UTB 2827
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UTB 2827
Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Beltz Verlag Weinheim • Basel Böhlau Verlag Köln • Weimar • Wien Wilhelm Fink Verlag München A. Francke Verlag Tübingen und Basel Haupt Verlag Bern • Stuttgart • Wien Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft Stuttgart Mohr Siebeck Tübingen C.F. Müller Verlag Heidelberg Ernst Reinhardt Verlag München und Basel Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn • München Wien Zürich Eugen Ulmer Verlag Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft Konstanz Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich Verlag Barbara Budrich Opladen • Farmington Hills Verlag Recht und Wirtschaft Frankfurt am Main WUV Facultas Wien
Walther L. Bernecker
Spanien-Handbuch Geschichte und Gegenwart
A. Francke Verlag Tübingen und Basel
Inhalt
IX
Chronologie zur spanischen Geschichte
3
II
Historische Karten
18
III
Politische Geschichte der Neuzeit
1. Traditionelle Problem- und Konfliktachsen 2. Zweite Republik und Bürgerkrieg 3. Die Franco-Diktatur 4. Monarchie und Demokratie Literatur
34 34 40 47 51 59
Vorwort
A
V
Politik
Verfassungsgeschichte der Neuzeit
1. Die Verfassung von Bayonne (1808) 2. Die Verfassung von Cädiz (1812) 3. Das "Königliche Statut" (1834) 4. Die progressistische Kompromißverfassung (1837) 5. Die gemäßigte Verfassung (1845) 6. Die demokratisch-revolutionäre Verfassung (1869) 7. Die Verfassung der Restauration (1876) 8. Die Verfassung der Zweiten Republik (1931) 9. Die "Grundgesetze" der Franco-Ära (1939-1975) 10. Die Verfassung der parlamentarischen Monarchie (1978) Literatur
Parteien, Parteiensysteme und Parteiengeschichte 1. Parteien und politische Strömungen im 19. Jahrhundert 2. Parteien in der Zweiten Republik (1931-1936/39) 3. "Einheitsparteien" in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts a) Die Diktatur von Miguel Primo de Rivera (1923-1930) b) Die Diktatur von Francisco Franco (1939-1975) 4. Parteien in der Demokratie (seit 1977) Literatur
61 61 64 67 69 72 73 75 77 80 83 86
87 87 95 106 106 107 109 134
VI
VI
Inhalt
136 136 1. Staatsform und Regierungssystem 138 Wahlen und parlamentarische Kräfteverhältnisse 2. 143 3. Politische Porträts: König und Ministerpräsidenten in der Demokratie . 149 Literatur
VII Der Staat der Autonomen Gemeinschaften
1. Chronologie zum (spanischen) Baskenland 2. Das Baskenland zwischen Terrorismus und Friedenssehnsucht Literatur
X
Das spanische Kolonialreich in Amerika und Afrika 1. Der Kolonialismus in Amerika a) Das spanische Kolonialreich in Amerika: Chronologie b) Grundstrukturen und Entwicklungen des spanischen Kolonialreiches in Amerika 2. Der Neo-Kolonialismus in Afrika a) Das spanische Kolonialreich in Afrika: Chronologie b) Spanien und der Maghreb im 20. Jahrhundert Literatur
B
Wirtschaft
XI
Die Wirtschaft in der Neuzeit (bis 1975) 1. 2. 3. 4. 5.
Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung Die Landwirtschaft Die Industrie Das Bank- und Kreditwesen Der Außenhandel
1. Staat und Wirtschaft: Umstrukturierung und Modernisierung 2. Die Wirtschaftsbereiche a) Der Primärsektor: Land-, Vieh-, Forst- und Fischereiwirtschaft b) Der Sekundärsektor: Industrie und Bauwirtschaft c) Der Tertiärsektor: Dienstleistungen 3. Spanien in der Weltwirtschaft Literatur
155 161 166 177
178 178 180 193
Spanien und Europa - ein ambivalentes Verhältnis 1. Historischer Rückblick: Zwischen Abschottung und Annäherung 2. Spanien und die EG/EU Literatur
XII Die Wirtschaft in der Demokratie
150 150
VIII Das Baskenland - eine Problemskizze
IX
6. Transport und Verkehr 7. Staat und Wirtschaft Literatur
Der Zentralstaat: Regierungssystem, Staatsform, Wahlen
1. Die Regionalisierung des Landes nach 1975 2. Rechtsnatur, Kompetenzen und Finanzverfassung der Autonomen Gemeinschaften 3. Die Reform der Autonomiestatute 4. Die Autonomen Gemeinschaften im Überblick Literatur
VII
Inhalt
195 195 199 211 213 213 213 215 227 227 228 239
243 243 251 253 258 259
C
261 263 268 270 270 280 280 285 287 290 301
Bevölkerung und Gesellschaft
XIII Die Bevölkerung in der Neuzeit (bis 1975)
305 305 308 316
1. Das Bevölkerungswachstum 2. Auswanderung und Binnenwanderung Literatur
XIV Die Gesellschaft in der Neuzeit (bis 1975) 1. Soziale Schichtung und Mobilität 2. Vom Sozialprotest zum Klassenkampf 3. Zur Entwicklung von Emanzipationsbewegungen Literatur
XV Bevölkerung und Gesellschaft in der Demokratie (1975-2006)
317 317 324 326 328
329
1. Demographische Grunddaten 329 a) Bevölkerungsentwicklung 329 b) Bevölkerungsstruktur 332 c) Regionale Verteilung der Bevölkerung 333 d) Nationalitäten der ausländischen Bevölkerung in Spanien 335 2. Gesellschaftliche Entwicklungen 337 a) Eheschließungen und Scheidungen 337 b) Entwicklung der Geburtenrate 338 c) Struktur der Privathaushalte 340 d) Soziale Schichtung und Sozialsystem 343 e) Jugend und Jugendkultur 347 3. Migrationen: Spanien vom Auswanderungs- zum Einwanderungsland 351 Literatur 354
VIII
XVI
XVII
Inhalt
356 356 359 371
Der Arbeitsbereich: Arbeiterbewegung und Arbeitsbeziehungen .. 1. Die historische Arbeiterbewegung: Anarchismus und Sozialismus . . . . 2. Staatssyndikalismus und oppositionelle Arbeiterschaft im Franquismus . 3. Die Arbeiterbewegung in der Transition 4. Gewerkschaften und Arbeiterschaft in der Demokratie Literatur
372 372 377 381 383 394
Bildung und Schulwesen 1. Bildung und Schulwesen in der Neuzeit (bis 1975) 2. Bildung und Schulwesen in der Demokratie (1975-2006) Literatur
396 397 398 399 403 405 408 412 417
XIX
Das Militär 1. Militär und Politik in der neueren spanischen Geschichte 2. Die Streitkräfte in der Transition 3. Das Militär in der Demokratie: Von der Wehrpflicht zur Berufsarmee . . Literatur
418 418 426 430 434
XX
Anhang 1. Spanische Herrscher und Präsidenten 2. Siglen 3. Internetadressen Verzeichnis der Graphiken, Karten, Schemata und Tabellen Personenregister
435 435 440 444 447 456
XVIII Kirche, Staat und Religion 1. Das Verhältnis Staat — Kirche in historischer Perspektive 2. Kirche, Bürgerkrieg und früher Franquismus 3. Das Konkordat mit dem Vatikan (1953) 4. Die Distanzierung der Kirche vom Regime 5. Eine freie Kirche in einem freien Staat 6. Zur Glaubenspraxis der Spanier 7. Probleme zwischen Kirche und Regierung (2004/2006) Literatur
