Thomas Bahle Wege zum Dienstleistungsstaat
Thomas Bahle
Wege zum Dienstleistungsstaat Deutschland, Frankreich und Gr...
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Thomas Bahle Wege zum Dienstleistungsstaat
Thomas Bahle
Wege zum Dienstleistungsstaat Deutschland, Frankreich und Großbritannien im Vergleich
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage Februar 2007 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2007 Lektorat: Monika Mülhausen / Bettina Endres Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15089-5
Inhalt
Tabellenverzeichnis ............................................................................................................ 9 Einleitung ......................................................................................................................... 15 Soziale Dienste und die Reform des Wohlfahrtsstaates ......................................... 16 Gegenstand der Untersuchung ................................................................................ 21 Aufbau der Arbeit ................................................................................................... 29 1
Soziale Dienste ...................................................................................................... 33 Einleitung ............................................................................................................... Elemente einer soziologischen Definition sozialer Dienste .................................... Funktionale Abgrenzung sozialer Dienste .............................................................. Organisation und soziale Kontrolle sozialer Dienste .............................................. Der Wohlfahrtsstaat als Regulierungsinstanz .........................................................
2
Soziale Dienste in Westeuropa im Vergleich ...................................................... 53 Gesellschaftliche Strukturmerkmale ....................................................................... Staat und Gemeinden ................................................................................... Öffentlich und Privat ................................................................................... Staat und Familie ......................................................................................... Strukturmerkmale des Wohlfahrtsstaates im Vergleich ......................................... Soziale Dienste im europäischen Vergleich ........................................................... Dienste für ältere Menschen ........................................................................ Dienste für Kinder ....................................................................................... Trägerstruktur sozialer Dienste .............................................................................. Zusammenfassung ..................................................................................................
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33 34 36 40 42
53 53 55 58 62 64 67 70 74 80
Soziale Dienste in England und Wales ................................................................ 81 Einleitung ............................................................................................................... 81 Historische Entwicklung ........................................................................................ 86 Alten- und Behindertenhilfe ................................................................................... 89 Stationäre Einrichtungen seit Anfang der 1990er Jahre ............................... 99 Ambulante Dienste ..................................................................................... 106 Soziale Dienste für Kinder .................................................................................... 114
6
Inhalt
Sozialfürsorge ............................................................................................. Kinderbetreuung ......................................................................................... Personal sozialer Dienste ....................................................................................... Fazit: Veränderungen durch die neueren Reformen .............................................. Die Reformen von 1990 .............................................................................. Institutionalisierung sozialer Dienste .................................................................... 4
114 118 126 132 134 138
Soziale Dienste in Frankreich ............................................................................. 143 Einleitung .............................................................................................................. 143 Historische Entwicklung ....................................................................................... 146 Soziale Dienste im Rahmen der Sozialhilfe (aide sociale) .................................... 149 Krankenhilfe für Bedürftige ........................................................................ 152 Soziale Dienste für Kinder .................................................................................... 153 Kinderbetreuung ......................................................................................... 153 Historische Entwicklung der Kinderhilfe ................................................... 157 Kinderhilfe seit den 1970er Jahren ............................................................. 160 Soziale Dienste für ältere Menschen ..................................................................... 162 Das ungelöste Problem der Langzeitpflege ................................................ 168 Quantitative Entwicklung der Altenhilfe .................................................... 171 Stationäre Einrichtungen ............................................................................. 174 Ambulante Dienste ..................................................................................... 178 Soziale Dienste für Behinderte .............................................................................. 182 Sozialhilfe für Behinderte ........................................................................... 192 Beschäftigte in den sozialen Diensten ................................................................... 193 Fazit: Konsequenzen der Dezentralisierung .......................................................... 198
5
Soziale Dienste in Deutschland ........................................................................... 207 Einleitung .............................................................................................................. 207 Historische Entwicklung ....................................................................................... 209 Exkurs: Ausdifferenzierung sozialer Dienste aus dem Armenwesen ......... 212 Soziale Dienste für ältere Menschen ..................................................................... 218 Die soziale Innovation der Pflegeversicherung 1994 .................................. 231 Soziale Pflegedienste nach der Reform von 1994 ...................................... 235 Soziale Dienste für Kinder .................................................................................... 246 Hilfen zur Erziehung ................................................................................... 253 Kindertagesstätten ....................................................................................... 258 Soziale Dienste für Behinderte .............................................................................. 268 Personal sozialer Dienste ....................................................................................... 272 Fazit: Strukturelle Konsequenzen der neueren Reformen ..................................... 280
Inhalt
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7 Die Reform sozialer Dienste im Ländervergleich ............................................. 287 Einleitung .............................................................................................................. 287 Die Struktur sozialer Dienste bis zum Beginn der Reformen ................................ 289 Die Reformen im Vergleich .................................................................................. 291 Institutionelle Auswirkungen ...................................................................... 293 Strukturelle Auswirkungen ......................................................................... 303 Der Wohlfahrtsstaat im System sozialer Dienste .................................................. 308
Ausblick ........................................................................................................................... 325 Literatur .......................................................................................................................... 339
Tabellenverzeichnis
Schaubild 1: Ausgaben für soziale Dienste, Europa 2002 ................................................. 66 Tab. 1: Typologie sozialer Dienste ................................................................................. 37 Tab. 2: Altersstruktur der Bevölkerung, Europa 2000..................................................... 65 Tab. 3: Soziale Dienste für Kinder und ältere Menschen in Westeuropa, 1995 ..................................................................................................................... 67 Tab. 4: Ausgaben für kommunale soziale Dienste, England und Wales 1977 und 1987 .............................................................................................................. 84 Tab. 5: Ausgaben für kommunale soziale Dienste, England und Wales 1993/94 und 2001/02 .......................................................................................... 85 Tab. 6: Stationäre Altenhilfe, England 1960 ................................................................... 93 Tab. 7: Bewohner über 65 in der stationären Altenhilfe nach Träger und Größe der Einrichtung, England 1960 ................................................................ 94 Tab. 8: Plätze in stationären Einrichtungen (residential care) nach Art der Einrichtung und Träger, Vereinigtes Königreich 1970-1994 ............................. 96 Tab. 9: Plätze in stationären Einrichtungen für Erwachsene und ältere Menschen nach Personengruppe, England 1994-2001 ...................................... 100 Tab. 10: Plätze in privaten Pflegeheimen nach Einrichtungsart, England 2001 ..................................................................................................... 101 Tab. 11: Plätze in stationären Einrichtungen für Erwachsene Ältere, nach Personengruppe und Trägerschaft, England 1994-2001 .................................... 102 Tab. 12: Plätze in stationären Einrichtungen für Erwachsene und ältere Menschen nach Personengruppen und Trägern, England 2001 ......................... 103 Tab. 13: Von den Kommunen unterstützte Bewohner stationärer Einrichtungen nach Gruppe und Träger: Erwachsene und Menschen über 65, England 1994-2001 .............................................................................. 105 Tab. 14: Von den Kommunen unterstützte Bewohner stationärer Einrichtungen nach Trägern: Erwachsene und ältere Menschen über 65 Jahren, England 1994-2001 .......................................................................... 106 Tab. 15: Haushaltshilfedienste, England und Wales 1950-1995 ...................................... 108 Tab. 16: Health visitors, England 1975-1998: Zahl der Fälle nach Altersgruppen .................................................................................................... 108 Tab. 17: Mahlzeitendienste, England 1992-1997: Empfänger und Träger der Dienste................................................................................................................ 109
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Tabellenverzeichnis
Tab. 18: Haushaltshilfedienste, England 1992-2001: Empfänger und Leistungsstunden nach Träger ........................................................................... 111 Tab. 19: Von den Kommunen unterstützte oder direkt angebotene Plätze in Tageseinrichtungen nach Personengruppe und Trägerschaft, England 1992-1997 ........................................................................................... 112 Tab. 20: Kinder in armenrechtlicher Obhut nach Art der Unterbringung, England und Wales 1900-1938 .......................................................................... 116 Tab. 21: Kinder in Obhut der lokalen Sozialbehörden nach Art der Unterbringung, England und Wales 1952-1980, und England 19801998 ................................................................................................................... 117 Tab. 22: Plätze in Tageseinrichtungen für Kinder nach Art der Einrichtung und Träger, England und Wales 1949-1990 und England 1990 und 1995 ................................................................................................................... 120 Tab. 23: Plätze in Kinderbetreuungseinrichtungen nach Art der Einrichtung, England 1997-2001 ........................................................................................... 123 Tab. 24: Trägerstruktur der Einrichtungen, England 1997 und 2001 ............................... 123 Tab. 25: Kostenlose Teilzeitplätze für frühkindliche Erziehung nach Altersgruppe und Einrichtungsart, England und Wales 1999-2004 ................... 123 Tab. 26: Kinder in frühkindlicher Teilzeiterziehung nach Altersgruppe und Einrichtungsart, England und Wales 1999-2004 ............................................... 124 Tab. 27: Drei- und vierjährige Kinder in öffentlich unterhaltenen Vor- und Grundschulen nach Einrichtungsart und Dauer der Betreuung, England 1993-2002 ........................................................................................... 125 Tab. 28: Öffentlich geförderte Plätze und Kinder in der frühkindlichen Erziehung nach Altersgruppe und Einrichtungsart, England 20002004 ................................................................................................................... 125 Tab. 29: Beschäftigte bei den kommunalen sozialen Diensten nach Tätigkeitsbereichen, England und Wales 1973-1992 ........................................ 127 Tab. 30: Beschäftigte bei den kommunalen sozialen Diensten nach Beschäftigungsbereichen und Zielgruppen, England 1994-2003 ...................... 129 Tab. 31: Personal, Ausgaben und öffentliche Finanzierung freier Träger nach Arbeitsbereichen, Vereinigtes Königreich 1990 ................................................ 131 Tab. 32: Ausgaben der Sozialhilfe nach Leistungsbereichen, Frankreich 1984-2001 .......................................................................................................... 150 Tab. 33: Empfänger von Sozialhilfe nach Zielgruppen und Leistungsart, Frankreich 1984-1999 ........................................................................................ 151 Tab. 34: Kinderbetreuungseinrichtungen, Frankreich 1971-1998 .................................... 156 Tab. 35: Empfänger von Kinderhilfe nach Leistungsart, Frankreich 19841999 ................................................................................................................... 162 Tab. 36: Altenhilfeeinrichtungen, Frankreich 1969-1975 ................................................ 165
Tabellenverzeichnis
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Tab. 37: Einrichtungsformen der stationären und ambulanten Altenhilfe, Frankreich .......................................................................................................... 167 Tab. 38: Ausgaben und Empfänger in der Altenhilfe, Frankreich 1984-1999 ................. 172 Tab. 39: Empfänger von Sozialhilfe für ältere Menschen nach Unterbringung, Frankreich 1984-1999 ........................................................................................ 173 Tab. 40: Empfänger von Sozialhilfe für ältere Menschen nach Leistungsart und Unterbringung, Frankreich 1984-1999 ....................................................... 173 Tab. 41: Stationäre Einrichtungen für alte Menschen, Frankreich 1975 .......................... 174 Tab. 42: Stationäre Altenhilfeeinrichtungen nach Sektor und Träger, Frankreich 1987-1991 ........................................................................................ 175 Tab. 43: Stationäre Versorgung älterer Menschen: Zahl der Plätze nach Einrichtungsart, Frankreich 1990-1996 ............................................................. 176 Tab. 44: Stationäre Versorgung älterer Menschen: Zahl der Plätze insgesamt und in medizinischen Abteilungen nach Einrichtungsart, Sektor Hébergement, Frankreich 1995 ......................................................................... 176 Tab. 45: Einrichtungen und Plätze der stationären Altenhilfe, Frankreich 1995/1996 .......................................................................................................... 178 Tab. 46: Ambulante Dienste, Frankreich 1981-1990 ....................................................... 179 Tab. 47: Ambulante Dienste, Empfänger, Frankreich 1980-1996 .................................... 179 Tab. 48: Ambulante Pflegedienste nach Trägerschaft, Frankreich 1996 .......................... 180 Tab. 49: Angebot und Finanzierung ambulanter Dienste, Frankreich 1993 ..................... 181 Tab. 50: Behindertenhilfe, Frankreich 1969-1975 ........................................................... 184 Tab. 51: Einrichtungen für behinderte Kinder, Frankreich 1963-1976 ............................ 184 Tab. 52: Einrichtungen der Behindertenhilfe für Kinder, Frankreich 19851991 ................................................................................................................... 186 Tab. 53: Einrichtungen der Behindertenhilfe für Kinder: Plätze in der stationären éducation spécial, Frankreich 1985-1998 ........................................ 187 Tab. 54: Einrichtungen der Behindertenhilfe für Kinder: Plätze in ambulanten und häuslichen Diensten, Frankreich 1985-1998 ............................................... 187 Tab. 55: Einrichtungen der Behindertenhilfe für Erwachsene, Frankreich 1985-1991 .......................................................................................................... 188 Tab. 56: Stationäre Behindertenhilfe, Plätze nach Einrichtungsart, Frankreich 1985-1998 .......................................................................................................... 189 Tab. 57: Offene Einrichtungen der Behindertenhilfe, Frankreich 1985-1998 .................. 189 Tab. 58: Behinderte in den stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe nach Art der Behinderung, Frankreich 1996 ..................................................... 190 Tab. 59: Einrichtungen der Behindertenhilfe für Kinder, Frankreich 1987 und 2001 ................................................................................................................... 190 Tab. 60: Einrichtungen der Behindertenhilfe für Erwachsene, Frankreich 2001 ................................................................................................................... 192
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Tab. 61: Sozialhilfe für behinderte Menschen nach Hilfeart, Frankreich 19841999 ................................................................................................................... 193 Tab. 62: Übersicht über wichtige soziale Berufe in Frankreich ....................................... 195 Tab. 63: Soziale Berufe nach Beschäftigungsbereich, Frankreich 1998 .......................... 197 Tab. 64: An sozialen Einrichtungen tätige soziale Berufe nach Berufsgruppen und Art der Einrichtung, Frankreich 1998 ......................................................... 198 Tab. 65: Plätze in der stationären Altenhilfe nach Einrichtungsart, Bundesrepublik Deutschland 1961-1994 ........................................................... 221 Tab. 66: Plätze in der stationären Altenhilfe nach Einrichtungsart, Bundesrepublik Deutschland 1961-1990 ........................................................... 221 Tab. 67: Stationäre Einrichtungen der Altenhilfe nach Einrichtungsart und Träger, Bundesrepublik Deutschland 1981 ....................................................... 222 Tab. 68: Einrichtungen und Beschäftigte in den ambulanten Pflegediensten der Wohlfahrtsverbände, Bundesrepublik Deutschland 1970-1996 .................. 224 Tab. 69: Personal ambulanter Pflegedienste nach Berufsgruppe und Beschäftigungsumfang, Bundesrepublik Deutschland 1984 ............................. 225 Tab. 70: Plätze in den stationären Altenhilfeeinrichtungen der freien Wohlfahrt, Bundesrepublik Deutschland 1970-1996 ........................................ 228 Tab. 71: Einrichtungen, Plätze und Beschäftigte in den Altentagesstätten der freien Wohlfahrt, Bundesrepublik Deutschland 1970-2000 .............................. 229 Tab. 72: Einrichtungen und Mitarbeiter der mobilen Mahlzeitendienste der freien Wohlfahrt, Bundesrepublik Deutschland 1970-2000 .............................. 230 Tab. 73: Versicherte in der sozialen Pflegeversicherung nach Status, Deutschland 1995-2002 ..................................................................................... 238 Tab. 74: Leistungsempfänger in der sozialen Pflegeversicherung mit ambulanter und stationärer Versorgung, Deutschland 1995-2002 ..................... 238 Tab. 75: Struktur der Leistungsempfänger in der sozialen Pflegeversicherung nach Pflegestufen und Versorgungsart, Deutschland 1997-2001 ...................... 239 Tab. 76: Leistungsempfänger in der sozialen Pflegeversicherung nach Pflegestufen und Leistungsarten, Deutschland 2002 ......................................... 239 Tab. 77: Leistungsausgaben der sozialen Pflegeversicherung nach Leistungsarten, Deutschland 1996-2003 ............................................................ 240 Tab. 78: Ambulante Pflegedienste nach Trägerschaft, Deutschland 1999 und 2001 ................................................................................................................... 241 Tab. 79: Stationäre Pflegeeinrichtungen nach Trägerschaft, Deutschland 1999 und 2001 ............................................................................................................ 242 Tab. 80: Ausgaben der Sozialhilfe nach Hilfeart, Bundesrepublik Deutschland 1963-2001 ..................................................................................... 243 Tab. 81: Ausgaben der Sozialhilfe nach Hilfearten, Deutschland 1994-2002 .................. 244 Tab. 82: Pflegeausgaben im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung und der Sozialhilfe, Deutschland 1994-2002 .................................................................. 244
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Tab. 83: Empfänger von Leistungen der sozialen Pflegeversicherung und von Leistungen zur Pflege im Rahmen der Sozialhilfe, Deutschland 1994-2002 .......................................................................................................... 245 Tab. 84: Ausgaben für Jugendhilfe nach Aufgabenbereichen, Deutschland 1999 ................................................................................................................... 248 Tab. 85: Einrichtungen, Plätze und Beschäftigte in der Jugendhilfe nach Trägern, Deutschland 1990-1998 ...................................................................... 249 Tab. 86: Einrichtungen der Jugendhilfe nach Arbeitsbereichen und Träger, Deutschland 1998 .............................................................................................. 250 Tab. 87: Einrichtungen und Plätze bei freien Trägern in der Jugendhilfe nach Arbeitsbereich und Art des Trägers, Deutschland 1998 .................................... 251 Tab. 88: Empfänger von Erziehungshilfen nach Hilfeart, Deutschland 19912001 ................................................................................................................... 254 Tab. 89: Begonnene Erziehungshilfen außerhalb des Elternhauses, Deutschland 1991-2001 ..................................................................................... 254 Tab. 90: Versorgungsraten der erzieherischen Hilfen in der Kinder- und Jugendhilfe, Deutschland 1991 und 2001 .......................................................... 255 Tab. 91: Ambulante Erziehungshilfen nach Träger, Deutschland 2001 ........................... 256 Tab. 92: Ausgewählte Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe nach Trägergruppen, Deutschland 2002 ..................................................................... 256 Tab. 93: Plätze in Heimen für Kinder und Jugendliche, Freie Wohlfahrt, Bundesrepublik Deutschland 1970-1996 ........................................................... 258 Tab. 94: Kindergartenplätze, Bundesrepublik Deutschland 1950-2002 ........................... 262 Tab. 95: Kinderkrippenplätze, Bundesrepublik Deutschland 1955-2002 ......................... 264 Tab. 96: Plätze in der Kinderbetreuung nach Einrichtungsart und Trägerschaft, Bundesrepublik Deutschland 1955-2002 ..................................... 265 Tab. 97: Kinderbetreuungsplätze nach Einrichtungsart und Trägergruppe, Deutschland 2002 .............................................................................................. 266 Tab. 98: Kinderbetreuungsplätze nach Zielgruppe, Einrichtungsart, Öffnungszeiten und Mittagsservice, Deutschland 2002 .................................... 267 Tab. 99: Einrichtungen, Plätze und Personal in der Behindertenhilfe der freien Wohlfahrtsträger, Bundesrepublik Deutschland 1970-2000 ................... 268 Tab. 100: Plätze in den Heimen und Tagesstätten der Behindertenhilfe der freien Wohlfahrtspflege, Bundesrepublik Deutschland 1970-2000 ................. 269 Tab. 101: Plätze in Einrichtungen der Behindertenhilfe der freien Wohlfahrt, Bundesrepublik Deutschland 1970-2000 ......................................................... 270 Tab. 102: Plätze in Einrichtungen der Behindertenhilfe der freien Wohlfahrtspflege nach Einrichtungsart, Bundesrepublik Deutschland 1981-2000 ................................................................................... 271 Tab. 103: Erwerbstätige in sozialen Berufen, Deutschland 1925-1997 ........................... 273
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Tabellenverzeichnis
Tab. 104: Beschäftigte in der freien Wohlfahrtspflege nach Aufgabenbereichen, Bundesrepublik Deutschland 1970-2000 ........................................ Tab. 105: Beschäftigte in der Jugendhilfe nach Arbeitsfeld und fachlicher Ausbildung, Bundesrepublik Deutschland 1974-2002 ..................................... Tab. 106: Personal in der Altenhilfe der freien Wohlfahrtspflege, Bundesrepublik Deutschland 1970-2000 ......................................................... Tab. 107: Personal in Pflegeeinrichtungen nach Arbeitsfeld, Arbeitszeit und Tätigkeitsschwerpunkt, Deutschland 2001 ...................................................... Tab. 108: Personal in Pflegeeinrichtungen nach Qualifikation, Deutschland 2001 .................................................................................................................
274 276 277 279 280
Einleitung
Die Rede von einer Krise beherrscht seit nunmehr über 25 Jahren die politische und wissenschaftliche Diskussion über den Wohlfahrtsstaat (vgl. OECD 1981; Huber und Stephens 2001). Doch die Schwanengesänge sowohl der Kritiker als auch der Apologeten des Wohlfahrtstaates sind längst von einem vielstimmigen Chor abgelöst worden, in dem die Themen des Umbaus und der Reform die Leitmotive bilden. Nicht das Ende des Wohlfahrtsstaates, sondern seine Anpassung an neue Herausforderungen steht nun im Mittelpunkt der Aufführung (vgl. Kaufmann 1997). Tatsächlich sind in allen europäischen Ländern große Probleme des Wohlfahrtsstaates offenkundig, aber in keinem einzigen wurde er in seinen Grundfesten erschüttert, nicht einmal in Großbritannien nach fast zwanzig Jahren ununterbrochener konservativer Herrschaft (vgl. Pierson 1994; Kuhnle 1998: S. 54). Der Mythos von einer großen, umwälzenden Krise des Wohlfahrtsstaates ist verblasst (vgl. Castles 2004) und hat einer wirklichkeitsnäheren Betrachtung von Problemen und Anpassungsleistungen Platz gemacht. Ein zentrales Thema dieser Anpassung ist der teilweise Rückzug des Staates aus den sozialen Sicherungs- und Versorgungssystemen (vgl. Ferrera und Rhodes 2000). Die „Entstaatlichung“ der sozialen Sicherung in den entwickelten westlichen Industrienationen scheint ein allgemeiner, unausweichlicher Trend. In der vielfältigen Literatur zu diesem Thema kann man drei zentrale Dimensionen der Entstaatlichung herausarbeiten (vgl. Pinch 1997). Zum einen wird eine Verlagerung von Kompetenzen und Ressourcen vom Staat auf private Akteure angenommen (Privatisierung), zum andern eine Verschiebung von Zuständigkeiten innerhalb des öffentlichen Bereichs vom (Zentral-) Staat zu Regionen und Kommunen (Dezentralisierung). Außerdem sei mit diesen Entwicklungen eine Pluralisierung von Leistungen und Angeboten durch neue Akteure verbunden, mit anderen Worten: der Staat ziehe sich auch aus der Standardisierung und Kontrolle sozialer Leistungen zurück und schaffe somit Raum für die Entfaltung pluralistischer Systeme der Wohlfahrtsproduktion (Wohlfahrtspluralismus; vgl. Johnson 1987). Dies wäre in der Tat eine einschneidende Veränderung in der Entwicklung sozialer Sicherungssysteme, die seit dem Beginn des modernen Wohlfahrtsstaates vor mehr als 120 Jahren durch einen Prozess zunehmender Verrechtlichung und Standardisierung sowie einen Ausbau sozialer Kontrolle geprägt war. Die in den westeuropäischen Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg etablierten Systeme sozialer Dienste stehen seit dem Ende der 1970er Jahre unter großem Veränderungsdruck. Dieser Druck lastet sowohl auf der Nachfrage- als auch auf der Angebotsseite. Auf der Nachfrageseite stehen die demographische Entwicklung und Veränderungen der Familienstrukturen im Mittelpunkt, aber auch der Wandel der Arbeitswelt und der Anstieg des allgemeinen Lebensstandards. Auf der Angebotsseite drücken vor allem die Krise der klassischen freien Wohlfahrtstätigkeit und die Finanzkrise des Staates, aber auch Probleme der politischen und administrativen Steuerung von zunehmend differenzierten und komplexen Systemen (vgl. Alber 2002; Bäcker, Heinze und Nägele 1995; Kaufmann 2001). Mit der Krise des Wohlfahrtsstaats war auch die freie Wohlfahrtspflege in eine Krise geraten. Ein
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Einleitung
Großteil der von diesem Sektor erbrachten sozialen Leistungen wird in vielen Ländern öffentlich finanziert oder zumindest subventioniert. Mit der Krise der Staatsfinanzen waren somit auch die Träger der freien Wohlfahrt mit zunehmender Ressourcenknappheit konfrontiert. Die Ansicht, der Wohlfahrtsstaat verfolge heute primär eine Politik der Privatisierung und Dezentralisierung und eröffne somit Spielräume für pluralistische institutionelle Arrangements, ist weit verbreitet, ja in der heutigen politischen Diskussion beherrscht sie das Feld derart, dass entgegengesetzte Ansichten als Überzeugung Ewiggestriger erscheinen. In der Wissenschaft sind die Meinungen zwar differenzierter, aber auch hier scheint die Idee, der Wohlfahrtsstaat ziehe sich zurück, klar zu dominieren. Häufig werden nicht mehr die sozialen Probleme betrachtet, die sich aus der Entwicklung moderner Gesellschaften ergeben, sondern der Wohlfahrtsstaat selbst und seine Institutionen erscheinen als das eigentliche Kernproblem (vgl. dazu kritisch Flora 1979). Betrachtet man hingegen die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates in langfristiger Perspektive, erscheint diese Idee durchaus gewagt. Angesichts historischer Erfahrungen müsste man gerade in Krisenzeiten eine Ausdehnung staatlicher Politik erwarten, nicht einen Rückzug des Staates. Doch der Glaube, ohne den Staat würden sich die sozialen Probleme von selbst lösen, ist eine schöne Illusion. Darüber hinaus scheinen Endpunkt und Ziel eines solchen Rückzugs des Wohlfahrtstaates unbestimmt, ebenso wie alternative institutionelle Arrangements im Vergleich zur klassischen wohlfahrtsstaatlichen Bearbeitung sozialer Probleme. Mit der hier vorliegenden Arbeit möchte ich einen Beitrag zur Erforschung der aktuellen Entwicklungstendenzen im Umbau des Wohlfahrtsstaates leisten. Ziel der Arbeit ist eine kritische Überprüfung der allgemeinen These vom Rückzug des Staates aus der sozialen Sicherung und Wohlfahrt. Dieser These wird eine Alternativhypothese entgegengestellt, die angesichts der anstehenden Probleme einen Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Intervention postuliert (vgl. Alber 2002 für eine kritische Diskussion). Überprüft werden sollen diese Thesen auf dem Gebiet der sozialen Dienste, die dafür in vielfacher Hinsicht geeignet erscheinen, aber auch einen klaren Sonderfall innerhalb des Wohlfahrtsstaates darstellen. Dieser Sonderstellung der sozialen Dienste bin ich mir wohl bewusst; die Ergebnisse dieser Studie lassen sich somit nicht ohne weiteres auf andere wohlfahrtsstaatliche Bereiche übertragen. Doch das ist auch nicht mein Ziel. Vielmehr kommt es mir darauf an, die allgemeinen Thesen über den Umbau des Sozialstaates in einem bestimmten Feld kritisch zu überprüfen. Dennoch glaube ich, dass einige Ergebnisse meiner Studie auch für die Wohlfahrtsstaatsforschung insgesamt von Bedeutung sind.
Soziale Dienste und die Reform des Wohlfahrtsstaates Beherrschten in den 1960er und 1970er Jahren Aufbau und Expansion wohlfahrtsstaatlicher Institutionen die vergleichende Forschung, geriet seit den 1980er Jahren der Umbau oder gar Abbau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen und Einrichtungen ins Blickfeld. Nach einem beispiellosen „Wachstum zu Grenzen“ (vgl. Flora 1986 u. a.) schien der Wohlfahrtsstaat in Westeuropa am Beginn einer neuen Ära, die durch zunehmende Finanzierungs-, Legitimations- und Steuerungsprobleme gekennzeichnet war. Die Reform des Sozialstaats ist seitdem ein Dauerthema der wissenschaftlichen und politischen Debatten. Der Sozialstaat
Einleitung
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schien vor der größten Herausforderung seiner Geschichte zu stehen (vgl. Alber 2002; Kuhnle 1998; Munday 1989; Pierson 2001). Erstaunlicherweise blieben die sozialen Dienste in dieser Debatte lange Zeit unbeachtet. Zwar gehören sie nur in wenigen Ländern zum historischen Kernbestand wohlfahrtsstaatlicher Einrichtungen und haben sich meist auch nicht in umfassende Systeme entwickelt, aber ihre institutionellen Merkmale hätten sie eigentlich für eine Analyse des Umbaus des Wohlfahrtsstaates prädestiniert. Im Gegensatz zu den Kernsystemen der sozialen Sicherung gegen die großen Standardrisiken Unfall, Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit waren soziale Dienste mit Ausnahme des Bildungs- und Gesundheitswesens meist weniger wohlfahrtsstaatlich institutionalisiert. Sie waren weniger zentralisiert, weniger öffentlich organisiert, beruhten mehr auf lokaler und freiwilliger Initiative, waren stärker auf regionale und individuelle Bedürfnisse zugeschnitten und in geringerem Maße reguliert und standardisiert. In gewissem Sinn könnte man sagen, diese institutionellen Strukturmerkmale seien die Vorboten eines neuen Typus von Wohlfahrt, der am Ende der Umbaubemühungen des modernen Wohlfahrtsstaates stehen könnte. Doch im Fall sozialer Dienste waren diese institutionellen Merkmale weniger Anzeichen für ihre potentielle Vorreiterfunktion als Ergebnis ihrer unvollständigen Institutionalisierung im Wohlfahrtsstaat, mit anderen Worten: ihrer Entwicklungsverspätung gegenüber den klassischen Systemen der sozialen Sicherheit. Tatsächlich wurde die Zeit, in der allgemein von der Krise des Wohlfahrtsstaates und seiner Reform die Rede war, zur entscheidenden Periode, in der sich die sozialen Dienste fast überall in Westeuropa stark ausdehnten und stärker institutionalisiert wurden. Gerade in dieser Zeit schafften die sozialen Dienste in vielen Ländern ihren institutionellen Durchbruch und gehören seitdem zum Kern wohlfahrtsstaatlicher Daseinsvorsorge. Diese Beobachtung ist für die Wohlfahrtsstaatsforschung von großer Bedeutung. Zum einen zeigt sie, dass sich in allen Wohlfahrtsstaaten eine Verschiebung in der Bedeutung unterschiedlicher sozialer Risiken vollzieht, die man als Wandel von der Erwerbszentriertheit zu einer stärkeren Konzentration auf allgemeine Lebensrisiken und lebenslaufbezogene soziale Lagen interpretieren kann. Ob damit bereits die Vorstellung von einem „postindustriellen Wohlfahrtsstaat“ verbunden ist, sei vorerst dahingestellt. Klar ist jedoch, dass eine Neugewichtung sozialer Lagen und Risiken innerhalb des wohlfahrtsstaatlichen Arrangements festzustellen ist, die seine Grundarchitektur verändert. Hinzu kommt in vielen Ländern eine stärkere Gewichtung der Familie und damit eines weiteren Elements der sozialen Sicherheit, das nicht direkt mit Erwerbstätigkeit verbunden ist. Kein Wunder, dass diese Veränderungen vor allem in den sogenannten konservativen Wohlfahrtsstaaten zu beobachten sind, die bisher enger als andere mit Strukturen der Erwerbsarbeit verflochten waren. Zum andern wird jedoch aus dieser Entwicklung deutlich, dass von einem alle Bereiche umfassenden Rückzug des Staates aus der sozialen Daseinsvorsorge keine Rede sein kann. Man könnte im Gegenteil geradezu von einer Periode zunehmender wohlfahrtsstaatlicher Institutionalisierung sprechen. Diese These scheint vordergründig den gängigen Vorstellungen von einer Privatisierung und Dezentralisierung sozialer Aufgaben und einem zunehmenden Wohlfahrtsmix im Bereich sozialer Dienste unter dem Stichwort „Wohlfahrtspluralismus“ zu widersprechen. Deshalb soll im Folgenden zunächst versucht werden, den Bedeutungsgehalt dieser Charakterisierungen genauer zu fassen, um sie dann anschließend mit den zentralen Entwicklungen und Reformen im Bereich sozialer Dienste zu konfrontie-
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ren. Vereinfacht gesagt geht es also um eine Gegenüberstellung der These vom Rückzug des Staates aus der sozialen Daseinsvorsorge und der These zunehmender wohlfahrtsstaatlicher Institutionalisierung und Steuerung. Dabei werden in beiden Thesen zwar Unterschiede zwischen verschiedenen Wohlfahrtsstaaten angenommen, beide unterstellen jedoch grosso modo eine einheitliche Entwicklungsrichtung. Die Länder sollten sich lediglich in Niveau und Ausmaß dieser Entwicklungen voneinander unterscheiden. Bevor ich den Aufbau der Arbeit skizziere, möchte ich zunächst die Konzepte erläutern, die meinem Ansatz zugrunde liegen: die institutionelle Analyse und die Untersuchung der Beziehungen zwischen Akteuren im Feld sozialer Dienste. Diese konzeptionellen Klarstellungen sind nötig, damit der Leser mein Vorgehen im späteren Verlauf der Arbeit beurteilen kann. Im Mittelpunkt meiner Arbeit steht der Wohlfahrtsstaat. Deshalb sei das von mir verwendete Konzept des Wohlfahrtsstaates zuerst erläutert. Ich gehe von der grundlegenden Definition aus, die Girvetz (1968) für den angelsächsischen Sprachraum formuliert hat und die für den größten Teil der Forschung maßgeblich geworden ist. Girvetz definierte den Wohlfahrtsstaat wie folgt: „The welfare state is the institutional outcome of a society’s assumption of legal and therefore formal and explicit responsibility for the basic well-being of all its members.” (Girvetz 1968: S. 512; zitiert in Kaufmann 2001: S. 26). Vier Elemente in dieser Definition sind hier von Bedeutung. Girvetz spricht von „institutional outcome“; es geht ihm also nicht um Sozialpolitik und policies, sondern um institutionell ausgeformte Arrangements des Wohlfahrtsstaates. Zweitens hebt er den Aspekt der „formal responsibilities“ hervor, die den genuin wohlfahrtsstaatlichen Ansatz der sozialen Wohlfahrt bilden, der in modernen Wohlfahrtsstaaten in der Verankerung sozialer Rechte gipfelt (vgl. Marshall 1964). Drittens nennt er als zentrales Ziel wohlfahrtsstaatlicher Aktivität „individual wellbeing“, die Steigerung individueller Wohlfahrt. Viertens schließlich zielt der Wohlfahrtsstaat auf die soziale Teilhabe und Inklusion aller Gesellschaftsmitglieder („of all its members“), sicherlich ein Ansatz, der vor allem in der britischen und skandinavischen Wirklichkeit stärker verankert ist als in den kontinentaleuropäischen Wohlfahrtsstaaten. Dieser Ansatz ist gerade für eine Analyse sozialer Dienste fruchtbar, wie sich im weiteren Verlauf meiner Arbeit erweisen sollte. Doch diese allgemeinen Merkmale des Wohlfahrtsstaates genügen nicht für die spezifische Analyse des Feldes der sozialen Dienste. Deshalb möchte ich mich dabei auch auf einen jüngst ausformulierten Ansatz von Kaufmann (1999; 2001) stützen, der den Begriff des Wohlfahrtsstaates darüber hinaus mit dem Konzept der Wohlfahrtsproduktion (vgl. Zapf 1981;1984) verknüpft. Diese Verbindung ist gerade für eine Untersuchung sozialer Dienste fruchtbar. Ich werde weiter unten begründen, weshalb. Kaufmann stellt in seiner Konzeption des Wohlfahrtsstaates zwei Elemente in den Mittelpunkt: soziale Rechte als genuines Mittel wohlfahrtsstaatlicher Interventionen und die Wohlfahrtsproduktion als zentrales Betätigungsfeld des Wohlfahrtsstaates. In beidem stimmt er mit Girvetz überein. Für meine Zwecke ist an Kaufmanns Ansatz jedoch vor allem die darin zum Ausdruck kommende potentielle Vielfalt wohlfahrtsstaatlicher Arrangements interessant, die sich in der Rolle des Staates im System der Wohlfahrtsproduktion und -verteilung ausprägt. Es ist nämlich nicht primär der Wohlfahrtsstaat, der Wohlfahrt produziert, sondern es sind Familien, Assoziationen und der Markt. Dies gilt vor allem historisch betrachtet. In einer idealtypischen historischen Welt „vor“ dem Wohlfahrtsstaat wurden zum Beispiel soziale
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Dienstleistungen fast ausschließlich innerhalb von Familien erbracht, später kamen dann karitative und humanitäre Organisationen hinzu. Von großer Bedeutung waren aber auch Städte und Gemeinden. Der Staat selbst beschränkte sich auf eine allgemeine Kontrolle und intervenierte erst später in diesem Bereich, zumeist nicht vor dem Ende des 19. Jahrhunderts. In dieser Hinsicht liegt der historische Ausgangspunkt der sozialen Dienste in der Familie und – vor allem seit dem 19. Jahrhundert – bei freien Trägern der Wohlfahrt, also dem assoziativen Sektor. Auch hat der Staat das Feld der sozialen Dienste niemals so stark durchdrungen und überformt wie andere wohlfahrtsstaatliche Bereiche. Soziale Dienste waren im Vergleich zu anderen Institutionen des Wohlfahrtsstaates stets durch einen relativ hohen Grad an „Privatheit“ und Dezentralisierung gekennzeichnet. Im Unterschied dazu spielte der Markt im Feld sozialer Dienste in historischer Betrachtung keine wichtige Rolle. Der Markt war vielmehr seit dem Siegeszug der kapitalistischen, auf dem individuellen Lohnarbeitsverhältnis beruhenden Wirtschaftsweise, die zentrale Institution der Einkommensverteilung. Entsprechend wurden die wohlfahrtstaatlichen Interventionen in diesem Bereich, deren Anfänge sich ebenfalls auf das ausgehende 19. Jahrhundert datieren lassen, zum Ausgangspunkt der modernen sozialen Sicherungssysteme mit den Kerninstitutionen der Sicherung gegen die allgemeinen Risiken des Einkommensausfalls (vgl. Alber 1982). Soziale Dienste und Einkommenssicherung unterlagen somit von Anfang an einer unterschiedlichen institutionellen Entwicklungslogik und bildeten zwei getrennte Bereiche des Wohlfahrtsstaates. Von Anfang an spielten neben dem Wohlfahrtsstaat in beiden Bereichen auch andere Akteure eine Rolle. Man kann deshalb die Institutionalisierung sozialer Dienste nicht ohne eine Analyse der sozialen Beziehungen zwischen den auf diesem Gebiet tätigen Akteuren verstehen. Gerade in historischer Betrachtung ist eine solche Erweiterung der Analyseperspektive nötig, denn der Staat schärfte das Profil seiner Rolle im Feld sozialer Dienste erst unter Berücksichtigung dieser anderen Akteure und der Auseinandersetzung mit ihnen. Aus diesen Überlegungen ergibt sich der für meine Arbeit zentrale konzeptionelle Ansatzpunkt: die Verbindung von institutioneller Analyse mit einer Untersuchung sozialer Akteure. Zunächst zum ersten Aspekt, der institutionellen Analyse. In der aktuellen Reform des Wohlfahrtsstaates gibt es ohne Zweifel in vielen europäischen Ländern Tendenzen, die man auf den ersten Blick als Teil einer umfassenden Privatisierung und Dezentralisierung deuten kann. Allerdings gibt es auch gegenläufige Indizien, die für einen fortgesetzten Ausbau des Wohlfahrtsstaates sprechen. Entscheidend für ein adäquates Urteil über diese Entwicklungen ist aber in jedem Fall eine differenzierte Analyse, in der die einzelnen Elemente dieser Veränderungen in ihrem institutionellen Zusammenhang betrachtet werden. Erst in einer institutionellen Kontextanalyse können die Elemente sozialer Reformen in ihrem Sinn- und Funktionszusammenhang betrachtet und somit der vorherrschende Entwicklungstrend richtig gedeutet werden. Stellt man zum Beispiel bestimmte Elemente im Umbau des Wohlfahrtsstaates, die marktmäßige Steuerungsformen enthalten, in ihren institutionellen Kontext, können sich daraus ganz andere Befunde ergeben, die zu anderen Erklärungen der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung führen. Dies kann nur im Rahmen einer auf einen bestimmten Bereich wohlfahrtsstaatlicher Aktivität fokussierten Analyse geschehen. Allgemeine wohlfahrtsstaatliche Ansätze und Theorien helfen hier nicht weiter, denn sie sind zu unspezifisch und institutionenblind (vgl. Giaimo und Manow 1999). Gerade in der jetzigen Phase, in welcher der Umbau der Wohlfahrtsstaaten noch nicht abgeschlossen
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ist, erweisen sich die Instrumente der rein makrosoziologischen Wohlfahrtsstaatsforschung als zu grob, um die Feinheiten der institutionellen Veränderungen zu erfassen. Der typologische Ansatz (vgl. Esping-Andersen 1990; 1999) ist ohne Zweifel wertvoll für eine auf Grundmerkmale konzentrierte, vergleichende Analyse von Wohlfahrtsstaaten, aber völlig ungeeignet für die Erforschung historischer oder aktueller Entwicklungstendenzen. Hier hat der institutionelle Ansatz einen entscheidenden Vorteil. Sein Nachteil liegt allerdings in der begrenzten Reichweite der Ergebnisse, die strenggenommen nur für den jeweils untersuchten Bereich gültig sind. Die institutionelle Analyse wird nun um eine Betrachtung der Akteure erweitert. Dabei geht es nicht um die politics der sozialen Dienste, sondern um die institutionellen Arrangements als Ergebnis wohlfahrtsstaatlicher policies. Nicht politische Entscheidungsprozesse, sondern die Institutionalisierung sozialer Dienste steht im Mittelpunkt meiner Untersuchung. Nur auf dieser Ebene kann die zentrale Frage nach der Veränderung der Rolle des Wohlfahrtsstaates im Feld sozialer Dienste beantwortet werden. Von Bedeutung sind in dieser Hinsicht vier Dimensionen: die Beziehungen zwischen dem Wohlfahrtsstaat und der Familie, zwischen Staat und Assoziationen (Wohlfahrtsorganisationen), zwischen Staat und lokalen Gemeinschaften (Gemeinden) sowie in jüngerer Zeit auch die Beziehungen zwischen dem Wohlfahrtsstaat und den im Feld sozialer Dienste tätigen kommerziellen Anbietern (vgl. Alber 1995). Die Entwicklung dieser Beziehungen und die Art und Weise ihrer Institutionalisierung hat die Systeme sozialer Dienste in modernen Wohlfahrtsstaaten historisch entscheidend geprägt. Die Bedeutung von Assoziationen für das Feld sozialer Dienste wird in zwei wissenschaftlichen Diskussionskreisen außerhalb der klassischen Wohlfahrtsstaatsforschung thematisiert: dem Ansatz des Wohlfahrtspluralismus und der Forschung zum Dritten Sektor. Die Produktionsseite von Dienstleistungen steht im Mittelpunkt des Wohlfahrtspluralismus (vgl. Evers und Olk 1996). Die grundlegende Annahme dieses Ansatzes ist, dass die gesellschaftliche Wohlfahrtsproduktion arbeitsteilig in verschiedenen Sektoren erfolgt, die durch eine jeweils spezifische Form gesteuert werden. Unterschieden wird dabei in der Regel zwischen Markt, Staat und Familien (und anderen Primärgruppen). Zwischen diesen drei Polen liegt dann der für den Wohlfahrtspluralismus eigentlich interessante Forschungsgegenstand in Form eines vielgestaltigen assoziativen Sektors, der verschiedene Funktions- und Formelemente kombiniert und somit innerhalb des sozialen Raumes der Wohlfahrtsproduktion unterschiedlich lokalisiert werden kann, je nachdem, ob eine größere Nähe zum staatlichen, marktwirtschaftlichen oder familiären Sektor vorliegt. Während der Wohlfahrtspluralismus somit die Variabilität und Heterogenität des assoziativen Feldes betont, versucht die Forschung über den Dritten Sektor (im Unterschied zu Markt und Staat) die genuin für diesen Bereich zutreffenden Merkmale zu erfassen und einen eigenständigen Sektor der Wohlfahrtsproduktion mit spezifischer Funktionslogik in klarer Abgrenzung zu anderen Sektoren zu definieren (vgl. Salamon und Anheier 1997). Der Wohlfahrtspluralismus interessiert sich vornehmlich für die vielfältige Kombination von Elementen der gesellschaftlichen Wohlfahrtsproduktion, wobei dem assoziativen Feld die Funktion eines Verbindungsraumes zwischen den „polar“ definierten Sektoren Markt, Staat und Familie zukommt. Im Gegensatz dazu zielt die Forschung über den Dritten Sektor auf eine möglichst klare Unterscheidung dieses Bereichs von den anderen Sektoren der Wohlfahrtsproduktion und auf eine Analyse der Größe und Struktur dieses Sektors im internatio-
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nalen Vergleich. Gemeinsam ist beiden Ansätzen jedoch der Fokus auf die Produktionsseite gesellschaftlicher Güter und Dienste. In dieser Perspektive können soziale Dienste in unterschiedlicher Weise arbeitsteilig produziert werden; das Muster dieser Arbeitsteilung und das daraus hervorgehende Mischungsverhältnis wird dann als Wohlfahrtsmix (welfare mix) bezeichnet. Tatsächlich haben sich empirische Studien zum Wohlfahrtspluralismus vorrangig mit sozialen Diensten beschäftigt, weil sich gerade in diesem Bereich eine Vielfalt von Akteuren bewegt, die in unterschiedlicher Weise zur Dienstleistungsproduktion beiträgt. Innerhalb der Forschung zum Dritten Sektor spielen die sozialen Dienste ebenfalls eine wichtige Rolle, sind jedoch nur ein Arbeitsfeld der voluntary organizations (vgl. Salamon 1995). In beiden Forschungsansätzen spielen die Beziehungen zwischen dem assoziativen Bereich und dem Staat zwar eine wichtige Rolle, aber die Betrachtung konzentriert sich auf die Strukturen des assoziativen Bereichs selbst. Die Wohlfahrtsstaatsforschung hat sich stattdessen meistens auf die Genese und Struktur von Wohlfahrtsregimen gerichtet und aus diesem Grund stets die Beziehungen zwischen dem Wohlfahrtsstaat und anderen gesellschaftlichen Bereichen im Blick gehabt (vgl. Flora 1986 u.a.; Esping-Andersen 1990; 1999; Kohl 1993). Dieser Unterschied erklärt sich vor allem aus der makrosoziologischen Tradition der Wohlfahrtsstaatsforschung, während sowohl der Wohlfahrtspluralismus als auch die Forschung über den Dritten Sektor ihr Interesse vor allem auf Organisationen und deren Einbindung in die gesellschaftliche Umwelt richten. Der makrosoziologische Blick ist aber gerade in historischen Phasen von Bedeutung, in denen sich die Gewichte zwischen den verschiedenen Bereichen der Wohlfahrtsproduktion verschieben. Eine erste solche historische Phase war der Beginn des Wohlfahrtsstaates und seine Expansion in andere gesellschaftliche Bereiche. In dieser Phase prägten sich unterschiedliche Formen der sozialen Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen Akteuren der Wohlfahrtsproduktion aus, die sich in vielfältiger Weise institutionell verfestigten. Eine zweite Phase der Verschiebung hat mit dem Umbau und der Reform des Wohlfahrtsstaates seit den 1980er Jahren eingesetzt. Wiederum geht es in diesem Prozess um eine grundlegende Veränderung in der sozialen Arbeitsteilung, diesmal anscheinend mit umgekehrtem Vorzeichen (vgl. Kuhnle 1998: S. 50): nicht Expansion, sondern der Rückzug des Wohlfahrtsstaates, nicht Standardisierung und Zentralisierung, sondern Flexibilisierung und Dezentralisierung, nicht die Ausdehnung sozialer Rechte, sondern die Individualisierung von Risiken, und nicht Verstaatlichung, sondern Privatisierung geben scheinbar neuerdings die Richtung für diese Veränderungen vor.
Gegenstand der Untersuchung Genau diese Frage soll in der vorliegenden Arbeit für den Bereich sozialer Dienste untersucht werden. Betrachtet werden dabei soziale Dienstleistungen, die sich historisch an der Schnittfläche von Familien, Assoziationen und Gemeinden herausgebildet haben und in die der Wohlfahrtsstaat erst später zu intervenieren begann. Kapitel 1 entwickelt eine Definition und Abgrenzung des Untersuchungsgegenstandes. An dieser Stelle genügt deshalb die Feststellung, dass ich im Rahmen dieser Arbeit soziale Dienste untersuche, die nicht den Gesundheitsleistungen oder der Bildung zugerechnet werden können. Das heißt nicht, dass
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nicht manche soziale Dienste in organisatorischer Hinsicht innerhalb des Gesundheitswesens oder des Bildungssystems erbracht werden können; tatsächlich ist dies häufig der Fall. Doch von ihrem Charakter her und in ihren entscheidenden Merkmalen unterscheiden sich soziale Dienste sowohl von Gesundheitsleistungen als auch von Bildungseinrichtungen (näheres dazu in Kapitel 1). Außerdem kann nicht das gesamte Feld sozialer Dienste abgedeckt werden, zu heterogen und vielfältig sind seine Strukturen und Institutionalisierungsformen. Deshalb konzentriere ich mich auf soziale Dienste für drei Zielgruppen, die allesamt das Potential zu einer weiten Ausdehnung haben und überall den Kern des sozialen Dienstleistungsbereichs bilden: Dienste für Kinder, Dienste für ältere Menschen und Dienste für Behinderte. Bei diesen Zielgruppen liegt in allen Ländern der quantitative Schwerpunkt sozialer Dienste. Eine solche Studie erfordert eine historische Perspektive und die Konzentration auf wenige ausgewählte Fälle (Länder). Die historische Perspektive ist aus zwei Gründen wichtig. Institutionelle und strukturelle Veränderungen können nur in langfristiger Betrachtung angemessen gewürdigt und interpretiert werden; sie entfalten sich in der Zeit. Ebenso kann die historische Betrachtung manche voreiligen Schlüsse über aktuelle Entwicklungen ins rechte Licht setzen und relativieren. Genauso wichtig ist der zweite Grund: die Institutionalisierung sozialer Dienste ist ein historischer Prozess, bei dem institutionelle Vorentscheidungen in früheren Zeiten die institutionellen Verwirklichungschancen alternativer Optionen zu einem späteren Zeitpunkt vorstrukturieren; dieser Aspekt von Institutionalisierungsprozessen wird gemeinhin als „Pfadabhängigkeit“ bezeichnet (vgl. Pierson 2000). Untersucht man aktuelle Veränderungen in historischer Perspektive, stellt sich automatisch die Frage nach der Pfadabhängigkeit der Entwicklung. Pfadabhängigkeit ist jedoch kein unabänderliches Faktum oder gar Schicksal institutioneller Arrangements, im Gegenteil lassen sich besonders in kritischen Perioden („critical junctures“) immer wieder Abweichungen vom einmal eingeschlagenen Pfad konstatieren. In dieser Hinsicht könnte man also das Auftreten institutioneller Innovationen (im Sinne von Pfadabweichungen) als Indiz für eine „kritische Konstellation“ werten. Gehört der aktuelle Umbau der sozialen Dienste im Wohlfahrtsstaat in diese Reihe kritischer Konstellationen? Der Hinweis auf die Pfadabhängigkeit institutioneller Entwicklungen ist aber selbst noch keine Erklärung. Vielmehr müssen zu diesem Zweck die Interessen und Beziehungen zwischen den daran beteiligten Akteuren untersucht werden. Institutionen folgen keiner vorgegebenen Eigenlogik, sondern regeln die Beziehungen zwischen Akteuren. Betrachtet man nun die jüngsten Reformen des Wohlfahrtsstaates aus dieser Perspektive, gibt es zwei alternative Ansatzpunkte. Zum einen die politikwissenschaftliche Analyse von Entscheidungsprozessen quasi im Vorfeld institutioneller Veränderungen (vgl. zum Beispiel Pappi, König und Knoke 1995), zum andern die soziologische Analyse von Veränderungen in den tatsächlichen institutionellen Arrangements des Wohlfahrtsstaates. Die zweite Methode ist zwar im Prinzip „indirekter“, hat aber ihrerseits den Vorteil, im internationalen Vergleich leichter durchführbar zu sein. Darüber hinaus hat sie den unschätzbaren Vorteil einer langfristigen Betrachtungsmöglichkeit institutioneller Entwicklungsprozesse. Somit könnte man aus den ex-post festgestellten Veränderungen in den sozialen Beziehungen zwischen den Akteuren in einem institutionalisierten Feld indirekt auf die Interessen- und Entscheidungskonstellationen zwischen den Akteuren schließen. Das ist jedoch gar nicht meine Absicht. Entscheidend für mich ist vielmehr die Frage, ob und wie sich die Rolle des Wohl-
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fahrtsstaates im Feld sozialer Dienste durch die jüngsten Reformen in langfristiger Perspektive verändert hat. Ist der Wohlfahrtsstaat in dieser Hinsicht „aktiver“ oder „passiver“ geworden? Eine feldbezogene institutionelle Analyse über längere Zeit ist immer nur für wenige Fälle und Bereiche zu leisten. Umso wichtiger ist die Auswahl guter Vergleichsfälle. Aufgrund der Fragestellung bietet sich eine kleine Zahl ähnlich entwickelter westeuropäischer Wohlfahrtsstaaten an, die tatsächlich in neuerer Zeit grundlegende Reformen ihrer sozialen Dienstleistungssysteme durchgeführt haben. Die Länder sollten sich auch in Größe und wirtschaftlicher Entwicklung nicht sehr voneinander unterscheiden, weil von diesen Größen ein unerwünschter Einfluss auf die soziale Dienstleistungsinfrastruktur erwartet werden kann. Ebenso sollte der Wohlfahrtsstaat in den Vergleichsländern auf einem ähnlich hohen Entwicklungsstand sein, um weitere unerwünschte Niveaueffekte auszuschließen. Allein diese Kriterien engen den Kreis der potentiellen Vergleichskandidaten ein. Wünschenswert wäre darüber hinaus eine Variation in den vermuteten „unabhängigen“ Variablen, die hier untersucht werden sollen: die Beziehungen zwischen Wohlfahrtsstaat, Familien, Assoziationen und dem Markt. Natürlich setzt ein institutioneller und historischer Vergleich auch immer eine gewisse Kenntnis der allgemeinen Strukturmerkmale und Entwicklungen in den untersuchten Ländern von Seiten des Forschers voraus. Nimmt man diese Bedingungen zum Maßstab, kann man meines Erachtens die von mir getroffene Auswahl der Vergleichsländer gut begründen. Ich untersuche in meiner Arbeit die Entwicklung und Reform der sozialen Dienste in Deutschland, England und Wales und in Frankreich. Eine genauere Begründung für diese Auswahl und eine allgemeine Charakterisierung dieser drei Länder wird in Kapitel 2 gegeben. Nur soviel vorweg: in allen drei Ländern sind in den 1980er und 1990er Jahren grundlegende Reformen der sozialen Dienstleistungssysteme durchgeführt worden und die Beziehungen zwischen den Akteuren im Feld sozialer Dienste variieren. In Deutschland finden wir eine hoch entwickelte und weitgehend in den öffentlichen Sektor eingebundene freie Wohlfahrt, in Frankreich dominiert der Staat neben einem weniger starken freien Sektor der Wohlfahrtsproduktion, in England und Wales spielen öffentliche und kommerzielle Anbieter eine größere Rolle (vgl. Bauer und Thränhardt 1987; Eichhorn 1996; Bahle und Pfenning 2001). In Bezug auf die Dimension zentral-dezentral sind die drei Länder ebenfalls unterschiedlich strukturiert: in England und Wales spielen die Gemeinden eine zentrale Rolle im System sozialer Dienste, in Frankreich der Staat und die Sozialversicherung, in Deutschland daneben vor allem auch die Länder. Auch im Hinblick auf die Beziehungen zwischen Staat und Familie gibt es große Unterschiede: in Frankreich finden wir eine historisch hoch entwickelte aktive Familienpolitik, in Deutschland eine davon abweichende Vorstellung von Subsidiarität und in England und Wales dominiert ein liberales Grundverständnis der „non-intervention“ in die Familie (vgl. Bahle 1995; 2003). Diese Variationen sollten genügen, um eine möglichst vielfältige Basis für die Untersuchung meiner Fragestellung zu bilden. Wenn man in diesen verschieden strukturierten Ländern gemeinsame Entwicklungen im Hinblick auf die Rolle des Wohlfahrtsstaates im System sozialer Dienste feststellen kann, wäre dies ein starkes Indiz für oder gegen die allgemeine These vom Rückzug des Staates. Dann hätten wir es in der Tat mit einer allgemeinen Problemkonstellation zu tun, die sehr stark in eine bestimmte Richtung drängt. Sollten in dieser Hinsicht jedoch Unterschiede zwischen den Ländern feststellbar sein, müssten diese
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ebenfalls im Rahmen desselben institutionellen Ansatzes zu erklären sein. Im institutionellen Ansatz stehen sich dabei das Postulat der Pfadabhängigkeit und die Idee der sozialen Innovation gegenüber. Lassen sich Unterschiede zwischen den Ländern im Sinne einer institutionellen Pfadabhängigkeit erklären oder im Gegenteil durch das Auftreten institutioneller Innovationen, die gerade die alten Strukturen zu überwinden trachten? Und wenn soziale Innovationen auftreten, welche Akteure werden dadurch gestärkt und welche geschwächt? Bei dieser Aufgabe stehen fünf Elemente der Institutionalisierung sozialer Dienste im Mittelpunkt, die von folgenden Grundfragen ausgehen (vgl. Lepsius 1990 für den allgemeinen Ansatz): x x x x x
Inwiefern sind soziale Dienste als öffentliche Aufgabe anerkannt? Welche Akteure spielen eine Rolle und wie sind ihre Beziehungen zueinander geregelt? Wer bietet Dienste an, und wer finanziert diese? Wie werden sie reguliert und kontrolliert? Auf welche Ziele sind sie gerichtet, und wie werden sie legitimiert?
Ein Rückzug des Staates oder ein Umbau des Wohlfahrtsstaates in Richtung auf Dezentralisierung, Privatisierung und zunehmenden Wohlfahrtspluralismus müsste sich in mindestens einer, am besten in mehreren Dimensionen beobachten lassen, um die erste These zu bestätigen. Eine endgültige Einschätzung gewinnt man jedoch erst dann, wenn man die Funktionsweise des institutionalisierten Systems insgesamt und die Rolle betrachtet, die der Staat darin spielt. Die Situation vor den Reformen sollte sich dabei erheblich vom neuen System unterscheiden, damit überhaupt von einer wesentlichen institutionellen Veränderung gesprochen werden kann. Darüber hinaus sollte der internationale Vergleich Ursachen und Wirkungen dieser Veränderungen in unterschiedlichen sozialen, politischen und institutionellen Kontexten erfassen (vgl. dazu und im folgenden Starr 1989; 1990; Smith 2000; Kaufmann, Majone und Ostrom 1991; Kamerman und Kahn 1989). Ein Rückzug des Staates müsste sich zum Beispiel in folgender Weise bemerkbar machen: Ein weitgehender Rückzug läge vor, wenn soziale Dienste weniger als zuvor als öffentliche Aufgabe betrachtet würden, das Risiko somit privatisiert werden würde (Dimension 1). Eine weniger weitgehende Form eines partiellen Rückzugs des Wohlfahrtsstaates aus den sozialen Diensten würden vorliegen, wenn der Staat die Akteure in diesem Bereich weniger regulieren und ihre Beziehungen zueinander offen lassen würde, mithin den Gemeinden oder freien Wohlfahrtsorganisationen einen größeren Spielraum in der Art und Weise der Aufgabenerfüllung und Arbeitsteilung einräumen würde (Dimension 2). Darüber hinaus kann sich der Staat als Eigenanbieter sozialer Dienste zurückziehen und/oder seinen Finanzierungsanteil zurückschrauben (Dimension 3). Denkbar ist auch eine Verminderung staatlicher Aufsicht und Kontrolle über die angebotenen Dienstleistungen, die stärker als zuvor den Mechanismen von Angebot und Nachfrage unterworfen oder ins Ermessen freier Träger gestellt werden könnten (Dimension 4). Ein im Hinblick auf die Institutionalisierung sozialer Dienste entscheidender Rückzug läge vor allem dann vor, wenn soziale Ziele der Dienstleistungsversorgung verworfen werden würden oder wenn ihre Legitimität nicht mehr anerkannt würde (Dimension 5).
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Auch Privatisierung kann verschiedene Formen annehmen, je nachdem, welche der oben genannten Dimensionen davon betroffen wären. Eine Privatisierung im strengen Sinn läge dann vor, wenn das Risiko der Abhängigkeit von oder des Bedarfs an sozialen Diensten in bestimmten Lebenslagen tatsächlich privatisiert wäre, mithin soziale Sicherungen in diesem Bereich abgebaut würden. Privatisiert werden können vor allem auch Angebot und Finanzierung sozialer Dienste. Hier sind jedoch unterschiedliche Formen und Grade der Privatisierung voneinander zu unterscheiden. Zum einen kann der Staat innerhalb seines öffentlichen Systems mehr private, d.h. gemeinnützige oder kommerzielle Anbieter zulassen bzw. diese stärker darin einbinden. Dies wäre eine begrenzte Form der Privatisierung innerhalb eines grundsätzlich öffentlichen Dienstleistungssystems. Zum andern kann der Staat privaten Anbietern auch weite Bereiche in Eigenverantwortung und Selbststeuerung überlassen. In diesem Fall einer weitergehenden Form der Privatisierung würden die klassischen Mechanismen des Marktes stärker zur Geltung kommen. Privatisierung kann aber auch noch etwas ganz anderes bedeuten, nämlich eine Verschiebung der Verantwortung für bestimmte soziale Aufgaben auf die Familie. Hier ist besondere Vorsicht geboten, wenn man bestimmte staatliche Maßnahmen im Hinblick auf ihren Privatisierungsaspekt beurteilen will. Kann man zum Beispiel von einem Schritt zur Privatisierung sprechen, wenn der Staat bestimmte soziale Aufgaben explizit der Familie zuweist und diese dafür unterstützt, zum Beispiel in Form von Geldzahlungen oder steuerlichen Ermäßigungen? Wenn es dabei zum Beispiel darum geht, dass der Staat eine Aufgabe, die ohnehin meist in der Familie erbracht wird, anerkennt und fördert, könnte man darin auch einen ersten wichtigen Schritt zur öffentlichen Anerkennung und damit staatlichen Regulierung dieses Bereichs sehen. Die Übertragung bestimmter sozialer Aufgaben auf die Familie bedeutet somit keineswegs in jedem Fall eine „Privatisierung“, je nach Kontext kann sich dahinter auch die umgekehrte Entwicklung verbergen. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Staat damit versucht, die Familie in eine bestimmte Form der sozialen Arbeitsteilung einzubeziehen, in der die Rolle anderer Akteure ebenfalls festgelegt wird. Dann muss man vom Versuch der umfassenderen Institutionalisierung einer bestimmten sozialen Aufgabe durch den Staat unter Einbeziehung aller relevanten Akteure sprechen, und somit nicht von einer Privatisierung, sondern einer stärkeren Sozialisierung und sozialen Kontrolle durch den Wohlfahrtsstaat. Einer der in Studien zum Umbau des Wohlfahrtsstaates meistgenannten Aspekte der sogenannten Privatisierung betrifft die Frage der Finanzierung sozialer Dienste. Auf den ersten Blick scheint klar, dass eine Verminderung staatlicher Finanzierung mit einer stärkeren Privatisierung verbunden ist. Doch auch hier ist Vorsicht vor vorschnellen Interpretationen geboten. In jedem Fall muss dabei der institutionelle Kontext betrachtet werden. Zunächst muss klar zwischen einer Verminderung des staatlichen Finanzierungsanteils in einem Dienstleistungssektor und einem Absinken der realen Finanzzuweisungen unterschieden werden. Nur wenn beide Indikatoren zutreffen, ist eindeutig von einer Verlagerung der Kosten zugunsten des Staates auszugehen. Zum Beispiel kann der staatliche Finanzierungsanteil sinken, wenn ein Dienstleistungsbereich expandiert und die Leistungen anderer Finanzquellen stärker steigen als die des Staates. Dennoch kann man angesichts der tatsächlichen Zunahme öffentlicher Finanzierung und des Ausbaus der sozialen Infrastruktur in diesem Falle schwerlich von einer Tendenz zur Privatisierung sprechen. Umgekehrt gilt jedoch auch, dass die Abnahme der realen staatlichen Finanzströme in einem abnehmenden Dienstleistungsmarkt nicht mit einem Rückzug des Staates verwechselt werden darf, wenn
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der Finanzierungsanteil des Staates gleich hoch bleibt oder gar steigt. In diesem Fall sollte man genau die Gründe für die Veränderung beachten. Zum einen können Dienstleistungen von einem Sektor auf einen anderen verschoben werden; ein Abbau stationärer Pflegeleistungen in einem hoch entwickelten System zugunsten ambulanter Dienste stellt deshalb keinen Rückzug des Staates dar. Zum andern kann der Bedarf an bestimmten sozialen Dienstleistungen auch aus externen Gründen absolut sinken, etwa wenn die Zahl der Kinder aus demographischen Gründen zurückgeht und ein gut ausgebautes System der Kinderbetreuung reduziert werden kann. Doch neben diesen eher methodischen Überlegungen legen andere Gesichtspunkte Vorsicht bei diesem scheinbar so klaren Indikator öffentlicher Finanzierung nahe. Der Staat kann seinen direkten Finanzierungsanteil an der Erfüllung bestimmter sozialer Aufgaben reduzieren, indem er Kosten von einem Bereich des öffentlichen Haushalts (den allgemeinen Staatsausgaben) auf andere Bereiche überträgt (zum Beispiel auf Sozialversicherungen oder andere öffentliche Kassen). Ob damit der Staatsanteil an der Finanzierung tatsächlich gesunken ist, ist zumindest genauer zu untersuchen. Ein Beispiel liefert etwa die deutsche Pflegeversicherung, mit der ein völlig neues Finanzierungsinstrument in Form einer klassischen Sozialversicherung geschaffen wurde. Zugleich wurden die entsprechenden Ausgaben der Krankenversicherungen und insbesondere der Sozialhilfe deutlich reduziert. In der komplizierten deutschen Finanzverfassung mit ihren komplexen Verschachtelungen von Bundes-, Landes- und Kommunalhaushalten und den vielfältigen Verflechtungen zwischen den unterschiedlichen Zweigen der Sozialversicherung erfordert eine Aussage über veränderte öffentliche Finanzierungsanteile eine sehr differenzierte Analyse. Privatisierung kann also ganz unterschiedliches bedeuten, je nachdem welche Dimension der Institutionalisierung sozialer Dienste betrachtet wird. Viel wichtiger ist jedoch, dass eine solche Analyse unterschiedlicher Formen der Privatisierung stets in den institutionellen Gesamtzusammenhang eingebunden bleiben muss. Tatsächlich kann eine tatsächliche Privatisierung der Finanzierung und des Angebots an sozialen Diensten mit einer Zunahme staatlicher Steuerung und Kontrolle einhergehen oder eine stärkere Einbindung der Familie wird durch eine Zunahme öffentlicher Finanzierung unterstützt. Eine Privatisierung sozialer Dienste in einer oder mehreren Dimensionen ist also stets in ihrem institutionellen Gesamtzusammenhang zu betrachten. Tatsächlich kann sie Teil einer umfassenden Strategie zur Stärkung der Rolle des Wohlfahrtsstaates sein. Nicht minder komplex ist der Aspekt der Dezentralisierung, der neben der Privatisierung oft als zweiter wichtiger Trend in den Reformen zum Umbau des Wohlfahrtsstaates genannt wird. Dezentralisierung bedeutet zunächst nichts anderes als Abbau übergeordneter staatlicher Regelungen und finanzieller Mittel bei gleichzeitiger Verlagerung von Verantwortung auf die dezentrale Ebene von Verwaltung und Politik. Dezentralisierung ist mithin klar von Privatisierung zu unterscheiden, obwohl sie in der Realität damit verbunden sein kann. Dezentralisierung kann sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor stattfinden. Hier soll zunächst nur der öffentliche Sektor betrachtet werden, also vor allem die Beziehungen zwischen Zentralstaat, Regionen und Gemeinden. Ein kompletter Rückzug des Wohlfahrtsstaates würde bedeuten, dass die Verantwortung für den Bereich der sozialen Dienste allein bei den Gemeinden liegen würde. Sie müssten entscheiden, ob und in welcher Form sie solche Dienste regulieren, anbieten oder finanzieren. Ebenso wären Art und Umfang der zu leistenden Dienste dezentral geregelt. In dem
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Maße, in dem der Wohlfahrtsstaat in diese Aspekte und Dimensionen der Institutionalisierung eingreift, wird die dezentrale Verantwortung durch zentrale Regulierung überwölbt. Als Indiz für eine weitgehende Dezentralisierung wird häufig die sogenannte Übertragung wohlfahrtsstaatlicher Aufgaben an die Gemeinden betrachtet. Sehr oft jedoch ist diese Form der Dezentralisierung nicht mit einem Rückzug des Staates, sondern mit einem hohen Maß an Regulierung verbunden. Im Extremfall sind die Gemeinden nicht viel mehr als die lokalen Erfüllungsgehilfen wohlfahrtsstaatlicher Interventionen; am deutlichsten ist dies in der Sozialhilfe zu sehen. In diesem Fall wenden die Gemeinden Bundesgesetze an, die ihnen lediglich einen kleinen Ermessensspielraum lassen. Anders liegt der Fall, wenn der Zentralstaat die Gemeinden zur Erfüllung bestimmter sozialer Aufgaben verpflichtet, ihnen jedoch in der Durchführung wenig Vorschriften macht. Dennoch würde man auch in diesem Fall zögern, von einer starken Dezentralisierung zu sprechen, ist es doch der Zentralstaat, welcher Pflichtaufgaben für die Gemeinden festlegt, die vorher vielleicht rein freiwillig erfüllt wurden. Noch enger wird der Spielraum für die Gemeinden, wenn sie für die Erfüllung dieser Aufgaben bestimmte, begrenzte Mittel zugewiesen bekommen, über deren Verwendung sie gegenüber dem Staat zur Rechenschaft verpflichtet sind. Darüber hinaus können auch Art und Umfang der zu erbringenden Dienste festgelegt sein oder die Art der Zusammenarbeit von Gemeinden, freien Trägern und kommerziellen Anbietern auf dem lokalen Dienstleistungsmarkt. Von entscheidender Bedeutung ist deshalb, ob die Dezentralisierung, sofern man von einer solchen sprechen kann, sich in erster Linie auf die Verwaltung und Durchführung bestimmter wohlfahrtsstaatlicher Leistungen richtet oder ob sie auch politisch durchschlägt. Geht es um reine Verwaltungsangelegenheiten, so werden zwar die Beziehungen zwischen (zentralem) Wohlfahrtsstaat und Gemeinden in der Durchführung sozialer Aufgaben neu geregelt, im Kern jedoch ist die politische Zuständigkeit weiterhin zentralisiert und alle wesentlichen Entscheidungen, die das System und die Regelungen insgesamt betreffen, werden nach wie vor auf dieser Ebene gefällt, auch wenn die Anwendung im Einzelfall lokalen Instanzen übertragen wird. Politische Dezentralisierung würde demgegenüber bedeuten, dass die lokale Ebene selbst Ziele und Regeln des Systems bestimmen kann. Die entscheidende Frage im Zusammenhang mit der Dezentralisierung ist somit nicht, wer die Mittel verwaltet, sondern wer sie aufbringt und ihren Einsatz reglementiert und kontrolliert; nicht, wer die Dienste als solche erbringt, sondern wer die Leistungen bestimmt, mit anderen Worten: wer die Kompetenz zur Institutionalisierung besitzt und damit die Regeln des Systems festlegt. Zugegeben ist dies eine sehr zugespitzte Betrachtung von Dezentralisierung, sie ist jedoch notwendig, um den Charakter wichtiger institutioneller Veränderungen im System sozialer Dienste richtig zu erfassen und den Vollzug bestimmter Verwaltungsmaßnahmen nicht mit einem generellen Rückzug oder Abbau des Wohlfahrtstaates zu verwechseln. Auch der Begriff des Wohlfahrtspluralismus hat eine schillernde Bedeutung, die vor der empirischen Analyse geklärt werden muss. Ursprünglich bedeutet Wohlfahrtspluralismus, dass unterschiedliche Instanzen soziale Aufgaben arbeitsteilig erfüllen. Familien, freie Wohlfahrtsorganisationen, kommerzielle Anbieter, Gemeinden und der Wohlfahrtsstaat teilen sich das Feld sozialer Dienste. Doch meist ist mit diesem Begriff mehr gemeint als die schlichte empirische Feststellung, dass soziale Dienste zu unterschiedlichen Anteilen von diesen verschiedenen Leistungsträgern erbracht werden. Vor allem ist damit die Vorstellung verbunden, dass es wesentliche Unterschiede in der Aufgabenerfüllung zwischen
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diesen verschiedenen Instanzen gibt. Familie, Staat, Gemeinden, gemeinnützige Organisationen und kommerzielle Unternehmen folgen unterschiedlichen Handlungslogiken und übernehmen deshalb auch unterschiedliche Aufgaben innerhalb des arbeitsteiligen Gesamtsystems. Darüber hinaus wird jedoch auch angenommen, dass sich die von den jeweiligen Instanzen erbrachten Dienste selbst im Falle ihrer prinzipiellen Substituierbarkeit grundsätzlich oder zumindest weitgehend voneinander unterscheiden. Insbesondere die Beziehung zwischen Anbietern und Klienten unterliegen verschiedenen Handlungslogiken und Mustern (vgl. Evers und Olk 1996). Der Klient tritt dabei in verschiedenen Rollen auf: in Bezug auf die Familie ist er Teil einer primären Solidargemeinschaft, die auf Reziprozität gründet; im Hinblick auf freie Verbände ist er als deren Klient Teil einer größeren Gemeinschaft, die sich zum einen über religiöse, politische oder weltanschauliche Gemeinsamkeiten oder über Mitgliedschaft in funktional differenzierten Gruppen herstellt; in bezug auf kommerzielle Anbieter ist er Kunde auf einem Dienstleistungsmarkt, der Produkte und Preise rational vergleicht und sich für das beste Angebot entscheidet; in Beziehung zum Staat schließlich ist er entweder Untertan, der bestimmten Pflichten und Gesetzen unterliegt, und/oder mit einer Reihe von sozialen Rechten ausgestatteter Bürger. Es ist offensichtlich, dass diese Vorstellungen von den jeweiligen Rollenmustern kaum in idealtypischer Reinform anzutreffen sind. Übersehen wird dabei nämlich zweierlei. Zum einen gibt es in einem hoch institutionalisierten und arbeitsteilig aufgebauten Dienstleistungssystem keine rein dyadischen sozialen Beziehungen zwischen Nachfragern und verschiedenen Anbietern, sondern jede dyadische Beziehung ist Teil eines umfassenderen Systems sozialer Beziehungen. Die Beziehungen zwischen den Akteuren sind somit interdependent. Zum zweiten unterliegen diese Beziehungen einem hohen Maß an Regulierung und Kontrolle, das heißt, sie sind in hohem Grade institutionalisiert. Dies erschließt sich jedoch erst dann der Betrachtung, wenn die Funktionsweise des Systems in seinen Interdependenzen betrachtet wird, anstatt sich auf einzelne Beziehungen zwischen Akteuren zu konzentrieren. Ein weiterer im Zusammenhang mit dem Wohlfahrtspluralismus stehender Aspekt betrifft die große Bedeutung, die dabei der Vielfalt und dem Wettbewerb unterschiedlicher Konzepte und Ideen im Dienstleistungssektor beigemessen wird, mithin die zentrale Rolle von Differenzierung und Innovation. Im Unterschied zu ökonomisch ausgerichteten Marktanalysen, die sich auf Kosten und Preise für relativ homogene Produkte beziehen, betont der Wohlfahrtspluralismus die Bedeutung unterschiedlicher Handlungslogiken und Ziele, mithin auch verschiedener Konzepte und Ideen in der Dienstleistungsproduktion, die weniger als Tausch denn als Interaktion verstanden wird. Dabei müssen jedoch Träger- und Leistungs- bzw. Produktvielfalt streng auseinander gehalten werden, um Fehlschlüsse zu vermeiden und den behaupteten Zusammenhang nicht einfach von vornherein zu postulieren. Historisch gesehen mag ein solcher Zusammenhang weitgehend bestanden haben, ob er aber in der heutigen Zeit mit ihren hoch integrierten und institutionalisierten Systemen sozialer Dienste noch in dieser Stärke festzustellen ist darf bezweifelt werden. Die zunehmende wohlfahrtsstaatliche Regulierung und Kontrolle hat gerade auch im Feld sozialer Dienste zu einem hohen Maß an Standardisierung von Leistungen und zu einer hohen Gleichförmigkeit der Ergebnisse geführt, welche die Bedeutung der Trägerstruktur sozialer Dienste erheblich vermindert hat. Dennoch wird in manchen Studien in der Tat eine zunehmende Mischung von Anbietern immer wieder mit einer steigenden Vielfalt des Angebots gleichgesetzt. Zahlreiche Indizien weisen jedoch gerade in die umgekehrte Richtung
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eines immer mehr integrierten und institutionalisierten Systems, in dem Nischen für alternative Angebote verschwinden und der Kostenwettbewerb zwischen uniformen Leistungspaketen den Wettbewerb durch Produktvielfalt immer mehr in den Hintergrund drängt. Die erste Form des Wettbewerbs prämiert denjenigen, der das System finanziert; die zweite denjenigen, der die Leistungen erhält. Da in fast allen modernen Dienstleistungssystemen die Rolle des Finanziers von der Rolle des Konsumenten getrennt ist, mithin meist der Staat die eine und der Klient die andere Rolle übernimmt, ist es vor allem der Staat, welcher von den Vorzügen dieser Form des Wettbewerbs am meisten profitiert. Überspritzt könnte man sagen, in den modernen Dienstleistungssystemen wird der Markt so institutionalisiert, dass er den staatlichen Interessen dient und die Klienten ihrer Wahlfreiheit beraubt. Eine andere Frage ist, inwieweit diese Veränderungen ihre Ziele erreicht und welche Konsequenzen sie hervorgebracht haben. Waren sie dazu geeignet, die steigende und sich ausdifferenzierende Nachfrage nach sozialen Diensten angesichts knapper Ressourcen zu befriedigen? Wurden durch sie die Grenzen des Wohlfahrtsstaates neu gezogen? Konnten die Steuerungs- und Kontrollprobleme gelöst werden, ohne den Wohlfahrtsstaat politisch, administrativ und finanziell zu überfordern? Diese Fragen sollen im letzten Kapitel aufgegriffen werden, zunächst sollen jedoch die Veränderungen in ihrem jeweiligen institutionellen Kontext untersucht werden. Was sind die gemeinsamen Entwicklungen in den drei Ländern unseres Vergleichs und worin unterscheiden sie sich?
Aufbau der Arbeit In Kapitel 1 wird der Begriff der sozialen Dienste für die Zwecke dieser Arbeit definiert. Dabei geht es zum einen um eine Bestimmung der spezifischen Merkmale sozialer Dienste im Unterschied zu anderen Dienstleistungen, zum andern um eine Abgrenzung gegenüber den Wohlfahrtsbereichen Gesundheit und Bildung. Allerdings müssen die vielfältigen historischen und im internationalen Vergleich variierenden institutionellen Verbindungen und Trennlinien zwischen den sozialen Diensten, dem Gesundheitssystem und dem Bildungswesen berücksichtigt werden. Außerdem wird in Kapitel 1 das Konzept der Institutionalisierung vorgestellt und auf den Bereich der sozialen Dienste angewendet. Es werden dabei Dimensionen und Kriterien für den Grad und die Form der Institutionalisierung sozialer Dienste entwickelt, die eine Meßlatte für die folgende empirische Analyse im Ländervergleich bilden. Kapitel 1 thematisiert ebenso das Konzept der Wohlfahrtsproduktion in Verbindung zur komparativen Wohlfahrtsstaatsforschung. Dieser Teil liefert die Grundlage für die Analyse der Akteure im Feld sozialer Dienste und ihrer Beziehungen. Kapitel 2 vergleicht die westeuropäischen Länder empirisch im Hinblick auf die Angebotsstruktur sozialer Dienste. Ausmaß und Form der sozialen Dienste für Kinder und ältere Menschen stehen im Mittelpunkt. Über soziale Dienste für Behinderte liegen dagegen leider nur wenige vergleichende Daten vor. Außerdem werden die verschiedenen Formen ambulanter, stationärer und teilstationärer Dienste vorgestellt und für die Zielgruppen Kinder, ältere Menschen und Behinderte spezifiziert. Dieses „Inventar“ sozialer Dienstleistungen bildet die Grundlage für die empirisch-quantitative Untersuchung des sozialen Dienstleistungsangebots in den folgenden Kapiteln. In Kapitel 2 werden auch die Anbieterstrukturen sozialer Dienste im westeuropäischen Vergleich analysiert. Dabei werden wie in der
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einschlägigen Forschung drei Typen von Anbietern unterschieden: öffentliche, freie (gemeinnützige) und privat-kommerzielle Träger. Es wird dabei unterstellt, dass sich die historischen Ursprünge und Funktionsweisen dieser verschiedenen Organisationsformen in charakteristischer Weise voneinander unterscheiden, wobei sich hinter den jeweiligen Typen sehr verschiedene konkrete Organisationen verbergen können. Im öffentlichen Sektor gibt es zum Beispiel große Unterschiede zwischen lokalen und anderen Anbietern, im privatkommerziellen Sektor variiert die Organisationsform von großen kapitalstarken Unternehmen bis hin zu kleinen selbständig Erwerbstätigen. Die größte Variation findet sich aber innerhalb des freien, gemeinnützigen Sektors. Hierunter fallen einerseits große, landesweit organisierte Verbände der freien Wohlfahrt, andererseits kleine, lokale Initiativen und Gruppen. Die europäischen Länder unterscheiden sich nicht nur in der Verteilung der Dienstleistungsangebote auf die drei großen Sektoren, sondern auch im Hinblick auf die interne Struktur der jeweiligen Sektoren. Ziel des in Kapitel 2 angestrebten gesamteuropäischen Vergleichs sozialer Dienste, der sich jedoch mangels vergleichender Daten nicht auf alle Aspekte gleichermaßen anwenden lässt, ist die komparative Lokalisierung unserer drei Vergleichsländer Deutschland, England und Wales und Frankreich. Die Kapitel 3, 4 und 5 behandeln die Entwicklung der sozialen Dienste für Kinder, alte Menschen und Behinderte in England und Wales (Kapitel 3), Frankreich (Kapitel 4) und Deutschland (Kapitel 5). Die Länderkapitel sind mit kleinen Ausnahmen, die auf spezifische Entwicklungen in einzelnen Ländern eingehen, in gleicher Weise aufgebaut. Zunächst wird der Begriff der sozialen Dienste in Bezug auf das jeweilige Land spezifiziert. Gleichzeitig wird ein Überblick über das nationale soziale Dienstleistungssystem gegeben. Es folgt ein kurzer Abriss der historischen Entwicklung der sozialen Dienste hinsichtlich ihrer institutionellen Organisationsform und Trägerlandschaft. Die empirisch-quantitative und institutionelle Analyse der Entwicklung sozialer Dienste erfolgt für die drei Zielgruppen in getrennten Abschnitten. Dabei wird auf die Besonderheiten in jedem dieser Bereiche eingegangen, es werden aber auch bereichsübergreifende Gemeinsamkeiten erörtert. Die Analyse in diesen Abschnitten ist in jeweils drei Teile gegliedert: Entwicklungen vor den neueren grundlegenden Reformen, die Inhalte dieser Reformen und schließlich die strukturellen Entwicklungen nach den Reformen. Damit sollen Kontinuitätslinien oder Brüche in der Entwicklung sozialer Dienste über die Reformen hinweg festgestellt werden. Die Zeitperiode, die dabei betrachtet wird, variiert etwas von Land zu Land und von Bereich zu Bereich. Im Prinzip umfasst die Analyse aber die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Jahr 2000, mit einigen punktuellen historischen Rückgriffen und mit teilweise noch aktuelleren Daten. Den Abschluss jedes Länderkapitels bildet eine zusammenfassende, bereichsübergreifende Betrachtung der neueren Reformen in den sozialen Dienstleistungssystemen und ihrer Auswirkungen auf die strukturelle und institutionelle Entwicklung sozialer Dienste. Im Mittelpunkt steht dabei die Rolle des Wohlfahrtsstaates. Kapitel 6 fasst die Ergebnisse der Länderkapitel in vergleichender Perspektive zusammen. Dabei werden die zentralen Strukturmerkmale sozialer Dienste vor und nach den grundlegenden Reformen der 1980er und 1990er Jahre miteinander verglichen. Kern des Kapitels ist eine vergleichende Analyse der Reformen unter institutionellen Gesichtspunkten. Darin werden die Analysefäden der Studie, die zu Beginn aufgespannt wurden, zusammengeführt. Im Mittelpunkt der Betrachtung in Kapitel 6 steht die veränderte Institutionalisierung sozialer Dienste. Damit wird die Frage nach der veränderten Rolle des Wohl-
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fahrtsstaates im Feld sozialer Dienste beantwortet. Die Beantwortung dieser Frage bildet den Abschluss des Kapitels, zusammen mit einer Analyse der in dieser Hinsicht wichtigsten Unterschiede zwischen den Ländern. Zuletzt wird somit auch die Frage nach der Pfadabhängigkeit oder sozialen Innovation im Bereich sozialer Dienste beantwortet. Die Ergebnisse dieser Studie können nur Geltung für die hier untersuchten Länder und Bereiche des Wohlfahrtsstaates beanspruchen. Man kann daraus jedoch auch einige vorsichtige Spekulationen über die Konsequenzen dieser Entwicklung für den Wohlfahrtsstaat insgesamt ableiten. Dieser Aufgabe widmet sich der Ausblick am Schluss der Arbeit. Die Ergebnisse können zumindest für ein breites Variationsspektrum von Organisationsformen sozialer Dienste gelten, denn die drei Vergleichsländer repräsentieren sehr unterschiedliche Muster der Institutionalisierung. Einige Entwicklungslinien im Bereich sozialer Dienste münden darüber hinaus in einen breiteren Strom von Trends, der die entwickelten Wohlfahrtsstaaten in Europa generell kennzeichnet. Diese Prozesse hängen ihrerseits mit umfassenden gesellschaftlichen Veränderungen zusammen, die zumeist unter dem Schlagwort der „Dienstleistungsgesellschaft“ oder der postindustriellen Gesellschaft geführt werden. Hradil (2004) weist zwar zu Recht darauf hin, dass diese Schlagworte nicht genügend berücksichtigen, inwieweit die neuen Elemente der Gesellschaftsstruktur auf der Grundlage der industriellen Errungenschaften aufbauen. Insofern überzeichnen sie die Dramatik des Wandels, aber ohne Zweifel beginnen sich überall die Beziehungen zwischen den wohlfahrtsstaatlichen Sicherungen und der Arbeitswelt zu lösen, die als zentrales Erbe der Industriegesellschaft für den Wohlfahrtsstaat betrachtet werden können (vgl. Alber 2002). Die sozialen Dienste spielen in dieser Hinsicht eine Pionierrolle, auch deshalb, weil sie niemals eng mit den Erwerbsstrukturen verbunden waren. Insofern könnten die Sicherungsformen, die sich heute in diesem Bereich ausprägen, durchaus modellgebend für andere Bereiche des Wohlfahrtsstaates sein. Wie Kaufmann in seiner Theorie des Wohlfahrtsstaates (1999; 2001) betont, hängen soziale Dienste sehr viel mehr mit dem Wandel von Familienstrukturen, der Rolle der Familie in der Gesellschaft und assoziativen Strukturen zusammen als mit der Arbeitswelt. Die Rolle des Staates war deshalb in diesem Bereich von vornherein anders beschaffen als in der sozialen Sicherung. Nicht Klassenkonflikte und Statussicherung, sondern Kooperation zwischen Akteuren und das Ziel der Gleichheit haben die sozialen Dienste langfristig geprägt. Auf dieser Grundlage könnte es dem Wohlfahrtsstaat gelingen, eine neue institutionelle Basis für das gegenwärtige Jahrhundert zu finden.
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Einleitung Soziale Dienste sind ein heterogener und organisatorisch vielfach differenzierter Bereich des Wohlfahrtsstaates. Sie haben weder einen gemeinsamen historischen Ursprung noch sind sie institutionell in hohem Maße integriert. Einige Bereiche wie die Armen- und Altenpflege in stationären Einrichtungen haben zwar eine lange Geschichte, die in die Zeit vor Beginn der sozialen Sicherungssysteme in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zurückreicht, andere Dienste wie die ambulante Altenpflege oder die Erziehungsberatung sind dagegen neueren Datums und wurden vielfach erst seit den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts institutionalisiert. Insgesamt hat sich das Feld der sozialen Dienste seither erweitert und differenziert. Im Vergleich dazu haben sich die monetären Sozialleistungen kontinuierlicher und im Rahmen einer zunehmenden organisatorischen Integration entwickelt. Das Wachstum der Kernbereiche des Wohlfahrtsstaates war an eine Standardisierung von Risiken, Lebensläufen und Leistungssystemen geknüpft, soziale Dienste blieben hingegen bis in die 1960er Jahre hinein bis auf wenige Ausnahmen wenig standardisiert und institutionell schwach integriert (vgl. Braun und Johne 1993; Johne 1993). Die geringere institutionelle Integration sozialer Dienste zeigt sich vor allem darin, dass sich bis vor kurzem keine zentralen Institutionen herausgebildet haben, die den Rentenoder Gesundheitssystemen vergleichbar gewesen wären. Soziale Dienste wurden und werden innerhalb verschiedener Institutionen des Wohlfahrtsstaates erbracht. Die Zuordnung einzelner sozialer Dienstleistungen zu bestimmten Institutionen lässt sich dabei meist nicht systematisch, sondern historisch erklären. Von größter Bedeutung sind hierbei drei Bereiche des Wohlfahrtsstaates: das Armenwesen, das Gesundheitssystem und der Bildungsbereich. Die älteren Formen sozialer Dienste entstanden in diesen drei Bereichen. Daneben entwickelte sich in den meisten Ländern ein kommunales System vielfältiger sozialer Dienstleistungen, die aber lediglich durch ihre lokale Verankerung miteinander verbunden waren. Dies war der historische Kern der modernen Sozialarbeit mit ihrem multifunktionalen Dienstleistungsangebot. Im Rahmen des städtischen Armenwesens entstanden die ersten stationären und ambulanten Einrichtungen zur Betreuung und Pflege bedürftiger Personen, insbesondere Alter und Kranker. Im Zuge der Entwicklung öffentlicher Gesundheitssysteme und staatlicher Krankenversicherungen entstand ein spezialisierter Bereich von Diensten, der auf breite Kreise der Bevölkerung ausgedehnt wurde. Vielfach übernahmen die Einrichtungen des Gesundheitssystems Pflege- und Betreuungsaufgaben für alte, behinderte und kranke Menschen. Die Betreuung von Kindern war in den meisten Ländern zunächst als Teil der Armenfürsorge im Bereich lokaler Sozialpolitik angesiedelt. Doch mit Einführung der Schulpflicht und der Entwicklung staatlicher Bildungssysteme entstanden in einigen Ländern Vorschulen, die dem Bildungsbereich zugeordnet wurden. Andere Länder bauten ihre Einrichtungen innerhalb des kommunalen Sozialwesens aus und schufen damit die Grundlage für die heutigen, vielfach differenzierten lokalen Dienste.
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Von Anfang an spielten die Gemeinden in den meisten Ländern eine zentrale Rolle für soziale Dienstleistungen. Auch hier finden sich Parallelen zu den Anfängen der heutigen sozialen Sicherungssysteme. Vielfach waren Kranken-, Sterbe- und Pensionsversicherungen sowie die Arbeitslosenversicherung zunächst auf kommunaler (oder genossenschaftlicher) Basis eingeführt worden, bevor sie durch den Wohlfahrtsstaat national vereinheitlicht wurden. Eine solche Entwicklung zu wohlfahrtsstaatlicher Zentralisierung blieb im Bereich sozialer Dienste allerdings aus. Eine weitere historische Parallele zwischen sozialen Diensten und den sozialen Sicherungssystemen findet sich in der ursprünglich freiwilligen, nichtstaatlichen Organisation dieser Leistungen. Während im Bereich sozialer Sicherheit neben den Kommunen vor allem Arbeitgeber und Gewerkschaften aktiv waren, waren es im Bereich sozialer Dienste neben den Kommunen vor allem die Kirchen sowie religiös und philanthropisch motivierte Gruppen und Organisationen. Die soziale Sicherheit wurde jedoch in den meisten Ländern im Zuge der Ausdehnung des Wohlfahrtsstaates ‚verstaatlicht’, während die sozialen Dienste weit mehr durch nichtöffentliche Träger und freiwillig erbrachte Leistungen geprägt blieben. Im Gegensatz zur sozialen Sicherheit blieben also im Bereich sozialer Dienste – mit den wichtigen Ausnahmen von Bildung und Gesundheit – dezentrale und vorstaatliche Strukturen und Akteure lange Zeit maßgebend. Dies sind auch die wesentlichen Gründe dafür, weshalb der Grad der Institutionalisierung sozialer Dienste deutlich geringer entwickelt war. Der Wohlfahrtsstaat griff in diesen Bereich weniger und später ein als in die (monetäre) Sicherung der Lebensrisiken Alter, Unfall, Krankheit und Arbeitslosigkeit. Soziale Dienste sind in verschiedenen Ländern in unterschiedlichen institutionellen Kontexten angesiedelt. Zudem sind sie häufig nicht-staatlich organisiert, unterliegen aber meist in irgendeiner Form staatlicher Regulierung und Kontrolle. Daraus ergeben sich für die Definition sozialer Dienste in einer vergleichenden Untersuchung zwei Schlussfolgerungen: sie muss zum einen von sozialen Diensten als sozialen Handlungen ausgehen, die in unterschiedlichen institutionellen und organisatorischen Kontexten verankert sein können; zum andern muss sie den Wohlfahrtsstaat im Kontext eines komplexen Feldes sozialer Beziehungen betrachten, in dem verschiedene staatliche und nicht-staatliche Akteure interagieren. Nur in Verbindung dieser beiden Perspektiven lässt sich die Institutionalisierung sozialer Dienste im Ländervergleich erforschen.
Elemente einer soziologischen Definition sozialer Dienste Soziale Dienste werden deshalb in dieser Arbeit als soziale Dienstleistungen verstanden, die einen bestimmten Typ sozialer Handlungen bilden und im Rahmen verschiedener institutioneller und organisatorischer Kontexte in spezifischer Art und Weise erbracht werden. Soziale Dienstleistungen sind primär soziale Handlungen, die durch bestimmte gemeinsame Merkmale gekennzeichnet sind. Als soziale Dienstleistungen sollen im folgenden solche sozialen Handlungen gelten, die als persönliche Dienstleistungen im Rahmen institutionalisierter sozialer Beziehungen zu dem Zweck erbracht werden, die soziale Handlungskompetenz der Leistungsempfänger zu erhalten, zu verbessern oder diese im Falle einer dauerhaften Einschränkung durch geeignete Handlungen zu kompensieren. Diese Definition enthält drei Elemente, die einer Erläuterung bedürfen. Zunächst gehören die sozialen Dienste zur Untergruppe von Dienstleistungen, die man als persönliche Dienstleistungen bezeichnet. Es
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handelt sich also um Dienstleistungen am Menschen, die in direkter sozialer Interaktion zwischen Anbieter und Empfänger der Leistung erbracht werden (vgl. Badura und Gross 1976; Bauer 2001; Kaufmann 2001). Zum zweiten sind soziale Dienste in dem Sinne institutionalisiert, weil sie von einer dritten Partei, in der Regel einer öffentlichen Instanz, geregelt sind und somit im Rahmen einer sozialen Beziehung dauerhaft erbracht werden. Drittens schließlich sind soziale Dienste im Unterschied zu medizinischen oder ausbildenden Dienstleistungen durch ihr spezifisches Ziel definiert, das darin besteht, die soziale Handlungskompetenz des Dienstleistungsempfängers zu stärken oder in gewissem Maße zu kompensieren, wenn diese dauerhaft beeinträchtigt ist. Zur sozialen Handlungskompetenz können all diejenigen Fähigkeiten gezählt werden, die eine Person im Rahmen eines bestimmten sozialen Umfeldes dazu befähigen, als vollwertiges Mitglied einer Gesellschaft gelten und handeln zu können. Von zentraler Bedeutung ist dabei, dass die betreffende Person auch dazu in der Lage sein muss, diese Handlungskompetenzen tatsächlich umzusetzen. Soziale Dienste können also sowohl auf die Verbesserung von Handlungskompetenzen als auch auf eine Unterstützung ihrer Umsetzung im Alltag gerichtet sein. Diese drei Definitionselemente sollen im folgenden näher erläutert werden. Das erste Element reiht soziale Dienstleistungen in die Gruppe der persönlichen Dienstleistungen ein. Darunter sind Dienstleistungen zu verstehen, die am Menschen erbracht werden, im Unterschied zu Dienstleistungen, die für die Produktion und Verteilung von Gütern oder an sachlichen Objekten durchgeführt werden. Eine soziale Dienstleistung, wie die Pflege eines Menschen, unterscheidet sich darin zum Beispiel von Forschung und Entwicklung, Finanzdienstleistungen, Transport von Gütern oder Reinigen eines Gebäudes. Wesentliches Merkmal sozialer Dienstleistungen ist somit die unmittelbare Interaktion zwischen Erbringer und Empfänger der Leistung. Jedoch gehören in diesem Sinne auch Dienstleistungen wie Haare schneiden oder Prostitution zu den persönlichen Dienstleistungen, obwohl sie in den meisten Fällen sicherlich nicht als soziale Dienstleistungen gelten können. Deshalb müssen die sozialen Dienste aus der Gesamtheit der persönlichen Dienstleistungen durch weitere Merkmale spezifiziert werden (vgl. Badura und Gross, 1976). Zweites Element der Definition ist die Institutionalisierung der sozialen Dienstleistungen in einer sozialen Beziehung, die in der Regel durch eine dritte Partei neben dem Erbringer und dem Empfänger der Dienstleistung erfolgt. Eine solche Institutionalisierung setzt ein gewisses öffentliches Interesse an der Dienstleistung voraus, die durch verschiedene Instanzen wahrgenommen werden kann. Im historischen Rückblick waren dies meist die Kirchen, die Kommunen, philanthropische Vereinigungen und schließlich der moderne Wohlfahrtsstaat. Institutionalisierung impliziert ihrerseits eine gewisse Regelmäßigkeit und Dauerhaftigkeit der Dienstleistungserbringung, setzt also an bestimmten strukturellen Risiken und Problemlagen an, die über situationsbedingte individuelle Bedürfnisse hinausgehen. Öffentliches Interesse, Regulierung und Dauerhaftigkeit unterscheiden die meisten sozialen Dienste von persönlichen Dienstleistungen wie Haare schneiden oder Prostitution. Jedoch können diese in einem bestimmten sozialen Kontext durchaus Elemente einer sozialen Dienstleistungsbeziehung sein, etwa wenn die Haare im Rahmen einer umfassenderen häuslichen Pflege geschnitten werden oder „Liebesdienste“ als Teil einer sozialpädagogischen Maßnahme eingesetzt werden. Deshalb kann dieses Kriterium nur eine gewisse Familienähnlichkeit sozialer Dienste sicherstellen; es ist in jedem Fall darauf zu achten, in welchem sozialen Kontext eine bestimmte ‚einzelne’ Dienstleistung erbracht wird und mit welchem Ziel dies geschieht.
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Ziel und Zweck sozialer Dienste sind das dritte Definitionskriterium. In die Gruppe öffentlich institutionalisierter persönlicher Dienstleistungen fallen nämlich mit Sicherheit auch zwei Kernbereiche des Wohlfahrtsstaates: das Bildungs- und das Gesundheitswesen. Es ist der Sinn und der Zweck des Handelns, der die sozialen Dienste von diesen unterscheidet. Der zentrale Sinn des Bildungssystems besteht darin, individuelles und kollektives Humankapital zu bilden und individuelle Lebenschancen zu verteilen. Im Mittelpunkt steht die Vermittlung kognitiver Fähigkeiten und kulturell spezifischen Wissens. Das Gesundheitssystem bezieht sich primär auf die physische Beschaffenheit des Menschen und seine körperlich-geistige Funktionalität. Soziale Dienste beziehen sich dagegen primär auf die persönlich-soziale Rolle eines Menschen in der Gesellschaft. Diese Unterscheidung schließt selbstverständlich nicht aus, dass es soziale Dienstleistungen gibt, die im Bildungs- oder Gesundheitswesen erbracht werden oder umgekehrt; vielmehr ist gerade das ein wesentliches Faktum in der historischen Entwicklung sozialer Dienste. Genauso wenig soll diese Unterscheidung bedeuten, dass es im Einzelfall stets eine klare faktische Trennung von zum Beispiel Gesundheits- und sozialen Diensten gibt. In manchen Bereichen, wie der häuslichen Pflege, ist gerade das Gegenteil der Fall. Hier werden in der Regel (einfache) medizinische und soziale Dienstleistungen zusammen erbracht. Dennoch lassen sich soziale Dienste als bestimmte soziale Handlungen in den meisten Fällen sehr gut ihrem Sinn nach von ausbildenden und medizinischen Dienstleistungen unterscheiden.
Funktionale Abgrenzung sozialer Dienste In keinem Land bilden soziale Dienste eine institutionelle Einheit. Das Feld der sozialen Dienste ist vielfach differenziert, seine Ränder fließen in andere institutionelle Bereiche des Wohlfahrtsstaates hinein. Da die „internen“ Differenzierungslinien und institutionellen Überlappungen mit anderen Bereichen außerdem von Land zu Land variieren, muss der internationale Vergleich zunächst inhaltlich definierte Kriterien sozialer Dienste festlegen, bevor die institutionellen Formen im einzelnen untersucht werden. In dieser Arbeit stehen soziale Dienste für Kinder und alte Menschen im Mittelpunkt (vgl. Tabelle 1). Die Tabelle unterscheidet soziale Dienste zunächst nach ihrer primären Funktion, die den Inhalt der Dienstleistung bestimmt (Zeilen), und zweitens nach dem Ort ihrer Erbringung (Spalten). Die Kernfunktionen sozialer Dienste sind Pflegen, Betreuen und Unterstützen beziehungsweise Hilfen zur Bewältigung des Alltags (vgl. Kahn und Kamerman 1976; Munday 1992; Munday und Ely 1995). Hierzu gehören Dienste zur Unterstützung der Haushaltsführung, der Mobilität und der Sicherstellung der Verpflegung. Größere und von Land zu Land variierende Überschneidungen mit anderen Bereichen des Wohlfahrtsstaates gibt es bei den anderen in Übersicht 1 enthaltenen inhaltlichen Funktionen sozialer Dienste. Heilen und Pflegen überschneiden sich mit den Einrichtungen des Gesundheitswesens. Solche Dienste wurden und werden zum großen Teil noch heute im Gesundheitswesen erbracht. Dienste mit ausgeprägtem Wohncharakter überschneiden und verbinden sich mit der jeweiligen Wohnungspolitik, zum Beispiel im sozialen Wohnungsbau oder der Wohnungsbauförderung. Die Funktion Erziehung ist größtenteils im Bildungswesen angesiedelt, bei Kindern im Vorschulalter gibt es jedoch große Überschneidungen mit sozialen Einrichtungen. In einigen Ländern sind Erziehungs- und Betreuungsfunktion in dieser Altersgruppe kaum auseinander zu halten. In zweiter Linie kann man soziale Dienste nach dem Ort
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ihrer Erbringung differenzieren. Hierbei ist zwischen stationären und teilstationären Einrichtungen, Tageseinrichtungen und ambulanten Diensten zu unterscheiden. Nicht in dieser Übersicht erfasst sind soziale Dienste, die weniger stark standardisiert sind und/oder nicht an einen festen Ort gebunden sind. Dazu gehört in erster Linie die klassische „multifunktionale“ und „offene“ Sozialarbeit, die von ihrem Grundverständnis her weder auf bestimmte Funktionen spezialisiert ist noch regelmäßig an einem festgelegten Ort stattfindet. Tabelle 1: Typologie sozialer Dienste Funktion
Stationär
Teilstationär
Tageseinrichtung
Ambulant
Heilen
Krankenhaus
Offene Psychiatrie
Pflegen Wohnen
Pflegeheim Altenheim Kinderheim
Dialysezentren Krebszentren Tagespflege -
Betreuen
Hospize
Erziehen
Erziehungsheim
Beraten Haushalt
(enthalten)
Nachtpflege Betreutes Wohnen Wohngemeinschaften Obdachlosenunterkunft Urlaubsbetreuung Altenzentren Behindertenzentren Kinderkrippe Offene Jugendheime Vorschule, Kindergarten Beratungszentren (zum Teil enthalten) -
Medizinischer Dienst Pflege -
Mobilität
-
-
Verpflegung (enthalten)
(zum Teil enthalten)
Ausflugsdienste Spazierdienste Suppenküchen Kantinen
Tagesmütter Betreuer Erzieher Beratung zuhause Haushaltshilfen: - Putzhilfen - Wäsche - Einkaufshilfen - Kochdienste Fahrdienste Essen auf Rädern
Anmerkung: Hinzu kommen „unstandardisierte“ Dienste wie Sozialarbeit etc. Einzelfallbezogene Hilfen in besondern Lagen ohne feste örtliche Zuordnung, z.B. Stadtteilarbeit, Jugendarbeit, Hilfe für Strafentlassene, Drogenopfer etc. Kursivschrift: in allen EU-Ländern anzutreffende Dienste für Alte und Kinder (Kerneinrichtungen dieser Studie). (Quelle: Pacolet 2000). Hinzu kommt Differenzierung nach Zielgruppen, institutionellen Nachbarbereichen etc.
Soziale Dienste für ältere Menschen finden sich mit Ausnahme des Feldes der Erziehung in allen Bereichen, konzentrieren sich jedoch in funktionaler Hinsicht auf die Bereiche Pflegen, Wohnen und unterstützende Dienste. Hinsichtlich des Ortes der Erbringung konzentrieren sich soziale Dienste für ältere Menschen auf den stationären und den ambulanten Bereich, während teilstationäre Angebote und Tageseinrichtungen lediglich ergänzenden Charakter haben und nicht in allen Ländern in großem Umfang anzutreffen sind. Zentrale Institutionen sind somit einerseits Pflege- und Altenheime, andererseits ambulante Pflegedienste und Haushaltshilfen verschiedener Art einschließlich Essen auf Rädern. Diese Einrichtungen finden sich in allen Ländern der EU (vgl. Schulte 1996).
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Zwar ist das Feld der Altenhilfe nicht in allen Ländern institutionell integriert, aber es lassen sich doch drei allgemeine Entwicklungen beobachten. Zunächst findet eine zunehmende funktionale Trennung zwischen Gesundheits- und Sozialwesen statt. Wurde die stationäre Altenpflege bis vor kurzem noch häufig in Krankenhäusern erbracht, wird sie seit einigen Jahren zunehmend in spezielle Pflege- und in Altenheime ausgelagert. Innerhalb des Gesundheitswesens bilden sich zugleich immer mehr spezialisierte geriatrische Zentren und Abteilungen heraus, die jedoch keine dauerhaften Pflegedienste erbringen. Man kann also von einer zunehmenden funktionalen Spezialisierung des Gesundheitswesens auf den Aspekt der Heilung und einer entsprechenden Integration der Pflege in den sozialen Bereich sprechen. Zugleich wird der Sozialbereich stärker verknüpft: Pflege, Wohnen und Betreuung werden miteinander verbunden und institutionell integriert. Die zweite wesentliche Entwicklung betrifft den starken Ausbau der ambulanten und unterstützenden sozialen Dienste für ältere Menschen, ein Feld, das gegenüber dem stationären Sektor in vielen Ländern lange Zeit unterentwickelt war. Ambulante Pflegedienste und Haushaltshilfen haben in den letzten Jahren einen deutlichen Aufschwung genommen (vgl. Alber und Schölkopf 1999; Alber, Guillemard und Walker 1993). Zunehmend werden diese Dienste auch mit stationären und teilstationären Dienstleistungsformen verzahnt. Neben der funktionalen Spezialisierung findet somit auch eine größere institutionelle Integration des Bereichs der Altenhilfe statt. Hinzu kommt eine dritte wichtige Entwicklung: die Herausbildung meist neuerer Formen der Kurzzeit- und Tagespflege sowie neuer Formen des betreuten Wohnens, in denen Betreuung und Pflege sowie zahlreiche unterstützende Dienstleistungen flexibel integriert sind. Dies könnte man als eine zunehmende Binnendifferenzierung des Feldes der sozialen Dienste für ältere Menschen beschreiben. Zwar gibt es nach wie vor große Unterschiede zwischen den westeuropäischen Ländern, aber der allgemeine Trend geht deutlich in Richtung auf eine zunehmende funktionale Spezialisierung, eine größere institutionelle Integration und eine wachsende Binnendifferenzierung der sozialen Dienste für ältere Menschen. Vorangetrieben wird dieser Prozess durch neue Formen wohlfahrtsstaatlicher Finanzierung und Steuerung sozialer Dienste (siehe Kapitel 3, 4 und 5). Soziale Dienste für Kinder konzentrieren sich auf die funktionalen Bereiche Betreuen und Erziehen, in Einzelfällen ergänzt um Wohnen und Unterbringung. Diese Funktionen werden zumeist in Tageseinrichtungen erbracht, in manchen Ländern finden sich auch in stärkerem Maße ambulante Formen der Dienstleistungserbringung. Die zentralen Institutionen sind hier Kinderkrippen, Vorschulen und Kindergärten, die in ähnlicher Form in allen EU-Ländern anzutreffen sind (vgl. European Commission 1996). Tagesmütter und häusliche Betreuungsdienste sind hingegen nur in einigen Ländern fest institutionalisiert und wohlfahrtsstaatlich finanziert, während sie auf dem grauen Markt natürlich überall anzutreffen sind. In besonderen Fällen treten Kinderheime und zum Beispiel Unterbringung in Pflegefamilien hinzu, dies betrifft jedoch nur eine kleine Minderheit und besondere Gruppe von Kindern. Darüber hinaus findet sich in den meisten Ländern ein Netz von Beratungseinrichtungen, die sich vor allem an Eltern von Kindern mit sozialen und psychologischen Problemen richten. Ein Grossteil der sozialen Dienste für Kinder und Jugendliche wird außerdem im Rahmen der klassischen Sozialarbeit erbracht, die als übergreifende, stark auf individuelle Bedürfnisse zugeschnittene Form sozialer Dienste nicht zum Kern unserer Analyse hoch standardisierter sozialer Dienste gehört. Auch im Bereich der sozialen Dienste für Kinder lassen sich drei zentrale Entwicklungen beobachten, die zu einer stärkeren Institutionalisierung dieses Feldes beitragen. Zum
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einen werden die Grenzen zwischen den verschiedenen Einrichtungsformen durchlässiger; Betreuungs- und Erziehungsaspekte vermischen sich stärker unter der Überschrift „Sozialisation“. So sind zwar Vorschulen in einigen Ländern immer noch stärker durch erzieherische Elemente geprägt, mit der verbreiteten Öffnung dieser Einrichtungen für Kinder unter vier und teilweise sogar unter drei Jahren finden jedoch auch spielerische und betreuende Aspekte zunehmend Eingang in diese Einrichtungen. Umgekehrt finden sich zum Beispiel in Kindergärten auch zunehmend Elemente, die einer besseren Vorbereitung auf die Schule dienen und den ursprünglich eher auf Spiel ausgerichteten Charakter dieser Einrichtungen durch erzieherische und „bildende“ Funktionen ergänzen. Von zentraler Bedeutung ist jedoch ein ganz anderer, übergreifender und sozusagen gesellschaftspolitischer Aspekt dieser Einrichtungen, der zunehmend in den Mittelpunkt rückt: das Problem der sozialen Integration von Kindern in die Gesellschaft. Zu dieser Entwicklung haben vor allem drei sozialstrukturelle Veränderungen wesentlich beigetragen. Familien verlieren zunehmend ihre soziale Bindekraft und müssen daher durch andere Sozialisationsinstanzen ergänzt werden. Hinzu kommt, dass immer mehr Kinder in einer Umgebung ohne gleichaltrige Kinder aufwachsen, sei es als Einzelkinder oder sei es in Wohngegenden, in denen Kontakt zu Gleichaltrigen schwieriger wird. Kindergärten und Vorschulen erfüllen somit in immer größerem Ausmaß die wichtige Funktion, Kinder unter ihresgleichen zu sozialisieren und sie aus einer zu engen Bindung an Erwachsene zu lösen. Die dritte sozialstrukturelle Veränderung, welche die Sozialisation von Kindern im Vorschulalter immer stärker zu einer gesellschaftspolitischen Aufgabe ersten Ranges erhoben hat, ist die Immigration. Die soziale Integration von Einwandererkindern ist eine wesentliche Aufgabe dieser Einrichtungen. In Frankreich zum Beispiel wird stets mit gewissem Stolz auf diesen Charakter der Vorschulen verwiesen. Die soziale Integration von Kindern im Vorschulalter, vor allem der Erwerb der französischen Sprache, gelingt tatsächlich recht gut, auch wenn die soziale Integration Jugendlicher aus anderen Gründen oft scheitert. Auch in Deutschland wird die Rolle der Kindergärten als wichtigen Einrichtungen der sozialen Integration von Minderheiten und Immigranten zunehmend betont. Zum Beispiel verlangt das Bundesland Hessen seit kurzem von Kindern ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache, bevor sie eingeschult werden können, eine Fähigkeit, die in vielen Immigrantenfamilien zumeist nur im Kindergarten erworben werden kann. Die zweite zentrale Entwicklung dieses Feldes betrifft den Ausbau von ambulanten Betreuungsdiensten, zum Beispiel Tagesmüttern, und ergänzenden sozialen Dienstleistungen, welche die Kernaufgaben und Kernstrukturen der bestehenden Einrichtungen der Tagesbetreuung in wichtigen Teilen ergänzen, zum Beispiel durch Betreuungsangebote außerhalb der Kernzeiten oder durch das Angebot einer warmen Mahlzeit. Alle diese Angebote zielen auf die Erfüllung einer dritten wesentlichen Funktion dieser Einrichtungen, die in den letzten Jahren ebenfalls stärker in den Mittelpunkt gerückt ist: die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Eltern von Kindern im Vorschulund Grundschulalter. Auch im Feld der sozialen Dienste für Kinder lässt sich somit eine zunehmende Binnendifferenzierung des Angebots und eine größere institutionelle Integration und Verzahnung der verschiedenen Angebote beobachten, deutliche Hinweise auf eine wachsende eigenständige Institutionalisierung dieses Bereichs. Allerdings ist dieses Feld zumeist (noch) weniger integriert als die Altenhilfe, weil wesentliche institutionelle Neuerungen, die über eine Rahmengesetzgebung wie im Kinder- und Jugendhilferecht hinausgehen würden, bisher nicht eingeführt wurden. Hier zeigt sich der Bereich der Altenhilfe als der in den letzten Jahren wesentlich innovativere Teil der sozialen Dienste.
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Organisation und soziale Kontrolle sozialer Dienste Die Akteure, die soziale Dienste erbringen und anbieten, lassen sich im wesentlichen vier verschiedenen Typen zuordnen: Familien (und andere Primärgruppen), freie Wohlfahrtsorganisationen (wozu auch Organisationen der Selbsthilfe von Klienten gehören), kommerzielle Anbieter (einschließlich der auf eigene Rechnung tätigen Selbständigen) und Gemeinden (und andere lokale Einrichtungen). Daneben kann der Wohlfahrtsstaat selbst Dienste vor Ort einrichten und durch eigenes Personal betreiben, was jedoch im Gegensatz zum Gesundheits- oder Bildungswesen selten der Fall ist . Die eigentliche Bedeutung des Wohlfahrtsstaates im Bereich sozialer Dienste liegt in seiner Rolle als Finanzierungs-, Regelungs- und Kontrollinstanz begründet, womit er ein öffentliches System sozialer Dienste überhaupt erst schafft und institutionalisiert. Informelle Hilfe und Unterstützung in der Familie geschieht von jeher, ohne dass man von Institutionalisierung sprechen könnte. Genauso boten die freien Wohlfahrtsorganisationen zahlreiche Hilfen an, die zunächst durch keine öffentliche Regulierung erfasst waren. Auch einen kommerziellen Markt für bestimmte Dienstleistungen hat es wohl zu allen Zeiten gegeben. Von einer Institutionalisierung im hier gemeinten Sinn kann man jedoch erst sprechen, wenn es in einem bestimmten Bereich sozialer Dienste zu einer gewissen Integration der Akteure und zu einer Regelung ihrer Beziehungen untereinander sowie ihres Verhältnisses zu den Klienten gekommen ist. Dies geschieht in der Regel durch wohlfahrtsstaatliche Interventionen, die allerdings verschiedene Ansatzpunkte haben können. In dieser Hinsicht besitzt der Wohlfahrtsstaat zwei konstitutive Merkmale: er greift in die gesellschaftliche Wohlfahrtsproduktion und deren Verteilung ein und schafft soziale Rechte für bestimmte Bevölkerungsgruppen. Ausgehend von Tabelle 1 kann man den verschiedenen Akteuren idealtypische Aktivitätsprofile zuordnen, die jedoch je nach den institutionellen Gegebenheiten von Land zu Land variieren können. Die Familie findet ihr klassisches Betätigungsfeld im Kern sozialer Dienste, im Wohnen, Pflegen und Betreuen von Familienangehörigen. Heilen und Erziehen sind dagegen Handlungsfelder, deren Nähe zum Gesundheits- und zum Sozialwesen einem größeren Einfluss außerfamiliärer, zumeist professioneller Anbieter unterliegen. Hier spielt auch der öffentliche Sektor eine wichtige Rolle. Beratung und die in Tabelle 1 nicht erfasste klassische Sozialarbeit finden dagegen prinzipiell außerhalb von Familien statt. Die Angebote der anderen Akteure kann man nun modellhaft als Unterstützung oder als teilweise oder vollständige Ersetzung von normalerweise in der Familie erbrachten Diensten auffassen. Dies kann man zum einen als einen dynamischen Vorgang in Stufen betrachten, in dem zunächst ambulante und teilstationäre Angebote greifen und am Ende stationäre Einrichtungen stehen. In dieser Vorstellung wird die Familie also sozusagen schrittweise „entlastet“. Zum andern können diese Angebote auch als Formen betrachtet werden, welche die familiären Dienstleistungen von Anfang an begleiten, unterstützen oder ersetzen können. Nimmt man die Vorstellung von einem stufenförmig ablaufenden Prozess zum Ausgangspunkt, stehen neben der Familie zunächst die ambulanten Dienste im Vordergrund, welche die Familien zuhause bei der Erfüllung ihrer Aufgaben unterstützen. Der Blick auf die historische Entwicklung zeigt jedoch, dass diese Vorstellung einer idealtypischen Stufenfolge sozialer Dienste, die sich am individuellen Lebenslauf orientiert, keinesfalls der Wirklichkeit entspricht. Denn lange bevor ambulante Dienste in nennenswertem Umfang aufgebaut wurden, gab es stationäre Einrichtungen wie Anstalten und Heime, die alte, kranke und
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behinderte Menschen aufnahmen und versorgten. Die Geschichte sozialer Dienste war somit zunächst vor allem eine Geschichte des Aufbaus von geschlossenen Institutionen. Das Stufenmodell kommt jedoch den heutigen Vorstellungen von einer adäquaten Versorgung mit sozialen Diensten sehr nahe und repräsentiert somit das heute in den meisten Ländern gültige Paradigma. Ihrer Funktionslogik nach müssen ambulante soziale Dienste zur Unterstützung der Familie stets auf lokaler Ebene, ja auf einer relativ kleinräumigen Basis, angeboten und organisiert werden. Sie setzen somit eine lokale Präsenz der jeweiligen Anbieter voraus. Deshalb können die Gemeinden zunächst als idealtypischer Erbringer dieser Art von Sozialdiensten betrachtet werden, zu denen vor allem die ambulante Pflege und die vielfältigen unterstützenden Haushaltshilfen gehören. Die Gemeinden können als einzige lokale Akteure eine ausreichende Infrastruktur dieser Dienste sicherstellen. Daneben können freie Vereinigungen eine große Rolle spielen, sofern sie eine starke lokale Präsenz ausgebildet haben und somit zumindest regional an die Seite der Gemeinden treten können. Kommerzielle Anbieter werden in diesem Dienstleistungssegment so lange keine wichtige Rolle spielen, so lange die Finanzierung dieser Dienste nicht gesichert ist. Der lokale Markt einfacher sozialer Dienste ist großen Restriktionen unterworfen, nur wenige Angebote sind tatsächlich im kommerziellen Sinn „marktfähig“ und somit interessant für gewinnorientierte Anbieter. Eine Ausnahme bilden natürlich von jeher die kleinen, selbständig tätigen Haushaltshilfen und Tagesmütter, die sich auf dem meist grauen Markt für haushaltsnahe Dienstleistungen tummeln. Diese können jedoch nicht zum Kern des bestimmten Regeln unterworfenen institutionalisierten sozialen Dienstleistungssystems gerechnet werden, sondern bilden vielmehr dessen „graue“ Alternative und Ergänzung. Im Gegensatz zu den haushaltsnahen ambulanten sozialen Diensten setzt der Betrieb von Tageseinrichtungen und teilstationären Angeboten ein größeres Kapital und entsprechende Investitionen voraus. Das Angebot erfolgt auch nicht so kleinräumig wie im Fall der ambulanten Dienste. Zwar überwiegt auch in diesem Segment noch die Bedeutung der lokalen Ebene, ist jedoch nicht mehr so ausgeprägt wie bei den ambulanten Diensten. Dabei muss man sicherlich zwischen den verschiedenen Zielgruppen unterscheiden. Einrichtungen für Kinder werden stärker dezentralisiert sein als Angebote für ältere Menschen, und diese wiederum stärker als Einrichtungen für Behinderte. Dennoch setzen alle diese Einrichtungen voraus, dass sie von den Klienten bequem und kostengünstig erreicht werden können. Auch hier spielen somit die Städte und Gemeinden eine wichtige Rolle, aber andere Akteure treten hinzu. Zunächst die über den Gemeinden angesiedelten Gebietskörperschaften wie Kreise, départements oder counties, die eine etwas weiträumigere Versorgung mit entsprechenden Einrichtungen garantieren können. Außerdem finden hier unter Umständen freie und kommerzielle Anbieter ein Betätigungsfeld, sofern sie über eine ausreichende Kapitalbasis verfügen und bestimmte Produkte „marktfähig“ sind. Dies trifft für bestimmte Bereiche sicherlich zu. Insbesondere Kinderbetreuung für die arbeitende Mittelschicht kann für kommerzielle Anbieter durchaus lukrativ sein. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die entsprechenden subventionierten Angebote freier und öffentlicher Träger den Markt nicht von vornherein stark einschränken und unattraktiv machen. Da Tageszentren und teilstationäre Einrichtungen in vielen Fällen für die Betroffenen und ihre Familien keinen unausweichlichen Bedarf decken, sondern lediglich eine wichtige Ergänzung zu häuslichen und/oder stationären Angeboten liefern, werden diese auch nicht bereit sein, in jedem Fall kostendeckende Preise zu bezahlen. Dieses Segment, das sicherlich für die Dienstleistungsversorgung insgesamt von zunehmender Bedeutung ist, lebt also zum gro-
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ßen Teil von öffentlicher Subventionierung und ist deshalb für freie und/oder kommerzielle Anbieter nur dann interessant, wenn sie öffentliche Mittel erhalten und somit selbst zu Bestandteilen des öffentlichen Systems werden. Anders verhält es sich mit den stationären Angeboten. Diese gehören historisch betrachtet zum Kern des öffentlichen Dienstleistungssystems, waren aber auch von jeher für kommerzielle Anbieter besonders interessant. Dies liegt an drei Eigenschaften dieses Segments, die es deutlich von anderen Angeboten unterscheiden. Zunächst ist der Versorgungsbereich eher regional denn lokal, was die Rolle der Gemeinden von vornherein begrenzt. Staat und Länder spielen hier eine schon aus funktionalen Gesichtspunkten einleuchtende größere Rolle. Zum zweiten erfordern diese Angebote einen erheblichen Kapitalbedarf für Investitionen und erzeugen ebenfalls zumeist hohe Betriebskosten. Hinzu kommt eine zunehmende Professionalisierung, mit der die Schaffung eines relativ kontinuierlichen Personalbestands mit tariflicher Bezahlung zusammenhängt. In vielen Tageseinrichtungen, mit Ausnahme der Vorschulen, spielen zum Beispiel Aushilfskräfte oder ehrenamtlich tätige Personen eine wichtige Rolle; bei den häuslichen Diensten ist von einem erheblichen Anteil an ungelerntem Personal auf einem grauen Markt auszugehen. Stärkere Zentralisierung, Professionalisierung und erhöhter Kapitalbedarf prägen dagegen den stationären Sektor. Dieser wird in viel stärkerem Maße wie ein öffentlicher Betrieb oder wie ein kommerzielles Unternehmen geführt. Öffentliches Dienstrecht und unternehmerisches Handeln wirken auf diesen Sektor, der somit als die eigentliche Domäne öffentlicher oder kommerzieller Anbieter anzusehen ist. Freie Anbieter haben nur dann eine Chance, wenn sie öffentlich subventioniert werden oder mit einem qualitativ hochwertigen Angebot mit den kommerziellen Unternehmen mithalten können. Die Finanzierung des stationären Sektors verschlingt erhebliche Summen, die zum großen Teil durch staatliche Budgets und die Sozialversicherungen gedeckt werden. Hinzu treten private Ausgaben der Klienten in erheblichem Ausmaß. Diese Strukturmerkmale und der durch die stationäre Unterbringung bedingte dauerhafte Bedarf an Dienstleitungen seitens der Klienten macht dieses Segment für kommerzielle Anbieter besonders attraktiv. Die zumeist fest institutionalisierte Finanzierung und die Kontinuität der Dienstleistung bilden eine ideale Kalkulationsgrundlage für das eingebachte Kapital. Kommerzielle Anbieter können somit sowohl auf einem durch öffentliche Finanzierung subventionierten Markt als auch auf einem überwiegend durch private Gelder finanzierten Markt ihre Organisationsvorteile nutzen und den Markt an wichtigen Stellen „besetzen“.
Der Wohlfahrtsstaat als Regulierungsinstanz Dieses idealtypische Tableau der Tätigkeitsprofile der verschiedenen Anbieter erfährt nun in jedem Land gewisse systematische Abweichungen, die durch die jeweilige Institutionalisierung des Feldes der sozialen Dienste durch den Wohlfahrtsstaat wesentlich beeinflusst werden. Es gilt also nun, die Einflussmöglichkeiten des Wohlfahrtsstaates zunächst analytisch herauszuarbeiten und dann in den drei Ländern unseres Vergleichs zu untersuchen. Die staatlichen Interventionen beziehen sich vor allem auf drei unterschiedliche Elemente: die Verteilung von Ressourcen, die Regelung von Handlungskompetenzen (Rechte und Pflichten) und die Festlegung von Inhalt und Umfang der sozialen Dienste als solchen. Dadurch bildet sich ein integriertes System heraus, in dem den einzelnen Akteuren bestimmte Rollen zugewiesen sind. Die sozialen Beziehungen zwischen den Akteuren und in
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bezug auf die Klienten werden auf diese Weise reguliert. Die Gemeinden erfüllen in dieser Perspektive sozusagen eine Doppelfunktion. Einerseits verkörpern sie als Teil des öffentlichen Sektors den Sozialstaat vor Ort, andererseits repräsentieren sie die Gesamtheit der lokalen Bevölkerung und nehmen deren Interessen wahr. Tatsächlich entstanden die ersten kommunalen sozialen Einrichtungen auf der Grundlage der Städte als lokalen Korporationen von Bürgern. Aus diesem Grund müssen die Städte und Gemeinden zwar als Teil des öffentlichen Sektors behandelt werden, zugleich aber sind sie nicht mit dem Wohlfahrtsstaat identisch. Im internationalen Vergleich variieren die Beziehungen zwischen Gemeinden und Zentralstaat erheblich, und gerade diese Variationen sind für die Institutionalisierung sozialer Dienste von großer Bedeutung. Die Vorstellung vom Wohlfahrtsstaat als einem von anderen gesellschaftlichen Institutionen klar abgegrenzten Bereich widerspricht der historischen Vielfalt wohlfahrtsstaatlicher Tätigkeit und Interventionen in die Gesellschaft. Soziale Aufgaben wurden zunächst meist von nicht-staatlichen Akteuren erfüllt. Interessant und analytisch fruchtbar ist deshalb nicht so sehr die Frage, welche Aufgaben vom Staat „übernommen“ wurden, sondern, wann, wie und mit welchen Zielsetzungen der Wohlfahrtsstaat in primär gesellschaftlich bestimmte institutionelle Arrangements interveniert hat. Der Wohlfahrtsstaat ist insofern kein von der Gesellschaft abgelöster und separater Sektor, sondern Teil der Institutionalisierung gesellschaftlicher Wohlfahrtsproduktion. Gerade im Bereich sozialer Dienste ist diese Perspektive analytisch fruchtbar. Aus soziologischer Sicht sind nicht so sehr staatliche Geldströme und Ausgaben für öffentliches Personal bedeutsam, sondern qualitative Eingriffe und durch staatliche Interventionen beeinflusste Formen der Institutionalisierung. Selbst in den klassischen Systemen der sozialen Sicherheit wurden die nicht-staatlichen Akteure nicht einfach durch staatliche Einrichtungen ersetzt, sondern vielmehr in zunehmend durch den Wohlfahrtsstaat bestimmte neue institutionelle Arrangements eingebunden. Dies gilt umso mehr für den Bereich der sozialen Dienste, in dem nicht-staatliche Akteure nach wie vor in großem Ausmaß tätig sind. Im internationalen Vergleich interessieren somit vor allem Ausmaß und Charakter der wohlfahrtsstaatlichen Institutionalisierung sozialer Dienste. Dabei rücken die verschiedenen Akteure in diesem Bereich und ihre Beziehungen zueinander in den Mittelpunkt der Analyse. Der Wohlfahrtsstaat muss sich im Feld sozialer Dienste stets mit nicht-staatlichen Akteuren und vor-staatlichen Formen der Institutionalisierung auseinandersetzen (vgl. Galper 1975). Umgekehrt prägt er jedoch in zunehmendem Maße die institutionellen Arrangements und ist somit eine gesellschaftsstrukturierende Kraft ersten Ranges. Dabei kann man zwischen verschiedenen Zielen und Mitteln wohlfahrtsstaatlicher Intervention unterscheiden. Zudem muss zwischen verschiedenen Akteuren und sozialen Beziehungen unterschieden werden, die zum Ansatzpunkt für wohlfahrtsstaatliche Regulierung werden können. Erst wenn man die Gesamtheit der institutionalisierten Beziehungen betrachtet, kann man auch entscheiden, in welche Richtung sich die wohlfahrtsstaatlichen Interventionen im Zuge der neueren Reformen entwickelt haben. Die Ziele wohlfahrtsstaatlicher Intervention lassen sich prinzipiell in inhaltlich-materialer und in prozessual-formaler Hinsicht voneinander unterscheiden. Inhaltlich-material stehen Sicherheit, Gleichheit und Daseinsvorsorge im Mittelpunkt wohlfahrtsstaatlicher Intervention. Die Ziele variieren jedoch von Land zu Land, über die Zeit und zwischen verschiedenen Bereichen. Prozessual-formal stehen Gerechtigkeit und Effizienz (equity und efficiency) sowie Zielgenauigkeit und Angemessenheit im Vordergrund. Auch hier gibt es Variationen und Zielkonflikte.
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Hinsichtlich der materialen Ziele bewegen sich die sozialen Sicherungssysteme zwischen Gleichheit und Sicherheit, soziale Dienste betonen dagegen eher die Zieldimensionen Gleichheit und Daseinsvorsorge. Dies hängt mit dem oben behandelten Grundcharakter sozialer Dienste als Hilfe und Unterstützung in allgemeinen, sozio-demographisch und biographisch bedingten Lebenslagen zusammen, während die sozialen Transfersysteme stärker an den typischen Risiken des Erwerbslebens ansetzen. Das Gesundheitswesen nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als es in vielen Ländern die Aspekte der medizinischen Versorgung und das Risiko des Erwerbseinkommensausfalls abdeckt. In Bezug auf die prozessualen Ziele stehen Fairness (equity) und Effizienz in einem Spannungsverhältnis zueinander. Effizienz des Mitteleinsatzes ist zwar das im Zuge des Umbaus der Sozialstaaten in den Vordergrund der öffentlichen Debatte gerückte Ziel, aber immer noch muss die Regulierung des Zugangs zu und die Verteilung der sozialen Dienste auf die verschiedenen Klienten als entscheidendes Kriterium einer sozialpolitischen und soziologischen Beurteilung der Systeme gelten. Equity ist also ein Kriterium, das sich auf die Allokation des Angebots auf verschiedene Nachfrager, die Klienten sozialer Dienste, bezieht; efficiency bezieht sich dagegen auf die Allokation von Ressourcen zur Erzeugung des Angebots, also auf die Akteure der Angebotsseite und die Verteilung der Ressourcen auf verschiedene Angebote. Daneben sind aus sozialpolitischer Perspektive Zielgenauigkeit und Angemessenheit sozialer Dienste hervorzuheben. Erstere bezieht sich auf die Allokation verschiedener Angebote auf bestimmte Bedarfslagen, die zweite auf die tatsächliche Wirksamkeit dieser Maßnahmen. Sozialpolitisch begründete Interventionen des Wohlfahrtsstaates verfolgen jedoch nicht nur unterschiedliche Ziele in materialer und prozessualer Hinsicht, sie unterscheiden sich auch erheblich in ihren Mitteln und Ansatzpunkten. Die Analyse von Mitteln und Handlungsansätzen führt zurück auf genuin soziologisches Terrain, denn hierin drückt sich der Charakter der durch den Wohlfahrtsstaat geleisteten Institutionalisierung eines sozialen Aufgabenbereiches am deutlichsten aus. Zunächst kann man verschiedene Interventionsformen wohlfahrtsstaatlicher Tätigkeit unterscheiden. Diese Unterscheidung setzt an den jeweils angewandten Mitteln und den dem Wohlfahrtsstaat zur Verfügung stehenden Handlungsressourcen an (vgl. Kaufmann 2002). Kaufmann unterscheidet zwischen einer ökonomischen, rechtlichen, moralischen und infrastrukturellen Interventionsform. Diese Unterscheidung ist faktisch niemals in Reinform anzutreffen, denn jegliche wohlfahrtsstaatliche Intervention beruht stets auf moralischen und infrastrukturellen Grundlagen, benötigt ökonomische Ressourcen und stützt sich auf rechtliche Mittel. Der Wohlfahrtsstaat muss seine Handlungen politisch und moralisch legitimieren. Hierzu benötigt er einen gewissen Apparat und finanzielle Mittel zu ihrer Durchsetzung und vollzieht sie in Form von Rechtsakten, welche die Rechte und Pflichten der beteiligten Akteure regeln. Insofern sind die Institutionen des Wohlfahrtsstaats mit den Sphären der Politik, der Bürokratie, der Wirtschaft und des Rechts aufs engste verflochten; der Wohlfahrtsstaat weist stets Elemente aus allen vier Bereichen auf, wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung. Die Interventionen beziehen sich dabei auf jeweils verschiedene Akteure und unterschiedliche Schwerpunkte ihrer sozialen Beziehungen. Im Hinblick auf soziale Dienste würde zum Beispiel die primär ökonomische Interventionsform finanzielle Ressourcen für diesen Sektor erschließen und auf die verschiedenen Akteure verteilen. Dabei kann es sich sowohl um die finanzielle Unterstützung von Familien als auch von kommunalen Sozialdiensten handeln. Die primär rechtliche Intervention würde an den institutionalisierten
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Rechten und Pflichten der Akteure und an bestimmen Aspekten ihrer sozialen Beziehungen ansetzen. Beispielsweise können die Pflichten von Familienangehörigen bedürftiger Personen erweitert oder eingeschränkt werden oder es können die Rechte von Klienten sozialer Dienste ausgebaut werden, sei es gegenüber den Anbietern oder im Verhältnis zum Staat. Die infrastrukturelle Form der Intervention würde zum Beispiel für ein öffentliches Angebot bestimmter Dienste sorgen, also in sehr direkter Form auf das System einwirken. Staatliche Infrastruktur ist im Bereich sozialer Dienste aber eher selten anzutreffen, dagegen typisch im Bildungs- und Gesundheitswesen. Im Bereich sozialer Dienste überwiegen indirekte Formen der sozialen Kontrolle, die sich auf ökonomische und rechtliche Interventionen stützen. Kaufmann (2002) nennt noch die pädagogische Interventionsform, die auf eine Veränderung von Zielen und Handlungsformen der Akteure durch direkte Beeinflussung gerichtet ist. Hierzu würden etwa die klassische, am Einzelfall orientierte Sozialarbeit oder die Beratung in Krisensituationen gehören. In der wohlfahrtsstaatlichen Logik erfolgt diese Art der Intervention jedoch in aller Regel nicht direkt durch den Staat, sondern durch Anweisung und Beauftragung anderer Akteure. Die wohlfahrtsstaatliche Intervention setzt also lediglich den Rahmen, der dann meistens noch nicht einmal von den freien Trägern oder den Gemeinden als solchen, sondern von der Profession der Sozialarbeiter oder den professionellen Beratern interpretiert und angewandt wird. Diese Intervention kann und wird also kaum als wohlfahrtsstaatliches Standardangebot betrachtet werden können, sondern setzt in außerordentlichem Maße auf die Kompetenz lokaler Akteure. In unserer Betrachtung wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen im Bereich sozialer Dienstleistungen für die allgemeine Daseinsvorsorge konzentrieren wir uns deshalb auf die ökonomische, rechtliche und infrastrukturelle Interventionsform. Diese Interventionen können nun bei den Klienten und Nutzern sozialer Dienste oder bei den verschiedenen Anbietern ansetzen. Sie können direkt auf einzelne Akteure und ihre Handlungsmöglichkeiten zielen oder auf die Regelung der sozialen Beziehungen zwischen den Akteuren. Interventionen können direkt auf Ressourcen und Handlungschancen oder indirekt auf die sozialen Beziehungen zwischen Akteuren zielen. Zum Beispiel kann der Staat den Klienten sozialer Dienste unter bestimmten Voraussetzungen individuelle Rechtsansprüche auf soziale Dienstleistungen verleihen oder er kann bestimmte Dienstleistungsfelder für kommerzielle Anbieter erschließen, sofern diese bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Ein Beispiel für Eingriffe in soziale Beziehungen zwischen Akteuren wäre etwa die Festlegung von Austauschrelationen auf einem bestimmten Dienstleistungssektor oder die Etablierung marktähnlicher Koordinationsformen. Die soziale Kontrolle des Dienstleistungssystems durch den Wohlfahrtsstaat vollzieht sich also auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlicher Intensität. Die rein ökonomische Betrachtung ist deshalb kein geeigneter Indikator, um Ausmaß und Reichweite der wohlfahrtsstaatlichen Institutionalisierung sozialer Dienste zu erfassen. Der Staat muss nicht in jedem Fall eigene Mittel einsetzen, um bestimmte Ziele zu erreichen, sondern er kann teilweise auf Mittel anderer Akteure zugreifen. Ebenso ist die rein infrastrukturelle Betrachtung staatlicher Einrichtungen unzureichend, um die Institutionalisierung sozialer Dienste zu erfassen. Der Staat muss keine eigenen Einrichtungen aufbauen und betreiben, sondern er kann diese Aufgaben delegieren und dafür Mittel bereitstellen. Als Schlüssel für ein soziologisch adäquates Verständnis der Institutionalisierung sozialer Dienste erweist sich somit vor allem die rechtliche Interventionsform in Kombination mit ökonomischen Mitteln und staatlicher Infrastruktur.
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Ein erster wichtiger Indikator für den Umfang der wohlfahrtsstaatlichen Institutionalisierung sozialer Dienste ist deshalb die Frage, welche Dienstleistungsformen und welche Akteure durch entsprechende Regelungen erfasst sind. Sind die für die Lösung einer bestimmten sozialen Aufgabe wesentlichen Dienstleistungsformen erfasst oder bezieht sich die wohlfahrtsstaatliche Intervention nur auf einen bestimmten Teilbereich? Sind alle für die Übernahme dieser Aufgabe relevanten Akteure in das System einbezogen oder befinden sich einige davon außerhalb des auf diese Weise institutionalisierten Systems? Die Intensität wohlfahrtsstaatlicher Institutionalisierung sozialer Dienste kann zum einen an quantitativen, zum andern an qualitativen Merkmalen gemessen werden. In quantitativer Hinsicht spielen der ökonomische Mitteleinsatz und die insgesamt durch das System bereitgestellte soziale Infrastruktur die entscheidenden Rollen. In qualitativer Hinsicht steht im Vordergrund, in welchem Ausmaß die Dienstleistungen durch staatliche Regulierung festgelegt sind und welcher Spielraum den Akteuren bleibt. Je einheitlicher der Zugang zu Dienstleistungen geregelt und mit Rechtsansprüchen verbunden ist und in je höherem Maße die Dienste standardisiert sind, desto größer ist der Einfluss des Wohlfahrtsstaates auf die Dienstleistungserbringung. Der Zugang zu sozialen Diensten kann zum Beispiel durch klare Vorgaben geregelt sein, die Bedarf und Leistungspakete im Einzelfall weitgehend festlegen und die Dienstleistungserbringung standardisieren. Umgekehrt kann diese Aufgabe auch an beteiligte Akteure vor Ort delegiert werden, ohne Zugang und Leistungsumfang im Detail zu regeln. Da soziale Dienste in der Definition dieser Arbeit in der Vergangenheit vor allem von nicht-staatlichen Akteuren, insbesondere der Familie, erbracht worden sind, kann man die staatliche Einflussnahme auch als einen historischen Prozess betrachten, in dem mehr oder weniger große Bereiche sozialer Dienste unter staatliche Regulierung fallen und in größerem oder kleinerem Ausmaß standardisiert und kontrolliert werden. Aus dieser Perspektive ist deshalb für die Institutionalisierung sozialer Dienste von entscheidender Bedeutung, inwiefern und wie stark der Staat die wichtigsten Akteure in diesem Feld in ein durch ihn geregeltes und standardisiertes System einbezieht. Dies gilt zunächst und vor allem für die wichtigste soziale Institution in diesem Bereich: die Familie. Zwar haben die meisten wohlfahrtsstaatlichen Institutionen stets implizit auf der Grundlage funktionierender Familienverhältnisse und Leistungen in der Familie aufgebaut, dies stellt jedoch für sich genommen noch keine Institutionalisierung der Beziehungen zur Familie dar. Erst wenn die Familie explizit in den staatlichen Regulierungen als Akteur auftritt und eine bestimmte Rolle zugewiesen bekommt, kann man von einer entscheidenden Zunahme im Umfang der Institutionalisierung sozialer Dienste sprechen. Ein erstes, wenngleich inhaltlich nicht klar bestimmtes Indiz für die Institutionalisierung ergibt sich aus der expliziten Verpflichtung von Familien, für bedürftige Angehörige zu sorgen. Je genauer Umfang und Grenzen dieser Verpflichtung festgelegt werden, desto mehr kann man davon sprechen, dass die Familie in ein durch den Staat institutionalisiertes, quasi „öffentliches“ Dienstleistungssystem einbezogen wird. Von einem qualitativen Sprung in der Institutionalisierung kann man aber erst dann sprechen, wenn die Leistungen der Familie durch den Wohlfahrtsstaat unterstützt werden, sei es durch Geld oder durch explizit als Unterstützung geleistete ambulante Hilfsdienste. Auf dieser Stufe wohlfahrtsstaatlicher Regulierung kann man mit Fug und Recht behaupten, die Familie sei zum Bestandteil eines öffentlich regulierten sozialen Dienstleistungssystems geworden. In ähnlicher Weise nimmt der Umfang der Institutionalisierung sozialer Dienste durch den Wohlfahrtsstaat zu, wenn die drei neben der Familie wichtigsten
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historischen Anbieter sozialer Dienste enger in ein öffentliches System eingebunden werden: die freien Wohlfahrtsorganisationen, verschiedene kommerzielle Anbieter und die Gemeinden und Städte. Wie die Familien – nur auf einer höheren Ebene der gesellschaftlichen Organisation – waren und sind freie Wohlfahrtsorganisationen wichtige historische Träger sozialer Dienste, zunächst ohne dass ihre Aktivitäten durch den Staat inhaltlich geregelt worden wären. Zwar gab es natürlich Rechtsgrundlagen und Grenzen für ihre Aktivitäten, die von Land zu Land variierten, der Staat bestimmte jedoch selten und wenig im positiven Sinne die Aufgaben und Leistungen dieser Organisationen. Ihr wichtigstes Tätigkeitsfeld fanden die freien Wohlfahrtsvereinigungen im Bereich sozialer Dienste für benachteiligte, schwache und sozial auffällige Bevölkerungsgruppen, aber auch in der Hilfe und Pflege für Kranke und Behinderte, die von den Familien nicht betreut und versorgt werden konnten. Im Mittelpunkt ihrer Tätigkeit standen nicht große Einrichtungen und Institutionen, sondern Hilfen vor Ort, in Form ambulanter Dienste oder speziell auf den Einzelfall zugeschnittenen Unterstützungen. Hier liegt deshalb auch der historische Ursprung der klassischen Sozialarbeit, die in der Regel aus der freien Wohlfahrtspflege stammt und erst später Teil eines staatlichen Systems wurde (vgl. Lorenz 1994; Landwehr und Baron 1983; Sachße3 2003). In einigen Ländern jedoch erstreckte sich der Tätigkeitsbereich der freien Wohlfahrt auch auf große Institutionen wie Krankenhäuser und Altenheime. Aufgrund des hohen Kapitalaufwands und der hohen Organisationskosten waren diese Einrichtungen jedoch meist kirchlich gebunden oder sie entstanden im Umfeld kirchlicher Verbände, die sich neben den kommunalen und den staatlichen Institutionen als zweite Säule des öffentlichen Dienstleistungssystems etablierten. Dies war auch eine wichtige Domäne der Kommunen und Städte, die sich ihrerseits zunächst weniger um die ambulanten Dienste und die klassische Sozialarbeit kümmerten. Der Wohlfahrtsstaat begann zumeist mit einer stärkeren Institutionalisierung der großen stationären Einrichtungen im Gesundheits- und Altenhilfebereich, während ambulante Dienste einen größeren Freiraum genossen. Deshalb gerieten die freien Träger der Wohlfahrt zunächst in diesem Bereich und in denjenigen Ländern, in denen sie solche Einrichtungen aufgebaut hatten, stärker unter staatliche Regulierung und wurden dadurch in öffentliche Systeme eingebunden. Kommerzielle Anbieter haben historisch betrachtet stets eine Sonderrolle im Bereich sozialer Dienste gespielt. Das kommerzielle Ziel hat ihr Tätigkeitsfeld von Anfang an stark begrenzt. Die lebenszyklisch bedingten Dienste für die große Mehrheit der Bevölkerung wurden zumeist von der Familie erbracht, die freien Vereinigungen richteten ihr Augenmerk vor allem auf diejenigen, die nicht von der Familie gepflegt und betreut wurden sowie auf soziale Problemgruppen; der Staat seinerseits hatte zunächst vor allem Interesse an sozialer Kontrolle und an den großen stationären Leistungssystemen zur Versorgung der Bevölkerung. Kommerzielle Anbieter fanden ihr klassisches Aufgabengebiet vor allem in der Versorgung wohlsituierter Kunden mit qualitativ hochwertigen Angeboten in kapitalintensiven und renditestarken Zweigen wie Wohnen und Gesundheit. In einigen Ländern kamen Betreuungsangebote für Kinder aus den Mittelschichten hinzu. Zwar wurde die Tätigkeit der kommerziellen Anbieter als solche staatlich reguliert, aber nicht durch den Wohlfahrtsstaat erfasst. Wie die familiären Dienstleistungen, aber aus ganz anderen Gründen als diese, blieben die kommerziellen Angebote sehr lange außerhalb der wohlfahrtsstaatlichen Institutionalisierung sozialer Dienste und führten insofern ein auf bestimmte soziale Schichten und wenige Angebotsformen beschränktes Sonderdasein. Erst durch die
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neueren Reformen erlebte der kommerzielle Sektor eine gewisse Renaissance, nun allerdings als Bestandteil eines wohlfahrtsstaatlich institutionalisierten öffentlichen Sektors. Die Gemeinden verdienen im Rahmen dieser Arbeit besondere Beachtung. Sie sind sozusagen die auf lokaler Ebene präsente öffentliche Instanz, die jedoch ein gegenüber dem Staat mehr oder weniger großes Eigenleben führt. Dies ist deshalb von entscheidender Bedeutung, weil die lokale Gebundenheit zum Grundcharakter sozialer Dienste gehört. Die Rolle der Gemeinden ist in doppelter Hinsicht für die Analyse der Institutionalisierung sozialer Dienste interessant. Zum einen können die Gemeinden auf lokaler Ebene selbst eine wichtige Rolle für die Koordination und Institutionalisierung sozialer Dienste spielen, zum andern können sie ihrerseits zum Objekt wohlfahrtsstaatlicher Regulierung werden. Deshalb interessieren in Bezug auf die Gemeinden sowohl die Beziehungen zwischen diesen und den anderen lokalen Akteuren als auch die Beziehungen zwischen dem Staat und den Gemeinden. Von einer größeren und intensiveren Institutionalisierung sozialer Dienste durch den Wohlfahrtsstaat wollen wir jedoch nur dann sprechen, wenn der Staat als solcher gegenüber den Gemeinden eine größere Rolle zu spielen beginnt und den Spielraum für lokal eigenständiges Handeln begrenzt. Ein erster entscheidender Eingriff in kommunale Eigenständigkeit wäre zum Beispiel eine staatliche Verpflichtung zur Einführung bestimmter sozialer Dienste. Dabei verblieben jedoch Entscheidungen über Umfang und Verteilung der sozialen Dienste in Händen der Gemeinden. Weitergehende Eingriffe regelten zum Beispiel Budgets, Umfang von Dienstleistungen und Leistungsstandards. Der Staat kann auch die Zugangsbedingungen zu sozialen Diensten regeln und den Klienten im Bedarfsfall Ansprüche auf Leistungen gewähren. In allen diesen Fällen greift der Staat tiefer in das kommunale Dienstleistungsangebot ein. Denkbar sind auch Vorgaben zum Verhältnis der Gemeinden zu den anderen Akteuren im Bereich sozialer Dienste. Der Staat kann die Gemeinden beispielsweise verpflichten, andere Akteure in bestimmter Weise am kommunalen Dienstleistungssystem zu beteiligen und dabei eine koordinierende Rolle zu übernehmen. Die Möglichkeiten des Staates, den Handlungsspielraum der Gemeinden auf diese Art und Weise zu bestimmen, hängen natürlich von der politischen und administrativen Ordnung im jeweiligen Land ab. In einigen Ländern sind dem Wohlfahrtsstaat in dieser Hinsicht enge Grenzen gesetzt, in anderen kann der Zentralstaat beinahe unbeschränkt in kommunale Angelegenheiten eingreifen. In jedem Fall ist das Verhältnis von Staat und Gemeinden für die Institutionalisierung sozialer Dienste von entscheidender Bedeutung. Dies gilt umso mehr als soziale Dienste aufgrund ihres Grundcharakters stets einen räumlichen Bezug haben. Mithin ist die lokale Ebene sozusagen das natürliche Feld sozialer Dienste. Dennoch kann der Staat selbst durch eigene Behörden und Einrichtungen Dienste in der Fläche seines Territoriums organisieren und anbieten. Dies geschieht ja in großem Umfang im Gesundheits- und Bildungswesen. Im Bereich der sozialen Dienste ist diese Art des Aufbaus einer wohlfahrtsstaatlichen Infrastruktur dagegen sehr beschränkt. Meist werden diese Aufgaben an kommunale Einrichtungen „delegiert“ beziehungsweise seit jeher von diesen erbracht. Allerdings variieren die hier betrachteten Länder gerade im Ausmaß, in dem sie eine staatliche Infrastruktur in diesem Sinne aufgebaut haben. Neben diesen relativ direkten Möglichkeiten des Wohlfahrtsstaates, das Feld der sozialen Dienste stärker zu institutionalisieren und das Handeln anderer Akteure zu steuern, gibt es zwei wesentliche Aspekte der Institutionalisierung, die separat betrachtet werden müssen, weil sie das Feld zwar stärker institutionalisieren, zugleich jedoch den direkten Zugriff
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des Staates auf soziale Dienste stark einschränken. Bei diesen Aspekten handelt es sich um die Institutionalisierung des Feldes sozialer Dienste durch die Etablierung von Verfahren, die auf eine größere Autonomie dieses Bereichs gegenüber allen beteiligten Akteuren hinauslaufen. Von zentraler Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die Einrichtung eigenständiger Finanzierungsinstrumente, zumeist in Form einer Sozialversicherung, und die Professionalisierung sozialer Dienste. Beide Prozesse sind dazu geeignet, soziale Dienste als eigenständigen Bereich der sozialen Sicherheit stärker zu institutionalisieren. Die Sozialversicherung ist in dieser Hinsicht besonders interessant. Sie ist nicht nur ein im Vergleich zum allgemeinen Staatshaushalt alternatives Finanzierungsinstrument, wie die ökonomische Sichtweise betont, sondern schafft aus soziologischer Sicht eine wesentlich andere Form der Institutionalisierung sozialer Dienste, die dem direkten und unmittelbaren Zugriff staatlicher Politik entzogen ist. Die Sozialversicherung beinhaltet zumeist drei Elemente einer eigenständigen Institutionalisierung: Rechtsansprüche der Versicherten auf Leistungen, Finanzierung unabhängiger Anbieter und Selbstverwaltung. Da die Selbstverwaltung sich selten auf die Kernbestandteile der Versicherung bezieht, die ohnehin gesetzlich geregelt sind, sollen hier nur die ersten beiden Elemente betrachtet werden. Eine Sozialversicherung ist im Gegensatz zu staatlichen Leistungsgesetzen zumeist mit einem Rechtsanspruch der Versicherten auf Leistungen verbunden. Zwar sind Kürzungen und Einschränkungen jederzeit möglich, aber dies zumeist nicht rückwirkend und in begrenzterem Maße als bei öffentlich bereitgestellten Dienstleistungen. Hinzu kommt die eigenständige Finanzierungsbasis, die zwar einerseits zum Hemmschuh der Entwicklung werden kann, andererseits aber eine gewisse Sicherheit gegenüber Kürzungsmaßnahmen im allgemeinen Staatshaushalt bietet. Eingriffe können jedenfalls nur über spezielle Gesetze und nicht über den jährlichen Staatshaushalt durchgesetzt werden. Diese Elemente verleihen der Sozialversicherung eine gewisse institutionelle Autonomie und Beharrungskraft gegenüber direkten staatlichen Systemeingriffen. Darüber hinaus ist die Sozialversicherung als Finanzierungsinstrument sozialer Dienste oft mit einer Anbieterpluralität verbunden, während staatlich oder kommunal per Leistungsgesetz zur Verfügung gestellte Dienstleistungen zumeist als öffentliche Betriebe organisiert sind. Zumindest eröffnet die Sozialversicherung Chancen für alternative Anbieter, sofern das Gesetz entsprechende Möglichkeiten vorsieht. Auch in diesem Fall gewährt ein solches System mehr Autonomie als ein überwiegend durch öffentliche Betriebe organisiertes, rein öffentliches System, da der Staat weniger direkt eingreifen kann. Sozialversicherungssysteme tendieren deshalb zu größerer Eigenständigkeit als rein staatliche Dienstleistungssysteme: die Finanzierung ist unabhängiger, die Klienten genießen eine bessere Rechtsstellung und die Anbieter können eigenständiger agieren. Der Institutionalisierungsgrad von Sozialversicherungssystemen kann dabei durchaus höher sein als in staatlichen Leistungssystemen, weil mehr Akteure darin eingebunden sind und Leistungen und Ansprüche genauer festgelegt sind. In jedem Fall ist jedoch die direkte staatliche Zugriffsmöglichkeit als geringer einzustufen. Ein weiteres wichtiges Element einer eigenständigen Institutionalisierung sozialer Dienstleistungssysteme ist die Professionalisierung. Die Professionalisierung sozialer Dienste ist ein historischer Prozess, der zumeist außerhalb der staatlichen Sphäre begann und inzwischen weite Teile des Dienstleistungssystems erfasst hat (vgl. Rauschenbach 1999). Wie im Falle der Etablierung eigenständiger Finanzierungsinstrumente kann in der Professionalisierung sozialer Dienste der zweite entscheidende Schritt zu einer autonomen Form der Institutionalisierung gesehen werden. Professionalisierung bedeutet, dass wichti-
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ge Elemente bei der Durchführung sozialer Dienste durch eigenständige professionelle Standards und die Selbstverwaltung der Profession festgelegt und kontrolliert werden. Das Paradebeispiel für eine weitgehende Professionalisierung ist das Gesundheitswesen, während das Bildungssystem stärker staatlich normiert und kontrolliert wird. Im Gesundheitswesen ist die Ärzteschaft ein zentraler Akteur, der in der medizinischen Praxis und in manchen Fällen auch bei der Vergütung von Einzelleistungen weitgehende Autonomie genießt. Weder der Staat noch die Krankenversicherungen greifen direkt in die medizinische Autonomie ein. Dies gilt jedoch in stärkerem Maße für die Sozialversicherungssysteme als für die staatlichen Gesundheitsdienste, weil die Ärzteschaft in der Regel in diesen über größere Autonomie verfügt. Doch selbst in staatlichen Gesundheitssystemen bestimmen die Ärzte über die medizinischen Methoden und Leistungen, welche das System zur Verfügung stellt. Im Bildungswesen dagegen werden Lehrinhalte und Standards in stärkerem Maße durch staatliche Behörden festgelegt. Die Lehrerschaft genießt keine so große professionelle Eigenständigkeit wie die Ärzteschaft. Soziale Dienste sind nun ein Bereich, der sowohl im Vergleich zur Gesundheit als auch im Vergleich zum Bildungswesen in geringerem Maße professionalisiert ist. Häufig spricht man deshalb hier von einer Semi-Professionalisierung. Ein Grund dafür ist die spätere Entwicklung sozialer Dienste und die größtenteils einfacheren Dienstleistungen in diesem Bereich, die zumeist weniger Fachwissen und professionelle Kompetenz verlangen als der Arzt- oder Lehrerberuf. Die meisten sozialen Dienste stammen ja aus dem ursprünglichen Kompetenzbereich der Familie und wurden erst im Laufe der Zeit in stärkerem Ausmaß spezialisiert und in eigenständigen Systemen ausdifferenziert. Wohnen, Pflege und Betreuung sind die klassischen Kernkompetenzen der Familie, die in der Regel ein höheres Maß an sozialer Beziehung als spezielle Fachkenntnisse erfordern. Dennoch haben sich auch die sozialen Dienste zunehmend professionalisiert, und zwar sowohl in den größeren standardisierten Einrichtungen als auch in der ambulanten Einzelfallversorgung. Verlangten Pflege und Betreuung von alten Menschen, Behinderten und Kindern zunächst eher Empathie und soziales Engagement, das zumeist religiös untermalt war, setzten sich allmählich Krankenpfleger, Altenpfleger und Kindererzieherin als feste Berufsbilder durch. Ebenso bildete sich aus der klassischen Wohltätigkeit religiös motivierter Laien die professionelle Sozialarbeit heraus. Interessant ist, dass die Professionalisierung offenbar durch eine ursprünglich größere Trägervielfalt im Bereich sozialer Dienste eher begünstigt als behindert wurde (vgl. Sachße 2002). Offenbar erforderte ein stärker gegliedertes System sozialer Dienste ein höheres Maß an Kooperation und Koordination über die Grenzen von Organisationen hinweg, während einheitlichere Systeme, die zum Beispiel nur von der Katholischen Kirche oder nur vom Staat betrieben wurden, eine frühere Professionalisierung eher behinderten. Zudem ermöglichten organisatorisch stärker fragmentierte Systeme den Beschäftigten offenbar in höherem Maße, eigenständige professionelle Standards über Organisationsgrenzen hinweg zu etablieren. Die Loyalität gegenüber der Profession trat zunehmend neben die traditionelle Loyalität gegenüber der eigenen Organisation. Jedenfalls scheint es kein Zufall zu sein, dass die Länder mit der vielfältigsten Anbieterlandschaft im 19. Jahrhundert auch die Ursprungsländer der Professionalisierung sowohl der Pflege-, Erziehungs- und Betreuungsberufe als auch der klassischen Sozialarbeit sind: Großbritannien und Deutschland. Auch in den Niederlanden kann von einem relativ hohen Grad an Professionalisierung ausgegangen werden, der schließlich zur Ablösung des einstmals weltanschaulich fragmentierten Systems durch ein einheitliches Dienstleistungssystem geführt hat. In jedem Fall gingen die ersten Schritte zur Professionalisie-
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rung nicht vom Staat, sondern von den freien Wohlfahrtsvereinigungen aus. Kommerzielle Anbieter hatten dagegen kein Interesse an dieser Entwicklung und auch keinen großen Einfluss darauf. Später allerdings, als die Professionalisierung bereits anerkannt war, bot das öffentliche Dienstrecht eine ideale Basis für deren endgültige Etablierung im Zuge der Expansion des Wohlfahrtsstaates. Der Grad der Institutionalisierung eines sozialen Dienstleistungssystems hängt von zahlreichen Faktoren ab und kann sich somit auch in inhaltlich unterschiedlicher Form entwickeln. Entscheidend sind aber in jedem Fall sowohl quantitative als auch qualitative Merkmale. Zunächst geht es darum, welche Akteure in welcher Form in das durch den Wohlfahrtsstaat gestaltete System einbezogen sind. Je höher der Grad der Inklusion, desto größer die Institutionalisierung. Zum zweiten geht es um die Festsetzung von Regeln und Standards, welche Nachfrage und Angebot sozialer Dienste beeinflussen. Zum dritten interessieren die sozialen Beziehungen zwischen den am System beteiligten Akteuren und deren Kontrolle (vgl. Lepsius 1990). Schließlich spielen Merkmale einer eigenständigen Institutionalisierung sozialer Dienste wie Sozialversicherung und Professionalisierung eine wichtige Rolle. Sie stellen das System auf eine eigenständige Grundlage und verleihen ihm eine Schutzfunktion gegenüber Eingriffen einzelner Akteure einschließlich des Staates. Institutionalisierung durch den Wohlfahrtsstaat muss also nicht mit größerem direktem staatlichem Einfluss auf das System verbunden sein, im Gegenteil können bestimmte Elemente in diesem Prozess zu einer größeren sozialen Kontrolle bei Abnahme direkter staatlicher Einwirkung führen. Welche Entwicklung dieser Prozess in den verschiedenen Ländern genommen hat, soll in den Länderkapiteln untersucht werden. Zuvor jedoch werden die sozialen Dienste in den drei Vergleichsländern in den europäischen Kontext gestellt.
