Grundlage der „Grenzziehung“ getätigten Analysen stehen imaginierte homogene Immigrantengruppen. Der Begriff der dichten Beschreibung entstammt der kulturellen Anthropologie und bezieht sich auf die kulturellen Bedeutungen menschlichen Handelns in sozialen Kontexten. Ein gut bekanntes Beispiel ist der Unterschied zwischen einem Zwinkern als sozial bedeutungstragender Handlung und einem reflexartigen Blinzeln als unwillkürlicher Handlung. Die am deutlichsten emblematische Studie der dichten Beschreibung findet sich in Clifford Geertz’ Essay „Deep Play: Notes on the Balinese Cockfight“ (1972).
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ziehen sich führende deutsch-türkische Repräsentanten beim Verhandeln der eigenen Mitgliedschaft und Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft auf die deutsche Nachkriegsgeschichte und die daraus resultierenden aktuellen Auswirkungen in Deutschland? Welche Integrationsstrategien verhandeln die Eliten der Immigranten mit führenden Mitgliedern der deutschen Gesellschaft, einschließlich Politikern, Aktivisten und Journalisten? In welcher Form beziehen sich führende deutsch-türkische Repräsentanten auf das jüdische Modell, und welche Vor- bzw. Nachteile hat dies für sie hinsichtlich der Definition eigener Integrationsstrategien? Und wie reagieren schlussendlich die Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland auf die türkische Inbesitznahme der deutschjüdischen Trope als Verhandlungsmodell für Mitgliedschaft und Zugehörigkeit? Fallstudien: Juden und Türken in Deutschland Juden Deutschland, so das gängige Argument, ist wohl das letzte Land, in dem Juden leben wollen würden (Fleischmann 1980). Aber in den vergangenen Jahrzehnten hat sich Deutschland zu einem Land der großen und kleinen Gedenkstätten für den Holocaust entwickelt. Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin befindet sich auf einem Grundstück der Größe zweier Fußballfelder gegenüber dem Brandenburger Tor und stellt damit, sowohl in symbolischer als auch in materieller Hinsicht, wohl eines der wertvollsten Stücke Grundbesitz in Deutschland dar. Als weiterer Ort des Gedenkens öffnete das Jüdische Museum in Berlin im Jahr 2001 seine Pforten der Öffentlichkeit. Der vom jüdischen Architekten Daniel Libeskind entworfene Bau ist mit dem ehemals als Berlin Museum geplanten Gebäude durch beinahe schon organische Durchgänge verbunden und stellt so auf symbolischer Ebene implizit dar, dass in die Geschichte Berlins eben auch jüdische Geschichte eingebettet ist (Young 2004). Und doch existiert die jüdische Vergangenheit hier hauptsächlich in Form von Museen und Gedenkstätten, die häufig unter Polizeischutz stehen und manchmal sogar von Stacheldraht umgeben sind (Bodemann 1996; Legge Jr. 2003). Es ist heute jedoch nicht mehr so, dass deutsche Juden „auf gepackten Koffern sitzen“, und besonders für russische Juden gilt Deutschland als attraktives Land zum Leben. Augenscheinlich ist das soziale Sicherungssystem mit der vergleichsweise großzügigen Gesundheitsversorgung einer der Hauptgründe für die Anziehungskraft Deutschlands auf viele russische Juden (wie auch auf andere Immigranten).
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Darüber hinaus ist mit der Ankunft der russischen Juden das jüdische Leben in Deutschland weiter belebt worden. Landesweit arbeitende jüdische Organisationen florieren: der Zentralrat der Juden und die Zentralwohlfahrtsstelle, die örtlichen Jüdischen Gemeinden, Gemeinschaftsorganisationen und Kulturzentren in Berlin und anderswo (beispielsweise der Jüdische Kulturverein), Zeitungen (z. B. die Jüdische Allgemeine), Buchläden, Synagogen, Restaurants, Friedhöfe und Museen. Der Staat treibt eine Kirchensteuer von den Mitgliedern der jüdischen Gemeinden ein, die der Finanzierung derselben dienen. Der Zentralrat der Juden, einschließlich Rabbis und führender Repräsentanten der Gemeinschaft, genießt landesweite politische Anerkennung und der Jüdische Kulturverein in Berlin sowie weitere jüdische Gruppen veranstalten zahlreiche jüdische kulturelle Ereignisse. Darüber hinaus ist es Juden gestattet, das Schächten, also das religiös begründete Schlachten von Opfertieren, durchzuführen. Auch verfügen sie über eigene konfessionelle Schulen. Da sie jedoch einen gewissen Grad an institutioneller Getrenntheit wahren, ist es nicht leicht zu ergründen, ob und wie sehr sich Juden in Deutschland heimisch fühlen. Schließlich gab es auch im Jüdischen Kulturverein in Berlin Diskussionen über die Frage, ob Juden sich selbst als deutsch bezeichnen sollten (Bodemann 2002; Brumlik 2004; Fleischmann 1980).13 Eine nennenswerte Zahl Israelis deutsch-jüdischer Herkunft wandern nach Deutschland ein, um die ehemals bestehende deutsche Staatsbürgerschaft ihrer Großeltern für sich zu beanspruchen. Deutschland ist für diese jungen Menschen aus verschiedenen Gründen attraktiv: einerseits auf Grund der umstrittenen Politik Israels, gekoppelt mit dem lang anhalten Konflikt Israels mit Palästina, aber auch wegen des Dilemmas, in jungen Jahren zur Armee gehen zu müssen. Dazu kommt die allgemein mangelnde Sicherheit im öffentlichen Leben. Andererseits sind sie auch auf der Suche nach besseren Beschäftigungsmöglichkeiten, einem lebendigen kulturellen Umfeld und vielleicht auch ihren eigenen deutschen Wurzeln (Oz-Salzberger 2001). Im deutschen Recht ist die Wiedererlangung der Staatsbürgerschaft für ehemalige deutsche Staatsangehörige (und deren Nachkommen) vereinfacht – besonders gilt dies für in der Nazizeit verfolgte Juden – ganz gleich, welche weiteren Nationalitäten diese Personen sonst noch haben mögen.14 In Folge des 13
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Die deutlichste Aussage hierzu stammt von Micha Brumlik, der in seinem Artikel „Dies ist mein Land“ überzeugt von einem deutsch-jüdischen Patriotismus sprach (Jüdische Allgemeine, 23. Dezember 2004).Der Titel ist dabei eine Anspielung auf Lea Fleischmanns Buch „Dies ist nicht mein Land“ (1980). Siehe auch Y. Michal Bodemann (2002): „In den Wogen der Erinnerung. Jüdische Existenz in Deutschland.“ Artikel 116 Abs. 2 des Grundgesetzes lautet: „Frühere deutsche Staatsangehörige, denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist, und ihre Abkömmlinge sind auf Antrag
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Holocausts wurden im Nachkriegsdeutschland spezielle Bedingungen geschaffen, die eine Immigration von Juden nach Deutschland fördern sollten. Diese neuen jüdischen Immigranten haben das Recht, um ein beschleunigtes Einbürgerungsverfahren zu ersuchen. Schätzungsweise leben etwa 5.000 Juden deutscher Herkunft in Deutschland.15 Die Gesamtzahl der in Deutschland lebenden Juden wird auf etwa 107.000 geschätzt (Religionswissenschaftlicher Medien und Informationsdienst e.V. 2007). Deutsch-Türken Siebzehn Jahre nach der versuchten Auslöschung deutscher Juden in Konzentrationslagern begann die Migration von Türken nach Deutschland.16 Nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Bundesrepublik Arbeitskräfte zum Wiederaufbau des Landes benötigte, wurde auf Regierungsebene entschieden, Arbeitskräfte aus nicht allzu weit entfernten Ländern, wie z. B. der Türkei, zu importieren. Diese als Gastarbeiter bezeichneten türkischen Migranten waren in der Regel wenig oder vollständig unqualifizierte Landarbeiter, die dem Mangel an Möglichkeiten, der Landknappheit, der Arbeitslosigkeit und einem mangelhaften Sozialsystem in ihrer Heimat zu entfliehen suchten (Berger 1975; Ça lar 1994; Yurdakul 2009). Einige von ihnen holten nach 1972 und der damals eingeführten Regelung zur Familienzusammenführung ihre Familien nach, während sich andere entschlossen, ihre Familien in der Türkei zurückzulassen und dauerhaft in Deutschland zu bleiben.17 Nach dem Fall der Berliner Mauer führten ein chaotisches soziales Umfeld und die Verfügbarkeit billiger Arbeitskräfte aus Ostdeutschland zu einer Massenarbeitslosigkeit im westlichen Teil Berlins (Joppke 2003; Yurdakul 2009). Mit dem Auslaufen der staatlichen Industriesubventionen für Berlin (West) und
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wieder einzubürgern. Sie gelten als nicht ausgebürgert, sofern sie nach dem 8. Mai 1945 ihren Wohnsitz in Deutschland genommen haben und nicht einen entgegengesetzten Willen zum Ausdruck gebracht haben.“ Der zuvor genannte Personenkreis bezieht sich hauptsächlich auf deutsche Juden und Mitglieder der Kommunistischen oder Sozialdemokratischen Parteien. Weitere Informationen unter „Information on obtaining/reobtaining German citizenship for former German citizens and their descendants who were persecuted on political, ‘racial’ or religious grounds between January 30, 1933 and May 8, 1945“ unter www.germanyinfo.org/relaunch/info/consular_services/citizenship/persecuted.html. Zur Natur des „problematischen Zählens von Juden“, siehe Calvin Goldscheider (2004). Die Immigration aus der Türkei nach Deutschland umfasst nicht nur Türken, sondern auch Kurden und andere ethnische und religiöse Minderheiten wie z. B. Aleviten und Yeziden. Vgl. Brouwer/Prister (1983). Die Regelung zur Familienzusammenführung war Teil einer sich entwickelnden Politik, die auf eine vereinfachte Integration abzielte. Detailliertere Informationen finden sich in Herbert 1990 (deutsche Ausgabe 1986).
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dem allgemeinen Abbau der Industrie verloren auch die in diesen Fabriken beschäftigten türkischen Arbeiter ihre Stellen. Nach 1989 wurden die in den 1960er und 1970er Jahren als Arbeiter nach Deutschland gekommenen Immigranten in zunehmendem Maße abhängig von Sozialleistungen. Die Massenentlassungen haben seither lang anhaltende Auswirkungen. Gegenwärtig hinken DeutschTürken der Mehrheitsgesellschaft in wirtschaftlicher Hinsicht hinterher. Im Jahr 2006 lag die Arbeitslosenquote für türkische Immigranten in Deutschland bei 31,4%, bei einem Vergleichswert von 10% für die deutsche Bevölkerung (Bundesagentur für Arbeit 2007). Die Immigranten erster Generation führen häufig ein transnationales Leben zwischen Deutschland und der Türkei, wobei viele von ihnen sechs Monate in der Türkei und sechs Monate in Deutschland verbringen. Hierfür gibt es eine Reihe von Gründen, einschließlich der Verfügbarkeit einer Gesundheitsversorgung für ehemalige Gastarbeiter, die auf Grund der extremen Arbeitsbedingungen in den deutschen Fabriken während und nach der Zeit des „Wirtschaftswunders“ langfristige chronische Erkrankungen zurück behalten haben (Yurdakul 2009). Einen weiteren wichtigen Faktor stellen die Kinder dar, die in Deutschland leben und vorzugsweise auch weiterhin leben wollen. Es kann als Tatsache angesehen werden, dass eine große Zahl an DeutschTürken im Bildungssystem eher schwache Leistungen zeigt. Trotzdem gibt es auch eine erhebliche Zahl an Deutsch-Türken, die mit Erfolg Universitäten besuchen (Kirsten/ Reimer/Kogan 2008). Bekannte Deutsch-Türken finden sich in der Politik (Cem Özdemir), den Medien (Nazan Eckes) wie auch in der literarischen (Emine Sevgi Özdamar) und der Kunstszene (Fatih Aktn), obschon ihre Zahl im Vergleich zur Gesamtgröße der deutsch-türkischen Population eher gering ausfällt. Schätzungsweise 2,5 Millionen türkische Immigranten leben in Deutschland und machen, in Abhängigkeit der zitierten Quellen, zwischen 3,8% und 4,2% der Gesamtbevölkerung Deutschlands aus. Eine Strategie zur „Integration“ von Deutsch-Türken in die deutsche Gesellschaft besteht darin, ihnen die deutsche Staatsbürgerschaft zu gewähren. Tatsächlich legen Statistiken nahe, dass deutsche Staatsbürger türkischer Herkunft im Bildungssystem besser abschneiden als Türken ohne deutschen Pass (Alber 2008). Mit der Einführung des neuen Staatsangehörigkeitsgesetzes hat sich der deutsche Staat wenigstens teilweise von der Grundidee des jus sanguinis (Gesetz auf der Grundlage familiärer Abstammung) verabschiedet und damit begonnen, der Migrantenpopulation die Einbürgerung zu ermöglichen (Joppke 1998, 2003). Dem neuen Staatsangehörigkeitsgesetz entsprechend erhalten in Deutschland nach dem Jahr 2000 geborene Kinder sowohl die deutsche Staatsbürgerschaft wie auch die ursprüngliche Nationalität ihrer Eltern. Um die deutsche Staatsbürgerschaft jedoch dauerhaft behalten zu können, muss ein in
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Deutschland geborenes Kind im Alter von 18 bis 23 Jahren die abweichende Nationalität eines oder beider Elternteile aufgeben (Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2000). Obwohl die genauen Zahlen nicht bekannt sind,18 kann davon ausgegangen werden, dass fast ein Viertel der türkischen Bevölkerung in Deutschland, etwa 500.000 Personen also, die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt. Und doch sind und bleiben die unmittelbaren Auswirkungen der Einbürgerung auf die Integration von Immigranten unbekannt (Bloemraad/Korteweg/Yurdakul in diesem Band). Beziehungen zwischen Juden und Türken in Deutschland Es ist möglich, ein gemeinsames (wenn auch grobes) soziales Muster auf Juden im Deutschland des 19. Jahrhunderts und die türkischen Immigranten in der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft anzuwenden. Im frühen 19. Jahrhundert fand ein radikaler Wandel innerhalb der jüdischen Gemeinschaft statt; aus der ursprünglich armen, demographisch betrachtet verstreuten Population entstand ein wirtschaftlich und politisch starker Bevölkerungsanteil (Frankel/Zipperstein 2004). Die Assimilierung der deutschen Juden in die deutsche Mittelschicht war jedoch hinsichtlich des Aufrechterhaltens von Unterschieden und dem gleichzeitigen Bestreben, „deutsch“ zu sein, mit Widersprüchen behaftet. Die Historikerin Robin Judd untersuchte beispielsweise die jüdische Selbstbestimmung am Beispiel der Legitimierung von Beschneidungen und koscherem Schlachten zu Zeiten der Weimarer Republik, genauer gesagt im Zeitraum zwischen den 1840er Jahren bis 1933. Die zuletzt genannte Praxis erinnert an die türkische Forderung nach der Zulassung rituellen Schlachtens, die den Traditionen des Islam entsprechen (halal), und stellt gleichzeitig nur eine von vielen Ähnlichkeiten dar. Das späte 19. Jahrhundert ist darüber hinaus auch durch eine verstärkte Migration osteuropäischer Juden nach Deutschland gekennzeichnet. Diese Immigranten, die für gewöhnlich aus ländlichen Gebieten stammten, waren bei Deutschen wie auch bei deutschen Juden gleichermaßen schlecht angesehen. Sie wurden als Ostjuden bezeichnet, waren meist traditionell und besaßen ein geringes Bildungsniveau. Ihre Kleidung und ihre Traditionen waren ungewohnt, sie siedelten sich vermehrt in Ghettos an und hatten wenig mit der deutschen Gesellschaft zu tun (Aschheim 1983). Deutsche Juden bedauerten häufig, in Verbin-
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Teilweise als Folge aus der nazistischen Registrierungspraxis im Nationalsozialismus wird bei bundesdeutschen Behörden die ethnische Herkunft deutscher Staatsangehöriger nicht erfasst.
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dung mit diesen Neuankömmlingen gebracht zu werden, die geradezu die Antithese zu den offensichtlich gut assimilierten deutschen Juden bildeten.19 Die Ostjuden des 19. Jahrhunderts und die Deutsch-Türken der Gegenwart weisen eine Reihe von Ähnlichkeiten auf. In beiden Fällen dient die Religion als wichtiges Unterscheidungsmerkmal: man beachte die Frömmigkeit der Ostjuden und die starken muslimischen Traditionen der Türken. Beide Bevölkerungsgruppen haben eine abweichende äußere Erscheinung: die ungewohnte Kleidung der Ostjuden und das Kopftuch der Deutsch-Türken. Ebenso bemerkenswert sind der Selbstausschluss der Ostjuden durch die Ansiedlung im Ghetto sowie die Parallelgesellschaften der Deutsch-Türken aber auch das geringe Bildungsniveau der Ostjuden und der geringe Leistungsstand der Deutsch-Türken im bundesdeutschen Bildungssystem. Das wohl bedeutendste Problem der Ostjuden bestand in der Assimilierung in die deutsche Mittelschicht – eine Situation, die an die der Deutsch-Türken von heute erinnert. Ein Lösungsansatz im 19. Jahrhundert bestand darin, die Ostjuden in das deutsche Bildungssystem zu „integrieren“; es überrascht nicht, dass dies der aktuellen Integrationsstrategie für Deutsch-Türken entspricht.20 Ostjuden und Deutsch-Türken weisen auch auf einer weiteren Ebene Ähnlichkeiten auf: gerade so wie deutsche Juden auf die Ostjuden herab blickten, schauen säkulare Mitglieder der türkischen Mittelschicht auf Gastarbeiter herab. Säkulare Türken bezeichnen Gastarbeiter und deren Kinder mit dem Wort „Almanct“, einem herabwürdigenden Begriff, der für die Zugehörigkeit zur Unterschicht, fehlende Bildung, kulturelle Inkompetenz und einen Mangel an sozialen Fähigkeiten steht. Deutsche Juden, nach ihnen die Ostjuden und jetzt die Deutsch-Türken waren alle Gegenstand von deutschen Diskussionen über Ausschluss und „Integration“. Solche Diskussionen besitzen jedoch viele Facetten; sie gründen nicht einfach auf Ähnlichkeiten im Ausschluss und erlittener Diskriminierung unter Immigranten und Bevölkerungsminderheiten. Vertreter türkischer Immigranten haben die Gemeinsamkeiten zwischen Antisemitismus und einem gegen Türken gerichteten Rassismus bereits in den 1990er Jahren angeführt. Eine häufig anzutreffende Strategie besteht darin, Parallelen zwischen dem Holocaust und den Brandbombenanschlägen auf von Türken bewohnte Häuser in Mölln und Solingen zu ziehen, um dann zu argumentieren, dass es sich bei dem Rassismus gegen Türken um eine Erweiterung des 19 20
Aschheim verweist darauf, dass im frühen 19. Jahrhundert auch deutsche Juden als „nicht integriert“ galten. Die in der Bildungsbewertung am schlechtesten abschneidenden Deutsch-Türken werden in der gesamten Literatur zur Immigration nicht nur in Deutschland sondern in der ganzen westlichen Sozialwissenschaft als paradigmatisches Beispiel für fehlgeschlagene Integration angeführt. Obwohl die statistischen Ergebnisse von Jahr zu Jahr leicht schwanken, ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein deutsch-türkischer Jugendlicher die Schule ohne Abschluss abbricht im Vergleich zu gleichaltrigen Deutschen vier mal so hoch.