Vorwort
Spanien ist seit vielen Jahren das beliebteste Urlaubsland der Deutschen, die spanische Sprache ist die am schnellsten wachsende Fremdsprache in Deutschland, für spanische Geschichte und die Gegenwart des Landes interessieren sich immer mehr Bürgerinnen und Bürger unseres Landes. Das vorliegende "Spanien-Handbuch" will der deutlich gestiegenen Nachfrage nach Information zu Spanien nachkommen. Es verbindet die historische Perspektive mit der Analyse der Gegenwart. Der Untertitel "Geschichte und Gegenwart" macht deutlich, daß die historischen Aspekte nicht nur als Hinführung zur eigentlichen DarStellung der neuesten Zeit dienen, sondern ihre eigene Berechtigung haben. Das "Handbuch" ist somit keine kurzatmige Einführung in das heutige Spanien; die einzelnen Aspekte werden vielmehr historisch hergeleitet, Geschichte und Gegenwart werden gleichberechtigt behandelt und bilden eine analytische Einheit. Thematisch konzentriert sich das "Handbuch" auf die drei großen Bereich Politik, Wirtschalt, Bevölkerung / Gesellschaft. Eine thematische Einheit "Kultur" wurde bewußt weggelassen: zum einen, da die Berücksichtigung aller relevanten Aspekte dieses Themenbereichs den Umfang des "Handbuchs" deutlich gesprengt hätte; zum anderen, da die Einbeziehung des kulturellen Bereichs eine nicht zu bewältigende inhaltliche und methodische Ausweitung bedeutet hätte. Andererseits werden in den der Politik und Gesellschaft gewidmeten Kapiteln immer auch kulturelle Fragen mit angesprochen (Sprachenproblematik, Bildungsfragen, Identitätsaspekte, Glaubenspraxis und Religion etc.), die über das Inhaltsverzeichnis problemlos zu finden sind. Trotz der Vielfalt der untersuchten Themen kann auch dieses "Handbuch" nicht alle Aspekte der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Spaniens erschöpfend behandeln. Die Auswahl der analysierten Bereiche orientierte sich an den Kriterien historische Relevanz und aktuelle Bedeutung. Die Literaturhinweise am Ende eines jeden Abschnitts enthalten zum einen die dem jeweiligen Kapitel zugrundeliegenden Titel, stellen zum anderen eine Basisbibliographie für weitergehende Recherchen zu nicht oder nur knapp abgehandelten Themen dar. Für äußerst wertvolle Unterstützung bei der Erstellung des "Handbuchs" danke ich den Mitarbeiterinnen des Lehrstuhls Auslandswissenschaft Romanischsprachige Kulturen der Universität Erlangen-Nürnberg: Julie Cano, Eva Gerl, Heidrun Kuka, Melanie Röhser, Ina Roßbach. Sie haben Materialien zusammengestellt und gewissenhaft aufbereitet, bibliographiert und recherchiert, technische Grundlagenarbeit geleistet (Erstellen von Graphiken, Tabellen, Schemata und Karten), schließlich alles in mühevoller Detailarbeit in Form und auf den PC gebracht. Ohne ihre Hilfe läge das "Handbuch" in der jetzigen Form nicht vor. Verbliebene Mängel und Fehler habe selbstverständlich ich allein zu verantworten. Walther L. Bernecker
Nürnberg, Juli 2006
A POLITIK
3
I Chronologie zur spanischen Geschichte
218-206 v. Chr. Eroberung weiter Teile der Iberischen Halbinsel durch römische Truppen. 409 Alanen, Sueben und Vandalen beginnen die Invasion der Halbinsel, die zunächst mit den Römern verbündeten Westgoten besiegen die Eindringlinge und okkupieren Teile der Iberischen Halbinsel selbst. 507 Nach der Schlacht von VouiM bricht das Westgotenreich in Gallien zusammen, und die Westgoten ziehen sich auf die Iberische Halbinsel zurück. 589 Auf dem III. Konzil von Toledo wird der Katholizismus als Reichsreligion verkündet. 710 Westgotische Adelige rufen arabische Truppen zu Hilfe und erheben sich gegen den letzten rechtmäßigen König der Westgoten, Roderich. 711 Schlacht am Fluß Guadalete, Beginn der Araberherrschaft über die Iberische Halbinsel. 756 Abd ar-Rahman I. gründet ein von Damaskus unabhängiges Emirat in Al-Andalus. 1035 Ramiro I. löst die Grafschaft Aragonien aus dem navarresischen Reich heraus und erhebt sie zum unabhängigen Königreich. 1085 Im Zuge der Reconquista erobert König Alfons VI. von Kastilien Toledo und macht es zur Hauptstadt. 1118 Alfons I. von Aragonien erobert Zaragoza und erklärt es zu seiner Hauptstadt. 1134 Navarra wird nach mehrjähriger Besetzung durch Kastilien und Aragonien selbständig. 1212 Die Almohaden-Dynastie erleidet eine vernichtende Niederlage durch die vereinigten kastilischen, navarresischen und aragonesischen Heere bei Navas de Tolosa. 1230 Kastilien und Lehn werden zu einem Königreich vereint. 1238 Jakob I. von Aragonien erobert das Königreich Valencia und verleibt es — wie zuvor die Balearen — der Krone von Aragonien ein.
1257 Alfons X. von Kastilien läßt sich zum deutschen König wählen; dank seiner Förderung wird das Kastilische zur Nationalsprache. 1328 Johanna, Tochter Ludwigs X. von Frankreich. wird zur Königin von Navarra, das damit für ein Jahrhundert unter französische Herrschaft gerät. 1404 Französische Söldner nehmen die Kanarischen Inseln im Auftrag Kastiliens in Besitz. 1469 Prinzessin Isabella von Kastilien heiratet den Erbprinzen von Aragonien, Ferdinand. 1474 Isabella wird mit Hilfe Ferdinands zur Königin Kastiliens, Beginn des Erbfolgekrieges zwischen Isabella und ihrer Nichte Juana la Beltraneja. 1475 Ferdinand wird im Vertrag von Segovia zum Mitregenten in Kastilien und darf sich nunmehr Ferdinand V., König von Kastilien, nennen; der König von Portugal interveniert im Erbfolgekrieg zwischen Isabella und Juana. 1478 In Kastilien wird die Inquisition eingerichtet (in Aragonien erst 1486). 1479 Ferdinand wird als Ferdinand II. zum Herrscher über Aragonien, die verschiedenen Königreiche der Iberischen Halbinsel (mit Ausnahme Portugals) sind in Matrimonialunion vereint; zwischen Portugal und Kastilien kommt es zum Frieden von Alcacovas. 1492 Die Katholischen Könige (Ferdinand und Isabella) erobern die letzte moslemische Festung auf der Iberischen Halbinsel, das seit 1481 belagerte Granada, und verweisen die Juden des Landes; am 12. Oktober betritt Kolumbus zum ersten Mal den amerikanischen Kontinent; Nebrija veröffentlicht die erste kastilische Grammatik. 1494 Der Vertrag von Tordesillas teilt die Interessensphären Spaniens und Portugals in Übersee entlang einer Nord-Süd-Linie 370 Seemeilen westlich der Azoren.