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Soziale Dienste in Westeuropa im Vergleich
In diesem Kapitel werden die drei Vergleichsländer im westeuropäischen Vergleich betrachtet. Zunächst werden die zentralen strukturellen Dimensionen untersucht, die für die Variationen in der historischen Entwicklung sozialer Dienste prägend waren: das Verhältnis von Staat und Kommunen und das Verhältnis von „öffentlichen“ und „privaten“ gesellschaftlichen Sphären hinsichtlich ökonomischer, zivilgesellschaftlicher und familialer Ordnungen (vgl. Alber 1995). Im zweiten Teil wird das Angebot an sozialen Diensten im europäischen Vergleich behandelt.
Gesellschaftliche Strukturmerkmale Staat und Gemeinden Das Verhältnis von Staat und Gemeinden variiert zwischen den europäischen Ländern. Hinzu kommen Unterschiede zwischen föderal und unitarisch aufgebauten politischen Systemen. Die Ursachen für diese Unterschiede liegen in der Geschichte der europäischen Staatenbildung (vgl. Rokkan 2000) und sollen hier nur kurz dargestellt werden, um die langfristige Wirkung struktureller Faktoren auf die Institutionalisierung sozialer Beziehungen zwischen den Akteuren im Feld sozialer Dienste zu beleuchten. Hinsichtlich des Staatsaufbaus stehen die unitarischen Länder den Ländern mit föderaler Ordnung gegenüber (vgl. Page 1991; Page und Goldsmith 1987; Norton 1991; 1994). Im westeuropäischen Kontext sind die klassischen Vertreter der föderalen Länder Deutschland, Österreich und die Schweiz. Hinzu kommen Spanien (seit der Demokratisierung nach Francos Tod) und Belgien (seit der Föderalisierung zu Beginn der 1980er Jahre). Gemeinsames Merkmal dieser Länder ist die Existenz eigenständiger politischer Einheiten zwischen Zentralstaat und Gemeinden. Diese politischen Einheiten verfügen teilweise über eine eigene Verfassung und übernehmen vielfältige Staatsaufgaben in Eigenverantwortung. Darüber hinaus wirken sie zum Teil an den politischen Entscheidungsprozessen, die den Staat insgesamt betreffen, mit. Auch in Italien und Frankreich wurden Regionen zwischen Zentralstaat und den lokalen Gebietskörperschaften geschaffen, haben sich jedoch bisher nicht zu vergleichbaren Akteuren von größerem politischem Gewicht entwickeln können; ihre Kompetenzen blieben bislang begrenzt. Auch in Großbritannien erhielten Schottland und zum Teil auch Wales mehr Eigenständigkeit gegenüber der Regierung in London; Schottland bildete schon immer einen Sonderfall innerhalb Großbritanniens, ebenso besitzt Nordirland aus historischen Gründen eine Sonderstellung im Vereinigten Königreich. England (und Wales) bildet jedoch nach wie vor ein nahezu klassisches Beispiel für einen unitarischen Staat mit starker Zentralgewalt. Die Beziehungen zwischen Zentralstaat und Gemeinden variieren erheblich innerhalb Europas (vgl. Mény 1985; Hintze 1970). Die Stellung der Gemeinden ist besonders stark in
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den skandinavischen Ländern und in der Schweiz (vgl. Hesse 1991). Hier erfüllen sie nicht nur wichtige öffentliche Aufgaben, sondern genießen ein hohes Maß an Autonomie in der Bestimmung von Zielen und der Aufbringung von Mitteln. Weniger stark ist die Stellung der Gemeinden in Deutschland, wo sie innerhalb der föderalen Ordnung das schwächste Glied bilden. Ihre Kompetenzen sind begrenzt, Ziele und Mittel ihres Handelns werden ihnen größtenteils durch Bundes- und Landesgesetze vorgegeben. An dieser Stelle muss allerdings zwischen einer politischen und einer administrativen Funktion der Gemeinden unterschieden werden. Im skandinavischen und im schweizerischen Fall besitzen die Gemeinden in beiden Funktionen große Handlungsspielräume, in Deutschland ist die kommunale Selbstverwaltung dagegen auf wenige genuin kommunale Aufgaben beschränkt, und die Gemeinden verfügen gegenüber Bund und Ländern über geringen politischen Gestaltungsspielraum. Auch in administrativer Hinsicht vollziehen die Gemeinden zum großen Teil, was in Bund und Ländern beschlossen wird; dies gilt vor allem für den Sozialbereich. Dennoch bilden die Gemeinden in Deutschland eine politische und administrative Ebene mit gewissem Eigensinn und Eigengewicht. Dies gilt sowohl für Großbritannien als auch für Frankreich in geringerem Maß. In beiden Ländern ist die Stellung der Gemeinden gegenüber dem Staat schwächer als in Deutschland oder gar in der Schweiz oder Skandinavien, allerdings gibt es Unterschiede zwischen England und Frankreich (vgl. Mény 1998; Birch 1998; Mabileau 1996; Byrne 1992; 1996). Der englische Staat besitzt traditionell ein hohes Maß an politischer Zentralisierung, zugleich aber wurde die Verwaltung öffentlicher Angelegenheiten traditionell in großem Ausmaß an lokale Akteure delegiert. Nur in wenigen Bereichen wurden zentrale Verwaltungsstrukturen und Behörden aufgebaut. Das englische Armenrecht zum Beispiel funktionierte lange Zeit auf der Basis des Ehrenamts lokaler Eliten, deren Tätigkeit jedoch durch staatliche Inspektion überwacht wurde (vgl. Webb und Webb 1963). Eine zentralstaatliche Bürokratie bildete sich im Vergleich zu anderen Ländern weit weniger heraus. In ähnlicher Weise sind die Kommunen heute zuständig für den Vollzug der zentralstaatlichen Gesetze und Vorschriften. Das Ehrenamt ist heute in der öffentlichen Verwaltung zwar nicht mehr vorzufinden, aber nach wie vor verfügt Großbritannien nur über eine kleine zentralstaatliche Bürokratie. Politisch allerdings herrscht die Zentralregierung bzw. die Parlamentsmehrheit in Westminster nahezu unumschränkt über alle Bereiche und Landesteile mit Ausnahme Schottlands und Nordirlands. Politische Zentralisierung ist also traditionell mit administrativer Dezentralisierung gepaart (vgl. Redlich und Hirst 1970). Die Aufgaben und Kompetenzen der Kommunen können jedoch von der Zentralregierung jederzeit politisch verändert werden; in diesem Sinne gibt es keine lokale Autonomie wie in Skandinavien oder der Schweiz. In Frankreich sind die Verhältnisse geradezu spiegelbildlich zu denen in Großbritannien. Hier ist die Administration hoch zentralisiert, die Politik dagegen fußt auf einem beinahe anachronistisch anmutenden System lokaler Ämter, das in der vielfältigen und breiten Gemeindestruktur Frankreichs verwurzelt ist (vgl. Grémion 1970). Die administrative Zentralisierung geht dabei im wesentlichen auf die Französische Revolution und die Zeit Napoleons zurück, während die politische Herrschaft der lokalen Notabeln vor allem ein Erbe der parlamentarischen Dritten Republik ist (vgl. Worms o. J.). Beide Aspekte haben auch den Übergang zum Präsidialsystem der Fünften Republik nahezu unbeschadet überstanden. Senat und assemblé nationale sind in weiten Teilen Vertretungen lokaler Mandatsträger, aber auch für höchste Regierungsämter ist ein Bürgermeisterposten eine wichtige Stufe auf der Karriereleiter. Kommunale und zentral-
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staatliche Ämter sind aufs engste verknüpft, ganz im Gegensatz zu Großbritannien, wo die lokale Politik denkbar weit sowohl von den Mandatsträgern in Westminster als auch von den Ämtern in Whitehall entfernt ist. Im deutschen Föderalismus dagegen bilden nicht wie in Frankreich die Kommunen das wichtigste Rekrutierungsfeld für zentralstaatliche Regierungsämter, sondern die Länder. Fast alle Bundeskanzler hatten zuvor Regierungsfunktionen in den Ländern inne, oft als Ministerpräsidenten. Während somit der Einfluss lokaler Politik auf die Zentralregierung in Paris relativ groß ist, reicht der administrative Arm des Staates in Frankreich viel weiter ins Land als auf der britischen Insel. Im Gegensatz zu Großbritannien ist Frankreich das klassische Land einer mächtigen zentralstaatlichen Bürokratie, deren wichtigster Vertreter in der Fläche der Präfekt des départements ist. Das département war bis zu den in Kapitel 5 ausführlich behandelten Reformen der Dezentralisierung von 1983 keine eigenständige lokale Gebietskörperschaft, sondern Teil der zentralstaatlichen Verwaltung. Der Präfekt als Chef dieser Verwaltung war nicht lokalen Interessen verantwortlich, sondern vertrat den französischen Staat in seinem Gebiet. Erst mit der Dezentralisierungspolitik erhielten die départements auch Merkmale und Funktionen einer lokalen politischen Selbstverwaltung mit direkt vom Volk gewählten Vertretern. Zusammengefasst kann man die drei Länder unseres Vergleichs im Hinblick auf das Verhältnis von Staat und Gemeinden wie folgt im westeuropäischen Kontext verorten. Deutschland ist ein föderales Land, in dem die Länder eigenständig verfasst sind, wichtige politische und administrative Kompetenzen besitzen und außerdem großen Einfluss auf die Bundespolitik ausüben. Die Kommunen dagegen sind trotz der kommunalen Selbstverwaltung in keiner starken Position, weil sie Ziele und Mittel ihres Handelns weit weniger selbständig bestimmen können wie zum Beispiel in der Schweiz. Deshalb sind die Kommunen auch im Sozialbereich oft nur ausführende Organe der Bundes- oder Landespolitik. Großbritannien und Frankreich können trotz devolution und décentralisation immer noch als klassische Vertreter eines unitarischen Staatsaufbaus betrachtet werden. Dennoch unterscheidet sich das Verhältnis von Kommunen und Zentralstaat in beiden Ländern. In England und Wales bilden die Kommunen die lokale Verwaltung und führen zentralstaatliche Gesetze aus. Dabei haben sie einen mehr oder weniger großen Handlungsspielraum, der jedoch jederzeit politisch aus London verändert werden kann. In Frankreich besitzen die Gemeinden dagegen großes politisches Gewicht, öffentliche Aufgaben wurden jedoch bis vor kurzem in großem Ausmaß von einer mächtigen zentralstaatlichen Bürokratie erfüllt, die im ganzen Land präsent ist.
Öffentlich und Privat Im Hinblick auf die zweite zentrale strukturelle Dimension des Vergleichs, das Verhältnis zwischen öffentlichem und privatem Bereich, variieren die westeuropäischen Länder ebenfalls erheblich. Der Begriff „privat“ hat jedoch je nach sozialem und historischem Kontext verschiedene Bedeutung. Im Hinblick auf die Institutionalisierung sozialer Dienste sollen dabei im folgenden drei Bedeutungslinien betrachtet werden, die sich auf das Verhältnis von Staat und Gesellschaft beziehen: das Verhältnis von Staat und Wirtschaft bzw. Klassenstrukturen; das Verhältnis von Staat und Zivilgesellschaft bzw. kulturellen Gruppenbildungen; und das Verhältnis von Staat und Familie.
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Das Verhältnis von Staat und Wirtschaft steht heute meist im Mittelpunkt der Diskussionen über die Reform des Wohlfahrtsstaates. Markt und Wettbewerb werden als allgemeine Lösungsmechanismen für wohlfahrtsstaatliche Probleme betrachtet. Die Bedeutung kommerzieller Unternehmen im Wohlfahrtssektor und die marktmäßige Koordination von Angebot und Nachfrage variieren jedoch erheblich von Bereich zu Bereich und von Land zu Land. In einigen Ländern spielen kommerzielle Anbieter im Gesundheitswesen und in der stationären Altenhilfe eine größere Rolle. Der Markt ist jedoch meist stark reguliert und das private Angebot konzentriert sich auf wenige renditestarke und kapitalintensive Bereiche. Die größten Anteile kommerzieller Anbieter im Bereich sozialer Dienste findet man durchwegs in den liberalen Wohlfahrtsstaaten, vor allem in den USA und in Großbritannien. Hier konnte sich ein relativ großer kommerzieller Sektor entfalten, weil der Wohlfahrtsstaat die Mittelschichten nicht auf breiter Basis einbezogen hatte. Die Sozialpolitik konzentrierte sich vor allem auf ärmere Bevölkerungsschichten, so dass der Dienstleistungsbereich der Mittelschichten zum großen Teil „privat“ am Markt durch kommerzielle Anbieter gedeckt werden musste. Der private Sektor behielt also gegenüber dem Wohlfahrtsstaat eine relativ unabhängige Stellung und deckt einen großen Teil des Bedarfs an Dienstleistungen, zum Beispiel bei Altenheimen oder Kinderbetreuungseinrichtungen. Auch im Bildungswesen spielen Privatschulen in diesen Ländern eine wichtige Rolle, sind jedoch meist nicht kommerziell sondern gemeinnützig organisiert. In Großbritannien hat der Staat allerdings im Zuge der großen Sozialreformen nach dem Zweiten Weltkrieg weite Teile der vormals überwiegend privat organisierten Bereiche Gesundheit und Soziales in staatliche Regie übernommen. Der Gesundheitsbereich wurde 1948 im Nationalen Gesundheitsdienst neu organisiert, der Sozialbereich in den 1970er Jahren größtenteils kommunalisiert (vgl. Cochrane 1993). Eine auf wenige Bereiche beschränkte und quantitativ eng begrenzte Rolle spielt der kommerzielle Sektor in den konservativen Wohlfahrtsstaaten, zu denen hier Deutschland und Frankreich zu rechnen sind. Obwohl Regelung und Finanzierung des Gesundheitswesens durch die Sozialversicherung und den Staat erfolgen, sind weite Teile desselben privat organisiert. Dies betrifft große Teile des stationären Sektors und vor allem die freien niedergelassenen Ärzte. Typisch für die konservativen Wohlfahrtsstaaten ist vor allem die Tatsache, dass private Organisationen in diesem System quasi öffentliche Aufgaben wahrnehmen. Die Verbände der Ärzteschaft spielen zum Beispiel eine herausragende Rolle bei der Steuerung des Gesundheitswesens. Diese korporatistische Struktur findet sich auch im Sozialwesen, hier spielen jedoch freie, gemeinnützige Anbieter eine wichtigere Rolle als kommerzielle Unternehmen. Am schwächsten ist die Stellung kommerzieller Anbieter in den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten Skandinaviens, in denen öffentliche Strukturen klar dominieren. Die Gemeinden haben beispielsweise im Sozialbereich nahezu ein Monopol der Dienstleistungsversorgung. Zusammengefasst ergeben sich folgende Variationen im Verhältnis von Staat und kommerziellem Sektor im Wohlfahrtsbereich. Der liberale Wohlfahrtsstaat richtet sich primär auf ärmere Bevölkerungsschichten und lässt somit dem kommerziellen Sektor breiten Raum in der Dienstleistungsversorgung für die wachsenden Mittelschichten. Zudem wird dieser Sektor wenig öffentlich reguliert, da er nicht als Teil wohlfahrtsstaatlicher Daseinsvorsorge betrachtet wird. Kennzeichen eines liberalen Wohlfahrtsstaates ist somit ein breiter, relativ autonomer kommerzieller Sektor in verschiedenen Dienstleistungsbereichen.
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Der konservative Wohlfahrtstaat umfasst dagegen den größten Teil der Bevölkerung, legt jedoch großen Wert auf soziale Statusunterschiede und die Einbindung korporativer nichtstaatlicher Akteure. Öffentlicher und privater Sektor sind nicht voneinander getrennt, sondern private Organisationen werden ins öffentliche System integriert und erfüllen somit öffentliche Funktionen. Der kommerzielle Sektor kann mehr oder weniger groß sein, er ist jedoch stärker abhängig von staatlicher Regulierung. In sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten ist der kommerzielle Sektor rudimentär, weil fast alle sozialen Aufgaben von öffentlichen Instanzen wahrgenommen werden. Gleichheit und Universalität sind zentrale Ziele dieser Systeme; öffentliche Organisation und politische Kontrolle bieten die beste Gewähr für ihre Erfüllung. Die zweite Dimension des Verhältnisses von „öffentlich“ und „privat“ betrifft Struktur und Rolle der Zivilgesellschaft im Verhältnis zum Staat. Während für die Bedeutung kommerzieller Anbieter im Wohlfahrtssystem die Klassenstrukturen und der Klassencharakter des Wohlfahrtsstaates die entscheidende Rolle spielen, geht es bei der Bedeutung der Zivilgesellschaft vor allem um religiöse und sozial-kulturelle Aspekte der Sozialstruktur (vgl. Alber 1995; Evers und Laville 2004). Freie, gemeinnützige Organisationen haben in allen Ländern eine zentrale Rolle in der historischen Entwicklung der Sozialsysteme gespielt. Zumeist waren diese Organisationen religiös und weltanschaulich motiviert, zum Teil auch klassenspezifisch organisiert. Bürgerliche Wohltätigkeit stand neben Arbeiterselbsthilfe, katholische Vereine neben der protestantischen Inneren Mission. Die klassenspezifischen Variationen waren in ähnlicher Weise in allen sich industrialisierenden Gesellschaften anzutreffen, ihre Widersprüche wurden zumeist durch Integration in den Wohlfahrtsstaat und die Ausdehnung der Institutionen der sozialen Sicherheit auf die ganze Bevölkerung aufgelöst. Religiöse und weltanschauliche Spaltungen blieben jedoch in stärkerem Maße erhalten und entfalteten eine entscheidende Wirkung auf Struktur und Bedeutung des Dritten Sektors im Wohlfahrtsbereich. Nur in der besonderen historischen Konstellation einer durchgreifenden Reformation mit im Ergebnis homogenen protestantischen Ländern verschmolzen protestantische und öffentliche Wohlfahrtspflege weitgehend zu einem homogenen kommunalen System. In homogen katholischen Ländern ohne tiefere Spaltung zwischen einem religiös-klerikalen und einem laizistisch-antiklerikalen Lager konnte die Kirche ihre angestammte dominierende Rolle in diesem Bereich, verbunden mit einem hohen Maß an Autonomie, bewahren; die traditionellen Hilfesysteme wurden insgesamt wenig ausgebaut und kaum öffentlich institutionalisiert. Anders verlief die Entwicklung in katholischen Ländern mit starken laizistischen Kräften. Hier entwickelte sich ein duales System katholischer „privater“ und laizistischer „öffentlicher“ Dienste, wobei sich beide Säulen aufgrund konkurrierender Mobilisierung der Bevölkerung relativ weit ausdehnten und erst später unter einem gemeinsamen Dach integriert wurden, ohne jedoch die voneinander getrennten Einheiten von Grund auf aufzulösen. In Ländern mit religiös gemischter Bevölkerung entstanden zumeist unter dem Dach der Kirchen verschiedene Systeme für die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. Es entstanden katholische Vereine und Organisationen für die katholische Bevölkerung, protestantische für die reformierten Glaubensgemeinschaften. Daneben entwickelten sich öffentliche, weltanschaulich neutrale bzw. laizistisch oder sozialistisch orientierte Einrichtungen. In diesen Ländern konnte sich die weltanschaulich gespaltene freie Wohlfahrtspflege dauerhaft eine zentrale Stellung im System sozialer Dienste sichern, weil eine frühe Kommunalisierung bzw. „Verstaatlichung“ aufgrund dieser
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Spaltung ausgeschlossen war. In diesem Zusammenhang kann man von einem historisch bedingten Wohlfahrtspluralismus sprechen, auch wenn die Systeme später stärker integriert und vereinheitlicht worden sind (vgl. Evers und Olk 1996; Bauer und Thränhardt 1987).
Staat und Familie Die dritte Dimension des „Privaten“ betrifft das Verhältnis von Staat und Familie. Die Familie ist eine der ältesten und wichtigsten sozialen Institutionen unserer Gesellschaften. Aus diesem Grund wurde ihre Funktionsweise stets einer gewissen sozialen Kontrolle unterworfen (vgl. Bahle 1995). Im modernen Wohlfahrtsstaat erreichten dann sowohl soziale Kontrolle als auch Unterstützung der Familie ihren historischen Höhepunkt. In allen Ländern baute der Wohlfahrtsstaat implizit auf den vielfältigen Leistungen der Familie auf, insbesondere im Bereich sozialer Dienste. Die Variationen zwischen den Ländern im Verhältnis von Staat und Familie sind jedoch erheblich (vgl. Kaufmann 1994; Pfenning und Bahle 2000; Hantrais und Letablier 1996). Zunächst unterscheiden sich die Familienmodelle. In den skandinavischen Ländern und auch in Großbritannien herrscht eine individualistische Institutionalisierungsform vor, welche die Rechte und Ziele einzelner Familienmitglieder in den Mittelpunkt stellt. Die staatliche Sozialpolitik begann in diesen Ländern sehr häufig als eine Schutzpolitik zugunsten schwächerer individueller Familienmitglieder: Frauen und Kinder. Schwangere Mütter, kleine Kinder, geschiedene Frauen wurden neben ärmeren Bevölkerungsschichten, Alten und Kranken zu den wichtigsten Objekten einer zunächst meist paternalistisch verstandenen staatlichen Sozialpolitik. Nicht der Gedanke der Sicherung stand dabei im Mittelpunkt, sondern das Ziel der gesellschaftlichen Solidarität und Unterstützung Hilfsbedürftiger. Erst später wurde diese Politik, vor allem in den skandinavischen Ländern, auch mit emanzipatorischen Motiven durchwirkt und mit dem Ziel gesellschaftlicher Gleichheit verbunden. Gleichheit wurde somit zum Leitmotiv der Sozialpolitik in den skandinavischen Wohlfahrtsstaaten. Damit war nicht nur Gleichheit zwischen den sozialen Schichten und Klassen, sondern vor allem auch Gleichheit zwischen den Geschlechtern gemeint. Wiederum wurde die Familie bzw. wurden ihre einzelnen Mitglieder zum Angelpunkt der staatlichen Sozialpolitik. Nun ging es jedoch nicht mehr in erster Linie darum, die Schwächeren zu schützen, sondern die Familie insgesamt von sozialen Aufgaben zu entlasten und mehr in die Gesellschaft einzubinden, um den Kindern bessere Chancen zu bieten und die Frauen von familiären Pflichten zu entlasten. Verbunden mit dieser Zielsetzung war ein im westeuropäischen Vergleich einmaliges Ausmaß der Sozialisierung persönlicher Dienstleistungen für die große Mehrzahl der Bevölkerung auf qualitativ hohem Niveau. Während eine individualistisch geprägte Sichtweise der Familie traditionell auch in England vorherrscht, blieb die Sozialpolitik hier im Unterschied zu Skandinavien dem Leitbild des Schutzes der Schwachen verpflichtet und hat sich nicht so sehr dem Ziel einer gesellschaftlichen Emanzipation und Gleichheit geöffnet. Dieser Entwicklung stand die liberale englische Auffassung von der Autonomie der Familie entgegen, die in den skandinavischen Ländern weniger stark entwickelt war. Die Ursprünge dieser Auffassung liegen zum großen Teil in der englischen Religionsgeschichte mit ihren vielfältigen Verwerfungen und Konflikten. Während die Reformation in den skandinavischen Ländern durchgreifend
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erfolgreich war, blieb sie in England unvollständig. Dies hat dazu geführt, dass es in England stets einen nicht zu vernachlässigenden katholischen Bevölkerungsanteil gab und es in großem Ausmaß zu einer Abspaltung protestantischer Freikirchen von der Anglikanischen Kirche kam. Die englische Religionsgeschichte ist also weit vielfältiger als häufig angenommen und war zudem durch schwere gesellschaftliche Konflikte bis hin zum Bürgerkrieg geprägt. Der gesellschaftliche Liberalismus englischer Prägung (im Unterschied zu einem rein wirtschaftlich verstandenen Liberalismus) hat seine Ursprünge genau in dieser Struktur gesellschaftlicher Spaltungen und Konflikte. Der Staat sollte sich nur so weit ins gesellschaftliche Leben einmischen wie es für die öffentliche Ordnung nötig war. Eine staatliche Leitfunktion und eine weitergehende staatliche Steuerung des gesellschaftlichen Lebens wurden abgelehnt, individuelle Rechte und die Autonomie gesellschaftlicher Institutionen gegenüber dem Staat wurden gestärkt. So kam es dazu, dass sich im Verhältnis von Staat und Familie ein Liberalismus im doppelten Sinn herausbildete: einerseits wurden die individuellen Rechte des Einzelnen gegenüber der Institution der Familie gestärkt, andererseits wurde die Autonomie der Institution der Familie gegenüber dem Staat geschützt. Die staatliche Intervention fand genau dort ihr Ende, wo die Rechte der schwächeren Mitglieder erfolgreich geschützt waren. Weder Emanzipation noch Gleichheit wurden somit zu beherrschenden Zielen wohlfahrtsstaatlicher Politik. In den stärker vom Katholizismus geprägten europäischen Ländern herrschte dagegen ein mehr an der Institution der Familie und ihrem Charakter als sozialer Gruppe orientiertes Verständnis vor. Nicht das Individuum, sondern die soziale Gruppe und Institution der Familie stand und steht im Mittelpunkt dieser Konzeption. Diese Vorstellung hat auch in den religiös gemischten Gesellschaften Westeuropas deutliche Spuren hinterlassen, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. In dieser Konzeption ist der Begriff der Subsidiarität Angelpunkt des Verhältnisses zwischen Staat und Familie. Diese Vorstellung unterscheidet sich jedoch grundlegend von der liberalen Vorstellung einer weitreichenden Autonomie wie im englischen Fall. Subsidiarität bedeutet einen Vorrang für unmittelbarer mit dem Menschen verbundene gesellschaftliche Institutionen gegenüber dem Staat bei der Erfüllung sozialer Aufgaben. Familie, Kirche und Gemeinde haben in dieser Vorstellung somit Vorrang gegenüber umfassenderen staatlichen Regelungen, weil sie näher an den Bedürfnissen des Menschen liegen. Dahinter steht jedoch auch die allgemeine Vorstellung, dass die Autonomie gesellschaftlicher Subsysteme, nicht zuletzt der Kirche selbst, gegenüber den umfassenden Regelungs- und Kontrollansprüchen des modernen Staates zu schützen ist. Mit dieser Vorstellung von Subsidiarität ist jedoch zugleich die Idee verbunden, dass die „autonomen“ primären gesellschaftlichen Institutionen bestimmte soziale Aufgaben erfüllen sollen, und zwar auf eine allgemein akzeptierte und sozial kontrollierte Weise. Soziale Kontrolle der Familie ist somit nicht ausgeschlossen, im Gegenteil. Diese soziale Kontrolle soll jedoch nicht vom Staat, sondern von der Kirche bzw. der lokalen Gemeinschaft der Gläubigen ausgeübt werden. Im Unterschied zur liberalen Idee der Autonomie, der es in erster Linie um Abwehr von als illegitim empfundenen Interventionen in einen Raum genuiner sozialer Selbstregulierung geht, ist die Vorstellung der Subsidiarität mit einer umfassenderen Konzeption der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und Solidarität verbunden. Wenn primäre soziale Institutionen die in sie gesetzten gesellschaftlichen Erwartungen nicht erfüllen, kann und muss die Gesellschaft diese Institutionen stärken oder im Extremfall auch deren Aufgaben übernehmen. Im Gegensatz zum liberalen Grundsatz der Nicht-
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einmischung gibt es in diesem Fall also einen klaren gesellschaftspolitischen Auftrag zur Förderung und auch zur Intervention im Interesse des gesellschaftlich höher bewerteten Gutes der Solidarität. Die religiös gemischten Gesellschaften Westeuropas, zu denen auch Deutschland gehört, verdienen in diesem Zusammenhang besonderes Augenmerk. In ihnen hat sich aufgrund der konfessionellen Spaltung eine besondere Form der Autonomie und Subsidiarität entwickelt, die weder am Individuum noch am übergeordneten gesellschaftlichen Ganzen ausgerichtet ist, sondern die Verschiedenheit der weltanschaulichen und konfessionellen Gruppen in den Mittelpunkt stellt. Soziale Dienste entwickelten sich zunächst innerhalb dieser verschiedenen Gruppen, also getragen durch die Katholische Kirche für den katholischen Bevölkerungsanteil und die evangelischen Kirchen für die protestantische Bevölkerung. In Ländern mit starken liberalen und/oder sozialistischen Strömungen, die meist areligiös oder antiklerikal orientiert waren, entstanden daneben Systeme für diesen Bevölkerungsteil. Die Familie war somit in jeweils verschiedene „Lager“ eingebunden, welche die ganze Gesellschaft umfassten und strukturierten. Die Beziehungen des Staates zur Familie waren dadurch mehrfach gebrochen, eine gemeinsame Institutionalisierung dieser Beziehungen unter einem Dach war nahezu ausgeschlossen. Aus diesem Grund entwickelte sich in diesen Ländern auch nur sehr zögerlich eine aktive Familienpolitik. Die Familie war kein „privater“ Lebensbereich, aber auch keine öffentliche Angelegenheit des Staates. Sie wurde vielmehr innerhalb der sozialen Gruppen auf verschiedene Art und Weise institutionalisiert. Die drei Länder unseres Vergleichs nehmen im westeuropäischen Kontext hinsichtlich dieser Vergleichsdimensionen jeweils charakteristische Positionen ein (vgl. Ashford 1982; Eichhorn 1996). England und Wales sind durch einen hohen Grad politischer Zentralisierung und eine große Bedeutung der Kommunen in der Durchführung der Sozialpolitik gekennzeichnet. Darin spiegelt sich die lange Geschichte englischer Politik und Verwaltung seit dem elisabethanischen Armenrecht wider. Der typische diversifizierte freie Wohlfahrtssektor beruht auf der traditionellen weltanschaulichen und religiösen Vielfalt der britischen Gesellschaft und ihrer wechselvollen Beziehungen zum Staat. Ebenso kann die sehr begrenzte Intervention des Staates in die Institution der Familie als Ergebnis dieser weltanschaulichen Vielfalt und eines starken Liberalismus betrachtet werden. Die im internationalen Vergleich außergewöhnlich bedeutende Stellung des kommerziellen Sektors im Bereich sozialer Dienste kann durch den begrenzten Umfang des britischen Wohlfahrtsstaates erklärt werden, der sich auf grundsichernde Elemente und ärmere Bevölkerungsschichten konzentrierte, wodurch insbesondere die Mittelschichten auf den Markt oder auf Eigeninitiative im Rahmen bürgerschaftlichen Engagements angewiesen waren. Frankreich ist demgegenüber durch ein hohes Maß an Verwaltungszentralisierung geprägt, der jedoch eine relativ große politische Bedeutung der Kommunen gegenübersteht. Der freie Wohlfahrtssektor ist traditionell stark katholisch geprägt und wurde daher lange Zeit vom Staat mit großer Skepsis betrachtet. Die laizistische Tradition der Französischen Republik überließ diesen Vereinigungen daher nur diejenigen Bereiche, die nicht zum Kern staatlicher Verantwortung und Politik gezählt wurden. Zwar entwickelte sich auf dieser Grundlage ein ebenso gemischtes Wohlfahrtssystem wie zum Beispiel in Deutschland, aber die Grundlagen dieses Systems waren ganz andere. Aus dem in Deutschland vorherrschenden Grundprinzip der Subsidiarität folgt die Vorstellung, dass der Staat nur in denjenigen Aufgabenbereichen tätig werden sollte, die von den gesellschaftlichen Einrichtungen nicht
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hinreichend erfüllt werden. Im französischen Fall kann man dagegen geradezu von einer Umkehrung dieses Prinzips sprechen, wodurch den freien Vereinigungen nur diejenigen Bereiche überlassen blieben, die vom Staat für minder wichtig erachtet wurden. Diese Umkehrung des klassischen Subsidiaritätsgedankens hat zwar den Aufbau eines quantitativ durchaus bedeutsamen Sektors der freien Wohlfahrtspflege in bestimmten Bereichen nicht verhindert, aber die Beziehungen zwischen diesem und dem Staat in charakteristischer Weise geprägt. In diesen Beziehungen dominierte in Frankreich stets eindeutig der Staat (vgl. Archambault 1996). Es entwickelte sich deshalb in Frankreich kein System der Verbändewohlfahrt, das dem deutschen Korporatismus vergleichbar wäre. Deutlich sieht man diese größere aktive Rolle des Staates auch in der Familienpolitik. Zwar entstand die französische Familienpolitik im internationalen Vergleich sehr früh und war ursprünglich geprägt durch freiwillige Initiativen katholischer Kreise, doch wurde sie auch relativ früh staatlich reguliert und überformt (vgl. Schultheis 1988). Nicht Subsidiarität, sondern eine aktive Unterstützung des Staates für die Familie war Kennzeichen dieser Politik. In Bezug auf den Aufbau des Wohlfahrtsstaates in den klassischen Feldern der sozialen Sicherheit ist Frankreich dagegen durch den starken Einfluss des wirtschaftlichen Liberalismus geprägt (vgl. Kaufmann 2003). Frankreich gehörte deshalb trotz früher, wenngleich weniger durchgreifender Industrialisierung zu den Ländern, die im internationalen Vergleich sehr spät wohlfahrtsstaatliche Institutionen der sozialen Sicherung aufbauten. Charakteristisch für das ganze 19. Jahrhundert und bis 1945 war vielmehr die enorme Bedeutung freiwilliger sozialer Sicherungseinrichtungen auf der Grundlage der weit verbreiteten mutualité und économie sociale (vgl. Vienney 1994). Dies spiegelt die ökonomischen und sozialen Interessen des französischen Bürgertums wider, das seit der Revolution und vor allem in der parlamentarischen Dritten Republik zur beherrschenden sozialen Klasse aufgestiegen war. Der Staat richtete sich zwar strikt gegen die Präsenz weltanschaulich geprägter Gruppen im öffentlichen Raum der Politik, überließ jedoch große Teile der Sozialarbeit katholischen Organisationen und wichtige Bereiche der sozialen Sicherheit dem bürgerlich beherrschten Mutualismus. In Deutschland verleiht die föderale politische Ordnung der Bundesregierung nur begrenzte Kompetenzen im Sozialbereich. Länder und Kommunen sind wichtige eigenständige Akteure, doch hat die Bundesgesetzgebung im Lauf der Jahre immer mehr zugenommen und die kommunale Selbstverwaltung ausgehöhlt. Aufgrund der großen Bedeutung der Sozialversicherung im deutschen Sozialstaat und der Präsenz starker freier Wohlfahrtsvereinigungen ist die Rolle der Kommunen als Finanzier und Anbieter sozialer Dienste von vornherein eingeschränkt. Hinzu kommen die von den Ländern ausgeübten regionalen Kompetenzen und die zunehmende Intervention des Bundesgesetzgebers in die soziale Daseinsvorsorge. So spielen die Kommunen eine Rolle, die sicher größer ist als in Frankreich, aber geringer als in England und Wales, weil sie sich das Feld mit anderen Organisationen, insbesondere den Verbänden der freien Wohlfahrtspflege, teilen müssen (vgl. Heinze und Olk 1981). Aufgabenverschränkung, Kompetenzteilung und Kooperation zwischen verschiedenen Akteuren sind somit zentrale Merkmale des deutschen Sozialsystems (vgl. Bäcker et al. 2000; Pfenning und Bahle 2002). Die Macht der Verbände der freien Wohlfahrtspflege ist historisch begründet und entspricht der großen gesellschaftlichen Bedeutung, welche die Religionsspaltung einst hatte. Während das Deutsche Kaiserreich als einer der ersten Staaten überhaupt soziale Sicherungssysteme für die Arbeiterschaft auf nationa-
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ler Ebene schuf, blieb die Finanzverfassung des Reiches stark föderal geprägt; die Einzelstaaten hatten erheblichen Einfluss auf die Reichspolitik in diesem Bereich. Zugleich blieben die staatlichen Kompetenzen im Bereich sozialer Dienste gering. Hier beherrschten die religiösen Wohlfahrtsorganisationen das Feld, vor allem Caritas und Innere Mission. Im katholischen Milieu waren diese Verbände Teil einer umfassenden Strategie zur Behauptung von Autonomie und kirchlichen Einflusszonen gegenüber einem protestantisch beherrschten und dominierten Reichsverband unter der Führung des ungeliebten Preußens. Die protestantische Innere Mission und ihre Sozialwerke betonten ebenfalls den Aspekt der kirchlichen Autonomie und Zuständigkeit im Sozialbereich, doch war das klassische Konzept der Subsidiarität katholischen Ursprungs und gründete auf der defensiven Strategie einer sich nach der Reichsgründung von 1871 bedroht fühlenden katholischen Kultur in Deutschland. Zudem fand die katholische Kirche einen starken Verbündeten in Bayern. In den anderen Gliedstaaten des Reiches waren die Katholiken jedoch meist in der Position einer zahlenmäßig bedeutsamen Minderheit, so in Preußen und Württemberg. Neben der sich auf religiösem Fundament herausbildenden freien deutschen Wohlfahrtspflege hatte die städtische und kommunale Sozialpolitik eine lange Tradition (Sachße und Tennstedt 1988). Sie konzentrierte sich jedoch im 19. Jahrhundert stärker auf die allgemeinen Gesundheitsdienste, Wasser- und Abwasserversorgung und ähnliche kollektive Bereiche der Daseinsvorsorge, während die mit individuellen Lebenslagen verbundenen Bereiche der sozialen Dienste eine geringere Rolle spielten. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde schließlich das so entstandene duale System sozialer Dienste durch den Reichsgesetzgeber institutionalisiert; Kommunen und Verbände der freien Wohlfahrtspflege sollten in diesem System eng kooperieren, der Vorrang gebührte allerdings den freien Trägern. Im Unterschied zu den sozialen Diensten wurde die Sozialversicherung als zweites zentrales Merkmal des deutschen Sozialstaats früh staatlich institutionalisiert, jedoch nicht verstaatlicht, sondern blieb in Form einer paritätischen Selbstverwaltung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern erhalten. Dadurch sollten die Arbeiter in die deutsche Gesellschaft integriert werden. Trotz dezentraler Organisation der wichtigsten Zweige der Sozialversicherung auf Länderebene, waren Finanzierung und Leistungen von Anfang an zentralstaatlich geregelt. Die Sozialversicherung hat stets eine wichtige Rolle für die Finanzierung sozialer Dienste gespielt, vor allem in den Bereichen Gesundheit und Pflege. Die deutsche Struktur kann also durch eine Mischung von zentralstaatlichen, föderalen und kommunalen Kompetenzen in Verbindung mit einer im internationalen Vergleich wohl einmaligen Rolle der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege gekennzeichnet werden, deren Verbändeoligopol das Dienstleistungsangebot weithin beherrscht. Ein weiteres wichtiges Merkmal ist die Sozialversicherung als herausragendes Instrument zur Finanzierung sozialer Leistungen und Dienste.
Strukturmerkmale des Wohlfahrtsstaates im Vergleich Nachdem die historisch-strukturellen Variationen zwischen den drei Ländern unseres Vergleichs im europäischen Kontext dargestellt worden sind, soll nun die Entwicklung und Struktur der Dienstleistungen betrachtet werden. Zunächst geht es um die Bedeutung sozialer Dienste im Wohlfahrtsstaat insgesamt, um die Entwicklung von Diensten für verschiedene Zielgruppen und in unterschiedlichen Bereichen, und schließlich um die Angebots-
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und Anbieterstruktur im Vergleich. Wie lassen sich unsere drei Länder hinsichtlich dieser Merkmale im westeuropäischen Kontext positionieren? Der britische Wohlfahrtsstaat gilt im internationalen Vergleich häufig als Prototyp des liberalen Modells. Merkmale, die für eine solche Eingruppierung sprechen, sind zum Beispiel die Konzentration der Sozialpolitik auf ärmere Bevölkerungsschichten unter Ausschluss großer Teile der Mittelschichten, die hohe Bedeutung der Bedürftigkeitsprüfung von Sozialleistungen, der hohe Anteil an kommerziellen Anbietern und die weit verbreitete Anwendung der marktmäßigen Koordination. Doch neben diesen unzweifelhaft liberalen Strukturelementen weist der britische Sozialstaat einige zentrale Institutionen allgemeiner sozialer Staatsbürgerrechte auf, die den Charakter einer sozialen Grundsicherung haben (vgl. Kohl 1993; 2002). Dazu zählen der Nationale Gesundheitsdienst, die staatliche Grundrente, das Kindergeld und die lokalen sozialen Dienste insbesondere für ältere Menschen. Diese Elemente wurden im Zuge der grundlegenden Reform des britischen Sozialstaates nach 1945 nach der Vorlage von Beveridge eingeführt. Zwar bewegte sich diese Grundsicherung für alle Staatsbürger bzw. Einwohner des Königreichs stets auf niedrigem Niveau, sie ist jedoch aufgrund ihres universellen Charakters prinzipiell von den bedürftigkeitsgeprüften Leistungen für Ärmere zu unterscheiden. So vereinte der britische Wohlfahrtsstaat nach 1945 liberale und sozialdemokratische Elemente; Armenpolitik und soziale Grundsicherung auf einem für alle gleichen niedrigen Niveau gingen Hand in Hand. Der französische Wohlfahrtsstaat wird neben dem deutschen Wohlfahrtsstaat als typischer Vertreter des konservativen Modells genannt. Als wichtigste Kennzeichen dieses Modells gelten ein ausgebautes System der sozialen Sicherung mit starken statussichernden Elementen, die Einbindung gesellschaftlicher Gruppen und Verbände in ein korporatistisches System der Sozialpolitik und eine hohe Bedeutung der Familie mit vorwiegend traditioneller Arbeitsteilung. Der Wohlfahrtsstaat ist in diesem Modell weiter ausgebaut als im liberalen Modell, jedoch weniger „staatlich“ organisiert als im sozialdemokratischen Fall. Das Versicherungsmodell und die korporative Selbstverwaltung haben hohe Bedeutung. Soziale Dienste sind weniger entwickelt als in den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten. Doch dieses Modell muß im französischen Fall in mehrerlei Hinsicht modifiziert werden. Zwar entwickelte sich das französische System der sozialen Sicherung auf der Grundlage eines vielfältigen, zunächst oft freiwilligen, organisatorisch nach Status- und Berufsgruppen gegliederten Systems, doch wurden die meisten Sondersysteme nach 1945 Schritt für Schritt in das allgemeine System (régime général) mit gleichen Regeln integriert (vgl. Laroque 1990; MIRE 1996-1998). Der ursprüngliche Plan einer radikalen Vereinfachung und vollständigen Integration der verschiedenen Organisationen und Zweige der Sozialversicherung nach 1945 scheiterte zwar, doch wurde das System seitdem stärker integriert und vereinheitlicht. Erhalten geblieben sind jedoch die fragmentierte Organisationsstruktur und die korporative Steuerung des Systems der sozialen Sicherung durch selbstverwaltete Organe. Doch die beiden anderen Kernelemente des konservativen Wohlfahrtsstaatsmodells fehlen im französischen Fall. Im Bereich sozialer Dienste (action sociale) kann man kaum von einem korporatistischen System sprechen. Vielmehr agieren Staat und freie Akteure meist in unterschiedlichen Bereichen; freie Vereinigungen wurden nicht ins öffentliche System integriert. Im Unterschied zum klassischen konservativen Modell waren die staatlichen Dienstleistungen in Frankreich auch nicht unterentwickelt, im Gegenteil! Gerade im Bereich der Dienste für Kinder und Familien gehört Frankreich zu den führenden Nationen in
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Westeuropa, mit zum Teil höher entwickelten Diensten als in Skandinavien. Von einer Orientierung auf das traditionelle Rollenmodell der Familie kann in dieser Hinsicht auch keine Rede sein. Zwar unterstützt der französische Staat die klassische Familie sehr stark im Rahmen des Familienlastenausgleichs und der Steuerpolitik, doch von Anfang an stand auch die arbeitende Mutter im Zentrum sozialpolitischer Aktivitäten. Frankreich kann also in dieser Hinsicht eher als eine Mischung von konservativen und sozialdemokratischen Strukturmerkmalen verstanden werden. In den klassischen Bereichen der sozialen Sicherung überwiegen nach wie vor die „konservativen“ Elemente; die Familienpolitik, große Teile der Gesundheitspolitik sowie der Behinderten- und Armenhilfe müssen jedoch unter dem Aspekt einer aktiven Gesellschaftspolitik mit dem Ziel einer Versorgung der Bevölkerung mit allgemeinen Leistungen und Diensten betrachtet werden (vgl. Bode 1999). Noch mehr als Frankreich gilt Deutschland als der klassische Vertreter des konservativen Wohlfahrtsstaatsmodells. Tatsächlich ist der deutsche Sozialstaat im internationalen Vergleich durch ein hohes Maß an Statussicherung und korporativer Organisation geprägt. Die soziale Sicherung beruht überwiegend auf dem Modell der Sozialversicherung für Arbeitnehmer. Soziale Lagen und Probleme, die nicht mit Erwerbstätigkeit verbunden sind, erfahren geringere staatliche Aufmerksamkeit. Daher haben sich soziale Dienste für Kinder und alte Menschen erst relativ spät und weniger umfangreich entwickelt als in anderen fortgeschrittenen europäischen Industriegesellschaften. Die korporative Organisationsform bestimmt auch das Feld sozialer Dienste, das zudem durch eine starke Zentralisierung der dort tätigen Verbände der freien Wohlfahrtspflege charakterisiert ist. Das Prinzip der Subsidiarität hat zwar nicht die deutsche Sozialversicherungspolitik geprägt, die durch frühen staatlichen Zwang und ein hohes Maß an staatlicher Regulierung und Verrechtlichung gekennzeichnet ist, wohl aber das Verhältnis zwischen Staat und Familie. Nach den Erfahrungen des Dritten Reiches entwickelte sich die Familienpolitik in der Bundesrepublik sehr zögerlich und war vor allem darauf gerichtet, Familien finanziell zu unterstützen und die traditionelle Arbeitsteilung zu untermauern. Auch aus diesem Grund wuchsen familienbezogene soziale Dienste nur sehr langsam. Deutschland kann in dieser Hinsicht tatsächlich als Prototyp des konservativen Wohlfahrtsstaates betrachtet werden. Soziale Statusunterschiede zwischen Beamten, Angestellten und Arbeitern, die Sonderstellung der Landwirtschaft und des alten Mittelstandes, die föderale politische Ordnung, die kommunale Selbstverwaltung und die weltanschaulich-religiöse Vielfalt der deutschen Gesellschaft haben den Aufbau eines universalistischen Wohlfahrtsstaates nach skandinavischem oder britischem Muster verhindert. Hinzu kommt ein traditionelles Familienleitbild, das vor allem in den ersten Jahrzehnten der Bundsrepublik die deutsche Familienpolitik geprägt hat.
Soziale Dienste im europäischen Vergleich Diese unterschiedlichen Merkmale der drei hier untersuchten Wohlfahrtsstaaten schlagen sich in der Angebotsstruktur sozialer Dienste nieder. Dabei stehen die europäischen Länder vor ähnlichen demographischen Herausforderungen (siehe Tabelle 2). In den „alten“ EUMitgliedsländern (EU 15) stieg der Anteil der Menschen über 75 an der Gesamtbevölkerung zwischen 1980 und 2000 um mehr als 50 % auf insgesamt 7,7 %. In unseren drei Vergleichsländern war der Anstieg in Großbritannien am ausgeprägtesten, am wenigsten stark
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war er in Deutschland. Großbritannien hat von den drei Ländern im Jahr 2000 auch den höchsten Anteil an alten Menschen in der Bevölkerung. Bei Kindern unter 5 Jahren jedoch, der zweiten hier betrachteten Zielgruppe, liegt Frankreich mit einem Anteil von 6,7% an der Bevölkerung im Jahr 2000 vor Großbritannien und deutlich vor Deutschland mit 5%. Großbritannien und Frankreich liegen in dieser Hinsicht auch beide über dem europäischen Durchschnitt, Deutschland hingegen deutlich darunter. Darin spiegeln sich natürlich die unterschiedlichen Geburtenraten in diesen drei Ländern wider. Der demographische Problemdruck hinsichtlich der Versorgung mit sozialen Diensten variiert also etwas zwischen den drei Ländern, sie befinden sich jedoch nicht auf Extrempositionen im gesamteuropäischen Vergleich, sind also hinreichend „ähnlich“ für die Zwecke unseres Vergleichs. Tabelle 2: Altersstruktur der Bevölkerung*, Europa 2000 Land
Ältere Menschen 75+ Index**
<5
Index**
Schweden Italien EU 15 Ver. Königreich EU 25 Belgien Frankreich Spanien Dänemark Deutschland*** Österreich Portugal Finnland Griechenland Niederlande Ungarn Tschechien Estland Luxemburg Lettland Litauen Slowenien Irland Malta Zypern Polen Slowakei
8,9 8,0 7,7 7,7 7,3 7,3 7,3 7,2 7,1 7,1 7,1 6,7 6,5 6,1 6,1 5,9 5,5 5,5 5,5 5,4 5,1 5,0 4,8 4,7 4,6 4,4 4,4
5,6 4,7 5,7 6,4 5,6 5,9 6,7 5,0 6,6 5,0 5,6 5,5 6,2 5,3 7,0 4,6 4,4 4,1 7,7 3,8 54 4,8 7,9 7,1 9,0 5,6 5,8
95 73 88 105 k.A. 96 100 59 108 98 97 66 92 72 112 k.A. k.A. 56 140 k.A. k.A. k.A. 77 k.A. k.A. k.A. 60
149 176 156 143 k.A. 134 138 191 130 127 126 182 174 141 150 k.A. k.A. 110 133 k.A. k.A. k.A. 142 k.A. k.A. k.A. 134
Kinder
Anmerkungen: * ältere Menschen 75+ und Kinder <5 in % der Gesamtbevölkerung, ** absoluter Anstieg der Zahl älterer Menschen und Kinder (Index 1980=100), *** 1980: alte Länder und ehemalige DDR, k.A. keine Angaben. Quelle: eigene Berechnungen auf der Basis der EUROSTAT Bevölkerungsstatistik.
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Auch bei den Ausgaben für soziale Dienste für ältere Menschen und Kinder liegen die drei Länder im europäischen Mittelfeld (siehe Schaubild 1).
Schaubild 1: Ausgaben für soziale Dienste, Europa 2002 14,0 12,0 in % des BIP
10,0 8,0 6,0 4,0 2,0 Is no fi be de hu lu nl fr at ch uk lt cz ee gr mt sl pt sk lv ie it es
se dk
0,0
Familie, Alter, Invalidität
Gesundheit
Andere
Quelle: eigene Berechnungen auf der Basis von EUROSTAT New Cronos Datenbank
Der schwarze Teil des Balkens in diesem Schaubild fasst die Ausgaben für soziale Dienste für Familien, ältere Menschen und Behinderte zusammen. Die skandinavischen Länder geben für diese Zwecke im europäischen Vergleich bei weitem das meiste aus. Schweden liegt mit einem Ausgabenanteil von 6% des Bruttoinlandsprodukts an der Spitze. In unseren drei Vergleichsländern liegt dieser Anteil jeweils zwischen 1% und 2%, also deutlich darunter, aber immer noch vor den meisten ost- und südeuropäischen Ländern mit Werten von unter 1%. Unterschiede zwischen den drei Vergleichsländern ergeben sich jedoch bei den hier nicht behandelten Dienstleistungen im Bereich Gesundheit und Wohnen. So hat beispielsweise Frankreich gemessen am Bruttoinlandsprodukt die höchsten Gesundheitsausgaben im europäischen Vergleich und kommt somit bei allen Dienstleistungen zusammen auf einen der höchsten Werte in Europa. Auch in Deutschland sind die Ausgaben für Gesundheitsdienstleistungen relativ hoch. In Großbritannien spielen hingegen andere Dienstleistungen eine wichtige Rolle, darunter vor allem Ausgaben für Wohnen. Doch hinsichtlich der hier untersuchten Dienste für ältere Menschen und Kinder sind die Unterschiede zwischen den drei Ländern gering. Sie sind also in Bezug auf das globale Ausgabenniveau hinreichend ähnlich für einen an institutionellen Unterschieden orientierten Vergleich. In den beiden folgenden Abschnitten werden nun die Angebotsstrukturen sozialer Dienste für diese beiden Zielgruppen im europäischen Vergleich betrachtet. Hier findet man deutliche Variationen zwischen den drei Ländern.
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Dienste für ältere Menschen Hinsichtlich der Angebotsstruktur sozialer Dienste für ältere Menschen und für Kinder lassen sich die drei Länder unseres Vergleichs wie folgt im westeuropäischen Kontext verorten (siehe Tabelle 3) (vgl. dazu Bahle und Pfenning 2001; Alber und Schölkopf 1999; Alber, Guillemard und Walker 1993; Anttonen und Sipilä 1996; Anttonen, Sipilä und Baldock 2003; Glendinning 1998; Hayman 1994; Hutton und Kerkstra 1996; Jacobzone 1999; Jamieson 1991; Rostgaard und Fridberg 1998; Schulte 1996; Tester 1996; 1999). Tabelle 3: Soziale Dienste für Kinder und ältere Menschen in Westeuropa, ca. 1995 Erfassungsgrad1 Anbietermix2 KinderÄltere Menschen KinderÄltere Menschen betreuung betreuung 0-2 3-5 Stationär Ambulant 0-2 3-5 Stationär Ambulant Frankreich Belgien Niederlande Deutschland3 Schweden Dänemark Spanien Italien England/Wales
23 30 8 2 33 48 2 6 2
99 98 71 78 72 82 84 91 60
6,5 6,4 8,8 6,8 8,7 7,0 2,4 2,4 5,1
6,1 4,5 12,0 9,6 11,2 20,3 2,0 1,0 5,5
ÖFP ÖFP FPÖ ÖFP ÖFP ÖFP FÖP ÖFP PÖ
ÖF FÖ FÖ FÖP ÖFP ÖFP ÖFP ÖFP PÖ
ÖFP ÖFP FÖP FPÖ ÖPF ÖF FÖP FÖP PÖF
FÖP ÖFP FP FP ÖP ÖFP FPÖ k.A. ÖPF
k.A.: keine Angaben verfügbar. Anmerkungen: 1 In % der entsprechenden Altersgruppe; für ältere Menschen: in % der Bevölkerung über 65, 2 Ordinale Rangfolge der verschiedenen Anbietertypen: Ö (öffentlich), F (freigemeinnützig), P (privat, kommerziell), 3 Alte Bundesländer. Quelle: Bahle und Pfenning 2001.
Die am höchsten entwickelten Dienste für alte Menschen finden wir in den skandinavischen Ländern. Drei zentrale Merkmale prägen diese Systeme: eine weitgehende Ablösung der Pflege und Altenbetreuung von der Familie, ein Monopol der öffentlichen Versorgung durch die Gemeinden, ein großes Angebot an Diensten sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich. Altenpflege wird als öffentliche Aufgabe verstanden, die in Verantwortung der lokalen Gemeinschaft, also der Gemeinden zu erbringen ist (vgl. Sipilä 1997). In dieser sozialen Ordnung bilden Staat und Gesellschaft keine Gegensätze, sondern eine Einheit. Die Familie wird nicht von anderen, mächtigen intermediären Institutionen wie der Kirche gegen den Staat in Stellung gebracht. In dieser Konstellation durchdringen sich Staat und Gesellschaft auf vielfältige Weise: der Staat ordnet das Leben der Gemeinschaft, die Gesellschaft hat den Staat weitgehend und auf allen Ebenen demokratisiert. Die hoch entwickelte kommunale Selbstverwaltung geht einher mit einem hohen Maß an Bürgerbeteiligung und einer Regelung sozialer Aufgaben durch die örtliche Gemeinschaft. Nicht dass in diesem System freie Vereinigungen keine Rolle spielen würden, im Gegenteil! In
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keiner anderen Gesellschaft spielen Bürgervereinigungen und Vereine eine so große Rolle wie in Skandinavien. Im Unterschied zu anderen Ländern treten sie jedoch nicht als eigenständige Leistungsanbieter auf, sondern sind integraler Bestandteil des öffentlichen Sektors, dessen Inhalte sie wesentlich mitbestimmen. In Skandinavien agieren die freien Vereinigungen größtenteils als Lobby und beeinflussen somit den politischen Entscheidungsprozess auf nationaler und lokaler Ebene (vgl. Rauch 1999; Salamon und Anheier 1996; 1997). Die Dienste als solche werden dann jedoch nahezu ausschließlich durch öffentliche Einrichtungen erbracht. In diesem System fehlender korporativ organisierter intermediärer Instanzen können soziale Aufgaben der Familie weitgehend „vergesellschaftet“ werden, ohne auf Widerstand zu stoßen. Zugleich bedeutet Vergesellschaftung nicht Verstaatlichung, weil der Staat als integraler Bestandteil der Gesellschaft wahrgenommen und von dieser getragen wird. Dies erklärt auch, weshalb nicht nur stationäre Einrichtungen weit entwickelt sind, sondern auch ambulante soziale Dienste. Die Unterstützung der Individuen durch die (örtliche) Gemeinschaft ist eine öffentliche und keine auf die Familie beschränkte private Aufgabe. Doch im Zuge der großen Wirtschaftskrise der 1990er Jahre geriet dieses System in den meisten skandinavischen Ländern unter Druck und musste reformiert werden. Im westeuropäischen Vergleich hatten zu Beginn der 1990er Jahre noch zwei weitere Länder relativ hoch entwickelte soziale Dienste für alte Menschen: Großbritannien und die Niederlande. Im Unterschied zu Skandinavien konzentrierte sich das Angebot jedoch auf den stationären Sektor, ambulante Dienste waren weniger stark ausgebaut, aber immer noch mehr als im Rest Europas. In diesen beiden Ländern kann man also nicht von einer allgemeinen weitgehenden Sozialisierung der Altenbetreuung sprechen. Die Konzentration auf den Heim- und Wohnungssektor hat verschiedene Gründe. In beiden Ländern gab es nach dem Zweiten Weltkrieg ein großes Wohnungsproblem, das bis in die 1960er Jahre hinein andauerte. Eine Möglichkeit, Kapazitäten für jüngere Familien auf dem Wohnungsmarkt zu erschließen, bestand darin, ältere Menschen frühzeitig und in großem Ausmaß in Heimen aufzunehmen und zu versorgen. Die Niederlande hatten zu dieser Zeit eine der höchsten Geburtenraten in Europa, die Familien waren relativ groß. Auch England hatte relativ viele Kinder und zudem einen wachsenden Anteil von Einwanderern aus den ehemaligen Kolonien zu bewältigen. Die nach 1945 verstärkt einsetzende Entkolonialisierung und die damit verbundene Immigration hat das Wohnungsproblem verschärft. Auch in diesem Fall erschienen Altenheime als eine Möglichkeit, den Markt insgesamt zu entlasten. Am Beginn des starken Ausbaus der stationären Altenhilfe in den Niederlanden und in Großbritannien stand also das Wohnungsproblem, erst in zweiter Linie – sozusagen als Folge einer natürlichen Entwicklung – folgte dann das Problem der Altenpflege innerhalb dieser kollektivierten Wohnformen. Dieser Bereich musste schließlich zwangsläufig ebenfalls in großem Ausmaß sozialisiert werden. Die ambulante Altenpflege blieb demgegenüber unterentwickelt. Erst als man die Fehlentwicklungen im stationären Bereich erkannte, versuchte man durch einen verstärkten Ausbau des ambulanten Bereichs gegenzusteuern. Der Ausbau der ambulanten Dienste folgte also in diesem Fall nahezu zwangsläufig auf eine im internationalen Vergleich beispiellose Sozialisierung des Wohnens alter Menschen. In den kontinentaleuropäischen Ländern waren sowohl stationäre als auch ambulante Dienste für ältere Menschen deutlich weniger entwickelt (mit Ausnahme der Niederlande; siehe oben). Am stärksten fielen jedoch die südeuropäischen Länder ab. Die Altenpflege war hier kaum sozialisiert, die alten Menschen wurden meist von ihrer Familie versorgt.
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Nur wenn diese Lösung ausschied, gab es Alternativen, die jedoch meist von kirchlichen und kommunalen Einrichtungen angeboten wurden. Kennzeichen dieser primär auf die Leistungen der Familie bauenden Systeme ist vor allem die Unterentwicklung des ambulanten Bereichs. Alte Menschen leben entweder in der Familie, dann brauchen sie keine ambulante Unterstützung, oder sie müssen gleich stationär untergebracht werden. Diese Lösung bleibt jedoch auf eine kleine Minderheit begrenzt. Interessant ist, dass es in diesen Ländern sehr wohl Erfahrungen mit ambulanten Diensten in anderen Bereichen gibt, vor allem in der Behindertenhilfe und der Versorgung psychisch Kranker. In Spanien zum Beispiel hatten Blinden- und andere Behindertenorganisationen große Bedeutung. Sie wurden vom Staat institutionalisiert und erheblich gefördert, so dass sie ein dichtes Netz vor allem ökonomischer Versorgung aufbauen konnten. Italien war in den 1970er Jahren das europäische Pionierland in der dezentralen Unterbringung von psychisch kranken Menschen in Wohngemeinschaften und deren ambulanter Betreuung in der Gemeinde. Dieses System entwickelte sich als Antwort auf die offenkundigen Probleme und Skandale der damals überwiegenden Unterbringung in großen zentralisierten Institutionen. Offensichtlich gab es einen wesentlichen Unterschied in der Wahrnehmung der Probleme Behinderter und psychisch Kranker auf der einen Seite und „normaler“ alter Menschen auf der anderen: erstere wurden in großem Maße als gesellschaftliches Problem betrachtet, für das Staat und Kirche Verantwortung trugen, letztere fielen in die Zuständigkeit der Familie, und nur im Notfall griffen gesellschaftliche Einrichtungen unterstützend ein. In Frankreich, Deutschland und Belgien war die Situation sozialer Dienste für ältere Menschen bis zum Beginn der 1990er Jahre wiederum durch andere Strukturmerkmale gekennzeichnet. Wie in allen Ländern waren stationäre Dienste, insbesondere Altenheime, weiter ausgebaut als ambulante, häusliche Dienstleistungen. Der staatliche Einfluss auf den stationären Sektor war zudem größer als im ambulanten Bereich, was nicht nur im höheren Anteil öffentlicher Trägerschaft, sondern vor allem im größeren Maß an Regulierung zum Ausdruck kam. Teilten sich öffentliche, freie und – zumindest im Altenheimsektor – ein nennenswerter kommerzieller Sektor die Trägerschaft im stationären Dienstleistungsbereich, hatte der Staat die ambulanten Dienste weitgehend freien, zumeist kirchlich und konfessionell gebundenen Anbietern überlassen. Kommerzielle Anbieter spielten keine Rolle. Soziale Dienste für ältere Menschen waren in diesen Ländern im westeuropäischen Vergleich sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich auf einem mittleren Niveau angesiedelt. Ein weiteres gemeinsames Merkmal dieser hoch entwickelten Wohlfahrtsstaaten ist die große Bedeutung der Sozialversicherung im System der sozialen Sicherheit. Dies unterscheidet diese Gruppe sowohl von den skandinavischen Ländern und England als auch von den südeuropäischen Ländern. Insbesondere Kranken- und Rentenversicherungen spielen bei der Organisation und Finanzierung sozialer Dienste eine entscheidende Rolle. In Frankreich kommen die Familienkassen als weiteres wichtiges Element hinzu. Das System der Krankenversicherungen unterscheidet sich maßgeblich sowohl von den nationalen Gesundheitssystemen in Großbritannien oder Skandinavien als auch von den in den 1970er und 1980er Jahren eingeführten regionalisierten Systemen in Italien und Spanien. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass in den Krankenversicherungssystemen Finanzierung und Trägerschaft bzw. Angebot sozialer Dienste von vornherein voneinander getrennt sind. Gerade im ambulanten und stationären Pflegesektor ist dies ein wesentliches Strukturmerkmal. Versicherungssysteme sind daher von vornherein kom-
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patibel mit Anbieterpluralismus, während staatliche oder regionale Gesundheitssysteme zumeist auf öffentlichen Anbietern aufbauen, mit Ausnahme natürlich der niedergelassenen Ärzteschaft, die auch in diesen Systemen zumeist freiberuflich tätig bleibt. Die Entwicklung sozialer Dienste hängt also in den Ländern dieser Gruppe, zumal in Frankreich und Deutschland, eng mit dem Leistungskatalog der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherungen zusammen, bzw. seit Mitte der 1990er Jahre auch mit der neuen spezialisierten Pflegeversicherung. Die Finanzierung sozialer Dienste ist von den Gebietskörperschaften getrennt und das Angebot ist per se offener für nicht-öffentliche Trägerschaften.
Dienste für Kinder Im Bereich sozialer Dienste für Kinder kommt man zu einer etwas anderen Gruppierung der Länder im westeuropäischen Vergleich (vgl. European Commission 1996; Rostgaard und Fridberg 1998; Bahle 2003). Wiederum sind es die skandinavischen Länder, welche die höchsten Versorgungsraten aufweisen. Doch muss man hier zwischen Einrichtungen für Kinder unter 3 Jahren und solchen für Kinder von 3 Jahren bis zum Beginn der Schulpflicht unterscheiden. In den skandinavischen Ländern finden wir hohe Versorgungsquoten für Kinder beider Altersgruppen. Zudem gibt es keine durchgehende institutionelle Trennung zwischen den Einrichtungen für jüngere und solche für ältere Kinder. Die hohe gleichförmige Versorgung für Kinder aller Altersstufen vor dem Schulbeginn wird ergänzt durch eine hohe Betreuungsquote auch für jüngere Schulkinder. Insgesamt sind diese Einrichtungen zwar wie in den anderen Ländern auch mit dem Ziel der Sozialisation und Erziehung gegründet worden, ihren entscheidenden Wachstumsimpuls erhielten sie jedoch durch den steilen Anstieg der Frauenerwerbstätigkeit seit den 1970er Jahren. In keinem anderen Land waren der Anstieg der weiblichen Erwerbsquote und der Ausbau der Kinderbetreuung für alle Altersgruppen so eng miteinander verbunden wie in Skandinavien (vgl. Leira 1992). Wie im Fall der älteren Menschen, nur mit etwas Zeitverzögerung, wurden im Zuge dieser Entwicklung wichtige soziale Aufgaben von der Familie zum Teil an öffentliche Institutionen abgegeben. Sicherlich spielten auch sozialisationsbezogene Ziele wie das Aufwachsen kleiner Kinder in der lokalen Gemeinschaft eine wichtige Rolle, der entscheidende Impuls war jedoch mit dem Strukturwandel der Familie verbunden. Und wie schon im Bereich der Altenhilfe war die Gesellschaft offen und fähig zu einer veränderten institutionellen Arbeitsteilung, weil es keine grundlegenden Konflikte über Ziele und Wertinhalte sozialer Dienste gab wie in weltanschaulich stärker pluralistischen oder gar gespaltenen Ländern. Die geringste Entwicklung sozialer Dienste für Kinder finden wir überraschenderweise in zwei Ländern, in denen soziale Dienste für ältere Menschen weit ausgebaut waren: in Großbritannien und den Niederlanden. Hierbei muss jedoch berücksichtigt werden, dass in diesen beiden Ländern die Kinder so früh eingeschult werden wie sonst nirgendwo. Die Schulpflicht beginnt schon mit fünf Jahren (in den meisten anderen Ländern mit sechs, in Skandinavien erst mit sieben Jahren), und ein großer Teil der vierjährigen Kinder besucht ebenfalls bereits vorbereitende Klassen an den Grundschulen. Außerhalb dieses Systems gibt es jedoch wenig Angebote, die außerdem meist rein privat betrieben werden. Überraschend ist in beiden Fällen, dass die Versorgung älterer und kranker Menschen offenbar in weit stärkerem Ausmaß als die Betreuung von Kindern als öffentliche Aufgabe betrachtet
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wird. Die ideelle Ablösung älterer Menschen von der Familie ist offenbar stärker verbreitet als das bei Kindern der Fall ist. Es spiegelt sich darin eine Auffassung von der Familie wider, welche staatlichem Einfluss enge Grenzen setzt. Der Staat soll sich in die „normal“ funktionierende Familie nicht einmischen. Es herrscht eine relativ klare Trennung von öffentlicher und privater, das heißt familiärer, Zuständigkeit. Kinder sind eine Familienaufgabe, die vom Staat kaum unterstützt wird. Nicht umsonst haben sowohl Großbritannien als auch die Niederlande eine im europäischen Vergleich rudimentäre Familienpolitik, sowohl was soziale Dienste als auch was Geldleistungen angeht. Alte Menschen dagegen werden eher als öffentliche Aufgabe gesehen. Deshalb sind soziale Dienste für diese Gruppe hoch entwickelt. In beiden Ländern spielten auch besondere historische Umstände eine wesentliche Rolle für diese markante Divergenz zwischen Kindern und alten Menschen. Die Geburtenraten und damit das Bevölkerungswachstum waren in beiden Ländern recht hoch. Es entfiel somit ein wesentliches Motiv der Familienpolitik, das in andern Ländern von zentraler Bedeutung war: das demographische Argument angesichts niedriger Geburtenraten. Hinzu kommt, dass in beiden Ländern ältere Menschen seit langem den Kern des Armutsproblems bildeten und die Frage des Wohnens und Betreuens nach dem Zweiten Weltkrieg in den Mittelpunkt rückten. Diese Grundstrukturen wirkten bis in die 1990er Jahre nach. Die Vorstellung von der Familie als einer vom Staat relativ autonomen Institution und somit der niedrige Grad an Legitimität staatlicher Intervention in diesen Lebensbereich beruht in beiden Ländern auf einem primär protestantisch geprägten Wertesystem und in der in protestantischen Werten wurzelnden Idee der Souveränität. In Großbritannien ging es dabei vor allem darum, die Konflikte zwischen der dominierenden Anglikanischen Kirche und den protestantischen Freikirchen sowie der katholischen Minderheit zu mildern. Typischer Ausfluss dieser Konstellation war der Liberalismus, in seiner Verbindung von ökonomischen und weltanschaulichen Motiven und Interessenlagen. In den Niederlanden war die Konstellation ähnlich: eine dominierende calvinistische Kirche, die sich später in liberale, konservative und orthodoxe Strömungen aufspaltete, und eine bedeutsame katholische Minderheit sorgten gemeinsam für eine soziale Ordnung, in der Staat und Familie weitgehend getrennt blieben und die Gesellschaft sehr stark durch die religiösen und weltanschaulichen Gruppen bestimmt wurde. Die Familie wurde innerhalb dieser Gruppen unterstützt und sozial kontrolliert, weniger vom Staat, der in diesem Gesellschaftsmodell lediglich eine Art „Dachverband“ verschiedener gesellschaftlicher Gruppen bildete. Die protestantisch geprägte Vorstellung von „Souveränität“ ist jedoch von der katholisch geformeten Idee der "Subsidiarität" klar zu unterscheiden. Die protestantischen Kirchen, insbesondere die Freikirchen und die Calvinisten, hatten ein anderes Verhältnis zum Staat und eine andere Vorstellung von Familienpolitik als die Katholiken. Die Grundidee war zunächst familiäre Selbstregulierung und die direkte Verantwortung der Gläubigen vor Gott. Jede Familie ist also zunächst für sich allein verantwortlich. In der katholischen Vorstellung von Subsidiarität steht dagegen von Anfang an der soziale Aspekt der gemeinschaftlichen Verantwortung im Mittelpunkt. Auf dieser Basis konnte sich deshalb eine weit aktivere und substantiell fördernde Familienpolitik bilden als innerhalb des protestantischen Wertekanons. Deutlich sichtbar sind diese Unterschiede in der Entwicklung der Familienpolitik und insbesondere der sozialen Dienste für Kinder. Tatsächlich waren die katholisch geprägten Länder die Pioniere der Familienpolitik in Westeuropa. Sie schufen nicht nur als erste umfassende und leistungsstarke Kindergeldsysteme, sondern bauten auch in großem Maßstab
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Einrichtungen zur Sozialisation und Erziehung kleiner Kinder auf. Kinder wurden von Anfang an stärker als Mitglieder der Gemeinschaft denn als private „Familiengüter“ gesehen. Hinzu kam, dass in den meisten katholischen Ländern die Kirche ihren Sozialisationsund Erziehungsauftrag gegen den neuen liberalen und zentralistischen Staat verteidigen musste. Es kam im Zuge dieser Entwicklungen zu Konflikten und Spannungen zwischen Staat und Kirche, die jedoch letztlich den Aufbau sozialer Dienste erheblich beflügelten. Dieser Aufbau vollzog sich zunächst in Konkurrenz zwischen Staat und Kirche, später wurden die Systeme meist unter einem gemeinsamen Dach institutionalisiert, aber nicht vereint. Noch heute sieht man im europäischen Vergleich die Konsequenzen dieser Entwicklung: die katholischen Länder haben das mit Abstand am weitesten entwickelte System der Vorschulerziehung für Kinder zwischen 3 und 5 Jahren in ganz Europa. Dies gilt nicht nur für die klassischen Länder der Familienpolitik, Belgien und Frankreich, sondern auch für Spanien und Italien, und es gilt gerade auch im Vergleich mit den skandinavischen Ländern. Diese haben zwar eine höhere Versorgungsquote für Kinder unter drei Jahren, bei Kindern zwischen drei und fünf Jahren liegen sie jedoch unter den katholischen Ländern. Im Unterschied zu den skandinavischen Ländern war der Aufbau dieser Systeme auch nicht mit dem Anstieg der Frauenerwerbstätigkeit verknüpft, sondern geschah viel früher und im Kontext einer traditionellen Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern. Im Mittelpunkt stand hier von Anfang an der Aspekt der Sozialisation von Kindern, sei es in die (meist katholische) Glaubensgemeinschaft, oder sei es in den zentralistisch organisierten Nationalstaat, der im 19. und 20. Jahrhundert für alle katholischen Ländern charakteristisch wurde. Deutlich wird der geringe Zusammenhang mit der Frauenerwerbstätigkeit auch an der Funktionsweise dieser Institutionen, die eine zeitliche Koordination mit den Arbeitszeiten nicht immer erleichterte. Hinzu kommt, dass diese Einrichtungen im Unterschied zu den skandinavischen Ländern meist kostenfrei angeboten werden und somit als Bestandteil des staatlichen und gesellschaftlichen Erziehungsauftrags anerkannt sind. In Frankreich zum Beispiel gehören die Vorschulen zum staatlichen Bildungswesen (vgl. Veil 2002); die Lehrer haben dieselbe Ausbildung wie an Grundschulen; es gibt ein erzieherisch und vorschulisch geprägtes Kerncurriculum. In den skandinavischen und deutschen Einrichtungen überwiegt hingegen der spielerische Aspekt der Sozialisation. In der Betreuung von Kindern unter drei Jahren hingegen fallen die katholischen Länder mit Ausnahme Belgiens und Frankreichs weit gegenüber Skandinavien ab. Hierin drückt sich klar der stärkere Arbeitsmarktbezug der skandinavischen Systeme aus. Doch auch Frankreich und Belgien weisen für diese Altersgruppe hohe Versorgungsquoten auf. Der Staat unterstützt in diesen Ländern seit langem nicht nur die Familie mit traditioneller Arbeitsteilung, sondern auch die arbeitende Familie und Mutter, in Frankreich noch stärker als in Belgien. Der Aufbau von Einrichtungen zur Betreuung von Kindern unter 3 Jahren vollzog sich wie im skandinavischen Fall in enger Anlehnung an die Ausdehnung der Frauenerwerbstätigkeit. Insbesondere in Frankreich gibt es eine starke Tendenz von Müttern zur Vollzeitbeschäftigung. Erst ab dem dritten Kind, das in Frankreich lange Zeit im Mittelpunkt der Familienpolitik stand, dominiert die traditionelle Form der Arbeitsteilung in Familien, in Deutschland häufig schon ab dem ersten Kind. Der Aufbau dieser Einrichtungen wurde in erster Linie von den Familienkassen finanziert. Gefördert werden zum Beispiel auch Elterninitiativen und freie Elternvereinigungen, die einen Teil des Angebots tragen.
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Deutschland befindet sich im westeuropäischen Vergleich der sozialen Dienste für Kinder zwischen drei und fünf Jahren im Mittelfeld und bei jüngeren Kindern im hinteren Bereich. Charakteristisch ist der große Unterschied in der Versorgungsrate beider Altersgruppen, der bereits auf einen großen Mangel der deutschen Familienpolitik hinweist: die Problematik der Vereinbarkeit von Familie und Beruf bleibt ungelöst. Kindergärten für Kinder zwischen drei und fünf Jahren sind relativ gut entwickelt, stärker in den süd- und westdeutschen als in den norddeutschen Ländern. Die ehemalige DDR ist ein Sonderfall, der weiter unten in Kapitel 6 näher beleuchtet wird. Betrachtet man die regionale Verteilung der Versorgungsquoten, fällt auf, dass Bundesländer mit katholischer Mehrheit oder starker katholischer Minderheit höhere Werte aufweisen als die fast rein protestantischen norddeutschen Länder. In Deutschland war die Entwicklung der Kindergärten beinahe ausschließlich mit den Motiven der Sozialisation und Erziehung von Kindern verbunden (vgl. Erning, Neumann und Reyer 1987; Holzer 1998). Die Kindergartenbewegung und die aus dem 19. Jahrhundert stammende Reformpädagogik stellten die Bedürfnisse des Kindes in den Mittelpunkt, nicht die Probleme arbeitender Eltern und Mütter. Für diese Gruppe gab es sogenannte Kinderbewahranstalten, auf denen die Krippen für jüngere Kinder, die es heute noch gibt, aufbauen. Die Kindergärten grenzten sich von vornherein klar gegenüber diesen Einrichtungen ab. Sie wollten auch keineswegs primär Arbeiterkinder erfassen, sondern richteten ihr Angebot zunächst vor allem auf die Mittelschichten. Erst allmählich entwickelte sich der Kindergarten zu einer die Kinder aus fast allen Schichten der Bevölkerung einschließenden Einrichtung. Doch die Tatsache, dass die Kindergartenbewegung aus der Mittelschicht stammte, ist noch heute darin sichtbar, dass die Kinder aus unteren sozialen Schichten unterrepräsentiert sind. Dies gilt in besonderem Maße für die Kinder von Immigranten und ausländischen Arbeitern. Auch in der Programmatik und in der praktischen Organisation grenzt sich der Kindergarten klar vom Ziel der Vereinbarkeit von Familienzeit und Berufstätigkeit der Eltern ab. Bis vor kurzem gab es nur wenige Ganztagesangebote, die Öffnungszeiten deckten oft nur die Kernstunden des Vormittags ab, Mittagessen wurde sehr selten angeboten und es gab und gibt lange Ferienzeiten. Das primäre Ziel des Kindergartens ist die Ergänzung der Familie vor allem auf dem Gebiet der frühkindlichen Sozialisation und Erziehung. Die relativ erfolgreiche Geschichte des Kindergartens hat also auch im deutschen Fall nichts mit den Erfordernissen der modernen Erwerbs- und Dienstleistungsgesellschaft zu tun, sondern entstammt den Erziehungsideen des aufgeklärten Bürgertums und den Interessen der unterschiedlichen weltanschaulichen Gruppen, insbesondere der Kirchen, an der Sozialisation von Kindern. Im deutschen Fall gab es in dieser Hinsicht weniger eine Konkurrenz zwischen katholischer Kirche und zentralistischem, liberalem Staat wie in den katholischen Ländern, sondern eine Konkurrenz zwischen evangelischer und katholischer Kirche. Deshalb war die Entwicklung der Kindergärten gerade in den gemischt-religiösen Ländern wie Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Bayern und Nordrhein-Westfalen so erfolgreich. Neben den kirchlichen Anbietern gibt es in geringerem Maße Einrichtungen der sozialdemokratisch geprägten Arbeiterwohlfahrt und einen von den Kommunen getragenen Anteil von ca. einem Drittel. Das kommunale Angebot ist seinerseits vielfältig: in den großen Städten beruht es zum Teil auf der Tradition sozialdemokratischer Kommunalpolitik, auf dem Land ist es auch eine Folge der seit den 1970er Jahren zu beobachtenden Auflösung der kirchlich gebundenen Milieus und deren Integration in kommunale Einrichtungen.
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Trägerstruktur sozialer Dienste Betrachten wir nun nach dem quantitativen Angebot als zweites die Trägerstruktur sozialer Dienste für alte Menschen und Kinder im europäischen Vergleich. Dazu wurde oben schon einiges gesagt, so dass hier nur die Grundvariationen betrachtet und die drei Länder unseres Vergleichs im Mittelpunkt stehen sollen. Aus statistischen und inhaltlichen Gründen bietet sich zudem in der Altenhilfe eine Unterscheidung von stationärem und ambulantem Bereich an. Ebenso sollten Angebote für Kinder unter drei und über drei Jahren voneinander unterschieden werden. Nach der Analyse der Trägerstruktur soll die Rolle des Wohlfahrtsstaates im sozialen Dienstleistungssystem herausgearbeitet werden. In den skandinavischen Ländern dominieren in allen Dienstleistungsbereichen öffentliche Anbieter. Freie Vereinigungen treten kaum als Leistungserbringer in Erscheinung, erfüllen jedoch eine wichtige Rolle als pressure group und als Kooperationspartner von Staat und Gemeinden in der Politikberatung, -planung und -entscheidung (vgl. Rauch 1999). Gesellschaftliche Gruppen sind in Skandinavien generell in starkem Maße in den politischen Entscheidungsprozeß eingebunden. In diesem Sinne ist Politik zum großen Teil „vergesellschaftet“, während das gesellschaftliche Leben erheblich durch öffentliche Institutionen geprägt wird. Da der Wohlfahrtsstaat auf die Einbeziehung der gesamten Bevölkerung zielt, bleibt praktisch kein Spielraum für kommerzielle Angebote. Dies gilt selbst für diejenigen Bereiche, in denen kommerzielle Träger in anderen Ländern eine gewichtige Rolle spielen, weil eine potente Marktnachfrage und die Chance auf Gewinne bestehen: private Kinderbetreuung für erwerbstätige Eltern aus der Mittelschicht und private Altenheime für wohlsituierte Rentner. Doch die öffentlichen Einrichtungen in Skandinavien zielen auf Inklusion, sind qualitativ relativ hochwertig und bieten den Klienten Möglichkeiten der Partizipation. Somit entfallen, neben dem Kostenargument, wesentliche Gründe, welche die Mittelschichten auf private Angebote ausweichen ließen. Eine zentrale Rolle im Dienstleistungsangebot spielen die Gemeinden. In ihren Händen sind soziale Dienste sowohl für ältere Menschen als auch für Kinder und Familien konzentriert. Dabei haben die Gemeinden großen Spielraum sowohl in der Aufbringung der Mittel (eigene Steuerhoheit) als auch in ihrer Verwendung. So zeigen vergleichende Gemeindestudien auch große Variationen im Dienstleistungsangebot (vgl. Sipilä 1997). Die Schlüsselstellung der Gemeinden bietet auch für die Klienten sozialer Dienste gute Beteiligungschancen. So finden sich in den skandinavischen Gemeinden überall Vertreter von Klientenorganisationen, die in der Kommunalpolitik eine gewichtige Stimme haben. Seniorenräte und Elternräte sind auf lokaler Ebene fest institutionalisiert und beeinflussen die politischen Entscheidungen. Das skandinavische Dienstleistungssystem wird also im wesentlichen auf lokaler Ebene durch politische Entscheidungen unter Einschluss aller wichtigen gesellschaftlichen Akteure gesteuert. Dennoch haben sich im Zuge der Wirtschaftskrise zu Beginn der 1990er Jahre Veränderungen ergeben, die einen partiellen Rückzug des Wohlfahrtsstaates implizieren. Die skandinavischen Länder fallen im westeuropäischen Vergleich vor allem durch die zentrale Stellung der Gemeinden, die geringe Bedeutung freier Vereinigungen und das Fehlen eines nennenswerten kommerziellen Sektors in der Dienstleistungsversorgung auf. Blickt man auf den europäischen Kontinent, wächst der Anteil der freien Träger erheblich. Die kontinentaleuropäischen Länder sind durch einen Wohlfahrtsmix gekennzeichnet, der jeweilige Anteil öffentlicher und freier Träger variiert jedoch (vgl. Schmid 1996).
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Länder mit hohen Anteilen freier Dienstleistungsanbieter sind vor allem die Niederlande und Deutschland, mit Abstrichen auch Belgien und Frankreich. Die Niederlande sind der Extremfall eines fast ausschließlich auf freien Trägern gegründeten Wohlfahrtssystems. Grund und Ursache dieses Systems ist die historische, religiös-weltanschauliche Fragmentierung und Versäulung der niederländischen Gesellschaft, in der soziale Kerninstitutionen durch die verschiedenen Gruppen organisiert wurden. Der Staat fungierte im wesentlichen als Dach und Finanzier eines auf diesen Gruppen aufgebauten Systems der sozialen Daseinsvorsorge in den Bereichen Gesundheit und soziale Dienste. In hohem Maße kompatibel mit dieser Struktur war ein umfassendes Sozialversicherungssystem, welches die Finanzierungsgrundlagen für das System sicherstellte. Öffentliche Angebote spielten vor allem in der Armenhilfe eine Rolle, während Dienstleistungen für die große Mehrzahl von Kindern, Kranken, behinderten und alten Menschen durch freie Vereinigungen angeboten wurden. Die Finanzierung war jedoch öffentlich. Kommerzielle Anbieter spielten mit wenigen Ausnahmen keine Rolle, ja, sie wurden de facto ausgeschlossen, indem den freien Trägern quasi eine Monopolstellung eingeräumt wurde. Das Ende des gesellschaftlichen Konsenses der Nachkriegsgesellschaft und der Verfall der „versäulten“ Gesellschaftsstruktur haben jedoch wesentliche Veränderungen in diesem System bewirkt. Zum einen schlossen sich die verschiedenen freien Träger auf lokaler und regionaler Ebene immer mehr zusammen und bildeten schließlich gemeinsame Wohlfahrtsorganisationen aus, die für ein bestimmtes Gebiet zuständig waren. Hand in Hand mit dieser Auflösung der unterschiedlichen weltanschaulichen Milieus und der allmählichen Territorialisierung des Systems sozialer Dienste ging eine fortschreitende Professionalisierung vor allem im Management sozialer Dienste. Wie in vielen Ländern überlagerten gemeinsame professionelle Interessen und Werte allmählich die Reste der weltanschaulichen Differenzen und ebneten somit den Weg für eine enge Kooperation und schließlich den organisatorischen Zusammenschluss der verschiedenen freien Anbieter. Dieser Prozess ging einher mit einer Veränderung der staatlichen Finanzierung sozialer Dienste. Wurde das System früher durch staatliche Zuweisungen an die verschiedenen Anbieter finanziert, ging man nun dazu über, regionale Budgets aufzustellen, die sich zum großen Teil an demographischen Strukturparametern des jeweiligen Gebiets orientierten. Damit wurde die Territorialisierung des Systems auch von staatlicher Seite forciert. Zum zweiten wurde die Monopolstellung der freien Anbieter in den 1990er Jahren allmählich beseitigt. Dies geschah vor allem im Bereich der Kinderbetreuung, wo die Niederlande im Gegensatz zum sehr gut ausgebauten System der Altenhilfe großen Nachholbedarf hatten. Vor allem die Arbeitgeber wurden zur Finanzierung neuer kommerzieller Anbieter mit herangezogen. Trotz dieser Veränderungen dominieren auch heute noch in den Niederlanden freie Träger das Dienstleistungsangebot. Neben den Niederlanden ist Deutschland das zweite Land in Europa, in dem freie Träger eine dominierende Rolle in den meisten Feldern sozialer Dienste spielen. Wie in den Niederlanden liegen die historischen Ursachen für diese Struktur in der religiösweltanschaulichen Differenzierung der deutschen Gesellschaft. Und wie in den Niederlanden dominierten die protestantischen Eliten gegenüber den Katholiken, was auf deren Seite zu vermehrten Anstrengungen führte, eine schützende Subkultur aufzubauen, in der die Familie und die sozial Schwachen und Hilfsbedürftigen aufgefangen wurden. Im Unterschied zum zentralistisch aufgebauten niederländischen Staat war das Deutsche Reich jedoch dezentralisiert, so dass sich in Deutschland regionale und weltanschauliche Differen-
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zierungen stärker miteinander verbanden. Daneben konnten die Kommunen großen Einfluss gewinnen, vor allem die Großstädte, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr sozialdemokratisch beeinflusst wurden. Neben den religiösen Sozialwerken entwickelte sich so im stärker industrialisierten Deutschland ein kommunales System sozialer Dienste, das wir so in den Niederlanden nicht vorfinden. Dieses duale System kommunaler und kirchlicher Wohlfahrtspflege wurde schließlich in der Weimarer Republik gesetzlich institutionalisiert (vgl. Sachße und Tennstedt 1988; 1998). Die Nationalsozialisten höhlten das System zwar aus, es wurde jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg restauriert. Seitdem genießen die Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege eine privilegierte Stellung im System sozialer Dienste (vgl. Heinze und Olk 1981). Sie haben Anspruch auf staatliche Finanzierung, genießen Vorrang vor kommunalen Angeboten und konnten sich einen hohen Grad an Autonomie bewahren. Die Kommunen sind gehalten, auf lokaler Ebene mit den Verbänden nicht nur zusammenzuarbeiten, sondern in besonderem Maße auf deren Bedürfnisse und Belange Rücksicht zu nehmen. Bis vor kurzem waren kommunale Angebote nur dann zulässig, wenn sich kein alternativer freier Anbieter finden ließ. So dominieren die freien Anbieter bis heute im Bereich der Kindergärten für Kinder zwischen drei und fünf Jahren sowie in der Alten- und Behindertenhilfe sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich. Den höchsten Anteil öffentlicher kommunaler Angebote finden wir bei Kinderkrippen für Kinder unter drei Jahren und bei Altenheimen. Die Dominanz öffentlicher Angebote im erstgenannten Bereich ist vor allem dadurch zu erklären, dass die meist religiösen Träger keinen Anlass sahen, erwerbstätige Mütter zu unterstützen. Ihr großes Engagement bei den Kindergärten erklärt sich durch ihr primäres Interesse an der Sozialisation und Erziehung von Kindern, dagegen stießen die stärker auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zielenden Kinderkrippen in Kreisen der freien Wohlfahrtspflege eher auf Ablehnung. Hinzu kommt, dass der ganz überwiegende Teil der Kinderkrippen im großstädtischen Milieu angesiedelt ist. Im Bereich der Altenheime lässt sich der hohe öffentliche Anteil dagegen vor allem durch die hohen Investitionskosten erklären. Im Gegensatz zu den Trägern der freien Wohlfahrt verfügen die Gemeinden in stärkerem Maße über Liegenschaften und Gebäude. Oftmals tragen jedoch die Gemeinden die Investitionskosten und die freien Träger führen den Betrieb. Insgesamt ist die Kooperation zwischen beiden Akteuren als sehr eng zu bezeichnen. In der ambulanten Versorgung besaßen die freien Verbände jedoch bis vor kurzem nahezu eine Monopolstellung. Kommerzielle Anbieter waren im deutschen System mit Ausnahme der Altenheime selten. Im Bereich sozialer Dienste für Kinder stießen sie auf hohe gesetzliche Hürden und die gesetzlich verankerte Vorrangstellung der freien Anbieter. Freier Zugang für kommerzielle Anbieter bestand dagegen in der Altenhilfe. Der Betrieb privater Altenheime für eine wohlsituierte Klientel versprach zudem hohe Renditen. Nach wie vor halten kommerzielle Anbieter in diesem Sektor einen hohen Anteil. Im ambulanten Sektor dagegen haben erst die Reformen der 1990er Jahre, die unten behandelt werden, für eine zunehmende Marktöffnung auch für kommerzielle Anbieter gesorgt. Auch in Frankreich spielen freie Träger eine wichtige Rolle in der sozialen Dienstleistungsversorgung. Allerdings gibt es große Unterschiede sowohl zu Deutschland als auch zu den Niederlanden. Im Unterschied zu den Niederlanden, in denen die freien Vereinigungen das öffentliche Dienstleistungssystem geradezu konstituieren, erfüllen sie in Frankreich eine die staatlichen Einrichtungen ergänzende Funktion. Trotz hoher Anteile des Dritten
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Sektors in manchen Bereichen genießt der Staat mit seinen öffentlichen Einrichtungen politische und administrative Priorität. Dies unterscheidet Frankreich auch ganz wesentlich von Deutschland, wo umgekehrt das Prinzip der Subsidiarität vorherrscht. Staatliche Einrichtungen finden sich in Frankreich vor allem im Bildungs- und somit im Vorschulwesen, in der stationären Altenhilfe und im Gesundheitswesen, das die stationäre Pflege zum größten Teil trägt (vgl. Archambault 1997). Der Staat konzentrierte seine Aktivitäten also auf Kernbereiche und auf stationäre Einrichtungen, ganz in der Tradition des administrativen Zentralismus und verbunden mit der Leitidee einer gleichmäßigen Versorgung und sozialen Integration der Bevölkerung in die Kerninstitutionen der Republik. Dagegen blieben ambulante Dienste, die Behindertenhilfe und auch weite Teile der klassischen Sozialarbeit für Jugendliche und Familien außerhalb des direkten staatlichen Aktionsradius. Hier befindet sich die eigentliche Domäne der freien Träger, die ihrerseits größtenteils aus der katholischen Sozialbewegung stammen, die in Frankreich stets eine sehr wichtige, wenn auch wenig institutionalisierte Rolle spielte. Wenig institutionalisiert ist auch die vielfältige action sociale, die von zahlreichen unterschiedlichen Trägern auf meist freiwilliger Basis erbracht wird. In diesem Sektor ist eine zweite wesentliche, aber häufig übersehene Tradition der französischen Sozialpolitik lebendig geblieben, die neben dem staatlichen Zentralismus das heutige System entscheidend geprägt hat: die Tradition der mutualité und des Voluntarismus. Der Aspekt der mutualité, der im weitesten Sinne als soziale Selbsthilfe verstanden werden kann, ist besonders deutlich ausgeprägt bei Eltern- und Familienverbänden und -gruppen, die Teile der Kinderbetreuung für Kinder unter drei Jahren und der Behindertenhilfe organisierten. Finanziert werden diese Dienste durch staatliche Stellen und vor allem durch die Sozialversicherungen, in erster Linie die selbstverwalteten Familienkassen. Diese verfügen neben ihrer Kernaufgabe, der Verwaltung von Familientransferleistungen, über die Möglichkeit, familienbezogene Dienste im Rahmen der action sociale zu fördern. Eine andere Traditionslinie findet man in der ambulanten Krankenhilfe und Pflege. Hier dominieren die aus der katholischen Sozialbewegung stammenden freiwilligen Vereine auf lokaler Basis, die zum großen Teil von der Krankenversicherung finanziert werden. Insgesamt ist der Sektor der freien Wohlfahrtspflege in Frankreich also sehr lebendig und vielfältig; er erfüllt wichtige Funktionen im Sozialbereich und hält in einigen Sektoren die größten Anteile im Dienstleistungsangebot. Entscheidend ist jedoch, dass die Tätigkeit dieses Sektors in erster Linie komplementär zu den Kernbereichen staatlicher Aktivität erfolgt. Somit kann man im Falle Frankreichs von einer Umkehr des klassischen Subsidiaritätsprinzips sprechen, das in den Niederlanden und in Deutschland die Funktionsweise des Sozialwesens bestimmt. Kommerzielle Anbieter finden sich in Frankreich vor allem auch im stationären Sektor der Altenhilfe, des Gesundheitswesens und der Pflegeeinrichtungen. Auch hier tritt neben der rein privaten Finanzierung durch die Klienten und deren Familien die Sozialversicherung als entscheidende Institution auf. Krankenkassen und Rentenversicherer steuern indirekt einen wesentlichen Anteil zur Finanzierung der kommerziellen Träger bei. In jüngerer Zeit nehmen in Frankreich auch die kommerziellen Angebote im Bereich der ambulanten Pflegedienste zu. Dies ist eine Folge der Mitte der 1980er Jahre eingeleiten Reformen, die unten dargestellt werden. Eine grundsätzlich ähnliche, aber weit weniger entwickelte Dienstleistungsstruktur wie in Frankreich findet man in den südeuropäischen Ländern Italien und Spanien. Auch hier existiert neben dem historisch dominanten, aber schwächeren Etatismus, eine Vielfalt frei-
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williger, lokaler, wenig institutionalisierter sozialer Dienste, die zumeist in irgendeiner Form mit der katholischen Kirche verbunden sind. Daneben hat vor allem in Italien auch die Kommunistische Partei eine wichtige Rolle gespielt, jedoch war sie kaum in den klassischen Arbeitsfeldern kirchlicher Sozialarbeit, der Kranken- und Altenpflege, tätig, sondern mehr in der Kinder- und Jugendarbeit. Staatliche Angebote konzentrierten sich wie in Frankreich auf die Bereiche Gesundheit (und somit stationäre Pflege) und Bildung (und somit das weit ausgebaute Vorschulwesen). Im Unterschied zu Frankreich wurde jedoch sowohl in Italien als auch in Spanien das staatliche System mehr dezentralisiert. In Italien erhielten die Regionen wesentliche Kompetenzen im Gesundheitswesen, in Spanien die autonomen Provinzen im gesamten Sozialbereich. Charakteristisch für die südeuropäischen Länder ist neben einem im allgemeinen relativ gering entwickelten Sozialwesen die Koexistenz von stark institutionalisierten Bereichen neben einer unübersichtlichen Vielfalt zahlreicher, meist lokaler Angebote und Initiativen. Doch das wichtigste Kennzeichen dieser Wohlfahrtssysteme ist ohne Zweifel die zentrale Stellung der Familie. Die Familie, die neben der Kernfamilie meist die Mehrgenerationenfamilie und zum Teil auch die Seitenlinien mit erfasst, trägt einen Großteil der Last bei der Betreuung von Kindern und der Versorgung von Alten und Kranken. Zwar erfüllt die Familie auch in allen anderen westeuropäischen Ländern de facto den größten Teil dieser Aufgaben, aber nirgendwo sonst kann man von einer geradezu institutionalisierten Priorität der Familie sprechen. In anderen Ländern stehen den Familien meist unterstützende Hilfen bzw. auch wirkliche Alternativen zur Verfügung. Genau daran mangelt es jedoch in den südeuropäischen Ländern. Zum einen gibt es wenig ambulante Angebote zur Unterstützung häuslicher und familiärer Dienste, zum andern sind Alternativen meist nur dann verfügbar, wenn die Familie diese nicht leisten kann. Die primäre und zumeist auch ausschließliche Verantwortung für soziale Aufgaben fällt zunächst der Familie zu. Selbst die Kernbereiche der staatlichen Aktivität im Sozialwesen, die Krankenhäuser und Altenheime, bauen häufig auf der Mitwirkung der Familie auf. So wird etwa die Versorgung der Kranken oder Alten mit Nahrung häufig den Familien überlassen, während sich das Personal auf die rein medizinischen Aufgaben konzentriert. In den Vorschulen übernehmen die Erzieher zumeist nur Erziehungsaufgaben, während die sozialen und physischen Bedürfnisse der Kinder kommunal organisiertem sozialem Hilfspersonal oder Elterngruppen überlassen bleiben. In diesem Sinne reicht die Verantwortung der Familie sogar in die öffentlichen Dienstleistungsangebote hinein und kann somit als Teil des Sozialsystems betrachtet werden. Im westeuropäischen Vergleich nimmt England und Wales im Hinblick auf die Trägerstruktur sozialer Dienste heute eine Ausnahmestellung ein. Noch vor zwanzig Jahren hätte man England zusammen mit den skandinavischen Ländern in einer Gruppe behandeln können. Ein wesentliches Merkmal des britischen Wohlfahrtsstaates nach den Reformen von Beveridge war ein gut ausgebautes, lokales und öffentliches System sozialer Dienste, welches neben dem Nationalen Gesundheitsdienst und der staatlichen Sozialversicherung zu dessen Kernbestandteilen gehörte. In gewisser Hinsicht kann der britische Wohlfahrtsstaat nach 1945 als ein Bruch mit der langen liberalen Tradition der Selbsthilfe und dem Voluntarismus betrachtet werden. England war im 19. und bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts sicherlich ein Kernland der freien Wohlfahrtsorganisationen sowie der Traditionen des Voluntarismus und der privaten Wohltätigkeit. In keinem anderen europäischen Land gab es eine solche Anzahl und Vielfalt privater Wohltätigkeit und Sozialarbeit. Hinzu kommt,
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dass ein Grossteil der lokalen Sozialpolitik auf der kommunalen Ebene durch ehrenamtliches Engagement und die Herrschaft lokaler Eliten gesteuert wurde. Insbesondere ein Grossteil der Armenpflege wurde im Rahmen staatlicher Gesetzgebung von lokalen Kommissionen und Beauftragten ehrenamtlich erledigt. Darin spiegelt sich die lange britische Tradition wider, den Staat ohne große staatliche zentrale oder lokale Bürokratien und Beamtenapparate zu verwalten. Zwar stieß dieses System mit der fortschreitenden Industrialisierung immer mehr an funktionale Grenzen, es konnte jedoch durch die lange währende parlamentarische Herrschaft der oberen sozialen Schichten lange Zeit aufrechterhalten werden. Auch die britischen Gewerkschaften wuchsen in diese voluntaristische Tradition hinein und misstrauten staatlicher Sozialpolitik und staatlicher Einmischung in den industriellen Konflikt zutiefst. Kein Wunder, dass sich staatliche Sozialversicherungen erst spät und meist auf einem sozialen Mindestniveau entwickelten. Die Arbeitsbeziehungen ihrerseits blieben bis heute der voluntaristischen Tradition verhaftet und sind die am wenigsten staatlich regulierten in ganz Europa. Wesentlicher Bestandteil der Sozialversicherung in Großbritannien war jedoch von Anfang an ihr universalistischer Charakter. Sie zielte auf den Einschluss der gesamten erwerbstätigen oder überhaupt der ganzen Bevölkerung. Dieses Grundprinzip liberaler Wohlfahrtsstaatspolitik wurde nach 1945 sozusagen generalisiert und auf alle Bereiche des Sozialwesens ausgedehnt. Von zentraler Bedeutung waren die Schaffung des Nationalen Gesundheitsdienstes, der Aufbau eines allgemeinen Familienlastenausgleichs und der Aufbau eines öffentlichen Dienstleistungssystems in Händen der Gemeinden, das sich auf die ambulante Altenpflege und Haushaltshilfen konzentrierte, während die stationäre Pflege meist im Nationalen Gesundheitsdienst angesiedelt war. Die traditionsreichen freien Wohlfahrtsvereinigungen konzentrierten sich auf die klassischen Bereiche der Wohltätigkeit und auf soziale Problemgruppen, also auf Bereiche, in denen der Staat kein standardisiertes Angebot schaffen konnte oder wollte. Die freien Wohlfahrtsvereinigungen behielten ihre Autonomie, wurden nicht ins öffentliche Dienstleistungssystem eingebunden wie in den Niederlanden oder Deutschland, und brachten selbst einen Großteil ihrer Finanzmittel auf. Dabei spielten wirtschaftliche Aktivitäten, vor allem aber die ausgeprägte Spendenkultur eine zentrale Rolle. Der britische Dritte Sektor erwirtschaftete stets einen Großteil seiner Mittel in erster Linie durch Spendenakquisition, so viel wie sonst nur noch in den USA. Darin zeigt sich die nach wie vor lebendige Tradition liberaler, bürgerlicher Wohltätigkeit, die neben dem öffentlichen Sektor bestand. Kommerzielle Anbieter waren bis vor kurzem vor allem in zwei Bereichen anzutreffen: der stationären Altenhilfe und der Kinderbetreuung. Großbritannien gehört zu den westeuropäischen Ländern mit dem geringsten öffentlichen Angebot an Betreuungsplätzen für Kinder unter 4 Jahren (mit 5 beginnt schon die Schulpflicht). Dieses Angebot konzentriert sich zudem auf sozial schwache Familien und Kinder mit Sozialisationsdefiziten. Aufgrund der starken Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit konnten sich in diesem Bereich zahlreiche private Anbieter etablieren, die zum Teil qualitativ hochwertige, aber auch teure Einrichtungen für die arbeitenden Mittelschichten unterhalten. Die konservativen Regierungen seit Ende der 1970er Jahre haben dieses System durch die Ausgabe von Betreuungsgutscheinen und steuerliche Erleichterungen für Kinderbetreuung massiv unterstützt. Seitdem kann man in England und Wales von einem dualen System der Kinderbetreuung sprechen: ein öffentliches für die sozial schwächere Bevölkerung und ein weiter ausgebautes privates für die Mittelschichten, das jedoch staatlich stark subventioniert wird. In der stationären Altenhilfe
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findet sich der zweite traditionelle Schwerpunkt kommerzieller Dienstleistungsanbieter in England und Wales. Auch hier spielt die soziale Differenzierung die entscheidende Rolle. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte England eines der am höchsten entwickelten Systeme von Altenheimen in ganz Europa geschaffen (siehe oben). Die öffentlichen Einrichtungen richteten sich dabei ebenso wie in der Kinderbetreuung meist auf die sozial schwächeren Bevölkerungsgruppen und die Arbeiterschaft, während die Mittelschichten meist in privaten Heimen betreut wurden. Hinzu kam jedoch eine massive finanzielle Unterstützung des Staates für Altenheime, in diesem Falle über die staatliche Sozialversicherung, die einen Großteil der Kosten übernahm. Dies war auch ein wichtiger Grund für die zunehmende Ausdehnung dieses Sektors, gegen welche die Regierung mit den unten ausführlich behandelten Reformen vorgehen wollte. Heute, nach den Reformen, dominiert der kommerzielle Sektor fast alle Dienstleistungsbereiche in England und Wales mit Ausnahme der weiterhin von den freien Vereinigungen beherrschten Feldern der privaten Wohltätigkeit. Damit nimmt das Land heute im westeuropäischen Vergleich eine absolute Ausnahmestellung ein. Inwieweit sich hinter dieser Entwicklung tatsächlich eine zunehmende Privatisierung der sozialen Dienste verbirgt, soll weiter unten analysiert werden.
Zusammenfassung Zusammenfassend lassen sich unsere drei Länder wie folgt im europäischen Vergleich von Dienstleistungssystemen verorten. Hinsichtlich des quantitativen Angebots im Bereich der stationären Altenhilfe gehören England und Wales zur Spitzengruppe in Westeuropa, gut ausgebaut sind auch die ambulanten Dienste für diese Zielgruppe. Hingegen liegen sie im Bereich sozialer Dienste für Kinder am unteren Ende der Skala. In Bezug auf die Trägerschaft sozialer Dienste überwogen bis zu den Reformen der frühen 1990er Jahre die Gemeinden als öffentliche Anbieter, ähnlich wie in Skandinavien. Daneben spielte der Nationale Gesundheitsdienst eine wichtige Rolle bei den Pflegediensten. Nach den Reformen dominieren in fast allen Bereichen kommerzielle Anbieter, was England und Wales zu einem absoluten Sonderfall in Europa macht. In Frankreich waren soziale Dienste für ältere Menschen weniger gut entwickelt. Zusammen mit Deutschland lag das Land im europäischen Vergleich eher im unteren Mittelfeld. Soziale Dienste für Kinder sind hingegen hochentwickelt, ein Erbe der frühen und umfangreichen französischen Familienpolitik, in der das Land führend in Europa war. Hinsichtlich der Trägerschaft findet man eine Mischung aus öffentlichen, freien und kommerziellen Anbietern, die sich jedoch in charakteristischer Weise auf die verschiedenen Dienstleistungsfelder verteilen. In den standardisierten Kernbereichen überwiegen staatliche Einrichtungen, während freie und kommerzielle Träger eher Lücken füllen und Randbereiche abdecken. Deutschland befindet sich im europäischen Vergleich des quantitativen Dienstleistungsangebots sowohl bei älteren Menschen als auch bei Kindern im unteren Mittelfeld, nach den Benelux-Ländern und Frankreich, aber weit vor den südeuropäischen Ländern. Hinsichtlich der Trägerschaft ist Deutschland durch ein duales System der freien Wohlfahrtspflege und kommunaler sozialer Dienste geprägt. Im Unterschied zu Frankreich sind die Träger der freien Wohlfahrt jedoch vor allem in den Kernbereichen sozialer Dienste tätig; sie sind fester Bestandteil des öffentlichen Systems und nehmen darin sogar eine privilegierte Stellung ein.
3
Soziale Dienste in England und Wales
Einleitung In England und Wales hat sich die inhaltliche Bedeutung der sozialen Dienste in enger Anlehnung an institutionelle Arrangements entwickelt. Während der Begriff social services weit greift und alle wesentlichen Bereiche des Wohlfahrtsstaates wie soziale Sicherung, Gesundheitswesen und Bildungssystem umfasst, stehen die personal social services für diejenigen sozialen Dienstleistungen, die in der Regel von den Gemeinden (local authorities) erbracht werden (vgl. Mitchell 1998). Die personal social services entsprechen weitgehend den Merkmalen der in Kapitel 1 formulierten Definition sozialer Dienste. Dieses relativ klar abgegrenzte Verständnis sozialer Dienste hat sich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg durchgesetzt, als das Gesundheitswesen 1946 im Nationalen Gesundheitsdienst in zentralstaatlicher Verantwortung neu geordnet wurde und die sozialen Dienste zugleich als Angelegenheit der Gemeinden festgeschrieben wurden. Obwohl sich medizinische und soziale Dienste in der Praxis häufig überschneiden, zum Beispiel in der Betreuung von älteren, pflegebedürftigen oder behinderten Menschen, ist die institutionelle Trennung zwischen beiden Bereichen in England und Wales wesentlich ausgeprägter als in Frankreich oder Deutschland. Eine zweite wichtige institutionelle Abgrenzung trennt die sozialen Dienste von der ökonomischen Mindestsicherung durch soziale Transferleistungen (Sozialhilfe). Während in den meisten Ländern beide Bereiche eng verbunden sind und in der Regel in lokaler Hand liegen, sind in England und Wales die Gemeinden für die sozialen Dienste und der Zentralstaat für die income support zuständig. Die sozialen Dienste in England und Wales bilden somit im internationalen Vergleich ein institutionell relativ klar von anderen Bereichen des Wohlfahrtsstaates getrenntes Feld mit dezidiert lokaler Verankerung. Darüber hinaus kann auch von einer größeren institutionellen und organisatorischen Integration sozialer Dienste als in den beiden Vergleichsländern gesprochen werden. Das betrifft sowohl die verschiedenen Zielgruppen als auch die unterschiedlichen Hilfeformen. Historisch gesehen waren alle öffentlichen sozialen Dienstleistungen, zunächst einschließlich des Bereichs Gesundheit, im Armenrecht verankert. Doch das Armenrecht wurde im Laufe der historischen Entwicklung des britischen Wohlfahrtsstaates zunehmend aufgelöst, indem für bestimmte Gruppen und Unterstützungsformen Sondersysteme entstanden. Der entscheidende Bruch kam jedoch erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit der 1948 erfolgten Abschaffung des Armenrechts. Damals wurden die medizinischen Dienstleistungen (und einige damit verbundene soziale Dienste) im Nationalen Gesundheitsdienst, die monetären Transferleistungen einschließlich der Sozialhilfe (income support) bei der zentralstaatlichen social security und die sozialen Dienste bei den Gemeinden angesiedelt. Dabei wurden Kinderhilfe und soziale Dienste für Jugendliche von der Alten- und Behindertenhilfe organisatorisch getrennt. Doch 1971 wurde diese Trennung wieder aufgehoben; seitdem liegt die Zuständigkeit für alle sozialen Dienstleistungen in einer Hand: den lokalen Sozialbehörden. Diese sind für Alten- und
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3 England und Wales
Behindertenhilfe sowie soziale Dienste für Kinder, Jugendliche und Familien zuständig. Darüber hinaus erhielten die lokalen Sozialbehörden (social services departments) Schritt für Schritt auch die Zuständigkeit für die verschiedenen Dienstleistungsformen: stationäre Unterbringung, ambulante Dienste und unterstützende Dienstleistungen. Der letzte Schritt dazu erfolgte 1990 mit der community care Reform. Die Entwicklung sozialer Dienste verlief dennoch in den einzelnen Bereichen recht unterschiedlich. Insbesondere die Kinder- und Jugendfürsorge nahm von Anfang an eine Sonderstellung ein, während sich Alten- und Behindertenhilfe größtenteils parallel entwickelten. Die institutionelle, organisatorische und quantitative Entwicklung der einzelnen Felder wird in den folgenden Abschnitten ausführlich dargestellt. Trotz dieser Unterschiede lassen sich einige allgemeine Merkmale der historischen Entwicklung sozialer Dienste erkennen, die das System insgesamt geprägt haben. Vor dem Zweiten Weltkrieg kann man nur in Ansätzen von einem öffentlichen sozialen Dienstleistungssystem in England und Wales sprechen. Außerhalb des Armenrechts gab es kaum nennenswerte öffentliche soziale Dienste, mit Ausnahme der Interventionen und Maßnahmen im Bereich der Kinder- und Jugendfürsorge, die aber in starkem Maße den Charakter der sozialen Kontrolle hatten. Stattdessen wurden soziale Dienste bis nach 1945 zumeist von freien Trägern, den voluntary organizations, erbracht, die sich in England seit dem 19. Jahrhundert in einer im europäischen Vergleich wohl einzigartigen Vielfalt und Breite entwickelt hatten. Die freien Träger bauten vor allem ambulante und häusliche soziale Dienste auf und errichteten Heime für behinderte und pflegebedürftige Menschen. Sie stießen damit in eine Lücke, die das Armenrecht mit seiner Konzentration auf die indoor relief im Armenhaus gelassen hatte. Auch die moderne „offene“ Sozialarbeit hatte ihre Wurzeln in der freien Wohlfahrtspflege. Hervorzuheben ist in dieser Hinsicht die Rolle der 1869 gegründeten Charity Organization Society (vgl. Lewis 1995), die auch den Versuch unternahm, die vielfältige Organisationslandschaft der freien Träger zu koordinieren; doch gelang dies nur teilweise. Zwar entstanden in England und Wales zum Teil große, landesweit tätige, freie Wohlfahrtsorganisationen, bis heute jedoch ist die verbandliche Organisation und Zentralisierung der britischen freien Wohlfahrtspflege wenig ausgeprägt. Die großen Organisationen haben sich darüber hinaus zumeist auf einzelne Felder spezialisiert, zum Beispiel Doctor Bernardo’s (gegründet 1869) oder die National Society for the Prevention of Cruelty to Children (1884), die sich ausschließlich in der Kinderhilfe und in der Jugendarbeit betätigen. Neben der Vielfalt und Spezialisierung der freien Träger war die staatliche Sozialpolitik ein entscheidender Grund für den geringen Zentralisierungs- und verbandlichen Organisationsgrad des Dritten Sektors (vgl. Eichhorn 1996). Zwar wurden die Aktivitäten freier Träger in einigen Bereichen wie der Kinderhilfe in hohem Maße vom Staat finanziell unterstützt, dies mündete jedoch nie in eine enge institutionelle Integration von öffentlichem und freiem Sektor der Wohlfahrtspflege wie in Deutschland (vgl. Wolfenden 1978). Erst die Reformgesetze der 1990er Jahre schufen die Grundlage für eine stärkere Integration, allerdings unter Einbeziehung auch der kommerziellen Anbieter. Öffentliche soziale Dienste außerhalb des engen Rahmens des Armenrechts entstanden in England und Wales erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Die grundlegenden Gesetze waren der National Health Services Act von 1946 und der National Assistance Act von 1948. Sie schufen erstmals die Grundlage für eine breitere Entwicklung lokaler sozialer Dienstleistungen. Die Organisation sozia-
3 England und Wales
83
ler Dienste blieb allerdings stark fragmentiert. Ein weiterer gesetzlicher Meilenstein bildete 1971 die Einführung integrierter lokaler Sozialbehörden (vgl. Cooper 1983), der social services departments, unter deren Zuständigkeit die sozialen Dienste in den 1970er und 1980er Jahren ein starkes Wachstum erlebten. Der dritte Meilenstein in der Entwicklung sozialer Dienste wird durch die Reformen zu Beginn der 1990er Jahre markiert. Der 1990 verabschiedete und 1993 in Kraft getretene National Health Services and Community Care Act läutete einen tiefgreifenden strukturellen Wandel der sozialen Dienste in England und Wales ein. Diesen Wandel kann man jedoch nur dann verstehen, wenn man ihn in den Rahmen der historischen Entwicklung der sozialen Dienste stellt. In dieser Arbeit werden in allen drei Ländern drei Bereiche sozialer Dienstleistungen untersucht: soziale Dienste für Kinder (und Familien) sowie für behinderte und ältere Menschen. Im Mittelpunkt stehen dabei die historische Entwicklung sozialer Dienste sowie ihre institutionellen Organisationsformen und quantitativen Strukturen (vgl. dazu und im folgenden vor allem Baugh 1987; Baldock 2003; Evandrou und Falkingham 1998; Parker und Webb 2000). Soziale Dienste für Kinder sind üblicherweise in zwei Teilbereiche gegliedert: Kinderund Jugendfürsorge (im englischen child care) sowie Kinderbetreuung (child day care). Der erste Teilbereich umfasst soziale Dienste für bedürftige und sozial gefährdete Kinder und deren Familien, den Schutz von Kindern vor Missbrauch und Vernachlässigung (child protection), Kinder in Obhut der Sozialbehörden (children looked after by local authorities) und Hilfen für behinderte Kinder. In diesem Bereich spielen Zwangsmaßnahmen nach wie vor eine Rolle, auch wenn präventive und unterstützende Angebote zunehmend wichtiger geworden sind. Die Kinderbetreuung umfasst Tagesmütter (childminder), Spielgruppen (play groups), Tageseinrichtungen (day nurseries) in öffentlicher und freier Trägerschaft sowie private Vorschulen; öffentliche Vorschulen (nursery schools und nursery classes) unterliegen der Schulaufsicht, für diese sind die lokalen Sozialbehörden nicht zuständig. Eine eigene Gruppe bilden die verschiedenen Dienste für behinderte Kinder. Bei den sozialen Dienste für behinderte und für ältere Menschen unterscheidet man gewöhnlich zwischen stationären Einrichtungen (accomodation; residential services), Tageseinrichtungen (day care), ambulanten Pflege- und Betreuungsdiensten (home help, home care) und unterstützenden Diensten (support services) wie Transporte und Essen-aufRädern (vgl. Walker 1992). Die Struktur dieser Dienste ist für behinderte wie ältere Menschen sehr ähnlich, häufig werden die Dienste für beide Gruppen auch zusammen angeboten. Darüber hinaus sind die gesetzlichen Grundlagen dieser Dienste zum großen Teil vereinheitlicht worden. Seit 1990 gibt es zum Beispiel ein integriertes System der community care für beide Gruppen. Auch in der Statistik werden beide Bereiche, Behinderten- und Altenhilfe, meist zusammen erfasst. Deshalb werden in dieser Arbeit die Entwicklungen in einem gemeinsamen Abschnitt über die Altenhilfe behandelt (vgl. Hauser 1999). Trotz der in England und Wales wichtigen Rolle freier Träger und privater Anbieter sozialer Dienste stellen die lokalen Sozialbehörden den Kern des Dienstleistungssystems dar (vgl. Hill 2000). Im Unterschied zu den Leistungen des Nationalen Gesundheitsdienstes blieben fast alle öffentlichen sozialen Dienste im Grundsatz einem Bedürftigkeitstest unterworfen. Zwar erreichten einige Dienste auch im internationalen Vergleich eine beachtliche Ausdehnung und Inklusion, aber der Grundsatz des individuellen Bedarfs- und des persönlichen Bedürftigkeitstests wurde niemals aufgegeben. Insofern blieb die Tradition
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des Armenrechts zumindest in dieser Hinsicht lebendig, von universalistischen Diensten als sozialen Bürgerrechten kann in England und Wales keine Rede sein. Die Struktur dieses Kerns der öffentlichen sozialen Dienstleistungen lässt sich recht gut durch die Verteilung der Gesamtausgaben auf die verschiedenen Zielgruppen und Dienstleistungsformen erkennen. Leider gibt es keine durchgängigen Zeitreihen, so dass die Zahlen aus unterschiedlichen Perioden nicht direkt miteinander vergleichbar sind. Dennoch lassen sich die großen Entwicklungslinien gut erkennen. Umfassende Statistiken liegen allerdings erst für die Zeit nach 1971 vor, nachdem die integrierten social services departments geschaffen worden waren (vgl. Sainsbury 1977; Webb und Wistow 1987). Betrachtet man zunächst die Zielgruppen, ergibt sich für die 1970er und 1980er Jahre ein relativ klares Bild (siehe Tabelle 4). Tabelle 4: Ausgaben für kommunale soziale Dienste, England und Wales 1977 und 1987 (Angaben in %) Insgesamt
1977 Insgesamt 1
- Soziale Feldarbeit - Stationäre Einrichtungen - Tageseinrichtungen - Community care2 - Andere3
Gemischt4
Ältere Menschen
Erwachsene
Kinder
100,0
(40,8)2
(7,4)
22,3
29,5
11,2 45,2
X 25,0
X 4,2
X 15,6
11,2 0,4
10,2 18,2 15,2
1,4 (14,4)2 X
3,2 X X
3,8 2,9 X
1,8 0,9 15,2
100,0
(38,5)2
(9,1)
20,5
31,9
12,4 38,3
X 21,9
X 5,2
X 11,0
12,4 0,2
1,8 (14,8)2 X
3,9 X X
5,0 4,5 X
2,3 1,9 15,1
1987 Insgesamt 1
- Soziale Feldarbeit - Stationäre Einrichtungen - Tageseinrichtungen - Community care2 - Andere3
13,0 21,2 15,1
X: nicht zuzuordnen. Anmerkungen: 1 Field work, 2 Community care: ambulante Dienste, überwiegend für ältere Menschen; deshalb dieser Gruppe zugerechnet, 3 Verwaltung, Forschung und Entwicklung, andere Dienste, 4 Einschließlich Feldarbeit und Verwaltung, die keiner Personengruppe zuzurechnen sind. Quellen: Statistical Office: Health and Personal Social Services Statistics for England and Wales, verschiedene Jahre; eigene Berechnungen.
Der größte Ausgabenanteil entfällt auf die Zielgruppe älterer Menschen, als zweites rangieren Kinder (und Familien), als drittes schließlich erwachsene Menschen unter 65 mit physischer oder geistiger Behinderung. Ein rundes Drittel der Ausgaben lässt sich jedoch nicht klar einer der drei Zielgruppen zuordnen. Dazu gehören in erster Linie die Aufwendungen für Administration und Ausbildung, aber auch die klassische allgemeine Sozialarbeit (field
3 England und Wales
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work). Wenn man diese Ausgaben ausklammert und nur die anderen Bereiche (stationäre Einrichtungen; Tagespflege; ambulante Dienste) berücksichtigt, wird das Übergewicht der Zielgruppe der älteren Menschen noch ausgeprägter. Auf sie entfallen zum Beispiel über die Hälfte der Ausgaben für stationäre Einrichtungen. Alten- und Pflegeheime allein verursachen rund ein Viertel der Gesamtausgaben der lokalen Sozialbehörden. Überhaupt ist der Anteil der Ausgaben für stationäre Einrichtungen sehr hoch, selbst zusammengenommen liegen die Ausgaben für Tageseinrichtungen und ambulante Dienste weit darunter. Im internationalen Vergleich sehr niedrig sind die Ausgaben für die Tagesbetreuung von Kindern, wenn auch mit leicht steigender Tendenz. Im Jahr 1977 lagen sie bei knapp 4%, 1987 bei nur 5% der Gesamtausgaben. Im Vergleich dazu gaben die Sozialbehörden 1977 rund das Zehnfache und 1987 noch rund das Achtfache für Altenheime und andere stationäre Einrichtungen für ältere Menschen aus. Die Schwerpunkte des englischen öffentlichen Dienstleistungssystems liegen also in starkem Maße bei den älteren Menschen und den stationären Einrichtungen. Allerdings haben sich die Gewichte seit Anfang der 1990er Jahre verschoben. Noch immer bilden die Ausgaben für ältere Menschen zwar den größten Anteil, aber das Gewicht des stationären Sektors hat sich etwas verringert (siehe Tabelle 5). Tabelle 5: Ausgaben für kommunale soziale Dienstea, England und Wales 1993/94 und 2001/02 (Angaben in %) Bereich (1993) Stationäre Einrichtungen Ambulante Dienste und Tageseinrichtungen2 Unterstützende Dienste3
Kinder 1
Ältere
Erwachsene4
Gemischt5
Insgesamt
8,8
16,3
7,5
-
32,6
12,1
16,3
10,1
0,3
38,8
10,5
10,1
7,2
0,8
28,6
Insgesamt (1993)
31,4
42,7
24,8
1,1
100,0
Insgesamt (2001)
23
45
26
6
100
a
Ohne Verwaltungsausgaben. Anmerkungen: 1 Residential care, 2 Non-residential care, incl. day care and community care, 3 Support services, 4 Erwachsene mit physischen, psychischen oder Lernbehinderungen, 5 Keiner Gruppe zuzuordnen. Quellen: Statistical Office: Health and Personal Social Services Statistics for England and Wales, verschiedene Jahre; eigene Berechnungen.
Auch wenn die Zahlen aus Tabelle 5 nicht direkt mit denjenigen aus Tabelle 4 verglichen werden können, ergibt sich daraus, dass der Anteil der Ausgaben für stationäre Einrichtungen auf weniger als ein Drittel gesunken ist. Doch nach wie vor entfallen über 40% der Ausgaben auf ältere Menschen. Dies hat sich auch bis zum Jahr 2001 nicht geändert. Zu diesem Zeitpunkt entfielen rund 45% der Ausgaben der lokalen Sozialbehörden auf ältere Menschen, 23% auf Kinder und Familien und 26% auf Erwachsene unter 65 Jahren; 6% der Ausgaben sind keiner Gruppe zuzuordnen.
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Die Struktur der Ausgaben ergibt somit das Bild eines öffentlichen Dienstleistungssystems, das zumindest über die letzten dreißig Jahre ganz klar durch Dienste für ältere Menschen und eine Dominanz des stationären Sektors gekennzeichnet war. Diese Merkmale sind das Ergebnis einer langen historischen Entwicklung sozialer Dienste aus der Tradition des Armenrechts heraus, das auf geschlossene Institutionen für Bedürftige ausgerichtet war. In der Rückschau kann man die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg als eine ständige Auseinandersetzung mit diesem Erbe betrachten. Bis heute zielen die großen Reformen sozialer Dienste in England und Wales immer noch zum Teil darauf ab, die mit diesem Erbe verbundenen Probleme zu lösen. Dabei kann man vier große Problemkomplexe voneinander unterscheiden. Das Armenrecht war erstens durch einen rigorosen Bedürftigkeitstest gekennzeichnet; bis heute gibt es nur in wenigen Fällen universale soziale Rechte im Bereich sozialer Dienste. Zweitens waren Hilfen innerhalb und außerhalb von Einrichtungen streng voneinander getrennt, die Unterbringung im Armenhaus hatte Priorität. Diese mangelnde Integration und Koordination von stationären und ambulanten sozialen Diensten war ein stets präsentes Problem, das erst durch die Reform von 1990 zur community care umfassend gelöst werden sollte. Inwieweit dies gelungen ist, wird weiter unten untersucht. Drittens schuf das Armenrecht einen Graben zwischen öffentlichen Dienstleistungen und den Angeboten freier und privater Träger. Trotz mannigfaltiger Anläufe, diesen Graben zu überbrücken, machte ebenfalls erst die Reform von 1990 Ernst mit dem Versuch einer stärkeren Integration von öffentlichem und nicht-öffentlichem Sektor sozialer Dienste. Viertens schließlich hatte das Armenrecht lange Zeit eine zentralstaatliche Organisation und Kontrolle gegenüber einer klaren lokalen Zuständigkeit bevorzugt. Die Gemeinden erhielten erst 1929, also weniger als 20 Jahre vor der endgültigen Abschaffung des Armenrechts im Jahr 1948, die Zuständigkeit für diesen Bereich. Bis heute ist die Machtbalance zwischen Zentralstaat und Gemeinden im Bereich sozialer Dienste ungeklärt. Mehr dezentrale Befugnisse in der Durchführung gingen zumeist mit verstärkter zentraler Normierung und Kontrolle einher. Dahinter steht letztlich die offene Frage, wie viel regionale Disparitäten in der Versorgung mit sozialen Diensten der britische Wohlfahrtsstaat zulassen will und kann. Diese vier Problembereiche stehen im Mittelpunkt der nachfolgenden empirischen Untersuchung der Entwicklung sozialer Dienste in England und Wales.
Historische Entwicklung Die sozialen Dienste in England und Wales wurden historisch durch die lange Tradition des Armenrechts geprägt (vgl. Webb und Webb 1963; Hall 1965). Die grundlegende Reform von 1834, die das alte elisabethanische Armenrecht nach dem kurzen Intermezzo des nach der Französischen Revolution eingeführten Speenhamland-Systems in seinem Kern restaurierte, hat die Entwicklung der sozialen Dienste bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs und darüber hinaus in seinen Grundzügen nachhaltig geprägt. Konstitutiv für das Armenrecht waren die strikte Trennung von indoor und outdoor relief, ein strikter Bedürftigkeitstest verbunden mit einer strengen Anwendung des Prinzips der vorrangigen Hilfe durch Familienangehörige, die Zusammenfassung unterschiedlicher Kategorien von Personen in einem System und die Konzentration der indoor relief in großen, gemischten Institutionen für
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Kranke, Alte, Behinderte und Kinder. Die Trennung von indoor und outdoor relief hing eng mit der Unterscheidung von undeserving und deserving poor zusammen. Menschen, die nach den moralischen Maßstäben der viktorianischen Gesellschaft unverschuldet in Not geraten waren, konnten Unterstützung außerhalb von Einrichtungen beziehen, während für die undeserving poor die Einweisung ins Armenhaus erfolgte, die mit dem Verlust der bürgerlichen Rechte verbunden war. Bedürftige Alte, Kranke, Behinderte und Kinder, die nicht von ihrer Familie betreut wurden, wurden alle ins Armenhaus eingewiesen und dort versorgt. Mit den Armenhäusern entstanden somit große öffentliche Einrichtungen zur Versorgung unterschiedlicher Gruppen von Menschen. Diese Einrichtungen hatten zumeist abschreckenden Charakter und sollten auf diese Weise den Grundsatz der Eigenvorsorge gesellschaftlich durchsetzen. Zugleich herrschte in diesen Einrichtungen eine strenge soziale Kontrolle und für alle Arbeitsfähigen Arbeitspflicht, einschließlich Kindern und Alten. Die Lebensbedingungen in diesen Einrichtungen wurden zwar seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gelockert, doch blieben diese Institutionen bis in die 1960er Jahre hinein die zentralen Einrichtungen der stationären Versorgung älterer und behinderter Menschen. Zwei weitere wesentliche Merkmal der britischen sozialen Dienste lassen sich auf die lange Tradition des Armenrechts zurückführen: der Klassencharakter des Systems mit seiner starken Trennung von öffentlichem und privatem Sektor sowie die Entwicklung einer von staatlichem Einfluss weitgehend unabhängigen, freien gemeinnützigen Wohlfahrtspflege. Das Armenrecht schuf die Grundlagen für das öffentliche System sozialer Einrichtungen, insbesondere im stationären Bereich, das bis heute zumeist die unteren sozialen Schichten bedient und sich auch nicht vom Grundsatz der Bedürftigkeitsprüfung verabschiedet hat. Daneben entstand ein privates System sozialer Dienstleistungen und Einrichtungen für die Mittelschichten, das stationäre und ambulante Dienstleistungen vielfältiger Art bereithält. Spielte früher in dieser Hinsicht in der oberen Mittelschicht das Hauspersonal eine wesentliche Rolle, dominieren heute die privaten Anbieter zum Beispiel bei Altenheimen und häuslichen Diensten. Diese Parallelität eines öffentlichen Systems für die unteren und eines privaten Systems für die oberen sozialen Schichten besteht trotz der grundlegenden Reformen der 1990er Jahre fort, die vor allem eine stärkere Integration des Dienstleistungssystems zum Ziel hatten (siehe dazu unten). Der Klassencharakter des Systems sozialer Dienste ist auch ein zentraler Faktor für die im internationalen Vergleich herausragende Separierung von gesetzlich geregelten öffentlichen Leistungen und einem davon weitgehend losgelösten Bereich der freien und freiwilligen Wohlfahrtspflege. England war das Pionierland der Industrialisierung und einer privaten Wohltätigkeit, die zwar im Ursprung zumeist religiös motiviert war, sich aber weitgehend unabhängig von der etablierten Kirche entwickelte. Vor allem das Bürgertum, aber auch die Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts schufen einen vielfältigen Sektor privat organisierter Wohltätigkeit und der Selbsthilfe, der bis ins 20. Jahrhundert hinein in Europa seinesgleichen suchte. Während sich der Staat auf die lokalen Einrichtungen der Armenhilfe konzentrierte und eine darüber hinausgehende Sozialpolitik für die arbeitende Bevölkerung im europäischen Vergleich (vor allem gemessen am industriellen Entwicklungsstand Großbritanniens) erst sehr spät aufgebaut wurde, blühte die freie Wohlfahrt in beispielloser Vielfalt (vgl. Johnson 1996). Hier liegen die Wurzeln für die Altenpflege, Behindertenhilfe, Kinderbetreuung und für die Entwicklung der Sozialarbeit als Beruf und Disziplin. Die Sozialarbeit wurde dabei vor allem von bürgerlichen Frauen aufgebaut und hatte von An-
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fang an stark pädagogische Elemente. Dies hat schließlich auch dazu geführt, dass die Ausbildung zum Sozialarbeiter in England als einer der wenigen sozialen Berufe auf Universitätsniveau angesiedelt wurde, während die eher praktisch orientierten Tätigkeiten der Betreuung und Pflege sowie der Haushaltshilfen im internationalen Vergleich eher wenig professionalisiert sind. Im Laufe der Entwicklung zum Wohlfahrtsstaat schlugen die verschiedenen gesetzlichen Programme für Alte und Kinder zwar zunehmend Schneisen in das historisch gewachsene System der freien Wohlfahrt, aber der freie Sektor besetzte immer wieder vor allem die innovativen Felder der Dienstleistungsarbeit und bediente die Bedürfnisse von Gruppen, die nicht zum Zielspektrum staatlicher Sozialpolitik zählten. Ein wesentliches Merkmal dieser Entwicklung war, dass im Zuge des Ausbaus der staatlichen Sozialpolitik primär öffentliche Einrichtungen geschaffen wurden, während die freie Wohlfahrt den großen, vom Staat nicht gesteuerten Bereich pflegte. Somit entstanden zwei weitgehend voneinander getrennte und doch wie durch ein System kommunizierender Röhren miteinander verbundene Sektoren, die erst durch die Reformen der 1990er Jahre institutionell enger verzahnt wurden. Die britische Sozialpolitik setzte im Zuge ihrer Entwicklung primär am Status des Staatsbürgers an, nicht so sehr am Erwerbsstatus. Die Ausdehnung sozialer Rechte erfolgte jedoch nicht einheitlich und erfasste nicht alle Bereiche und Zielgruppen gleichermaßen. Für die hier betrachteten älteren Menschen und Kinder stechen drei sozialpolitische Errungenschaften hervor, die einen dezidiert universalistischen Charakter besitzen: die Einführung allgemeiner Altersrenten (1908; erweitert nach 1945), der Nationale Gesundheitsdienst (1946) und die Einführung eines allgemeinen Kindergeldes (1948). Die Altersrenten legten ein Mindestrentenniveau für alle Erwerbstätigen, einschließlich der Selbständigen, und deren Familienangehörige auf quasi-universalistischer Grundlage fest und lösten somit eine ganze Bevölkerungsgruppe aus dem alten Regime des Armenrechts heraus. So niedrig die allgemeinen Staatsrenten auch waren, lag darin doch ihre wahre sozialpolitische Bedeutung. Die staatlichen Altersrenten wurden erst in den 1970er Jahren durch eine staatliche, beitrags- und lohnbezogene Zusatzrente ergänzt. Die Einführung eines Nationalen Gesundheitsdienstes löste auch die medizinische Versorgung aus der Umklammerung des Armenrechts und schuf ein für alle Wohnbürger frei zugängliches und kostenloses System ambulanter, häuslicher und stationärer medizinischer Versorgung und Krankenpflege. Davon profitierten nicht zuletzt Mütter mit Kindern und ältere Menschen, die vordem zu den quantitativ bedeutendsten Klienten der armenrechtlichen Krankenversorgung zählten. Trotz vielfacher Probleme und Kritik am Leistungsniveau des Nationalen Gesundheitsdienstes, vor allem im internationalen Vergleich, liegt darin ein großer sozialpolitischer Fortschritt. Obwohl der britische Wohlfahrtsstaat nach den grundlegenden Reformen im Anschluss an den Beveridge-Bericht nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs universale soziale Rechte in verschiedenen Bereichen verankerte und somit ein System sozialer Grundsicherung schuf, blieben die sozialen Dienste davon zum größten Teil ausgenommen. Weder in der Altenhilfe noch in der Familien- und Kinderpolitik entstanden dem Nationalen Gesundheitsdienst vergleichbare Einrichtungen. Zwar wurden die Leistungen nach dem Zweiten Weltkrieg auch in diesen Bereichen ohne Zweifel verbessert und ausgebaut, es wurde jedoch kein grundlegend neues System eingeführt. Auch wurden die hergebrachten Grundsätze des Armenrechts zunehmend gelockert, es wurden jedoch keine neuen allgemeinen sozialen Rechte eingeführt. Weder entstand ein allgemein zugängliches kostenloses System
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der Altenbetreuung und –pflege, mit Ausnahme der medizinischen Versorgung im Nationalen Gesundheitsdienst, noch ein flächendeckendes System der Kinderbetreuung. Bis heute ist das Problem der Langzeitpflege in Großbritannien nicht grundsätzlich gelöst. Im Gegenteil blieben diese Bereiche nach wie vor im langen Schatten der historischen Entwicklung des Armenrechts und der Sozialhilfe. In der Altenhilfe entstand immerhin ein im internationalen Vergleich relativ gut entwickeltes System, vor allem im stationären Bereich, während die Kinderbetreuung im europäischen Spektrum bis heute das Schlusslicht bildet. Außerdem blieb der Klassencharakter sowohl in der Altenhilfe als auch in der Kinderbetreuung erhalten. Nach wie vor versorgen die öffentlichen und öffentlich finanzierten Einrichtungen in privater Trägerschaft vor allem die unteren sozialen Schichten und die Arbeiterschaft, während die privat finanzierten und betriebenen Einrichtungen Leistungen für die Mittelschichten anbieten. In keinem anderen europäischen Land dürften die Klassenunterschiede in den sozialen Einrichtungen so ausgeprägt sein wie in Großbritannien. In den folgenden Abschnitten dieses Kapitels wird die historische Entwicklung der Altenhilfe, der sozialen Dienste für Behinderte und der Kinderhilfe bis zum Beginn der Reformen der 1990er Jahre untersucht. Soziale Dienste für ältere und für behinderte Menschen werden dabei zusammen betrachtet, weil sich die einzelnen Maßnahmen und Dienste sehr ähnlich sind. Allerdings unterscheiden sich die gesetzlichen Grundlagen dieser Dienste zum Teil voneinander. Generell kann man sagen, dass soziale Dienste für ältere Menschen restriktiver gehandhabt werden, während Dienste für behinderte Menschen zumindest seit den 1950er Jahren auf breiterer Grundlage angeboten werden. Die Anspruchsvoraussetzungen sind in der Regel weniger streng, in einigen Bereichen kann man durchaus von universalistischen Diensten für behinderte Menschen sprechen, während die Altenhilfe noch viel stärker auf Bedürftigkeit beruht. Hinzu kommen Geldleistungen für behinderte Menschen, die ihnen eine höhere Flexibilität ermöglichen, hier jedoch nicht behandelt werden. Dennoch macht es Sinn, beide Bereiche im Rahmen dieser Arbeit zusammen zu betrachten, weil sich die Institutionalisierung der sozialen Dienste für ältere und für behinderte Menschen ähnlich entwickelt hat. 1990 wurden sie zudem praktisch in das übergreifende Konzept der community care integriert. Genau dieser Aspekt der Institutionalisierung des Dienstleistungsangebots interessiert uns hier (vgl. dazu und im folgenden vor allem Means und Smith 1998; Means, Morbey und Smith 2002; Means, Richards und Smith 2003).
Alten- und Behindertenhilfe In England und Wales warf das alte Armenrecht einen langen Schatten auf die Entwicklung eines wohlfahrtsstaatlichen Systems der Altenhilfe. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg trat die Altenhilfe aus dem Regelungsbereich des Armenrechts heraus und noch später, beginnend seit den 1960er Jahren, gelang auch die praktische Herauslösung der sozialen Einrichtungen für ältere Menschen aus dessen faktischer Umklammerung (vgl. Homson 1983). Dieser Sachverhalt drückte sich vor allem in einem deutlichen Übergewicht der stationären Einrichtungen gegenüber den ambulanten, häuslichen Diensten aus. Zudem wurden die alten Menschen zum Teil noch bis in die 1960er Jahre hinein zusammen mit anderen Wohlfahrtsempfängern in großen, undifferenzierten Einrichtungen, den alten Arbeits- und Armenhäusern, untergebracht.