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Antisemitismus in Deutschland handelt. Es ist natürlich offensichtlich, dass diese Geschehnisse weder im Ausmaß, noch in den Auswirkungen oder der historischen Bedeutung in irgendeiner Weise vergleichbar sind. Und doch beziehen sich führende Vertreter türkischer Immigranten auf den geschichtlichen Antisemitismus in Deutschland, um auf den Rassismus zu verweisen, der sich auch heute noch auf Außenseiter auswirkt. Der Bezug zwischen Antisemitismus und der rassistischen Diskriminierung von Türken wandelte sich jedoch nach dem 11. September grundlegend, als die türkische Gemeinschaft zunehmend als Deutschlands Muslime und nicht mehr lediglich als ethnonationale Gemeinschaft angesehen wurde. Entsprechend verweisen einige der führenden Vertreter der türkischen Immigrantengemeinschaft jetzt eher auf eine Beziehung zwischen Antisemitismus einerseits und der Islamophobie21 andererseits, als nur mehr auf das Verhältnis zwischen Antisemitismus und einem gegen Türken gerichteten Rassismus. Im Wesentlichen wurde also eine ethnonational basierte Form der Diskriminierung durch einen politischen Diskurs religiöser Diskriminierung ersetzt. Obschon sowohl Juden wie auch Türken in Deutschland Opfer von Diskriminierung gewesen sind, haben sie noch immer Vorurteile gegenüber der Lebensart, dem Glauben und den Traditionen der jeweils anderen, was wohl erklärt, weshalb sie im Ergebnis auch nur minimal mit einander in Berührung kommen. Auf einer Konferenz der Friedrich Ebert Stiftung22 zum Thema Antisemitismus und Islamophobie (am 17. September 2008), an der ich teilnahm, stellte eine der führenden Persönlichkeiten der Jüdischen Gemeinde in Berlin während der öffentlichen Diskussion die folgende unglückliche Frage: „Weshalb schicken Muslime ihre Töchter nicht zur Schule?“. Die Frage verdeutlicht, wie wenig die Dame über die Lebensumstände von einer Milliarde Muslime von Mali bis Bangladesch, von Aserbeidschan bis Pakistan zu wissen scheint. Und doch ist auch der türkische Laie auf den Straßen Berlins im Allgemeinen nicht besser über Juden informiert23, weshalb auch häufig Anschuldigungen zu hören sind, „die Juden“ 21
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Die Verwendung dieses Begriffes wird kontrovers diskutiert. Gegenstand der Diskussion ist die Frage, ob die Begriffe antimuslimisch, anti-islamisch und Islamophobie verwendet werden sollten, und was diese Begriffe eigentlich bedeuten. Ich verwende den Begriff Islamophobie, weil dieser auch von verschiedenen islamischen Gruppen und Verbänden verwendet wird, auf die ich mich im gesamten Artikel wiederholt beziehe. Siehe auch Kramer (2006) und Schneiders (2009). Ich danke Mounir Azzaoui (Zentralrat der Muslime) für seine Hinweise zu diesem Thema. Die Ergebnisse dieser Konferenz wurden später von der Stiftung in Form des Politikberichts Nr. 27 (2008) veröffentlicht. Türken sind im Allgemeinen nicht nur wenig über Juden und das Judentum informiert, ihre bruchstückhafte Information ist häufig nicht einmal korrekt. Auf dem Markt gegenüber einem der größten Warenhäuser Berlins, war ich dabei meinen wöchentlichen Einkauf an einem türkischen Stand zu erledigen. Ich bat den türkischen Händler, mir eine bestimmte Joghurtmarke zu
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seien die wahren Täter hinter den Anschlägen des 11. September und auch verantwortlich für den Zusammenbruch der Finanzmärkte im Jahr 2008.24 Historisch betrachtet waren die Regierungen der Türkei immer proisraelisch eingestellt. Die Türkei war einer der ersten Staaten, die Israel als Staat anerkannten. Darüber hinaus wurde bereits lange zuvor, zu Zeiten des Osmanischen Reiches im Jahre 1492, eine große Zahl sephardischer Juden aufgenommen, die vor der Verfolgung in Spanien und Portugal auf der Flucht waren. Vertreter türkischer Regierungsbehörden erinnern ihre israelischen Kollegen regelmäßig daran, wenn sie bei internationalen Treffen zusammen kommen. Es ist nicht wirklich überraschend, dass sie es dabei vermeiden, die Pogrome im Jahr 1955 zu erwähnen, oder auch die Einführung einer „Vermögenssteuer“ (varlQk vergisi) für Minderheiten im Jahr 1942 (Bali 1999, 2001). Ebenso selten dürften sie die in jüngerer Vergangenheit verübten Bombenattentate auf Synagogen in Istanbul im Jahr 2003 erwähnen. Im Gegensatz zu den offiziellen Verlautbarungen kann die Türkei nicht als ein minderheitenfreundliches Land angesehen werden, ganz besonders wegen der Konstruktion des „Türkentums“ und des türkischen Nationalstaates.25 Antisemitismus ist keine Ausnahme. Viele Türken haben Vorurteile gegenüber Juden und dem Judentum, was auch deutlich wird in den zahlreichen Bomben- und Brandanschlägen auf Synagogen in Istanbul. Ganz zu schweigen von der anhaltenden Kontroverse über so genannte „verdeckte Juden“, von denen behauptet wird, sie begingen Verbrechen gegen den türkischen Staat (Bali 2008). 26
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reichen. Er jedoch weigerte sich, mir diese Marke zu verkaufen, die er an der entferntesten Ecke seines Standes aufgebaut hatte. Er sagte, dieser spezielle Joghurt enthalte Schweinefett, und deshalb würde er ihn mir als Muslimin und Glaubensschwester nicht verkaufen. Ich konfrontierte ihn mit der Tatsache, dass das Bild einer Moschee auf den Joghurtbehälter aufgedruckt war, und fragte, wie das wohl mit einem Gehalt an Schweinefett zusammen gehen könne? Er entgegnete, ich solle mich nicht von der Verpackung täuschen lassen, schließlich sei der Hersteller dieses Joghurts Jude. In seinem Unwissen darüber, dass sowohl Juden als auch Muslime kein Schweinefleisch essen, assoziierte der Mann den Verzehr von Schweinefleisch, was Türken mit Promiskuität und Schmutz gleich setzen, mit Juden. Für weitere Informationen zur symbolischen Bedeutung des Verzehrs von Schweinefleisch für Deutsch-Türken, siehe Mandel 2008: 265-266. Ich danke Helena Stern für ihre aufschlussreichen Anmerkungen zu diesem Thema. Man beachte die Kontroverse über den Artikel 301 des türkischen Strafrechts, durch den die „Beleidigung des Türkentums“ unter Strafe gestellt wird (eingeführt 2005, geändert 2008). Die Infragestellung der türkischen Identität erhält eine noch stärkere Überformung auf der Grundlage des Rassenbegriffs innerhalb der anhaltenden Kontroverse über die Frage, ob 1915 ein Genozid an Armeniern verübt wurde. Einige in Westeuropa und Nordamerika lebende türkische Juden behaupten, in der Türkei existiere kein Antisemitismus und kritisieren diejenigen, die ihn zur Sprache bringen, als Verräter des Heimatlandes.
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Türken und Juden in Deutschland haben ebenfalls von Vorurteilen geprägte Ansichten von einander, möglicherweise als Ergebnis mangelnder sozialer Kontakte unter einander, möglicherweise wegen überzogener journalistischer Berichterstattung über den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern, am wahrscheinlichsten aber auf Grund von Bildungslücken bezüglich der jeweils anderen Geschichte und Gesellschaft. Vor dem Hintergrund mangelnder sozialer Bezüge und eines lückenhaften Wissens über die jüdische Kultur und die entsprechenden Bräuche stellt sich die Frage, weshalb führende türkische Repräsentanten in Deutschland in ihrem Bemühen um politische Sichtbarkeit und im Kampf gegen den Rassismus eine Annäherung an die hier lebende jüdische Gemeinschaft suchen. Wie orientieren sich deutsche Türken am Jüdischen Modell? Rassistische Diskriminierung von Türken, Antisemitismus, Islamophobie Führende Vertreter türkischer Immigranten verwenden Analogien zwischen dem Antisemitismus und einem gegen Türken gerichteten Rassismus sowie der Islamophobie, wobei das eine Phänomen dem anderen historisch vorgelagert ist, beide aber weiterhin bestehen. Solche Analogien zwischen einer rassistischen Diskriminierung von Türken und dem Antisemitismus werden vor allem von säkularen türkischen Verbänden verwendet. Meiner Wahrnehmung nach wurde dieser Ansatz vor dem 11. September häufiger verwendet und wurde allmählich ersetzt durch eine Verknüpfung zwischen Antisemitismus und Islamophobie. Wie ich bereits an anderer Stelle deutlich gemacht habe, verwendet der Türkische Bund BerlinBrandenburg (hiernach TBB), ein säkularer und sozialdemokratisch orientierter Immigrantenverband, die deutsch-jüdische Trope im politischen Diskurs, um aufzuzeigen, dass der heute in Deutschland existierende Rassismus eine Fortschreibung eines historischen Antisemitismus ist (Yurdakul/Bodemann 2006). Während eines kürzlich erfolgten Treffens betonte der Sprecher des TBB, Safter Çtnar, dass der TBB weiterhin mit der Jüdischen Gemeinde zu Berlin im Rahmen verschiedener Veranstaltungen kooperieren wird, einschließlich eines Kulturaustauschs zwischen Istanbul und Berlin.27 Die Entscheidung des TBB, eine Verbindung zwischen einem gegen Türken gerichteten Rassismus und dem Antisemitismus herzustellen, hat sich in Folge der Ereignisse vom 11. September wohl nicht dramatisch verändert, da es sich 27
Interview mit Safter Çtnar am 8. Oktober 2008.
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wie gesagt um eine säkulare, sozialdemokratisch geprägte Organisation handelt. Der komplexe Zusammenhang zwischen rassistischer Diskriminierung und Antisemitismus hat jedoch in Folge des 11. September eine andere Dimension bekommen: Muslimische Verbände, linke Politiker28 und Wissenschaftler bestätigen die Legitimität der Verknüpfung zwischen Antisemitismus und Islamophobie. Im Jahr 2004 wurde eine Ausgabe des Magazins Perspektive der Islamischen Gemeinschaft Milli Görü der Beziehung zwischen Antisemitismus und Islamophobie gewidmet und auf Gemeinsamkeiten verwiesen.29 Eine sichtbare Verbindung zwischen Antisemitismus und Islamophobie ergibt sich aus dem Vergleich zwischen örtlichen Moscheen (Hinterhofmoscheen) und Synagogen (Brenner 2007/2000). In der Geschichte Berlins wurden eine Reihe von Synagogen in Hinterhöfen errichtet; zu den Beispielen zählen die Synagogen in der Rykestraße, der Joachimstalerstraße sowie der Pestalozistraße.30 Moscheen befinden sich ebenfalls häufig in Hinterhöfen, aber auch in Kellern. Gegenwärtig protestiert die rechtsgerichtete Gruppierung „Pro Köln“ gegen die Planung und den Bau einer repräsentativen Moschee in Köln. Um ihr Anliegen öffentlich zu machen organisieren sie Demonstrationen und verteilen Flugblätter. In seiner Kritik der Initiative „Pro Köln“ betonte der ehemalige Sprecher des Koordinationsrats der Muslime in Deutschland, Bekir Albo a, die Solidarität mit der jüdischen Gemeinschaft im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Islamophobie: „Die rechtspopulistische Bewegung ,Pro Köln’ hat versucht, die Meinung der Menschen zu diesem Thema zu manipulieren und zu schüren. Da wurden zum Beispiel Schreiben mit dem Bild der Blauen Moschee, einem mächtigen Bauwerk mit sechs Minaretten, kopiert und in die Briefkästen verteilt. Nach dem Motto: So ein gigantisches Bauwerk wollen die Muslime auch in Ehrenfeld errichten. Unbelehrbare gibt 28
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Einige Politiker der Partei „Die Grünen“ können hier als Beispiel angeführt werden; Christian Ströbele schlug vor, muslimische religiöse Feiertage als allgemeine Feiertage anzuerkennen. Dieser Vorschlag wurde von der Islamischen Gemeinschaft Milli Görü abgelehnt, möglicherweise um öffentlichen Kontroversen vorzubeugen. Die erwähnte Ausgabe von „Perspektive“ ist online wie auch als Heft erhältlich. Der Titel der Ausgabe lautet „Anti-Semitizm, Islamophobia ve Terör“ und wurde in Deutschland im März 2004 mit der Nummer 111 veröffentlicht. Die Online-Version ist unter www.igmg.de erhältlich. Man beachte, dass das Wort „Antisemitismus“ im Titel auf türkisch erscheint, das Wort „Islamophobia“ jedoch auf englisch (die türkische Schreibweise wäre „slamafobi“). Dieser und weitere türkische Rechtschreib- und Grammatikfehler in den Magazinen von Milli Görü sind Hinweise darauf, dass die Redakteure in der Hauptsache deutsche Schulen besuchten. Mögliche Ähnlichkeiten beim Vergleich zwischen Synagogen und Moscheen sind hier nicht das Anliegen, obschon geschichtliche und architektonische Ähnlichkeiten möglicherweise ein interessanter Forschungsgegenstand sein könnten. Das Hauptaugenmerk liegt vielmehr auf der Analyse des Diskurses zwischen Mitgliedern der jüdischen Gemeinschaft und deutschtürkischen Politikern.
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es in jedem Land: nationalistisch oder rassistisch gesinnte Menschen. Andererseits dürfen wir das Problem nicht bagatellisieren. In Deutschland nehmen Antisemitismus, Islam- und Fremdenfeindlichkeit zu. Wir solidarisieren uns dagegen bundesweit auch mit den jüdischen Gemeinden.“31
Der Zentralrat der Juden ist jedoch gegenüber Verbindungen zu Türken oder Muslimen im Allgemeinen eher ambivalent eingestellt. Charlotte Knobloch, die gegenwärtige Vorsitzende des Zentralrats distanzierte sich von der Moscheenkontroverse und argumentierte, dass Muslime sich selbst nicht mit Juden in Deutschland vergleichen sollten: „Wir hatten über Jahrhunderte einen festen Platz in Deutschland, haben maßgeblich zur Kulturgeschichte Deutschlands beigetragen. Hitler hat uns das abgesprochen. Muslime müssen die Argumente für den Bau einer Moschee aus ihrer eigenen Geschichte schöpfen.“32
Durch die Distanzierung des Zentralrats von der Frage der Errichtung repräsentativer Moscheen wird deutlich, wie zögerlich Knobloch mit der Frage der Solidarität mit Muslimen umgeht, entgegen der Verlautbarungen Albo as. Einige Mitglieder des Zentralrats sind jedoch anderer Ansicht als Knobloch: Stephan Kramer, Generalsekretär des Zentralrats kündigte die Einrichtung eines Zentrums zur Erforschung des Antisemitismus und der Islamophobie an. Die Ambivalenz in der Position des Zentralrats gegenüber politischen Anliegen von Muslimen kann als Zeichen dafür gewertet werden, dass die muslimischen Verbände, die die jüdische Minderheit als Modell für die eigene Etablierung in Deutschland verwenden möchten, in der jüdischen Gemeinschaft keinen verlässlichen Verbündeten finden.33 Cumali Naz, Vorsitzender des Münchner Ausländerbeirats, verortet die Kontroverse um die Errichtung von Moscheen innerhalb eines Diskurses über die Religionsfreiheit: „Ich argumentiere ganz anders.“ Die drei Weltreligionen hätten hätten alle den gleichen Ursprung. Dieser Grundsatz müsse unabhängig von der Geschichte der einzel-
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Interview mit Albo a in NGZ-online, veröffentlicht 2007, aktualisiert am 15. Februar 2008. Interview mit Knobloch in Merkur-online.de 2007. Dieser Artikel ist nicht mehr verfügbar; früher abrufbar unter http://www.merkur-online.de/regionen/mstadt/%3Bart8828,846794 Ich danke Ian Leveson für den Hinweis, dass die Position der jüdischen Gemeinschaft hinsichtlich eines jüdisch-muslimischen Dialogs unter dem Vorsitz von Ignatz Bubis eine andere war.
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nen Religionen gelten. Schließlich sei das Recht auf freie Religionsausübung für alle im deutschen Grundgesetz verankert. „Dazu gehört auch der Bau einer Moschee.“34
Naz’ Ansicht nach sollten Moscheen und Synagogen entsprechend dem im Grundgesetz verankerten Prinzip der Religionsfreiheit errichtet werden können. Er spricht sich dafür aus, diese Entscheidungen unabhängig vom geschichtlichen Hintergrund einer religiösen Gemeinschaft zu treffen. Strukturen jüdischer Institutionen als organisatorische Modelle Repräsentanten türkischer Immigranten versuchen, sich die deutsch-jüdische Trope als Grundlage für ein organisatorisches Modell zu Nutze zu machen und geben dabei zwei Gründe an, weshalb dies für Türken in Deutschland von Vorteil sein sollte. Erstens könnten sowohl Türken als auch Juden von einer Kooperation im Kampf gegen Diskriminierung in Deutschland profitieren. Die erste Gruppe stellt eine zahlenmäßig große Population, die zweite verfügt über Erfahrungen in politischer Lobbyarbeit. Eine Zusammenarbeit erscheint natürlich. Kemal Önel ist ein junges Mitglied der Ülkümen-Sarfati Gemeinschaft, einer Organisation, die von jungen in Deutschland lebenden Türken und Juden ins Leben gerufen wurde.35 Er wuchs in einem deutschen Umfeld, aber umgeben von verschiedenen Ethnien und Religionen auf. Kemals Aussage nach ist der Diskriminierungskontext für Türken und Juden ein ähnlicher. Wenn er über die Türkei spricht, misst er ihr persönlich die selbe Bedeutung bei, wie sie der Staat Israel für Juden hat und schafft damit eine persönliche Verbindung zum jüdischen Diskurs: „Türkei ist eine Lebensversicherung [für die Türken in Deutschland].“ Einige Organisationen, wie etwa die Kreuzberger Initiative gegen Anti-Semitismus 36 und Amira Anti-Semitismus im Kontext Migration und Rassismus37, arbeiten mit der jüdischen Gemeinschaft zusammen, um den Antisemitismus in vorwiegend von Migranten bewohnten Stadtteilen sowie in Schulen zu bekämpfen. Zweitens werden die Strukturen jüdischer Institutionen als Modell für religiöse Organisationen angesehen. Die Hoffnung ist, dass mit Hilfe eines solchen Modells Formen gemeinschaftlicher Solidarität, kollektiver Einigkeit und politi34 35 36 37
Zeitungsinterview mit Cumali Naz, 2007. Dieses als Antwort auf Knobloch zu verstehende Interview ist auf der Website der Zeitung nicht mehr abrufbar, findet sich allerdings noch in persönlichen Blogs. Siehe http://gruene-pest.com/archive/index.php/t-247981.html Interview mit Assistenten und Praktikanten des American Jewish Council in Berlin, 21. Juli 2008. Interview mit Aycan Demirel von KiGA, 15. Juli 2008. Interview mit Serhat Karakayalt von Amira, 22. Oktober 2008.