4
I Chronologie zur spanischen Geschichte
1 Chronologie zur spanischen Geschichte
1497 Der Herzog von Medina Sidonia erobert Melilla. 1500 Aufstand der Mauren in Granada; Beginn der Siedlungskolonisation in Amerika. 1502 Ein königliches Edikt zwingt die Mauren zur Taufe oder zur Emigration. 1503 Errichtung der Casa de Contrataciön in Sevilla zur Organisation und Kontrolle des Schiffs-, Waren- und Personenverkehrs mit Amerika. 1504-1516 Nach dem Tod Isabellas regiert Ferdinand Kastilien für seine regierungsunfähige Tochter Juana ("die Wahnsinnige") als Regent. 1510 Spanische Truppen unterwerfen Algier und erobern Tripolis. 1511 Die Audiencia de Santo Domingo wird als erste Verwaltungsinstanz der neuen Kolonialverwaltung gegründet. 1512 Navarra wird der kastilischen Krone einverleibt. 1516 Durch den Tod Ferdinands des Katholischen am 23. Jan. fallen alle kastilischen und aragonesischen Reiche an seine regierungsunfähige Tochter Juana bzw. deren Sohn Karl. 1518 Die Cortes von Kastilien und Aragonien erkennen den Habsburger Karl als Karl I. an. 1519 Am 28. Juni wird Karl I. im Heiligen Römischen Reich zu Kaiser Karl V. gewählt; er benutzt die spanische Wirtschaftsmacht für seine universalistische kaiserliche Politik. 1519-1522 Hernän Cortes erobert Mexiko. 1520/21 Aufstand der städtischen Comuneros in Kastilien gegen die Überfremdung der nationalen Interessen. Am 23. April erfolgt die vernichtende Niederlage der Aufständischen in der Schlacht von Villalar. 1524 Formelle Konstituierung des Consejo Supremo y Real de las Indias als direkt der Krone unterstellter Verwaltungsinstanz der spanischen Besitzungen in Amerika. 1521-1526 Nach der Abwehr der französischen Invasion in Navarra verlagert sich der spanisch-französische Gegensatz nach Italien. In der Entscheidungsschlacht bei Pavia am 24. Febr. 1525 schlägt Karl I. Franz I. von Frankreich vernichtend und nimmt ihn gefangen. 1526 Im Frieden von Madrid diktiert Karl I. seinem Gefangenen die Friedensbedingungen.
Kaum aus der Gefangenschaft entlassen, widerruft Franz dieses Diktat und gründet die "Heilige Liga" von Cognac, an der sich neben dem Papst und den wichtigsten oberitalienischen Städten auch England beteiligt. 1526-1529 Der zweite Krieg zwischen Spanien und Frankreich (sowie der Heiligen Liga) verläuft analog zum ersten, Karl I. kann seinen Einfluß in Oberitalien sogar weiter ausbauen. Mit den Friedensverträgen von Barcelona und Cambray wird der Krieg gegen Frankreich und die Heilige Liga beendet. 1532-1533 Francisco Pizarro dringt ins peruanische Hochland vor und zerschlägt das Inkareich. 1536-1538 Dritter Krieg zwischen Karl I. und Franz I., der mit einem von Papst Paul III. vermittelten Waffenstillstand endet. 1542 Verabschiedung der Leyes Nuevas, die der indianischen Bevölkerung des spanischen Reiches weitgehende Gleichberechtigung verschaffen sollen. 1542-1544 Erneuter Krieg zwischen Frankreich und Spanien um Oberitalien. 1544 Der Friede von Cre beendet den Krieg. Karl I.N. hat wieder Luft, sich dem allgemeinen Konzil und der Herstellung der Glaubenseinheit zu widmen. Von 1545-1563 tagt das von Karl I. lange herbeigesehnte Konzil von Trient. 1545/46 Die Silbervorkommen von Potosf (Bolivien) und Zacatecas (Mexiko) werden entdeckt. 1552-1559 Krieg Karls I. (fortgeführt von seinem Sohn Philipp II.) gegen Frankreich. 1556 Abdankung Karls I. und Amtsübergabe an Philipp II. 1559 Friede von Cateau-Cambr6sis, der die Vorherrschaft Spaniens in Italien und den Besitz der burgundischen Territorien bestätigt. 1560 Erster Staatsbankrott. 1568 Nach zunehmenden Spannungen zwischen den spanischen Herrschern und der niederländischen Bevölkerung kommt es 1568 in den Niederlanden zum Aufstand des Prinzen von Oranien. 1570 Die Türken erobern Zypern. Spanien, Venedig und der Vatikan schließen sich erneut
zu einer "Heiligen Liga" zusammen, schlagen die Türken 1571 bei der Seeschlacht von Lepanto und beenden damit die moslemische Seeherrschaft im Mittelmeer. 1575 Zweiter Staatsbankrott. 1580-1640 Vereinigung Portugals mit Spanien in Personalunion, dadurch verlagern sich die Interessen Philipps II. stärker in den Atlantik und geraten so mit denen der aufstrebenden Seemacht England in Konflikt. 1581 Die in der Union von Utrecht zusammengeschlossenen sieben nördlichen Provinzen der Niederlande erklären sich einseitig für von Spanien unabhängig. 1588 Beim Versuch, in England zu intervenieren, erleidet die von Philipp II. ausgesandte Armada invencible eine verheerende Niederlage. 1589-1590 Philipp II. interveniert nach der Ermordung Heinrichs III. von Frankreich direkt mit einem spanischen Heer im 8. Hugenottenkrieg (1585-1590). Im Kampf um die französische Thronfolge erhebt Philipp II. 1590-1598 für seine Tochter Ansprüche auf den Thron und marschiert in Frankreich ein. Nachdem Heinrich IV. zum katholischen Glauben konvertiert ist und auch die französischen Katholiken die Kandidatur des spanischen Königs ablehnen, wird aus der innerstaatlichen Auseinandersetzung ein internationaler Krieg. Heinrich IV. erklärt 1595 Spanien offiziell den Krieg und verbündet sich ein Jahr später mit Elisabeth I. von England gegen die Spanier. Der Erhalt der Unabhängigkeit der nördlichen Niederlande wird offizielles Kriegsziel. 1596 Dritter Staatsbankrott. 1598 Friede von Vervins: Separatfrieden zwischen Spanien und Frankreich, kurze Zeit darauf stirbt Philipp II. 1604 Friedensschluß mit England. Der Krieg gegen Holland dauert hingegen bis 1606 bzw. 1609. Nachdem zunächst nur die Kampfhandlungen eingestellt worden waren, kommt es drei Jahre später zur Vereinbarung eines auf zwölf Jahre begrenzten Waffenstillstands. Zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges bringt Spanien 1619 die Rheinpfalz unter seine Kontrolle.