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Wie überall in Europa prägten vor allem die religiösen Orden und Klöster auch in England die mittelalterliche Wohlfahrt, die Krankenpflege und die Hilfe für behinderte und alte Menschen. Die Kontinuität dieser Einrichtungen wurde jedoch durch die Reformation und die Glorious Revolution gebrochen. In seiner Studie über Altenheime in England konstatiert Townsend (1962), dass dadurch seit dem 16. Jahrhundert Hospitäler und ähnliche Einrichtungen für beinahe zwei Jahrhunderte von der Bildfläche Englands verschwanden. Erst wieder im 18. und vor allem im 19. Jahrhundert entwickelte sich dann ein neues, durch freie Träger geprägtes, „freiwilliges“ System von Krankenhäusern, das bis zur Einführung des Nationalen Gesundheitsdienstes 1946 den Kern der Krankenhausversorgung bildete. Die alten Menschen wurden jedoch nach der Abschaffung der religiösen Einrichtungen im 16. Jahrhundert zunächst in Häusern der reformierten Kirchengemeinden, später in zunehmendem Maße in den Armenhäusern des 1601 eingeführten elisabethanischen Armenrechts untergebracht, und zwar zusammen mit Kranken, Armen, psychisch Kranken, Obdachlosen, unverheirateten Müttern und Kindern und anderen Hilfsbedürftigen und „Arbeitsscheuen“. Das Armenhaus erfüllte von Anfang an eine mehrfache Funktion: es war Disziplinierungsinstrument und zugleich eine soziale Einrichtung. Die Lebensbedingungen der Insassen waren hart; Anspruchsrechte hatten sie keine, im Gegenteil verloren sie mit dem Eintritt ins Armenhaus ihre bürgerlichen Freiheitsrechte und wurden zu Untertanen des Armenregimes. Davon getrennt entwickelten sich vor allem seit dem 19. Jahrhundert Einrichtungen in freier und zum Teil auch kommerzieller Trägerschaft für die wachsenden Mittelschichten. Zwar boten freie Träger einem kleinen Teil bedürftiger älterer Menschen Unterstützung an, doch beschränkte sich diese zumeist auf spezielle Gruppen wie Blinde oder geistig Behinderte, der Mehrheit der pflege- und unterstützungsbedürftigen ärmeren alten Menschen blieb jedoch nichts als das Armenhaus. Die Reform des Armenrechts 1834 hatte die Bedingungen nochmals deutlich verschärft. Es wurde das Prinzip verankert, dass es keinem öffentlich versorgten Armen besser gehen sollte als dem „Arbeiter vom niedrigsten Stand“ (Townsend 1962: 20). Dieser Grundsatz der Hilfe auf unterstem Niveau (less eligibility) wurde während des ganzen 19. Jahrhunderts bis weit ins 20. Jahrhundert hinein strikt durchgesetzt. Für die Alten und Kranken, für die dieses System eigentlich nicht geschaffen war und die nur mangels eigenständiger, spezieller Einrichtungen in die Institutionen des Armenrechts geraten waren, war dies eine denkbar schlechte Konstellation. In zunehmendem Maße waren es jedoch gerade sie, welche die Mehrheit der Insassen der Armenhäuser stellten, ohne dass diese deren besonderen Lebensumständen und Bedürfnissen gerecht werden konnten. Das Gesetz von 1834 sah zudem ein zentralisiertes System der Kontrolle und Armeninspektion vor. Dadurch sollten die harschen Regeln landesweit durchgesetzt, jedoch auch auf die Einhaltung von Standards geachtet werden. Zu diesem Zweck wurde das Land in Armenbezirke eingeteilt, innerhalb dieser großen, zumeist isoliert gelegene Armenhäuser als zentrale Einrichtungen für alle Armen eines Bezirks entstanden. Im ganzen Land entstanden auf diese Weise Hunderte großer Armenhäuser mit völlig gemischter Bewohnerschaft, in denen Kinder und Alte, Mütter und Geisteskranke, Kranke und Gesunde in enger Nachbarschaft hausten. In vielen Gemeinden wurde das Armenrecht jedoch nicht so strikt angewendet, und alte und behinderte Menschen konnten auf Hilfen außerhalb von Einrichtungen ausweichen. Dies stellte jedoch die Ausnahme dar. Die staatlichen Armeninspektoren drangen mittels ihrer Kontrollfunktion über die lokale Armenfürsorge immer wieder darauf, die Hilfen auch für ältere
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Menschen soweit wie möglich auf das Armenhaus zu konzentrieren, um deren Familien vor einem Missbrauch öffentlicher Leistungen abzuschrecken und zur Unterstützung ihrer Angehörigen anzuhalten. So blieben die Versuche, die Lebensbedingungen älterer Menschen in den Armenhäusern zu verbessern und die Möglichkeiten zum Hilfebezug außerhalb dieser Einrichtungen zu erweitern eher sporadisch und wurden von der offiziellen Armenpolitik begrenzt. Im Jahr 1909 beklagte die Royal Commission on the Poor Laws diesen Zustand und forderte eine spezielle Behandlung und Unterbringung der verschiedenen Gruppen, insbesondere der älteren Menschen. Doch während für Kinder und Waisen zunehmend eigene, separate Einrichtungen und Dienste aufgebaut wurden, mussten die Alten noch viele Jahre im Armenhaus bleiben. Die Kommission hatte festgestellt, dass von den im Jahr 1909 insgesamt ca. 140.000 alten Menschen, die dem Armenrecht unterlagen, rund 2.000 in speziellen Einrichtungen lebten, die übergroße Mehrheit befand sich im Armenhaus. Dabei machten Menschen über 60 Jahre fast die Hälfte der Armenhausbewohner aus. Townsend stellt in seiner Studie fest, dass sich diese Situation bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs nicht wesentlich verändert hatte. Obwohl die alten Menschen von zahlreichen Verbesserungen im System des Armenrechts profitieren konnten, blieben die grundlegenden Verhältnisse davon nahezu unberührt. Zunehmend wurden jüngere Bevölkerungsgruppen, vor allem Mütter und Kinder, aus dem Armenhaus heraus in eigens für ihre Zwecke konzipierte Heime untergebracht, ebenso wie jüngere kranke und bedürftige Menschen mehr und mehr in den stark wachsenden Krankenhaussektor übernommen wurden. In den Armenhäusern entstanden zum Teil spezielle Pflegeabteilungen für alte Menschen. Während die Rentengesetzgebung von 1908 die ökonomischen Lebensbedingungen der älteren Menschen verbessert hatte, blieben die sozialen Dienste im alten System gefangen. Auch die Reform der kommunalen Verwaltung von 1929 (Local Government Act) veränderte an dieser Situation nur wenig. Ziel dieser Reform war vor allem die Transformation einiger Einrichtungen des Armenwesens in allgemeine öffentliche Krankenhäuser, um neben dem großen und vielgestaltigen freien Sektor einen öffentlichen Gesundheitssektor für die Grundversorgung der Bevölkerung aufzubauen. Damit begann eine weitere Etappe in der Geschichte der wachsenden Spezialisierung des öffentlichen Armenwesens. Diese Umwidmung gelang jedoch bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nur unvollständig. Der Zweite Weltkrieg verschlechtere die Lage der alten Menschen in den Armenhäusern noch zusätzlich, indem die Krankenpflegestationen und Einrichtungen der Gesundheitsversorgung in starkem Maße den wachsenden Bedürfnissen des Krieges angepasst werden mussten. Bis nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs lebte also die große Mehrheit der hilfsbedürftigen alten Menschen in großen Armenhäusern, unter zum Teil beklagenswerten Umständen. Es gab kaum kleinere Heime in öffentlicher Trägerschaft und die Angebote der freien Träger richteten sich zumeist an spezielle Gruppen und an die Mittelschichten. Freie Träger betrieben meist kleinere Häuser, doch 1944 wurden nur 230 freie Altenheime für ca. 9.000 Personen gezählt (Townsend 1962: 31). Der Zweite Weltkrieg markiert in vielerlei Hinsicht eine historische Wasserscheide in der Geschichte des britischen Wohlfahrtsstaates, in mancher Hinsicht jedoch überwiegt die Kontinuität. Im Bereich sozialer Dienste überwog zunächst die Kontinuität, trotz ursprünglich umfassender Reformabsichten, während die soziale Sicherheit und das Gesundheitswesen grundlegend erneuert wurden. Der National Assistance Act von 1948 sollte das alte Armenrecht im Bereich der Sozialfürsorge und der öffentlichen sozialen Dienste endgültig
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begraben, ebenso wie der 1946 eingeführte Nationale Gesundheitsdienst im Bereich des Gesundheitswesens. Mit diesen beiden grundlegenden Reformen entstanden jedoch zugleich die beiden Bereiche des Gesundheits- und des Sozialwesens, deren Konkurrenzund Kooperationsbeziehungen die Entwicklung der Altenhilfe, und insbesondere der Altenpflege, bis heute nachhaltig bestimmen sollten (vgl. Lewis 2001). Das Gesetz von 1948 schuf erstmals eine Pflicht für die local authorities, stationäre Einrichtungen für ältere und behinderte, pflegebedürftige Menschen anzubieten, die anderweitig nicht versorgt werden konnten. Es brach mit dem Armenrecht und dem Armenhaus, schuf jedoch im Gegensatz zur Neuordnung des Gesundheitswesens durch den Nationalen Gesundheitsdienst weder ein individuelles Recht auf Versorgung noch schaffte es die Bedürftigkeitsprüfung ab. Somit erhielten die stationären sozialen Einrichtungen für ältere Menschen, zu denen nun auch noch die ambulanten sozialen Dienste traten, einen eigenen Platz im Koordinatensystem des neuen britischen Wohlfahrtsstaates nach dem Zweiten Weltkrieg: im Gegensatz zu den zentralisierten Kerninstitutionen der sozialen Sicherung und dem Nationalen Gesundheitsdienst wurden sie in die Verantwortung der Lokalverwaltungen gestellt und ihre Leistungen wurden nur nach einer Bedarfs- und Bedürftigkeitsprüfung gewährt. Sie spielten somit im auf sozialen Staatsbürgerrechten beruhenden britischen Wohlfahrtsstaat universalistischer Prägung eine klar abgegrenzte Sonderrolle, die trotz des späteren Ausbaus der sozialen Dienste im Grundsatz bis heute Gültigkeit hat. Umgekehrt übernahm jedoch der jedem Staatsbürger kostenlos zur Verfügung stehende Nationale Gesundheitsdienst nach dem Zweiten Weltkrieg bis zu den grundlegenden Reformen der 1990er Jahre, auf die ich weiter unten zu sprechen komme, in hohem Maße die Aufgabe der medizinischen Altenpflege, und zwar sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich. In den öffentlichen Krankenhäusern entstanden geriatrische Abteilungen, und es wurden spezielle Pflegeheime aufgebaut. Im ambulanten Sektor übernahmen die Institutionen des home nursing und district nursing zentrale altenpflegerische Aufgaben im häuslichen Umfeld. Die den Lokalverwaltungen zugeordneten sozialen Dienste für ältere Menschen umfassten somit in erster Linie die klassischen Altersheime, die bis in die 1960er Jahre hinein zumindest in physischer Hinsicht aus der Tradition des Armenrechts stammten, sowie die nach dem Krieg erstmals als öffentliche Aufgabe definierten Haushaltshilfen (home help services). Dabei gab es natürlich von Anfang an Kooperationsbedarf mit und Abgrenzungsprobleme zu den Einrichtungen und Diensten des Nationalen Gesundheitsdienstes einerseits und zur Wohnungspolitik andererseits. Im Jahre 1948 stellte sich die Situation zunächst so dar, dass in den ca. 400 vom Armenrecht geerbten Einrichtungen rund 130.000 Personen einsaßen. Rund 100 dieser Einrichtungen wurden alsbald in die Nutzung als Krankenhäuser überführt, weitere 200 bestanden als gemischte Einrichtungen mit Wohncharakter und medizinischer Betreuung fort, der Rest als Einrichtungen mit reinem Wohncharakter. Der ursprüngliche Gedanke, alle pflegebedürftigen alten Menschen der Verantwortung des Nationalen Gesundheitsdienstes zu überstellen, erwies sich als Illusion, im Gegenteil ließ sich eine zunehmende Verlagerung dieser Aufgabe auf die lokalen Sozialbehörden feststellen. Der Altenheimsektor wuchs deutlich stärker als die geriatrischen Abteilungen in den Krankenhäusern, gleichzeitig nahm der Anteil der sehr alten und auf Hilfe Dritter angewiesener Insassen überproportional zu. Die Krankenhäuser des Nationalen Gesundheitsdienstes verstanden sich mehr und mehr als Einrichtungen zur akuten medizinischen Behandlung, nicht als Institutionen der Langzeit-
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pflege. Darüber hinaus hielt der Ausbau neuer und moderner Altenheime nicht Schritt mit dem wachsenden Bedarf, weshalb zahlreiche Häuser, die bereits als Armenhaus gedient hatten, fortbestanden und bis in die 1960er Jahre hinein einen größeren Anteil des Gesamtangebots ausmachten. Das ursprüngliche Ziel, viele kleinere Heime zu öffnen und dadurch den Bedarf größtenteils zu decken, wurde weitgehend verfehlt. Die Erhebung von Townsend (1962) gibt ein umfassendes Bild der stationären Einrichtungen für ältere Menschen im Jahr 1960, also zwölf Jahre nach dem Ende des Armenrechts in Großbritannien. Insgesamt befanden sich 1960 rund 2% der Bevölkerung über 65 Jahren in England und Wales in stationären Einrichtungen der Altenhilfe. Dabei sind die alten Menschen in Krankenhäusern nicht eingeschlossen. Die Zahl der Plätze in diesen Heimen lag etwas höher als die Zahl der alten Bewohner, da zum Teil auch behinderte Menschen aufgenommen wurden. So waren von den rund 104.000 Bewohnern rund 95.000 über 65 Jahre alt (siehe Tabelle 6). Dabei gab es große regionale Variationen. Das Angebot reichte von rund 3% an Plätzen für die Bevölkerung über 65 Jahre in einigen Gebieten bis zu weniger als 1% in anderen. Tabelle 6: Stationäre Altenhilfe, England 1960 (in %) Einrichtungen
Heime
Betten
Bewohner
Darunter: Ältere3
Versorgungsquote4 Ältere3
Former public assistance1 Andere kommunale Freie Träger2 Privat
9,3
3,3
33,3
31,0
5,6
33,1
33,3
33,7
35,2
6,3
24,5 33,2
23,0 10,5
23,3 9,7
23,5 10,3
4,3 1,9
3.335
110.767
104.400
95.527
18,1
Insgesamt (N)
Anmerkungen: 1 Alte, aus dem Armenrecht stammende Einrichtungen in kommunaler Trägerschaft, 2 Voluntary organizations, 3 Menschen über 65 Jahre, 4 Ältere Bewohner von Heimen in ‰ der Bevölkerung über 65 Jahre. Quelle: Townsend, 1962: S. 43, 44 und 48; eigene Berechnung.
Rund zwei Fünftel der Institutionen befanden sich in direkter Trägerschaft der Lokalverwaltungen, ca. ein Drittel wurde von privaten, kommerziellen Trägern betrieben und etwa ein Viertel lag in Händen von freien Trägern (voluntary organizations). Doch mehr als zwei Drittel der Betten (Plätze) befanden sich in den von den Lokalverwaltungen betriebenen Heimen, während der Anteil der Betten in den Institutionen unter freier Trägerschaft rund ein Viertel und in denen unter privater Trägerschaft nur rund 10% betrug. Die lokalen Heime waren also weit größer als die freien und insbesondere die privat-kommerziell betriebenen Einrichtungen (siehe Tabelle 7). So lebten rund 90% der Bewohner privater Heime in Einrichtungen mit höchstens 30 Insassen, kein einziger davon in Heimen mit mehr als 60 Bewohnern. Demgegenüber lebte mehr als ein Viertel der in den kommunalen Einrichtungen untergebrachten Bewohner in Heimen mit mehr als 250 Insassen. Diese großen Einrichtungen waren der Restbestand der
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alten kommunalen Armenhäuser, die zum damaligen Zeitpunkt immer noch rund ein Drittel aller Plätze im stationären Altenhilfesektor bereitstellten. Insgesamt konzentrierte sich das kommunale Angebot 1960 auf große Einrichtungen, während freie Träger tendenziell eher mittelgroße Heime betrieben; private Anbieter verfügten zumeist über kleine Einrichtungen. Insbesondere die großen kommunalen Häuser wiesen als Erben des alten Armenrechts erhebliche qualitative Mängel auf, aber auch manche kleinen Häuser konnten keinen befriedigenden Standard aufweisen. Dennoch war die Situation in den Heimen unter kommunaler Trägerschaft im Durchschnitt die bei weitem schlechteste. Dies hing vor allem mit der hohen Klassendifferenzierung der Einrichtungen in unterschiedlicher Trägerschaft zusammen. So konzentrierten sich die ärmeren Bevölkerungsschichten, insbesondere alte Menschen aus der Arbeiterschaft, in den kommunalen Heimen, während die freien Träger zumeist Angehörige der Mittelschichten versorgten. In privaten Heimen lebten fast ausschließlich Menschen aus höheren sozialen Schichten; dieses Angebot konzentrierte sich auch geographisch auf die Umgebung von London und den Süden Englands, vor allem die Küstenregionen. Doch selbst innerhalb der kommunalen Heime konnte Townsend eine hohe soziale Differenzierung der Heimbewohner feststellen. So lebten in den zumeist erst nach dem Zweiten Weltkrieg neu gebauten Einrichtungen eher Angehörige der „respektablen“ Arbeiterschaft, während sich Menschen aus unteren sozialen Schichten und Personen ohne Familienangehörige in den alten, großen und qualitativ schlechten Einrichtungen der historischen Armenhäuser konzentrierten. Diese klare soziale Differenzierung hatte also nur indirekt etwas mit der Finanzierung dieser Einrichtungen und unterschiedlichen finanziellen Ressourcen zu tun, da sich die Finanzierungsmodalitäten in den verschiedenen kommunalen Einrichtungen nicht voneinander unterschieden; ebenso wurden viele Heime in freier Trägerschaft durch öffentliche Mittel erheblich subventioniert. Vielmehr spiegelte die soziale Differenzierung der Heimbewohner das alte Erbe des Armenrechts und somit ein Grundmerkmal der britischen Gesellschaft und Sozialpolitik wider. Tabelle 7: Bewohner über 65 in der stationären Altenhilfe nach Träger und Größe der Einrichtung, England 1960 (in %)
26 56
17 34
9 7
30 2
17 1
100 100
Insgesamt (1000) 63,3 29,6
0 0 0
2 2 21
21 9 5
75 51 33
2 38 41
100 100 100
6,3 27,4 22,4
Private Heime
0
0
0
9
91
100
9,8
Insgesamt
17
16
7
29
30
100
95,5
Trägerschaft/Größe der Einrichtung1 Kommunen insgesamt - former public assistance2 - purpose-built homes - other Freie Träger3
250+ 100-249
60-99
30-59
< 30
Insgesamt
Anmerkungen: 1 Zahl der Betten in der Einrichtung, 2 Alte, aus dem Armenrecht stammende Einrichtungen in kommunaler Trägerschaft, 3 Voluntary homes. Quelle: Townsend, 1962: S 46; eigene Berechnungen.
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Die Einführung eines Nationalen Gesundheitsdienstes für alle Bürger im Jahr 1946 hatte große Bedeutung für die Entwicklung sozialer Dienste in Großbritannien. Der Gesundheitsdienst wurde zentralstaatlich organisiert und finanziert, in eigens geschaffenen regionalen Bezirken verwaltet und in drei funktionale Sektoren gegliedert: Krankenhäuser und fachärztlicher Dienst, allgemeinmedizinischer Dienst und häusliche Krankenpflege. Sowohl im stationären Sektor als auch in der häuslichen Krankenpflege, die zumeist durch home nurses und district nurses geleistet wurde, ergaben sich Überschneidungen mit den für die sozialen Dienste zuständigen Lokalverwaltungen. Die Grenzen zwischen beiden Bereichen wurden mehrfach neu gezogen, die Kooperation zwischen Gesundheits- und Sozialwesen war ein zentrales Anliegen vieler Reformen. Dabei ragen im zeitlichen Rückblick zwei grundlegende Reformen heraus: die Reorganisation des Nationalen Gesundheitsdienstes im Jahr 1974, die mit einer grundlegenden Neuordnung der lokalen sozialen Dienste 1975 einherging, sowie die weiter unten ausführlicher behandelte neuere Reform durch den National Health Service and Community Care Act von 1990. Die Reorganisation von 1974 schuf vor allem neue Verwaltungsgrenzen für die Administration des Gesundheitsdienstes, war aber auch für die institutionellen Beziehungen zu den sozialen Diensten von Bedeutung. Bisher waren die Lokalverwaltungen unter anderem auch für häusliche Pflegedienste mit verantwortlich und im Nationalen Gesundheitsdienst gab es, vor allem im stationären Sektor, zahlreiche soziale Angebote insbesondere für ältere Menschen. Zu Beginn der 1970er Jahre wurden nun auf lokaler Ebene spezielle social services departments geschaffen. Diese sollten die sozialen Dienste bündeln und stärker koordinieren. Zu diesem Zweck fand ein Austausch von Kompetenzen zwischen dem Gesundheitsdienst und den lokalen sozialen Diensten statt. Die häusliche Krankenpflege fiel von nun an in die alleinige Zuständigkeit des Nationalen Gesundheitsdienstes, während die lokalen sozialen Dienste weiterhin für die Haushaltshilfen zuständig waren. Im stationären Sektor wurde ebenfalls versucht, die Krankenhäuser stärker auf die Akutversorgung zu konzentrieren und die Langzeitpflege in die Verantwortung der lokalen sozialen Dienste zu verschieben. Dieses Vorhaben einer stärkeren funktionalen Differenzierung von medizinischer und sozialer Versorgung erwies sich von Anfang an gerade im Bereich der stationären und ambulanten Langzeitpflege für ältere Menschen als äußerst schwierig und wurde auch zum Ausgangspunkt wiederholter Versuche zu einer Neuordnung. Ein weiteres ständiges Problemfeld war die Kooperation zwischen ambulanten Diensten und stationären Einrichtungen. Hier wird zunächst die Entwicklung im stationären Sektor seit dem Ende der 1960er Jahre betrachtet (siehe Tabelle 8). Obwohl in der Altenhilfe, insbesondere im stationären Bereich, soziale und medizinische Aspekte der Versorgung untrennbar miteinander verbunden sind, gibt es verschiedene Typen von Einrichtungen mit unterschiedlichen Schwerpunkten, die zum Teil auch unterschiedlichen Regulierungen und Finanzierungsmodalitäten unterliegen. Im englischen Fall wird zunächst zwischen den geriatrischen Krankenhausabteilungen und Einrichtungen im Gesundheitswesen einerseits und den dem Sozialbereich zugerechneten Heimen andererseits unterschieden. Die Heime werden üblicherweise nochmals in Alten- und Pflegeheime unterteilt, wobei eine wachsende Anzahl beide Aspekte vereint und entsprechend für beide Zwecke registriert und zugelassen ist. Im Sozialbereich lassen sich drei Kategorien von Trägern voneinander unterscheiden: die öffentlichen Träger (Lokalverwaltungen), freie und privat-kommerzielle Träger. Diese Unterscheidung sagt zunächst nichts über die Finanzie-
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rung dieser Einrichtungen aus. Beispielsweise können freie und private Einrichtungen zu einem erheblichen Teil durch öffentliche Mittel finanziert sein. Im Gesundheitsbereich gab es bislang ausschließlich die Einrichtungen des Nationalen Gesundheitsdienstes als öffentlicher Träger. Tabelle 8: Plätze in stationären Einrichtungen (residential care) nach Art der Einrichtung und Träger, Vereinigtes Königreich 1970-1994 (in %) Einrichtung
Wohnheime
Träger
Kommunen
1970 1975 1980 1985 1990 1994
44,4 47,8 46,8 38,9 25,6 16,2
Pflegeheime Private Träger 9,7 9,6 13,0 24,2 31,7 31,4
Freie Träger 16,4 15,3 14,8 12,8 8,1 9,5
Private/ Freie Träger 8,3 8,9 9,4 10,8 25,03 36,54
Geriatrie NHS1 Langzeitpflege 21,2 18,4 16,0 13,3 9,6 6,4
Insgesamt2
Insgesamt2 (1.000)
100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0
244,8 268,1 287,5 351,8 491,5 534,1
Anmerkungen: 1 Geriatrische Langzeitpflege in Einrichtungen des Nationalen Gesundheitsdienstes (National Health Service), 2 Ohne Psycho-geriatrische Abteilungen des Nationalen Gesundheitsdienstes (ca. 20.000-30.000 Betten), 3 Private: 22,9; Freie: 2,1, 4 Private: 33,5; Freie: 3,0. Quelle: Peace et al, 1997, S. 21; eigene Berechnungen
Der stationäre Sektor der Altenhilfe in England und Wales hat in den Jahren von 1970 bis 1995 ein starkes Wachstum und erhebliche Strukturveränderungen erlebt. Seit Mitte der 1990er Jahre lässt sich eine quantitative Stagnation bei anhaltendem Strukturwandel beobachten. Im Jahr 1970 gab es im Vereinigten Königreich (!) insgesamt rund 245.000 Plätze in der stationären Versorgung alter Menschen sowie chronisch Kranker und Behinderter. Diese Zahl hat sich binnen 24 Jahren mehr als verdoppelt, auf rund 534.000 Plätze im Jahr 1994. Dieses Wachstum war jedoch von einem erheblichen Strukturwandel hinsichtlich der Typen von Einrichtungen und ihrer Träger begleitet. So hat die absolute Zahl der im Nationalen Gesundheitsdienst angebotenen Plätze zwischen 1970 und 1980 sogar deutlich abgenommen, dann bis Anfang der 1990er Jahre stagniert und ist seitdem erneut gesunken. Der Anteil der geriatrischen Pflegeplätze im Gesundheitswesen sank von rund 21% im Jahr 1970 auf ca. 6% im Jahr 1994. Hinzugerechnet werden müssen rund 20.000-30.000 psychogeriatrische Plätze, die nicht in den Gesamtwerten in Tabelle 8 enthalten sind. Deren Zahl blieb jedoch über die Jahre nahezu unverändert und macht insgesamt nur einen Anteil von (1994) rund 4% aus. Das Problem der Altenpflege wurde somit zunehmend aus den Einrichtungen des Nationalen Gesundheitsdienstes auf die lokalen sozialen Dienste verlagert. Dieser langanhaltende Prozess wurde durch die Reform von 1990 weiter beschleunigt. Deutlich zugenommen haben dagegen die Plätze in den Pflegeheimen (nursing homes) bzw. die als Pflegeplätze ausgewiesenen Betten in gemischten Einrichtungen (Alters- und Pflegeheime). Die Zahl dieser Plätze stieg von rund 20.000 im Jahr 1970 auf rund 194.000 im Jahr 1994, also auf fast das Zehnfache. Belegten 1970 noch ca. 8% aller Insassen stationärer Einrichtungen ausgewiesene Pflegeplätze, waren es anfangs der 1990er Jahre rund ein
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Drittel aller Heimbewohner. Seit 1970 in absoluten Werten angestiegen ist auch die Zahl der Plätze in den klassischen Altenheimen, allerdings nur bis 1990. Danach lässt sich ein Rückgang in dieser Kategorie beobachten, der durch zwei Prozesse zu erklären ist. Zum einen wurden immer mehr Plätze als Pflegeplätze ausgewiesen, vor allem weil sich die Struktur der Heimbewohner verändert hatte. Heute sind mehr Menschen bereits stark betreuungs- oder gar pflegebedürftig, wenn sie ins Heim gehen. Darüber hinaus unterscheidet sich die Finanzierung von Pflege- und anderen Plätzen. Ein zweiter Grund ist die 1990 eingeleitete Politik zur Begrenzung des stationären Angebots und der Stärkung häuslicher Pflege durch den Ausbau ambulanter Dienste (community care); dazu weiter unten. Jedenfalls nimmt die Bedeutung der klassischen „Wohnheime“ ab. Im Jahr 1970 machten sie noch mehr als 70% des Gesamtangebots an Plätzen in stationären Einrichtungen aus, 1985 waren es gar mehr als 75%. Doch seitdem sinkt ihr Anteil ständig, auf weniger als zwei Drittel aller Plätze 1990 und runde 57% im Jahr 1994. Damit stellen sie zwar immer noch mehr als die Hälfte aller Plätze, doch ihre Bedeutung nimmt ab. Besonders deutlich ist der Rückgang in den öffentlichen Altenheimen der Lokalverwaltungen. Deren Anteil an allen stationären Plätzen lag 1975 bei etwas weniger als der Hälfte, sinkt seitdem jedoch beständig. 1994 wurden nur noch rund 16% aller Plätze in stationären Einrichtungen innerhalb von öffentlichen Altenheimen angeboten. Der absolute Höchststand an öffentlichen Altenheimplätzen wurde 1984 überschritten, seit 1990 ist der Rückgang besonders steil. So sank die Zahl der Plätze von rund 137.000 im Jahr 1984 (dem historischen Höchststand) auf rund 125.000 im Jahr 1990 und weiter auf nurmehr 86.000 im Jahr 1994. Für diese Entwicklung gibt es drei zentrale Ursachen. Erstens die zunehmende Umwandlung von reinen Wohnplätzen in ausgewiesene Pflegeplätze, die den veränderten Bedürfnissen der Heimbewohner entspricht. Zweitens die 1990 begonnen Reformen mit ihrer zweifachen Zielsetzung einer Stärkung des ambulanten gegenüber dem stationären Sektor und einer Verschiebung des Angebots von öffentlichen auf freie und private Träger. Alle drei Prozesse haben den öffentlichen Sektor der Altenheime empfindlich geschwächt. Demgegenüber wächst in diesem Bereich insbesondere der privat-kommerzielle Sektor. Im Jahr 1970 gab es im Vereinigten Königreich nur etwa 24.000 Plätze in privaten Altenheimen, gegenüber mehr als 108.000 in öffentlicher Trägerschaft. Bis 1994 stieg ihre Zahl auf rund 167.000 an, gegenüber nurmehr ca. 86.000 Plätzen in öffentlichen Einrichtungen. Damit deckten die privaten Altersheime 1994 fast ein Drittel des Gesamtangebots an Plätzen in allen stationären Einrichtungen. Rechnet man dazu noch die ebenfalls zumeist privatkommerziell betriebenen Pflegeheime und –plätze, deckt dieser Sektor inzwischen rund zwei Drittel des Gesamtangebots. Damit steht Großbritannien im europäischen Vergleich an einzigartiger Stelle. Im Vergleich dazu stagniert das Angebot der freien Träger seit mehr als 30 Jahren. Die freien Träger haben sich im stationären Bereich nie wieder die Position erobern können, die sie bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs im britischen Sozialsystem eingenommen hatten. Sie haben auch entgegen den Intentionen des Gesetzgebers kaum von den Reformen zu Beginn der 1990er Jahre profitiert, deren Ziel ja explizit eine Stärkung der Vielfalt und des Wohlfahrtspluralismus war. So wuchs die Zahl der Altenheimplätze in freier Trägerschaft lediglich von rund 40.000 im Jahr 1970 auf wenig mehr als 50.000 im Jahr 1994. Im Pflegeheimbereich, in dem freie Träger historisch betrachtet eine herausragende Rolle gespielt hatten, ist das Angebot noch geringer. Insgesamt hielten freie Träger Mitte der 1990er Jahre einen Marktanteil von 12%, im Jahr 1970 lag er noch bei rund 17%.
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Die Reformen zu Beginn der 1990er Jahre haben die sozialen Dienste in England und Wales strukturell in mehrfacher Hinsicht verändert (vgl. Albert 2004). Auf die Hintergründe, Ziele und Bedeutung dieser Reformen für die Rolle des Wohlfahrtsstaates im System sozialer Dienste wird in Kapitel 6 eingegangen. An dieser Stelle sollen nur die Aspekte benannt werden, die zu einer strukturellen Veränderung im quantitativen Angebot sozialer Dienste für ältere Menschen geführt haben und somit für eine Interpretation der Entwicklungen seit 1990 unverzichtbar sind. Von entscheidender Bedeutung waren (vgl. Wistow et al. 1994): • •
• • • •
eine Verschiebung des Angebots sozialer Dienste vom Gesundheits- zum Sozialsektor und somit eine stärkere funktionale Differenzierung beider Bereiche des Wohlfahrtsstaates (funktionale Spezialisierung); eine zunehmende Differenzierung unterschiedlicher Funktionen der Dienstleistungsversorgung und deren Konzentration auf verschiedene Akteure (akteurspezifische funktionale Spezialisierung): Standardisierung und prozessuale sowie Qualitätskontrolle (Zentralstaat), Auftragsvergabe und Finanzierung von Dienstleistungen (Kommunen) und Dienstleistungserbringung (freie und private Träger des sogenannten „independent sector“); damit verbunden ist eine Trennung der Funktionen von purchaser und provider sozialer Dienste auf Quasi-Märkten; eine Verschiebung von stationären zu ambulanten Diensten (community care Reform); eine Verschiebung von angebots- zu nachfrageorientierten Dienstleistungsarrangements (case assessment und care management); eine Stärkung der „mixed economy of care“ mit dem Ziel einer größeren Angebotsvielfalt (welfare pluralism); eine Stärkung der Rolle der Kommunen als Steuerungsinstanz sozialer Dienste, unter anderem durch den Transfer von Budgets vom Zentralstaat bzw. vom Gesundheitswesen und der Sozialversicherung zu den Kommunen.
Die beiden ersten Aspekte betreffen strukturelle Veränderungen in der Funktionsweise des Dienstleistungssystems: zum einen eine stärkere funktionale Spezialisierung und institutionelle Eigenständigkeit des Bereichs sozialer Dienste insgesamt, zum andern eine grundlegende Neuordnung in den Beziehungen zwischen den daran beteiligten Akteuren. Der dritte Aspekt ist dagegen eine materiale Neuausrichtung in der Dienstleitungspolitik selbst, die mithilfe verschiedener Steuerungsinstrumente verwirklicht werden sollte. Hier sollen zunächst die beiden ersten Aspekte betrachtet werden, insoweit sie für eine Interpretation der Entwicklungen stationärer Einrichtungen in der Altenhilfe seit Mitte der 1990er Jahre von Relevanz sind. Seit Mitte der 1970er Jahre war der Nationale Gesundheitsdienst grundsätzlich für die gesundheitliche Versorgung älterer Menschen zuständig, die Kommunen für die sozialen Einrichtungen und Dienste. Damit war jedoch das Problem der Langzeitpflege, das medizinische wie soziale Aufgaben umfasst, nicht gelöst (vgl. Eisen und Mager 1999). Sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich ergaben sich daraus Überlappungen in der Zuständigkeit von Nationalem Gesundheitsdienst und lokalen Sozialbehörden. Schließlich wurde die Langzeitpflege älterer und behinderter Menschen seit 1990 und 1993 klar als kommunale Aufgabe definiert; der Nationale Gesundheitsdienst
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war fortan nur noch für die medizinische Akutversorgung zuständig. Pflege war somit nicht mehr Bestandteil universaler sozialer Bürgerrechte, sondern eine bedürftigkeitsgeprüfte Sozialleistung. Nicht mehr zentralstaatliche Einrichtungen, sondern die Kommunen waren für deren Erfüllung verantwortlich. Zugleich wurde die Zuständigkeit für ambulante und stationäre Versorgung in eine Hand, diejenige der Kommunen, gelegt. Eine weitere wesentliche Veränderung betraf die Finanzierung dieser Dienstleistungen. In den 1980er Jahren hatten zentralstaatliche Institutionen einen erheblichen Anteil an der Finanzierung von stationären Einrichtungen der Altenhilfe, zum einen über den Nationalen Gesundheitsdienst, zum andern über die Sozialversicherung, die insbesondere den privaten und freien Altenheimsektor in großem Maße subventionierte und somit zu einem starken Wachstum dieses Sektors beitrug, was zu einer zunehmenden Kostenbelastung führte. Im Unterschied zu den kommunalen Heimen, die einer strengen Bedarfs- und Bedürftigkeitsprüfung unterlagen, gewährte die Sozialversicherung ihre Zuschüsse unabhängig von der Bedarfslage in jedem Fall einer Heimunterbringung. Der Zentralstaat subventionierte somit in den 1980er Jahren in großem Stil den Aufbau eines rasch wachsenden privaten Sektors an Alten- und Pflegeheimen. Mit diesem kostentreibenden Verfahren, welches zudem noch den Effekt einer zunehmenden Unterbringung älterer Menschen in Heimen hatte, wurde 1990 Schluss gemacht. Zunächst wurden ambulanter und stationärer Sektor gemeinsam in die Verantwortung der lokalen Sozialbehörden gelegt, mit der Maßgabe, nunmehr den stationären Sektor zugunsten eines stärker zu fördernden ambulanten Sektors zu begrenzen. Zweitens wurde die Finanzierung öffentlicher und privater Einrichtungen vereinheitlicht und ebenfalls in der Hand der lokalen Sozialbehörden konzentriert. Die Subventionierung des freien und vor allem privaten Heimsektors durch die Sozialversicherung wurde beendet. Heimbewohner in öffentlichen und in privaten Einrichtungen sollten fortan gleichgestellt sein. Drittens erfolgte diese Vereinheitlichung allerdings unter der Maßgabe, dass die Kommunen ihre eigenen Einrichtungen mittelfristig abbauen und soziale Dienste stattdessen in wachsendem Maße an private Anbieter vergeben sollten (purchaser-provider-split). Der private Sektor wurde somit stärker als zuvor ins öffentliche System einbezogen und das System wurde insgesamt in höherem Maße wohlfahrtsstaatlich institutionalisiert.
Stationäre Einrichtungen seit Anfang der 1990er Jahre Die Auswirkungen dieser strukturellen Eingriffe in die sozialen Dienste für ältere Menschen lassen sich im stationären Bereich sehr gut verfolgen. Für die Zeit nach 1994 liegen mir jedoch nur Zahlen für England vor; diese können nur mit Einschränkungen mit den Angaben in den Tabellen 4-8 verglichen werden. Diese Einschränkungen betreffen jedoch die absoluten Niveaus, weniger die analytisch interessanten strukturellen Parameter. Die Zahl der Wohnheimplätze (ohne Pflegeheime) für ältere und behinderte Menschen in England hat sich von rund 320.000 im Jahr 1994 auf rund 347.000 im Jahr 1998 erhöht und ist seitdem wieder auf rund 341.000 im Jahr 2001 gesunken. Gemessen an der steigenden Alterslast kann man also durchaus von einer Stagnation im Angebot an Plätzen in stationären Einrichtungen sprechen (siehe Tabelle 9). Noch deutlicher wird dieser Befund, wenn man die Entwicklung der Heimplätze für Menschen über 65 Jahre betrachtet. Deren Zahl sank im betrachteten Zeitraum von 247.000 im Jahr 1994 auf 236.000 im Jahr 2001.
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100
Der Anteil an Plätzen für ältere Menschen an allen Heimplätzen sank somit von rund 77% im Jahr 1994 auf ca. 69% im Jahr 2001. Demgegenüber stieg der Anteil für jüngere Personen mit Lernbehinderungen auf heute mehr als 15% aller Plätze in Heimen an, gewachsen ist auch der Anteil geistig Behinderter, während die Heimplätze für physisch behinderte Menschen auf einem sehr niedrigen Niveau verharren. Stark gestiegen ist vor allem die Zahl der Plätze für geistig behinderte, oft demenzkranke ältere Menschen. Sie machen 2001 über 6% aller Heimplätze aus. War die Zahl der in diesen Einrichtungen angebotenen Plätze von 1996 bis 1998 zunächst noch angewachsen, ist sie auf rund 186.000 im Jahr 2001 gefallen. Besonders stark war dieser Rückgang wiederum in den allgemeinen Pflegeheimen, die zu ca. 80% von Personen über 65 Jahren belegt sind, während die Zahl der Plätze für geistig Behinderte anstieg. Darin drückt sich natürlich ebenso wie in der oben beschriebenen Entwicklung der Plätze in Wohnheimen eine zunehmende Anerkennung des Problems der altersbedingten geistigen Behinderungen aus, die auch zu einer wachsenden Spezialisierung in diesem Bereich führt. Tabelle 9: Plätze in stationären Einrichtungen für Erwachsene und ältere Menschen nach Personengruppe, England 1994-2001 (in %) Ältere Menschen1 Ältere1 geistig Behinderte Physisch Behinderte2 Lernbehinderte2 Geistig Behinderte2 Andere
1994 77,4 2,9 2,6 11,9 4,3 0,9
1998 71,0 6,2 2,3 14,4 4,9 1,2
2001 69,4 6,8 2,1 15,6 4,9 1,2
Insgesamt
100,0
100,0
100,0
319,0
347,4
341,2
Insgesamt (1.000) 1
2
Anmerkungen: Menschen über 65 Jahre, Menschen unter 65 Jahre. Quelle: Community care statistics, England 2001 (www); eigene Berechnungen.
Stagnation prägte auch die Entwicklung der privaten Pflegeheime in England in den 1990er Jahren (siehe Tabelle 10). Dennoch bleibt als zentraler Befund festzuhalten, dass sowohl die Zahl der Plätze für ältere Menschen in Wohnheimen als auch die Zahl der Plätze in Pflegeheimen in England seit Anfang der 1990er Jahre tendenziell leicht abgenommen hat. Das Ziel der Reformen, das Wachstum des stationären Sektors einzudämmen, scheint also erfolgreich verwirklicht worden zu sein. Ob damit auch die ebenfalls angestrebte Ausdehnung der ambulanten Dienste verbunden war, wird weiter unten untersucht. Trotz dieser Entwicklung bleibt jedoch die Versorgungsrate im stationären Sektor aufgrund des hohen Wachstums in den 1980er Jahren im internationalen Vergleich hoch. So errechnet sich für 2001 eine Rate von 676 Plätzen auf 10.000 Einwohner über 65 Jahren, wenn man alle Plätze in Wohn- und Pflegeheimen zusammenzählt, und eine Rate von 495 Plätzen auf 10.000 Einwohner über 65 Jahren, wenn man nur die Plätze für Personen über 65 Jahren zählt (ohne Plätze für geistig behinderte ältere Menschen).
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Tabelle 10: Plätze in privaten Pflegeheimen1 nach Einrichtungsart, England 2001 (in %) Allgemeines Pflegeheim Pflegeheim für geistig Behinderte Private Kliniken Insgesamt
1996 78,6 15,9 5,5 100,0
1998 80,7 13,9 5,4 100,0
2001 77,1 17,1 5,8 100,0
Insgesamt (1.000)
196,3
205,6
186,8
1
Registrierte Pflegeplätze/-betten. Davon wurden 2001 rund 80% von Menschen über 65 belegt. Quelle: Community care statistics, England 2001 (www); eigene Berechnungen.
Die Stagnation der Alten- und Pflegeheime muss auch im Zusammenhang mit der Entwicklung altersspezifischer Wohnformen, insbesondere des betreuten Wohnens (sheltered housing) betrachtet werden. Sheltered housing gehört zwar an sich nicht zu den sozialen Diensten, sondern stellt eine besondere Wohnform dar, deren Entwicklung jedoch eine zunehmend wichtiger werdende Alternative zu den klassischen sozialen Diensten der Altenhilfe bietet. Gerade in diesem Bereich spielt Großbritannien im europäischen Vergleich eine herausgehobene Rolle. Leider gibt es keine konsistenten Daten über die Entwicklung dieses Sektors, der jedoch vor allem seit Mitte der 1970er Jahre stark gewachsen ist und eine immer attraktivere Alternative zur Heimunterbringung bietet. Im Jahr 1995 gab es in Großbritannien insgesamt rund eine halbe Million Wohneinheiten im Bereich des betreuten Wohnens (Tinker 1996: 122ff.). Rund 5% der Bevölkerung über 65 Jahren lebte 1995 in einer betreuten Wohnform. Hinzu kamen weitere 5% in Einrichtungen, die über kein eigenes Servicepersonal verfügten, aber einer externen Überwachung und Hilfe in Notsituationen angeschlossen waren. Von den rund 500.000 Wohneinheiten mit direkter, integrierter Betreuung wurden rund 60% von den Kommunen in öffentlicher Trägerschaft betrieben, weitere 30% von lokalen housing associations in freier Trägerschaft. Rund 9% der Wohneinheiten entfielen auf private Anbieter, der Rest auf andere (Tinker 1996: 122). Die Mehrzahl der Bewohner war über 75 Jahre alt, weiblich, verwitwet und sowohl körperlich als auch geistig relativ selbständig. Sie unterschied sich somit von den typischen Heimbewohnern, die tendenziell älter und altersbedingt stärker behindert waren. Anzunehmen ist ferner, dass es sich beim betreuten Wohnen um Einrichtungen handelt, die eher für die mittleren sozialen Schichten infrage kommen. Neben der Stagnation des Gesamtangebots an stationären Einrichtungen ist der Umbruch der Trägerlandschaft das zweite herausragende Merkmal des strukturellen Wandels im Heimsektor in England seit 1990 (siehe Tabelle 11). Ein wesentliches Ziel der Reformen Anfang der 1990er Jahre war die Ersetzung öffentlicher durch private und freie Anbieter, mithin der Aufbau einer mixed economy of social welfare. Im stationären Sektor waren schon die 1980er Jahre durch ein hohes, staatlich subventioniertes Wachstum des privaten und freien Angebots gekennzeichnet. Dieses Angebot bestand jedoch bis 1990 sozusagen „neben“ und außerhalb der lokalen sozialen Dienste. Erst zu diesem Zeitpunkt wurde den lokalen Sozialbehörden die Aufgabe der Finanzierung der privaten und freien Träger, die zuvor bei der staatlichen Sozialversicherung angesiedelt gewesen war, übertragen. Zugleich sollten sie ihre eigenen kommunalen Heimangebote mittelfristig durch Ausschreibung und
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Auftragsvergabe an private und freie Träger ersetzen. Waren schon die 1980er Jahre durch einen schwindenden Anteil an Heimplätzen in öffentlicher Trägerschaft gekennzeichnet, hat sich diese Entwicklung in den 1990er Jahren verstärkt fortgesetzt. Schon 1994 wurde rund die Hälfte aller Heimplätze (ohne Pflegeplätze, aber einschließlich normaler Wohnplätze in registrierten Pflegeheimen) von privat-kommerziellen Anbietern bereitgestellt. Der Anteil der Plätze in freier Trägerschaft lag bei rund 17%. Immerhin noch rund ein Viertel aller Plätze befand sich 1994 in kommunaler Trägerschaft, deren Anteil sank jedoch auf weniger als 15% im Jahr 2001, vor allem zugunsten einer Zunahme des Anteils von Wohnplätzen in registrierten, privat betriebenen Pflegeheimen und in kleinen Heimen mit weniger als vier Betten, die seit 1993 einer Registrierungspflicht unterliegen. Von rund 340.000 Heimplätzen im Jahr 2001 werden also nur noch etwa 50.000 in kommunaler Trägerschaft betrieben, es überwiegt eindeutig der privat-kommerzielle Sektor. Noch größer ist dessen Übergewicht, wenn man nur die Plätze für ältere Menschen betrachtet. Hier liegt der Anteil des privaten Sektors bei mittlerweile fast 55%, freie Träger bieten nur rund 13% aller Plätze in diesem Bereich an. Tabelle 11: Plätze in stationären Einrichtungen für Erwachsene und ältere Menschen, nach Personengruppe und Trägerschaft, England 1994-2001 (in %) Träger Kommunen Freie Träger Private Kleine Heime3 Andere4 Insgesamt
1994 25,5 17,2 50,8 2,1 4,4 100,0
Insgesamt (1.000)
319,0
1
Alle Bewohner1 1998 2001 18,4 14,9 17,5 18,2 50,4 51,0 4,8 4,8 8,9 11,1 100,0 100,0 347,4
341,2
Darunter: Ältere2 1994 1998 2001 26,1 20,2 16,6 12,4 12,4 13,4 55,6 54,6 54,8 1,0 2,1 1,5 4,9 10,7 13,7 100,0 100,0 100,0 247,1
246,7
2
236,7 3
Anmerkungen: Erwachsene und ältere Menschen über 65 Jahren, Menschen über 65, Kleine Heime, betrieben von Privatpersonen, 4 Wohnplätze in Pflegeeinrichtungen in privater und freier Trägerschaft. Quelle: Community care statistics, England 2001 (www); eigene Berechnungen.
Das unterschiedliche Angebotsprofil der verschiedenen Träger ist in Tabelle 12 für das Jahr 2001 dargestellt. Dabei sind sich die Profile der Kommunen und der privat-kommerziellen Anbieter am ähnlichsten. In beiden Fällen stellen Plätze für ältere Menschen rund drei Viertel des Gesamtangebots des jeweiligen Sektors. Der Rest verteilt sich auf die anderen Kategorien von Zielpersonen, wobei diese in beiden Fällen im Vergleich zum Durchschnitt aller Anbieter unterproportional vertreten sind. Dabei handelt es sich um jüngere, physisch behinderte Menschen, Menschen mit Lernschwierigkeiten und geistigen Krankheiten oder Behinderungen. Eine Ausnahme bilden lediglich geistig beeinträchtigte ältere Menschen, bei denen die privaten Anbieter deutlich über dem Durchschnitt liegen. Im Vergleich zu diesen beiden Sektoren weichen die Angebotsprofile der anderen Anbieter stärker vom Durchschnitt ab, anders ausgedrückt, ist deren Profil schärfer ausgeprägt. Die (zumeist
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privaten) Pflegeheime mit Wohnplätzen (in Tabelle 12 „Andere“) sind klar auf die Zielgruppe der alten Menschen konzentriert; mehr als 85% ihrer Plätze (ohne Pflegeplätze) sind für alte Menschen reserviert, hinzu kommen rund 9% für geistig beeinträchtigte ältere Menschen. Die anderen Kategorien machen zusammen nur rund 5% aller Plätze in diesem Angebotssegment aus. Die kleinen, erst seit 1993 einer Registrierungspflicht unterworfenen Heime mit weniger als vier Plätzen konzentrieren sich dagegen stark auf jüngere Menschen mit geistigen Behinderungen (Anmerkung: Kinder unter 18 Jahren sind in dieser Statistik ausgeschlossen). Nur rund ein Viertel der Plätze in kleinen Heimen sind für die Zielgruppe älterer Menschen eingerichtet. Am breitesten ist traditionell das Angebotsspektrum der freien Träger. In diesem Segment wird nur rund die Hälfte der Plätze für ältere Menschen angeboten, während die freien Träger in allen anderen Bereichen mit Ausnahme geistig beeinträchtigter alter Menschen überproportional vertreten sind. Tabelle 12: Plätze in stationären Einrichtungen für Erwachsene und ältere Menschen nach Personengruppen und Trägern, England 2001 (in %)
Ältere Menschen1 Physisch Behinderte2 Ältere1 geistig Behinderte Geistig Behinderte2 Lernbehinderte2 Andere Insgesamt Insgesamt (1.000) 1
KomFreie Private Kleine munen Träger Träger Heime3 77,0 51,1 74,5 23,7 1,8 6,2 0,5 1,5 5,2 3,1 8,5 2,5
Andere4
Gesamt Insgesamt (1.000) 85,2 69,4 236,7 3,3 2,1 7,0 9,1 6,8 23,3
2,5 13,0 0,5 100,0
7,5 28,9 3,2 100,0
4,9 10,7 0,9 100,0
11,7 59,8 0,8 100,0
0,9 1,0 0,5 100,0
50,9
61,9
174,1
16,3
37,9
2
4,9 15,6 1,2 100,0
16,8 53,3 4,0 -
-
341,1
3
Anmerkungen: Ältere Menschen über 65 Jahren, Erwachsene unter 65 Jahren, Von Privatpersonen geführte Heime, 4 Wohnplätze in Pflegeeinrichtungen in privater oder freier Trägerschaft. Quelle: Community care statistics, England 2001 (www); eigene Berechnungen.
Aus diesen Zahlen wird deutlich, dass öffentliche und privat-kommerzielle Träger die eigentlichen „Konkurrenten“ auf den 1990 geschaffenen Dienstleistungsmärkten sind. Ihr Angebotsprofil ist beinahe identisch, die Zunahme des einen (privaten) Sektors geht mit einer Schrumpfung des anderen einher. Dagegen besetzen die anderen Anbieter Nischenplätze im Dienstleistungssystem. Zum einen die traditionellen freien Träger, deren Angebot breit gestreut ist, jedoch seit vielen Jahren stagniert. Von den neueren Reformen blieb dieser Sektor zumindest in quantitativer Hinsicht nahezu unberührt. Zum andern die „neuen“, stark spezialisierten Anbieter, kleine Heime und Pflegeheime. Erstere besetzen vor allem den wachsenden Bedarf an spezialisierten Einrichtungen für die Betreuung von Menschen mit geistigen Defiziten, während die Pflegeheime naturgemäß fast ausschließlich auf ältere Menschen mit höheren sozialen und medizinischen Bedürfnissen gerichtet sind. Das Dienstleistungsangebot diversifiziert sich somit zwar einerseits zunehmend und erfüllt die Erwartungen der durch die Reformen propagierten mixed economy of care, andererseits
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findet im Kernbereich lediglich eine Verschiebung vom öffentlichen zum privatkommerziellen Sektor statt, ohne dass freie Träger von dieser Entwicklung profitieren könnten. Das unterstreicht erneut die spezifische Stellung des voluntary sector im englischen System sozialer Dienste für ältere Menschen. Im Bereich der stationären Altenhilfe spielt die sonst für den freien Sektor charakteristische Einnahmequelle privater Spenden kaum eine Rolle, der Finanzierungsanteil staatlicher Subventionen (bis 1993 zumeist durch die staatliche Sozialversicherung, seitdem ausschließlich durch kommunale Sozialbehörden) liegt bei rund 40%, der Anteil an Einnahmen durch Gebühren und ähnliches, also im weitesten Sinn „Verkäufe“ von Dienstleistungen, bei knapp 60% (Kendall und Knapp 1996: 212). Es sind vor allem drei charakteristische Merkmale, die das Angebot freier Träger an stationären Einrichtungen für ältere Menschen kennzeichnen (vgl. Kendall und Knapp 1996: 213ff): eine milieuspezifische Ausrichtung der meisten Einrichtungen; zumeist kleinere, aber qualitativ sehr gute Einrichtungen; zugleich jedoch eine hohe organisatorische Konzentration der Träger. Die Alten- und Pflegeheime der freien Träger sind zumeist auf bestimmte religiöse, weltanschauliche oder berufliche Gruppen ausgerichtet (zum Beispiel Einrichtungen der katholischen oder anglikanischen Kirche, Seefahrerheime, Heime für Krankenschwestern). Obwohl die Heime zumeist übersichtlich sind, ist die organisatorische Konzentration im Vergleich zum privat-kommerziellen Sektor hoch. Fast die Hälfte der von freien Trägern betriebenen Heime lag Mitte der 1990er Jahre in Händen großer, zumeist national tätiger Organisationen. Demgegenüber befanden sich nur rund 4% der kommerziell betriebenen Heime in Händen größerer Unternehmen mit mehr als drei Heimen im Angebot. Der private Sektor ist somit ganz überwiegend im kleinunternehmerischen, lokalen Milieu angesiedelt. Umso abhängiger ist dieser Sektor von der Politik der Auftragsvergabe und Finanzierung durch die lokalen Sozialbehörden, die private Anbieter wohl auch aus diesem Grund zum bevorzugten Vertragspartner der neuen Politik des contracting out gemacht haben. Der voluntary sector behauptet im Vergleich dazu eine gegenüber Staat und Gemeinden unabhängigere Position. Er besetzt weiterhin bestimmte Nischenpositionen, allerdings um den Preis, nur wenig am wachsenden Dienstleistungsmarkt zu partizipieren. Seit 1993 sind die lokalen Sozialbehörden allein für die Finanzierung des stationären Sektors der Alten- und Behindertenhilfe zuständig. Alle privaten und freien Träger müssen ihre Einrichtungen registrieren und überwachen lassen, einschließlich der bisher nicht erfassten kleinen Heime mit weniger als vier Betten im Angebot, und unterliegen grundsätzlich denselben Regelungen wie der öffentliche Sektor. Die Kommunen übernahmen somit von der staatlichen Sozialversicherung die Aufgabe der (Mit-) Finanzierung von Heimplätzen in privater und freier Trägerschaft, ebenso wie die Aufgabe der Finanzierung privater Pflegeheime, die aus dem Zuständigkeitsbereich des Nationalen Gesundheitsdienstes heraus ebenfalls in kommunale Verantwortung gelegt wurden. Finanzierung und öffentliche Unterstützung durch Vergabe von Dienstleistungsaufträgen wurden somit in der Hand der lokalen Sozialbehörden konzentriert. Aus diesem Grund ist die Zahl der von den Sozialbehörden unterstützten Heimbewohner seit 1994 deutlich angestiegen, vor allem im privaten und freien Angebotssegment (siehe Tabelle 13). Die Unterstützung unterliegt einem Bedürftigkeitstest, der die ökonomischen Mittel, und einem Bedarfstest, der sowohl den sozialen Betreuungs- und Pflegebedarf als auch die häuslichen und familiären Lebensumstände der Antragsteller berücksichtigt. Dabei wird
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nunmehr grundsätzlich kein Unterschied mehr gemacht, ob jemand in einer privaten, freien oder öffentlichen Einrichtung untergebracht ist. Die Behörden sind vielmehr gehalten, in jedem Einzelfall Bedarf sowie Kosten und Nutzen der verschiedenen Angebote gegeneinander abzuwägen und ein bedarfsgerechtes und zugleich kostengünstiges Paket von Leistungen zu schnüren (case assessment und care management; siehe unten). Wurden im Jahr 1994 erst rund 144.000 Heimbewohner von den lokalen Sozialbehörden unterstützt, waren es 2001 bereits rund 260.000. Bei älteren Menschen über 65 Jahren wuchs die Zahl der Unterstützungsempfänger im gleichen Zeitraum von rund 113.000 auf etwa 205.000. Dabei ist ein wachsender Anteil der Unterstützungsempfänger im nichtöffentlichen Sektor untergebracht. Tabelle 13: Von den Kommunen unterstützte Bewohner stationärer Einrichtungen nach Gruppe und Träger: Erwachsene und Menschen über 65, England 1994-2001 (in %) Alle Bewohner Träger Kommunen Unabhängige Wohnheime1 Unabhängige Pflegeheime2 Insgesamt Insgesamt (1.000)
Darunter: ältere Menschen über 65
1994 48,8
1996 29,4
1998 21,9
2001 16,2
1994 51,6
1996 30,2
1998 22,3
2001 16,8
33,8
43,4
48,8
54,0
27,9
38,5
44,3
50,6
17,4 27,2 29,3 100,0 100,0 100,0
29,8 100,0
20,5 100,0
31,3 100,0
33,4 100,0
32,6 100,0
144,3 210,4 244,6
261,8
112,9
168,9
199,0
204,9
Anmerkungen: 1 Independent residential homes (freie und private Träger), 2 Independent nursing homes (freie und private Träger). Quelle: Community care statistics, England, verschiedene Jahre (www); eigene Berechnungen.
Lebte 1994 noch rund die Hälfte der Unterstützungsempfänger in kommunalen Einrichtungen, so sank dieser Anteil binnen sieben Jahren auf nur noch 16-17%. Auch absolut ging diese Zahl zurück, vor allem aufgrund der anhaltenden Umstrukturierung der Anbieterlandschaft. Demgegenüber steigen die absoluten Zahlen und Anteilswerte der Unterstützungsempfänger in Heimen privater und freier Trägerschaft kontinuierlich an. Im Jahr 2001 lebten mehr als die Hälfte der von den kommunalen Sozialbehörden unterstützten Heimbewohner in nicht-öffentlichen Wohnheimen, ein weiteres Drittel in privaten Pflegeheimen. Daraus wird ersichtlich, dass der steigende Marktanteil des privaten Sektors im Heimbereich keineswegs eine Privatisierung der stationären Unterbringung und Pflege in England bedeutet, ganz im Gegenteil steigen der öffentliche Finanzierungsanteil und die Zahl der öffentlichen Unterstützungsempfänger deutlich an. Mittlerweile steuern die lokalen Sozialbehörden auf diese Weise einen erheblichen Teil des Gesamtangebots (siehe Tabelle 14). Im Jahr 1994 lag der Anteil der von den lokalen Sozialbehörden unterstützten Heimbewohner in Wohn- und Pflegeheimen bei unter einem Drittel aller Insassen, bis 2001 war dieser Anteil auf rund die Hälfte gestiegen. Bei älteren Heimbewohnern über 65 Jahren war der Anstieg noch stärker. Der Anteil der unterstützten älteren Menschen in Heimen liegt
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mittlerweile bei rund 53%. Dieser Anstieg ist ausschließlich auf die Ausdehnung der von den lokalen Sozialbehörden finanzierten Heimplätze im nicht-öffentlichen Sektor zurückzuführen. Der Anteil der Unterstützungsempfänger in diesem Segment stieg von rund einem Fünftel im Jahr 1994 auf etwa die Hälfte aller Insassen im Jahr 2001 im Bereich der Wohnheime und im gleichen Zeitraum von rund 13% auf 38% im Pflegeheimbereich. Auch in diesem Fall liegt der Anteil der unterstützten älteren Menschen über dem Durchschnitt aller Kategorien von Heimbewohnern. Tabelle 14: Von den Kommunen unterstützte Bewohner stationärer Einrichtungen nach Trägern: Erwachsene und ältere Menschen über 65 Jahren, England 1994-2001 (in % aller Bewohner; Quoten) Einrichtungsart Alle Kommunale Wohnheime Unabhängige1 Wohnheime Unabhängige1 Pflegeheime
1994 28,0 86,7 20,5 12,5
Alle Bewohner 1998 2001 44,2 49,6 83,7 83,2 42,1 48,7 34,9 38,5
darunter: Ältere über 65 Jahren 1994 1998 2001 27,9 48,4 53,0 90,4 88,9 87,7 17,3 44,9 52,5 14,7 40,3 43,8
Anmerkungen: 1Independent homes; freie und private Träger. Quelle: Community care statistics, England, verschiedene Jahre (www); eigene Berechnungen.
Rund die Hälfte des Gesamtangebots an Heimplätzen in England wird somit mittlerweile von den lokalen Sozialbehörden gesteuert; sie entscheiden über den Bedarf und die Bedürftigkeit der Klienten wie über die Vergabe des Angebots an örtliche oder regionale Anbieter. Sie tragen den Großteil der finanziellen Last und steuern somit auch das lokale Angebot. Man könnte also aus diesen Befunden durchaus schließen, dass die Kommunen erst durch die Reformen der 1990er Jahre zu den entscheidenden Akteuren des Dienstleistungssystems in England und Wales geworden sind, obwohl ihr Anteil an Einrichtungen und Plätzen erheblich gesunken ist. Viel entscheidender jedoch ist die Zunahme an Steuerungsmacht des Dienstleistungsangebots. Doch haben die Reformen der 1990er Jahre nicht nur die Rolle der Kommunen gestärkt, sondern auch die Steuerungskapazität des Zentralstaats. Sowohl die kommunale als auch die zentrale Ebene des Wohlfahrtsstaates haben dadurch an Bedeutung gewonnen.
Ambulante Dienste Ein weiteres zentrales Ziel der Reformen der 1990er Jahre war ein Umbau des Angebots vom stationären zum ambulanten Sektor. Der ambulante Sektor war in England wie in vielen Ländern zunächst eher das Stiefkind in der Dienstleistungsversorgung älterer und behinderter Menschen (vgl. Hutton und Kerkstra 1996). Für die häusliche Pflege war in erster Linie die Familie zuständig, und wenn Menschen nicht von der Familie versorgt wurden, blieb als Alternative in der Regel nur die Unterbringung in einer stationären Einrichtung. Doch in England kommen zwei spezifische Gründe hinzu, weshalb ambulante Dienste im Vergleich zu Heimen weit weniger entwickelt waren. Der wohl wichtigste
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Grund ist die Tradition des Armenrechts, die seit der elisabethanischen Gesetzgebung im frühen 17. Jahrhundert fast ausschließlich auf das Armenhaus als Versorgungseinrichtung und zugleich Disziplinierungsinstrument gesetzt hatte. Dieses Grundprinzip wurde durch die Reform des Armenwesens im Jahr 1834 bestätigt und seitdem verschärft angewandt. Die Unterbringung bedürftiger Personen in den großen stationären Einrichtungen des Armenwesens blieb bis in die 1960er Jahre hinein kennzeichnend für die sozialen Dienste in England. Ein zweiter Grund für die spätere und zunächst nur sehr begrenzte Entwicklung ambulanter Dienste liegt in der hohen Bedeutung der voluntaristischen Tradition in der britischen Sozialpolitik. Mit wenigen Ausnahmen waren es bis zum Zweiten Weltkrieg vor allem freie Träger, die verschiedene ambulante Dienste anboten. Dieses System war jedoch nicht flächendeckend und richtete sich zumeist an spezifische Gruppen, keineswegs war es für die Bedürfnisse der großen Mehrheit der älteren Menschen gedacht. Diese sehr begrenzte staatliche Intervention in die Versorgung mit ambulanten sozialen Diensten änderte sich erst mit den besonderen Erfordernissen des Zweiten Weltkriegs, doch der eigentliche institutionelle Durchbruch gelang erst nach dessen Ende mit der Gesetzgebung von 1946 zum Nationalen Gesundheitsdienst und mit der Reform der staatlichen Fürsorge, des früheren Armenrechts, im Jahr 1948 (National Assistance Act). Mit dem Nationalen Gesundheitsdienst wurden nicht nur erstmals auf breiter Grundlage öffentliche Hospitäler eingerichtet, es entstanden auch ambulante Dienste zur häuslichen Krankenpflege (home nursing, district nursing). Diese Dienste waren jedoch zur akuten medizinischen Versorgung gedacht, zum Beispiel nach Krankenhausaufenthalten, und dienten nicht der Langzeitpflege älterer Menschen, die nach wie vor ganz überwiegend in der Familie oder in stationären Einrichtungen geleistet wurde. Doch das Gesetz von 1946 erlaubte den lokalen Sozialbehörden, auf freiwilliger Basis eigene Haushaltshilfedienste aufzubauen. Diese Dienste waren bereits im Zweiten Weltkrieg entstanden, in erster Linie zur Versorgung von jungen Müttern und akut kranken älteren Menschen. Das Gesetz von 1948 konzentrierte sich auf den Umbau des stationären Sektors (siehe oben) von den alten Armenhäusern zu den neu zu schaffenden Altersheimen, erlaubte den lokalen Sozialbehörden jedoch darüber hinaus, von freien Trägern angebotene ambulante Dienste finanziell zu unterstützen. Gemäß den Vorstellungen der Reformen von Beveridge sollten die ambulanten Dienste mit Ausnahme der akuten medizinischen Versorgung eine Domäne für die vielfältigen freien Organisationen bleiben, die in der englischen Geschichte der Sozialpolitik eine so bedeutende Rolle gespielt hatten (vgl. Beveridge 1948). Zum Beispiel war es den lokalen Sozialbehörden auch nach 1948 nicht gestattet, Dienste wie Essen-auf-Rädern in eigener Regie anzubieten. Dies änderte sich erst in den frühen 1970er Jahren, als ein flächendeckendes System sozialer Dienste auf lokaler Ebene errichtet wurde. Trotz des 1946 gesetzlich verankerten Prinzips der Freiwilligkeit häuslicher sozialer Dienste entwickelten sich diese in den 1960er Jahren in nennenswertem Umfang. Im Jahr 1961 erhielten zum Beispiel immerhin rund 250.000 Haushalte mit älteren Personen home help services (Means et al. 2002: 29). Dennoch wurden diese Dienste von den meisten Experten als völlig unzureichend bewertet. Das Gesetz von 1946 schuf darüber hinaus keineswegs einen kostenlosen, universell verfügbaren Sozialdienst und begründete keinerlei soziale Rechte auf Zugang zu und eine angemessene Versorgung mit ambulanten sozialen Diensten, wie im Fall des Nationalen Gesundheitsdienstes. Stattdessen lagen sowohl die Regelung der Zugangsbedingungen als auch Entscheidungen über die Höhe des Versor-
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gungsniveaus und der von den Klienten zu entrichtenden Gebühren im Ermessen der lokalen Sozialbehörden. Die nach dem Zweiten Weltkrieg errichtete institutionelle Ordnung sozialer Dienste in Großbritannien beruhte also in hohem Maße auf der langen Vorgeschichte britischer Sozialpolitik und war weit weniger revolutionär als in anderen Bereichen wie sozialer Sicherung, Gesundheit und Bildung. Die sozialen Dienste blieben im Bereich der lokal organisierten Fürsorge, die zwar grundsätzlich mit dem alten Armenrecht gebrochen hatte, aber nach wie vor am Prinzip der Bedürftigkeitsprüfung festhielt. Der Aufbau einer ambulanten Versorgungsinfrastruktur in freier Trägerschaft blieb weit hinter den Erwartungen zurück. Schrittweise erhielten deshalb die lokalen Sozialbehörden erweiterte Zuständigkeiten und dehnten ihr Aktionsfeld auch auf die ambulanten Dienste aus. 1962 erhielten sie zum Beispiel die Befugnis zum Aufbau eigener Dienste zur lokalen Versorgung mit Essen-aufRädern, 1968 wurden sie gesetzlich verpflichtet, einen öffentlichen home help service einzurichten, was zuvor nur auf freiwilliger Grundlage möglich war. Der entscheidende institutionelle Durchbruch kam 1971 mit der Schaffung einheitlicher lokaler Sozialbehörden (local social services departments), in denen die bisher getrennten Zuständigkeiten für verschiedene Klientele und Bereiche zusammengefasst wurden. Erst seitdem kann man von einem vereinheitlichten, lokalen, primär öffentlichen System sozialer Dienste in England und Wales sprechen, in dem die lokalen Sozialbehörden die entscheidenden Akteure waren. Die Reformen zu Beginn der 1970er Jahre führten auch zu einer funktionalen und institutionellen Trennung von sozialen und medizinischen ambulanten Diensten. Seit den 1970er Jahren wuchs das Angebot an ambulanten sozialen Diensten in England und Wales in allen Bereichen stark an, obwohl auch schon in den beiden Jahrzehnten davor ein leichter Anstieg zu beobachten war (siehe Tabelle 15, 16 und 17). Tabelle 15: Haushaltshilfedienste, England und Wales 1950-1995 (in 1.000) Personalbestand Vollzeitäquivalente Fälle
1950 23,4 k.A. 162,0
1960 49,3 k.A. 312,0
1970 k.A. 33,0 469,5
1980 97,1 49,5 787,9
1990 k.A. 59,7 k.A.
19901 k.A. 55,8 k.A.
19951 k.A. 49,8 k.A.
k.A.: keine Angaben verfügbar. Anmerkungen: 1 Nur England. Quelle: Halsey und Webb, 2000: S. 519.
Tabelle 16: Health visitors, England 1975-1998: Zahl der Fälle nach Altersgruppen (in %) Zielgruppe Kinder unter 51 Ältere über 65 Andere Insgesamt Insgesamt (1.000)
1975 61,3 13,0 25,7 100,0 3877
1980 61,0 12,6 26,4 100,0 3817
1985 57,1 11,4 31,5 100,0 4080
1989/90 57,0 6,6 36,4 100,0 4058
Anmerkungen: k.A.: keine Angaben verfügbar, 1 Einschließlich Neugeborener. Quelle: Halsey und Webb, 2000: S. 520.
1994/95 60,7 3,9 35,4 100,0 3711
1997/98 k.A. k.A. k.A. 100,0 3622
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Tabelle 17: Mahlzeitendienste, England 1992-1997: Empfänger und Träger der Dienste 1992 275,7 776,7
1994 300,4 794,1
1997 247,3 756,3
Insgesamt (%)
100
100
100
- Kommunen % - Freie Anbieter % - Private Anbieter % - NHS1 %
60 35 4 1
56 36 8 1
55 32 13 0
Empfänger (1.000)2 Mahlzeiten (1.000)2
Anmerkungen: 1 Erbracht von Einrichtungen des Nationalen Gesundheitsdienstes, 2 Während der Befragungswoche. Quelle: Halsey und Webb, 2000: S. 521.
So stieg die Zahl der jährlichen Leistungsfälle von 1950 bis 1980 um fast das Fünffache an, und auch in den 1980er Jahren setze sich der Anstieg der von den lokalen Sozialbehörden geleisteten home help services bis Anfang der 1990er Jahre fort. Besonders stark war der Anstieg in den 1970er Jahren gewesen. Auch die Zahl der von den ambulanten Gesundheitsdiensten zuhause versorgten Menschen stieg von Anfang der 1970er Jahre bis Anfang der 1990er Jahre an, um danach leicht abzusinken. Allerdings betreuten die health visitors einen immer kleiner werdenden Anteil an älteren Menschen und kümmerten sich immer stärker um akut kranke jüngere Menschen sowie um junge Mütter mit Kindern. Somit entwickelte sich in England seit den 1970er Jahren ein relativ engmaschiges System häuslicher sozialer Dienste in zumeist öffentlicher Trägerschaft. Dennoch konnte der vorherrschende Trend zu einer stärkeren stationären Versorgung in der Altenhilfe und im Pflegebereich nicht gestoppt werden, im Gegenteil! Waren doch vor allem die 1980er Jahre durch einen starken Schub im Aufbau insbesondere privater Alten- und Pflegeheime gekennzeichnet. Der Ausbau der stationären Versorgung war von der Entwicklung ambulanter Dienste weitgehend losgelöst; es gab keine bereichsübergreifende Kooperation. Der wesentliche Grund dafür lag in der unterschiedlichen institutionellen Verankerung beider Bereiche und in unterschiedlichen Zuständigkeiten und Steuerungsprinzipien. So wurde der private stationäre Sektor zum großen Teil von der staatlichen Sozialversicherung subventioniert, während die lokalen öffentlichen Heime einer strengen Bedürftigkeitsprüfung unterlagen. Daneben hatten sich die ambulanten sozialen Dienste der Gemeinden immer stärker von einer Bedarfsprüfung gelöst und boten für eine Vielzahl von Haushalten Hilfeleistungen an. Eine weitere unklare Schnittstelle betraf die Zuständigkeit von Nationalem Gesundheitsdienst und lokalen Sozialbehörden für das Problem der stationären Langzeitpflege, zum Teil auch die ambulante Kranken- und Pflegeversorgung. Dadurch ergaben sich an verschiedenen Schnittstellen des Systems, zwischen zentralstaatlichen Einrichtungen und lokalen Sozialbehörden, zwischen öffentlicher Zuständigkeit und privaten Anbietern sowie zwischen ambulantem und stationärem Sektor erhebliche Koordinationsprobleme, die einer integrierten Versorgung und einheitlichen Steuerung im Wege standen (vgl. Fieber 1997). Erst die Reformen der 1990er Jahre waren der entscheidende Schritt für die Schaffung eines integrierten, nach einheitlichen Grundsätzen funktionierenden Systems der sozialen Dienste für ältere Menschen (vgl. Hudson 2000), in dem die lokalen Sozialbehörden die zentrale
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Rolle der Steuerung und Finanzierung spielen. Im stationären Sektor sind die Auswirkungen dieser Reformen deutlich spürbar (siehe oben), aber auch im Bereich ambulanter Dienste sind strukturelle Veränderungen zu beobachten. Bei den Haushaltshilfen (home help), seit den 1970er Jahren eine Domäne der Kommunen mit im internationalen Vergleich relativ hohem Erfassungsgrad, ergaben sich seit 1992 deutliche Verschiebungen sowohl in der Anbieterstruktur als auch im Angebot (siehe Tabelle 18) Die Zahl der Haushalte, die solche Dienste erhält, stieg zunächst noch von rund 518.000 im Jahr 1992 auf rund 539.000 im Jahr 1994 an; die Zahlen beziehen sich dabei auf die jeweilige Befragungswoche in jedem Jahr. Doch seitdem die community care Reformen 1993 zu greifen begonnen hatten, sank ihre Zahl auf nur noch knapp unter 400.000 im Jahr 2001. Die Zahl der geleisteten Stunden (in der Befragungswoche) stieg jedoch weiter an, so dass die durchschnittliche Intensität der Dienstleistung deutlich zunahm. Entfielen im Jahr 1992 im Durchschnitt nur etwas mehr als 3 Stunden an Dienstleistungen in der Woche auf jeden besuchten Haushalt, waren es 2001 7,5 Stunden. Daran ist eine zunehmende Konzentration dieser Dienstleistung auf zumeist bedürftigere Klienten zu erkennen, während ein großer Teil der minder schweren Fälle nunmehr ohne öffentlich subventionierte Dienste auskommen muss. Der von den Reformen der 1990er Jahre angestrebte Ausbau der ambulanten Dienste als Alternative und Komplement zum relativ hoch entwickelten stationären Sektor lässt sich also nicht in der Breite, wohl aber in der Intensität der Leistungen beobachten; die Zunahme an Dienstleistungsarbeit geht mit einer Konzentration auf weniger Klienten (targeting) einher. Zugleich lässt sich ein rascher Umbau in der Anbieterstruktur dieser Dienste erkennen. Noch im Jahr 1992 wurde home help fast ausschließlich von den Kommunen in eigener Trägerschaft angeboten, der Anteil privater und freier Träger war verschwindend gering. Doch innerhalb von weniger als zehn Jahren hat sich der nichtöffentliche Sektor, der überwiegend aus privat-kommerziellen Betrieben besteht, zum größten Anbieter entwickelt. Mehr als 50% der Klienten werden inzwischen von privaten Anbietern bedient, die sogar bereits rund 60% der in Stunden gemessenen Dienstleistungen erbringen. Die Dienstleistungsintensität (Stunden je Fall) ist also im nicht-öffentlichen Sektor deutlich höher als in den noch von den Kommunen selbst betriebenen Diensten. Dies weist darauf hin, dass die Reformziele vor allem mithilfe des privaten Sektors verwirklicht werden. Der Umbau der Trägerstruktur vollzog sich im ambulanten Sektor weit rascher als im stationären Bereich, weil dieser Bereich aufgrund seiner Personalstruktur mit niedrigeren Qualifikationen und einer geringeren Kapitalausstattung flexibler auf Veränderungen des institutionellen Rahmens reagieren kann. Doch auch in diesem Fall ist festzuhalten, dass die geleisteten Dienste von den Kommunen finanziert und auf Nachfrager und Anbieter verteilt werden. Die lokalen Sozialbehörden sind somit die entscheidenden Akteure auf dem lokalen Dienstleistungsmarkt. Sie legen fest, wer welche Leistungen erhält (care assessment) und wer diese erbringen darf (contracting-out). Aufgrund ihrer Quasi-Monopolstellung auf dem lokalen Markt sind sie darüber hinaus in der Lage, die Bedingungen der Leistungserbringung ganz wesentlich zu bestimmen, etwa was die Höhe der Leistungsvergütungen angeht. Deshalb wäre es völlig falsch, von einer Privatisierung des Wohlfahrtssystems zu sprechen oder gar von einem wirklichen Markt für soziale Dienstleistungen. Das Marktgeschehen wird nicht den Handlungen potentieller Kunden und Anbieter von Dienstleistungen unterworfen, sondern nahezu vollständig von der lokalen Sozialbehörde kontrolliert.
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Tabelle 18: Haushaltshilfedienste, England 1992-2001: Empfänger und Leistungsstunden nach Träger
1992 1994 1998 2001
Empfänger: Haushalte1 Geleistete Stunden1 Intensität2 (Stunden) Gesamt KomAn- Gesamt KomAnGe- KommuAndere3 3 3 in munen dere in samt nen munen dere 1.000 % % 1.000 % % 518,5 98,0 2,0 1685 97,7 2,3 3,2 3,2 3,7 538,9 88,9 11,1 2215 80,7 19,3 4,1 3,7 7,2 437,2 65,1 34,9 2607 54,1 45,9 5,8 5,0 7,8 399,9 48,5 51,5 2880 40,3 59,7 7,5 6,0 8,4
Anmerkungen: 1 In der Untersuchungswoche, 2 Durchschnittliche Leistungsstunden je Haushalt pro Woche, 3 Freie und private Träger (nicht-öffentliche Anbieter: „independent sector“). Quelle: Community care statistics, England 2002, (www); eigene Berechnungen.
Diese unterliegt ihrerseits engen Restriktionen von Seiten des Zentralstaats. Zunächst, das heißt im Prinzip bis zum Regierungswechsel von den Konservativen zu (New) Labour im Jahr 1997, waren diese Restriktionen vorwiegend finanzieller und formal-prozessualer Natur. Zum einen bestimmte die Zentralregierung den finanziellen Rahmen für die lokale Dienstleistungsversorgung, zum andern legte sie fest, auf welche Weise der lokale Dienstleitungsmarkt zu funktionieren habe. Instrumente wie Ausschreibungen, Leistungsverträge, Kostenkontrollen sollten für eine effizientere Verwendung der Mittel sorgen. Zugleich wurden die Kommunen darauf verpflichtet, einen wachsenden Anteil an Dienstleistungen an externe Anbieter zu vergeben. Jeder Bedarfsfall sollte individuell geprüft werden (care assessment), und es sollten, im Rahmen der zur Verfügung stehenden Ressourcen, die jeweils kostengünstigsten, auf den Einzelfall zugeschnittenen Leistungspakete aus verschiedenen Dienstleistungssegmenten geschnürt werden (care management). Weder für die Ermittlung des Bedarfs noch für die Leistungen wurden dabei einheitliche inhaltliche Standards festgelegt (vgl. Engel und Engels 1999). Die Kommunen sollten selbst über eine möglichst effiziente Verteilung der Mittel entscheiden, ohne an detaillierte Vorgaben gebunden zu sein. Der Mangel an inhaltlichen Richtlinien für die Bedarfsfeststellung und das Fehlen inhaltlicher Leistungsstandards überließ die Steuerung des Systems weitgehend rein betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten. Klienten und Anbieter sozialer Dienste waren auf oft uneinheitliche Entscheidungsprozesse in den lokalen Sozialbehörden angewiesen, worauf sie keinen Einfluss hatten. Die Versorgung mit sozialen Diensten lag ausschließlich im Ermessen der Kommunen, für die Klienten wurden keinerlei Ansprüche und soziale Rechte eingeführt, trotz des ursprünglichen Ziels, die Macht der Konsumenten zu stärken. Ebenso standen die privaten und freien Anbieter sozialer Dienste einem einzigen quasimonopsonistischen Nachfrager in Gestalt der Kommune gegenüber. Sie hatten somit wenig Spielraum in der inhaltlichen Ausgestaltung ihres Angebots, da zumeist der reine Kostenaspekt entscheidend war. Weder für Klienten noch für Anbieter entstand ein verlässlicher inhaltlicher Rahmen für die Dienstleistungserbringung. Somit wurde auch die ursprüngliche Idee, die Vielfalt der Angebote zu erhöhen (welfare mix) und die freien und privaten Träger zu stärken, durch die reale Entwicklung unterlaufen. Das paradoxe Ergebnis der Reformen war, dass weder Klienten und Konsumenten noch freie und private Anbieter daraus gestärkt hervorgingen, sondern der Wohlfahrtsstaat in Gestalt der kommunalen Sozialbehörden.
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Neben den Haushaltsdiensten und den ambulanten medizinischen Diensten hat sich eine Infrastruktur ergänzender sozialer Dienste und Einrichtungen für zuhause lebende ältere Menschen entwickelt. Dazu gehören in erster Linie Essensdienste wie Essen-auf-Rädern und Tageseinrichtungen. Vor 1970 lag die Versorgung mit Essen-auf-Rädern in England und Wales ausschließlich in Händen freier Träger, in erster Linie dem Women’s Royal Voluntary Service und dem Roten Kreuz. Den Kommunen war gesetzlich bis 1968 nicht erlaubt, ein entsprechendes eigenes Angebot aufzubauen, sie finanzierten jedoch zum größten Teil die freien Träger. Seitdem die Kommunen eigene Dienste einrichten durften, seit Beginn der 1970er Jahre, lässt sich auch in diesem Segment ein steiler Anstieg des Angebots feststellen, der sich wiederum bis zu den grundlegenden Reformen der 1990er Jahre fortsetzte. Der Höhepunkt in der Versorgung mit Essensdiensten wurde 1994 erreicht, mit mehr als 300.000 Menschen, seitdem sinken die Zahlen. Der Anteil der kommunalen Angebote in diesem Dienstleistungssegment liegt bei rund 50-60%, freie Träger halten etwa ein Drittel des Gesamtangebots, der Rest wird von privaten Anbietern erbracht. Das Angebot an Tageseinrichtungen für Erwachsene ist ebenfalls angestiegen und wächst kontinuierlich weiter (siehe Tabelle 19). Tabelle 19: Von den Kommunen unterstützte oder direkt angebotene Plätze in Tageseinrichtungen nach Personengruppe und Trägerschaft, England 1992-1997 (in 1.000) Physisch Behinderte Lernbehinderte Geistig Behinderte Ältere über 651 Andere Insgesamt (1.000) - Kommunen % - Freie Träger % - Private Anbieter %
1992 53,1 236,2 39,8 139,0 41,2 509,3 90,1 9,6 0,3
1994 53,5 268,8 50,5 176,4 20,1 569,3 85,6 13,8 0,6
1997 63,5 278,4 60,9 221,7 7,4 631,9 77,6 20,4 2,0
Anmerkungen: 1 Alle Zielgruppen. Quelle: Halsey und Webb, 2000: S. 522.
Die Zahl der Plätze in Tageseinrichtungen stieg auch in den 1990er Jahren weiter an, von rund 500.000 Plätzen für alle Gruppen zusammen zu Beginn des Jahrzehnts bis auf über 630.000 im Jahr 1997. Die Mehrzahl der Plätze richtet sich an Menschen mit Lernbehinderungen, aber Zahl und Anteil der Plätze für ältere Menschen haben sich kontinuierlich erhöht. Heute liegt deren Anteil bei über einem Drittel, 1992 lag er noch bei rund einem Viertel. Auch in diesem Bereich überwiegen die Angebote der Kommunen, die rund drei Viertel aller Plätze stellen. Der Rest wird fast ausschließlich von freien Trägern angeboten, private Anbieter spielen praktisch keine Rolle. Eine zentrale Frage ist, weshalb nach den community care Reformen zu Beginn der 1990er Jahre das Angebot an ambulanten sozialen Diensten tendenziell gesunken ist, obwohl es doch erklärtes Ziel dieser Reformen war, den ambulanten gegenüber dem stationären Sektor zu stärken (vgl. Davies, Fernandez und Saunders 1998). Dafür bieten sich zwei
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Erklärungen an. Zum einen hatten die Reformen die Zuständigkeit für ambulante und stationäre Dienste für ältere Menschen in einer Hand konzentriert, den lokalen Sozialbehörden. Diese mussten jedoch im Rahmen enger, weitgehend von der Zentralregierung vorgegebener Budgets für eine möglichst effiziente und erst in zweiter Linie effektive und zieladäquate Allokation von Mitteln auf die verschiedenen Klienten und Dienstleistungssegmente sorgen. Zugleich waren sie verpflichtet, einen wachsenden Anteil sozialer Dienste an private und freie Anbieter zu vergeben. Eine Strategie dabei war die Konzentration der Mittel auf Menschen mit höherem Versorgungsbedarf (targeting) und somit eine Einschränkung sozialer Dienstleistungen in der Breite. Zwar gilt im allgemeinen der Grundsatz, dass ambulante Dienste billiger sind als eine stationäre Versorgung, also hätte man von den Reformen in erster Linie einen Umbau vom stationären zum ambulanten Sektor erwarten können. Dies geschah jedoch nicht in erwartetem Umfang, weil die Kommunen zuallererst die minder schweren Fälle, die zumeist zuhause lebten, von den sozialen Diensten ausschlossen und diese stattdessen zielgerichteter auf schwerere Bedarfsfälle konzentrierten. Von diesen lebt jedoch ein höherer Anteil in Heimen. Anstatt also die ambulanten Dienste auszubauen, wurden sie im Gegenteil zuallererst mit wenigen Ausnahmen eingeschränkt. Hinzu kommt natürlich der Faktor, dass die Mittel im ambulanten Sektor flexibler zu verändern sind als im stationären Bereich. Darüber hinaus sollte die Familie im Konzept der community care wieder eine wichtigere Rolle übernehmen. Paradoxerweise führte dies – entgegen der vorherrschenden Diskussion in Deutschland – gerade dazu, die ambulanten Dienste in den Fällen einzuschränken, in denen Familienangehörige stärker zur Verantwortung gezogen werden konnten (vgl. Walker 1995; Tester 1996). Nicht Unterstützung für familiäre Pflege alter Menschen, sondern Hilfeleistungen nur in den Fällen, in denen diese fehlte, war das Leitbild der ambulanten sozialen Dienste in England nach den community care Reformen, ein Leitbild, das sich für einen Ausbau dieser Dienste im Kontext knapper Mittel letztlich als fatal erwies (vgl. Allen und Perkins 1995). So wurde in der fehlenden Entwicklung ambulanter Dienste schließlich das wichtigste Indiz für ein partielles Scheitern dieser Reformen gesehen. Erst mit dem Regierungswechsel von 1997 kam es auch zu einem Politikwechsel, der seitdem bei den sozialen Diensten stärker auf die Durchsetzung qualitativer Standards, die Etablierung sozialer Rechtsansprüche und die Berücksichtigung der Bedürfnisse von pflegenden Familienangehörigen setzt. Im Zuge dieser Entwicklungen wurde neben eine formale und fiskalische zentralstaatliche Kontrolle, die unter den konservativen Regierungen etabliert worden war, eine vermehrt qualitative Kontrolle inhaltlicher Standards gesetzt. Das Feld sozialer Dienste erlebte somit einen weiteren, kräftigen Institutionalisierungsschub. Das Ziel der Regierung von New Labour war von Anfang an eine Modernisierung der öffentlichen Dienstleistungen, darunter auch der sozialen Dienste und des Nationalen Gesundheitsdienstes. Die Privatisierungsanstrengungen der konservativen Vorgängerregierungen hatten zwar in einigen Fällen zu mehr ökonomischer Effizienz und zu Kostensenkungen geführt, die Qualität der Dienste aber nicht verbessert, im Gegenteil kam es in vielen Bereichen zu deutlichen Verschlechterungen. Im Bereich der sozialen Dienste sollte die Strategie des „Dritten Weges“ der Labourregierung vor allem darin bestehen, die Qualität des Angebots stärker zu kontrollieren und zu verbessern, ohne die bereits erfolgten Privatisierungen rückgängig zu machen. Das Weißbuch der Regierung von 1998 Modernising social services hatte die Fragmentierung und mangelnde Koordination der sozialen Dienste
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beklagt und darüber hinaus fehlende qualitative Standards als zentrales Problem identifiziert. Unter anderem wurde eine Kommission zur Finanzierung der Langzeitpflege einberufen, die in ihrem 1999 erschienenen Bericht für ein einheitliches, steuerfinanziertes Leistungssystem plädierte, in dem medizinische und soziale Dienste integriert wären. Dadurch sollte das Problem eines durch die künstliche Trennung beider Bereiche hervorgerufenen Mangels an Koordination gelöst werden. Darüber hinaus sollte die Bedürftigkeitsprüfung für die sozialen Dienste abgeschafft werden. Die Regierung lehnte jedoch diese Lösung vor allem aus Kostengründen ab. Es blieb somit weiterhin bei der alten Unterscheidung von medizinischen und sozialen Dienstleistungselementen in der Altenpflege. Letztere waren weiterhin einem Bedürftigkeitstest unterworfen. Dazu gehörten Unterkunfts- und Verpflegungskosten in Heimen gleich welcher Art sowie häusliche soziale Dienste mit Ausnahme der medizinischen Pflege. Auch wenn die Finanzierung des Systems nicht geändert und die institutionelle Unterscheidung zwischen medizinischen und sozialen Diensten nicht aufgehoben wurde, kam es doch zu wichtigen Reformen. Es wurde eine National Care Standards Commission einberufen, mit dem Ziel, verbindliche Richtlinien und Qualitätsstandards zu entwickeln. Bisher lag diese Kontrollaufgabe bei den lokalen Behörden, und es gab praktisch keine nationalen Standards. Die Kommission erhielt die Zuständigkeit für die Entwicklung von nationalen Richtlinien sowie deren Kontrolle für die Bereiche Alten- und Pflegeheime, Kinderheime, häusliche soziale Dienste sowie Heime und Krankenhäuser in privater und freier Trägerschaft. Die von ihr erarbeiteten inhaltlichen Richtlinien und Standards wurden im Jahr 2000 im Care Standards Act festgeschrieben, der 2002 in Kraft trat. Somit erhielt der Wohlfahrtsstaat die Zuständigkeit in einem Kernbereich der sozialen Dienste zurück: der Festlegung inhaltlicher Standards und Qualitätsnormen sowie deren Überwachung, unabhängig von der Trägerschaft der Einrichtungen. Die mixed economy of welfare wurde ergänzt um eine starke zentrale Steuerung nicht nur der Finanzströme, sondern der Art und Qualität der Dienstleistungen selbst. Der Prozess der zunehmenden wohlfahrtsstaatlichen Institutionalisierung der sozialen Dienste in England und Wales hat somit ein neues Stadium erreicht.
Soziale Dienste für Kinder Sozialfürsorge Die Geschichte staatlicher Sozialpolitik für Kinder beginnt in England mit der Reformation im 16. Jahrhundert und erhielt ihre erste institutionelle Ausformung im elisabethanischen Armenrecht von 1601. Im Mittelpunkt stand dabei das „boarding out“ von Waisenkindern und von ihren Eltern verlassenen Kindern an dritte Personen, zumeist als Arbeitskräfte. Die Durchführung des Gesetzes oblag den lokalen Kirchengemeinden (parishes), Hilfe wurde nur in der Herkunftsgemeinde gewährt. Dieses System führte zu großen lokalen Variationen und in der später einsetzenden Industrialisierung zu zunehmenden regionalen Verwerfungen. Die Reform des Armenrechts von 1834 verschob deshalb das Schwergewicht der Hilfe auf die Unterbringung in geschlossenen Einrichtungen: dem Armenhaus. Zuständig waren nicht mehr die Kirchengemeinden, sondern eigene armenrechtliche Institutionen. Das Armenhaus blieb das vorherrschende Instrument der sozialen Kontrolle und Versor-
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gung von Kindern mit öffentlichen sozialen Diensten, auch wenn sich im 19. Jahrhundert zunehmend Alternativen entwickelten, zum Beispiel die seit 1861 bestehenden industrial schools mit ihrer doppelten Zielsetzung der Ausbildung und Erziehung zur Arbeit für bedürftige Kinder. Ein weiteres wichtiges Instrument bildete die massenhafte Verschickung solcher Kinder in die Kolonien des britischen Empires. Noch nach 1870 bis in die 1960er Jahre hinein wurden auf diese Weise schätzungsweise insgesamt 150.000 britische Kinder nach Kanada, Südafrika, Australien und Neuseeland verbracht, um die dort ansässige angelsächsische Bevölkerung zu verstärken (Hayden et al., 1999: 18-19). Neben den öffentlichen Diensten für Kinder, die vor allem Zwangscharakter besaßen und fest im Armenrecht verwurzelt waren, entwickelte sich jedoch im 19. Jahrhundert die Sozialarbeit freier Träger zugunsten von Kindern. Es waren diese Organisationen, welche die eigentlichen Pionierleistungen auf dem Gebiet der Kinderfürsorge erbrachten und somit die Grundlage für die Herausbildung der modernen Sozialarbeit legten. Neben den konfessionellen Trägern der Anglikanischen Kirche, der Katholischen Kirche und der protestantischen Freikirchen kam es zur Gründung großer, national tätiger, privater Organisationen wie Dr. Bernardos (1869), National Children’s Home (ebenfalls 1869) und der National Society for the Prevention of Cruelty to Children (1884). Der Staat wurde erst wieder in der liberalen Reformära aktiv (1906-1914) und führte unter dem Einfluss der Reformbewegung unter anderem 1906 Schulmahlzeiten für bedürftige Kinder und den schulmedizinischen Dienst (1907) ein. Doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zur entscheidenden institutionellen Wende im Bereich der öffentlichen Kinderfürsorge und zur endgültigen Abkehr von den Prinzipien und Einrichtungen des Armenrechts. Zum einen übernahm der Staat eine aktivere, stärker intervenierende Rolle in der Kinderschutzpolitik und gab die armenrechtlichen Prinzipien der öffentlichen Hilfe als letztem Mittel (last resort) und der sozialen Abschreckung (less eligibility) auf; dennoch blieb die Zahl der öffentlich betreuten Kinder in England und Wales auch in der Folgezeit relativ niedrig. Zum andern änderten sich die Instrumente staatlicher Intervention. Es erfolgte eine deutliche Abkehr von geschlossenen Einrichtungen in der Kinderfürsorge (vgl. Gottesmann 1991). Diese Entwicklung ist statistisch sehr gut belegt. Die Zahl der von den Sozialbehörden betreuten Kinder war in England und Wales niemals besonders hoch. Vielfach kümmerten sich freie Wohlfahrtsorganisationen um Kinder, die keine Eltern mehr hatten oder von ihnen nicht versorgt werden konnten. Ein weiterer Grund waren die harschen Bedingungen eines Lebens unter dem Armenrecht, die eine abschreckende Wirkung hatten und die Einschaltung der lokalen Armenbehörden zum allerletzten Notnagel machten. Dennoch lebten anfangs des 20. Jahrhunderts rund 60.000 Kinder in England und Wales unter dem Armenrecht, der Höhepunkt wurde 1910 mit mehr als 70.000 Kindern überschritten. Danach sank die Zahl der armenrechtlich betreuten Kinder kontinuierlich bis auf den historischen Tiefstand von knapp 35.000 kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs (siehe Tabelle 20). Das Armenrecht sah anfangs auch für bedürftige Kinder den Eintritt in das Armenhaus als Regelmaßnahme vor, nur in Ausnahmefällen wurde öffentliche Unterstützung außerhalb von Einrichtungen gewährt. Obwohl seit Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend spezielle Einrichtungen für Kinder und Jugendliche geschaffen wurden, um diese aus dem düsteren Umfeld des Armenhauses zu befreien, ist die Dominanz der stationären Unterbringung in der Kinderhilfe bis zum Ende des alten Armenrechts nach dem Zweiten Weltkrieg klar erkennbar. Über den ganzen in Tabelle 20 abgebildeten Zeitraum hinweg lebten mehr als
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vier Fünftel aller armenrechtlich betreuten Kinder in Heimen und anderen stationären Einrichtungen, nur eine Minderheit wurde bei Pflegefamilien untergebracht. Zwar nahm die Zahl der Plätze in speziell für Kinder und Jugendliche geschaffenen Heimen und Einrichtungen zu, aber der Schatten des Armenhauses war lang. Im Jahr 1900 lebte fast die Hälfte der Kinder, die in Heimen untergebracht waren, zusammen mit anderen Bedürftigen im traditionellen Armenhaus, weitere 7.000 in Einrichtungen für geistig und körperlich Behinderte. Erst nach dem Ersten Weltkrieg hatten sich spezielle Einrichtungen für Kinder durchgesetzt und 1938 lebten nur noch rund 2.000 Kinder im Armenhaus. Tabelle 20: Kinder in armenrechtlicher Obhut nach Art der Unterbringung, England und Wales 1900-1938 (in 1.000) Kinder in Einrichtungen Poor law- Einrichtungen - Arbeitshäuser1 - Kinderdörfer2 - Einzelheime3 - Andere Heime und Schulen Andere Einrichtungen - Freie Heime für Kranke, Behinderte4 - Heime für Behinderte - Ausbildungsheime, Arbeitsschulen5 Insgesamt in Einrichtungen In häuslicher Pflege6 Insgesamt in armenrechtlicher Obhut In häuslicher Pflege (%)7
1900
1910
1920
1930
1938
23,5 X X (19,4)8
15,8 11,6 7,4 13,6
6,0 11,7 7,6 11,2
4,7 9,5 7,4 10,3
2,3 8,6 6,3 5,3
0,2
1,3
2,2
1,5
1,1
7,0 k.A. 50,1 7,4 57,5 12,8
3,1 9,1 62,0 8,8 70,8 12,4
7,4 7,5 53,6 9,4 63,0 14,9
1,3 6,8 41,4 8,2 49,6 16,5
0,0 5,2 28,7 6,0 34,7 17,4
k.A.: keine Angaben verfügbar, X: In anderer Zelle enthalten. Anmerkungen: 1 Workhouses, 2 Grouped cottage homes, 3 Scattered homes, 4 In freier Trägerschaft, 5 Training and industrial schools, 6 Children boarded out, 7 Children boarded out as % of all children supported by Poor Law, 8 Nicht differenzierbar. Quelle: Halsey und Webb, 2000: S. 531.
Nach den grundlegenden Reformen im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg, die mit der Abschaffung des Armenrechts einhergingen, begab sich die englische Sozialpolitik in der Kinder- und Jugendhilfe auf einen neuen Weg. Im Mittelpunkt standen nun kleine Heime und Wohneinheiten für Kinder und Jugendliche in familienähnlichen Verhältnissen, vor allem aber die direkte Unterbringung als Pflegekind bei einer Gastfamilie. Der Children Act von 1948 schuf mit den lokalen Kinder- und Jugendbehörden erstmals spezifische Organisationen für diesen Bereich, deren Aufgabe vor allem in der Koordination der öffentlichen und der vielfältigen Angebote freier Träger bestand. Der Schwerpunkt wurde auf die Wiederherstellung der familiären Verhältnisse gelegt, in zweiter Linie sollten Pflegefamilien bedürftige Kinder betreuen und erst als letztes Mittel waren Heime und andere Einrichtungen vorgesehen. Der Children and Young Persons Act von 1963 vervollständigte diese Ausrichtung durch einen Schwerpunkt auf Prävention und intervenierende Maßnahmen
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zugunsten „bedrohter“ Kinder in der Familie. Die aktivere Rolle des Staates in der offenen Kindersozialarbeit zeigt sich auch in der Entwicklung der Fallzahlen. Die Zahl der von den lokalen Sozialbehörden in Obhut genommenen Kinder wuchs zunächst an, erreichte im Jahr 1980 einen historischen Höhepunkt und sinkt seitdem stark ab (siehe Tabelle 21). Verglichen mit 1980, dem Jahr mit dem Höchststand von über 100.000 sozial betreuten Kindern, lag deren Zahl anfangs der 1950er Jahre bei rund zwei Dritteln und gegen Ende der 1990er Jahre bei nur noch rund der Hälfte. Darin drückt sich sowohl die demographische Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg aus, mit einem Höhepunkt an Geburten zur Mitte der 1960er Jahre, als auch ein Wandel in der Kinder- und Jugendpolitik. Hatte man vor allem in dem durch den Aufstieg der Sozialpädagogik und den Ausbau der sozialen Dienste geprägten Jahrzehnt von 1970-1980 die Entwicklung der Kinder- und Jugendhilfe vorangetrieben, waren die 1980er und 1990er Jahre durch einen allmählichen Rückzug der klassischen interventionistischen Instrumente gekennzeichnet. Dieser Wandel zeigt sich vor allem im raschen Niedergang der Unterbringung von Kindern in Heimen, während die Zahl der in Pflegefamilien betreuten Kinder relativ konstant geblieben ist. Auf dem Höhepunkt im Jahr 1980 lebten rund 30.000 Kinder in kommunalen Heimen, zehn Jahre später waren es nur noch rund 10.000 und nach weiteren fast zehn Jahren nur rund 5.000 Kinder. Im gleichen Zeitraum blieb die Zahl der Kinder in Pflegefamilien konstant bei rund 35.000, ihr Anteil stieg bis auf rund zwei Drittel aller betreuten Kinder. Im gleichen Zeitraum nahm die Zahl der präventiven sozialen Dienste im Kinder- und Familienbereich erheblich zu. Die Sozialarbeit für Kinder und Familien wandelte sich in starkem Maße zu einer präventiven, in der Herkunftsfamilie von Problemkindern selbst ansetzenden Intervention. Tabelle 21: Kinder in Obhut der lokalen Sozialbehörden nach Art der Unterbringung, England und Wales 1952-1980, und England 1980-1998 (in 1.000) Unterbringungsart Pflegefamilien Kommunale Heime Freie Heime1 Spezielle Schulen Eigene Eltern Arbeitsstätten2 Andere Unterbringung Insgesamt in Obhut3 Davon: in Pflegefamilien (%)
1952 26,3 24,9 7,6 2,0 3,9 64,7
1960 28,7 19,7 4,8 2,2 2,0 1,7 2,5 61,7
1970 30,3 20,7 6,6 2,2 6,4 1,7 3,4 71,2
1980 36,9 30,2 3,7 3,1 18,5 1,9 5,7 100,2
19804 35,2 28,8 3,6 3,0 17,3 1,8 5,5 95,3
40,6
46,5
42,5
36,8
36,9
19904 19954 34,5 32,1 10,6 5,9 0,9 X 1,2 (0,8)5 7,7 4,4 1,7 X 3,9 (6,8)5 60,5 49,9 57,0
64,3
19984 35,2 5,2 X (1,0)5 5,7 X (6,6)5 53,7 65,6
X: In anderer Zelle enthalten. Anmerkungen: 1 Hostels and voluntary homes, 2 Lodgings or residential employment, 3 Children in local authority care, 4 Nur England, 5 Nicht differenzierbar. Quelle: Halsey und Webb, 2000: S. 532.
Der 1963 verabschiedete Children and Young Persons Act verpflichtete die Kommunen zum Aufbau präventiver, beratender und die Familien direkt in ihrem Umfeld unterstützender Hilfen. Heute unterscheidet die geringe Zahl von Kindern, die in Heimen leben, Eng-
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land stark von den meisten anderen europäischen Ländern. Diese geringe Zahl wurde zum Teil auch heftig kritisiert. Ein zentraler Vorwurf lautet, dass Kinder selbst in kritischen Situationen bei ihren Familien belassen würden, auch weil alternative Aufnahmekapazitäten zu stark geschrumpft seien. Der Children Act von 1989 stellte die Rechte und das Wohl des Kindes in den Mittelpunkt der staatlichen Interventionen. Die Unterbringung in Heimen blieb die letzte Option, verstärkt wurden jedoch weiterhin die präventiven und offenen Formen der Hilfe, zum Beispiel in den neugeschaffenen Familienzentren. Das Gesetz verpflichtete die Kommunen zum Aufbau solcher Einrichtungen oder zur Zusammenarbeit mit bestehenden Diensten freier Träger. Dieses Gesetz stellt die zentrale Grundlage für die heutigen sozialen Dienste der staatlichen und öffentlich geförderten Kinderfürsorge in England und Wales dar. Ein wesentliches Element ist dabei die Stärkung der Rechte des Kindes. Kinder müssen in jeder Phase der Intervention gemäß ihren Möglichkeiten gehört werden, ihre Interessen sollen im Mittelpunkt stehen. Dabei wird ihnen eine eigene Interessenvertretung neben Eltern, Pflegeeltern oder staatlichen Behörden zugestanden. Das Armenrecht und die staatliche Sozialfürsorge nach dem Zweiten Weltkrieg bildeten jedoch nicht das Kernelement der englischen Sozialpolitik für Kinder, die vielmehr seit fast 100 Jahren durch eine starke universalistische Orientierung in der Versorgung von Kindern mit sozialen Diensten in allen Bevölkerungsschichten gekennzeichnet war. Prägend dafür wurden in erster Linie die medizinischen Leistungen und Dienste für Mütter und Kinder (die hier nicht näher behandelt werden), aber auch soziale Dienste wie Schulmahlzeiten und Schulmilch. Neben ihren praktischen Wirkungen hatten diese Maßnahmen vor allem eine hohe symbolische und ideologische Bedeutung, bildeten sie doch einen klaren Bruch mit der armenrechtlichen Tradition und schufen ein allgemeines soziales Mindestniveau in der Versorgung von Kindern mit bestimmten Gütern und Diensten. Die Sozialpolitik für Kinder wurde somit relativ früh und im Vergleich zu anderen Gruppen besonders weit aus dem Umfeld der Armenfürsorge herausgelöst. Der Children Act von 1908 verpflichtete die Schulen zur Einführung von Schulmahlzeiten und Schulmilch für bedürftige Kinder. Zuständig waren die Bildungsbehörden, nicht die armenrechtlichen Institutionen. Zu Beginn waren es jedoch vor allem freie Träger, die diese Dienste organisierten und auch mit finanzierten. Im Jahr 1920 erhielten nur rund 2% aller Schulkinder zwischen 5 und 14 Jahren Schulmahlzeiten, kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs waren es rund 10% (Halsey und Webb 2000: 535). Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte dann auch dieser Dienst seinen eigentlichen quantitativen Durchbruch. Bereits in den 1950er Jahren bekam rund die Hälfte der Schulkinder eine warme Mahlzeit, bis 1970 war der Anteil auf über zwei Drittel gestiegen; davon erhielten rund 10% ihre Mahlzeit ohne jede Zuzahlung. Danach sank die Zahl der Empfänger ab, doch noch Mitte der 1990er Jahre erhielten rund 45% der englischen und walisischen Schulkinder eine warme Mahlzeit, 40% davon wurden unentgeltlich angeboten (Halsey und Webb 2000: 535).
Kinderbetreuung Im Gegensatz zu diesen dem Bildungsbereich angegliederten Diensten und dem Nationalen Gesundheitsdienst, der allen Einwohnern und somit auch Kindern kostenlosen Zugang zu medizinischen Diensten und Einrichtungen gewährt (vgl. Wendt 2003), blieb die Kinder-
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betreuung in England und Wales ein Stiefkind des Wohlfahrtsstaates. Großbritannien weist im europäischen Vergleich die niedrigste Versorgungsquote für Kinder im Vorschulalter aus. Darüber hinaus ist der größte Teil der Einrichtungen privat und verlangt den Eltern sehr hohe Zahlungen ab, die im europäischen Vergleich an der Spitze liegen. Die Ursachen für diese Entwicklungen sind vielfältig, es gibt jedoch zwei wichtige Gründe: die in der englischen Sozialordnung fest verankerte Vorstellung von der Familie als privater Institution, in die sich der Staat nur im Ausnahmefall einmischen sollte, und die Tradition des Armenrechts, welche die Entwicklung der Einrichtungen zur Kinderbetreuung geprägt hat. Die historischen Anfänge der institutionalisierten Kinderbetreuung in Großbritannien liegen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, einer Phase der beginnenden Industrialisierung und Urbanisierung (vgl. dazu und im folgenden Holzer 1998). Die dame schools zur Betreuung von Kindern der arbeitenden Schichten wurden zumeist von philanthropischen Privatpersonen betrieben. Hinzu kamen ebenfalls privat betriebene infant schools und ähnliche Einrichtungen, deren primäre Ziele die Betreuung und elementare Ausbildung von Arbeiterkindern waren. Die Kinder der Mittelschichten wurden zumeist in der Familie oder durch Hauspersonal wie zum Beispiel nannies (Kindermädchen) betreut. Mit der Einführung der staatlichen Schulpflicht stieg die Zahl der betreuten Kinder an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert an, weil die Schulen zum Teil auch jüngere Kinder aufnahmen, um die Lage der Arbeiterkinder zu verbessern. Ein institutioneller Durchbruch wurde durch die 1914 geschaffenen nursery schools und nursery classes für drei- bis fünfjährige Kinder erreicht. Diese Einrichtungen nahmen im Ersten Weltkrieg eine große Zahl an Kindern auf, danach sank ihre Bedeutung jedoch wieder bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs. Parallel zu den dem staatlichen Bildungswesen angegliederten nursery schools entstanden im Ersten Weltkrieg die day nurseries, Tageseinrichtungen unter der Verwaltung der lokalen Sozialbehörden. Diese institutionelle Trennung besteht bis heute fort. Die zyklische Entwicklung der Kinderbetreuung über die Zeit ist typisch für England und Wales. Öffentliche Einrichtungen wurden in Zeiten akuten Bedarfs, vor allem den beiden Weltkriegen, rasch und in großem Umfang ausgebaut. Doch mit dem Ende der kriegswirtschaftlichen Bedingungen wurden die Einrichtungen ebenso rasch wieder auf einen kleinen Kern zurückgeführt, der für die Betreuung sozial vernachlässigter Kinder notwendig war. Die Betreuung von Kindern aus intakten Familien fiel dann wiederum der Privatinitiative anheim, sei es in den Familien selbst, sei es durch das Angebot freier oder privater Träger. So gab es während des Ersten Weltkriegs rund 100 day nurseries, Ende der 1930er Jahre waren es nur noch 14 (!); während des Zweiten Weltkriegs versorgten rund 1300 Einrichtungen über 60.000 Kinder, doch bis 1949 war deren Zahl schon auf rund 40.000 gefallen (Halsey et al. 2000: 536). Von einem dauerhaften Aufschwung der institutionellen Kinderbetreuung in England und Wales kann somit erst in den 1970er Jahren gesprochen werden. Die Ausdehnung erfolgte jedoch nicht primär im Bereich öffentlicher Kindertagesstätten, sondern auf zwei anderen Schienen: im öffentlichen Bildungssystem durch die Ausdehnung der Schulpflicht auf fünfjährige Kinder und die Öffnung der Grundschulen für Vierjährige sowie im Bereich privat finanzierter Tageseinrichtungen. Der öffentliche Sektor blieb auf seine Kernklientel, Kinder mit sozialen Problemen, beschränkt (siehe Tabelle 22). Die Gesamtzahl der in den verschiedenen Einrichtungsformen betreuten Kinder ist seit den 1960er Jahren stark angestiegen. Allerdings konzentrierte sich dieser Anstieg auf die
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zeitlich und personell offeneren Angebote wie Spielgruppen und Tagesmütter, während die festen Einrichtungen wie day nurseries weniger expandierten. Darüber hinaus waren die offeneren Angebotsformen zumeist zeitlich begrenzt und umfassten oft nur wenige Stunden am Tag oder nur einige Tage in der Woche. Das Angebot an Spielgruppen wuchs bereits Ende der 1960er Jahre und in den 1970er Jahren stark an, seit Mitte der 1980er Jahre ist eine Sättigung festzustellen. Dennoch bieten die zumeist von Elterninitiativen gegründeten Spielgruppen das quantitativ bedeutendste Angebot. Ungebrochen scheint dagegen das Wachstum der von Tagesmüttern angebotenen Betreuungsplätze. In absoluten Zahlen stieg dieses Angebotssegment vor allem in den 1990er Jahren stark an. Im Gegensatz zu diesen beiden offeneren Formen der Betreuung stieg die Zahl der day nurseries als festen Einrichtungen weniger stark und später an. Zudem war der Anstieg der Betreuungsplätze auf den privaten Sektor beschränkt. Das Angebot privater day nurseries stieg erst seit Mitte der 1980er Jahre in größerem Ausmaß an. Noch 1985 gab es in den privaten registrierten Einrichtungen weniger Betreuungsplätze als in den von den Lokalbehörden betriebenen öffentlichen Institutionen. Zehn Jahre später jedoch boten die privaten Einrichtungen rund das Siebenfache an Plätzen im Vergleich zum öffentlichen Sektor an. Dafür gibt es zwei wesentliche Gründe. Zum einen waren die öffentlichen Einrichtungen seit 1968 sozial benachteiligten Kindern vorbehalten und keineswegs als allgemeine Kinderbetreuung konzipiert. Zum andern wuchsen die privaten Einrichtungen insbesondere in den 1990er Jahren stark an, weil die konservative Regierung den Eltern steuerliche Vorteile für Kinderbetreuungskosten eingeräumt hatte. Darauf ist im übrigen auch ein Teil des Anstiegs bei Tagesmüttern und Spielgruppen zurückzuführen. Ansonsten werden diese Einrichtungen ausschließlich privat finanziert, müssen sich jedoch registrieren lassen und festgelegte Standards einhalten, deren Erfüllung kontrolliert wird. Tabelle 22: Plätze in Tageseinrichtungen für Kinder nach Art der Einrichtung und Träger, England und Wales 1949-1990 und England 1990 und 1995 (Zahl der Kinder in 1.000) Kommunale Tagesstätten1 Registrierte Tagesstätten2 Kommunale Spielgruppen3 Registrierte Spielgruppen4 Registrierte Tagesmütter5
1949 1960 1970 1975 1980 1985 1990 19906 43,2 22,6 21,6 26,0 28,5 29,1 28,2 28,0 k.A. k.A. k.A. 27,1 22,8 26,3 60,4 57,7 k.A. k.A. k.A. 3,0 3,2 3,1 2,3 2,0 6,9 14,6 248,9 349,1 382,8 419,3 432,8 409,6 1,7 11,9 84,9 100,0 k.A. 146,3 214,7 205,6
19956 20,9 139,3 1,7 406,2 373,6
k.A.: keine Angaben verfügbar. Anmerkungen: 1 Local authorities nurseries, 2 Registered nurseries in freier oder privater Trägerschaft, 3 Play-groups, 4 Play-groups in freier oder privater Trägerschaft, 5 Childminders; Zahl der Plätze, 6 Nur England. Quelle: Halsey und Webb, 2000: S. 536.
Die Rolle des Staates ist in diesem Bereich also wesentlich eingeschränkter als im Bereich der Alten- und Behindertenhilfe. Zwar wird das Angebot an privaten Kinderbetreuungseinrichtungen registriert, normiert und zum Teil indirekt subventioniert (über steuerliche Vorteile für die Nutzer), es erfolgt jedoch im Gegensatz zur Altenhilfe in der Regel keine institutionelle Förderung der Einrichtungen als solcher. Die Kinderbetreuung in England und
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Wales ist somit in weit überwiegendem Maße ein nicht-öffentliches System, dessen Expansion in erster Linie auf privater Initiative erfolgte (vgl. Meltzer 1999). Dennoch kann man auch in diesem Fall nicht von einer eigentlichen „Privatisierung“ im Sinne einer Umkehr wohlfahrtsstaatlicher Politik sprechen, im Gegenteil! Zwar blieben die staatlichen Eingriffe in die Kinderbetreuung begrenzter als zum Beispiel in der Altenhilfe, dennoch haben sie im Lauf der Zeit eher zu als abgenommen. Registrierung, indirekte Subventionierung und die Entwicklung von Standards und Kontrollen markieren wesentliche Elemente zunehmender wohlfahrtsstaatlicher Steuerung. Das Angebot öffentlicher Einrichtungen stagnierte und war nach dem Zweiten Weltkrieg stets auf eine Kernklientel bedürftiger Kinder begrenzt, aber die Expansion privater Einrichtungen vor allem seit den 1970er Jahren wurde in wachsendem Maße durch den Wohlfahrtsstaat reguliert. Das vorherrschende Bild des im Bereich der Kinderbetreuung passiven englischen Staates wird darüber hinaus modifiziert, wenn man die Entwicklung des Bildungswesens betrachtet. Primarschulen, Vorschulen und Vorschulklassen sind seit dem Ersten Weltkrieg institutionell von den sozialen Betreuungseinrichtungen getrennt. Erstere werden von den zentralstaatlichen Bildungsbehörden, letztere von den Gemeinden verwaltet. Schon im 19. Jahrhundert besuchte kein geringer Anteil an fünf- und vierjährigen Kindern öffentliche Primarschulen, die sich zunehmend auch für kleinere Kinder geöffnet hatten. Zum Beispiel besuchten im Jahr 1901 rund 40% der dreijährigen Kinder Grundschuleinrichtungen (Halsey et al. 2000: 536). Doch auch in diesem Bereich folgte das Angebot bis in die 1970er Jahre hinein den bekannten zyklischen Schwankungen: die Zahl der im Schulwesen betreuten, offiziell noch nicht schulpflichtigen Kinder, stieg vor allem während der beiden Weltkriege steil an, um gleich nach deren Ende wieder auf ein niedriges Niveau abzusinken. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die 1960er Jahre hinein fiel das Angebot sogar auf einen historischen Tiefstand. Doch seitdem hat sich das Bildungswesen immer weiter auch jüngeren Kindern geöffnet. Heute kann man sagen, dass die Kinderbetreuung in England und Wales ganz überwiegend eine Angelegenheit des Bildungswesens ist. Die staatliche Politik hat sich eindeutig auf diesen Bereich konzentriert, auch deshalb, weil der Zentralstaat hierfür eine direkte Verantwortung besitzt, während die sozialen Betreuungseinrichtungen in Händen der Kommunen liegen. Insbesondere die Politik der LabourRegierungen seit 1997 hat sich auf den Ausbau der vorschulischen Erziehung und eine Öffnung der Einrichtungen des Bildungswesens für jüngere Kinder konzentriert. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, lässt sich auf keinen Fall von einer Privatisierung der Kinderbetreuung sprechen. Im Gegenteil hat der Staat auf diesem Feld eine öffentliche Infrastruktur der Kinderbetreuung im Bildungswesen geschaffen. In diesem Sinne müsste man eher von einer wachsenden „Verstaatlichung“ dieses Sektors sprechen. War die Öffnung des Bildungswesens für jüngere Kinder schon unter den konservativen Regierungen der 1980er Jahre Faktum, wurde sie mit der Regierungsübernahme durch Labour 1997 auch zum expliziten Kern der Politik der Kinderbetreuung in England und Wales. Dies war ein wichtiger Einschnitt in der Entwicklung dieser Politik, die lange Jahre durch eine eng begrenzte Rolle des Staates gekennzeichnet war. In den 1970er Jahren, zur gleichen Zeit als die Erwerbstätigkeit von Frauen und Müttern auch im Vereinigten Königreich stark zu steigen begann, konzentrierte sich das öffentliche System der Kinderbetreuung mehr und mehr auf Kinder mit sozialen Problemen. Der steigende Bedarf wurde deshalb in zunehmendem Maße durch den rasch wachsenden Sektor privater Einrichtungen, in
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erster Linie day nurseries und Tagesmütter (childminder) gedeckt. Die staatliche Finanzierung spielte eine geringe Rolle, den größten Teil der Kosten mussten die Eltern tragen. Allerdings hatten die konservativen Regierungen die indirekte steuerliche Förderung von Kinderbetreuung ausgebaut und 1996, kurz vor dem Regierungswechsel, ein Gutscheinsystem eingeführt, mit dem Eltern einen Teil der Kosten abdecken konnten. Dennoch waren die Mängel dieses Systems offensichtlich. Die Kosten für Eltern waren hoch, zudem gab es kaum verlässliche Betreuungszeiten, die Angebote waren zumeist nur auf wenige Stunden am Tag beschränkt. Hinzu kam eine sehr unterschiedliche Qualität der Angebote. Mit dem Regierungswechsel 1997 wurde auch ein Politikwechsel im Bereich der Kinderbetreuung in England und Wales eingeleitet. Die neue Labour-Regierung wollte die Qualität der Angebote verbessern, die Kosten für die Eltern senken und den Zugang zur Kinderbetreuung erleichtern. Das System sollte ausgebaut und zugleich qualitativ verbessert werden. Zu diesem Zweck wurde eine nationale Strategie zur Kinderbetreuung verabschiedet, die eine flächendeckende Versorgung für vierjährige Kinder bis zum Jahr 2000 und für dreijährige Kinder bis 2004 vorsah. Die Versorgung sollte sich nicht auf eine rein zeitliche Betreuung beschränken, sondern ein qualitativ gutes Angebot an vorschulischer Erziehung bieten, um die Entwicklungschancen der Kinder zu verbessern. Aus diesem Grund konzentrierte sich das Programm auf die Vorschulen und die Vorschulklassen, also die Angebote im Bildungssektor, während die klassischen Betreuungseinrichtungen nur dann besonders gefördert wurden, wenn sie entsprechende erzieherische, vorschulische Angebote aufbauten. Labour beendete somit die von den konservativen Regierungen eingeführte Förderung privater und freier Träger nicht, stellte jedoch qualitative Bedingungen für die Aufnahme in das staatliche Förderprogramm. Die Versorgungsgarantie für vier- und dreijährige Kinder sollte mithilfe staatlicher Förderung sowohl durch den Ausbau öffentlicher schulischer Einrichtungen als auch durch die Umwandlung klassischer privater Betreuungsangebote in solche mit Erziehungs- und Bildungscharakter erreicht werden. Allerdings bezog sich diese Garantie lediglich auf ein Angebot an Teilzeitplätzen, die eine Versorgung von mindestens 2,5 Stunden an 5 Tagen in der Woche über insgesamt 33 Wochen im Jahr boten. Die neue Politik zur Kinderbetreuung hat somit zumindest ein klassisches Element des Systems nicht verändert: die Konzentration auf Teilzeitangebote. Die quantitative Entwicklung der Einrichtungen zur Kinderbetreuung sieht auf den ersten Blick beeindruckend aus. Doch müssen dabei einige Einschränkungen gemacht werden. So wird in der Statistik seit 2001 nicht mehr zwischen vorschulischen und anderen Angeboten unterschieden. Kinder, die verschiedene Einrichtungen besuchen, werden unter Umständen doppelt gezählt. Auch können manche Plätze doppelt registriert sein. Dennoch lassen sich aus den Zahlen die wichtigsten Entwicklungstrends erkennen: ein allgemeiner Ausbau des Systems, eine Verschiebung von den klassischen Betreuungsformen zu erzieherischen und vorschulischen Einrichtungen, der Ausbau einer regelmäßigen Versorgung mit klar definierten Teilzeitstandards. Das Angebot an klassischen Betreuungsplätzen geht seit 1997 zurück, weil die Plätze zunehmend in vorschulische Angebote umgewandelt werden. Davon profitieren in erster Linie die festen Einrichtungen wie day nurseries, während das Angebot durch Tagesmütter und Spielgruppen abnimmt (siehe Tabellen 23 und 24). Gleichzeitig steigt das Angebot an staatlich finanzierten, für die Eltern kostenlosen Teilzeitplätzen für vorschulische Erziehung, die ein Mindestmaß an zeitlicher Versorgung und Kontinuität sowie an Qualität erbringen müssen (siehe Tabelle 25).
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Tabelle 23: Plätze in Kinderbetreuungseinrichtungen nach Art der Einrichtung, England 1997-2001 (in 1.000) 1997 193,8 365,2 383,7
Tagesstätten1 Tagesmütter Spielgruppen und Vorschulen
1999 247,7 336,6 247,2
2001 285,1 304,6 330,2
Anmerkungen: 1 Day nurseries. Quelle: Lewis, 2003: S. 231.
Tabelle 24: Trägerstruktur der Einrichtungen, England 1997 und 2001 (in N und %)
Insgesamt (1.000) Kommunal % Registriert1 % Nicht registr.1 % Kommunal finanziert2 %
Tagesstätten 1997 2001 6.100 7.800 8,7 5,9 90,2 93,6 1,1 0,5 -
Tagesmütter 1997 2001 98.500 72.300 100,0 100,0 -3 -3
-
1,4
1
Spielgruppen, Vorschulen 1997 2001 15.800 14.000 98,7 96,4 1,3 3,6
1,2
0,4
1,4
2
Anmerkungen: In freier oder privater Trägerschaft, Aber nicht von der Kommune selbst angeboten: paid for by the local authority, 3 Zahl unbekannt. Quelle: Lewis, 2003: S. 230.
Tabelle 25: Kostenlose Teilzeitplätze1 für frühkindliche Erziehung nach Altersgruppe und Einrichtungsart, England und Wales 1999-2004 1999 %
Rate4 (1.000)
Plätze nach Alter und Einrichtungsart
(1.000)
Dreijährige insgesamt - Öffentlich unterhaltene Vor- und Grundschulen2 - Freie und private Einrichtungen3 Vierjährige insgesamt - Öffentlich unterhaltene Vor- und Grundschulen2 - Freie und private Einrichtungen3
(225,7)5 k.A. (37)5 225,7 k.A. 37 k.A. k.A.
k.A.
2001 %
Rate4 (1.000)
2004 %
Rate4
335,4 100 226,6 68
56 38
463,0 215,4
100 47
82 38
108,8
32
18
247,6
53
44
593,8 496,4
100 84
96 80
589,3 100 482,8 82
97 80
571,9 461,3
100 81
99 80
97,4
16
16
106,5
17
110,6
19
19
18
k.A.: keine Angaben verfügbar. Anmerkungen: 1 Teilzeitplatz: Minimum von 5 mal 2,5 Stunden Betreuung in der Woche, an mindestens 33 Wochen im Jahr, 2 Maintained nursery and primary schools, 3 Independent (private and voluntary provision) and other maintained schools, 4 Deckungsgrad in % der Bevölkerung des entsprechenden Alters, 5 Nur maintained schools. Quelle: Department of Education: Early childhood education statistics (www); eigene Berechnungen.
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Schon 1999 konnte praktisch ein flächendeckendes vorschulisches Teilzeitangebot für alle vierjährigen Kinder in England und Wales realisiert werden. Bis zum Jahr 2004 gab es statistisch für jedes vierjährige Kind einen entsprechenden Platz. Vier Fünftel des Angebots wurde von den direkt durch die lokalen Bildungsbehörden öffentlich finanzierten Schulen (maintained schools) bereitgestellt, der Rest von unabhängigen (mit einem staatlichen Budget ausgestatteten) Schulen (independent schools) sowie diversen freien und privaten Trägern. Auch bei den dreijährigen Kindern konnte bis 2004 ein nahezu flächendeckendes Angebot geschaffen werden. Statistisch gesehen gibt es inzwischen rund 80 Plätze für je 100 Kinder dieses Alters. Die Mehrzahl der Plätze befindet sich jedoch in diesem Fall bei den freien und privaten Trägern, die öffentlichen Vorschulen und Vorschulklassen an Primarschulen stellen nur 47% des Angebots. Betrachtet man die Zahl der Kinder, die ein solches Angebot nutzen, verlief die Entwicklung noch weit positiver. Nicht alle Kinder nutzen das volle Teilzeitangebot, so dass mehr Kinder am Programm teilnehmen als es Plätze gibt (siehe Tabelle 26). Tabelle 26: Kinder in frühkindlicher Teilzeiterziehung1 nach Altersgruppe und Einrichtungsart, England und Wales 1999-2004
Dreijährige insgesamt2 - Öffentlich unterhaltene Schulen3 - Unabhängige Schulen4 - Freie und private Schulen - Andere Vierjährige insgesamt2 - Öffentlich unterhaltene Schulen3 - Unabhängige Schulen4 - Freie und private Schulen - Andere
1999 (1.000) Rate5 k.A. k.A. 225,7 37 25,9 4 k.A. k.A. 2,5 0 623,1 101 496,4 80 28,7 5 95,1 15 2,9 1
2001 (1.000) Rate5 541,1 89 226,6 38 27,2 5 285,1 47 2,3 0 614,9 101 482,8 79 28,3 5 101,1 17 2,7 0
(1.000) 572,1 215,4 25,1 329,9 3,4 607,2 461,3 27,3 116,2 2,4
2004 Rate5 102 38 4 59 1 105 80 5 20 0
k.A.: keine Angaben verfügbar. Anmerkungen: 1 Teilzeitplatz: Minimum von 5 mal 2,5 Stunden Betreuung je Woche, an mindestens 33 Wochen im Jahr, 2 Mehrfachzählungen nicht ausgeschlossen, falls Kinder mehrere Angebote nutzen, 3 Öffentlich unterhaltene Vor- und Grundschulen, 4 Selbstverwaltete Schulen mit staatlicher Förderung, 5 Teilnehmende Kinder in % der Bevölkerung der entsprechenden Altersgruppe. Quelle: Department of Education: Statistics of Early Childhood Education; eigene Berechnungen.
Aus dieser Perspektive betrachtet, kann man bereits 1999 von einer vollen Versorgung für alle vierjährigen Kinder sprechen, 2004 wurde diese Marke auch für die Dreijährigen erreicht. Wiederum wird jedoch der unterschiedliche Charakter der Versorgung für beide Altersgruppen deutlich. Während die Mehrzahl der dreijährigen Kinder die neuen, staatlich geförderten, vorschulischen Angebote der klassischen, zumeist privaten day nurseries nutzt, besuchen über 80% der vierjährigen Kinder bereits die öffentlichen Vorschulklassen, die zumeist den Grundschulen angeschlossen sind. Somit wird ein gleitender Übergang in das reguläre Pflichtschulsystem, das mit fünf Jahren beginnt, gewährleistet. Dies ist auch
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der entscheidende Grund dafür, weshalb die Eltern in diesem Fall die Einrichtungen des Bildungswesens bevorzugen. Die relativ frühe, partielle Gewöhnung an die Schule hat Tradition in England und Wales. Für vierjährige, zunehmend auch für dreijährige Kinder, bilden die öffentlichen Vorschulen und Vorschulklassen das wichtigste Angebotssegment. Schon zu Beginn der 1990er Jahre war das Angebot hoch entwickelt (siehe Tabelle 27). Allerdings gibt es Unterschiede zwischen den verschiedenen Einrichtungsformen. Während in den nursery schools und den nursery classes an den Grundschulen das Teilzeitangebot überwiegt, bieten die infant classes, die zumeist von vierjährigen Kindern besucht werden, fast ausschließlich Vollzeitplätze an. Insgesamt überwiegen die Vollzeitangebote sogar seit 2000. Die Mehrzahl der Kinder besucht eine vorschulische Einrichtung in Vollzeit. Tabelle 27: Drei- und vierjährige Kinder in öffentlich unterhaltenen Vor- und Grundschulen1 nach Einrichtungsart und Dauer der Betreuung, England 1993-2002 (in 1.000) 1993 9,5 43,5 27,3 259,6 289,5 26,8 326,3 329,9 656,2
Nursery schools: Vollzeit Nursery schools: Teilzeit Nursery classes2: Vollzeit Nursery classes2: Teilzeit Infant classes2: Vollzeit Infant classes2: Teilzeit Insgesamt: Vollzeit Insgesamt: Teilzeit3 Insgesamt3
1996 8,6 43,5 28,4 283,7 314,6 29,6 351,6 356,8 708,5
2000 8,0 38,3 31,5 284,9 321,9 29,1 361,4 352,3 713,6
2002 8,3 34,0 33,4 265,6 329,6 30,3 371,3 329,9 701,2
Anmerkungen: 1 Maintained schools, 2 Primary schools, 3 Mehrfachzählungen möglich. Quelle: Department of Education: Early Childhood Education Statistics, eigene Berechnungen.
Tabelle 28: Öffentlich geförderte Plätze und Kinder in der frühkindlichen Erziehung nach Altersgruppe und Einrichtungsart, England 2000-2004 (in %) Plätze nach Einrichtungsart Dreijährige insgesamt - Öffentlich unterhaltene Schulen3 - Unabhängige Schulen4 - Freie und private Schulen Vierjährige insgesamt - Öffentlich unterhaltene Schulen3 - Unabhängige Schulen4 - Freie und private Schulen
Plätze1 52 100
2000 Kinder2 44 38
2002 2004 Plätze1 Kinder2 Plätze1 Kinder2 79 71 92 93 100 38 100 38
10 14 98 100
k.A. 6 98 80
40 65 97 100
2 31 98 80
64 88 97 100
3 52 101 80
72 92
4 14
75 90
3 15
84 87
4 17
Anmerkungen: k.A.: keine Angaben verfügbar, 1 Öffentlich geförderte Plätze in % aller Plätze, 2 Kinder auf öffentlich geförderten Plätzen in den jeweiligen Einrichtungen in % der Bevölkerung, 3 Maintained schools, 4 Independent schools in Selbstverwaltung. Quelle: Department of Education: Early Education Statistics (www); eigene Berechnungen.
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Im Gegensatz zu den 1980er Jahren, als die Mehrzahl der Kinder keinerlei staatliche Förderung für die außerfamiliäre Betreuung erhielt, besuchen heute fast alle drei- und vierjährigen Kinder staatlich geförderte Einrichtungen und Plätze. Im Jahr 2000 wurden bereits 98% der Plätze für vierjährige Kinder staatlich gefördert, 2004 waren es 100%. Bei den dreijährigen wuchs der Anteil der geförderten Plätze von weniger als der Hälfte im Jahr 2000 auf 93% im Jahr 2004 (siehe Tabelle 28). Der Bereich der Kinderbetreuung, der in England und Wales traditionell durch eine sehr begrenzte Rolle des Staates charakterisiert war, hat sich somit in den letzten zehn Jahren erheblich gewandelt. Das System wurde ausgebaut, die staatliche Förderung bleibt allerdings auf die Entwicklung von Teilzeitangeboten beschränkt. Dennoch hat der Staat neue Standards gesetzt, die Förderung ausgebaut und insbesondere den vorschulischen Charakter der Angebote gestärkt. Spätestens seit 1997 muss man von einem klaren Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Aktivität in diesem Bereich sozialer Dienste sprechen. Dabei ist vor allem auch bemerkenswert, dass private und freie Träger zwar ebenfalls gefördert werden, falls sie entsprechende Angebote unterhalten, das Schwergewicht jedoch eindeutig auf den öffentlichen Schulen und Vorschulen liegt.
Personal sozialer Dienste Der Ausbau sozialer Dienste lässt sich nicht nur an der Entwicklung verschiedener Angebote festmachen, er zeigt sich auch in der Zunahme des Personalbestandes. Vor 1970 sind dazu allerdings kaum verlässliche Zahlen zu bekommen, da die organisatorische Zuordnung der verschiedenen sozialen Dienste und Einrichtungen zu unübersichtlich war. Auch für die Zeit nach 1994 gibt es nur lückenhafte Zahlen, weil seitdem eine breite Privatisierungswelle die sozialen Dienste erfasst hat. Am verlässlichsten sind die Zahlen über die Beschäftigten in den lokalen sozialen Diensten, die seit 1971 in den neu geschaffenen lokalen Sozialbehörden (local authority social services departments) integriert und einheitlich erfasst wurden (siehe Tabelle 29). Nicht erfasst sind die Beschäftigten bei freien und privaten Trägern sozialer Dienste. Zu den freien Trägern liegen jedoch Zahlen aus dem Johns Hopkins International Third Sector Project von Mitte der 1990er Jahre vor. Die Zahl der in den kommunalen sozialen Diensten beschäftigten Personen hat sich seit Beginn der 1970er Jahre bis anfangs der 1990er Jahre um rund 60% erhöht (berechnet in Vollzeit-Äquivalenten). Der Höchststand wurde 1990 mit über 250.000 Beschäftigten erreicht, seitdem sinkt die Zahl aufgrund der durch die community care Reformen eingeleiteten Welle der Entstaatlichung kommunaler sozialer Dienste. Dennoch lässt sich das Profil der sozialen Dienste in England und Wales seit ihrer institutionellen Integration in die lokalen social services departments zu Beginn der 1970er Jahre anhand der Personalstatistik sehr gut nachzeichnen. Eindeutiger Schwerpunkt waren stets die sozialen Dienste für ältere Menschen und geistig oder physisch behinderte Erwachsene. In diesem Bereich arbeitete zusammengenommen immer mehr als die Hälfte des gesamten Personals, die Anteile waren relativ konstant. Das Personal in diesem Bereich verteilte sich zu ungefähr gleichen Anteilen auf die ambulanten home help services und die stationären Einrichtungen in der Altenund Behindertenhilfe, wobei die Heime nur wenig mehr an Personal beschäftigten als die ambulanten Dienste.
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Tabelle 29: Beschäftigte bei den kommunalen sozialen Diensten nach Tätigkeitsbereichen, England und Wales 1973-1992 (in %) Tätigkeitsbereich Sozialarbeit1 Trainingsstätten für Erwachsene2 Tageseinrichtungen für Ältere und Behinderte Kindertagesstätten Haushaltshilfen Stationäre Einrichtungen für Erwachsene Kinderheime Andere3 Insgesamt Insgesamt (1.000)
1973 7,0 3,1 1,6
1980 9,2 3,5 2,6
1985 9,4 4,0 3,2
1990 10,1 4,9 3,3
1992 11,2 5,3 3,5
4,8 26,6 30,6
4,1 24,6 29,9
4,1 25,4 31,1
3,5 25,1 30,3
3,1 24,9 27,9
11,8 14,5 100,0 159,7
11,0 15,1 100,0 210,8
7,8 15,0 100,0 229,8
5,6 17,2 100,0 254,5
5,0 19,1 100,0 250,4
Anmerkungen: 1 Social workers, 2 Adult training centres; in der Regel für Behinderte, 3 Inkl. Verwaltung, Management, in Ausbildung, community workers. Quellen: Community care statistics, England, verschiedene Jahre (www), Health and Personal Social Services Statistics for England, verschiedene Jahre; eigene Berechnungen.
Sieht man von den allgemeinen Diensten, dem Verwaltungspersonal etc. ab, die in der Kategorie „andere“ zusammengefasst sind, bilden die Sozialarbeiter die zweitwichtigste und zudem im Zeitverlauf deutlich wachsende Gruppe. Diese Gruppe besitzt einen hohen Ausbildungsgrad auf Universitätsniveau und setzt sich in dieser Hinsicht deutlich von den meisten anderen Beschäftigten im sozialen Dienstleistungssektor ab, deren Ausbildungsniveau zumeist niedriger liegt. Ein zweites Charakteristikum der Gruppe der Sozialarbeiter ist ihre polyvalente Ausbildung und ihr Einsatz in den verschiedensten Bereichen sozialer Dienste mit unterschiedlichen Zielgruppen. Die Zahl der Sozialarbeiter ist stark gewachsen, von 1973 bis 1990 hat sie sich mehr als verdoppelt, und sie steigt weiter, auch nach den Reformen der 1990er Jahre. Offensichtlich lässt sich diese Art der Tätigkeit und deren Qualifikation nicht einfach an private und freie Träger übergeben. Von geringerer Bedeutung im englischen und walisischen Dienstleistungssystem sind Tageseinrichtungen für ältere und behinderte Menschen sowie für Kinder. Der erste Bereich, Tageszentren für Erwachsene, stellt zusammen zwischen 1,5% und 3,5% der Beschäftigten, allerdings mit steigender Tendenz. Dabei sollte außerdem noch bedacht werden, dass Tageszentren zumeist von freien Trägern angeboten werden, die hier statistisch nicht erfasst sind. Insgesamt nimmt also die Bedeutung dieser Dienste und Einrichtungen zu. Prozentual etwas höher ist der Anteil der Beschäftigten in der Kinderbetreuung. In Tageseinrichtungen für Kinder arbeiteten im hier betrachteten Zeitraum zwischen rund 5% und rund 3% aller Beschäftigten in den kommunalen sozialen Diensten. Der Trend ist hier jedoch erstaunlicherweise abnehmend, obwohl der Mangel an adäquater Kinderbetreuung in Großbritannien seit langem ein zentrales Thema der familienpolitischen Diskussion ist. Auch absolut gesehen sinkt die Zahl der Beschäftigten in diesem Dienstleistungssegment seit Mitte der 1980er Jahre. Dafür gibt es zwei Erklärungen. Zum einen konzentrieren sich die Tageseinrichtungen für Kinder im öffentlichen Sektor in Großbritannien seit jeher auf
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sozial schwache Familien und Kinder mit sozialen Problemen. Die Kinder der Mittelschichten werden traditionell in freien und insbesondere privaten Einrichtungen betreut, die somit einen wachsenden Anteil an Plätzen und Personal stellen (siehe oben). Zum andern wird ein großer und zunehmender Anteil von Kindern im Vorschulalter von den Einrichtungen des Schulsystems versorgt. So gehen viele drei- und vierjährige Kinder bereits in vorbereitende Klassen in nursery schools, die Schulpflicht beginnt ohnehin schon mit fünf Jahren. Auch diese Einrichtungen sind hier statistisch nicht erfasst, da sie zum Bildungssystem gehören. Das letzte hier betrachtete Dienstleistungssegment der kommunalen Sozialbehörden bilden die Heime für Kinder und Jugendliche, die unter der Obhut der Sozialbehörden stehen. Absolut gesehen erreichte die Zahl der Beschäftigten in diesem Bereich 1980 den Höhepunkt und sinkt seitdem deutlich ab. Ihr Anteil an allen im kommunalen Sozialbereich beschäftigten Personen ging von rund 12% im Jahr 1973 auf 5% im Jahr 1992 zurück. Darin spiegelt sich die in der Jugendfürsorge vorherrschende Tendenz wider, den Anteil der Kinder in Heimen abzubauen und stattdessen Familienpflegschaft und präventive Familiensozialarbeit stärker zu entwickeln. Die Kinder- und Jugendfürsorge unterliegt seit Beginn der 1980er Jahre in diesem Sinn einer kräftigen Entinstitutionalisierung. Parallel dazu gewinnen offene Formen der Sozialarbeit an Bedeutung, die zum Teil auch den Anstieg der beschäftigten Sozialarbeiter erklären (vgl. Lyons 1997). Für die Zeit nach 1993 liegen die Statistiken leider in anderer Form vor und lassen sich deshalb nur bedingt mit den früheren Entwicklungen vergleichen. Zudem beschränken sich die vorliegenden Zahlen zumeist auf England. Dennoch lassen sich wesentliche Entwicklungen in der Struktur kommunaler sozialer Dienste in der Beschäftigtenstatistik von 1994 bis 2003 nachzeichnen, anhand derer sich auch einige Auswirkungen der 1993 in Kraft getretenen Reformen studieren lassen (siehe Tabelle 30). Seit 1990, dem Jahr mit dem höchsten Personalbestand der kommunalen sozialen Dienste, sank die Zahl der Beschäftigten bis zum Beginn des neuen Jahrtausends um rund 10%. Zugleich kam es zu internen strukturellen Verschiebungen zwischen den verschiedenen Bereichen. Zwar wurde in allen Bereichen mit Ausnahme der zentralen Dienste (in Tabelle 57 in der Kategorie „andere“ enthalten) Personal abgebaut, aber in unterschiedlichem Maße, so dass sich die Anteile zu Beginn des neuen Jahrzehnts verändert haben. Den größten Anteil machten seit jeher die „offenen“ sozialen Dienste aus, die außerhalb von Einrichtungen erbracht werden. Dazu gehören sowohl der traditionelle home help service als auch die klassische Sozialarbeit als fieldwork. Der Anteil der offenen sozialen Dienste ist während der 1990er Jahre weiter gestiegen und umfasst mittlerweile über die Hälfte der Beschäftigten der lokalen Sozialbehörden. Allerdings haben sich die in diesem Segment zusammengefassten Dienstleistungen entgegengesetzt entwickelt. Der home help service wurde aufgrund der Reformen der 1990er Jahre ausgedünnt, sein Beschäftigungsanteil sank von rund einem Viertel zu Beginn der in Tabelle 57 betrachteten Periode auf rund 16%. Demgegenüber ist die Zahl der beschäftigten Sozialarbeiter kontinuierlich angestiegen, mittlerweile beträgt ihr Anteil an allen Beschäftigten rund 18%. Dabei hat die Spezialisierung auf verschiedene Zielgruppen deutlich zugenommen. Während die Zahl der polyvalent eingesetzten Sozialarbeiter sinkt, steigt die Zahl der auf Erwachsene oder ältere Menschen spezialisierten Sozialarbeiter, insbesondere aber die der Sozialarbeiter für Kinder, merklich an. Letztere dominieren inzwischen die kommunale Sozialarbeit bei weitem. Spiegelbildlich dazu hat die Zahl der Beschäftigten im stationären Sektor für Kinder weiter abgenommen.
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Tabelle 30: Beschäftigte1 bei den kommunalen sozialen Diensten nach Beschäftigungsbereichen und Zielgruppen, England 1994-2003 Beschäftigte1 im Tätigkeitsbereich Area office2 - Home help - Sozialarbeit mit Kindern - Sozialarbeit Erwachsene - Allgemeine Sozialarbeit - Andere Sozialarbeit3 - Andere4 Tageseinrichtungen - Erwachsene und andere - Ältere5 - Familienzentren - Kinder6 Stationäre Einrichtungen - Erwachsene und andere - Ältere5 - Lernbehinderte Kinder - Kinderheime Andere Insgesamt
1994 1.000 116,7 59,4 12,5 6,5 3,4 8,0 26,9 31,3 19,0 3,6 2,9 5,8 72,2 17,7 41,4 2,6 10,5 17,6 237,8
% 49,1 25,0 5,3 2,7 1,4 3,4 11,3 13,2 8,1 1,5 1,2 2,4 30,4 7,5 17,4 1,1 4,4 7,3 100,0
1998 1.000 111,8 50,5 14,3 7,3 1,7 10,1 27,9 30,3 19,8 3,4 3,6 3,5 62,1 18,0 32,9 2,3 8,9 19,3 223,5
% 50,0 22,6 6,4 3,3 0,8 4,5 12,4 13,6 8,9 1,5 1,6 1,6 27,8 8,1 14,7 1,0 4,0 8,6 100,0
2001 1.000 % 108,5 51,2 40,2 19,0 15,0 7,1 8,5 4,0 1,2 0,6 10,5 5,0 33,1 15,5 29,5 13,9 20,1 9,5 3,4 1,6 3,7 1,7 2,3 1,1 53,8 25,4 17,2 8,1 25,8 12,2 2,1 1,0 8,7 4,1 20,2 9,5 212,0 100,0
2003 1.000 110,2 35,0 16,7 8,6 1,2 10,7 38,0 28,9 19,6 3,5 3,8 2,0 51,4 17,3 23,6 2,1 8,4 21,5 212,0
% 52,0 16,5 7,9 4,1 0,6 5,0 17,9 13,6 9,2 1,7 1,8 0,9 24,2 8,1 11,1 1,0 4,0 10,2 100,0
Anmerkungen: 1 Vollzeitäquivalente, 2 Gebietszuständigkeit und Feldarbeit; offene Sozialarbeit und zentrale Einrichtungen, 3 Zum Beispiel in sozialen Einrichtungen, 4 Management, Verwaltung, zentrale Dienste und andere ortsgebundene Dienste, 5 Menschen über 65, einschließlich geistig behinderte Ältere, 6 Day nurseries und play-groups. Quellen: Community care statistics, England, verschiedene Jahre (www), Health and Personal Social Services Statistics for England, verschiedene Jahre; eigene Berechnungen.
Der Anteil der in den verschiedenen Tageseinrichtungen beschäftigten Angestellten ist im vergangenen Jahrzehnt relativ konstant geblieben und beträgt weiterhin nur rund 13% aller Beschäftigten. Während sich jedoch die Zahl der Beschäftigten in den Tageseinrichtungen für Erwachsene, zumeist Behinderte und ältere Menschen, absolut kaum verändert hat, ging der Personalbestand in der Kinderbetreuung in großem Umfang zurück. Heute (2003) arbeiten in ganz England nur rund 2.000 Personen in der lokalen öffentlichen Kinderbetreuung, die zum größten Teil als privatisiert bezeichnet werden kann. Auch die Zahl der Beschäftigten im stationären Dienstleistungssektor ist stark zurückgegangen. Ihr Anteil lag zu Beginn der 1990er Jahre noch bei fast einem Drittel, heute liegt er bei weniger als einem Viertel. Abgenommen hat das Personal vor allem in der stationären Altenhilfe, die infolge der Reformen von 1990 (in Kraft seit 1993) mehr und mehr in die Hände privater Träger übergeht. Gesunken ist auch die Zahl der Beschäftigten in Kinder- und Jugendheimen, in diesem Fall vor allem infolge der strukturellen Verschiebung der Kinder- und Jugendhilfe in Richtung auf vermehrte offene und ambulante Hilfeformen als Alternativen zur Heimunterbringung.