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scher Lobbyarbeit geschaffen werden können, wie sie innerhalb der jüdischen Gemeinschaft vermutet werden. Obwohl jüdische Organisationen durchaus unterschiedliche Interessen verfolgen und mit einander im Konflikt stehen können, ist dies in den Medien oder für Außenstehende nicht unbedingt ersichtlich. Offensichtlich ohne sich des möglichen Widerstreits innerhalb jüdischer Verbände bewusst zu sein, verherrlicht ein führendes Mitglied der Türkischen Gemeinde zu Berlin, Ahmet Ytlmaz, die starke Verbundenheit unter den Juden: „Ich wünsche mir von Allah, dass kein anderes Volk die Schwierigkeiten haben wird, die das jüdische Volk erfahren hat, aber ich wünsche mir von Allah, dass er alle mit einer Solidarität wie die der Juden untereinander versorgen würde.“ 38 In ähnlicher Weise verweist die Ausländerbeauftragte des Berliner Bezirks TempelhofSchöneberg, Emine Demirbüken, auf die wirtschaftliche Kraft und die kluge politische Lobbyarbeit unter den Juden: „Die jüdische Gemeinschaft verbindet die wirtschaftliche Kraft mit ihrer intellektuellen Kraft. Doch die Türken hätten hier auch wirtschaftliche Kraft und viele Leute, die zweisprachig sind. Warum zeigen sie ihre Stärke den Deutschen nicht, und warum drängen sie sie nicht, Türken ernst zu nehmen?“39 Organisationen türkischer Immigranten sind jedoch alles andere als einig, und sie besitzen keine starke politische Lobby in Deutschland. Als Ergebnis dieser Fragmentierung unter den in Deutschland lebenden Türken können bundesdeutsche Behörden die Rolle türkischer Immigrantenorganisationen als mögliche Gesprächspartner herunter spielen, und sich selbst sagen, dass der Mangel an politischer Einigkeit innerhalb der türkischen Gemeinschaft sie davon abhält, sich ihnen gegenüber als starker politischer Akteur zu etablieren (Yurdakul 2009). Zusammengefasst lässt sich also sagen, dass sich führende Vertreter türkischer Immigranten an den Strukturen jüdischer Institutionen orientieren, um sie in zweierlei Hinsicht als Organisationsmodell nutzbar zu machen: erstens durch Kooperation – auf der Grundlage der vorhandenen politischen Erfahrung von Juden in Deutschland; und zweitens im Sinne eines nachahmenswerten Vorbilds hinsichtlich der kollektiven Einigkeit – basierend auf der angenommenen starken politischen Einigkeit, die Deutsch-Türken im Kampf gegen Diskriminierung und für eigene Rechte als Modell dienen soll. Die Forderung nach Gruppenrechten Auch bei der Forderung nach Gruppenrechten beziehen sich Türken auf die deutsch-jüdische Trope. Ein wichtiger Unterschied zwischen jüdischen und mus38 39
Interview mit Ahmet Ytlmaz, Vertreter der Türkischen Gemeinde zu Berlin, am 8. Mai 2003. Interview mit Emine Demirbüken am 4. März 2003.
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limischen Verbänden ist ihr steuerrechtlicher Status. Während Kirchen und Synagogen den Status von Körperschaften des öffentlichen Rechts für sich beanspruchen können und dadurch Anspruch auf staatlicherseits eingetriebene Kirchensteuern haben, besitzen Moscheen keine solche rechtliche Stellung. Dieses Problem führt unter Muslimen in Deutschland zu einigem Unmut, besonders weil diese Gruppe zahlenmäßig so viel größer ist als die der Juden. Die Gruppe der Muslime zeigt allerdings nicht die für politische Lobbyarbeit nötige Einigkeit, um den Status als Körperschaft öffentlichen Rechts für sich einfordern zu können. Die wohl deutlichsten Beispiele für das Formulieren religiöser Ansprüche und die Verwendung der jüdischen Thematik stehen in Verbindung zur Frage der religiösen Erziehung türkischer Kinder muslimischen Glaubens und das Tragen des Kopftuches in der Öffentlichkeit (Yurdakul/Bodemann 2006) sowie zum Recht auf den Verzehr von aus religiöser Sicht einwandfreiem Fleisch (halal). Ich werde mich in diesem Kapitel lediglich auf den Fall der hierfür notwendigen rituellen Schlachtung konzentrieren (vgl. auch Lavi 2009). Das Recht auf die Herstellung von Fleisch, das halal ist, und damit auf die rituelle Schlachtung von Tieren, ist das Ergebnis einer wichtigen kulturellen Auseinandersetzung türkischer Immigranten in Deutschland. Ganz besonders, weil Juden eine vergleichbare Praxis in der Schlachtung (Kaschrut) erlaubt war. Damit Fleisch als halal gelten kann, ist es erforderlich, dem Tier bei der Schlachtung mit einer scharfen Klinge die Kehle zu durchtrennen und es vollständig auszubluten. Dies steht im Widerspruch zur deutschen Regelung, nach dem Tiere vor der Schlachtung durch einen elektrischen Schlag zu betäuben sind. Diese Situation spitzt sich für die in Deutschland lebenden Türken regelmäßig zu, besonders vor dem Ramadan-Fest, zu dem massenhaft Tiere geopfert und damit rituell geschlachtet werden müssen, insbesondere Schafe und Rinder. Im Jahr 2004 versuchte der türkische Schlachter Rüstem Alttnküpe, seine Kunden während des Ramadan mit Fleisch zu versorgen, das halal war (vgl. Evrensel 2002; Göktürk/Gramling/Kaes 2007; Hürriyet 2008; Milli Görü 2004). Er wurde dabei von verschiedenen türkischen und muslimischen Verbänden und Organisationen unterstützt, die sich auf das Recht zur Ausübung ihrer Religion in Deutschland beriefen. Nach Tagen intensiver Öffentlichkeitsarbeit in den Medien und bürokratischer Auseinandersetzungen mit den deutschen Behörden, erhielt die muslimische Gemeinschaft (d. h. in diesem Fall der Schlachter) das Recht auf die entsprechend regelgerechte Schlachtung, wenn auch unter sehr strengen Bedingungen. M.Y., Vorsitzender der Rechtsabteilung von Milli Görü, einer konservativ religiösen Immigrantenorganisation, die dem politischen Islam zugeordnet
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wird,40 findet es nur natürlich, in diesem und ähnlichen Zusammenhängen mit der deutsch-jüdischen Gemeinschaft zusammen zu arbeiten. Er war auch Teilnehmer einer Podiumsdiskussion mit Politikern, um das Recht von Muslimen auf die islamisch-rituelle Schlachtung von Tieren zu verteidigen. Seiner Aussage nach waren die an der Diskussion beteiligten Politiker nicht bereit, die von M.Y. vorgebrachten Argumente für die Genehmigung dieser rituellen Schlachtpraxis anzuerkennen, obschon er kritisch auf die Tatsache verwies, dass der jüdischen Minderheit in Deutschland eben solche Rechte auf rituelle Schlachtungen zugestanden werden (Judd 2007; Yurdakul/Bodemann 2006). Für ihn wie auch für viele andere Muslime in Deutschland geht es hierbei nicht einfach um Fragen der Schlachtung von Tieren oder den Verzehr von Fleisch – es geht ihnen um die regelgerechte Ausübung ihrer Religion, wie sie auch Christen oder Juden gestattet ist. Während Juden und Muslime sich häufig in Opposition zu einander befinden, verweisen Vertreter türkischer Muslime, wie die von Milli Görü, in ihrem Bemühen, religiöse Rechte vom deutschen Staat einzufordern, häufig auf die Parallelen mit deutschen Juden. Auf der Seite jüdischer Repräsentanten äußerte Sergey Lagodinsky von der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, dass bei bestehenden berechtigten Verbindungen religiöse Rechte nicht nur Juden, sondern allen Minderheiten in Deutschland zugestanden werden sollten. Im Nachfolgenden widme ich mich dieser Frage in größerem Detail.
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Der Name Milli Görü bezieht sich auf eine politische Ideologie, die in der Türkei der 1970er Jahre durch die Milli Nizam Partisi (Partei der Nationalen Ordnung) geschaffen wurde. Wegen ihrer die öffentliche Ordnung bedrohenden religiösen Aktivitäten wurden Parteien, die der Ideologie von Milli Görü entsprachen, vom türkischen Verfassungsgericht verboten. Die Ideologie tauchte in Form eines Netzwerks in der Diaspora türkischer Muslime in Europa, besonders in Deutschland, dann wieder auf. Augenblicklich gibt es für sie aber einen großen Nachteil: sie wird vom Bundesverfassungsschutz als Gefahr für die deutsche Demokratie geführt. Milli Görü wird als Teil eines politischen Islams gesehen, der dazu beiträgt, Immigranten von einer vollständigen Integration in die deutsche Gesellschaft abzuhalten (Schiffauer 2004). Im entsprechenden Bericht heißt es, Milli Görü verfolge anti-integrative Bemühungen, besonders in Form der islamischen Erziehung von Kindern. Darüber hinaus enthält der Bericht zahlreiche Aussagen aus Publikationen von Milli Görü, insbesondere antideutsche und antisemitische Äußerungen aus der Milli Gazete. Durch die Kategorisierung als „Gefahr“ für die deutsche Demokratie werden mögliche Aktivitäten und Kampagnen von Milli Görü eingeschränkt, und die Mitglieder gelten als verdächtig. Milli Görü reagierte auf die Anschuldigungen des Innenministeriums von Baden Wüttemberg in einer Informationsbroschüre mit dem Titel „Den Verfassungsfeind konstruieren“ (2007).
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Reaktionen jüdischer Repräsentanten auf türkische Forderungen Jüdische Repräsentanten zeigen zwei widersprüchliche Reaktionen hinsichtlich der deutsch-türkischen Aneignung der jüdischen Trope. Die Mitglieder der ersten Gruppe, die ich als Skeptiker bezeichnen möchte, argumentieren, dass führende deutsch-türkische Vertreter die jüdische Identität in Deutschland instrumentalisieren und die Solidarität suchen, um ihren politischen Forderungen zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen. Eine gemäßigtere Gruppe argumentiert, dass zwar eine Solidarität zwischen Juden und Türken nicht möglich sei, bestimmte Formen der Zusammenarbeit bei Veranstaltungen gegen Rassismus aber denkbar sind (als Beispiel sei hier Anetta Kahane angeführt, Vorsitzende einer antirassistischen Organisation in Berlin). Eine wiederum andere Fraktion vertritt hingegen die extremere Position, dass weder Solidarität noch Kooperation möglich sind. Juden müssten hinsichtlich möglicher Verbindungen zu Türken und anderen muslimischen Gruppen auf Grund potenzieller anti-israelischer Sichtweisen besonders vorsichtig sein (als Beispiele für Vertreter dieses Teils des Spektrums können der Journalist Henryk M. Broder und die Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Charlotte Knobloch, genannt werden). Die Argumentation der zweiten erwähnten Gruppe lautet, dass Juden und Türken (und möglicherweise Muslime im Allgemeinen) einander mit Solidarität begegnen sollten. Ich möchte diese Gruppe Verbündete nennen. Ein Thema, das in die Diskussion mit einfließt, ist die Bedeutung des israelisch-palästinensische Konflikts für die jüdisch-türkischen Beziehungen in Deutschland. Einige vertreten die Meinung, dass Palästina als Diskussionsgegenstand vermieden werden sollte, um unmittelbare Probleme in Deutschland lösen zu können (wie beispielsweise Irene Runge vom Jüdischen Kulturverein). Andere argumentieren dagegen, dass die Politik Israels in Palästina inakzeptabel ist, und wir uns gegen diese Politik aussprechen und mit Palästina solidarisieren sollten (so etwa Rabbi Jeremy Milgrom). Skeptiker: Jüdische Repräsentanten erheben aus zwei Gründen Einwände gegen den verfolgten Ansatz der Deutsch-Türken. Zum einen führen sie das Argument an, dass es sich beim Antisemitismus um ein einzigartiges Phänomen handelt, der nicht mit Rassismen gegenüber anderen Gemeinschaften verglichen werden kann. Zweitens argumentieren sie, dass eine Solidarität zwischen Türken und Juden nicht möglich sei. Diese Skeptiker stellen Palästina ins Zentrum der Beziehung
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zwischen Türken (d. h. Muslimen) und Juden. Im folgenden Abschnitt sollen diese zwei Problemstellungen etwas näher betrachtet werden. 1. „Opferkonkurrenz“: In seiner einfachsten Definition bezeichnet Antisemitismus den Hass gegen Juden. In der Praxis kann der Antisemitismus aber eine Erweiterung auf verschiedene politische Diskussionen erfahren. In den von mir geführten Interviews mit Mitgliedern der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland wurde deutlich, dass der Bezug zwischen Antisemitismus und Antizionismus ziemlich verwaschen erscheint und eine Differenzierung ohne weiteres kaum möglich scheint. Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte halten sich deutsche Politiker und Gelehrte mit Äußerungen über die Politik Israels zurück. Für Henryk M. Broder, der einer der kontroversesten jüdischen Figuren in Deutschland und nicht unbedingt ein Freund muslimischer Immigranten ist, hat der Begriff Antisemitismus eine weiter gefasste Bedeutung. Im Juli 2008 sagte Broder in einem Beitrag vor dem Innenausschuss im Deutschen Bundestag, Antisemiten seien nicht nur „eine Handvoll Wochenendnazis, die in Cottbus eine Demonstration machen“, eine Äußerung, die wahrscheinlich unausgesprochen auf die Positionen einiger deutscher Politiker und Schriftsteller abstellt.41 Er behauptet, dass eine Kritik an der Politik Israels, beispielsweise im Gazastreifen, antisemitisch sei, indem er sagt: „Antisemitismus und Antizionismus sind zwei Seiten derselben Münze. War der Antisemit davon überzeugt, dass nicht er, der Antisemit, sondern der Jude am Antisemitismus schuld ist, so ist der Antizionist heute davon überzeugt, dass Israel nicht nur für die Leiden der Palästinenser, sondern auch dafür verantwortlich ist, was es selbst erleiden muss. […]Wenn ich Ihnen in aller Demut und Bescheidenheit eine Empfehlung geben darf: Überlassen sie die Beschäftigung mit dem guten alten Antisemitismus à la Horst Mahler den Archäologen, den Antiquaren und den Historikern. Kümmern Sie sich um den modernen Antisemitismus im Kostüm des Antizionismus und um dessen Repräsentanten, die es auch in Ihren Reihen gibt.“ 42.
Solche Anwürfe werden in Deutschland fast wie eine Selbstverständlichkeit hingenommen und von der deutschen Öffentlichkeit mit Schweigen beantwortet. In Deutschland ist der Versuch der Definition des Antisemitismus letztlich eine schwierige, kontroverse und andauernde Diskussion, sowohl innerhalb jüdischer Gemeinschaften als auch innerhalb der Mehrheitsgesellschaft. Wie bereits angeführt, verwenden Vertreter türkischer Immigranten die eher allgemeine Begriffsdefinition des Antisemitismus beim Versuch, auf die 41 42
Beispiele hierfür wären etwa Hans-Christian Ströbele und Ludwig Watzal. Broder (2008), in verschiedenen Blogs online verfügbar. Weitere Details im Abschnitt mit den Literaturhinweisen. Diese Rede ist in einer Übersetzung von John Rosenthal auch auf englisch verfügbar: „Anti-Semitism without Anti-Semites.“
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deutsch-jüdische Trope zurückzugreifen. Unter den Repräsentanten der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland haben jedoch einige ernst zu nehmende Probleme mit der Art und Weise, in der türkische Immigrantenvertreter auf Parallelen mit deutschen Juden verweisen. Zunächst einmal empfinden es viele Juden als Affront und Provokation, dass die Vertreter türkischer Immigranten Vergleiche zwischen dem Antisemitismus, der rassistischen Diskriminierung von Türken und der Islamophobie ziehen. Bei Konferenzen auf beiden Seiten des Atlantiks ist mir aufgefallen, dass jüdische Mitglieder des Auditoriums ihr Unbehagen bezüglich dieser Vergleiche zum Ausdruck brachten. Ihrer Meinung nach handelt es sich beim Antisemitismus um ein einzigartiges Phänomen des Hasses gegen Juden. Eine Kategorisierung als eine Form des Rassismus sollte vermieden werden, da hierdurch die Bedeutung des Antisemitismus relativiert würde. Darüber hinaus ist es allgemein anerkannt, dass es sich beim Holocaust um die systematische Ermordung von sechs Millionen europäischen Juden handelte – und damit in der Weltgeschichte einzigartig ist.43 Als ich vorschlug, den Holocaust als Paradigma für den Kampf gegen jede Form des Völkermordes auf der Welt zu verstehen, wurde mir gesagt, dass dadurch die Bedeutung des Holocausts relativiert würde. Anetta Kahane, Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung, einer antirassistischen Organisation, sagte hierzu: „Das ist in verschiedenen Facetten antisemitisch konnotiert. Also zu sagen, wir sind die Juden von heute... das... impliziert eine Menge Abwertungen, ‘ne Menge antisemitischer Stereotype, ‘ne Menge sozusagen Opferkonkurrenz... all diese Sachen. Ich finde, das ist vor allem ein Missbrauch, das ist auch eine Relativierung vom Holocaust und all diesen Sachen.“44
Für Kahane ist es normal, mit einigen ausgewählten türkischen Immigrantenorganisationen im Kampf gegen den Rassismus in Deutschland zusammen zu arbeiten.45 Eine echte Solidarität zwischen Türken und Juden in Deutschland sei jedoch nicht möglich, da beide Gruppen eine unterschiedliche Verfolgungsgeschichte besitzen. Das natürliche Gegenstück zur Solidarität mit Türken wäre die zu in Deutschland lebenden Sinti und Roma. Kahane verweist auf Parallelen zwischen dem Antiziganismus und dem Antisemitismus und verweist darauf, dass die Gemeinschaften von Juden sowie die von Sinti und Roma in Deutschland eine gemeinsame Geschichte besitzen, sowie gemeinsame Ansätze zur kulturellen Dekodierung, was ihnen ein gegenseitiges Verständnis und damit auch 43 44 45
Hinweise zu komparativen Arbeiten zum Holocaust, siehe Rosenbaum 1996; „Is Holocaust Unique?“ Interview mit Anetta Kahane, 11. September 2008. Nachfolgeinterview mit Kahane, 17. November 2008.