5
1621-1665 Philipp IV. und sein Günstling, der Conde-Duque de Olivares, versuchen, Spaniens abnehmende Weltgeltung mit Waffengewalt wieder herzustellen. 1621 endet der Waffenstillstand mit Holland. Der neu ausbrechende Krieg führt nach Anfangserfolgen der Spanier 1635 zum Kriegseintritt Frankreichs (und Englands) gegen Spanien. 1640 führen die sich häufenden Niederlagen zu Aufständen in Katalonien und Portugal. Portugal erklärt seine Unabhängigkeit. 1648 Spanien erkennt im spanisch-niederländischen Sonderfrieden die Unabhängigkeit der Generalstaaten an. Der spanisch-französische Krieg dauert auch nach dem Westfälischen Frieden noch fort und findet erst 1659 im Pyrenäenfrieden ein Ende. Der Pyrenäenfrieden kennzeichnet gleichzeitig den Beginn eines stetigen Machtverlusts Spaniens auch außerhalb Europas. Bereits 1660 geht Jamaika an England verloren. Von 1665-1675 übt Anna von Österreich, die Mutter des letzten Habsburgers Karls II., die Regentschaft für ihren Sohn aus. Unter dem schwachen und unfähigen König verliert Spanien weiter an Einfluß und muß 1668 im Vertrag von Aachen etliche strategische Plätze in Flandern an Frankreich abtreten sowie endgültig die Unabhängigkeit Portugals anerkennen. 1697 Mit Karl II. stirbt die Linie der spanischen Habsburger 1700 aus. Die Erbfolge tritt Philipp von Anjou als Philipp V. an. Dieser muß sich jedoch zwischen 1701 und 1713 im Spanischen Erbfolgekrieg gegen die Haager Allianz durchsetzen, die Erzherzog Karl von Habsburg als Thronfolger Karls II. einsetzen will. 1704 England erobert Gibraltar und Menorca. 1705 Valencia und Katalonien erkennen Karl von Habsburg als Karl III. an. 1713 Friede von Utrecht: Teilung des spanischen Erbes unter Philipp V. von Anjou (bleibt spanischer König und behält alle Kolonien), Österreich (erhält die italienischen und niederländischen Besitzungen Spaniens) und Savoyen (erhält Sizilien). Großbritannien setzt seine Gleichgewichtspolitik durch und steigt zur führenden Macht in Übersee auf, außerdem
6
I Chronologie zur spanischen Geschichte
behält es Gibraltar und Menorca. Des weiteren verbieten die Friedensvereinbarungen ausdrücklich für alle Zukunft eine spanisch-französische Personalunion. 1746-1759 Ferdinand VI. verfolgt einen Neutralitätskurs, läßt aber zum Schutz seiner überseeischen Besitzungen Heer und Flotte ausbauen. Im Vertrag von Aranjuez garantieren sich 1752 Spanien, Kaiser Franz von Habsburg und Kaiserin Maria Theresia ihre europäischen Besitzungen und die Neutralität Italiens. 1759-1788 Karl III. führt wichtige Reformen in der Verwaltung Spaniens sowie der Kolonien durch und modernisiert die Wirtschaft. Von 1779-1783 kämpfen Spanien und Frankreich im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gegen England. 1781 kommt es in Peru zum Tüpac-AmaruAufstand gegen die spanische Kolonialherrschaft. 1788-1808 Karl IV. steht ganz unter dem Einfluß seiner Frau und ihres Günstlings Manuel de Godoy, der ab 1792 auch die Regierungsgeschäfte übernimmt. Der innenpolitisch weiter am Aufgeklärten Absolutismus festhaltende Godoy führt Spanien durch das Bündnis mit dem revolutionären Frankreich in verlustreiche Kriege. Durch den Vertrag von San Ildefonso 1796 wird Spanien auf Seiten Frankreichs in einen Krieg gegen England und Portugal hineingezogen. Als 1798 in Spanien mit der Desamortisation (Enteignung und Verkauf von Kirchengütern) begonnen wird, wird Godoy aus seinen Ämtern entlassen. Aus dem Hintergrund zieht er jedoch weiterhin die Fäden der spanischen Politik. Die spanisch-französische Flotte erleidet vor Trafalgar 1805 eine vernichtende Niederlage. Nach dem Scheitern der französischen Invasion in England beteiligt sich Spanien an der Kontinentalblockade. 1807 Am 27. Oktober unterzeichnen Napoleon und Godoy den Vertrag von Fontainebleau, in dem eine Dreiteilung Portugals beschlossen wird. 1808 Gegen die Willkürherrschaft Godoys kommt es zum Aufstand von Aranjuez. Karl IV. dankt daraufhin zugunsten seines Sohnes Ferdinand VII. ab. Napoleon läßt seine Truppen Madrid besetzen und zwingt Karl und Ferdi-
I Chronologie zur spanischen Geschichte nand in Bayonne am 5. und 10. Mai zum Verzicht auf die spanische Krone. Statt dessen ernennt Napoleon seinen Bruder Joseph Bonaparte am 6. Juni zum spanischen König. Am 2. Mai 1808 beginnt der Volksaufstand gegen die französische Besatzung. Nach anfänglicher Überlegenheit gerät diese zunehmend in die Defensive, da sich die Spanier der Guerrillataktik bedienen. Am 21. Juli 1808 gelingt es den spanischen Aufständischen bei Baildn erstmals, in einem größeren Gefecht die französischen Truppen zu schlagen. 1812/13 Mit Unterstützung britischer Truppen schlagen die Spanier die französischen Truppen nun auch in offenen Feldschlachten bei Salamanca und Vitoria. Am 13. Nov. 1813 gesteht Napoleon im Vertrag von Valencay dem in Frankreich internierten Ferdinand VII. den spanischen Thron wieder zu. Von 1808-1814 tagen die Cortes in Cädiz unter dem Schutz der englischen Flotte. Die am 19. März 1812 von einer liberalen Minderheit beschlossene "Verfassung der spanischen Nation" ist eine der modernsten bis dahin veröffentlichten Verfassungen weltweit. Als Ferdinand VII. 1814 nach Spanien zurückkehrt, löst er die Cortes von Cädiz auf und annuliert die verabschiedete Verfassung. Von 1814-1820 kommt es zu einer Wiederbelebung des Absolutismus in Spanien. 1816-1825 Bis auf Kuba, Puerto Rico und die Philippinen müssen alle Kolonien in die Unabhängigkeit entlassen werden. Am 1. Jan. 1820 Aufstand der Liberalen unter Rafael de Riego y Nüfiez. Ferdinand VII. sieht sich dadurch gezwungen, den Eid auf die Verfassung von Cädiz abzulegen. Die "konstitutionellen drei Jahre" von 1820-1823 werden durch zu Hilfe gerufene französische Truppen der Heiligen Allianz beendet. Nach der blutigen Unterdrückung der liberalen Bewegung regiert Ferdinand VII. bis 1833 erneut absolutistisch. Nach dem Tod Ferdinands erheben sowohl seine Gattin Maria Christina im Namen ihrer minderjährigen Tochter Isabella als auch sein Bruder Don Carlos Anspruch auf die Thronfolge. Der Streit führt zum ersten Karlistenkrieg von 1833-1839. Dieser spaltet das Land und kann nur durch den Kompromiß von Vergara beendet werden, der
eine Amnestie für die Karlisten vorsieht. Ihr Thronprätendent, Don Carlos, geht ins Exil. Da Maria Christina im ersten Karlistenkrieg von den Liberalen gestützt wird, ist sie gezwungen, einen liberalen Kurs einzuschlagen und 1834 eine neue Verfassung, das Estatuto Real, zu verabschieden. Es bleibt jedoch hinter der Verfassung von 1812 zurück. Um den Krieg gegen die Karlisten finanzieren zu können, wird 1835 das erste Desamortisations-Gesetz verabschiedet. 1836 Die durch ein pronunciamiento an die Macht gekommenen radikalen Liberalen (Progresistas) stellen die Verfassung von Cädiz wieder her, zwingen die Königin-Regentin Maria Christina 1840 zur Abdankung und ernennen ihren Führer Baldomero Espartero zum Regenten. Bereits 1843 wird Espartero von General Ramön Marfa Narväez gestürzt, woraufhin die spanischen Cortes 1844 die Thronfolgerin Isabella für volljährig erklären.