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In diesen Veränderungen tritt das Profil der lokalen, öffentlichen sozialen Dienste in England klar hervor. Trotz des durch die community care Reformen der 1990er Jahre bewirkten Abbaus der Altenhilfe zugunsten privater Anbieter, bilden diese Dienste nach wie vor einen zentralen Bereich. Im Vergleich dazu sind soziale Dienste für Kinder traditionell in weit stärkerem Maße in privater Hand; im Bereich der Behindertenhilfe spielen freie Träger eine wichtige Rolle. Zudem ist die Behindertenhilfe in England seit langem durch den allgemeinen Ansatz gekennzeichnet, behinderte erwachsene Menschen und behinderte Kinder soweit wie möglich in die Gesellschaft zu integrieren. Aus diesem Grund spielen Sonderdienste und Sondereinrichtungen für diese Gruppen eine geringere Rolle. Die Versorgung mit sozialen Standarddienstleistungen wie home help oder stationäre Versorgung älterer, pflegebedürftiger Menschen wird in England mittlerweile in großem Umfang privaten Anbietern überlassen. Demgegenüber gewinnt die klassische, einzelfallorientierte Sozialarbeit innerhalb der kommunalen sozialen Dienste an Gewicht. Hier kann von einem Rückzug des lokalen Wohlfahrtsstaates, gemessen an der Zahl der Beschäftigten, keine Rede sein. Doch auch in den stärker standardisierten Dienstleistungsbereichen bleiben die lokalen Sozialbehörden trotz des Beschäftigungsabbaus die zentralen Akteure, die letztlich im Rahmen ihres Budgets über den Umfang der Dienstleistungen bestimmen und die verschiedenen Anbieter auswählen, kontrollieren und finanzieren. Hatten sie dabei zunächst, unmittelbar nach den Reformen zu Beginn der 1990er Jahre, zumeist nur formalen und finanziellen Anforderungen von Seiten der Zentralregierung zu genügen, traten dazu seit Mitte des Jahrzehnts und seit dem Regierungsantritt von New Labour vermehrt auch inhaltliche Standards und Kontrollen durch den Wohlfahrtsstaat. Das Ziel dieser jüngsten Reformen war eine stärkere Regulierung und Standardisierung der sozialen Dienste innerhalb eines gemischten Wohlfahrtssystems mit verschiedenen Anbietern, keineswegs jedoch eine Umkehr des 1990 eingeleiteten Privatisierungsprozesses. Es gibt somit keinen Weg zurück zu einem breiten öffentlichen Wohlfahrtssystem, wohl aber eine stärkere Betonung der regulierenden Rolle des Wohlfahrtsstaates innerhalb eines differenzierten Dienstleistungssystems. Das Beschäftigungsprofil der freien Träger sozialer Dienste unterscheidet sich in hohem Maße vom öffentlichen Sektor (siehe Tabelle 31). In diesen strukturellen Unterschieden zeigt sich erneut der Befund, dass die freien Träger in England in der Regel komplementäre Nischenangebote zum öffentlichen Sektor bereitstellen. Die Privatisierung öffentlicher sozialer Dienste richtet sich aus diesem Grund vornehmlich an privat-kommerzielle Anbieter; öffentliche und kommerzielle Dienste sind strukturell ähnlich und unterscheiden sich beide vom Sektor der freien Träger. Im Jahr 1990 waren in Großbritannien bei freien Trägern insgesamt rund 140.000 Personen (Vollzeit-Äquivalente) im Bereich sozialer Dienste beschäftigt, gegenüber rund 250.000 Beschäftigten im öffentlichen lokalen Sektor (siehe Tabellen 29-31). Bei den freien Trägern lag der Schwerpunkt bei Kindern und Familien, also genau dem Bereich mit dem geringsten Beschäftigungsanteil bei den lokalen Sozialbehörden. Nimmt man die Jugendarbeit hinzu, war über die Hälfte aller bei freien Trägern im Sozialbereich beschäftigten Personen in diesem Bereich (Kinder, Familie, Jugend) tätig. Allein im Bereich der vorschulischen Kinderbetreuung arbeitet mehr als ein Drittel aller Beschäftigten, der entsprechende Anteil im öffentlichen Sektor lag bei nur rund 2%. Auch absolut gesehen sprechen die Zahlen für sich. Den rund 6.000 in der öffentlichen Kinderbetreuung beschäftigten Personen standen im Jahr 1990 mehr als 50.000 bei freien Trägern gegenüber, also fast das
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Zehnfache. Ein weiterer Schwerpunkt der sozialen Dienste in freier Trägerschaft ist die Behindertenhilfe mit einem Anteil von über 20%. Diese zwei Bereiche, Kinder und Jugend sowie Behinderte, spielen im öffentlichen System eine eher untergeordnete Rolle. Sie sind somit eine klare Domäne der freien Träger. Tabelle 31: Personal, Ausgaben und öffentliche Finanzierung freier Träger2 nach Arbeitsbereichen, Vereinigtes Königreich 1990 Arbeitsbereich Kinder und Familien Ältere Menschen Lernbehinderte Physische Behinderungen Frauengruppen Pflegepersonen Spielgruppen/Vorschulen Jugendarbeit Verschiedenes Insgesamt
Ausgaben (Mio. Pfund)
Beschäftigte (1.000)
280 424 93 380 28 8 133 1359 250 2955
16,0 25,8 9,2 21,9 0,8 0,5 50,1 6,1 13,0 143,5
Öffentliche Finanzierung (%)1 43,6 39,9 73,5 43,9 33,3 75,0 4,9 7,9 59,9 27,5
Anmerkungen: 1 Öffentliche Finanzierung in % der Gesamteinnahmen, 2 Im Sozialbereich tätige Organisationen (voluntary organizations). Quelle: Kendall und Knapp, 1996: S. 206, Tabelle 7.1.
In der Altenhilfe dagegen sind die Beschäftigungsanteile im voluntary sector eher unterdurchschnittlich. Allerdings haben sich gerade in diesem Bereich die Verhältnisse seit den Reformen anfangs der 1990er Jahre erheblich gewandelt. Der öffentliche Sektor gibt erhebliche Anteile ab, es profitieren davon jedoch in erster Linie privat-kommerzielle Anbieter, weniger die freien Träger. Ein weiteres Indiz für die weitgehende Strukturdifferenz von öffentlichem Sektor und freien Trägern ist der Befund, dass die Schwerpunkte der Dienstleistungstätigkeit der freien Träger gerade in den Bereichen liegen, die den niedrigsten öffentlichen Finanzierungsanteil aufweisen. Im Bereich der Jugendarbeit werden mehr als 60% der Mittel durch Spenden aufgebracht und mehr als 30% durch Gebühren und ähnliche Einnahmen auf dem „Dienstleistungsmarkt“ erzielt. Der öffentliche Finanzierungsanteil beträgt weniger als 10%. Im Bereich der Kinderbetreuung sind die Verhältnisse noch extremer. Allerdings werden hier mehr als 90% der Einnahmen durch Elternbeiträge erzielt, sowohl die öffentlichen Mittel als auch Mittel aus Spenden liegen bei jeweils unter 5%. Einen hohen Anteil öffentlicher Finanzierung findet man jedoch in den Einrichtungen der Behindertenhilfe. In diesem Sektor unterstützt der Staat traditionell die vielfältigen Aktivitäten der freien Träger, die hier historisch die Pionierrolle übernommen hatten. Im Gegensatz zu den anderen Dienstleistungsbereichen liegen die Einnahmen aus Gebühren und „Verkäufen“ in diesem Segment besonders niedrig, nach den öffentlichen Zuwendungen bilden private Spenden hier die zweitwichtigste Einnahmequelle.
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Aufgrund dieser Befunde überrascht es nicht, wenn die Reformen der 1990er Jahre überwiegend Angebote vom öffentlichen auf den privat-kommerziellen Sektor verlagert haben, während die freien Träger in ihrer Struktur davon weit weniger berührt wurden. Nach wie vor nehmen sie im englischen System sozialer Dienste eine Ausnahmestellung ein, die durch Staatsferne, organisatorische Vielfalt und relativ hohe finanzielle Eigenständigkeit gekennzeichnet ist. In keinem anderen europäischen Land finden sich bei einem vergleichbar hohen Entwicklungsniveau der freien Wohlfahrtspflege diese Merkmale in ähnlicher Ausprägung. Die britische freie Wohlfahrtspflege ist hoch entwickelt, verfügt über erhebliche eigene Mittel, ist organisatorisch nicht zentralisiert und in relativ geringem Grad in den öffentlichen Sektor inkorporiert. Mit diesem Profil spielt sie eine bedeutende, eigenständige Rolle im System sozialer Dienste, darüber hinaus hat sie eine gewichtige Stimme in der Dienstleistungspolitik und in der englischen Sozialpolitik überhaupt.
Fazit: Veränderungen durch die neueren Reformen Die Struktur sozialer Dienste in England und Wales stellte sich somit vor den grundlegenden Reformen zu Beginn der 1990er Jahre wie folgt dar. Seit den 1970er Jahren hatte sich ein gut ausgebautes, öffentlich finanziertes und lokal organisiertes System der Altenhilfe entwickelt, das zu den umfassendsten in Westeuropa zählte. Im Gegensatz dazu blieb die Betreuung von Kindern rudimentär und wurde nach wie vor als primäre Aufgabe der Familien betrachtet. Während die Familie also kaum von ihren Betreuungsaufgaben für Kinder entlastet wurde, war die Altenhilfe ganz klar als Feld öffentlicher Verantwortung anerkannt. Ein zweites Charakteristikum des englischen und walisischen Systems, wie es sich seit den 1950er Jahren herausgebildet hatte, war die zentrale Rolle der Gemeinden als Anbieter sozialer Dienste. Dies stellte allerdings einen Bruch mit der Zeit vor 1945 dar. Erst mit den Reformen des britischen Wohlfahrtsstaates nach 1945 waren die institutionellen Grundlagen für die spätere quantitative Expansion eines öffentlichen lokalen Dienstleistungssystems gelegt worden. Die in der britischen Wohlfahrt historisch so bedeutsamen freiwilligen Vereinigungen und charities, die das Feld sozialer Dienste bis dahin dominiert hatten, erhielten von nun an eine zwar wichtige, jedoch komplementäre Rolle in der Erfüllung sozialer Aufgaben. Beveridge hatte in seiner programmatischen Schrift zur voluntary action (Beveridge 1948) den freien Trägern genau diese Funktion einer Ergänzung des öffentlichen Angebots zugewiesen. Im Unterschied zu Ländern wie Deutschland, Belgien und den Niederlanden, in denen die freien Vereinigungen und Träger sozialer Einrichtungen als feste Bestandteile ins öffentliche System integriert und überwiegend aus öffentlichen Mitteln finanziert wurden, wurden die Kernleistungen im britischen System von öffentlichen Institutionen erbracht. Diese zentrale Rolle der Gemeinden entsprach jedoch durchaus der britischen sozialpolitischen Tradition. Bereits die Armenfürsorge war von der Zentralregierung auf diese Art und Weise dezentralisiert worden. Allerdings hatte die Regierung in London schon in diesem Bereich strenge Regeln und Überwachungsmechanismen geschaffen. In dieser Steuerung und Überwachung lokaler Tätigkeiten durch Kommissionen und Kommissare, die von zentralen Behörden berufen worden waren, kann ein drittes wesentliches Merkmal des englischen und walisischen Systems gesehen werden. Zwar hing das Ausmaß dieser zent-
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ralstaatlichen Regulierung von historischen Umständen und dem jeweiligen politischen Willen der Regierungen ab, aber latent war dieser Einfluss stets in starkem Maße vorhanden (vgl. Birch 1998). Im Unterschied zur Armenfürsorge, die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein auf örtlicher Ebene von Laien organisiert wurde, wurden die sozialen Dienste nach 1945 rasch professionalisiert. Dies erschwerte die zentrale Kontrolle ihrer Entwicklung in besonderem Maße, zusätzlich zur Tatsache, dass soziale Dienste ohnehin schwerer zu standardisieren, zentral zu steuern und zu kontrollieren sind als Geldleistungen. Es entwickelte sich daher eine relativ große lokale Autonomie der sozialen Dienste (vgl. Boddy und Fudge 1984), die erst mit den Reformen Ende der 1980er Jahre aufgebrochen werden konnte. Im Unterschied zu Deutschland ist die britische Landschaft der charities und freien Wohlfahrtspflege sehr vielfältig und weniger zentralisiert (vgl. Beckford 1991). Dies hat seine Ursachen in der historischen Entwicklung und in der Politik dieser Organisationen, möglichst unabhängig vom Staat zu bleiben (vgl. Brenton 1985; Harris und Rochester 2001). So wird ein großer Teil des benötigten Geldes von den charities selbst erwirtschaftet bzw. durch Spenden erworben, und die Verbände und Organisationen sind als lobby gegenüber der Politik sehr aktiv, aber sie sehen sich nicht als Gehilfen des Staates zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben in der Dienstleistungsversorgung. Das Rollenverständnis und die spezifische Stellung der britischen freien Wohlfahrtspflege hat sich auch nach den grundlegenden Reformen der 1990er Jahre nicht verändert. Dies ist eine wesentliche Ursache dafür, weshalb die Rolle der Gemeinden in der örtlichen Dienstleistungsversorgung trotz aller Veränderungen nach wie vor zentral ist. Die strukturellen Bedingungen für die notwendigen Reformen in England und Wales waren also derart, dass die Zentralregierung ihre Vorstellungen zwar aufgrund ihrer einzigartigen Stellung im politischen System weitgehend durchsetzen konnte, die inhaltlichen Ziele einer Privatisierung und Effizienzsteigerung des Dienstleistungssystems konnten jedoch nur in Kooperation mit den Gemeinden auch tatsächlich umgesetzt werden. Die freien Verbände fielen als direkter Partner der Regierung weitgehend aus, sie konnten die Reformen jedoch auch nicht in dem Maße beeinflussen oder gar blockieren, wie dies zum Beispiel in Deutschland möglich war. So vollzog sich die Reform zunächst und vor allem innerhalb des öffentlichen Sektors durch Maßnahmen wie Budgetierung, öffentliche Ausschreibungen, eine schärfere Kontrolle der Rechnungslegung oder die Schaffung von Quasi-Märkten und Quasi-Handelsbeziehungen zwischen unterschiedlichen Trägern öffentlicher Budgets. In zweiter Linie jedoch schufen die Reformen mit dem Zwang zum outcontracting öffentlicher Dienstleistungen an private Akteure die Basis für die weitestgehende Transformation des Dienstleistungssystems seit dem Zweiten Weltkrieg. In quantitativer Hinsicht und im Hinblick auf die Differenzierung der Struktur des Dienstleistungsangebots nach Zielgruppen und in stationäre und ambulante Angebote war die Situation vor den Reformen sehr unterschiedlich. Die Altenhilfe war im internationalen Vergleich gut ausgebaut, zerfiel jedoch in einen auf Gemeindeebene integrierten öffentlichen ambulanten Sektor und einen disparat organisierten und davon losgelösten stationären Sektor, der zum eigentlichen Sorgenkind geworden war. Stationäre Pflege fand zum einen in den Krankenhäusern des Nationalen Gesundheitsdienstes statt, die ihrerseits unter erheblichem Kostendruck standen und einen dringenden Reformbedarf aufwiesen. Zum andern hatte sich ein stark aufgeblähter Sektor privater Alten- und Pflegeheime herausgebildet, der zum größten Teil durch öffentliche Mittel aus Renten- und Sozialhilfekassen finanziert
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wurde, qualitativ jedoch teilweise höchst fragwürdige Resultate erzielte. Es schien deshalb sowohl aus qualitativen als auch aus Kostengründen dringend geboten, den ausufernden stationären Sektor zu beschneiden und enger mit dem ambulanten Sektor zu verzahnen. Gleichzeitig sollte der Nationale Gesundheitsdienst auf seine Kernaufgaben begrenzt und von der Masse der Altenpflege entlastet werden (vgl. LeGrand und Vizard 1998). Im Bereich der Kinderbetreuung setzte die konservative Regierung dagegen nach wie vor auf private Lösungen, sei es durch die Familie oder durch private Angebote. Öffentliche Einrichtungen blieben mit Ausnahme der Vorschulen bedürftigen und sozial auffälligen Kindern vorbehalten. Ein Ausbau der öffentlichen Infrastruktur zur Betreuung von Kindern im Vorschulalter erfolgte erst unter der Labour-Regierung.
Die Reformen von 1990 Das Gesetz von 1990 (National Health and Community Care Act) hat die institutionellen Strukturen sozialer Dienste in England und Wales tiefgreifend verändert. Dies betrifft sowohl die funktionale Arbeitsteilung als auch die Beziehungen zwischen den Akteuren. In funktionaler Hinsicht wurde mit dem Gesetz erstmals ein institutionell integriertes System der Altenhilfe geschaffen, das ambulante und stationäre Leistungen unter einem Dach vereinte. Die bisher weitgehend vom Nationalen Gesundheitsdienst erbrachten stationären Pflegeleistungen wurden ausgegliedert und in den Verantwortungsbereich der lokalen Sozialbehörden (local social services departments) gestellt, die außerdem bereits für die Versorgung mit ambulanten Sozialdiensten zuständig waren. Zugleich wurde die direkte Finanzierung privater Pflege- und Altenheime durch die Rentenkasse eingestellt. Die Gemeinden wurden somit die zentralen Akteure in der Versorgung alter und pflegebedürftiger Menschen (vgl. Lewis und Glennerster 1996). Zugleich veränderte das Gesetz die Finanzierung sozialer Dienste. Hatten sich vorher Zentralstaat, Gemeinden, Nationaler Gesundheitsdienst und die Rentenkassen die Finanzierung geteilt, waren von nun an allein die Gemeinden zuständig. Diese hatten vor der Reform ihre Finanzmittel im Rahmen globaler staatlicher Zuweisungen und einer allgemeinen Kostendeckung erhalten, nach der Reform wurden die staatlichen Zuweisungen an demographische und ökonomische Kennziffern geknüpft und in festen Beträgen zugewiesen. Damit sollte den Gemeinden ein klarer Finanzrahmen vorgegeben werden, innerhalb dessen sie ihre sozialen Aufgaben erfüllen sollten. Die Gemeinden sind nunmehr für die Verteilung der Mittel auf die unterschiedlichen Dienstleistungsformen (stationär oder ambulant; Pflege- und Haushaltshilfedienste etc.) und auf die einzelnen Bedürftigen zuständig. Der Bedarf soll dabei anhand von Richtlinien in einem care assessment ermittelt und die Mittel entsprechend aufgeteilt werden (vgl. Baldock 1997). Darüber hinaus schrieb das Gesetz den Gemeinden vor, den größten Teil der sozialen Dienste zukünftig öffentlich auszuschreiben und an private Anbieter zu übertragen. Die öffentlichen kommunalen Dienste sollten ausgedünnt und langfristig abgebaut werden. Damit wollte die Regierung die Kosten senken und den Wettbewerb der Anbieter beflügeln. Im „alten“ System hatten die kommunalen Dienstleister ihren Bedarf selbst ermittelt und dafür in der Regel eine Kostendeckung erhalten, von nun an waren die Ausgaben gedeckelt und mussten auf die einzelnen Nachfrager und Anbieter sozialer Dienste verteilt werden.
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Dies hat die Rolle der Gemeinden im System sozialer Dienste nachhaltig verändert. Dominierten zuvor soziale Funktionen, mussten von nun an vor allem Management- und Kontrollaufgaben erfüllt werden. Der Bedarf musste im Einzelfall ermittelt, die dafür nötigen Dienstleistungspakete mussten ausgeschrieben und ihre Erfüllung musste überwacht werden. Der klassische kommunale Sozialarbeiter wurde mehr und mehr durch Managementfunktionen ersetzt, soziale Dienste wurden zunehmend von privaten und freien Anbietern erbracht, deren Personal oft eine schlechtere Ausbildung hatte und niedriger bezahlt wurde. Die Beziehungen zwischen den Akteuren im System sozialer Dienste haben sich dadurch verändert (vgl. Knapp 2000; Willis 1994). Die Rolle der Zentralregierung besteht nun vor allem darin, die Budgets zuzuweisen und ihre Verwendung im Rahmen staatlich vorgegebener Verwendungs- und Rechnungslegungsvorschriften zu überwachen. Die Verantwortung für die Verwendung der Mittel und damit das Angebot an Dienstleistungen liegt bei den Gemeinden, die im Rahmen ihrer Budgets eigene Standards setzen und Prioritäten verfolgen können (vgl. Baldock 2003). Die Klienten und Nachfrager sozialer Dienste haben keinen direkten Anspruch auf Leistungen, sondern wenden sich im Bedarffall an die Gemeinden, die in jedem Einzelfall den „Bedarf“ ermitteln und im Rahmen des Gesamtbudgets ein bestimmtes Leistungspaket schnüren. Die Leistungen im Einzelfall richten sich also sowohl nach der Summe der insgesamt zur Verfügung gestellten Mittel als auch nach Umfang und Struktur des jeweils ermittelten Bedarfs innerhalb einer Gemeinde; sie sind also in jedem Fall variabel. Die Gemeinden ihrerseits sind gehalten, Leistungspakete bei privaten (freien oder kommerziellen) Anbietern einzukaufen, eine Wahlmöglichkeit für die Klienten existiert nicht. Die Gemeinden sind also de facto die einzigen Nachfrager sozialer Dienste und besitzen somit eine Monopolstellung gegenüber den zahlreichen Anbietern auf dem Dienstleistungsmarkt. Genauso wenig wie sich die Klienten in diesem System auf bestimmte Leistungen verlassen können, sind den Anbietern bestimmte Aufgaben sichergestellt. Sie müssen immer wieder in jedem Einzelfall miteinander konkurrieren. Da die freien Anbieter in dieser Konkurrenz oft nicht mit kommerziellen Anbietern mithalten können und auch untereinander in Konkurrenz stehen, befinden sie sich nach wie vor am Rande dieses Systems. Die großen Gewinner sind kommerzielle Anbieter, die seit Einführung der Reform erhebliche Marktanteile hinzugewinnen konnten. Wie sind nun diese Veränderungen im Hinblick auf die wohlfahrtsstaatliche Institutionalisierung sozialer Dienste zu beurteilen? In welcher Weise kann man bei dieser Reform von einem Rückzug des Wohlfahrtsstaates, einer Dezentralisierung oder Privatisierung und einer eher marktmäßigen Koordination auf dem Feld sozialer Dienstleistungen sprechen? Zweifel an der Stichhaltigkeit dieser Schlagworte sind angebracht. Zunächst zur These vom Rückzug des Wohlfahrtsstaates. Tatsächlich hat der Staat weder Leistungsgesetze erlassen noch tritt er selbst als Anbieter sozialer Dienste auf. Doch dies war vor den Reformen nicht anders. Der wesentliche Unterschied zur Situation davor besteht in der Art der Mittelzuweisung an die Gemeinden und in neuen Regeln zur Verwendung dieser Mittel und deren Kontrolle durch zentralstaatliche Einrichtungen (vgl. Travers 1994). Im Vergleich mit der Situation vor den Reformen hat der Staat das Regelwerk in dieser Hinsicht ausgebaut und die zentralstaatliche Kontrolle gestärkt. Mit der expliziten Zuweisung der Mittel für soziale Dienste hat der Staat implizit auch die Verantwortung für das Globalbudget in diesem Sektor inne und somit die Verantwortung für eine flächendeckende Versorgung übernommen. Dies ist ein klarer Schritt in Richtung auf eine aktivere Rolle des Zentralstaats.
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Da dadurch den Gemeinden ein großer Teil ihrer Autonomie genommen wurde, kann man auch nicht von einer Dezentralisierungstendenz sprechen, im Gegenteil! Die Zuständigkeit für die Versorgung mit sozialen Diensten lag vor und nach den Reformen bei den Gemeinden, der Unterschied besteht vor allem darin, dass die Gemeinden nun an klare Budgetvorschriften und Richtlinien gebunden sind. Die Mittel sind ihnen klar vorgegeben, Ausschreibung an private Anbieter ist Pflicht. Ein wesentlicher Aspekt der Reformen, bei dem man tatsächlich von Dezentralisierung sprechen kann, betrifft die Integration der stationären Pflegeversorgung in den Zuständigkeitsbereich der Gemeinden. Die Herauslösung dieses Bereichs aus der Zuständigkeit des Nationalen Gesundheitsdienstes (und seiner regionalen Gliederungen) ist jedoch der einzige wirkliche Akt der Dezentralisierung in dieser Reform. Die Frage nach der Privatisierung scheint auf den ersten Blick eindeutig bejaht werden zu müssen. Der gesetzliche Zwang zur Ausschreibung sozialer Dienste durch die Gemeinden an private Anbieter liefert scheinbar ein klares Indiz für diese These. Doch bei genauerer Betrachtung entpuppt sich auch diese Annahme als falsch. Von einer tatsächlichen Privatisierung sozialer Dienste ist die Reform weit entfernt. Finanzierung und inhaltliche Bestimmung der in jedem Einzelfall zu erbringenden Dienstleistung werden allein von den Kommunen als Sachwaltern des öffentlichen Interesses wahrgenommen. Die Klienten wenden sich mit ihren Ansprüchen an die Kommunen, die individuelle Dienstleistungspakete schnüren. Die Anbieter wiederum erfüllen in diesem System ausschließlich öffentliche Aufträge. Die Schlüsselstellung besetzen in jedem Fall die kommunalen Sozialbehörden; das System ist in diesem Sinne ein ausschließlich öffentliches. Dies wird auch deutlich, wenn man den Aspekt der marktmäßigen Koordination betrachtet, der in vielen Darstellungen der Reformpolitik breiten Raum einnimmt. Tatsächlich jedoch lässt sich bestenfalls von einer sehr begrenzten Entwicklung zu einem sozialen Dienstleistungsmarkt sprechen. Zwei Strukturmerkmale dieses Systems zeigen dies sehr deutlich. Zum einen stehen die Kunden und Klienten sozialer Dienste in keiner direkten Marktbeziehung zu den Anbietern. Weder können sie sich ihre Anbieter auswählen noch haben sie Einfluss auf Produkte und Preise. Vielmehr bündelt die Gemeinde den Bedarf und tritt als alleiniger Nachfrager auf diesem Quasi-Markt auf (vgl. Glennerster und LeGrand 1995). Zum andern sind die Marktbeziehungen zwischen der Gemeinde als Nachfrager und den privaten Anbietern sozialer Dienste recht einseitig. Die Gemeinde besitzt quasi ein Nachfragemonopol, die Anbieter sind in einer schwächeren Position. Gerade im britischen Fall mit einer sehr vielfältigen und wenig organisierten Struktur freier Wohlfahrtsorganisationen, die nicht wie im deutschen Fall als Anbieterkartell auftreten, und der großen Bedeutung kommerzieller Anbieter, ist anzunehmen, dass in den meisten Fällen große Anbieterkonkurrenz herrscht. Diese Konkurrenz wird aber fast ausschließlich über den Preis ausgetragen, nicht über Art und Qualität der Dienstleistung, die ja im Vorfeld von der Gemeinde festgelegt und ausgeschrieben wird (vgl. Knapp, Hardy und Forder 2001). Es besteht also kein Anreiz für die Anbieter, in Produktinnovationen oder bessere Qualität sozialer Dienste zu investieren, im Gegenteil! Um im scharfen Preiswettbewerb bestehen zu können, müssen in diesen Bereichen deutliche Abstriche gemacht werden. Den Nachteil dürften die Klienten haben, die sich ihrerseits nur an die Gemeinde wenden können, die – aus Sicht der Klienten – als Anbietermonopol auftritt. Durch dieses System verlieren die freien Anbieter ihre größten traditionellen Vorteile: Vielfalt und Innovationsfähigkeit, letztlich zum Schaden der Klienten. Der Preis wird zum alleinigen Steuerungsinstrument in einem Bereich,
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der traditionell gerade von individuellen Bedarfslagen und vielfältigen Behandlungsmustern lebt. Auch wenn statistisch gesehen kommerzielle und freie Träger sich das Feld zunehmend mit öffentlichen Anbietern teilen, die sich ebenfalls am Wettbewerb beteiligen können und müssen, wäre es euphemistisch, wollte man daraus auf einen wachsenden Wohlfahrtspluralismus schließen. Das Gegenteil ist der Fall; Pluralität und Vielfalt verschwinden zugunsten von billigen Einheitslösungen. Diese Struktur entspricht sicherlich nicht einem klassischen ökonomischen Markt. Welche Auswirkungen dieses Systems lassen sich empirisch beobachten? Strukturveränderungen lassen sich sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht feststellen. In quantitativer Hinsicht verschob sich das Dienstleistungsangebot in großem Ausmaß vom stationären zum ambulanten Pflegesektor; die Zahl der in stationären Einrichtungen betreuten alten Pflegebedürftigen nahm sowohl relativ als auch absolut ab. Zugleich kam es zu einer Konzentration der Dienste auf schwerere Bedarfsfälle. Die Zahl der insgesamt betreuten Klienten sank, dafür stieg die Pflegeintensität in den verbliebenen Fällen deutlich an. Das Dienstleistungsangebot nahm also in seiner Breite erheblich ab, gleichzeitig konnten die Kosten stabil gehalten werden. Die Anbieterstruktur sozialer Dienste veränderte sich ebenfalls stark. Der Anteil der kommunalen öffentlichen Dienstleistungen schrumpfte beträchtlich, es stieg in erster Linie der Anteil der von kommerziellen Anbietern erbrachten Dienste. Freie Träger konnten hingegen deutlich weniger von den durch die Reformen veränderten Rahmenbedingungen profitieren. Sie konnten sich dem starken Druck der Preiskonkurrenz weniger gut anpassen als kommerzielle Träger. Mit dieser Verschiebung im Anbietermix ging eine Entprofessionalisierung sozialer Dienste einher. Einfache Dienstleistungen wie Haushaltshilfen waren schon in der Vergangenheit von un- und angelernten Kräften erbracht worden, doch nun sank auch die Zahl der professionellen Pflegekräfte. Insbesondere im öffentlichen Sektor wurde deren Zahl deutlich abgebaut, im kommerziellen Sektor spielten sie von Anfang an keine zentrale Rolle. Eine Folge dieser Strukturveränderungen ist eine deutliche Akzentverschiebung im Aufgabenprofil der kommunalen Sozialbehörden. Dominierten vor der Reform sozialarbeiterische und sozialpädagogische Handlungslogiken, waren danach betriebswirtschaftliche und Managementfunktionen von zentraler Bedeutung. Der Anteil der kommunalen Sozialausgaben, der für Koordination und Management verwendet wird, stieg an, ebenso wie der Anteil des Personals in diesem Bereich, auf Kosten der klassischen Bereiche der Sozialarbeit. Innerhalb der kommunalen Sozialbehörden verloren die klassischen Professionen der Sozialarbeit an Einfluß; ökonomische Kosten und effizienter Mitteleinsatz wurden die dominierenden, handlungsleitenden Maßstäbe (vgl. Balloch, McLean und Fisher 1998). Ob es dadurch auch zu einer Veränderung in der Qualität der Dienstleistungsversorgung kam, ist umstritten. Einerseits kann die gestiegene Konzentration der Mittel auf bedürftigere Klienten und die Verschiebung vom stationären zum ambulanten Sektor durchaus auch unter dem Gesichtspunkt qualitativer Versorgung als Fortschritt betrachtet werden. Andererseits erhielten zahlreiche „einfachere“ Bedarfsfälle von nun an keine Hilfe mehr, was ihre Situation aktuell, vor allem aber auch mittel- und langfristig verschlechtern dürfte und vielleicht sogar zu einem höheren zukünftigen Bedarf führen könnte. Ebenso dürften sich die Entprofessionalisierung sozialer Dienste und der erhebliche Preiswettbewerb unter den Anbietern eher negativ auf die Qualität auswirken. Dies gilt insbesondere deshalb, weil im
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englischen und walisischen System Rechtsansprüche und Qualitätsstandards nicht festgeschrieben sind, es mithin keinen Anspruch auf bestimmte Leistungen im Bedarfsfall gibt (vgl. Harris 1999). Der Ermessensspielraum der lokalen Behörden ist hier sehr groß, im Zweifelsfall ist das Budget oberste Richtschnur des Handelns. Die Klienten haben in diesem System also eine sehr schwache Position. Weder haben sie im Bedarfsfall Anspruch auf bestimmte Leistungen, noch können sie sich den Anbieter sozialer Dienste selbst aussuchen (vgl. Adams 1996). Darüber hinaus können die erbrachten Leistungen in Quantität und Qualität stark variieren; es gibt keine klaren Standards der Leistungserbringung. Dies ist so ziemlich das Gegenteil dessen, was man sich unter einem offenen und kundenorientierten Dienstleistungsmarkt vorstellt. In Wirklichkeit dominiert also nicht die Rationalität des Marktes, sondern die fiskalische Rationalität einer Begrenzung und möglichst effizienten Verwendung öffentlicher Mittel innerhalb eines vorgegeben Budgetrahmens (vgl. Land und Lewis 1998). Dies sollte nicht mit einem Markt im klassischen Sinne verwechselt werden, auf dem Anbieter und Nachfrager Art und Umfang sowie Qualität und Preis der Dienstleistungen bestimmen.
Institutionalisierung sozialer Dienste Zusammenfassend kann man die Entwicklung der sozialen Dienste in England und Wales nach dem Zweiten Weltkrieg als eine Geschichte fortschreitender Institutionalisierung lesen. Die strukturellen Verwerfungen, die das Armenrecht hinterlassen hatte, wurden dabei Schritt für Schritt beseitigt. Auch die Reform von 1990, die häufig als Wendemarke der Entwicklung betrachtet wird, weil sie angeblich zu einer stärkeren Dezentralisierung und Privatisierung sozialer Dienste geführt hat, lässt sich in langfristiger Betrachtung lückenlos in diese Geschichte einer stetig fortschreitenden Institutionalisierung sozialer Dienste durch den Wohlfahrtsstaat einordnen. Die zentralen strukturellen Merkmale des Feldes sozialer Dienste, die das Armenrecht am Ende des Zweiten Weltkriegs hinterlassen hatte, waren: • • • •
ein grundlegendes Verständnis von sozialen Diensten als last resort, verbunden mit einem strikten Bedarfs- und Bedürftigkeitstest; eine Konzentration öffentlicher Hilfen auf geschlossene Einrichtungen in der Tradition des Armenhauses und eine kaum entwickelte Koordination von stationären und ambulanten sozialen Diensten; eine fehlende institutionelle Integration von öffentlichen sozialen Diensten und der freien Wohlfahrtspflege; eine Spaltung des Wohlfahrtsstaates in zentralstaatliche und lokale Aufgabenbereiche.
Hinzu kommen zwei grundlegende institutionelle Festlegungen, die in den Sozialreformen nach dem Zweiten Weltkrieg verankert wurden: •
die institutionelle Trennung von zentralstaatlich organisiertem Nationalem Gesundheitsdienst und lokalen sozialen Diensten;
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die Trennung von sozialen Diensten und zentralstaatlich organisierter monetärer sozialer Grundsicherung.
Während die beiden letzten Festlegungen eher zur Herausbildung eines eigenständigen Bereichs der sozialen Dienste beigetragen haben und somit als wichtige Bausteine für deren Institutionalisierung betrachtet werden können, stellten die aus dem Armenrecht stammenden strukturellen Verwerfungen hohe Hürden für die Entwicklung eines integrierten öffentlichen Dienstleistungssystems dar. Doch die meisten dieser Verwerfungen wurden im Verlauf der Geschichte sozialer Dienste nach dem Zweiten Weltkrieg beseitigt. Der Bedürftigkeitstest blieb das zentrale Merkmal fast aller öffentlichen sozialen Dienste in England und Wales, mit Ausnahme einiger Leistungen der Kinderfürsorge und der Behindertenhilfe, die sich zu mit allgemeinen sozialen Rechten ausgestatteten universalistischen Dienstleistungen entwickelten. Aber insbesondere das den öffentlichen Sektor beherrschende Feld der Altenhilfe ist nach wie vor in allen Breichen durch einen zweifachen Bedarfs- und Bedürftigkeitstest geprägt. Der Bedarfstest wird jedoch mittlerweile im Rahmen des case assessment in enger Abstimmung mit den betroffenen Personen und deren Familien vollzogen. Trotz zunehmender Normierung und Standardisierung verbleibt den lokalen Sozialbehörden ein großer Entscheidungsspielraum für die Feststellung des Hilfebedarfs. Stärker normiert ist der Bedürftigkeitstest, der die ökonomischen Ressourcen, die dem potentiellen Klienten und seiner Familie zur Verfügung stehen, prüft. Nur wenn bestimmte Vermögens- und Einkommensgrenzen unterschritten werden, kann der Klient öffentliche Unterstützung beziehen, ansonsten muss er die Dienstleistungen selbst finanzieren bzw. einen hohen Eigenanteil tragen. Daraus wird deutlich, dass das System der Altenhilfe trotz der großen quantitativen Ausdehnung, die es mittlerweile erreicht hat, immer noch dem Grundsatz der Politik des last resort verhaftet geblieben ist. Es gibt keine allgemeinen sozialen Rechte, auf die sich Hilfebedürftige berufen könnten. Art und Umfang der Dienstleistungen stehen im Ermessen der care manager der lokalen Sozialbehörden. Das zweite historisch gewachsene strukturelle Merkmal, das Übergewicht der stationären Einrichtungen und die mangelnde Koordination stationärer und ambulanter Hilfen, hat die Nachkriegsentwicklung noch viele Jahre geprägt. Zum Teil wurde der Mangel an Tageseinrichtungen für Kinder, Behinderte und Senioren und das geringe Angebot an ambulanten Diensten durch die freien Träger aufgefangen. Kennzeichnend blieb jedoch lange Zeit die mangelnde Koordination zwischen stationärem und ambulantem Dienstleistungsbereich. Auch das Ungleichgewicht in der Versorgung mit stationären Einrichtungen und ambulanten Diensten blieb lange Jahre kennzeichnend für die sozialen Dienste in England und Wales. Als erstes verschwand das große Übergewicht der stationären Unterbringung in der Kinderhilfe. Im Gegensatz dazu blieb die Heimunterbringung das beherrschende Merkmal in der Altenhilfe bis zur Mitte der 1990er Jahre, ja, das Ungleichgewicht zugunsten stationärer Einrichtungen hatte sich Mitte der 1980er Jahre sogar noch verschärft. Erst mit der community care Reform von 1990 wurde die Wende eingeleitet: die Zuständigkeiten für stationäre und ambulante Hilfen wurden in der Hand der lokalen Sozialbehörden vereinigt. Damit wurde ein entscheidender Schritt zu einer stärkeren Institutionalisierung der sozialen Dienste getan. In der Praxis allerdings hinkt der Aufbau ambulanter Dienste hinter dem Bedarf her, weil die insgesamt zur Verfügung stehenden finanziellen Ressourcen eng begrenzt wurden.
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Das dritte zentrale strukturelle Merkmal, die geringe institutionelle Integration der freien Wohlfahrtspflege in das öffentliche Dienstleistungssystem, wurde zwar nicht aufgehoben, konnte jedoch in der 50jährigen Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg abgeschwächt werden. Auch dies war ein entscheidender Beitrag für den Aufbau eines stärker integrierten und institutionalisierten sozialen Dienstleistungssystems. Nachdem die lokalen Sozialbehörden in verschiedenen Bereichen die gesetzliche Möglichkeit erhielten oder sogar dazu verpflichtet wurden, die Angebote der freien Träger finanziell zu unterstützen, kam die entscheidende Wende ebenfalls erst mit den Reformen von 1990. Diese legten eine neue Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen Akteuren im System sozialer Dienste fest (vgl. Walker 1993). Die lokalen Sozialbehörden erhielten die primäre Aufgabe, den Bedarf an Leistungen zu ermitteln, individuell festzulegen und die zu erbringenden sozialen Dienste zu koordinieren und zu finanzieren. Die Leistungserbringung als solche sollte bevorzugt an freie und private Träger delegiert werden. Damit wurde ein in sich integriertes System geschaffen, in dem die Trennung zwischen öffentlichem Sektor und freien sowie privaten Trägern aufgehoben wurde. Zugleich erhielten die Gemeinden die Aufgabe, die freien und privaten Angebote und Träger zu registrieren und zu kontrollieren. Diese Reform kann somit als der eigentliche Durchbruch hin zu einem integrierten, öffentlich kontrollierten sozialen Dienstleistungssystem betrachtet werden. Sie ist somit auf keinen Fall als eine Privatisierung sozialer Dienste zu betrachten. Wie steht es jedoch mit der Dezentralisierung sozialer Dienste? Diese Frage steht im Zentrum des vierten historisch überlieferten Strukturmerkmals sozialer Dienste: der Spaltung des Wohlfahrtsstaates in zentralstaatliche und lokale Verantwortungsbereiche. In diesem Zusammenhang ist es vielleicht nützlich, nochmals auf die lange zentralstaatliche Tradition in Großbritannien hinzuweisen (vgl. Stewart und Stoker 1994). Auch das Armenrecht, die Poor Law Commissions, die Armeninspektion, zeugen von der durchgreifenden Macht des Zentralstaats. Das Armenrecht wurde geradezu zum Vorbild für die spätere Errichtung von zentralstaatlich organisierten Spezialbehörden und -einrichtungen, die das ganze Land abdeckten und an der Lokalverwaltung vorbei geschaffen wurden. Dazu gehörten die Einrichtungen des Nationalen Gesundheitsdienstes ebenso wie die Bildungsbehörden. Erst 1929, also in historischer Betrachtung kurz vor dem Ende des Armenrechts im Jahr 1948, erhielten die Gemeinden die alleinige Zuständigkeit für die Durchführung des Armenrechts. Für die sozialen Dienste waren zwar weitgehend die Kommunen zuständig, aber von Anfang an gab es zentralstaatliche Richtlinien und Kontrollen. Die Entwicklung nach 1945 kann als eine Geschichte fortschreitender zentralstaatlicher Regulierung der lokalen sozialen Dienste aufgefasst werden. Diese Entwicklung wurde 1990 keineswegs unterbrochen oder gar umgewendet, wie die Rede von einer Dezentralisierung nahelegt, sondern kann sogar als deren bisheriger Höhepunkt betrachtet werden. Allerdings erstreckte sich die Regulierung und Kontrolle zunächst fast ausschließlich auf die Finanzierung der sozialen Dienste und auf die Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungen an private Anbieter, also auf eher „formale“ Aspekte des Systems. Doch auch in materialer Hinsicht wurden die zentralstaatlichen Vorgaben neuerdings verstärkt. Es wurden Standards für die Ermittlung des Hilfebedarfs (case assessment) unter Einbeziehung der Bedürfnisse eventueller Pflegepersonen aus der Familie eingeführt (Carers Recognition and Services Act 1995) sowie Standards für die Erbringung der sozialen Dienstleistungen als solche festgelegt (Care Standards Act 2000). Zum ersten Mal entstand damit ein wohlfahrtsstaatliches
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Regelwerk, das klare inhaltliche Vorgaben für die lokalen sozialen Dienste oder in deren Auftrag tätige private und freie Anbieter macht. Der Wohlfahrtsstaat hat also die sozialen Dienste auch in England und Wales keineswegs privatisiert und dezentralisiert, vielmehr hat er durch die Reformen erst ein integriertes und relativ standardisiertes Dienstleistungssystem unter öffentlicher Kontrolle geschaffen. Die Institutionalisierung sozialer Dienste durch den Wohlfahrtsstaat hat somit im Laufe dieser Entwicklung ein höheres Stadium erreicht.
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Soziale Dienste in Frankreich
Einleitung Soziale Dienste werden in Frankreich in verschiedenen Teilen des Sozialsystems erbracht. Sécurité sociale und aide sociale sind die zwei zentralen Formen der gesetzlichen Steuerung und Finanzierung sozialer Dienste, deren komplexe Strukturen und Beziehungen sich nur aus der historischen Entwicklung des französischen Sozialstaats verstehen lassen (vgl. Kaufmann 2003). Sécurité sociale und aide sociale umfassen sowohl Geldleistungen als auch soziale Dienste. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Systemelementen besteht in den Voraussetzungen für den Leistungsbezug: im Fall der sécurité sociale gilt zumeist das Prinzip der Sozialversicherung, im Fall der aide sociale das Prinzip der Bedürftigkeit und der nationalen Solidarität (vgl. Bode 1999). Soziale Dienstleistungen können im französischen Kontext am besten durch den Begriff der action sociale erfasst werden. Die action sociale kann sowohl im Rahmen der gesetzlich geregelten Sozialversicherung als auch der rechtlich festgelegten Sozialhilfe angesiedelt sein. Darüber hinaus beruht die action sociale in Frankreich aber auch in großem Maße auf freiwilligen Diensten und Leistungen, die von unterschiedlichen öffentlichen und privaten Trägern im Rahmen einer fakultativen Sozialarbeit erbracht werden. Unserer Definition von sozialen Diensten als sozialen Handlungen eines bestimmten Charakters entspricht jedoch am ehesten der französische Begriff der services de proximité, den man als persönliche soziale Dienstleistungen übersetzen kann (vgl. Flipo 1996). In institutioneller und historischer Betrachtung ruht das französische Dienstleistungssystem auf zwei Säulen: einer im internationalen Vergleich hoch entwickelten staatlichen Familienpolitik mit entsprechender Dienstleistungsinfrastruktur für Kinder und Familien sowie einem moderat ausgebauten System der Altenhilfe, das sich jedoch nicht vollständig aus dem Gesundheitswesen und der öffentlichen Armenhilfe herausgelöst hat. Wesentliche strukturelle Merkmale des französischen Systems sozialer Dienste sind die große Bedeutung zentralstaatlicher Regulierung und öffentlicher Institutionen in der Dienstleistungserbringung, ein hoher Anteil der Sozialversicherung an ihrer Finanzierung und eine schwache Stellung der freien Wohlfahrtspflege (vgl. Ferrand-Bochmann und Murswieck 1987). Die Ursachen für diese Entwicklung liegen in drei Grundmerkmalen der französischen Gesellschaft begründet, die für die Entwicklung seit der Französischen Revolution prägend waren: einem starken, administrativ hoch entwickelten Zentralstaat mit großer territorialer Reichweite und Inklusion, einer schwach institutionalisierten Stellung der Verbände und einer konservativ ausgerichteten Sozialpolitik mit starken liberalen Traditionen. Frankreich war das Pionierland der Familienpolitik in Europa und auf der Welt. Der in Frankreich früh einsetzende Geburtenrückgang und die Sorge um die Bevölkerungskraft der Nation führten zusammen mit starken sozialkatholischen Strömungen und Motiven zur Ausbildung einer Familienpolitik, die sich auf die verschiedensten Gebiete erstreckte und sowohl ein umfassendes System von Geldleistungen als auch eine im internationalen Ver-
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gleich herausragende Dienstleistungsinfrastruktur für Familien und Kinder schuf. Obwohl die Anfänge dieser Politik außerhalb des Staates auf freiwilligen Leistungen und Einrichtungen beruhten, die meist im katholischen Milieu angesiedelt waren, übernahm der Staat sehr früh ihre Regulierung und baute das System unter seiner Obhut erheblich aus (vgl. Schultheis 1988). So waren zum Beispiel die Kinderzulagen für Arbeitnehmer zunächst als freiwillige Leistungen von den Unternehmern eingeführt worden, wurden aber 1932 obligatorisch für alle Arbeitnehmer. Die Vorschulen waren zunächst meist katholisch geprägt, wurden jedoch seit den 1880er Jahren zunehmend als öffentliche Einrichtungen vom Staat betrieben, der gegen den Einfluss der Katholischen Kirche kämpfte. Im Gegensatz zur Familienpolitik, die zu einem Kernbestandteil der staatlichen französischen Sozialpolitik wurde, blieben die Altenhilfe und insbesondere Einrichtungen für Behinderte lange Zeit der gesellschaftlichen Selbstorganisation überlassen. Gerade in diesen Politikfeldern spielen deshalb freie Träger noch heute eine wichtige Rolle. Eine eigenständige kommunale Sozialpolitik konnte sich in Frankreich aus verschiedenen Gründen nur rudimentär entwickeln. Auf der einen Seite übernahm der Zentralstaat in wichtigen Politikfeldern wie der Familienpolitik frühzeitig diese Aufgabe, andererseits wurden freiwillige und gesetzlich nicht vorgeschriebene Leistungen oft von freien Vereinigungen übernommen, die in enger Verbindung zur Katholischen Kirche, zumindest aber zur Strömung des Sozialkatholizismus standen. Zwischen diesen sich manchmal feindlich, manchmal neutral gegenüber stehenden, aber kaum miteinander kooperierenden Zweigen hatte eine kommunale Sozialpolitik kaum Chancen, sich zu entwickeln. Hinzu kam die hypertrophe Struktur der französischen Gemeinden und die starke Verwaltungspräsenz des Staates auf lokaler Ebene, repräsentiert durch das System der Präfektur, das den départements als den untersten Ebenen der zentralstaatlichen Verwaltung eine Schlüsselstellung für das öffentliche Dienstleistungsangebot zuwies. Die Kommunen spielten auch deswegen keine so große Rolle wie in anderen Ländern, weil die sich seit den 1920er Jahren entwickelnden verschiedenen Zweige der Sozialversicherung die Finanzierung sozialer Dienste und Einrichtungen in erheblichem Maße, zunächst oft als freiwillige Leistungen, übernahmen. Dies gilt insbesondere für die das Kindergeldsystem verwaltenden Familienkassen, aus deren Fonds im Rahmen der fakultativen action social unter anderem Kindertagesstätten, Ferienheime oder Familienberatungszentren finanziert werden. Frankreich kennt bis heute kein umfassendes System der Sozialhilfe für alle Bürger, sondern besitzt eine Reihe von auf bestimmte Zielgruppen wie ältere Menschen oder junge Arbeitslose gerichtete kategoriale Programme mit spezifischen Leistungen (vgl. Bode 1999). Diese kategoriale Differenzierung und institutionelle Fragmentierung ist ein weiterer Grund dafür, weshalb sich keine umfassende obligatorische lokale Sozialhilfe mit einem entsprechend integrierten und koordinierten Dienstleistungsangebot entwickeln konnte. Im Gegenzug übernahmen der Zentralstaat (über die Präfekturen) und die Sozialversicherungen die Finanzierung und Koordinierungsaufgaben sozialer Dienste auf lokaler Ebene, zumindest in den Kernbereichen staatlicher Sozialpolitik. Erwähnt werden muss an dieser Stelle, dass nicht nur die zentralstaatliche Verwaltung, sondern auch die Sozialversicherungskassen durch lokale Dependancen in der Breite des Territoriums vertreten sind. Die klassische Aufgabe der Kommunen wurde zum Teil von diesen Institutionen übernommen.Daneben stand ein weitgehend von der freien Wohlfahrtspflege getragenes System sozialer Dienste in Bereichen, die nicht zum staatlich regulierten Kern zählten. Dazu gehör-
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ten vor allem Einrichtungen für Behinderte, aber auch die ambulanten Pflegedienste für ältere Menschen. Die stationäre Pflege war demgegenüber überwiegend innerhalb des staatlichen Gesundheitswesens bzw. der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherungen angesiedelt. Die freie Wohlfahrtspflege hatte in Frankreich eine lange Tradition, stand jedoch in einem ambivalenten und meist distanzierten Verhältnis zum Staat (vgl. Archambault 1996). Der französische Staat stand den Verbänden und intermediären Organisationen zwischen Bürger und Staat während des gesamten 19. Jahrhunderts und bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs meist feindselig, zumindest aber skeptisch gegenüber (vgl. Bec 1995). Zunächst war dies durch den Kampf gegen das alte Regime und die Katholische Kirche begründet, die der ideologische und organisatorische Nährboden für den größten Teil der freien Wohlfahrtspflege war. Später richtete sich das Misstrauen der liberalen bürgerlichen Republik gegen sozialistische und anarchistische Strömungen, die weite Teile der französischen Arbeiterschaft und ihrer Organisationen erfasst hatten. In diesem Umfeld konnten sich nicht wie in Deutschland mächtige Verbände der freien Wohlfahrtspflege bilden. Genauso wenig war es denkbar, dass der Staat diesen Vereinigungen einen quasi öffentlichen Status verliehen und sie somit als feste Bestandteile in das öffentliche System sozialer Dienste integriert hätte. Daher entwickelte sich eine parallele Struktur sozialer Dienste, in der öffentliche und freie Träger in unterschiedlichen Schwerpunkten vertreten waren und wenig miteinander kooperierten. Diese institutionelle Fragmentierung in Verbindung mit einer selektiven administrativen Zentralisierung war eines der Hauptprobleme, mit der sich die Reform des Systems in den 1980er Jahren auseinandersetzen musste. Während die freien Träger sozialer Dienste in Frankreich also im Vergleich zu Deutschland eine eher schwache, bestenfalls komplementäre Rolle ausfüllten und der Zentralstaat zum wichtigsten Akteur im Bereich sozialer Dienste wurde, gilt für die Einrichtungen der sozialen Sicherheit genau das Umgekehrte. Dieser Unterschied hat ebenfalls wichtige Konsequenzen für die Struktur sozialer Dienste in beiden Ländern. Deutschland war das Pionierland der staatlichen Zwangsversicherung für Arbeitnehmer, Frankreich das Land in Europa mit der längsten und stärksten liberalen Tradition freiwilliger sozialer Sicherung. Zwar gab es in der Zwischenkriegszeit Anläufe zur Einführung umfassender obligatorischer Sicherungssysteme, aber der eigentliche Durchbruch kam erst nach dem Zweiten Weltkrieg, nachdem die lange, liberale Tradition der Dritten Republik zuende gegangen war. Trotz ursprünglicher Pläne für eine einheitliche und umfassende Sozialversicherung blieb die institutionelle Fragmentierung des französischen Systems selbst dann im internationalen Vergleich hoch. Insbesondere behielten die Familienkassen, die ursprünglich in die allgemeine Sozialversicherung integriert werden sollten, ihren autonomen Status, der ihnen zum Beispiel erlaubte, einen Teil ihrer Mittel nach wie vor fakultativ für den Ausbau der sozialen Dienstleistungsinfrastruktur für Kinder und Familien zu verwenden. Kranken- und Rentenkassen entwickelten sich ebenfalls – wenn auch unter anderen Bedingungen – zu wichtigen Finanzierungsinstrumenten sozialer Dienste im Pflege- und Altenhilfebereich. Die Struktur der sozialen Dienste vor den großen Reformen der 1980er Jahre war also durch den ungleichen Ausbau von Kinder- und Altenhilfe, institutionelle Fragmentierung, selektive zentralstaatliche Regulierung, schwache kommunale Koordination und eine sekundäre Rolle der freien Wohlfahrtspflege geprägt. Wie in England und Wales waren ambulante und stationäre Einrichtungen in der Altenhilfe kaum koordiniert, im Unterschied zu England gab es jedoch einen Nachholbedarf bei sozialen Diensten für ältere Menschen.
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Historische Entwicklung Die historischen Anfänge sozialer Dienste in Frankreich reichen wie in ganz Westeuropa weit in die Geschichte des frühmittelalterlichen Christentums zurück. In der frühchristlichen Kirche bildeten sich mit den „Diakonen“ der örtlichen Kirchengemeinden die ersten dauerhaften Einrichtungen der Sozialarbeit heraus. Im Mittelalter übernahmen dann vor allem die christlichen Orden diese Aufgabe. Unter ihrer Leitung wurden geistliche Spitäler (Maisons-Dieu und Hôtels-Dieu) für Kranke, Behinderte, schwangere Frauen und Findelkinder gegründet und geführt. Die kirchliche Sozialarbeit fand somit zwar in eigens für diesen Zweck bestimmten Einrichtungen statt, wurde jedoch als integraler Bestandteil der Aufgaben der christlichen Mission und religiösen Pflichten der Kirche betrieben. Ansätze zu einer veritablen eigenständigen Institutionalisierung der christlichen Sozialarbeit innerhalb des Aufgabenspektrums der Kirche finden sich in Frankreich erst im Anfang des 17. Jahrhunderts. Saint Vincent de Paul gründete 1617 die Confréries de la Charité, 1634 die Dames de la Charité und schließlich die Filles de la Charité eigens zum Zweck der Betreuung und Pflege von Kranken und Armen (vgl. Thévenet 1995, 1999, 2002; Ceccaldi 1993). Damit wurde die kirchliche Sozialarbeit zum ersten Mal in die Hände von eigens zu diesem Zweck gegründeten Gemeinschaften gelegt. Diese religiösen Wohltätigkeitsorden prägten die Entwicklung der Sozialarbeit bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Zwar gab es immer wieder Versuche des französischen Staates, Einfluss auf die kirchliche Wohl-tätigkeit zu erlangen, die ersten Ansätze zu einer Säkularisierung blieben jedoch zumeist in den Anfängen stecken. So gründete Franz I. königliche bureaux des pauvres und in einigen großen Städten wurden die Hôtels-Dieu kommunalisiert, aber im Gegensatz zu England, wo 1661 das poor law als erstes weltliches Armenrecht in Europa eingeführt wurde, blieb die staatliche Sozialpolitik in der französischen Monarchie rudimentär. Das Hôtel-Dieu von Paris wurde beispielsweise in ein hôpital général überführt und unter die gemeinschaftliche Leitung des königlichen Vogts sowie kirchlicher und kommunaler Würdenträger gestellt; die Finanzierung wurde durch eine spezielle kommunale Armensteuer sichergestellt. Bis zur Französischen Revolution gab es jedoch kein staatliches Armenrecht und keine gesetzliche Grundlage für eine weltliche Sozialarbeit in Frankreich (vgl. Plongeron und Guillaume 1995). Die revolutionäre assemblé nationale schuf erstmals ein Recht auf Unterstützung für Bedürftige und legte den allgemeinen Grundsatz der nationalen Solidarität fest. Doch die weitreichenden revolutionären Prinzipien führten in der Folge nicht zu konkreten Maßnahmen staatlicher Sozialpolitik. Zu weit waren sie von den Realitäten der französischen Gesellschaft im Ausgang des 18. Jahrhunderts entfernt, zu sehr war das Land mit anderen Problemen und Krisen beschäftigt. Die Anfänge der modernen französischen Gesetzgebung zur Sozialhilfe und zu sozialen Diensten liegen somit erst in der Dritten Republik, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als die ersten Kerngesetze in diesem Bereich verabschiedet wurden (vgl. Weiss 1983). Eine wichtige Funktion als Initiator und Katalysator dieser Reformgesetzgebung im späten 19. Jahrhundert hatte der 1889 stattfindende Congrès International d’Assistance in Paris, der eine Charta zur Sozialhilfe verabschiedete, die zum Teil auf die 1793 proklamierten revolutionären, republikanischen Prinzipien eines Rechts auf Unterstützung und einer Pflicht zur nationalen Solidarität zurückgriff. Innerhalb von 20 Jahren, von 1893 bis 1913, wurden die grundlegenden Gesetze zur assistance nationale erlassen: 1893 zur kostenlosen medizinischen Behandlung von Hilfsbedürftigen, 1904 zur
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Sozialhilfe für Kinder, 1905 zur Unterstützung von Behinderten und Kranken sowie von alten Menschen, 1913 zur Unterstützung von Schwangeren und großen Familien. Die Grundprinzipien dieser Gesetze waren relativ einheitlich. Die Gesetze von 1893 (medizinische Hilfe für Bedürftige) und von 1905 (soziale Unterstützung für Kranke, Behinderte und Alte) schufen zusammen nur eine Kategorie von Unterstützungsberechtigten. Zu diesem Zweck wurde in jeder Gemeinde eine jährlich überprüfte Liste hilfsbedürftiger Personen erstellt, die einheitliche Leistungen festlegten. Die diversen Formen der Sozialhilfe wurden gänzlich in die Hände der Kommunen gelegt. Sie hatten Sorge für die Erstellung der Liste der Hilfsbedürftigen zu tragen und regelten auch den Umfang der Leistungen im Einzelfall. An Leistungen waren unter anderem vorgesehen: eine kostenlose ambulante Krankenbehandlung und Pflege, stationäre Versorgung und Geldleistungen für Alte, Kranke, Schwangere und große Familien. Somit wurden durch den Staat zwar die allgemeinen Prinzipien der Sozialhilfe festgelegt, das System war aber in seinem Kern ein kommunales. Dennoch ist von großer Bedeutung, dass 1906 das Ministerium für Arbeit und Soziales gegründet wurde, das seitdem eines der wichtigsten in der französischen Regierung ist. Dieses neue Ministerium erhielt auch für die verschiedenen sozialen Unterstützungsmaßnahmen die Zuständigkeit, die während des 19. Jahrhunderts noch in Händen des Innenministeriums lag. Damit erhielt das „Soziale“ nicht nur eine eigenständige Organisation als Grundlage für weitere Institutionalisierungsschritte, sondern wurde auch symbolisch und faktisch aus dem engen Zusammenhang mit der inneren Ordnung und der sozialen Kontrolle gelöst. Seitdem war das französische System der Sozialhilfe und der sozialen Dienste vielfältigen Wandlungen unterworfen (vgl. Guerrand und Rupp 1978). Soziale Dienste erhielten ihre charakteristische Form der Institutionalisierung im Spannungsfeld der Entwicklungen von kirchlicher Sozialarbeit und staatlicher Fürsorgepolitik, der parallelen Entwicklung und Ausdehnung der Sozialversicherung und der Restrukturierung der Beziehungen zwischen den verschiedenen politischen und administrativen Ebenen des französischen Staates. Im Hinblick auf die kirchliche Sozialarbeit war die 1905 erfolgte Trennung von Staat und Kirche von fundamentaler Bedeutung (vgl. Campenhausen 1964; Ravitch 1990; Basdevant-Gaudemet 1995). Sie verlegte sämtliche Einrichtungen und Aktivitäten der Kirche in einen nicht-öffentlichen, „privaten“ Bereich und schuf spiegelbildlich dazu einen religionsfreien öffentlichen, staatlichen Raum. Dies hat zwar die kirchliche Sozialarbeit keineswegs unterbunden, wohl aber ihre Integration in öffentliche Systeme verhindert. Die kirchliche Sozialarbeit, die ja mit der Einführung der staatlichen Fürsorgegesetzgebung keineswegs verschwand, entwickelte sich somit außerhalb und parallel zum öffentlichen Sektor. Dabei sind zwei weitere französische Besonderheiten im europäischen Vergleich hervorzuheben: der erhebliche Umfang der Säkularisation der Kirchengüter und die Tradition einer Armenkirche. Beide Aspekte sind von Bedeutung, denn die Kirche besaß einerseits nur beschränkte Mittel, andererseits hatte sie eine lange Tradition kirchlicher Sozialarbeit vorzuweisen. Die traditionellen großen Einrichtungen der Sozialfürsorge wie Hospitäler und Stifte wurden somit zum großen Teil in eigenständige gemeinnützige Vereinigungen überführt und in quasi "säkularisierter" Form weitergeführt; in diesem Fall konnten auch staatliche Subventionen fließen. Ein Feld, in dem dies in großem Umfang praktiziert wurde, war das Bildungswesen, wo heute noch katholisch geprägte Privatschulen eine große Bedeutung haben. Die eigentliche kirchliche Sozialarbeit konzentrierte sich in der Folgezeit aber auf die praktische ambulante Hilfe für Arme vor Ort, ganz in der Tradition der christlichen
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Sozialarbeit am Nächsten und der christlichen Mission. Dieser Bereich war viel stärker durch ehrenamtliches Engagement und Wohltätigkeit als durch Institutionen geprägt. Somit fand die klassische kirchliche Sozialarbeit künftig außerhalb des öffentlichen Systems statt, und dort, wo im Schoß der Kirche entstandene Einrichtungen stärker in die staatliche Sozialpolitik eingebunden wurden, mussten sie sich von der Kirche lösen und sich als eigenständige Einrichtungen unter dem staatlichen Zivilrecht als Vereine (associations) quasi „neu“ gründen. Diese Einrichtungen standen zwar unter dem ideellen Schutz der Kirche, jedoch konnten ihre Interessen formalrechtlich nicht kollektiv von ihr vertreten werden. Die Kirche als Korporation wurde dadurch erheblich geschwächt, ihr institutioneller Einfluss auf die Entwicklung der Sozialpolitik wurde gebrochen. Im Hinblick auf die Entwicklung der Sozialversicherungen in Frankreich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts ergaben sich weitere Differenzierungen des Feldes der sozialen Dienste. Von zentraler Bedeutung waren hierbei die Kranken- und die Rentenversicherungen. Im europäischen Vergleich entstanden beide Kernbereiche der sozialen Sicherheit in Frankreich erst relativ spät. Zudem blieb die Rolle des Staates bis zur grundlegenden Reform von 1945 beschränkt. Deshalb spielte die freiwillige subventionierte Versicherung auf Gegenseitigkeit (mutualité) eine zentrale Rolle in der historischen Entwicklung des französischen Sozialsystems, insbesondere in der Krankenversicherung. Auch nach der Neuordnung der sozialen Sicherung 1945 in der sécurité sociale spielen diese Organisationen weiterhin eine wichtige Rolle, indem sie die gesetzlichen Leistungen zum Teil administrieren und ergänzen und darüber hinaus freiwillige Leistungen erbringen. Im Zweig der Rentenversicherung existierten zudem weiterhin zahlreiche unterschiedliche Versicherungen für verschiedene Gruppen von Erwerbstätigen. Frankreich hat somit noch heute eines der organisatorisch am stärksten fragmentierten Rentensysteme in Westeuropa. Im Hinblick auf die sozialen Dienste hatte die späte und lange Zeit größtenteils auf freiwilliger Basis beruhende Form der sozialen Sicherung in Frankreich vor allem zwei Konsequenzen. Zum einen besaß somit die öffentliche Fürsorge, insbesondere in Form von Geldleistungen, eine große Bedeutung, die allerdings im Zuge der sukzessiven Ausdehnung der Systeme der sozialen Sicherung zurückging. Zum andern entstand gerade aufgrund der hohen Bedeutung der freiwilligen Versicherung bis nach 1945 ein noch heute wichtiger Zweig von gesetzlich nicht vorgeschriebenen, freiwilligen und fakultativen Leistungen der verschiedenen Versicherungszweige auf dem Gebiet der sozialen Dienste. Die mutualité hatte von Anfang an Geldleistungen mit sozialen Dienstleistungen kombiniert, eine Tradition, die noch heute in der französischen Renten-, Kranken- und Familienversicherung weiterlebt (vgl. Alfandarie 1989; Baumlin und Lemaire 1989; Benhamou und Levecque 1983). So finanzieren die Krankenkassen einen großen Teil der häuslichen Pflegedienste, die Rentenversicherer subventionieren einen Großteil der Haushaltshilfen und die Familienkassen bezahlen aus einem speziellen Fonds den Betrieb von Betreuungseinrichtungen für Kinder unter drei Jahren. Neben den sozialen Dienstleistungen, die im Rahmen der aide sociale (der früheren assistance) erbracht werden, spielen somit auch die fakultativen Leistungen und sozialen Einrichtungen der Sozialversicherungen eine Rolle. Im Feld der sozialen Dienste muß man also im Hinblick auf die gesetzlichen Grundlagen zwischen drei Systemelementen unterscheiden: die obligatorische aide sociale für bestimmte bedürftige Zielgruppen (wie zum Beispiel die Behindertenhilfe) , die gesetzlich festgelegten Leistungen der Sozialversicherungen im Rahmen der sécurité sociale (zum Beispiel Pflegedienste der Krankenversiche-
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rungen) sowie die vielfältigen freiwilligen Dienste, die von verschiedenen öffentlichen und privaten Einrichtungen und Organisationen im Rahmen der action sociale erbracht werden. Die grundlegende Reform der sozialen Sicherungssysteme 1945 (sécurité sociale) (vgl. Laroque 1990) erforderte somit auch eine Neuordnung der staatlichen Fürsorgeleistungen, in deren Rahmen der größte Teil der sozialen Dienste bislang erbracht wurde. Die wichtigsten Daten sind hierbei das Dekret von 1953, in dem der Terminus „assistance“ durch „aide sociale“ ersetzt wurde, das Gesetz von 1975, das den Bereich der Behindertenhilfe neu regelte, und das Gesetz zur Dezentralisierung von 1983, welches die Beziehungen zwischen den Akteuren im Bereich sozialer Dienste entscheidend veränderte. Durch ein Regierungsdekret von 1953 wurden die Grundlagen für eine Neuordnung der Fürsorge gelegt. Aus der assistance (Fürsorge) wurde die aide sociale (Sozialhilfe), die sich in der Folgezeit immer stärker auf drei Bereiche konzentrierte und sich entsprechend ausdifferenzierte: Sozialhilfe für Kinder (aide à l’enfance), für ältere Menschen und für Behinderte. Aus der einstmals relativ undifferenzierten Fürsorge entwickelte sich somit nach dem Zweiten Weltkrieg ein ausdifferenziertes System von Leistungen, das heute den Kernbereich der sozialen Dienste in Frankreich bildet. Im Zuge dieser Entwicklung wurden auch die Kompetenzen von Zentralstaat, départements und Kommunen neu festgelegt und es entstanden neue Formen der Arbeitsteilung und Beziehungen zwischen den verschiedenen Ebenen innerhalb des französischen Staatsapparats. Eine wichtige Veränderung des traditionellen Fürsorgesystems war bereits 1935 eingeführt worden: nicht mehr die Kommunen, sondern die départements hatten seitdem über Anträge auf Bedürftigkeit im Rahmen der staatlichen Fürsorge zu entscheiden. Die 1953 geschaffenen Grundlagen des Sozialhilfesystems blieben im wesentlichen bis zu der Reform der Dezentralisierung von 1983 in Kraft.
Soziale Dienste im Rahmen der Sozialhilfe (aide sociale) Das heutige französische System der Sozialhilfe (aide sociale) unterscheidet vier Bereiche, die sich auf unterschiedliche Zielgruppen beziehen: Kinder (und Familien), ältere Menschen, Behinderte (einschließlich behinderter Kinder) und andere Bedürftige (darunter die Empfänger des sozialen Mindesteinkommens RMI: Revenue minimum d'insertion). Traditionell ist der Sektor der Sozialhilfeleistungen und Dienste für Kinder der am höchsten entwickelte. Auf diesen Sektor allein entfallen genauso hohe Ausgaben wie auf die Sektoren für alte Menschen und Behinderte zusammen (siehe Tabelle 32); dieses Verhältnis blieb seit 1984 relativ konstant. Seit Beginn der Dezentralisierung von 1984 erheblich zugenommen haben die Ausgaben für die anderen bedürftigen Gruppen außerhalb der Kernsektoren Kinder, Alte und Behinderte, sicherlich auch ein Gradmesser für die zunehmenden Probleme auf dem Arbeitsmarkt und die wachsende Zahl von Menschen in prekären sozialen Lebenslagen. Zugleich ist der wachsende Anteil der Ausgaben für diese Gruppe aber auch auf die Einführung neuer Instrumente der Wohlfahrtspolitik und Arbeitsförderung auf départementaler Ebene, insbesondere das soziale Mindesteinkommen RMI (revenue minimum d’insertion), zurückzuführen. Stark zugenommen haben auch die präventiven und begleitenden Maßnahmen zugunsten sozial schwacher Bevölkerungsgruppen.
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Tabelle 32: Ausgaben der Sozialhilfe nach Leistungsbereichen, Frankreich 1984-2001 (in Mrd. Francs; gerundet; France metropolitaine) Leistungsbereich
1984 1987 1989 1992 1995 1997 1999 2001
Kinderhilfe Behindertenhilfe - im häuslichen Bereich4 - in Einrichtungen Altenhilfe - im häuslichen Bereich5 - in Einrichtungen Gesundheitshilfe Wiedereingliederung/RMI1 Andere2
15,0 5,8 2,2 3,6 8,7 3,6 5,1 2,0 6,5
16,2 6,8 2,4 4,4 8,9 4,1 4,8 2,2 8,6
16,8 7,7 2,6 5,1 9,3 4,1 5,2 2,6 8,7
20,5 9,8 2,8 7,0 11,5 5,8 5,7 3,6 1,8 11,2
23,9 12,8 3,0 9,8 13,1 6,4 6,7 6,4 3,1 13,7
25,9 14,1 3,1 11,0 13,1 6,1 7,0 6,9 3,5 14,7
27,8 15,7 3,3 12,4 11,6 4,7 6,9 7,9 4,5 15,7
Insgesamt
38,0
42,7
45,3
58,4
73,0
78,3
83,2 79,53
29,4 17,7 3,5 14,2 11,6 6,2 5,4 k.A. 3,9 16,9
k.A.: keine Angaben verfügbar. Anmerkungen: 1 Revenue minimum d’insertion (Soziales Mindesteinkommen für Wiedereingliederung), 2 Einschließlich fakultativer action sociale, 3 Ohne Gesundheitshilfe, 4 Allocation compensatrice pour tierce personne (ACTP) für Personen unter 60 Jahren, 5 Allocation compensatrice pour tierce personne (ACTP) für Personen über 60 Jahren, Prestation spécifique dépendance (PSD ; seit 1997) und Aide ménagère (Haushaltshilfen). Quellen: Sanchez, 2000: S. XXVIII; dortige Quelle: Zahlen des Ministère de l’Emploi/DREES (Direction de la recherche, des études, de l’évaluation et des statistiques), Audirac und Rattier, 1996: 459, ODAS (Observatoire national de l’action sociale décentralisée): La lettre de L’ODAS, Mai 1998, Avril 2000 et Septembre 2002.
Betrachtet man die Entwicklung der Ausgaben differenziert nach Sektoren (Zielgruppen), fallen ein moderater Anstieg der Sozialhilfe für Kinder, ein starkes Wachstum der Ausgaben für Behinderte und eine Stagnation im Bereich Altenhilfe auf. Der Sektor der Sozialhilfe für Kinder war traditionell der am stärksten ausgebaute. Das hervorstechende Merkmal ist somit Kontinuität, auch wenn sich die Verteilung der sozialen Dienste innerhalb dieses Sektors in den letzten 20 Jahren deutlich zugunsten präventiver und familienbezogener Maßnahmen auf Kosten stationärer Unterbringung verschoben hat (siehe unten). Der Bereich der Behindertenhilfe war seit der grundlegenden Reform von 1975 durch hohes Wachstum geprägt, der sich in der Entwicklung der Ausgaben sowohl für ambulante Hilfen als auch für stationäre Einrichtungen widerspiegelt. Die Dezentralisierung hat dieses Entwicklungsmuster aufgenommen und fortgeführt, aber nicht entscheidend verändert. Im Unterschied dazu ging die gesetzlich weniger stark fixierte Altenhilfe im Zuge der Dezentralisierung zunächst sogar zurück, ein Indikator für den bis dahin sehr geringen Institutionalisierungsgrad dieses Bereichs. Seit Anfang der 1990er Jahre ist zwar eine leichte Zunahme festzustellen, die aber immer noch weit hinter der Behindertenhilfe und der Sozialhilfe für Kinder zurückbleibt. Ein weiterer Hinweis auf die geringe Institutionalisierung und rudimentäre Entwicklung der Altenhilfe ist die Tatsache, dass sich die Ausgaben bis zum Beginn der 1990er Jahre ganz überwiegend auf die stationären Einrichtungen konzentrierten, während die ambulan-
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ten Dienste den weit kleineren Anteil der Ausgaben ausmachten. Im Unterschied dazu haben sich ambulante und stationäre Formen sozialer Dienste im Bereich der Behindertenhilfe parallel entwickelt, im Bereich der Kinderhilfe wurden die familienunterstützenden Maßnahmen im Vergleich zu den stationären Angeboten immer wichtiger. Im Vergleich zu 1984, dem ersten Jahr nach der Dezentralisierung, haben sich die Ausgabenanteile in der Altenhilfe zu Beginn der 1990er Jahre sogar noch weiter zuungunsten der ambulanten Dienste verschoben. Im Hinblick auf die Entwicklung der Zahl der Leistungsempfänger seit 1984 ergibt sich ein differenziertes Bild für die verschiedenen Sektoren der aide sociale (siehe Tabelle 33). Tabelle 33: Empfänger von Sozialhilfe nach Zielgruppen und Leistungsart, Frankreich 1984-1999 (in 1.000; gerundet; France metropolitaine) Bereich Kinder in Obhut der Sozialhilfe - darunter: in Einrichtungen - darunter: in Pflegefamilien Kinder in erzieherischen Maßnahmen1 Behinderte - Geldleistungen2 - in stationären Einrichtungen - in Tageszentren Ältere Menschen - in Einrichtungen - im häuslichen Bereich
1984 1987 1989 1992 1995 1997 1999 159 72 87 98
141 70 71 105
134 70 64 112
132 70 62 114
135 70 65 118
137 70 67 125
137 70 67 132
64 66 -
70 66 1
72 68 2
77 72 6
86 76 15
88 81 21
90 83 25
178 213
163 195
165 212
170 237
174 246
178 236
185 183
Anmerkungen: 1 Im offenen Milieu, d.h. in der Regel für Kinder, die bei ihren Familien leben, Allocation compensatrice pour tierce personne (ACTP) für Menschen unter 60 Jahren. Quelle: Sanchez, 2000, S. XXXIII und XXXIV.
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Im Bereich der Kinderhilfe hat die Zahl der unter staatliche Zwangsmaßnahmen gestellten Leistungsempfänger deutlich abgenommen, während die erzieherischen und unterstützenden Maßnahmen insgesamt, vor allem im familiären Milieu, zugenommen haben. In der Gruppe der von der Sozialhilfe pflichtgemäß betreuten Kinder wird ein wachsender Anteil aufgrund gerichtlicher Anordnung betreut, während der Anteil der aufgrund administrativer Verfügung versorgter Kinder abgenommen hat. Insbesondere die Zahl der unter staatliche Vormundschaft gestellten Kinder (pupilles d’Etat) hat erheblich abgenommen. Diese Entwicklungen deuten darauf hin, dass sich staatliche Zwangsmaßnahmen im Bereich der Kinderhilfe zunehmend auf die gerichtlich angeordneten schweren Fälle konzentrieren, während sich soziale Unterstützung und erzieherische Hilfen mehr und mehr auf das familiäre Umfeld der Kinder und Jugendlichen richten (siehe unten). In der Behindertenhilfe lässt sich eine deutliche Zunahme der Leistungsempfänger beobachten, vor allem im ambulanten Bereich. Zwar ist die Zahl der stationär betreuten Behinderten relativ hoch und hat auch weiter zugenommen, aber die ambulanten Dienste sind
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weit stärker angestiegen. Es dominiert jedoch eindeutig eine Geldleistung für Behinderte (allocation compensatrice), die das Ziel verfolgt, den Behinderten die Möglichkeit zu einer selbstbestimmten Lebensführung in einer selbstgewählten Umgebung zu geben. Im Gegensatz dazu blieb die Altenhilfe stärker auf den stationären Bereich konzentriert, entsprechende Geldleistungen wurden erst Mitte der 1990er Jahre, zunächst auf experimenteller Basis, und schließlich 1997 (PSD: prestation spécifique dépendance) und 2002 (APA: allocation personnalisée d’autonomie) eingeführt; näheres dazu siehe unten. Die Altenhilfe ist darüber hinaus der einzige Bereich im Rahmen der aide sociale, in dem Ausgaben und Leistungsempfänger während dieser Zeit geschrumpft sind. Dabei muß jedoch berücksichtigt werden, dass große Teile der sozialen Dienste für alte Menschen innerhalb des Sozialversicherungssystems, in erster Linie durch Renten- und Krankenkassen, erbracht werden (siehe unten). So nahm die Zahl der Leistungsempfänger in der Altenhilfe sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich von 1984 bis 1992 deutlich ab, und das in einer Zeit, in der die Zahl alter Menschen anstieg. Die Altenhilfe im Rahmen der aide sociale hat sich somit seit der Dezentralisierung auf die bedürftigeren Fälle konzentriert. Diese Entwicklung hat sich im Prinzip bis zum Jahr 2000 fortgesetzt. Der Anteil der Altenhilfe ist weiter gesunken, während Kinderhilfe und vor allem Behindertenhilfe deutlich angewachsen sind (vgl. ODAS 2002b). Zu erklären ist dies auch durch den unterschiedlichen Institutionalisierungsgrad dieser drei Bereiche im beobachteten Zeitabschnitt. Die Kinderhilfe war schon lange Zeit ein fest etabliertes System mit klaren Aufgabenzuweisungen und ausgebauten sozialen Diensten. Die Behindertenhilfe erhielt mit dem grundlegenden Gesetz von 1975 einen stabilen institutionellen Rahmen, innerhalb dessen sie sich kontinuierlich entwickeln konnte. Im Gegensatz dazu war die Altenhilfe seit Beginn der Dezentralisierung über 20 Jahre lang bis zur neuesten Reform von 2002 (APA) ein Feld andauernder Konflikte, Debatten und Experimente, in deren Mittelpunkt das Problem der Pflegebedürftigkeit stand. Das System der Altenhilfe war während dieser Zeit vielfältigen institutionellen Veränderungen unterworfen und konnte sich nicht konsolidieren. Gerade aus diesem Grund ist sie ein interessanter Gegenstand für eine soziologische Analyse der Institutionalisierung sozialer Dienste, der unten behandelt wird.
Krankenhilfe für Bedürftige Unterstützung und Hilfe für kranke Menschen war der historische Kern der Armenhilfe in den meisten Ländern. Nicht eine individuelle ökonomische oder soziale Notlage an sich, sondern physischer Mangel und das Fehlen helfender Familienangehöriger begründeten einen Anspruch auf öffentliche Unterstützung. Krankenhäuser und Spitäler waren die zentralen Einrichtungen, in denen kranke oder behinderte, zumeist ältere Menschen versorgt wurden. Soziale und medizinische Probleme und Dienste waren dabei nicht voneinander getrennt, sondern bildeten eine Einheit. In Frankreich wurden 1851 die kommunalen Spitäler verpflichtet, die bedürftigen Kranken ihrer Gemeinde kostenlos zu betreuen, 1893 wurden Ansprüche auf medizinische Hilfe auf die ambulante Versorgung sowie Heil- und Hilfsmittel erweitert. Außerdem wurde die freie Arztwahl auch für Bedürftige eingeführt. Der Wandel der Krankenhilfe für Bedürftige ist untrennbar mit der Entwicklung der Krankenversicherung verbunden. In Frankreich wurde die obligatorische Krankenversiche-
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rung erst nach 1945 eingeführt. Zuvor existierte ein freiwilliges, staatlich subventioniertes, aber große Teile der Bevölkerung umfassendes System der Krankenversicherung auf Gegenseitigkeit (mutualité). Da jedoch gerade die armen Bevölkerungsschichten von diesem System ausgeschlossen waren, spielte für sie die kostenlose medizinische Sozialhilfe eine zentrale Rolle. Erst mit der Einführung und sukzessiven Erweiterung der obligatorischen Krankenversicherung verlor die Krankenhilfe rasch an Bedeutung, da ein wachsender Teil der Bevölkerung in die gesetzliche Krankenversicherung eingebunden wurde. Diese indirekten Wirkungen der Entwicklung des Systems der sozialen Sicherung auf die Krankenhilfe waren weit bedeutender als die internen Reformen. Mit dem Ausbau spezifischer sozialer Unterstützungsleitungen für ältere Menschen und Behinderte trat zudem eine deutliche Trennung von Krankenhilfe und sozialen Diensten ein. Weitere grundlegende Reformen innerhalb der Krankenhilfe waren die Dezentralisierung von 1984, die den départements die Zuständigkeit für das System übertrug und die Reform von 1992, welche die Leistungen der Krankenhilfe weitgehend (mit Ausnahme der Geldleistungen) denen der Krankenversicherung anglich. Im Jahr 2000 schließlich wurde das alte System der Krankenhilfe aufgelöst und durch einen universellen Anspruch auf medizinische Versorgung für alle in Frankreich lebenden Personen ersetzt (couverture maladie universelle). Somit wurde im Gesundheitssystem eine vollständige Universalisierung von Leistungen eingeführt, die in den anderen Sozialsystemen, insbesondere der Altenhilfe, bis heute nicht annähernd verwirklicht ist. Allerdings haben sowohl die Kinderhilfe als auch die Behindertenhilfe in Frankreich ebenfalls einen hohen Grad an Universalisierung von Leistungen erreicht.
Soziale Dienste für Kinder Kinderbetreuung In Frankreich gehören die Einrichtungen der Vorschulerziehung und Kinderbetreuung nicht zum klassischen System der Kinder- und Jugendhilfe, sondern teils zum Bildungswesen und teils zum Aufgabenbereich der sozialen Sicherung. Grundsätzlich kann man zwei Typen von Einrichtungen unterscheiden: die im Bildungswesen angesiedelten Vorschulen (écoles maternelles) für Kinder zwischen drei und fünf Jahren und die Kinderkrippen (crèches) für jüngere Kinder. In der letzten Gruppe kann man zwischen Einrichtungen (crèches collectives) und der Betreuung einer kleineren Gruppe von Kindern durch Tagesmütter (crèches familiales und assistantes maternelles) unterscheiden. Die crèches gehören institutionell nicht zum zentralstaatlichen Bildungswesen, aber auch nicht zur Kinder- und Jugendhilfe innerhalb der seit 1983 von den départements organisierten Sozialhilfe. Im französischen Verständnis sind sie vielmehr Teil der Familienpolitik und werden deshalb zum größten Teil auch von den Familienkassen bezahlt, die in Frankreich in Form einer Sozialversicherung organisiert sind und sowohl Geld- und Sachleistungen als auch soziale Dienste für Familien finanzieren. Die Betreuung kleiner Kinder unter drei Jahren wird außerdem durch die allocation parentale d’éducation (APE) und die allocation de garde d’enfant à domicile (AGED) gefördert. APE ist eine Geldleistung an erwerbstätige Eltern, die zum Zweck der Kinderbetreuung ihre Arbeit für bis zu 24 Monate unterbrechen; sie
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wird seit 1994 ab dem zweiten Kind bezahlt. AGED ist eine Leistung an Eltern, die einen Kinderbetreuer im eigenen Haushalt beschäftigen; AGED übernimmt in diesem Fall die Sozialabgaben für das Beschäftigungsverhältnis. Die Vorschulen (écoles maternelles) haben in Frankreich eine lange Tradition (vgl. Veil 2002). Sie gehören zum Bildungswesen und bieten Ganztagesunterricht und Betreuung für Kinder von 3-5 Jahren an. Die Einrichtungen stehen auch bereits zweieinhalbjährigen Kindern offen. In den Vorschulen arbeiten Lehrer, welche dieselbe Ausbildung durchlaufen haben wie Grundschullehrer und vom Staat bezahlt werden. Daneben arbeiten soziale Hilfskräfte, die zumeist bei den Kommunen angestellt sind und die zahlreichen sozialen Dienstleistungen in diesen Einrichtungen besorgen, zum Beispiel Mittagessen und Bewegungsprogramme sowie Betreuung außerhalb der regulären Schulstunden. Die Einrichtungen sind hoch professionalisiert. Sie haben seit Ende der 1970er Jahre einen Deckungsgrad von 100% in der Altersgruppe der 3-5jähringen Kinder erreicht und können somit als zentraler Bestandteil der sozialen Infrastruktur für Familien betrachtet werden. Sogar rund ein Drittel der zweijährigen Kinder besucht heute bereits eine Vorschule. Rund 90% der Plätze werden vom Staat und etwa 10% von staatlich subventionierten katholischen Einrichtungen angeboten. Der Besuch staatlicher Einrichtungen ist kostenlos. Während die écoles maternelles die zentrale Einrichtung für Kinder zwischen drei und sechs Jahren sind, gibt es eine Vielfalt von Betreuungsformen für Kinder unter drei Jahren. Die wichtigsten sind die verschiedenen Typen von crèches (Kinderkrippen). Diese lassen sich in crèches collectives und crèches familiales unterscheiden. Zu den crèches collectives gehören nicht nur die traditionellen größeren Einrichtungen, die im Durchschnitt 50 Kinder aufnehmen, sondern auch die neueren Typen der kleineren mini-crèches und der crèches parentales. Letztere werden von den Eltern der Kinder organisiert und betrieben, die sich zu diesem Zweck in Form eines Vereins zusammengeschlossen haben. Mit crèches familiales werden hingegen diejenigen Betreuungsformen bezeichnet, in denen staatlich anerkannte Tagesmütter (assistantes maternelles) eine kleine Gruppe von Kindern in ihrem eigenen Haushalt betreuen. Diese verschiedenen Formen von crèches stellen die Mehrzahl der Versorgungsplätze für Kinder unter drei Jahren. Daneben gibt es quantitativ weniger bedeutsame Einrichtungen wie garderies und jardins d’enfants (Kindergärten), haltes-garderies (Kurzzeitbetreuungseinrichtungen) und pouponnières („Nester“). Die jardins d’enfants richten sich an drei- bis sechsjährige Kinder und haben einen eher spielerischen Charakter als die Vorschulen. Haltes-garderies bieten Plätze zur vorübergehenden Betreuung von Kindern bis zu sechs Jahren an, zum Beispiel, wenn das übliche Arrangement aus verschiedenen Gründen einmal ausfällt. Die pouponnières bieten eine Tages- und Nachtbetreuung für sozial und gesundheitlich gefährdete Kinder in Notsituationen. Während das Gros der Vorschulen integraler Bestandteil des staatlichen Bildungswesens ist und der weit überwiegende Teil der Einrichtungen von Staat und Kommunen gemeinsam betrieben wird, ist die Trägerstruktur der Betreuungseinrichtungen für Kinder unter drei Jahren ebenso vielfältig wie das Angebot an Formen. In diesem Bereich spielen freie, gemeinnützige Vereinigungen eine wichtige Rolle, insbesondere Elternvereine. Daneben tragen die zumeist freiberuflich tätigen, staatlich anerkannten und subventionierten Tagesmütter (assistantes maternelles) einen bedeutenden Teil des Angebots. Die Einrichtungen werden auf lokaler Ebene aufgebaut, zumeist von freien Vereinigungen und Kommunen, jedoch durch das département koordiniert. Die Finanzierung ist gemischt, die
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Eltern tragen jedoch einen erheblichen, nach Einkommen gestaffelten Teil der Kosten. Eine französische Besonderheit ist die teilweise Finanzierung dieser Einrichtungen durch die Familienkassen, die den Zweig der Familiensozialversicherung organisieren. Die Familienkassen, die in Frankreich in jedem département eine eigenständige regionale Kasse unterhalten, schließen zu diesem Zweck Verträge mit Kommunen oder direkt mit den freien Betreibern der Kinderbetreuungseinrichtungen ab. Hierin zeigt sich erneut die große Bedeutung der französischen Form der Institutionalisierung der Sozialversicherung, die auf zwei historischen Grundprinzipien beruht: einer voluntaristischen, nicht-staatlichen Organisation und dem Prinzip der Territorialisierung, das heißt der flächendeckenden Vertretung in allen Gliedern des NationalstaatsEinige Einrichtungsformen wie die traditionellen crèches collectives blicken ebenso wie die Vorschulen auf eine lange Geschichte zurück, andere Formen haben sich erst in den letzten Dekaden entwickelt, jedoch ist dieser Sektor weniger stark institutionalisiert als die écoles maternelles. Die 1970er Jahre können als das Jahrzehnt des institutionellen Durchbruchs und stärksten Wachstums dieser Einrichtungen angesehen werden, das sich bis zur Mitte der 1980er Jahre fortgesetzt hat. Seitdem ist eine Verlangsamung der Ausdehnung dieser Einrichtungen eingetreten. Dennoch beträgt der Deckungsgrad aller Einrichtungen zusammen in der Altersgruppe der Kinder unter drei Jahren mittlerweile ca. 30%. Es überwiegen jedoch in dieser Altersgruppe die kleineren, „familiären“ Betreuungsformen wie crèches familiales und assistantes maternelles gegenüber den großen crèches collectives, die sich zudem im Großraum Paris und anderen Agglomerationsräumen konzentrieren. Seit 1994 gibt es zudem eine Fülle von Maßnahmen, welche die Betreuung kleiner Kinder in der Familie unterstützen. Die Mittel zur Subventionierung anerkannter Tagesmütter wurden erheblich ausgeweitet, ebenso die Leistungen im Rahmen von AGED (siehe oben). Von großer Bedeutung war die ebenfalls 1994 eingeführte Erweiterung des Leistungsanspruchs der APE auf das zweite Kind in einer Familie. Insgesamt wurde also seit Mitte der 1990er Jahre in der französischen Familienpolitik die Betreuung kleiner Kinder im familiären Rahmen immer stärker in den Mittelpunkt gestellt. Außerhalb der Vorschulen (écoles maternelles) konzentrierte sich das öffentliche Betreuungsangebot für kleinere Kinder auf drei klassische Einrichtungsformen: die Krabbelstuben (pouponnières; mit medizinischer oder sozialer Ausrichtung), die Kinderkrippen (crèches) und die Kindergärten (garderies und jardins d’enfants). In ganz Frankreich wurden 1961 rund 7.000 Plätze in Krabbelstuben, 18.000 in Krippen und ca. 30.000 in Kindergärten gezählt (Ministère des Affaires Sociales: Annuaire des Statistiques de la Santé et de la Sécurité Sociale 1963: S.96). Seitdem hat sich das Angebot erheblich ausgeweitet und diversifiziert (siehe Tabelle 34). Am stärksten angestiegen ist die Zahl der von den assistantes maternelles angebotenen Plätze, die sich seit Anfang der 1980er Jahre verdreifacht hat. Mit rund 725.000 Plätzen steuern die anerkannten Tagesmütter fast drei Viertel zum Gesamtangebot bei. Hinzu kommen die ebenfalls von den assistantes maternelles betriebenen kleinen crèches familiales, die nochmals einen großen Anteil an allen Betreuungsplätzen ausmachen. In Frankreich boten somit im Jahr 1998 rund 380.000 assistantes maternelles Plätze für fast 900.000 Kinder unter drei Jahren an, einschließlich der in den crèches familiales und im Rahmen der Kindersozialhilfe angebotenen Plätze. Zugenommen hat auch die Zahl der Plätze in den crèches collectives. Dieses Angebot hat sich seit 1980 in etwa verdoppelt. Heute (1998) bieten die crèches collectives zusammen rund 138.000 Betreuungsplätze, die überwiegende
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Mehrzahl davon in den traditionellen kommunalen und von freien Trägern betriebenen größeren Einrichtungen. Neue Formen wie die mini-crèches (mit ca. 6.000 Plätzen) und die von Elterninitiativen (ca. 8.000 Plätze) getragenen Einrichtungen machen nur einen kleinen Teil des Angebots aus. Tabelle 34: Kinderbetreuungseinrichtungen, Frankreich 1971-1998 (Zahl der Plätze) Einrichtungen Kollektive Institutionen1 Kinderkrippen2 Kindergärten3 Haltes-garderies4 Krabbelstuben5 Im familiären Umfeld6 Kinderkrippen7 Tagesmütter8
1971
1975
1980
1985
1990
1998
31.700 k.A. k.A. k.A.
47.100 k.A. 17.200 7.800
69.400 14.900 25.500 5.600
5.700 k.A.
21.900 k.A.
34.300 46.400 61.500 61.300 k.A. 248.000 246.000 724.000
87.200 112.400 138.400 13.300 12.300 10.500 38.800 52.900 68.300 4.800 3.900 3.500
k.A.: keine Angaben verfügbar. Anmerkungen: 1 Accueil collectif, 2 Crèches collectives, 3 Jardins d’enfants, 4 Kurzzeitbetreuung, 5 Pouponnieres, 6 Accueil familial, 7 Crèches familiales, 8 Assistantes maternelles agrées : Zahl der Plätze (Aufnahmekapazität). 1990: rund 130.000 anerkannte und registrierte Tagesmütter. Quellen: Ministère de la Santé et de la Sécurité Sociale: Annuaire des Statistiques Sanitaires et Sociales (verschiedene Jahre) ; 1978 : S. 121 und 129 ; 2000 : S. 286 und 287.
Es ragen somit zwei Angebotssäulen deutlich heraus: die im familiären Umfeld wirkenden assistantes maternelles und die traditionellen kollektiven Kinderkrippen, wobei erstere bei weitem dominieren. Andere Betreuungsformen ergänzen dieses Angebot in Randbereichen. Auch die jardins d’enfants bieten insgesamt nur rund 10.000 Plätze. Es gibt allerdings eine Form der Betreuung, die eine zunehmende Rolle spielt: die haltes-garderies, Einrichtungen zur vorübergehenden Kurzzeitbetreuung. Ihre Zahl hat seit den 1980er Jahren ebenfalls stark zugenommen, im Jahr 1998 boten sie ca. 68.000 Plätze. Von quantitativ geringer Bedeutung sind die pouponnières für Kinder mit sozialen und gesundheitlichen Problemen. Die Zahl der Plätze in diesen Einrichtungen ist seit 1980 um rund ein Drittel gesunken, besonders in den medizinisch geprägten Häusern. Im Hinblick auf die Trägerschaft dominieren in diesem Bereich zum einen die öffentlichen Einrichtungen, zum andern die privaten, selbständigen Tagesmütter. Eine detaillierte Aufgliederung nach dem Träger liegt für die Kinderkrippen Ende der 1970er Jahre vor. Von den damals (1977) insgesamt rund 57.000 Plätzen in den crèches collectives wurden über die Hälfte von den Kommunen zur Verfügung gestellt, weitere 16% von den départements. Freie Vereinigungen (associations nach dem Gesetz von 1901) und andere private Anbieter stellten zusammen nur rund 15% der Plätze. Ähnlich war die Struktur bei den crèches familiales: auch hier stellten die kommunalen Einrichtungen über 80% der Plätze bereit. Auf der anderen Seite wird das Kinderbetreuungsangebot in Frankreich in hohem Maße von den freiberuflich tätigen Tagesmüttern bestimmt, die allerdings zunehmend durch den Staat kontrolliert und reguliert und aus verschiedenen öffentlichen Quellen subventioniert werden. Im Jahr 1977 wurden die Tagesmütter staatlich offiziell anerkannt und
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mussten sich seitdem einer Registrierungspflicht unterwerfen. Seit 1992 bedürfen sie darüber hinaus einer bestimmten Ausbildung durch die sozialen Dienste des départements (mindestens 60 Stunden), bevor sie eine Zulassung erhalten können. Sie dürfen seitdem ebenfalls höchstens drei Kinder zusammen betreuen. Eine Untersuchung über die Formen der Kinderbetreuung im Jahr 2002 ermittelte rund 4,2 Millionen in Frankreich lebende Kinder, die zwischen 4 Monaten und unter sechs Jahren alt waren. Von diesen wurden rund 780.000 Kinder mindestens einmal pro Woche von einer Tagesmutter betreut; insgesamt boten im Jahr 2002 ca. 340.000 Tagesmütter Plätze für 880.000 Kinder an. Von den Kindern unter drei Jahren wurde rund ein Drittel mindestens einmal pro Woche von einer Tagesmutter betreut, demgegenüber besuchten nur rund 10% eine Kinderkrippe. Immerhin 5% dieser Altersgruppe, fast ausschließlich Kinder zwischen zweieinhalb und drei Jahren, besuchten bereits die Vorschule. Von den Kindern zwischen drei und sechs Jahren besuchten über 90% die Vorschule, aber immerhin 15% erhielten ebenfalls mindestens einmal pro Woche eine Betreuung durch Tagesmütter. Großeltern spielen in Frankreich keine herausragende Rolle bei der Kinderbetreuung. Nur knapp 20% der Kinder unter sechs Jahren wird mindestens einmal pro Woche von Großmutter oder Großvater betreut (DREES, Études et Résultats, No. 235, Avril 2003). Für die kleineren Kinder herrschen somit „familiär“ geprägte Betreuungsformen vor, in erster Linie die Tagesmütter, während fast alle Kinder zwischen drei und fünf Jahren die Vorschule besuchen.
Historische Entwicklung der Kinderhilfe Die sozialen Dienste für Kinder und die Kinderhilfe nehmen innerhalb des französischen Sozialsystems eine Sonderstellung ein. Zum einen aufgrund ihrer langen historischen Tradition, zum andern aufgrund ihres doppelten Charakters als soziale Unterstützungsleistungen und soziale Kontrollmaßnahmen. Stets vermischten sich in diesem Bereich zwei zentrale Ziele: Hilfe für unterstützungsbedürftige Kinder und Jugendliche sowie der Schutz der Gesellschaft vor abweichendem Verhalten. Letzteres stand im historischen Rückblick meist im Vordergrund, vor allem in den staatlichen im Unterschied zu den religiös-kirchlich getragenen Maßnahmen, während heute das Ziel der individuellen Unterstützung gefährdeter Kinder eindeutig dominiert (vgl. Corbillon 1993; Verdier o.J.). In den Maßnahmen zugunsten gefährdeter Kinder und Jugendlicher zeigt sich der Doppelcharakter der sozialen Dienste besonders deutlich: soziale Kontrolle und Zwang einerseits, Hilfe und Unterstützung andererseits. Auch in den modernen Systemen gibt es gerade in diesem Bereich noch einen großen Anteil an sozialer Kontrolle. So spielen die Vormundschaftsgerichte und die Justizbehörden eine wichtige Rolle in der Anordnung beziehungsweise Bewilligung bestimmter erzieherischer und sozialpädagogischer Maßnahmen, die oft mit staatlicher Intervention in Familienangelegenheiten verbunden sind. Etwa ein Drittel der Kinder, die an solchen Maßnahmen teilnehmen, tun dies aufgrund gerichtlicher Verfügungen, der Rest im Rahmen administrativer Tätigkeit auf Initiative verschiedener Personen und Organisationen. Auch in diesem Bereich gehen die ersten sozialen Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutz von Kindern auf private, vor allem religiöse Initiativen zurück (vgl. Alfandarie 1989). Über Jahrhunderte hinweg stand vor allem das Problem der Findelkinder im Mittel-
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punkt öffentlicher Aufmerksamkeit und sozialpolitischer Maßnahmen von Seiten der Kirche und des Staates. Schon im 12. Jahrhundert finden sich in einigen Städten Kinderasyle für Findelkinder unter geistlicher Leitung, und schon aus dieser Zeit datiert ein charakteristisches Merkmal der französischen Politik in diesem Bereich: die Betreuung von Findelkindern und Waisenkindern durch bezahlte Ammen, zumindest bis zum Alter von drei Jahren. Ältere Kinder wurden dagegen häufiger in stationären Einrichtungen wie Hospizen untergebracht, zusammen mit anderen Hilfsbedürftigen wie Kranken, Behinderten und hilflosen alten Menschen. Zu dieser Zeit waren die sozialen Dienste und Einrichtungen noch kaum differenziert. Auch aus diesem Grund bot sich vor allem für jüngere Kinder die Unterbringung bei Ammen und in Pflegefamilien an, die dafür Geld erhielten. Regelrecht institutionalisiert wurde dieses Ammenwesen im 17. Jahrhundert durch die von Saint Vincent de Paul inspirierte geistliche Ordensbewegung und die allmähliche Übernahme der geistlichen Hospize durch die Kommunen in den größeren Städten. In diese Zeit datiert auch die Einrichtung spezieller Hospize für Findelkinder, getrennt von den allgemeinen Einrichtungen für Kranke und Alte. Im Verlauf der Zeit verlagerte sich dadurch der Schwerpunkt der französischen Politik für Findel- und Waisenkinder auf die stationäre Unterbringung. Die Französische Revolution wollte die christliche Wohltätigkeit durch ein staatliches Fürsorgesystem mit individuellen Rechten ersetzen, deren Verwirklichung jedoch scheiterte. Der Schwerpunkt der sozialen Hilfen für Findelkinder sollte noch stärker als zuvor auf Pflegefamilien und bezahlte Ammen gelegt werden, weil die zumeist großen Hospize als nicht förderlich für die Entwicklung der Kinder betrachtet wurden; die Sterblichkeit lag sehr hoch. Die Rolle der Hospize sollte eine des Übergangs in eine Pflegefamilie sein. Napoleon verlegte den Schwerpunkt hingegen wieder auf die Unterbringung von Findelkindern in öffentlichen Einrichtungen, unter anderem zur Rekrutierung von Soldaten für die kaiserliche Armee. Ein zentrales Element bereits der frühen geistlichen und kommunalen Hospize war die Einrichtung der sogenannten Drehklappe (tour), in der kleine Kinder und Neugeborene anonym abgelegt werden konnten. Damit sollte das Problem der Kindstötungen gelöst werden, indem eine Möglichkeit zur unerkannten Übergabe an wohltätige Einrichtungen geschaffen wurde. Diese Einrichtung erfreute sich weiter Verbreitung und wurde 1811 sogar zum offiziellen Bestandteil der Findelkindpolitik unter Napoleon. Das Dekret von 1811 wies den Hospizen und Spitälern die zentrale Rolle für den Schutz von Findelkindern zu. Gleichzeitig wurden Aufsicht und Kontrolle über das Ammenwesen und die Pflegefamilien verstärkt. Staatliche Kommissare wurden ernannt, um das System zu überwachen, neue Vorschriften zur sozialen Kontrolle wurden erlassen. Dennoch war die Unterbringung von Findelkindern bei Ammen und in Pflegefamilien weiterhin eine wichtige zweite Option. Die einstmals liberale Handhabung des Findelkindwesens unter den christlichen Vorläufern mutierte unter staatlicher Verantwortung somit zu einem immer rigideren System, mit dem Ziel, Missbrauch zu vermeiden und den Schutz der öffentlichen Belange sicherzustellen. In der Dritten Republik wurden die reglementierenden Vorschriften und Kontrollen noch verschärft. Schon 1871 wurden staatliche inspecteurs des Pflegschaftswesens mit weitgehenden Kompetenzen eingerichtet. Im Jahr 1904 wurde das alte System der anonymen Drehklappen durch ein bureau d’abandon abgelöst, das in jedem département zu errichten war und zwar weiterhin die Anonymität wahrte, aber auch Möglichkeiten zur Unterstützung und Beratung bot, die im alten System nicht gegeben waren. So konnten die meist jungen Mütter zum Beispiel auf
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die inzwischen aufgebauten unterstützenden Maßnahmen im Bereich der Gesundheits- und Sozialfürsorge hingewiesen werden. Weiterhin stellte das Verfahren jedoch die Anonymität sicher und war mit allen rechtlichen Konsequenzen verbunden, unter anderem dem endgültigen rechtlichen Bruch der Beziehungen zwischen Mutter und Kind, der staatlichen Vormundschaft und einer unbedingten Einwilligung in eine spätere Adoption. Die Adoption war im übrigen ein neues Element dieser Politik, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch ausschließlich auf die staatliche Vormundschaft gesetzt hatte (pupilles d’Etat). Zugleich wurden die Regeln und Leistungen für hilfsbedürftige Kinder erstmals umfassend kodifiziert. Die bisherigen fakultativen Leistungen und Maßnahmen wurden obligatorisch, die Verantwortung dafür wurde den Präfekten der départements übertragen. Nicht mehr die städtischen Hospize, sondern der Staat und die départements teilten sich die Finanzierung von Unterbringung und Pflegschaft. Zugleich wurden die Anforderungen an die Kinderhospize erhöht und die départements erhielten Mittel zur Verbesserung ihrer Einrichtungen. Die großen Hospize wurden allmählich in kleinere, gegliederte Einrichtungen überführt (foyers de l’enfance). 1943 wurden die départements verpflichtet, kleinere Einrichtungen zu schaffen, in denen Kinder in relativ homogenen Altersgruppen untergebracht und versorgt werden konnten. Außerdem wurde eine möglichst frühe Unterbringung in Pflegefamilien gefördert. Die Einrichtungen erhielten verschiedene „Sektionen“ für unterschiedliche Gruppen von Kindern mit Problemen. Die Unterbringung in Pflegefamilien war vor allem eine Alternative für jüngere Kinder. Trotz der Dominanz der stationären Betreuung vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte dieser Typ der Unterbringung stets eine wichtige Rolle gespielt. Im Vergleich zu England etwa war dieses System der Ersatzmütter und Pflegefamilien in allen „lateinischen“ Ländern weit verbreitet. Die Familienpflegschaft wurde erstmals von Saint Vincent de Paul institutionalisiert. Seitdem wurden Ammen und Pflegefamilien finanziell unterstützt, sofern sie bestimmte Bedingungen erfüllten und Regeln einhielten. Zum Beispiel mussten sich die Ammen registrieren lassen, sie mussten einen guten Leumund haben und durften nur eine begrenzte Zahl von Kindern aufnehmen. Für Unterbringung und Versorgung erhielten sie eine festgelegte Summe Geldes vom Staat. Die Unterbringung bei Ammen und in Pflegefamilien war in der agrarischen französischen Gesellschaft weitverbreitet, da Kinder hier natürlich auch als Arbeitskräfte genutzt werden konnten. Eine weitere Alternative zum Findelkindsystem war die Einrichtung von Häusern zur Unterstützung von jungen Müttern. Obwohl es bereits in der Französischen Revolution Ansätze zu solchen Einrichtungen gab, wurden sie erst ab 1939 mit dem Code de la Famille des Vichy-Regimes flächendeckend eingeführt. Diese Einrichtungen (maisons maternelles, hôtels maternelles) sorgten für die Unterbringung und medizinische Betreuung junger Mütter vor, während und für eine gewisse Zeit nach der Geburt eines Kindes. Später konnten, in den hôtels maternelles, auch Mütter mit jüngeren Kindern unterkommen und fanden dort materielle Unterstützung sowie Kinderbetreuung, verbunden mit der Pflicht, arbeiten zu gehen und selbst zum Lebensunterhalt beizutragen. Modernere Unterstützungsformen der Kinderhilfe zielen nicht auf die Ersatzunterbringung von Kindern in öffentlichen Einrichtungen oder bei Pflegefamilien, sondern auf die Unterstützung von bedürftigen Familien, in denen "gefährdete" Kinder leben. Neben den Maßnahmen zugunsten dieser Kinder haben sich auch soziale Dienste für solche Familien entwickelt, die aus verschiedenen Gründen vorübergehend in Schwierigkeiten geraten sind.
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Hier ist eine Reihe von ambulanten Diensten zu nennen, etwa die professionellen travailleuses familiales, die vor allem als vorübergehender Ersatz für kranke oder abwesende Mütter eingesetzt werden. Entsprechend breit und umfassend ist ihr Aufgabenspektrum. Travailleuse familiale ist ein staatlich anerkannter Beruf, der eine breite Ausbildung voraussetzt. Daneben gibt es die weniger professionalisierte aide ménagère zur Unterstützung von Müttern in der Familie, deren Aufgabe vor allem in materieller Hilfe in der Hausarbeit besteht. Diese Hilfen und sozialen Dienste werden zum Teil von der staatlichen Sozialhilfe (aide sociale), zum Teil von der Familiensozialversicherung finanziert. Die verschiedenen sozialen Dienste und Leistungen für Kinder, darunter die medizinisch-sozialen Dienste für alle Kinder, der Schutz für Mütter und Neugeborene, der schulmedizinische Dienst, die Maßnahmen zugunsten von vernachlässigten und gefährdeten Kindern sowie die traditionelle Sozialhilfe für Kinder sind seit 1969 in einem gemeinsamen System zusammengefasst. Die einzelnen Maßnahmen sind in ein ganzheitliches System zugleich medizinischer, sozialer und erzieherischer Hilfen eingebunden, in dem der Schutz des Kindes in seinen natürlichen Lebensumständen Priorität vor institutionellen Einrichtungen genießt. In der Praxis arbeiten die Dienste zumeist in Teams, in denen unterschiedliche Professionen medizinischer, sozialer und erzieherischer sowie psychologischer Provenienz zusammenwirken. Seit 1983 befinden sich diese Dienste in Verantwortung der départements, mit Ausnahme der Dienste für psychisch behinderte Kinder und des schulmedizinischen Dienstes, die in Händen des Zentralstaates verblieben. Die sozialen Dienste für Kinder unterliegen seitdem der Zuständigkeit des Präsidenten des Rates des départements (conseil général), nicht dem Präfekten (siehe unten). Das département kann nun entweder eigene öffentliche Dienste zur Erfüllung dieser Aufgaben aufbauen oder diese durch Verträge an andere öffentliche Einrichtungen (beispielsweise die Gemeinden) oder an andere öffentliche oder private Anbieter übertragen. Der Präfekt sichert dabei, als Vertreter des Staates vor Ort, die Kontrolle dieser Maßnahmen; Auftragserfüllung und -vergabe liegen hingegen in Händen des Ratsvorsitzenden des départements.
Kinderhilfe seit den 1970er Jahren Die sozialen Dienste für Kinder im Rahmen der Sozialhilfe (aide sociale) gehören seit 1984 in den alleinigen Verantwortungsbereich der départements, mit Ausnahme der allgemeinen Rechtsaufsicht des Staates und der weiterhin zentralstaatlichen Verantwortung für die pupilles d’Etat, Kinder, für die der Staat die Vormundschaft übernimmt. Die Sozialhilfe für Kinder ist eng verzahnt mit dem Familienrecht und dem Recht zum Schutz von Kindern, die im juristischen Bereich angesiedelt sind. Einige soziale Dienste der Sozialhilfe für Kinder können sowohl gerichtlich angeordnet, das heißt auch gegen den Widerstand von Eltern durchgesetzt werden, als auch im Rahmen administrativer Tätigkeit und Sozialarbeit erbracht werden. Grundsätzlich kann man zwischen zwei Arten von Diensten und Maßnahmen unterscheiden. Im ersten Typ von Maßnahmen werden Kinder aus ihren Familien herausgenommen beziehungsweise die elterliche Erziehungsverantwortung wird durch staatliche Intervention beschränkt (enfants accueillis par l’aide sociale). Die Kinder können sodann bei anderen Familien untergebracht werden (placement familial) oder sie können in Einrichtungen gegeben werden (placement en etablissement). Eine dritte Möglichkeit bietet
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die staatliche Vormundschaft (pupilles d’Etat), die in Frankreich seit Napoleons Zeiten eine Tradition hat. Im zweiten Typ von Maßnahmen verbleiben die Kinder in ihrer Familie und die sozialen und erzieherischen Dienste werden im familiären Milieu der Kinder erbracht. Zumeist erstreckt sich die Sozialarbeit und Unterstützung sodann auf die ganze Familie, um präventiv und unterstützend im Sinne eines Systems der offenen Familienhilfe zu wirken (aides à domicile). Im ersten Typ von Maßnahmen unterscheidet man zwischen gerichtlich erwirkten Interventionen einerseits und zumeist in Notsituationen erfolgten administrativen Interventionen, die lediglich provisorischen Charakter haben, andererseits. Auch der zweite Maßnahmentyp (aide à domicile) kann durch richterliche Anordnung bewirkt werden. In Frankreich hat das rechtliche und administrative System des Kinderschutzes eine lange Tradition. Soziale Kontrolle und Sozialarbeit sind in diesem System aufs engste verwoben. Eine Besonderheit im internationalen Vergleich ist die für diese Fälle zuständige Institution des Kinderrichters (juge pour enfants), der 1945 eingeführt wurde. Dieses spezielle Gericht ist nicht nur für Kriminaldelikte, sondern auch für Vormundschaftsfragen und die richterliche Anordnung von erzieherischen Maßnahmen zuständig, deren Ausführung wiederum seit 1984 in die Zuständigkeit der départementalen Sozialbehörden fällt. Der Kinderrichter kann Kinder direkt unter staatliche Vormundschaft stellen, sie direkt in die Obhut Dritter geben (placement direct) oder den Sozialbehörden zuweisen, die dann nach geeigneten Lösungen suchen (vgl. Vidaud 1991). Das System der Kinderhilfe war in den letzten 20 Jahren durch drei zentrale Entwicklungen geprägt, die schon vor der Dezentralisierung von 1983 einsetzten und durch diese verstärkt wurden: eine Abnahme der Herauslösung von Kindern aus ihrer Familie, eine Zunahme erzieherischer und sozialarbeiterischer Interventionen im familiären Milieu der Kinder und schließlich einen Anstieg des Anteils der gerichtlich angeordneten Interventionen in beiden Bereichen. So nahm die Zahl der aus ihrer Herkunftsfamilie herausgelösten Kinder (enfants placés) im Zeitraum von 1975 bis 2000 von rund 235.000 auf rund 135.000 ab, also fast eine Halbierung innerhalb der letzten 25 Jahre. Zugleich stieg der Anteil der richterlich angeordneten Fälle von zwei Drittel 1975 auf fast vier Fünftel 1999 an (vgl. DREES 2000a). Allerdings liegt der Anteil der vom Kinderrichter durchgeführten Zuweisungen von Kindern an Dritte bei insgesamt ca. einem Fünftel. Somit gelangen insgesamt mehr als vier Fünftel aller Kinder, die ihren Eltern weggenommen wurden, in die praktische Verantwortung und Zuständigkeit der Sozialbehörden, die ihrerseits großenwesentlichen Einfluss auf das weitere Schicksal dieser Kinder haben. Dabei hat sich das Gewicht der in diesen Fällen angewandten Maßnahmen im Verlauf der zwei letzten Jahrzehnte verschoben (siehe Tabelle 35). Wurden noch Anfang der 1980er Jahre die meisten dieser Kinder von den Sozialbehörden bei Pflegefamilien untergebracht, überwiegt nun die Unterbringung in Heimen und anderen Einrichtungen. Die in Frankreich einstmals so bedeutende Institution der Pflegefamilie erlitt somit einen Bedeutungsverlust. Zugleich ist eine zunehmende Professionalisierung in diesem Bereich festzustellen. Die Familienpflegschaft wird immer häufiger von professionellen Kräften, den travailleuses familiales, ausgeübt anstatt in „normalen“ Pflegefamilien. Auf der anderen Seite haben neue Formen der Erziehungs- und Sozialarbeit für gefährdete Kinder und Jugendliche im familiären Milieu zugenommen. Die Kinder werden dabei nicht aus ihren Familien herausgenommen, sondern die Familie wird in die Sozialarbeit und die Lösung der Probleme aktiv eingebunden.
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Tabelle 35: Empfänger von Kinderhilfe nach Leistungsart, Frankreich 1984-1999 (in 1.000) 1984
1989
1992
1995
1997
1999
Kinder in Obhut der Sozialbehörden 159,0 134,0 135,1 134,0 137,0 148,0 - darunter: in Einrichtungen1 72,0 70,0 k.A. 70,0 70,0 k.A. - darunter: in Pflegefamilien 87,0 64,0 k.A. 64,0 67,0 k.A. Kinder in Obhut aufgrund von Zwangsmaßk.A. k.A. 106,4 107,5 109,9 122,1 nahmen insgesamt - darunter: aufgrund richterlicher Anordnung k.A. k.A. 28,7 27,6 27,2 26,0 Kinder in erzieherischen Maßnahmen 98,0 111,0 112,8 114,4 120,4 127,7 k.A.: keine Angaben verfügbar. Anmerkungen: 1 In allen Formen von Einrichtungen, außer Pflegefamilien und anderen Haushalten. Quellen: ODAS (Observatoire national de l’action sociale décentralisée) : La lettre de l’ODAS, Septembre 2002, Ministère de l’Emploi/DREES (Direction de la recherche, des études, de l’évaluation et des statistiques): Études et résultats, No. 68, Juin 2000, S. 3.
Die Zahl der durch diese offenen Formen der Sozialarbeit betreuten Kinder ist seit Anfang der 1980er Jahre um mehr als ein Drittel angewachsen. Dabei liegt der Schwer-punkt auch hier bei richterlich angeordneten Maßnahmen, welche die Autonomie der Familien ein Stück aufbrechen. Somit kann der wachsende Anteil dieses Typs von Maßnahmen keineswegs als Indikator für eine allgemeine Abschwächung von sozialer Kontrolle und staatlichen Zwangsmaßnahmen gewertet werden. Nicht das Ausmaß an Kontrolle hat sich vermindert, wohl aber ihre Ziele, Formen und Instrumente. Hinsichtlich der Ziele steht nun die Sozialisation von Kindern in der Herkunftsfamilie im Vordergrund. Wo dieses Ziel gefährdet erscheint, sollen Kinder und deren Familien so weit wie möglich unterstützt werden. Somit haben sich in den letzten Jahrzehnten vor allem die Formen der offenen Sozialarbeit weiter entwickelt, neue Instrumente wie die familienpädagogische Hilfe haben sich etabliert. Dennoch ist die Form, in der diese sozialen Dienste erbracht werden, sogar noch mehr als in der Vergangenheit durch richterliche Anordnung geprägt und besitzt somit – vielleicht mehr als jemals zuvor – den Charakter sozialer Kontrolle, die zudem heute weit effizienter angewandt werden kann. Trotz der Entwicklungen, die das System der französischen Kinderhilfe während der letzten Jahrzehnte zum Teil erheblich verändert haben, bleibt es somit in der historischen Kontinuität als ein Bereich, der durch eine enge Verzahnung von sozialer Dienstleistung und sozialer Kontrolle geprägt ist.
Soziale Dienste für ältere Menschen Weniger durch Kontinuität und mehr durch experimentelle Maßnahmen und mangelnde Institutionalisierung geprägt war dagegen die Entwicklung der Altenhilfe in Frankreich (vgl. Guillemard 1992; Joël 2002; 2003). Kernproblem dieser mangelnden Institutionalisierung und teilweise erratischen Entwicklung über die letzten Jahrzehnte ist die ungelöste Frage der Pflegebedürftigkeit. Die Dezentralisierung hat, ebenso wie in anderen Bereichen der sozialen Dienste, die politischen und administrativen Zuständigkeiten zwischen den
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verschiedenen Akteuren zwar neu verteilt, steht aber als solche keineswegs im Zentrum des Problems. Im Kern geht es dabei nicht um die Frage nach unterschiedlichen Formen der Steuerung sozialer Dienste, sondern um das generelle Versagen der französischen Sozialpolitik, eine adäquate Lösung für das wachsende Problem der Pflegebedürftigkeit zu finden. Historisch betrachtet reichen soziale Dienste für alte Menschen weit in die Vergangenheit zurück. Geistliche Hospize und kommunale Spitäler zählten alte, kranke und behinderte Menschen zu ihren wichtigsten Klienten. Hilfe und Unterstützung wurde zumeist innerhalb dieser Einrichtungen geleistet, dabei wurden die verschiedenen Gruppen von Bedürftigen nicht voneinander geschieden. Zu Anfang wurden selbst Kinder in denselben Einrichtungen betreut, doch waren sie die erste Gruppe von Hilfeempfängern, für die spezielle Einrichtungen und Leistungen geschaffen wurden (siehe oben). Während des ganzen 19. Jahrhunderts wurden alte Menschen zusammen mit Behinderten und Kranken in den allgemeinen Einrichtungen der Armenpflege versorgt, Hilfen zur Unterstützung zuhause lebender Bedürftiger gab es kaum. Institutionalisierung im Sinne von stationärer Unterbringung und undifferenzierte Versorgung für verschiedene Kategorien von Hilfsbedürftigen, mit Ausnahme der Kinder, kennzeichneten somit das französische System der Alten-, Kranken- und Behindertenhilfe bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Erst das Gesetz von 1905 zur Sozialhilfe für alte, kranke und behinderte Menschen schuf die Voraussetzungen für eine differenziertere Entwicklung. Zum ersten Mal wurden auch Geld- und Sachleistungen außerhalb geschlossener Einrichtungen gewährt. Seitdem wurden die Geldleistungen zu einem immer wichtigeren Bestandteil der Sozialhilfe für ältere Menschen, zumal es zu dieser Zeit in Frankreich noch keine obligatorische Rentenversicherung als Teil des Systems der sozialen Sicherheit gab. Erst das Gesetz zur Rentenversicherung von Arbeitnehmern von 1930 und die umfassende Etablierung der Sozialversicherung nach 1945 schufen die Voraussetzungen dafür, dass die im Rahmen der Sozialhilfe für ältere Menschen gewährten Geldleistungen zunehmend an Bedeutung verloren und Sachleistungen und stationäre Einrichtungen in den Vordergrund treten konnten. Allmählich wurden dabei auch die sozialen Dienste zur häuslichen Betreuung und Versorgung ausgebaut, die bisher im Schatten der stationären Leistungen standen. In Frankreich wird ein Großteil dieser ambulanten sozialen Dienste jedoch nicht von der Sozialhilfe, sondern von den Sozialversicherungen finanziert, die ihrerseits Verträge mit verschiedenen Anbietern, zumeist aus der freien Wohlfahrtspflege (associations sans but lucratif) abschließen. Die Sozialhilfe tritt in Fällen ein, in denen kein Sozialversicherungsschutz vorliegt oder die Versicherungsleistungen nicht ausreichen, vor allem in der stationären Versorgung von Pflegebedürftigen. Die Rentenversicherungen sind dabei in erster Linie für die Versorgung mit Haushaltsdiensten, die Krankenversicherung für medizinische Hilfen einschließlich der Langzeitpflege zuständig. Finanziert werden diese Leistungen aus speziellen Fonds innerhalb des Sozialversicherungssystems, die aus verschiedenen Quellen gespeist werden, worunter Versicherungsbeiträge und staatliche Zuwendungen die wichtigsten sind. Die institutionelle Fragmentierung der Altenhilfe war ein wichtiger Grund dafür, weshalb es trotz einer lang anhaltenden Debatte und verschiedener profunder Diagnosen der Problemlage in offiziellen Berichten nur sehr schwer und in vielen Schritten zu einer besseren Lösung des wachsenden Problems der Pflegebedürftigkeit älterer Menschen gekommen ist. Der Durchbruch zu einer koordinierten Altenhilfepolitik gelang Anfang der 1960er
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Jahre mit dem Bericht der von Pierre Laroque geleiteten Kommission zur Erforschung der Probleme des Alters und der Alterung (1962) und der daraus abgeleiteten Empfehlungen. Insbesondere sah der Kommissionsbericht eine Erhöhung der Leistungen für ältere Menschen in Form eines Mindesteinkommens und den Ausbau ambulanter medizinischer und sozialer Dienste zur häuslichen Versorgung älterer Menschen vor. Im Jahr 1972 wurden diese Empfehlungen in einem Programm zur Betreuung alter Menschen in ihrer häuslichen Umgebung erstmals umgesetzt. Ziel war der Ausbau und die bessere Koordination verschiedener sozialer Dienste für ältere Menschen außerhalb von Einrichtungen: ambulante medizinische Pflege, Haushaltshilfen, Stadtteilkantinen, Essen auf Rädern etc. Verantwortlich für die Durchführung und Koordination des Programms waren die Sozialbehörden der départements in Zusammenarbeit mit Kommunen und freien Trägern. Zu diesem Zweck wurden Verträge zwischen den staatlichen Behörden und den in diesem Bereich tätigen Anbietern sozialer Dienste, zumeist freien Trägern, vorgesehen. Es kam jedoch weder zu einer Vereinheitlichung von Leistungen noch zu einer stärkeren Institutionalisierung des Feldes. Ergänzt wurden diese ambulanten Dienste durch den 1981 institutionalisierten Aufbau der häuslichen Krankenpflege (soins à domicile), die von den Krankenkassen finanziert und koordiniert wird. Diese ambulanten Dienste, sowohl die Haushaltshilfen als auch die häusliche Krankenpflege, erlebten seit Anfang der 1980er Jahre einen steilen Aufschwung. Zugleich wurde die Koordination ambulanter Dienste auf lokaler Ebene verstärkt. 1982 wurden zu diesem Zweck lokale Komitees unter Einschluss aller beteiligten Akteure eingerichtet, darunter auch Vertretern der freien Träger (associations) und der Klienten. Die häuslichen sozialen Dienste sind aufgrund der verschiedenen finanzierenden Organisationen und der Pluralität der Anbieter ein komplexes Feld, das sich in einer längeren historischen Entwicklung herausgebildet hat. Häusliche Dienstleistungen gehören zum Kernbereich familiärer Aufgaben, dennoch haben sich schon früh soziale Dienste in diesem Bereich herausgebildet, und zwar in zwei Sektoren: der staatlichen Sozialhilfe einerseits und der privaten, gemeinnützigen Wohltätigkeit andererseits. Die staatliche Sozialhilfe war in Frankreich stets dezentral organisiert. Seit 1954, als aus der einstigen „assistance“ die heutige „aide sociale“ wurde, sind die départements die wichtigsten Akteure auf diesem Gebiet. Seitdem haben sich die häuslichen Dienste zunehmend in Form direkter Dienstleistungen anstatt indirekter finanzieller Unterstützung entwickelt. Parallel dazu hatte sich ein freier gemeinnütziger Sektor häuslicher Dienste entwickelt, dessen Anbieter in Form einer „association“ nach dem grundlegenden Vereinsgesetz von 1901 organisiert sind. Der Staat hatte sich bei den häuslichen Diensten mit der Rolle einer Kontrollinstanz und des Rahmengesetzgebers begnügt. Weder wurden die Leistungen gesetzlich festgelegt noch beteiligte sich der Staat direkt an ihrer Finanzierung. Diese Aufgaben übernahmen die départements für den zur Sozialhilfe gehörenden Teil der häuslichen Dienste und die Rentenversicherungskassen im Rahmen ihrer Sozialfonds für den fakultativen Teil. Die Rentenkassen sicherten diese Leistungen jeweils für ihre Rentner. Die größte Bedeutung hatten dabei die Rentenversicherung des allgemeinen Systems für Arbeitnehmer (CNAV), die seit 1960 in großem Umfang häusliche Dienste finanziert, und die Rentenkasse der Landwirtschaft. Die Rentenkasse für Selbständige außerhalb der Landwirtschaft unterstützt solche Dienste erst seit 1972, und der Staat erst seit 1983 für Beamte. Die Regelung der Leistungsgewährung und der Umfang der geleisteten Dienste
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blieb weitgehend den einzelnen Kassen überlassen. Départements und Rentenkassen wurden somit zu den wichtigsten Finanziers der häuslichen sozialen Dienste. Parallel dazu entwickelte sich eine Vielfalt lokaler Anbieter dieser Dienstleistungen. Von zentraler Bedeutung waren hierbei einerseits die in Frankreich traditionell stark organisierten Familienverbände und die kommunalen Sozialdienste und Sozialeinrichtungen (CCAS; Centres communaux d’action sociale). Die Verbände schufen zu diesem Zweck gemeinnützige Vereine, die noch heute den Großteil der häuslichen Dienste in Frankreich erbringen. Zunächst waren dabei pflegerische Dienste und Haushaltshilfen meist vereint, doch seit Anfang der 1970er Jahre kam es auf départementaler Ebene zu einer zunehmenden Trennung dieser beiden Aufgabentypen. Die travailleuses familiales konzentrierten sich in der Folge immer stärker auf die medizinisch-hygienische Pflege, während weniger professionalisierte Kräfte sich auf die Haushaltstätigkeiten beschränkten (siehe Abschnitt über Professionen im sozialen Dienstleistungssektor, unten). Für erstere übernahmen die Krankenkassen die Finanzierung, während letztere weiterhin zumeist von den Rentenkassen bezahlt wurden. Insbesondere bei den häuslichen Diensten war das Angebot also durch vielfältige Arrangements geprägt, es herrschte eine große Diversität lokaler Lösungen. Bei der Unterbringung älterer Menschen kann grundsätzlich zwischen einer Betreuung durch einzelne Personen oder Familien (placement familial) und einer Versorgung in stationären Einrichtungen (placement en etablissement) unterschieden werden. Die Familienpflegschaft hat in Frankreich eine lange Tradition, nicht nur für Kinder, sondern auch für ältere oder behinderte Menschen. Die Pflegepersonen (ohne Angehörige) erhalten dafür finanzielle Leistungen, dürfen aber nicht mehr als zwei fremde Personen in ihrem Haushalt aufnehmen. Die Sozialhilfe übernimmt die Kosten, sofern die Klienten bedürftig sind. Diese Form der Unterbringung ist seit Jahren auf dem Rückzug (vgl. DREES 1999a). Im Bereich der stationären Unterbringung gibt es verschiedene Formen von Einrichtungen. Die aus der Vergangenheit stammenden großen Hospize mit ihrem undifferenzierten Leistungscharakter sind im Verschwinden begriffen. Ein Gesetz von 1975 schreibt die Überführung der verbliebenen Hospize in die nun vorherrschenden stärker spezialisierten Einrichtungen vor, die einen stärker medizinischen oder einen stärker sozialen „Wohncharakter“ aufweisen. Zu Beginn der 1970er Jahre war die Altenhilfe jedoch noch stark von den großen öffentlichen Institutionen geprägt (siehe Tabelle 36). Tabelle 36: Altenhilfeeinrichtungen1, Frankreich 1969-1975 (Zahl der Plätze) Unterbringung insgesamt - Öffentliche Einrichtungen - Private Einrichtungen - Unterbringung in Familien - Betreutes Wohnen2 Haushaltshilfen3 Kantinen4
1969 1975 166.600 197.800 139.300 157.000 19.800 27.400 2.200 1.700 5.300 11.700 15.000 30.500 29.600 46.200
Anmerkungen : 1 Aide sociale aux personnes âgées, 2 Logements-foyers, 3 Services ménagères, 4 Repas en foyers-restaurants. Quelle : Annuaire des Statistiques Sanitaires et Sociales, 1978 : S. 114.
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Im Jahr 1969 wies der stationäre Sektor der im Rahmen der Sozialhilfe angebotenen Altenhilfeeinrichtungen noch mehr als zehn mal so viele Plätze auf wie die ambulanten Dienste, 1975 betrug das Verhältnis immer noch rund 6:1. Beide Sektoren waren jedoch innerhalb dieser kurzen Zeit stark expandiert: der stationäre Bereich um knapp 20%, die ambulanten Dienste um rund 100% und die Altenkantinen um mehr als 50%. Zu Beginn der 1970er Jahre war der stationäre Sektor ganz überwiegend durch große öffentliche Einrichtungen geprägt. Die Unterbringung in Pflegefamilien spielte fast keine Rolle mehr und die neuere Form des betreuten Wohnens begann erst allmählich, sich zu entwickeln. Bei den Heimen, Hospizen und Hospitälern mit Altenversorgung stellten die öffentlichen Träger etwa das Sechsfache an Plätzen zur Verfügung als die privaten Einrichtungen. Die Sozialhilfe für ältere Menschen in Frankreich wurde also zu Beginn der 1970er Jahre noch in hohem Maße durch den öffentlichen stationären Sektor geprägt. Doch im Lauf der Zeit vervielfältigte und differenzierte sich das Angebot in diesem Bereich. Es entstanden zum Beispiel zunehmend Mischformen von Heimen, in denen eine dauerhafte und flexible Betreuung und Versorgung alter Menschen möglich ist. So haben heute die meisten Altenheime auch Pflegeabteilungen, ebenso wie die neueren Formen des betreuten Wohnens. Daneben existieren aber immer noch die speziellen Pflegeheime, die ebenfalls soziale und medizinische Funktionen unter einem Dach vereinen. Im einzelnen werden dabei im Bereich der Altenhilfe folgende soziale Dienste angeboten (vgl. Henrard 1988; siehe Tabelle 37). Die Haushaltshilfedienste (aide ménagère) unterstützen die Klienten in der Erfüllung alltäglicher Anforderungen im Haushalt wie Putzen, Einkaufen und Wäsche reinigen. Diese Dienste werden in der Regel entweder durch die kommunalen Sozialdienste (CCAS; Centres communaux d’action sociale) oder private, gemeinnützige Anbieter geleistet. Seit 1998 können auch kommerzielle Anbieter in diesem Bereich staatlich finanziert werden. Zum Teil werden diese Dienste von im Haushalt von Klienten beschäftigten Personen erbracht, zum Teil agieren die Haushaltshilfen als Angestellte privater Dienstleistungsfirmen. Der Professionalisierungsgrad in diesem Bereich ist gering. Finanziert werden diese Dienste durch staatliche Transfers (prestation tierce personne bis 1997, seitdem bis 2001 prestation spécifique dépendance, seit 2002 Allocation personnalisée d’autonomie) und Steuererleichterungen, durch die Rentenversicherungen und – bei Bedürftigkeit – die départementale Sozialhilfe. In jedem Fall müssen die Klienten im Rahmen ihrer Möglichkeiten einen Eigenbeitrag leisten, doch seit 1977 entfällt die Inanspruchnahme der Unterhaltspflichten von Angehörigen. Allerdings besteht im Rahmen bestimmter Freigrenzen ein Anspruch der Sozialbehörden auf posthume Kompensation durch Erbschaften. Die häuslichen Pflegedienste (soins à domicile) kümmern sich um die medizinische und pflegerische Betreuung älterer Menschen im Falle einer medizinisch-sozialen Indikation (dépendance). Die Leistungen werden von professionellen Pflegekräften und Krankenhelfern erbracht, die bei freien gemeinnützigen Organisationen (associations), den kommunalen Sozialzentren (CCAS) oder in Krankenhäusern unterschiedlicher Trägerschaft beschäftigt sind. Zusätzlich arbeiten in diesem Bereich selbständige professionelle Pflegekräfte auf eigene Rechnung. Finanziert werden die medizinischen und sozialen Pflegeleistungen, die sich auch auf die persönliche Hygiene erstrecken, von den Krankenversicherungen aufgrund medizinischer Indikation. Die Krankenkassen bezahlen auch ambulante medizinische Leistungen für ältere Menschen (hospitalisation à domicile).
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Tabelle 37: Einrichtungsformen der stationären und ambulanten Altenhilfe, Frankreich Art der Einrichtung Stationäre Unterbringung1 Altenheim2 Betreutes Wohnen3 Pflegeheim4 Teilstationäre Dienste Kurzzeitunterbringung5 Kleine Wohneinheiten6 Wohngemeinschaft7 Tagesbetreuung8 Familienbetreuung9 Ambulante Dienste10 Haushaltshilfen11 Häusliche Pflege12 Häusliche Krankenpflege13 Andere häusliche Dienste14
Funktion
Finanzierung
Wohnen und Versorgung
Klienten und evtl. Sozialhilfe; Pflege: Krankenkassen Klienten und evtl. Sozialhilfe; Pflege: Krankenkassen Wohnen: Klienten/Sozialh.; Pflege: Krankenkassen
Wohnen und Teilversorgung in kleineren Einheiten Medizinische Pflege
Unterbringung an Wochenenden, in Urlaub etc. Wohnen in Gemeinschaft Für psychisch kranke und demente ältere Menschen Kurzzeitunterbringung Dauerhafte Unterbringung in Pflegefamilie Haushaltstätigkeiten Hygienische und medizinische Pflege Medizinische Pflege Mahlzeiten, Wäsche, Transport etc.
Klienten und evtl. Sozialhilfe Klienten und evtl. Sozialhilfe Klienten und evtl. Sozialhilfe Klienten und evtl. Sozialhilfe Klienten und evtl. Sozialhilfe
Rentenversicherungen und départements Krankenversicherungen Krankenversicherungen Kommunen
Anmerkungen: 1 Hébergement collectif, 2 Maison de retraite, 3 Logement-foyer, 4 Services de soins de longue durée, 5 Hébergement temporaire, 6 Petite structure de oximité, 7 Cantou, 8 Accueil du jour, 9 Accueil familial, 10 Services à domicile, 11 Aide ménagère, 12 Soins à domicile, 13 Hospitalisation à domicile, 14 Zum Beispiel Mahlzeitendienste, Wäschedienste, Medikamentenlieferung, Reparaturen, Personentransporte. Quelle: Aliaga und Neiss (1999) : S. 259. Im Bereich der häuslichen Dienste kann man grob zwischen drei Typen unterscheiden: den Haushaltshilfediensten (aide ménagère), den Pflegediensten (soins à domicile) und den sonstigen mobilen Diensten (vgl. Aliaga 2000; Aliaga und Monrose 1998).
Neben diesen beiden „historischen“ Säulen häuslicher sozialer Dienste für ältere Menschen hat sich in jüngerer Zeit ein vielfältiges Angebot zusätzlicher ambulanter Dienste entwickelt. Dazu gehören vor allem Dienste wie Essen-auf-Rädern, Erledigung der Wäsche, Begleit- und Transportdienste, Reparaturdienste etc. Diese Dienste werden zumeist von Hilfskräften im kommunalen öffentlichen Sektor, von freien Trägern oder auch privaten Anbietern erbracht. Die fakultativen Dienste werden von den Klienten selbst, den Sozialfonds der Rentenkassen und den départements finanziert. Die Schwerpunkte dieser fakultativen Leistungen liegen seit Mitte der 1980er Jahre bei den größtenteils von den Gemeinden betriebenen Einrichtungen zur vorübergehenden stationären Unterbringung in Notsituationen und den von den kommunalen Sozialdiensten angebotenen Mittagstischen für ältere
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Menschen sowie den Tagesangeboten für Freizeit und soziale Kontakte. Die fakultativen Leistungen der verschiedenen Träger werden zumeist auf lokaler Ebene von den Gemeinden koordiniert. Die Anbieter dieser Dienstleistungen sind größtenteils Vereine (associations sans but lucratif) und andere freie Träger. Seit 1998 können die départements und die Sozialversicherungskassen auch Leistungsverträge mit kommerziellen Anbietern abschließen, die zuvor jedoch vom jeweiligen Präfekten bewilligt werden müssen. Im Bereich der stationären Einrichtungen kann man grob zwischen drei verschiedenen Typen unterscheiden: Altersheime, betreutes Wohnen und Pflegeheime bzw. Pflegeabteilungen in regulären Krankenhäusern; das traditionelle Hospiz ist weitgehend verschwunden. Die Träger dieser Einrichtungen können départements und Kommunen, freie gemeinnützige Organisationen oder kommerzielle Unternehmen sein. Finanziert werden die Kosten für Unterbringung und Betreuung bzw. Pflege aus unterschiedlichen Quellen und in Abhängigkeit von den eigenen Ressourcen der Klienten und ihrer Angehörigen. Die Kosten für die medizinische Betreuung einschließlich der Langzeitpflege werden von der Krankenversicherung übernommen, unabhängig davon, ob diese Leistungen in Pflegeheimen oder in Altenheimen erbracht werden. Die Kosten für Unterkunft und Verpflegung in allen diesen Einrichtungen (mit Ausnahme der regulären Krankenhäuser) müssen dagegen primär von den Klienten selbst – und im Rahmen der allerdings zunehmend gelockerten gesetzlichen Unterhaltspflicht auch von deren Angehörigen – getragen werden. Nur im Falle der Bedürftigkeit tritt die Sozialhilfe des départements ein. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Einrichtung in privater oder in öffentlicher Trägerschaft steht. Neben diesen klassischen Formen der stationären Versorgung älterer Menschen haben sich in jüngerer Zeit Zwischenformen von häuslicher und stationärer Unterbringung entwickelt: temporäre Unterbringung in Einrichtungen einerseits und neue Wohnformen mit angeschlossenen, flexiblen sozialen Dienstleistungen anderseits. Beide Formen dienen dazu, die älteren Menschen so lange wie möglich in ihrer gewohnten Umgebung zu belassen und zugleich die Kosten für eine Unterbringung zu senken. Temporäre stationäre Unterbringung in Notsituationen oder für bestimmte Urlaubszeiten und an Wochenenden entlasten pflegende Angehörige und sichern die Versorgung, ohne zu sehr in die Lebensumstände einzugreifen. Wohnformen mit Dienstleistungsgarantie bieten mehr Chancen auf ein für längere Zeit selbstbestimmtes Leben und zugleich Sicherheit im Bedarfsfall.
Das ungelöste Problem der Langzeitpflege Die Vielfalt und lokale Diversität in der Versorgung älterer abhängiger Menschen mit häuslichen Diensten war einer der wesentlichen Gründe dafür, weshalb der Gesetzgeber seit längerem eine einheitliche Lösung für das Problem der Pflegebedürftigkeit anstrebte. Bis Anfang der 1990er Jahre gab es in Frankreich keine integrierte, einheitliche Lösung des Problems der Pflegebedürftigkeit oder der „Abhängigkeit“, wie die wörtliche Übersetzung des französischen Terminus „dépendance“ lautet (vgl. Köstler 1997). In Frankreich gab es ebenso wie in Deutschland Streit um die Lösung dieses Problems. Dabei gab es ähnlich wie in Deutschland drei miteinander konkurrierende Modelle: ein staatliches allgemeines Leistungsgesetz mit universalistischem Charakter, eine spezielle Sozialversicherung für das Risiko der Pflegebedürftigkeit im Alter sowie eine Lösung im Rahmen der Sozialhilfe mit
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bedürftigkeitsgeprüften Leistungen. Während sich in Deutschland schließlich das Sozialversicherungsmodell durchsetzen konnte (siehe Kapitel 6), wurde in Frankreich lange Zeit keine befriedigende Lösung gefunden. Das universalistische Leistungsmodell war allerdings schnell ad acta gelegt worden, aber der Streit zwischen den Befürwortern der Sozialhilfe und den Vertretern des Sozialversicherungsmodells dauerte an. Gefunden und 1994 bis 1997 verwirklicht wurde deshalb eine provisorische Lösung, die zudem zunächst noch einen experimentellen Charakter hatte. Diese Lösung verankerte das Problem der Pflegebedürftigkeit in der Sozialhilfe, sah jedoch für später eine Versicherungslösung vor. Zu diesem Zweck wurde die PSD (prestation spécifique dépendance) eingeführt, zunächst 1994 auf experimenteller Basis in einigen ausgewählten départements (vgl. DREES 2000c), 1997 dann in ganz Frankreich. Doch schon 2002 wurde diese Leistung wiederum durch eine neue Leistung, die allocation personnalisée d’autonomie (APA) abgelöst. Im folgenden sollen die wesentlichen Aspekte dieser Entwicklung beleuchtet werden. Die PSD sollte zum ersten Mal eine spezifische und einheitliche soziale Leistung für ältere abhängige Menschen schaffen. Bislang konnten ältere Menschen unter bestimmten Umständen von einer ursprünglich 1975 für Behinderte eingeführten Leistung, der allocation compensatrice pour tierce personne (ACTP) profitieren (siehe unten). Tatsächlich stellten alte Menschen jedoch am Ende der 1980er Jahre das Gros der Leistungsempfänger. Dennoch waren die Ergebnisse unbefriedigend, weil die Leistung nicht speziell für das Problem der Pflegebedürftigkeit älterer Menschen konzipiert war. Die Dezentralisierung von 1983 hat die Komplexität dieses Feldes zusätzlich gesteigert (vgl. Argoud 1998), so dass eine neue Initiative des Gesetzgebers immer dringlicher erschien, die nach einer „vorläufigen“ Lösung (PSD) in die Entscheidung über ein neues umfassendes System im Jahr 2002 (APA) mündete (vgl. Martin, Math und Renaudat 1998; Martin 2003). Die PSD sollte die ACTP für abhängige ältere Menschen über 60 Jahre ersetzen. Damit wurde zum ersten Mal eine spezifische Leistung für diese Gruppe geschaffen. Das Gesetz von 1997 hatte zum Ziel, eine soziale Mindestabsicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit zu schaffen, bis eine umfassendere Lösung im Rahmen einer Sozialversicherung gefunden wäre. Die Leistungen waren somit einkommensgeprüft und erstreckten sich sowohl auf ambulante Dienste als auch auf stationäre Unterbringung im Falle der Pflegebedürftigkeit. Die Ausführung des Gesetzes und die Festlegung der Leistungen oblag wie zuvor den Sozialbehörden des départements im Rahmen der aide sociale. Allerdings sah das Gesetz einige Mindeststandards und landesweit einheitliche Prozeduren zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit vor. Der Staat griff also stärker als unmittelbar nach der Dezentralisierung in das Leistungssystem ein, zum einen durch die zentrale Festlegung eines Einkommensniveaus für die Feststellung der ökonomischen Bedürftigkeit, zum andern durch ein national einheitliches System der Bewertung unterschiedlicher Grade der Pflegebedürftigkeit (vgl. Martin 1998). Anspruch auf die PSD hatten in Frankreich wohnhafte Personen über 60 Jahre, die als abhängig beziehungsweise pflegebedürftig eingestuft waren und deren Einkommen unterhalb einer festgelegten Grenze lag. Das Einkommen von Angehörigen wurde dabei nicht berücksichtigt, es bestand auch kein direkter Unterhaltsanspruch, wohl aber konnten die Sozialbehörden des départements, in deren Verantwortung die Leistung fiel, nach dem Tod des Leistungsempfängers den eine bestimmte Freigrenze übersteigenden Teil des Erbes einfordern. Das Einkommen des Ehegatten oder Lebenspartners wurde allerdings in die
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Berechnung des Leistungsanspruchs einbezogen. Die Feststellung der ökonomischen Bedürftigkeit wie des tatsächlichen Grades der Abhängigkeit oblag den Sozialbehörden des départements. Zu diesem Zweck wurde ein sechsstufiges nationales System eingeführt, anhand dessen eine medizinisch-soziale Kommission in jedem département den Grad der Abhängigkeit feststellen sollte. Nur die Stufen 1-3 sollten in den Genuss der Leistungen kommen, während die minder schweren Fälle der Stufen 4-6 davon ausgeschlossen waren; dies betraf jedoch die Mehrzahl der Fälle (vgl. DREES 2000e). Zugleich sollten die Kommissionen, in denen Fachkräfte unterschiedlicher Richtung zusammenwirkten, in jedem Einzelfall die passenden Leistungen festlegen. Diese waren also nicht national standardisiert, sondern sollten in jedem Einzelfall in Anlehnung an moderne case management Methoden festgelegt und stetig überprüft und angepasst werden. Dabei hatten die départements im Rahmen der staatlichen Vorgaben nach wie vor großen Gestaltungsspielraum; die familiären Lebensumstände der bedürftigen Personen spielten dabei eine wesentliche Rolle. Die PSD umfasste Geldleistungen zur Unterstützung der häuslichen Pflege, die direkt an den Bedürftigen gezahlt wurden, sowie Mittel zur Finanzierung ambulanter Pflegedienste und von Einrichtungen der stationären Versorgung. Im ersten Fall musste die tatsächliche Leistungserbringung nachgewiesen werden. Der Bedürftige konnte zu diesem Zweck auch Personen aus seinem Familien- oder Bekanntenkreis bezahlen, mit Ausnahme des Ehegatten oder Lebenspartners. Für die ambulanten Dienste wurden bestimmte Stundensätze festgelegt, während stationäre Einrichtungen meist pauschale Leistungen erhalten konnten. Dabei wurden von den départements Obergrenzen eingeführt; es gab außerdem keine nationalen Mindeststandards für die Vergabe von Leistungen. Insgesamt kann also weniger von standardisierten und universalistischen Leistungen denn von residualen und maßgeschneiderten Unterstützungsmaßnahmen gesprochen werden. Die PSD ersetzte die départementalen Leistungen der aide sociale für abhängige ältere Menschen und die ACTP, nicht jedoch die zusätzlichen fakultativen Leistungen der Rentenkassen und die medizinischen Leistungen der Krankenversicherungen wie häusliche medizinische Behandlung und Versorgung. Somit wurde auch mit der PSD kein wirklich integriertes System von Pflegeleistungen geschaffen. Allerdings wurde eine stärkere staatliche Lenkung und Kontrolle des grundsätzlich auf der Ebene der départements verankerten Systems verwirklicht. Die Begrenzung der PSD auf untere Einkommensschichten und höhere Grade von Abhängigkeit hatte rasch zu einer deutlichen Reduktion des Kreises der Anspruchsberechtigten geführt. Die Leistungen wurden auf die schwereren Fälle konzentriert. Diese Entwicklung und die weiterhin großen Variationen zwischen den départements führten zu starker Kritik an der bereits zu Beginn als provisorisch bezeichneten Lösung des Problems der Pflegebedürftigkeit. Bereits vier Jahre nach der landesweiten Einführung der PSD wurde diese durch die seit Januar 2002 gültige APA (allocation personnalisée d’autonomie) ersetzt. Im Vergleich zur PSD konnten von nun an auch die bisher ausgeschlossenen Personen mit Abhängigkeitsgrad 4 innerhalb der sechsstufigen Skala, welche die größte Gruppe insgesamt stellten, in den Genuss von Leistungen kommen. Dies hat den Kreis der Anspruchsberechtigten deutlich erweitert. Außerdem wurden die Einkommensgrenzen gelockert und die Leistungen national stärker vereinheitlicht. Die Unterhaltspflichten von Angehörigen wurden nicht mehr berücksichtigt und der Anspruch der Sozialbehörden auf Kostenerstattung durch eventuelle Erbschaften nach dem Tod des Leistungsempfängers wurde abgeschafft. Die Leistung verblieb somit zwar formell innerhalb des Sozialhilfesys-
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tems und in Verantwortung der départements, entwickelte sich aber de facto relativ stark in Richtung einer den größten Teil der pflegebedürftigen Bevölkerung umfassenden und weitgehend durch nationale Standards geregelten Leistung mit stark universalistischem Charakter. Die ursprünglich angedachte Lösung im Rahmen einer Sozialversicherung nach deutschem Vorbild gehört somit wahrscheinlich endgültig der Vergangenheit an. Nach ersten Schätzungen (vgl. ODAS 2002) dürften im Jahr 2002, dem ersten Jahr, in dem die neue Leistung gewährt wurde, von den rund 500.000 in stationären Einrichtungen lebenden pflegebedürftigen Personen über 60 Jahren etwa 400.000 Anspruch auf die APA haben. Im Fall der stationären Unterbringung kann die Leistung im Rahmen einer Globalzuweisung direkt an die Einrichtung gehen oder in jedem Einzelfall den individuellen Leistungsberechtigten zuerkannt werden. Zu den abhängigen älteren Heimbewohnern kommen die zuhause lebenden, auf Unterstützung angewiesenen Personen hinzu. Da die APA eine teilweise Neubewertung des Abhängigkeitsgrades mit sich bringt, kann diese Zahl zwischen 550.000 und 700.000 Personen liegen, wobei erste Schätzungen von 400.000 Anspruchsberechtigten ausgehen. Somit hätten insgesamt rund 800.000 ältere Menschen im Jahr 2002 Anspruch auf die neue APA. Dies entspräche einer Vervierfachung der Zahl der Leistungsempfänger gegenüber dem alten System, wenn man PSD und die auslaufende ACTP zusammenrechnet. Der Deckungsgrad dieser Leistung, gemessen an der Gesamtzahl der als pflegebedürftig eingestuften Personen, würde somit deutlich ansteigen und ein Niveau von rund zwei Dritteln erreichen. Damit würde ein großer Schritt in Richtung auf eine allgemeine Erfassung des Problems der Pflegebedürftigkeit in Frankreich getan.