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eine Solidarität zu einander in Deutschland ermöglicht. Bezüglich der Hinwendung führender türkischer Vertreter zu einem jüdischen Modell legt sie nahe, die „Frage der Instrumentalisierung“ zu erforschen. In anderen Worten stellt sie in Frage, ob die Repräsentanten türkischer Immigranten das deutsch-jüdische Thema nicht bloß zur Erreichung eigener politischer Ziele verwenden. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass von einigen Skeptikern ernsthafte Fragen aufgeworfen werden zur Art und Weise, in der führende Vertreter der Deutsch-Türken das deutsch-jüdische Modell zum eigenen Vorbild machen. Die bedeutendste Frage in diesem Zusammenhang ist die, ob der Antisemitismus mit Formen des Rassismus gegenüber anderen ethnischen Gruppen oder gar mit der Islamophobie verglichen werden kann. Entsprechend bekunden auch einige Skeptiker die Fragwürdigkeit einer Opferkonkurrenz sowie der Verwendung des Gedenkens des Holocausts als politisches Werkzeug zur Erlangung politischer Anerkennung. 2. Existiert Palästina nicht?: Die Skeptiker führen auch den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern an, um auf die problematischen Beziehungen zwischen Juden und Muslimen (hier also: türkischen Muslimen in Deutschland) zu verweisen. Viele säkulare Türken in der Türkei sind sehr bedacht darauf, die Unterschiede zur arabischen Welt hervorzuheben46 und distanzieren sich von Arabern mit deutlichen Ansichten zum israelisch-palästinensischen Konflikt. In Deutschland besitzt Palästina für türkische Immigranten jedoch eine gänzlich andere Konnotation. In Bezirken wie Neukölln, in denen Türken, palästinensische Flüchtlinge und libanesische Immigranten Seite an Seite leben, haben alle Bewohner ähnliche Geschichten zu erzählen – alle haben schon einmal unter den Auswirkungen antimuslimischer Ansichten zu leiden gehabt. In meinen Interviews mit Mitgliedern der deutsch-türkischen und jüdischen Gemeinschaften kam das Gespräch oft auf die konfliktbehaftete Beziehung zwischen Muslimen und Juden in Deutschland, wobei Palästina als Kern des Problems aufschien. Darüber hinaus werden Türken in Deutschland (anders als in der Türkei) im Rahmen dieses Dialogs häufig mit Arabern assoziiert. Ursache hierfür sind die gemeinsamen Problemfelder innerstädtischer Armut, der mangelnde Zugang zu angemessener Beschäftigung, Diskriminierungserfahrungen in Bildungsinstitutionen sowie der Immigrantenhintergrund und die erfahrene Diskriminierungsgeschichte in Deutschland (Saad 2008).
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Tatsächlich gibt es in der Türkei einen ausgeprägten Antiarabismus: durch die Herabwürdigung von Arabern und ihrer Kultur. Die folgende Aussage Ögers soll verdeutlichen, dass sich Teile der türkischen Bevölkerung von den Arabern zu distanzieren suchen: „Die Akteure des politischen Islam sind keine Türken. Der Dschihad ist keine türkische Angelegenheit. Palästina ist nicht das Problem der Türken“ (Hürriyet, 4. Oktober 2005)
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Eine häufig vorzufindende Sichtweise, besonders unter in Deutschland lebenden Juden, besteht darin, die Palästinenserfrage als grundlegenden Teil der muslimischen Identität anzusehen, unabhängig von eventuellen territorialen Kontexten. So verwiesen beispielsweise einige Teilnehmer eines Workshops zum muslimisch-jüdischen Dialog in Limmud, einer Konferenz für Juden über jüdische Themen,47 auf die Bedeutung des israelisch-palästinensischen Konfliktes für den Dialog zwischen Muslimen und Juden. Die Heterogenität muslimischer Praktiken und islamischer Kulturen in aller Welt werden in solchen Diskussionen häufig außer Acht gelassen; pro-palästinensische und anti-israelische Ansichten erscheinen in diesen Zusammenhängen als grundlegend für den Islam. Deswegen argumentieren viele Skeptiker, dass es auf Grund des Potenzials für anti-israelische Politikformen problematisch ist, Beziehungen zwischen Muslimen (einschließlich der Türken) und Juden aufzubauen.48 Als Gegenstück hierzu möchte ich auf ein kontextuelles Verständnis der Palästina-Frage verweisen, das von zwei jungen Sozialaktivisten stammt: Serhat Karakayalt, einem deutsch-türkischen Projektleiter von Amira,49 einer Organisation, die gegen Rassismus und Antisemitismus in Deutschland aktiv ist50 und Sergey Lagodinsky, einem Juristen und prominentem Mitglied der jüdischen Gemeinschaft Deutschlands.51 Beide sind der Meinung, dass es die Opferperspektive ist, die Türken und andere Muslime in ihren Wohngegenden in Deutschland eint. Sie nehmen sich als Opfer von Ausschluss und Diskriminierung wahr und suchen die Nähe anderer Gruppen, die ebenfalls diskriminiert werden, wie z. B. Palästinenser. Die Solidarität mit Palästinensern geht teilweise auf die gemeinsame Opferperspektive und teilweise, wie Sergey Lagodinsky hervorhebt, auf den Versuch zurück, die für jüdische Angelegenheiten sensibilisierte Mehrheitsgesellschaft Deutschlands zu provozieren. Nach Karakayalts Meinung ist ein Dialog mit und unter muslimischen Gemeinschaften in Deutschland kaum herzustellen, ohne auch den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern anzusprechen: 47 48
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Dieser Workshop „Who is Afraid of Muslim-Jewish Dialogue/understanding/cooperation?“ wurde von Rabbi Jeremy Milgrom organisiert und fand am 18. Mai 2008 in Werbellinsee bei Berlin statt. In seinem Interview erwähnte Rabbi Milgrom, dass einige Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft sich gegen die Einrichtung des Jüdisch-Muslimischen Vereins in Nürnberg ausgesprochen haben; Milgrom ist Mitglied des Exekutivkomitees. Interview mit Rabbi Milgrom vom 7. Juli 2008. Gegenwärtig setzen sich Mitarbeiter von Amira mit Sozialarbeitern in vorwiegend von muslimischen Immigranten bewohnten Gebieten in Verbindung, um gegen den unter Jugendlichen in diesen Gegenden bestehenden Antisemitismus zu kämpfen. Interview mit Serhat Karakayalt vom 22. Oktober 2008. Interview mit Sergey Lagodinsky vom 12. Dezember 2008.
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„[W]enn wir das Problem der Palästinenserfrage nicht in legitimer Form ansprechen können, werden wir, wenigstens im Kontext unseres Projektes, auch nicht in der Lage sein, mit den Mitgliedern der arabischen Gemeinschaften über Antisemitismus zu sprechen. Wenn wir ihnen das Recht vorenthalten, über die Besatzung zu sprechen, ist es unmöglich [mit ihnen in einen Dialog einzutreten].“52
Auch in diesem Fall wird eine pro-palästinensische Sicht als tatsächlicher Bestandteil muslimischer Identität in Deutschland wahrgenommen. Tatsächlich, so Karakayalt, würde der Dialog mit muslimischen Jugendlichen erstickt, wenn versucht würde, Palästina zu ignorieren, oder nicht darüber geredet werden dürfte.53 Zusammengefasst kann gesagt werden, dass der israelisch-palästinensische Konflikt sich als signifikantes Problem auf den Dialog zwischen Türken und Juden auswirkt. Die Skeptiker argumentieren, dass führende jüdische Vertreter beim Aufbau von Beziehungen zu den mit Muslimen gleich gesetzten Türken Vorsicht walten lassen müssen, weil es unter den Mitgliedern jener Gruppe mögliche anti-israelische Tendenzen geben könnte. Wie bereits weiter oben angeführt, ist es in den Augen vieler Skeptiker nicht möglich, anti-israelische Ansichten vom Antisemitismus zu trennen. Verbündete: Einige Stimmen sagen, dass Palästina für die Beziehungen zwischen Muslimen und Juden in Deutschland nicht relevant ist, da der Dialog hier in einem anderen kulturellen und sozialen Kontext erfolgt. Irene Runge, Vorsitzende des Jüdischen Kulturvereins, sagt beispielsweise, dass ihr Verband sehr wohl an einer Kooperation mit muslimischen Organisationen interessiert ist.54 Tatsächlich besitzt der Jüdische Kulturverein bereits enge Kontakte mit der Islamischen Föderation in Berlin, einer Organisation, die wiederum enge Beziehungen zur Milli Görü Islamische Gemeinschaft unterhält. Diese Beziehung wurde von vielen Juden kritisiert, die die Haltung der letztgenannten muslimischen Organisation gegenüber Israel für fraglich befinden. Von ihrem kritischen Standpunkt aus betont 52 53
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Interview mit Karakayalt, 22. Oktober 2008. Ursprünglich in englischer Sprache. Die Verbreitung palästinensischer Themen in der Musik junger Muslime, besonders im Hip Hop, zeigt, dass Karakayalt Recht hat. In ethnisch gemischten Hip Hop-Gruppen setzen sich deutsche Jugendliche mit türkischem (Islamic Power), palästinensischem (Massiv) und ägyptischem (Scarabeuz) Hintergrund mit den Problemen der Palästinenser in ihren Texten auseinander. Ein populäres Beispiel ist Massiv, der sich selbst folgendermaßen beschreibt: „Ich hab 'n deutschen Pass aber Herkunft Palästina.“ (Massivs Song „Ich bin kein Berliner“). Interview mit Irene Runge vom 10. Juli 2008.
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Runge jedoch, dass ein jüdisch-muslimischer Dialog in Deutschland den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern ausklammern und sich statt dessen auf die Lösung aktueller Probleme in Deutschland beschränken sollte.55 Rabbi Jeremy Milgrom, der den größten Teil seines Lebens in Israel verbracht hat und nun in Berlin lebt, vertritt eine andere Ansicht.56 Er sieht es als Teil seiner Rolle als Rabbi an, einen muslimisch-jüdischen Dialog zu fördern und gleichzeitig gegen die in Israel an Palästinensern verübten Menschenrechtsverletzungen zu protestieren: „Meine jüdische Rolle als Rabbi und die allgemeine Arbeit für Gerechtigkeit und die Beziehungen zu den anderen Bevölkerungsanteilen in Israel, im Westjordanland, in Gaza… das alles ist zu meinem Leben geworden. Es ist eine Kombination aus einem interreligiösen Dialog und der Arbeit für die Menschenrechte.“
Im Gegensatz zu Runges Position ist Rabbi Milgrom ein starker Verbündeter der Muslime in Deutschland. Darüber hinaus ist er eines der Mitglieder des Exekutivausschusses der Jüdisch-islamischen Gesellschaft Deutschland (Runge 2008), die von (in der Mehrzahl türkischen) Muslimen und Juden ins Leben gerufen wurde. Obwohl diese Organisation nicht von besonders vielen Juden begrüßt wurde, spricht er sich dafür aus, Palästina in den Diskurs in Deutschland einzubringen, wenn es darum geht, formale Organisationen für einen Dialog zwischen Muslimen und Juden zu etablieren. Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass jüdische Repräsentanten hinsichtlich des Anspruchs führender türkischer Vertreter, sich auf die deutschjüdische Trope als politisches Modell beziehen zu können, zwei gegensätzliche Positionen beziehen. Einige dieser jüdischen Repräsentanten, wie z. B. Knobloch, Giordano und Broder, sind wegen möglicher antisemitischer Tendenzen skeptisch gegenüber eventuellen Beziehungen zu Muslimen in Deutschland (zu denen sie auch türkische Muslime zählen). Andere, wie beispielsweise Runge, sind einer formalen Zusammenarbeit gegenüber aufgeschlossener, wieder andere, wie Rabbi Milgrom, sprechen sich sogar für die Gründung gemeinsamer Organisationen aus, um für die Menschenrechte in Palästina zu kämpfen. Obschon führende jüdische Vertreter unterschiedliche Ansichten zu den Bemühungen deutsch-türkischer Repräsentanten haben, ist es interessant festzustellen, dass sie sich alle auf die muslimische Identität als definierendes Charakteristikum der in Deutschland lebenden Türken beziehen. Die Position auf Seiten 55 56
Irene Runges Beitrag zum Limmud, 18. Mai 2008, Werbellinsee bei Berlin. Der Begriff Limmud bezeichnet ein jährliches Treffen unter Juden, in dessen Verlauf politische, soziale und kulturelle Fragen diskutiert werden. Siehe auch www.limmud.de Interview mit Rabbi Milgrom vom 7. Juli 2008. Ursprünglich in englischer Sprache.
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der türkischen Repräsentanten ist dagegen eine völlig andere: sie sehen eine auf Einschluss gerichtete Minderheitenidentität gegenüber einer „deutschen Identität“ als Grundlage der Beziehung zwischen Türken und Juden. In anderen Worten sehen die führenden jüdischen Vertreter die Religion als teilende Größe zwischen Türken und Juden, wogegen die Repräsentanten der Deutsch-Türken eine religiös begründete Identität als Gemeinsamkeit werten, über die Minderheiten mit einander in Kontakt kommen können. Schluss Ziel dieses Artikels war die Erforschung der historischen, kulturellen und sozialen Dimensionen des Prozesses der Integration von Immigranten auf der Grundlage der inter-ethnischen Beziehungen zwischen Juden und Türken in Deutschland. Unter Bezugnahme auf das Konzept der „dichten Beschreibung“ von Clifford Geertz betone ich die Wichtigkeit, die Integration von Immigranten innerhalb eines sozialen und kulturellen Konzeptes zu verstehen, anstatt sich auf eine Achse zwischen den Konzepten „uns“ und „ihnen“ zu beschränken. Ich verwende den Begriff des „kulturellen Repertoires“, um auf die Handlungen bekannter oder zufälliger sozialer Akteure zu verweisen, durch die einer Gruppe zugeschriebene wichtige soziale Ereignisse, wie etwa die Integration, mit Bedeutung versehen werden. Durch die Beachtung des kulturellen Repertoires beim Studium der „Integration von Immigranten“ können Integrationsprozesse besser verstanden werden. Dies gilt nicht nur für die Perspektive bundesdeutscher Behörden, sondern auch für die Perspektive der Immigrantengruppe, die in diesem Fall aus der Türkei stammt. Dies erleichtert das Verständnis der sozialen und kulturellen Bedeutung spezifischer Handlungen von Immigranten wodurch die „Integration“ zu einem wechselseitigen Prozess werden kann, statt die Form eines staatlich auferlegten Mandats anzunehmen. Darüber hinaus kann die soziale Dynamik zwischen ethnischen Gruppen, hier den deutschen Juden und den Deutsch-Türken, sowie ihr Verhältnis zu einander in der deutschen Mehrheitsgesellschaft, abgebildet werden. Bislang waren Studien zur Integration von Immigranten immer auf die Beziehungen zwischen der Mehrheitsgesellschaft und den Immigranten beschränkt. In diesem Fall sollte aufgezeigt werden, wie Immigranten ihre Bemühungen auf die Erfahrungen anderer Minderheiten aufbauen.57 Darüber hinaus wurden die Problembereiche beleuchtet, die eine intensive politische Kooperati57
Dies ist eine bedeutende Abweichung von der bestehenden Literatur, obschon einige Studien verfügbar sind, wie etwa die von Nancy Foner (2003).
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on und selbst Formen der Solidarität zwischen Juden und Türken in Deutschland verhindern, z. B. das Phänomen der Opferkonkurrenz und der israelischpalästinensische Konflikt. Dieser letzte Punkt verdeutlicht die Bedeutung Israels für in der Diaspora lebende jüdische Gemeinschaften sowie für die Identität türkischer Immigranten in Deutschland. Abschließend soll noch erwähnt werden, dass durch die Beschränkung auf Juden und Türken in Deutschland der Versuch unternommen werden sollte, das Feld der Studien zur Integration von Immigranten um einen theoretischen Ansatz zu erweitern, in dessen Zentrum das tätige Handeln von Immigranten im Rahmen ihrer historischen, sozialen und kulturellen Kontexte steht.