Isabellinische Ära (1844-1868) Während der 24 Regierungsjahre Isabellas II. lösen sich 34 Regierungen im Amt ab. Neben den Moderados von Narväez sind es vor allem die Progresistas Esparteros und die gemäßigte Uniion Liberal von Leopoldo O'Donnell, die abwechselnd die Regierungen stellen. 1845 erweitert eine neue Verfassung die Vorrechte der Krone und schränkt die Rechte des Parlaments ein. 1848 wird die erste spanische Eisenbahnlinie von Barcelona nach Matarö eingeweiht. 1858-1863 Während der ununterbrochenen Regierungszeit des gemäßigten O'Donnell erlebt Spanien zwar einen wirtschaftlichen Aufschwung, kann seine innenpolitische Instabilität jedoch auch durch außenpolitische Aktionen in Indochina, Marokko, Mexiko und im PazifikKrieg nicht überwinden. Mit der "Septemberrevolution" der Kriegsflotte vor Cädiz von 1868 stürzen die Progresistas Isabella II. und vertreiben die Bourbonen aus Spanien. 1868 beginnt der Krieg der zehn Jahre um die Unabhängigkeit Kubas.
7
1869 Verabschiedung einer neuen Verfassung und Gründung der Federacidn Obrera Regional Espatiola, einer unter dem Einfluß der Bakunisten stehenden Arbeiterorganisation. 1870 Herzog Amadeo d'Aosta von Savoyen wird von den Cortes zum neuen spanischen König Amadeus I. gewählt. Der deutsche Kandidat Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen hatte nach französischen Drohungen auf eine Kandidatur verzichtet. Napoleon III. erklärt Preußen dennoch den Krieg.
I. Republik Da Amadeus I. weder von Adel und Kirche noch von den Liberalen Zustimmung erfährt, dankt er am 11. Febr. 1873 enttäuscht ab. Noch am selben Tag wird in den Cortes mit großer Mehrheit die I. Republik ausgerufen. Durch die Uneinigkeit der Republikaner kann sich die junge Republik jedoch nicht stabilisieren. Diese Situation nützen die Karlisten aus und fallen von Frankreich aus in Spanien ein. Dadurch kommt es 1872-1876 zum zweiten Karlistenkrieg. Durch die anfänglichen Erfolge der Karlisten, die Spanien bis zum Ebro besetzen können, und den parallel stattfindenden Aufstand der Kantonisten sieht sich General Arsenio Martfnez Campos dazu veranlaßt, den Sohn Isabellas II., Alfons, am 29. Dez. 1874 zum König auszurufen.
Restauration (1874-1930) 1875 Alfons XII. beendet den Karlistenkrieg, entzieht dem Baskenland seine traditionellen Sonderrechte und schafft 1876 eine auf einer konstitutionellen Erbmonarchie, einem Zweikammersystem und dem Vetorecht des Königs basierende Verfassung. 1878 kommt es auf Kuba zum Waffenstillstand von Zanjön, der den Krieg der zehn Jahre beendet. 1879 wird der PSOE (Spanische Sozialistische Arbeiterpartei) auf Anregung von Pablo Iglesias in Madrid gegründet.
8
1 Chronologie zur spanischen Geschichte
1885 und 1902 Gemäß dem Pacto del Pardo wechseln sich der Konservative Cänovas del Castillo und der Liberale Sagasta an der Spitze der Regierung ab. Für die notwendigen Mehrheiten im Parlament sorgt das System der caciques (örtliche Honoratioren) durch Wahlbetrug. 1888 Gründung der sozialistischen Gewerkschaft UGT. 1892 Die Katalanen fordern in den Bases de Manresa Autonomie für Katalonien sowie die wirtschaftliche und politische Neustrukturierung Spaniens. 1895 Im Baskenland wird der PNV (Baskische Nationalistische Partei) gegründet. Auf Kuba beginnt erneut ein Aufstand gegen die spanische Kolonialherrschaft, der 1898 zum Krieg zwischen Spanien und den USA führt. Nach der Vernichtung seiner Flotte muß Spanien im Frieden von Paris Kuba, Puerto Rico und die Philippinen an die USA abtreten. Der Verlust der letzten großen Kolonien führt in Spanien zu einer tiefen Erschütterung der Gesellschaft. 1902 Alfons XIII. wird zum spanischen König gekrönt. Durch Annexionen in Marokko versucht Spanien einen Ersatz für die verlorenen Kolonien in Übersee zu erlangen. 1904 Frankreich erkennt das marokkanische Rifgebiet als spanische Einflußsphäre an. Durch die verlustreichen Feldzüge gegen die RifKabylen kommt es 1909 während der Semana trägica von Barcelona zu schwerwiegenden innenpolitischen Unruhen. 1910 Gründung der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft CNT. In der französisch-spanischen Übereinkunft vom 27. Nov. 1912 werden die beiderseitigen Einflußsphären in Nordafrika endgültig voneinander abgegrenzt. 1913 Katalonien erhält durch die Zulassung der Mancomunitat Catalana erstmals Selbstverwaltungsrechte. 1914 Spanien erklärt seine Neutralität im Weltkrieg und zieht während des Krieges wirtschaftlich großen Nutzen aus dieser Haltung. Die Zuspitzung der militärischen Lage in Marokko und die – trotz Wirtschaftsboom – zunehmenden sozialen Probleme führen 1917
1 Chronologie zur spanischen Geschichte zum revolutionären Generalstreik und dadurch zu einer tiefgreifenden Regierungskrise. 1918 Das von Antonio Maura gebildete "Kabinett der nationalen Regierung" kann die Lage nicht stabilisieren. Der Aufstand der RifKabylen unter Abd el-Krim verschärft die Lage und führt 1921 zum Desastre de Annual.
Diktatur Primo de Riveras (1923-1930) Nach weiteren militärischen Niederlagen und anhaltenden innenpolitischen Problemen übernimmt General Miguel Primo de Rivera 1923-1930 die Macht und errichtet mit Zustimmung des Königs und ohne nennenswerte politische Opposition eine Diktatur. Nach positiven Anfängen verliert Primo de Rivera jegliche Unterstützung. Als die Weltwirtschaftskrise auch Spanien erfaßt, tritt Primo de Rivera am 28. Jan. 1930 zurück. General Dämaso Berenguer tritt seine Nachfolge als Ministerpräsident an. Aug. 1930 Im Pakt von San Sebastiän schließen sich bürgerliche und sozialistische Parteien zusammen und planen die Einführung der Republik. 14. Apr. 1931 In mehreren Städten wird die Republik ausgerufen, Alfons XIII. verläßt daraufhin Spanien, ohne auf seine Rechte zu verzichten.