Quantitative Entwicklung der Altenhilfe Die Sozialhilfe ist in Frankreich die wichtigste Institution, die für das Problem der Pflegebedürftigkeit älterer Menschen zuständig ist. Die Entwicklung der Ausgaben und Leistungsempfänger in diesem Bereich ist deshalb von zentraler Bedeutung. Überraschend ist, dass trotz einer Zunahme des Problemdrucks die Ausgaben seit Beginn der 1980er Jahre nahezu konstant geblieben sind und die Zahl der Empfänger sogar gesunken ist (siehe Tabelle 38). Sowohl die Zahl der Empfänger stationärer Versorgungsleistungen als auch die Zahl der durch ambulante Haushaltsdienste betreuten Personen ist zurückgegangen. Am stärksten war der Rückgang bei den ambulanten Diensten, also gerade in dem Bereich, in dem die größten Versorgungsengpässe liegen. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass in Frankreich nach wie vor die Krankenkassen für die ambulante medizinische Pflege zuständig sind und nicht die Sozialhilfe (Daten dazu siehe unten). Auch die direkten Geldleistungen an pflegebedürftige und einkommensschwache ältere Menschen liegen weit unter der festgestellten Zahl der Pflegebedürftigen. Im Jahr 1997 wurde die ACTP durch die PSD ersetzt, die bisherigen Empfänger der ACTP konnten diese jedoch übergangsweise weiterhin beziehen. Da die PSD restriktivere Regelungen hatte, nahm die Zahl der Empfänger weiterhin ab. Die PSD erfasste im Gegensatz zur ACTP nur Personen mit höherem Grad von Abhängigkeit (Stufen 1-3 im sechsstufigen nationalen System AGGIR). Nach einer Studie von INSEE betrug die Zahl der abhängigen älteren Menschen in den gravierenden Stufen 1-3 im Jahr 1996 insgesamt ca. 530.000 Personen, in der wenig darunter liegenden Stufe 4 ca. 260.000 Menschen.
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Tabelle 38: Ausgaben und Empfänger in der Altenhilfe, Frankreich 1984-1999 (in Mrd. Francs und 1.000 Personen; gerundet) 1984 1989 1992 1995 1997 1999 Ausgaben insgesamt - Hilfe in Einrichtungen - ambulante Dienste1 - Geldleistungen2
8,7 4,8 1,8 2,1
9,3 4,6 1,5 3,2
11,5 4,9 1,5 5,1
13,1 5,7 1,3 6,1
13,7 6,4 1,2 6,1
11,6 5,7 0,9 5,0
Empfänger - Hilfe in Einrichtungen - ambulante Dienste1 - Geldleistungen2
161 144 86
141 114 122
137 103 168
135 90 195
133 78 198
118 66 180
k.A.: keine Angaben verfügbar. Anmerkungen: 1 Aide ménagère (Haushaltshilfen), 2 Bis 1995: allocation compensatrice pour tierce personne (ACTP), ab 1997: ACTP plus PSD (prestation spécifique dépendance). Quellen : ODAS (Observatoire national de l’action sociale décentralisée): La lettre de l’ODAS, Mai 1998, Ministère de l’Emploi/DREES (Direction de la recherche, des études, de l’évaluation et des statistiques): Etudes et résultats, No. 68, Juin 2000, S. 3, Sanchez, 2000, diverse Tabellen.
Nur ein kleiner Teil der Menschen in den Stufen 1-3 erhält die PSD, Personen, die in Stufe 4 eingeordnet sind, erhalten keine Leistung. Die überwiegende Meinung der französischen Experten auf diesem Gebiet ist, dass die PSD das Ziel, eine Lösung für das Problem der Pflegebedürftigkeit zu liefern, weitgehend verfehlt hat. Unterscheidet man die Leistungen der Sozialhilfe für ältere Menschen danach, ob sie zur Unterstützung der stationären Versorgung oder der häuslichen Pflege aufgewendet werden, ergibt sich folgendes Bild (siehe Tabellen 39 und 40). Seit 1984 stark angestiegen ist die Zahl der älteren Menschen, welche die allocation compensatrice bezog, die allerdings 1997 durch die an restriktivere Bedingungen geknüpfte PSD ersetzt wurde. Die ACTP wurde ursprünglich 1975 als Leistung für behinderte Menschen mit einem Invaliditätsgrad von mindestens 80% eingeführt (siehe unten), die für die Bewältigung des Alltagslebens auf regelmäßige Hilfe einer dritten Person angewiesen waren. Die Zahl der PSDEmpfänger blieb stets weit unter derjenigen der ACTP. Die Geldleistungen haben also bis in die Mitte der 1990er Jahre hinein zu- und dann stark abgenommen. Über die letzten beiden Jahrzehnte kontinuierlich abgenommen haben hingegen die direkten Leistungen sowohl im stationären als auch, besonders stark, im ambulanten Bereich. In der Summe jedoch und unter Berücksichtigung der Geldleistungen, die sowohl für stationäre als auch für ambulante Leistungen verwendet werden können, überwiegt immer noch die Zahl der Menschen, die in ihrer häuslichen Umgebung unterstützt werden. Der Abstand zu den stationär untergebrachten Empfängern der Sozialhilfe schrumpft jedoch, ein weiteres klares Indiz für die wachsende Konzentration der Altenhilfe auf schwerere Fälle. Die alle Bereiche, besonders aber die ambulanten Dienste und die direkten Geldleistungen betreffenden Einschränkungen der Altenhilfe in Frankreich zeigen deutlich die Grenzen einer auf dem Prinzip der Sozialhilfe und einer weitgehenden Dezentralisierung aufbauenden Strategie. Zwar zeigen Studien, dass die Unterschiede in der Versorgung zwischen den
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départements nicht gewachsen sind, wie man hätte annehmen können, dass aber das Versorgungsniveau insgesamt zu gering ist. Ganz offenkundig hat sich die Altenhilfe in allen Bereichen auf die schwereren Fälle und höheren Grade von Bedürftigkeit konzentriert. Erst die 2002 eingeführte APA, welche die PSD ersetzt, wird eine wesentliche Ausdehnung der Leistungen bewirken. Tabelle 39: Empfänger von Sozialhilfe für ältere Menschen nach Unterbringung, Frankreich 1984-1999 (in 1.000; gerundet; France metropolitaine) 1984 1987 1989 1992 1995 1997 1999 In Einrichtungen Im häuslichen Bereich
178 213
163 195
165 212
170 237
174 246
178 236
185 183
Quellen: Sanchez, 2000, S. XXXIV, ODAS (Observatoire national de l’action sociale décentralisée): La lettre de L’ODAS, Mai 1998, Avril 2000 et Septembre 2002.
Tabelle 40: Empfänger von Sozialhilfe für ältere Menschen nach Leistungsart und Unterbringung, Frankreich 1984-1999 (in 1.000; gerundet; France metropolitaine) 1984
1989
1992
1995
1997
1999
Häuslicher Bereich - ambulante Dienste1 - ACTP2 - PSD3
144,0 114,0 103,0 87,0 75,4 69,0 98,0 166,5 200,0 174,9 - 10,0
66,6 62,6 60,9
Stationär - in Einrichtung - in Pflegefamilie - PSD4
161,0 144,0 133,5 133,3 126,1 121,1 k.A. k.A. 0,4 0,7 0,7 0,9 - 13,0 56,2
k.A.: keine Angaben verfügbar. Anmerkungen: 1 Aide ménagère (Haushaltshilfen), 2 Allocation compensatrice pour tierce personne für Menschen über 60 Jahren, 3 Prestation spécifique dépendance (seit 1997), 4 Prestation spécifique dépendance (seit 1997) für Heimbewohner. Quellen: Ministère de l’Emploi et de la Solidarité nationale DREES, 2001: Données sur la situation sanitaire et sociale de la France en 2000 (für Daten 1992-1999), ODAS (Observatoire national de l’action sociale décentralisée): La lettre de l’ODAS, Avril 2000 (für Daten 1984 und 1989).
Wie oben erläutert, beruht die Infrastruktur sozialer Dienste in Frankreich jedoch keineswegs allein auf der aide sociale. Die Mehrzahl der Dienste wird außerhalb dieses System erbracht, allerdings nur zum Teil öffentlich finanziert. Einen Großteil der Kosten müssen die Leistungsempfänger in diesem Bereich selbst tragen. Zunächst soll der stationäre Bereich, sodann der ambulante Sektor betrachtet werden.
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In den 1960er Jahren wurde der stationäre Sektor ganz überwiegend durch öffentliche Heime, Hospize und Altenheime geprägt, die häufig an die öffentlichen Hospitäler angeschlossen waren. 1962 gab es in Frankreich 948 öffentliche Heime und Hospize (hospices et maisons de retraite) mit zusammen rund 172.000 Plätzen für ältere, pflegebedürftige oder unheilbar kranke Menschen. 1950 hatte die Zahl der Plätze noch bei rund 102.000, 1955 bei 130.000 gelegen. Innerhalb eines Jahrzehnts war das Angebot somit um rund 70% angestiegen. Der private Sektor bot im selben Jahr (1962) rund 67.000 Plätze in 270 Einrichtungen an. Das Verhältnis von öffentlichem zu privatem (freiem und kommerziellem) Sektor betrug also beinahe 3:1. Bis zur Mitte der 1960er Jahre stieg das Angebot des öffentlichen Sektors weiter an und erreichte 1965 fast 200.000 Plätze. Zählt man dazu die in den öffentlichen Hospitälern bereitgestellten Plätze für die Langzeitpflege älterer Menschen, ergibt sich für Mitte der 1960er Jahre eine Zahl von rund 270.000 (Ministère des Affaires Sociales: Annuaire des Statistiques Sanitaires et Sociales, verschiedene Jahre). Im Vergleich dazu nahm sich das Angebot an betreuten Wohnformen (logement-foyers und foyers-restaurants) zu dieser Zeit bescheiden aus. Insgesamt 39.000 Plätze waren 1962/1963 diesem Bereich zuzurechnen. Von den insgesamt 717 Einrichtungen wurden rund 60% von kommunalen und 30% von freien Trägern (associations, fondations, congrégations) betrieben. Auch in diesem Sektor überwog also das öffentliche Angebot deutlich. Betrachtet man die in privater Trägerschaft befindlichen Heime und Hospize, die nur etwa ein Viertel des Gesamtangebots ausmachten, im Hinblick auf den Typ des Trägers, stellt man ein deutliches Übergewicht des assoziativen Sektors fest. Der Anteil der kommerziellen Heimplätze betrug 1963 unter einem Prozent, die große Mehrzahl der Einrichtungen wurde von gemeinnützigen associations nach dem Gesetz von 1901 gestellt. Im Jahr 1975 gab 360.000 Plätze in den stationären Einrichtungen der Altenhilfe (siehe Tabelle 41). Noch zur Mitte der 1970er Jahre stellten die öffentlichen Krankenhäuser mit ihren Hospizeinrichtungen 45% aller Plätze in der stationären Altenhilfe, die somit weiterhin stark durch die öffentlichen Einrichtungen des Gesundheitswesens geprägt war. Tabelle 41: Stationäre Einrichtungen für alte Menschen, Frankreich 1975 (Plätze nach Trägern) Öffentliche Hospize und Altenheime Hospize an öffentlichen Krankenhäusern Private Altenheime Insgesamt
Zahl der Plätze (1975) 96.600 161.600 102.000 360.200
Quelle: Ministère des Affaires Sociales: Annuaire des Statistiques Sanitaires et Sociales, 1977.
Die funktionale Differenzierung der Altenhilfe aus dem Gesundheitsbereich war zwar im Gange, aber keineswegs abgeschlossen. Ebenso stellten alle öffentlichen Träger trotz der überproportionalen Zunahme privater Einrichtungen damals noch mehr als 70% der Plätze. Eine deutlichere Verschiebung der Angebotsstruktur bei gleichzeitig beschleunigtem Ausbau der Gesamtkapazität lässt sich erst für die 1980er Jahre feststellen (Tabelle 42).
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Tabelle 42: Stationäre Altenhilfeeinrichtungen nach Sektor und Träger, Frankreich 19871991 (Zahl der Plätze) Wohnsektor1 insgesamt - Öffentliche Hospitäler - Öffentliche Hospize und Altenheime - Private Hospize und Altenheime - Betreutes Wohnen2 - Andere Pflegesektor3 insgesamt - Öffentliche Hospitäler - Private Einrichtungen - Andere Insgesamt Wohnen und Pflege
1987 451.800 114.500 99.100 109.800 120.700 7.700 59.700 53.400 3.400 2.900 511.500
1991 500.700 107.400 102.700 139.800 142.100 8.700 68.900 63.700 4.800 400 569.600
Anmerkungen: 1 Hébergement, 2 Logements-foyers (öffentlich und privat), 3 Long séjour. Quelle: Ministère des Affaires Sociales: Annuaire des Statistiques Sanitaires et Sociales, 1993/1994: S. 185.
Die Zahl der Plätze in den stationären Einrichtungen der Altenhilfe war von rund 360.000 im Jahr 1975 auf 570.000 im Jahr 1991 angestiegen. Das entspricht einem Wachstum von knapp 60% innerhalb von 15 Jahren. Das höchste Wachstum lag Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre. Von 1975 bis 1987 stieg die Zahl der Plätze um mehr als 150.000, bis 1991 dann nur noch um 58.000. Neben diesem globalen Ausbau der stationären Altenhilfe ist vor allem eine Differenzierung der Einrichtungsarten festzustellen. Zum einen wurde der Sektor „Wohnen“ stärker vom Sektor „Pflege getrennt, zum andern wuchs vor allem das Angebot privater Träger und die neue Form des betreuten Wohnens. Dennoch wurde die Struktur der stationären Altenhilfe in Frankreich auch noch zu Beginn der 1990er Jahre überwiegend durch den Sektor „Wohnen“ und die Dominanz öffentlicher Einrichtungen geprägt. Von den insgesamt rund 570.000 Plätzen sind allein 500.000 dem Sektor Wohnen zuzurechnen. Davon wiederum befanden sich 210.000 Plätze in öffentlichen und rund 140.000 in privaten Heimen und Hospitälern. Der private Sektor hatte damit jedoch gegenüber dem Stand von Mitte der 1970er Jahre deutlich aufgeholt. Bemerkenswert ist vor allem der Anstieg der neuen Form des betreuten Wohnens. Sie stellte mit rund 142.000 Plätzen im Jahr 1991 bereits mehr als ein Viertel des Angebots im Sektor „Wohnen“. Im Sektor „Pflege“ dominierten zu Beginn der 1990er Jahre ganz stark die öffentlichen Krankenhäuser; sie stellten mehr als 90% der Pflegeplätze. Während somit der Sektor „Wohnen“ zunehmend eine eigenständige Gestalt angenommen hat, blieb der Pflegebereich integraler Bestandteil des staatlichen Gesundheitswesens. Soziale Pflegedienste hatten sich noch zu Beginn der 1990er Jahre nicht als eigenständiger Bereich etablieren können; sie blieben vielmehr der Logik des öffentlichen Gesundheitswesens verhaftet. Im Jahr 1997 gab es in Frankreich (ohne Überseegebiete) insgesamt 644.000 Plätze für die stationäre Unterbringung älterer Menschen (siehe Tabelle 43). Das war ca. ein Viertel mehr als 10 Jahre zuvor. Das Wachstum war am markantesten zwischen 1988 und 1990, danach war der Anstieg geringer. Der Versorgungsgrad erreichte somit im Jahr 1997 169
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Plätze für 1.000 Personen über 75 Jahre. Die meisten der stationär untergebrachten älteren Menschen weisen einen höheren Grad der Abhängigkeit auf, doch lebt die Mehrzahl der abhängigen Personen in privaten Haushalten (vgl. Breuil-Genier 1999). Der Anteil der stationär versorgten älteren Menschen steigt jedoch mit dem Alter steil an. Tabelle 43: Stationäre Versorgung älterer Menschen: Zahl der Plätze nach Einrichtungsart, Frankreich 1990-1996 (in 1.000; gerundet; France metropolitaine) Hébergement insgesamt - Heime (öffentliche Trägerschaft) - Heime (private Trägerschaft) - betreutes Wohnen1 - andere Einrichtungen2 Hospitalisation3 insgesamt - Öffentliche Krankenhäuser - Private Einrichtungen Insgesamt
1990 500,0 210,2 139,8 142,2 7,8 68,5 63,7 4,8 568,5
1994 549,7 212,9 179,6 153,0 4,2 77,9 71,8 6,1 627,6
1996 563,4 213,6 190,9 155,4 3,5 80,7 74,1 6,6 644,1
Anmerkungen: 1 Logements-foyer, 2 In privater Trägerschaft, 3 Hospitalisation en services de soins de longue durée (Plätze in Pflegeheimen und Pflegeabteilungen). Quellen: Ministère de l’Emploi /DREES, 2001: Données sur la situation sanitaire et sociale de la France en 2000, Ministère des Affaires Sociales, 2001: Annuaire des statistiques sanitaires 2000.
Tabelle 44: Stationäre Versorgung älterer Menschen: Zahl der Plätze insgesamt und in medizinischen Abteilungen nach Einrichtungsart, Sektor Hébergement, Frankreich 1995 (in 1.000; gerundet; France metropolitaine) Plätze insgesamt
Plätze in medizinischen Abteilungen
Hospizabteilungen öffentlicher Krankenhäuser1 Altenheime in öffentlicher Trägerschaft Altenheime in freier Trägerschaft2 Kommerzielle Altenheime Betreutes Wohnen Andere
98,6 116,2 119,6 72,3 155,7 3,5
48,0 49,4 30,6 3,6 5,2 -
Insgesamt
565,9
Hébergement
1
136,8 2
Anmerkungen: Sections hospice-maisons de retraite des hôpitaux publics, Etablissements privées à but non lucratif. Quellen: Ministère de l’Emploi et de la Solidarité nationale DREES, 2001: Données sur la situation sanitaire et sociale de la France en 2000 (für Daten 1992-1999), ODAS (Observatoire national de l’action sociale décentralisée): La lettre de l’ODAS, Avril 2000 (für Daten 1984 und 1989).
Die Ergebnisse einer repräsentativen Studie des Statistischen Amtes von 1998 (Enquête Handicap-Incapacité-Dépendance 1998) zeigen, dass weniger als 5% der unter 80jährigen Männer und Frauen in stationären Einrichtungen leben, danach steigt der Anteil jedoch steil
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an und die Schere zwischen den Geschlechtern öffnet sich. In der Altersgruppe von 85-89 sind bereits über 10% der Männer, aber mehr als 20% der Frauen stationär untergebracht, in der Altersgruppe von 90-94 entsprechend ca. 20 und 40%. Da der Anteil der Frauen aufgrund der höheren Lebenserwartung mit jeder Altersgruppe steigt, ist die Mehrzahl der Heimbewohner weiblich, ein Grossteil davon hochbetagt (vgl. DREES 2000g). Rund ein Achtel der stationären Versorgungsplätze wurde in Einrichtungen des Gesundheitswesens mit Langzeitpflege angeboten, zumeist in öffentlichen Krankenhäusern. Der Großteil der Plätze wurde im sozialen Sektor angeboten, wobei viele dieser Einrichtungen über entsprechende Abteilungen der Langzeitpflege und medizinischen Versorgung verfügen. Etwa ein Viertel der älteren Menschen, die in den stationären Einrichtungen des sozialen Sektors untergebracht sind, befinden sich in medizinisch-pflegerischen Abteilungen. Wie im Gesundheitswesen dominieren auch hier die öffentlichen Einrichtungen. Öffentliche Altenheime und Hospize bieten rund ein Drittel aller Plätze der stationären Unterbringung älterer Menschen an. Doch hat ihre Kapazität seit Mitte der 1980er Jahre praktisch nicht mehr zugenommen, während die Zahl der Plätze in privaten Altenheimen deutlich angestiegen ist. Insbesondere der kommerzielle Sektor konnte seinen Anteil ausbauen und stellt inzwischen ein Fünftel aller Altenheimplätze. Dennoch liegt dieser Anteil immer noch unter dem Angebot der freien gemeinnützigen Träger, die nach den öffentlichen Trägern den größten Versorgungsanteil im stationären Bereich stellen. Einen wachsenden Anteil stellen auch die Einrichtungen des betreuten Wohnens, die keinen Heimcharakter haben, aber über einige notwendige soziale Dienste für ältere Personen verfügen. In solchen Einrichtungen gab es Mitte der 1990er Jahre rund 150.000 Plätze, dies entspricht einem guten Viertel des Gesamtangebots. Die Mehrzahl dieser neuen Formen ist ebenfalls in öffentlicher Trägerschaft, allerdings werden rund 40% auf privater Basis angeboten. Die öffentlichen Einrichtungen verfügen im Durchschnitt über eine höhere Aufnahmekapazität (siehe Tabelle 45). Wie bereits oben ausgeführt, werden die Einrichtungen der stationären Versorgung aus unterschiedlichen Quellen finanziert. Die medizinischen Pflegeleitungen werden bis auf wenige Ausnahmen von der Krankenversicherung getragen, die Unterkunftskosten und sonstige soziale Dienstleistungen müssen von den Klienten selbst im Rahmen ihrer Möglichkeiten gedeckt werden. Im Falle der Bedürftigkeit tritt die Sozialhilfe nachrangig ein. Für pflegebedürftige ältere Menschen gibt es wie oben dargestellt besondere Leistungen der départementalen aide sociale, die jedoch ebenfalls an den Nachweis von Bedürftigkeit gebunden sind und zudem eine Überprüfung des individuellen Grades der persönlichen Abhängigkeit erfordern. Im Jahr 2002 erbrachte die Enquête Handicaps-incapacités-dépendance einen weiteren moderaten Anstieg der Plätze in der stationären Altenhilfe im Vergleich zur Mitte der 1990er Jahre. Die Altenwohnheime (hospices et maisons de retraite) stellten mit 6.500 von 10.600 Einrichtungen auch das Gros der Plätze: 430.000 von insgesamt 675.000. An zweiter Stelle rangierten die Einrichtungen des betreuten Wohnens (logements-foyers) mit rund 3.000 Institutionen und 160.000 Plätzen. Die zumeist an Krankenhäusern angesiedelten Pflegeeinrichtungen (unités de soins de longue durée) erreichten eine Zahl von 1.100 mit insgesamt 85.000 Plätzen (vgl. DREES 2003). 60% aller Plätze waren in öffentlicher, 40% in privater Trägerschaft, allerdings mit regionalen Variationen. Dennoch konnte der Anstieg nicht mit dem Wachstum der Altenpopulation Schritt halten. Die Versorgungsquote sank von 16,6% der Bevölkerung über 75 Jahren im Jahr 1996 auf 15,2% im Jahr 2002.
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Tabelle 45: Einrichtungen und Plätze der stationären Altenhilfe, Frankreich 1995/1996 (N; 1.000) Sektor Hébergement insgesamt (1995) - Hospizabteilungen öffentlicher Krankenhäuser1 - Altenheime in öffentlicher Trägerschaft - Altenheime in freier Trägerschaft2 - Kommerzielle Altenheime - Betreutes Wohnen - Andere Sektor Hospitalisation3 insgesamt (1996) - Öffentliche Krankenhäuser - Private Einrichtungen
Einrichtungen (N) 9254 1106 1549 1984 1505 2940 170
Plätze (in 1.000) 565,9 98,6 116,2 119,6 72,3 155,7 3,5
973 853 120
80,7 74,1 6,6
10227
Insgesamt 1
646,6 2
Anmerkungen: Sections hospice-maisons de retraite des hôpitaux publics, Etablissements privées à but non lucratif, 3 Hospitalisation en services de soins de longue durée (Plätze in Pflegeheimen und Pflegeabteilungen). Quellen: Ministère de l’Emploi et de la Solidarité nationale/DREES, 2001: Données sur la situation sanitaire et sociale de la France en 2000, Ministère des Affaires Sociales, 2001: Annuaire des statistiques sanitaires et sociales 2000.
Ambulante Dienste Im ambulanten Bereich kann man zwischen medizinisch-hygienischen Pflegediensten (soins à domicile) und Haushaltshilfen (aide ménagère) unterscheiden. Diese Dienste sind seit Mitte der 1970er Jahre stark expandiert (vgl. DREES 1999b, 2000f). Zu den Klienten zählen nicht nur, aber überwiegend ältere Menschen. Vor allem die Haushaltshilfen sind auf diese Gruppe konzentriert, während die häusliche Krankenhilfe auch einen wichtigen Beitrag für die medizinische Akutversorgung leistet und nicht ausschließlich in der Langzeitpflege aktiv ist. Die Haushaltshilfen bieten die weniger professionalisierten und intensiven sozialen Dienste an, ihr Wirkungskreis ist dementsprechend größer als derjenige der intensiven häuslichen Pflege, die sich auf schwerere Fälle konzentriert (Tabelle 46). So hatte sich die Zahl der Klienten der Haushaltshilfedienste von 1981 bis 1991 um rund 50% erhöht, die Zahl der geleisteten Stunden erhöhte sich aber nur um rund 25%. Es wurden also mehr Menschen erreicht, aber die durchschnittliche Intensität der sozialen Dienste sank. 1991 erhielten über 300.000 Menschen, zumeist über 60 Jahre alt, Haushaltshilfedienste. Rund die Hälfte der Kosten für diese Dienste wurde von den verschiedenen Rentenkassen getragen, weitere 30% steuerten die Sozialhilfebehörden der départements bei. Somit verblieben bei den Klienten maximal 20% der Gesamtkosten für diese Dienste, allerdings variierten die Kosten im Einzelfall erheblich. Auch die häusliche Krankenpflege wurde in den 1980er Jahren ausgebaut. Die Krankenkassen sind der Hauptfinanzier der häuslichen Krankenpflege.
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Tabelle 46: Ambulante Dienste, Frankreich 1981-1990 Haushaltshilfen1 Klienten (1.000) Stunden (Millionen) Häusliche Krankenpflege2 Plätze/Kapazität (1.000)
1981 1985 1991 211 261 307 25,3 28,6 31,1 k.A.
26,5
43,9
k.A.: keine Angaben verfügbar. Anmerkungen: 1 Services d’aide ménagère, 2 Soins à domicile. Quelle: Ministère des Affaires Sociales: Annuaire des Statistiques Sanitaires et Sociales, 1993/1994 : S. 190 und 191.
Während die Krankenpflegedienste weiter expandierten, trat bei den Haushaltshilfen in den 1990er Jahren eine Stagnation ein; nach 1995 ist sogar ein Rückgang der Zahl der Empfänger zu beobachten (siehe Tabelle 47). Tabelle 47: Ambulante Dienste, Zahl der Empfänger (in 1.000), Frankreich 1980-1996 1980/81 1985 1990 1993 1996 Haushaltshilfen1 Empfänger insgesamt (in 1.000) - im Auftrag der Rentenversicherung - im Auftrag der départements Stunden (in Millionen)2 Pflegedienste3 Zahl der Dienste (N) Plätze (in 1.000)
291 211 80 k.A. 95 3,5
391 261 130 28,6
411 301 110 29,7
422 322 100 33,0
k.A. 319 k.A. 35,5
713 1132 1400 1477 26,6 42,0 51,8 56,1
Anmerkungen: k.A.: keine Angaben verfügbar 1 Aide ménagère, 2 Nur Dienste im Auftrag der Rentenversicherung, 3 Services de soins à domicile im Autrag der Krankenversicherung. Quellen: Ministère des Affaires Sociales, 2001: Annuaire des statistiques sanitaires et sociales 2000. Lebeaupin o.J., S. 476.
Allerdings hat die Zahl der geleisteten Stunden nicht abgenommen, ein Indiz dafür, dass sich diese Dienste stärker auf die hilfebedürftigeren Fälle konzentriert haben. Dies entspricht der allgemeinen Entwicklung im System der Sozialhilfe für ältere Menschen in dieser Periode. Ungebrochen ist dagegen der Ausbau der medizinischen Pflegedienste und der ambulanten medizinischen Versorgung im häuslichen Bereich. So gab es im Jahr 1980 in ganz Frankreich erst 55 solcher Dienste, bis 1997 war die Zahl auf mehr als 1.500 Dienste mit einem Angebot von mehr als 55.000 Vollzeitplätzen gestiegen. Diese Expansion folgt dem Trend, dass ältere Menschen immer länger zuhause wohnen bleiben, auch wenn der Grad ihrer Abhängigkeit von persönlichen Dienstleistungen steigt. Der Anteil derer, die stationär versorgt werden, steigt jedoch mit dem Alter steil an. Die meisten Empfänger häuslicher Dienste sind pflegebedürftig. Über ein Viertel ist bettlägerig, mehr als zwei Drittel benötigen Hilfe beim Waschen und Anziehen. Zwei Drittel der Hilfeempfänger sind
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in die drei schwereren Abhängigkeitsgrade 1-3 auf der nationalen sechsstufigen Skala AGGIR eingeteilt, weitere rund 30% gehören zum nächst niederen Grad 4. Die weit überwiegende Zahl der Hilfeempfänger ist über 75 Jahre alt, ein Drittel ist zwischen 75 und 84 Jahre alt. Nahezu die Hälfte aller Empfänger ist sogar über 85 Jahre alt. Diese Altersverteilung ist bei Frauen noch stärker ausgeprägt als bei Männern; Männer erhalten bereits in jüngeren Jahren häusliche Pflege- und Haushaltdienstleistungen (vgl. Conseil Économique et Social 1998). In Bezug auf die Anbieter ambulanter Pflegedienste (soins à domicile) für ältere Menschen ergibt sich ein komplexes Bild. Wie im stationären Bereich begegnet man einer Vielfalt von Anbietern, doch dominiert hier nicht der öffentliche, sondern der private, nichtkommerzielle Sektor (siehe Tabelle 48). Tabelle 48: Ambulante Pflegedienste nach Trägerschaft, Frankreich 1996 (in %) Trägerschaft Öffentliche Krankenanstalten Kommunen1 Öffentliche soziale Einrichtungen Öffentliche Träger insgesamt Sozialversicherungsträger, mutuelles2 und Gewerkschaften Vereine, Stiftungen, Ordensgemeinschaften Private insgesamt Insgesamt (N)
Dienste 12 14 7 33 7 60 67 1547
Plätze 9 15 6 30 9 61 70 56.650
Anmerkungen: 1 Kommunen, Centres communaux d’action sociale (CCAS) und andere öffentliche, lokale Träger, 2 Versicherung auf Gegenseitigkeit mit privatem Rechtscharakter. Quelle: Ministère de l’Emploi et de la Solidarité nationale/DREES, 2001: Données sur la situation sanitaire et sociale de la France en 2000.
Rund zwei Drittel der angebotenen Dienste (umgerechnet in Vollzeitplätzen) werden von freien Trägern wie Vereinen, Stiftungen und religiösen Organisationen (congrégations) erbracht. Eine Rolle spielen auch die in Frankreich dem nicht-staatlichen Sektor zugeordneten Dienste der Sozialversicherungskassen, die hier stark auf territorialer Ebene verankert sind, und die mutuelles, freiwillige Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit, die vor allem im Gesundheitswesen eine wichtige, historisch weit zurückreichende Rolle spielen. Weniger als ein Drittel des Angebots entfällt auf öffentliche Einrichtungen. Die größte Rolle spielen hierbei die kommunalen CCAS (centres communaux d’action sociale), gefolgt von den öffentlichen Krankenhäusern. Die ambulanten Dienste wachsen insgesamt stark, besonders im gemeinnützigen Sektor, aber auch im staatlichen Bereich. Der kommerzielle Sektor spielte bis Mitte der 1990er Jahre praktisch keine Rolle, weil dieser Bereich erst seit dieser Zeit für gewinnorientierte Unternehmen geöffnet wurde. Die Pflegekräfte sind in starkem Maße professionalisiert. Die Leistungen werden zu 100% von der Krankenversicherung finanziert (vgl. DREES 2004a). Im Gegensatz zu den häuslichen Pflegediensten haben die Haushaltshilfen (aide ménagère) nicht zugenommen. Insbesondere der von der Sozialhilfe finanzierte Teil hat seit Mitte der 1980er Jahre abgenommen, während der von der Rentenversicherung getragene
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Teil dieser Dienste, der überwiegt, leicht angestiegen ist. Mitte der 1990er Jahre wurden über 40% der geleisteten Stunden an Haushaltshilfen von den Rentenkassen finanziert, etwas weniger als ein Drittel von der Sozialhilfe der départements und der Rest von den Klienten selbst (siehe Tabelle 49). Tabelle 49: Angebot und Finanzierung ambulanter Dienste, Frankreich 1993 Empfänger (1.000) Haushaltshilfen1 Pflegedienste2 Familienpflegerin3
422 524 130
Finanzierung (in %) Sozialversicherung Départements und Kommunen5 766 24 100 727 28
Anmerkungen: 1 Services d’aide ménagère, 2 Servcies de soins à domicile, 3 Travailleuses familiales, Zahl der Plätze, 5 Einschließlich diverse andere mit jeweils unter 2%, 6 Rentenversicherer, 7 Krankenversicherung. Quellen: Ministère des Affaires Sociales: Annuaire des Statistiques Sanitaires et Sociales, 2000 : S. 289 ; Lebeaupin: S. 476.
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Die Haushaltshilfen werden fast ausschließlich zugunsten älterer Menschen erbracht. Am meisten profitieren alleinstehende ältere Menschen. Doch sind im Gegensatz zu den medizinisch-pflegerischen Diensten nur rund 15% der Leistungsempfänger schwer pflegebedürftig. Im Durchschnitt werden pro Klient ca. 4 Wochenstunden an Haushaltshilfen erbracht. Dies entspricht 2-3 Besuchen pro Woche. Die Leistungserbringer sind zum größten Teil öffentliche und freie Anbieter. Bei den öffentlichen Anbietern überwiegen die CCAS, doch insgesamt stellen die freien Träger, die zumeist in Form von Vereinen organisiert sind, mehr als 60% der geleisteten Stunden in diesem Bereich. Wie im Fall der ambulanten Pflegedienste überwiegt also auch im Angebot an Haushaltshilfen eindeutig der gemeinnützige Sektor, gefolgt von den kommunalen öffentlichen Angeboten. Dieser „Gleichklang“ zwischen den beiden Sektoren Pflegedienste und Haushaltshilfen ist auch darauf zurückzuführen, dass die Mehrzahl der freien Organisationen beide Dienste zugleich anbietet. Trotz der unterschiedlichen Finanzierung und institutionellen Zuordnung dieser beiden Dienstleistungsformen werden sie in der Praxis häufig von ein und demselben Anbieter erbracht. Mehr als 60% der freien Träger, die Pflegedienste erbringen, bieten auch Haushaltshilfen an. Im Jahr 1999 waren rund 1,2 Millionen Personen im Alter von über 60 Jahren Klienten eines häuslichen Dienstes. Die rund 7.000 Dienste und Einrichtungen versorgten darüber hinaus rund 200.000 Personen unter 60 Jahren. Von den Haushalten mit einem Mitglied über 65 Jahren bezog mehr als jeder dritte Hilfe und Unterstützung durch einen ambulanten Dienst (vgl. DREES 1999c). Den größten Anteil stellten dabei die ambulanten Pflegedienste. Von den rund 2,2 Millionen Haushalten mit einem pflegebedürftigen Angehörigen bezogen 870.000 mindestens einmal pro Woche Hilfe durch einen ambulanten Dienst. Neben diesen zwei traditionellen Formen häuslicher Dienstleistungen haben sich in den letzten Jahren vielfältige neue Formen und Angebote entwickelt, darunter vor allem Kurzzeitbetreuung (garde à domicile), Essen-auf-Rädern und andere mobile Dienste. Der Groß-
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teil dieser Dienste wird von gemeinnützigen Organisationen erbracht und durch die Sozialfonds verschiedener öffentlicher Einrichtungen im Rahmen der fakultativen action sociale finanziert. Die Klienten müssen einen individuellen Eigenanteil leisten. Über diesen Bereich liegen jedoch kaum Daten vor. Die Unterbringung und Versorgung älterer, pflegebedürftiger und behinderter Menschen bei Pflegefamilien hat in Frankreich eine lange Tradition, spielt aber heute nur noch eine untergeordnete quantitative Rolle. Lange Zeit gab es für die Familienpflegschaft (accueil familial) keine klaren Richtlinien. Erst mit einem Gesetz von 1989 wurden für diese Art der Dienstleistungsversorgung nationale Regelungen erlassen, die von den dafür zuständigen Behörden des départements anzuwenden sind. Die Familienpflegschaft betrifft Personen, die hilfsbedürftige ältere oder behinderte Menschen in ihren Haushalt aufnehmen und versorgen. Es darf keine verwandtschaftliche Beziehung vorliegen. Diese Personen müssen seit 1989 eine amtliche Zulassung besitzen, die von den départementalen Sozialbehörden erteilt wird. Dabei sind Qualitätsstandards und Kontrollen, zum Beispiel hinsichtlich der Unterbringung vorgesehen, um einem Missbrauch der Pflegschafsbeziehung vorzubeugen. Es dürfen außerdem von jeder Pflegeperson maximal zwei, in Ausnahmefällen bis zu drei Hilfebedürftige aufgenommen werden. Es muss zu diesem Zweck ein Vertrag zwischen der aufnehmenden und der zu betreuenden Person geschlossen werden. Die Pflegepersonen erhalten eine Mindestvergütung und sind sozial abgesichert. Die Sozialhilfe unterstützt dieses Arrangement mit finanziellen Zuschüssen. Quantitativ spielt die Familienpflegschaft ähnlich wie in der Kinderhilfe nur noch eine geringe Rolle. Im Jahr 1997 waren insgesamt 12.000 Menschen auf diese Weise in häuslicher Pflege untergebracht, mehr als die Hälfte davon waren Behinderte. 9.000 Personen waren von den Sozialbehörden als Pflegepersonen anerkannt, mehr als die Hälfte davon waren Frauen über 50 Jahren.
Soziale Dienste für Behinderte Die Behindertenhilfe ist in stärkerem Maße als die Altenhilfe durch das Angebot freier gemeinnütziger Träger bestimmt. Während in der Altenhilfe nur der ambulante Sektor durch freie Träger dominiert wird, der stationäre hingegen durch öffentliche Angebote, sind die Einrichtungen und Dienste in der Behindertenhilfe in beiden Sektoren fest in der Hand nicht-kommerzieller und nicht-öffentlicher Anbieter. Rund 90% der Behindertenheime und mehr als 85% der beschützenden Werkstätten werden von freien Trägern betrieben. Die ambulanten Dienste liegen fast ausschließlich in ihrer Verantwortung. Die Behindertenhilfe war in Frankreich traditionell das klassische Betätigungsfeld der freien, gemeinnützigen Organisationen (vgl. Archambault 1996). Der Anteil kommerzieller Anbieter ist hier verschwindend gering, öffentliche Träger bilden zusammen kaum 10% des Gesamtangebots. Von großer Bedeutung sind in diesem Sektor Behindertenverbände, die zu einer frühen Institutionalisierung eines gemeinnützigen Systems wesentlich beigetragen haben. Insbesondere die in Frankreich traditionell stark organisierten Familienverbände und hier speziell die Vereinigungen von Eltern behinderter Kinder haben dabei eine zentrale Rolle gespielt. Dienste und Einrichtungen für behinderte Kinder blicken im Vergleich zu Leistungen für erwachsene Behinderte auf eine längere Geschichte zurück. Die Mehrzahl der Einrichtungen und Dienste für Kinder entstand auf Initiative lokaler Elternvereinigungen in den
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1950er und 1960er Jahren, unterstützt von den Familienkassen. Diese Vereinigungen schlossen sich in regionalen und nationalen Verbänden zusammen (vgl. DREES (Hrsg.): Études et Résultats No. 58, 2000: S. 2; Archambault 1996) und übernahmen außerdem eine wichtige Rolle in der Umsetzung und Mitverwaltung dieser Politik. Das System war bereits zu Beginn der 1970er Jahre hoch entwickelt. Im Vergleich dazu begann die Zahl der Plätze für erwachsene Behinderte erst seit Anfang der 1970er Jahre in nennenswertem Umfang zu wachsen (vgl. DREES (Hrsg.): Études et Résultats No. 58, 2000: S. 6). Doch nicht nur die sozialen Dienste für behinderte Kinder und Erwachsene zählen seit mehr als 25 Jahren zum Kernbestand der französischen Sozialpolitik, auch die Geldleistungen für behinderte Kinder gehörten von Anfang an zum Kern der Familienpolitik. Trotz eines voluntaristischen Einschlags hat das französische System der Behindertenhilfe einen viel stärker universalistischen Charakter als die Altenhilfe und ist eng an das Prinzip der nationalen Solidarität gekoppelt. In besonderem Maße gilt dies für die vielfältigen Leistungen und Dienste für behinderte Kinder. Die kostenlose Versorgung mit Bildungs- und Ausbildungsangeboten für behinderte Kinder, einschließlich unterstützender medizinisch-sozialer Dienste, ist eng mit dem Grundprinzip des universalistisch geprägten staatlichen Bildungssystems verbunden. Gerade die Behindertenhilfe für Kinder ist also zweifach im französischen Sozialsystem verankert und kann somit keineswegs als residualer Bereich betrachtet werden. Anfang des neuen Jahrtausends ist die Behindertenhilfe in Frankreich mehr denn je durch eine Vielfalt von Angeboten gekennzeichnet. Zugleich jedoch unterliegt dieser Bereich einem hohen Maß an staatlicher Sicherung sozialer Rechte, die unabhängig von Bedürftigkeit gewährt werden. Die sozialen Dienste sind nur Teil eines umfassenden Systems der Grundsicherung für behinderte Menschen. Die Behindertenhilfe hat sich zunehmend in zwei Bereiche getrennt: Leistungen und Dienste für behinderte Kinder auf der einen, für behinderte Erwachsene auf der anderen Seite. In beiden Bereichen hat sich seit den 1980er Jahren ein ausgebautes Netz an Grundsicherung und Grundversorgung entwickelt. Behindertenhilfe und Altenhilfe blicken in Frankreich auf eine lange gemeinsame Geschichte zurück. Geistliche Hospize und kommunale Spitäler machten keinen Unterschied zwischen diesen Kategorien, entscheidend für die Aufnahme waren ökonomische Bedürftigkeit und persönlicher Hilfebedarf. Noch zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts wurden ältere, behinderte und unheilbar kranke Menschen zu einer Kategorie von Hilfsbedürftigen zusammengefasst. Das Gesetz von 1905 zur assistance sociale sah für diese Gruppen einheitliche Maßstäbe und Leistungen vor. Erst im Zuge der in Frankreich relativ spät einsetzenden Ausdehnung der Sozialversicherung mit ihrer funktionalen Spezialisierung und Differenzierung entlang verschiedener Zielgruppen wurde auch die Sozialhilfe in zunehmenden Maße in unterschiedliche kategoriale Systeme unterteilt. Die Sozialversicherungskassen ihrerseits boten zahlreiche Leistungen für versicherte Kranke und Invalide an, die große Teile der Bevölkerung erfassten. Allerdings blieb das Problem der Behinderten im Rahmen der Sozialversicherung unvollständig gelöst. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Sozialversicherung in Frankreich auf breiter Grundlage etabliert. Daneben wurden wie in vielen Ländern spezifische Unterstützungssysteme für Kriegsversehrte aufgebaut, die 1949 auf Schwerbehinderte mit einem Invaliditätsgrad von mindestens 80% ausgedehnt wurden. Die Maßnahmen sahen vor allem Rehabilitation, Umschulung und subventionierte Beschäftigung vor, in bestimmten Fällen auch finanzielle Unterstützung. 1953 konnten auch Behinderte mit einem Invaliditätsgrad von weniger
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als 80% in den Genuss von Umschulung und Anpassungsmaßnahmen kommen. Zugleich wurden die Leistungen und Maßnahmen für verschiedene Gruppen differenziert. 1971 kam es schließlich zur Einführung einer Geldleistung für behinderte Erwachsene und einer Leistung für behinderte Kinder und Jugendliche. Anfang der 1970er Jahre erfasste die Behindertenhilfe bereits eine große Zahl an Menschen (siehe Tabelle 50) Tabelle 50: Behindertenhilfe, Frankreich 1969-1975 (Plätze in 1.000) Art des Dienstes Im häuslichen Bereich - Behinderte <80%1 - Behinderte >80%1: Kinder <15 - Behinderte >80%1: Erwachsene >15 Stationäre Unterbringung Unterbringung in Privathaushalten2 Insgesamt
1969
1975
25.200 21.600 222.900 64.900 2.500 337.100
28.700 23.600 241.100 83.500 3.300 380.200
Anmerkungen: 1 Invaliditätsgrad von weniger als/mehr als 80%, 2 Placés chez particuliers. Quelle: Ministère des Affaires Sociales: Annuaire des Statistiques Sanitaires et Sociales, 1978.
Vor 1975, dem Zeitpunkt der Grundlegung des modernen Systems der Behindertenhilfe in Frankreich, wurden bereits rund 380.000 Menschen durch verschiedene Maßnahmen unterstützt, die Mehrzahl davon Erwachsene. Obwohl mehr als 80.000 behinderte Menschen in Heimen und anderen stationären Einrichtungen lebten, war das Gros der Hilfen im häuslichen Bereich angesiedelt und erfasste Menschen mit einem hohen Grad an Invalidität. Die Unterbringung bei einer Pflegefamilie spielte kaum eine Rolle. Tabelle 51: Einrichtungen für behinderte Kinder, Frankreich 1963-1976 (Plätze) Kinder mit Verhaltensstörungen Geistiger Behinderung Sensorischer Behinderung Körperlicher Behinderung
1963 24.100 33.700 8.800 2.900
1976 32.200 103.600 11.700 11.800
Quelle: Ministère des Affaires Sociales: Annuaire des Statistiques Sanitaires et Sociales, 1978: 120.
Betrachtet man die sozialen Dienste für behinderte Kinder separat, wird die Dominanz der Einrichtungen für geistig Behinderte offensichtlich (siehe Tabelle 51). Seit Anfang der 1960er bis zur Mitte der 1970er Jahre hat die Behindertenhilfe für Kinder einen gewaltigen Aufschwung erlebt. In allen Bereichen nahm die Zahl der Plätze stark zu, besonders jedoch bei den Einrichtungen für geistig behinderte Kinder, die den gesamten Bereich bis zur Mitte der 1970er Jahre ganz klar dominierten. Einrichtungen für diese Gruppe stellten allein fast genauso viele Plätze wie für die anderen Formen von Behinderung zusammengenommen. Zwischen 1963 und 1976 ist die Zahl der Plätze in diesem Bereich um mehr als 200% ge-
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stiegen. Kinder mit geistigen Behinderungen lassen sich schwerer als andere in die regulären sozialen Institutionen integrieren; sie bedürfen spezifischer Institutionen. Auf der anderen Seite ist das Anwachsen entsprechender Einrichtungen aber auch darauf zurückzuführen, dass diese Gruppe von Kindern erst in jener Zeit aus dem Schatten des Verschweigens und Versteckens getreten ist und sich Programme und Methoden für eine intensive Förderung entwickelt haben. Damit erlebten die sozialen Dienste für behinderte Kinder ihren eigentlichen institutionellen Durchbruch, der sich seitdem in der quantitativen Entwicklung dieser Dienste niederschlägt. 1975 wurde das System der Behindertenhilfe grundlegend erneuert. Die Reform verlieh den Behinderten erstmals klar definierte soziale Rechte, zum Beispiel auf medizinische Behandlung und Versorgung, auf Ausbildung und Arbeit sowie auf ein Mindesteinkommen und soziale Integration in Form von Sport- und anderen Freizeitangeboten. Diese Rechte wurden zugleich als nationale Aufgabe definiert. Die Behindertenhilfe wurde somit aus dem Kontext der alten assistance sociale herausgelöst und als ein eigenständiger Bereich institutionalisiert, der sich an sozialen Rechten behinderter Menschen orientiert. Das Gesetz von 1975 unterschied zwischen minderjährigen und erwachsenen Behinderten. Der Staat übernahm die kompletten Kosten für spezielle Schulbildung und Ausbildung, wobei die Integration behinderter Kinder in das reguläre Schulsystem angestrebt wurde. Die Krankenversicherungen hatten die Kosten für eventuelle Unterbringung in stationären Einrichtungen und den Transport behinderter Kinder zu tragen, den Eltern verlieb allerdings ein Eigenbeitrag. Für erwachsene Behinderte teilten sich Sozialversicherung und Sozialhilfe die Verantwortung für die verschiedenen Leistungen. Die Familienkassen trugen die Kosten für die Geldleistungen an Behinderte, die Krankenversicherung finanzierte die Kosten der medizinischen Versorgung innerhalb und außerhalb von Einrichtungen, also einschließlich häuslicher Pflege, die Sozialhilfe (aide sociale) war zuständig für die sozialen Dienste im häuslichen Bereich sowie die Unterbringung bedürftiger behinderter Menschen. Außerdem kam die Sozialhilfe für die Kosten von Behindertenzentren und Einrichtungen der Behindertenarbeit auf. Die sozialen Dienste in der Behindertenhilfe unterscheiden sich in materieller Hinsicht nur wenig von den im Rahmen der Altenhilfe gewährten Dienstleistungen (siehe oben) und umfassen vor allem Haushaltshilfen, Unterbringung bei Betreuungspersonen oder in Einrichtungen. Allerdings unterliegen die Leistungen der Behindertenhilfe weniger strengen Bedürftigkeitsprüfungen, die Einkommensgrenzen sind höher und es gibt keine vorrangige Prüfung von Unterhaltspflichten Angehöriger. In jedem Fall wird das Einkommen des Behinderten selbst sowie seines Ehegatten oder Lebenspartners berücksichtigt. Von großer Bedeutung in dem Gesetz von 1975 war die Einführung der allocation compensatrice pour tierce personne (ACTP), die ebenfalls von der Sozialhilfe finanziert wird. Die ACTP wird an behinderte Personen gezahlt, die zur Bewältigung ihres Alltagslebens auf die Hilfe einer dritten Person (also unter Berücksichtigung der Hilfe eines eventuellen Ehegatten oder Lebenspartners) angewiesen sind. Obwohl die ACTP speziell für Behinderte eingeführt wurde, stellten schon bald ältere pflegebedürftige Menschen das Gros der Leistungsempfänger (siehe oben). Dies änderte sich erst mit der Einführung der PSD und dem Ausschluss von Personen über 60 Jahren von den Leistungen der Behindertenhilfe. Die wichtigsten monetären Leistungen für behinderte Menschen gehören jedoch nicht zum Sozialhilfe-, sondern zum Sozialversicherungssystem: Invalidenrenten, ein Mindest-
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einkommen für behinderte Menschen und andere monetäre Leistungen sichern den ökonomischen Bedarf weitgehend ab. Die Leistungen der Sozialhilfe greifen vor allem in den Fällen, in denen neben monetären Transfers Bedarf an sozialen Diensten besteht, welche die Behinderten nicht aus eigenen Mitteln bestreiten können. Die ACTP ist das beste Beispiel dafür. Sie greift in den Fällen, in denen Bedarf an persönlichen Dienstleistungen vonseiten einer dritten Person besteht. Die Sozialhilfe unterstützt auch ambulante medizinischsoziale Dienste für Behinderte und die Unterbringung in stationären Einrichtungen sowie in Werkstätten für Behinderte. Die Geldleistungen ohne direkten Bezug zu sozialen Diensten, wie zum Beispiel Invalidenrenten oder die AAH (allocation aux adultes handicapés) werden im Rahmen dieser Arbeit nicht behandelt. Für behinderte Kinder sind neben der medizinisch-sozialen Betreuung Bildung und Ausbildung die wichtigsten Maßnahmen. Diese erfolgen grundsätzlich als universelle und unentgeltliche staatliche Leistungen für alle Familien mit behinderten Kindern, sei es als unterstützende Maßnahmen zur Eingliederung in den regulären Unterricht oder sei es durch die Unterbringung in speziellen Einrichtungen. Darüber hinaus spielen ambulante Dienste zur Unterstützung von Familien mit behinderten Kindern eine zunehmende Rolle. Mitte der 1980er Jahre scheint der Ausbau der Behindertenhilfe für Kinder weitgehend abgeschlossen (Tabelle 52). Die Zahl der Einrichtungen und Plätze stagniert, geht sogar leicht zurück. Die Stagnation ist jedoch nur im stationären Sektor festzustellen. Ein Grund dafür liegt gerade im Ausbau der ambulanten Dienste für behinderte Kinder, eine Entwicklung, die in diesem Sektor somit früher einsetzt als in der Altenhilfe. Doch nicht nur die Umschichtung von stationären zu ambulanten Formen ist Grund für die Stagnation dieses Bereichs. Ein zweiter wichtiger Faktor ist die zunehmende Integration behinderter Kinder in die allgemeinen Institutionen der Gesellschaft, in erster Linie die Schulen. Diese Entwicklung wird weiter unten näher betrachtet. Auch ist die Zahl behinderter Kinder gesunken, zum einen parallel zum allgemeinen Rückgang der Geburten in Frankreich, zum andern aber auch aufgrund der verbesserten Methoden der Schwangerschaftsuntersuchungen. Tabelle 52: Einrichtungen der Behindertenhilfe für Kinder, Frankreich 1985-1991 (Plätze) Art der Dienste Einrichtungen mit speziellem Bildungscharakter1 - Geistige und mehrfache Behinderungen - Verhaltensstörungen - Körperliche Behinderungen - Sensorische Behinderungen Andere Heime Stationäre Einrichtungen insgesamt Häusliche und ambulante Dienste insgesamt2 Medizinisch-psychologisch-pädagogische Zentren Medizinisch-soziale Zentren Häusliche Dienste3
1985
1991
85.800 79.900 13.400 13.600 7.700 7.400 12.200 12.200 3.700 2.600 122.800 115.700 k.A. 111.200 k.A. 90.300 k.A. 13.100 3.100 7.800
Anmerkungen: k.A.: keine Angaben verfügbar 1 Éducation spéciale, 2 Services à domicile ou ambulatoires, 3 Services de soins et éducation spéciale à domicile. Quelle : Ministère des Affaires Sociales: Annuaire des Statistiques Sanitaires et Sociales, 1993: 207.
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Tabelle 53: Einrichtungen der Behindertenhilfe für Kinder: Plätze in der stationären éducation spécial, Frankreich 1985-1998 (in 1.000; gerundet); France entière Einrichtungen für Geistig Behinderte Mehrfach Behinderte Rééducation Motorisch Behinderte Sensorisch Behinderte Insgesamt
1985 1994 1998 89,3 79,9 73,5 0,4 1,7 4,0 13,9 14,8 16,9 7,9 7,8 7,8 13,0 13,3 11,8 124,5 117,6 114,0
Einrichtungen (N) 1194 132 345 125 138 1934
Quelle: Ministère de l’Emploi et de la Solidarité nationale/DREES, 2001: Annuaire des statistiques sanitaires et sociales 2000.
Tabelle 54: Einrichtungen der Behindertenhilfe für Kinder: Plätze in ambulanten und häuslichen Diensten, Frankreich 1985-1998 (in 1.000; gerundet); France entière Art der Einrichtung
1985
1994
1998
Medizinisch-psychologisch-pädagogische Zentren Medizinisch-sozialer Dienst Education spécial und häusliche Pflege
68,2 9,3 4,8
97,7 12,0 12,6
104,0 17,9 18,3
Insgesamt
82,3
122,3
140,3
Quelle: Ministère de l’Emploi et de la Solidarité nationale/DREES, 2001: Annuaire des statistiques sanitaires et sociales 2000.
Im Jahr 1998 gab es in Frankreich rund 340.000 behinderte Kinder und Jugendliche. Das entspricht ca. 2% der Bevölkerung unter 18 Jahren. Insgesamt gab es rund 114.000 Plätze in den verschiedenen stationären Einrichtungen für behinderte Kinder und Jugendliche, die Mehrzahl davon für geistig Behinderte (siehe Tabelle 53). Im Jahr 1996 lebten ca. 108.000 Kinder und Jugendliche in solchen Einrichtungen. Davon nahmen nur rund 8.000 am Unterricht in regulären Schulen teil, die weit überwiegende Mehrzahl befand sich in speziellen Erziehungseinrichtungen für Behinderte; rund 23.000 erhielten aufgrund ihres Alters oder ihrer Behinderung überhaupt keinen Unterricht. Im ambulanten Bereich gab es 1998 rund 140.000 Plätze für die Versorgung behinderter Kinder (siehe Tabelle 54). Diese Kinder leben bei ihrer Familie und werden entweder (tagsüber) in ambulanten Einrichtungen betreut und ausgebildet oder erhalten entsprechende Unterstützung zuhause. Erzieherische und pflegerische Dienste im Haus haben zwar seit 1985 deutlich zugenommen, bilden aber immer noch den kleineren Teil der ambulanten Dienste, die weit überwiegend in Tageszentren der Behindertenhilfe stattfinden. Auch die Tageszentren haben seit 1985 deutlich zugenommen, während der stationäre Bereich absolut und relativ an Gewicht verloren hat. Wurden 1985 noch weit mehr behinderte Kinder stationär statt ambulant betreut, haben die ambulanten Dienste und Tageszentren diese Zahl seit Mitte der 1990er Jahre überflügelt. Der Trend zu einer Unterstützung behinderter Kinder in ihrer Familie ist somit noch stärker ausgeprägt als in der Altenhilfe oder bei den sozialen Diensten für erwachsene Behinderte. Die typische Lebenslage behinderter Kinder
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in Frankreich ist also dadurch geprägt, dass sie bei ihrer Familie leben und in starkem Maße durch ambulante soziale Dienste und in speziellen Tageseinrichtungen erzieherisch und sozial betreut werden. Trotz anderer Zielsetzung kann nur eine Minderheit tatsächlich in den regulären Schulunterricht integriert werden. Die sozialen Dienste für erwachsene Behinderte umfassen ebenso stationäre und ambulante Formen. Hinzu kommt die 1975 eingeführte ACTP, die bedürftigen Behinderten erlaubt, eine dritte Person zur Unterstützung ihres alltäglichen Bedarfs zu bezahlen. Außer Acht bleiben hier die Invalidenrenten und die ebenfalls 1975 eingeführte AAH (allocation aux adultes handicapés), die allen Behinderten ein Mindesteinkommen garantiert. Im Gegensatz zu den sozialen Diensten für behinderte Kinder, die aufgrund der sinkenden Geburtenzahlen seit Mitte der 1980er Jahre stagnieren, sind die Einrichtungen für erwachsene Behinderte zwischen 1985 und 1991 weiter deutlich angestiegen (Tabelle 55). Tabelle 55: Einrichtungen der Behindertenhilfe für Erwachsene, Frankreich 1985-1991 (Zahl der Plätze) Art des Dienstes Stationäre Einrichtungen insgesamt - Wohnstätten1 - Heime2 - Wohngemeinschaften3 - Andere stationäre Einrichtungen Beschützte Arbeit und Wiedereingliederung insgesamt4 - Arbeitshilfezentren5 - Beschützende Werkstätten6 - Umschulungszentren7 - Andere
1985 43.200 28.700 3.400 10.600 500 75.500 59.600 5.600 9.300 1.000
1991 63.700 34.900 7.500 20.700 600 (ca. 92.000) 73.000 9.800 9.400 k.A.
k.A.: keine Angaben verfügbar. Anmerkungen: 1 Foyer d’hébergement, 2 Maisons d’accueil spécialisées, 3 Foyer de vie, 4 Travail protégé et réinsertion professionnelle, 5 Centre d’aide par le travail, 6 Atelier protégé, 7 Centre de rééducation. Quelle : Ministère des Affaires Sociales: Annuaires des Statistiques Sanitaires et Sociales, 1993/1994: S. 208.
Die Tabelle verdeutlicht, dass sowohl die stationären Heimeinrichtungen als auch die arbeitsgeprägten Werkstätten und Beschäftigungszentren im Zeitraum von 1985 bis 1991 weiter expandiert sind. Die arbeits- und beschäftigungsorientierten Einrichtungen dominieren jedoch; sie stellen rund 50% mehr Plätze als die Wohneinrichtungen. Im Mittelpunkt stehen die Beschäftigungszentren, in denen Arbeit als soziale Betätigung verstanden wird. Arbeit hat hier eine primär soziale Funktion; die meisten Menschen, die in solchen Einrichtungen beschäftigt sind, sind schwerbehindert. Im Gegensatz dazu können die beschützenden Werkstätten als veritable Stätten der Produktion betrachtet werden. Es steht zwar auch die soziale Funktion der Arbeit im Mittelpunkt, aber es entstehen durchaus marktfähige Produkte. Bei den Wohneinrichtungen ist eine tendenzielle Verschiebung hin zu offeneren Wohnformen in kleineren, häuslichen Gemeinschaften zu erkennen. Insbesondere die Be-
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hindertenwohngemeinschaften haben deutlich zugelegt und stellten im Jahr 1991 bereits rund ein Drittel der Wohnplätze in der Behindertenhilfe. Aber auch die Heime selbst wandeln sich zusehends und bilden differenzierte, kleinteilige interne Strukturen aus, um den Charakter der Institutionalisierung zu mildern. Diese Entwicklung findet sich zwar tendenziell bei allen größeren Institutionen, aber in der Behindertenhilfe scheint diese Entwicklung früher eingesetzt zu haben als in der Altenhilfe (vgl. DREES 2000b; Mormiche 2001). Im Jahr 1998 boten die verschiedenen Heime für erwachsene Behinderte rund 88.000 Plätze an. Die Mehrzahl der hier untergebrachten Personen sind geistig Behinderte zwischen 20 und 60 Jahren (siehe Tabelle 56). Die Zahl der angebotenen Heimplätze hat sich somit seit 1985 nahezu verdoppelt. Daneben gab es 1998 ca. 104.000 Plätze in Behindertenwerkstätten und Beschäftigungszentren für Behinderte (siehe Tabelle 57). Auch in diesem Sektor ist eine deutliche Zunahme seit 1985 festzustellen. Die weit überwiegende Mehrzahl der in diesen Einrichtungen betreuten Personen ist zwischen 20 und 44 Jahren alt, viele davon haben eine leichte oder mittelschwere geistige Behinderung (siehe Tabelle 58). Tabelle 56: Stationäre Behindertenhilfe, Plätze nach Einrichtungsart, Frankreich 1985-1998 (in 1.000) Art der Einrichtung
1985
1994
1998
Foyer d’hébergement1 Foyer occupationnels2 Foyers à double tarification3 Maisons d’accueil spécialisés4 Insgesamt
28,3 10,7 3,4 42,4
36,6 24,4 3,3 8,5 72,8
39,5 30,0 6,4 11,8 87,8
Tagesplätze (1998)5 k.A. 6,7 0,3 0,7 k.A.
Anmerkungen: k.A.: keine Angaben verfügbar, 1 Für weniger stark Behinderte, die in ihrer Mehrzahl in beschützenden Werkstätten und anderen Betrieben arbeiten, 2 Auch: foyer de vie. Ähnlich wie Einrichtungen unter Anmerkung 1. Zusätzlich soziale Animation, 3 Für Menschen mit schwereren Behinderungen. Gemeinsam von Sozialversicherungen und Sozialhilfe der départements finanziert, 4 Für Schwerstbehinderte, 5 Aus Quelle Nr. 2. (siehe unten). Quellen: Ministère de l’Emploi et de la Solidarité nationale/DREES, 2001: Annuaire des statistiques sanitaires et sociales 2000. (1), Ministère de l’Emploi et de la Solidarité nationale, Direction de la Recherche, des Etudes, de l’Evaluation et des Statistiques (DREES), 1999: Etudes et Résultats No. 31, September 1999, S.5. (2).
Tabelle 57: Offene Einrichtungen der Behindertenhilfe, Frankreich 1985-1998 (Zahl der Plätze) Art der Einrichtung Zentren für berufliche Ausbildung und Anpassung1 Zentren der Arbeitshilfe2 Beschützende Werkstätten Insgesamt
1985 8864 58297 5369 72530
1994 1998 9266 9477 78849 88985 11433 15027 99548 113489
Anmerkungen: 1 Centre de rééducation et formation professionnelle, 2 Centre d’aide par le travail. Quelle: Ministère de l’Emploi et de la Solidarité nationale/DREES, 2001: Annuaire des statistiques sanitaires et sociales 2000.
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Tabelle 58: Behinderte in den stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe nach Art der Behinderung, Frankreich 1996 (in 1.000; gerundet) Art der Behinderung Schwer geistig behindert Mittelschwer geistig behindert Leicht geistig behindert Psychische Behinderung Andere (körperliche) Behinderung Insgesamt
1996 17,7 24,5 8,9 11,3 13,9 76,3
Quellen: Ministère de l’Emploi et de la Solidarité nationale/DREES, 2001: Annuaire des statistiques sanitaires et sociales 2000. (1), Ministère de l’Emploi et de la Solidarité nationale, Direction de la Recherche, des Etudes, de l’Evaluation et des Statistiques (DREES), 1999: Etudes et Résultats No. 31, September 1999, S.5. (2).
Die aktuellen Strukturen der Behindertenhilfe in Frankreich werden im Zeitvergleich von 1987 mit 2001/2002 nochmals besonders deutlich (siehe Tabelle 59). Nach wie vor nehmen Einrichtungen für geistig behinderte Kinder mehr als die Hälfte der Plätze in der Behindertenhilfe für Kinder ein, allerdings mit abnehmender Tendenz. Deutlich zugenommen haben die ambulanten Dienste im häuslichen Bereich, die 2001 mehr als drei mal so viele Plätze anboten wie vierzehn Jahre zuvor. Der gesamte Versorgungsgrad mit Einrichtungen der Behindertenhilfe für Kinder, gemessen an der Gesamtzahl der Bevölkerung unter 20 Jahren, hat sich seit Mitte der 1980er Jahre kaum verändert: er betrug 0,78 im Jahre 1987 und 0,84 im Jahre 2001. Tabelle 59: Einrichtungen der Behindertenhilfe für Kinder, Frankreich 1987 und 2001 (Plätze) Art des Dienstes Spezielle Bildungsinstitutionen1 für: - geistig behinderte Kinder - mehrfach behinderte Kinder - körperlich behinderte Kinder - sensorisch behinderte Kinder Umschulungseinrichtungen2 SESSAD3 Insgesamt
1987
2001
83.200 500 8.200 12.700 13.400 6.500 124.500
71.200 4.400 7.400 9.600 15.600 22.800 131.000
Anmerkungen: 1 Éducation spéciale, 2 Instituts de rééducation, 3 Services de soins et éducation spécialisés à domicile. Quelle : DREES , (2004): Le handicap en chiffres, S. 32.
Im Jahr 2002 weisen rund 2% aller Kinder und Jugendlichen unter 20 Jahren eine Form der Behinderung auf und erhalten Leistungen der staatlichen Behindertenhilfe, die nicht mit der Sozialhilfe für Behinderte verwechselt werden sollte. Zu den staatlichen Leistungen gehören Geldzahlungen sowie stationäre und ambulante soziale Dienste. Die wichtigste Geld-
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leistung ist die Allocation d’éducation spéciale (AES), eine nicht-bedürftigkeitsgeprüfte Leistung für alle Familien mit behinderten Kindern im Rahmen der Familienpolitik. Gezahlt wird diese allocation von den Familienkassen. Die Leistung besteht aus einem einheitlichen Grundbetrag und bedarfsabhängigen Zuschlägen. Im Jahr 2002 erhielten rund 135.000 Familien diese Leistung. Daneben gibt es die verschiedenen stationären Einrichtungen und ambulanten Dienste der Behindertenhilfe für Kinder, die vor allem in den 1980er Jahren ausgebaut worden waren. 2001 stellten diese verschiedenen Einrichtungen zusammen rund 131.000 Plätze zur Verfügung, davon 45.000 in Heimen und Internaten, 63.000 in Tageseinrichtungen und 23.000 bei den ambulanten Diensten. Die beiden letzten Typen nehmen einen immer größeren Anteil der Hilfen ein, insbesondere die Services d’éducation spéciale et de soins à domicile haben stark zugenommen. Zwar ist nach wie vor eine große Zahl behinderter Kinder, insbesondere mit geistiger Behinderung, in speziellen Institutionen untergebracht, aber die Tageseinrichtungen und ambulanten Dienste übernehmen inzwischen die Mehrzahl der Leistungsfälle. Außerdem besucht ein steigender Anteil der behinderten Kinder Einrichtungen des regulären Bildungswesens, zum Teil allerdings in speziellen Klassen. Im Jahr 1999 waren rund 52.000 behinderte Kinder in den normalen Schulbetrieb integriert (in regulären Klassen), weitere 51.000 besuchten spezielle Klassen innerhalb des normalen Schulsystems. Diese Zahlen übersteigen somit die Zahl der behinderten Kinder, die in Heimen oder Internaten leben (Quelle: DREES, 2004b). Die Substitution stationärer durch ambulante Dienste und Tagesstätten sowie die zunehmende Integration behinderter Menschen in die „Normalinstitutionen“ der Gesell-schaft kennzeichnet auch die Entwicklung der Behindertenhilfe für Erwachsene. Im Jahr 1999 lebten in Frankreich rund 760.000 Menschen im Alter von über 20 Jahren mit einer Behinderung. Davon erhielten 62% informelle Hilfen, 25% informelle und professionelle Hilfen, nur 13% waren ausschließlich auf professionelle Hilfen angewiesen. Fast alle Behinderten erhielten hingegen die 1975 eingeführte allgemeine Geldleistung Allocation aux adultes handicapés (AAH). 2002 wurden insgesamt 753.000 Empfänger dieser Leistung gezählt, die ein Mindesteinkommen für Behinderte mit einem Invaliditätsgrad von mehr als 50% garantiert und nicht bedürftigkeitsgeprüft ist. Daneben gab es im selben Jahr rund 450.000 Bezieher von Invalidenrenten aus der Sozialversicherung. Im Jahr 2001 boten die stationären Einrichtungen Plätze für insgesamt rund 220.000 behinderte Menschen (Tabelle 60). Die Zahl der Plätze in den arbeitsbezogenen Einrichtungen übertraf die Zahl derjenigen in medizinisch-sozialen Einrichtungen mit Wohncharakter um 20%. Allerdings darf dabei nicht übersehen werden, dass die Beschäftigungszentren vor allem einen primär sozialen Aspekt aufweisen; die Arbeit ist hier in erster Linie Beschäftigungstherapie und hat geringen ökonomischen Nutzen. Anders in den beschützenden Werkstätten, die Güter für den Markt produzieren, aber einen kleineren Anteil der Plätze in diesem Bereich ausmachen. Im Vergleich dazu arbeiteten in Frankreich im Jahr 2001 rund 1,4 Millionen behinderte Menschen auf dem regulären Arbeitsmarkt im Rahmen des Behindertenbeschäftigungsgesetzes. Es wird deutlich, dass die Behindertenhilfe in Frankreich zunehmend auf eine „Normalisierung“ des Lebenslaufs behinderter Menschen gerichtet ist. Im Mittelpunkt stehen deshalb Hilfen zur Eingliederung in allgemeine gesellschaftliche Institutionen, gefördert durch Geldleistungen, ambulante Dienste und Tageszentren. Die klassische Form der Behindertenheime gehört insofern der Vergangenheit an und konzentriert sich heute auf die sehr schweren Fälle, vor allem auf die geistige Behinderung.
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Tabelle 60: Einrichtungen der Behindertenhilfe für Erwachsene, Frankreich 2001 (Zahl der Einrichtungen und Plätze) Art der Einrichtung Medizinisch-soziale Einrichtungen1 - Wohnstätten2 - Foyer occupationnels - Wohnheime3 - Medizinische Wohnstätten4 Beschützte Arbeit5 - Beschäftigungszentren6 - Beschützende Werkstätten7 - Umschulungszentren8
Einrichtungen
Plätze
1294 1083 278 360
40.600 34.700 14.400 9.200
1419 468 k.A.
96.600 16.600 7.600
Anmerkungen: k.A.: keine Angaben verfügbar,1 Etablissements médico-sociaux, 2 Foyer d’hébergement, 3 Maisons d’accueil spécialisés, 4 Foyers d’accueil médicalisés, 5 Travail protégé, 6 Centres d’aide par le travail, 7 Ateliers protégés, 8 Centre de rééducation professionnelle. Quelle : DREES, 2004: Le handicap en chiffres. Paris.
Was die französische Behindertenhilfe im Vergleich besonders kennzeichnet, ist das Ausmaß der Verwirklichung allgemeiner sozialer Rechte für behinderte Menschen: das Recht auf ein Mindesteinkommen und eine ausreichende Versorgung mit sozialen Diensten. Der Großteil dieser Dienste wird vom freien Sektor der Wohlfahrtspflege angeboten; im Unterschied zur Altenhilfe und zum Gesundheitswesen hat der französische Staat in der Behindertenhilfe keine dominierende Rolle als Anbieter sozialer Dienste. Die Behindertenhilfe wird auf der Ebene der départements koordiniert, der Staat setzt jedoch die wesentlichen Rahmenbedingungen. Die Behindertenhilfe ist in dieser Hinsicht in stärkerem Maße einer wohlfahrtsstaatlichen Standardisierung unterworfen.
Sozialhilfe für Behinderte Die Sozialhilfe für Behinderte erfasst ebenso wie im Fall der Altenhilfe nur einen Teil der Leistungen und Dienste der Behindertenhilfe, die eine breite Infrastruktur besitzt und sich auf verschiedene Finanzierungsquellen stützt. Die Sozialhilfe richtet sich dagegen prinzipiell auf bedürftige Personen innerhalb dieses umfassenden Systems. Die Ausgaben für die Sozialhilfe für Behinderte sind seit Mitte der 1980er Jahre überproportional angestiegen. Anfang der 1990er Jahre machten sie noch unter 20% der gesamten Sozialhilfeausgaben aus, am Ende des Jahrzehnts bereits rund ein Viertel. Dabei sind die Ausgaben für Behinderte in stationären Einrichtungen weit stärker gestiegen als die Ausgaben für ambulante soziale Dienste und die ACTP. Dieser Anstieg ist vor allem auf eine überproportionale Zunahme der durchschnittlichen Kosten im stationären Bereich gegenüber den ambulanten Diensten zurückzuführen. Keineswegs hat es in der Behindertenhilfe eine Verschiebung zugunsten der Versorgung mit stationären Einrichtungen gegeben. Seit Mitte der 1980er Jahre ist die Zahl der Empfänger stationärer Leistungen parallel zur Zahl der Empfänger ambulanter Angebote angestiegen (Tabelle 61).
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Zählt man die ambulanten Dienste und die ACTP zusammen, ergibt sich ein konstantes leichtes Übergewicht der Zahl der Empfänger von Sozialhilfe für Behinderte, die im eigenen Haushalt leben, gegenüber der Zahl der stationär versorgten Menschen. Nahezu verdoppelt hat sich die Zahl der Empfänger von Haushaltshilfen und anderen unterstützenden ambulanten Diensten, doch nach wie vor bezieht das Gros der Unterstützungsempfänger die ACTP, allerdings in geringerem Ausmaß als in der Altenhilfe (siehe oben). Mehr als verdoppelt haben sich auch die Unterstützungsleistungen für die Tagesbetreuung in speziellen Einrichtungen. Tabelle 61: Sozialhilfe für behinderte Menschen nach Hilfeart, Frankreich 1984-1999, Zahl der Empfänger in 1.000 (gerundet) 1984 1989 1992 1995 1997 1999 Im häuslichen Bereich - Ambulante Dienste1 - ACTP2
k.A. k.A. 64,0
k.A. k.A. 72,0
82,2 6,4 75,8
92,2 8,0 84,2
98,0 9,7 88,3
99,5 11,4 88,1
Stationär - In Einrichtungen - In Tageszentren - In Pflegefamilien
66,0 k.A. k.A. k.A.
70,0 k.A. k.A. k.A.
74,6 69,6 3,1 1,9
82,9 74,8 5,5 2,6
86,9 76,8 7,1 3,0
88,8 77,6 8,2 3,0
k.A.: keine Angaben verfügbar. Anmerkungen: 1 Aide ménagère (Haushaltshilfen) und auxiliaires de vie (allgemeine Lebenshilfen), 2 Allocation compensatrice pour tierce personne für Menschen unter 60 Jahren. Quellen: Ministère des Affaires Sociales: Annuaire des statistiques sanitaires et sociales 2000, Ministère de l’Emploi et de la Solidarité nationale/DREES, 2001: Données sur la situation sanitaire et sociale de la France en 2000, ODAS (Observatoire national de l’action sociale décentralisée): La lettre de L’ODAS, Mai 1998.
Somit haben gerade die Dienstleistungsformen für Behinderte stark zugenommen, die zwischen der klassischen stationären Unterbringung und der Geldleistung zur Unterstützung Dritter liegen: die ambulanten Dienste und die Unterbringung in Tageszentren.
Beschäftigte in den sozialen Diensten Die sozialen Dienste in Frankreich haben sich in den letzten dreißig Jahren in erheblichem Ausmaß professionalisiert. Insbesondere in den 1970er und 1980er Jahren wurde sowohl der Ausbau der Dienstleistungen als auch deren Professionalisierung vorangetrieben (vgl. Chopart 2000). Die Zahl der dienstleistenden sozialen Fachkräfte hat sich seit Mitte der 1970er Jahre in etwa verdoppelt. Der Anstieg war auch in den 1990er Jahren ungebremst. Im Jahr 1998 wurden insgesamt rund 800.000 professionell ausgebildete, im sozialen Dienstleistungsbereich tätige Personen gezählt (vgl. Annuaire des Statistiques Sanitaires et Sociales, 2000: S. 390ff.). Darunter fallen nicht die im medizinischen Bereich angesiedelten Berufe, ebenso nicht die klassischen Erziehungs- und Lehrberufe im Bildungssystem.
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Innerhalb der sozialen Berufe kann man drei große Gruppen anhand von Tätigkeitsmerkmale voneinander unterscheiden (siehe Tabellen 62 und 63): (1) die im häuslichen und außerhäuslichen Bereich beratend, begleitend und unterstützend wirkenden Berufe, (2) die sozial-erzieherischen Berufe und (3) die assistantes maternelles. Nicht eingerechnet sind hier die im medizinischen Bereich angesiedelten Pflegerinnen und Pfleger für die ambulante Pflege. Zur ersten Gruppe gehört der älteste staatlich anerkannte Beruf im Sozialbereich überhaupt, der assistant de service social, den man am ehesten mit dem deutschen Sozialarbeiter vergleichen kann. Dessen Aufgabenspektrum ist multifunktional und erstreckt sich von Beratung und Unterstützung bis zu sozialer und kultureller Feldarbeit in verschiedenen Bereichen und für verschiedene Zielgruppen im häuslichen und außerhäuslichen Bereich offener Sozialarbeit. Für diese Berufsgruppe wurde bereits 1932 ein staatlicher Abschluss eingeführt. Im Jahr 1970 gab es in Frankreich rund 19.000 Personen in dieser Berufsgruppe, zehn Jahre später waren es rund 29.000, im Jahr 1998 wurden über 38.000 gezählt. Ebenfalls zu dieser Gruppe gehören die in Frankreich auf eine lange Tradition zurückblickenden, aber erst 1967 mit einem staatlichen Ausbildungsabschluss anerkannten travailleuses familiales (Familiensozialarbeiterinnen). Die travailleuse familiale inter-veniert in Krisensituationen im familiären Bereich und spielt traditionell eine wichtige Rolle in der französischen Familienpolitik. Sie übernimmt präventive und soziale Aufgaben, kümmert sich jedoch nicht um die Erfüllung praktischer Haushaltstätigkeiten, die in die Zuständigkeit der aides ménagères oder der auxiliaires de vie (Haushaltshilfen und Hilfspersonen zur Bewältigung des Alltags) fallen. Die klassische Zielgruppe der travailleuses familiales sind Familien mit Kindern, während die aides ménagères überwiegend in Haushalten von pflegebedürftigen älteren Menschen tätig sind. In Ausnahmefällen, zum Beispiel bei Krankheit oder Abwesenheit der Mutter, können aides ménagères auch in Familien mit Kindern tätig werden. Die auxiliaires de vie unterstützen überwiegend behinderte Menschen bei der Bewältigung ihres häuslichen Alltags. Die beiden ersten Berufsgruppen setzen eine Fachhochschulausbildung voraus, die beiden letzten eine staatlich geprüfte Ausbildung eher praktischer Natur. Im Jahr 1998 standen den rund 38.000 klassischen professionellen Sozialarbeitern und den ähnlich ausgerichteten, auf Familien mit Kindern spezialisierten rund 8.000 travailleuses familiales ca. 177.000 Haushaltshilfen und auxiliaires de vie gegenüber. Dies zeigt die große und wachsende Bedeutung der im Haushalt tätigen einfachen Dienstleistungsberufe. In der zweiten Kategorie, den sozial-erzieherischen Berufen, stellen die éducateurs spécialisés, die sich um die Ausbildung und Eingliederung junger oder erwachsener Behinderter kümmern und sowohl im häuslichen als auch im stationären Bereich tätig sind, den Großteil der Personen. Dieser Beruf ist seit 1967 staatlich anerkannt und auf Fachschulniveau angesiedelt. Die éducateurs spécialisés werden in ihrer Tätigkeit unterstützt von den moniteurs-éducateurs, die eher für die praktisch-unterstützenden Arbeiten zuständig sind. Dieser Beruf wird in einer praktischen Ausbildung erworben und ist seit 1970 durch einen staatlichen Abschluss anerkannt. Im Jahr 1998 wurden ca. 55.000 Behindertenpädagogen und rund 22.000 moniteurs-éducateurs gezählt. Beide Berufe haben vor allem in den 1970er und 1980er Jahren ein starkes Wachstum erlebt. Heute gehören die éducateurs zu den quantitativ wichtigsten Berufsgruppen im Sozialbereich und haben sogar die klassischen Sozialarbeiter und die travailleuses familiales überflügelt. Zur zweiten Gruppe gehören ferner einige spezialisierte, kleinere Gruppen, die verschiedene Funktionen erfüllen.
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Tabelle 62: Übersicht über wichtige soziale Berufe in Frankreich Berufsgruppe/ Beruf
Kurzcharakterisierung
EinGeforderte geführt1 Ausbildung
Art des Abschlusses
Hauptsächliche Arbeitgeber
Helfend2 Assistant de service sociale
Breitgefächerte Sozialarbeit
1932
Bac + 3 Jahre
Diplôme d’Etat
Breitgefächerte Beratung
1974
Bac + BTS + 1 Jahr
Berufsdiplom
Soziale Tätigkeiten in Familien/Haushalten Haushaltshilfe/ Pflegehilfe
1967
8 Monate
Kommunen, Staat, parastaatliche Einrichtungen Kommunen, Sozialversicherungen Assoziationen, Kommunen Assoziationen
Conseiller en économie sociale et familiale Travailleuses familiales3 Aide ménagère und auxiliaire de vie
Erzieherisch Educateur spécia- Ausbildung für behinlisé derte Kinder und Jugendliche
1990
Certificat d’aptitude4 BEP, CAP + Certificat Ausbildung d’aptitude4
1967
Bac + 3 Jahre
Diplôme d’Etat
1970
Bac + 2 Jahre 3 Jahre
Diplôme d’Etat Certificat d’aptitude4 Certificat d’aptitude4
Educateur de jeunes enfants Moniteur éducateur Aide médicopsychologique
Erziehung für Kinder unter 7 Jahren Förderung, Training von Behinderten Unterstützung Alter und Behinderter im Alltag
1959
1972
2 Jahre
Animateur socioculturel
Kulturelle und soziale Animation
1979
3 Jahre Berufstätigkeit + 3 Jahre spez. Ausbildung
Assistante maternelle
Kinderbetreuung
-
-
Diplôme d’Etat
-
Soziale und medizinische Einrichtungen, Kommunen Kindertagesstätten Assoziationen Assoziationen, Kommunen Kommunen, Assoziationen
Privathaushalte
Anmerkungen: 1 Jahr der Einführung des ersten entsprechenden formalen Abschlusses, 2 Professions de l’aide, 3 Heute: Techniciens de l’intervention sociale et familiale, 4 Anerkannter Berufsabschluss. Quellen: Ministère des Affaires Sociales, 2001: Annuaire des statistiques sanitaires et sociales 2000, Ministère de l’Emploi et de la Solidarité nationale/DREES, 2001: Données sur la situation sanitaire et sociale de la France en 2000, Autès et al., o.J., S. 435.
Die assistantes maternelles bilden in diesem Panorama der im sozialen Bereich tätigen Berufe in Frankreich eine deutlich abgegrenzte eigene Gruppe. Sie stellen zugleich mit über 380.000 Personen die größte Gruppe überhaupt (vgl. DREES 2003a). Zurückzuführen ist
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die Bedeutung dieser Tätigkeit auf eine französische Besonderheit in der Politik der Betreuung kleiner Kinder, denn darin liegt die Aufgabe der „Tagesmütter“. Es handelt sich dabei eigentlich um keinen Beruf im klassischen Sinn, der eine spezifische Ausbildung und einen anerkannten Abschluss erforderte. Die assistantes maternelles benötigen für ihre Tätigkeit lediglich eine staatliche Zulassung, die allerdings an die Bedingung einer kontinuierlichen Weiterbildung geknüpft ist. Sie betreuen kleine Kinder von in der Regel unter drei Jahren und arbeiten entweder im Rahmen einer kleinen crèche familial (siehe oben) oder im eigenen Haushalt. Ein kleiner Teil ist im Rahmen der bei den départements angesiedelten Kinderhilfe auch für die Betreuung kleiner Kinder rund um die Uhr tätig. Die medizinisch-pflegerischen Berufe, die einen Großteil der eigentlichen Pflegeleistungen für ältere und behinderte Menschen im stationären wie im ambulanten Sektor erbringen, werden üblicherweise nicht zu den sozialen, sondern zu den Berufen des Gesundheitswesens gerechnet. Hierbei sind vor allem die traditionell hoch professionalisierten Krankenschwestern (infirmières) und die Pflegerinnen (aides-soignants) zu zählen. Die entsprechenden Leistungen werden von der Krankenversicherung finanziert. Die meisten im Gesundheitswesen arbeitenden Krankenschwestern und Pflegerinnen können natürlich nicht zu den sozialen Diensten gerechnet werden. Diejenigen jedoch, die zum Beispiel direkt in Alten- und Pflegeheimen beschäftigt sind oder häusliche Dienste für ältere abhängige Personen oder Behinderte erbringen, erfüllen Aufgaben, die in anderen Ländern zum Teil von speziellen Berufen des Sozialsektors, in Deutschland etwa den Altenpflegern übernommen werden. Im Jahr 1996 gab es in Frankreich insgesamt rund 1.500 ambulante häusliche Pflegedienste mit zusammen ca. 56.000 Plätzen. Zwei Drittel dieser Dienste werden von freien, gemeinnützigen Trägern angeboten. Insgesamt waren in diesen Diensten ca. 11.000 Personen (in Vollzeitäquivalenten) beschäftigt, davon mehr als 8.000 Pflegerinnen (aides-soignants) und weniger als 1.000 angestellte Krankenschwestern (infirmières). Doch gleichzeitig waren fast 20.000 freie Krankenschwestern in der häuslichen Krankenpflege tätig, die als Selbständige entsprechende Dienste erbringen. Der Professionalisierungsgrad in diesem Sektor ist also sehr hoch. Die sozialen Berufe arbeiten in ganz unterschiedlichen institutionellen und organisatorischen Kontexten, im stationären ebenso wie im ambulanten Bereich (vl. Deroide 1997). Ihre Arbeitgeber sind freie gemeinnützige Organisationen, staatliche und kommunale Behörden und andere Träger sozialer Dienste. Fast die Hälfte der in sozialen Berufen Tätigen (außer Krankenschwestern und Pflegerinnen) ist in eigenständigen Einrichtungen des Sozialwesens wie Altenheimen oder ambulanten Diensten beschäftigt, rund 14% arbeiten direkt im staatlichen Bereich, die Mehrzahl davon bei den départements (Tabelle 63). Von den größeren Berufsgruppen im Sozialbereich haben die Sozialarbeiter (assistants de service social) die diversifiziertesten Beschäftigungsverhältnisse: mehr als 58% arbeiten direkt im staatlichen Bereich, mehr als 10% im Sozialversicherungsbereich und lediglich ca. 30% in den Einrichtungen des Sozialwesens. Ein klares Beschäftigungsprofil haben hingegen die Haushaltshilfen (aide ménagère) und auxiliaires de vie (100% in sozialen Einrichtungen), die travailleuses familiales (zu mehr als 90% in sozialen Einrichtungen) und die éducateurs spécialisés ( 80% in Einrichtungen). Die assistantes maternelles sind die einzige Berufsgruppe, die zu mehr als 80% selbständig tätig ist. Von den insgesamt rund 800.000 Beschäftigten im Sozialwesen sind ca. 370.000, also etwas weniger als die Hälfte, in eigenständigen Einrichtungen tätig. Dabei
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ragen vier Tätigkeitsschwerpunkte heraus (vgl. Annuaire des Statistiques Sanitaires et Sociales, 2000: S. 410 und 411). Die große Mehrzahl davon, rund 184.000, also fast die Hälfte, arbeitet in den häuslichen Diensten (aide ménagère und travailleuses familiales). Allerdings bilden die Haushaltshilfen keine starke Profession, sondern sind häufig in prekären Beschäftigungsverhältnissen mit geringer Ausbildung und Bezahlung tätig. Tabelle 63: Soziale Berufe nach Beschäftigungsbereich, Frankreich 1998 (in %) Berufsgruppe Helfende Berufe Assistant de service sociale Conseiller sociale et familiale Travailleuses familiales Aide ménagère/ auxiliaire de vie Erzieherische Berufe Educateur de jeunes enfants Educateur spécialisé Moniteur éducateur Aide médicopsychologique Andere erzieherische Berufe Animateur socioculturel Assistante maternelle Andere soziale Berufe
Staat
Regionen SozialverKommunen1 sicherung
Sozialeinrichtungen2
Haus- Gesamt Gesamt halte (1.000) (%)
12,5
46,4
11,6
29,5
-
37,8
4,7
-
39,4
17,5
43,1
-
6,8
0,9
-
4,8
1,0
94,2
-
8,0
1,0
-
-
-
100,0
-
176,9
21,9
-
54,0
4,3
41,7
-
8,9
1,1
7,3
9,0
0,9
82,8
-
54,9
6,8
-
6,0
-
94,0
-
21,9
2,7
-
-
-
100,0
-
21,5
2,7
-
-
-
100,0
-
17,6
2,2
0,6
47,3
1,5
50,7
-
36,5
4,5
-
9,7
-
9,9
80,4
380,3
47,2
-
71,2
1,4
27,4
-
34,3
4,3
Insgesamt (%)
1,0
13,7
1,1
46,3
37,9
100,0
Insgesamt (1.000)
8,6
110,5
7,5
373,1
305,7
805,4
100,0
Anmerkungen: 1 Regionen, départements, Kommunen, 2 Öffentliche und private Einrichtungen. Quelle: Ministère des Affaires Sociales, 2001: Annuaire des statistiques sanitaires et sociales 2000.
Weitere Schwerpunkte sind die Einrichtungen der Behindertenhilfe für Erwachsene (rund 42.000), Einrichtungen für behinderte Kinder (ca. 37.000) und für Kinder mit sozialen Problemen (20.000), die meist mit gut ausgebildeten Spezialisten besetzt sind (Tabelle 64).
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Tabelle 64: An sozialen Einrichtungen tätige soziale Berufe nach Berufsgruppen und Art der Einrichtung, Frankreich 1998 (in %) Art der Einrichtung Einrichtungen für: - spezielle Erziehung: Kinder - behinderte Erwachsene - soziale Probleme: Kinder - soziale Probleme: Erwachsene Dienste für: - behinderte Kinder - soziale Probleme: Kinder Travailleuses familiales, aide ménagère Altenheime Gesundheitliche Einrichtungen Centres sociaux Andere Insgesamt Insgesamt (1.000)
Helfende Berufe
ErzieherBerufe
Anima- Assistantes teure maternelles
Andere
Alle (%)
Alle (1.000)
0,4
8,8
-
0,4
0,3
9,9
37,0
0,3
10,4
0,2
-
0,5
11,4
42,6
-
5,0
-
0,2
0,2
5,4
20,3
0,2
1,2
0,1
-
0,1
1,6
5,8
0,1 0,2
0,1 1,2
-
-
-
0,2 1,4
0,8 5,6
49,4
-
-
-
-
49,4
184,2
0,2 1,2
0,2 1,9
0,3 -
-
0,6 0,5
1,3 3,6
4,9 13,4
0,4 0,8 53,2 198,6
0,2 0,2 29,2 109,1
1,6 2,8 5,0 18,5
9,5 10,1 37,5
0,3 2,5 9,4
2,5 13,3 100,0 -
9,4 49,1 373,1
Quelle: Ministère des Affaires Sociales, 2001: Annuaire des statistiques sanitaires et sociales 2000.
Insgesamt stellt sich die Situation der sozialen Dienstleistungsberufe sehr heterogen dar. Die einzige Gruppe, die zum größten Teil auf eigene Rechnung selbständig tätig ist, sind die assistantes maternelles. Sie ist zugleich die am wenigsten professionalisierte Gruppe hinsichtlich ihrer Ausbildung, Fachkenntnis und Funktion. Die größte Gruppe der im häuslichen Bereich tätigen Beschäftigten der ambulanten Dienste, die aide ménagère, weisen ebenfalls einen geringen Professionalisierungsgrad auf. Den höchsten Grad an Professionalisierung und Spezialisierung finden wir im Bereich der Behindertenhilfe und in den Einrichtungen für Kinder und Jugendliche, in denen erzieherische, sozialpädagogische und psychologische Tätigkeitsmerkmale dominieren.
Fazit: Konsequenzen der Dezentralisierung Frankreich hat eine lange zentralistische Tradition, die im absolutistischen Königtum beginnt, durch die Französischen Revolution verstärkt wurde und die Geschichte der Republik bis heute geprägt hat. Doch wurde diese starke administrative Zentralisierung stets durch
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ein großes politisches Gewicht der lokalen Notabeln (vgl. Suleiman 1987) und eine lebendige Tradition verschiedener kultureller Regionalismen ausbalanciert. Noch heute sind die obersten Repräsentanten des Staates stark in lokalen politischen Ämtern verwurzelt. Die französische Praxis der Ämterhäufung in lokalen und zentralstaatlichen politischen Funktionen, die Stellung des Senats als zweiter Kammer im Staat, die vornehmlich der Vertretung lokaler und regionaler Interessen dient, sowie die traditionelle Schwäche der Parteien sind die zentralen Elemente einer politischen Kultur, in der lokale und zentrale politische Macht aufs engste miteinander verschränkt sind. Hinzu kommt der für Frankreich typische, relativ hohe Grad an Homogenität der in starkem Maße durch staatliche Institutionen geprägten Funktionseliten. Der zentralistische Staatsapparat überwölbte auf diese Weise eine im europäischen Vergleich ursprünglich sehr heterogene Gesellschaft, hat diese jedoch im Laufe der Geschichte in starkem Maße geformt und „französisiert“. Von zentraler Bedeutung waren hierbei die großen nationalen Institutionen: die Armee, das Bildungswesen und die staatliche Territorialverwaltung (vgl. Mendras 1988; Weber 1979). Auch die katholische Kirche spielte, trotz ihrer stets ambivalenten Stellung zum Staat, eine wichtige Rolle für die kulturelle Integration der Nation. Doch nicht nur in politischer und kultureller Hinsicht muss das vorherrschende Bild eines einheitlichen und zentralistischen Frankreichs modifiziert werden. Auch im Aufbau des administrativen Staatsapparates, der Exekutive, bildete das territoriale Element stets eine wichtige Komponente. Der Staat übte seine Macht immer über lokale Repräsentanten aus. Von fundamentaler Bedeutung war in dieser Hinsicht der Präfekt und die ihm unterstellte Verwaltung in den départements, die nicht „von unten“ als lokale Körperschaften entstanden, sondern als territoriale Gliederungen des Zentralstaats von diesem geschaffen wurden. Der französische Staatsapparat war auf diese Weise territorial im ganzen Land fest verankert, ein Organisationsprinzip, das im übrigen auch für den Wohlfahrtsstaat und die Institutionen der sozialen Sicherung von fundamentaler Bedeutung ist. Die französischen Sozialversicherungskassen sind aufgrund der liberalen, voluntaristischen Tradition der Sozialpolitik zwar vom Staatsapparat getrennt und besitzen ein hohes Maß an Eigenständigkeit, sind jedoch ebenso wie der Staat territorial im ganzen Land präsent. Die einzelnen Kassen in den départements besitzen darüber hinaus ebenfalls eine relativ große Eigenständigkeit, die ihnen zum Beispiel die Einrichtung spezieller Fonds zur Finanzierung freiwilliger sozialer Dienste in verschiedenen Bereichen erlaubt. Insbesondere die Rentenversicherer und die Familienkassen nutzen diesen Spielraum zur Förderung sozialer Einrichtungen. Der Staat und die verschiedenen öffentlichen und sozialen Institutionen, vor allem das Bildungssystem und die Wohlfahrt, sind also in hohem Maße territorialisiert und bilden eine Klammer zwischen Zentralstaat und Gesellschaft. Auf der anderen Seite wurden die Kommunen niemals in den staatlichen Verwaltungsapparat integriert. Sie haben stets ein lokales Eigenleben geführt und bilden bis heute eine wichtige Basis für die politische Mobilisierung der Bevölkerung mittels kommunaler Mandatsträger. Die Kommunen verfügen über politische Eigenständigkeit und anerkannte Kompetenzen in verschiedenen Politikbereichen. Allerdings hat es in Frankreich nicht wie in den meisten westeuropäischen Ländern eine grundlegende Gemeindereform gegeben, die größere und leistungsfähigere Einheiten geschaffen hätte. So gibt es in Frankreich bis heute mehr als 36.000 selbständige Gemeinden unterschiedlichster Größe, darunter ein Großteil sehr kleiner Gemeinden (Mabileau 1996). Mit ein Grund und teilweise auch eine Folge dieser anachronistisch anmuten-
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den Struktur ist die Tatsache, dass in Frankreich die Verwaltung des départements für zahlreiche Aufgaben zuständig ist, die in anderen Ländern von den Kommunen, in Deutschland beispielsweise von den Gemeinden, Städten und Landkreisen übernommen werden. Den Kommunen verbleiben somit die genuin lokalen Aufgaben. Eine grundlegende Reform dieser Struktur wurde mit der Dezentralisierung von 1983 eingeleitet, die vor allem für den Sozialbereich von fundamentaler Bedeutung war (vgl. Schmidt 1990). Die Kompetenzen für die Sozialhilfe und die sozialen Dienste wurden bis auf wenige Ausnahmen vom Staat auf die départements verlagert. Die legislative Gewalt und der Erlass von reglementierenden Vorschriften blieb jedoch in Händen des Staates. Im Sozialbereich werden zum Beispiel Anspruchsvoraussetzungen und Leistungssätze nach wie vor per Dekret zentral festgelegt, die Ausführung obliegt jedoch den départements. Ebenso können diese höhere Leistungssätze vorsehen. Zugleich mit dieser Kompetenzverlagerung wurde die Struktur der départements verändert und die Beziehungen zwischen diesen und dem Staat neu geregelt. Waren die départements bis dahin ausschließlich territoriale Außenposten der zentralstaatlichen Verwaltung und der Präfekt der regionale Vertreter des Staates, schuf die Dezentralisierung zum ersten Mal eine politische Vertretung auf dieser Ebene und somit zumindest ansatzweise eine politische Funktion. Es gab von nun an einen direkt von der Bevölkerung gewählten Rat des départements (conseil général) und einen von diesem Gremium gewählten Ratspräsidenten (président du conseil général). Diesem wurden wesentliche Kompetenzen übertragen. Die Verwaltung des départements wurde zwischen Präfekt und Ratspräsident „aufgeteilt“; ersterer behielt eine wichtige Kontroll- und Aufsichtsfunktion, musste jedoch den Großteil der ausführenden Kompetenzen an die Ratspräsidentschaft abgeben. Der Präfekt wurde somit auf seine Rolle als Vertreter des Zentralstaates und dessen kontrollierende Funktionen beschnitten, während vor allem die Leistungsverwaltung im Sozialbereich vollständig in die Hände gewählter Repräsentanten gelegt wurde. Deren Spielraum ist allerdings durch die anhaltende zentralstaatliche Gesetzgebungs- und Regulierungskompetenz von Anfang an begrenzt. Dennoch können sie – im Rahmen staatlicher Vorgaben – durchaus Akzente in der Sozialpolitik des départements setzen. Die Kontrollfunktion des Präfekten wurde zum Beispiel von einer ex ante Genehmigungspflicht bestimmter Vorhaben in eine ex post Einspruchsmöglichkeit verwandelt. Die départements verfügen im Rahmen eines neuen Finanzsystems mit staatlichen Globalzuweisungen auch über eine größere finanzielle Unabhängigkeit. Ebenso können sie zusätzlich zu den staatlich geforderten und geregelten Mindestleistungen im Sozialbereich eigene Angebote entwickeln und Maßnahmen ergreifen. Allerdings geschieht dies stets im Rahmen des Verwaltungshandelns; die Dezentralisierung hat keine wirklichen politischen Entscheidungskompetenzen auf die départements verlagert. Nach wie vor setzen die zentralstaatliche Gesetzgebung und der Erlass ministerieller Richtlinien die entscheidenden Maßstäbe der französischen Sozialpolitik. Die départements sind nunmehr für den gesamten Bereich der Sozialhilfe, die Entwicklung einer sozialen Infrastruktur und die Wiedereingliederungspolitik sozial benachteiligter und arbeitsloser Menschen zuständig. Darunter fallen insbesondere die Altenhilfe, die Behindertenhilfe, die Sozialhilfe für Kinder und Familien sowie die Krankenhilfe bis zu deren Ersetzung durch den universellen gesetzlichen Krankenschutz im Jahr 2000. Das département verwaltet zwar diese Leistungen im Rahmen des französischen Sozialsystems, bietet jedoch selbst nur wenige soziale Dienste an. Diese werden größtenteils von den Kommunen
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und von freien Trägern erbracht. Das département hat jedoch neben der Finanzierung auch die planende und koordinierende Funktion für die sozialen Dienste und kann zu diesem Zweck Leistungsverträge mit Anbietern abschließen. Eigene staatliche Einrichtungen gibt es vor allem im stationären Bereich, während die ambulanten Dienste zum größten Teil von freien Trägern und den Kommunen angeboten werden. Die Kommunen arbeiten eng mit der Sozialverwaltung des départements zusammen, betreiben aber auch eine lokal eigenständige „freiwillige“ kommunale Sozialpolitik. Darin agieren sie ähnlich wie die freien Träger: einerseits eingebunden in die Erbringung gesetzlich geregelter und départemental koordinierter Sozialleistungen, andererseits als eigenständige Akteure mit lokal spezifischer Agenda. Darüber hinaus erfüllen sie im Bereich ambulanter Dienste die zentrale Koordinationsfunktion auf lokaler Ebene. Die CCAS gehören zu den ältesten sozialen Institutionen in Frankreich. Sie sind hervorgegangen aus den 1953 geschaffenen bureaux d’aide sociale, die ihrerseits die 1893 eingeführten bureaux d’assistance und die bereits 1796 begründeten bureaux de bienfaisance ablösten. Die 1893 geschaffenen bureaux d’assistance waren für die Abwicklung der neuen gesetzlichen Sozialhilfeleistungen des Staates zuständig und mussten in jeder Gemeinde eingerichtet werden. Die 1796 begründeten bureaux de bienfaisance sollten die Armen und Bedürftigen außerhalb eines gesetzlichen Anspruchs wohltätig versorgen und damit ein Gegengewicht gegen die religiösen Einrichtungen der Wohltätigkeit schaffen. Dieser historische Doppelcharakter von obligatorischen und freiwilligen Aufgaben prägt die CCAS bis heute. Doch ihre historisch begründete Konkurrenz mit den meist kirchlich inspirierten Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege ist heute zumeist einem kooperativen Verhältnis gewichen. Das Verhältnis zwischen den Akteuren im Feld sozialer Dienste kann daher wie folgt zusammengefasst werden. Der Staat erlässt die Gesetze, setzt die Rahmenbedingungen und regelt Anspruchsvoraussetzungen und Leistungsumfang in allen Bereichen sozialer Dienste. Die Kinderbetreuung unterliegt im Bereich der Vorschulen darüber hinaus seiner direkten Einflussnahme, die anderen Einrichtungen für Kinder werden jedoch zum größten Teil von den Kommunen und freien Trägern betrieben und von der Familienkasse finanziert. Die départements sind die zentralen Akteure im Feld sozialer Dienstleitungen. Sie koordinieren Altenhilfe, Behindertenhilfe und Kinderhilfe und sind ebenso für die soziale Integration von Risikogruppen verantwortlich. Sie setzen dabei staatliche Vorgaben um, operieren jedoch in eigener Zuständigkeit. Ihre Koordinationsfunktion wird auch darin deutlich, dass sie Leistungsverträge mit den Kommunen und den freien Trägern abschließen, die ihrerseits den größten Teil der angebotenen Dienstleistungen erbringen. Kommunen und freie Träger, neuerdings in einigen Bereichen auch kommerzielle Anbieter, treten also in erster Linie als ausführende Organe des départements auf, in anderen Bereichen agieren sie im Auftrag der territorialen Gliederungen der verschiedenen Zweige der Sozialversicherung. Die wesentlichen Veränderungen im französischen System sozialer Dienste kamen im Zuge der Dezentralisierungspolitik seit Beginn der 1980er Jahre. Die Reform der Dezentralisierung hat die Rolle der verschiedenen Akteure verändert. Das System wurde institutionell stärker integriert und organisatorisch auf der Ebene der départements konzentriert. Der Staat zog sich aus der direkten Steuerung des Systems zurück, setzt jedoch weiterhin die Maßstäbe. Zugleich wurden die Spielräume der départements für die Zusammenarbeit mit Kommunen, freien Trägern und Sozialversicherungskassen erweitert. Dadurch sollte das System besser koordiniert und es sollten zusätzliche Ressourcen erschlossen werden. Die
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Altenhilfe und das Pflegerisiko waren davon weit mehr betroffen als das ohnehin weit ausgebaute und international vorbildliche System der Vorschulen und Kinderbetreuung. Eine erste Stufe der Reform bestand darin, eine möglichst einheitliche politische und administrative Zuständigkeit für den Sektor der sozialen Dienste zu schaffen. Die zum Teil sehr unübersichtlichen Zuständigkeiten verschiedener öffentlicher Instanzen und Ebenen sollten institutionell integriert und konzentriert werden. Die entscheidende Ebene dafür wurde das département. Die bislang kategorial fragmentierte und territorial zergliederte action sociale sollte mit Ausnahme des Bildungswesens und der staatlichen Familienpolitik auf der Verwaltungsebene des départements zusammengefasst werden. Die départements boten sich aus zwei Gründen für diese Umgestaltung an. Eine Kommunalisierung sozialer Dienste schied aufgrund der französischen Gemeindestruktur mit zahlreichen Klein- und Kleinstgemeinden aus. Die Gemeinden wären nicht in der Lage gewesen, diese Aufgabe adäquat zu erfüllen. Ferner besaßen die départements bereits den für die Umsetzung der Reform nötigen administrativen Apparat und Sachverstand, da sie – als Teil der zentralstaatlichen Verwaltung – schon vorher für die Umsetzung der staatlichen Politik zuständig waren. Dennoch brachte die Reform wichtige Neuerungen im Verhältnis von Zentralstaat und lokaler Ebene, die über kosmetische Maßnahmen hinausgingen. Denn zugleich mit einer Konzentration administrativer Zuständigkeiten auf der Ebene der départements kam es zu einer Veränderung der politischen Zuständigkeiten und Steuerungskompetenzen durch die Reform der départements. Dem Präfekten als lokalem Vertreter der Staatmacht im département wurde ein gewählter Rat und ein gewählter Ratspräsident zur Seite gestellt. Beide teilen sich die Zuständigkeit für die sozialen Dienste. Damit wurde erstmals ein kommunales politisches Gremium geschaffen, das im Rahmen staatlicher Vorgaben selbständig politische Prioritäten setzen konnte. Das département wandelte sich von einer rein administrativen zentralstaatlichen Instanz zu einer gemischten Institution mit politischen und administrativen Funktionen, verbunden mit einer deutlichen Machtverschiebung vom Präfekten – als Chef der zentralstaatlichen Verwaltung – zu den politischen Selbstverwaltungsgremien. Große Teile der zentralstaatlichen Beamtenschaft der départements wurden aus dem Staatsapparat aus und in ein neues lokales System eingegliedert. Der Zentralstaat hat also vor allem administrative, zum Teil aber auch politische Verantwortung für soziale Dienste an die départements abgegeben. Eine von der Dezentralisierungspolitik ebenfalls angestrebte Stärkung der Regionen war weniger erfolgreich. Auch konnte die Rolle der Kommunen nur im Bereich großer Städte gestärkt werden. Dort war es möglich, dass die Kommunen Aufgaben von den départements übernehmen und in eigener Regie durchführen konnten. Wesentliches Ergebnis der Reformen war somit eine Konzentration der sozialen Dienste auf der Ebene der départements. Die zentralstaatliche Rahmengesetzgebung der action sociale blieb jedoch ebenso erhalten wie die Zersplitterung des Systems in unterschiedliche Teilprogramme für verschiedene Zielgruppen. Zweites wichtiges Merkmal der Reformen im Bereich sozialer Dienste war eine Stärkung des in der französischen Gesellschaft traditionell schwachen Dritten Sektors der freien Wohlfahrtspflege (vgl. Brovelli 1989). Die neuen Träger waren vor allem in denjenigen Bereichen tätig, die am Rande der zentralstaatlichen Sozialpolitik angesiedelt waren. Sie erfüllten somit primär eine komplementäre Funktion. In manchen Politikbereichen war die Bedeutung der freien Wohlfahrtspflege allerdings groß, zum Beispiel in der Behindertenhilfe und der ambulanten Altenhilfe. Im stationären Sektor und in der Kinder- und Familien-
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politik dominieren hingegen öffentliche Einrichtungen. Eine angestrebte stärkere Koordination von ambulanter und stationärer Versorgung auf lokaler Ebene konnte also nur durch eine Einbeziehung des freien Sektors erfolgreich sein. Ein wesentliches Ziel der Reformen war deshalb, eine solche Koordination auf lokaler Ebene zu stärken. Hierdurch wurden vor allem die Möglichkeiten für private-public-partnerships erweitert. Außerdem konnten die départements soziale Aufgaben aus der öffentlichen Verwaltung ausgliedern und in selbständigen Einheiten organisieren, die vom starren öffentlichen Dienstrecht befreit waren. Es entwickelte sich ein System der Auftragsvergabe an freie und privat-kommerzielle Anbieter, zum Beispiel in den contrats d’insertion im Rahmen der staatlichen Politik zur Eingliederung junger Arbeitsloser in die Beschäftigung. Dabei blieben die freien und kommerziellen Träger jedoch in starker Abhängigkeit von öffentlicher Finanzierung und Kontrolle. So war mit der Dezentralisierung zwar auch eine gewisse Renaissance des freien Wohlfahrtssektors verbunden, dieser blieb jedoch im engen Korsett staatlicher und lokaler Sozialpolitik (vgl. Barthélémy 1994). Keineswegs wuchs damit die Unabhängigkeit der freien Träger, im Gegenteil! Der Preis für ihre wachsende öffentliche Unterstützung war eine engere Einbindung ins öffentliche System und eine stärkere Kontrolle (vgl. Ullman 1998a; 1998b). Ein dritter wichtiger Aspekt der französischen Politik im Bereich sozialer Dienste sticht insbesondere im internationalen Vergleich hervor. Der Staat versuchte, neben dem öffentlichen und dem freien Sektor sozialer Dienste den kommerziellen Sektor zu stärken und zu entwickeln. Dieser spielte zwar in der stationären Altenhilfe schon immer eine Rolle als Betreiber von Altersheimen für eine gut situierte Klientel, war aber in den anderen Dienstleistungsbereichen relativ schwach. Der Staat wollte kommerzielle Anbieter vor allem im Bereich einfacher ambulanter, häuslicher Dienste stärken, um damit das allgemeine Beschäftigungsproblem zu mildern. Zwei Maßnahmen standen dabei im Mittelpunkt: die steuerlich geförderte, entbürokratisierte und durch die Befreiung von Sozialabgaben unterstützte Beschäftigung in privaten Haushalten, sei es zur Kinderbetreuung, als Haushaltshilfe oder im Pflegebereich, sowie die Einführung einer Geldleistung für pflegebedürftige ältere Menschen, die damit Dienstleistungen „kaufen“ konnten. Einerseits sollte dadurch ein Teil der erheblichen illegalen Beschäftigung in diesem Sektor legalisiert werden, andererseits sollte ein zusätzlicher Schub zum Aufbau eines Marktes für einfache soziale Dienste auf lokaler Ebene gegeben werden. Damit sollten Lücken in der ambulanten Versorgung geschlossen werden, die sowohl der öffentliche als auch der freie Sektor hinterlassen hatten. Insgesamt betrachtet liefen die französischen Reformen somit zwar auf eine deutliche Dezentralisierung im Bereich sozialer Dienste hinaus, aber eine wesentliche Verlagerung vom öffentlichen zum freien oder privaten Sektor fand nicht statt. Zwar wurde die freie Wohlfahrtspflege gestärkt, zugleich jedoch stärker ins öffentliche System dezentralisierter sozialer Dienstleistungsversorgung eingegliedert. Der private kommerzielle Sektor sollte sich vor allem in dem Bereich entwickeln, in dem ein deutlicher Nachholbedarf bestand: im Bereich einfacher häuslicher Dienste. Dadurch entwickelte sich zwar ein privatwirtschaftlicher Sektor einfacher Dienstleistungen und kleiner Selbständiger von einigem quantitativem Gewicht, aber keineswegs kann man von einer Privatisierung staatlicher Aufgaben oder einer Kommerzialisierung im Sinne der Herausbildung von kapitalbildenden Unternehmen sprechen. Der kommerzielle Sektor hat in Frankreich eine klar umrissene und begrenzte Aufgabe: eine Lücke im wenig standardisierbaren und flexibel einzusetzenden Bereich häuslicher und ambulanter Dienste zu schließen. Ebenso erfüllt der freie Wohl-
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fahrtssektor nach wie vor primär eine komplementäre Funktion innerhalb des öffentlichen Systems. Als wesentliche durch die Reformen bewirkte strukturelle und institutionelle Veränderung bleibt somit eine stärkere öffentliche Koordination und Integration sozialer Dienste auf der Ebene der départements festzuhalten, die den Zentralstaat zwar von Aufgaben entlastet, aber keineswegs einen Abbau öffentlicher Zuständigkeiten im Bereich sozialer Dienste bedeutet. Doch hat sich der Charakter des Wohlfahrtsstaates insgesamt durch die Reformen verändert. Die Stichworte hierzu lauten Territorialisierung, indirekte Steuerung und Ausbau der sozialen Kontrolle durch institutionelle Integration. Das System wurde mit wenigen Ausnahmen auf eine einheitliche territoriale Basis, die départements, gestellt. Zugleich wurde die im französischen Staatsapparat stets wichtige Dekonzentration der staatlichen Verwaltung, das heißt ihre territoriale Präsenz im ganzen Land, durch eine tatsächliche Dezentralisierung untermauert, indem in den départements gewählte Institutionen an die Seite der staatlich beauftragten Präfekten getreten sind. Von einer Föderalisierung ist dieses System dennoch weit entfernt, denn die Regelungskompetenz verblieb in allen wesentlichen Belangen beim Zentralstaat, der auch die Finanzmittel zuweist (von nun an allerdings als Globalzuwendung) und die Ausführung seiner Gesetze und Verwaltungs-richtlinien überwacht; dafür ist nach wie vor der Präfekt zuständig. In diesem Sinne wurde vor allem eine stärkere territoriale Verankerung des öffentlichen Systems bewirkt. Mechanismen der indirekten Steuerung und Kontrolle lassen sich auf allen Ebenen des Systems finden. Zuerst treten sie in der Beziehung zwischen Zentralstaat und département in Erscheinung, liegen jedoch auch den Beziehungen zwischen diesem und den Kommunen und freien Trägern zugrunde. Obwohl freie Träger einen beachtlichen, in manchen Bereichen sogar den größten Teil des Dienstleistungsangebots erbringen, bleibt ihre Stellung im französischen System der Wohlfahrtspflege schwach. Es gibt keine klare institutionelle Absicherung ihres Beitrags zum öffentlichen Dienstleistungssystem, geschweige denn eine privilegierte Stellung wie in Deutschland oder den Niederlanden. Sieht man einmal von der freiwilligen Sozialarbeit ab, fungieren die freien Träger lediglich als Auftragnehmer und Vertragspartner eines Quasi-Monopolisten sozialer Dienste: dem département. Ähnlich ergeht es den Kommunen, die allerdings rechtlich definierte eigene Aufgaben haben. Umgekehrt sind die départements als zentrale Koordinationsinstanz sozialer Dienste auf die Zusammenarbeit mit den primären Leistungsanbietern angewiesen. Im stationären Bereich verfügen sie zwar über eigene Einrichtungen, große Teile der Krankenhäuser und Altenheime sind jedoch in kommunaler Hand und im Bereich ambulanter Dienste überwiegen die freien Träger. Von einem Dienstleistungsmarkt kann deshalb ebenso wenig gesprochen werden wie von einer föderalen Verlagerung von Kompetenzen auf selbständige staatliche Teileinheiten. Vielmehr erfolgt ein wesentlicher Teil der Steuerung durch die Planungen der Sozialbehörden des départements. Das französische System der sozialen Dienste hat sich somit im Zuge der Reformen der Dezentralisierung keineswegs in eine Vielfalt territorialer Einheiten aufgelöst, die sich in unterschiedliche Richtung entwickelt hätten. Empirische Studien zeigen im Gegenteil, dass die regionalen Variationen in allen Bereichen abgenommen haben. Trotz der verstärkten Einbeziehung freier Träger und einer partiellen Öffnung des Systems für kommerzielle Anbieter kann auch keineswegs von einer Entwicklung hin zu mehr Wohlfahrtspluralismus und marktmäßiger Koordination gesprochen werden. Die verschiedenen Akteure der sozia-
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len Dienstleistungsproduktion wurden im Gegenteil in ein engeres Korsett von Regelungen, Verträgen und Kontrollen eingebunden und agieren in größerer Abhängigkeit von den Sozialbehörden des départements. Territorialisierung statt Föderalisierung und stärkere soziale Steuerung statt einer Zunahme des Wohlfahrtspluralismus kennzeichnen somit die Entwicklung der sozialen Dienste in Frankreich seit der Dezentralisierung. Das System wurde dadurch in höherem Maße institutionell gefestigt. Die Steuerungsmechanismen haben sich wohl verändert, aber von einem Rückzug des Staates kann nicht die Rede sein.
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Soziale Dienste in Deutschland
Einleitung In Deutschland hat die historische Entwicklung ein komplexes, institutionell schwach integriertes und ungleichgewichtig ausgebautes System sozialer Dienste hervorgebracht. Das deutsche System sozialer Dienstleistungen ist institutionell in verschiedene Bereiche gegliedert, die einer jeweils eigenen Entwicklungslogik unterliegen. So werden die sozialen Dienste für ältere Menschen von ganz anderen institutionellen Regeln bestimmt als die Dienste für Kinder und Jugendliche. Erstere werden im Rahmen der Sozialhilfe, der gesetzlichen Krankenversicherung und seit 1994 der Pflegeversicherung reguliert, letztere unterliegen dem Kinder- und Jugendhilferecht (vgl. Pfenning und Bahle 2002). Auch die Beziehungen zwischen den Akteuren Bund, Länder, Kommunen, freien Trägern und kommerziellen Anbietern unterscheiden sich zwischen diesen beiden Feldern (vgl. Evers und Sachße 2003). Wesentliches Merkmal der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Sozialhilfe ist eine Rahmengesetzgebung des Bundes, die von den Ländern und Kommunen unterschiedlich ausgefüllt wird. Im Gegensatz zu England und Wales und zu Frankreich sind die Kommunen und Kreise in Deutschland nicht in jeder Hinsicht die zentralen Akteure im Bereich sozialer Dienste. Die Pflegeversicherung ist zum Beispiel bundeseinheitlich als Zweig der sozialen Sicherheit geregelt. Die Länder sind dabei für den Aufbau einer ausreichenden Pflegeinfrastruktur verantwortlich, die Pflegekassen finanzieren das System und freie, öffentliche und kommerzielle Anbieter konkurrieren um Marktanteile. Den Kommunen kommt lediglich eine begrenzte lokale Koordinationsfunktion zu (vgl. Rothgang und Comas-Herrera 2004; Schmidt 1999; Roth und Wollmann 1994). Es gibt somit in Deutschland keinen bereichsübergreifenden zentralen Akteur im Bereich sozialer Dienste. Dennoch kann das System als hoch reguliert gelten, auch in Deutschland wurden die sozialen Dienste im Laufe ihrer Entwicklung immer stärker institutionalisiert. Gerade die Reformen der 1990er Jahre haben diese Entwicklung entscheidend vorangetrieben. Drei gesellschaftliche Strukturmerkmale haben das soziale Dienstleistungsangebot in Deutschland historisch entscheidend geprägt: (1) die zentrale Rolle der Familie, (2) der politische Föderalismus und die kommunale Selbstverwaltung sowie (3) die hohe Bedeutung und starke Organisation freier Wohlfahrtsverbände als wesentliche Träger sozialer Einrichtungen und Dienste. Alle drei Aspekte lassen sich unter dem für die deutsche Sozialpolitik charakteristischen Begriff der Subsidiarität fassen. Die zentrale Rolle der Familie als Dienstleistungserbringer ist nicht nur in quantitativer Hinsicht offensichtlich, sie zeigt sich auch in den institutionellen Regelungen und in ihren Wertbezügen. Nicht nur stellt die Familie den größten Umfang an Kinderbetreuungs- und Altenpflegeleistungen, sie genießt darüber hinaus explizit Priorität in den wohlfahrtsstaatlichen Regelungen selbst. Das Kinder- und Jugendhilferecht stellt den subsidiären Charakter öffentlicher Betreuungsangebote gegenüber dem genuinen Erziehungsauftrag der Familie heraus. Das Angebot soll die in der Familie zu erbringenden Leistungen keineswegs ersetzen, sondern bestenfalls ergänzen.
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Dies zeigt sich unter anderem in der nach wie vor großen Bedeutung der Halbtags- gegenüber der Ganztagesbetreuung in Kindergärten und Grundschulen. Auch in der Pflegeversicherung ist der Vorrang der ganz überwiegend in der Familie erbrachten häuslichen Pflege festgeschrieben. Im Vordergrund steht die finanzielle Förderung häuslicher Pflege, an zweiter Stelle kommen ambulante Angebote zu ihrer Unterstützung, und erst an letzter Stelle stehen stationäre Leistungen. Im internationalen Vergleich knüpft der deutsche Sozialstaat Leistungsansprüche nicht nur in starkem Maße an den Erwerbsstatus (vor allem in der Sozialversicherung), sondern auch an die Familie (in der Sozialversicherung und vor allem bei sozialen Diensten). Die Bedeutung des Föderalismus und der kommunalen Selbstverwaltung ist im Bereich sozialer Dienste offensichtlich (vgl. Münch 1997). Deutschland unterscheidet sich von den beiden Vergleichsländern vor allem in der hohen Bedeutung einer dritten staatlichen Ebene zwischen Kommunen und Bund (ehemals Reich) in Gestalt der Länder als Gliedstaaten mit eigenständiger Gesetzgebungs- und Regulierungskompetenz sowie ausgeprägter Verwaltungshoheit. Die Tatsache, dass die Verwaltung, der öffentliche Dienst, in Deutschland zum großen Teil Sache der Länder war und ist, ist von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung der sozialen Dienste. Im Rahmen der Bundesgesetzgebung haben Länder und Kommunen mit Ausnahme der Pflegeversicherung, die als bundeseinheitliche Sozialversicherung organisiert ist, großen Spielraum in der Erfüllung des Dienstleistungsauftrags. Daher lassen sich auch große regionale und kommunale Variationen feststellen. Dieser Aspekt der Subsidiarität wurde allerdings im Lauf der Jahre immer stärker ausgehöhlt. Länder und Kommunen wurden in vielen Bereichen zu Ausführungsorganen einer immer weiter um sich greifenden und immer mehr in die Tiefe gehenden Bundesgesetzgebung degradiert. Diese Entwicklung machte auch vor den sozialen Diensten nicht halt, kam dort allerdings später als in anderen Bereichen. So hatte der Bund mit dem Bundessozialhilfegesetz ein standardisiertes Instrument kommunaler Sozialhilfe geschaffen, das weitgehend einheitliche Regelungen für die Unterstützung ärmerer Bevölkerungsschichten in ganz Deutschland festlegte und im Kinder- und Jugendhilferecht wurden ebenfalls Standards gesetzt. Doch der eigentliche Durchbruch kam erst in den 1990er Jahren mit der neuen Pflegeversicherung und mit dem neuen Kinder- und Jugendhilferecht in Verbindung mit der Garantie auf einen Betreuungsplatz im Kindergarten. Im Gegensatz zur Familie, deren Rolle in der subsidiären Sozialordnung durch die Reformen explizit gestärkt wurde, wurde dieses Prinzip in der Beziehung von (zentralem) Wohlfahrtsstaat, Ländern und Kommunen zunehmend ausgehöhlt. In dieser Hinsicht lässt sich auch in Deutschland eine Tendenz zu einer stärkeren Zentralisierung der Dienstleistungspolitik feststellen. Die historisch dominierende und heute noch sehr starke Stellung der Wohlfahrtsverbände in der Sozialpolitik ist im internationalen Vergleich das dritte wesentliche Merkmal der Institutionalisierung sozialer Dienste in Deutschland. Zwar spielten freie, in erster Linie kirchliche und religiös motivierte, Organisationen in vielen Ländern eine wichtige historische Rolle beim Aufbau sozialer Dienste, doch nur in wenigen Ländern konnten sie ihre dominierende Stellung bewahren und ausbauen. Zu diesen Ländern gehört auch Deutschland. Es war vor allem der Gegensatz von katholischer und protestantischer Bevölkerung in Verbindung mit den historisch gewachsenen und politisch verfassten Unterschieden zwischen den Ländern und Regionen, welche die im internationalen Vergleich herausragende Rolle der freien Wohlfahrtspflege in Deutschland hervorbrachten, die in Europa nur noch
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von den Niederlanden übertroffen wird. Doch nur in Deutschland entwickelte sich die spezifisch duale Struktur von freier Wohlfahrtspflege und kommunaler Sozialpolitik, die in der Weimarer Republik mit dem Reichjugendwohlfahrtsgesetz von 1922 institutionalisiert worden war. Damit wurde die freie Wohlfahrtspflege fest in das öffentliche Dienstleistungssystem integriert und erhielt sogar Vorrang vor kommunalen Angeboten. Im Dritten Reich wurde dieses System durch die Gleichschaltung der Verbände und die Dominanz der Massenorganisationen der Nationalsozialisten zwar ausgehöhlt, aber nicht explizit beseitigt. Zumindest die katholischen Einrichtungen konnten aufgrund des Reichskonkordats eine gewisse Autonomie und eine wichtige Stellung in manchen Dienstleistungsbereichen bewahren. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Dominanz der Verbände der freien Wohlfahrtspflege rasch wiederhergestellt, was unter anderem auch durch den verspäteten (Wieder-) Aufbau staatlicher Strukturen im Vergleich zu gesellschaftlichen Interessengruppen erleichtert wurde. Diese spezifisch duale deutsche Struktur sozialer Dienste hat bis heute Bestand, auch wenn die Reformen der 1990er Jahre die Stellung der freien Wohlfahrtspflege etwas geschwächt haben (vgl. Olk 1995). So erhielten die Kommunen erweiterte Befugnisse zur lokalen Koordination sozialer Dienste, sind aber weiterhin auf die Kooperation der Verbände angewiesen. In der Pflegeversicherung wurde die bis dato gültige Priorität der Verbände aufgehoben und kommerzielle Anbieter erhielten die Chance, auf den sich ausdehnenden Markt ambulanter Pflegedienste vorzustoßen.
Historische Entwicklung Wie überall in Europa entstanden auch in Deutschland die ersten sozialen Einrichtungen unter Obhut der Kirchen und Städte. Doch im Gegensatz zu Großbritannien und Frankreich, wo der Zentralstaat relativ früh einheitliche Richtlinien durchsetzte und die sozialen Einrichtungen der Zivilgesellschaft einer öffentlichen Kontrolle unterwarf, konnten in Deutschland sowohl die zivilgesellschaftlichen „freien“ als auch die kommunalen sozialen Einrichtungen über längere Zeit eine größere Eigenständigkeit entfalten und das Feld der sozialen Dienste besetzen. Dadurch entstand eine Vielfalt sozialer Einrichtungen, die erst in der Weimarer Republik stärker vereinheitlicht und zentralstaatlich reguliert wurden. Die Gründe für diese relativ späte und im internationalen Vergleich noch bis vor kurzem beschränkte Intervention des Zentralstaats in den Bereich sozialer Dienste liegen in der besonderen historischen Entwicklung der politischen und sozialen Ordnung im Deutschen Reich, die im Vergleich zu Frankreich und Großbritannien an drei Merkmalen festgemacht werden kann: ein hohes Maß an politischer und administrativer Dezentralisierung als historisches Erbe des alten Reiches, eine verspätete Demokratisierung mit einer lang andauernden Herrschaft der alten feudalen Eliten bei gleichzeitig hoher wirtschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Dynamik sowie eine historische Sonderrolle der Kirchen in einem religiös gespaltenen Land. Das Deutsche Reich wurde auf der Grundlage der historischen Gliedstaaten, den Ländern, errichtet, die auch im Reichsverband ein hohes Maß an Autonomie behielten. Die Reichsverfassung gewährte den Ländern darüber hinaus eine wichtige Kontrollfunktion über die Reichsgesetzgebung, vor allem in Finanz- und Rechtsfragen. Die Länder übten mittels des Reichsrates (Bundesrates) einen großen Einfluss aus. Allerdings besaß das Land
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Preußen allein ein deutliches Übergewicht über die anderen Länder im Reichsverbund. Der Kern der Verwaltungsbürokratie lag ebenfalls in den Ländern, die heute noch den weit überwiegenden Teil des öffentlichen Dienstes stellen. Reichs- bzw. Bundesbeamte waren auf wenige Bereiche beschränkt. Die Länder übten somit Funktionen aus, mit denen in den beiden anderen europäischen Staaten in politischer Hinsicht Oberhaus oder Senat betraut waren, zugleich bildeten sie den Kern der staatlichen Verwaltung und Bürokratie. Doch nicht nur im Hinblick auf die Rolle der Länder unterschied sich Deutschland von England oder Frankreich, auch im Verhältnis von Kommunen und Staat gab es charakteristische Unterschiede. In der Geschichte des alten Reiches hatten die autonomen Reichsstädte eine wichtige Rolle gespielt. Zwar wurde die Reichsunmittelbarkeit der Städte mit dem Reichsdeputationshauptschluss 1806 aufgehoben und sie wurden in die neugeschaffenen Territorialstaaten, die späteren Länder des Reiches, integriert. Doch die Tradition der kommunalen Selbstverwaltung lebte fort, vor allem auch in sozialen Fragen. Städte und Gemeinden spielten auch im Reichsverband nach 1871 eine zentrale Rolle in der Entwicklung des Systems der Armenfürsorge und somit der öffentlichen sozialen Dienste (vgl. Steinmetz 1993). Die große Bedeutung der Zivilgesellschaft für die Entwicklung der sozialen Dienste in Deutschland hing zum einen mit der zentralen Rolle der Städte zusammen, zum andern war sie Folge der wirtschaftlichen und kulturellen Dynamik des deutschen Bürgertums, das zugleich von politischer Mitbestimmung weitgehend ausgeschlossen war. Nach dem Scheitern der Revolution von 1848 wurde das Deutsche Reich von konservativen Eliten beherrscht, die vor allem im übermächtigen Preußen nach wie vor eine starke feudale Verankerung hatten. Das politisch machtlose Bürgertum konzentrierte sich in besonderem Maße auf den Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen und Einrichtungen sowie auf den Bereich der Wirtschaft. In sozialer Hinsicht spielte hierbei der Verein eine tragende Rolle. Dieser wurde auch zur organisatorischen Keimzelle für die Bewegung der bürgerlichen Sozialreform, die in der Selbstverwaltung und kommunalen Autonomie der Städte und Gemeinden ihr natürliches Betätigungsfeld fand. Die Entwicklung der städtischen Sozialpolitik wurde ganz wesentlich vom reformorientierten Bürgertum geprägt. Daneben spielten in den Industriestädten auch zunehmend sozialdemokratische Kommunalpolitiker eine Rolle. Somit wurde die kommunale Selbstverwaltung zu einem zentralen Betätigungsfeld für die reformorientierten Kräfte im Deutschen Reich, denen die Mitwirkung an der politischen Macht auf Landes- oder Reichsebene bis zum Untergang des Kaiserreiches versagt blieb. In diesem Umfeld entwickelten sich die sozialen Dienste als primäre Angelegenheit kommunaler Selbstverwaltung, während das Reich als erstes Land Europas in den 1880er Jahren die Sozialversicherung für Arbeiter einführte und die soziale Sicherung somit als Reichsangelegenheit institutionalisierte. Diese Parallelität von nationaler Sozialversicherung und kommunalen sozialen Diensten prägte die Entwicklung mehr als hundert Jahre lang. In noch stärkerem Maße als das Bürgertum war die Arbeiterschaft von politischer Mitwirkung auf Reichs- und Länderebene ausgeschlossen. Darüber hinaus wurde die politische Bewegung der Sozialdemokratie mit den Sozialistengesetzen massiv behindert, während die Sozialgesetzgebung zugleich neue Mitwirkungsmöglichkeiten unterhalb der politischen Ebene schuf, zum Beispiel in den Selbstverwaltungsgremien der Sozialversicherungskassen. In noch stärkerem Maße als das Bürgertum wurde somit die Sozialdemokratie auf die zivilgesellschaftliche Ebene gelenkt und konnte dort in - allerdings beschränktem Umfang - gestaltend tätig werden. Ganz ähnlich war die Lage der katholi-
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schen Bevölkerung, die im Deutschen Reich in einer Minderheitenposition war und deren politische und soziale Emanzipationsbestrebungen von der Reichsregierung im Kulturkampf behindert wurden. Auch in diesem Fall konzentrierten sich die Aktivitäten mangels politischer Rechte und Macht auf die Gestaltung der bürgerlichen Zivilgesellschaft. Überall in Deutschland entstanden religiös motivierte Organisationen in Gestalt bürgerlicher Vereine, die formal unabhängig von der Kirche waren und eine tragende Rolle beim Aufbau karitativer Einrichtungen und sozialer Dienste spielten. Verstärkt wurde diese Bewegung sicherlich durch die in Deutschland seit der Reformation bestehende religiöse Spaltung in protestantische und katholische Bevölkerungsteile. Protestanten wie Katholiken gründeten vielfältige soziale Vereinigungen auf lokaler Ebene, die sich neben den kommunalen Einrichtungen zur zweiten Säule des sozialen Dienstleistungssystems entwickelten. In dieser historischen Konstellation liegen die strukturellen Ursprünge für die Institutionalisierung eines dualen, von Kommunen und religiösen Vereinigungen getragenen, sozialen Dienstleistungssystems in Deutschland (vgl. Sachße 1996; Bäcker et al. 2000; Seibel 1999). Die Wurzeln des modernen Dienstleistungssystems in Deutschland gehen somit auf zwei parallele Entwicklungen im 19. Jahrhundert zurück, die schließlich in der Weimarer Republik institutionell integriert wurden: die städtische Sozialpolitik und die Herausbildung einer Vielfalt freier Träger sozialer Einrichtungen. Die städtische Sozialpolitik konzentrierte sich zunächst auf das Armenwesen, das trotz reichseinheitlicher Rahmengesetzgebung weithin in kommunale Zuständigkeit fiel, differenzierte sich jedoch bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs aus und schuf somit die Grundlagen für die institutionelle Trennung der spezifischen Bereiche der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Sozial- und Altenhilfe. Bis zum Ersten Weltkrieg hatten sich auf kommunaler Ebene auch schon vielfältige und enge kooperative Beziehungen zwischen dem städtisch-öffentlichen und dem freien assoziativen Sektor der Wohlfahrt herausgebildet. Die historisch entwickelte Kooperation zwischen Städten und freien Trägerorganisationen lieferte die Grundlage für die schließlich in der Weimarer Republik erfolgende Institutionalisierung eines dualen Dienstleistungssystems unter dem Leitgedanken der Subsidiarität. Das System verlieh den Verbänden freier Wohlfahrtspflege eine historische Sonderrolle (vgl. Heinze und Olk 1981; Anheier 1991). Dieser Schritt kann als die erste wichtige Stufe der wohlfahrtsstaatlichen Institutionalisierung des sozialen Dienstleistungssystems in Deutschland betrachtet werden, das in seinem Kern bis heute fortbesteht. Ein zweiter Einschnitt in der staatlichen Institutionalisierung sozialer Dienste kam zu Beginn der 1990er Jahre, als das alte System an wichtigen Stellen aufgebrochen wurde. Der zweite grundlegende institutionelle Einschnitt ins soziale Dienstleistungssystem ist Hauptgegenstand der vorliegenden Untersuchung. Damit seine strukturelle Tragweite angemessen beurteilt werden kann, ist jedoch ein Rückblick auf die Vorgeschichte und Form der ersten großen Institutionalisierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts nützlich, die zur Herausbildung des lange vorherrschenden Systems geführt hatte. Das soll in einem kurzen historischen Exkurs geschehen (siehe unten). Daran anschließend wird die Entwicklung der sozialen Dienste für ältere Menschen, für Kinder und für Behinderte vor und nach den Reformen der 1990er Jahre in separaten Abschnitten behandelt. Zum Schluss des Länderkapitels erfolgt eine zusammenfassende Beurteilung der neueren Reformen unter der Leitfrage, inwiefern sich dadurch die Institutionalisierung sozialer Dienste verändert hat.
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Historischer Exkurs: die Ausdifferenzierung sozialer Dienste aus dem Armenwesen Die historischen Wurzeln des heutigen, ausdifferenzierten und institutionalisierten Systems sozialer Dienste in Deutschland liegen wie überall in Europa im Mittelalter. Waren es zu Beginn des Mittelalters vor allem Klöster und Mönchsorden, die Spitäler gründeten und auch spezialisiertere Einrichtungen wie Siechen-, Armen- und Waisenhäuser schufen, begannen im 13. und 14. Jahrhundert die Städte mit dem Aufbau kommunaler Hospitäler, an deren Seite später ebenfalls spezialisierte Waisenhäuser oder Altenheime traten. Die Städte übernahmen in der Folgezeit auch zunehmend kirchliche Einrichtungen in ihre Regie. Die Kommunalisierung der Armenhilfe erreichte einen Höhepunkt mit der Reformation, die zugleich einen entscheidenden Wendepunkt in der kirchlichen Wohltätigkeit markierte. Zugleich war die wachsende Übernahme von Wohlfahrtsfunktionen durch die Städte mit zwei wesentlichen institutionellen Veränderungen verbunden: zum einen einer zunehmenden sozialen Kontrolle der Armen durch öffentliche Organe, zum andern eine lokale Begrenzung der Armenhilfe und eine Abschottung gegenüber nichtortsansässigen Armen. Soziale Disziplinierung der Armen, eine gewisse Standardisierung von Leistungen sowie die Beschränkung auf die örtlich beheimatete Bevölkerung waren die wesentlichen Merkmale, welche die städtische Armenpolitik von der alten kirchlich-religiösen Wohltätigkeit unterschieden, die in dieser Hinsicht viel offener gewesen war. Reformation und Kommunalisierung bewirkten somit in erster Linie eine soziale Schließung des Armenwesens (vgl. Sachße und Tennstedt 1998). Trotz des fast vollständigen Zusammenbruchs der kirchlichen wie der städtischen Armenhilfe während des Dreißigjährigen Krieges blieben diese institutionellen Grundmerkmale bis weit ins 19. Jahrhundert hinein erhalten. Noch das Armenwesen zu Beginn des Deutschen Kaiserreiches war in großen Teilen durch diese Prinzipien geprägt. Die disziplinierenden Elemente waren in der Zeit des Absolutismus gestärkt worden, doch zugleich blieb in Deutschland die traditionelle, patriarchalische Prägung des Sozialwesens stärker erhalten als zum Beispiel in Frankreich und vor allem in England, wo der Einfluss des Liberalismus weit größer war und das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit der Armen in den Vordergrund der staatlichen Armenpolitik getreten war. Dennoch wurde auch in Deutschland das traditionelle Armenwesen immer mehr als öffentliche, staatliche Aufgabe betrachtet. Die nach der Reformation zweite entscheidende Wende in der kirchlichen Armenpflege kam mit der Säkularisation im Gefolge der Französischen Revolution. Die Enteignung von Kirchengütern und die Auflösung von Klöstern versetzte der kirchlich organisierten Wohltätigkeit den entscheidenden Schlag und schuf die Grundlage für die Dominanz des öffentlichen Sektors in den Kernbereichen der Sozialfürsorge. Zugleich jedoch entstanden gerade im 19. Jahrhundert zahlreiche religiös motivierte soziale Organisationen in der Form von Vereinen, welche die Keimzelle für die heutigen Wohlfahrtsverbände in Deutschland bildeten. Diese sozialen Vereine und Verbände waren allerdings im Unterschied zu den alten kirchlichen Sozialeinrichtungen überwiegend von Laien initiiert und getragen und insofern Teil der sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft. Die Kirche als solche spielte dabei zwar eine gewisse Rolle, aber im Kern handelte es sich bei den religiös motivierten Wohlfahrtsvereinigungen um ein neues Phänomen der modernen Gesellschaft. Während somit der Bruch mit der Vergangenheit im Verhältnis von Staat und Kirche auch in Deutschland groß war und es infolgedessen auch hier zu einer „Entkirchlichung“ des Armenwesens kam,
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blieben sowohl die kommunale Vielfalt und Autonomie als auch traditionelle patriarchalische Elemente in der Fürsorgepolitik stärker erhalten als in Frankreich oder England. Zum einen deshalb, weil es keinen vergleichbar mächtigen Zentralstaat gab, der einheitlichere Regelungen hätte schaffen können. Zwar erfüllten die Einzelstaaten zum Teil diese Funktion, in der Praxis jedoch überließen sie mit Ausnahme bestimmter Regelungen zum Wohnsitz und zu sozialdisziplinarischen Maßnahmen die Durchführung der Armenpolitik den Städten und Gemeinden. Zum andern blieb der Einfluss des Liberalismus in Deutschland im Vergleich zu Frankreich und vor allem England beschränkt. Weder konnte sich die Ideologie des Liberalismus mit seiner Betonung individueller Selbstverantwortung und Selbsthilfe so stark durchsetzen wie in den beiden anderen Ländern, noch gelang es dem Bürgertum, eine vergleichbare politische Machtstellung zu erobern und somit die Gesetzgebung zu bestimmen. Nur in den Städten konnte das Bürgertum eine entscheidende politische Vormachtstellung erringen, nutzte diese jedoch nicht in erster Linie dazu, liberale Grundsätze zu verwirklichen, sondern im Gegenteil zum Aufbau kommunaler sozialer Einrichtungen und öffentlicher Dienste, die Anfang des 20. Jahrhunderts zum Ausgangspunkt einer stärker integrierten staatlichen Sozialpolitik wurden. In dieser Entwicklung städtischer Sozialpolitik gegen Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts liegen auch die institutionellen Wurzeln für die Ausdifferenzierung des Armenwesens in verschiedene Bereiche und die allmähliche Herauslösung bestimmter Zielgruppen und Einrichtungen aus dem Einflussbereich des alten Armenwesens. Die große Bedeutung der Städte wird bereits in der grundsätzlichen Ausrichtung des öffentlichen Armenwesens in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sichtbar (vgl. Sachße und Tennstedt 1988). Zwar wurden die allgemeinsten Grundsätze zur Regelung eines Unterstützungsanspruchs durch das Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz von 1871 geregelt, das seinerseits aus einem gleichnamigen Gesetz des Norddeutschen Bundes hervorgegangen war. Darin wurde das zuvor schon in den meisten deutschen Ländern einschließlich Preußens gültige Prinzip festgeschrieben, dass diejenige Stadt oder Gemeinde für einen Armen aufkommen mußte, worin dieser seinen gültigen Wohnsitz hatte. Einige Länder, darunter vor allem Bayern, hatten dagegen festgelegt, dass diejenige Gemeinde, in der die Armen Heimatrecht besaßen, zur Unterstützung verpflichtet war, eine Regelung, die der zunehmenden Mobilität von Arbeitskräften in der Phase der Hochindustrialisierung immer weniger angemessen war. Zudem stieg die Zahl der Unterstützungsbedürftigen an. Von den im Jahr 1887 im Deutschen Reich insgesamt rund 1,4 Millionen unterstützen Armen im Geltungsbereich des Unterstützungswohnsitz-Gesetzes wurden mehr als die Hälfte durch Tod oder Krankheit des Ernährers hilfebedürftig (Landwehr und Baron, 1983: S. 35). Doch immerhin bei knapp 30% waren körperliche oder geistige Gebrechen sowie Altersschwäche die Ursachen für den Unterstützungsbedarf, Gründe, die mithin zumindest indirekt einen Bedarf an sozialen Diensten und Einrichtungen anzeigen. Die Organisation und Ausführung des Unterstützungswesens blieb jedoch in jedem Fall weitgehend den Städten und Kommunen überlassen. Den vom Gesetz vorgeschriebenen Ortsarmenverbänden stand ein weiter Spielraum offen, die organisatorische Ausgestaltung war entsprechend vielfältig. Dennoch kam es zu einer zunehmenden Vereinheitlichung. Dabei spielte vor allem das erstmals in der Stadt Elberfeld entwickelte System eine Rolle, das zum Vorbild für zahlreiche deutsche Städte wurde, bevor es zur Jahrhundertwende zunehmend vom sogenannten Straßburger System der Armenhilfe abgelöst wurde.