In der ethnischen Dämmerung. Die Pfade russischer Juden in Deutschland. Y. Michal Bodemann mit Olena Bagno Das Problem mit den Zahlen In den vergangenen fünfzehn Jahren haben geschätzte 220.000 Juden, einschließlich ihrer nicht-jüdischen Angehörigen, vom Asylrecht Gebrauch gemacht, um aus der früheren Sowjetunion nach Deutschland zu immigrieren.1 Nach dem Niedergang der UdSSR wurde Juden das Recht zugesprochen, als Asylsuchende einzureisen, da sie als in ethnischer Hinsicht nicht-Deutsche auch nicht dem Kriterium des jus sanguinis, des deutschen Staatsbürgerschaftsrechts entsprachen. Unter dieser Regelung reisten bis zum Februar des Jahres 2006 insgesamt 197.195 Juden sowie deren (nicht-jüdische) Familienmitglieder nach Deutschland ein. Weitere 8.535 reisten als Touristen ein und wurden im Laufe ihres Verbleibs in Deutschland „naturalisiert“, sofern sie nur ihre jüdische Herkunft nachweisen konnten. Diese Immigranten werden für gewöhnlich als russische Juden beschrieben – tatsächlich stammen aber mindestens 50% aus der Ukraine und viele weitere aus den baltischen Staaten. Nach den Informationen der „Zentralwohlfahrtsstelle 1
In Deutschland ist das in der 1951 verabschiedeten Genfer Konvention begründete Asylrecht als Grundrecht in der Verfassung verankert (Artikel 16a des Grundgesetzes). Demographisch ausgedrückt stellt die jüdische Immigration nach Deutschland jedoch nur ein kleines Element eines größeren Prozesses dar, den dieses Land in der Nachkriegszeit durchlebte. Üblicherweise wurde die deutsche Staatsbürgerschaft auf der Grundlage des jus sanguinis zuerkannt. Die Realität scheint jedoch viel komplexer zu sein. Im Jahr 1950 lebten in der Bundesrepublik Deutschland nur ungefähr 500.000 Ausländer, was ca. einem Prozent der Gesamtbevölkerung entsprach. Seither hat sich die Situation signifikant geändert: Im zentralen Ausländerregister sind gegenwärtig ca. 6,8 Millionen Ausländer aus ursprünglich ca. 200 verschiedenen Ländern registriert, was bei einer Gesamtbevölkerung von 82,45 Millionen ungefähr 8 % ausmacht (offizielle Statistiken des Innenministeriums der Bundesrepublik). Von diesen ca. 6,8 Millionen Immigranten in Deutschland (Stand: 31. Dezember 2005) sind ungefähr 2,1 Millionen Bürger eines der 24 anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (31,7 % aller Ausländer). Die größten Immigrantengruppen bestehen jeweils aus türkischen Staatsbürgern (1,8 Millionen oder 26,1 % aller Ausländer), Italienern (ca. 500.000 oder 8 %), Bürgern Serbiens und Montenegros (ca. 500.000 oder 7,3 %), Polen (300.000 oder 4,8 %) und Griechen (300.000 oder 4,6 %). Die genannten Zahlen legen nahe, dass die jüdische Immigration nach Deutschland nicht der Größenordnung der Immigration aus anderen Ländern entspricht. Die Tendenz der deutschen Behörden, die jüdische Immigration nicht allzu sorgfältig statistisch zu erfassen kann daher nicht nur dadurch erklärt werden, dass es sich hierbei um ein geschichtlich sensibles Thema handelt, sondern auch durch ihr zahlenmäßig relativ unbedeutendes Ausmaß.
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der Juden in Deutschland“ (hiernach ZWST),2 stellte die Ukraine die Hälfte der bereits in Deutschland eingetroffenen Immigranten. Russland lag mit 35% der Immigranten an zweiter Stelle; 10% stammten aus Litauen, Lettland und Estland, und die verbleibenden 5% stammten aus Buchara, Moldawien, Kasachstan sowie anderen Teilen der ehemaligen Sowjetunion. Insgesamt haben die deutschen Botschaften im Zeitraum zwischen 1991 und 2005 auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion 234.684 Anträge angenommen und bearbeitet. Einige dieser Anträge gingen nach dem Inkrafttreten der neuen Einwanderungsgesetze (1. Januar 2006) ein und sind daher möglicherweise schon den neuen Regelungen entsprechend bearbeitet worden.3 Die einzelnen Bundesländer in Deutschland verfügen über eigene Aufnahmequoten für Einwanderer.4 Andererseits besteht für die jüdischen Immigranten und ihre Angehörigen später vollständige Freizügigkeit, so dass sie sich den eigenen Präferenzen, Bedürfnissen und finanziellen Möglichkeiten entsprechend niederlassen können. Daher beherbergt das sozial eher schwache Berlin nun auch die größte jüdische Gemeinschaft Deutschlands. Offiziellen Angaben der Jüdischen Gemeinde nach liegt die Zahl der hier lebenden Juden bei 12.000, Schätzungen nach könnte diese Zahl aber bei bis zu 40.000 jüdischen Immigranten liegen, wobei deren nicht-jüdische Angehörige nicht berücksichtigt sind. Diese Diskrepanz ist vor allem auch deshalb beachtlich, weil sie Aufschluss über ein weit größeres Problem gibt – das Fehlen verlässlicher Statistiken zur Zahl jüdischer Immigranten in Deutschland. Dies erklärt auch, weshalb andere Studien zu Zahlen gelangen, die so stark von den unsrigen abweichen. Tatsächlich ist es allgemein so, dass Immigrationsdaten bezüglich des jeweiligen ethnischen Hintergrunds notorisch unverlässlich sind.
2 3
4
Interviews mit Anatoli Purnik, Statistiker bei der ZWST, im Februar 2006 und Januar 2007. Ab Januar 2006 steht die Immigration nur noch Juden aus ehemaligen Sowjetrepubliken offen, die Kenntnisse der deutschen Sprache besitzen (vgl.Krieger Hilary Leila (2004): Germany to limit immigration of FSU Jews. The Jerusalem Post, 19. Dezember 2004. Anmerkung: In Folge jüngerer Verhandlungen des Jewish Council mit deutschen Behörden wurde die genannte Voraussetzung wieder aufgehoben. Weitere Daten unter http://vorota.de/ Thread.AxCMS? ThreadID=498083 Diese Quote wird auf der Grundlage spezieller Finanzindikatoren der einzelnen Länder berechnet. Dem entsprechend wurden beispielsweise 2,3 % der russisch-jüdischen Immigranten in Berlin angesiedelt, während auf Niedersachsen und Nordrheinwestfalen 9,3 % respektive 22,4 % entfielen. Die tatsächlich bestehende Mitgliedschaft russischer Juden in der Berliner Gemeinde von über 6.000 Personen geht jedoch weit über diese Quote hinaus und ist Beleg für eine Verlagerung in die größeren Städte. Was darüber hinaus noch bekannt ist, ist, dass sich nach 1991 rund 90.000 neue russisch-jüdische Immigranten bei den Gemeinden registrieren ließen. Es gibt keine offiziellen Statistiken zum Schicksal von 111.730 Immigranten, die sich nicht bei den Gemeinden registrieren ließen.
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Es gibt noch einige weitere Gründe für diese Diskrepanzen: erstens wurden viele russisch-jüdische Immigranten auf Grund der Halacha nicht als Juden anerkannt. Lena Gorelik, eine junge russisch-jüdische Schriftstellerin, die in St. Petersburg geboren wurde, betitelte eine ihrer Kurzgeschichten treffend mit „Herr Grinblum, sie sind kein Jude!“, da die Mutter von Herrn Grinblum keine Jüdin war und er deshalb nicht Mitglied in der jüdischen Gemeinde werden konnte (Gorelik 2005). Tatsächlich erleben viele dieser Immigranten Probleme mit den jüdischen Gemeinden, wenn ihre Ehepartner und Kinder nicht jüdisch sind. Viele von ihnen haben das Gefühl, nicht wirklich willkommen zu sein, weshalb sie die Gemeinden entweder bald wieder verlassen, nachdem sie alle ihnen zustehenden Hilfsangebote wahrgenommen haben, oder sich von vorne herein entschließen, den Gemeinden gar nicht erst beizutreten. Wieder andere verlassen die Gemeinden, um sich anderen jüdischen oder nicht-jüdischen Organisationen anzuschließen, wie beispielsweise der ultraorthodoxen Chabad Lubavitch-Bewegung, kulturellen Organisationen oder messianischen (also christianisierenden) Sekten. Trotzdem hat der massive Zustrom zu einer Steigerung der Zahl der bei den Glaubensgemeinschaften registrierten Juden von unter 30.000 im Jahr 1989 bis auf gegenwärtig über 100.000 geführt. Dies also ist die verwirrende Vielzahl an Zahlen, worin auch ein Teil des Problems begründet ist, wie wir im Folgenden sehen werden. Trotz seiner Nazi-Vergangenheit liegt Deutschland hinsichtlich der Zahl der aufgenommenen russischsprachigen jüdischen Immigranten nach Israel und den Vereinigten Staaten noch immer auf Platz drei. Im Jahr 2004 waren erstmals seit dem Zusammenbruch der UdSSR mehr als doppelt so viele Juden aus den GUSStaaten nach Deutschland ausgewandert wie nach Israel – das entspricht 20.000 Personen, und dieser Trend setzte sich auch im folgenden Jahr noch fort. Deutschland förderte diese Einwanderung, während anderen Immigranten die Einreise deutlich erschwert wurde. Zeitgleich wurde jedoch auch ca. 2,5 Millionen Deutschstämmige aus der ehemaligen Sowjetunion die Einreise ermöglicht. Für viele russische Juden hing der Entschluss, nach Deutschland zu gehen, mit dem überlegenen Gesundheitssystem und dem Netz sozialer Sicherungen zusammen, und auf die eine oder andere Weise schafften sie es, ihren Frieden mit ihrem deutschen Umfeld zu machen. Es ist wichtig anzumerken, dass es zwei getrennte Wellen dieser jüdischen Migration aus der ehemaligen Sowjetunion gab. Die erste Welle, die vor 1989 begann, nahm den Weg aus der Sowjetunion nach Deutschland häufig über Israel, während die zweite Welle Deutschland direkt ansteuerte. Der große Unterschied besteht darin, dass die erste Welle, z. T. auf Grund ihrer israelischen Sozialisation, der Kenntnis des Hebräischen und weiterer Faktoren deutlicher „jüdisch“ geprägt war. Es bedeutet aber auch, dass Mitglieder dieser ersten Welle
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zionistisch und/oder religiös orientiert waren, bevor sie nach Israel und anschließend nach Deutschland kamen. Andererseits weisen jüdische Immigranten der zweiten Welle eine stärker transnational (oder eher binational) geprägte Orientierung auf, was bedeutsame Auswirkungen hat. Einerseits halten diese erst in jüngerer Zeit eingereisten Immigranten eher an ihren Verbindungen zum Heimatland aus der Zeit vor der Migration fest. Tatsächlich tragen ihre Besuche in ihren Heimatländern signifikant zu einer Milderung des psychologischen Traumas bei, das mit der Immigration einhergeht. Andererseits ist es in vielen Fällen zweifelsfrei so, dass sie sich nun zwischen zwei Welten wiederfinden: sie sind kein Teil mehr der „russischen“ Vergangenheit, und gleichzeitig wirken ihre engen Verbindungen zum Heimatland als Hürde bei der Integration in ihre neue „deutsche“ Realität. So erwähnt beispielsweise Adela Dzialowski,5 eine Immigrantin der ersten Welle (1978) und WIZO-Aktivistin,6 ausdrücklich, dass Verbindungen zur alten Heimat mit verantwortlich sind für die dualen Identitäten der meisten Neuankömmlinge. Sie erinnert sich, wie sie die Immigration ihrer Familie als „dem Tode ähnlich“ erlebte: sie verließen die UdSSR, ihre Verwandten und Freunde, ohne Aussicht auf eine Rückkehr. Deutschland wurde deshalb als die zweite Heimat empfunden, die man sich von Grunde auf errichten und entsprechend schätzen musste. Ein weiteres Beispiel ist das von Marinas Familienmitgliedern, die auch durch besondere Offenheit gegenüber der neuen Erfahrung und der deutschen Lebensart versuchten, ihren Weg in die neue Gesellschaft zu finden. Erst als sie sich in Deutschland zurecht gefunden hatten, konnten sie wieder damit beginnen, sich erneut jüdischen Werten und ihrer Beziehung zu Israel zu widmen.7 Während jedoch die aus der ersten Welle stammenden „Veteranen“ unter den Immigranten mit gehobenen kulturellen und sprachlichen Kenntnissen typischerweise führende Positionen in verschiedenen Gemeinden bekleiden, ist es der zahlenmäßig so viel größere Zustrom der jüngeren Immigrationsbewegungen, der zu einer Verbesserung des Gemeinschaftssinns und des ethnischen Bewusstseins geführt hat. Die von deutscher Seite angebotenen Gründe für diesen eindrucksvollen Zustrom jüdischer Immigranten nach Deutschland drehen sich um die Vorstellung, dass Deutschland hierdurch einen Teil seiner historischen Schuld begleichen könnte. Diese Idee wurde unter anderem auch von Joschka Fischer vorgebracht, der sagte, dass die Zahl der in Deutschland lebenden Juden wieder auf das Niveau von vor 1933, und damit auf 500.000 bis 600.000, steigen sollte. Darüber hinaus existiert auch die Annahme, dass Juden speziell in kultureller 5 6 7
Pseudonym. Women’s International Zionist Organisation. Interview, August 2006.
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und wirtschaftlicher Hinsicht einen besonderen Beitrag zu einer dynamischen Gesellschaft und allgemein zum Wohle Deutschlands leisten. Die Realität sieht jedoch ein wenig anders aus, und ein sorgfältigerer Blick auf die Zahlen wirkt hier durchaus erhellend. So liegt der Altersdurchschnitt bei der russisch-jüdischen Migration im Vergleich zu der nach Israel, den Vereinigten Staaten und Kanada ungewöhnlich hoch. In einer Studie wird ein Durchschnittsalter von 54 Jahren erwähnt. In ihrem Essay verweist Judith Kessler (2008) darauf, dass 70 % der Immigranten arbeitslos, 85 % von Sozialleistungen abhängig und nur 15 % unter 20 Jahre alt sind. Fast 70 % besitzen universitäre Bildungsabschüsse, häufig in technischen Bereichen sowie im Ingenieurswesen, die meisten von ihnen können jedoch keine ihrer Qualifikation entsprechende Beschäftigung finden und sind nicht bereit, geringer qualifizierte Arbeiten anzunehmen.8 Etwas überspitzt können wir deshalb argumentieren, dass russische Juden in produktivem Alter zwar in die Vereinigten Staaten und nach Israel ausgewandert sind, Deutschland hingegen eher als ihr Pflegeheim oder aber als medizinisches Versorgungszentrum angesehen wird. Die von Judith Kessler verwendeten Statistiken weisen jedoch eine Besonderheit auf. Die Studien zur Arbeits- wie auch zur sozialen Integration wurden auf der Grundlage von Daten erstellt, die aus offiziellen Quellen der jüdischen Gemeinden stammten: unter registrierten Mitgliedern wurden hierzu Fragebögen verteilt. Unter den 106.000 registrierten Mitgliedern der Gemeinden in Deutschland ist die Arbeitslosigkeit tatsächlich enorm hoch, und die Integration in die deutsche Kultur und Gesellschaft eher gering. Was kann jedoch über die 111.000 Migranten ausgesagt werden, die für die Registrierung in der jüdischen Gemeinschaft entweder nicht in Frage kommen, oder schlichtweg nicht daran interessiert sind? Man kann spekulieren, dass die Beschäftigungsrate unter den Mitgliedern der zuletzt Genannten sehr viel höher ist,9 obwohl die meisten von ihnen, besonders die mittleren Alters, in einem Bereich beschäftigt sind, der von Deutschen mit Blick auf türkische Immigranten als „Parallelgesellschaft“ bezeichnet wird – die ethnisch basierte Wirtschaft des „russischen“ Sektors. Hier stehen Dienstleistungen für Mitimmigranten, wie beispielsweise die Altenpflege, oder Geschäftsbeziehungen zu Ländern der ehemaligen Sowjetunion und Ähnliches im 8
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Die Daten der ZWST deuten darauf hin, dass 75 % der nach Deutschland kommenden Immigranten einen höheren Bildungsabschluss besitzen. Die fünf häufigsten Berufsnennungen sind (in absteigender Reihenfolge): Maschinenbauingenieur, Elektroingenieur, Bauingenieur, Ökonom/Buchhalter, Lehrer/Künstler/Musiker. Die Studie zu „Demokratischen Werten, 2006“ könnte dieses Problem sicher erhellen. Es ist jedoch zu früh für definitive Schlüsse, da die Daten zum entsprechenden Zeitpunkt noch ausgewertet wurden.