II. Republik (1931-1936) Bereits kurz nach der Bildung einer provisorischen Regierung aus Republikanern und Sozialisten kommt es zu ersten antiklerikalen Ausschreitungen. Bei den Wahlen zu den Cortes Constituyentes (Verfassungsgebende Versammlung) am 28. Juni 1931 kommt es zu einem überwältigenden Wahlsieg der Republikaner und Sozialisten. Am 9. Dez. 1931 wird die Verfassung der Republik verkündet. Niceto Alcalä Zamora wird zum ersten Präsidenten der Republik gewählt. Die erste reguläre Regierung wird von Manuel Azafta als Ministerpräsident am 15. Dez. 1931 aus Republikanern, Sozia-
listen, Regionalisten und unabhängigen Kandidaten gebildet. Die verarmte Arbeiterschaft drängt mit militanten Aktionen ungeduldig auf eine rasche Landreform. 1932
10. Aug. Ein erster antirepublikanischer Aufstandsversuch des rechtsgerichteten Generals Jose Sanjurjo y Sacanell in Sevilla erschüttert die junge Republik. 15. Sept. Das Autonomiestatut für Katalonien wird verabschiedet. Zur gleichen Zeit versucht das Agrarreformgesetz, die jahrhundertealte ungerechte Landaufteilung zu reformieren. 1933 Anfang des Jahres kommt es unter Leitung der in der anarchosyndikalistischen CNT organisierten Arbeiter zu zahlreichen Aufstandsversuchen gegen die Republik. 8. Jan. und 29. Okt. 1933 Die faschistischen Juntas de Ofensiva Nacional-Sindicalista von Ramiro Ledesma Ramos und die rechtsextreme Falange Espatiola von Jos Antonio Primo de Rivera werden gegründet. Bereits 1934 schließen sie sich zusammen. 19. Nov. 1933 Die vereinigten Rechtsparteien erringen bei den Parlamentswahlen die Mehrheit. Am 18. Dez. 1933 bildet Alejandro Lerroux die neue Mitterechtsregierung. 1934 28. Apr. Der radikale Ricardo Samper löst die erste Regierung Lerroux ab. Am 4. Okt. kommt es erneut zur Regierungsbildung unter Lerroux, zum ersten Mal werden auch Politiker der rechten CEDA beteiligt. Als Reaktion der Linken kommt es zum Bergarbeiteraufstand in Asturien. Parallel dazu erklärt sich Katalonien für "unabhängig". Beide Aufstände werden blutig niedergeschlagen. 1935 Im Dez. löst der Präsident der Republik die Cortes als Reaktion auf die zunehmende innenpolitische Instabilität auf.
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1936 Am 15. Jan. schließen sich die Linksparteien zum Wahlblock der Volksfront zusammen und gewinnen die Parlamentswahlen am 16. Febr. deutlich. Manuel Azaria bildet eine Volksfrontregierung. Am 10. Mai wird Azafia zum Staatspräsidenten gewählt. Santiago Casares Quiroga tritt seine Nachfolge als Regierungschef an. Die seit Monaten einen Putsch vorbereitenden Militärs nehmen die Ermordung des Monarchistenführers Jos Calvo Sotelo am 13. Juli zum Anlaß und erheben sich am 17./18. Juli gegen die Republik. Durch den Widerstand großer Teile der Arbeiterschaft schlägt der Putsch fehl und weitet sich zum Bürgerkrieg. Bürgerkrieg (1936-1939) 19. Juli Josd Giral bildet die erste republikanische Regierung des Bürgerkrieges, die jedoch bereits am 4. Sept. von der Volksfrontregierung Francisco Largo Caballero abgelöst wird. In weiten Teilen der Republik kommt es unter Führung der Anarchisten und Linkssozialisten zu einer sozialen Revolution. In den von den Aufständischen kontrollierten Gebieten kommt es am 1. Okt. zur Bildung einer "nationalen" Regierung unter Francisco Franco, die kurz darauf von Deutschland und Italien anerkannt wird. Bereits seit dem 28. Juli transportieren deutsche Flugzeugverbände Truppen der Aufständischen von Marokko nach Spanien. Der Angriff der Aufständischen gegen die Hauptstadt Madrid am 8. Nov. wird mit Hilfe der Internationalen Brigaden abgewehrt. 1937 Die Schlachten zu Beginn des Jahres bringen keiner der beiden Seiten einen entscheidenden Vorteil. 19. Apr. Franco schließt die zersplitterte Rechte zu einer Einheitspartei mit dem Namen FET y de las IONS zusammen. Am 26. Apr. zerstören deutsche Kampfflieger der "Legion Condor" die baskische Stadt Guernica. 18. Mai Im republikanischen Lager kommt es zu einer Regierungsumbildung, neuer Ministerpräsident wird Juan Negrfn. In Barcelona kommt es im Mai zu Kämpfen zwischen Anarchisten und Kommunisten.
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I Chronologie zur spanischen Geschichte
1938 30. Jan Franco bildet seine erste Regierung und erläßt das "nationale" Gesetz zur Organisation der Zentralverwaltung. 9. März Die "Charta" der Arbeit, das Grundgesetz der neuen Wirtschafts- und Sozialpolitik des franquistischen Spanien, wird erlassen. 15. Apr. Mit dem Erreichen des Mittelmeers bei Vinaroz teilen die Aufständischen das republikanische Territorium in zwei Teile. 25. Juli Der Beginn der mehrmonatigen Ebro-Schlacht leitet die Endphase des Bürgerkrieges ein. 1939 26. Jan. Die Truppen Francos marschieren in Barcelona ein. 5. Febr. Staatspräsident Azaria flieht nach Frankreich. Am 27. Febr. erkennen Großbritannien und Frankreich die Regierung Francos an. 27. März Spanien tritt dem Antikominternpakt bei; wenige Tage später kommt es zur Unterzeichnung des "Deutsch-Spanischen Freundschaftsvertrages" in Burgos. 1. Apr. Franco erklärt den Bürgerkrieg für beendet. Im fünf Monate später ausbrechenden Zweiten Weltkrieg erklärt sich das weitgehend verwüstete Spanien abwechselnd für neutral und nichtkriegführend.
Franco-Diktatur (1939-1975) 1939 - ca. 1948 Anhänger der Republik versuchen, einen Guerrillakrieg gegen das franquistische Spanien zu führen. 1940 14. Juni Spanische Truppen besetzen Tanger und annullieren den internationalen Status der Stadt. 1941 12. Febr. Franco und Mussolini treffen sich in Bordighera.
I Chronologie zur spanischen Geschichte
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24. Juni Franco entsendet die Divisiön Azul als "Freiwilligenverband" an die Ostfront. 25. Sept. Das Instituto Nacional de Industria zur Industrialisierung Spaniens wird gegründet.
1956 10. Febr. In Madrid kommt es zu Studentenprotesten gegen die Diktatur. 7. Apr. Spanien erkennt die Unabhängigkeit Marokkos an.
1967 28. Juni Das Gesetz über Religionsfreiheit wird verkündet. 10. Sept. Auf Gibraltar kommt es zu einer Abstimmung zugunsten Großbritanniens.
1942 17. Juli Erlaß des Gesetzes über die Bildung der neuen spanischen Cortes als Ständekammer. 20. Dez. Spanien und Portugal schließen den Pacto Ibärico.