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Das Elberfelder System beruhte auf vier Grundprinzipien (Sachße 2003: 38): Individualisierung der Leistungen, Dezentralisierung der Entscheidungskompetenz, Ehrenamtlichkeit und die Zuweisung von Armutsfällen an Armenpfleger anhand räumlicher statt sachlicher Kriterien. Die ehrenamtlichen Armenpfleger sollten sich um Fälle aus ihrem „Quartier“ kümmern, unabhängig von den Ursachen oder Umständen der Armut. Grundidee dieses Systems war die Lösung des Armenproblems innerhalb überschaubarer sozialer Gemeinschaften. Je mehr die Städte wuchsen und sich intern differenzierten und je mehr die räumliche Segregation verschiedener sozialer Schichten zunahm, desto problematischer wurde diese Art der Problemlösung. Die Grundprinzipien wurden daher zunehmend aufgeweicht: Leistungen wurden stärker standardisiert, Entscheidungskompetenzen wurden in größerem Umfang zentralisiert, den ehrenamtlichen Armenpflegern wurden professionelle Kräfte an die Seite gestellt und die Betreuung erfolgte zunehmend nach sachlichen und fachlichen anstatt räumlichen Kriterien. Daraus entstand ein System, das stärker zwischen professionellen Verwaltungsaufgaben und ehrenamtlichen Unterstützungsleistungen unterschied und somit die spätere Trennung von Sozialverwaltung und Sozialarbeit vorwegnahm. Darüber hinaus wurden die Armutsfälle in Kategorien eingeteilt und fachlich zum Teil unterschiedlich behandelt; Arbeitslose unterlagen zum Beispiel einer anderen Betreuung als gebrechliche ältere Menschen. Diese Kategorisierung der Armutsbevölkerung in Gruppen mit unterschiedlichem Hintergrund war ein erster wichtiger Schritt zur später erfolgten Ausdifferenzierung des Armenwesens in verschiedene Bereiche und zur Herauslösung ganzer Gruppen aus dessen institutionellem Umfeld. Diese Entwicklungen wurden zuerst im sogenannten „Straßburger System“ von 1906 umgesetzt und wurden zum Vorbild für zahlreiche andere deutsche Städte vor dem Ersten Weltkrieg. Damit wurden die Grundlagen für eine zunehmende Professionalisierung des Armen- und Sozialwesens gelegt. Dieser Prozess der Professionalisierung und Differenzierung des Armenwesens wurde unterstützt und erweitert durch die Entwicklung einer kommunalen Sozialpolitik in den größeren deutschen Städten im Rahmen einer umfassenden Daseinsvorsorge. Kommunale Dienste wie Wasserversorgung, Abwasserentsorgung, Verkehr entwickelten sich parallel zur Ausdifferenzierung gesundheitlicher und sozialer Dienste. Hygiene und Gesundheit standen dabei im Mittelpunkt (vgl. Reulecke 1995a, 1995b). Die Gesundheitsfürsorge wurde als eigenständiger Bereich städtischer Daseinsvorsorge ausgebaut, ebenso wie das kommunale Wohnungswesen, die Erwerbslosenfürsorge und die Kinder- und Jugendfürsorge. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten somit viele, in erster Linie die großen, deutschen Städte bereits die grundlegende institutionelle Struktur kommunaler sozialer Dienste geschaffen und vielfach unterschiedliche Behörden und Einrichtungen aufgebaut, welche die spätere Trennung in öffentliches Gesundheitswesen, Sozialamt, Wohnungsamt und Jugendamt vorwegnahmen. Die kommunalen sozialen Einrichtungen wurden ihrerseits stärker spezialisiert und den verschiedenen Zweigen der Verwaltung zugeordnet, beispielsweise Krankenhäuser, Altenheime und Kindergärten (vgl. Borscheid 1995; Reinicke 1998). Die große Bedeutung der Kommunen für die Entwicklung des deutschen Systems der sozialen Dienste wird besonders deutlich, wenn man sich die frühe Entwicklung der Sozialversicherung im Kaiserreich vor Augen hält, die auf Reichsebene reguliert wurde (vgl. Ritter 1989). Die Pionierrolle Deutschlands bei der Einführung der Sozialversicherung hat diesen Bereich der sozialen Sicherung tief und dauerhaft von den sozialen Diensten getrennt. Sieht man von der Sonderrolle der Krankenversicherung ab, wurde erst mit der Ein-
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führung der Pflegeversicherung 1990 ein großer Teil der sozialen Dienstleistungen in Form einer Sozialversicherung institutionalisiert und somit in den Kernbestand des deutschen Sozialstaates übernommen. Grundsätzlich jedoch entwickelten sich beide Bereiche, soziale Sicherheit und soziale Dienste, in unterschiedlichen institutionellen Kontexten, wenngleich nicht ohne sich gegenseitig zu beeinflussen. Insbesondere die Ausdehnung der Sozialversicherung auf weitere Risiken und Bevölkerungsgruppen hat den Spielraum für soziale Dienste immer wieder in hohem Maße beeinflusst. Eine weitere Besonderheit der deutschen Entwicklung ist die Entstehung eines umfangreichen, vielfältigen Sektors der freien Wohlfahrtspflege, der in wachsendem Maße verbandlich integriert und mit dem öffentlichen, kommunalen System verbunden wurde. In Form lokaler Gruppen und Initiativen entstanden, bildeten diese sozialen Vereine zunehmend kooperative Strukturen untereinander aus, vor allem auf Grundlage gemeinsamer religiöser und humanitärer Anschauungen. Aufgrund der überwiegend religiös geprägten Vereinslandschaft in diesem Bereich entstanden bald katholische und protestantische Netzwerke von Organisationen, die sich zu den großen Verbänden der Caritas (1897) und der Diakonie (1848) zusammenschlossen. Getragen von Laien, bildeten sie doch enge Beziehungen zu den Kirchen aus. Ebenso entstanden schon früh auf lokaler Ebene enge Bindungen zu den städtischen Sozialeinrichtungen und Sozialverwaltungen. Viel mehr als von einer Konkurrenz zwischen öffentlichen und freien Trägern und Einrichtungen konnte man deshalb schon in der Entstehungszeit sozialer Dienste von einer engen Verflechtung und teilweisen Kooperation sprechen, wenngleich es auch häufig zu Konflikten oder zu einander überlappenden Angeboten der Kommunen und der freien Vereinigungen kam. Beflügelt wurde das Wachstum der freien Wohlfahrt im 19. Jahrhundert durch die religiöse Spaltung Deutschlands sowie durch die mangelnde, durch die herrschenden politischen Eliten behinderte, soziale und politische Emanzipation der katholischen Bevölkerung. Diese war im Stand einer strukturell benachteiligten Minderheit befangen und begann sich zunehmend zu organisieren. Eine ganz ähnliche Entwicklung durchlief die Sozialdemokratie, die, ihrerseits vom Staat politisch bekämpft, eine eigene Kultur und Infrastruktur der Arbeitervereine schuf, die ebenfalls teilweise soziale Aufgaben übernahmen, jedoch naturgemäß eher in Form von Selbsthilfeeinrichtungen der Arbeiterschaft denn als humanitäre Hilfsorganisationen für die arme Bevölkerung fungierten. Die städtische Sozialpolitik wurde hingegen überwiegend vom Bürgertum getragen, weil das kommunale Wahlrecht in vielen Städten die besitzenden Schichten privilegierte. Eine sozialdemokratische städtische Sozialpolitik konnte sich daher vor dem Ende des Kaiserreiches kaum entwickeln (vgl. Maier 1987). In dieser Entwicklung der freien Wohlfahrt im 19. Jahrhundert liegen die Ursprünge für das noch heute im Kern bestehende duale System sozialer Dienste in Deutschland mit seiner engen Verflechtung von kommunalen und freien Trägern, seinen korporativen Strukturen und der im internationalen Vergleich sehr starken Stellung der freien Wohlfahrt. Institutionalisiert wurde dieses System, das sich im Verlauf des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in seinen Grundzügen herausgebildet hatte, erstmals in der Weimarer Republik. Diese Institutionalisierungsform prägte die Entwicklung der sozialen Dienste in Deutschland bis zum heutigen Tag, abgesehen von der Periode des Nationalsozialismus, die eine stärkere Zentralisierung und Gleichschaltung der Wohlfahrtspflege mit sich gebracht hatte. Entscheidend für die Weiterentwicklung der sozialen Dienste war die Neuordnung der Fürsorge und die Einführung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes in der Weimarer Repu-
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blik. Langfristige Auswirkungen dieser Neuerungen ergaben sich vor allem hinsichtlich der Ausdifferenzierung der Fürsorge in verschiedene Bereiche (Spezialisierung), einer Verlagerung von Regelungskompetenzen auf das Reich (Zentralisierung) und der Herausbildung einer engen Kooperation und Verflechtung von öffentlicher und privater Wohlfahrt (Korporatismus). Funktionale Spezialisierung der Fürsorge und Verflechtung von öffentlicher und privater Wohltätigkeit waren durch die städtische Sozialpolitik Anfang des 20. Jahrhunderts bereits stark ausgeprägt gewesen, die Weimarer Gesetzgebung institutionalisierte diese Entwicklungen jedoch auf der Ebene des Reiches und erließ weitergehende einheitliche Rahmenvorschriften für die Durchführung der Sozialfürsorge. Ein wesentlicher Impuls für diesen Institutionalisierungsschub der sozialen Fürsorge ging von den Kriegsfolgen und den Folgen der Hyperinflation von 1924 aus, die zu einer Verarmung weiter Teile der Bevölkerung geführt hatten und nicht mehr durch das hergebrachte Armenwesen aufgefangen werden konnten (vgl. Frerich und Frey 1993). Es kam daher zur Einführung besonderer „gehobener“ Fürsorgeleistungen für Kriegsopfer sowie, im Anschluss an die Inflation, für Kleinund Sozialrentner. Parallel dazu wurde die traditionelle Fürsorge in verschiedene Bereiche aufgegliedert: Erwerbslosen-, Gesundheits-, Wohnungs-, Jugend- und allgemeine Fürsorge. Dadurch wurde der Umfang der Fürsorge weit ausgedehnt, zugleich kam es jedoch zu einer Zersplitterung vor allem auf lokaler Ebene, die durch das Nebeneinander von öffentlichen Diensten und freier Wohltätigkeit noch verschärft wurde. Eine Neuordnung war deshalb unumgänglich und erfolgte durch die Reichsverordnung über die Fürsorgepflicht (1924) und die „Reichsgrundsätze über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge“, die 1925 in Kraft traten. Ein weiterer Meilenstein der Gesetzgebung, der die Entwicklung nachhaltig prägen sollte, war das 1924 in Kraft getretene Reichsjugendwohlfahrtsgesetz. Die Reichsverordnung über die Fürsorgepflicht regelte die organisatorischen Grundprinzipien der öffentlichen Fürsorge, insbesondere legte sie als Träger die Landes- und Bezirksfürsorgeverbände fest. Die genaue Festlegung der Bezirksverbände blieb der Landesgesetzgebung vorbehalten. Im Unterschied zum alten System bestimmten die meisten Länder die Stadt- und Landkreise als Bezirksfürsorgeverbände und damit als unterste Ebene des Systems. Damit war die Fürsorge aus der direkten Zuständigkeit der lokalen Gemeinden herausgelöst worden, nur noch die kreisfreien Städte waren Träger der Fürsorge, während ansonsten die Kreise diese Funktion übernahmen. Darüber hinaus fasste die Reichsfürsorgeverordnung die bisherigen, speziell geregelten Sonderfürsorgesysteme in einem Regelwerk zusammen. Nicht näher bestimmt wurden jedoch die in die Zuständigkeit der Länder fallenden Regelungen über Voraussetzungen, Art und Ausmaß der Leistungen. Diese wurden allerdings Gegenstand der 1925 erlassenen Reichsgrundsätze über das Fürsorgewesen. Unter anderem bestimmten diese Grundsätze als Ziel der Fürsorge die Gewährung eines notwendigen Lebensbedarfs für Hilfsbedürftige, die nach Ausschöpfung aller anderen Mittel und Unterstützungsquellen, insbesondere von Familienangehörigen, nicht in der Lage waren, diesen notwendigen Bedarf selbst zu sichern. Zum Lebensbedarf gehörten gemäß diesen Grundsätzen nicht nur Unterkunft, Nahrung und Kleidung, sondern auch Pflege, Krankenhilfe, Hilfen bei Schwangerschaft, bei Minderjährigen Hilfen zur Erziehung und andere spezifische Bedürfnisse. Damit schloss die Fürsorge den Großteil der öffentlichen sozialen Dienste ein, die in besonderen Lebenslagen als Teil des notwendigen Lebensbedarfs galten. Hilfen sollten jedoch grundsätzlich nur nachrangig, das heißt unter strenger Beachtung des Subsidiaritätsprinzips gewährt werden. Dennoch wurden durch
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diese Grundsätze neben der Sicherung eines allgemeinen Mindestniveaus auch die Hilfen in besonderen Lebenslagen – zumeist in Form sozialer Dienstleistungen – als integraler Bestandteil der Fürsorge festgelegt, eine Bestimmung, die auch das Bundessozialhilfegesetz in dieser Form weitergeführt hat. Nach wie vor wurde jedoch zwischen verschiedenen Gruppen von Hilfsbedürftigen unterschieden, die mehr oder weniger strengen Prüfungen unterlagen und unterschiedliche Leistungen erhielten. Die am besten gestellte Gruppe waren die Kriegsopfer sowie in zweiter Linie die Kleinrentner und Sozialrentner; sie waren Ziel der „gehobenen“ Fürsorge. Die „normale Fürsorge“ richtete sich an Hilfsbedürftige im allgemeinen Sinn; dazu gehörten auch die Hilfen für Schwangere, Minderjährige etc. Für sogenannte „Arbeitsscheue und unwirtschaftliche Hilfsbedürftige“ war eine beschränkte Fürsorge vorgesehen. Dieses System geriet jedoch zunehmend in Schwierigkeiten. Während der Weltwirtschaftskrise 19291932 stand die Sozialfürsorge vor ihrer bisher schwersten Krise. Die Last der extrem hohen Arbeitslosigkeit führte dazu, dass in der Endphase der Weimarer Republik rund 10% der Bevölkerung von der Fürsorge leben mussten (vgl. Landwehr und Baron, 1983: S. 130; Bahle, Fix und Rothenbacher, 2002: S. 86), eine Last, die kaum zu tragen war. Die Weimarer Gesetzgebung führte nicht nur zu einer stärkeren Zentralisierung der Fürsorge und zu einer höheren Integration verschiedener Leistungsarten, sondern auch zu einer engen Verflechtung von öffentlicher Wohlfahrt und privater Wohltätigkeit. Die Fundamente für diese Verflechtung waren bereits zuvor durch die städtische Sozialpolitik im Kaiserreich gelegt worden. Die Kriegsfolgen und die Auswirkungen der Inflation haben diesen Prozess jedoch insofern beschleunigt, als die freie Wohltätigkeit nach der dadurch bewirkten Vernichtung von Vermögen praktisch ohne eigene Mittel dastand und in zunehmendem Maße auf staatliche Subventionen angewiesen war. Der Staat seinerseits konnte die dichte Infrastruktur der freien Vereinigungen zur Lösung der dringenden sozialen Probleme nutzen und sich einen starken Einfluss auf die Durchführung entsprechender Maßnahmen sichern. Die alte Form der Privatwohltätigkeit war nicht länger durchführbar, eine bessere Koordination und engere Verzahnung mit staatlichen Einrichtungen war ebenso notwendig geworden wie eine stärkere Professionalisierung. Damit stieg jedoch auch der Finanzbedarf an, und staatliche Mittel mussten in höherem Maße eingesetzt werden. Die freie Wohlfahrt baute zu diesem Zweck die bereits ansatzweise entwickelten Verbandsstrukturen weiter aus und verzahnte sie lückenlos auf allen staatlichen Ebenen, von den Gemeinden über die Länder bis zum Reich (vgl. Tennstedt 1992). Die bereits existierenden Verbände wie die Innere Mission (gegründet 1849; später: Diakonie), das Deutsche Rote Kreuz (1864) und die Caritas (1897) stärkten die organisatorische Integration und Zentralisierung parallel zu den staatlichen Behörden. Daneben entstanden neue Spitzenverbände wie die Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden (1917), die Arbeiterwohlfahrt (1919) und der Fünfte Wohlfahrtsverband (1920 und 1924; heute der Paritätische). Außerdem bildeten die einzelnen Spitzenverbände ihrerseits 1924 einen Dachverband, welchem nur die Arbeiterwohlfahrt fern blieb. Der Grund dafür lag darin, dass die Arbeiterwohlfahrt in enger Anlehnung an die Sozialdemokratie für eine Kommunalisierung der Wohlfahrt eintrat, während alle anderen Verbände die freie Wohlfahrt erhalten und stärken wollten (vgl. Sachße und Tennstedt 1988). Die Kommunalisierung der Wohlfahrtsleistungen und der sozialen Dienste wurde von den Trägern der freien Wohlfahrt als reale Gefahr betrachtet, zumal die Sozialdemokratie nach dem Ersten Weltkrieg in den meisten deutschen Großstädten die bestimmende
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politische Kraft war. Dies galt jedoch nicht auf Reichsebene, wo eine Koalition aus SPD, der Deutschen Demokratischen Partei liberaler Prägung und katholischem Zentrum regierte. Insbesondere das Zentrum konnte in der Reichsgesetzgebung eine starke Rolle für die freie Wohlfahrt durchsetzen, die unter anderem in der Fürsorge und in der Jugendwohlfahrt zum Ausdruck kam. In dieser Gesetzgebung wurden die Spitzenverbände der freien Wohlfahrt ausdrücklich anerkannt und erhielten eine herausgehobene Stellung, die mit zahlreichen Privilegien insbesondere finanzieller Art verknüpft war. Einerseits wurde die Selbständigkeit und Autonomie der freien Wohlfahrtspflege gegenüber staatlicher Einmischung gestärkt, andererseits erhielten die Verbände zahlreiche institutionalisierte politische und administrative Mitwirkungsrechte auf allen staatlichen Ebenen, angefangen von ihrer Beteiligung an der Leitung der neugeschaffenen Jugendämter bis hin zu parlamentarischen Anhörungen. Darüber hinaus konnten öffentliche Aufgaben an die Verbände und ihre Einrichtungen übertragen werden und öffentliche Einrichtungen durften nur geschaffen werden, sofern keine geeigneten Einrichtungen der freien Wohlfahrt vorhanden waren oder aufgebaut werden konnten. Somit erhielten die verbandsmäßig organisierten Träger der freien Wohlfahrt (und nur diese!) eine einmalige privilegierte Stellung: sie genossen ein hohes Maß an Autonomie und Schutz vor staatlicher Intervention; sie besaßen ein institutionalisiertes Recht auf Beteiligung an der politischen Willensbildung und administrativen Durchführung von Maßnahmen im Bereich der sozialen Wohlfahrt; außerdem genossen ihre Einrichtungen ausdrücklich Vorrang vor entsprechenden öffentlichen Angeboten und hatten Anspruch auf staatliche Subventionen. Mit dieser Gesetzgebung wurde das System der deutschen Verbändewohlfahrt fest institutionalisiert. Die sozialen Dienste, die überwiegend im Bereich der öffentlichen Fürsorge und der freien Wohlfahrt angesiedelt waren, erhielten dadurch eine von der Sozialversicherung ganz unterschiedliche Prägung und eine Sonderstellung im deutschen Sozialstaat, die ihre Entwicklung in andere Bahnen lenkte. Das korporatistische System der Verbändewohlfahrt und der kooperative Dualismus von öffentlicher kommunaler und privater verbandlicher Wohlfahrtspflege hat die Geschichte der sozialen Dienste auch in der Bundesrepublik bis zum heutigen Tag geprägt (vgl. Heinze, Schmid und Strünck 1997; Anheier et al. 1997).
Soziale Dienste für ältere Menschen Wie schon nach dem Ersten stand auch nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst die Versorgung von Kriegsopfern im Mittelpunkt der deutschen Sozialpolitik. Hinzu kamen als drängendste sozialpolitische Probleme die Eingliederung von Millionen von Vertriebenen und Flüchtlingen aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches und die Sicherung der Wohnungsversorgung, die im Krieg erheblich gelitten hatte (vgl. Frerich und Frey 1993). Parallel dazu wurde die Sozialversicherung in ihren wesentlichen Elementen institutionell restauriert. Auch das Fürsorge- und Wohlfahrtswesen lehnte sich nach dem Kriege an die in der Weimarer Republik geschaffenen Institutionen an (siehe oben: historischer Exkurs). In diesem Kontext konnte sich die Altenhilfe nicht als eigenständiger Bereich der Sozialpolitik herausbilden. Sie blieb institutionell stark fragmentiert und dezentralisiert und somit in unterschiedliche politische und administrative Kontexte eingebunden. Im wesentlichen ruhte die Altenhilfe auf vier Säulen: der primären Zuständigkeit der Bundesländer, den
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freien Wohlfahrtsverbänden und den Kommunen als den eigentlichen Trägern der Maßnahmen und Einrichtungen und schließlich der bundesstaatlich geregelten Fürsorge für Bedürftige, in deren Rahmen zum Beispiel Pflegeaufwendungen für einkommensschwache ältere Menschen finanziert wurden. Für die Altenhilfepolitik waren in erster Linie die Bundesländer zuständig. Diese Zuständigkeit betraf vor allem Planung und Entwicklung einer stationären und ambulanten Infrastruktur sozialer Dienste für ältere Menschen (vgl. Schölkopf 2002). Die Träger der Einrichtungen waren hingegen zumeist die freien Wohlfahrtsverbände und die Kommunen. Diese bestimmten nicht nur den lokalen Kontext, sondern waren auch an der Entwicklung der Politik auf Länder- und Bundesebene beteiligt. Die Fürsorge, geregelt von Bund und Ländern, übernahm im Bedarfsfall die Kosten für die Unterbringung und Pflege älterer Menschen in stationären Einrichtungen, ambulante Dienste wurden dagegen in der Regel über die Krankenversicherungen finanziert oder als freiwillige Leistungen der freien Wohlfahrtsverbände erbracht. Diese starke institutionelle Fragmentierung der Altenhilfe wurde durch das Bundessozialhilfegesetz von 1961 erstmals in einem wichtigen Teilbereich überwunden. Im Rahmen dieser Reform wurden bundeseinheitliche Richtlinien und Leistungen der Sozialhilfe für bedürftige Menschen eingeführt. Zwar variierten die Leistungssätze nach wie vor zwischen den Ländern, aber es wurde durch das Bundessozialhilfegesetz ein bislang nicht gekanntes Ausmaß an Einheitlichkeit im deutschen Fürsorgesystem geschaffen. Darüber hinaus wurde ein Rechtsanspruch auf Leistungen festgeschrieben. Neben den allgemeinen Hilfen zum Lebensunterhalt in Form von Geldleistungen übernimmt die Sozialhilfe in einem bestimmten Rahmen die Kosten für Unterkunft, das heißt Miete und Nebenkosten. Als zweite Säule wurden die Hilfen in besonderen Lebenslagen eingeführt, die zuvor zum Teil in unterschiedlichen Kontexten geregelt waren. Dazu zählen vor allem die Krankenhilfe sowie die Hilfen zur Pflege. Damit wurde erstmals auf bundeseinheitlicher Grundlage ein Rechtsanspruch auf Leistungen bei Pflegebedürftigkeit geschaffen. Das Angebot sozialer Dienste als solches blieb jedoch nach wie vor Sache der einzelnen Träger, insbesondere der Verbände der freien Wohlfahrt und der Kommunen. Ebenso verblieb die Zuständigkeit für die Angebotsplanung und –steuerung, also die Infrastruktur sozialer Dienste, bei den Bundesländern. Aufgrund der zersplitterten und stark dezentralisierten Angebotsstruktur sozialer Dienste für ältere Menschen gibt es kaum verlässliche Daten über deren langfristige Entwicklung auf Bundesebene (vgl. Alber 1992). Im wesentlichen gibt es drei Datenquellen: die Altenhilfestatistik der Bundesländer, die in von Land zu Land unterschiedlicher Weise das Angebot an stationären und ambulanten Diensten erfasst; die Statistik der freien Wohlfahrtsverbände, die ebenfalls nur zum Teil in vereinheitlichter Form vorliegt und auch nur einen Teil des Angebots abdeckt; und schließlich die Bundessozialhilfestatistik, die aber nur diejenigen sozialen Dienste erfasst, die im Rahmen der Sozialhilfe erbracht wurden. Für den stationären Bereich tritt die vom Bundesfamilienministerium geführte Heimstatistik hinzu. Erst mit Einführung der Pflegeversicherung 1994 gibt es eine verlässliche, einheitlich gegliederte Bundesstatistik über soziale Dienste für ältere Menschen in Deutschland. Dennoch liegen vereinzelt brauchbare Daten über den Zeitraum vor 1994 vor. In erster Linie ist hier die Bundessozialhilfestatistik zu nennen, die jedoch naturgemäß nur einen Teil der sozialen Dienste erfasst und auch erst seit 1963 verfügbar ist. Wichtige Trends lassen sich dennoch daraus erkennen. In zweiter Linie wurden in jüngerer Zeit die Altenhilfestatistiken der Bundesländer aufgearbeitet und vergleichbar gemacht (Schölkopf 1998);
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auch hierfür liegen Daten seit den 1960er Jahren vor. Diese Statistik ist die umfassendste, weil sie über den engen Rahmen der Sozialhilfe hinausgeht und alle Angebote an sozialen Diensten erfasst, einschließlich öffentlicher, freier und privat-kommerzieller Träger. Drittens gibt es die von der freien Wohlfahrtspflege in Eigenregie zusammengestellten Daten über das Angebot freier Träger, das in den hier betrachteten Bereichen sozialer Dienste einen Grossteil des Angebots umfasst. Ältere Menschen waren noch zu Beginn der 1960er Jahre die wichtigste Klientel der allgemeinen sozialen Fürsorge (vgl. Statistisches Bundesamt 2003). Die besonderen Leistungen für die zahlreichen Kriegsopfer und Flüchtlinge waren nicht Gegenstand der Fürsorge, sondern beruhten auf einer eigenständigen Rechtsgrundlage. Doch schon bald nach Einführung des Bundessozialhilfegesetzes nahm der Anteil der älteren Menschen an den Empfängern von Hilfen zum laufenden Lebensunterhalt (Sozialhilfe in Form von Geldleistungen zur Deckung des notwendigen Lebensbedarfs) kontinuierlich ab (vgl. Deutsches Zentrum für Altersfragen 1983). Das Verschwinden der Altersarmut war zum einen bedingt durch den allgemeinen Anstieg des Wohlstandsniveaus im Zuge des Wirtschaftwunders, zum andern Teil jedoch Folge der 1957 eingeführten Dynamisierung der Altersrenten, die den Rentnern einen dauerhaften Anstieg der Leistungen garantierte. In dem Maße jedoch, in dem sich die Altersrentner dank des hohen Anstiegs der Renten aus der allgemeinen Sozialhilfe befreien konnten, wuchs die Zahl der älteren Menschen, die Anspruch auf die Leistungen in besonderen Lebenslagen hatten, insbesondere auf Hilfen zur Pflege. Der Anteil der Pflegeaufwendungen an den Sozialhilfeausgaben stieg kontinuierlich an. Diese Entwicklung spiegelte bereits den demographischen Trend wider, beruhte aber auch darauf, dass die Pflege das beinahe einzige große Lebensrisiko war, für das es noch keine Lösung im Rahmen einer Sozialversicherung gab. Krankheit und Arbeitslosigkeit als neben dem Alter wichtigsten klassischen Faktoren der Armut wurden in den Sozialversicherungssystemen aufgefangen, das allgemeine Risiko Altersarmut vom hochentwickelten deutschen Rentensystem. Die Sozialhilfe blieb jedoch bis 1994 fast die einzige öffentliche Leistung zur Abdeckung des Pflegerisikos (vgl. Alber und Schölkopf 1999; Eisen 1997). Die soziale Infrastruktur umfasst aber einen größeren Bereich als die von der Sozialhilfe abgedeckten Leistungen. Viele ältere Menschen sind nämlich - zumindest eine zeitlang durchaus in der Lage, selbst für soziale Dienste aufzukommen. Darüber hinaus wurden viele soziale Dienste für ältere Menschen, vor allem im ambulanten Bereich, auch im Rahmen der Krankenversicherung erbracht bzw. gehörten zu den freiwilligen Leistungen der freien Wohlfahrtspflege. Dennoch spiegelt die langfristige Zunahme der Hilfen zur Pflege im Rahmen der Sozialhilfe bis zur Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1994 das kontinuierliche Wachstum der sozialen Dienste im stationären Sektor seit den 1960er Jahren wider. Die ambulanten Dienste erlebten dagegen eine weniger kontinuierliche Entwicklung, ihr Anstieg blieb insgesamt geringer als derjenige der Anstalten und Heime. Trotz unzureichender Datenlage, insbesondere im Hinblick auf konsistente Zeitreihen, lässt sich ein klarer Entwicklungstrend hinsichtlich des Angebots an Alten- und Pflegeheimen seit Beginn der 1960er Jahre konstatieren (siehe Tabelle 65). So hat sich die Zahl der insgesamt angebotenen Plätze von rund 230.000 im Jahr 1961 dreißig Jahre später im Jahr 1991 auf rund 525.000 mehr als verdoppelt. Die absoluten Zuwächse verliefen dabei relativ konstant. Sowohl von 1961 bis 1971 als auch in den beiden folgenden Jahrzehnten wuchs das Gesamtangebot um jeweils rund 100.000 Plätze.
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Tabelle 65: Plätze in der stationären Altenhilfe nach Einrichtungsart, Bundesrepublik Deutschland1 1961-1994 (in 1.000) 1961 1966 1971 1978 19812 Insgesamt 234,0 270,0 324,8 402,0 422,4 -Altenwohnheim 35,0 44,0 57,4 73,7 64,9 -Altenheim 161,5 177,0 201,7 211,3 154,9 -Altenpflegeheim 37,5 49,0 65,8 109,7 39,3 X X X X 156,4 -Mehrgliedrige Heime2 -Andere X X X 7,3 6,9
1985 476,3 50,9 173,6 50,8 194,9 6,0
1990 1994 516,8 682,2 50,4 k.A. 125,6 k.A. 91,0 k.A. 249,7 k.A. X
k.A.
k.A.: keine Angaben verfügbar, X: In anderer Zelle (Kategorie) erfasst. Anmerkungen: 1 Gebietsstand vor 1990, 2 Ab 1981 verändert sich die Statistik der mehrgliedrigen Einrichtungen, also derjenigen Heime, die sowohl Wohn- als auch Pflegeabteilungen besitzen. Vor 1981 wurden die Plätze in diesen Einrichtungen nach ihrer Funktion differenziert und entsprechend zugewiesen, nach 1981 nicht mehr. Seitdem werden sie in der Statistik separat ausgewiesen. Quelle: Schölkopf, 1998: S. 2, Tabelle 1.
Entgegen der vielfach erhobenen Klage über eine Stagnation der sozialen Dienste in der Altenhilfe vor Einführung der Pflegeversicherung lässt sich somit ein kontinuierlicher und mit der Zunahme der Altenpopulation Schritt haltender Anstieg der Versorgungskapazitäten im stationären Bereich konstatieren (vgl. Schölkopf 1998). Dieses Bild eines kontinuierlichen Anstiegs verdeckt jedoch große strukturelle Verschiebungen zwischen den verschiedenen Heimtypen (siehe Tabelle 66). Tabelle 66: Plätze in der stationären Altenhilfe nach Einrichtungsart, Bundesrepublik Deutschland1 1961-1990 (in %) 1961 1966 1971 1978 1986 1990
Altenwohnheim 15 16 18 18 19 19
Altenheim 69 66 62 53 39 32
Altenpflegeheim 16 18 20 27 41 49
Anmerkungen: 1 Gebietsstand vor 1990. Quelle: Schölkopf, 1998: S. 3, Tabelle 2.
Stellten Plätze in Pflegeheimen 1961 erst rund 16% des Gesamtangebots, hat sich ihr Anteil 1990 auf rund 50% erhöht. Die Dynamik des Anstiegs war hier besonders hoch: die Zahl der Plätze in Pflegeheimen hat sich innerhalb von dreißig Jahren mehr als versechsfacht. Dagegen stieg die Zahl der Plätze in Wohnheimen bis Ende der 1970er Jahre weniger an, seitdem geht er sogar absolut zurück. Hierin drückt sich der qualitative Wandel der stationären Altenhilfe von einer durch Wohnen geprägten in eine zunehmend durch Pflege bestimmte Struktur aus, deren Funktionsweise heute ganz überwiegend durch die Anforde-
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rungen der Langzeitpflege bestimmt ist. Es lässt sich außerdem eine wachsende Zweiteilung beobachten: das klassische Altenheim verschwindet allmählich, während einerseits neue Wohnformen für ältere Menschen entstehen und sich anderseits der Pflegebereich weiter ausdehnt. Der Anstieg der Plätze in der stationären Altenhilfe hat auch mit dem Wachstum der alten Menschen in der Bevölkerung Schritt gehalten. Zwar blieb die Versorgungsquote mit Heimplätzen jeden Typs für Menschen im Alter von 75 und darüber während des gesamten Zeitraums von 1961 bis 1990 relativ konstant zwischen 11% und 12,5%, doch die Versorgungsquote mit Pflegeplätzen, also dem Kernproblem der Altenhilfe, stieg deutlich von 2% auf 5,5% für die gleiche Altersgruppe an (Schölkopf 1998: 4). Das Deutsche Zentrum für Altersfragen e.V. hat 1981/1982 eine großangelegte Bestandsaufnahme des in der Altenhilfe tätigen Personals in der Bundesrepublik und in den einzelnen Ländern durchgeführt (vgl. Hinschützer 1983). In dieser Untersuchung wurde auch das zerstreute statistische Material über die stationären Einrichtungen der Altenhilfe zusammengetragen, nicht dagegen über die ambulanten sozialen Dienste, wo die Datenlage noch weit unzulänglicher ist. Die Zahlen lassen die Grundstrukturen der stationären Altenhilfe zu Beginn der 1980er Jahre klar erkennen (siehe Tabelle 67). Tabelle 67: Stationäre Einrichtungen1 der Altenhilfe nach Einrichtungsart und Träger, Bundesrepublik Deutschland 1981 Öffentlich Gemeinnützig Gewerblich Gesamt Einrichtungen insgesamt (N) - Altenheime - Altenpflegeheime - Altenwohnheime - Mehrgliedrige Einrichtung - Andere
1036 474 79 264 212 7
3267 1696 204 310 975 82
1598 880 342 56 297 23
5901 3050 625 630 1484 112
Plätze insgesamt (in 1.000)2 - Altenheime - Altenpflegeheime - Altenwohnheime - Mehrgliedrige Einrichtung - Andere
97,7 35,3 11,7 22,4 27,6 0,8
271,3 100,3 15,9 35,4 114,7 5,0
53,3 19,4 11,6 7,1 14,1 1,0
422,3 154,9 39,3 64,9 156,4 6,9
Anmerkungen: 1 Ohne Heime für behinderte Volljährige (1981 ca. 55.000 Plätze in 644 Einrichtungen), 2 Gerundet. Quelle: Hinschützer, 1983: S. 15, Tabelle 2.
In ganz Westdeutschland gab es 1981 5901 Einrichtungen für ältere Menschen, ohne die Heime für behinderte Menschen, in denen zum Teil auch ältere Personen untergebracht waren. Mehr als die Hälfte davon waren klassische Altersheime, während nur etwas mehr als 10% der Einrichtungen ausgesprochene Altenpflegeheime waren. Dennoch verfügten viele Altenheime und insbesondere die mehrgliedrigen Einrichtungen über teilweise eigenständige Pflegeabteilungen, stellten also funktional betrachtet Mischformen zwischen
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Wohnen und Pflege dar. Insgesamt überwog dieser Einrichtungstyp, insbesondere wenn man die Zahl der angebotenen Plätze berücksichtigt. Die mehrgliedrigen Einrichtungen, die nur rund ein Viertel der Heime ausmachten, stellten 37% der Plätze, während die klassischen Altenheime zwar über 50% der Einrichtungen repräsentierten, aber nur 36% der Plätze zur Verfügung stellten. Insgesamt überwogen die Mischformen deutlich, spezialisierte Wohn- oder Pflegeheime waren mit rund 20% der Einrichtungen und ca. einem Viertel der Plätze in der Minderzahl. Dabei ist zu berücksichtigen, dass ein Teil der pflegebedürftigen und stationär versorgten Menschen damals noch nicht in den verschiedenen Einrichtungen der Altenhilfe, sondern in Krankenhäusern und ähnlichen Anstalten untergebracht war. Nach Schätzungen einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Pflege befanden sich um 1980 rund 20% der stationär versorgten Pflegebedürftigen in psychiatrischen, geriatrischen und anderen Krankenhäusern und Kliniken, 17% lebten in Heimen für Behinderte. In Altenpflegeheimen und entsprechenden Pflegabteilungen waren 43%, in Altenheimen nur rund 21% untergebracht (Hinschützer 1983: 16). Die Träger der freien Wohlfahrt stellten rund 55% der Heime und 64% der Plätze, deckten also fast zwei Drittel des Gesamtangebots an stationären Einrichtungen der Altenhilfe ab. Der öffentliche Sektor, in erster Linie die Kommunen, hielt einen Anteil von 17% der Heime mit zusammen 23% der Plätze. Der gewerbliche Sektor stellte zwar rund 27% der Heime, aber nur ca. 12% der Plätze. Die Heime in kommerzieller Trägerschaft waren also im Durchschnitt deutlich kleiner als die frei gemeinnützigen und insbesondere die öffentlichen Einrichtungen. So beherbergten die gewerblich betriebenen Heime im Durchschnitt rund 33, die gemeinnützigen 83 und die öffentlichen mehr als 94 Personen. Dabei weisen die freien Träger den geringsten Grad an Spezialisierung auf reine Wohn- oder Pflegeheime auf. Ihr Schwerpunkt liegt bei den mehrgliedrigen „gemischten“ Einrichtungen und den traditionellen Altenheimen, von denen ebenfalls viele über eine Pflegeabteilung verfügten. In der stationären Altenhilfe in Deutschland kann man also mit Fug und Recht sagen, dass die gemeinnützigen Träger zu Beginn der 1980er Jahre den Kern des Dienstleistungsangebots stellten, während sowohl öffentliche als auch kommerzielle Träger eher auf bestimmte Nischen spezialisiert waren, wenngleich mit unterschiedlicher Akzentuierung. Entgegen den Vorstellungen von einer wohlsituierten, gesunden Klientel in geräumigen privaten Altenwohnheimen, stellte gerade der kommerzielle Sektor in überdurchschnittlichem Maße Pflegeplätze und vergleichsweise wenige reine Wohnplätze. Es ist der öffentliche Sektor, der das relativ größte Angebot an reinen Wohnheimplätzen bereithielt. Die freien Träger bildeten aber eindeutig das Rückgrat der stationären Altenhilfe, sowohl im Wohn- als auch im Pflegebereich. Noch deutlicher ist ihre dominante Stellung im Bereich der Heime für behinderte Erwachsene. Hier deckten sie rund 80% des Platzangebots, auf öffentliche und kommerzielle Träger entfielen jeweils etwa 10%. Anders verlief die Entwicklung bei den ambulanten Diensten in der Altenpflege. Traditionell waren diese zumeist von religiös geprägten Einrichtungen übernommen worden, insbesondere Kirchengemeinden und Gemeindeschwestern spielten eine tragende Rolle. Doch diese überwiegend lokal gewachsene Form der Versorgung erlebte seit den 1960er Jahren einen unaufhaltsamen Niedergang, der sich noch bis zur Mitte der 1970er Jahre fortsetzte und sich in der bis 1975 rückläufigen Zahl der beschäftigten Personen in diesem Bereich niederschlug (siehe Tabelle 68).
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Tabelle 68: Einrichtungen und Beschäftigte in den ambulanten Pflegediensten der Wohlfahrtsverbände, Bundesrepublik Deutschland1 1970-1996 (N) Einrichtungen 1970 1975 1981 1984 19903 19933 19934 19964
10.275 8.953 5.499 5.183 5.788 5.356 6.250 6.812
Personal2 21.145 19.136 23.655 28.324 34.268 41.593 49.808 65.300
Vollzeitäquivalente 17.035 15.253 18.173 21.514 27.105 31.436 38.344 47.600
Anmerkungen: 1 Jeweiliger Gebietsstand; siehe Fußnoten 3 und 4, 2 Hauptberuflich Beschäftigte insgesamt (Voll- und Teilzeitbeschäftigte), 3 Alte Bundesländer, 4 Gesamtdeutschland. Quelle: Schölkopf, 1998: S. 7, Tabelle 6.
Seit einige Bundesländer Mitte der 1970er Jahre damit begannen, professionell besetzte Sozialstationen zu fördern, die zumeist von den großen freien Wohlfahrtsverbänden betrieben wurden, lässt sich wieder ein Anstieg des Angebots an ambulanten sozialen Diensten für ältere und pflegebedürftige Menschen feststellen. Tabelle 68 erfasst nur die von den freien Wohlfahrtsverbänden getragenen Einrichtungen, die jedoch in diesem Sektor beinahe eine Monopolstellung besaßen. Zwar ist dieser Dienstleistungsbereich nach wie vor durch eine relativ kleinteilige Organisationsstruktur geprägt, aber im Zeitverlauf lässt sich doch ein Trend zu etwas größeren Einheiten beobachten. Kamen beispielsweise 1970 im Durchschnitt nur rund 1,7 Vollzeitkräfte (in Vollzeitäquivalenten) auf jede Einrichtung, waren es 1981 schon rund 3,3 und 1993 sogar schon 5,9. Darin spiegelt sich die Ablösung der sehr kleinräumigen lokalen Versorgung, zum Beispiel durch die traditionelle Gemeindeschwester, durch großräumigere, oft stadtteilgebundene Sozialstationen mit mehreren Beschäftigten wider (vgl. Büschges, Wasilewski und Fassmann 1992). Schon vor Einführung der Pflegeversicherung war somit ein Netz von ambulanten sozialen Diensten geschaffen worden, das jedoch im internationalen Vergleich noch nicht gut abschnitt. Auch im Vergleich zum stationären Sektor waren die ambulanten Dienste in Deutschland stark unterentwickelt. Im Jahr 1993 arbeiteten in Deutschland beispielsweise rund 40.000 Menschen im Bereich ambulanter Pflegedienste, davon jeweils die Hälfte in Voll- bzw. in Teilzeit. Zur gleichen Zeit beschäftigten allein die Wohlfahrtsverbände fast 160.000 Menschen in Alten- und Pflegeheimen, also fast das vierfache an Personal. Darüber hinaus waren zwei Drittel dieser Beschäftigten in Vollzeit tätig (Schölkopf 1998: S. 6 und 7). Entsprechend gering war die Versorgungsquote im ambulanten Bereich im Vergleich zum stationären Sektor. Mit Ausnahme der Statistiken der freien Wohlfahrtsverbände ist die Datenlage im Bereich der ambulanten Dienste für ältere Menschen vor 1994 noch schlechter als bei den stationären Einrichtungen. Es gab jedoch seit Mitte der 1980er Jahre einzelne punktuelle Erhebungen und statistische Bestandsaufnahmen in diesem Bereich. Das Bundesfamilienministerium hat 1983 den Deutschen Verein für Öffentliche und Private Fürsorge beauftragt, eine bundesweite Erhebung von Grunddaten über ambulante gesundheits- und sozial-
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pflegerische Dienste durchzuführen, deren Ergebnisse 1987 veröffentlicht wurden (vgl. Höft-Dzemski 1987). Die Erhebung bezog sich auf die ambulanten Dienste im Rahmen der häuslichen Krankenpflege, Altenpflege, Haus- oder Familienpflege und Dorfhilfe. Entsprechend waren Sozialstationen, Gemeindekrankenpflegestationen, Familienpflegestationen und ähnliche Einrichtungen in die Untersuchung einbezogen, allerdings nur solche mit zumindest einem hauptberuflich Erwerbstätigen in kommunaler oder freigemeinnütziger Trägerschaft. Die ausschließlich ehrenamtlich oder von Hilfspersonal erbrachten Dienste waren ausgeschlossen, ebenso wie der gesamte kommerzielle Sektor, der jedoch eine in diesem Bereich marginale Rolle gespielt haben dürfte. Insgesamt wurden in der Erhebung im Jahr 1984 in der Bundesrepublik (damals nur Westdeutschland) 3889 ambulante Pflegedienste gezählt. Dies entsprach einer Versorgungsdichte von im Durchschnitt rund 16.000 Einwohnern je Pflegedienst (Höft-Dzemski 1987: 40). Auf jede hauptberufliche Pflegekraft kamen im Durchschnitt ca. 2800 Einwohner bzw. rund 400 Einwohner über 65 Jahre (Höft-Dzemski 1987: 69). Stellt man die nicht hauptberuflich Beschäftigten in Rechnung, über die keine Daten vorliegen, kann dieser Versorgungsgrad nicht durchweg als mangelhaft bezeichnet werden, auch wenn der Bedarf sicherlich nicht gedeckt werden konnte. Der Versorgungsgrad variierte allerdings von Land zu Land, mit Berlin und Schleswig-Holstein am unteren, Hessen und Saarland am oberen Ende der Skala. Bezogen auf das Bundesgebiet (Gebietsstand vor 1990) boten fast 90% der Einrichtungen Krankenpflege, drei Viertel Altenpflege und die Hälfte Haus- und Familienpflege an (Mehrfachnennungen waren möglich); reine hauswirtschaftliche Versorgung und ergänzende mobile Dienste bildeten eher die Ausnahme (Höft-Dzemski 1987: 38). Die Personalstruktur der ambulanten Pflegedienste kann man als zweigeteilt bezeichnen (siehe Tabelle 69). Auf der einen Seite stellten ausgebildete Krankenschwestern über ein Drittel des gesamten Personals, fast zwei Drittel von ihnen waren vollzeitbeschäftigt. Auf der anderen Seite bildeten ungelernte Helferinnen etwa 40% des Personalbestands, davon waren über 70% zumeist nur stundenweise beschäftigt. Zwischen diesen beiden Polen war die Zahl ausgebildeter Altenpflegerinnen bzw. der Haus- und Familienpflegerinnen mit 6% bzw. 13% relativ niedrig. Den Rest von 6% stellten Krankenpflegehelferinnen. Tabelle 69: Personal ambulanter Pflegedienste nach Berufsgruppe und Beschäftigungsumfang, Bundesrepublik Deutschland 1984 (in %)1 Berufsgruppe Krankenschwestern Altenpflegerinnen Haus- und Familienpflegerinnen, Dorfhelferinnen Krankenpflegehelferinnen Andere Helferinnen2 Insgesamt (N)
Vollzeit Teilzeit Stunden Gesamt (N) weise 62 70 44
26 21 23
12 9 33
12.731 2.313 4.514
27 6 13.047
31 22 8.627
42 72 14.680
2.324 14.472 36.354
Anmerkungen: 1 Zeilenprozente, 2 Helferinnen in Alten-, Haus- und Familienpflege. Quelle: Höft-Dzemski, 1987: S. 46, Tabelle 6; eigene Berechnungen.
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Die ambulanten Pflegedienste ruhten also Mitte der 1980er Jahre noch in starkem Maße auf medizinisch ausgebildetem Personal einerseits und ungelernten Helferinnen andererseits; der Beruf des Altenpflegers hatte sich noch kaum etabliert. Dies sollte sich erst mit den Reformen zu Beginn der 1990er Jahre ändern: mit der wachsenden Institutionalisierung der Pflege ging seitdem auch eine zunehmend eigenständige, vom Medizinbetrieb gelöste, Professionalisierung in diesem Bereich einher. Leider wurde in dieser Erhebung die Trägerschaft der Einrichtungen nicht in allen Bundesländern erfasst (vgl. Höft-Dzemski 1987: 40, 41). Es fehlen dazu vor allem Angaben aus den großen Ländern Nordrhein-Westfalen und Bayern. In den in dieser Hinsicht untersuchten Ländern standen 82% der ambulanten Pflegedienste in ausschließlicher Trägerschaft freier Träger, bei 7% lag eine Mischung von kommunaler und freier Trägerschaft vor, 11% befanden sich in alleiniger kommunaler Trägerschaft; kommerzielle Anbieter wurden, wie oben ausgeführt, nicht erfasst. Der größte Träger überhaupt mit mehr als 40% des Gesamtangebots war das Diakonische Werk (und evangelische Kirchengemeinden). Allerdings muss dabei in Rechnung gestellt werden, dass aus den großen, überwiegend katholischen Ländern Nordrhein-Westfalen und Bayern keine Angaben über die Trägerschaft vorlagen. Für den Zeitraum bis zur Einführung der Pflegeversicherung liegen mit Ausnahme der Statistik der freien Wohlfahrtsverbände keine anderen Bestandsaufnahmen des Angebots an ambulanten Pflegediensten vor. Zwar wurde 1991/1992, also unmittelbar vor Einführung der Pflegeversicherung, im Auftrag der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation eine weitere Sekundäranalyse durchgeführt (Büschges 1992), die jedoch größtenteils auf den Ergebnissen der Statistik der Wohlfahrtsverbände und der im Auftrag des Deutschen Vereins erfolgten, oben zitierten Erhebung basiert. Aus den Sekundärauswertungen dieser Materialien ergeben sich dennoch einige wichtige zusätzliche Aspekte über die Struktur der sozialpflegerischen Dienste zu Beginn der 1990er Jahre (vgl. Büschges 1992). So wird insbesondere deutlich, welche herausragende Rolle damals bereits die Sozialstationen in diesem Bereich spielten. War die sozialpflegerische Infrastruktur zu Beginn der 1970er Jahre noch weitgehend durch die traditionelle Gemeindekrankenpflege gekennzeichnet, hatte sich das Modell der damals zuerst von Rheinland-Pfalz eingeführten Sozialstationen inzwischen soweit durchgesetzt, dass im Jahr 1990 rund 73% der hauptamtlich Beschäftigten im sozialpflegerischen Bereich in solchen Einrichtungen angesiedelt waren (vgl. Büschges 1992: 47). Die Sozialstationen fungieren als zentrale Anlauf- und Kontaktstellen für eine Vielfalt sozialer Dienste im häuslichen Bereich in einem bestimmten lokalen Umfeld. Sie vereinen die traditionelle, medizinisch geprägte Krankenpflege mit der eher an sozialen Aspekten orientierten Altenpflege und der stark hauswirtschaftlich bestimmten Haus- und Familienpflege. Somit sind sie eine zentrale Einrichtung für die funktionale Integration von medizinischen, sozialen und hauswirtschaftlichen Aspekten der sozialen Dienste im häuslichen Bereich. Ihr Leistungsspektrum umfasst Grund- und Behandlungspflege, aber auch die hauswirtschaftliche Versorgung; nicht selten werden im Rahmen der Sozialstationen auch ergänzende soziale Dienste angeboten oder vermittelt, wie etwa Essen-auf-Rädern. Zwar wurden diese verschiedenen Leistungen nach wie vor aus unterschiedlichen Quellen finanziert (die Behandlungspflege zum Beispiel durch die Krankenversicherungen, die Grundpflege sowie die hauswirtschaftliche Versorgung häufig durch die Sozialhilfeträger) und von unterschiedlichem Personal erbracht, dennoch ist die institutionelle Integration dieser Dienstleistungsformen unter einem Dach von großer Bedeutung
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für die Entwicklung sozialer Dienste und kann als eine der wichtigsten sozialen Innovationen in diesem Bereich betrachtet werden. Die Bündelung der verschiedenen ambulanten soziale Dienste in den Sozialstationen hat die institutionelle Integration der bislang stark fragmentierten sozialen Dienste in Deutschland entscheidend befördert. Diese Strukturveränderung war in den 1970er Jahren eingeleitet worden und hatte bereits vor Einführung der Pflegeversicherung die größte Wegstrecke zurückgelegt. Auch im stationären Bereich der Altenhilfe war die Integration von Wohnen und Pflege bis zum Beginn der 1990er Jahre weit fortgeschritten. Betrachtet man also das soziale Dienstleistungsangebot als solches, waren die entscheidenden institutionellen Strukturveränderungen sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich bereits vor Einführung der Pflegeversicherung auf den Weg gebracht worden, ja, die zentralen Strukturveränderungen des Dienstleistungsangebots im Hinblick auf eine stärkere institutionelle Integration der Pflegeleistungen kann schon vor der 1994 erfolgten Reform als weitgehend vollzogen betrachtet werden. Ebenso muss festgehalten werden, dass der quantitative Ausbau der sozialen Dienste keineswegs stagniert hatte, im Gegenteil lässt sich in fast allen Bereichen eine deutliche Zunahme der Versorgungsinfrastruktur seit den 1970er Jahren beobachten. Das soziale Dienstleistungssystem in Deutschland hatte also trotz allgemein anerkannter Mängel durchaus seine Entwicklungsfähigkeit bewiesen. Der entscheidende Grund für die Notwendigkeit einer tiefgreifenden Reform dürfte deshalb weniger im Angebot sozialer Dienste als solchem gelegen haben, es waren vielmehr die weitgehend ungelösten Finanzierungsfragen, die letztlich den Anstoß zur Einführung der Pflegeversicherung gaben (vgl. Ostner 1998). Betrachtet man die Entwicklung der sozialen Dienste in Deutschland allein unter dem Aspekt des Angebots, hatte das System seine Anpassungsfähigkeit erwiesen. Dies gilt auch und vor allem hinsichtlich der zentralen Rolle, welche die freien Wohlfahrtsverbände darin gespielt haben. Die freien Wohlfahrtsverbände stellten bis zur Einführung der Pflegeversicherung den Großteil des Angebots an sozialen Diensten für ältere Menschen. Ihr Spitzenverband erfasst seit 1970 die in diesem Bereich bis 1994 fast konkurrenzlos dastehenden Daten über die sozialen Dienste, die aufgrund der marktbeherrschenden Stellung der freien Wohlfahrt einen Einblick in die Entwicklung der Gesamtstruktur sozialer Dienste gestatten. Eine Ausnahme in der fast monopolartigen Stellung der freien Wohlfahrt bildet der stationäre Bereich der Alten- und Pflegeheime, in dem sowohl öffentliche als auch privatkommerzielle Träger eine wichtige Rolle spielen. Insbesondere das Angebot kommerzieller Altenheime wuchs schon vor Einführung der Pflegeversicherung mit großer Dynamik. Das Wachstum der von den Wohlfahrtsverbänden getragenen Altenheime war bis zur Mitte der 1980er Jahre dagegen eher bescheiden (siehe Tabelle 70). So stieg die Zahl der Plätze von 1970 bis 1987 lediglich von rund 185.000 auf ca. 300.000 an. Doch dann wuchs das Angebot binnen 6 Jahren bis 1993, also in den Jahren unmittelbar vor der Pflegereform 1994, auf über 400.000 Plätze bzw. Betten. Dieses Wachstum ist zum großen Teil auf den steilen Anstieg der Einrichtungen mit Pflegeplätzen zurückzuführen. Machten diese im Jahr 1970 erst rund 50% des Gesamtangebots aus, stieg ihr Anteil von rund 70% im Jahr 1987 auf mehr als 75% im Jahr 1993. Über drei Viertel der Plätze in den von den Verbänden der freien Wohlfahrt getragenen stationären Einrichtungen der Altenhilfe befanden sich in Heimen, die zumindest einen dauerhaften Pflegebereich besaßen oder sich gar auf die Pflege spezialisiert hatten. Somit überwog der Pflegeaspekt in den Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege sogar den ohnehin steigenden Anteil der Heime mit Pflegeabteilung im
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Gesamtangebot aller Träger. Der Anteil der von der freien Wohlfahrt angebotenen Plätze in der stationären Altenhilfe betrug während des gesamten Zeitraums von 1970 bis 1990 rund 60%, mit Abweichungen von rund 3% nach unten oder oben (vgl. Tabellen 70 und 65). Tabelle 70: Plätze in den stationären Altenhilfeeinrichtungen1 der freien Wohlfahrt, Bundesrepublik Deutschland2 1970-1996
1970 1973 1975 1977 1981 1984 1987 19904 19934 19935 19965
Gesamt (1.000) 185,0 208,5 231,3 241,3 266,1 290,6 303,8 335,2 401,3 441,0 418,9
Davon: in Einrichtungen mit Pflegebetten3 % 49,9 51,3 52,5 59,1 66,3 67,6 72,8 74,4 75,8 77,5 83,1
Anmerkungen: 1 Altenheime ohne/mit ständiger Pflegeabteilung, Altenwohnheime, Altenpflegeheime, Altenheime für Schwestern, Seemannsheime, Binnenschifferheime, Einrichtungen mit Altenwohnungen, 2 Jeweiliger Gebietsstand; siehe auch Fußnoten 4 und 5, 3 Plätze/Betten in Einrichtungen mit ständiger Pflegeabteilung. Diese Zahl liegt höher als die der tatsächlichen Pflegebetten, die statistisch nur sporadisch ausgewiesen ist, z.B. für 1981: 70.445 (entspricht 26,5% aller Plätze), 4 Alte Bundesländer, 5 Gesamtdeutschland. Quelle: Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege: Gesamtstatistik, verschiedene Jahre 1970-2000; eigene Berechnungen.
Im Unterschied zur Heimplatzstatistik, die als Bundesstatistik geführt wird und somit Angaben über die Entwicklung der stationären Altenhilfe insgesamt enthält, liegen vergleichbare Daten über ambulante soziale Dienste und Tageseinrichtungen der Altenhilfe im Zeitraum vor 1994 nur für das Angebot der freien Wohlfahrtsverbände vor, die jedoch in diesen Bereichen fast eine Monopolstellung einnahmen. Somit lassen sich aus den Statistiken der freien Wohlfahrt Schlüsse über die Gesamtentwicklung in diesem Sektor ziehen. Für die sozialpflegerischen Dienste wurde dies bereits oben (vgl. Tabelle 69) dargestellt, bleiben als wichtige soziale Dienstleistungen in der Altenhilfe die Tageseinrichtungen und Tagesbegegnungsstätten und die mobilen Mahlzeitendienste (Essen-auf-Rädern). Tabelle 71 zeigt aufgrund der insgesamt unzuverlässigen Datenerfassung in diesem Bereich kein konsistentes Bild. So nimmt etwa die Zahl der Einrichtungen (Altentagesstätten und Begegnungszentren) von 1970 bis Ende der 1970er Jahre ab, steigt seitdem jedoch kontinuierlich an. Dies dürfte die zuverlässigste Zahl sein, weil sie relativ unkompliziert erhoben werden kann. Problematischer ist in diesem Bereich schon die Erfassung des Personals, weil es teilweise erhebliche Fluktuationen zwischen Voll- und Teilzeitbeschäftigung gibt. Zudem sind nur die hauptberuflich Beschäftigten erfasst, ein Großteil der Arbeit in
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diesem Bereich dürfte jedoch von ehrenamtlichen Kräften geleistet werden. Dies wird schon allein daran deutlich, dass die Zahl der Einrichtungen in der Regel die Zahl der hauptberuflich Beschäftigten übersteigt. So ist der Beschäftigungstrend nicht einheitlich, seit 1987 lässt sich aber eine kontinuierliche Zunahme des Personalbestands feststellen, der parallel zum Anstieg der Zahl der Einrichtungen verläuft. Tabelle 71: Einrichtungen, Plätze und Beschäftigte in den Altentagesstätten1 der freien Wohlfahrt, Bundesrepublik Deutschland2 1970-2000
1970 1973 1975 1977 1981 1984 1987 19903 19933 19934 19964 20004
Einrichtungen Plätze (N) (1.000) 2110 83,3 2024 88,5 1791 83,9 1546 51,5 1978 87,2 1944 84,4 2028 90,6 2046 82,2 2542 71,9 3108 91,3 3069 X 3391 (57,2)
Personal5: Personal5: Vollzeit(N) Teilzeit (N) 216 1569 227 1213 340 1556 321 915 332 1272 332 1599 407 1104 963 909 994 1027 1469 1297 1335 1545 2668 2100
X: Angaben nicht zuverlässig. Anmerkungen: 1 Ohne Tagespflegeeinrichtungen, 2 Jeweiliger Gebietsstand; siehe auch Fußnoten 3 und 4, 3 Alte Bundesländer, 4 Gesamtdeutschland, 5 Hauptberuflich Beschäftigte. Quelle: Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege: Gesamtstatistik, verschiedene Jahre 1970-2000.
Am problematischsten sind sicherlich die Zahlen über die in diesen Einrichtungen angebotenen Plätze, die in Tageszentren naturgemäß schwer zu erfassen und zu standardisieren sind. Demgemäß zeigen sich in der Entwicklung der angebotenen Plätze die größten statistischen Schwankungen, die wohl kaum auf eine tatsächlich veränderte Kapazität schließen lassen, sondern überwiegend durch Variationen in der statistischen Erfassung zu erklären sein dürften. Dieser Aspekt soll jedoch hier nicht vertieft werden, weil mit einiger Vorsicht aus der Zahl der Einrichtungen und dem Personalbestand auf eine wenngleich späte und beschränkte Expansion in diesem Bereich geschlossen werden kann. Ein starkes Wachstum erlebten hingegen die mobilen Essensdienste, die überwiegend älteren Menschen zugute kommen (siehe Tabelle 72). Gab es im Jahr 1970 bundesweit erst insgesamt 232 solcher Dienste mit rund 500 Beschäftigten in Trägerschaft der Wohlfahrtsverbände, war deren Zahl bis 1987 auf mehr als 1.000 mit rund 2.000 hauptberuflich Beschäftigten angestiegen. Danach sinken die Zahlen leicht ab, um seit 1993 erneut stark anzusteigen. Aus den getrennt ausgewiesenen Zahlen für West- und Ostdeutschland ergibt sich ein deutlich höherer Versorgungsgrad auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Die Zahl der hauptberuflich Beschäftigten spiegelt wie im Bereich der Tagesstätten keineswegs die
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Beschäftigungssituation bei den mobilen Hilfsdiensten wider, weil auch hier zum Grossteil andere Arbeitskräfte zum Einsatz kommen, seit der Neuregelung des Wehr- und Ersatzdienstes in erster Linie Zivildienstleistende. Insgesamt gesehen lässt sich jedoch ein deutlicher Anstieg der Versorgung feststellen, binnen dreißig Jahren von 1970 bis 2000 hat sich die Zahl der Einrichtungen um den Faktor 7,7 erhöht. Tabelle 72: Einrichtungen und Mitarbeiter der mobilen Mahlzeitendienste 1 der freien Wohlfahrt, Bundesrepublik Deutschland2 1970-2000 Dienste (N) 1970 1973 1975 1977 1981 1984 1987 19904 19934 19935 19965 20005,6
232 392 455 635 912 935 1027 976 856 1504 1573 1780
Mitarbeiter3: Vollzeit (N) 164 210 301 367 550 552 946 996 701 1058 1027 993
Mitarbeiter3: Teilzeit (N) 347 607 721 923 1521 1044 1043 962 923 1138 1152 1609
Anmerkungen: 1 Essen-auf-Rädern, 2 Jeweiliger Gebietsstand (siehe Fußnoten 4 und 5), 3 Hauptberuflich Beschäftigte, 4 Alte Bundesländer, 5 Gesamtdeutschland, 6 Einschließlich stationäre Mahlzeitendienste. Quelle: Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege: Gesamtstatistik, verschiedene Jahre 1970-2000; eigene Berechnungen.
Somit wird deutlich, dass die sozialen Dienste für ältere Menschen schon vor Einführung der Pflegeversicherung kontinuierlich gewachsen waren, auch wenn das Angebot vor allem im ambulanten Bereich sowie in der Tagesbetreuung und den ergänzenden mobilen Diensten den wachsenden Bedarf nicht decken konnte. Ein zentrales Ziel der 1994 eingeführten Pflegeversicherung war, genau diesem Mangel abzuhelfen. Bevor die quantitative Entwicklung der sozialen Dienste nach 1994 und die seitdem erfolgten Strukturverschiebungen analysiert werden, sollen zunächst die wesentlichen institutionellen Veränderungen im Zuge dieser Reform dargestellt werden, ohne jedoch eine vollständige Beschreibung der Pflegeversicherung zu liefern. Darüber ist bereits an anderer Stelle vielfach publiziert worden. Mir geht es hier in erster Linie darum, diejenigen Veränderungen im institutionellen Arrangement der sozialen Dienste für ältere Menschen darzustellen, welche die weitere Entwicklung geprägt und die institutionellen Beziehungen zwischen den Akteuren neu gestaltet haben.
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Die soziale Innovation der Pflegeversicherung 1994 Die Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1994 veränderte die Funktionsweise des sozialen Dienstleistungssystems im Bereich der Behinderten- und Altenhilfe tiefgreifend (vgl. Bräutigam und Schmid 1996). Finanzierung, Leistungen und Angebot sozialer Dienste wurden auf eine neue Grundlage gestellt. Die Finanzierung erfolgt seitdem über lohnbezogene Beiträge im Rahmen einer Pflichtsozialversicherung in Anlehnung an die gesetzliche Krankenversicherung. Von der Krankenversicherungspflicht befreite und somit privat krankenversicherte Erwerbstätige sind in der privaten Pflegeversicherung pflichtversichert. Dadurch sind praktisch 99% der Bevölkerung pflichtversichert, rund 90% davon in der sozialen Pflegeversicherung. Wie in der Krankenversicherung sind die Beiträge der sozialen Pflegeversicherung lohnbezogen, die Leistungen dagegen richten sich nach dem Bedarf. Ebenso gilt hier wie dort das Prinzip der Familienmitversicherung, das heißt, nicht erwerbstätige Familienmitglieder sind kostenlos mitversichert und haben ebenfalls Anspruch auf Leistungen. In diesen Elementen gleicht die Pflegeversicherung der Krankenversicherung, unterscheidet sich jedoch von ihr in der Festlegung der Leistungen. Während die Krankenversicherung grundsätzlich den gesamten medizinisch notwendigen Behandlungsbedarf abdeckt und die Therapiewahl weitgehend ins Ermessen der Ärzteschaft stellt, sind in der Pflegeversicherung in jedem Fall Leistungsobergrenzen definiert. Darüber hinaus werden die anrechenbaren Leistungen in hohem Maße standardisiert. Zunächst erfolgt eine durch den medizinischen Dienst der Krankenkassen durchgeführte Feststellung des Pflegebedarfs, auf dessen Grundlage die Pflegebedürftigen einer von drei Pflegestufen zugeordnet werden, die eine unterschiedliche Schwere des Bedarfs widerspiegeln. Diesen drei Pflegestufen sind drei unterschiedlich hohe Leistungsniveaus zugeordnet. Es gibt also im Unterschied zur Krankenversicherung keinen prinzipiell auf den Einzelfall zielenden Leistungsanspruch, sondern eine Festlegung von Bedarf und Leistungen anhand kategorialer Merkmale. Ob eine solche statische Einteilung in Pflegestufen der Wirklichkeit des Pflegerisikos auf Dauer gerecht werden kann, wird seitdem viel diskutiert (vgl. Rothgang 1997; Rückert 1999; Schneekloth und Müller 1999; Klie et al. 2002). Entscheidend für unser Argument ist der hohe Grad an Standardisierung der Leistungen, der ein zentrales Instrument der sozialen Kontrolle der Pflegedienstleistungen ist und somit als wesentlicher Bestandteil einer gewachsenen Institutionalisierung des Systems sozialer Dienste gelten kann. Doch lässt die Versicherung innerhalb der drei Pflegestufen eine gewisse Flexibilität zu. Die Leistungen der Pflegeversicherung enthalten grundsätzlich Geldleistungen für die zumeist durch Familienangehörige erbrachte häusliche Pflege, für ambulante Dienste zur Unterstützung der häuslichen Pflege und für die stationäre Pflege. Insbesondere Geldleistungen und ambulante Dienste können innerhalb der in der jeweiligen Pflegestufe geltenden Obergrenze unterschiedlich kombiniert werden. Doch auch hier sind einer flexiblen, dynamischen und auf den Einzelfall zugeschnittenen Lösung enge Grenzen gesetzt. Zum einen legt das Gesetz eine klare Rangfolge der Leistungen fest: primäres Ziel ist die Unterstützung der häuslichen Pflege durch Geldleistungen, ergänzt um notwendige ambulante soziale Dienste. Die stationäre Versorgung ist demgegenüber eindeutig nachrangig. Zum andern sind Geldleistungen, ambulante Dienste und stationäre Pflegeversorgung nicht einfach beliebig austauschbar, weil sie einer jeweils eigenen ökonomischen Bewertungslogik unterliegen. Deshalb wird für die drei verschiedenen Pflegestufen nicht einfach
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jeweils ein einheitlicher Leistungsmaßstab festgelegt, sondern es existieren drei verschiedene Maßstäbe für Geldleistungen, ambulante Dienste und stationäre Versorgung. Eine Verminderung der ambulanten Dienste führt deshalb beispielsweise nicht zu einer proportionalen Erhöhung der Geldleistungen und umgekehrt. Der Zweck dieser sehr stark begrenzten Flexibilität in der Kombination von Leistungen ist klar: die Maßstäbe und Bewertungen der einzelnen Leistungstypen laufen darauf hinaus, dass die Geldleistungen von den meisten Pflegebedürftigen eindeutig präferiert und ergänzende ambulante Dienste nur begrenzt nachgefragt werden, denn diese führen zu einer überproportionalen Abnahme des Pflegegeldes. Die im Gesetz vorgesehenen Kombinationsmöglichkeiten von Pflegegeld, ambulanten und stationären Diensten, die dem System eine gewisse Flexibilität geben könnten, dienen also aufgrund der ökonomischen Mechanismen in Wirklichkeit vor allem dem Ziel der Kostenkontrolle und nicht einer bedarfsgerechten Versorgung der Pflegebedürftigen. Die hoch standardisierte Leistungsbemessung in den drei Pflegestufen und die impliziten Tauschrelationen zwischen den verschiedenen Leistungsformen sorgen also vor allem für eine wirksame soziale Kontrolle der Kosten des Systems. Unstrittig ist jedoch, dass die Pflegeversicherung das Pflegerisiko zum großen Teil aus der Logik der Sozialhilfe herausgelöst hat. Doch ganz ist diese Herauslösung nicht gelungen, weshalb man besser nicht von einer Aufgabe, sondern eher von einer Umformung des klassischen Subsidiaritätsprinzips sprechen sollte. Zunächst betrifft die Herauslösung des Pflegerisikos aus der Sozialhilfe vor allem den Aspekt der Finanzierung. Dieser ist jedoch mit einer für unser soziologisches Argument viel wichtigeren Veränderung in der Bewertung von Leistungsansprüchen einerseits und einem Wandel in den Beziehungen zwischen den am System sozialer Dienste beteiligten Akteuren andererseits verbunden. Im Hinblick auf die Finanzierung hat die Pflegeversicherung den größten Teil der Pflegekosten von der Sozialhilfe und – auf weit niedrigerem Niveau – von der Krankenversicherung übernommen. Allerdings deckt sie nicht alle anfallenden Kosten ab, so dass nach wie vor entweder die Klienten oder, im Falle der ökonomischen Bedürftigkeit, die Sozialhilfe einspringen müssen. Im Unterschied zur Krankenversicherung gewährt die Pflegeversicherung keine Vollversorgung, sondern deckt nur einen gewissen Standard ab. Insbesondere im Fall einer stationären Unterbringung werden nur die reinen Pflegekosten übernommen, und diese auch nur bis zu einer Obergrenze, während Unterbringung und Verpflegung von den Klienten selbst zu bezahlen sind. Aus diesem Grund stellt die Sozialhilfe nach wie vor ein wichtiges Element in der Finanzierung des Pflegerisikos dar, auch wenn der größte Teil der direkten Pflegekosten nun von der neuen Sozialversicherung abgedeckt wird. Aus soziologischer Sicht bedeutsamer ist jedoch die Umkehrung des klassischen Subsidiaritätsgedankens in der Absicherung des Pflegerisikos. Zuvor war es zuerst die Familie und im Falle einer ökonomischen Bedürftigkeit in zweiter Linie die Sozialhilfe, die für die Pflegekosten aufkommen mussten, sieht man einmal von den verschiedenen Leistungen der Krankenkassen ab. Nun ist es primär die Pflegeversicherung, die einen individuellen Rechtsanspruch auf Leistungen im Bedarfsfall gewährt. Sie leistet in jedem Fall, allerdings nur bis zu einer Obergrenze. Darüber hinaus sind weiterhin Familie und Sozialhilfe gefordert, wobei allerdings im Unterschied zur Situation vor der Reform Einkommen und Vermögen von Familienangehörigen weniger hoch angerechnet werden, so dass zum Beispiel die Kinder von Pflegebedürftigen weniger als zuvor in Anspruch genommen werden. Ebenso werden bestimmte Vermögensbestandteile, etwa das selbstbewohnte Eigenheim, explizit
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geschützt. Die Pflegeversicherung hat somit ein standardisiertes, allgemeines Sicherungsniveau von Pflegeleistungen für alle geschaffen, vor allem jedoch die schwereren stationären Fälle weiterhin zum Teil in der ergänzenden Sozialhilfe belassen. Das Prinzip der Subsidiarität wurde dadurch quasi auf den Kopf gestellt. Der Grundsatz, dass öffentliche Leistungen auf die Bedürftigen konzentriert werden sollten, wurde in der Pflegeversicherung zugunsten einer Standardversorgung aufgegeben, die gerade den schwereren Pflegefällen notwendige Leistungen vorenthält und diese somit weiterhin in Obhut der Sozialhilfe belässt. Im Hinblick auf die Angebotsseite sozialer Dienste hat die Pflegeversicherung ebenfalls entscheidende Veränderungen bewirkt. Sie hat das bisherige Kartell öffentlicher und freier Anbieter durchbrochen und erstmals ansatzweise einen Markt für Pflegedienstleistungen geschaffen, in Anbetracht der deutschen Tradition der Verbändewohlfahrt eine bemerkenswerte Entwicklung. Vor Beginn der 1990er Jahre war die Erbringung sozialer Dienste in Deutschland in allen Bereichen durch drei zentrale Merkmale geprägt: eine gesetzlich verankerte Gesamtverantwortung öffentlicher Stellen und Träger für soziale Dienste; eine teils gesetzlich, zumeist jedoch in der Praxis verankerte Vorrangstellung freier Träger als Folge einer spezifischen Auslegung des Grundsatzes der Subsidiarität; eine Finanzierung sozialer Dienste nach dem Prinzip der Kostenerstattung, verbunden mit direkter institutioneller Förderung der (zumeist freien) Träger (vgl. Pabst 2000). Diese Grundprinzipien fanden sich sowohl im Bundessozialhilfegesetz von 1961 als auch im Jugendhilfegesetz, die zusammen den Bereich sozialer Dienste weitgehend abdeckten. Die öffentliche Gesamtverantwortung wurde in der Regel den kommunalen Stellen übertragen, in erster Linie den Sozialämtern und den Jugendämtern. Diese hatten für eine ausreichende Versorgung mit sozialen Diensten zu sorgen, allerdings unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips. Dieses wurde in der bundesdeutschen Wirklichkeit im Sinne des historisch gewachsenen, korporatistischen Systems der Verbändewohlfahrt angewandt (vgl. Sachße 1994). Diese historisch gewachsenen und institutionell verankerten Grundprinzipien des sozialen Dienstleistungssystems in Deutschland wurden durch die Pflegeversicherung in wichtigen Punkten verändert. Zwar lassen sich ähnliche Entwicklungen auch in anderen Bereichen, zum Beispiel im Sozialhilferecht und in der Kinder- und Jugendhilfe, beobachten, aber nirgends wurden die bisher gültigen Prinzipien so stark verändert wie in der Pflegeversicherung, die in dieser Hinsicht eine Art Modellfall für die Reform der sozialen Dienste in Deutschland darstellt. Insofern ist die Pflegeversicherung eine Art Pioniertat in der Umformung des Systems der sozialen Dienste in Deutschland und somit ein Kernelement in der Reform des Sozialstaats. Dieser innovative Aspekt der Reform wird in der Diskussion häufig übersehen, weil das Element des in der deutschen Sozialstaatstradition stehenden Versicherungsprinzips im Mittelpunkt steht. Im Hinblick auf die Finanzierung und Organisation als Sozialversicherung steht die Pflegeversicherung tatsächlich in der konservativen Tradition des deutschen Sozialstaats Bismarck’scher Prägung. In fast jeder anderen Hinsicht bricht sie jedoch mit der korporatistischen Tradition, vor allem wenn man die Angebotsseite der sozialen Dienste betrachtet. In diesem Sinne verbindet sich im Falle der Pflegeversicherung eine Pfadabhängigkeit hinsichtlich der Finanzierung und Organisation mit starken Elementen der Innovation im Hinblick auf die Steuerung des Angebots an sozialen Diensten (vgl. Schmidt et al. 1999). Die innovativen Elemente finden sich vor allem in vier Kernbereichen: der fast völligen Abschaffung einer Steuerungsmöglichkeit des Angebots durch (örtliche) öffentliche Stel-
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len; der völlige Wegfall des Vorrangs freier Träger; der Ersetzung des Kostenerstattungsprinzips durch vorher festgelegte Pflegesätze; der allgemeinen Standardisierung von Leistungen und deren Begrenzung im Einzelfall. Im Bereich der Sozialhilfe und der Kinderund Jugendhilfe sind letztlich kommunale Behörden, in der Regel Sozialämter und Jugendämter, für die Sicherstellung und die Steuerung des Angebots an sozialen Diensten zuständig. In der Pflegeversicherung haben die Kommunen diese Funktionen an die Pflegekassen abgegeben, die das Angebot nun über die Zulassung von Anbietern und mit diesen abgeschlossenen Leistungsverträgen steuern. Somit funktionieren die Pflegedienste nicht mehr wie die klassischen kommunalen Dienste, sondern wie Einrichtungen des Gesundheitswesens, die in ähnlicher Weise indirekt gesteuert werden und über Leistungsverträge mit den Krankenkassen verbunden sind. Der im Subsidiaritätsprinzip verankerte Vorrang freier Träger wurde ebenfalls aufgehoben, kommerzielle Anbieter wurden den freien Trägern in jeder Hinsicht völlig gleichgestellt. Ein entscheidender Ausdruck für diese zentrale Veränderung ist der Wechsel in den Finanzierungsmodalitäten für erbrachte Leistungen. Das Prinzip der Kostenerstattung wurde durch fest vereinbarte und im vorhinein vertraglich festgelegte Leistungssätze für bestimmte, anrechenbare soziale Dienste ersetzt. Jeder Anbieter erhält somit für die vereinbarten Leistungen, und nur für diese, denselben Betrag. Eine zusätzliche institutionelle Förderung bestimmter Träger durch die Pflegekassen findet nicht statt. Die privilegierte Subventionierung freier Träger ist somit beendet, es wurde ein für verschiedene Anbieter „offener“ Markt geschaffen, in dem allerdings sowohl die anrechenbaren Leistungen als auch die Vergütungssätze starr festgelegt sind. Hinzu tritt schließlich das vierte zentrale innovative Element: die genaue Festlegung und Standardisierung der in jedem Einzelfall zu erbringenden Leistungen und deren Begrenzung. Im Unterschied zu den im Rahmen der Sozialhilfe und der Kinder- und Jugendhilfe erbrachten sozialen Diensten, die vom Bedarfsprinzip ausgehen und Leistungen somit individuell ohne feste Obergrenzen gewähren, sind die sozialen Dienste in der Pflegeversicherung hoch standardisiert und zugleich durch feste Höchstsätze nach oben begrenzt. Dies ist eine deutliche Abkehr vom Grundsatz der Bedarfsbemessung in der Versorgung mit sozialen Diensten und ersetzt diese durch ein Budgetprinzip. Die Pflegeversicherung operiert innerhalb eines vorher festgelegten Budgets und standardisiert ihre Leistungen entsprechend. Die Budgetbegrenzung gilt sowohl global hinsichtlich der insgesamt zur Verfügung stehenden Finanzmittel als auch in jedem Einzelfall. Übersteigt der Bedarf das Budget, wird er nicht mehr gedeckt. Somit bietet die Pflegeversicherung zwar eine gewisse, garantierte und einklagbare Grundversorgung mit sozialen Diensten, wird jedoch gerade in schweren Fällen den tatsächlichen Bedarf kaum decken können. Diese Form der Leistungsbemessung weicht von jeder traditionellen Form der Versorgung mit sozialen Diensten in Deutschland ab. Weder die Sozialhilfe noch die Kinder- und Jugendhilfe oder die Krankenversicherung operieren bislang mit einer solchen Form der Leistungsbegrenzung. In allen anderen Bereichen bemisst sich die Leistung in der Regel am (individuellen) Bedarf. Auf der Nachfrageseite erhielten die Klienten volle Souveränität in der Auswahl des Anbieters sozialer Dienste. Allerdings müssen alle Anbieter zuvor von den Kranken- und Pflegekassen geprüft und zugelassen worden sein. Im Gegensatz zum englischen System, in dem die Gemeinden die Nachfrage steuern, haben in Deutschland die Klienten selbst die Möglichkeit der freien Wahl unter den zugelassenen Anbietern sozialer Dienste, ein klares Indiz für eine stärkere Durchdringung des Systems mit Marktmechanismen. Doch einige
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zentrale Elemente im deutschen System wirken dem Marktprinzip entgegen. Zum einen die starre Begrenzung und geringe Flexibilität der von der Pflegeversicherung gewährten Leistungen, zum anderen deren starke Normierung und Standardisierung anhand detaillierter Tätigkeitslisten und Kostenpauschalen. Die hohe Standardisierung und Normierung führen in der Praxis dazu, dass die Klienten zwar einen Anbieter auswählen können, die Leistungen sich jedoch kaum zwischen den verschiedenen Anbietern unterscheiden. Statt Vielfalt und Wahlmöglichkeit hinsichtlich der Art und Qualität der Dienstleistung regiert somit Uniformität und starre Erfüllung detaillierter Normen. Tatsächlich herrscht Wettbewerb in erster Linie unter Kostenaspekten, nicht hingegen hinsichtlich Angebotsvielfalt und Qualität der sozialen Dienstleistungen. Paradoxerweise ging die größere Marktöffnung für die Anbieter im Pflegemarkt in Deutschland also eindeutig mit einem Verlust an Angebotsvielfalt aus Sicht der Klienten einher. Nicht Spezialisierung von Produkten und auf den Einzelfall zugeschnittene Lösungen sind das Ergebnis dieser Entwicklung, sondern ein hohes Maß an Standardisierung und starren Leistungsangeboten. Im Gegensatz dazu hat das englische System einer Konzentration der Nachfrage in Händen der Gemeinden in Verbindung mit einem individuellen Bedürfnissen entsprechenden case management zu einer größeren Differenzierung des Leistungsangebots beigetragen. Allerdings besteht aus Sicht der Klienten in Deutschland ein individueller Rechtsanspruch auf bestimmte Leistungen, während in England die Gemeinden großen Spielraum in der Bemessung von Leistungen haben. Eine abschließende vergleichende Analyse der Reformen in den drei Ländern unter besonderer Berücksichtigung der veränderten Beziehungen zwischen den Akteuren erfolgt in Kapitel 7.
Soziale Pflegedienste nach der Reform von 1994 Wie oben erläutert, ist die Pflegeversicherung eine Art Zwitter von Tradition und Innovation. Im Hinblick auf das Angebot an sozialen Diensten, seine Struktur und Steuerung, überwiegen jedoch eindeutig die innovativen Elemente, die einen deutlichen Bruch mit der deutschen Sozialstaatstradition markieren. Nimmt man die zentralen Reformelemente zusammen, sollte sich die Einführung der Pflegeversicherung vor allem auf die Angebotsstruktur sozialer Dienste ausgewirkt haben. In erster Linie ist eine starke Zunahme kommerzieller Anbieter zu erwarten, vor allem im ambulanten Sektor, in dem sie bislang nicht anzutreffen waren. Zugleich ist eine starke Expansion dieses Sektors gegenüber der stationären Versorgung zu erwarten, weil die Anreize des Systems eindeutig die häusliche Pflege begünstigen. Drittens sollte aufgrund der veränderten Finanzierung und der Umwandlung des Prinzips der Subsidiarität eine deutliche Abnahme des Sozialhilfebezugs von Pflegebedürftigen zu beobachten sein (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 1998). Tatsächlich lassen sich diese Entwicklungen anhand der neuen Pflegestatistik klar nachweisen. Mit Einführung der Pflegeversicherung gibt es im Bereich der Alten- und Behindertenhilfe erstmals eine umfassende Bundesstatistik, anhand derer sich die quantitativen Entwicklungen seit 1994 analysieren lassen. Da die Leistungen der Pflegeversicherung nicht einkommensgeprüft sind und überdies rund 90% der Bevölkerung in der sozialen und über 9% in der privaten Pflegeversicherung pflichtversichert sind, decken die Angaben praktisch den gesamten Pflegemarkt ab. Zwar müssen zahlreiche Pflegebedürftige einen zum Teil erheblichen Eigenanteil an den Pflegekosten tragen und nach wie vor sind viele
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auf die ergänzenden Leistungen der Sozialhilfe angewiesen. Da die Pflegekassen aber zumindest einen Teil der Kosten übernehmen, sind die entsprechenden sozialen Dienste und Leistungen auch statistisch erfasst. Die Entwicklung der sozialen Pflegedienste seit 1994 soll im folgenden anhand dreier statistischer Quellen verfolgt werden: der seit 1994 bestehenden Pflegestatistik des Bundes, der Sozialhilfestatistik und verschiedener Datenquellen zur Anbieterlandschaft sozialer Dienste, darunter die bereits oben benutzte Statistik der Träger der freien Wohlfahrt und eine Erhebung der Krankenkassen zum Pflegemarkt in Deutschland aus dem Jahr 1998. Die amtliche Pflegestatistik wird seit 1999 alle zwei Jahre erhoben. Daten liegen somit erstmals für das Jahr 1999, außerdem für 2001 vor. Für die Zeit vor 1999, insbesondere was den Vergleich mit Daten vor Einführung der Pflegeversicherung angeht, liegen leider keine konsistenten statistischen Zeitreihen vor. Allerdings führte Infratest im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums 1998 eine repräsentative Erhebung durch, um die Veränderungen seit Einführung der Pflegeversicherung zu quantifizieren (vgl. Schneekloth und Müller 1999; Schneekloth et al. 1996). Ergebnisse dieser Erhebung sind auch im Zweiten Bericht zur Entwicklung der Pflegeversicherung (Bundesministerium für Gesundheit 2001) enthalten. Die Erhebung bestand aus vier Teilen und erfasste Pflegebedürftige in Privathaushalten, ambulante soziale Pflegedienste, stationäre Einrichtungen und deren Bewohner. Die Zahl der Leistungsbezieher der Pflegeversicherung wird weiter unten anhand der inzwischen vorliegenden amtlichen Statistik dargestellt, die in der Infratest-Studie erhobenen sozio-demographischen Merkmale der Pflegebedürftigen sind für unsere Arbeit nicht relevant. Interessant sind aber die Ergebnisse hinsichtlich der ambulanten Pflegedienste und der stationären Einrichtungen. Die Studie ermittelte einen deutlichen Anstieg in der Zahl der ambulanten Pflegedienste seit 1993, die fast ausschließlich auf die Zunahme privat-kommerzieller Anbieter zurückzuführen ist (Schneekloth und Müller 1999: 89ff.). Die Mehrzahl der 1998 insgesamt 11.600 ermittelten ambulanten Pflegedienste in Deutschland war bereits vor Einführung der Pflegeversicherung im Rahmen der zumeist von der Krankenversicherung finanzierten häuslichen Krankenpflege tätig. 21% der Einrichtungen hatten ihren Betrieb bereits vor 1980 aufgenommen, 45% begannen ihre Tätigkeit zwischen 1980 und 1992, aber immerhin rund ein Drittel nahm die Arbeit erst seit 1993 auf. Rund zwei Drittel der ambulanten Dienste war also schon vor Einführung der Pflegeversicherung in diesem Bereich tätig, ein klares Indiz dafür, dass die grundlegende Infrastruktur sozialer Dienste bereits vorher geschaffen worden war. Der Anstieg ist fast ausschließlich auf die Zunahme kleiner, kommerzieller Anbieter mit weniger als 10 Mitarbeitern zurückzuführen; rund 60% der 1998 tätigen kommerziellen ambulanten Pflegedienste war nach 1993 gegründet worden. Der Anteil freier Träger betrug 1998 noch 51%, kommerzielle Anbieter stellten jedoch bereits 43% der Einrichtungen, während öffentliche Dienste keine große Bedeutung besitzen. Allerdings verfügten die Dienste der freien Träger im Durchschnitt über mehr festangestelltes Personal als die mehrheitlich kleineren kommerziellen Anbieter, die überwiegend in der Gruppe der Einrichtungen mit weniger als 10 Mitarbeitern zu finden sind. Der durch die Pflegeversicherung geschaffene Pflegemarkt hat also im ambulanten Bereich zu einem deutlichen Wachstum kleiner, kommerzieller Betreiber geführt. Insgesamt ist ein beachtlicher quantitativer Ausbau der ambulanten Pflegeleistungen seit 1993 zu konstatieren, der sich auch in der Zahl der Empfänger und des beschäftigten Personals niederschlägt.
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Im stationären Sektor ist die Entwicklung statistisch auf den ersten Blick leichter zu erfassen, weil die Statistik stationärer Einrichtungen bereits vor Einführung der Pflegeversicherung besser als im ambulanten Bereich war. Allerdings sind Strukturvergleiche hinsichtlich der verschiedenen Einrichtungstypen wie Alten- und Pflegeheime oder gemischten Einrichtungen problematisch, weil es im Gefolge der Reform zu erheblichen Umstrukturierungen innerhalb der Einrichtungen kam. Mit Einführung der Pflegeversicherung firmieren nun alle Einrichtungen, die stationäre Pflegeleistungen erbringen, als Pflegeeinrichtung. Von diesen im Jahre 1998 erhobenen stationären Pflegeeinrichtungen war die große Mehrzahl, gleich in welcher Form, bereits vor Einführung der Pflegeversicherung tätig, nur 6% nahmen den Betrieb nach 1995 auf (Schneekloth und Müller 1999: 124ff). Rund die Hälfte der Einrichtungen bestand schon vor 1980. In Bezug auf die Trägerschaft ergibt sich ein ähnliches Bild wie bei den ambulanten Diensten: über die Hälfte der stationären Pflegeeinrichtungen wird von freien Trägern betrieben, allerdings hat der Anteil der kommerziellen Anbieter seit 1994 von 29% auf 36% zugenommen, derjenige der freien Träger stagniert bei 55% bzw. 54%, während der Anteil öffentlicher Heime von 16% auf 10% gesunken ist. Damit ging eine Abnahme der Zahl der größeren Heime einher, die ganz überwiegend in öffentlicher und freier Trägerschaft stehen. Kommerzielle Anbieter sind demgegenüber bei den kleinen Heimen deutlich überrepräsentiert. Ähnlich wie im ambulanten Bereich lässt sich somit bei den stationären Einrichtungen eine Zunahme der kommerziellen Anbieter beobachten, die sich hier ebenfalls auf eher kleinere Einheiten konzentrieren. Die Zunahme war allerdings deutlich schwächer als bei den ambulanten Pflegediensten. Die freien und öffentlichen Angebote dagegen stagnieren tendenziell in beiden Bereichen. Somit kann festgehalten werden, dass es im Zuge der Pflegeversicherung in erster Linie zur erwarteten Expansion der ambulanten Pflegedienste und zu einer Zunahme der kommerziellen Anbieter im ambulanten wie im stationären Bereich gekommen ist. Dennoch ist auch klar ersichtlich, dass der Kern des Dienstleistungsangebots bereits vor 1995 ausgebaut war. Die neue amtliche Pflegestatistik wurde seit Einführung der Pflegeversicherung erst zweimal erhoben und veröffentlicht; die Daten beziehen sich auf die Jahre 1999 und 2001. Aus ihr lassen sich daher keine größeren zeitlichen Entwicklungen ableiten, wohl aber vermitteln sie ein differenziertes Bild der Struktur des sozialen Dienstleistungssystems in diesem Bereich, dessen Merkmale mit der aus anderen Quellen ermittelten Struktur von vor 1994 verglichen werden können. Die Pflegestatistik liefert neben den für unsere Zwecke weniger interessanten Finanzdaten Informationen über die Zahl der Leistungsempfänger sowie die ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen. Daneben gibt es seit 1995 eine Leistungs- und Finanzstatistik der sozialen Pflegeversicherung, die Zahlen über die Versicherten, Leistungsfälle, Einnahmen und Ausgaben enthält, aber keine Angaben über die sozialen Dienste macht. Diese Statistik liegt dem ersten und dem zweiten Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung der Pflegeversicherung zugrunde, in denen die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst sind. Diese werden hier im Hinblick auf unsere Fragestellung in Auszügen zusammengefasst. Daraus ergibt sich, dass rund 70 Millionen Menschen in der sozialen Pflegeversicherung pflichtversichert sind, weitere rund 10 Millionen sind Mitglied einer privaten Pflegeversicherung. Von diesen 70 Millionen Versicherten sind etwas mehr als 70% direkt versicherte Mitglieder, zum Beispiel als Arbeitnehmer oder Rentner, und knapp 30% mitversicherte Familienangehörige (siehe Tabelle 73).
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Tabelle 73: Versicherte in der sozialen Pflegeversicherung nach Status, Deutschland 19952002 (in %)
1995 2000 2002
Mitglieder (%) 70,8 71,4 72,1
Familienangehörige (%) 29,2 28,6 27,9
Gesamt (1.000) 71.901 71.319 70.853
Quelle: Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, 2004; eigene Berechnungen.
Die Zahl der Leistungsempfänger hat sich seit Einführung der ambulanten (1995) und stationären (1996) Leistungen kontinuierlich, jedoch nur leicht erhöht. Sie liegt inzwischen (2002) bei rund 1,9 Millionen Menschen. Davon werden über zwei Drittel ambulant, das heißt im häuslichen Umfeld, versorgt, nur knapp ein Drittel erhält stationäre Leistungen (siehe Tabelle 74). Tabelle 74: Leistungsempfänger in der sozialen Pflegeversicherung mit ambulanter und stationärer Versorgung, Deutschland 1995-2002 1995 1997 1999 2001 2002
Ambulant (1.000) 1061 1198 1280 1262 1289
Stationär (1.000) -1 463 546 578 600
Gesamt (1.000) 1061 1661 1826 1840 1889
Anmerkungen: 1 Stationäre Leistungen beginnen erst 1996. Quelle: Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, 2004.
Betrachtet man die Struktur der Leistungsempfänger im Hinblick auf die drei Pflegestufen, ergibt sich ein deutliches Übergewicht von Empfängern in Stufe 1, der Stufe mit der geringsten Bedürftigkeit. Im Jahr 2001 war rund die Hälfte der Leistungsempfänger in Pflegestufe 1 eingeteilt, ein Anstieg von rund 6 Prozentpunkten seit 1997. Etwas mehr als ein Drittel der Leistungsempfänger im Jahr 2002 war in Pflegestufe 2, rund 13% in Stufe 3 eingeteilt, beide Anteile mit abnehmender Tendenz seit 1997 (siehe Tabelle 75). Im ambulanten Bereich ist dieses Übergewicht noch deutlicher ausgeprägt, allerdings sind selbst im stationären Sektor rund 38% der Leistungsempfänger in Stufe 1 eingeteilt und erhalten entsprechend niedrigere Leistungen. Nur 20% der Empfänger von stationären Pflegeleistungen im Jahr 2002 erhielt diese auf dem höchsten Niveau der Pflegestufe 3. Umgekehrt waren immerhin rund 10% der Empfänger ambulanter Leistungen (einschließlich des Pflegegeldes) als schwerstpflegebedürftig in Stufe 3 eingeteilt. Diese Ergebnisse weisen darauf hin, dass die Pflegeversicherung nicht in allen Fällen zu einer effektiven Allokation von Ressourcen und Leistungen auf die Empfänger in den verschiedenen Pflegestufen führt; in vielen Fällen muss von einer Fehlversorgung ausgegangen werden. In den meisten Fällen nehmen die Pflegebedürftigen das Pflegegeld für selbst beschaffte häusliche Pflege durch Familienangehörige in Anspruch (siehe Tabelle 76).
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Tabelle 75: Struktur der Leistungsempfänger in der sozialen Pflegeversicherung nach Pflegestufen und Versorgungsart, Deutschland 1997-2001 (in % der Empfänger in der jeweiligen Versorgungsart) Pflegestufe 1997 1999 2001
Ambulant I II III 47,5 40,6 11,9 52,2 36,9 10,9 55,3 34,6 10,1
I 34,5 37,4 37,9
Stationär II III 41,0 24,5 41,5 21,1 43,0 20,1
I 43,9 47,8 49,8
Gesamt II III 40,7 15,4 38,3 14,0 36,9 13,2
Quelle: Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, 2004; eigene Berechnungen.
Tabelle 76: Leistungsempfänger in der sozialen Pflegeversicherung nach Pflegestufen und Leistungsarten, Deutschland 2002 (in %) Leistungsarten Pflegesachleistung Pflegegeld Kombination Sachleistung/Geld Andere ambulante Dienste1 Vollstationär Vollstationär in Behindertenheimen Insgesamt Insgesamt (1.000)2
I
II
III
9,3 58,5 8,5 1,2 17,5 5,0
7,9 43,9 11,8 1,9 33,5 0,9
6,2 32,2 13,8 1,8 44,3 1,6
100,0 983,7
100,0 725,4
100,0 258,5
Alle Gesamt3 Stufen (1.000) 8,4 165,7 49,6 977,3 10,4 205,3 1,5 30,6 27,0 532,3 3,1 60,4 100,0 - 1.971,6
Anmerkungen: 1 In der Regel ergänzend zu anderen Leistungen: Tages- und Nachtpflege, häusliche Pflege bei Verhinderung der Pflegeperson, Kurzzeitpflege, 2 Mehrfachzählungen enthalten, 3 Enthält auch die Härtefälle, die keiner der drei Pflegestufen zugerechnet sind. Quelle: Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, 2004; eigene Berechnungen.
Das Pflegegeld schlägt mit knapp 50% aller Leistungsfälle zu Buche, danach kommen die vollstationären Leistungen, die zusammen rund 30% aller Fälle ausmachen. Eine Kombination von ambulanten Pflegediensten und Pflegegeld wird von rund 10% der Leistungsempfänger in Anspruch genommen, während nur rund 8% der Pflegebedürftigen die von den ambulanten Diensten angebotenen Pflegesachleistungen beziehen, ohne gleichzeitig Pflegegeld zu erhalten. Trotz des seit Einführung der Pflegeversicherung starken Ausbaus der ambulanten Dienste tendiert eine große Mehrheit der Pflegebedürftigen dazu, nur die Geldleistung in voller Höhe zu beziehen, zweitwichtigste Option bleibt das Pflegeheim. Insbesondere die ergänzenden sozialen Dienste im ambulanten Bereich wie Tages- oder Nachtpflege, Kurzzeitpflege und häusliche Pflege bei Verhinderung der Pflegeperson spielen quantitativ gesehen mit 1,5% der Leistungsfälle keine Rolle. Die ursprüngliche Zielsetzung einer verbesserten häuslichen Pflegesituation durch die Einbeziehung professioneller ambulanter Dienste scheint nicht aufgegangen zu sein. Selbst bei den schwerstpflegebedürftigen Menschen in Stufe 3 bezieht rund ein Drittel ausschließlich das Pflegegeld, während eine Kombination von Geldleistung und ambulanten Diensten nur von rund 14% in Anspruch genommen wird. Allerdings befinden sich über 45% der Leistungsempfänger in Stufe 3 in
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stationärer Versorgung. Wie zu erwarten, spielt das Pflegegeld in Pflegestufe 1 eine noch stärker dominierende Rolle: fast 60% der Empfänger erhalten allein diese Leistung. Insgesamt befinden sich auch in dieser Gruppe minder schwerer Fälle mehr Personen in stationären Einrichtungen als ambulante soziale Dienste beziehen. Zwar kann aus diesen Daten nicht auf einen Misserfolg beim Ausbau des lange vernachlässigten ambulanten Sektors sozialer Dienste geschlossen werden, aber es zeigen sich doch erhebliche Probleme in der Kombination der verschiedenen Leistungsformen auf der Mikroebene und offensichtliche Mängel in der Verteilung dieser Leistungen auf die verschiedenen Pflegestufen. Nach wie vor ist der ambulante Sektor das Stiefkind der Pflegeversicherung. Dies zeigen auch die amtlichen Daten der Pflegestatistik 2001, die im Unterschied zur Statistik der sozialen Pflegeversicherung auch die private Pflegeversicherung einschließt und außerdem Daten über das Angebot ambulanter Dienste und stationärer Einrichtungen liefert. Im Jahr 2001 gab es in Deutschland 2,04 Millionen Pflegebedürftige. Davon wurden 1,44 Millionen (rund 70%) zuhause und 604.000 in Heimen betreut. Von den zuhause Betreuten wurde rund 1 Million ausschließlich von Familienangehörigen gepflegt, nur rund 435.000 Personen erhielten zusätzlich oder ausschließlich ambulante soziale Dienste. Insgesamt arbeiteten 190.000 Beschäftigte in rund 10.600 ambulanten Pflegediensten. Demgegenüber wurden die 604.000 Heimbewohner in 9.200 Heimen von rund 475.000 Beschäftigten betreut. Somit dominieren klar die Angehörigen als Pflegepersonen, doch auch der stationäre Sektor ist noch mehr als doppelt so groß wie die ambulanten Dienste. Auch in den Leistungsausgaben der sozialen Pflegeversicherung kommen die ambulanten Dienste erst an dritter Stelle (siehe Tabelle 77). Die gesamten Leistungsausgaben (ohne Verwaltungs- und sonstige Kosten) der sozialen Pflegeversicherung stiegen von rund 10,25 Mrd. Euro 1996 auf 16,64 Mrd. Euro im Jahr 2003. Tabelle 77: Leistungsausgaben der sozialen Pflegeversicherung nach Leistungsarten, Deutschland 1996-2003 Leistungsausgaben insgesamt (in Mrd. €) - Geldleistung % - Pflegesachleistung % - Vollstationäre Pflege1 % - Sonstige2 %
1996 10,25 43,3 15,0 26,3 15,4
1999 15,55 27,3 13,7 47,5 11,5
2001 16,03 25,6 14,3 49,7 10,4
2003 16,64 24,7 14,3 50,7 10,3
Anmerkungen: 1 Einschließlich in Behindertenheimen, 2 Kurzzeitpflege, Tages- und Nachtpflege, Pflegemittel, Soziale Sicherung der Pflegepersonen. Quelle: Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, 2004:
Das Jahr 1996 fällt dabei allerdings etwas aus dem Rahmen, weil die stationären Leistungen erst im Verlauf dieses Jahres angelaufen sind. Das spiegelt sich auch in der prozentualen Verteilung der Ausgaben auf die drei großen Leistungsblöcke Pflegegeld, ambulante Pflegesachleistungen und vollstationäre Pflege wider. 1996 war der Anteil der Geldleistung noch weit über-, derjenige der stationären Pflege weit unterdurchschnittlich. Seitdem hat sich jedoch ein relativ stabiles Muster bei den Leistungsausgaben entwickelt. Die Ausgaben für vollstationäre Pflege machen inzwischen mehr als die Hälfte der gesamten Leistungs-
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ausgaben aus, mit steigender Tendenz. Die Geldleistungen umfassen rund ein Viertel der Aufwendungen, mit abnehmender Tendenz. Deutlich niedriger ist der Anteil der Ausgaben für ambulante Dienste mit rund 14%. Sonstige Leistungen wie Kurzzeitpflege, Tages- und Nachtpflege und die Kosten für die soziale Sicherung der Pflegepersonen schlagen mit rund 10% der Ausgaben zu Buche. Trotz des durch die Reform zweifellos beschleunigten Ausbaus der ambulanten Dienste dominieren in der Pflegeversicherung nach wie vor die stationären Leistungen; deren Anstieg scheint darüber hinaus ungebremst. Auf der anderen Seite wird die Mehrzahl der Pflegebedürftigen nach wie vor in der Familie betreut, und zwar ohne die Hilfe von professionellen ambulanten Diensten. Der Anstieg der ambulanten sozialen Dienste seit 1995 hat also die Größenverhältnisse in der Pflegelandschaft keineswegs grundlegend verändert. Diese relativ starke Kontinuität zeigt sich auch, wenn man die Organisationsform der ambulanten Pflegedienste betrachtet (siehe Tabelle 78). Tabelle 78: Ambulante Pflegedienste nach Trägerschaft, Deutschland 1999 und 2001 1999 Zahl der Einrichtungen (N) Durchschnittliche Zahl der Pflegebedürftigen (N) Gesamtzahl der Pflegebedürftigen (1.000) Marktanteil1 % 2001 Zahl der Einrichtungen (N) Durchschnittliche Zahl der Pflegebedürftigen (N) Gesamtzahl der Pflegebedürftigen (1.000) Marktanteil1 %
Privat
Frei
Öffentlich Insgesamt
5504 27
5103 51
213 37
10820 38,5
149
266
8
417
35,7
62,4
1,9
100,0
5493 30
4897 53
204 42
10594 41
165
260
9
434
38,0
60,0
2,0
100,0
Anmerkungen: 1 Gemessen an der Zahl der Pflegebedürftigen. Quelle: Statistisches Bundesamt: Pflegestatistik 1999, 2001; eigene Berechnungen.
Zwar liegt die Zahl der kommerziellen ambulanten Dienste deutlich höher als vor Einführung der Pflegeversicherung und übersteigt mittlerweile sogar die Zahl der von freien Trägern betriebenen Einrichtungen, aber im Durchschnitt betreuen sie viel weniger Personen als die nicht-kommerziellen Dienste. So liegt ihr Marktanteil, gemessen an der Zahl der betreuten Pflegebedürftigen, bei 38% im Jahr 2001. Demgegenüber halten die freien Träger mit einem Anteil von 60% nach wie vor eine marktbeherrschende Stellung; ihr Monopol wurde allerdings gebrochen und sie sehen sich einem immer größeren Kosten- und Wettbewerbsdruck von Seiten der kommerziellen Konkurrenz ausgesetzt. Inwieweit die freien Träger somit gezwungen sind, selbst kommerzielle Strategien anzuwenden, ist eine Frage, die im Rahmen dieser Arbeit nicht untersucht werden kann. Viele Indizien sprechen für eine solche Entwicklung.
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Tabelle 79: Stationäre Pflegeeinrichtungen nach Trägerschaft, Deutschland 1999 und 2001 1999 Einrichtungen (N) Durchschnittliche Zahl der Pflegebedürftigen (N) Gesamtzahl der Pflegebedürftigen (1.000) Marktanteil1 % 2001 Einrichtungen (N) Durchschnittliche Zahl der Pflegebedürftigen (N) Gesamtzahl der Pflegebedürftigen (1.000) Marktanteil1 %
Privat
Frei
Öffentlich Insgesamt
3092 47
5017 73
750 86
8859 65
145
366
65
576
25,2
63,5
11,3
100,0
3286 50
5130 73
749 84
9165 66
165
375
64
604
27,3
62,1
10,6
100,0
Anmerkungen: 1 Gemessen an der Zahl der Pflegebedürftigen. Quelle: Statistisches Bundesamt: Pflegestatistik 1999, 2001; eigene Berechnungen.
Ein ähnliches Bild ergibt sich für den stationären Sektor. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Pflegestatistik nur Pflegeeinrichtungen erfasst. Altenheime ohne Pflegeplätze werden in der Statistik nicht geführt, gerade dort haben die kommerziellen Anbieter seit langem einen größeren Marktanteil. Im Pflegesektor dominieren jedoch ebenso weiterhin die freien Träger. Ihr Marktanteil, gemessen an allen vollstationär versorgten Pflegebedürftigen, liegt bei knapp unter zwei Dritteln 1999 und 2001 (siehe Tabelle 79). Kommerzielle Anbieter halten etwas mehr als ein Viertel der belegten Plätze, öffentliche Träger stellen rund 10%. Der Markanteil kommerzieller Anbieter liegt somit in diesem Sektor noch unter dem Wert im ambulanten Bereich. Hier wie dort betreiben private Träger eher kleinere Einrichtungen mit wenigen Pflegebedürftigen. Die durchschnittliche Größe der von freien Trägern betriebenen Pflegeheime übersteigt diejenige der privaten Einrichtungen um mehr als 50%, öffentliche Heime sind im Durchschnitt noch größer. Die öffentlichen Träger rangieren zwar erst an dritter Stelle, stellen aber mit zehn Prozent einen beachtlichen Marktanteil, der immerhin rund 64.000 Pflegebedürftigen entspricht. Auch wenn die Gewichte also im stationären Bereich etwas anders verteilt sind als bei den ambulanten Diensten, dominieren doch in jedem Fall nach wie vor die freien Träger, und die öffentlichen Einrichtungen rangieren nach den kommerziellen Anbietern an dritter Stelle. Diese Befunde sprechen dafür, dass die Pflegeversicherung zwar den Markt für kommerzielle Anbieter geöffnet, jedoch keinen grundlegenden Strukturwandel im Angebot sozialer Dienste herbeigeführt hat. Diesen Befund bestätigt auch eine Untersuchung des wissenschaftlichen Dienstes der Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) zum Pflegemarkt in Deutschland 1998 auf Basis einer Auswertung der Daten der AOKs (Gerste und Rehbein, 1998). Nach dieser Erhebung liegt der Marktanteil der freigemeinnützigen Träger 1998 im ambulanten Bereich bei 49%, im vollstationären Sektor bei 56%. Private, kommerzielle Anbieter stellten 46% der ambulanten und 32% der vollstationären Pflegeeinrichtungen. Der öffentliche Sektor betrieb 5%
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der ambulanten und 12% der stationären Einrichtungen (Gerste und Rehbein, 1998: 9). Im teilstationären Bereich entsprechen die Daten mit geringfügiger Abweichung denjenigen im stationären Sektor. Die größten Einzelträger waren die Diakonie, das Deutsche Rote Kreuz, die Caritas und die Arbeiterwohlfahrt. Deutlicher sind die Auswirkungen der Pflegereform auf die Entwicklung der Sozialhilfe. Die Sozialhilfe hatte vor Einführung der Pflegeversicherung den Großteil der öffentlichen Aufwendungen für Pflegebedürftige im Rahmen der Hilfen in besonderen Lebenslagen bestritten. Zu den Hilfen in besonderen Lebenslagen gehören neben der Hilfe zur Pflege vor allem die Eingliederungshilfe für Behinderte und die Hilfe bei Krankheit einschließlich Schwangerschaft. Die Hilfen in besonderen Lebenslagen machten seit Bestehen der Sozialhilfe 1963 im Vergleich zur laufenden Hilfe für den Lebensunterhalt (Existenzminimum) stets den höheren Ausgabenanteil aus (siehe Tabelle 80). Tabelle 80: Ausgaben der Sozialhilfe1 nach Hilfeart, Bundesrepublik Deutschland2 19632001
1963 1970 1980 1990 19912 1994 1999 2001
Gesamtausgaben (Mill. €) 951 1705 6783 16250 19090 25428 22978 23942
HLU3 (%) 46 35 33 41 38 34 44 40
HLL4 (%) 54 65 67 59 62 66 56 60
Anmerkungen: 1 Bruttoausgaben, ohne Verrechnung von Einnahmen, 2 Zum jeweiligen Gebietsstand; ab 1991: Gesamtdeutschland, 3 Hilfe zum laufenden Lebensunterhalt, 4 Hilfe in besonderen Lebenslagen. Quelle: Statistisches Bundesamt. Fachserie 13. Reihe 2.2. Sozialleistungen. Statistik der Sozialhilfe. Hilfe in besonderen Lebenslagen 2002. Dezember 2003: S. 74; eigene Berechnungen.
Seit 1963 wurde stets mehr als 50% der Sozialhilfe für Hilfen in besonderen Lebenslagen ausgegeben. Einen Höhepunkt erreichte dieser Anteil zu Beginn der 1980er Jahre, danach sank er bis zum Beginn der 1990er Jahre ab, um bis 1994 wieder anzusteigen. Diese Entwicklung verlief parallel zum Anstieg der Arbeitslosigkeit. Zwischen 1994 und 1999 ist ein klarer Bruch zu erkennen, der im wesentlichen auf die Einführung der Pflegeversicherung zurückzuführen ist, welche die Sozialhilfe von einem großen Teil der Pflegekosten entlastet hat. Der Bruch wäre noch deutlicher zu erkennen, wenn nicht seit 1994 auch Leistungen für Asylbewerber mit dem Asylbewerberleistungsgesetz aus der regulären Sozialhilfe (Hilfe zum laufenden Lebensunterhalt) herausgenommen worden wären. Die Ausgaben für Pflege gingen jedoch seit 1994 deutlich zurück (siehe Tabelle 81). Im Jahr 1994 machte die Hilfe zur Pflege noch rund ein Drittel aller Sozialhilfeausgaben aus und lag damit nur knapp unter den Zahlungen der Hilfe zum laufenden Lebensunterhalt.
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Tabelle 81: Ausgaben der Sozialhilfe1 nach Hilfearten, Deutschland 1994-2002 (in %)
1994 1997 1999 2002
Gesamt
HLU2
100,0 100,0 100,0 100,0
35 46 43 40
HLL3: Behinderte4 28 35 39 41
HLL3: Pflege 32 13 11 11
HLL3: Krankheit 5 6 7 8
Anmerkungen: 1 Nettoausgaben, d.h. unter Verrechnung von Einnahmen, 2 Hilfe zum laufenden Lebensunterhalt, 3 Hilfe in besonderen Lebenslagen, 4 Eingliederungshilfe für Behinderte. Quelle: Statistisches Bundesamt, 2003: Sozialhilfe in Deutschland. Entwicklung, Umfang, Strukturen, 2003: S. 53.; eigene Berechnungen.
Tabelle 82: Pflegeausgaben im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung1 und der Sozialhilfe, Deutschland 1994-2002 Gesamtausgaben (Mill. €) - Pflegeversicherung % - Sozialhilfe % Ambulante Leistungen (Mill. €) - Pflegeversicherung % - Sozialhilfe % Vollstationäre Leistungen (Mill. €) - Pflegeversicherung % - Sozialhilfe %
1994 9062 100 879 100 8183 100
1996 18032 61 39 7962 94 6 9424 30 70
1999 19258 85 15 8626 95 5 9630 75 25
2002 20288 85 15 8741 94 6 10445 77 23
Anmerkungen: 1 Bruttoausgaben einschließlich Verwaltungskosten; ohne private Pflegeversicherung. Quelle: Statistisches Bundesamt, 2003: Sozialhilfe in Deutschland. Entwicklung, Umfang, Strukturen, 2003: S. 54; eigene Berechnungen.
Seitdem ist ihr Anteil jedoch deutlich gesunken und beträgt mittlerweile (2002) nur noch rund 10% der Sozialhilfeausgaben. Entsprechend gestiegen ist der Anteil der Ausgaben für die Sicherung des Existenzminimums. Allerdings wurden diese Ausgaben 2002 noch von der Eingliederungshilfe für Behinderte übertroffen, die nun mit über 40% den Löwenanteil der Sozialhilfeausgaben bildet. Vergleicht man die Entwicklung der Ausgaben für Pflegeleistungen, die jeweils von der Pflegeversicherung und von der Sozialhilfe getätigt werden, sind weitere strukturelle Verschiebungen zu erkennen (siehe Tabelle 82). Zunächst ist klar zu sehen, dass sich mit Beginn der Leistungen der Pflegeversicherung (1995 im ambulanten, 1996 im stationären Bereich) die öffentlichen Ausgaben für Pflege rund verdoppelt haben. Dabei sind allerdings die Leistungen der Krankenversicherung nicht berücksichtigt. Diese massive Ausdehnung öffentlicher Sozialleistungen für den Pflegebereich durch die Pflegeversicherung ging mit einer sukzessiven und teilweisen Substitution von Sozialhilfeleistungen durch die neuen Versicherungsleistungen einher. 1996 finanzierte die Sozialhilfe noch knapp 40% der durch die öffentliche Hand getragenen Pflegekosten (sieht man von den Krankenversicherungen
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ab), seit 1999 liegt ihr Anteil bei nur noch rund 15%, während 85% bei der Pflegeversicherung zu Buche schlagen. Absolut gesehen gingen die Ausgaben jedoch nur leicht zurück. Am deutlichsten ist dieser Prozess bei den ambulanten Leistungen einschließlich des Pflegegeldes zu erkennen. Hier hat die Pflegeversicherung neue Leistungen in großem Umfang geschaffen, die vorher kaum eine Rolle spielten. Entsprechend gering ist heute mit rund 5% der Anteil der Sozialhilfe an den Kosten für diese Dienste. Im stationären Bereich allerdings hat die Pflegeversicherung in geringerem Umfang neue Ausgaben generiert, d.h., es kam zu einer − wenngleich verzögerten − Umschichtung von Ausgaben von der Sozialhilfe zur Pflegeversicherung. Wegen der zeitlich um ein Jahr verzögerten Einführung der stationären Leistungen im Rahmen der Versicherung musste die Sozialhilfe 1996 noch rund 70% der entsprechenden Aufwendungen tragen. Im Jahr 2002 ist es nur noch ein knappes Viertel der Kosten, damit allerdings deutlich mehr als bei den ambulanten Diensten. Nach wie vor finanziert somit die Sozialhilfe einen nennenswerten Anteil an den vollstationären Pflegekosten (vgl. Roth und Rothgang 2002). Die Zahl der Empfänger von Hilfe zur Pflege im Rahmen der Sozialhilfe ist seit deren Inkrafttreten 1963 kontinuierlich bis 1994 angestiegen. Seit Anfang der 1970er Jahre stellten diese sogar die größte Gruppe der Hilfeempfänger in besonderen Lebenslagen, noch vor den Kranken und den Behinderten (Statistisches Bundesamt 2003: Fachserie Sozialhilfestatistik, S. 62 und dass. 2003, Sozialhilfe in Dtld., S. 35). Anfang der 1990er Jahre ging die Zahl der Empfänger der Krankenhilfe aufgrund des Asylbewerberleistungsgesetzes stark zurück, ebenso die Zahl der Empfänger von Pflegeleistungen, verursacht durch die Pflegeversicherung. Allerdings gibt es immer noch eine größere Zahl von Menschen, die in der Pflege auf Sozialhilfe angewiesen bleiben. Eine vollständige Herauslösung des Pflegerisikos aus der Sozialhilfe hat die Reform von 1994 nicht bewirkt (siehe Tabelle 83). Tabelle 83: Empfänger von Leistungen der sozialen Pflegeversicherung und von Leistungen zur Pflege im Rahmen der Sozialhilfe1, Deutschland 1994-2002 (in 1.000) Alle Leistungen 1994 1996 1999 2002
SPV2 1547 1819 1889
SH3 454 285 247 246
Ambulante Leistungen SPV2 SH3 192 1162 68 1275 58 1289 61
Vollstationäre Leistungen SPV2 SH3 265 385 217 544 189 600 185
Anmerkungen: 1 Es wird keine Summe gebildet, da Leistungen in der Regel kumuliert werden, 2 Soziale Pflegeversicherung, 3 Sozialhilfe: Hilfe in besonderen Lebenslagen: Hilfe zur Pflege. Quelle: Statistisches Bundesamt, 2003: Sozialhilfe in Deutschland. Entwicklung, Umfang, Strukturen, 2003: S. 38; eigene Berechnungen.
Vor Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1994 wies die Sozialhilfestatistik rund 450.000 Empfänger von Hilfe zur Pflege aus, davon wurden rund 60% vollstationär versorgt. Mit Beginn der Versicherungsleistungen sank die Zahl der Sozialhilfeempfänger in diesem Bereich schlagartig um 37%, blieb aber seitdem nahezu konstant. Zudem war der Rückgang im ambulanten Sektor stärker als im stationären Bereich. 2002 bezogen immer-
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hin noch rund 60.000 Menschen Sozialhilfe zur ambulanten Pflege und 185.000 Personen Hilfe bei der stationären Versorgung. Dies entspricht bei den ambulanten Diensten rund 5% der Leistungsempfänger der Pflegeversicherung, im stationären Bereich einer Zahl von rund 10%. Der Mikrozensus von 1999 ermittelte entsprechend, dass weniger als 2% der häuslich versorgten Pflegebedürftigen überwiegend von Sozialhilfe leben, bei den stationär untergebrachten sind es dagegen rund 9% (Statistisches Bundesamt 2002: Sonderbericht Lebenslagen der Pflegebedürftigen. Ergebnisse des Mikrozensus 1999; S. 11 und S.14). Zusammenfassend kann somit festgehalten werden, dass die Pflegeversicherung die Struktur sozialer Dienstleistungen weniger stark verändert hat als häufig angenommen. Im Hinblick auf das Dienstleistungsangebot kam es zwar zu einer Ausdehnung des ambulanten Sektors, der aber nach wie vor mit Abstand hinter der häuslichen, familiären Versorgung und der stationären Unterbringung rangiert. Auch haben sich die Marktanteile der verschiedenen Trägergruppen zugunsten kommerzieller Anbieter verschoben, doch nach wie vor halten sowohl im ambulanten als auch im stationären Pflegebereich die Verbände der freien Wohlfahrt einen Marktanteil von nahezu zwei Dritteln. Die Finanzierung von Pflegeleistungen, die Beziehungen zwischen den beteiligten Akteuren und die Stellung der Klienten sind ohne Zweifel reformiert worden; die Funktionsweise des Systems hat sich dadurch verändert. Doch die Infrastruktur sozialer Dienste wird in stärkerem Maß durch längerfristige Strukturen und Entwicklungen geprägt.
Soziale Dienste für Kinder Kinder und Jugendliche gehörten zu den ersten Zielgruppen öffentlicher und privater Fürsorge. Einen ersten Aufschwung nahm dieser Bereich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, seine institutionelle Festlegung erfolgte zu Beginn der Weimarer Republik mit der Integration von öffentlicher und freier Wohlfahrt im Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1922 (vgl. Hasenclever 1978). Jugendfürsorge und Jugendhilfe hatten sich im 19. Jahrhundert im relativ offenen Bereich zwischen den Institutionen der Schule und der Familie herausgebildet. Von Anfang an stand der Aspekt der Erziehung und der sozialen Kontrolle von Jugendlichen im Mittelpunkt. Die Jugendfürsorge sollte den Bereich abdecken, der von Schule und Elternhaus nicht erfasst wurde. Dabei stand die Fürsorgeerziehung im Zentrum. Entsprechend bildeten die Fürsorgezöglinge die größte Klientel der Jugendhilfe. Einen historischen Höhepunkt erreichte die Zahl der Fürsorgezöglinge in der Zeit um den Ersten Weltkrieg bis zur Mitte der 1920er Jahre (Peukert und Münchmeier 1990: S. 7f.). Trotz des dominierenden Aspekts der sozialen Kontrolle war das Feld der Jugendhilfe von Anfang an durch eine große Pluralität von Wertorientierungen und Methoden charakterisiert. Religiöse, soziale und zunehmend auch wissenschaftlich begründete Motive und Ansätze prägten die freie Jugendhilfe. Der Staat und seine Organe hatten dagegen ein vornehmliches Interesse an Kontrolle und Disziplinierung (vgl. Peukert 1986; Dickinson 1996). Diese vielfältige Linien aufweisende Geschichte der Jugendhilfe erklärt die bis heute bestehende und sich verstärkende Heterogenität dieses Bereichs der sozialen Dienste. Zwar haben seit der Weimarer Republik das Reich und seit Bestehen der Bundesrepublik der Bund die wesentlichen gesetzlichen Rahmenbedingungen festgelegt und somit im Unterschied zur Altenhilfe einen höheren Grad an Integration dieses Politikfeldes geschaffen,
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doch das darin verankerte Prinzip der Subsidiarität und die relativ große Offenheit für lokale Ansätze und pluralistische Methoden haben zugleich zu einem hohen Maß an Differenzierung und Vielfalt beigetragen. Vielleicht war für diesen Bereich sozialer Dienste nicht so sehr die Gesetzgebung, sondern die zunehmende Professionalisierung entscheidend für die institutionelle Integration. Dieser Aspekt wird im Abschnitt über die Personalentwicklung sozialer Dienste untersucht (siehe unten). Die Heterogenität dieses Feldes erklärt sich aber auch aus der funktionalen Vielfalt der darin zu lösenden Aufgaben und sozialen Probleme, die sich im Lauf der Zeit eher vermehrt haben. Heute zählen zur Kinder- und Jugendhilfe die Kernarbeitsfelder Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit, Hilfen zur Erziehung und Kindertageseinrichtungen (vgl. Bissinger at al. 2002; Sachverständigenkommission Achter Jugendbericht 1990). Im ersten Bereich gibt es Überschneidungen mit dem weit verzweigten Bereich der organisierten Jugendfreizeit, die jedoch ihren historischen Höhepunkt in den 1920er und 1930er Jahren überschritten hat. Die vielfältigen Hilfen zur Erziehung innerhalb und außerhalb von Einrichtungen weisen enge Beziehungen zum Rechtssystem in Gestalt des Familien-, Vormundschafts- und Jugendstrafrechts auf. Die Kindertagesstätten stellen einen von den übrigen Bereichen losgelösten Sektor mit eigener funktionaler Handlungslogik dar. Hinzu kommen die vielfältigen Beratungs- und Familienhilfen, die alle zum Komplex der Kinder- und Jugendhilfe zählen (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 1998a, 1998b). Die Kehrseite dieser großen Heterogenität ist aus wissenschaftlicher Sicht die Schwierigkeit einer integrierten Darstellung der Entwicklung dieses Bereichs. In der Literatur überwiegen deshalb eher Überblicksdarstellungen, die jedoch selten quantitativ orientiert sind, sowie auf einzelne Bereiche konzentrierte Untersuchungen. Es fehlen integrierte Gesamtdarstellungen der Entwicklung der Kinder- und Jugendhilfe (vgl. aber Seckinger 1998). Dazu beigetragen hat sicherlich auch die Statistik, die in diesem Bereich bis zur Einführung der neuen Kinder- und Jugendhilfestatistik 1994 äußerst unübersichtlich war (vgl. Beher 1997). Seit 1974 liegen jedoch immerhin für einige Bereiche gute Daten, insbesondere über die Zahl der Einrichtungen, die Trägerschaft und das Personal in der Kinderund Jugendhilfe vor (vgl. Rauschenbach und Schilling 1997a, 1997b). Gut erfasst sind auch die für eine Strukturanalyse allerdings wenig ergiebigen Daten über Einnahmen und Ausgaben im Rahmen des Sozialbudgets. Doch lassen sich daraus wenigstens Schlüsse über die Bedeutung dieses Bereichs innerhalb der wohlfahrtsstaatlichen Finanzströme ableiten. Die Jugendhilfe nimmt darin erwartungsgemäß keinen überragenden, aber doch einen größeren und stetig wachsende Platz ein. Innerhalb der im weitesten Sinne für Kinder, Jugendliche und Familien aufgewendeten öffentlichen Ausgaben rangiert sie jedoch hinter den steuerlichen Maßnahmen und den direkten sozialen Transferleistungen erst an dritter Stelle (vgl. Bahle, Fix und Rothenbacher 2002). Im Jahr 1998 summierten sich die öffentlichen Ausgaben für den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe auf rund 7% des Sozialbudgets (Sachverständigenkommission Elfter Kinder- und Jugendhilfebericht, 2002: 39). Die Ausgaben haben vor allem in den frühen 1970er und seit Beginn der 1990er Jahre stark zugenommen, beide Male in erster Linie durch den Ausbau der Kinderbetreuung bedingt, die den größten Posten innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe ausmacht. Im Jahr 1999 verteilten sich die Ausgaben auf die verschiedenen Aufgabenbereiche wie folgt (siehe Tabelle 84). Kindertagesstätten allein erforderten mehr als 55% der Ausgaben, gefolgt vom weitverzweigten Bereich der Hilfen zur Erziehung mit rund einem Viertel der
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Aufwendungen, der vor allem Unterbringung bei Pflegefamilien, in Heimen und die erzieherische Arbeit in Tagesgruppen sowie die 1991 eingeführte sozialpädagogische Familienhilfe umfasst. Diese beiden Bereiche zusammen stehen für mehr als 80% der Gesamtausgaben der Kinder- und Jugendhilfe. Den drittgrößten Posten bildet die Jugendarbeit mit rund 8% der Ausgaben. Daraus wird deutlich, in welchem Ausmaß die Entwicklung der Ausgaben für die Kinder- und Jugendhilfe vom Ausbau der Kindertagesstätten geprägt war und ist. Dieser Bereich wird deshalb in einem eigenen Abschnitt weiter unten behandelt. Tabelle 84: Ausgaben für Jugendhilfe nach Aufgabenbereichen, Deutschland 1999 (in %) Aufgabenbereich
Ausgaben (%)
Jugendarbeit Jugendsozialarbeit Kindertagesstätten Hilfen zur Erziehung Verwaltung Sonstige Ausgaben Insgesamt
7,5 1,2 55,1 25,5 4,0 6,7 100,0
Insgesamt (in 1.000 €)
35.357
Quelle: Sachverständigenkommission Elfter Kinder- und Jugendhilfebericht 2002: S. 37; eigene Berechnungen.
Die heutige institutionelle Ausgestaltung der Jugendhilfe ist historisch durch den Föderalismus und die kommunale Selbstverwaltung sowie das Subsidiaritätsprinzip geprägt. Hinzu tritt die zunehmende funktionale Differenzierung der Aufgabenbereiche. Diese drei Merkmale waren entscheidend für die Herausbildung der großen Heterogenität in der Kinder- und Jugendhilfe. Institutionell integriert wird dieser Bereich allerdings durch die Rahmengesetzgebung des Bundes, die Bündelung der Aufgaben in der zentralen Institution des örtlichen Jugendamtes und der zunehmenden Professionalisierung dieses Feldes, die zur Setzung fachlicher Standards entscheidend beigetragen hat. Die Jugendhilfe ist somit unter institutionellen Gesichtspunkten ein sehr interessanter Fall einer Symbiose von Differenzierung und gleichzeitiger hoher institutioneller Integration. Eine zentrale Rolle spielen hierbei die in der Weimarer Zeit geschaffenen Jugendämter, die auf lokaler Ebene die verschiedenen funktionalen Aufgaben bündeln und in ihrer Funktionsweise eine Kombination aus öffentlicher Verwaltung, institutionalisierter Mitbestimmung der freien Träger und fachlicher professioneller Leitung bilden (vgl. Uhlendorff 2003). Die Lenkung der Jugendämter obliegt nicht der lokalen Gebietskörperschaft, sondern ist Aufgabe eines Jugendhilfeausschusses, der sachkundige Bürger und Vertreter der freien Träger einschließt (vgl. Pitschas 2002). Auf örtlicher Ebene ist die Jugendhilfe somit aufgrund der historisch gewachsenen, spezifischen Institutionalisierungsform geprägt durch ein Neben- und Miteinander öffentlicher und freier, gemeinnütziger sowie beruflicher und ehrenamtlicher Tätigkeit (vgl. Weigel et al. 1999). Die Bundesgesetzgebung definiert einige Pflichtaufgaben, lässt den lokalen Akteuren aber Spielraum in der Durchführung. Daneben spielen zahlreiche fakultative Leistungen eine wichtige Rolle.
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Tabelle 85: Einrichtungen, Plätze und Beschäftigte in der Jugendhilfe nach Trägern, Deutschland 1990-1998 Deutschland
Alte Bundesländer
Neue Bundesländer
1990 1994 1998 1990 1994 1998 1990 1994 1998 Einrichtungen (1000) - Öffentlich % - Frei % - Privat % Plätze (1.000) - Öffentlich % - Frei % - Privat % Personal (1.000) - Öffentlich % - Frei % - Privat %
75
71
21
16
18
47,7 40,7 35,5 29,8 30,9 30,7 94,1 51,2 58,5 63,1 68,6 68,2 67,8 5,9 1,1 0,8 1,4 1,6 1,0 1,5 3297 3303 3424 2018 2311 2648 1280 55,3 47,8 41,6 29,9 34,0 34,7 95,5 44,0 51,8 57,6 69,0 65,5 64,5 4,5 0,7 0,4 0,8 1,1 0,5 0,8 537 549 573 334 403 446 203
73,0 26,8 0,2 992 80,1 19,7 0,1 146
52,0 47,0 1,0 776 65,3 33,9 0,8 127
57,1 41,9 1,0
73,4 26,3 0,4
55,6 43,4 1,0
45,1 54,0 0,9
80
39,8 58,8 1,3
54
34,0 64,3 1,6
54
34,9 64,0 1,1
62
35,4 63,2 1,4
95,0 5,0 -
Quelle: Sachverständigenkommission Elfter Kinder- und Jugendhilfebericht, 2002: S. 19; eigene Berechnungen.
Betrachtet man zunächst die Trägerstruktur der verschiedenen Einrichtungen in der Kinderund Jugendhilfe und die von den verschiedenen Anbietern zur Verfügung gestellten Plätze, ergibt sich folgendes Bild (siehe Tabelle 85). Zwischen 1990 und 1998 lassen sich deutliche Veränderungen in der Organisationsstruktur der Kinder- und Jugendhilfe erkennen, die zum einen auf das 1991 reformierte Recht, zum andern auf die deutsche Einheit zurückzuführen sind. Andererseits lässt sich ein hohes Maß an Kontinuität in den alten Bundesländern feststellen. In den westlichen Bundesländern entfielen im Jahr 1990 von den insgesamt rund 54.000 Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe in allen Aufgabenfeldern knapp 30% auf öffentliche und etwas weniger als 70% auf freie Träger; private Anbieter stellten nur 1,6% der Einrichtungen. Die Zahl der zur Verfügung gestellten Plätze wies dieselben Verhältnisse auf. Seitdem hat die Zahl der Einrichtungen und Plätze deutlich zugenommen. Die Zahl der Plätze erhöhte sich von 1990 bis 1998 um rund ein Drittel, besonders groß war der Anstieg im öffentlichen Sektor. Eine wesentliche Erklärung für diese Entwicklung sind die neu geschaffenen Kindergartenplätze im Zuge der Umsetzung der gesetzlichen Platzgarantie bis zum Stichjahr 1999. Die Ausdehnung in diesem Bereich geschah überwiegend bei den kommunalen Einrichtungen, weniger bei den freien Trägern. Während sich die Anteile der verschiedenen Träger von 1990 bis 1998 bei der Zahl der Einrichtungen nur wenig verändert haben, haben sich die Verhältnisse bei der Zahl der Plätze deutlich zugunsten der öffentlichen Anbieter verschoben, die nun in den westlichen Bundesländern über ein Drittel des Platzangebots stellen. Ganz anders verlief die Entwicklung in den neuen Bundesländern. Dort sank die Zahl der Plätze ausgehend von einem hohen Niveau von 1990 bis 1998 um deutlich mehr als ein Drittel. Der Personalbestand in der Kinder- und Jugendhilfe sank im gleichen Zeitraum gar
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um 37%. Stellten öffentliche Träger 1990 noch über 95% der Plätze, ist ihr Anteil 1998 auf rund zwei Drittel gesunken. Umgekehrt konnten die freien Träger ihren Anteil am Platzangebot von weniger als 5% im Jahr 1990 auf rund ein Drittel 1998 steigern. Privatgewerbliche Anbieter spielen in Ost wie West mit einem Anteil von weniger als 1% der Plätze keine nennenswerte Rolle. Diese großen Veränderungen in den neuen Bundesländern sind auf zwei parallele Prozesse zurückzuführen. Zum einen wurden nach der Wende aus Kostengründen und aufgrund der umfassenden strukturellen Reorganisation des Feldes zahlreiche Einrichtungen geschlossen. Außerdem machte sich im Bereich der Kindertagesstätten der starke Geburtenrückgang seit 1990 bemerkbar. Zum andern konnten die freien Träger, die in der ehemaligen DDR praktisch nicht vorhanden waren, nur allmählich Fuß fassen. Die Zahl der Einrichtungen freier Träger stieg von 1990 bis 1998 um mehr als 600%, die Zahl der Plätze erhöhte sich von knapp 60.000 auf über 260.000. Trotz dieses Anstiegs liegt der Anteil der freien Träger in den neuen Bundesländern immer noch deutlich unter dem westdeutschen Wert. Die Verhältnisse in Ost und West sind sozusagen fast spiegelbildlich: in den alten Bundesländern ist das Verhältnis im Platzangebot zwischen freien und öffentlichen Trägern rund 2:1, in den neuen Ländern ist es genau umgekehrt. Der entscheidende Faktor für diese Strukturen liegt in der Entwicklung der Kindertagesstätten (siehe unten). Die Statistik der Zahl der Plätze ist im Hinblick auf eine Differenzierung nach Leistungsformen wenig aussagekräftig, da über 90% des erfassten Platzangebots in der Kinderund Jugendhilfestatistik allein den Kindertagesstätten zugerechnet wird. Bei manchen Angeboten, wie zum Beispiel Beratungsstellen, können gar keine Platzzahlen im engeren Sinn erhoben werden. Sinnvoller ist deshalb hier die Verwendung der Statistik der Einrichtungen (siehe Tabelle 86). Tabelle 86: Einrichtungen der Jugendhilfe nach Arbeitsbereichen und Träger, Deutschland 1998 Arbeitsbereich Kindertagesstätten Stationäre und teilstationäre Erziehungshilfen Sonderpädagogische Hilfen Beratung Jugendarbeit Jugendsozialarbeit Jugendbehörden Geschäftsstellen und Arbeitsgemeinschaften Sonstige Insgesamt
Insgesamt (N)
Öffentlich %
Frei %
Privat %
48.203 6.415
41,7 10,2
57,8 80,3
0,5 9,5
679 1.953 17.920 850 960 2.225
6,3 18,1 33,8 10,4 100,0 1,1
88,4 81,5 65,3 86,2 98,1
5,3 0,4 0,9 3,4 0,8
555 79.760
12,3 35,5
86,7 63,1
1,1 1,4
Quelle: Sachverständigenkommission Elfter Kinder- und Jugendhilfebericht, 2002: S. 31; eigene Berechnungen.
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In allen Arbeitsfeldern der Jugendhilfe zeigt sich ein klares Übergewicht der freien Träger. Bei den Kindertagesstätten halten sie einen Anteil von rund 58% der Einrichtungen, in der Jugendarbeit von rund zwei Dritteln. In den anderen Feldern liegen die Anteile noch weit höher bei über 80%. Privat-gewerbliche Anbieter sind vor allem in drei Arbeitsfeldern anzutreffen: bei den stationären und teilstationären Erziehungshilfen halten sie einen Anteil von rund 10% der Einrichtungen, bei den sonderpädagogischen Hilfen liegt dieser Wert bei rund 5% und in der Jugendsozialarbeit bei rund 3%. In allen anderen Bereichen stellen private Anbieter weniger als 1% der Einrichtungen. Tabelle 87: Einrichtungen und Plätze bei freien Trägern in der Jugendhilfe nach Arbeitsbereich und Art des Trägers, Deutschland 1998 (in %) Freie insgesamt (N)
Einrichtungen Kindertagesstätten 27.860 (Teil-)Stationäre, 5.151 Erziehungshilfen Sonderpädagogische 600 Hilfen Beratung 1.592 Jugendarbeit 11.697 (erweitert) Jugendarbeit (Kern) 9.669 Jugendsozialarbeit 733 Geschäftsstellen, 2.183 Arbeitsgemeinschaft Sonstige 481 Insgesamt 50.297 Plätze Kindertagesstätten 1.699.241 (Teil-)Stationäre 87.621 Erziehungshilfen Sonderpädagogische 36.088 Hilfen Jugendarbeit 108.566 (erweitert) Jugendarbeit (Kern) 24.742 Jugendsozialarbeit 39.729 Insgesamt 1.971.245
Kirchen, ZWSJ, Relig.1 %
AWO, JugendDRK, gruppen, Paritä- verbände tischer2 etc. % %
Sonstige freie
%
65,0 47,7
18,0 34,4
0,2 0,5
16,8 17,4
38,5
36,2
0,3
25,0
61,3 50,1
28,1 14,8
0,6 12,4
10,1 22,7
56,0 47,1 38,2
12,5 21,4 22,8
12,3 2,9 20,8
19,2 28,6 18,2
54,1 57,8
26,6 19,8
2,7 4,0
16,6 18,3
71,1 56,9
19,0 27,5
0,1 0,5
9,7 15,1
45,8
27,3
0,3
26,6
18,2
27,3
9,1
45,3
45,4 55,5 66,8
8,9 13,8 19,9
17,6 2,9 0,7
28,1 27,8 12,6
Anmerkungen: 1 Caritas, Diakonie, Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, andere Religionsgemeinschaften, 2 Arbeiterwohlfahrt, Deutsches Rotes Kreuz, Paritätischer Wohlfahrtsverband. Quelle: Sachverständigenkommission Elfter Kinder- und Jugendhilfebericht, 2002: S. 28; eigene Berechnungen.
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Da die privaten Träger zumeist kleinere Einrichtungen betreiben, liegen ihre Anteile an der Zahl der Plätze und am Personal noch darunter. Die Jugendhilfe bleibt also im Gegensatz zur Altenhilfe ein von privaten Anbietern weitgehend „freier“ Bereich, trotz der durch die Reform von 1991 ermöglichten zaghaften Öffnung. Kommerzielle Anbieter sind weiterhin in den Bereichen anzutreffen, wo sie traditionell vertreten waren, neue Felder konnten sie nicht besetzen. Eine weitere Differenzierung der Einrichtungen und Plätze in verschiedene freie Träger zeigt, dass die aus dem 19. Jahrhundert stammende Struktur weiterhin die Angebotslandschaft prägt (siehe Tabelle 87). Die großen konfessionellen und religiösen Organisationen, in erster Linie Caritas und Diakonie, halten zusammen knapp 60% der Einrichtungen und zwei Drittel der Plätze in der Kinder- und Jugendhilfe. Sie stellen ebenso rund 60% der Personals. An zweiter Stelle kommen die anderen großen, nicht-konfessionellen Wohlfahrtsverbände (Arbeiterwohlfahrt, Deutsches Rotes Kreuz und Paritätischer Wohlfahrtsverband) mit zusammen rund 20% der Einrichtungen und Plätze. Der Rest verteilt sich auf verschiedene freie Gruppen und Vereinigungen. Die konfessionellen Verbände haben ihren größten Schwerpunkt bei den Kindertagesstätten, wo sie mehr als 70% des Platzangebots der freien Träger stellen. Ein weiterer klassischer Schwerpunkt ist die Beratung mit über 60% der Einrichtungen in freier Trägerschaft. Die nicht-konfessionellen Verbände haben ihre Schwerpunkte in den Erziehungshilfen und sozialpädagogischen Hilfen. In diesen Bereichen stellen sie über ein Drittel der Einrichtungen in freier Trägerschaft und immerhin über ein Viertel der dort ausgewiesenen Plätze. Sonstige Gruppen und Vereinigungen sind schwerpunktmäßig in der Jugendarbeit und der Jugendsozialarbeit anzutreffen. Besonders zu erwähnen sind hier die freien Jugendgruppen. Die „sonstigen Anbieter“ stellen immerhin rund 45% der Plätze in der (erweiterten) Jugendarbeit und 28% in der Jugendsozialarbeit. Ebenso stellen sie in diesen Feldern über 30% des Personals, in der Jugendarbeit rangieren sie damit sogar noch vor den konfessionellen Trägerorganisationen an erster Stelle. Hinsichtlich der internen Differenzierung der freien Träger im Bereich der Jugendhilfe gibt es große regionale Unterschiede. In den westlichen Bundesländern ist die Dominanz der kirchlich gebundenen Verbände deutlich größer als in den neuen Bundesländern. Im Westen stellen sie im Jahr 1998 knapp zwei Drittel der Einrichtungen in freier Trägerschaft und mehr als zwei Drittel der Plätze und des Personals (Sachverständigenkommission Elfter Kinder- und Jugendbericht 2002: S. 27), im Osten liegen diese Werte bei unter einem Viertel. Spiegelbildlich dazu dominieren in den neuen Bundesländern die nicht-konfessionellen freien Wohlfahrtsverbände, insbesondere die AWO, der Paritätische Wohlfahrtsverband und das Deutsche Rote Kreuz. Zusammen stellen sie hier 45% der Einrichtungen, mehr als 60% der Plätze und über die Hälfte des Personals in freier Trägerschaft. Auch die verschiedenen sonstigen freien Anbieter sind in den neuen Bundesländern stärker als im Westen vertreten. Sie stellen hier sogar mehr Einrichtungen als die konfessionellen Verbände, und beschäftigen fast ebenso viel Personal. Somit ist die Landschaft der freien Träger in Ost und West nach wie vor sehr unterschiedlich; die konfessionellen Verbände konnten nach der Wende in den weitgehend entkirchlichten und säkularisierten neuen Bundesländern schwerer Fuß fassen als andere freie Träger. Darüber hinaus stellen öffentliche Träger im Osten nach wie vor das Gros der Einrichtungen.
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Hilfen zur Erziehung Innerhalb der Jugendhilfe ragen zwei Arbeitsfelder heraus, die zusammen die weit überwiegende Zahl an Einrichtungen, Plätzen und beschäftigten Personen ausmachen: die Hilfen zur Erziehung und die Kindertagesstätten. Diese beiden Bereiche sollen deshalb im folgenden etwas ausführlicher dargestellt werden. Ein weitere Grund dafür ist, dass sich in beiden Bereichen seit 1990/1991 größere Veränderungen ergeben haben, die auf die Reform der Kinder- und Jugendhilfe und andere politische Maßnahmen zurückzuführen sind. Die Hilfen zur Erziehung wurden durch das am 1.1.1991 in Kraft getretene neue Kinder- und Jugendhilferecht reformiert. Ziel der Reformen in diesem Bereich war eine Stärkung der präventiven und ambulanten Erziehungshilfen. Gefährdeten Kindern und Jugendlichen sollte bereits frühzeitig und möglichst in ihrer Herkunftsfamilie geholfen werden, ihre Herauslösung aus der Familie und Unterbringung in einer Pflegefamilie oder im Heim sollte weitgehend vermieden werden. Zu den ambulanten Hilfen zählen vor allem die Erziehungsberatung als primäres Angebot, daneben die erzieherische Betreuung einzelner Jugendlicher. Gemeinsames Merkmal dieser erzieherischen Hilfen ist, dass sie sich an Kinder und Jugendliche innerhalb des Elternhauses richten. Hinzu kam 1991 die neue sozialpädagogische Familienhilfe, deren Angebote sich explizit an die Familien gefährdeter Kinder und Jugendlicher als Gruppe richten. Zu den Erziehungshilfen außerhalb des Elternhauses zählen die Erziehung in einer Tagesgruppe, die eine Mischform zwischen ambulanter Hilfe und Unterbringung außerhalb der Familie darstellt, sowie die Vollzeitpflege in einer anderen Familie, die Heimerziehung und die intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung (vgl. Blandow 1997; Helming, Schattner und Blümel 1999). Die Entwicklung der Fallzahlen der verschiedenen erzieherischen Hilfen seit der Reform von 1991 zeigt, dass deren Ziele nur zum Teil erreicht wurden (siehe Tabelle 88). Zwar stieg die Inanspruchnahme der ambulanten Hilfearten steil an, aber die Zahl der Kinder und Jugendlichen in Heimen und bei Pflegefamilien ging nicht in gleichem Maße zurück. So steigerte die Erziehungsberatung als Dienst mit der niedrigsten Interventionsschwelle das Angebot von rund 150.000 Fällen im Jahr 1991 um über 80% auf rund 280.000 beendete und noch bestehende Fälle im Jahr 2001. Noch stärker stiegen die Fallzahlen bei der individuellen ambulanten Betreuung und der neuen sozialpädagogischen Familienhilfe. Diese konnten die Zahl ihrer Interventionen mehr als verdoppeln. Das Wachstum dieser Leistungsformen lässt sich auch aus der Entwicklung der Bestände zu bestimmten Zeitpunkten ablesen. Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen Kinder- und Jugendhilfegesetzes wurden rund 9.000 Fälle (Familien) in der sozialpädagogischen Familienhilfe gezählt, rund zehn Jahre später haben sich die Zahlen mehr als verdoppelt. Stark angestiegen sind auch die weiteren Vorstufen vor einer dauerhaften Unterbringung außerhalb der Familie, insbesondere die Erziehung in einer festen Tagesgruppe. Die Fallzahlen haben sich seit 1991 auch hier mehr als verdoppelt. Betrachtet man den Anteil der Erziehung in einer Tagesgruppe an allen Hilfen außerhalb des Elternhauses, so hat sich dieser von 5% im Jahr 1991 auf 12% im Jahr 2001 erhöht (gemessen an den Bestandsdaten zum jeweiligen Stichtag; siehe Tabelle 88). Demgegenüber haben die klassischen erzieherischen Hilfen außerhalb des Elternhauses, die Vollzeitpflege in einer anderen Familie und die Heimunterbringung, nur leicht zugenommen. Die Unterbringung in Pflegefamilien hat praktisch stagniert. Entsprechend sind die Anteile dieser Interventionsformen im Zeitver-
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gleich gesunken, stellen aber mit zusammen 86% immer noch die weit überwiegende Zahl der Hilfen. Darüber hinaus dominiert weiterhin das Heim: zum 1.1.2001 wurden rund 69.000 Kinder und Jugendliche sowie junge Erwachsene bis 27 Jahren in Erziehungsheimen und sonstigen stationären Hilfeformen wie Wohngruppen gezählt, aber nur rund 50.000 lebten bei Pflegefamilien. Trotz der Zunahme der ambulanten Hilfearten seit der Reform von 1991 dominiert rein quantitativ auch heute noch das Heim. Tabelle 88: Empfänger1 von Erziehungshilfen nach Hilfeart, Deutschland 19912-2001 (in 1.000) Hilfeart Ambulante Hilfen - Erziehungsberatung3 - Betreuung Jugendlicher - Sozialpäd. Familienhilfe4 Hilfen außerhalb des Elternhauses insgesamt - Erziehung in Tagesgruppe - Vollzeitpflege: andere Familie - Heimerziehung - Intensive sozialpädagogische Betreuung
Hilfen insgesamt5 1991 1995 2000 2001
154 20 13 156
230 30 18 169
275 42 31 179
10 56 89 1
k.A. k.A. k.A. k.A.
22 58 95 4
282 45 34 193 k.A. k.A. k.A. k.A.
Bestand am 1. Jan 31. Dez 19912 2000 12 9 115
22 20 137
(5)6 (38)6 (56)6 (1)6
(12)6 (36)6 (50)6 (2)6
k.A.: keine Angaben verfügbar. Anmerkungen: 1 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene unter 27 Jahren, 2 Inkrafttreten des reformierten Kinder- und Jugendhilferechts, 3 Beendete Hilfen/Fälle während des Jahres, 4 Zahl der Familien, 5 Während des Jahres beendete und zum Jahresende bestehende Hilfen, 6 Anteilswerte von „Insgesamt außerhalb des Elternhauses“ in %. Quelle: Statistisches Bundesamt (2003): 11 Jahre Kinder- und Jugendhilfegesetz in Deutschland. Ergebnisse der Statistik. Erzieherische Hilfen; eigene Berechnungen.
Tabelle 89: Begonnene Erziehungshilfen außerhalb des Elternhauses1, Deutschland 19912001 (in 1.000) Hilfeart
1991
1994
2001
Erziehung in einer Tagesgruppe Vollzeitpflege in einer anderen Familie Heimerziehung Intensive sozialpädagogische Betreuung Insgesamt
4 11 24 <1 40
5 11 27 1 44
8 10 30 2 50
Anmerkungen: 1 Während des Jahres begonnene Hilfen in 1.000 (gerundete Werte). Quellen: Statistisches Bundesamt (2003): 11 Jahre Kinder- und Jugendhilfegesetz in Deutschland. Ergebnisse der Statistik. Erzieherische Hilfen; eigene Berechnungen, Statistisches Bundesamt: Statistik der Kinder- und Jugendhilfe 2001. Hilfen zur Erziehung außerhalb des Elternhauses. Begonnene und beendete Hilfen. 2003.
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Dies wird auch deutlich, wenn man die innerhalb eines Jahres begonnenen Hilfen außerhalb des Elternhauses über die Zeit und zwischen den verschiedenen Arten der Intervention miteinander vergleicht (siehe Tabelle 89). Im Jahr 1991 wurden insgesamt rund 40.000 neue Fälle von Erziehungshilfen außerhalb des Elternhauses begonnen. Davon entfielen auf die stationäre Unterbringung in Heimen und anderen Einrichtungen rund 24.000 oder ein Anteil von 60%, auf die Unterbringung in einer Pflegefamilie 11.000 oder entsprechend 28%. Dieses Verhältnis hat sich bis 2001 weiter zugunsten der Heime entwickelt. Absolut gesehen steigen die Fallzahlen bei dieser Hilfeform, während die Zahl der neuen Fälle bei Pflegefamilien stagniert. Insgesamt hat jedoch auch der Anteil der Heimerziehung abgenommen, weil die Erziehung in einer Tagesgruppe stark angestiegen ist. Dennoch dominiert weiterhin das Heim die erzieherischen Hilfen außerhalb des Elternhauses. Die Reform von 1991 hat also zu einer Akzentverschiebung geführt, doch in erster Linie wurde die Zahl der Hilfen im ambulanten Bereich im Vorfeld der klassischen Kernbereiche ausgebaut. Dies gilt vor allem für die Beratung und die sozialpädagogische Familienhilfe. Der Ausbau der ambulanten Hilfearten schlägt sich auch in der Entwicklung der Versorgungsquoten seit 1991 nieder (siehe Tabelle 90). Der Großteil der erzieherischen Hilfen richtet sich auf Kinder und Jugendliche unter 18, aber ein nennenswerter Teil geht auch an junge Erwachsene bis 27 Jahren. Zählt man alle erzieherischen Hilfen einschließlich der Beratung zusammen, erhielten 1991 rund 206 von 10.000 Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren eine solche Leistung. Dies entspricht einem Wert von rund 2,1% an der entsprechenden Altersgruppe. Tabelle 90: Versorgungsraten der erzieherischen Hilfen in der Kinder- und Jugendhilfe, Deutschland 1991 und 2001 Hilfen je 10.000 Personen Altersgruppe Art der Hilfe Erzieherische Hilfen insgesamt - Erziehungsberatung - Einzelbetreuung - Sozialpädagogische Familienhilfe - Erziehung in Tagesgruppe - Vollzeitpflege in Familie - Heimerziehung
Kinder unter 18 1991 2001 206 339 88 167 10 22 (14)1 (37)1 2 7 15
5 7 18
18 bis unter 27 1991 2001 42 73 17 29 5 12 4 1
4 3
Anmerkungen: 1 Je 10.000 Familien mit Kindern unter 18 Jahren. Quelle: Statistisches Bundesamt (2003): 11 Jahre Kinder- und Jugendhilfegesetz in Deutschland. Ergebnisse der Statistik. Erzieherische Hilfen 1991-2001; eigene Berechnungen.
Zehn Jahre später ist diese Quote deutlich auf annähernd 3,4% angestiegen. Ein ebenso deutlicher Anstieg, wenngleich auf niedrigerem Niveau, ist bei den jungen Erwachsenen unter 27 Jahren festzustellen. Ein immer größerer Anteil von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen erhält also erzieherische Hilfen. Angestiegen sind die Versorgungsquoten in erster Linie in der Erziehungsberatung, der Betreuung einzelner junger Menschen
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und der sozialpädagogischen Familienhilfe. Auch die Erziehung in einer Tagesgruppe hat auf niedrigem Niveau stark zugelegt. Es sind also ganz klar die ambulanten Hilfearten, die den größten Zuwachs verzeichnen. Erzieherische Hilfen außerhalb des Elternhauses haben dagegen tendenziell stagniert. So ist der Anteil der in einer Pflegefamilie versorgten Kinder und Jugendlichen nicht angestiegen und beträgt weiterhin rund 7 von 10.000 Kindern der entsprechenden Altersgruppe. Auch die Heimerziehung ist kaum gewachsen und verharrt auf einem Wert von 18 je 10.000 Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren. Die freien Träger stellen auch in diesem Bereich der Kinder- und Jugendhilfe die überwiegende Zahl der Einrichtungen und versorgen das Gros der Hilfesuchenden. Bei den ambulanten Hilfearten betreuten sie im Jahr 2001 mehr als 50% der Fälle in der sozialpädagogischen Familienhilfe, rund 55% der Einzelbetreuung und 56% der Fälle in der Erziehungsberatung (siehe Tabelle 91). Tabelle 91: Ambulante Erziehungshilfen nach Träger, Deutschland 2001 (in 1.000) Hilfeart Insgesamt Öffentliche Sozialpädagogische Familienhilfe1 21 10 Einzelbetreuung junger Menschen1 6,1 2,7 Beratung2 282 125
Freie 11 3,4 157
Anmerkungen: 1 Am 31.12. des Jahres bestehende Hilfen, 2 Im Laufe des Jahres beendete Hilfen. Quelle: Statistisches Bundesamt (2003): 11 Jahre Kinder- und Jugendhilfegesetz in Deutschland. Ergebnisse der Statistik. Erzieherische Hilfen 1991-2001; eigene Berechnungen.
Tabelle 92: Ausgewählte Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe nach Trägergruppen, Deutschland 2002 (in N) Gesamt
Erziehungshilfe: Heime1 Erziehung: Wohngruppen Tagesgruppen Beratung2 Jugendzentren, Jugendräume
Öffentliche
Freie gesamt
AWO, DRK, Paritätischer3
Diakonie, Jugend- AnCaritas, ringe dere Religiöse4 etc.
2879
236
2643
639
1289
4
711
1177
83
1094
422
348
2
322
1079 56 2171 436 14749 5517
1023 1735 9232
323 536 1165
500 966 4958
4 196 6 227 1052 2057
Anmerkungen: 1 Einrichtungen der stationären Erziehungshilfe: Heime oder Heimen zugehörige, jedoch ausgelagerte Gruppen, 2 Erziehungs- und Familienberatung, Drogenberatung, Ehe- und Lebensberatung, 3 Arbeiterwohlfahrt, Deutsches Rotes Kreuz und Paritätischer Wohlfahrtsverband, 4 Religionsgemeinschaften des öffentlichen Rechts, unter anderem Zentralwohlfahrtsstelle der Juden. Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe. Einrichtungen und tätige Personen in der Kinder- und Jugendhilfe am 31.12.2002. 2004; eigene Berechnungen.