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Vordergrund. Diese Personengruppe ist für die von den jüdischen Gemeinden und der ZWST durchgeführten Studien schlicht unsichtbar. 10 Die Nähe zu Russland oder der Ukraine hinsichtlich des Klimas wie auch der Kultur, nicht aber im Bereich der Gesundheitsversorgung und des Sozialsystems, spielt auch eine Rolle für die Attraktivität Deutschlands für sowjetische Juden. Das relativ hohe Alter der Immigranten legt jedoch nahe, dass ein merklicher Rückgang in dieser Population zu erwarten ist, wenn die ältere Generation einmal nicht mehr da ist. Darüber bietet Deutschland der jüngeren Generation nicht unbedingt eine großartige Perspektive: viele der jüngeren russischsprachigen Juden, die einen Teil ihrer Bildung in Deutschland erworben haben, scheinen sich auf der Suche nach besseren Möglichkeiten auf den Weg in die Vereinigten Staaten und andere Länder zu machen. Die Situation der Juden sollte jedoch im richtigen Licht betrachtet werden: die wirtschaftliche Situation im Deutschland der jüngeren Vergangenheit hat auch viele ethnische Deutsche dazu bewegt, ihr Glück im Ausland zu versuchen. Der prozentuale Anteil jüngerer jüdischer Studenten oder Berufstätiger, die das Land verlassen, sollte mit dem der jüngeren Deutschen verglichen werden, die eine ähnlich einschneidende Veränderung in ihrer Laufbahn suchen. Ethnos als Problem Deshalb erscheint es angebracht, vor übermäßig optimistischen Interpretationen der Zahlen zur Gesamtimmigration zu warnen. Unseren Schätzungen nach, und ohne unvorhergesehene zusätzliche Immigrationsströme nach Deutschland, wird in 25 Jahren die aktuelle Mitgliederzahl der jüdischen Gemeinden von ungefähr 100.000 auf etwa 60.000 sinken. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat die Immigration russischer Juden eher zu einem Anstieg der Zahl assimilierter Juden geführt, da diejenigen mit stärker zionistischer oder religiöser Prägung in der Regel Israel 10
Wir nehmen an, dass die Beschäftigungsrate in der letzteren Gruppe höher liegt. Um Belege hierfür zu schaffen, erstellten wir einen repräsentativen Querschnitt auf der Grundlage des Mikrozensus 2004, obwohl hierzu nur eingeschränkt Instrumente zur Verfügung standen. Es ist nicht möglich, anhand der Stichprobe jüdische Migranten zu erfassen, die entweder nur einen deutschen Pass oder eine doppelte Staatsbürgerschaft besitzen. Im Rahmen der am stärksten begrenzten Stichprobe, die auf der Grundlage des Mikrozensus 2004 erstellt wurde, konnten 732 Befragte ermittelt werden, die keine deutsche Staatsbürgerschaft besaßen. Selbst in dieser Gruppe beträgt die Quote der Vollzeitbeschäftigten 37,6 %. Es ist durchaus gerechtfertigt davon auszugehen, dass diese Quote unter jenen, die bereits eingebürgert wurden, beträchtlich höher liegt. Siehe hierzu auch die anstehende Veröffentlichung von Olena Bagno mit dem Titel „The Destination Does Matter“. Ein Modell durchgängiger Offenheit zur politischen Sozialisierung, angewandt im Rahmen der Untersuchung von jüdischen Immigranten aus der ehemaligen Sowjetunion in Deutschland (Bagno, Diskussionsbeitrag zur Präsentation bei der Graduate Conference, Haifa, Israel, 26. Dezember 2006) http://gradcon.hevra.haifa.ac.il/19.pdf
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oder die Vereinigten Staaten bevorzugen. Aus diesem Grund erscheint es wenigstens möglich, dass sich ein großer Teil dieser Immigrationsbewegung in die deutsche Gesellschaft eingliedert, ohne irgendwelche sichtbaren ethnischen Spuren zu hinterlassen. Während eine kleinere Gruppe jüngerer russischer Juden in den Gemeinden aktiv ist, haben doch die meisten anderen den etablierten jüdischen Gemeinschaften den Rücken gekehrt und ihre Mitgliedschaft aufgegeben. Im besten Falle haben sie sich dem reformorientierten World Council for Progressive Judaism angeschlossen und sogar eigene, unabhängige und an der Reform orientierte Glaubensgemeinschaften gegründet, wie beispielsweise in Hannover. Die Attraktivität dieser Reformbewegung besteht darin, dass sie das Prinzip der Patrilinearität anerkennt. Dies bedeutet, dass auch Personen mit jüdischem Vater und nicht-jüdischer Mutter als Juden anerkannt werden. In manchen Fällen wird sogar die Teilnahme nicht-jüdischer Ehepartner an bestimmten Aktivitäten der Gemeinschaften begrüßt. Die Gründe für diese Abkehr der Mehrzahl der Immigranten vom organisierten jüdischen Leben sind komplex und umstritten. Befragte, die tatsächlich ihre Mitgliedschaft aufgegeben haben, gaben an, dass ihre Gemeinden sie, am Maßstab länger bestehender Mitgliedschaften gemessen, nicht gerecht behandelt haben; jüngere Befragte sprechen von Diskriminierung und Feindseligkeit seitens offizieller Vertreter der Gemeinde; darüber hinaus fanden sie die Angebote ihrer Jugendclubs „langweilig“. Und anstatt sie bei der Integration in ihr neues Umfeld wie auch bei der Entwicklung ihrer Talente zu unterstützen, war die Leitungsebene eher damit befasst, ihnen religiöse und dogmatische Praktiken aufzuerlegen. Jüdische Funktionäre andererseits werfen den Neuankömmlingen vor, zu passiv zu sein und es nur auf die Vorzüge abgesehen zu haben, die ihnen die Gemeinschaft zu bieten hat. Die Wahrheit findet sich, wie so oft, irgendwo dazwischen. Es wird jedoch deutlich, dass die Gemeinschaften bei der Aufnahme von Immigranten mit einer gewaltigen Herausforderung umzugehen haben und nicht adäquat als Zentren funktionieren können, die zu einer Konsolidierung der jüdischen Minderheit in Deutschland beitragen könnten. Es ist möglicherweise auch nötig, zwischen einer ethno-religiösen und rein ethnisch basierten Identifikation zu unterscheiden. Judith Kessler berichtet beispielsweise aus ihrer Befragung, dass sich fast 80 % der Immigranten ein jüdisches Begräbnis wünschen und zwei Drittel darauf hoffen, dass ihre Kinder jüdische Partner heiraten. Andererseits verwehren sich fast die Hälfte der Befragten gegen die Beschneidung und zwei Drittel haben kein Interesse an Bar oder Bat Mitzvahs. Das folgende Beispiel aus unseren Interviews kann als mögliche Illustration für eine russische Identität mit jüdischer Färbung dienen: es handelt sich um den Fall einer Musikerfamilie – Großvater, Vater und Sohn sind praktizierende Musiker, wobei Vater und Sohn ohne jegliche merkliche jüdische Traditi-
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on leben und beispielsweise nur ansatzweise Kenntnisse über jüdische Feiertage besitzen. Darüber hinaus gibt es die vage Erinnerung, dass der Großvater seine eigenen Eltern noch Jiddisch hat sprechen hören. Der 20-jährige Sohn des jüdischen Vaters und einer nicht jüdischen Mutter genoss keinerlei jüdische Bildung, ist in Deutschland aufgewachsen und besucht gegenwärtig eine Musikhochschule. Auf die Frage, ob er viele deutsche Freunde hat, antwortete er: „Nein, eigentlich nicht. Aber an der Hochschule gibt es eine Gruppe von uns, mit russischem Hintergrund, und wir verbringen ziemlich viel Zeit mit einander. Wir haben einfach mehr Gemeinsamkeiten.“ Sein Freundeskreis ist offensichtlich Teil der russisch-jüdischen Migration, nicht der von ethnisch deutschen Immigranten. Wie bereits oben angeführt besitzt diese Migration wenigstens teilweise, wie auch im israelischen Fall, einen klar transnationalen Charakter. Russland, die Ukraine und besonders die baltischen Staaten liegen in nicht allzu großer Entfernung, und die jüdischen Immigranten ziehen es vor, wenn möglich, eine doppelte Staatsbürgerschaft zu besitzen.11 Judith Kessler führt an, dass viele Immigranten ihre post-sowjetischen Staatsbürgerschaften wie auch ihre alten Wohnungen beibehalten haben und jetzt zwischen beiden Welten pendeln. Diese transnationalen/binationalen Bindungen werden durch Post, Telefon, E-Mail und russischsprachige Zeitungen wie die Evreya Gazeta oder auch russische Reisebüros weiter verstärkt. Abgesehen von der Tatsache, dass diese Immigranten im Allgemeinen assimilierter und weniger „jüdisch“ sein mögen, ist ihr Habitus aber auch deutlich von dem der alten deutschen und besonders der so genannten polnischen Juden unterscheidbar – die normalerweise als Vertriebene nach Deutschland gekommen und dort gestrandet waren. Ein außergewöhnlich hoher Anteil unter ihnen misst der Bildung einen enorm hohen Wert bei und besitzt ein hohes Bildungsniveau, vom Ingenieurswesen über wissenschaftliche Felder bis zu den Künsten. Viele der Immigranten aus der jüngeren und mittleren Altersschicht sind Kleinunternehmer geworden, eine kleinere Untergruppe ist im weiteren russischen Milieu tätig und wurde, mehr oder weniger freiwillig, in mafiöse Geschäftsstrukturen verwickelt. In der Altersgruppe zwischen 20 und 35 Jahren sind die meisten dabei, höhere Bildungsabschlüsse zu erwerben oder besitzen bereits einen Universitätsabschluss und verfügen über einen technischen oder beruflichen Hintergrund, beispielsweise in der IT-Branche, als Jurist oder als Mediziner. Vor einigen Jahren beschlossen jetzt in Berlin lebende (jüdische) Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges (des Zweiten Weltkrieges) zum Schrecken der nicht-russischen jüdischen Gemeinschaft, sich mit Veteranen der Wehrmacht 11
Russischen und litauischen Bürgern ist es erlaubt, eine doppelte Staatsbürgerschaft zu besitzen, während Juden aus der Ukraine oder Lettland dies auf Grund der jeweiligen Landesverfassungen nicht möglich ist.
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zum gemeinsamen Gedenken zu treffen. Diese Anekdote verweist auf drei Problemfelder: erstens besitzt die Erfahrung des Zweiten Weltkrieges und des Holocausts als größtes Trauma der Juden in Deutschland für die russischen Juden nicht notwendigerweise die gleiche Bedeutung. Für sie stellen der gegenwärtige Antisemitismus in Russland wie auch die Ära der Gulags häufig die traumatischere Erfahrung dar. Zweitens erfuhren sie als ehemalige Professoren, Ärzte und Ingenieure nach dem Verlassen Russlands, der Ukraine oder der übrigen Herkunftsländer eine Deklassierung. Ihr früherer gesellschaftlicher Status ist vergangen, so dass sie jetzt in ihrer neuen Umgebung nach Anerkennung von außen suchen.12 Drittens weichen ihre Biographien, ihre Erfahrungen, ihr Bewusstsein und auch ihre Sprache von denen der nicht-russischen Juden in Deutschland ab, was sich wiederum in vollständig abweichenden institutionellen Strukturen niederschlägt: seit ihrer Ankunft wurden eine Vielzahl an Vereinen und Verbänden von und für diese russischen Immigranten gegründet, besonders im kulturellen Bereich. Diese reichen von Schach- und Theaterclubs über Studien- und Nähzirkel bis zu Tanzveranstaltungen und Gruppen für Senioren oder Jugendliche, ganz zu schweigen von einer Reihe religiöser Bildungsangebote. Diese organisatorische Umtriebigkeit mag auf den ersten Blick verwirrend erscheinen, es darf jedoch nicht vergessen werden, dass die Mehrzahl dieser Immigranten im Ruhestand oder arbeitslos ist, und über freie Zeit und Energien verfügt, die sie diesen Aktivitäten widmen kann. Die reichhaltige institutionelle Struktur, die sie in Deutschland entwickelt haben, wird mit der dafür verantwortlichen ersten Immigrantengeneration entschwinden. Gleichzeitig wird es aber durch die große Überzahl der neuen russisch-jüdischen Mitgliedschaften zu einem fast vollständigen Wandel auf der Leitungsebene in den Gemeinschaften kommen. Die jüngste, putschähnliche Machtübernahme in der Gemeinschaft Berlins ist hierfür nur ein beredtes Beispiel, und jüdische Intellektuelle werden sich voraussichtlich immer weiter von den Gemeinden entfernen. Die kulturelle Kluft ist einfach zu groß. Die jüdische Gemeinschaft Viele russische Juden sehen die jüdische Gemeinschaft mittlerweile als Festung und allgemein als wenig einladendes Umfeld an. In den späten 1990er Jahren 12
Im Gegensatz hierzu protestierten Mitglieder der „russischen“ jüdischen Gemeinschaft in Hameln vergangenes Jahr gegen das jährliche Treffen von Veteranen der Wehrmacht in ihrer Stadt. Die oben angeführten Geschichten sollen nur wieder unterstreichen, wie heterogen die Gemeinschaft ist, und dass vieles, wenn nicht gar alles, von den Personen auf lokaler Ebene abhängt.
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diskutierte die „Repräsentantenversammlung“ (Gemeinderat der jüdischen Gemeinde zu Berlin) ob sowjetische Juden in Berlin aufgenommen werden sollten oder nicht.13 Eine starke Meinungsströmung zu jener Zeit war gegen eine Unterstützung gerichtet. Besonders ein Repräsentant – ausgerechnet ein Mann, der Israel verlassen hatte, um nach der Shoah wieder nach Deutschland zurück zu kehren – argumentierte, dass diese Menschen nach Israel und nicht nach Deutschland gehörten. Ein zweites Problem hängt mit der Tatsache zusammen, dass die meisten Gemeinden – wenigstens dem Namen nach – von etablierten Orthodoxen dominiert werden. Dieses Establishment verfolgt eine Politik des Ausschlusses von Gemeindeaktivitäten und –unterstützungsangeboten, die sie gegenüber nicht-halachischen Juden und den nichtjüdischen Familienmitgliedern von Juden rigoros durchsetzt. Dies umfasst insbesondere auch die sozialen und nicht-religiösen Angebote. In der Sowjetunion wurden Personen mit jüdischen Vorfahren hingegen normalerweise als Juden klassifiziert, unabhängig von ihrem halachischen Status. Dadurch entsteht die bizarre Situation, dass Personen mit jüdischen Familiennamen, auf Grund derer sie als Juden erkennbar waren und unter dem Antisemitismus in der Sowjetunion zu leiden hatten, dass diese Personen, die in ihrer alten Heimat ihr jüdisches Erbe häufiger reflektierten, nun in Deutschland von jüdischen Glaubensgenossen aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden – und zukünftig auf der Grundlage eines Vetos des Zentralrats nicht einmal mehr nach Deutschland kommen dürfen. Diejenigen jedoch, deren Hintergrund leichter zu verdecken war, da sie nicht Kind eines jüdischen Vaters sondern mütterlicherseits jüdischer Abstammung sind, die deshalb möglicherweise auch weniger erdulden mussten, diesen Personen wird das Recht auf den Zugang zur jüdischen Gemeinde sowie zu deren Diensten und Einrichtungen zuerkannt. Die weiter oben erwähnte Kurzgeschichte von Lena Gorelik befasst sich genau mit dieser Situation. Russische Juden kommen also in Deutschland auf der Grundlage ihres Nationalitätenstatus’ als ethnische Juden an und werden dann in Deutschland von der eigenen jüdischen Gemeinschaft auf religiösen Grundlagen als Juden oder nicht-jüdisch definiert, und das unabhängig von ihren kulturellen oder religiösen Erfahrungen im Herkunftsland. Junge russische Juden, die beispielsweise die hebräische Schule in Dnepropetrovsk besuchten, können nun nicht einmal die Mitgliedschaft in einer Gemeinde erlangen, bevor sie sich nicht bereit erklären 13
Gemäß Artikel 83 des Grundgesetzes sind die Bundesländer allein für die Umsetzung des Ausländerrechts verantwortlich. Aus diesem Grund tragen die örtlichen Ausländerbehörden als Organe der Landesregierungen die Verantwortung für rechtmäßige Entscheidungen bezüglich des Aufenthaltsrechtes. Deshalb können auch lokale jüdische Gemeinden Neuankömmlinge abweisen. In einem solchen Fall wären die örtlichen Behörden verpflichtet, diese Entscheidung und ihre Durchsetzung zu unterstützen.