1958 20. Jan. Spanien wird in die OEEC aufgenommen. 24. Apr. Nach Streiks und landesweiten Arbeiterprotesten wird ein Gesetz über kollektive Tarifabschlüsse verabschiedet; im Untergrund formieren sich die CCOO (Arbeiterkommissionen). 17. Mai Franco verkündet das Gesetz über die Prinzipien der Nationalen Bewegung. 20. Mai Spanien tritt dem Internationalen Währungsfond bei.
1968 11. Jan. Ein Teil der Madrider Universität wird nach Studentenunruhen geschlossen. 2. Aug. ETA ermordet den Polizeiinspektor Melitön Manzanas. 12. Okt. Guinea erklärt sich von Spanien unabhängig.
1945 19. März Don Juan de Borbön, der Sohn von Alfons XIII., verkündet öffentlich seine antifranquistische Haltung. 17. Juli Die Cortes verkünden das "Grundgesetz" der Spanier. 1946 8. Dez. Die UN empfehlen ihren Mitgliedern, die diplomatischen Beziehungen zu Spanien abzubrechen; bis auf Argentinien und den Vatikan folgen alle Mitglieder dieser Aufforderung. 1947 30. Jan. Ein Handelsabkommen zwischen Spanien und Argentinien sichert die spanische Grundversorgung auf niedrigstem Niveau. 26. Juli Franco regelt per Gesetz die Nachfolge in der Staatsführung und erklärt Spanien erneut zur Monarchie.
1959 Febr. Jugendliche aus dem Umfeld des PNV gründen ETA zum Kampf gegen die Diktatur. 21. Juli Die spanische Regierung verkündet den Stabilisierungsplan und leitet damit eine neue Wirtschaftspolitik ein. 1962 9. Febr. Spanien stellt einen Assoziationsantrag an die EWG. 1963 17. Jan. Ein erstes Dekret über Mindestlöhne wird verabschiedet. Apr. und Aug. Wiederholt werden FrancoGegner hingerichtet.
1950 4. Nov. Die UN heben ihren Boykottbeschluß gegen Spanien auf.
1964 9. Dez. Die EWG beginnt Vorgespräche mit der spanischen Regierung.
1953 30. Jan. Spanien wird in die UNESCO aufgenommen. 27. Aug. Das Konkordat zwischen dem Vatikan und Spanien wird unterzeichnet.
1966 11. März Beim Versuch, eine unabhängige Studentengewerkschaft zu gründen, kommt es zu zahlreichen Verhaftungen. 15. März Unter der Regie von Manuel Fraga Iribarne wird ein neues Pressegesetz verabschiedet. 14. Dez. Die von Franco vorgelegte Ley Orgänica del Estado (Staatsorgangesetz) wird per Volksentscheid angenommen.
1955 15. Dez. Spanien wird Mitglied der UN.
1969 4. Jan. Franco gibt Ifni an Marokko zurück. 23. Juli Prinz Juan Carlos wird zum Nachfolger Francos erklärt. 1970 29. Juni Spanien und die EWG unterzeichnen ein Präferenzabkommen. 1973 4. Juni Franco überträgt das Amt des Ministerpräsidenten an Admiral Luis Carrero Blanco. 31. Dez. Carlos Arias Navarro wird zum Nachfolger des von ETA ermordeten Carrero Blanco. 1974 12. Febr. Das "Regierungsprogramm der Öffnung" wird verabschiedet. 4. März Durch die Predigt des Bischofs von Bilbao verschärft sich der Konflikt zwischen Staat und Kirche. 9. Juli Nach der Einlieferung Francos in ein Krankenhaus übernimmt Juan Carlos erstmals das Amt des Staatschefs. 27. Nov. Hunderttausende fordern bei einem Streik ihre wirtschaftliche Besserstellung, eine Amnestie und Gewerkschaftsfreiheit. 21. Dez. Das Gesetz über die Zulassung "politischer Assoziationen" als Parteisurrogate wird verkündet.
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1975 18. Juni Die oppositionelle "Plattform der demokratischen Konvergenz" wird vom PSOE, den Christdemokraten u. a. Oppositionsgruppen gegründet. 27. Sept. Kurz nach der Verkündung eines harten Antiterrorgesetzes werden mehrere angebliche Terroristen hingerichtet. Dies führt zu heftigen antifranquistischen Demonstrationen in Europa und der Abberufung etlicher Botschafter aus Madrid. 1. Okt. Auf der Plaza de Oriente in Madrid kommt es zu einer letzten profranquistischen Massendemonstration. 14. Nov. Im "Abkommen von Madrid" tritt Spanien die Spanische Sahara an Marokko und Mauretanien ab. 20. Nov. Franco stirbt. 22. Nov. Juan Carlos wird zum König von Spanien ausgerufen. 5. Dez. Arias Navarro wird erneut mit dem Amt des Ministerpräsidenten betraut.
1976 4. Mai Die erste unabhängige Tageszeitung (El Pais) erscheint. 25. Mai Das Verbot, politische Versammlungen und Demonstrationen abzuhalten, wird aufgehoben. 9. Juni Ein neues Gesetz über politische Zusammenschlüsse (Parteiengesetz) wird erlassen. 1. Juli Arias Navarro tritt als Regierungschef zurück, zwei Tage später wird Adolfo Suärez zu seinem Nachfolger ernannt. 4. Aug. Die Regierung erläßt ein Amnestiegesetz. 15. Dez. Das Referendum über das Demokratisierungsprojekt wird abgehalten.
1977 30. März Durch ein neues Gewerkschaftsgesetz werden freie Gewerkschaften legalisiert, kurz darauf auch die Kommunistische Partei. 15. Juni Bei den ersten freien Parlamentswahlen seit 1936 siegt die UCD. 25. Okt. Die Regierung und die Opposition schließen den "Pakt von Moncloa", um die Wirtschaftskrise zu bekämpfen.
I Chronologie zur spanischen Geschichte
24. Nov. Spanien wird in den Europarat aufgenommen.
1985 12. Juni Spanien unterzeichnet die Beitrittsprotokolle zur EG.
1978 7. Dez. Die bereits am 31. Okt. von den Cortes verabschiedete Verfassung wird durch Volksabstimmung gebilligt.
1986 1. Jan. Spanien wird Vollmitglied der EG. 12. März Die Mehrheit der Spanier stimmt
1979 1. März Bei den nach Einführung der neuen
für einen Verbleib in der NATO. 22. Juni Trotz erheblicher Verluste behauptet der PSOE bei den Parlamentswahlen seine absolute Mehrheit.
Verfassung notwendigen Parlamentswahlen siegt erneut die UCD. 25. Okt. Im Baskenland und in Katalonien werden die Autonomiestatute per Volksentscheid angenommen.
1980 März Bei den Wahlen zu den Regionalparlamenten im Baskenland und in Katalonien kommt es jeweils zum Sieg der nationalistischen Parteien. 24. Juli Ein neues Gesetz zur Religionsfreiheit trennt Kirche und Staat. 21. Dez. Die Galicier stimmen über das galicische Autonomiestatut ab.