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Noch größer ist das Gewicht freier Träger bei den Hilfen außerhalb des Elternhauses (siehe Tabelle 92). Freie Träger stellen über 90% der Erziehungsheime und der einem Heim zugerechneten Gruppen, über 93% der anderen betreuten Wohnformen der Erziehungshilfe und rund 95% der verschiedenen Tagesgruppen. Damit besitzen sie in diesem Bereich eine monopolartige Stellung. Etwas geringer, aber immer noch dominierend, ist ihr Gewicht bei den verschiedenen Beratungsstellen der Kinder- und Jugendhilfe, einschließlich Ehe- und Partnerschaftsberatung und Drogenberatung (rund 80%) und den im weitesten Sinn der Jugendarbeit zuzurechenden Einrichtungen wie Jugendzentren und Jugendräumen (63%). Die Einrichtungen der Jugendarbeit sind der einzige der hier aufgeführten Bereiche der Kinder- und Jugendhilfe, in dem öffentliche Träger einen nennenswerten Anteil des Angebots stellen; ähnlich sind die Größenverhältnisse bei den Kindertagesstätten (siehe unten). Differenziert man die freien Träger in verschiedene Gruppen, wird erneut in fast jedem in Tabelle 92 gezeigten Bereich die Dominanz der großen konfessionellen Verbände und anderer Religionsgemeinschaften des öffentlichen Rechts deutlich. Diese stellen rund 50% der Erziehungsheime und Tagesgruppen in freier Trägerschaft, mehr als 53% der Jugendzentren und -räume sowie rund 56% der verschiedenen Beratungseinrichtungen. Nur bei den betreuten Wohnformen in der Erziehungshilfe liegt ihr Anteil an der Zahl der Einrichtungen unter 50%. An zweiter Stelle kommen in fast allen Bereichen die großen nichtkonfessionellen Verbände der Arbeiterwohlfahrt, des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes und des Deutschen Roten Kreuzes. Eine Ausnahme bildet der Bereich der Einrichtungen der Jugendarbeit, in dem Anbieter, die nicht zu einem der großen Verbände gerechnet werden, insgesamt rund ein Drittel der Einrichtungen halten. Zu nennen sind hier in erster Linie die freien Jugendgruppen und -ringe. Der hohe Anteil der freien Träger an den stationären Einrichtungen in der Kinder- und Jugendhilfe ermöglicht auch eine etwas längerfristige Betrachtung der Entwicklung von Kinder- und Jugendheimen auf der Basis der Statistik der Verbände der freien Wohlfahrt. Für diesen Bereich liegen einigermaßen verlässliche Angaben seit 1970 vor. In der Annahme, dass der Anteil freier Träger in der Vergangenheit eher noch größer gewesen sein dürfte als er heute ohnehin ist, wäre damit das Feld statistisch gut abgedeckt. Die Kinder- und Jugendhilfestatistik selbst liefert für die Zeit vor 1991 leider keine konsistenten Angaben. Die Zahlen der freien Wohlfahrt belegen den langfristigen Rückgang der Heimplätze für Kinder und Jugendliche seit Anfang der 1970er Jahre (siehe Tabelle 93). Leider weisen die in Tabelle 93 aufgezeigten Zeitreihen aufgrund mehrfacher Veränderungen im statistischen Kategoriensystem einige Brüche auf. Dennoch lassen sich die zentralen Entwicklungen gut erkennen und interpretieren. Die Zahl der Heimplätze in Einrichtungen für Kinder unter 15 Jahren hat sich von über 55.000 im Jahr 1970 auf rund 26.000 im Jahr 1987 fast halbiert. Noch stärker ist die Zahl der Plätze in Heimen für schulentlassene Jugendliche zurückgegangen. Hier wurden 1987 nur noch annähernd 7.000 Plätze gezählt. Ein kontinuierlicher Rückgang kennzeichnet auch die Entwicklung bei den Jugendwohnheimen. Unklarer ist der Verlauf bei den Heimen für Mütter mit Kindern, die aber insgesamt nur sehr wenig Plätze anbieten. Die Zahlen seit 1990 lassen sich aufgrund von Veränderungen in den statistisch ausgewiesenen Kategorien nicht mehr direkt mit den vorangehenden Werten vergleichen. Hinzu kommen die Effekte der deutschen Einheit, die sich in den Zahlen seit 1993 niederschlagen. Berücksichtigt man diesen Aspekt, scheint sich der tendenzielle Rückgang der Heimplätze in den 1990er Jahren fortgesetzt zu haben; für das Jahr 2000 liegt leider keine
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differenzierte Statistik vor. Dieser langfristige Rückgang in den Heimplätzen seit den 1970er Jahren ist natürlich zum einen demographisch bedingt, zum andern spiegelt er aber auch die allgemeine Entwicklung in den sozialen Diensten wider, die auf einen starken Abbau bei den stationären Einrichtungen zielt. Tabelle 93: Plätze in Heimen für Kinder und Jugendliche1, Freie Wohlfahrt, Bundesrepublik Deutschland 1970-1996 (in 1.000)
1970 1973 1975 1977 1981 1984 1987 19902 19933 1996
Heime für Kinder unter 154 55,8 42,4 43,4 37,1 33,5 30,2 26,5 36,59 32,29 41,59
Heime für Mutter und Kind5 3,0 4,3 3,0 2,4 2,0 2,1 1,5 2,6 4,47 2,1
Heime für schulentlassene Jugendliche4 15,3 12,0 11,7 8,8 9,3 8,6 6,9 k.A.8 k.A.8 k.A.8
Jugendwohnheime6 42,2 34,3 31,2 27,2 21,8 24,8 24,4 25,0 20,2 21,0
Anmerkungen: 1 Heime im Rahmen der Jugendhilfe; ohne Einrichtungen der Gesundheits- und Behindertenhilfe; ausgewählte Einrichtungen, 2 Zwischen 1987 und 1990 Veränderung der statistischen Kategorien; Zahlen nicht direkt vergleichbar; alte Bundesländer, 3 Ab 1993 Gesamtdeutschland, 4 Einschließlich Fürsorgeerziehung und freiwillige Erziehungshilfe, 5 Ab 1981 Teil der Familienhilfe, 6 Zum Beispiel für Auszubildende, 7 Ab 1993 einschließlich Wohngemeinschaften, 8 Ab 1990 in Spalte 1 enthalten, 9 Ab 1990 einschließlich Spalte 3. Quelle: Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege: Gesamtstatistik der Einrichtungen und Dienste der Freien Wohlfahrtspflege, verschiedene Jahre 1970-2000; eigene Berechnungen.
Kindertagesstätten Der zweite zentrale Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, der in jüngerer Zeit reformiert wurde, sind die Kindertagesstätten. In der politischen Diskussion wird die öffentliche Kinderbetreuung häufig als Stiefkind der deutschen Familienpolitik dargestellt. Im westeuropäischen Vergleich wird in erster Linie ein Mangel an Betreuungsplätzen beklagt, der ein wesentliches Hindernis für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit darstelle und somit auch ein wichtiger Grund dafür sei, weshalb die Zahl der Geburten in Deutschland international weit zurückliege. So richtig die allgemeine Stoßrichtung dieser Kritik an der Betreuungssituation in Deutschland auch sein mag, beruht sie doch auf einer verengten Perspektive. Deutschland liegt in der quantitativen Versorgung mit öffentlichen Betreuungsplätzen zwar hinter Frankreich und Belgien zurück, nicht jedoch so eindeutig hinter den skandinavischen Ländern und schon gar nicht hinter den südeuropäischen Ländern, den Niederlanden oder Großbritannien (siehe Kapitel 2). Richtig ist der Befund aller-
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dings in zweierlei Hinsicht. Zum einen ist der Unterschied zwischen den unter Dreijährigen und den Drei- bis Sechsjährigen in Deutschland besonders groß. Für die erste Gruppe gibt es kaum Betreuungsangebote, während für die älteren Vorschulkinder inzwischen eine fast flächendeckende Versorgung im Kindergarten besteht. Zum andern jedoch war der Kindergarten bis in die jüngste Zeit hinein auf ein Halbtagesangebot ausgerichtet und somit kaum dazu geeignet, die Bedürfnisse erwerbstätiger Eltern angemessen zu befriedigen. Welche zentrale Rolle der Kindergarten in der deutschen Betreuungslandschaft spielt, wird bei einem Blick auf die historischen Entwicklungen deutlich. Diese haben zu der spezifisch deutschen institutionellen Konfiguration der öffentlichen Kinderbetreuung geführt, die an drei zentralen Merkmalen festgemacht werden kann: einer klaren Trennung von Bildungswesen und Kinderbetreuung; einer Konzentration auf die Altersgruppe von drei bis sechs Jahren; einer Dominanz der freien Träger, insbesondere der großen konfessionellen Wohlfahrtsverbände Diakonie und Caritas. Die spezifische Formung der öffentlichen Kinderbetreuung in Deutschland vollzog sich gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Die NS-Herrschaft hat dagegen kaum institutionelle Spuren hinterlassen; die Bundesrepublik knüpfte direkt am institutionellen Erbe Weimars an. Die historischen Wurzeln der öffentlichen Kleinkindererziehung und -betreuung liegen jedoch weiter zurück (vgl. Erning, Neumann und Reyer 1987). Die Anfänge einer Institutionalisierung dieses Feldes liegen im Spannungsfeld der Entwicklung der bürgerlichen Familie und eines staatlichen Schulsystems im 18. Jahrhundert. Das bürgerliche Familienideal rückte die Sozialisation von Kindern zunehmend ins Zentrum der modernen Kernfamilie. Auf der anderen Seite entwickelte sich die Schule zu einer spezifischen Bildungseinrichtung, aus der die Betreuungsfunktion ausgelagert wurde. Öffentliche Kinderbetreuung entwickelte sich somit im institutionell unausgefüllten Zwischenraum zwischen Familie und Schule und konzentrierte sich zudem zunächst auf Kinder, die in der Familie nicht adäquat betreut werden konnten. An die Stelle der älteren Spiel- und Warteschulen, in denen vielfach auch Kinder aus dem Bürgertum einen Teil ihrer Zeit verbrachten, traten nun seit Beginn des 19. Jahrhunderts vermehrt die Kinderbewahranstalten, die zumeist Teil der Armenpflege waren und häufig von philanthropischen Privatpersonen oder religiösen Einrichtungen getragen wurden. Hinzu kam die von Friedrich Fröbel ausgehende Kindergartenbewegung, die sich auf den Sozialisationsaspekt der Kinderbetreuung berief. Im Kaiserreich bildeten sich sodann die Hauptformen und die Trägerlandschaft der Kinderbetreuung in Deutschland heraus. Dabei gab es zwei wesentliche Unterschiede und Konfliktpunkte. Auf der einen Seite standen die evangelischen und katholischen Kinderbewahranstalten, die sich als Nothelfer für Familien und Kinder verstanden, die aus ökonomischen oder sozialen Gründen auf diese Einrichtungen angewiesen waren. Zwar gab es in diesen konfessionellen Einrichtungen religiöse Unterweisung, ansonsten jedoch spielten pädagogische Konzepte kaum eine Rolle. Auf der anderen Seite stand die zumeist bürgerliche Kindergartenbewegung, deren Ziel eine allgemeine Einrichtung für alle Kinder einer Gemeinde mit klarer pädagogischer und sozialisationsbestimmter Zielsetzung war. Im Unterschied zu den konfessionellen Bewahranstalten, die in der Regel Kinder verschienenen Alters mischten und ihre Öffnungszeiten zumeist am Arbeitstag der unteren Schichten ausrichteten, wurden in den Fröbelschen Kindergärten eher homogene Altersgruppen gebildet, die 4-5 Stunden täglich spielerisch lernen sollten. Die Kindergärten sollten gemäß dem
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Ziel einer universalen Einrichtung für alle Bevölkerungsschichten offen sein, in der Praxis jedoch waren sie aufgrund der kurzen Öffnungszeiten und der anfallenden Gebühren eher für Kinder aus den bürgerlichen Schichten geeignet. Für die Entwicklung der Institution Kindergarten spielte die Bewegung Fröbels eine herausragende Rolle. Sie hat dem Kindergarten heutiger Prägung ihren Stempel aufgedrückt. Quantitativ betrachtet überwogen zwar stets die konfessionellen Anbieter gegenüber den eigentlichen Fröbelschen Trägervereinen, jedoch übernahmen diese im Lauf der Zeit einige der Fröbelschen Ideen und orientierten sich stärker als zuvor am Ziel einer umfassenden Sozialisation der Kinder; sie öffneten sich allmählich auch anderen Bevölkerungsschichten. Eine nicht unerhebliche Rolle bei dieser allmählichen Amalgamierung von konfessionellen Einrichtungen und den klassischen Kindergärten spielte der Staat, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein zunehmendes Interesse an der öffentlichen Kleinkindererziehung gewann und die Kinderbetreuungseinrichtungen im Rahmen der Kinder- und Jugendfürsorge stärker zu regulieren begann. Eine zentrale Rolle spielte hierbei die Festlegung der Ausbildung des Personals, die sich stark an der Kindergartenbewegung orientierte. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs war die öffentliche Kinderbetreuung institutionell wie quantitativ fest etabliert. Die zentralen institutionellen Merkmale waren ausgeprägt: die Zuordnung der Kinderbetreuungseinrichtungen zum Fürsorge- und Wohlfahrtswesen und somit die Trennung von der Schule; die klar dominierende freie Trägerschaft, unterstützt durch staatliche Zuwendungen und überwölbt von staatlicher Normierung und Standardisierung; die Ausrichtung am Ziel der Sozialisation. Seine abschließende formale Institutionalisierung erhielt dieses System 1922 mit dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG), das die Entwicklung der öffentlichen Kleinkinderbetreuung bis zum heutigen Tag geprägt hat. Mit diesem Gesetz wurde sowohl die Trennung von der Schule als auch die Dominanz der freien Träger, die sich inzwischen zu nationalen Verbänden zusammengeschlossen hatten, bestätigt und ausgebaut. Festgeschrieben wurde darüber hinaus das Prinzip der Subsidiarität: grundsätzlich sollten öffentliche, kommunale Kindergärten und Krippen nur dann eingerichtet werden, wenn freie Träger keine entsprechenden Angebote bereitstellten. Die entscheidende institutionelle Innovation war jedoch die Schaffung von Jugendämtern als örtlichen Spezialverwaltungen mit umfassender Zuständigkeit im Bereich der Kinder- und Jugendpflege (siehe oben). Im Bereich der Kinderbetreuung sollten die Jugendämter die Arbeit der freien Träger (auch finanziell) unterstützen, kontrollieren und koordinieren. Auch quantitativ gesehen waren Kinderbetreuungseinrichtungen bereits vor Beginn des Ersten Weltkriegs fest etabliert. Um 1910 variierte die Betreuungsquote (Zahl der Plätze je 100 Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren) von rund 38% in Baden und 31% in ElsaßLothringen bis zu 11% in Preußen und 5% in Sachsen (Erning et al., 1987, Band 2: 30). Im Durchschnitt der sechs größten damaligen Reichsgebiete mit zusammen rund 90% der Gesamtbevölkerung betrug die Betreuungsquote damals im Deutschen Reich 13%. Charakteristisch war bereits zu dieser Zeit ein klares Süd-Nord und West-Ost-Gefälle in den Betreuungsquoten. Neben Baden und Elsaß-Lothringen hatte Württemberg mit rund 24% eine hohe Betreuungsquote, Bayern mit rund 14% eine deutlich niedrigere. Innerhalb Preußens waren es vor allem die Städte an Rhein und Ruhr, die hohe Betreuungsrelationen aufwiesen: über 20% in Düsseldorf, Bonn und Essen, aber nur rund 10% in Frankfurt am Main und Kassel, 7% in Erfurt und Magdeburg, nur 5% in Berlin (Erning et al., 1987, Band 2: 31). Bereits in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg waren also der Südwesten und der Wes-
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ten Deutschlands entlang des Rheins führend im Bereich der Kinderbetreuung. Diese regionalen Unterschiede sind bis heute ausgeprägt, sieht man von der Sonderentwicklung in der ehemaligen DDR und in deren Folge in den neuen Bundesländern ab. Der am Vorabend des Ersten Weltkriegs erreichte Stand wurde nach dem Ende des Krieges in der Weimarer Republik nicht mehr erreicht. Es liegen zwar keine umfassenden Daten vor, in der Literatur herrscht jedoch die Einschätzung vor, dass der Versorgungsgrad in den 20er und zu Beginn der 30er Jahre eher unter dem Vorkriegsniveau lag. Verschoben hat sich allerdings die Trägerlandschaft. Vor dem Ersten Weltkrieg gab es kaum öffentliche Einrichtungen, Kinderbetreuungsanstalten wurden von einer Vielzahl von Vereinen und Gruppen angeboten. Zahlen darüber liegen beispielsweise für Preußen 1912/1913 vor (Erning et al., 1987, Band 2: 42). Den höchsten Anteil hielten die verschiedenen katholischen Gruppen und Vereine mit rund 31% der Einrichtungen. Es folgten die entsprechenden evangelischen Vereine mit 28% und als drittes konfessionell nicht gebundene, freie Vereine und Stiftungen mit rund 23%. Die Kommunen hielten nur rund 5% der Einrichtungen, auf Privatpersonen entfielen 4%. Industrie und landwirtschaftliche Güter stellten zusammen rund 9% der Einrichtungen. Obwohl die Dominanz der konfessionellen Vereine mit rund 60% des Gesamtangebots bereits ausgeprägt war, stellten verschiedene andere „private“, das heißt nicht-staatliche Anbieter ein rundes Drittel, auf Kommunen und Staat zusammen entfielen lediglich rund 5%. In der Weimarer Republik hatte sich die Anbieterlandschaft bereits deutlich verändert. Zum einen hatten sich die freien Träger in den großen Verbänden organisiert. Neben die konfessionellen Verbände Caritas und Diakonie traten vor allem der „neutrale“ Fünfte oder Paritätische Wohlfahrtsverband und die sozialdemokratische Arbeiterwohlfahrt. Somit waren die verschiedenen freien Vereine fast vollständig als Anbieter verschwunden beziehungsweise in den großen Verbänden aufgegangen. Zweitens entstanden nach Einführung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes 1922 (in Kraft seit 1924) vermehrt öffentliche, kommunale Kindergärten und Kinderkrippen. Zwar waren die neuen Jugendämter dazu verpflichtet, den freien Trägern Vorrang zu gewähren und diese entsprechend zu unterstützen, in vielen Fällen waren die freien Träger aber nicht in der Lage, alleine ein adäquates Angebot aufrecht zu erhalten. Inflation, Wirtschaftskrise und politische Konflikte hatten zu einer relativen Ausdehnung des öffentlichen Sektors auf Kosten der freien Träger gesorgt. Auf die Entwicklungen während der NS-Diktatur wird hier nicht näher eingegangen, weil diese den weiteren Verlauf in der Bundesrepublik Deutschland kaum beeinflusst haben. In der Nachkriegszeit kam es zu einer allgemeinen Renaissance von Familienwerten gegenüber dem diskreditierten öffentlichen, politischen Bereich. Zugleich standen dringendere sozialpolitische Probleme als die Kinderbetreuung an. Wohnen, Arbeit, die Versorgung von Kriegsopfern und Flüchtlingen standen im Mittelpunkt der Sozialpolitik in der Nachkriegszeit (vgl. Frerich und Frey 1993; Schmidt 1998). In der Kinder- und Jugendfürsorge ging es in erster Linie um die Versorgung von Waisenkindern. Die 1950er und 1960er Jahre können somit als eine Zeit der Stagnation in der Entwicklung der öffentlichen Kinderbetreuung betrachtet werden. Die Betreuungsquoten sind von 1950 bis 1965 sogar tendenziell gefallen. Einen deutlichen Aufschwung nahm die Zahl der Einrichtungen und Plätze dann gegen Ende der 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre im Zuge der Bildungsreformen, bis die Wirtschaftskrise nach 1974 dieser Entwicklung erneut ein Ende setzte. Eine zweite deutliche Aufschwungphase lässt sich dann zu Beginn der 1990er Jahre beo-
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bachten, bestärkt durch die deutsche Einheit und infolge einer zunehmenden familienpolitischen Aktivität aufgrund massiver Interventionen des Bundesverfassungsgerichts zugunsten von Familien mit Kindern. Diese Dynamik bezog sich jedoch fast ausschließlich auf die Versorgung mit Kindergartenplätzen, die den Kern des deutschen Betreuungssystems bilden. Das Angebot an Kinderkrippen für Kinder unter drei Jahren und an Kinderhorten für Schulkinder verharrte auf niedrigem Niveau. Im Jahr 1950 wurden in der Bundesrepublik 605.000 Kinder in Kindergärten betreut (Erning et al., 1987, Band 2: 35). Dies entsprach einem Versorgungsgrad von rund 30% (siehe Tabelle 94). Tabelle 94: Kindergartenplätze, Bundesrepublik Deutschland1 1950-2002 Plätze (1.000) 1950 605 1955 749 1960 818 1965 953 1970 1161 1975 1479 1980 1394 1986 1439 19905 15567 19906 2314 1994 2471 1998 2487 2002 2507
Versorgungsrate2 insgesamt
Versorgungsrate2 höchster Länderwert3
Versorgungsrate2 niedrigster Länderwert4
(ca. 30) 34 33 33 38 66 79 79 75 78 78 90 90
51 63 60 57 66 91 100 100 100 100 100 100 100
12 13 11 10 13 34 49 k.A. k.A. k.A. k.A. k.A. 65
k.A.: keine Angaben verfügbar. Anmerkungen: 1 Jeweiliger Gebietsstand, 2 Zahl der Plätze je 100 Kinder der Altersgruppe 3-5 Jahre, 3 Im Bundesländervergleich; höchste Werte: 1951 Rheinland-Pfalz, seit 1955 Baden-Württemberg, 4 Im Bundesländervergleich; niedrigste Werte: 1950-1955 Niedersachsen, 1960-1980 SchleswigHolstein, 2002 Hamburg, 5 Alte Bundesländer, 6 Gesamtdeutschland, 7 Ohne Berlin. Quellen: Erning et al., 1987, Band 2: S. 36 und 37; Holzer, 1998: S. 70; Statistisches Bundesamt, 2004: Kindertagesbetreuung in Deutschland 1990-2002, S. 28-32 und S. 60-61; eigene Berechnungen.
Von 1950 bis 1965 wurde die Zahl der Plätze nur sehr langsam ausgebaut. Aufgrund der steigenden Geburtenzahl verharrte die Versorgungsquote bei rund einem Drittel der Kinder zwischen drei und sechs Jahren. In dieser Zeit, die gemeinhin als das goldene Zeitalter der Kernfamilie gilt, erfüllten Kindergärten in erster Linie die Funktion einer ergänzenden Einrichtung für Familien, die ihre Kinder nicht selbst ganztags betreuen konnten. Keinesfalls wurden Kindergärten als allgemeine Einrichtungen für alle Kinder zum Zweck einer besseren Sozialisation betrachtet. Ein erster deutlicher Wachstumsschub ist zwischen 1965 und 1975 erkennbar, als die Zahl der Plätze binnen zehn Jahren um mehr als 55% anstieg. Dieser Anstieg erfolgte im Zuge der Bildungsreformen, in denen auch die vorschulische
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Erziehung einen neuen Stellenwert erhielt. Die Versorgungsquote verdoppelte sich von 33% im Jahr 1965 auf 66% im Jahr 1975. Dazu trug auch der seit Mitte der 1960er Jahre einsetzende Geburtenrückgang bei. Von 1975 bis 1990 nahm die Zahl der Kindergartenplätze dann wiederum nur unmerklich zu, die Versorgungsquote stieg jedoch aufgrund der weiter sinkenden Geburtenzahlen auf knapp unter 80%. In der ehemaligen DDR war das Netz an Kinderbetreuungseinrichtungen viel dichter geknüpft, so dass die deutsche Einheit 1990 kurzfristig zu einem Anstieg der gesamtdeutschen Versorgungsquote führte. Zwischen 1990 und 2002 nahm die Zahl der Plätze um 9% zu (Gesamtdeutschland), die Versorgungsquote stieg jedoch stärker von rund 78% auf 90%. Die Ursachen für diese Entwicklung sind vielfältig. Zum einen wurden in den neuen Bundesländern viele Einrichtungen nach der Vereinigung geschlossen, weil sie wirtschaftlich nicht mehr tragbar waren. Dies betraf in erster Linie die Betriebskindergärten. Zugleich setzte ein Ausbau kommunaler Einrichtungen ein, während die freien Träger nur allmählich Fuß fassen konnten. Entscheidend für die Versorgungsquote war jedoch der beispiellose Geburteneinbruch in den neuen Ländern seit 1990, der die Zahl der Kinder in der betreffenden Altersgruppe mehr als halbierte. Trotz sinkender Platzzahlen blieben somit die Betreuungsrelationen in den neuen Bundesländern überdurchschnittlich hoch. Im Westen wurde die Versorgung mit Kindergartenplätzen in den 1990er Jahren weiter ausgebaut. Man kann hier sogar vom zweiten, großen Wachstumsschub nach der Zeit von 1965 bis 1975 sprechen. Die Gründe dafür liegen in einer stärkeren familienpolitischen Aktivität der Bundesregierung infolge einer Reihe von Urteilen des Bundesverfassungsgerichtes, das eine stärkere Unterstützung von Familien angemahnt hatte. Hinzu kommt die Reform der Kinder- und Jugendhilfe 1991, die einen weiteren Ausbau der sozialen Infrastruktur für Kinder förderte und das 1993 ebenfalls durch ein Urteil des Verfassungsgerichts durchgesetzte Recht auf einen Kindergartenplatz für Kinder zwischen drei und sechs Jahren, das bis 1999 schrittweise in Kraft trat. Der Weg des Kindergartens von einer Notlösung für Familien mit besonderem Betreuungsbedarf in den 1960er Jahren zur heutigen Regelinstitution, die fest in der Normalbiographie von Kindern aller Schichten und aus allen Familientypen verankert ist, hat fast 40 Jahre gedauert. Inzwischen ist der Kindergarten aus dem Leben der meisten Kinder und Familien nicht mehr wegzudenken, es gibt allerdings immer noch schwächer erfasste Bereiche der Gesellschaft; insbesondere Kinder von Immigranten besuchen seltener eine solche Einrichtung. Die regionalen Variationen in der Versorgung mit Kindergärten, die schon um 1910 zu beobachten waren, haben sich mit Ausnahme der neuen Bundesländer (infolge der Erbschaft der ehemaligen DDR) bis heute erhalten. Der Süden und der Westen Deutschlands weisen immer noch durchwegs höhere Quoten auf als der Norden und die Mitte. Den höchsten Wert unter den Bundesländern wies um 1950 Rheinland-Pfalz mit 51% auf, seit 1955 hat Baden-Württemberg ununterbrochen den Spitzenplatz inne (siehe Tabelle 94). Die niedrigsten Werte wurden 1950 und 1955 in Niedersachsen und von 1960 bis 1980 in Schleswig-Holstein gemessen, im Jahr 2002 steht Hamburg mit 65% an letzter Stelle. Durch den Beitritt der neuen Länder kamen Gebiete mit einer aus der ehemaligen DDR stammenden hohen Versorgungsquote hinzu. Ganz anders als bei den Kindergärten, die mit Recht als die zentrale Institution des deutschen Kinderbetreuungssystems betrachtet werden, verlief die Entwicklung bei den Kinderkrippen für Kinder unter drei Jahren. Hier hat der Aspekt der Sozialisation und Erziehung naturgemäß von Anfang an keine große Rolle gespielt, es überwog stets die Funk-
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tion der Betreuung. Umso schwerer war und ist die Etablierung der Kinderkrippen als gesellschaftliche Regelinstitution, weil ihnen ein unabhängiger Legitimitätsgrund fehlt, und sie als notwendiger aber zumeist unerwünschter Ersatz für mangelnde familiäre Betreuung angesehen werden. Die Entwicklung der Kinderkrippen in Deutschland war nahezu unbeeinflusst vom Anstieg der Frauenerwerbstätigkeit seit Mitte der 1960er Jahre und von demographischen Entwicklungen. 1955 gab es in der Bundesrepublik rund 16.000 Krippenplätze. Dies entsprach einer Betreuungsrelation von weniger als 1% der Kinder unter drei Jahren (siehe Tabelle 95). Tabelle 95: Kinderkrippenplätze, Bundesrepublik Deutschland1 1955-2002 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1986 19903 19904 1994 1998 2002
Plätze (1.000) 16 16 19 16 24 27 29 28 293 150 166 190
Versorgungsrate2 0,7 0,6 0,6 0,6 1,3 1,5 1,6 1,3 k.A. 6,3 k.A. 8,55
k.A.: keine Angaben verfügbar. Anmerkungen: 1 Jeweiliger Gebietsstand, 2 Plätze je 100 Kinder unter 3 Jahren, 3 Alte Bundesländer, 4 Gesamtdeutschland, 5 Höchster Wert im Bundesländervergleich: 56,6 Sachsen-Anhalt; niedrigster Wert: 2,0 Nordrhein-Westfalen. Quellen: Holzer, 1998: S. 75; Statistisches Bundesamt, 2004: Kinderbetreuung in Deutschland 19902002, S. 25-28 und S. 60-61; eigene Berechnungen.
Bis 1970 veränderte sich an diesem Bild kaum etwas, erst bis 1975 kam es im Zusammenhang mit der Bildungsreform und der Expansion der vorschulischen Erziehung auch zu einem deutlichen Anstieg der Krippenplätze. Die Zahl der Plätze erhöhte sich zwischen 1970 und 1975 um rund 50%, die Versorgungsquote verdoppelte sich von 0,6% auf 1,3%, ein immer noch sehr bescheidener Wert. Danach herrschte bis zum Beginn der 1990er Jahre wiederum Stillstand. Mit dem Beitritt der neuen Bundesländer veränderte sich das Bild schlagartig, im Westen blieb die Versorgungsdichte jedoch niedrig. Nach 1990 kam es in den neuen Bundesländern zu einem deutlichen Abbau von Plätzen, noch stärker sanken jedoch die Geburten. Die Betreuungsrelationen blieben somit hoch. Im Jahr 2002 gab es in ganz Deutschland 190.000 Plätze für Kinder unter drei Jahren. Dies entspricht einer Versorgungsdichte von 8,5 Plätzen je 100 Kinder. Bemerkenswert ist, dass rund 110.000 dieser Plätze in den neuen Bundesländern angesiedelt sind, deren Versorgungsquote damit weit höher liegt als im Westen. Im Jahr 2002 hatte Sachsen-Anhalt mit 56,6% die höchste Quote, Nordrhein-Westfalen und Bayern mit jeweils rund 2% die niedrigste.
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Die Trägerstruktur der Kinderbetreuungseinrichtungen entwickelte sich bei Kindergärten und Kinderkrippen ebenfalls recht unterschiedlich. Bei den Kindergärten stellten im Jahr 1955 öffentliche Träger 35% und freie Träger 65% des Gesamtangebots (Tabelle 96). Tabelle 96: Plätze in der Kinderbetreuung nach Einrichtungsart und Trägerschaft, Bundesrepublik Deutschland1 1955-2002 (in %) Kindergartenplätze 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1986 19903 1994 1998 2002
Öffentliche % 35 20 20 20 27 29 31 30 44 40 40
2
Freie % 65 80 80 80 73 71 69 70 56 60 60
Kinderkrippenplätze Öffentliche % 43 50 66 66 77 73 69 54 72 59 53
Freie2 % 57 50 34 34 23 27 31 46 28 41 47
Anmerkungen: 1 Jeweiliger Gebietsstand, 2 Einschließlich der sehr wenigen privat-gewerblichen Anbieter (unter 2%), 3 Alte Bundesländer. Quellen: Erning et al., 1987, Band 2: S. 61; Holzer, 1998: S. 70 und 75; Statistisches Bundesamt, 2004: Kinderbetreuung in Deutschland 1990-2002, S. 60; eigene Berechnungen.
Zwischen 1960 und 1970 konnten die freien Träger ihre führende Stellung sogar auf rund 80% des Gesamtangebots ausbauen. Das Gros der Einrichtungen wurde und wird dabei von den großen konfessionellen Wohlfahrtsverbänden Diakonie und Caritas getragen. Erst in den 1970er und 1980er Jahren erhöhte sich der Anteil öffentlicher Träger im Zuge des damaligen Ausbaus der Kindergärten wieder auf knapp 30%, freie Träger stellten entsprechend rund 70% des Angebots. Private, kommerzielle Anbieter spielen seit jeher mit einem Anteil von unter 1% praktisch keine Rolle. Ein zweiter Schub in Richtung auf ein vermehrtes Engagement der Kommunen kam im Zuge der deutschen Einheit und dem Ausbau der Kindergärten im Gefolge der 1993 beschlossenen Garantie auf einen Kindergartenplatz. Die Wohlfahrtsverbände, insbesondere die konfessionellen Organisationen, konnten in den neuen Ländern lange nicht so stark Fuß fassen wie im Westen. Die Schließung der ehemaligen Betriebskindergärten ging somit mit einer Kommunalisierung der Trägerstruktur einher. Neben den konfessionellen Verbänden konnten sich verstärkt auch nichtkonfessionelle, freie Träger etablieren. 2002 stellten öffentliche Träger rund 40%, freie Träger 60% der Kindergartenplätze in ganz Deutschland. Die regionalen Variationen sind jedoch erheblich. In der Regel ist die Stellung der freien Wohlfahrt im Westen immer noch deutlich besser als in den neuen Ländern. Bei den Kinderkrippen hatte es dagegen mit Ausnahme von 1955 nie eine Dominanz der freien Träger gegeben. Der Anteil der öffentlichen Träger lag seit 1960 stets über 50%, allerdings mit großen Schwankungen. Die Ursache für den relativ niedrigen Anteil der
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freien Träger liegt in der Politik der großen konfessionellen Organisationen begründet, die den Kinderkrippen skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden. Sie konzentrierten sich stark auf die vorschulische Erziehung und Sozialisation in den Kindergärten, die Betreuung von sehr kleinen Kindern in Krippen wurde dagegen negativ bewertet. Interessanterweise ist dies fast als eine Umkehrung der ursprünglichen Position der religiösen Träger aus dem 19. Jahrhundert zu bezeichnen, als die konfessionellen Bewahranstalten und Kleinkinderschulen sich eher als Nothelfer der Arbeiterfamilien verstanden und dezidiert Stellung gegen die Idee eines allgemeinen, auf Sozialisation zielenden Kindergartens in der Tradition Fröbels bezogen. Der höchste Anteil öffentlicher Träger wurde 1975 mit rund 77% erreicht, seitdem nahm das Angebot freier Träger bis zur deutschen Einheit 1990 kontinuierlich zu und erreichte 1990 mit 46% den Höchststand in der alten Bundesrepublik. Der Grund für diese Zunahme ist außerhalb der konfessionellen Organisationen zu suchen, in Elterninitiativen zum Beispiel, die sich seit den 1970er Jahren vermehrt in diesem Bereich engagiert haben und in der Regel einem der nicht-konfessionellen Verbände der freien Wohlfahrt angeschlossen sind. Nach der deutschen Einheit schnellte der Anteil öffentlicher Träger auf über 70% empor, sinkt seitdem aber wieder deutlich ab. Im Jahr 2002 herrscht ein fast ausgeglichenes Verhältnis von Plätzen in öffentlicher und freier Trägerschaft, mit leichtem Vorteil zugunsten der ersten Gruppe. Wie stark die Struktur der Kinderbetreuung in Deutschland trotz der jüngsten Zunahme der Krippenplätze immer noch vom Kindergarten beherrscht wird, zeigt Tabelle 97. Tabelle 97: Kinderbetreuungsplätze nach Einrichtungsart und Trägergruppe, Deutschland 2002 (in %) Plätze1 für: Krippenkinder Kindergartenkinder Hortkinder Insgesamt
Öffentliche Freie 3,2 32,3 7,8 43,3
2,9 48,7 5,1 56,7
Insgesamt 6,1 81,0 12,9 100,02
Anmerkungen: 1 An allen Einrichtungen, 2 Insgesamt rund 3.097.000. Quellen: Statistisches Bundesamt, 2004: Kinderbetreuung in Deutschland 1990-2002, S. 60; Statistisches Bundesamt, 2004: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe. Tageseinrichtungen für Kinder am 31.12.2002, S. 61-66; eigene Berechnungen.
Von den 2002 insgesamt gezählten rund 3 Millionen Plätzen in allen Einrichtungen sind 80% für Kinder im Kindergartenalter. An zweiter Stelle stehen Plätze für Hortkinder, in der Regel Kinder im Grundschulalter. Plätze für Krippenkinder machen nur rund 6% des Gesamtangebots aus. Deutlich sichtbar sind auch die Schwerpunkte hinsichtlich der Trägerschaft. Knapp 50% aller Plätze werden von freien Trägern für Kindergartenkinder angeboten, ein weiteres Drittel von öffentlichen Einrichtungen für dieselbe Gruppe. Es folgen Plätze für Hortkinder in öffentlichen und frei gemeinnützigen Einrichtungen. An letzter Stelle stehen Krippenplätze in freier Trägerschaft. Der Kindergarten dominiert jedoch nicht nur quantitativ, er hat auch zu großen Teilen die deutsche Diskussion über Kinderbetreuung im allgemeinen geprägt und führt deutlich in der öffentlichen Wahrnehmung. Allerdings
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kann dabei schon lange nicht mehr von einer einheitlichen Institution die Rede sein. Das Angebot an Einrichtungen hat sich trotz der scheinbaren Kontinuität deutlich vervielfältigt (siehe Tabelle 98). Tabelle 98: Kinderbetreuungsplätze nach Zielgruppe, Einrichtungsart, Öffnungszeiten und Mittagsservice, Deutschland 2002 (in %)1 Einrichtungsart - Spezifische Einrichtung2 - Einrichtungen: alterseinheitliche Gruppen - Einrichtungen: altersgemischte Gruppen Insgesamt (1.000) - Ganztagesplätze mit Mittagessen - Vormittagsplätze ohne Mittagessen - Vor-, Nachmittagsplätze ohne Mittagessen - Andere Kombinationen
Krippenkinder
Kindergartenkinder
Hortkinder
9,6 36,7 53,7 190 91,1 3,1 1,8 4,0
69,3 11,2 19,5 2508 36,4 18,4 40,3 4,9
45,5 26,1 28,4 398 77,0 1,1 9,8 12,1
Anmerkungen: 1 In Spaltenprozenten (von insgesamt innerhalb jeder Gruppe von Kindern), 2 Krippen, Kindergärten oder Horte. Quelle: Statistisches Bundesamt, 2004: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe. Tageseinrichtungen für Kinder am 31.12.2002, S. 61; eigene Berechnungen.
Nicht nur gibt es große Variationen zwischen den Einrichtungen im Hinblick auf pädagogische Zielsetzungen und didaktische Methoden, auch in den „härteren“ institutionellen Fakten lassen sich Differenzierungsprozesse erkennen. Dies betrifft zum einen die Art der Einrichtung, zum andern die Öffnungszeiten und zusätzliche Angebote wie Mittagessen. Im Jahr 2002 gab es in ganz Deutschland rund 2,5 Millionen Betreuungsplätze für Kinder im Kindergartenalter. Davon befanden sich rund 70% an klassischen Kindergärten, die ausschließlich für diese Altersgruppe von Kindern eingerichtet sind. Doch immerhin 30% der Plätze für diese Gruppe von Kindern befinden sich in gemischten Tageseinrichtungen, 20% davon in altersgemischten Gruppen. Zunehmend sind neue, offenere Formen der Tagesbetreuung auch in den Kernbereich der Kindergärten vorgedrungen. Inzwischen bieten auch rund 36% der Plätze für diese Altersgruppe eine Ganztagesbetreuung einschließlich Mittagessen an. Der Kindergarten alter Prägung mit Vor- und Nachmittagsplätzen ohne Mittagessen stellt nur noch rund 40% der Plätze. Allerdings sind hier die regionalen Variationen groß. Noch markanter ist diese Verschiebung zugunsten offenerer Betreuungsformen für Krippen- und für Hortkinder. Von den insgesamt rund 190.000 Plätzen für Krippenkinder waren nur noch weniger als 10% in klassischen, funktional homogenen Kinderkrippen angesiedelt, über 50% der Plätze befanden sich in verschiedenen, zumeist altersgemischten Einrichtungen. Über 90% der Plätze für Krippenkinder boten Ganztagesbetreuung mit Mittagessen, Halbtagsplätze ohne Mittagessen sind kaum zu finden. Die Angebotsstruktur für Hortkinder liegt zwischen denjenigen der Kindergarten- und der Krippenkinder, 77% der Hortplätze bieten Ganztagesbetreuung mit Mittagessen. Somit ist trotz der historisch bedingten Dominanz des Kindergartens und der freien Träger im deutschen System der Kinderbetreuung eine zunehmende Diversifizierung des
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Angebots zu beobachten. Dies ist meines Erachtens der unter institutionellem Blickwinkel wichtigere Prozess als die im internationalen Vergleich gebremste quantitative Expansion. Drei Schübe dieses Diversifizierungsprozesses kann man erkennen. Zunächst die frühen 1970er Jahre mit dem Aufschwung der Bildungsreform und neuer Formen der Kinderbetreuung aus der Bewegung der 1968er Jahre. Zweitens die deutsche Einheit 1990 mit der Integration eines ganz anderen Systems der Kinderbetreuung in die deutsche Gesellschaft, mit eigenen Stärken und Schwächen. Drittens die Reform und Öffnung der Kinder- und Jugendhilfe 1990/1991, verbunden mit einem größeren Pluralismus in der Trägerlandschaft und in den Methoden. Diese Öffnung hat erst die Grundlage für die anschließende quantitative Expansion des Systems gelegt, die primär familienpolitisch motiviert war. Damit hat die Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland genau den umgekehrten Weg wie die Altenhilfe genommen. Einer größeren Diversifizierung der Angebote auf dieser Seite steht eine hohe Standardisierung und verfahrenstechnische Normierung auf der anderen Seite gegenüber. Zwar war die Kinder- und Jugendhilfe traditionell durch einen hohen Methodenpluralismus und eine große Trägervielfalt geprägt, aber die jüngsten Reformen und Entwicklungen in diesem Bereich haben diese Strukturmerkmale eher verstärkt als geschwächt und somit eine andere Form der Institutionalisierung verwirklicht als in der Altenhilfe.
Soziale Dienste für Behinderte Die sozialen Dienste für Behinderte sind statistisch schlechter erfasst als Jugendhilfe und Altenhilfe. Daten, die sich über einen längeren Zeitraum erstrecken, liegen fast ausschließlich für den Bereich der freien Wohlfahrt vor, die jedoch das Gros der Einrichtungen unterhält. Sofern behinderte Menschen pflegebedürftig sind, können sie auch die Leistungen der Pflegeversicherung erhalten und sind somit dort im Empfängerkreis eingeschlossen. Außerdem stellt die Behindertenhilfe einen der größten monetären Leistungsbereiche der Sozialhilfe. Die spezifisch auf die Gruppe der Behinderten gerichteten sozialen Dienste bilden jedoch einen eigenen Bereich, der seit den 1970er Jahren überproportional gewachsen ist (vgl. dazu Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 1998, 2000; Tabelle 99). Tabelle 99: Einrichtungen, Plätze und Personal in der Behindertenhilfe der freien Wohlfahrtsträger, Bundesrepublik Deutschland1 1970-2000
1970 1981 1990 19934 1996 2000
Einrichtungen (N) 1527 4627 8122 10803 12935 12449
Plätze % der Personal3 % der Ein2 (1.000) Plätze2 (1.000) richtungen 2,9 81,4 3,8 19,0 8,0 176,1 8,1 62,6 11,9 248,6 9,5 96,7 13,3 294,9 10,1 120,6 14,2 351,4 10,9 152,4 13,3 344,8 10,5 157,7
% der Beschäftigten2 5,0 10,6 12,9 12,9 13,6 13,5
Anmerkungen: 1 Jeweiliger Gebietsstand, 2 Behindertenhilfe in % aller Aufgabenfelder der freien Wohlfahrt zusammen, 3 Hauptberuflich Beschäftigte, 4 Ab 1993 Gesamtdeutschland. Quelle: Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, 2001: Gesamtstatistik der Einrichtungen und Dienste der Freien Wohlfahrt, Stand 2000, S. 15; eigene Berechnungen.
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So ist die Zahl der Einrichtungen der Behindertenhilfe, die von den freien Wohlfahrtsverbänden betrieben werden, von rund 1500 im Jahr 1970 auf mehr als 8000 im Jahr 1990 angestiegen. Im gleichen Zeitraum hat sich die Zahl der Plätze in diesen Einrichtungen mehr als verdreifacht, das Personal ist sogar um das fünffache angestiegen. Mit der deutschen Einheit sind diese Werte nochmals angestiegen, von 1996 bis 2000 ist jedoch ein leichter Rückgang festzustellen. Trotz dieser kurzfristigen und zum großen Teil durch die Folgen der deutschen Einheit bewirkten Schwankungen ist der langfristig steigende Trend unverkennbar. Die Behindertenhilfe stellt mittlerweile rund 13% aller Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege (1970: rund 3%), 11% der Plätze (1970: 4%) und beschäftigt annähernd 14% des Personals (1970: 5%). Somit hat die Kapazität der Behindertenhilfe nicht nur absolut, sondern auch relativ zu den anderen Tätigkeitsfeldern der freien Wohlfahrtspflege stark zugenommen. Im Gegensatz zu den anderen Bereichen ist auch die Zahl der Heimplätze in der Behindertenhilfe deutlich angestiegen (siehe Tabelle 100). Zwar liegen leider auch hier keine konsistenten Zeitreihen vor, aber die Entwicklung ist aus den vorhandenen Daten dennoch klar ablesbar. Die Zahl der Heimplätze ist seit 1970 kontinuierlich und deutlich angestiegen. Von 1970 bis 1990 hat sich die Zahl der Plätze von rund 52.000 auf 103.000 fast verdoppelt. Im Zuge der deutschen Einheit sind auch hier die Zahlen kurzfristig stark angestiegen, haben sich aber seit 1996 mit einem leichten Rückgang bis zum Jahr 2000 wieder tendenziell normalisiert. Tabelle 100: Plätze in den Heimen und Tagesstätten der Behindertenhilfe der freien Wohlfahrtspflege, Bundesrepublik Deutschland1 1970-2000 (in 1.000)
1970 1973 1975 1977 19813 1984 1987 19903 19934 1996 2000
Heimplätze insgesamt
Geistig u. Lernbehinderte
52,0 58,7 69,5 70,5 72,1 78,6 89,7 103,2 115,9 139,5 133,1
41,0 43,3 45,0 45,4 41,3 45,5 46,4 50,9 61,8 77,0 k.A.
Körperlich Behinderte 6,0 8,4 5,9 6,0 7,2 8,0 14,0 k.A. k.A. k.A. k.A.
Tagesstätten Insgesamt
Für Kinder und Jugendliche2
k.A. k.A. k.A. k.A. 19,7 21,8 20,2 21,0 24,7 30,0 35,4
11,2 13,7 13,4 15,5 15,8 17,6 15,3 18,1 21,6 24,6 k.A.
k.A.: keine Angaben verfügbar. Anmerkungen: 1 Jeweiliger Gebietsstand, 2 Sonderkindergärten und andere Tagesstätten für behinderte Kinder und Jugendliche, 3 Veränderung in den statistischen Kategorien im Vergleich zum Vorjahr; daher keine direkte Vergleichbarkeit; 1990: alte Bundesländer, 4 ab 1993 Gesamtdeutschland. Quelle: Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege: Gesamtstatistik der Einrichtungen und Dienste der Freien Wohlfahrt, verschiedene Jahre 1970-2000.
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Den größten Anteil an Einrichtungen bildeten stets Heime für geistig Behinderte und Lernbehinderte. Allerdings ist ihr Anteil trotz des auch hier festzustellenden kontinuierlichen Anstiegs der absoluten Werte tendenziell gesunken. Im Jahr 1950 machten die rund 40.000 Heimplätze für geistig- und lernbehinderte Menschen rund 79% aller Plätze in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe aus, 1990 waren es mit 50.000 nur noch knapp die Hälfte. Danach ist der Anteil wieder leicht gestiegen. In den 1970er und 1980er Jahren stieg die Zahl der Plätze für diese Gruppe jedoch deutlich geringer als in allen Einrichtungen zusammen. Dies ist ein Indiz dafür, dass die stationäre Unterbringung geistig behinderter Menschen in Heimen schon in den 1970er Jahren und möglicherweise auch davor weit ausgebaut war, im Gegensatz zu Einrichtungen für andere Gruppen von Behinderten. Im Gegensatz zu den Behindertenheimen spielen die Tagesstätten für Behinderte eine weitaus kleinere Rolle. Auch war das Wachstum in diesem Bereich nicht so hoch. Hinzu kommt, dass der Großteil der Plätze in Tagesstätten, zumeist über 75%, in Sonderkindergärten und anderen Einrichtungen für behinderte Kinder und Jugendliche zu finden ist. Ein weiterer Schwerpunkt der Behindertenhilfe der freien Wohlfahrt sind Werkstätten und Betriebe sowie berufsfördernde Einrichtungen und Sonderschulen (siehe Tabelle 101). In diesem Bereich hat das Angebot noch stärker zugenommen als bei den Heimplätzen. Im Jahr 1970 gab es erst rund 8000 Plätze für Behinderte in Werkstätten und Betrieben der Behindertenhilfe, 1990 waren es mehr als 70.000. Auch nach der durch die deutsche Einheit bedingten statistischen Erhöhung der Platzzahlen von 1990 auf 1993 ist der reale Anstieg dieser Einrichtungen in den 1990er Jahren ungebremst. Tabelle 101: Plätze in Einrichtungen der Behindertenhilfe der freien Wohlfahrt, Bundesrepublik Deutschland1 1970-2000
1970 1973 1975 1977 19813 1984 1987 19903 19934 1996 20003
Werkstätten, Betriebe (1.000)
Berufsförderung (1.000)
Sonderschulen (1.000)
Beratungsstellen2 (N)
Fahrdienste etc. 2 (N)
8,1 10,8 19,5 32,0 40,3 50,3 61,6 73,8 100,1 123,2 130,0
k.A. k.A. k.A. k.A. 18,6 20,0 22,7 19,8 21,6 22,0 k.A.
9,9 12,9 18,1 22,5 25,3 28,5 26,5 30,6 32,5 36,7 k.A.
373 501 632 744 778 987 902 1490 2570 2836 3849
k.A. k.A. k.A. k.A. 1492 1772 1950 3012 3079 3883 2015
k.A.: keine Angaben verfügbar. Anmerkungen: 1 Jeweiliger Gebietsstand, 2 Zahl der Einrichtungen, 3 Veränderung in den statistischen Kategorien im Vergleich zum Vorjahr; daher keine direkte Vergleichbarkeit; 1990: alte Bundesländer, 4 Ab 1993 Gesamtdeutschland. Quelle: Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege: Gesamtstatistik der Einrichtungen und Dienste der Freien Wohlfahrt, verschiedene Jahre 1970-2000.
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Dieser Bereich ist somit im Gegensatz zur klassischen Heimunterbringung in den 1970er Jahren erst eigentlich entstanden und besitzt mittlerweile ein ebenso großes Gewicht wie jener. Quantitativ weniger bedeutsam und nicht so stark angestiegen sind die Berufsförderung und die Sonderschulen. Hier spiegelt sich ein seit den 1980er Jahren zu beobachtender gegenläufiger Trend wider: behinderte Kinder und Jugendliche werden immer seltener in Sondereinrichtungen versorgt und stattdessen zunehmend in Regelinstitutionen integriert. Dies gilt besonders für körperbehinderte Kinder und Jugendliche. Aber auch körperlich behinderte Erwachsene können stärker als zuvor am Leben außerhalb spezialisierter Einrichtungen teilnehmen. Im Zuge dieser zunehmenden „Normalisierung“ der Lebensführung behinderter Menschen ist auch der starke Anstieg der ambulanten Dienste in der Behindertenhilfe zu erklären (siehe Tabelle 101). So hat sich die Zahl der Beratungsstellen und der Fahrdienste und sonstigen mobilen Dienste seit den 1970er und 1980er Jahren vervielfacht. Die jüngsten Zahlen für das Jahr 2000 sind jedoch nicht mit den Jahren zuvor vergleichbar. Der gesamte Bereich der Behindertenhilfe ist somit durch eine in den 1970er Jahren einsetzende und bis zur Mitte der 1990er Jahre andauernde Expansion gekennzeichnet (siehe Tabelle 102). Die Behindertenhilfe ist noch stärker gewachsen als die Jugendhilfe und die Altenhilfe. Tabelle 102: Plätze in Einrichtungen der Behindertenhilfe der freien Wohlfahrtspflege nach Einrichtungsart, Bundesrepublik Deutschland1 1981-2000 (in 1.000) Heime 1981 1990 19934 1996 2000
72,1 103,2 115,9 139,5 133,1
Tagesstätten2 Werkstätten, Betriebe, Sonderschulen3 Berufsförderung 19,7 21,0 24,7 30,0 35,4
58,9 93,6 121,7 145,2 130,05
25,3 30,6 32,5 36,7 k.A.
k.A.: keine Angaben verfügbar. Anmerkungen: 1 Jeweiliger Gebietsstand, 2 Einschließlich Sonderkindergärten und Tagesstätten für behinderte Kinder und Jugendliche, 3 Für Kinder und Jugendliche, 4 Ab 1993 Gesamtdeutschland, 5 Ohne Berufsförderung. Quelle: Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege: Gesamtstatistik der Einrichtungen und Dienste der Freien Wohlfahrt, verschiedene Jahre 1970-2000.
Dabei haben sich die Gewichte der verschiedenen Hilfearten nicht wesentlich verschoben. An erster Stelle rangiert nach wie vor die Unterbringung in Heimen, die inzwischen mehr als 130.000 Menschen betrifft. An zweiter Stelle stehen die Werkstätten, Betriebe und berufsfördernden Einrichtungen, die insgesamt am stärksten gewachsen sind. Demgegenüber spielen Tagesstätten und andere Einrichtungen eine deutlich geringere Rolle. Sie konzentrieren sich darüber hinaus auf Kinder und Jugendliche. Eine 1994 von Infratest durchgeführte Erhebung über Hilfe- und Pflegebedürftige in Heimen (Schneekloth und Müller 1997) hatte neben dem Schwerpunkt Altenhilfe auch die stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe zum Gegenstand. Die Erhebung ergab, dass
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1994 rund 142.000 Menschen in Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe lebten (ebenda, S. 34 und 35). Davon waren zwei Drittel in Heimen für geistig Behinderte, ein Fünftel in Einrichtungen für seelisch behinderte Menschen und 15% in Heimen für körperlich Behinderte untergebracht. Knapp 80% der stationär versorgten Behinderten lebten in Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege, jeweils 10% in öffentlichen und privaten Einrichtungen. Bei den geistig behinderten Menschen betrug der Anteil der Träger der freien Wohlfahrt rund 85%, bei den Körperbehinderten rund zwei Drittel. Diese Ergebnisse unterstreichen die überragende Bedeutung der freien Träger in der Behindertenhilfe, die noch weit größer ist als in der Jugend- oder Altenhilfe (vgl. auch Bormann, Häußler und Wacker 1996).
Personal sozialer Dienste Die Expansion sozialer Dienste ist eine der zentralen Entwicklungen im institutionellen Gefüge moderner Wohlfahrtsstaaten. Diese Entwicklung hat ihren Ursprung im 19. Jahrhundert und erreichte in Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkriegs einen ersten Höhepunkt. Trotz der institutionellen Verfestigung sozialer Dienste in der Weimarer Republik waren die 1920er und 1930er Jahre wie in vielen gesellschaftlichen Bereichen eine Zeit der Stagnation. Sieht man von den durch den Zweiten Weltkrieg hervorgerufenen besonderen Problemlagen ab, können auch die 1950er und 1960er Jahre noch zu dieser langen Phase der Stagnation in der Jugend-, Alten- und Behindertenhilfe gerechnet werden. Erst seit den 1970er Jahren hat sich der Ausbau sozialer Dienste in diesen Bereichen wieder erheblich beschleunigt (vgl. Grunow und Köppe 2000). Dieser Entwicklungsverlauf spiegelt sich auch im langfristigen Anstieg der Beschäftigung in den sozialen Berufen wider. Hinzu kommt ein zweiter strukturbestimmender Prozess: die zunehmende Professionalisierung der sozialen Dienstleistungsarbeit. Zu Recht spricht Rauschenbach deshalb im Rückblick vom „sozialpädagogischen Jahrhundert“ (Rauschenbach 1999). Damit hat er in erster Linie die Entwicklung im Erziehungssektor und in der Kinder- und Jugendhilfe im Blick. Doch auch in anderen Bereichen wie der Alten- und der Behindertenhilfe haben sich die Tätigkeiten immer stärker beruflich differenziert und in unterschiedlichen Professionen und Semi-Professionen konstituiert. Diese Veränderungen können hier nicht ausführlich dargestellt werden; ich konzentriere mich deshalb auf die zentralen quantitativen Entwicklungen. Einen ersten Anhaltspunkt für die Dynamik der Entwicklung liefert die Statistik der Erwerbstätigen in den sozialen Berufen, die in den Volkszählungen und im Mikrozensus erfasst wurden (Tabelle 103; vgl. Hering und Münchmeier 2000; Rauschenbach 1999). Im Jahr 1925 wurden im Deutschen Reich rund 25.000 Erwerbstätige in sozialen Berufen gezählt, nach dem Zweiten Weltkrieg betrug die Zahl im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland rund 60.000. Danach begann die bislang ungebremste Expansion der sozialen Dienstleistungsberufe. Von 1950 bis 1970 hatte sich ihre Zahl auf rund 150.000 Erwerbstätige mehr als verdoppelt. Doch den stärksten Wachstumsschub erlebten die sozialen Berufe in den 1970er und zu Beginn der 1980er Jahre, als die Zahl der Erwerbstätigen von 150.000 auf über 400.000 anstieg. Seitdem setzt sich der Anstieg in gebremstem Tempo fort, auch im vereinten Deutschland nahm die Zahl der in sozialen Berufen Beschäftigten zwischen 1993 und 1997 weiter zu.
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Tabelle 103: Erwerbstätige in sozialen Berufen1, Deutschland2 1925-1997 Erwerbstätige in sozialen Berufen (1.000) 1925 1950 1961 1970 1987 1991 1993 1997
30 60 96 151 410 540 866 1039
Anmerkungen: 1 Ergebnisse der Volkszählungen und des Mikrozensus, 2 1925: Deutsches Reich; 1950-1991: Bundesrepublik Deutschland, Gebietsstand vor 1990; ab 1993 Gesamtdeutschland. Quelle: Hering und Münchmeier, 2000: S. 233; Rauschenbach, 1999: S. 42.
Die Statistik der in sozialen Berufen erwerbstätigen Menschen liefert jedoch nur einen ersten Eindruck vom Wachstum dieses Beschäftigungssektors. Für eine Strukturanalyse sozialer Dienste ist sie nur ansatzweise geeignet, denn zum einen gibt es Angehörige sozialer Berufe, die nicht in den sozialen Diensten im engeren Sinn beschäftigt sind, zum andern arbeiten in den sozialen Diensten auch viele Menschen, die nicht den sozialen Berufen zugerechnet werden. Beispiele für letztere sind Krankenpfleger oder Krankenschwestern, die zwar in der Altenhilfe tätig sind, aber den Gesundheitsberufen zugerechnet werden. Deshalb werden im folgenden Daten über die Zahl der Beschäftigten in den sozialen Diensten herangezogen, die aber leider nicht flächendeckend vorliegen. Gut ist die Datenlage wiederum für den Bereich der freien Wohlfahrtspflege, die den größten Teil der sozialen Dienste abdeckt. Da die Wohlfahrtsverbände zudem in allen Bereichen tätig sind, sind diese Daten auch für eine Strukturanalyse sozialer Dienste geeignet (vgl. Boeßenecker 1998). Darüber hinaus liegen amtliche Daten für den Bereich der Jugendhilfe vor, die alle Sektoren erfassen, und seit 1999 liefert auch die neue Pflegestatistik bundesweite Daten über das Personal in Pflegeeinrichtungen. Nach wie vor schwierig ist die Datenlage in demjenigen Teil der Altenhilfe, der nicht zur Pflege und nicht zum Sektor der freien Wohlfahrt gehört, sowie in der Behindertenhilfe, die nicht Teil der freien Wohlfahrtspflege ist. Dennoch decken die folgenden Daten den größten Teil der hier betrachteten sozialen Dienste ab. In der freien Wohlfahrtspflege nahm die Zahl der Beschäftigten seit 1970 kontinuierlich zu. Die Statistik weist nur zu Beginn der 1990er Jahre eine kurze Unterbrechung des Anstiegs aus (siehe Tabelle 104). Waren 1970 in den verschiedenen Einrichtungen der freien Wohlfahrt rund 380.000 Menschen hauptamtlich beschäftigt, sind es heute über eine Million. Allein zwischen 1970 und Mitte der 1980er Jahre hat sich der Personalbestand fast verdoppelt. Die deutsche Einheit brachte einen einmaligen Niveaueffekt, der aber aufgrund der schwächeren Stellung der freien Wohlfahrtsverbände in den neuen Bundesländern nicht so stark ausfiel wie in anderen Bereichen. Seitdem ist das Wachstum eher gebremst und verläuft in den verschiedenen Arbeitsbereichen recht uneinheitlich. Das Gros der Beschäftigten ist seit jeher im Krankenhaussektor tätig, allerdings nimmt der Anteil ab.
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Tabelle 104: Beschäftigte1 in der freien Wohlfahrtspflege nach Aufgabenbereichen, Bundesrepublik Deutschland2 1970-2000 (in 1.000) Gesund- Jugendheitshilfe, hilfe Krankenhäuser 1970 19734 1975 1977 19814 1984 1987 1990 19933 1996 2000
153,9 198,26 207,06 208,26 226,1 233,0 261,9 251,9 300,4 341,8 317,5
97,5 k.A. 120,17 129,77 133,1 147,5 145,8 148,2 183,4 231,8 256,7
Altenhilfe
Behinderte
Gesamt5
Darunter: Vollzeit
Dar.: Teilzeit
50,0 k.A. 62,98 71,58 90,2 100,1 125,2 138,7 185,4 217,8 237,6
19,0 k.A. 29,28 37,68 62,6 74,4 107,4 96,7 120,6 152,4 157,7
381,9 464,1 512,9 524,2 592,9 656,5 758,2 751,1 937,4 1121,0 1164,3
309,1 k.A. 396,8 401,6 448,8 484,9 557,4 548,4 641,8 723,8 686,7
72,8 k.A. 116,1 123,6 144,0 171,6 200,8 202,7 295,6 397,3 477,7
k.A.: keine Angaben verfügbar. Anmerkungen: 1 Hauptberuflich Beschäftigte, 2 Jeweiliger Gebietsstand, 3 Ab 1993 Gesamtdeutschland, 4 Veränderung in den statistischen Kategorien im Vergleich zum Vorjahr; daher keine direkte Vergleichbarkeit, 5 Enthält außer den in der Tabelle aufgeführten Arbeitsfeldern auch die Sonstigen, 6 Nur Krankenhäuser, 7 Heime und Tageseinrichtungen der Jugendhilfe einschließlich Einrichtungen für behinderte Kinder und Jugendliche, 8 Ohne Tagesstätten und ambulante Dienste. Quelle: Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege: Gesamtstatistik der Einrichtungen und Dienste der Freien Wohlfahrt, verschiedene Jahre 1970-2000; eigene Berechnungen.
Auf den Gesundheitsbereich entfielen 1970 beispielsweise über 40% der in der freien Wohlfahrtspflege beschäftigten Mitarbeiter, 1981 waren es rund 34% und im Jahr 2000 nur noch 27%. Der Grund für diese Entwicklung liegt in der größeren Wachstumsdynamik in den anderen Beschäftigungsfeldern, absolut ist auch der Krankenhaussektor weiter gewachsen. Nur gegen Ende der 1980er Jahre und verstärkt seit 1996 fiel die Zahl der Mitarbeiter in Krankenhäusern der freien Wohlfahrt auch absolut. Der zweitwichtigste Beschäftigungsbereich ist die Jugendhilfe. Zu Beginn der 1990er Jahre, unmittelbar nach der deutschen Einheit, hatte die Altenhilfe mit diesem Bereich gleichgezogen. Zwar wachsen seitdem beide Bereiche weiter, die Jugendhilfe jedoch etwas mehr als die Altenhilfe. Trotz der Pflegereform hat der Ausbau der Kinder- und Jugendhilfe verbunden mit der Ausdehnung der Kindertagesstätten seit der Reform von 1991 in der freien Wohlfahrtspflege offenbar größere quantitative Spuren hinterlassen. Ein weiterer Grund für die Gewichtsverlagerung zwischen den beiden Bereichen ist, dass das Wachstum der Pflegedienste vor allem im kommerziellen Sektor stattfand, während die freie Wohlfahrt Anteile verlor. Wie oben ausgeführt, ist der Sektor der Behindertenhilfe derjenige mit der größten Wachstumsdynamik. Bei der Interpretation der Daten in Tabelle 104 muss man zwei weitere Aspekte beachten. Zum einen wird nur die Zahl der hauptamtlich Beschäftigten gezählt. Gerade die freie Wohlfahrtspflege ist aber traditionell durch einen hohen Grad an zusätzlichen, anderen Mitarbeitern gekennzeichnet. Ehrenamtliche Tätigkeit, geringfügige Beschäftigung, Zivil-
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dienst: all diese Formen spielen eine Rolle. Allerdings hat sich das Gewicht dieser nichthauptamtlichen Beschäftigungsverhältnisse uneinheitlich entwickelt. Die ehrenamtliche Tätigkeit ist eher im Niedergang, während der Zivildienst vor allem in den 1980er Jahren in manchen Bereichen eine wichtige Rolle spielte. Der Anstieg geringfügiger Beschäftigung ist dagegen neueren Datums. Die Zahl der hauptamtlich Beschäftigten kann also nicht das ganze Spektrum der Tätigkeiten in den sozialen Diensten erfassen. Hinzu kommt, dass dieser Beschäftigungskern in den einzelnen Bereichen unterschiedlich groß sein dürfte. Die geringste Bedeutung dürften nicht-hauptamtlich Beschäftigte im Gesundheitssektor, vor allem in den Krankenhäusern haben. Dort ist auch der Professionalisierungsgrad am höchsten. Auch die Jugendhilfe ist durch einen hohen Professionalisierungsgrad gekennzeichnet, allerdings spielte in diesem Bereich seit jeher freie und ehrenamtliche Mitarbeit eine große Rolle. In der Altenhilfe ist der Professionalisierungsgrad am niedrigsten, entsprechend große Bedeutung haben auch nicht-hauptamtliche Beschäftigungsverhältnisse. Die Zahlen in Tabelle 104 spiegeln also nur einen Teil der Wirklichkeit wider: am ehesten dürften sie für den Gesundheitsbereich die „wahren“ Ausmaße der Beschäftigung erfassen, unterschätzt wird hingegen die soziale Dienstleistungstätigkeit in der Jugend- und Altenhilfe. Ein zweiter Aspekt, der bedacht werden muss, betrifft den Umfang der Beschäftigung. Von den insgesamt über eine Million hauptamtlichen Mitarbeitern der freien Wohlfahrt im Jahr 2000 arbeiteten immerhin über 40% in Teilzeit. Die Teilzeitquote ist im Zeitverlauf deutlich angestiegen. 1970 lag sie noch bei unter 20%, 1981 bei unter einem Viertel und 1990 bei rund 27% (alte Bundesländer). Nach der deutschen Einheit stieg sie auf über 30% im Jahr 1993 und ist seitdem weiter angestiegen. Offenbar wurde der weitere Ausbau sozialer Dienste in den 1990er Jahren ganz überwiegend über die Zunahme der Teilzeitbeschäftigung erreicht. Tatsächlich ging die Zahl der hauptamtlich und in Vollzeittätigkeit beschäftigten Mitarbeiter der freien Wohlfahrtseinrichtungen von 1996 bis 2000 zum ersten Mal seit 1970 auch absolut deutlich zurück. Ein wesentlicher Grund dafür war der Abbau von Einrichtungen und Personal in den neuen Bundesländern. Sieht man vom Gesundheitsbereich ab, der nicht zu den sozialen Diensten im engeren Sinn gehört, stellt der Bereich der Jugendhilfe seit jeher den größten Teil der Beschäftigten. Die amtliche Kinder- und Jugendhilfestatistik liefert umfassende Daten über diesen Bereich, die alle Sektoren einschließen (vgl. Beher 1997). Allerdings stellen auch hier die freien Träger mit Abstand den größten Anteil. Die Jugendhilfestatistik weist für die westlichen Bundesländer seit 1974 ein anhaltendes Wachstum der Zahl der Beschäftigten aus (siehe Tabelle 105). In den neuen Ländern sinkt die Zahl der Beschäftigten hingegen seit 1991 kontinuierlich und deutlich, allerdings ausgehend von einem sehr hohen Niveau. Im Jahr 1991 gab es in den neuen Ländern immerhin über 200.000 Beschäftigte in der Jugendhilfe, in den alten Ländern waren es 1990 mit rund 330.000 vergleichsweise wenig. Darüber hinaus waren zum damaligen Zeitpunkt in den neuen Ländern über 80% der Mitarbeiter in Vollzeit tätig, im Westen waren es nur rund zwei Drittel. Seitdem ist jedoch in den neuen Ländern ein Anpassungsprozess erkennbar: die Zahl der Mitarbeiter sinkt und die Teilzeitquote ist von unter 20% im Jahr 1991 auf knapp 60% im Jahr 2000 hochgeschnellt. Auch im Westen hat die Teilzeitquote der Beschäftigten seit 1974 kontinuierlich zugenommen. Mit rund 40% liegt sie jedoch 1998 weit unter dem Wert für die neuen Länder. Die Kindertagesstätten sind der größte Beschäftigungsbereich in der Jugendhilfe, mit steigender Tendenz. Im Jahr 1974 arbeiteten rund 50% der in der Jugendhilfe insgesamt
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beschäftigten Personen in diesem Bereich, 1990 waren es 55% und 1998 sind es 65% (alte Bundesländer). Von noch größerer Bedeutung war der Bereich der Kindertagesstätten in den neuen Ländern. 1991 betrug der Anteil an der Gesamtbeschäftigung in der Jugendhilfe dort 87%, seitdem ist er allerdings auf das westliche Maß von knapp zwei Dritteln geschrumpft. Der in den 1990er Jahren forcierte Ausbau der Kindergärten und der anstehende Ausbau der Tagesstätten für Kinder unter drei Jahren dürften diesen Anteil weiter nach oben treiben. Nach den Kindertagesstätten stellt der sehr heterogene Bereich der Erziehungshilfen (siehe oben) den größten Teil der Beschäftigten in der Jugendhilfe. Im Unterschied zu den Tagesstätten hat der Umfang der Beschäftigung in diesem Bereich jedoch kaum zugenommen. Die Jugendarbeit hat bis 1990 stark zugenommen, stagniert jedoch seitdem. Nur in den neuen Bundesländern wurde die Jugendarbeit, die in der ehemaligen DDR zumeist von den Parteiorganisationen geleistet wurde, organisatorisch erneuert und personell erheblich verstärkt. Tabelle 105: Beschäftigte1 in der Jugendhilfe nach Arbeitsfeld und fachlicher Ausbildung, Bundesrepublik Deutschland 1974-2002 a) alte Bundesländer
1974 1986 1990 1994 1998
Gesamt 1.000
Fach Voll- Kindertageszeit stätten %2 % (1.000) Fach %2
223 300 334 403 446
47,2 58,3 61,8 61,9 66,9
75,9 70,0 67,1 62,4 59,7
113 k.A. 185 253 290
61,6 k.A. 75,7 71,8 75,5
Erziehungshilfen
Jugendarbeit
(1.000)
Fach %2
(1.000)
35 k.A. 40 48 51
35,4 k.A. 51,8 54,5 61,0
13 k.A. 23 26 27
Fach %2 15,9 k.A. 40,9 39,7 44,8
b) neue Bundesländer Gesamt 1.000 1991 203 1994 146 1998 127
ErziehungsJugendarbeit Fach Voll- Kindertageshilfen zeit stätten %2 % Fach (1.000) Fach (1.000) Fach (1.000) %2 %2 %2 61,5 66,9 70,5
83,6 67,2 40,4
177 112 83
64,1 74,4 82,0
12 13 14
47,7 55,3 67,4
2 6 11
22,8 30,7 36,8
Anmerkungen: 1 Hauptberuflich Beschäftigte, 2 Personal mit fachlich einschlägiger, zumeist sozialpädagogischer Ausbildung in % aller Beschäftigten des jeweiligen Arbeitsbereichs. Quelle: Sachverständigenkommission Elfter Kinder- und Jugendbericht, 2002: Strukturen der Kinderund Jugendhilfe, S. 46ff; eigene Berechnungen.
Der Grad der Professionalisierung ist in der Jugendhilfe relativ hoch und steigt seit Mitte der 1970er Jahre kontinuierlich an. Lag der Anteil des Fachpersonals 1974 noch bei unter der Hälfte der Beschäftigten, sind es heute über zwei Drittel, in den neuen Ländern sogar
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über 70%. Dort wurden offenbar im Zuge der Personalreduktion seit 1991 vor allem die fachlich ungelernten Kräfte freigesetzt. Am höchsten ist der Professionalisierungsgrad bei den Beschäftigten in den Kindertagesstätten. Über drei Viertel im Westen und mehr als vier Fünftel im Osten haben eine entsprechende fachliche Ausbildung, zumeist als Erzieherin oder Sozialpädagogin. Hoch ist inzwischen auch der Anteil der Beschäftigten mit einer einschlägigen fachlichen Ausbildung im Bereich der Erziehungshilfen. Vor dreißig Jahren lag er noch bei rund einem Drittel, heute sind es über 60%. Die Jugendarbeit bleibt dagegen trotz der auch hier spürbar zunehmenden Professionalisierung der klassische Bereich der Jugendhilfe, der durch einen hohen Anteil an flexiblen, offenen und professionell wenig standardisierten Angeboten gekennzeichnet ist. Darüber hinaus spielen hier ehrenamtliche und freie Mitarbeit weiterhin eine tragende Rolle. Von 1998 bis 2002 hat sich die Zahl der in der Jugendhilfe beschäftigten Personen in ganz Deutschland von rund 573.000 auf ca. 568.000 leicht reduziert. Bei den Kindertagesstätten blieb die Zahl der Beschäftigten konstant. Die Teilzeitquote beträgt nun mehr als 50% (Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe. Personal 2002). Im Unterschied zur Jugendhilfe gibt es für die Altenhilfe vor Einführung der Pflegeversicherung keine umfassende Bundesstatistik. Auch die 1999 erstmals erhobene neue Pflegestatistik erfasst nur die Einrichtungen und Dienste mit Pflegecharakter. Wiederum muss deshalb auf die Statistik der freien Wohlfahrt zurückgegriffen werden, um die langfristige Personalentwicklung in diesem Sektor zu erfassen. Daneben gibt es Ergebnisse aus einzelnen, punktuellen Erhebungen. Die Statistik der Wohlfahrtsverbände zeigt über die letzten dreißig Jahre ein starkes Wachstum der hauptamtlich Beschäftigten in Alten- und Pflegeheimen sowie bei den ambulanten sozialpflegerischen Diensten. Doch der Verlauf dieser Entwicklung war in den verschiedenen Dienstleistungssegmenten zum Teil recht unterschiedlich (siehe Tabelle 106). Tabelle 106: Personal1 in der Altenhilfe der freien Wohlfahrtspflege, Bundesrepublik Deutschland2 1970-2000 (1.000) Altenheime gesamt 1970 1975 1981 1990 19934 1996 2000
44,9 63,0 82,8 130,3 174,1 205,8 224,8
Vollzeit Teilzeit Ambulante Vollzeit Dienste3 gesamt 35,3 44,2 58,3 90,2 112,6 125,3 123,2
9,6 18,8 24,5 40,1 61,5 80,5 101,6
21,1 19,1 23,7 34,3 49,8 65,3 68,0
12,9 11,4 12,7 20,0 26,9 29,9 25,1
Teilzeit
8,2 7,7 11,0 14,3 22,9 35,4 42,9
Anmerkungen: 1 Hauptberuflich Beschäftigte, 2 Jeweiliger Gebietsstand, 3 Ambulante sozialpflegerische Dienste, 4 Ab 1993 Gesamtdeutschland. Quellen: Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege: Gesamtstatistik der Einrichtungen und Dienste der Freien Wohlfahrt, verschiedene Jahre 1970-2000; eigene Berechnungen, Schölkopf, 1998: S. 6 und S. 7.
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Die Zahl der in den stationären Einrichtungen der Altenhilfe beschäftigten Personen ist seit 1970 relativ kontinuierlich und stark angestiegen. Insgesamt hat sich die Zahl von 1970 bis zum Jahr 2000 von rund 45.000 auf 225.000 Beschäftigte verfünffacht. Besonders stark war der Anstieg in den 1980er Jahren mit einer absoluten Zunahme von fast 50.000 Beschäftigten. Überproportional gestiegen ist die Zahl der Teilzeitbeschäftigten. Seit Mitte der 1990er Jahre ist allein ihre Zahl um weitere 25% gestiegen, während die Zahl der Vollzeitmitarbeiter sogar leicht gesunken ist. Wie in der Jugendhilfe wird also auch in der Altenhilfe der jüngste Ausbau der Einrichtungen fast ausschließlich durch Teilzeitkräfte getragen. Hinzu kommen in diesem Sektor zahlreiche geringfügige Beschäftigungsverhältnisse, die in dieser Statistik nicht erfasst sind (siehe unten). Die ambulanten sozialpflegerischen Dienste der freien Wohlfahrtspflege spielen gegenüber den stationären Einrichtungen der Altenhilfe eine kleinere und im Zeitverlauf sogar abnehmende Rolle. Dabei muss allerdings berücksichtigt werden, dass die hier aufgeführten Heime sowohl Altenwohnheime als auch Pflegeheime umfassen, streng genommen also nicht direkt mit den ambulanten Pflegediensten verglichen werden können. Dennoch ist die Tendenz bei den ambulanten Diensten offensichtlich. Sie nehmen zwar zu, verlieren aber gegenüber dem gesamten stationären Sektor der Altenhilfe an Gewicht. Im Jahr 1970 arbeiteten rund doppelt so viele Menschen in den stationären Einrichtungen als bei den ambulanten Diensten, 1990 waren es fast vier mal soviel. Seitdem hat sich das Verhältnis allerdings wieder zugunsten der ambulanten Dienste verschoben, sicherlich eine wichtige Folge der Pflegeversicherung. Im Zeitverlauf betrachtet stieg die Zahl der in den ambulanten sozialpflegerischen Diensten tätigen Personen zwischen 1970 und 1980 kaum an, von 1970 bis 1975 war sie sogar leicht rückläufig. Im Unterschied zu den meisten anderen sozialen Diensten, für welche die 1970er Jahre die historisch bedeutsamste Periode der Expansion waren, stagnierten die ambulanten Dienste während dieser Zeit. Erst in den 1980er Jahren lässt sich ein Anstieg beobachten, der Durchbruch kam allerdings erst 1994 nach Einführung der Pflegeversicherung. Leider ist ein direkter Vergleich der in der Altenpflege beschäftigten Personen vor und nach Einführung der Pflegeversicherung nicht im Rahmen einer kontinuierlichen statistischen Erfassung möglich. Wie oben bereits gesagt, bezieht sich die Statistik der stationären Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege nicht nur auf den Pflegebereich, sondern schließt alle Bereiche der Altenhilfe ein. Nicht erfasst sind dabei die öffentlichen und die kommerziellen Einrichtungen. Diese sind zwar in der 1999 erstmals erhobenen Pflegestatistik des Bundes enthalten, die jedoch wiederum ausschließlich Einrichtungen mit überwiegendem Pflegecharakter erfasst. Die vom Bundesministerium für Familie geführte Heimstatistik ist für diesen Zweck nicht differenziert genug. Es liegen jedoch einige punktuelle Untersuchungen und Erhebungen über stationäre und ambulante Pflegeeinrichtungen vor Einführung der neuen Versicherung vor, die annäherungsweise mit den späteren Daten der Pflegestatistik verglichen werden können (vgl. Otto-Blume-Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik und Prognos AG 1996). Für den stationären Pflegebereich liegen Ergebnisse einer Infratest-Erhebung von 1998 vor, die auch einige retrospektive Daten für 1994 enthält. Allerdings stellt die Studie keinen direkten Vergleich an und verweist auf Probleme einer möglichen Untererfassung von Pflegeheimen im Zuge der durch die Pflegeversicherung bewirkten Umstrukturierung des ganzen Sektors (Schneekloth und Müller 1999: S. 162/163). Die Studie ermittelte für das
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Jahr 1998 eine Zahl von rund 350.000 in stationären Pflegeeinrichtungen beschäftigten Personen; im Vergleich zu 1994 war keine Erhöhung festzustellen. Rund zwei Drittel der Beschäftigten gehörten zum Pflegepersonal, 60% des gesamten Personals war in Vollzeit beschäftigt. Die erste Erhebung im Rahmen der neu eingeführten Pflegestatistik des Bundes wurde 1999 durchgeführt. Sie ermittelte eine um einiges höhere Zahl an Beschäftigten in stationären Einrichtungen von insgesamt rund 440.000. Doch war der Umstrukturierungsprozess zu diesem Zeitpunkt schon weiter fortgeschritten. Die Infratest-Erhebung erfasste auch die ambulanten Pflegedienste. Doch liegen nur Daten für 1998 vor, nicht für die Zeit vor Einführung der Pflegeversicherung. Es liegen jedoch andere Zahlen für Mitte der 1980er Jahre vor. In einer vom Deutschen Verein für Öffentliche und Private Fürsorge durchgeführten Untersuchung (Höft-Dzemski 1987) wurde für das Jahr 1984 ein Personalbestand in den ambulanten Pflegediensten von insgesamt rund 36.000 ermittelt (ebenda: S. 43). Davon waren rund ein Drittel in Vollzeit beschäftigt, aber mehr als 40% arbeiteten nur stundenweise. Der Rest war in Teilzeit tätig. Von den professionellen Kräften stellten die Krankenschwestern mit rund einem Drittel der Beschäftigten die größte Gruppe. Mit weitem Abstand folgten Haus- und Familienpflegerinnen; Altenpfleger stellten nur rund 6% der Beschäftigten. Eine weitere Studie des Bundesfamilienministeriums hatte für das Jahr 1991 eine Zahl von rund 35.000 Beschäftigten (in VollzeitÄquivalenten) in ambulanten Pflegediensten ermittelt. Rund die Hälfte der Beschäftigten waren ausgebildete Pflegefachkräfte (vgl. Dietz 2002: S. 162). Vergleicht man diese Zahlen mit den Ergebnissen der Pflegestatistik von 1999, kann man eine sehr starke Zunahme der Beschäftigten in den ambulanten Pflegediensten feststellen. Im Jahr 1999 wurden über 180.000 Beschäftigte in diesem Bereich gezählt. Bis 2001 lässt sich eine weitere leichte Erhöhung feststellen (siehe Tabelle 107). Tabelle 107: Personal in Pflegeeinrichtungen nach Arbeitsfeld, Arbeitszeit und Tätigkeitsschwerpunkt, Deutschland 2001 (in %) Ambulante Dienste Insgesamt (1.000) Nach Arbeitszeit % - Vollzeit - Teilzeit über 0,51 - Teilzeit unter 0,52 - Geringfügig beschäftigt - Sonstige3 Nach dominanter Tätigkeit % - Pflege und Betreuung - Hauswirtschaft - Sonstiges
Stationäre Einrichtungen
189,6
475,4
30,3 29,0 16,3 19,7 4,7
46,0 25,3 13,0 9,3 6,4
65,74 17,8 16,5
66,3 20,4 13,3
Anmerkungen: 1 Mehr als die Hälfte der tariflichen Arbeitszeit, 2 Weniger als die Hälfte der tariflichen Arbeitszeit, 3 Praktikanten, Helfer, Zivildienstleistende, 4 Grundpflege. Quelle: Statistisches Bundesamt, 2003: Pflegestatistik 2001. Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung. Deutschlandergebnisse; eigene Berechnungen.
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Im Jahr 2001 sind von den insgesamt in der Pflege beschäftigten 662.000 Personen rund 29% bei ambulanten Diensten und 71% in stationären Einrichtungen tätig. In beiden Bereichen sind rund zwei Drittel des Personals überwiegend in Pflege und Betreuung tätig, es folgen hauswirtschaftliche Tätigkeiten, wobei der stationäre Sektor hier naturgemäß einen leicht höheren Anteil aufweist. Im Hinblick auf die Beschäftigungsverhältnisse lassen sich jedoch große Unterschiede zwischen ambulantem und stationärem Bereich feststellen. Im stationären Sektor arbeiten 46% der Beschäftigten in Vollzeit, bei den ambulanten Diensten sind es rund 30%. Insgesamt stellt sich die Beschäftigungssituation bei den ambulanten Diensten als prekärer dar. Fast 20% der dort tätigen Personen befindet sich in geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen, gegenüber einem Anteil von knapp 10% in den Pflegeheimen. Tabelle 108: Personal1 in Pflegeeinrichtungen nach Qualifikation, Deutschland 2001 (%) Personal nach Ausbildung Insgesamt (1.000) - Krankenschwester, -pfleger - Krankenpflegehelfer - Altenpfleger - Altenpflegehelferin - sonstiger pflegerischer Beruf - andere einschlägige Ausbildung2 - ohne einschlägige Ausbildung
Ambulante Dienste 189,6 30,3 5,1 14,9 2,3 9,9 9,5 28,0
Stationäre Einrichtungen 475,4 10,4 4,3 20,3 3,1 6,7 9,3 45,9
Anmerkungen: 1 Personal am 31.12.2001, 2 Zum Beispiel Hauswirtschafterin, Dorfhelferin etc.. Quelle: Statistisches Bundesamt, 2003: Pflegestatistik 2001. Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung. Deutschlandergebnisse; eigene Berechnungen.
Allerdings ist der ambulante Sektor überraschenderweise stärker professionalisiert als die stationären Einrichtungen (siehe Tabelle 108). Bei den ambulanten Pflegediensten haben nur 28% der Beschäftigten keine einschlägige Berufsausbildung, in den Heimen sind es über 45%. Auch die Struktur der professionellen Kräfte unterscheidet sich stark zwischen beiden Bereichen. Bei den ambulanten Diensten stellen die ausgebildeten Krankenschwestern mit über 30% der Beschäftigten die größte Gruppe, gefolgt von den Altenpflegern mit rund 15%. Genau umgekehrt ist das Verhältnis in den Heimen: dort kommen auf eine ausgebildete Krankenschwester zwei Altenpfleger. Hierin zeigt sich erneut die bei den ambulanten Diensten nach wie vor starke Tradition der häuslichen Krankenpflege, die keineswegs nur auf ältere Menschen ausgerichtet war und ist.
Fazit: Strukturelle Konsequenzen der neueren Reformen Das deutsche System sozialer Dienste war bis zur Wiedervereinigung und bis in die 1990er Jahre hinein durch eine begrenzte Rolle des Wohlfahrtsstaates gegenüber der Familie, der kommunalen Selbstverwaltung und den freien Wohlfahrtsverbänden geprägt. Schon zuvor war dieses System immer mehr an Grenzen gestoßen; strukturelle Probleme wurden vor
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allem im Bereich der Altenhilfe und Pflege offenkundig. Zu Beginn der 1990er Jahre kamen die Auswirkungen der Wiedervereinigung und die hohen Defizite der öffentlichen Hand hinzu, die schließlich Reformen erforderten und ermöglichten. Was waren nun die wesentlichen Inhalte und strukturellen Merkmale dieser Reformen und welche Konsequenzen hatten sie für die Institutionalisierung der sozialen Dienste in Deutschland? Ganz allgemein kann man festhalten, dass der deutsche Fall die im internationalen Vergleich vielleicht eindrucksvollste Widerlegung der weit verbreiteten These vom Abbau des Wohlfahrtsstaates liefert. Weder in qualitativer und schon gar nicht in quantitativer Hinsicht ging die Bedeutung öffentlicher sozialer Dienste zurück. Aber auch die steuernde und regulierende Rolle des Wohlfahrtsstaates hat nicht ab-, sondern zugenommen. Nicht die Schlagworte von Dezentralisierung, Privatisierung und wachsendem Wohlfahrtspluralismus kennzeichnen Stoßrichtung und Wirkung der Reformen, sondern vielmehr zunehmende Zentralisierung, wachsende öffentliche Finanzierung und Kontrolle sowie eine Standardisierung von Leistungen verbunden mit individuellen Rechtsansprüchen, also genau diejenigen Merkmale, die bereits für die klassische „historische“ Expansion des Wohlfahrtsstaates charakteristisch waren. Zumindest in Deutschland trifft somit die These vom „verspäteten“ Aufbau des Wohlfahrtsstaates im Bereich sozialer Dienste zu und nicht die weit verbreitete Vermutung eines allmählichen Rückzugs des Staates aus der Daseinsvorsorge. Im folgenden sollen die einzelnen Elemente der wesentlichen Reformen im Hinblick auf ihre strukturelle Relevanz für das System sozialer Dienste in Deutschland betrachtet werden. Zu Beginn der 1990er Jahre wurde das deutsche System sozialer Dienste in zentralen Strukturelementen verändert. Wesentliche Einschnitte brachten die Wiedervereinigung, die Novellierung des Kinder- und Jugendhilferechts 1991 sowie die Einführung der gesetzlichen Pflegeversicherung 1994. Die Wiedervereinigung brachte zwei sehr verschiedene Teilgesellschaften zusammen, die sich in ihren sozialen Institutionen und sozioökonomischen Strukturen grundlegend voneinander unterschieden. Nach der Wende wurden den neuen Ländern in der ehemaligen DDR mit wenigen Ausnahmen die westdeutschen Institutionen übergestülpt. Im Bereich der Kinderbetreuung hatte die DDR ein im internationalen Vergleich in quantitativer Hinsicht hochentwickeltes System flächendeckender Versorgung für Kinder von 0-2 Jahren und von 3-5 Jahren vorzuweisen, das jedoch große qualitative Mängel besaß. Im Unterschied dazu fand sich die Bundesrepublik im Vergleich zu anderen westeuropäischen Ländern stets nur auf einem Platz im unteren Mittelfeld. Hinzu kamen große Unterschiede in der Trägerschaft und im Selbstverständnis dieser Einrichtungen. Während sie in der ehemaligen DDR im Hinblick auf ihre langen Öffnungszeiten und ihrem Angebot an Mittagessen stark auf die Bedürfnisse einer Gesellschaft mit einer der höchsten Frauenerwerbstätigkeiten der Welt zugeschnitten waren, verfolgten sie gleichwohl in großem Maße das Ziel der Sozialisation und Integration der kleinen Kinder in die sozialistische Gesellschaft mit ihren Massenorganisationen und umfassenden Institutionen. Die meisten Kinderkrippen und Kindertagesstätten wurden von den Betriebskollektiven organisiert und angeboten. Im Gegensatz dazu kannte die alte Bundesrepublik eine pluralistische Trägervielfalt mit unterschiedlichen Angeboten, die jedoch alle insgesamt wenig auf die Bedürfnisse berufstätiger Eltern zugeschnitten waren. Das engmaschige Versorgungssystem konnte nach der Wende in den neuen Ländern nicht mehr gehalten werden. Die Transformation hatte fast alle Bereiche der in der sozialis-
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tischen Gesellschaft sehr wichtigen betrieblichen Sozialpolitik, zu der auch die Kinderbetreuung gehörte, ausgelöscht. Die Betriebe mussten sich auf ihre wirtschaftliche Kernfunktion konzentrieren und waren hartem Wettbewerb ausgesetzt; viele mussten schließen. Der Aufbau einer kommunalen Dienstleistungsinfrastruktur konnte aber nur schrittweise geschehen. Noch schwerer fiel es den freien Wohlfahrtsverbänden, ein entsprechendes Netz von Einrichtungen und Diensten aufzubauen, denn sie hatten in der ehemaligen DDR keine Rolle gespielt. So brachte die Wiedervereinigung im Bereich der Kinderbetreuung zwei wesentliche Veränderungen: sie schuf sehr große regionale Unterschiede in der Versorgung mit Einrichtungen und Plätzen und sie veränderte die Anbieterlandschaft nachhaltig, indem öffentliche kommunale Anbieter gegenüber den etablierten Wohlfahrtsverbänden an Gewicht hinzugewinnen konnten. Die Novellierung des Kinder- und Jugendhilferechts und die durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erzwungene schrittweise Einführung einer Garantie für einen Kindergartenplatz für jedes Kind zwischen 3 und 6 Jahren veränderte die Marktposition der Wohlfahrtsverbände ebenfalls nachhaltig. Das System sollte durch öffentliche Investitionen innerhalb kurzer Zeit deutlich wachsen, und die Gemeinden wurden zu den dabei bestimmenden Akteuren. Sie waren zwar nach wie vor zu einer Zusammenarbeit mit den privilegierten freien Wohlfahrtsverbänden verpflichtet, aber zum ersten Mal war der öffentliche Auftrag zur flächendeckenden Versorgung mit sozialen Diensten zur Kinderbetreuung gesetzlich gegeben und genoss Vorrang vor den verbändestaatlichen Bestimmungen. Die institutionell sehr starke Position der freien Wohlfahrtspflege im bundesdeutschen Sozialsystem wurde damit geschwächt. In noch stärkerem Ausmaß geschah dies im Bereich der Altenhilfe und der Pflegedienstleistungen. Seit vielen Jahren war in diesem Bereich eine zunehmende Kluft zwischen einem stagnierenden Angebot und stark wachsender Nachfrage beklagt worden. Insbesondere bei den ambulanten Pflegediensten gab es großen Nachholbedarf, auch im internationalen Vergleich. Zugleich sollten die ausufernden Kosten der Pflege, die vor allem die kommunalen Sozialhaushalte belasteten, in Grenzen gehalten und neue Finanzierungsquellen erschlossen werden. Bislang wurde die ambulante Pflege meist von freien Trägern auf Kosten der Krankenkassen geleistet; das System wies jedoch zahlreiche Lücken und Ungleichheiten auf. Die Kosten für die stationäre Unterbringung mussten dagegen von den Betroffenen selbst und im Falle der Bedürftigkeit durch die kommunale Sozialhilfe getragen werden; deren Ausgaben in diesem Sektor waren erheblich gestiegen. Die Lösung, die schließlich im deutschen System für diese Probleme gefunden wurde, war die Einführung einer Pflegeversicherung in der Tradition der deutschen Sozialversicherung. Mit dieser Lösung wurde eine neue Finanzierungsquelle in Form von Beitragszahlungen erschlossen, die den größten Anteil der Kosten decken sollte. Die Leistungen der Krankenkassen zur ambulanten Pflegeversorgung liefen allmählich aus, und man erwartete, dass die kommunalen Sozialhaushalte nur noch in Ausnahmefällen ergänzend tätig werden müssten, um Leistungen insbesondere der stationären Pflege zu finanzieren. Zugleich wurden die Bundesländer verpflichtet, die Pflegeinfrastruktur durch öffentliche Investitionen auszubauen und den Aufbau von zusätzlichen Kapazitäten vor allem im chronisch unterversorgten ambulanten Sektor zu leisten. Die Pflegeversicherung hat die Beziehungen zwischen den wichtigsten Akteuren im Feld sozialer Dienste wesentlich verändert. Von zentraler Bedeutung ist nach wie vor die
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Rolle der Familie. Das Gesetz zur Pflegeversicherung regelt den Vorrang der meist in der Familie erbrachten häuslichen Pflege und sieht dafür sowohl Geldleistungen als auch den Aufbau unterstützender ambulanter Sozialdienste vor. Häusliche Pflege hat Priorität vor ambulanter Hilfe und stationärer Versorgung, die nur in schweren Fällen vorgesehen ist. Tatsächlich machen die Geldleistungen zur Unterstützung der häuslichen Pflege das Gros der Ausgaben aus. Die schon immer in den Familien geleistete Pflege wird somit durch das neue Gesetz erstmals massiv unterstützt. Dazu gehört auch der Ausbau einer ambulanten Versorgungsinfrastruktur, welche die Familien unterstützen und die Notwendigkeit einer stationären Unterbringung soweit wie möglich verhindern soll. Die freien Wohlfahrtsverbände haben im neuen System keine privilegierte Rolle mehr. Das Gesetz sieht standardisierte Leistungen für drei Typen von Bedarfsfällen vor (Pflegestufen 1-3, siehe oben) und lässt sowohl freie als auch öffentliche und privat-kommerzielle Anbieter zu. Es herrscht also Wettbewerb unter den Anbietern; die freien Träger genießen keinen gesetzlichen Vorrang mehr. In der Vergangenheit hatten sie stets das Gros der ambulanten Einrichtungen gestellt, konnten aber den wachsenden Bedarf nicht befriedigen. Die Kommunen haben im neuen System keine entscheidende Rolle mehr. Finanziert werden die Leistungen nun überwiegend von den der gesetzlichen Krankenversicherung organisatorisch angegliederten Pflegekassen, erbracht werden sie meist von freien und kommerziellen Anbietern auf dem sich neu entwickelnden Markt für Pflegedienstleistungen. Weder besitzen die Kommunen die Kompetenz zur Koordination des Angebots noch treten sie selbst als wichtiger Dienstleistungsversorger in Erscheinung. Nach wie vor jedoch tritt die kommunale Sozialhilfe ein, wenn die Kosten des Pflegebedarfs insbesondere im Fall einer stationären Versorgung die Summe der privaten und der von der Pflegeversicherung bereitgestellten Mittel übersteigen. Die Klienten sozialer Dienste erhalten durch das Gesetz einen Rechtsanspruch auf klar definierte Leistungen, die im Bedarfsfall zu erbringen sind. Dies folgt unmittelbar aus dem Versicherungsprinzip. Auch in anderer Hinsicht nehmen die Klienten im neuen System eine Schlüsselstellung ein. Das Pflegegeld wird an sie ausgezahlt, und sie entscheiden über dessen Verwendung, sei es zur Unterstützung von pflegenden Familienmitgliedern, sei es zum „Kauf“ von Diensten von anderen Personen. Individuelle Wahlfreiheit besteht auch im Hinblick auf ambulante und stationäre Dienstleistungsanbieter. Die Klienten können sich also ihren Anbieter vor Ort auswählen, erhalten aber in jedem Falle von der Pflegeversicherung ein Standardpaket von Leistungen, das von den Anbietern direkt mit den Pflegekassen abgerechnet wird. Was bedeuten diese Veränderungen im Hinblick auf die Frage nach dem Wandel wohlfahrtsstaatlicher Institutionalisierung sozialer Dienste? Betrachten wir wiederum die drei strukturellen Dimensionen Dezentralisierung, Privatisierung und Wohlfahrtspluralismus und unterwerfen wir die Pflegeversicherung daraufhin einer kritischen Prüfung. Von einer Dezentralisierung sozialer Aufgaben kann überhaupt keine Rede sein. Der Staat regelt erstmals per Bundesgesetz den Bereich der Pflegedienstleistungen. Er regelt die Finanzierung, die über Versicherungsbeiträge erfolgt, die Leistungsansprüche und die Standardleistungen der Versicherung. Versicherte erhalten einen individuellen Rechtsanspruch auf die Leistungen der Versicherung. Die Kommunen haben also keine direkten Kompetenzen in diesem Bereich mehr. Sie treten allerdings auf den Plan, wenn es um Entscheidungen zur örtlichen Pflegeinfrastruktur geht, etwa durch den Bau eines Alten- oder Pflegeheims, und als Träger der im individuellen Bedarfsfall eintretenden subsidiären Sozi-
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alhilfe. Im Vergleich zur Situation vor der Reform ist die Rolle der Kommunen also deutlich reduziert worden; Ziel und Ergebnis der Reform ist eine Stärkung des wohlfahrtsstaatlichen Regulierungsanspruchs im Bereich sozialer Dienste. Schon eher könnte man von Schritten zur Privatisierung sprechen, allerdings im Rahmen eines umfassenden und hoch standardisierten öffentlichen Systems. Privatisiert wurden weder das Risiko noch die Finanzierung, im Gegenteil! Das Gesetz schuf erstmals einen fast die ganze Bevölkerung umfassenden Rechtsanspruch auf Leistungen und eine eigenständige öffentliche Finanzierung. Zwar könnte man den Vorrang der Familie gegenüber ambulanten und stationären Dienstleistungsangeboten und die damit zusammenhängende Dominanz des Pflegegeldes auf den ersten Blick als Indizien für eine vordergründige Privatisierung sozialer Dienste im familiären, häuslichen Bereich betrachten. Dies ist zum Teil durchaus berechtigt, berücksichtigt aber nicht, dass das Gesetz damit lediglich eine weit verbreitete soziale Tatsache anerkannt und erstmals massiv unterstützt hat, nämlich die Pflege bedürftiger Menschen zuhause durch ihre nächsten Angehörigen. Insofern zielt die Reform auf eine stärkere öffentliche Unterstützung der ohnehin in den Familien erbrachten sozialen Dienste. Darin eine Tendenz zur Privatisierung sehen zu wollen, hieße, die Tatsachen zu verdrehen. Eine bedeutsame Folge des Gesetzes ist ohne Zweifel der Anstieg kommerzieller Anbieter im ambulanten und stationären Bereich. Dieser ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die freien Wohlfahrtsverbände kein Vorrangprivileg mehr in der Dienstleistungsversorgung genießen (vgl. Heinze und Schmid 1994). Erstmals wurde ihre Stellung im bundesdeutschen Sozialstaat damit angefochten. Die freie Wohlfahrtspflege konkurriert im neuen System mit kommerziellen Anbietern unter gleichen Bedingungen (vgl. Meyer 1999). Dies geschieht allerdings in einem öffentlich geregelten System mit öffentlicher Finanzierung. Preise und Leistungen sind in diesem System hochstandardisiert. Wie im englischen Fall findet der Wettbewerb deshalb überwiegend bei den Kosten statt. Von einer Privatisierung des Dienstleistungsangebots aus der Sicht der Klienten kann überhaupt keine Rede sein. Sie haben einen Rechtsanspruch auf Leistungen, die durch öffentliche Mittel finanziert werden; sie können sich zwar ihre Anbieter auswählen, nicht jedoch die zu erbringenden Leistungen, denn diese sind hoch standardisiert. Von einem Markt für soziale Dienste lässt sich deshalb bestenfalls in einem sehr eingeschränkten Sinne sprechen. Der normale Wettbewerb über Produkte und Preise ist ausgeschlossen, es gibt allerdings freie Anbieterwahl und Kostenwettbewerb, wohl auch einen Wettbewerb über die Qualität der erbrachten Leistungen. Trotz des starken Anstiegs kommerzieller Anbieter im Bereich ambulanter Dienste vertraut offensichtlich immer noch eine Mehrheit der Klienten auf eine höhere Qualität durch freie Träger. Anbietervielfalt und Konkurrenz unter Anbietern sind wichtige Ziele der Reform. Dennoch kann in diesem Zusammenhang nur in einem sehr beschränkten Sinn von „Wohlfahrtspluralismus“ gesprochen werden. Aus Sicht der Pflegekassen gibt es ohne Zweifel einen solchen Pluralismus, der am steigenden Anteil privater Anbieter abzulesen ist; sie haben zunehmend mit verschiedenen Anbietern zu tun. Allerdings kann aus Sicht der Klienten nur von einem sehr begrenzten Pluralismus gesprochen werden. Die Leistungen sind je nach Pflegestufe klar definiert, ebenso wie die Kosten, welche die Anbieter mit den Pflegekassen abrechnen. Es ist daher kaum möglich, die Leistungen tatsächlich spezifisch auf den jeweiligen Einzelfall abzustimmen. Die Standardisierung der Leistungen ist deshalb
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aus Sicht der Klienten ein zweischneidiges Schwert: sie ist zwar mit einem Rechtsanspruch verbunden, erschwert aber gerade die im Dienstleistungssektor so wesentliche Differenzierung und Anpassung des Angebots an individuelle Bedürfnisse. Zudem sind die Pflegestufen sehr starr definiert, die Schwellen zu einer Höherstufung liegen hoch. Tatsächlich jedoch ist oft mit einer langsamen Veränderung der Bedürfnisse zu rechnen. Darauf können die Anbieter aber kaum reagieren, weil das Leistungspaket für jede der drei Pflegestufen genau festgelegt ist. Flexibilität ermöglicht das Gesetz allerdings in der Kombination von häuslicher und ambulanter Pflege, die unterschiedlich miteinander verbunden werden können. Die ambulante Pflege soll und kann aber die häusliche Pflege durch Familienangehörige in keinem Fall ersetzen. Der deutsche Fall steht also in klarem Widerspruch zu den allgemeinen Erwartungen eines Rückzugs des Staates aus dem Bereich sozialer Dienste. Im Gegenteil hat der Wohlfahrtsstaat seinen Regulierungsanspruch auf breiter Front durchgesetzt. Soziale Dienste sind klar als öffentliche Aufgabe institutionalisiert, sie werden öffentlich durch ein Bundesgesetz reguliert und im Rahmen einer Sozialversicherung finanziert. Die Länder sind zuständig für den Aufbau einer ausreichenden Pflegeinfrastruktur. Von Dezentralisierung kann keine Rede sein, der Pluralismus der Anbieter ist in ein enges Korsett hoch standardisierter Leistungen eingebunden, und die viel beschworene Privatisierung beschränkt sich im wesentlichen darauf, den Anteil kommerzieller Anbieter erhöht zu haben und die Familien stärker als bisher bei der Erfüllung ihrer ohnehin geleisteten sozialen Aufgaben zu unterstützen. Weder wurde ein Markt für Dienstleistungen im strengen Wortsinn geschaffen, noch werden die öffentlichen Leistungen rein subsidiär erst dann erbracht, wenn private Lösungen zu kurz greifen, im Gegenteil! Die Pflegeversicherung hat diese Dienstleistungen zwar nicht vollständig aber doch weitgehend aus der subsidiären Sozialhilfe herausgelöst und stattdessen ein mit individuellen Rechtsansprüchen verbundenes öffentliches Leistungssystem geschaffen, welches unabhängig von Bedürftigkeit standardisierte Leistungen für über 90% der Bevölkerung anbietet.
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Die Reform sozialer Dienste im Ländervergleich
Einleitung Die historische Entwicklung sozialer Dienste in Deutschland, England und Wales und Frankreich verlief in ähnlichen Etappen, aber in unterschiedlichen institutionellen Bahnen. Zu den großen Gemeinsamkeiten in der Entwicklung gehören der erste große Wachstumsschub sozialer Dienste am Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts, gefolgt von einer langen Stagnationsphase, die in allen drei Ländern vom Ersten Weltkrieg bis zum Ende der 1960er Jahre anhielt. Seit dem Beginn der 1970er Jahre erlebten die sozialen Dienste dann einen historisch einmaligen Aufschwung, der Mitte der 1980er Jahre zwar leicht gebremst wurde, aber tendenziell anhält. Zu den großen gemeinsamen Entwicklungslinien in den drei Ländern gehören auch die grundlegenden Einschnitte in die institutionelle Ordnung sozialer Dienste. Das 19. Jahrhundert war überall in Europa durch ein Aufblühen der freien Wohlfahrt geprägt. Parallel dazu hatten sich die institutionellen Grundzüge des staatlichen Fürsorgewesens herausgebildet, die zum Ausgangspunkt staatlicher Intervention in die sozialen Dienste wurden. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts kam es in allen drei Ländern zur Herausbildung unterschiedlicher Formen der Koordination von freier Wohlfahrt und öffentlich-staatlichen Organen. Damit war das Verhältnis von freier Wohlfahrt und staatlichen Einrichtungen für viele Jahre festgelegt. In England und Frankreich waren in dieser Hinsicht die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ebenfalls von großer Bedeutung, denn sie brachten einen weiteren institutionellen Einschnitt im Verhältnis von öffentlicher und freier Wohlfahrt, während in Deutschland, abgesehen von der Zeit des Nationalsozialismus, die zu Beginn der 1920er Jahre gefundene institutionelle Form bis zu den 1990er Jahren Bestand hatte. In allen drei Ländern wurde das institutionelle Verhältnis von öffentlicher und staatlicher Wohlfahrt dann erst wieder in den jüngsten Reformen in zentralen Elementen verändert. Neben dem Verhältnis von freier und öffentlicher Wohlfahrt waren zwei Entwicklungslinien innerhalb des wohlfahrtsstaatlichen Sektors selbst von entscheidender Bedeutung für die institutionelle Formung der sozialen Dienste. Zum einen wurden, schon am Ende des 19. Jahrhunderts, soziale Leistungen und Dienste für bestimmte Bevölkerungsgruppen zunehmend aus dem Kontext des Armen- und Fürsorgewesens herausgelöst und in eigenständigen institutionellen Komplexen reguliert, die eine eigene Funktionslogik begründeten. Hierzu gehören in allen drei Ländern vor allem die Bereiche Gesundheit und Bildung, aber auch die verschiedenen Einrichtungen und Dienste für Kinder und Jugendliche, die als erster Bereich „moderner“ sozialer Dienste eine institutionell eigenständige Form erhielten und somit einen eigenen Zweig des Wohlfahrtsstaates bildeten. Die Alten- und die Behindertenhilfe wurden dagegen erst später aus dem institutionellen Kontext der öffentlichen Fürsorge herausgelöst; teilweise ist dieser Prozess noch nicht abgeschlossen. Dennoch kann festgehalten werden, dass die auf diese Weise funktional ausdifferenzierten und institutionell integrierten Bereiche den Kern der modernen sozialen Dienstleistungssysteme bilden.
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Der dritte für die Institutionalisierung sozialer Dienste zentrale Entwicklungsprozess war die Schaffung spezialisierter, eigenständiger Einrichtungen und Organisationen in den einzelnen Arbeitsfeldern und deren zunehmende institutionelle Integration. Dieser grundlegende Prozess lässt sich in allen drei Ländern nachweisen, aber in der konkreten institutionellen Ausgestaltung gibt es hier die größten Variationen. In England spielten in dieser Hinsicht die lokalen social services departments eine herausragende Rolle, in Deutschland die kommunalen Sozial- und Jugendämter. In Frankreich haben vielfach die territorial gegliederten Sozialversicherungskassen und die Sozialbehörden der départements diese Funktion übernommen. Entscheidend ist, dass in allen drei Ländern einige wenige Einrichtungen die zentralen Koordinierungsaufgaben übernommen und somit zur institutionellen Integration des Feldes der sozialen Dienste beigetragen haben. In dieser Hinsicht gab es jedoch in den drei Ländern durch die jüngsten Reformen wichtige Veränderungen, durch welche die Rollen der verschiedenen Akteure im Bereich sozialer Dienste neu geordnet wurden. Im Mittelpunkt der Analyse steht die Frage, inwiefern und inwieweit die neueren zentralen Reformen in den drei Ländern Strukturen, Entwicklungsdynamik und Institutionalisierungsformen der sozialen Dienste verändert haben und welche Konsequenzen dies für die Funktionsweise des Systems sozialer Dienste hat. Vor allem geht es mir dabei um die veränderte Rolle des Wohlfahrtsstaates. Die hier betrachteten zentralen Reformen im Bereich sozialer Dienste wurden bereits in den Länderkapiteln ausführlich dargestellt. An dieser Stelle sollen sie nur noch einmal in ihren Grundzügen zusammengefasst werden. Dabei wird in drei Schritten vorgegangen. Zunächst werden die zentralen Entwicklungen und Strukturmerkmale der sozialen Dienste in den drei Ländern bis zum Einsetzen der hier betrachteten Reformen zu Beginn der 1990er Jahre einander gegenübergestellt. Im Mittelpunkt stehen dabei: (1) das relative Gewicht der sozialen Dienste für unterschiedliche Zielgruppen (alte Menschen, Behinderte, Kinder und Jugendliche), (2) das Verhältnis von ambulanten Diensten, Tageseinrichtungen und stationärer Versorgung sowie (3) die Trägerstrukturen sozialer Dienste. Im zweiten Schritt sollen die neueren Reformen in den drei Ländern anhand zentraler institutioneller Merkmale vergleichend betrachtet werden. Im Mittelpunkt stehen dabei im Bereich der Alten- und Behindertenhilfe die community care Reformen in England und Wales (1990), die Reformen der Dezentralisierung in Frankreich (1984) und die Pflegereform in Deutschland (1994). Außerdem müssen die weiteren Anpassungsschritte und Ergänzungen im Anschluss an diese grundlegenden Reformen betrachtet werden, denn sie haben die Institutionalisierung der sozialen Dienste weiter verändert. Im Bereich der sozialen Dienste für Kinder und Jugendliche geht es außerdem um die ebenfalls zu dieser Zeit erfolgten Veränderungen im Kinder- und Jugendhilferecht (Kinderund Jugendhilfegesetz in Deutschland, 1990; Children Act in England und Wales, 1989). Im dritten Schritt wird schließlich die Frage behandelt, ob und wie die Reformen die Institutionalisierung sozialer Dienste und ihre Entwicklung verändert haben. Im Mittelpunkt stehen dabei die Rolle des Staates im Verhältnis zu den anderen Akteuren sowie Veränderungen in den zentralen quantitativen Strukturmerkmalen (Umfang des Angebots, Dienstleistungsformen, Trägerstrukturen). Abschließend wird die Frage untersucht, inwieweit die in den drei Ländern erfolgten institutionellen Veränderungen die zukünftige, langfristige Entwicklung sozialer Dienste voraussichtlich prägen. Zwar gibt es große institutionelle Variationen zwischen den Ländern, aber es lassen sich dennoch gemeinsame Konturen in den Grundprinzipien und Institutionalisierungsformen der sozialen Dienste erkennen.
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Die Struktur sozialer Dienste bis zum Beginn der Reformen In allen drei Ländern können die 1970er Jahre als Beginn der großen quantitativen Expansion sozialer Dienste betrachtet werden. Es war die entscheidende Zeit des „take off“ im Wachstum sozialer Dienstleistungen. Allerdings verliefen die Entwicklungen in den einzelnen Bereichen und Ländern unterschiedlich. Eine wesentliche Erklärung für diese Variationen sind institutionelle Unterschiede. In England und Wales war die entscheidende institutionelle Neuerung die Einführung integrierter lokaler sozialer Dienste zu Beginn der 1970er Jahre, organisiert durch die kommunalen social services departments. Einrichtungen und Dienste der Alten-, Behinderten- und Kinderhilfe wurden auf diese Weise institutionell integriert. Dieser institutionelle Einschnitt führte im Anschluss zu einem starken Wachstum der verschiedenen ambulanten sozialen Dienste. Von zentraler Bedeutung war hier der home help service. Für die stationären Einrichtungen waren dagegen in England und Wales erst die 1980er und die frühen 1990er Jahre die entscheidenden Wachstumsperioden. Den Anstoß zu dieser Entwicklung, vor allem im Bereich der Altenhilfe, gab die neugeschaffene Möglichkeit der öffentlichen Finanzierung privater Heime aus der Sozialversicherung (National Insurance). Dadurch dehnte sich der stationäre Altenhilfesektor bis zum Beginn der 1990er Jahre erheblich aus und prägte die Struktur der sozialen Dienste insgesamt. Zugleich blieben Dienste für Kinder in England und Wales auf einem im internationalen Vergleich niedrigen Stand; Kindertagesstätten spielten im Unterschied zu den anderen Ländern keine große Rolle. Die Struktur sozialer Dienste vor Beginn der Reformen von 1990 war also durch ein deutliches Übergewicht der Altenhilfe und eine im internationalen Vergleich rückständige Entwicklung in den sozialen Diensten für Kinder geprägt. Die Altenhilfe wurde dabei vor allem durch ein hohes Maß an stationärer Versorgung bestimmt, während im Bereich der sozialen Dienste für Kinder die geringe Entwicklung der Tagesstätten auffällt. Ablesbar ist diese Struktur auch anhand des Personalbestandes der lokalen Sozialdienste. Bis in die 1990er Jahre hinein stellten die Beschäftigten in den stationären Einrichtungen für Erwachsene und den home help services zusammen mehr als 50% des Personals, während Tagesstätten für Kinder weniger als 5% ausmachten (siehe Kapitel 3). Allerdings muss dieser Befund in zweierlei Hinsicht relativiert werden. Zum einen hängt das Übergewicht der Altenhilfe bei den öffentlichen sozialen Diensten mit dem bis zu Beginn der 1990er Jahre hohen Anteil öffentlicher Einrichtungen in diesem Sektor zusammen. Dadurch prägt dieser Sektor die öffentlichen Dienste insgesamt in starkem Maße. Zum andern ist von Bedeutung, dass die Kinderbetreuung in England und Wales in wachsendem Maße an Vorschulen und Schulen erfolgt, die zum Bildungswesen und somit nicht zu den sozialen Diensten im engeren Sinn gehören. Hinzu kommt, dass dieser Sektor – außerhalb des Schulbereichs – ganz überwiegend durch private und freie Träger bestimmt wird. In Frankreich haben wir eine beinahe spiegelbildliche Entwicklung vor Augen. Auch hier können die 1970er Jahre als die Periode des take-off in der langfristigen Expansion sozialer Dienste betrachtet werden. Doch wurden die sozialen Dienste im Unterschied zu England und Wales nicht institutionell integriert, im Gegenteil wurde ihre fragmentierte institutionelle Struktur durch die 1984 einsetzende Dezentralisierung eher weiter verstärkt. Im Vergleich zu England und Wales war die Altenhilfe nicht der dominierende Sektor. Zwar wuchs auch hier die Zahl der stationär versorgten alten Menschen kontinuierlich an,
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aber im Rahmen der öffentlichen, seit 1984 dezentralisierten sozialen Dienste spielte die Altenhilfe keine herausragende Rolle, im Gegenteil nahm ihre relative Bedeutung innerhalb der départementalen aide sociale seit Mitte der 1980er Jahre ab. Von größerer quantitativer Bedeutung sind dagegen die Behinderten- und vor allem die Kinderhilfe. Allein die Ausgaben der aide sociale für die Kinderhilfe sind höher als für Behinderten- und Altenhilfe zusammengenommen. Dies liegt vor allem daran, dass die Altenhilfe zum größten Teil außerhalb der öffentlichen Sozialhilfe organisiert ist. Sie wird überwiegend durch private Mittel und die aus der Sozialversicherung stammenden Transferleistungen finanziert. Die Zahl der von der Sozialhilfe mitfinanzierten Plätze und Dienste hat seit der Dezentralisierung sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich abgenommen. Die öffentliche Altenhilfe war somit in Frankreich in den 1980er und 1990er Jahren eher auf dem Rückzug, obwohl das Problem der Pflegebedürftigkeit auch hier stark zugenommen hat. Die soziale Infrastruktur für ältere Menschen wird jedoch zum größten Teil außerhalb der dezentralisierten sozialen Dienste finanziert und organisiert. Für die Finanzierung sind die Rentenversicherungen und die Krankenversicherung von zentraler Bedeutung, während das Angebot an sozialen Diensten im stationären Bereich überwiegend durch öffentliche, im ambulanten Bereich zumeist durch freie Träger sichergestellt wird. Welch hohe Bedeutung die sozialen Dienste für Kinder in Frankreich haben, wird auch durch die Tatsache unterstrichen, dass ein Großteil der Kinderbetreuung in diesen Zahlen gar nicht enthalten ist, weil diese außerhalb des Sozialsystems erbracht wird. Frankreich hat für Kinder zwischen drei und fünf Jahren, ja inzwischen für einen Großteil der Zweieinhalbjährigen, eine praktisch flächendeckende Versorgung mit Ganztagesplätzen in Vorschulen aufgebaut, die institutionell zum Bildungsbereich gehören. In den sozialen Diensten, die in die Zuständigkeit der départements fallen, sind somit nur die Einrichtungen für Kinder unter drei Jahren enthalten. Dennoch machen allein die assistantes maternelles, die Tagesmütter für diese Altersgruppe, fast die Hälfte der in den sozialen Berufen insgesamt tätigen Personen (ohne ungelernte Kräfte) aus (siehe Kapitel 4). Relativ hoch entwickelt ist in Frankreich auch der Sektor der Behindertenhilfe. Im Vergleich zu England und Wales war die Struktur sozialer Dienste in Frankreich also zu Beginn der 1990er Jahre durch ein größeres Gewicht der Einrichtungen für Kinder und eine geringere quantitative Bedeutung der Altenhilfe gekennzeichnet. Die Behindertenhilfe war vergleichsweise hoch entwickelt. Im Unterschied zu England und Wales war die Trägerlandschaft in Frankreich in allen Bereichen von jeher stärker gemischt. Im stationären Sektor hat bis vor kurzem der öffentliche Sektor stets überwogen, während die ambulanten Dienste eine Domäne der freien Träger waren und sind. Weder in den französischen Kommunen, noch in den départements hat sich eine den englischen lokalen social services departments vergleichbare Institution entwickelt. Der Staat hat sich auf allen Ebenen stärker auf die im eigentlichen Sinn sozial intervenierenden und kontrollierenden Funktionen sowie auf die Finanzierung von Diensten und Einrichtungen beschränkt. Nur im stationären Bereich wurden in größerem Maße öffentliche Einrichtungen geschaffen, in Anlehnung an die viel früher einsetzenden Entwicklungen im französischen Bildungs- und im Gesundheitswesen, wo der Staat mit den öffentlichen Schulen und den öffentlichen Hospitälern die entscheidenden Entwicklungsschritte vollzogen hatte. Der ambulante Sektor fiel dagegen von jeher in die Domäne der freien Träger und Vereinigungen (associations), die auch in der Behindertenhilfe und im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe eine starke Stellung ein-
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nehmen. Die Dezentralisierung hat an dieser historisch entwickelten Struktur nichts entscheidendes verändert. Wollte man ein zentrales Charakteristikum der quantitativen Entwicklung sozialer Dienste seit Mitte der 1980er Jahre herausgreifen, so ist sicherlich die Stagnation der Altenhilfe, ja der teilweise Rückgang der öffentlichen Leistungen auf diesem Gebiet, das herausragende Merkmal. Auch in Deutschland markieren die 1970er Jahre den entscheidenden Wendepunkt in der quantitativen Entwicklung sozialer Dienste. Insbesondere die Einrichtungen der Behindertenhilfe und die Kindertagesstätten wurden in dieser Dekade rasch ausgebaut. In der Altenhilfe hinkte der Ausbau der ambulanten Dienste allerdings um mehr als ein Jahrzehnt hinter den stationären Einrichtungen her; erst seit Mitte der 1980er Jahre wächst auch dieser Bereich stetig an. Ähnlich wie in Frankreich blieb die Altenhilfe in Deutschland lange im Schatten der anderen Bereiche sozialer Dienste. Zwar dehnten sich Dienste und Einrichtungen kontinuierlich aus, aber erst mit Einführung der Pflegeversicherung Mitte der 1990er Jahre kam es zur entscheidenden institutionellen Wende. Im Unterschied zu Frankreich waren die Jahre vor dieser Reform durch eine zunehmende Verbindung von Pflege und Sozialhilfe gekennzeichnet, die erst den eigentlichen Anstoß zur Neuordnung gegeben hatte. In Frankreich zog sich der Staat dagegen seit Beginn der Dezentralisierung 1984 immer stärker aus der Verantwortung für das Pflegerisiko zurück. Die sozialen Dienste in Deutschland sind somit vor Beginn der Reformen durch einen relativ hoch entwickelten Bereich der Kinder- und Jugendhilfe und einen nachhinkenden, aber wachsenden Sektor der Altenhilfe gekennzeichnet. Die Behindertenhilfe hat seit den 1970er Jahren eine rasche Expansion erlebt. Insgesamt hinkten die ambulanten Dienste noch zu Beginn der 1990er Jahre weit hinter den stationären Einrichtungen her. Nur im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe haben sich schon vor der Reform von 1990/1991 offenere Hilfeformen weitgehend durchgesetzt. Ähnlich wie in Frankreich ist die Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland seit langem ein fest etablierter Bestandteil des Wohlfahrtsstaates. Trotz der in diesem Bereich verhältnismäßig früh erfolgten staatlichen Intervention und institutionellen Ordnung, blieb die Trägerlandschaft bis heute durch eine sehr große Vielfalt freier Anbieter gekennzeichnet. In der Jugendhilfe entfaltete sich der Deutschland insgesamt prägende Korporatismus von freien Trägern und staatlicher Steuerung besonders augenfällig. Freie Träger dominierten auch die Behindertenhilfe und, wenngleich in schwächerem Ausmaß, die Altenhilfe. Im Vergleich zu den beiden anderen Ländern ist für die sozialen Dienste in Deutschland insgesamt eine alle Bereiche überwölbende Vorherrschaft der freien Träger kennzeichnend. Zugleich sind die freien Träger auf allen Ebenen symbiotisch mit staatlichen Einrichtungen und Organen verbunden. Charakteristisch für das deutsche System ist ein Nebeneinander von freien und öffentlichen Angeboten in allen Bereichen, mit Vorrang für freie Träger, aber überwiegender öffentlicher Finanzierung und weitgehender staatlicher Regulierung.
Die Reformen im Vergleich Die Entwicklung der sozialen Dienste in den drei untersuchten Ländern weist viele Gemeinsamkeiten, aber auch große Unterschiede auf. Diese Unterschiede sind zum größten Teil durch institutionelle Faktoren beeinflusst. Wie zu Beginn der Arbeit ausgeführt, stan-
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den die drei Länder seit Anfang der 1980er Jahre im Bereich sozialer Dienste vor ähnlichen Problemen: Wie sollte die insgesamt durchaus notwendige weitere Expansion sozialer Dienste angesichts knapper Finanzmittel gesteuert werden? Wie konnten die öffentlichen Ressourcen effektiver auf die verschiedenen Zielgruppen, Dienstleistungsformen und Anbieter sozialer Dienste verteilt werden? Wie konnte man angesichts der notwendigen Reformmaßnahmen eine wirksame öffentliche Kontrolle des Systems sozialer Dienste aufrechterhalten? Die Wege, die dabei eingeschlagen wurden, stellten in allen Ländern mehr oder weniger Kompromisse dar; es kam zu einer Mischung von Strategien und Maßnahmen. Die in dieser Arbeit vertretene, zentrale These ist, dass in allen drei Ländern durch diese Reformen die Rolle des Wohlfahrtsstaates im System sozialer Dienste tendenziell gestärkt worden ist. Die Vertiefung wohlfahrtsstaatlicher Kontrolle und Steuerung wird aber nur dann sichtbar, wenn man die einzelnen Reformelemente in ihren institutionellen Zusammenhang stellt. Dies ist in den Länderkapiteln 3, 4 und 5 geschehen, so dass hier nur die wesentlichen Ziele und zentralen Elemente der Reformen miteinander verglichen werden sollen. Die größten institutionellen Veränderungen gab es in allen Ländern im Bereich der Altenhilfe, insbesondere in der Pflege älterer, bedürftiger Menschen. Hier herrschte angesichts der ungelösten Probleme aus der Vergangenheit und der wachsenden demographischen Herausforderungen der größte Reformbedarf. In England und Wales wurden die lokalen sozialen Dienste durch den National Health Service and Community Care Act von 1990 grundlegend reformiert. Ziel der Reform war eine effizientere Verwendung der Mittel für soziale Dienste und deren effektivere Gestaltung. Die Mittel sollten stärker auf die Bedürftigen konzentriert und mehr für ambulante Dienste verwendet werden, im Sinne einer Pflege und Betreuung im Rahmen der „community“. Kernstück der Reform war die Übertragung aller finanziellen und organisatorischen Kompetenzen in diesem Bereich auf die Kommunen. Zugleich wurden zentralstaatliche Vorgaben für die Mittelverwendung erstellt, die eine stärkere Einbeziehung privater Anbieter zum Ziel hatten. Angestrebt wurde eine Übertragung des Angebots an sozialen Diensten von den Kommunen auf unabhängige, private Anbieter und damit eine klare organisatorische Trennung der Funktionen der Finanzierung und der Dienstleistungserbringung. Die Kommunen treten seitdem als Nachfrager und Finanzier sozialer Dienste auf, für die Klienten selbst wurde jedoch kein Markt geschaffen. Ebenso wenig wurden klare Standards und Richtlinien für die Dienstleistungserbringung festgelegt oder soziale Rechte definiert. Auf der anderen Seite unterliegen die Kommunen einer Budget- und Qualitätskontrolle von Seiten zentralstaatlicher Einrichtungen. Die zentrale Reform in Frankreich war die Dezentralisierung sozialer Dienste, also die Verlagerung von Kompetenzen auf die départements. Die Sozialhilfe (aide sociale), in deren Rahmen viele Dienste erbracht werden, fiel mit wenigen Ausnahmen in die Zuständigkeit der départements. Dadurch sollte das bislang stark fragmentierte französische System sozialer Dienste stärker integriert und enger mit dem lokalen organisatorischen und politischen Umfeld verbunden werden. Insbesondere sollten die Verbindungen zwischen öffentlichen Einrichtungen und dem assoziativen Sektor gestärkt werden, um Kräfte und Kompetenzen zu bündeln. Allerdings betraf die Dezentralisierung nicht alle Bereiche gleichermaßen. Im Kern beschränkte sie sich auf die bedürftigkeitsgeprüften Bereiche und Leistungen der Sozialhilfe. Sozialversicherung und Bildungssystem, die in Frankreich für einen Großteil der sozialen Dienste zuständig sind, blieben zentralstaatlich organisiert.
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In Deutschland stellte die Einführung der Pflegeversicherung 1994 die im Bereich der sozialen Dienste zentrale Reform der letzten zwanzig Jahre dar. Ziel der Reform war die Herauslösung des Pflegerisikos aus der Sozialhilfe. Zugleich sollten die Kosten begrenzt und Standardleistungen mit individuellem Rechtsanspruch im Rahmen einer Sozialversicherung geschaffen werden. Weiteres Ziel war der Ausbau der Pflegeinfrastruktur, insbesondere im ambulanten Bereich. Die Kommunen wurden praktisch aus dem System ausgegliedert, zuständig für die Zulassung von Diensten und deren Vergütung wurden die neu eingerichteten Pflegekassen, die organisatorisch an die bestehenden Krankenkassen angegliedert waren. Neben der Pflegereform wurde die Kinder- und Jugendhilfe 1990/1991 neu gestaltet, mit dem Ziel einer präventiven Sozialarbeit und einer Ausweitung ambulanter Hilfearten.
Institutionelle Auswirkungen Haben diese Reformen die Institutionalisierung sozialer Dienste vertieft oder führen sie zu einer wachsenden Desorganisation dieses Bereichs? Diese Frage kann anhand der in Kapitel 1 entwickelten allgemeinen Kriterien für eine Institutionalisierung sozialer Dienste untersucht und beantwortet werden. Dabei lassen sich fünf Aspekte voneinander unterscheiden (vgl. dazu Kapitel 1). Institutionelle Differenzierung. In allen drei Ländern wurden die sozialen Dienste durch die Reformen in stärkerem Maße als zuvor institutionell integriert. Die sozialen Dienste erlebten einen großen Institutionalisierungsschub, der sich in verschiedenen Dimensionen aufzeigen lässt. Zunächst erhielten die durch die Reformen betroffenen Dienste eine größere institutionelle Eigenständigkeit gegenüber anderen wohlfahrtsstaatlichen Bereichen; das Feld wurde aus anderen organisatorischen Kontexten herausgelöst und als eigenständiger institutioneller Bereich mit spezifischer Funktionslogik etabliert. Besonders deutlich ist dieser konstitutive Akt der Institutionalisierung im deutschen und im englischen Fall. Die Pflegeversicherung schuf eine völlig neue institutionelle Grundlage für die sozialen Pflegedienste und löste sie – wenngleich nicht vollständig – aus dem Kontext der Krankenversicherung und der Sozialhilfe heraus. In England und Wales wurden die sozialen Dienste institutionell sowohl von der Sozialversicherung als auch vom Nationalen Gesundheitsdienst gelöst und als eigenständiger Bereich gestärkt. Hatte bisher die Sozialversicherung einen Großteil der Altenheime finanziert, erhielten durch die Reform die lokalen Sozialbehörden die alleinige Zuständigkeit sowohl für den stationären als auch für den ambulanten Bereich sozialer Dienste. Ebenso wurden die Pflegedienste zum größten Teil aus dem Nationalen Gesundheitsdienst ausgegliedert und in die alleinige Zuständigkeit der lokalen sozialen Dienste überführt. Aber auch in Frankreich wurde die institutionelle Eigenart der sozialen Dienste durch die Reformen gestärkt, indem die Kompetenzen auf der Ebene der départements gebündelt und somit die in Frankreich historisch sehr vielfältigen Verflechtungen von Zuständigkeiten zumindest teilweise gelöst wurden. Hinsichtlich der Schaffung eines eigenständigen Bereichs sozialer Dienste, der sich aus anderen wohlfahrtsstaatlichen Kontexten herauslöst und mit einer spezifischen Funktionslogik ausgestattet ist, haben die Reformen in allen drei Ländern einen entscheidenden Schritt vollzogen. In langfristiger Betrachtung war die Herauslösung und Ausdifferenzierung der sozialen Dienste aus dem institutionellen Rahmen der Sozialhilfesysteme von größter Bedeutung.
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Erst diese Ausdifferenzierung hat es ermöglicht, dass die sozialen Dienste eine funktionale Eigenlogik ausbilden und entwickeln konnten, die sie aus dem engen Korsett der Bedürftigkeitsprüfung befreite und neue Wachstumspotentiale erschloß. Dieser Ablösungsprozess verlief in den drei Ländern sehr unterschiedlich und variiert darüber hinaus von Bereich zu Bereich, ja, in manchen Fällen ist er keineswegs abgeschlossen und es sind sogar regressive Tendenzen zu beobachten. In England und Wales war der Schatten des Armenrechts noch lange spürbar. Erst die 1970er Jahre brachten eine Wende. In dieser Zeit wurde die Behindertenhilfe mit dem Handicapped Persons Act von 1975 endgültig aus dem Kontext der Armengesetzgebung gelöst und als eigenständiger Leistungsbereich des Wohlfahrtsstaates etabliert. Ein weiterer entscheidender Schritt war die Schaffung integrierter lokaler sozialer Dienste, der local social services departments. Unter ihrem Dach wurden die lokalen sozialen Dienste, insbesondere in der Altenhilfe, zusammengeführt und als öffentliche Grundleistung eingerichtet. Am längsten blieben die öffentlichen Tagesstätten für Kinder der Tradition der Bedürftigkeitsprüfung verhaftet. Erst mit dem Beginn der Förderung der Vorschulerziehung zu Beginn der 1990er Jahre erhielt dieser Bereich eine neue Bedeutung. Die im Jahr 1990 erfolgte weitergehende Integration sozialer Dienste in die Hände der lokalen Sozialbehörden hat an der prinzipiellen Ablösung der sozialen Dienste aus der Sozialhilfe nichts grundsätzliches geändert, aber nach wie vor ist dieser Bereich durch eine große Ambivalenz in Bezug auf das Problem der Bedürftigkeit gekennzeichnet. Das Fehlen nationaler Standards und klarer individueller Rechtsansprüche unterscheidet die lokalen sozialen Dienste grundsätzlich von den anderen Institutionen des Wohlfahrtsstaates. Der obligatorische Bedürftigkeitstest als solcher besteht zwar nicht mehr, aber in der Praxis haben viele Gemeinden ähnliche Mechanismen zur Feststellung des Dienstleistungsbedarfs eingeführt. Insbesondere die Lebensumstände der Klienten im häuslichen und familiären Umfeld werden zumeist als wichtiges Kriterium für die Bemessung sozialer Dienste herangezogen. Klienten, die in häuslicher Gemeinschaft mit Familienangehörigen leben und von ihnen unterhalten werden, bekommen in der Regel weniger öffentliche Leistungen zugesprochen als andere, in diesem Sinne „Bedürftigere“. Durch die Hintertür wurden also zumindest Elemente der alten Bedürftigkeitsprüfung wieder eingeführt, die bereits in den 1970er Jahren weitgehend abgebaut gewesen waren. Die institutionelle Herauslösung der sozialen Dienste aus der Sozialhilfe wurde somit zwar nicht grundsätzlich infrage gestellt, aber sie haben sich auch nicht den aus Sicht der Klienten besser abgesicherten Bereichen der sozialen Sicherung angenähert. In Frankreich verlief die Entwicklung anders, dennoch spielt auch hier die Sozialhilfe (aide sociale) noch eine wichtige Rolle für die sozialen Dienste. Am frühesten und deutlichsten wurden die sozialen Dienste für Kinder in Frankreich aus dem Kontext der Fürsorge herausgelöst. Diese Entwicklung ist Teil der langen Tradition der französischen Familienpolitik, die auf eine allgemeine Förderung aller, nicht nur der bedürftigen Familien zielte. Vorschulen und Kindertagesstätten stehen am stärksten in dieser Tradition. Ein weiterer wichtiger Faktor für die Herauslösung bestimmter sozialer Dienste und Einrichtungen aus dem institutionellen Kontext der aide sociale ist die Tradition der freien, assoziativen Wohlfahrt, die sich in einigen Bereichen neben den staatlichen und öffentlichen Institutionen fest etabliert hat und einige Felder wie die Behindertenhilfe weitgehend dominiert. Dieser Sektor richtete seine Aufmerksamkeit zwar zu Anfang vor allem auf ärmere Bevölkerungsschichten, zielte aber im Verlauf seiner Entwicklung immer stärker auf die Einbe-
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ziehung größerer Gruppen, die sich in einer hilfebedürftigen Lebenslage befinden, wie zum Beispiel Kranke, Behinderte und ältere, pflegebedürftige Menschen. Die Tatsache, dass der Staat diese Bereiche lange Zeit weitgehend der freien Wohlfahrt überließ und auf die Einführung eigener Systeme verzichtete, hat somit entscheidend dazu beigetragen, dass sie sich weitgehend aus dem Bereich der Armenfürsorge gelöst haben. Auch heute noch muss die staatliche aide sociale in Frankreich, die mit der Dezentralisierung in die Kompetenz der départements gefallen ist, eher als Ergänzung zu den vielfältigen freien Einrichtungen und Diensten denn als Regelsystem betrachtet werden. So erfasst die aide sociale vor allem in der Altenhilfe nur einen geringen Teil derjenigen, die soziale Dienste erhalten. Aber selbst innerhalb der aide sociale spielt der in England so wichtige Bedürftigkeitstest eine geringere Rolle. Vor allem in der Behindertenhilfe, aber auch in der Kinder- und Jugendhilfe werden die meisten Leistungen ohne eine solche Überprüfung der ökonomischen Bedürftigkeit gewährt. Es kommt vielmehr entscheidend auf die soziale Bedarfssituation an, die durch medizinische, soziale, psychologische und pädagogische Kriterien bestimmt wird. Hinzu kommt, dass die aide sociale neben den gesetzlich definierten Pflichtleistungen eine ganze Reihe von freiwilligen Leistungen der Sozialarbeit kennt, die den engen Rahmen der Armenhilfe ebenfalls sprengen. Ein weiterer Faktor kommt im französischen Fall hinzu: die Sozialversicherung und ihre lange voluntaristische Tradition. Der französische Sozialstaat hat sich im europäischen Vergleich erst relativ spät entwickelt. Die Grundlagen des heutigen Systems wurden erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit Einführung der sécurité sociale gelegt, also rund 60 Jahre nach den Bismarck’schen Reformen. Im Gegensatz zu Deutschland war das soziale System Frankreichs durch eine lange Tradition der freiwilligen, zumeist staatlich subventionierten Versicherung auf Gegenseitigkeit (mutualité) geprägt. Dieses System, das im französischen Kontext als Teil der umfassenderen économie sociale betrachtet wird, hat sich seit Ende des 19. Jahrhunderts zu einem weitverzweigten und ausgedehnten Bereich entwickelt. Die 1945 begründete staatliche sécurité sociale hat nun dieses System keineswegs abgeschafft und ersetzt, sondern vielmehr integriert und überformt. Dies gilt zum Beispiel für das heute noch hoch komplexe und weitverzweigte System der verschiedenen Rentenkassen sowie für die Krankenversicherung, in der die mutualité als organisatorische Basis des Systems und als freiwillige Zusatzversicherung immer noch eine große Rolle spielt. Vor allem aber hat sich die assoziative Tradition in der Familienpolitik und in wichtigen Bereichen der sozialen Dienste fortgesetzt. Alle Sozialversicherungskassen haben in Frankreich neben ihren gesetzlichen Kernaufgaben stets freiwillige Leistungen erbracht, die ihren Ursprung in der voluntaristischen Tradition haben. Ein Großteil dieser Leistungen waren soziale Dienste. So haben die Rentenkassen ambulante häusliche Dienste und die Krankenkassen ambulante Pflegedienste finanziert. Die Familienkassen waren auf dem Feld der Sozialarbeit für Kinder und Mütter aktiv und haben unter anderem auch Kindertagesstätten mit finanziert. Diese reiche, assoziative und voluntaristische Tradition der sozialen Dienste in Frankreich muß bedacht werden, wenn man die Rolle der staatlichen aide sociale in diesem System verstehen will. In vielen Bereichen ergänzt diese die freien Angebote nur, stellt aber keineswegs die Regelversorgung dar. In der Altenhilfe geht die Bedeutung der aide sociale seit der Dezentralisierung sogar deutlich zurück, was zunehmend als Problem erkannt wurde und auch zur jüngsten Reform von 2002 geführt hat, die auf eine breite finanzielle Unterstützung aller Pflegebedürftigen im Rahmen eines quasi universalis-
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tischen Systems zielt. Entscheidend ist, dass die sozialen Dienste in Frankreich niemals in dem Maße Teil der Armenhilfe waren wie in England und Wales, und sich heute mit wenigen Ausnahmen davon gelöst haben. In Deutschland verlief die Herauslösung der sozialen Dienste aus dem institutionellen Kontext der Sozialfürsorge und der Sozialhilfe von Bereich zu Bereich sehr unterschiedlich. Am frühesten und stärksten war der Bruch in der Kinder- und Jugendhilfe. Spätestens mit dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1922 wurde dieser Bereich eigenständig institutionalisiert und mit einer eigenen Funktionsweise ausgestattet. Die Kindertagesstätten als einer der wichtigsten Bereiche der Kinder- und Jugendhilfe wurden zwar nicht wie in Frankreich in Form der écoles maternelles dem Bildungssektor angegliedert, sondern blieben im Jugendfürsorgesystem, aber die Einrichtungen waren keineswegs nur auf ärmere Bevölkerungsgruppen gerichtet. Zwar beherrschte das Problem der arbeitenden Mütter noch lange Zeit die Praxis und die Diskussion über diese Einrichtungen, aber zunehmend öffneten sie sich für alle Bevölkerungsgruppen. Einige Einrichtungen stammten auch aus einer bildungsbürgerlichen Tradition. Obwohl das deutsche System nicht den Grad an Inklusivität wie die französischen Vorschulen erreicht hat, unterscheidet es sich doch klar von England und Wales, wo die öffentlichen Kindertagesstätten ausschließlich auf die sozial Bedürftigen begrenzt sind. Die Etablierung einer eigenständigen Funktionslogik der Kinder- und Jugendhilfe zeigt sich aber auch in den anderen Arbeitsbereichen wie der Kinderund Jugendarbeit und der offenen Sozialarbeit. Von Anfang an gab es hier keine so rigiden Verhältnisse wie im Bereich der allgemeinen öffentlichen Fürsorge. Zum einen, weil das Problem des Leistungsmissbrauchs keine wichtige Rolle spielte und stattdessen die Frage der Kindeserziehung und des Kindeswohls im Mittelpunkt stand. Zum andern, weil die Kinder- und Jugendfürsorge wie kein anderer Bereich durch eine Vielfalt freier Träger und Einrichtungen gekennzeichnet ist, die von Beginn an offenere Arbeitsweisen ermöglichten und erforderten. Die Kinder- und Jugendhilfe hat sich in Deutschland wie sonst wohl kein Bereich des Wohlfahrtsstaates als ein korporatives Mischsystem aus freier Wohlfahrt und öffentlicher Fürsorge entwickelt. Damit jedoch nahm sie von Anfang an eine Sonderstellung außerhalb der Sozialhilfe im engeren Sinne ein. Auch die Behindertenhilfe hat sich zunehmend, wenngleich später als die Kinder- und Jugendhilfe, aus dem allgemeinen Sozialfürsorgewesen herausdifferenziert. Bedürftigkeitsprüfungen spielen praktisch keine Rolle mehr. Uneinheitlich verlief dagegen die Entwicklung in der Altenhilfe, vor allem im Bereich der Pflegeleistungen. Bis zur Einführung der Pflegeversicherung war die Sozialhilfe das Regelsystem für die stationäre Altenhilfe. Öffentliche Unterstützung wurde fast ausschließlich über die bedürftigkeitsgeprüfte Sozialhilfe gewährt. Nur im Bereich ambulanter Pflegedienste hatten sich seit den 1980er Jahren von der Sozialhilfe unabhängige Leistungsformen entwickelt. Zum einen durch die freie Wohlfahrt, zum andern durch die Aufnahme dieser Leistungen in den Regelkatalog der Krankenversicherung. Erst die Pflegeversicherung hat ambulante und stationäre Leistungen unter einem Dach vereint und damit auch die stationäre Versorgung grundsätzlich aus der Sozialhilfe herausgelöst. Allerdings ist diese Ablösung in der Praxis unvollständig, weil die Leistungen der Pflegeversicherung oft nicht ausreichen, um die tatsächlichen Kosten einer stationären Versorgung zu decken (siehe Kapitel 5). Dennoch hat die Pflegeversicherung, wenn auch spät im Vergleich zu den anderen Bereichen sozialer Dienste, zumindest die Grundleistungen und die Grundversorgung mit Pflegediensten institutionell endgültig aus dem Rahmen der Sozialhilfe gelöst.
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Integration unterschiedlicher Dienstleistungsformen. Von zentraler Bedeutung für die Institutionalisierung sozialer Dienste ist die Integration der verschiedenen, zu einem funktionalen Bereich gehörenden Dienste unter einem Dach mit gemeinsamer Funktionsweise. Dies wird besonders deutlich bei den ambulanten Pflegediensten und den stationären Einrichtungen der Altenhilfe mit Pflegecharakter. In England und Wales hat die Reform von 1990 beide Dienstleistungsformen unter dem gemeinsamen Dach der lokalen sozialen Dienste zusammengefügt. Damit sollten Ungleichgewichte in der Versorgung mit ambulanten und stationären Diensten behoben und eine für jeden Einzelfall adäquate Kombination beider Formen ermöglicht werden. Vor der Reform hatten die lokalen Sozialbehörden lediglich die volle Zuständigkeit für die ambulanten Dienste, mit Ausnahme der akuten medizinischen Versorgung, die zum Nationalen Gesundheitsdienst gehörte. Die stationären Einrichtungen wurden zum großen Teil von der Sozialversicherung finanziert, was zu einer beispiellosen Aufblähung dieses Sektors in den 1980er Jahren führte. Daneben versorgte der Nationale Gesundheitsdienst viele Pflegebedürftige in Krankenhäusern und geriatrischen Einrichtungen. Die Reform von 1990 machte mit dieser mehrfachen Zuständigkeit Schluss und vereinte ambulante und stationäre Dienste in einer Hand. In Deutschland hat die Pflegeversicherung dasselbe erreicht. Zuvor waren die Krankenkassen für den Großteil der ambulanten Pflegeversorgung zuständig, der stationäre Bereich fiel dagegen weitgehend in die Verantwortung der Sozialhilfe. Für die Infrastruktur in der Altenhilfe insgesamt waren die Länder zuständig. Die Pflegeversicherung hat ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen unter einem Dach vereint und somit den Boden für eine an einheitlichen Kriterien orientierte Versorgung mit beiden Dienstleistungsformen bereitet. In Frankreich schuf die Dezentralisierung ebenfalls eine Bündelung der Zuständigkeiten für ambulante und stationäre Einrichtungen in Händen der départements. Zwar finanzieren nach wie vor die Rentenversicherungen und die Krankenkassen einen beträchtlichen Teil der sozialen Dienste, aber die Zuständigkeit für das Angebot und die Infrastruktur wurde in beiden Bereichen den Sozialbehörden der départements übertragen. Somit schuf die Dezentralisierung auch hier die Basis für eine institutionelle Integration der verschiedenen Dienstleistungsformen. Integration von Akteuren. Parallel zur funktionalen Spezialisierung sozialer Dienste und zur Integration der verschiedenen Dienstleistungsformen wurden die im Bereich sozialer Dienste sehr vielfältigen Akteure durch die Reformen stärker in die wohlfahrtsstaatlich geschaffenen Systeme integriert und ihre Beziehungen zueinander dauerhaft geregelt. Dies betrifft vor allem die freien und die kommerziellen, privaten Anbieter sozialer Dienste. In Deutschland schuf die Pflegeversicherung zum ersten Mal eine gleichberechtigte institutionelle Basis für private Anbieter von Pflegeleistungen. Die Pflegeversicherung hat die verschiedenen Anbieter von Pflegeleistungen einem einheitlichen Regelwerk unterworfen und somit erstmals einen integrierten „Markt“ geschaffen. Sonderbeziehungen und Nischenpositionen wurden weitgehend abgeschafft. Dadurch wurde die Funktionsweise des Systems in erheblichem Umfang rationalisiert. Da in Deutschland öffentliche Anbieter im ambulanten Bereich aus historischen Gründen keine große Rolle spielten, bezog sich die Gleichstellung der verschiedenen Akteure in erster Linie auf das Verhältnis von freien und kommerziellen Anbietern. Tatsächlich hat die Pflegeversicherung zum ersten Mal auf breiter Front ein konstitutives Element des deutschen Sozialstaats durchbrochen: den institutionell verankerten Vorrang freier Träger, verbunden mit einer öffentlichen Subventionierung dieses Sektors. Zumindest auf institutioneller Ebene beendete die Pflegeversicherung somit ein
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wesentliches Element des korporatistischen Systems der Verbändewohlfahrt. In England und Wales haben die Reformen der 1990er Jahre ebenfalls eine stärkere Integration der verschiedenen Akteure und ihre Unterwerfung unter ein einheitliches Regelwerk bewirkt, allerdings auf etwas anderem Wege und mit einer anderen Zielsetzung. Aus historischen Gründen waren die sozialen Dienste in England und Wales vor den Reformen überwiegend in öffentlicher Trägerschaft. Dies gilt insbesondere für die ambulanten Dienste. Freie und kommerzielle Anbieter führten ein spezialisiertes Nischendasein am Rande dieses im Kern öffentlichen Systems. Die Reform von 1990 hat sie nunmehr als feste Bestandteile ins öffentliche Dienstleistungssystem integriert. Die Kommunen sind seitdem gehalten, den Großteil der sozialen Dienste an freie und private Anbieter zu vergeben, und zwar vornehmlich unter Kostengesichtspunkten. Zugleich wurden die öffentlichen Anbieter sozialer Dienste als eigenständige „Betriebe“ ausgelagert und müssen unter gleichen Bedingungen mit den anderen Anbietern konkurrieren. Im öffentlichen Sektor wurde also eine Trennung von purchaser und provider vollzogen. Purchaser bleiben in jedem Fall die lokalen Sozialbehörden, während die Anbieter jeweils in Konkurrenz zueinander stehen. Das bislang weitgehend zweigeteilte System sozialer Dienste in England und Wales, mit einem Kern öffentlicher Dienste und einem vielfältigen und hoch spezialisierten, freien und privaten Randbereich, wurde somit institutionell weitgehend integriert. Geschaffen wurde dadurch aber ein ganz klar öffentliches System sozialer Dienste, in das private und freie Anbieter integriert sind und in dem sie dessen Regeln befolgen und Standards erfüllen müssen. In Frankreich sollte die Dezentralisierung zu einem ähnlichen Ergebnis führen. Die institutionelle Integration des historisch hoch fragmentierten französischen Systems sozialer Dienste auf der Ebene der départements sollte auch eine stärkere Integration des assoziativen, freien Sektors in die sozialen Dienste bewirken. Die Dezentralisierung sollte mit einer Renaissance des assoziativen Sektors einhergehen. Allerdings wurden dafür keine einheitlichen Regelungen erlassen wie im deutschen oder englischen Fall. Vielmehr wurde die Aufgabe der Integration den lokalen Akteuren selbst überlassen, deren Spielräume erheblich erweitert wurden. In dieser Hinsicht stellt der französische Fall tatsächlich als einziger eine Dezentralisierung dar, insoweit man darunter versteht, dass auch ein Teil der Regeln und wichtige Elemente der Funktionsweise des Systems auf lokaler Ebene entschieden werden. In den beiden anderen Ländern wurden die Regeln dagegen auf zentraler Ebene festgelegt. Arbeitsteilung zwischen den Akteuren; funktionale Spezialisierung von Akteuren. Die durch die Reformen bewirkte weitgehende institutionelle Integration der verschiedenen Dienstleistungsformen und Akteure in einem einheitlichen System sozialer Dienste hat dessen Komplexität erheblich gesteigert. Deshalb mussten die Aufgaben im Rahmen der neuen Systeme neu festgelegt und verteilt und die Beziehungen zwischen den Akteuren mussten neu geregelt werden. Im allgemeinen geschah dies durch eine Entflechtung von Zuständigkeiten, insbesondere innerhalb des öffentlichen Sektors, und durch die Ablösung direkter Formen der Finanzierung und Kontrolle durch ein indirekt wirkendes, allgemeines Regelwerk, vor allem, was die Beziehungen zwischen öffentlichen Stellen und privaten oder freien Anbietern betrifft. Im englischen Fall wird dies am deutlichsten. Die Trennung von purchaser und provider Funktionen innerhalb des öffentlichen Sektors stellte die funktionale Arbeitsteilung innerhalb des Systems sozialer Dienste auf eine völlig neue Grundlage. Diese Trennung war die Voraussetzung für die Entfaltung jeweils eigener Funktionslogiken in der Vergabe und Erbringung sozialer Dienstleistungen, eine entscheidende Bedin-
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gung für die Herausbildung von Quasi-Märkten. Im deutschen Fall hat die Einführung der Pflegeversicherung indirekt einen ähnlichen Effekt. Indem die Pflegekassen einheitliche Leistungssätze bezahlen, gibt es in dieser Hinsicht keine Unterschiede mehr zwischen den verschiedenen Anbietern. Die Institution der Sozialversicherung hat einen inhärenten Neutralitätseffekt gegenüber verschiedenen Anbietern, der im englischen System durch die Quasi-Märkte innerhalb des öffentlichen Sektors erst geschaffen werden musste. Die Aufgaben der Finanzierung, Dienstleistungserbringung und Kontrolle wurden also in beiden Ländern weitgehend voneinander getrennt und unterschiedlichen Akteuren im System übertragen. Hinzu kommt, dass die direkten Formen der Finanzierung und Kontrolle freier und privater Anbieter weitgehend durch Leistungsverträge und eine Kontrolle der Einhaltung von Regeln ersetzt worden sind. In der Pflegeversicherung ist dies offensichtlich. Die Pflegekassen leisten keine direkte Subventionen an die Anbieter, sondern vergüten die erbrachten Leistungen anhand vorher fest vereinbarter Sätze. Die Überprüfung der Gemeinnützigkeit der Anbieter spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle mehr. Entscheidend ist der Abschluss von Leistungsverträgen mit dem jeweiligen Anbieter und die Erfüllung der festgesetzten Regeln, insbesondere hinsichtlich der Leistungserbringung und -abrechnung. Im englischen Fall spielen ebenfalls Leistungsverträge, en bloc oder auf Einzelfälle bezogen, die entscheidende Rolle. Allerdings gibt es keine festen Sätze, sondern die einzelnen Kommunen (die purchaser) handeln die entsprechenden Tarife mit den Anbietern aus, unter Berücksichtigung lokaler Marktverhältnisse. Ähnlich ist die Situation in Frankreich, wo die départements ebenfalls einen großen Spielraum für die Erfüllung der ihnen übertragenen Aufgaben haben. Am stärksten reglementiert und standardisiert ist in dieser Hinsicht ohne Zweifel das deutsche System. Festlegung eines zentralen Akteurs. Die institutionelle Integration verschiedener Akteure und Dienstleistungsformen macht jedoch zugleich die Festlegung eines zentralen Akteurs erforderlich, der das System intern steuert und koordiniert. Zum Teil kann die Steuerungsfunktion durch externe Regeln und Standards ersetzt werden, aber dennoch wurde in allen drei Ländern durch die Reformen ein zentraler koordinierender Akteur definiert, und zwar in jedem Fall eine öffentliche Instanz. Dies verdeutlicht, dass die sozialen Dienste durch die Reformen ganz klar als öffentliche Systeme institutionalisiert wurden, mit primär öffentlicher Regelung, Finanzierung, Koordination und Kontrolle. In England und Wales sind die kommunalen sozialen Dienste (local social services departments) die zentralen Akteure, die das System steuern und koordinieren. Ihre Bedeutung und Funktion wurde durch die Reformen weiter ausgedehnt. Zwar sollen sie in geringerem Umfang als zuvor Dienste selbst erbringen, aber sie treten vor Ort praktisch als einziger großer Nachfrager auf und vergeben Leistungsaufträge an die verschiedenen örtlichen Anbieter. Sie legen Umfang und Verteilung der sozialen Dienste auf die Klienten und die Anbieter fest und beeinflussen durch ihre marktbeherrschende Stellung als Nachfrager in hohem Maße auch die Preise für die Dienstleistungen. Ihre dominierende Allokationsfunktion wird dabei weder von allgemeinen Standards noch von anderen öffentlichen Institutionen infrage gestellt. Seit der Reform von 1990 sind sie allein für die sozialen Dienste im ambulanten und im stationären Bereich zuständig. Die lokalen Sozialbehörden kanalisieren sowohl die Nachfrage als auch das Angebot an sozialen Diensten und entscheiden in eigener Verantwortung über deren Zuteilung. Es existiert somit kein wirklicher Markt für soziale Dienste, auf dem Nachfrager und Anbieter zusammentreffen, alles wird durch die kommunalen Sozialbehörden gesteuert.