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zu konvertieren. Diese Aufhebung ihres gewohnten Status’ wie auch ihrer Identität wird häufig als traumatisch erlebt und führt in hohem Maße zu Verbitterung. Russisch-jüdische Immigranten werden in Deutschland also in eine Kategorisierung als Juden oder nicht-Juden gedrängt. Die Geschichte der Familie Mintz14 kann hier als Beispiel angeführt werden. Nach ihrer Ankunft in Deutschland im Jahr 1994 trat der Vater der (nominell orthodoxen) jüdischen Gemeinde bei. Aber schon nach kurzer Zeit fühlte er sich durch die Arroganz und die Feindseligkeit ihrer Funktionäre abgestoßen. Seine zum damaligen Zeitpunkt 13-jährige Tochter wurde im dazugehörigen Jugendclub geschnitten, weil sie den Sabbatgottesdienst und die Gebete nicht in allen Einzelheiten kannte. Zweifellos spielten auch hier die Probleme ihres Vaters mit der Gemeinde eine Rolle. Die „Veteranen“ unter den Mitgliedern des Jugendclubs blickten auf sie herab und wurden hierfür auch vom Rabbi nicht ermahnt, der selbst aus Israel stammte (und einen Chernovitzi-Hintergrund besaß). So beschloss das Mädchen, wie ihr Vater vor ihr, auszutreten. Andererseits ist sie sich aber dessen bewusst, dass sie Jüdin ist und versucht diese Tatsache auch nie zu verbergen, und ihr Vater hofft, dass sie eines Tages mehr mit der jüdischen Welt zu tun haben möge, freilich aber außerhalb der orthodoxen Gemeinde. Auf einer völlig davon losgelösten und keinen formellen Kriterien entsprechenden Ebene lässt sich jedoch beobachten, dass selbst jene Migranten, die nichts mit den Gemeinden zu tun haben, ein Milieu entwickelt haben, dass weder als klar „jüdisch“ noch als rein „russisch“ bezeichnet werden kann. Es entspricht auch nicht dem, was Homi Bhaba und viele andere Autoren als Hybridität bezeichnen; es ist vielmehr ein Milieu sui generis. Ich würde für sie die Beschreibung „Jussen“ verwenden: russische Deutsche mit jüdischer Färbung. Lena Gorelik hat es treffend formuliert, als sie sich und ihre Freunde als russisch und deutsch und ein wenig jüdisch bezeichnete. Die russisch-jüdische Präsenz in Deutschland und die Dekonstruktion der ethnischen Kategorie lässt einige schwerwiegende Fragen aufkommen bezüglich der Bedeutung der von Demographen und Soziologen verwendeten, klar definierten ethnischen Kategorien: wo endet das Jüdische oder Russische, und wo beginnt das Deutschsein? Und wie nützlich sind ethnische Kategorien überhaupt? Ein literarischer Exkurs „Jussen“ zu sein jedoch bedeutet in erster Linie, einen gemeinsamen Hintergrund und eine gemeinsame Kultur zu besitzen, die durch die jüdische Vergangenheit 14
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der eigenen Vorfahren konjugiert wird, ohne dass diese Immigranten selbst jüdisch sind. Einige der gerade angesprochenen Punkte finden ihren lebhaften Ausdruck in den Werken einer Reihe von jüngeren russisch-jüdischen („jussischen“) AutorInnen in Deutschland. Wie im Folgenden deutlich werden soll, behandelt der 1967 geborene Wladimir Kaminer als repräsentativer „Jusse“ sowie als postmoderner Autor die Frage der Dekonstruktion der ethnischen Kategorie, wodurch er das Jüdischsein ironisiert und relativiert. Vladimir Vertlib, geboren 1961, widmet sich der Frage der Leugnung der jüdischen Identität durch die Gemeinden, aber auch dem Thema des Ausschlusses wie auch dem Unbehagen im jüdischen Leben in Deutschland, und Anna Sochrina beschäftigt sich in ihrer Arbeit mit der inquisitorischen Aufhebung des Jüdischseins durch die etablierte jüdische Gemeinschaft sowie mit der Schwierigkeit, das in Russland gelernte ethno-nationale Konzept des Selbst in Deutschland in ein religiös fundiertes Konzept umzuwandeln. Die junge Schriftstellerin Lena Gorelik schließlich ist noch einen Schritt weiter gegangen. Sie wurde 1981 in St. Petersburg geboren und lebt seit 1992 in Deutschland. Jüdin zu sein ist für sie nicht unbedeutend – aber untrennbar mit ihrem russischen Hintergrund und ihrer aktuellen Heimat Deutschland verwoben. Wladimir Kaminer Wladimir Kaminer wurde in Moskau geboren, durchlief eine Ausbildung zum Tontechniker für Theater und Radio und studierte später Dramaturgie am Moskauer Theaterinstitut. Er ist mit einer nicht-jüdischen Frau verheiratet und emigrierte 1990 nach Berlin. Bekannt wurde er durch seine legendären Abendveranstaltungen im Kaffee Burger in Berlin und seine Kurzgeschichten werden in verschiedenen großen deutschen Tageszeitungen veröffentlicht. Er moderierte sogar eine eigene Radiosendung, und sein erstes Buch „Russendisko“ entwickelte sich zu einem durchschlagenden Erfolg, ebenso wie zwei spätere Bücher, einschließlich seiner jüngsten Veröffentlichung „Mein deutsches Dschungelbuch“, positive bis befremdend-neugierige Schilderungen deutschen Kleinstadtlebens. Zwei Fragen sollten bezüglich Kaminer gestellt werden, der eindeutig der populärste russisch-jüdische Autor in Deutschland, vielleicht sogar der insgesamt populärste Kulturschaffende dieser Immigrantengruppe ist. Erstens, enthalten seine Arbeiten irgendwelche Informationen über diese Immigrantengruppe, und zweitens, warum ist Kaminer so ungeheuer beliebt bei seiner breiten deutschen Leserschaft? Hierfür lohnt sich ein kurzer Blick auf die Geschichten Kaminers,
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die für gewöhnlich irgendwo zwischen dem Fantastischen und dem Absurden angesiedelt sind. Der Erfolg von Kaminers Geschichten lässt sich auf seine kontroverse, aberwitzige Sprache und geistreichen Erzählstränge, aber auch auf seinen soziologischen Blick zurück führen. „K.“s Protagonisten erheben sich aus der erstarrten sowjetischen Vergangenheit und schlüpfen hernach in verschiedenste Identitäten: eine Moskauer Prostituierte wird zur römischen Gräfin, K. erscheint im Gewand eines Grafen. Die Leser erleben eine willkürliche Vermischung der Ethnizitäten zwischen Albanern und Afrikanern in Rom, Vietnamesen und Russen in Berlin, Juden und Russlanddeutschen in Potsdam. An anderer Stelle finden sich chinesische, afrikanische, jugoslawische und russische Heiler und Patienten. Man erfährt von Bulgaren, die sich beim türkischen Imbiss als Türken ausgeben; die vermeintlich italienischen Betreiber eines italienischen Restaurants erweisen sich als Griechen, während die Angestellten des griechischen Restaurants dafür eigentlich Araber sind – und dergleichen mehr von gefälschten Indern, Chinesen oder Afrikanern. Ihre jeweilige Bindung an Deutschland erscheint zufällig oder irrelevant, und Kaminer und seine Hauptfiguren scheinen über Nationalitäten und Länder hinweg zu schweben – wie im Falle seiner Mutter, die jetzt jenseits sowjetischer Erstarrung die Neue Welt durchmisst. Ethnische Zugehörigkeit als frei austauschbares Etikett. Wie steht es nun aber mit dem jüdischen Thema und Kaminers jüdischer Welt? „Russendisko“ beginnt vielsagenderweise mit einer Skizzierung zum geschichtlichen Hintergrund der russischen Emigration nach Deutschland sowie zu Honeckers Zusage, Juden aus der Sowjetunion in der DDR aufzunehmen. Hier, in dieser ersten Geschichte, wird der Antisemitismus als Motiv zur Ausreise verworfen. Statt dessen wird die jüdische Emigration, in einer gewundenen Erklärung, auf die mangelnden Karrieremöglichkeiten zurück geführt, mit denen sich Juden auf Grund ihres Privilegs konfrontiert sahen, jederzeit ein Ausreisevisum nach Israel beantragen zu können. Nach 1989, so Kaminer, war es Juden dann erlaubt, in alle Teile der Welt auszureisen. Für den Erhalt eines Visums sei es nur noch notwendig gewesen nachzuweisen, dass man wirklich jüdisch war, so dass Leute, die zuvor ihr Bestes taten, um das Wort „Jude“ aus ihrem Pass löschen zu lassen, sich nun ebenso unvermindert anstrengten, um statt dessen jüdische Papiere vorlegen zu können. Und ganz gleich, ob diese Menschen Christen, Moslems oder Atheisten waren und ihr Haar blond oder rot oder schwarz, ein jüdischer Pass war alles, was man brauchte. Diese Personen reproduzierten jedoch genauso häufig antisemitische Vorurteile wie nicht-Juden und besaßen kaum Kenntnisse über jüdische Traditionen. In einer der Geschichten behauptet beispielsweise eine jüdische Frau, dass Juden für die Herstellung von Matze das Blut von Kindern verwenden. Kaminer und
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seine Freunde genossen zunächst die Besuche bei der jüdischen Gemeinde, in der Hauptsache des Essens wegen. Einer seiner Freunde ließ sich sogar beschneiden, beschloss dann aber doch, die Sache mit dem Judentum aufzugeben. Ihnen allen gemein war die Verwirrung darüber, so Kaminer, weshalb die Deutschen sie überhaupt in ihr Land lassen wollten. Es ist bemerkenswert, dass Kaminers einzige, und damit auch längste, „jüdische“ Geschichte am Anfang des Buches steht und eine Botschaft vermittelt, die die jüdische Identität vollständig relativiert und sie als flüchtiges und oberflächliches Phänomen darstellt. Hier und dort tauchen Juden noch mal als gerissene Händler auf, die ihre russischjüdischen Landsleute zu übervorteilen versuchen, indem sie sie bei den Behörden als falsche Juden denunzieren. Das jüdische Motiv erscheint, wenn überhaupt, dann völlig unvermittelt. In einer Vignette wird Kaminer beispielsweise von einem Zeitungsredakteur aufgefordert, einen Artikel über die Jugendkultur zu verfassen, worauf er sich mit Hilfe von MTV auf diese Aufgabe vorzubereiten beginnt. Nach einiger Zeit wird ihm jedoch klar, dass der Redakteur nicht die Jugendkultur, sondern die Judenkultur meinte. Die Geschichte endet mit den Worten: „Es war ein verlorener Tag“. Weshalb aber ist Kaminer so durchschlagend erfolgreich in Deutschland? Hierfür gibt es mehrere Gründe. Seine Geschichten sind humorvoll, mit einem erotischen Unterton. Seine Sprache ist, und das ist ungewöhnlich in der deutschen Gegenwartsliteratur, klar und einfach, und er eröffnet Einblicke in die Welt osteuropäischer Immigranten. Vor allem aber klingt in seinen Werken eine junge, postmoderne urbane Kultur an, die sich selbst als mobil und transnational versteht und vermeintlich ohne ethno-nationale Anbindung existiert. Darüber hinaus gibt es aber noch mehr. Das Buch „Russendisko“ beginnt, wie bereits erwähnt, mit einer eindeutig jüdischen Geschichte, die aber gleichzeitig die eines Außenseiters in der jüdischen Gemeinschaft ist, der sich im besten Falle an ihrer Peripherie bewegt. Die Gesamtaussage ist, dass die jüdische Gemeinschaft und damit die jüdischen Praktiken und Traditionen irrelevant sind – und stellt damit eine manifeste Leugnung der jüdischen Kultur und ethno-nationaler Solidarität dar. Demgegenüber erscheint die russische Kultur als wesentlich relevanter. Auf ähnliche Weise wird diese Leugnung unterstrichen, wenn Kaminer „Judenkultur“ als „Jugendkultur“ missversteht und tatsächlich auch nicht über Juden schreiben möchte. Und doch blitzen im Buch hier und dort immer wieder Anzeichen auf, dass Kaminer auch der untergründig existierende jüdische Andere ist. Es scheint, als wollte Kaminer bei seinen Lesern auch anklingen lassen, dass er jüdisch ist, dass sein Judentum für ihn jedoch nicht zählt, und dass ethnische Identitäten letztlich nur flüchtige, leicht austauschbare Etiketten sind. Was zunächst als Schwächung
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des jüdischen Themas erscheint, seine Depolitisierung, nimmt ihm aber gleichzeitig seine Bedrohlichkeit und erlaubt es letztendlich dem deutschen Leser, diesem harmlosen Fremden zu folgen. Deutsche können dankbar sein, sowohl für das Judentum Kaminers wie auch dafür, dass er es gleichzeitig in seiner Bedeutung herabwürdigt. Mit dieser Art Jude lässt es sich leichter leben. So mag es seinem nicht-jüdischen Umfeld erscheinen. Aber was, wenn überhaupt, sagt sein Fall über die jüdische Immigration nach Deutschland aus? Ich behaupte, dass seine Selbstdarstellung, unabhängig von der Lesart seines deutschen Umfelds, auch etwas über die zweite Generation russischer Juden in Deutschland aussagt.15 Deren Identität ist in erster Linie russisch mit einer leicht jüdischen Grundierung – was ich als „jussisch“ bezeichne. Diese Identität ist jedoch in soziologischer Hinsicht und unter Verwendung konventioneller ethnischer Begriffe nur schwer zu definieren, da die Ethnizität sich hier nicht in den typischen Organisationsstrukturen artikuliert. Diese Form der Ethnizität äußert sich eher auf der Mentalitätsebene, weshalb diese Immigranten sich in einem losen kulturellen Umfeld bewegen und persönliche Netzwerke untereinander ausbilden. Anna Sochrina Die zweite Autorin, die hier kurz diskutiert werden soll, ist Anna Sochrina. Sie wurde in den späten 1950er Jahren in St. Petersburg geboren und ist somit ein paar Jahre älter als Kaminer und Vertlib. In den frühen 1990er Jahren emigrierte sie von St. Petersburg nach Berlin. Ihr anfang siebzigjähriger Ehemann ist renommierter Kunstsammler und Schriftsteller, und beide haben umfangreich auf russisch veröffentlicht. Kürzlich erschien ein Band mit Sochrinas Kurzgeschichten auch auf Deutsch. Wie Kaminer ist auch sie eine nicht praktizierende Jüdin, und wie bei so vielen anderen Emigranten ist seit der Emigration nach Deutschland ihre ethnische Identität gezwungenermaßen stärker in den Mittelpunkt gerückt. In ihrer Geschichte „Frau Katz und Frau Vogel“, die mit ihren Permutationen von Klasse und Ethnizität teilweise noch an Kaminer erinnert, findet sich die russisch-jüdische Erzählerin im Haushalt der deutschen Frau Vogel als Putzfrau wieder. Beide Frauen wurden von ihren Ehemännern verlassen, und sie beginnen, Gemeinsamkeiten zu entdecken. Die Tochter der Erzählerin, Olenka, verliebt sich in einen marokkanischen Moslem „ihr Urgroßvater, der Rabbiner,
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Als „zweite Generation“ bezeichnen wir die Gruppe von Immigranten, die wenigstens einen Teil ihrer Schulbildung in Deutschland erhalten hat. Kaminer befindet sich am äußeren Rand dieses Kontinuums.
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würde sich im Grabe umdrehen, dachte Kira seufzend, aber was soll’s, wir selber sind ja jetzt in Deutschland“ (Sochrina 2003: 158). Die Liebe zu einem jungen Moslem wird nicht als Tragödie beschrieben, sie steht eher als Beispiel für eine durch die lebendige deutsche Gesellschaft inspirierte kulturelle und ethnische Vermischung. Das reale Leben stellt sich jedoch manchmal als harscher heraus, wie sich aus den Aufzeichnungen eines unserer anonymen Interviews ersehen lässt. Die bald siebzigjährige Befragte sieht ihr gesamtes Leben als kompletten Fehlschlag. In ihrer Ehe mit einem russischen Künstler, der kein einziges Wort Deutsch spricht, fühlt sie sich trotz ihrer deutschen Staatsbürgerschaft ausgegrenzt. Ihre Tochter wiederum ist mit einem Araber verheiratet, und ihre Enkelkinder wissen nichts von den jüdischen Wurzeln ihrer Großmutter. Sie hat keine nennenswerte Beziehung zu ihrem Schwiegersohn. Es überrascht nicht, dass sie dies vor allem seiner ethnischen Herkunft anlastet. Obwohl sie ihr Leben lang säkular eingestellt war, hat sie jetzt eine Bibel erstanden und versucht, ihren Weg zu Gott zu finden. Sie hat das Gefühl, „mit ganzer Seele“ zum jüdischen Volk zu gehören und bereut „sehr stark“, dass ihre Eltern assimiliert waren und ihr nie das Gefühl gegeben haben, Jüdin zu sein. Wenn sie ihr Leben hätte ändern können, hätte sie versucht, Teil der jüdischen Gemeinschaft zu werden. Doch zurück zu Sochrina. Trotz der ethnischen Permutationen findet sich bei ihr im Gegensatz zu Kaminer eine Bestätigung jüdischer Erinnerung und Tradition. Die vielfältige, chaotische Natur der Begegnungen mit anderen jüdischen Immigranten in Deutschland macht es unmöglich, das eigene Judentum als selbstverständlich vorauszusetzen. Annas Geschichte „Ich arbeite als Jüdin“ andererseits ist eine Beschreibung ihrer wenig positiven Erfahrungen mit der jüdischen Gemeinde: die Erzählerin befindet: „der kürzeste Weg zum Antisemitismus ist die Arbeit in einer jüdischen Organisation“ (Sochrina 2003: 184). Ihr Büro erinnert sie an ein sowjetisches Kulturhaus mit einem starken jüdischen Akzent. Ältere Immigranten im Literaturclub bitten sie darum, ihre Manuskripte zu begutachten – Ingenieure, die davon überzeugt sind, „Krieg und Frieden“ und „Anna Karenina“ in einem verfasst zu haben. Dann ist da noch die tragikomische Seite des Lebens in Deutschland: militärisch Befehl zum Ausladen von Matze aus einem LKW zu geben, oder auch die Frau, die um Aufnahme in die Gemeinde bittet und fragt: „Was, Sie glauben mir das nicht?! Ich schwöre bei Christus dem Herrn, dass ich Jüdin bin!“ (Sochrina 2003: 187) Ihre jüdische Identität, die sie in Russland nie hinterfragt hatte, wird nun immer wieder auseinander genommen, neu definiert und klarer konturiert. In ihrer Kurzgeschichte „Der Weg zum Toten Meer“ heiratet eine nicht-jüdische Russin, Mascha, einen Juden und konvertiert anschließend zum Judentum. Mascha wird orthodox und lebt mit ihrem Ehemann und der gemeinsamen Tochter
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in Israel. Diese Frau bringt nun der Erzählerin, die in Deutschland lebt und zu Besuch in Israel ist, die Regeln von Kaschrut und des Schabbat bei. Die Erzählerin schließt mit den Worten „Wundersam und unabänderlich hat uns das Leben herumgeschubst, so dass Maschas blonde Kinder hebräisch singen und mein klassisch semitisches Kind deutsch...“(Sochrina 2003: 173) Die nach der Emigration auftretenden Veränderungen reichen tief in die Familie der Erzählerin hinein, besonders an den Punkten, an denen sich die jüngere Generation selbst neu definiert und eine neue Form jüdischer Identität schafft. Ihre Geschichte „Die Beschneidung“ dreht sich um die Mühen des Sohnes der Erzählerin – er möchte seine jüdischen Wurzeln finden und sich auf dem Wege dorthin auch beschneiden lassen. „Wozu brauchst du das [die Beschneidung]... reicht dir der Name Rabinowitsch nicht?… Das mit der Beschneidung, diesen Floh haben sie euch in eurem Jugendklub in der Gemeinde ins Ohr gesetzt, stimmt’s?“ (ebd.: 174) „... hat es sich gelohnt, den Jungen nach Deutschland zu bringen, damit er sich hier beschneiden lässt? Verstehst du dieses Leben?“ (ebd.: 177). Bei Anna Sochrina handelt es sich um eine Frau, die sehr direkt mit ihrem jüdischen Erbe umgeht. Sie ist zerrissen zwischen ihrer russisch-jüdischen Vergangenheit und ihrer Gegenwart als jüdische Immigrantin in Deutschland, die mit völlig veränderten Koordinaten ihrer ethno-nationalen Identität umgehen und klar kommen muss. Vladimir Vertlib Vladimir Vertlib ist hier anders. Im Gegensatz zu Kaminer und Sochrina stellt Russland für Vertlib nur eine entfernte, in gewisser Weise romantisierte Vergangenheit dar. Er wurde 1961 in Leningrad geboren, und später zogen seine Eltern mit ihm nach Wien, Israel, Boston und zurück nach Wien, wo er, wie in seinem Buch „Zwischenstationen“ (1999a) beschrieben, aufwuchs. Sein Leben spielt sich gegenwärtig in Deutschland oder Österreich ab, zwischen den antagonistischen Polen innerhalb und außerhalb der dortigen jüdischen Gemeinschaften. Anders als für Kaminer spielt die jüdische Gemeinschaft für Vertlib eine zentrale Rolle. Aber die Begegnung mit der deutschen jüdischen Gemeinschaft ist, wie für so viele russische Juden, bestenfalls als nicht sehr einladend, in den meisten Fällen sogar als traumatisierend zu beschreiben. Darüber hinaus ist er im Vergleich zu Kaminer außerhalb jüdischer Kreise fast vollständig unbekannt. Ironischerweise spielen russische Juden in großen Teilen seiner Arbeit eher eine geringe Rolle, und viele ihrer Probleme werden auf marginalisierte deutsche Juden projiziert. In seiner bemerkenswerten Geschichte mit dem Titel „Der zwanzigste
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April“ (Hitlers Geburtstag) wird gerade diese Art von Umfeld dargestellt. Außerdem findet sich darin eine ziemlich unfreundliche Darstellung polnischer Juden, die sich in Deutschland niedergelassen haben. In seiner Kurzgeschichte, „Der zwanzigste April“ (1999b) wird eine Reihe von Szenen aus dem „Jüdischen Club“ in Wien vorgestellt: Daniel Weißberg, der frühere Vorsitzende des Clubs, reist mit großem Aplomb nach Israel aus und verweist in einer prätentiösen Abschiedsrede besonders auf den österreichischen Antisemitismus. Aber nach nur sechs Monaten kehrt Weißberg nach Wien zurück. Der Erzähler, ein russischer Jude, bemüht sich um eine Mitgliedschaft in dem Club und wird einer intensiven Befragung unterzogen: wie können wir sicher sein, dass er tatsächlich Jude ist, und dann die Bemerkung: „nicht schon wieder ein Russe“. Der Club wird so durch seine morbide Besessenheit von der Vergangenheit charakterisiert. Eine Form „negativer Erinnerung“16 negativen Andenkens, aus dem sich die Gruppe speist, und das teilweise konstituierend für ihr Bestehen ist. Sehr Ähnliches klingt auch in Vertlibs jüngstem Roman „Letzter Wunsch“ (2003) an. Wieder einmal ist es eine Geschichte des Ausschlusses aus der jüdischen Gemeinschaft. Meiner Meinung nach spiegelt sie den Schock vieler jüdischer Männer und Frauen aus Russland wider, die gezwungenermaßen entdecken, dass sie keine halachischen Juden sind und aus der jüdischen Gemeinschaft gedrängt werden oder denen auf die eine oder andere Art zu verstehen gegeben wird, dass sie nicht willkommen sind. Wieder wird jedoch die Ausschlusserfahrung von russischen Juden auf deutsche Juden projiziert. Hier wird der Eindruck vermittelt, dass die deutschen Juden der Vorkriegszeit durch polnische Juden verdrängt wurden. Dem entspricht auch tatsächlich die Geschichte des Herrn Salzinger in diesem Roman. Hierin geht es um einen Vater, der in seine mittelgroße Heimatstadt in Deutschland zurückkehrt, nachdem er in Israel in einem Kibbutz gelebt und im israelischen Unabhängigkeitskrieg gekämpft hat. Nach seiner Rückkehr in seine Heimatstadt erfährt er antisemitische Diskriminierungen am Arbeitsplatz und lebt ohne jüdische Kontakte in Isolation. Dem Anschein nach hatte sich die Generation seines Vaters nach der Shoah hauptsächlich mit einem aus tief liegenden Ressentiments gespeisten Antisemitismus auseinander zu setzen, während die jüngere Generation mit dem Phänomen des Philosemitismus umzugehen hat. Dann ist da noch die Szene, in der die Heimatstadt Salzingers ihrer „stillen Helden“ gedenkt – Personen, die sich mutmaßlich den Nazis wiedersetzt oder Juden versteckt hatten. Im Anschluss hieran werden Juden geehrt, unter Ande16
Zum Begriff des Negativ-Gedächtnisses siehe Bodemann (2002: 22-61).