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Lediglich allgemeine, übergeordnete Regeln und Parameter beeinflussen ihr Handeln, zum Beispiel die Budgetierung der für soziale Zwecke eingesetzten Mittel, die öffentliche Rechnungslegung und Ausschreibung, der Zwang zur Vergabe von Aufträgen an die freien und privaten Anbieter, das Prinzip der Kostenminimierung etc.. In Frankreich erfüllen die Sozialbehörden der départements eine ähnliche Funktion, sind aber in stärkerem Maße als in England von anderen öffentlichen Institutionen abhängig, die als Finanzier an der Koordination sozialer Dienste beteiligt sind, vor allem den Krankenkassen und den Rentenversicherern. Allein die bedürftigkeitsgeprüften Leistungen im Rahmen der aide sociale unterliegen seit der Dezentralisierung der ausschließlichen Zuständigkeit der départements. Sie sind dabei allerdings ebenfalls in stärkerem Maße als die kommunalen Behörden in England an Standards und Vorgaben von Seiten der Regierung gebunden, die zum Beispiel Mindestleistungen und Pflichtleistungen festlegt. Innerhalb dieses Rahmens können sich die départements relativ frei bewegen, eigene Akzente setzen und das Angebot sozialer Dienste in starkem Maße steuern. Zum einen sind zahlreiche Aufgaben nicht als gesetzliche Pflicht definiert, sondern unterliegen der freiwilligen Sozialarbeit, die in Frankreich eine lange Tradition im Rahmen der action sociale hat, zum andern sind auch für die Pflichtaufgaben häufig nur Mindestleistungen oder Leitlinien definiert. Dies gilt in besonderem Maße für die Pflege im Rahmen der Altenhilfe. Bis Ende der 1990er Jahre gab es in Frankreich keine allgemein verbindlichen Standards zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit und auch keine verbindlichen Richtlinien zur Bemessung von Leistungen. Die Sozialbehörden orientierten sich zumeist an von den betreffenden Professionen erarbeiteten Standards, die aber nicht verpflichtend waren. Infolgedessen ergaben sich zum Teil große Variationen zwischen den départements, ebenso wie zwischen den Kommunen in England und Wales. Die départements sollen zwar in der Erfüllung ihrer sozialen Aufgaben mit freien und privaten Trägern zusammenarbeiten, es gibt jedoch keine explizite Pflicht zur Vergabe an nichtöffentliche Träger wie in England und Wales. Somit wird dies zum Teil unterschiedlich gehandhabt, im allgemeinen jedoch hat die lokale Kooperation auf dem Feld der sozialen Dienste eine lange informelle Tradition in Frankreich, ist formal jedoch kaum abgesichert und institutionalisiert. Insbesondere auf dem Feld der Kinder- und Jugendhilfe und in der Behindertenhilfe sind die sozialen Dienste und Leistungen ohne die freien Träger nicht vorstellbar. Die Dezentralisierung hat somit zwar die Möglichkeiten zur lokalen Kooperation zwischen öffentlichen Institutionen und freien Trägern erweitert, aber die ungewisse Rechtsposition des assoziativen Sektors nicht wirklich verändert. Nach wie vor bestimmen die öffentlichen Institutionen über Art und Ausmaß der Kooperation mit dem freien Sektor der Wohlfahrtspflege. Deutschland hat als einziges der hier betrachteten Länder scheinbar keinen zentralen Akteur für die Koordination und Steuerung des neuen Systems der sozialen Dienste bestimmt. Die Kommunen und die überörtlichen Sozialhilfeträger wurden ja durch die Pflegereform gerade von dieser Aufgabe befreit und spielen seitdem nur noch eine subsidiäre Rolle. Weder steuern sie das Angebot noch treten sie als Anbieter ambulanter Dienste im Pflegebereich nennenswert in Erscheinung. Allerdings beginnt sich eine lokale Koordination sozialer Dienste unter kommunaler Führung zu entwickeln. Im stationären Sektor konkurrieren die Angebote kommunaler Träger auf gleicher Basis mit freien und privaten Trägern von Einrichtungen. Es sind aber nicht die Kommunen, sondern vielmehr die Pflegekassen, die das Dienstleistungsangebot über die Zulassung von und Verträge mit den An-
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bietern steuern. Doch ist ihre Rolle beschränkter als im englischen oder französischen Fall. Denn weder bestimmen sie im Einzelfall den Anbieter einer sozialen Dienstleistung, noch können sie eine marktorientierte Preispolitik betreiben; Preis und Leistung sind vielmehr fixiert und variieren mit der Pflegestufe, die in einem unabhängigen Begutachtungsverfahren ermittelt wird. Es sind außerdem die Klienten selbst, die sich ihren Anbieter auswählen, nicht die Pflegekassen. So können sie nur einen Anbieter wählen, der zuvor einen Leistungsvertrag mit der Kasse abgeschlossen hat; Preis und Umfang der Leistung liegen somit fest und sind zwischen Anbietern und Klienten nicht verhandelbar. Dieser Aspekt verdeutlicht, dass man auch im deutschen Fall trotz der gegebenen individuellen Wahlfreiheit der Klienten hinsichtlich der Anbieter nicht von einem Markt für soziale Dienstleistungen sprechen kann. Die nur rudimentär entwickelte Koordinationsfunktion der Pflegekassen zur Steuerung des lokalen Angebots wird im deutschen Fall durch die abstrakte Regelsetzung als Form der indirekten Steuerung ersetzt. In diesem Sinne wird das System in hohem Maße durch detaillierte Standards und Regelungen gesteuert, innerhalb derer die einzelnen Akteure einen sehr begrenzten Spielraum haben. Standardisierung von Leistungen und Einführung individueller sozialer Rechte. Der deutsche Fall ist das Extrembeispiel für eine hohe Standardisierung von Leistungen. Im Idealfall werden von den Anbietern in jedem Einzelfall die gleichen Leistungen erbracht, beziehungsweise nur klar definierte, detaillierte Einzelleistungen sind anrechenbar und werden durch einen im voraus festgelegten Preis pauschal vergütet. Die Wahlmöglichkeit der Klienten beschränkt sich somit auf ökonomisch nicht sichtbare oder irrelevante Aspekte des Angebots verschiedener Anbieter. Die positive Seite dieses Systems ist die hohe Rechtssicherheit für die Klienten und der individuelle Anspruch auf Leistungen aus der Pflegeversicherung. Weder im englischen noch im französischen Fall gibt es eine vergleichbare ex ante Festlegung von Leistung und Preis. Die englischen Kommunen können im Rahmen ihrer Möglichkeiten relativ frei über die Verteilung der sozialen Dienste entscheiden. Allerdings haben sich auch hier im Anschluss an die Reform von 1990 allmählich zentralstaatliche Vorgaben herausgebildet, die auf die Einhaltung bestimmter allgemeiner Standards und Qualitätsmerkmale bei der Erbringung sozialer Dienste drängen. In keinem Fall jedoch sind diese Standards mit den fixierten deutschen Leistungen zu vergleichen. Auch in Frankreich hat sich im Anschluß an die Dezentralisierung seit Mitte der 1990er Jahre ein nationaler Standard zur Feststellung verschiedener Stufen der Pflegebedürftigkeit herausgebildet, der die Nachfrage nach solchen Diensten in bestimmte Bahnen lenkt und tendenziell auch bestimmte Leistungen mit diesen unterschiedlichen Stufen verbindet. Auch dabei handelt es sich aber bisher nicht um ähnlich detaillierte Vorgaben wie im deutschen System. Der Vorteil der geringeren Standardisierung ist die hohe lokale Flexibilität, die im Regelfall dazu tendiert, die schwereren Fälle besser zu bedienen, dafür aber leichtere Fälle oft ganz aus der Versorgung mit sozialen Diensten ausschließt. Tatsächlich lässt sich eine solche Entwicklung sowohl in Frankreich als auch in England und Wales beobachten. In beiden Ländern sinkt seit den Reformen tendenziell die Zahl der Leistungsempfänger, obwohl der Umfang der Leistungen weiter wächst. Es steigt somit die durchschnittliche Intensität der Leistungen. Hingegen tendiert ein System wie das deutsche mit klaren Standards und geringer Flexibilität dazu, auch minder schwere Fälle gemäß einem fixierten Anspruch zu bedienen und abzusichern, möglicherweise auf Kosten einer Begrenzung der Leistungen für die schwereren Fälle. Die Zahlen für Deutschland scheinen in der Tat einen
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solchen Trend zu bestätigen: während für das Gros der Klienten, die minder schweren Fälle, die Leistungen abgesichert sind, genügen die Leistungen der Pflegeversicherung für die schweren Fälle oft nicht, um einen Rückgriff auf die Sozialhilfe zu vermeiden. Der Preis für ein hohes Maß an Absicherung individueller Rechtsansprüche auf Seiten der Klienten ist also eine geringe Flexibilität im Einsatz der Mittel und somit möglicherweise eine auch unter sozialpolitischen Gesichtspunkten fehlgesteuerte Allokation von Ressourcen. Umgekehrt impliziert der Verzicht auf detaillierte Standards zwar ein hohes Maß an Flexibilität und eine auf die lokalen Gegebenheiten abgestimmte Allokation der Mittel, aber um den Preis einer geringen Rechtssicherheit für die Klienten, die keinen Anspruch auf bestimmte Leistungen haben und im Extremfall auch davon ausgeschlossen werden können. Soziale Kontrolle. Eine verstärkte soziale Kontrolle des Systems der sozialen Dienste war in allen drei Ländern das übergreifende Ziel der Reformen. Dies war umso notwendiger, als die Nachfrage nach sozialen Diensten angesichts demographischer Entwicklungen und des sozio-demographischen Wandels weiterzuwachsen drohte, während die wohlfahrtsstaatlichen Ressourcen knapper wurden. Das bislang wenig institutionalisierte und hoch fragmentierte System sozialer Dienste mit seinen zahlreichen Akteuren bot keine besonders günstigen Voraussetzungen für eine Bewältigung dieser Problemlage, weshalb eine stärkere wohlfahrtsstaatliche Kontrolle notwendig erschien. Die soziale Kontrolle setzte an verschiedenen Elementen an und richtete sich sowohl auf die Nachfrage- als auch auf die Angebotsseite sozialer Dienste. Dadurch sollte ein bedarfsgerechter Anstieg zwar ermöglicht, zugleich aber im notwendigen finanziellen und sozialen Rahmen gehalten werden. Die Mechanismen der sozialen Kontrolle beziehen sich auf verschiedene Elemente der Institutionalisierung: die Einbeziehung aller wichtigen Akteure in ein einheitliches System; die Vorgabe globaler Beschränkungen, vor allem eines bestimmten finanziellen Rahmens; die Festlegung von Verfahren in der Zuteilung von Diensten; die Festsetzung von Leistungsund Preisstandards sowie von Qualitätsstandards für die erbrachten Leistungen; die Entwicklung von allgemeinen Kriterien für die Allokation von Dienstleistungen, zum Beispiel durch die Einführung von Bedarfsstufen; die Konzentration von Kompetenzen auf einer Ebene und die Bestimmung eines zentralen, koordinierenden Akteurs; die externe, ex post Überprüfung der Funktionsweise des Systems anhand standardisierter Kriterien. All diese Elemente einer primär indirekten, aber im Vergleich zur Vergangenheit insgesamt stärkeren sozialen Kontrolle gingen in die Institutionalisierung der sozialen Dienste ein. Keineswegs wurde das System somit sich selbst überlassen, im Gegenteil wurden Regelungsdichte und Regelungsumfang überall deutlich erhöht. Die zunehmende soziale Kontrolle des Systems der sozialen Dienste wurde über eine verstärkte Institutionalisierung durch den Wohlfahrtsstaat erreicht. Die in dieser Arbeit untersuchten Reformen markieren insofern keineswegs einen Rückzug des Wohlfahrtstaates aus dem Bereich sozialer Dienste, sondern stehen im Gegenteil für ein höheres Maß an wohlfahrtsstaatlicher Steuerung und Kontrolle. Wie lassen sich vor dem Hintergrund dieser Befunde die oft unterstellten Entwicklungstrends in Richtung auf eine zunehmende Dezentralisierung und Privatisierung sozialer Dienste sowie einen wachsenden Wohlfahrtspluralismus beurteilen? Welche quantitativen Indikatoren lassen sich dafür anführen? Die folgenden Abschnitte untersuchen in dieser Hinsicht die Entwicklung der sozialen Dienste seit den hier behandelten Reformen.
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Strukturelle Auswirkungen Betrachten wir zunächst die quantitative Entwicklung der einzelnen Bereiche sozialer Dienste seit den grundlegenden Reformen. Die größten Veränderungen lassen sich im Bereich der Altenhilfe in England und Wales feststellen (vgl. dazu und im folgenden die in den Länderkapiteln ausführlich dargestellten quantitativen Entwicklungen). Seit Einführung der Reform von 1990 hat die Gesamtzahl der Plätze in den verschiedenen stationären Einrichtungen zwar weiter zugenommen, aber die Plätze in der Altenhilfe sind absolut deutlich gesunken. Somit hat die Reform ein wesentliches Ziel erreicht: den Rückbau des auch im internationalen Vergleich hohen stationären Versorgungsniveaus. Zugenommen hat allerdings die Quote der von den lokalen Sozialbehörden unterstützten älteren Heimbewohner, die sich seit 1994 auch auf die Einrichtungen der freien und privaten Träger erstreckt. Begleitet wurde dieser Abbau der stationären Versorgung älterer Menschen jedoch nicht von einem Ausbau der ambulanten Versorgung. Vielmehr hat sich die Struktur der ambulanten Hilfen entscheidend gewandelt. Die meisten Kommunen haben ihren Entscheidungsspielraum angesichts knapper Ressourcen dazu genutzt, auch die ambulanten Hilfen auf die schwereren Bedarfsfälle zu konzentrieren. Zwar ging die Zahl der Empfänger zurück, die Summe der geleisteten Stunden stieg jedoch weiter an. Das Dienstleistungsvolumen wurde also weiter ausgedehnt, aber auf weniger Haushalte konzentriert und somit zugleich intensiviert. Die Reform hatte somit einschneidende Allokationseffekte: es gab eine Umschichtung vom stationären zum ambulanten Sektor und zugleich eine Konzentration der Hilfen auf die schwereren Bedarfsfälle. Weitreichend waren auch die Folgen der Reform im Hinblick auf die Trägerlandschaft sozialer Dienste. Binnen weniger als einem Jahrzehnt wurde aus einem überwiegend aus öffentlichen Einrichtungen bestehenden Dienstleistungssystem ein durch freie und vor allem private Anbieter dominierter Bereich des Wohlfahrtsstaates. Bei den stationären Einrichtungen hatte sich dieser Strukturwandel schon vorher, seit den 1980er Jahren, deutlich abgezeichnet; seit dieser Zeit konnten die Kosten für Unterkunft in privaten und freien Heimen aus der staatlichen Sozialversicherung bezuschusst werden. Die Reform von 1990 hat diesen Strukturwandel lediglich beschleunigt. Viel stärker war der Umbruch der Trägerlandschaft bei den ambulanten Diensten. Waren diese vor der Reform fast ausschließlich in kommunaler Trägerschaft organisiert, stellten nicht-öffentliche Anbieter bereits im Jahr 2001 mehr als die Hälfte der Leistungen. In Bezug auf die Trägerstruktur muß man also von einem weitgehenden Erfolg der Reform sprechen; der Wandel zu einem überwiegend privat betriebenen Dienstleistungsangebot ist weit fortgeschritten. Tatsächlich steht England und Wales in dieser Hinsicht im westeuropäischen Vergleich einzigartig da. Allerdings sollte man sich vor voreiligen Schlüssen hüten: keineswegs lässt sich darin eine Privatisierung sozialer Dienste erkennen, denn ihre Finanzierung und Kontrolle obliegt weiterhin, ja stärker als zuvor, den Kommunen und somit einem Teil des Wohlfahrtsstaates. Dennoch ist der erhebliche Strukturwandel sozialer Dienste in England und Wales im Anschluß an die grundlegende Reform von 1990 offensichtlich. Sie hat sich insbesondere auch in der Beschäftigungsstruktur der sozialen Berufe niedergeschlagen. Anfang der 1990er Jahre stellten die bei den ambulanten sozialen Diensten Beschäftigten (home help) noch rund ein Viertel aller Beschäftigten in den kommunalen sozialen Diensten. Kaum zehn Jahre später ist ihr Anteil auf rund 16% gesunken. Ebenfalls ein Rückgang, aber weniger stark, lässt sich bei den stationären Einrichtungen für ältere Menschen beobachten.
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Insgesamt ist die Zahl der Beschäftigten bei den kommunalen sozialen Diensten seit 1994 zurückgegangen. Intern kam es zu erheblichen Verschiebungen: vormals zentrale Bereiche praktischer Dienstleistungsarbeit verlieren an Gewicht, während die ManagementFunktionen einerseits und die hoch professionalisierten Bereiche der Sozialarbeit andererseits ihre Anteile an den Beschäftigten deutlich erhöhen konnten. Die lokalen Sozialbehören werden somit zunehmend zu steuernden und koordinierenden Zentren, verbunden mit hoch spezialisierten und professionalisierten Diensten, während die praktischen Dienstleistungstätigkeiten im häuslichen Bereich und in stationären Einrichtungen auf private und freie Anbieter übertragen werden. Darin drückt sich die den kommunalen sozialen Diensten von Seiten des Wohlfahrtsstaates zugeschriebene, neue Rolle wohl am deutlichsten aus. Ein in seinen Ausmaßen wesentlich geringerer Strukturwandel zeigt sich bei den sozialen Diensten für Kinder in England und Wales. Hier sind zwei zentrale Einschnitte zu nennen: die im Gefolge des Children Act von 1989 verstärkte Betonung ambulanter, offener und präventiver Hilfeformen in der Kinder- und Jugendsozialarbeit sowie der von den seit 1997 regierenden Sozialisten forcierte Ausbau der vorschulischen Betreuung von Kindern unter 5 Jahren. Beides läßt sich in den quantitativen Entwicklungen nachzeichnen. In der Kinder- und Jugendsozialarbeit handelt es sich dabei allerdings um einen seit den 1950er Jahren zu beobachtenden langfristigen Trend, der durch die Reformen verstärkt wurde. Die Heimbetreuung als stärkste staatliche Intervention geht seit dieser Zeit kontinuierlich zurück, während der Anteil der bei Pflegefamilien untergebrachten Kinder ansteigt. Besonders interessant ist der Anstieg der Zahl derjenigen Kinder, die weiterhin bei ihren eigenen Eltern leben, obwohl sie zu Klienten der Sozialbehörden gehören. Darin drückt sich eine Zunahme von Hilfearten aus, welche die elterliche Verantwortung einerseits stärker respektieren, andererseits zum Wohl des Kindes aber auch vermehrt einfordern. Die Teilung von elterlicher und öffentlicher Verantwortung für sozial gefährdete Kinder ist eine Entwicklung, die in den 1980er Jahren ihren Höhepunkt erreichte, seitdem aber wieder deutlich zurückgeführt wurde, weil es zu einigen aufsehenerregenden Missbrauchsfällen von Kindern kam, die nach Meinung von Kritikern zu lange im familiären Milieu belassen wurden. In historischer Perspektive bedeutsamer ist der Wandel der britischen Politik in Bezug auf die vorschulische Kinderbetreuung. Hielt sich der Staat bis zur Mitte der 1990er Jahre weitgehend aus diesem Bereich zurück, hat sich die Situation seitdem entscheidend gewandelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte der britische Wohlfahrtsstaat das Feld der außerfamiliären Kinderbetreuung mit Ausnahme der auf wenige Familien und Kinder gerichteten öffentlichen Einrichtungen für sozial gefährdete und benachteiligte Gruppen weitgehend den freien und privaten Anbietern überlassen. England stand damit im internationalen Vergleich der Versorgungsquoten mit Kindertagesstätten stets an letzter Stelle in Europa. Ganz richtig war dieses Bild allerdings schon damals nicht, denn meist wurde dabei übersehen, dass die Schulpflicht in England mit 5 Jahren – im internationalen Vergleich bereits sehr früh – beginnt. Darüber hinaus besuchte auch ein zunehmender Teil von vierjährigen Kindern zumindest zeitweise eine schulische oder vorschulische Einrichtung. Diese Einrichtungen gehörten allerdings zum Bildungswesen; die sozialen Dienste für kleine Kinder im engeren Sinn befanden sich überwiegend in nicht-öffentlicher Trägerschaft. Die Mitte der 1990er Jahre begonnene Initiative zum Ausbau der vorschulischen Tagesplätze konnte somit an diese Tradition der frühen Einschulung und der Öffnung von Schulen für jüngere Kinder anknüpfen, hat jedoch binnen kurzer Zeit eine erhebliche Ausdehnung der Angebote
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bewirkt. Zwar handelt es sich dabei meist um Teilzeitbetreuung, die Versorgungsrate ist aber mittlerweile sehr hoch; auch können die Kinder mehrere Angebote wahrnehmen. Inzwischen hat England und Wales zumindest für drei- und vierjährige Kinder ein im internationalen Vergleich hohes Versorgungsniveau erreicht und somit seine historische Sonderstellung auf diesem Gebiet verlassen. Interessant ist, dass der Ausbau dieser Versorgungskapazität vor allem in öffentlichen schulischen Einrichtungen geschieht. In diesem Feld also lässt sich aus den Daten sogar eine direkte Zunahme der wohlfahrtsstaatlichen Dienste und Leistungen ablesen. In Frankreich datieren die grundlegenden Veränderungen im System sozialer Dienste bis zur Mitte der 1980er Jahre zurück, als die Kerngesetze der Dezentralisierung in Kraft traten. Ein Vergleich mit der Zeit vor 1980 ist oft schwierig, weil die Datenlage dafür dünn ist. Die Entwicklungen seit 1984 lassen sich jedoch gut dokumentieren. Erwartungsgemäß gab es im Bereich der Altenhilfe die stärksten Effekte. Seit der Dezentralisierung der Sozialhilfe (aide sociale) im Jahr 1984 nimmt das Gewicht der Altenhilfe gegenüber den anderen Bereichen, darunter vor allem die Behindertenhilfe und die Kinderhilfe, kontinuierlich ab. Die Ausgaben und die Zahl der Hilfeempfänger stagnieren. Sieht man von den Geldleistungen ab, nimmt die Zahl der Leistungsempfänger in der Altenhilfe sogar ab, ganz besonders im Bereich ambulanter Dienste. Gerade im häuslichen Bereich geht die Zahl der Hilfeempfänger stark zurück, ein deutlicher Hinweis darauf, dass die départements seit der Dezentralisierung (ähnlich wie die Gemeinden in England und Wales) die Unterstützungsleistungen auf einen kleineren Kreis von Empfängern konzentriert haben. Im Unterschied zu England geschah dies jedoch vor dem Hintergrund eines erheblichen Nachholbedarfs gerade an ambulanten Hilfeleistungen. Die Dezentralisierung hat also in Frankreich zumindest im Bereich der Altenhilfe zu einer deutlich restriktiveren Unterstützung geführt. Allerdings darf daraus nicht per se auf ein niedriges Versorgungsniveau mit sozialen Diensten geschlossen werden, da die aide sociale ohnehin nur eine ergänzende Funktion hat. So ist beispielsweise die Zahl der Heimplätze für ältere Menschen seit Anfang der 1990er Jahre weiter angestiegen, und auch die ambulanten Dienste haben sich seit den 1980er Jahren ausgedehnt. Finanziert wurden und werden die meisten dieser Dienste und Einrichtungen durch die Sozialversicherungen und die Klienten selbst, die Sozialhilfe tritt in immer weniger Fällen unterstützend hinzu. Das Risiko der Pflegebedürftigkeit blieb also in Frankreich in viel stärkerem Maße zwischen den Leistungen der Sozialversicherung einerseits und der privaten, individuellen Absicherung andererseits angesiedelt. Weder wurde ein spezifisches Leistungssystem geschaffen noch übernahm die Sozialhilfe einen größeren Teil der insgesamt steigenden Lasten. Das Problem blieb in der Tat lange Zeit ungelöst, erst im Jahr 2002 erfolgte eine große Ausdehnung der öffentlichen Leistungen für die Pflege. Die Dezentralisierung hat somit den Umfang der von der Sozialhilfe unterstützten sozialen Dienste zunächst reduziert und zu einer Abnahme von Leistungen geführt. Eine solche Entwicklung war nun keineswegs in dieser Form intendiert, im Gegenteil wurde die mangelnde Lösung des Problems der Pflegebedürftigkeit in der französischen Sozialpolitik immer wieder kritisiert. Gefordert wurde eine grundsätzliche institutionelle Neuordnung dieses Bereichs. Vor allem in den 1990er Jahren setzte eine breite Debatte ein, angestoßen auch durch die Entwicklungen in Deutschland, die dort in eine Pflegeversicherung mündeten. Diskutiert wurde ein solcher Weg auch in Frankreich, aber schließlich verworfen. Stattdessen setzte der Staat zunehmend nationale Standards zur einheitlichen Feststellung und Bemessung der
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Pflegebedürftigkeit in den départements durch und schuf damit eine allgemeine Grundlage für die Leistungen in diesem Bereich. Es kam aber auch zu keinem allgemeinen Leistungsgesetz für alle Pflegebedürftigen. Vielmehr blieb die im Jahr 2002 eingeführte Reform grundsätzlich bei einer Bedürftigkeitsfeststellung, erhöhte jedoch die Einkommensgrenzen und erweiterte dadurch den Kreis der Anspruchsberechtigten erheblich. Prinzipiell blieb die jüngste Reform somit der Logik der Sozialhilfe verhaftet, in der Praxis jedoch kommt das neue System einem allgemeinen staatlichen Leistungsgesetz sehr nahe. Die Trägerlandschaft sozialer Dienste hat sich in Frankreich durch die Dezentralisierung weit weniger verändert als im englischen Fall. Zum einen spielten freie Träger und zum Teil auch kommerzielle Anbieter in Frankreich auch in den Kernbereichen sozialer Dienste schon vorher eine größere Rolle als in England. Die Veränderungen waren also weniger grundsätzlicher Art. Zum anderen wurden die départements auch nicht wie im englischen Fall gesetzlich dazu angehalten, die Dienstleistungserbringung zunehmend auf private Anbieter zu verlagern. Allerdings sollte die Reform unter anderem die lokale Kooperation zwischen öffentlichen Institutionen und freien und privaten Anbietern erleichtern und somit indirekt zu einer größeren Koordination und Effizienz der sozialen Dienste vor Ort führen. Im ambulanten Bereich spielten freie Anbieter seit jeher eine klar dominierende Rolle; der assoziative Sektor nahm hier ähnlich wie in Deutschland fast eine Monopolstellung ein, auch wenn die formal-rechtliche Position der freien Träger historisch stets viel schwächer war als östlich des Rheins. Im stationären Bereich hatte jedoch der Staat ein Übergewicht. Ähnlich wie Schulen und Krankenhäuser wurden auch Heime und andere stationäre Einrichtungen zum Kernbereich öffentlicher Verantwortung gezählt, in dem der Staat das Feld dominiert. Der französische Staat hat hier eine lange Tradition öffentlicher Institutionen fortgeführt, die weit ins 19. Jahrhundert zurück reicht. Umgekehrt wurden die häuslichen Dienste stark vernachlässigt. Doch die ungleichgewichtige Politik des Staates ist nur die eine Seite der Erklärung für das Übergewicht öffentlicher Träger bei den stationären Einrichtungen. Die andere ist die historisch bedingte, rechtlich prekäre und finanziell eingeschränkte Lage des Sektors der freien Wohlfahrt in Frankreich. Anders als in Deutschland konnten die freien Träger nicht über soviel Eigenmittel verfügen; es stand auch keine reiche Kirche im Hintergrund, die ihre sozialen Werke in großem Maße hätte unterstützen können. Die Folgen der Französischen Revolution und der Säkularisation der Kirchengüter waren hier lange und dauerhaft spürbar. Aufgrund der 1905 erfolgten Trennung von Kirche und Staat gibt es in Frankreich auch keine öffentliche Subventionierung der Religionsgemeinschaften und keine Kirchensteuer wie in Deutschland. Aber auch die staatliche Finanzierung freier Träger war und ist in Frankreich deutlich schwächer ausgeprägt als in Deutschland. Östlich des Rheins wurden die freien Träger quasi in den öffentlichen Dienst inkorporiert und in die Kernbereiche sozialer Dienste eingebunden. In Frankreich dagegen blieb ihre Rolle eher am Rande des öffentlichen Systems angesiedelt, sowohl in finanzieller als auch in rechtlicher Hinsicht. Kein Wunder also, dass die freien Träger in den Feldern staatlicher Kernkompetenz, die wie im stationären Bereich zudem erhebliche finanzielle Investitionen erforderten, einen niedrigeren Anteil halten als die öffentliche Hand. Allerdings ist gerade hier seit Anfang der 1990er Jahre eine große Veränderung festzustellen. So stagniert die Zahl der Plätze in öffentlich betriebenen Heimen, während sie bei privaten Heimen zunimmt. Die Gewichte haben sich somit in den letzten zehn Jahren deutlich verschoben. Mittlerweile stellen Heime in öffentlicher Trägerschaft nurmehr rund 50% der Plätze im
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Wohnbereich (hébergement), die privaten Anbieter haben also stark aufgeholt. Häufig handelt es sich dabei aber nicht um freie Träger, sondern um kommerzielle Anbieter, deren Anteil besonders stark wächst. Anders ist die Situation im Bereich der Pflegeeinrichtungen (hospitalisation): hier dominiert weiterhin ganz klar der öffentliche Sektor, mit sogar steigender Tendenz: über 90% der Pflegebetten befinden sich in öffentlicher Trägerschaft. Es scheint sich somit eine dualistische Struktur herauszubilden: im Altenwohnbereich fassen zunehmend private (kommerzielle) Anbieter Fuß, während die Pflegeplätze immer noch überwiegend im öffentlichen Sektor zu finden sind. Dies hängt auch damit zusammen, dass die Pflegekosten in Frankreich bisher nicht in ausreichendem Maße sozial abgesichert waren. Der Vergleich mit Deutschland ist hier aufschlussreich: die Einführung der Pflegeversicherung mit klar geregelten Finanzierungsmodalitäten hat den privaten Anbietern den Einstieg in den Pflegemarkt erheblich erleichtert. Für Frankreich ist möglicherweise mit der Reform von 2002 eine ähnliche zukünftige Entwicklung zu erwarten. In Deutschland sind seit Beginn der 1990er Jahre große Strukturveränderungen im Bereich sozialer Dienste festzustellen, die zwar hinter dem Ausmaß des Wandels in England und Wales zurückbleiben, aber wesentlich stärker waren als in Frankreich. Am größten waren diese Veränderungen im Bereich der Altenhilfe, vor allem bei den sozialen Pflegediensten. Die Einführung der Pflegeversicherung hat zu einem deutlichen Wachstum dieser Dienste und Einrichtungen geführt, insbesondere im ambulanten Bereich. Nun war es keineswegs so, daß die Pflegeversicherung damit eine historische Trendumkehr bewirkt hätte. Die stationären und die ambulanten Einrichtungen der Altenhilfe waren schon zuvor, seit den 1970er und den 1980er Jahren kontinuierlich ausgebaut worden. Allerdings wurde das Wachstum gerade im ambulanten Bereich durch die neue Versicherung beschleunigt. Auch die Öffnung für private, kommerzielle Anbieter von Pflegediensten hat zu einer Strukturveränderung geführt. Tatsächlich geht die Ausdehnung der ambulanten Pflegedienste fast ausschließlich auf das Konto dieser neuen, kommerziellen Betreiber. Insgesamt jedoch, auch im Vergleich zu England und Wales, blieben die Effekte der Pflegeversicherung moderat und haben die Strukturverhältnisse an keiner Stelle umgekehrt. Trotz der Ausdehnung der ambulanten Dienste sind die Leistungen der Pflegeversicherung ganz klar durch eine duale Struktur geprägt: auf der einen Seite die häusliche Pflege im familiären Umfeld, gefördert durch das Pflegegeld, und auf der anderen Seite die stationäre Versorgung. Dazwischen konnten sich zwar ambulante Dienste zur Unterstützung der häuslichen Pflege stärker als zuvor etablieren, stellen aber nach wie vor den geringsten Teil der Leistungen. Es ist also infolge der Pflegeversicherung nicht zu einer wirklichen Strukturverschiebung im Leistungsspektrum gekommen. Auch der Wandel in der Trägerlandschaft sozialer Pflegedienste hielt sich in Grenzen. Am auffälligsten ist die Zunahme der kommerziellen ambulanten Dienste, in abgeschwächter Form bei den stationären Einrichtungen. An keiner Stelle jedoch wurde die Dominanz der freien Träger infrage gestellt; nach wie vor stellen sie den weit überwiegenden Anteil sowohl in der stationären als auch in der ambulanten Versorgung mit Pflegedienstleistungen. Auch die Herauslösung des Pflegerisikos aus dem institutionellen Kontext der Sozialhilfe gelang nicht vollständig. Zwar wurde die Sozialhilfe als Kostenträger durch die neue Versicherung erheblich entlastet, weil zumindest die Grundleistungen aus der Versicherung finanziert werden, aber gerade im stationären Bereich bleibt die Sozialhilfe zur Deckung der tatsächlichen, die Regelleistungen der Pflegeversicherung übersteigenden Kosten, in vielen Fällen eine notwendige Ergänzung. Trotz dieser
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begrenzten Effekte sollten die Auswirkungen der Pflegeversicherung gerade aus institutioneller Perspektive aber auch nicht unterschätzt werden. Zwei einschneidende Veränderungen stehen hierbei im Vordergrund. Zum einen hat die Pflegeversicherung zum ersten Mal klar mit der bislang vorherrschenden korporatistischen Tradition in der deutschen Sozialpolitik gebrochen und die privilegierte Stellung der freien Träger aufgehoben. In diesem Sinne wurde der Markt für Pflegeleistungen weit geöffnet. Zum andern hat sie ein System der Grundversorgung für die ganze Bevölkerung geschaffen, auf dessen Leistungen aufgrund des Versichertenstatus individuelle Rechtsansprüche bestehen. Damit wurden die Pflegeleistungen aus der Logik der Sozialhilfe befreit und in ein quasi universalistisches System überführt, auch wenn als Organisationsprinzip die Versicherungslösung anstelle eines allgemeinen Leistungsgesetzes gewählt wurde. Auch im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe ist es in Deutschland seit Anfang der 1990er Jahre zu einigen größeren Veränderungen gekommen. Das 1990 reformierte Kinderund Jugendhilfegesetz, die deutsche Einheit und der durch ein Verfassungsgerichtsurteil bewirkte Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz waren wichtige Faktoren dieser Entwicklung. Im Bereich der erzieherischen Hilfen haben die offeneren, präventiv ausgerichteten Arten seit 1990 deutlich zugenommen. Beratung, sozialpädagogische Familienhilfe und Gruppenarbeit in Tageseinrichtungen ergänzen die stärker institutionalisierten und intervenierenden Hilfearten, lösen sie jedoch nicht ab. Insgesamt wächst somit das Volumen der Hilfen, es kommt aber zu keiner direkten Substitution der außerhäuslichen Erziehungshilfen durch die neuen Formen. Die größte quantitative Veränderung im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe ist der Ausbau der Kindertagesstätten für Kinder im Vorschulalter. Dies hat seit Mitte der 1990er Jahre zu einem erheblichen Anstieg der Versorgungsraten geführt. Kaum verändert hat sich jedoch die Versorgungssituation für Kinder unter drei Jahren; hierauf soll jedoch in Zukunft der Schwerpunkt liegen. Über entsprechende Maßnahmen wird nun (2004) auf politischer Ebene verhandelt. Hinsichtlich der Trägerstrukturen hat sich durch den forcierten Ausbau der Kindergartenplätze, vor allem aber durch die deutsche Einheit, eine Verschiebung zugunsten öffentlicher Einrichtungen ergeben. Trotz großer Anstrengungen konnten die freien Träger nach der Wende in den neuen Bundesländern nicht in dem Maße Fuß fassen wie im Westen. Zudem wurden neue Plätze auch im Westen überwiegend in öffentlichen, kommunalen Einrichtungen geschaffen.
Der Wohlfahrtsstaat im System sozialer Dienste Zusammenfassend betrachtet, lassen sich in allen drei Ländern deutliche quantitative Effekte der seit Mitte der 1980er Jahre durchgeführten grundlegenden institutionellen Reformen sozialer Dienste feststellen. Doch nur in England und Wales kann man in dieser Hinsicht von einem echten Strukturwandel sprechen. Hier wurden die Verhältnisse binnen kurzer Zeit geradezu umgekehrt. Die Gründe dafür liegen in der institutionellen Struktur der sozialen Dienste vor den Reformen begründet. Paradoxerweise konnte die Reform in England und Wales gerade deshalb die größten Effekte erzielen, weil das soziale Dienstleistungssystem in dem vor allem betroffenen Bereich der Altenhilfe vorher hoch entwickelt und überwiegend in öffentlicher Hand war. Dies waren entscheidende Voraussetzungen für eine schnelle Umsetzung der Reformen. Zum einen lässt sich ein Abbau sozialer Dienste und
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ihre Konzentration auf schwerere Bedarfsfälle in aller Regel leichter umsetzen als ein Ausbau. Zum andern konnte die Reform deshalb so radikal erfolgen, weil es sich dabei im Kern um eine Umgestaltung innerhalb des öffentlichen Sektors handelte. Die Gemeinden als zentrale Akteure auf diesem Feld wurden von der Zentralregierung verpflichtet, ihre Dienste aus dem öffentlichen Bereich auszulagern und auf private und freie Anbieter zu übertragen. Dies erforderte zwar einen Umbau innerhalb der öffentlichen Verwaltung, konnte jedoch gerade aufgrund der klaren zentralstaatlichen Kompetenzen zur Regelung lokaler Angelegenheiten und der primär öffentlichen Kontrolle des Feldes sozialer Dienste relativ leicht umgesetzt werden. Paradoxerweise konnten die Reformen in England und Wales, die häufig als Musterbeispiel für die Dezentralisierung und Privatisierung sozialer Dienste angeführt werden, gerade deshalb in diesem Ausmaß erfolgen, weil das System insgesamt hoch zentralisiert und verstaatlicht war und blieb. Damit sind wir beim Kern unserer Argumentation angelangt. Wenn man in den drei Ländern die durch die Reformen bewirkten institutionellen Veränderungen und die durch sie ausgelösten quantitativen Strukturveränderungen in ihrem jeweiligen sozialen Kontext betrachtet, ergibt sich eine zentrale Schlussfolgerung: der Wohlfahrtsstaat hat seine Einflusssphäre im Bereich sozialer Dienste in allen Fällen erheblich ausgedehnt und die Institutionalisierung öffentlicher Systeme stark vorangetrieben. Aus gutem Grund kann man deshalb von einer zweiten Expansion des Wohlfahrtsstaates sprechen, in einem Gebiet, das aus historischen Gründen erst spät und nie vollständig ein integraler Bestandteil des Wohlfahrtsstaates war. Die jüngsten Reformen bilden gleichsam den bisherigen Höhepunkt in der langen, historischen Entwicklung einer zunehmenden Institutionalisierung sozialer Dienste durch den Wohlfahrtsstaat. In allen drei hier betrachteten Ländern wurden die sozialen Dienste stärker als zuvor institutionell integriert und reguliert; die Beziehungen zwischen den Akteuren sowie die Austauschrelationen innerhalb des Systems wurden in höherem Maße standardisiert; ebenso wurden die externen Kontrollen erweitert. Von einem Rückzug des Staates kann in dieser Hinsicht keine Rede sein. Oberflächlich betrachtet läuft die Entwicklung jedoch scheinbar in Richtung auf eine stärkere Privatisierung und Dezentralisierung im Bereich der sozialen Dienste hinaus. Die Zahl der privaten, insbesondere kommerziellen Anbieter steigt; lokale Kompetenzen wurden gestärkt und regionale Variationen nehmen zu. Bei einer solchen Betrachtung wird jedoch übersehen, dass sich diese Veränderungen innerhalb eines primär öffentlichen, wohlfahrtsstaatlich institutionalisierten und regulierten Systems abspielen. Am deutlichsten ist dies im englischen Fall zu erkennen. Die starke Zunahme privater Anbieter ist ausschließlich auf eine wesentliche Veränderung innerhalb des öffentlichen Sektors zurückzuführen: der Trennung der Dienstleistungserbringung von anderen Funktionen. Nachfrage und Angebot werden weiterhin von den Kommunen reguliert; die privaten Anbieter arbeiten innerhalb eines öffentlich finanzierten und regulierten Systems, in dem es nicht einmal direkte Marktbeziehungen zwischen den Klienten und den Anbietern sozialer Dienste gibt. Die Privaten arbeiten im öffentlichen Auftrag; sie erfüllen eine öffentliche Funktion und erbringen eine öffentliche Dienstleistung. Dies ist weit entfernt von einer Rückverlagerung sozialer Funktionen vom Staat auf den privaten Sektor oder den Markt. Von Markt kann man nur insofern sprechen, als verschiedene Marktelemente für eine bessere Steuerung innerhalb des öffentlichen Sektors zum Einsatz kommen; keineswegs handelt es sich dabei um genuine „freie“ Märkte. Auch der deutsche Fall ist weit von Privatisierung entfernt.
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Auch hier ist die Zunahme kommerzieller Anbieter nur ein Element der stärkeren Integration des öffentlichen sozialen Dienstleistungssystems, das immer mehr durch den Staat reguliert wird. Die Pflegeversicherung reguliert Angebot, Nachfrage, Umfang und Preis sozialer Dienste viel stärker als zuvor. Auch hier agieren die privaten Anbieter als Dienstleister in einem öffentlich finanzierten und gesteuerten System. Im Unterschied zu England und Wales gibt es jedoch ein wesentliches Element einer klassischen Marktbeziehung: die Klienten können hier in gewissem Rahmen ihren Anbieter selbst auswählen; in England übernehmen die Kommunen auch diese Aufgabe. Doch wenig mehr als dieses kann tatsächlich von den direkt beteiligten Akteuren vereinbart werden; der Umfang der Leistungen wird durch die nach einer öffentlichen Begutachtung ermittelten Pflegestufen genau festgelegt, die Preise und Vergütungen für jede einzelne Leistung sind in Verträgen zwischen Anbietern und Pflegekassen detailliert geregelt. Die Klienten und die einzelnen Anbieter haben in dieser Hinsicht keinen Spielraum. In beiden Fällen, England und Deutschland, haben die Reformen somit trotz ganz unterschiedlicher Lösungen, ein stärker institutionalisiertes, öffentliches Dienstleistungssystem geschaffen, in dem nun auch private Anbieter (wie zuvor vielfach freie Träger) mehr als zuvor integriert sind. In Frankreich hat die Konzentration von Kompetenzen bei den départements ebenfalls zu einem höheren Grad an Inklusion und Institutionalisierung sozialer Dienste geführt, der aber weniger als in den beiden anderen Ländern auf standardisierten Regeln beruht, sondern mehr auf erweiterten Verfahrensmöglichkeiten. Die départements bündeln die Kompetenzen in ihrem Einflussbereich und können somit das lokale System sozialer Dienste einschließlich der freien und privaten Anbieter stärker als zuvor steuern. Dabei bieten sich ihnen verschiedene Möglichkeiten der Kooperation mit anderen Leistungsträgern. In einer Linie mit der französischen Tradition im Verhältnis von Staat und freien Assoziationen sowie privaten Trägern behält die öffentliche Hand einen großen Spielraum in der Ausgestaltung dieser Beziehungen. Deshalb wurde weder der englische Weg einer obligatorischen Verlagerung von Dienstleistungsfunktionen auf private Anbieter noch der deutsche mit seinen detaillierten und neutralen Regeln gewählt, sondern eine Lösung, die den Primat des französischen Staates erhält. Wenn schon das Argument einer zunehmenden Privatisierung sozialer Dienste in seiner klassischen Form nicht haltbar ist, scheint zumindest eine klare Tendenz zur Dezentralisierung vorzuherrschen. Doch auch hier sind Vorsicht und eine genauere Analyse des jeweiligen institutionellen Kontextes angebracht. Es stimmt zwar, dass sowohl in England und Wales als auch in Frankreich lokale Akteure von entscheidender Bedeutung im System sozialer Dienste sind. Insofern beruhen beide Systeme, gerade nach den jüngsten Reformen, eindeutig auf einer dezentralen Grundlage. Die erste kritische Anmerkung dazu wäre jedoch, dass diese Feststellung auch schon für die Zeit vor den neueren Reformen gegolten hat, mit anderen Worten: wir haben es hier nicht mit einer systemrelevanten institutionellen Veränderung zu tun, sondern mit einer Grundeigenschaft aller Systeme sozialer Dienste, die stets stark in ihrem lokalen Kontext verwurzelt sind. Vieles spricht in der Tat für eine solche Sichtweise, gerade in England und Wales, wo die Kommunen schon lange vor den Reformen die entscheidenden Akteure waren. Auch in Frankreich waren es vor allem lokal verankerte Akteure, die auf diesem Gebiet tätig waren, denn auch die in Frankreich so wichtigen Sozialversicherungskassen können in dieser Hinsicht als lokale Akteure betrachtet werden. Die starke Territorialisierung der Sozialversicherungen ist ja im internationalen Vergleich eines der herausragenden Merkmale des französischen Sozialstaats. Unter dem
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Aspekt des institutionellen Wandels betrachtet, erscheint mir deshalb nicht so sehr die Tatsache entscheidend zu sein, dass auch die erneuerten Dienstleistungssysteme primär auf lokaler Grundlage stehen, als vielmehr die stärkere Inklusion und Konzentration dieser lokalen Systeme und ihre stärkere Steuerung durch einen zentralen, öffentlichen Akteur: die Kommunen oder die départements; mit anderen Worten: ihre zunehmende Verstaatlichung. Doch ein weiterer Aspekt kommt hinzu. Er betrifft die Rolle des Wohlfahrtsstaates beziehungsweise zentralstaatlicher Institutionen. Im englischen Fall ist offensichtlich, dass auch das neue System als lokales institutionalisiert ist, die zentralstaatliche Regulierung und Kontrolle hat jedoch eindeutig zugenommen. Dies betrifft zum einen die Kontrolle der Budgets und der Mittelverwendung einschließlich der Pflicht zur Verlagerung der Dienste auf private Anbieter, zum andern aber auch neue Leistungs- und Qualitätsstandards. Im Vergleich zur Situation von vor 1990 unterliegen die Kommunen heute einer weit umfassenderen wohlfahrtsstaatlichen Regulierung und Kontrolle. Im französischen Fall ist die Entwicklung weniger offensichtlich. Die Dezentralisierung hat die Kompetenzen im Bereich sozialer Dienste sehr weitgehend von den verschiedenen staatlichen und parastaatlichen Institutionen auf die lokalen Gebietskörperschaften, die départements, übertragen. Allerdings wurden für die Pflichtaufgaben der Sozialhilfe nationale Mindestrichtlinien eingeführt. Gesundheitswesen und Sozialversicherung verblieben in zentralstaatlicher Kompetenz, ebenso wie das Bildungswesen. Somit war ein großer Bereich, innerhalb dessen in Frankreich soziale Dienste geleistet werden, von vornherein von der Dezentralisierung ausgeschlossen. Dort, wo Kompetenzen übertragen wurden, geschah dies jedoch in stärkerem Maße als in England und Wales; die zentralstaatliche Regulierung war hier auf ein Minimum beschränkt. Als jedoch immer stärker abzusehen war, dass auf diese Weise das Problem der zunehmenden Pflegebedürftigkeit nicht zu lösen sein würde, griff der Zentralstaat stärker regulierend ein. Insbesondere setzte er einheitliche Maßstäbe zur Feststellung und Bemessung der Pflegebedürftigkeit durch und begann, die Leistungen mehr zu standardisieren. Diese Entwicklung gipfelte schließlich in der Reform von 2002, die ein einheitliches System von Pflegeleistungen schuf. Interessant ist aber, dass auch zuvor schon, trotz der dezentralisierten Kompetenzen, die regionalen und lokalen Variationen relativ gering blieben (vgl. Sanchez 2000). Das ODAS (Observatoire de l’Action Sociale Décentralisée), das eigens zum Zweck der Beobachtung der Entwicklungstrends im Gefolge der Dezentralisierung gegründet worden war, berichtet jedenfalls in seinen Analysen über ein hohes Maß an Gleichförmigkeit zwischen den départements. Die Rahmenbedingungen und die staatliche Rahmengesetzgebung tendierten somit zu einer relativ großen Homogenität der Regionen. Größere Unterschiede traten vor allem in den größeren Städten auf, an welche die départements Kompetenzen übertragen konnten. Die meisten großen Städte wie Paris, Lyon, Bordeaux und andere haben für diese Option votiert und die sozialen Dienste in kommunaler Regie geführt. Dort konnten sich dann auch in stärkerem Maße lokale Traditionen durchsetzen, vor allem in der Zusammenarbeit zwischen öffentlichen Institutionen und freien Trägern der Wohlfahrt. In dieser Hinsicht sind auch regionale Unterschiede von Bedeutung, die sich historisch in Bezug auf das Verhältnis von staatlichen Instanzen und katholischen Trägern herausgebildet haben. Da dieses Verhältnis seit der Trennung von Staat und Kirche auf nationaler Ebene praktisch unbestimmt war, spielten lokale Verhältnisse eine umso größere Rolle. In den stärker katholisch geprägten Regionen Frankreichs, im Westen und Südwesten, wird somit auch im Gefolge der Dezentralisierung
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über eine engere Kooperation von Staat und Assoziationen berichtet, die zumeist aus dem katholischen Milieu stammen, während die eher kirchenfernen Regionen, insbesondere das Zentrum und der Süden, eine eingeschränktere Form der Zusammenarbeit ausbildeten (vgl. Pucci und Ralle 2001). Insgesamt gesehen führte die französische Form der Dezentralisierung hinsichtlich zentraler Elemente der Institutionalisierung sozialer Dienste weiter als die englische Variante. Dies mag mit den historisch engeren Beziehungen zwischen britischen Kommunen und Zentralstaat zusammenhängen. Der britische Staat hat die Kommunen schon immer in starkem Maße zentralstaatlich kontrolliert, jedenfalls hatte er stets das gesetzgeberische und rechtliche Potential dazu. In dieser grundsätzlichen Tradition stehen auch die jüngsten Reformen sozialer Dienste. In Frankreich dagegen hatte sich historisch ein anderes Verhältnis von Zentralstaat und Gemeinden herausgebildet. Der Zentralstaat hatte seit der Französischen Revolution die départements und die dortigen Präfekturen ja gerade als eigene Institutionen etabliert. Der Nationalstaat breitete sich somit organisatorisch quasi in der Fläche aus; die zentralstaatliche Verwaltung wurde territorialisiert. In England gab es keine vergleichbare Entwicklung. In Frankreich waren dadurch jedoch die Kommunen sozusagen abseits gestellt; der Zentralstaat beließ ihnen ihren eigenen Spielraum, umgekehrt benutzte er sie in seinen eigenen Kernbereichen aber auch nicht als Agenten zur Durchsetzung nationaler Vorgaben. Der französische Fall einer quasi unvollständigen Zentralisierung und der Aufrechterhaltung voneinander getrennter, nationaler und lokaler Sphären unterscheidet sich in dieser Hinsicht fundamental sowohl vom stark zentralisierten britischen Modell als auch vom deutschen Föderalismus mit seiner stärkeren Kompetenzverflechtung. Die im Zuge der Dezentralisierung durchgeführte Verlagerung von Kompetenzen auf die départements und deren gleichzeitige Umgestaltung zu selbständigen Gebietskörperschaften mit eigenen, gewählten Organen schuf somit die institutionelle Grundlage für eine viel weitergehende Dezentralisierung als in England und Wales. Widerspricht eine tiefergehende institutionelle Analyse schon in den zunächst scheinbar eindeutigen Fällen von Privatisierung und Dezentralisierung in England oder Frankreich den gängigen Vorstellungen, ist die Entwicklung in Deutschland noch um einiges klarer zu beurteilen. Sowohl die Pflegeversicherung als auch die Veränderungen bei den sozialen Diensten für Kinder und Jugendliche haben Umfang und Tiefe der wohlfahrtsstaatlichen Institutionalisierung in hohem Maße vorangetrieben. Am deutlichsten ist dies in der Pflegeversicherung. Hier wurde ein primär auf der lokalen Ebene organisiertes, aber bundesweit reguliertes System von Pflegeleistungen im Rahmen der Sozialhilfe durch eine einheitliche Sozialversicherung auf Bundesebene abgelöst. Darüber hinaus verloren die Kommunen weitgehend an Kompetenzen, stattdessen sind nun die Pflegekassen die zentralen Akteure vor Ort. Die Ent-Kommunalisierung der sozialen Pflegedienste war ja eines der erklärten Ziele der Reform. Die bundesweite, detaillierte Regulierung der Pflegeleistungen im Rahmen der neuen Versicherung ist ein klarer Fall von Zentralisierung nach dem klassischen Muster sozialstaatlicher Intervention. In diesem Zusammenhang muss auch die Öffnung der Pflegedienste für private Anbieter gesehen werden. Dieses Muster hat in der deutschen Sozialversicherung wie auch in anderen dadurch geprägten Ländern eine lange Tradition, vor allem im Gesundheitswesen. Tatsächlich ist wohl keine sozialstaatliche Form der Institutionalisierung in dieser Hinsicht so offen für verschiedenen Leistungsanbieter wie die nach abstrakten und neutralen Standards aufgebaute Sozialversicherung, die ja in erster Linie ein Finanzierungsinstrument ist. Die Krankenversicherung schließt seit jeher Leis-
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tungsverträge mit freien, öffentlichen und privaten Anbietern von medizinischen Leistungen ab, in der Regel nach einheitlichen Standards. Nicht mehr und nicht weniger ist nun in der Pflegeversicherung geschehen. Doch vor dem Hintergrund der Geschichte der lokalen sozialen Dienste in Deutschland, mit ihrer dualen und korporativen Struktur kommunaler und freier Träger, erscheint dies wie ein fundamentaler Strukturwandel, hebt dieses Prinzip der Neutralität doch die lange Tradition der Privilegien für die freien Wohlfahrtsverbände auf. Die Veränderungen in der Trägerlandschaft sozialer Dienste nach Einführung der Pflegeversicherung entsprechen somit der inhärenten Logik eines Sozialversicherungssystems; sie sind nicht Ausdruck klarer politischer Präferenzen wie im englischen Fall. Es fällt vor diesem Hintergrund schwer, von einer Verlagerung sozialer Dienste auf private Anbieter zu sprechen. Viel entscheidender ist jedoch auch hier wie im englischen Fall die Tatsache, dass die privaten Träger als Agenten in einem öffentlichen System agieren, also innerhalb des öffentlichen Sektors sozialer Dienste. Dies gilt heute in noch größerem Maße als vor der Reform von 1994. Existierte vorher zumindest in Teilbereichen ein tatsächlich unabhängiger privater Markt für Pflegeleistungen, etwa im stationären Sektor, sind heute praktisch alle in diesem Bereich tätigen Einrichtungen der Pflegeversicherung unterworfen, denn diese erfasst die ganze Bevölkerung und bietet in jedem Fall hoch standardisierte, nicht einkommensgeprüfte Leistungen an. Ein tatsächlich privater und von staatlicher Leistungs- und Preisregulierung freier Markt kann sich somit heute nur noch oberhalb dieser allgemeinen Grundlage öffentlicher Basisleistungen entfalten. Diese Überlegung verdeutlicht, in welchem Ausmaß hier von einer Verstaatlichung des Pflegemarktes gesprochen werden muss, keineswegs also von einer Privatisierung. Auch im Bereich der Kinderund Jugendhilfe hat der Einfluß des Wohlfahrtsstaates auf die sozialen Dienste erheblich zugenommen, und zwar in sehr direkter Form. Es soll hier nur der Bereich der Kindertagesstätten näher betrachtet werden. Das durch ein Bundesgesetz geregelte Recht auf einen Kindergartenplatz ist aus institutioneller Perspektive ein klarer Eingriff in die kommunale Selbstverwaltung und somit das Gegenteil eines Grundverständnisses von Dezentralisierung. Es ist aber auch ein eindeutiger Schritt zu einem einheitlichen staatlichen System. Indem der Staat das hoch subventionierte öffentliche System der Kinderbetreuung praktisch auf die gesamte Bevölkerung ausdehnt, schafft er ein Feld sozialer Dienste, in dem private Anbieter nur noch innerhalb des umfassenden öffentlichen Systems und seiner durch den Wohlfahrtsstaat gesetzten Regeln agieren können. Darüber hinaus ist der Zuwachs an Kindergartenplätzen seit Mitte der 1990er Jahre überwiegend in öffentlichen, kommunalen Einrichtungen erfolgt, während die Angebote der freien Träger kaum gewachsen sind. Entgegen dem Trend in anderen Feldern, wo immerhin eine Zunahme privater Träger in der direkten Dienstleistungserbringung zu beobachten ist, hat im Bereich der Kinderbetreuung der öffentliche Sektor Anteile hinzugewonnen. Der deutsche Fall liefert somit die stichhaltigste Widerlegung der These einer zunehmenden Entstaatlichung sozialer Dienste. Welche Bedeutung hat aber angesichts der empirisch doch überall feststellbaren stärkeren Mischung verschiedener Leistungsanbieter Idee und Praxis des Wohlfahrtspluralismus? Führt die Zunahme privater und freier Träger in vielen Bereichen sozialer Dienste nicht doch zu einer größeren Vielfalt und Pluralität im Angebot? Für die Beantwortung einer solchen Frage wären tiefergehende qualitative Fallstudien nötig, die aber in vergleichender Perspektive schwer zu interpretieren sind. Die Forschungen zum Wohlfahrtspluralismus haben sich in der Vergangenheit vornehmlich auf solche Felder sozialer Dienste konzent-
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riert, die noch wenig durch den Wohlfahrtsstaat reguliert sind. In meiner Arbeit habe ich mich hingegen auf die Kernbereiche sozialer Dienste konzentriert, die für die Gesamtstruktur der Dienstleistungssysteme in institutioneller wie quantitativer Hinsicht am bedeutsamsten sind. In diesen Bereichen lässt sich schwerlich ein Anstieg der Vielfalt und Pluralität sozialer Dienste erkennen. Dagegen sprechen schon einige wenige Überlegungen, die sich auf die Analyse der institutionellen Regeln stützen. Die zunehmende wohlfahrtsstaatliche Besetzung und Durchdringung der Kernbereiche sozialer Dienste war überall notwendigerweise mit einer stärkeren staatlichen Regulierung und Standardisierung von Leistungen verbunden. Am deutlichsten ist dies im Fall der deutschen Pflegeversicherung. Zwar können sich die Klienten ihren Anbieter im Rahmen der örtlichen Gegebenheiten auswählen, aber Leistungsumfang und -inhalt werden ebenso durch Standards vorgegeben wie die Vergütungssätze für einzelne Leistungen. Die Wahlfreiheit besteht im Prinzip lediglich darin, die nicht so leicht messbaren Bestandteile der sozialen Dienstleistung wie Qualität oder Vertrauen zu variieren. In dieser Hinsicht könnte der Wohlfahrtspluralismus wohl eine Rolle spielen, nicht jedoch in den harten sozialen und ökonomischen Elementen der sozialen Dienste. Doch auch die Vielfalt in diesen eher „weicheren“ Faktoren ist fraglich, zumindest scheint sie auf längere Sicht bedroht. Denn nicht nur die hoch standardisierten Leistungen und vereinheitlichten Preise stellen die Idee des Wohlfahrtspluralismus infrage, in noch stärkerem Maße wird dieser durch das vorherrschende ökonomische Konkurrenzprinzip bedroht. In einem Markt für hoch standardisierte Güter mit festgesetzten Preisen sind die Produktionskosten die entscheidende Variable in der Konkurrenz der verschiedenen Anbieter. Die „weicheren“ Faktoren geraten also vor allem aus Kostengründen unter erheblichen Druck; langfristig ist unter solchen Verhältnissen eher mit einer Angleichung statt einer zunehmenden Vielfalt und Qualitätsdifferenzierung des Angebots zu rechnen. Der durch die Pflegeversicherung geschaffene Markt für soziale Dienste stellt sich somit als ein gerade aus ökonomischer Sicht sehr eingeschränkter Markt heraus, in dem allein Kosten entscheidend sind. Es ist ein Markt nicht in erster Linie für die Konsumenten, sondern für diejenigen, die das System finanzieren, also im weitesten Sinne den Staat. Der oft zitierte Pflegemarkt ist aus dieser Sicht nichts anderes als ein Instrument der staatlichen Finanzpolitik zur Kontrolle und Senkung von Kosten; er erfüllt weder die in freien Märkten so wichtige Innovationsfunktion noch trägt er zur Produktdifferenzierung bei, im Gegenteil sorgt er für die langfristige Festschreibung einer einheitlichen Produktlinie und lässt somit kaum Spielraum für Innovation. Auch der englische Fall legt eher eine skeptische Einschätzung in bezug auf die Idee des Wohlfahrtspluralismus nahe. Zwar fehlen dort die im deutschen Fall der Pflegeversicherung bedeutsamen standardisierten Vorgaben für die Leistungserbringung weitgehend, dafür jedoch ist der Mechanismus der Kostenkonkurrenz noch viel ausgeprägter. Der Grund dafür ist, dass in England und Wales nicht die Klienten den Anbieter auswählen, sondern die Gemeinden. Diese treten somit auf dem lokalen Markt als alleinige Nachfrager nach sozialen Diensten auf. Ihr Interesse ist jedoch nicht auf Vielfalt gerichtet – wie könnten sie auch die Präferenzen all ihrer Klienten richtig einschätzen! – , sondern auf eine effiziente Allokation der Ressourcen. Kostensenkung stellt somit neben einer adäquaten Versorgung das zentrale Kriterium für die Verteilung und Vergabe sozialer Dienste an verschiedene Anbieter dar. Immerhin können die Gemeinden im Rahmen des individuellen case management (siehe dazu Kapitel 3) unterschiedliche Akzente setzen und somit zu einer am Einzelfall orientierten „Vielfalt“ sozialer Dienste beitragen. Damit sind aber wohl
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in der Regel weniger alternative Methoden und Ansätze verbunden, sondern es geht zumeist um die Bemessung des im Einzelfall notwenigen Umfangs von Dienstleistungen. Nicht die Art der Dienste variiert somit, sondern in erster Linie der individuelle Umfang und mögliche Kombinationen von ambulanten und stationären Hilfearten. Auch in diesem Fall ist also sehr fraglich, ob die institutionellen Bedingungen es erlauben, ein aus Sicht der Klienten wünschenswertes Maß an Vielfalt und Pluralismus in der Dienstleistungsversorgung auf Dauer zu gewährleisten. Der französische Fall der aide sociale ist hier ebenfalls instruktiv. Die Dezentralisierung hätte zwar theoretisch zu einer größeren Vielfalt in der Dienstleistungsversorgung führen können, weil zentralstaatliche Standards zunächst nur in Ansätzen vorhanden waren, aber die Entwicklung lief in der Praxis eher auf eine Ausdünnung der Hilfen und deren Konzentration auf schwerere Bedarfsfälle hinaus. Auch hier liegt die Ursache dafür in erster Linie im alles überformenden Ziel der Kostenbegrenzung begründet, das angesichts steigender Ansprüche und knapper Mittel vorherrschte. Auch in Frankreich gerieten die freien Träger aus diesem Grund unter wachsenden staatlichen Druck, Kosten zu reduzieren. In einem weitgehend von öffentlichen Akteuren bestimmten System wie dem französischen konnte dieser Druck zum Teil noch stärker wirken als in dem in dieser Hinsicht zumindest durch die Regelstandards „gebremsten“ und moderierten deutschen System der Pflegeversicherung. Ähnlich wie das englische System entfaltet das französische potentiell einen höheren Druck vonseiten öffentlicher Instanzen auf die privaten und freien Anbieter sozialer Dienste. In England und Wales geschieht dies in der Regel durch die kommunale Monopolisierung der Nachfragemacht, in Frankreich durch die beherrschende politische Stellung der départements und ihre hoch entwickelte Koordinationsfunktion. Sofern sich in den drei Ländern in den hier betrachteten Kernbereichen sozialer Dienste die Idee des Wohlfahrtspluralismus überhaupt halten kann, nachdem die jüngsten Reformen einen neuen, starken Institutionalisierungsschub ausgelöst haben, ist dies am ehesten auf historisch gewachsene lokale Traditionen und eine historisch bedingte enge Kooperation zwischen öffentlichen und freien Trägern zurückzuführen. Dies hat sich in Frankreich in bestimmten Regionen und in manchen Fällen auch in England und Deutschland erwiesen. In Landesteilen mit einer starken assoziativen Tradition wie in Süd- und Westdeutschland können diese Kooperationsformen in der Praxis weiterhin funktionieren. Dabei handelt es sich aber in allen drei Ländern eher um Überbleibsel aus der alten institutionellen Verfassung sozialer Dienste, der Zeit vor den grundlegenden Reformen der 1990er Jahre. Der Befund scheint somit eindeutig: sofern es in den Kernbereichen sozialer Dienste noch Wohlfahrtspluralismus gibt, sind dies eher die Restbestände aus einer langen historischen Tradition, die durch die neueren Reformen gerade ausgelöscht zu werden drohen. Die Reformen ihrerseits, die ohne Zweifel den Wohlfahrtsstaat überall gestärkt haben, zielen eher auf eine Auflösung dieser alten pluralen Restbestände und auf deren vollständige Integration in ein einheitliches, durch den Wohlfahrtsstaat gesteuertes System sozialer Dienste. Hierin zeigt sich eine alte Stoßrichtung wohlfahrtsstaatlicher Intervention, die in den Reformen zu einem neuen Höhepunkt gelangt ist: die Auflösung autonomer Handlungsbereiche auf lokaler Ebene und im assoziativen Sektor. An dieser Stelle habe ich mich auf die sozialen Dienste für ältere Menschen konzentriert, weil in diesem Bereich die weitreichendsten Reformen durchgeführt wurden. Aber auch in der Kinder- und Jugendhilfe lassen sich die hier genannten Entwicklungen aufzeigen. Der Wohlfahrtsstaat hat in den letzten Jahren gerade auch diesen Bereich mit höherer
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Standardisierung und Regulierung überzogen. Allerdings ist die Kinder- und Jugendhilfe in allen drei Ländern historisch in viel stärkerem Maße durch eine Vielfalt von Trägern und Dienstleistungsformen geprägt als die Altenhilfe. Methodenpluralismus und Vielfalt der Leistungen und Angebote sind für diesen Bereich geradezu konstitutiv. Es ist daher anzunehmen, dass die wohlfahrtsstaatliche Regulierung hier andere Wege einschlägt und auch die Ergebnisse andere sein werden als in anderen Bereichen sozialer Dienste. Eine Ausnahme sind vielleicht die Kindertagesstätten, die sich in stärkerem Maße als die eher einzelfall- und auf individuelle Problemlagen bezogenen Hilfearten für eine wohlfahrtsstaatliche Regulierung und Standardisierung eignen. Dies lässt sich auch tatsächlich in allen drei Ländern nachweisen. In England und Wales wurden in den letzten Jahren zahlreiche neue, kostenlose Teilzeitbetreuungsplätze für drei- und vierjährige Kinder in vorschulischen Einrichtungen geschaffen, mit dem Ziel einer Vollversorgung bis zum Jahr 2004. Die wöchentliche Stundenzahl, die Art der Betreuung und deren Dauer innerhalb eines Jahres sind normiert. Darüber hinaus zielt die angestrebte Vollversorgung auf ein einheitliches Vorschulsystem für die ganze Bevölkerung, wenngleich bislang nur auf Teilzeitbasis. Je stärker der Staat solche Garantien ausspricht, desto mehr muss er auch für eine Standardisierung des Angebots sorgen, um eine möglichst einheitliche Versorgung sicherzustellen. Mehr Inklusion zieht somit einen höheren Grad an Institutionalisierung nach sich. Ebenso wichtig ist jedoch die Auswirkung einer solchen Politik auf das gesamte Feld ähnlich gelagerter Dienste und Einrichtungen: der Staat schafft durch sein hoch subventioniertes, in diesem Falle sogar kostenloses Angebot, ein Mindestniveau an Versorgung, das zum Maßstab für alle anderen Anbieter wird; alle anderen Dienste werden somit entweder Teil dieses Grundsystems oder sie schaffen darauf aufbauende, zusätzliche Angebote, die ihren genuin eigenständigen Charakter verlieren. In dieser Hinsicht ist die neue Politik in England und Wales vielleicht noch bedeutsamer als sich allein an den Zahlen der direkt durch den Staat zur Verfügung gestellten Plätze ablesen lässt, denn dadurch werden die Parameter der sozialen Dienste für Kinder insgesamt entscheidend verändert, und das in einem System, das seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs durch eine ausgeprägte Dualität gekennzeichnet war: auf der einen Seite die wenigen, ausschließlich für sozial bedürftige Familien und Kinder zugänglichen, öffentlichen Einrichtungen, auf der anderen Seite die privaten Tagesstätten für die Kinder der Mittelschichten, mit zumeist sehr hohen Gebühren. Die neue Vorschulpolitik hat diesen Dualismus nun de facto aufgehoben und das System somit insgesamt integriert und durch eine staatlich garantierte Grundversorgung ersetzt. In Deutschland ist der Fall etwas anders gelagert; das System war schon vorher in hohem Maße integriert. Freie Träger und Kommunen sicherten gemeinsam ein im internationalen Vergleich mittleres Maß an Versorgung für Kinder zwischen drei und fünf Jahren. Die seit 1999 vollständig umgesetzte staatliche Garantie auf einen Kindergartenplatz hat deswegen aus institutioneller Sicht nichts grundsätzliches an diesem System verändert, wohl aber dessen Inklusionsgrad beträchtlich erhöht. Hinzu kommt, dass im Mittelpunkt dieser Politik das quantitative Versorgungsniveau stand, nicht jedoch die pädagogische Zielsetzung der Einrichtungen. In dem Maße, in dem die sozialpädagogischen Elemente und Ziele der vorschulischen Erziehung gegenüber den rein zeitlich definierten Betreuungsaspekten an Gewicht verlieren, werden auch Fragen nach unterschiedlichen Ansätzen und Methoden weniger wichtig. Damit verliert die Idee des Wohlfahrtspluralismus an Bedeutung. In der jetzigen Situation wird kaum über diese Fragen diskutiert; das quantitative Versorgungsniveau beherrscht die öffentliche
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Debatte vollkommen. Die Gefahr dabei ist, dass die Ausdehnung des Versorgungsniveaus auf Kosten der Qualität geht. Tatsächlich wurde das Platzangebot häufig „statistisch“ erhöht, ohne zugleich die Kapazitäten wirklich zu erweitern oder gar das Angebot strukturell zu verbessern. Gerade bei einem hohen Grad an Inklusion wäre jedoch eine Strukturdebatte angebracht. Besonders deutlich wird dies an dem Problem der Integration von Kindern aus Migrantenfamilien in die vorschulischen Einrichtungen, die bisher eher mangelhaft war, für das Erlernen der deutschen Sprache jedoch unverzichtbar erscheint. An diesem Problemfeld zeigt sich deutlich, dass die Fragen von Quantität und Qualität letztlich nicht voneinander getrennt werden können. Genau dies ist jedoch die Achillesferse der Dienstleistungspolitik des Wohlfahrtsstaates: die Ausdehnung der wohlfahrtsstaatlichen Erfassung und Kontrolle sozialer Dienste kann die Pluralität und Vielfalt der Angebote, die aus Sicht der Klienten dringend notwendig ist, auf Dauer bedrohen, wenn es nicht zugleich eine zielgerichtete Politik und Steuerung zugunsten von Qualitätssicherung und sozialer Innovation gibt. Auch in diesem Bereich hat jedoch die wohlfahrtsstaatliche Aktivität in jüngster Zeit zugenommen, vor allem in der Sicherung der Pflegequalität, die sowohl in England und Wales als auch in Frankreich Gegenstand jüngster Reformen war. Notgedrungen erweitert der Wohlfahrtsstaat damit sein Handlungsfeld auf diese Dimensionen der Dienstleistungsversorgung. In allen drei Ländern lässt sich somit eine starke Ausdehnung wohlfahrtsstaatlicher Regulierung und Steuerung sozialer Dienste feststellen. Es gibt klare Tendenzen einer Ausdehnung und Verstärkung wohlfahrtsstaatlicher Aktivität in diesem Bereich. Der Institutionalisierungsgrad sozialer Dienste ist durch die jüngsten Reformen in allen drei Ländern gestiegen, auch wenn die konkreten, historisch gewachsenen Formen sich nach wie vor voneinander unterscheiden. Nirgendwo jedoch hat sich der Staat aus diesem Feld zurückgezogen, im Gegenteil wird die quantitative Expansion sozialer Dienste zunehmend auch durch eine Ausdehnung der Regelungsdichte sozialer Dienste begleitet. Die Expansion des Wohlfahrtsstaates scheint zumindest in institutioneller Hinsicht ungebrochen, ja sogar in jüngster Zeit verstärkt. Die 1990er Jahre bilden in dieser Hinsicht nach den 1970er Jahren das wohl bedeutendste Jahrzehnt in der Entwicklung und Institutionalisierung der sozialen Dienste. In den 1970er Jahren wurden die Grundlagen für ein bislang beispielloses quantitatives Wachstum gelegt, das sich in den 1980er Jahren zumeist etwas abschwächte. Anfang der 1990er Jahre wurden die Systeme sodann institutionell stark verändert, in Frankreich schon 1984 mit den Reformen der Dezentralisierung. Das vorherrschende Ziel dieser Reformen war nicht mehr die quantitative Ausdehnung, sondern vielmehr die soziale Kontrolle der Systeme. Begrenzung und Kontrolle des Wachstums, eine effizientere und problemadäquate Verteilung der Ressourcen und die Sicherung eines Mindestniveaus an Versorgungsqualität rückten in den Mittelpunkt der staatlichen Politik. Zu diesem Zweck wurden die sozialen Dienstleistungssysteme in stärkerem Maße wohlfahrtsstaatlich normiert, reguliert und gesteuert. Doch wie lassen sich die Unterschiede in den Reformstrategien zwischen den Ländern erklären? Weshalb kam es in England und Wales im Bereich der sozialen Dienste zu einer auf den Kommunen aufbauenden Lösung, in Frankreich zu einer Stärkung der départements und in Deutschland zu einer institutionellen Neuordnung der Pflege im Rahmen einer Sozialversicherung? Der erklärende Verweis auf unterschiedliche nationale Traditionen und historisch gewachsene institutionelle Erbschaften genügt meines Erachtens nicht für eine Erklärung dieser Unterschiede, denn er übersieht die zahlreichen innovativen Elemente in
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den Reformen. Der Mix aus institutioneller Kontinuität und Innovation, der sich in den Reformen der sozialen Dienste in den drei Ländern niedergeschlagen hat, muß auf andere Weise erklärt werden. Die Reformen ergeben dann ein in sich stimmiges Muster aus Kontinuität und Innovation, wenn man die länderspezifischen Beziehungen zwischen den Akteuren in den Mittelpunkt der Erklärung stellt. In allen Ländern war es das Ziel der wohlfahrtsstaatlichen Reformen, die soziale Kontrolle der sozialen Dienste zu verstärken. Zu diesem Zweck mußten die Beziehungen zwischen den auf diesem Gebiet tätigen Akteuren, insbesondere auf der Angebotsseite, neu geordnet werden. Die Machtverhältnisse in den bestehenden Systemen mussten zu diesem Zweck verändert, Kontrollbarrieren mussten aufgebrochen werden. In England und Wales konnte eine erfolgversprechende Strategie der sozialen Kontrolle nur auf den Kommunen aufbauen. Eine andere Lösung schied aufgrund der dortigen institutionellen Verhältnisse von vornherein aus. Weder konnte die Regierung auf den disparaten und hoch fragmentierten Sektor der freien Wohlfahrt bauen, noch bot sich eine Lösung im Rahmen eines Versicherungssystems an, weil der Nationale Gesundheitsdienst ebenfalls nicht nach diesem Muster aufgebaut war. Die Kommunen mussten auch aus dem Grund zum Angelpunkt der Reformen werden, weil sie den bei weitem größten Teil der sozialen Dienste in eigener Regie erbrachten. Das neue System setzte somit die Kommunen als die zentralen, koordinierenden Akteure der örtlichen Dienstleistungsversorgung ein, schrieb ihnen aber zugleich die aus Sicht der wohlfahrtsstaatlichen Steuerung entscheidenden Handlungsparameter vor: die Budgetierung, die öffentliche Ausschreibung, die Verlagerung der Dienstleistungserbringung vom öffentlichen Bereich auf private und freie Anbieter, die Kostenkontrolle, das individuelle Fall-Management und die Einführung von Marktelementen zur Steuerung der Abläufe innerhalb des öffentlichen Dienstleistungssystems. Die interne Struktur der öffentlichen sozialen Dienste und die Funktionsweise des Systems wurden dadurch erheblich verändert. In diesem Zusammenhang ist auch die Akzentverschiebung innerhalb der öffentlichen Dienste von der Dienstleistungserbringung zu Management- und Kontrollfunktionen von großer Bedeutung. Darin kann durchaus ein Instrument der sozialen Kontrolle der Dienstleistungsprofessionen gesehen werden, die aufgrund ihrer Sonderstellung in der öffentlichen Verwaltung einen hohen Grad an Autonomie besaßen. Die Reformen haben diese Stellung in erheblichem Maße abgebaut und zugleich die Steuerungsfunktionen aufgewertet; diese wurden außerdem enger mit den externen Kontrollfunktionen verbunden. Somit wurde die wohlfahrtsstaatliche Kontrollund Steuerungsfunktion quasi in die kommunalen Sozialbehörden, ihren organisatorischen Aufbau und ihre Funktionsweise, hinein getragen. Ein weiterer Effekt der Reformen war eine engere Einbindung des bisher eher autonomen Sektors der freien Träger, die nun zunehmend als Agenten im öffentlichen Auftrag fungierten. Das englische System sozialer Dienste wurde somit in jeder Hinsicht mithilfe der Kommunen einer stärkeren sozialen Kontrolle unterworfen. Die zuvor von den verschiedenen Akteuren gehaltenen, eigenständigen Machtpositionen wurden geschwächt. Dies gilt für die Autonomie der Kommunen selbst, für die in ihnen tätigen Dienstleistungsprofessionen, den freien Wohlfahrtssektor, aber auch die privaten, kommerziellen Anbieter von Dienstleistungen. Konnten sich diese vor den Reformen noch weitgehend aus den staatlichen Sozialversicherungen bedienen, um die Kapazitäten im stationären Altenhilfesektor auszudehnen, unterliegen sie seitdem dem Marktregime der Kommunen, die vor Ort als Nachfragemonopol auftreten und sämtliche öffentliche Funktionen einschließlich der Finanzierung sozialer Dienste unter ihrem Dach
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vereinen. Gerade in der durch die neueren Reformen verstärkten Einbindung und Kontrolle des privaten Sektors ins öffentliche System wird deutlich, wie weit dieses von einer Privatisierung entfernt ist. Auch in Frankreich ging es bei den Reformen nicht zuletzt darum, für eine stärkere Integration und damit Steuerbarkeit des Systems sozialer Dienste zu sorgen, indem der Grad an Autonomie für die verschiedenen Akteure gemindert wurde. Die für den französischen Wohlfahrtsstaat typische, enge Verflechtung von Akteuren innerhalb bestimmter Sektoren und deren gleichzeitige Abschottung gegenüber anderen funktionalen Bereichen hatte zu einem hoch fragmentierten Sozialsystem geführt, das durch einen Mangel an Integration und Steuerbarkeit gekennzeichnet war. Einen Ausweg aus diesem Dilemma, das aus der selektiven Intervention des Zentralstaates in verschiedene Bereiche des Sozialwesens entstanden war, bot eine weitgehende Dezentralisierung bei gleichzeitiger Integration verschiedener Aufgabenfelder. Die Reform der Dezentralisierung übertrug den départements deshalb die Zuständigkeit für die meisten sozialen Dienste. Zugleich wurde jedoch, und dies ist womöglich der bedeutsamere Schritt, die interne Struktur der départements entscheidend verändert. Stellten diese bis 1984 im wesentlichen einen dezentralisierten Teil der staatlichen Zentralgewalt dar, mit dem Präfekten als örtlichem Vertreter der Regierungszentrale an der Spitze, schuf die Dezentralisierung daraus eigenständige politische Einheiten mit direkt gewählten Organen, mit dem conseil général und dessen gewähltem Vorsitzenden an der Spitze. Seitdem teilen sich Präfekt und Rat, vertreten durch den Vorsitzenden, die Herrschaftsfunktionen im Territorium des départements. Das Schwergewicht der operativen Funktionen, insbesondere im Bereich der sozialen Dienste, liegt dabei eindeutig bei den gewählten Organen. Der Präfekt übt im wesentlichen nur noch eine allgemeine ex post Kontrollfunktion aus. Die Verwaltung selbst wurde zwischen Präfektur und conseil général aufgeteilt, der Status der fonctionnaires wurde entsprechend verändert. Mußten zuvor die meisten Verwaltungsakte auf lokaler Ebene durch den Präfekten im Vorfeld genehmigt werden, beschränkt sich seine Rolle heute auf die nachträgliche Kontrolle und die Möglichkeit des Einspruchs. Damit wurden die Machtverhältnisse in den départements grundlegend umgestaltet. Verbunden mit der durch die Reform eingeführten Wahl des conseil général durch die Bevölkerung wurde somit eine klare politische Verantwortung und Kontrolle auf lokaler Ebene etabliert. Die neuen Organe erhielten weitgehende Kompetenzen zur Steuerung der örtlichen sozialen Dienste, in Kooperation mit den freien Trägern und den Kommunen, die jedoch mit Ausnahme der großen Städte keine eigenständige Rolle spielen. Auch im französischen Fall war dies die naheliegendste Lösung für die Aufgabe einer verstärkten sozialen Kontrolle des Dienstleistungssystems. Alternative Lösungen waren in der Tat schwer vorstellbar. Die Kommunen konnten diese Aufgabe aufgrund ihrer ungeeigneten Struktur nicht erfüllen; in Frankreich gibt es noch heute eine Vielzahl kleiner und kleinster Gemeinden, die eine Steuerung sozialer Dienste nicht hätten übernehmen können. Die große Masse der Kommunen hatte für eine solche Aufgabe weder die erforderliche Größe noch einen entsprechenden Verwaltungsapparat. Eine andere Alternative, eine stärkere Verlagerung von Kompetenzen auf freie Träger, schied aus verschiedenen Gründen aus. Zunächst war es undenkbar, dass öffentliche Funktionen wie Kontrolle und Steuerung auch nur zum Teil auf diese übertragen werden konnten; dies schloss das französische Staatsverständnis von vornherein aus. Die rechtliche und finanzielle Stellung des freien Wohlfahrtssektors war in Frankreich deutlich schwächer als in Deutschland und
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wurde durch die Reformen auch kaum berührt. Allerdings sollten die départements verstärkt mit freien Trägern zusammenarbeiten, ohne jedoch den prinzipiellen Vorrang öffentlicher Institutionen infrage zu stellen. Im Gegenteil wurde deren Position durch das Element der Wahl und die damit verbundene politische Kontrolle wesentlich gestärkt. Damit war ein weiterer wichtiger Aspekt der Reformen der Dezentralisierung verbunden: eine Auflösung der teilweise engen bürokratisch-korporatistischen Verflechtungen im französischen Sozialstaat und deren Ersetzung oder zumindest Überformung durch klare politische Verantwortlichkeiten. Es wurde somit einem stark fragmentierten, bürokratischen Apparat eine politische Kontrolle übergestülpt, um das System insgesamt effektiver zu gestalten. Auch im französischen Fall wurden somit durch die Reformen alte, gewachsene Machtpositionen abgebaut und neue Formen einer stärker integrierten Steuerung und Kontrolle des Systems sozialer Dienste geschaffen. Der Weg, der dabei eingeschlagen wurde, unterschied sich vom englischen Muster, weil sich die Beziehungen zwischen den Akteuren ganz anders entwickelt hatten und deshalb auf andere Weise umgestaltet werden mussten. In Deutschland führte die Pflegereform ebenfalls zu veränderten Beziehungen zwischen den Akteuren. Während es in Frankreich vor allem darauf ankam, das fragmentierte bürokratische System einer stärkeren territorialen und politischen Kontrolle zu unterwerfen, war die wichtigste Aufgabe in Deutschland, die verkrusteten Strukturen des korporativen Wohlfahrtssystems aufzubrechen und die Macht der freien Verbände einzuschränken. Ähnlich wie das französische System der selektiven zentralstaatlichen Intervention in den Sozialbereich hatte sich das deutsche Pendant mit seiner dualen, korporativen Struktur in einer langen historischen Entwicklung herausgebildet. Um es zu durchbrechen, mussten deshalb die Beziehungen zwischen den Akteuren auf eine neue Grundlage gestellt werden. Die korporative Verflechtung von Kommunen und freien Trägern konnte nur durch eine stärkere wohlfahrtsstaatliche Intervention und Regulierung ein Stück weit entzerrt werden. Genau dies geschah im Zuge der Pflegereform: die Kommunen spielen im neuen System keine zentrale Rolle mehr und die freien Träger müssen sich einer wachsenden Konkurrenz durch private Anbieter stellen. Das historisch gewachsene, deutsche System des Wohlfahrtskorporatismus wurde dadurch ein Stück weit aufgebrochen. Die Öffnung der sozialen Dienstleistungsmärkte für private Anbieter, die hohe Standardisierung von Leistungen und die Steuerung des Angebots durch die Pflegekassen anstelle der Kommunen haben die Macht der traditionellen Leistungsanbieter im deutschen System sozialer Dienste erheblich geschwächt. Aus einem klassischen Anbietermarkt, in dem die Dienstleistungserbringer selbst die wesentlichen Parameter des Angebots steuerten und dabei zudem aufgrund des Prinzips der Kostendeckung ohne große finanzielle Risiken operieren konnten, wurde ein von der Finanzierungsseite her gesteuerter Markt. Das Prinzip der Kostendeckung wurde durch ein pauschales Vergütungssystem und eine globale Budgetierung abgelöst; das Angebot wird nun im wesentlichen durch die Pflegekassen gesteuert, die entsprechende Leistungsverträge mit verschiedenen Anbietern abschließen. Man kann diese entscheidenden institutionellen Veränderungen nun nicht einfach als eine zunehmende Vermarktung des Dienstleistungsangebots begreifen. Wie bereits oben dargelegt, fehlen zentrale Elemente eines klassischen Marktes auch im neuen System. Was vielmehr geschehen ist, ist eine Neuordnung in den Steuerungsmechanismen und in den Beziehungen zwischen den im Markt befindlichen Akteuren. Dadurch wurde auch dessen Funktionsweise entscheidend verändert. Ein klassischer Markt würde Angebot und Nachfrage durch flexible Preise zum Ausgleich bringen.
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Hinzu käme eine Produktdifferenzierung. Beide Elemente fehlen gerade im neuen System. Zwar können sich die Nachfrager (Klienten) ihren Anbieter auswählen, die Leistungen selbst und ihr Preis sind jedoch weitgehend fixiert. Nicht die Konsumenten haben also die entscheidende Macht, aber auch nicht mehr die Produzenten wie im alten System, sondern die Finanziers der Leistungen, die Pflegekassen und somit letztlich der Wohlfahrtsstaat. Durch die Pflegeversicherung wurde genau dasselbe Grundprinzip verwirklicht wie in den Reformen innerhalb des öffentlichen Sektors in England und Wales: eine Trennung der Finanzierungs- und Kontrollfunktionen von der Funktion der Dienstleistungserbringung innerhalb des öffentlichen Systems. Die im Zuge dieser Reformen eingeführten Marktmechanismen dienen somit vor allem einem Zweck: einer verstärkten Kontrolle des Systems der sozialen Dienste durch den Wohlfahrtsstaat. Dieses Argument wird noch stärker untermauert, wenn man den Blick auf die andere Seite des Marktgeschehens richtet, auf die Klienten und Konsumenten der sozialen Dienste. Da diese in der Regel nicht selbst für die Dienste bezahlen, oder jedenfalls nur einen kleineren Eigenbeitrag, ist ihre Rolle als Konsumenten von vornherein eingeschränkt. Auch aus diesem Grund ist der Begriff des Klienten besser geeignet, der zumeist aufgrund der Hilfsbedürftigkeit der Betroffenen verwendet wird. Dies ist jedoch nicht in allen Bereichen und bei allen sozialen Diensten per se der Fall. Hilfsbedürftig zu sein bedeutet nicht, dass dadurch auch automatisch die persönliche Entscheidungsfähigkeit reduziert wäre. Zwar gibt es zahlreiche Dienste mit mehr oder weniger gewichtigen Komponenten des Zwangs und der sozialen Kontrolle, etwa in der Jugendhilfe, bei denen die Wahlfreiheit der Klienten von vornherein stark eingeschränkt ist. Doch der Großteil der hier untersuchten sozialen Dienste gehört ohne Zweifel nicht in diese Kategorie, sondern ist vielmehr Teil einer öffentlichen Infrastrukturleistung. Deshalb ist es nicht primär der Status eines hilfsbedürftigen Unterstützungsempfängers, der den Begriff des Klienten sozialer Dienste als angemessener erscheinen lässt als denjenigen eines Konsumenten, sondern die Tatsache, dass der Klient in den meisten Fällen nicht zugleich derjenige ist, der die Dienste finanziert. Dadurch wird die Marktbeziehung von Anfang an nicht durch zwei, wie sonst üblich, sondern durch drei Akteure geprägt: Produzent, Konsument und Finanzier. In solchen dreigeteilten Märkten treten vielfältige externe Effekte auf. Überläßt man beispielsweise Produzenten und Konsumenten das Marktgeschehen, steigen die Dienste tendenziell ins Unendliche, weil es keine prinzipielle Grenze für den Dienstleistungsbedarf eines Individuums oder einer Gesellschaft gibt. Vereint man die Rolle des Produzenten mit derjenigen des Finanziers, was in vielen Bereichen sozialer Dienste ja traditionellerweise häufig der Fall war, besteht die Gefahr eines ausschließlich durch Anbieterinteressen geprägten Marktes mit geringer Konsumentenmacht und wenig Effektivität und Effizienz in der Dienstleistungsversorgung. Stattet man hingegen die Konsumenten mit zuviel Macht aus, besteht ebenfalls die Gefahr einer unaufhörlichen Ausdehnung der Nachfrage und des dadurch hervorgerufenen Angebots. Die Reformen in allen drei Ländern haben nun, wenngleich aufgrund unterschiedlicher, historisch gewachsener institutioneller Gegebenheiten, sowohl die Produzenten- als auch die Konsumentenmacht zugunsten der Position der Finanziers eingeschränkt. In England und Wales ist dies am offensichtlichsten. Die Klienten haben keinen Anspruch auf bestimmte Leistungen, vielmehr legen die Kommunen innerhalb des vorgegebenen Budgets fest, wie die Mittel verteilt werden. Sie haben die Allokationsmacht; sie bündeln die individuellen Nachfragen und treten gegenüber den Anbietern als örtliches Monopson auf. Nicht
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die Konsumenten, sondern die Kommunen steuern das System; diese sind jedoch nicht mehr primär Dienstleistungserbringer, sondern finanzieren private Anbieter in einem durch ein globales Budget begrenzten Verfahren der Auftragsvergabe. Damit ist ein wirkungsvolles Instrument der sozialen Kontrolle geschaffen worden, das zugleich die Verantwortung für die Durchführung der sozialen Dienste und die Allokation der Mittel auf die lokalen Sozialbehörden überträgt. Der Wohlfahrtsstaat hat dadurch die soziale Kontrolle sozialer Dienste wirksam institutionalisiert und ihren tendenziellen Anstieg gebremst, ohne jedoch selbst direkt in das Geschehen eingebunden zu sein. Auf dieselbe Weise wurde in Deutschland durch die Pflegeversicherung ein System der sozialen Kontrolle errichtet, in dem die Pflegekassen eine zentrale Steuerungsfunktion übernehmen. Im Unterschied zu England und Wales hat die Pflegversicherung jedoch individuelle Rechtsansprüche auf Leistungen für die Klienten geschaffen. Zugleich sind diese aber hoch standardisiert und decken in vielen Fällen nicht den tatsächlichen Bedarf. Das Verfahren der Bewertung der Pflegebedürftigkeit, die Schaffung dreier unterschiedlicher Pflegestufen, die obere Begrenzung der Leistungen und die in Vereinbarungen zwischen Anbieterseite und Pflegekassen kollektiv festgesetzten pauschalen Preise (Leistungsvergütungen) halten das System innerhalb eines engen Kostenrahmens, können jedoch das grundsätzliche Problem des durch den demographischen Wandel verursachten Kostenanstiegs nicht lösen. Aus diesem Grund gerät die Pflegeversicherung zunehmend in die Kritik. Obwohl ihre Leistungen seit nunmehr fast zehn Jahren nicht erhöht wurden und somit real an Wert verloren haben, steigen die Kosten ungebremst an. Das prekäre Gleichgewicht zwischen Kostenkontrolle und größtmöglicher individueller Leistungssicherheit für die Klienten, das die Reform herzustellen versucht hatte, gerät zunehmend in Gefahr. In dieser Hinsicht ist das deutsche System erheblich weniger anpassungsfähig als das englische Pendant: die starren Regeln und Stufen, die kollektiv festgelegten Leistungen und Preise und die hohe Standardisierung verhindern das notwendige Ausmaß an Flexibilität, das in England und Wales durch das Zusammenwirken von globaler Budgetierung und individuellem Fallmanagement gewährleistet ist. Aus diesem Grund wird in Deutschland kaum zehn Jahre nach dieser ohne Zweifel grundlegenden Reform des Systems der sozialen Dienste schon wieder über eine neue Reform debattiert. In Frankreich wurden die Ansprüche der Klienten zunächst wohl am stärksten beschränkt. Deswegen hatte die Dezentralisierung der aide sociale aufgrund des Fehlens nationaler Standards zu einem deutlichen Rückgang der Empfängerzahlen geführt. Die Rolle der départements wurde so weit gestärkt, dass weder die freien Anbieter noch die Klienten eine wirksame Gegenmacht bilden konnten. Im Kontext einer Krise der Staatseinnahmen musste das System somit in Richtung auf eine Reduktion der Leistungen wirken. Auch die späteren Versuche zur Einführung einer pauschalen Geldleistung für pflegebedürftige Personen (die PSD im Jahr 1997) führten zu keiner befriedigenden Lösung des wachsenden Problems der Pflegebedürftigkeit. Die soziale Infrastruktur an Diensten und Einrichtungen blieb zwar erhalten und wurde sogar teilweise ausgebaut, aber die soziale Unterstützung im Falle der Pflegebedürftigkeit blieb bis zum Jahr 2002, der Einführung der APA, eng begrenzt. Die Dezentralisierung hatte somit ein System geschaffen, in dem die Machtposition eines Akteurs zu stark war; die individuelle Nachfrage konnte sich nicht wirksam artikulieren, ebenso konnten sich die freien Träger nicht gegen die auf Kostenbegrenzung setzenden Sozialbehörden der départements durchsetzen. Die Folge war eine zunehmende Belastung der privaten Budgets und der Unterstützungsleistungen durch Familienangehörige. Auch entwi-
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ckelte sich ein grauer Markt für private Pflegeleistungen im häuslichen Bereich. Die soziale Kontrolle war zu einseitig ausgerichtet worden und konnte kein Gleichgewicht von Kostenkontrolle und effektiver Versorgung herstellen. Ob die Reform von 2002 eine wesentliche Veränderung in dieser Hinsicht mit sich bringt, bleibt abzuwarten. Aus diesen Überlegungen und Befunden wird deutlich, weshalb und worin sich die Wege, welche die drei Länder in ihren institutionellen Reformen eingeschlagen haben, voneinander unterscheiden. In allen drei Ländern war es das Ziel, die soziale Kontrolle der sozialen Dienstleistungssysteme zu stärken. Dabei sollte überall die Position des Finanziers gegenüber Produzenten und Konsumenten gestärkt werden. In jedem Land mussten jedoch zu diesem Zweck unterschiedliche Machtpositionen geschwächt werden. In England und Wales wurde die Autonomie der kommunalen Sozialdienste von außen und von innen eingeschränkt: von außen durch Budgetkontrolle und Vorschriften zur Auftragsvergabe an private Anbieter; von innen durch die Trennung von Kontroll- und Dienstleistungsfunktionen und die Stärkung der Manager gegenüber den sozialen Professionen. In Frankreich wurden die vielfältigen Blockaden innerhalb eines hoch fragmentierten und zum Teil überzentralisierten öffentlichen Sektors zugunsten einer territorialen und funktionalen Integration der öffentlichen sozialen Dienste auf der Ebene der départements durchbrochen. Die Position der freien Träger wurde dadurch nur mittelbar berührt. In Deutschland durchbrach die Pflegeversicherung eine wichtige Bastion des korporatistischen Systems der Verbändewohlfahrt und entmachtete somit die beiden für die Aufrechterhaltung dieses Systems zentralen Akteure: die Kommunen und die freien Träger der Wohlfahrtspflege. Doch nicht nur die Anbieterseite wurde einer stärkeren sozialen Kontrolle unterworfen. Ebenso wurde in allen drei Ländern versucht, die wachsenden Ansprüche der Klienten wirkungsvoll zu begrenzen: in England und Wales durch ein individuelles Fall-Management ohne Etablierung sozialer Ansprüche; in Frankreich durch eine restriktive Politik der öffentlichen Förderung von Seiten der départements und einer zunächst (bis 1997 bzw. 2002) sehr begrenzten normierenden Rolle des Staates zugunsten der Klienten; in Deutschland schließlich durch die Einführung hoch standardisierter und nach oben begrenzter Leistungen in jedem Einzelfall, auf die allerdings individuelle Rechtsansprüche bestehen. Welche Art der Dienstleistungsversorgung hat sich dabei herausgebildet? Wodurch lassen sich die institutionell neu geordneten Systeme sozialer Dienste aus Sicht der Klienten kennzeichnen? Inwiefern haben sie die Struktur des Wohlfahrtsstaates insgesamt verändert? Diese Fragen sollen im Abschlusskapitel behandelt werden, weil sie notwendigerweise über den Gegenstand unserer Untersuchung hinausweisen. Dieser Perspektivwechsel ist ebenfalls nötig, um einen zusammenfassenden „neuen“ Blick auf die Struktur sozialer Dienste zu werfen. Welche Art der Versorgung und Absicherung gegen elementare Lebensrisiken bieten diese Systeme? Worin liegen in dieser Hinsicht die zentralen Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Ländern? Haben die jüngsten Reformen auch hier zu größeren Veränderungen geführt? Was bedeuten diese für den Wohlfahrtsstaat als ganzes?
Ausblick
Die Reform der sozialen Dienstleistungssysteme in Deutschland, England und Wales und Frankreich zu Beginn der 1990er Jahre hat die Struktur sozialer Dienste und ihre Funktionsweise in zentralen Elementen verändert. Die sozialen Dienste gewannen im Zuge dieser Entwicklung insgesamt an institutioneller Bedeutung und erhielten ein größeres quantitatives Gewicht innerhalb des Wohlfahrtsstaates. In langfristiger Perspektive betrachtet, führten die Reformen überall zu einer neuen, höheren Stufe der institutionellen Integration sozialer Dienste in den Wohlfahrtstaat. Dadurch hat sich auch die Struktur des Wohlfahrtsstaates insgesamt verändert. Schon die erste umfassende, vergleichende Studie über die Entwicklung sozialer Dienste (Kahn und Kamerman, 1976) postulierte die Herausbildung eines eigenständigen Bereiches des Wohlfahrtsstaates. Im Kontext des amerikanischen Wohlfahrtsstaates bezeichneten die Autoren die sozialen Dienste als den Beginn eines „sixth systems“, einer sechsten Säule des Sozialstaats. Diese bereits zu Beginn der 1970er Jahre getroffene Einschätzung hatte die Entwicklung richtig prognostiziert. Zumindest in den drei hier untersuchten europäischen Sozialstaaten haben die sozialen Dienste seit den 1970er Jahren eine große quantitative und institutionelle Entwicklung durchgemacht und sich heute als weitgehend eigenständige Bereiche des Wohlfahrtsstaates etabliert. Entscheidend war dabei vor allem ihre sukzessive Herauslösung aus dem institutionellen Kontext der Fürsorge- und Sozialhilfesysteme. Die Abkehr vom historisch bedeutsamen Prinzip der Bedürftigkeit war die wichtigste Voraussetzung dafür, dass sich die sozialen Dienste auf breiterer Grundlage entfalten konnten. Im Zuge dieser Entwicklung bildeten sie eine eigenständige institutionelle Logik und Funktionsweise aus, die nun zum festen Bestandteil des Wohlfahrtsstaates geworden ist. Dieser grundlegende Wandel der sozialen Dienstleistungssysteme hat sich in allen drei Ländern vor dem Hintergrund sehr unterschiedlicher institutioneller, sozialer und politischer Verhältnisse vollzogen. Es liegt daher nahe, darin einen der zentralen Prozesse der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung überhaupt zu betrachten. Was sind die sozialen Grundlagen für diese Entwicklung und wohin führt sie? Eine wichtige sozialstrukturelle Voraussetzung für diese Entwicklung ist sicherlich der Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft. Im Zuge dieses Wandels verlieren die klassischen, unmittelbar mit der Arbeitswelt verknüpften sozialen Risiken an Bedeutung und andere Elemente der Lebenslage werden wichtiger. Ein zweiter Faktor ist der Wandel der demographischen und der Familienverhältnisse. Der zweite demographische Übergang, die zunehmende Alterung der Gesellschaft und die Neuordnung der Beziehungen zwischen Eltern und Kindern und zwischen (Ehe-)Partnern haben soziale Lebenslagen und Probleme, die nichts mit der Arbeitswelt zu tun haben, zunehmend in den Mittelpunkt gerückt. Es wäre sicherlich übertrieben, darin einen fundamentalen Wandel der sozialen Risiken insgesamt zu erblicken; die alten sozialen Risiken sind dadurch nicht verschwunden, aber neue sind hinzugetreten und werden wichtiger. Vielfach überlagern sich die klassischen mit den neueren sozialen Risiken; vielfach sind die neuen Risiken nicht im histori-
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schen Sinne wirklich neu. Allerdings haben sie aufgrund der veränderten sozialen Verhältnisse insgesamt eine neue quantitative und qualitative Bedeutung erlangt. Zwei institutionelle Bereiche unserer Gesellschaften sind dadurch allmählich ins Blickfeld wohlfahrtsstaatlicher Aktivität gerückt: die Familie und die Lebensalter. Der Bezug zur Familie scheint offensichtlich. Die mit einer eigentümlichen Gleichförmigkeit in allen westeuropäischen Gesellschaften etwa zur Mitte der 1960er Jahre einsetzenden Prozesse des Familienwandels brauchen hier nicht näher thematisiert zu werden; sie sind allgemein bekannt. Im Ergebnis führen sie dazu, dass einerseits der Bedarf an familienbezogenen persönlichen Dienstleistungen wächst, während andererseits die Familie als soziale Institution immer weniger in der Lage ist, diesen Bedarf ohne öffentliche Unterstützung zu decken. Der Bezug zu den Lebensaltern ist aus institutioneller Perspektive vielleicht weniger offensichtlich. Sie steht in Verbindung mit einem für die moderne Gesellschaft in langfristiger Perspektive zentralen Prozeß: der wachsenden Institutionalisierung des Lebenslaufs durch wohlfahrtsstaatliche Institutionen (vgl. Kohli 1985; Mayer und Müller 1986). Die unterschiedlichen Lebensalter werden in zunehmendem Maße institutionell definiert und mithilfe spezifischer Institutionen und Maßnahmen reguliert. Schulpflicht und Rentensysteme sind auch historisch betrachtet die beiden Ausgangspunkte dieser Entwicklung. Hinzu treten nun soziale Dienste für Kinder im Vorschulalter und für ältere Menschen. Es gibt jedoch eine weitere, sozusagen horizontale Dimension dieser Institutionalisierung von Lebenslagen, die vor allem im Bereich der Behindertenhilfe wirksam wird. Die Definition von Behinderung sowie ihre Differenzierung und Abstufung in verschiedene Formen und Grade sind parallele Entwicklungen einer wachsenden Institutionalisierung horizontaler sozialer Lebenslagen. Eine solche eigenständige Institutionalisierung ist notwendig mit einer Herauslösung wohlfahrtsstaatlicher Hilfen aus dem Kontext der Bedürftigkeit verknüpft. Somit stellt die Institutionalisierung des Lebenslaufs und verschiedener spezifischer Lebenslagen ein zentrales Element und eine wichtige Voraussetzung für die Herausbildung der sozialen Dienste als eigenständigen Bereich des Wohlfahrtsstaates dar. Man könnte nun darüber spekulieren, inwiefern beide Prozesse, die Veränderung der Familienverhältnisse und die Institutionalisierung des Lebenslaufs, ursächlich miteinander verbunden sind. Historisch betrachtet, stellte die Schwäche der vertikalen Familienbindungen, also der Abstammung, in den europäischen Gesellschaften eine der zentralen Voraussetzungen für zahlreiche gesellschaftliche Entwicklungen dar, die schon seit dem frühen Mittelalter einsetzten (vgl. Mitterauer 2003). Eine der wichtigsten Konsequenzen dieser besonderen Familienverhältnisse in der europäischen Geschichte war die damit verbundene Stärke und Bedeutung horizontaler sozialer Beziehungen und Formen der sozialen Integration. Die Institutionalisierung des Lebenslaufs steht durchaus in diesem langen historischen Zusammenhang. Der Wohlfahrtsstaat hätte die Lebensalter niemals in dieser Form regulieren können, wären die Alten nicht schon lange vorher institutionell von der mittleren Generation getrennt gewesen. Die institutionelle Ablösung der Kinder von der Herkunftsfamilie hat ebenfalls tiefe historische Wurzeln, die sich zum Beispiel im außerfamiliären Gesindeund Lehrlingswesen und schließlich in der allgemeinen Schulpflicht niedergeschlagen haben. Relativ neu ist hingegen, dass sich dieser Prozeß nun auch auf Kinder im Vorschulalter erstreckt. Die historischen Voraussetzungen für diese Prozesse sind jedoch schon sehr alt. Damit ist nun natürlich nicht gemeint, dass die praktischen Familienbeziehungen zwischen den Generationen in modernen Gesellschaften nicht doch sehr eng sein können. Tat-
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sächlich sind die persönlichen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern und Großeltern heute sicherlich sogar enger als im letzten Jahrhundert. Außerdem werden die meisten Pflegeleistungen tatsächlich nach wie vor innerhalb der Familie erbracht. Dies ist jedoch für das Argument nicht entscheidend; von zentraler Bedeutung ist vielmehr, dass die Generationen institutionell zunehmend voneinander getrennt sind und in jeweils eigene, mit spezifischen Merkmalen ausgestattete, institutionelle Zusammenhänge eingebunden werden. Persönliche Beziehungen bestehen selbstverständlich fort, ja können sogar intensiviert werden, aber die institutionellen Grundlagen der Lebensführung werden zunehmend voneinander getrennt. Ein Schlüssel zum Verständnis für diese Entwicklungen liegt bei der mittleren Generation. Letztlich sind es ihre Interessen, die alte Menschen und jüngere Kinder zunehmend in außerfamiliale institutionelle Kontexte stellen und einbinden. Auch dies liegt in einer langen historischen Entwicklungslinie. Die alte Institution des Ausgedinges etwa regelte die Hofübergabe an die mittlere Generation zu Lebzeiten der älteren. Die Pensionssysteme entlasteten die mittlere Generation von der Pflicht einer direkten materiellen Unterstützung der Eltern. Nicht überraschend ist daher, dass dieser Aspekt der materiellen und immateriellen, auf die Dienstleistung als solcher bezogenen, Entlastung der mittleren Generation in der Diskussion über die Einführung der Pflegeversicherung eine entscheidende Rolle gespielt hat. Die Last der Pflege sollte gemildert werden, insbesondere durch den Ausbau der ambulanten Dienste und Hilfsdienste, noch viel wichtiger war jedoch die Entlastung der mittleren Generation von ökonomischen Risiken durch Unterhaltspflichten gegenüber pflegebedürftigen älteren Familienangehörigen. Die Verankerung der Pflegeleistungen in der Sozialhilfe hatte stets ein hohes Risiko für die mittlere Generation bedeutet, denn die Bedürftigkeitsprüfung erstreckte sich auch auf die Unterhaltspflicht der Familienangehörigen von Pflegebedürftigen. Damit hat die Pflegeversicherung weitgehend Schluss gemacht. Zudem wurden auch die Unterhaltspflichten innerhalb der Sozialhilfe zunehmend gelockert. Auch wenn die Sozialhilfe nun noch zusätzlich zu den Leistungen der Pflegeversicherung eintreten muss, ist das Vermögen der jüngeren Familienangehörigen weitgehend geschützt und für das Einkommen gibt es relativ großzügige Freigrenzen. Zwar bietet die Pflegeversicherung auch der älteren Generation eine gewisse Grundsicherheit und die Möglichkeit zu einer selbständigeren Lebensführung, aber die Entlastung der mittleren Generation scheint mir in institutioneller Betrachtung doch der vorrangige Aspekt zu sein. Noch deutlicher wird dies im zweiten hier betrachteten Bereich sozialer Dienste, den Kindertagesstätten. Zwar sprechen auch hier viele Argumente für eine durch diese Einrichtungen verbesserte Sozialisation von Kindern, insbesondere bei Einzelkindern oder Kindern aus Migrantenfamilien. Im Vordergrund stehen dennoch Ziele und Wirkungen, die auf die Interessen der mittleren Generation gerichtet sind. Vor allem das Problem der Vereinbarkeit von Familie und Berufstätigkeit und das damit verbundene Zeitmanagement beherrscht die Argumente der Befürworter einer Ausdehnung der öffentlichen Kinderbetreuung. Es geht hier nicht um eine politische Wertung; ich habe diese Beispiele nur deshalb angeführt, um zu verdeutlichen, in welchem sozialen Kontext die Entwicklung der sozialen Dienste an den beiden Polen des Lebenslaufs, bei kleinen Kindern und bei alten Menschen, steht. Natürlich geht es dabei zunächst um eine Verbesserung der Lebenslage dieser Zielgruppen und eigentlichen Adressaten der sozialen Dienstleistungen selbst, im Hintergrund stehen jedoch in beiden Fällen die Interessen der mittleren Generation. Aus diesem Grund sind auch alle Überlegungen und Analysen verfehlt, die aus der unterschiedlichen Entwick-
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lung von sozialen Diensten für ältere Menschen und für Kinder eine Bevorzugung der einen oder anderen Altersgruppe ablesen wollen. Solche Analysen gehen am Kern des Problems vorbei, denn sie betrachten nicht den institutionellen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Generationen, insbesondere aber vernachlässigen sie die Interessenlage der mittleren Generation, die für die Politik von entscheidender Bedeutung ist. Die Politik der sozialen Dienste kann aus diesem Grund nicht nur von den Adressaten und Klienten der Dienstleistungen her gedacht werden, sondern muss diese in den Kontext der Generationsbeziehungen stellen. Sind wir also auf dem Weg in einen post-industriellen Sozialstaat (Esping-Andersen 1999) oder gar in einen Sozialstaat der Lebensalter? Die Antwort ist in beiden Fällen ein „ja, aber“. Aus der Perspektive des Wohlfahrtsstaates und seiner Institutionen und Leistungen betrachtet, sind wir tatsächlich auf dem Weg in eine Gesellschaft, in der sich die soziale Sicherung in zunehmendem Maße von den Risiken der industriell geprägten Arbeitswelt löst und sich stattdessen stärker auf allgemeine, mit dem individuellen Lebenslauf verknüpfte soziale Probleme und Lebenslagen richtet. Auf den zweiten Blick jedoch muss dieser Befund in zweierlei Weise qualifiziert werden. Zum einen stellt sich die Frage, welches Grundprinzip die neuen Dienstleistungssysteme steuert: ist es die Idee einer umfassenden Grundsicherung, gar einer Vollversorgung, oder spielen Bedürftigkeit und individueller Bedarf doch weiterhin zumindest unterschwellig eine Rolle? Dieser Aspekt ist von großer Bedeutung für die Frage, inwiefern sich durch die sozialen Dienstleistungssysteme möglicherweise eine neue Form der sozialen Sicherung entwickelt, die den Wohlfahrtsstaat insgesamt prägen, ja zu einer Art Modell für die Umgestaltung anderer Bereiche der sozialen Sicherung avancieren könnte. Zum andern stellt sich aufgrund der oben angestellten Überlegungen in Bezug auf die Interessenlage der mittleren Generation die Frage, ob sich die Systeme tatsächlich so weit von der auf die Arbeitswelt bezogenen Problemlagen gelöst haben wie angenommen. Hier muss jedoch zwischen sozialen Diensten für ältere Menschen und für Kinder unterschieden werden. Sowohl in historischer Betrachtung als auch in Bezug auf die heutigen Dienstleistungssysteme gibt es große Unterschiede zwischen beiden Bereichen, die mit den unterschiedlichen Beziehungen alter Menschen und von Kindern zur Institution der Familie korrespondieren. In Kapitel 1 wurde herausgearbeitet, dass die hier betrachteten sozialen Dienste in ihrem Kern aus den traditionellen Funktionen und Leistungen der Familie hervorgegangen sind. In der europäischen Geschichte setzte die Ablösung der älteren Generation von der Familie viel früher ein als diejenige der Kinder, ja, im Zuge der Entwicklung zur modernen Kernfamilie, die in den 1960er Jahren ihren historischen Zenit überschritt, wurden Kinder sogar zunächst zunehmend in den Mittelpunkt der Familienbeziehungen gestellt und auch von vielen Soziologen zum eigentlichen Zweck und Inhalt der Familie erhoben. Demgegenüber waren die sozialen Beziehungen zwischen alten Menschen und deren erwachsenen Kindern in der europäischen Geschichte niemals besonders eng gewesen, jedenfalls nicht in institutioneller Betrachtung. Die Beziehungen zwischen der älteren und der mittleren Generation hatten keine zentrale institutionelle Bedeutung, weder in Religion, noch in Politik oder Wirtschaft. Die in der Sozialgeschichte über Jahrhunderte wichtigste Institution der Ökonomie, der Familienhaushalt, funktionierte sogar nur deshalb, weil die ältere Generation institutionell aus der Produktionsgemeinschaft ausgegliedert wurde und zum Beispiel im Rahmen des Ausgedinges separiert und versorgt wurde. Die Entwick-
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lung zur modernen Gesellschaft hat diese institutionelle Trennung zwischen Familie und älterer Generation in weiten Teilen Europas verschärft, während zugleich Kinder mehr in den Mittelpunkt der Familie gerückt sind. Aus dieser Entwicklung sollte man eigentlich, ausgehend von funktionalistischen Überlegungen, eine frühere und stärkere Ausbildung der sozialen Dienste für ältere Menschen erwarten, während Kinder stärker in den Bereich familiärer Versorgung verwiesen werden sollten. Auch könnte man eine grundsätzlich universalistische, im Ziel die gesamte Bevölkerung umfassende Orientierung der sozialen Dienste für ältere Menschen erwarten. Umgekehrt sollte aus der stärkeren institutionellen Einbindung der Kinder in die Familie eine eher gebremste und spätere Entwicklung der sozialen Dienste für Kinder folgen. Doch die tatsächliche Entwicklung verlief in den meisten Ländern genau umgekehrt. In allen drei Ländern waren es zuerst die sozialen Dienste und Einrichtungen für Kinder und Jugendliche, die aus dem Kontext des Armenrechts herausgelöst und als eigenständige institutionelle Bereiche geschaffen wurden, während die Altenhilfe viel länger, zum Teil bis heute, enge Verbindungen zur Sozialhilfe und öffentlichen Fürsorge aufwies. Wie kann man diese Entwicklung in institutioneller Perspektive erklären? Zum einen sicherlich durch die unterschiedlichen quantitativen Verhältnisse der Probleme, zum andern durch die unterschiedliche institutionelle Grundorientierung der sozialen Dienste für ältere Menschen und für Kinder. Vor hundert Jahren war das Problem der Hilfs- und Pflegebedürftigkeit älterer Menschen kein drängendes soziales Problem und schien somit im Rahmen der traditionellen Fürsorgesysteme lösbar. Es muss außerdem bedacht werden, dass die Zeitspanne des Alters im Sinne einer Lebensphase nach Beendigung des Erwerbslebens in der Regel sehr kurz war. Darüber hinaus begannen die neu eingeführten sozialen Rentensysteme zu greifen und das damals drängendste Problem der Altersarmut zu lösen. Soziale Dienste für Kinder standen dagegen seit der Industrialisierung im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, fokussiert auf die Probleme der Arbeiterfamilie. In diese Zeit fällt auch der Beginn der klassischen Familienpolitik, die von Anfang an eine Politik für Familien mit Kindern war. Hinzu kam in den 1920er Jahren das Problem des spürbar in die politischen Diskussionen einfließenden Geburtenrückgangs. Kinder und Jugendliche standen also aus guten Gründen viel früher im Licht der Aufmerksamkeit. Doch die sozialen Dienste für Kinder erfüllten nur eine sehr begrenzte Funktion: sie sollten bedürftige Familien in der Erfüllung ihrer Funktionen unterstützen und in schweren Fällen die öffentliche Fürsorge an die Stelle elterlicher Verantwortung setzen. Keineswegs hatten diese Dienste eine universalistische Orientierung, im Gegenteil bauten sie auf dem Primat der Institution der Familie auf. Eine klare Ausnahme davon bildete lediglich der Bildungsbereich, der jedoch in einigen Ländern auch schon früh die vorschulische Erziehung einschloss. Hier sollten und wurden in der Tat umfassende Institutionen für den Großteil der Bevölkerung geschaffen. Die heutige Entwicklung läuft in allen drei Ländern auf ein relativ einheitliches Grundmuster hinaus: in beiden Fällen, soziale Dienste für ältere Menschen und für Kinder, haben sich die Systeme zum größten Teil aus dem Zusammenhang der Sozialhilfe und Fürsorge herausgelöst und institutionell weitgehend verselbständigt. Doch das Leitprinzip unterscheidet sich voneinander: in der Altenhilfe tendieren die Systeme zu einer Grundversorgung, bei den sozialen Diensten für Kinder zu einer Vollversorgung, insbesondere im Bereich der Kindertagesstätten. Die Schaffung eigenständiger, lebensalterbezogener Systeme der sozialen Daseinsvorsorge scheint somit in beiden Fällen nahezu abgeschlossen, aber die
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für die Funktionsweise der Systeme maßgeblichen Grundsätze und Ziele unterscheiden sich voneinander. Überraschenderweise tendieren gerade wiederum die sozialen Dienste für Kinder, die ja nach wie vor im Zentrum der Institution der Familie stehen, zur umfassendsten und am weitgehendsten aus dem Bereich der Fürsorge herausgelösten Versorgung mit sozialen Diensten. Diese Dienste sollen jedoch die Familie nicht ersetzen, sondern im Gegenteil stärken und von Lasten befreien. Auch wenn die Kindertagesstätten in Richtung auf eine umfassende Versorgung ausgebaut werden, mit großer Verspätung nun auch in Deutschland und England, geschieht dies gerade aus dem Grund und mit dem Ziel, die Funktionsweise der Institution der Familie zu unterstützen und zu stärken. In der Altenhilfe hat sich die Politik zumindest in England und Deutschland in den letzten Jahren ganz ähnlich zunehmend auf die Familien als Dienstleistungserbringer konzentriert. Die Reformen der 1990er Jahre waren in beiden Ländern vor allem auch darauf gerichtet, die Pflege und Versorgung älterer Menschen im häuslichen Bereich und in der „community“ zu stärken. Pflegegeld und ambulante Dienste dienen explizit diesem Zweck. Doch aus diesem Grund müssen die Leistungen zugleich auf eine Grundunterstützung beschränkt bleiben, eine vollständige, den gesamten Bedarf abdeckende Versorgung würde die Familien aus ihrer Pflicht entlassen. Die Wege, die zu diesem Zweck eingeschlagen wurden, unterscheiden sich jedoch zwischen beiden Ländern. In England und Wales werden im care assessment, der Festlegung des jeweiligen individuellen Hilfebedarfs, die Familien- und Wohnverhältnisse der potentiellen Klienten ganz selbstverständlich bei der Leistungsbemessung berücksichtigt. Der Hilfebedarf von in häuslicher Gemeinschaft mit einem Ehepartner oder einem anderen Familienangehörigen lebenden Klienten wird von den Gemeinden zumeist niedriger veranschlagt als bei Alleinlebenden. Die öffentliche Unterstützung baut damit auf der familiären auf und variiert mit den Lebensumständen der Klienten. Dies ist die klassische, subsidiäre Lösung in der Verbindung von familiären und öffentlichen Leistungen. In Deutschland dagegen hat die Pflegeversicherung einen anderen Weg eingeschlagen. Sie gewährt jedem Pflegebedürftigen nach einer rein auf das Individuum und seine eingeschränkten Fähigkeiten zielenden Festlegung auf eine bestimmte Pflegestufe dieselben Leistungen, unabhängig von seinen familiären Lebensumständen. Damit sollen, so das Ziel des Gesetzes, die familiären Pflegeleistungen unterstützt werden und nicht etwa dazu führen, dass öffentliche Leistungen reduziert werden, wenn Familienangehörige Pflegedienste erbringen. Von Anfang an haben Kritiker der Pflegeversicherung die dadurch entstehenden sogenannten „Mitnahmeeffekte“ beklagt, dabei aber übersehen, dass genau diese Effekte ein wesentliches Ziel der Gesetzgebung waren. Das primäre Ziel der Pflegeversicherung war die öffentliche Unterstützung der ohnehin zumeist von Familienangehörigen erbrachten Pflegeleistungen. Dadurch wurde jedoch das traditionelle subsidiäre Verhältnis von Familie und öffentlicher Leistung im Bereich sozialer Dienste aus den Angeln gehoben: die Familie wurde sozusagen in das öffentliche System integriert, ähnlich wie die privaten und freien Anbieter. Während das öffentliche Dienstleistungssystem in England und Wales jenseits der Institution der Familie ansetzt, wird die Familie in Deutschland in die Grundlogik des Systems integriert. Die Unterschiede zwischen den beiden Ländern betreffen jedoch auch diejenigen Fälle, die am oberen Ende der Hilfsbedürftigkeit liegen. Während das englische System für diese Fälle, unter Berücksichtigung ihrer familiären Lebensumstände und ökonomischen Verhältnisse, eine Vollversorgung mit öffentlichen Leistungen bietet, sind die Leistungen in Deutschland in jedem Fall nach oben begrenzt. In England werden die Leis-
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tungen somit stärker auf die bedürftigeren Fälle konzentriert, während sie in Deutschland tendenziell einheitliche Leistungen für die breite Mitte der Pflegebedürftigen bieten. Auch wenn sich durch die Reformen der 1990er Jahre somit in allen Ländern eine Art Grundsicherung bei Pflegebedürftigkeit herausgebildet hat, gibt es doch nach wie vor große Unterschiede in deren konkreter Ausgestaltung. Das Verhältnis der sozialen Dienste zur Familie bleibt somit durchaus ambivalent. Trotz der Ausdehnung der sozialen Dienste und deren zunehmender Institutionalisierung durch den Wohlfahrtsstaat bleibt die Familie von zentraler Bedeutung für die Erfüllung der sozialen Aufgaben. Die Art ihrer Einbindung in die öffentlichen Systeme unterscheidet sich jedoch von Land zu Land und von Bereich zu Bereich. Tendenziell hat sich im Bereich der Altenhilfe in allen Ländern ein, wenngleich in seinen Details unterschiedlich geformtes, Modell einer eingeschränkten sozialen Grundsicherung herausgebildet, die in deutlichem Kontrast zum Gesundheitswesen steht, das auf eine bedarfsorientierte Versorgung mit allen medizinisch notwendigen Leistungen ausgelegt ist. Die sozialen Dienste bieten in jedem Fall nur begrenzte Leistungen und setzen somit nach wie vor auf eine ihnen vorausgehende oder sie ergänzende familiäre Unterstützung hilfsbedürftiger Personen. Auch eine voll ausgebaute Kinderbetreuung, die eine Versorgungsrate von 100% anstrebt, ist ja letztlich nur eine Ergänzung der elterlichen Betreuung, aber eine für alle Familien. Damit ist das zweite wesentliche Merkmal der „neuen“ sozialen Dienstleistungen benannt, das sie am deutlichsten von der traditionellen Sozialhilfe und Fürsorge unterscheidet: ihr prinzipiell universalistischer, das heißt die ganze Bevölkerung einschließender, Wirkungskreis. Die Leistungen sind begrenzt, aber sie erreichen tendenziell alle Personen einer Altersgruppe, die sich in einer sozial bedürftigen Lebenslage befinden. Die sozialen Dienste für Kinder und ältere Menschen, wie auch mit Einschränkungen die Behindertenhilfe, stärken somit das Element einer einheitlichen Grundsicherung im Wohlfahrtsstaat. In dieser Hinsicht haben sie trotz ihrer späteren Entwicklung im Vergleich zu den klassischen Institutionen der sozialen Sicherung durchaus einen Modellcharakter für die Umgestaltung des Wohlfahrtsstaates insgesamt, der sich auch in anderen Bereichen wie Renten und Gesundheit zunehmend von den primär durch das Erwerbsleben bestimmten sozialen Differenzierungen löst. Grundrente und Bürgerversicherung oder Gesundheitsprämie sind Stichworte dazu in der deutschen Diskussion. In Frankreich und England gibt es ähnliche Entwicklungen, obwohl beide Länder im Vergleich zu Deutschland schon in der Vergangenheit in stärkerem Maße grundsichernde Elemente in ihren sozialen Sicherungssystemen eingeführt hatten. Paradigmatisch ist etwa der Nationale Gesundheitsdienst in Großbritannien oder das staatlich garantierte Mindesteinkommen für ältere Menschen in Frankreich. Doch diese Elemente einer Grundsicherung wurden in beiden Ländern auch jenseits der hier betrachteten sozialen Dienste ausgebaut, in Frankreich etwa durch die Einführung eines umfassenden Systems der garantierten medizinischen Versorgung (couverture médicale généralisée, seit 2000), in England durch den Ausbau der kostenlosen vorschulischen Betreuung für alle Kinder. Die sozialen Dienste bilden somit einen wesentlichen Teil eines Wohlfahrtsstaates, der sich allmählich von den durch die Industriegesellschaft geschaffenen Strukturen ablöst. Darin liegt eine große Gemeinsamkeit der jüngsten Entwicklungen zwischen den Ländern. Die sozialen Dienste haben in dieser Hinsicht durchaus Modellcharakter. Vielfach wird ihnen jedoch auch eine Vorreiterrolle für den partiellen Rückzug des Staates aus der sozialen Sicherung zugesprochen. Vergleicht man die Struktur sozialer
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Dienste mit anderen Bereichen der sozialen Sicherung, stellt man tatsächlich einen hohen Anteil nicht-staatlicher Anbieter und privater Finanzierung fest. Ebenso finden sich verstärkt Marktelemente in der Steuerung sozialer Dienste. Doch muß man diese Strukturmerkmale in zeitlicher Perspektive betrachten, um die richtigen Schlüsse ziehen zu können. Soziale Dienste waren schon immer ein Bereich, in dem der Staat nur eine begrenzte Rolle gespielt hat. Private und freie Träger sowie lokale Akteure waren für die Entwicklung sozialer Dienste von herausragender Bedeutung. Das historisch gewachsene Zusammenspiel dieser verschiedenen Akteure war prägend für die sozialen Dienstleistungssysteme. Die neueren Reformen haben diese Entwicklungen keineswegs geschaffen oder verstärkt, im Gegenteil zielten sie auf eine umfassendere soziale Kontrolle der gewachsenen Systeme durch den Wohlfahrtsstaat. Dabei wurden allerdings auch zunehmend Marktelemente und nicht-öffentliche Anbieter in die sozialen Dienstleistungssysteme integriert. Darin liegt in der Tat eine wichtige Entwicklung: der Wohlfahrtsstaat macht sich die historisch gewachsenen Strukturen und Mechanismen für die Institutionalisierung der sozialen Dienste zunutze und baut sie an bestimmten Stellen in die reformierten öffentlichen Systeme ein. Dadurch verändern sich jedoch nicht nur die sozialen Dienste, sondern auch der Wohlfahrtsstaat. Genau darin liegt die über die sozialen Dienste hinausgehende Bedeutung dieser Reformelemente: sie verändern Struktur und Funktionsweise des Wohlfahrtsstaates. Einige Autoren sprechen in diesem Zusammenhang von einem neuen Steuerungsmodus in einer „postfordistischen“ Gesellschaft. Bode (2004) bezeichnet das sich auf diese Weise herausbildende System gar als „disorganisierten Wohlfahrtskapitalismus“. Ich möchte dieser Einschätzung entschieden widersprechen. Der Grundcharakter der neueren Reformen zielt eindeutig auf eine stärkere Steuerung und Kontrolle der sozialen Dienstleistungssysteme durch den Wohlfahrtsstaat. Die Instrumente, die dabei eingesetzt werden, sind allerdings im Rahmen staatlicher Sozialpolitik relativ neu und erschweren ihrerseits eine politische Kontrolle des Wohlfahrtsstaates durch die Bürger. Budgetierung, die Schaffung von Angebotsmärkten, eine durch standardisierte Verfahren geregelte Allokation von Diensten auf die verschiedenen Klienten, die Dezentralisierung der Steuerungskompetenzen: all diese Elemente, die sich in verschiedener Form in den Reformen der hier betrachteten drei Länder finden lassen, bewirken eine steigende Immunisierung der sozialen Dienstleistungssysteme gegen direkte politische Einflußnahme. Einerseits werden die Systeme sozialer Dienste wohlfahrtsstaatlich in höherem Maße institutionalisiert und einer stärkeren sozialen Kontrolle unterworfen, anderseits werden die Steuerungsinstrumente selbst weitgehend gegen direkte politische Einflüsse abgeschirmt. In diesem scheinbaren Widerspruch zeigt sich jedoch gerade die Rationalität der Institutionalisierung sozialer Dienste als eigenständige, mit einer spezifischen Funktionslogik ausgestatteten Systeme: einerseits werden „intern“ alle verfügbaren Ressourcen erschlossen und die verschiedenen Akteure einem einheitlichen Funktionsregime unterworfen, andererseits wird das System „extern“ gegenüber direkten Eingriffen abgeschirmt, allerdings mit einer wesentlichen Ausnahme: dem Budget. Das Budget wird somit zum entscheidenden externen Steuerungsinstrument, während die internen Allokationsprozesse zunehmend durch abstrakte Verfahren gesteuert werden, die sich einer direkten Einflussnahme entziehen. Dies ist das klassische Institutionalisierungsmuster der gesellschaftlichen Modernisierung und stellt in keiner Weise einen Übergang in „postfordistische“ oder postindustrielle Verhältnisse dar. Der Wohlfahrtsstaat setzt hier im Gegenteil die klassische Politik der Institutionenbildung fort, die seine Ge-
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schichte seit mehr als hundert Jahren geprägt hat: die Herausbildung spezifischer Institutionen zur Lösung bestimmter sozialer Probleme und Aufgaben, die intern eine eigene Funktionslogik begründen und extern über eine gewisse Teilautonomie verfügen. Schon das traditionelle Armenrecht war durch dieses Prinzip gekennzeichnet, viel mehr noch die im Zuge der Industrialisierung geschaffenen Sozialversicherungen. Mit etlichen Jahren Verspätung und mit einer insgesamt geringeren staatlichen Durchdringung hat dieser Prozess der wohlfahrtsstaatlichen Institutionalisierung nun auch die sozialen Dienste erfasst, zu einem Zeitpunkt, in dem ihre soziale Kontrolle angesichts sinkender Ressourcen und steigenden Bedarfs unabdingbar geworden war. Die selektiven Steuerungsinstrumente und partiellen Interventionen des Staates in die sozialen Dienste wurden durch stärker integrierte Systeme mit begrenztem, direktem staatlichem Einfluss abgelöst. In dieser qualitativen Veränderung ist aber kein Schritt in Richtung auf einen „disorganisierten Wohlfahrtskapitalimus“ (Bode, 2004) zu erkennen, im Gegenteil bringt diese Entwicklung in allen Ländern einen höheren Grad an wohlfahrtsstaatlicher Organisation hervor. Die Reform der sozialen Dienste leitet also weniger eine neue Entwicklung des modernen Wohlfahrtsstaates ein, sondern setzt eine lange historische Entwicklung fort. In dem Maße, in dem nun allerdings gleichzeitig die Kernbereiche der sozialen Sicherung wie Renten und Gesundheit einem massiven Veränderungsdruck unterliegen, stellt sich die Frage nach der möglichen zukünftigen Gestalt des Wohlfahrtsstaates. Wie schon oben angedeutet, scheint sich in allen Ländern ein System wohlfahrtsstaatlicher Sicherung herauszubilden, das durch einen hohen Grad an Inklusion einerseits und eine geringere Differenzierung von Leistungen andererseits charakterisiert ist. Zugleich werden Bedürftigkeitsprüfungen in vielen Bereichen nicht etwa verstärkt, wie es eine klassische Politik der „Privatisierung“ nahe legen würde, sondern im Gegenteil vielfach abgebaut oder in ihren Auswirkungen gemindert. Nimmt man diese Elemente zusammen, zeichnen sich die Konturen eines Wohlfahrtsstaates ab, der durch eine starke Komponente der Grundsicherung für alle Bürger geprägt ist (vgl. Kuhnle 1998: S. 72). Die in der klassischen Sozialversicherung so bedeutsamen Merkmale der sozialen Differenzierung werden zunehmend abgeschliffen beziehungsweise aus den öffentlichen Systemen ausgelagert; sie unterliegen in Zukunft mehr der privaten Eigenvorsorge. Damit schwindet jedoch ein wesentliches Element der Wohlfahrtsstaaten Bismarck’scher Prägung: die enge Bindung an den sozialen Status und die Strukturen der Erwerbsgesellschaft. Gerade die sozialen Dienste stellen ein gewichtiges Element eines Wohlfahrtsstaates dar, das sich an ganz anderen Kriterien orientiert. Auch wenn die Pflegeversicherung in Deutschland nach dem klassischen Muster einer Sozialversicherung konstruiert wurde, hat dies keinen wesentlichen Einfluss auf ihre Funktionsweise, mit Ausnahme der lohnbezogenen Finanzierung. Doch insgesamt sind die klassischen Sozialversicherungssysteme überall auf dem Rückzug. In Frankreich wurde das hoch fragmentierte Krankenversicherungssystem durch eine couverture médicale généralisée überformt, in Deutschland befindet sich die Krankenversicherung ebenfalls in der politischen Diskussion. Es ist unwahrscheinlich, dass das bisherige System nach der nächsten Wahl bestehen bleiben wird, wie immer diese auch ausgehen mag. Denn sowohl die Pläne zu einer Bürgerversicherung als auch die von der Union favorisierten einheitlichen Gesundheitsprämien würden mit der überkommenen Form brechen und sich in Richtung auf ein stärker integriertes und einheitlicheres System entwickeln. Dieses Entwicklungsmodell hat sich jedoch bei den sozialen Diensten bereits weitgehend durchgesetzt: Integration und Vereinheitli-
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chung sind die zentralen Richtgrößen für die Reform des Wohlfahrtsstaates, nicht Desorganisation und Differenzierung. Im Zuge dieser Entwicklung setzen sich die Züge eines klassischen liberalen Wohlfahrtsstaates, allerdings auf einem relativ hohen Niveau allgemeiner Grundsicherung, zunehmend durch. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Wohlfahrtsregimen scheinen sich tendenziell zu verringern. Die alles entscheidende Frage in einem solchen System ist jedoch, auf welchem Niveau die allgemeine Grundsicherung festgeschrieben wird und wo die Grenze liegt, jenseits derer die durch den Wohlfahrtsstaat nicht mehr beeinflusste Zone der sozialen Ungleichheit beginnt. Der Wohlfahrtstaat wird voraussichtlich in immer geringerem Maße als Instrument zur Sicherung sozialer Unterschiede betrachtet, wie dies im konservativen Regimetyp traditionell der Fall war. Im Bereich sozialer Dienste ist deutlich zu erkennen, dass die Festlegung eines allgemeinen Mindestsicherungsniveaus nicht an ökonomischen Größen, sondern an zwei anderen, zentralen Merkmalen ansetzt: dem individuellen Bedarf und den familiären Lebensumständen potentieller Klienten. Aus der Sicht der Klienten ist somit von entscheidender Bedeutung, ob die Feststellung des Bedarfs durch allgemeine Normen und festgelegte Standards gesteuert wird oder ob die koordinierenden Akteure im System sozialer Dienste dabei einen Spielraum haben. Ebenso zentral ist die institutionelle Verbindung zwischen der Familie und den sozialen Diensten. In diesen beiden Dimensionen lassen sich deutliche Unterschiede zwischen den hier untersuchten Ländern feststellen, die auf grundlegende institutionelle Variationen in der Stellung des Individuums und der Familie in der Gesellschaft verweisen, die durch die neueren Entwicklungen keineswegs abgeschliffen worden sind und voraussichtlich auch in Zukunft von Bedeutung sein werden. Man könnte sogar mutmaßen, dass die oben diskutierten Entwicklungen der Wohlfahrtsstaaten diese Unterschiede in Zukunft sogar weiter verstärken werden. Die Variationen im institutionellen Gefüge der europäischen Wohlfahrtsstaaten werden in Zukunft weniger durch die Differenzierungen der Arbeitswelt und mehr durch Unterschiede in der Stellung der Institution der Familie und des Individuums in der Gesellschaft bestimmt sein. Dabei zeichnen sich Unterschiede ab, die weit in die Geschichte zurückreichen und sich in der Entwicklung der Wohlfahrtsstaaten bislang vor allem im Bereich der Familienpolitik niedergeschlagen haben. In Deutschland hat sich dabei ein Muster herausgebildet, das man als „institutionalisierte Subsidiarität“ bezeichnen könnte. Die deutsche Sozial- und Familienpolitik greift dabei regelnd und unterstützend in die sozialen Funktionen der Familie ein. Zugleich ist die Familie grundsätzlich einer staatlichen Aufgabenerfüllung vorgelagert. Dieses Muster hat vor allem die neue Pflegeversicherung geprägt, in der die häusliche Pflege explizit Vorrang genießt und in starkem Maße unterstützt wird: durch Pflegegeld, die soziale Sicherung der Pflegeperson und unterstützende soziale Dienste. Die Familie ist in diesem System zwar öffentlichen Institutionen vorgelagert, wird aber zugleich gefördert und somit in das öffentliche System der Förderung sozialer Dienste inkorporiert. Die Institution der Familie wird auf diese Weise durch die wohlfahrtsstaatliche Politik mediatisiert; sie ist eine „private“ Institution, die jedoch zugleich wichtige und durch die öffentliche Hand garantierte soziale Aufgaben erfüllt. Diese Mischung aus privaten und öffentlichen Elementen der Institutionalisierung hat in der korporativ geprägten deutschen Sozialpolitik eine lange Tradition. Durch die Pflegeversicherung wurde somit auch die Familie ein Stück weit in die Institutionalisierung des wohlfahrtsstaatlichen Dienstleistungssystems einbezogen. Ganz anders haben sich die Beziehungen zwischen Wohlfahrtsstaat und Familie in
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England und Wales entwickelt. Das hier vorherrschende Muster war traditionell durch eine starke Trennung von öffentlicher und privater Sphäre, von Staat und Familie gekennzeichnet. Charakteristisch für dieses Muster war der Grundsatz der „non-intervention“, der die klassische passive Politik des Staates gegenüber der Familie geprägt hat. In diesem Sinne wurde in internationalen Vergleichen oft vermerkt, Großbritannien habe gar keine explizite Familienpolitik. Implizit jedoch und indirekt hat die Familie eine wichtige Rolle für die Entwicklung der britischen Sozialpolitik gespielt. In einer klassischen liberalen Färbung des Subsidiaritätsgedankens wurden staatliche Leistungen nur in Fällen gewährt, in denen es keine familiären Leistungen gab oder diese nicht ausreichten. Paradigmatisch war in dieser Hinsicht das Armenrecht, das auch für viele Bereiche der sozialen Dienste über Jahre maßgeblich war. Allerdings brach der britische Sozialstaat vor allem mit den Reformen nach 1945 auch in zentralen Bereichen der sozialen Sicherung mit diesem Grundprinzip. Doch bei den sozialen Diensten blieb vieles beim Alten: öffentliche Leistungen wurden nur dann gewährt, wenn die familiären Leistungen unzureichend waren oder ganz ausfielen. Damit diskriminierten die öffentlichen sozialen Dienste zwischen Personen mit und ohne Familien- und Haushaltsangehörigen, auch wenn diese individuell betrachtet denselben Dienstleistungsbedarf hatten. Die seit den 1970er Jahren einsetzende starke Expansion der kommunalen sozialen Dienste hat dieses Prinzip zwar zunehmend aufgeweicht, aber niemals grundsätzlich aufgehoben. In weiten Teilen der Altenhilfe, vor allem aber in den sozialen Einrichtungen für Kinder blieb der Grundsatz der nachrangigen öffentlichen Hilfe bestimmend. Obwohl also der britische Wohlfahrtsstaat eine Politik der non-intervention in die Institution der Familie verfolgte, setzte er umgekehrt die Leistungen der Familie in vielen sozialen Systemen implizit voraus und schloß Personen, die von ihrer Familie versorgt werden konnten, vom Hilfebezug aus. Dieses Prinzip wurde durch die Reformen der 1990er Jahre wieder verstärkt. Die englischen und walisischen Kommunen sind seitdem gehalten, bei der individuellen Bedarfsfeststellung die jeweiligen familiären Umstände der Klienten zu berücksichtigen. Menschen mit im Haushalt lebenden Familienangehörigen erhalten also bei gleichem individuellem Bedarf an Dienstleistungen weniger öffentliche Hilfen als Personen ohne familiäre Unterstützung. Dies unterscheidet das englische System fundamental vom deutschen Fall. Im französischen Fall sind die Beziehungen zwischen Staat, Familie und Individuum wiederum anders gelagert. Seit ihrer Entstehung im 19. Jahrhundert war die französische Familienpolitik, die als Pionier innerhalb Europas angesehen werden kann, durch einen Doppelcharakter gekennzeichnet. Zum einen zielte sie auf die Förderung der Institution der Familie, zum andern hatte sie eine stark interventionistische Komponente und war bereits in der Anfangsphase vor allem auf Kinder als Adressaten der Familienpolitik gerichtet. Damit unterschied sich die französische Politik sowohl von ihrem deutschen als auch vom britischen Pendant. Im Gegensatz zu Großbritannien wurde die Familie in Frankreich in starkem Maße aktiv gefördert und wich somit deutlich vom klassischen liberalen Prinzip der Subsidiarität ab. Aber Frankreich unterschied sich auch stark vom deutschen Muster der institutionalisierten Subsidiarität, in dem die Familie als soziale Institution quasi mediatisiert wurde und die staatliche Förderung grundsätzlich zuerst an der Familie ansetzte. Im Unterschied zu Deutschland entwickelten sich in Frankreich früh soziale Maßnahmen und Einrichtungen, die sich auf die Kinder als Individuen und zukünftige Staatsbürger richteten. In der Französischen Republik galten starke intermediäre Institutionen seit der Revolution
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als wesentliches Hindernis für die Herstellung einer direkten Beziehung zwischen Staat und Bürgern. Diese bedrohten in der Perspektive der staatlichen Eliten die Einheit und Unteilbarkeit der Republik. Intermediäre Instanzen wurden deswegen in starkem Maße bekämpft und behindert, was unter anderem auch die Entwicklung des assoziativen Sektors in Frankreich lange Zeit gehemmt hat. Die Familienpolitik stand deswegen von Beginn an in einer doppelten Tradition: einerseits diente sie der Förderung der Familie, andererseits zielte sie auf die Kinder als individuelle Gesellschaftsmitglieder. Am ausgeprägtesten findet sich die auf das Individuum zielende Komponente in der Schul- und Vorschulpolitik, aber auch in der Gesundheitspolitik zugunsten von Kindern. Deutlich sichtbar ist sie aber auch in anderen Bereichen der Sozialpolitik, vor allem der Einführung kategorialer Programme der Mindestsicherung für ältere Menschen und für Behinderte. Frankreich kennt bis heute kein alle Teile und Gruppen der Bevölkerung einschließendes System der Mindestsicherung wie die deutsche Sozialhilfe. Darin ähnelt es den südeuropäischen Wohlfahrtsstaaten. Im Unterschied zu diesen haben sich in Frankreich jedoch verschiedene, kategorial definierte Systeme auf hohem Niveau entwickelt. Zu den Nutznießern dieser Entwicklung gehören insbesondere Behinderte, Familien mit Kindern und ältere Menschen. Dieses Grundmuster der französischen Sozialpolitik hat sich auch im Bereich der sozialen Dienste entwickelt. Ihr Kennzeichen sind universalistische Leistungen für eine bestimmte, kategorial definierte Gruppe. Am stärksten hat sich dieses Prinzip einer universalen Sicherung und Versorgung in den Einrichtungen für Kinder und Behinderte entwickelt, während die Altenhilfe bis vor kurzem noch in starkem Maße durch den Grundsatz der Bedürftigkeit bestimmt wurde. Doch die Reformen von 1997 und 2002 haben die Altenhilfe ebenfalls weit in Richtung auf ein universalistisches System vorangetrieben. Auch in diesen Leistungen zeigt sich wiederum die stark auf das Individuum zielende Komponente der französischen Politik. Adressaten der Leistungen, die in Form von Geld gewährt werden, sind die Individuen, die ihrerseits über die Verwendung der Mittel entscheiden können. Damit zielt die französische Politik im Unterschied zur deutschen nicht primär auf familiäre Unterstützung, sondern auf die Förderung privater Beschäftigungsverhältnisse im Haushalt. Dies wird durch eine Reihe anderer Maßnahmen im Sozial- und Steuerrecht unterstützt. Die französische Politik umgeht somit gewissermaßen sowohl den assoziativen Sektor als auch die Familie und fördert stattdessen direkt die Individuen und marktmäßig organisierte Beschäftigungsverhältnisse im Bereich häuslicher Dienstleistungen, vor allem in der Pflege und Betreuung von Kindern und älteren Menschen. Die zentralen Ergebnisse dieser Studie lassen sich somit in drei Thesen zusammenfassen. Erstens haben die neueren Reformen in allen drei Ländern einen höheren Institutionalisierungsgrad der sozialen Dienste bewirkt und die soziale Kontrolle durch den Wohlfahrtsstaat verstärkt. Darin liegt eine erste große Gemeinsamkeit in der Entwicklung der sozialen Dienste. Zweitens lassen sich in allen drei Ländern im Bereich sozialer Dienste Entwicklungen in Richtung auf eine soziale Grundsicherung für die gesamte Bevölkerung erkennen; eine an typischen individuellen Lebenslagen orientierte Politik tritt zunehmend an die Seite der klassischen, am Erwerbsleben ausgerichteten, Systeme der sozialen Sicherung. Darin liegt eine zweite, wichtige Gemeinsamkeit. Diese beiden großen Gemeinsamkeiten in der Entwicklung der sozialen Dienste lassen sich vor allem durch die ähnliche Problemlage und die allen entwickelten europäischen Ländern gemeinsamen sozialstrukturellen Veränderungen erklären. Der dritte zentrale Befund der Studie verweist jedoch auf wichtige institutio-
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nelle Unterschiede zwischen den drei Ländern, die im Verhältnis von Individuum, Familie und Staat angesiedelt sind. Die zunehmende Institutionalisierung sozialer Dienste und deren wachsende Bedeutung im Wohlfahrtsstaat führt also keineswegs zu einer grundsätzlichen Angleichung der Systeme. Ganz im Gegenteil werden alte historische Unterschiede, die sich schon in der Geschichte der Familienpolitik niedergeschlagen haben, wieder an Bedeutung gewinnen. In dem Maße, in dem Klassenverhältnisse und Erwerbsstrukturen an Einfluss auf wohlfahrtsstaatliche Arrangements verlieren, werden die historisch älteren Unterschiede in Bezug auf die Stellung der Familie in der Gesellschaft wieder wichtiger. Der Umbau der Wohlfahrtsstaaten generiert somit neue alte Unterschiede zwischen den Ländern; eine Angleichung in Richtung auf ein liberales Modell findet jedenfalls bei den sozialen Diensten nicht statt. Gerade im Bereich sozialer Dienste ist kein Abbau wohlfahrtsstaatlicher Aktivität erkennbar. Weder gibt es eine umfassende Privatisierung noch eine Dezentralisierung sozialer Dienste; wo sich solche Entwicklungen zeigen, sind sie Teil der Umgestaltung des öffentlichen Systems, das insgesamt einer stärkeren sozialen Kontrolle durch den Wohlfahrtsstaat unterworfen wird. Privatisierungs- und Dezentralisierungselemente in den neu geordneten öffentlichen Dienstleistungssystemen führen nicht aus dem Verantwortungsbereich des Wohlfahrtsstaates hinaus, im Gegenteil! Sie werden zu integralen Bestandteilen der erneuerten öffentlichen Systeme und tragen zu ihrer effektiveren sozialen Kontrolle bei. Die Institutionen ändern sich, aber der Wohlfahrtsstaat bleibt; alte Unterschiede zwischen den Ländern verringern sich, aber neue entstehen: die europäischen Wohlfahrtsstaaten werden auch in Zukunft durch institutionelle Vielfalt geprägt sein.
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