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rem durch ein Angebot koscherer Speisen, die eine der geehrten jüdischen alten Damen mit dem Hinweis ablehnt, sie esse lieber Schinken. Als Salzingers Sohn von dieser Veranstaltung nach Hause kommt, fragt ihn der Vater, wie es mit den „Gutmenschen“ und „Vergangenheitsbewältigern“ so war. Der Erzähler ist trotz allem fest in ein Netzwerk nicht-jüdischer deutscher Freunde und Bekannter eingebettet. Doch nun zum Hauptstrang der Geschichte: Salzingers Vater hatte den Wunsch geäußert, an der Seite seiner bereits verstorbenen Frau begraben zu werden. Zum Zeitpunkt seines Todes waren bereits alle Vorbereitungen getroffen worden und alles läuft nach Plan. Am Tag der Bestattung wird der Sarg in die Erde gesenkt, die Trauernden lassen Erde auf seinen Deckel fallen und der Erzähler rezitiert in Anwesenheit des Kantors Gemeinde das Kaddisch. Plötzlich erscheint ein Funktionär der jüdischen Gemeinde und verlangt, das Begräbnis sofort zu unterbrechen, da die Mutter des Verstorbenen in den 1930er Jahren von einem liberalen Rabbi konvertiert wurde, aus der Perspektive der orthodoxen Gemeinde also von einem Häretiker. Deshalb sei der Übertritt nicht gültig und der Verstorbene im Sinne der Halacha nicht jüdisch. Aus diesem Grund wird der Sarg wieder aus dem Grab beordert, und eine Versammlung der (polnischjüdischen) Gemeinderepräsentanten empfiehlt eine Bestattung Salzinger seniors außerhalb der Friedhofsmauern. Salzinger junior widerstrebt es, das Büro der Gemeinde auch nur zu betreten, in das er ohnehin nur nach entsprechender Identifikation vordringen kann. Der Leichnam seines Vaters wird letztendlich im Geheimen in einer Seebestattung beigesetzt. Vertlib formuliert im Verlauf also eine bittere Kritik an den von polnischen Juden dominierten Gemeindestrukturen und deren Ausschluss von Neuankömmlingen. Lena Gorelik Von den hier besprochenen Autoren ist Lena Gorelik die jüngste. Die Mittzwanzigerin kam als junge Teenagerin aus St. Petersburg nach Deutschland. Aber weder St. Petersburg, noch ihre russische Vergangenheit spielen eine große Rolle in ihrem Leben oder ihren zwei Romanen. Gorelik besuchte in Deutschland die Schule und die wichtigsten Kontaktpersonen in ihren Geschichten sind nichtjüdische Deutsche. Anja Buchmann, der sie als Autorin in ihrem jüngst erschienenen zweiten Roman „Hochzeit in Jerusalem“ ihre Stimme leiht, weiß nicht genau, was „Heimat“ ist und doch ist Deutschland eindeutig ihr Heimatland, das sie gegen die bissigen Bemerkungen ihrer New Yorker Verwandtschaft zu verteidigen versucht. Die Erzählerin sieht sich selbst als „russisch-jüdische Deut-
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sche“, die „Weihnukkivester“ feiert, also einen unter Einbeziehung von Sylvester deutsch-jüdisch-russischen Mittwinterfeiertag. Sie verabscheut die deutschen philosemitischen „Gutmenschen“ wie auch die Wohltäter, die sich mit riesigen Menorahs in ihre Familie drängen, um zu versuchen, den russischen Juden ein wenig jüdische Kultur nahe zu bringen, während sie mit der jüdischen Familie Heiligabend feiern. Sie ist aber ebenso abgestoßen von einem bedrückend orthodoxen jüdischen Umfeld, das ihren nicht-jüdischen Lebensstil und ihre nicht-jüdische Umgebung mit Argwohn beäugt. Im Gegensatz dazu stellt Israel ein Umfeld dar, dessen Säkularismus und kulturelle Vielfalt, einschließlich des arabischen Elements, sie als behaglichen jüdischen Ort empfindet, den sie geistreich und ironisch beschreiben kann. Paradoxerweise ist es jedoch ihr deutsches Umfeld, das Anja Buchmann dazu zwingt, sich mit ihrem Judentum auseinander zu setzen: ihr Freund Julian, der als nichtjüdischer Deutscher aufgewachsen war, entdeckt, dass sein Vater jüdischen Ursprungs war und schleppt sie nun zu Rabbis, in Synagogen und nach Israel. Im Zentrum dieses wie auch des voran gegangenen Romans „Meine weißen Nächte“ steht jedoch ihre Familie als komplexer und konfliktiver Ankerpunkt, deren Judentum sich in russischen Begriffen äußert – oder ist es ihr Russischsein, dass sich in jüdischen Begriffen äußert? Goreliks Widmung zu Beginn des Romans „Hochzeit in Jerusalem“ fasst all dies zusammen: gewidmet ihrer „allerbesten“ jüdischen Freundin, gewidmet ihren Freunden, die Deutschland zu ihrer Heimat machen und gewidmet ihrer Familie von so wunderbarer russischer Wärme – sie selbst jedoch möchte einfach nur sie selbst sein. Sowohl ihre russische als auch ihre jüdische Identität verbleibt mit aller Entschlossenheit im Privaten und in großem Abstand zu jeglicher Form institutionellen jüdischen Lebens. Vor diesem Hintergrund wäre es unrealistisch, allzu große Hoffnungen auf ein Wiederaufleben der jüdischen Gemeinschaften zu hegen – es sei denn, dass nicht angebundene Menschen jüdischer Herkunft sich durch das deutsche judeophile Umfeld, oder möglicherweise dessen subtilen Antisemitismus, dazu gezwungen sähen, sich wieder dem organisierten jüdischen Leben anzuschließen – eine in den meisten Fällen wohl ziemlich unwahrscheinliche Aussicht. Schluss Anna Sochrinas Welt ist russisch, und ihre jüdischen wie auch familiären Erinnerungen stehen abgetrennt neben der deutsch-jüdischen Realität, von der sie weiterhin ausgeschlossen bleibt. Ihre imaginäre Welt ist noch immer die in St. Petersburg – und dort ist auch nach wie vor ihr wirkliches Publikum. Vladimir
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Vertlib hingegen findet sich an einem von Widersprüchen geprägten Ort wieder. Er ist in widersprüchlicher Weise an der jüdischen Gemeinde orientiert bzw. an sie angebunden. Da gibt es das Trauma des Ausschlusses, und er befindet sich in einer ihm unangenehmen deutschen Umgebung, die ihm Unbehagen bereitet. Sein soziales Geflecht jedoch besteht trotz allem in der Mehrzahl der Fälle aus nicht jüdischen Deutschen. Lena Goreliks Position ist in dieser Hinsicht vergleichbar, nur dass die jüdische Gemeinschaft keine Rolle spielt. Ihre jüdische/russische Identität ist auf den Kreis der Familie beschränkt. Wladimir Kaminers Welt schließlich befindet sich an der äußersten Peripherie der jüdischen Gemeinschaft, ein aporetisches Gebiet, das, wenn überhaupt, viel eher „russisch“ als „jüdisch“ ist. Ironischerweise wurden russische Juden nach Deutschland geholt, um die Zahl der Juden zu erhöhen sowie zur Unterstützung bei der ideologischen Aufgabe, den Beweis für eine deutsche multikulturelle Offenheit wie auch für die Anerkennung der deutschen Verantwortung für die Nazivergangenheit anzutreten. Die Geschichte dieser Immigranten unterscheidet sich jedoch von der der bereits bestehenden jüdischen Gemeinschaft, ebenso wie sich die Mentalitäten und Interessenlagen unterscheiden. Die durch sie erfolgende Transformation des deutschen Judentums mit seinen abweichenden Belangen unterminiert den Grund, weshalb diese Immigranten für Deutschland ursprünglich überhaupt von Nutzen erschienen. Zieht man in Betracht, über wie viel freie Zeit die meist älteren, arbeitslosen Immigranten verfügen, und berücksichtigt man die schiere zahlenmäßige Überlegenheit, scheint es nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis sie die Kontrolle über die Gemeinden übernehmen. Die dann anstehende Frage ist, ob dies direkt zu einer Spaltung der Einheitsgemeinden in russische und nichtrussische Gemeinden führt, oder ob eine andere Form der Transition erfolgt, durch die die gegenwärtige soziopolitische Rolle des deutschen Judentums, aber auch seine ideologische Rolle als Zeugin des Gedenkens untergraben wird. Die soziologische Lehre, die hieraus gezogen werden kann, ist die, dass Ethnizität nie homogen ist, sich dauernd wandelt und dass Menschen auf ebenso vielfältige wie unterschiedliche Weise an ethnische – in diesem Fall jüdische – Institutionen angebunden sind, und schließlich, dass statistische Aussagen wie „150.000 oder 190.000 Juden im heutigen Deutschland“ weitaus mehr verdecken, als sie erhellen.
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Wir danken den Rechteinhabern der folgenden Veröffentlichungen für die freundliche Genehmigung, ihre Werke vollständig oder auszugsweise zu verwenden: Bloemraad, Irene/Korteweg, Anna/Yurdakul, Gökce (2008): Citizenship and Immigration: Assimilation, Multiculturalism and the Challenges to the Nation State. Annual Review of Sociology, 34: 153-179. Korteweg, Anna/Yurdakul, Gökce (2009): Gender, Islam and Immigrant Integration: Boundary Drawing on Honour Killing in the Netherlands and Germany. Ethnic and Racial Studies, 32(2): 218-238. Fournier, Pascale/Yurdakul, Gökce (2006): Unveiling Distribution: Muslim Women with Headscarves in France and Germany. In: Bodemann, Y. Michal/Yurdakul, Gökce (Hg): Migration, Citizenship, Ethnos. New York: Palgrave Macmillan. 167-184. Auszüge aus Yurdakul, Gökce/Bodemann, Y. Michal (2006): „We Don't Want to be the Jews of Tomorrow“: Jews and Turks in Germany after 9/11. German Politics and Society 24 (2): 44-67.
Kurzbiografien der Autor/innen
Gökce Yurdakul (PhD, University of Toronto) ist Georg-Simmel-Professorin an der Graduate School for Social Sciences der Humboldt Universität Berlin. Sie hat zuvor in der Bilkent University, Türkei, an der Brock University in Ontario, Kanada, und am Trinity College Dublin gelehrt. Ihre frühere Forschung wurde von dem Social Sciences and Humanities Research Council of Canada (SSHRC) und dem Forschungsinstitut für gesellschaftliche Entwicklung der Vereinten Nationen (United Nations Research Institute for Social Development) unterstützt. Zuletzt erschienen von ihr u.a. „From Guest Workers into Muslims: The Transformation of Turkish Immigrant Associations in Germany“ (Newcastle: Cambridge Scholars, 2009). Yurdakul und Bodemann sind HerausgeberInnen von zwei Sammelbänden: „Migration, Citizenship, Ethnos” (New York: Palgrave Macmillan, 2006) und „Citizenship and Immigrant Integration: Comparative Perspectives on North America and Western Europe” (New York: PalgraveMacmillan, 2007). Y. Michal Bodemann (PhD, Brandeis University) lehrt Soziologie an der Universität Toronto, mit Gastprofessuren u.a. an der FU Berlin, Humboldt Universität, der Universität Potsdam und den Universitäten Haifa und Tel Aviv. Seine Dissertation an der Brandeis Universität behandelte Fragen der Sozialstruktur Süditaliens. Später bewegten sich seine Forschungsinteressen in Richtung soziologischer Theoriegeschichte, jüdisch-deutscher Beziehungen und HolocaustErinnerung. Neben publizistischer Tätigkeit und zahlreichen Artikeln in wissenschaftlichen Zeitschriften und Sammelbänden sind wichtige Veröffentlichungen hierzu sein „Jews, Germans, Memory. Reconstructions of Jewish Life in Germany“ (Michigan: University of Michigan Press 1997. Sein „Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung“ (Hamburg: Rotbuch Verlag 1996) stand auf der Monatsbestenliste der deutschen Buchkritiker. Zuletzt erschienen von ihm u.a. „In den Wogen der Erinnerung. Jüdische Existenz in Deutschland“, (Hamburg: DTV 2002), „A Jewish Family in Germany Today” (Durham: Duke University Press 2006) und „The New German Jewry and the European Context. Towards a New European Jewish Diaspora“ (New York: Palgrave Macmillan 2008). Gegenwärtig ist Y. Michal Bodemann Direktor des europäischen Instituts der University of Toronto in Berlin.
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Literaturverzeichnis
Olena Bagno ist Newbauer Fellow am Institute for National Security Studies, Israel. Sie unterrichtet Methodologie für Sozialwissenschaften am Interdisciplinary Center, Herzliya. Ihre Forschungsinteressen umfassen internationale Migration, politische Psychologie und russische Außenpolitik. Sie hat sich in ihrer umfangreichen Forschung mit in Israel und Deutschland lebenden Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion beschäftigt. Darüber hinaus war sie an einem Projekt beteiligt, in dessen Rahmen die wirtschaftliche Integration von Immigranten in Kanada, den Vereinigten Staaten, Israel und Deutschland untersucht wurde. Irene Bloemraad (PhD, Harvard University) ist Associate Professor für Soziologie an der University of California, Berkeley und forscht darüber hinaus im Auftrag des Canadian Institute for Advanced Research. Ihre Forschungsinteressen liegen im Schnittpunkt von Immigration und Politik mit besonderem Schwerpunkt auf Fragen der Staatsbürgerschaft, der politischen und zivilgesellschaftlichen Partizipation von Immigranten und der Auswirkungen von Migration auf staatliche Ideologien. Zu ihren umfangreichen Publikationen in diesem Themenfeld zählen u. a. „Becoming a Citizen: Incorporating Immigrants and Refugees in the United States and Canada“ (Berkeley: University of California Press 2006; lobende Erwähnung für den Thomas & Znaniecki Best Book Award von der Abteilung International Migration der American Sociological Association) und „Civic Hopes and Political Realities: Immigrants, Community Organizations, and Political Engagement“ (herausgegeben in Zusammenarbeit mit Karthick Ramakrishnan, New York: Russell Sage Foundation Press 2008). Bloemraad veröffentlichte darüber hinaus auch Artikel über die Themen Einbürgerung, doppelte Staatsbürgerschaft, Organisationen von Immigrantengemeinschaften und die ethnische Repräsentiertheit in leitenden Positionen akademischer Fachzeitschriften wie Social Forces, DuBois Review, International Migration Review, Social Science Quarterly, Journal of International Migration and Integration und das Journal of Ethnic and Migration Studies. Pascale Fournier (S.J.D. Harvard Law School) ist Assistant Professor für Rechtswissenschaften an der University of Ottawa und wissenschaftliche Mitarbeiterin des Human Rights Research and Education Centre. Sie erwarb den akademischen Grad des Bachelor of Laws (LL.B.) an der Laval University und den Grad Master of Laws (LL.M.) an der University of Toronto. Sie arbeitete anschließend als wissenschaftliche Mitarbeiterin für die Richterin Madame Justice Claire L’Heureux-Dubé am Supreme Court of Canada. Ihre Lehrtätigkeiten sowie ihre Veröffentlichungen umfassen die Bereiche vergleichendes Familienrecht, Recht und Religion, rechtliche Regulatorien in der Kultur sowie Islam in Europa und Nordamerika. Ihre in jüngerer Vergangenheit veröffentlichten Arti-
Kurzbiografien der Autor/innen
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kel zu diesen Themen erschienen unter anderem im Journal for Comparative Law, dem Osgoode Hall Law Journal, dem Canadian Journal of Women and the Law sowie bei Cambridge University Press, Palgrave Macmillan, UBC Press und Les éditions des archives contemporaines. Sie verfasste darüber hinaus politikwissenschaftliche Berichte für den Canadian Council of Muslim Women und den Entwicklungsfond der Vereinten Nationen, für den sie im Jahr 2008 als Beraterin für Genderfragen und islamisches Recht arbeitete. In ihrer aktuellen Forschung untersucht sie die Migration zweier Formen religiöser Ehescheidung in westlichen säkularen Gerichten, den jüdischen Get sowie den islamischen Talaq, wobei sie die subversiven Strategien erforscht, derer sich jüdische und muslimische Frauen auf ihrem Kurs zwischen den entsprechenden religiösen und säkularen Bereichen bedienen. Professor Fournier ist gegenwärtig Mitglied des Board of Directors for Canada World Youth, der Foundation Paul Gérin-Lajoie und des National Network on Environments and Women’s Health. Im Jahr 2008 wurde sie mit der „Raymond-Blais Medal“ der Laval University für herausragende Leistungen geehrt, und im Jahr 2009 wurde ihr die Auszeichnung „Advocatus Emeritus“ der Anwaltskammer von Québec verliehen. Anna Korteweg (PhD, University of California in Berkeley) ist Assistant Professor für Soziologie an der University of Toronto. In ihrer Forschung konzentriert sie sich auf Themen im Zusammenhang mit muslimischen Immigranten in den Niederlanden, Deutschland und Kanada. Sie untersucht Definitionen nationaler Identität in der öffentlichen wie in der parlamentarischen Diskussion hinsichtlich der Frage der Integration von Immigranten. Besondere Aufmerksamkeit widmet sie dabei der Art und Weise, in der die Kategorie Gender zum umkämpften Bereich geworden ist, in dem nationale Identitäten festgeschrieben werden. Als Teil dieser Forschung veröffentlichte sie Analysen der öffentlichen Diskussion anlässlich der Ermordung Theo van Goghs, aber auch von Ehrenmorden in den Niederlanden und Deutschland, sowie Scharia-basierter Vermittlungsansätze in Ontario. Der Schwerpunkt ihrer früheren Arbeiten lag auf der Konstruktion der Staatsbürgerschaft auf Seiten amerikanischer Sozialbehörden.