1981 29. Jan. Regierungschef Suärez tritt von seinem Amt zurück. 23. Febr. Einheiten der Guardia Civil unter Oberstleutnant Antonio Tejero unternehmen einen Putschversuch. 25. Febr. Leopoldo Calvo Sotelo wird zum neuen Regierungschef gewählt. 2. Aug. Die UCD und der PSOE vereinbaren die Umwandlung Spaniens in einen dezentralisierten Staat. 20. Okt. Die Andalusier stimmen mehrheitlich für die Annahme ihres Autonomiestatuts. 1982
30. Mai Spanien wird zum 16. Mitgliedsland der NATO. 28. Okt. Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen kommt es zu einem Sieg der Sozialisten. 2. Dez. Felipe Gonzälez wird zum Ministerpräsidenten gewählt.
1988 14. Dez. Generalstreik gegen die Wirtschafts- und Sozialpolitik der sozialistischen Regierung.
1989 1. Jan. Turnusgemäß übernimmt Spanien zum ersten Mal die EG-Präsidentschaft. 24. Apr. Spanien tritt der WEU bei. 19. Juni Die Pesete wird in das europäische Währungssystem integriert. 29. Okt. Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen verfehlen die Sozialisten die absolute Mehrheit um ein Mandat. Felipe Gonzälez tritt seine dritte Amtszeit an.
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28. Mai Der PSOE erleidet zum wiederholten Mal schwere Verluste bei Kommunalwahlen. 1. Juli Spanien übernimmt die Präsidentschaft der EU. 15. Sept. Die Katalanen kündigen die Unterstützung der Sozialisten in den Cortes auf. 18. Dez. Javier Solana wird zum neuen NATO-Generalsekretär ernannt. 1996 3. März Bei den vorgezogenen Neuwahlen erringt der PP (38,85 %) einen knappen Sieg gegenüber dem PSOE (37,48 %). 4. Mai Jos6 Marfa Aznar (PP) wird zum neuen Regierungschef gewählt. 4. Okt. Die neue Regierung verkündet einen strengen Sparhaushalt für 1997.
1997 8. Apr. Die Regierung verkündet einen
kommen bei.
neuen Konvergenzplan zur Erfüllung der Maastrichtkriterien, außerdem kommt es zu weitreichenden Arbeitsmarktreformen, die zu einem deutlichen Sinken der Arbeitslosenquote führen. 19.-22. Juni Felipe Gonzälez verzichtet auf dem 34. PSOE-Kongreß auf die Wiederwahl zum Generalsekretär der Partei, sein Nachfolger wird Joaqufn Almunia. 13. Juli Nach der Ermordung eines baskischen Regionalpolitikers kommt es zu millionenfachen Anti-ETA-Demonstrationen in ganz Spanien. 1. Dez. Die 23 Vorstandsmitglieder der ETA-nahen Partei Heut Batasuna werden zu je sieben Jahren Gefängnis wegen "Zusammenarbeit mit einer bewaffneten Bande" verurteilt. 2. Dez. Spanien tritt der Militärstruktur der NATO bei.
1993 6. Juni Bei den vorgezogenen Neuwahlen
1998 2. Mai Der EU-Rat beschließt, daß die
erreicht der PSOE abermals nicht die absolute Mehrheit, stellt aber weiterhin die Regierung.
Europäische Währungsunion termingerecht am 1. Januar 1999 mit elf Teilnehmerstaaten, darunter Spanien, beginnt. 12. Sept. 23 nationalistische Parteien und Organisationen im Baskenland unterzeichnen die "Erklärung von Lizarra" als Friedensinitiative für das Baskenland.
1990 5. Febr. Der ehemalige Franco-Minister Manuel Fraga Iribarne wird Regierungschef Galiciens. 10. Apr. Jose Marfa Aznar wird zum Vorsitzenden des PP gewählt.
1991 25. Juni Spanien tritt dem Schengener Ab-
1995
8. Febr. Felipe Gonzälez wird verdächtigt, die illegalen GAL-Aktivitäten unterstützt zu haben.
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I Chronologie zur spanischen Geschichte
16. Sept. ETA verkündet einen unbefristeten und totalen Waffenstillstand ab dem 18. September. 25. Okt. Aus den Wahlen zum Regionalparlament des Baskenlandes gehen sowohl der PP als auch Euskal Herritarrok, der politische Arm von ETA, gestärkt hervor, der PNV bleibt mit knapp 28% stärkste Partei. 1999 18. Febr. Das Parlament beschließt die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht bis Ende 2002. 29. März Nach zähen Verhandlungen zwischen spanischen und deutschen Politikern einigen sich die Staats- und Regierungschef der Europäischen Union auf die Kernpunkte der Reform der Agrar- und Strukturpolitik sowie die Neuordnung der EU-Finanzierung (Agenda 2000). 4. Juni Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union ernennen den Spanier Javier Solana zum ersten hohen Repräsentanten für die europäische Außen- und Sicherheitspolitik. 16.Aug. Jos6 Marfa Aznar stattet dem neuen marokkanischen Monarchen Mohammed VI. als erster europäischer Regierungschef einen offiziellen Besuch ab. 28. Nov. ETA kündigt ihren 1998 verkündeten Waffenstillstand mit Wirkung zum 3. Dezember und begründet dies mit der anhaltenden Repression gegen ihre Mitglieder.
2000 5. Febr. In El Ejido (Prov. Almerfa) kommt es zu pogromartigen Ausschreitungen gegen die marokkanischen Arbeiter in der Region. 12. März Bei den Parlamentswahlen siegt der PP mit absoluter Mehrheit. Die Sozialisten müssen ihr schlechtestes Ergebnis seit 1979 hinnehmen. 19. Apr. Spanien und Großbritannien einigen sich auf einen Mechanismus zur Anwendung von EU-Recht in der britischen Kronkolonie Gibraltar. 26. Apr. In Madrid werden fünf Angeklagte wegen Entführung, Folter und Mordes von zwei
I Chronologie zur spanischen Geschichte mutmaßlichen ETA-Mitgliedern zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. 12.-16. Juli Eine Terrorwelle von ETA erschüttert Spanien. 18.-20. Sept. König Mohammed VI. von Marokko hält sich zu einem ersten offiziellen Staatsbesuch in Spanien auf. 21. Nov. ETA erschießt den sozialistischen Ex-Minister und Wirtschaftshistoriker Ernest Lluch in Barcelona, der Anschlag überschattet die Feierlichkeiten zum 25-jährigen Thronjubiläum von König Juan Carlos. 8. Dez. PP und PSOE unterzeichnen eine Vereinbarung, in der sie ihre parteipolitischen Interessen bei der Bekämpfung von ETA zurückstellen.
2001 13. Mai Bei den vorgezogenen Regionalwahlen im Baskenland siegt überraschend das Bündnis der gemäßigten Nationalisten unter Ministerpräsident Juan Jos6 Ibarretxe. 22. Juli Die Zentralregierung in Madrid warnt die autonome Regierung des Baskenlandes davor, eine Volksabstimmung über eine Abspaltung der Region von Spanien durchzuführen. 5. Sept. Zwischen Spanien und Marokko kommt es wegen der anhaltenden illegalen Einwanderung von Marokko nach Spanien zunehmend zu Spannungen. 2. Dez. In Madrid kommt es zu den bis dahin größten Protestaktionen gegen die Regierung Aznar und die von ihr durch das Parlament gepeitschte Ley Orgänica de Universidades. 31. Dez. Abschaffung der Wehrpflicht
2002 1. Jan. Spanien übernimmt den EU-Vorsitz. 20. Juni Landesweiter Generalstreik gegen die Umstrukturierung der Arbeitsgesetzgebung durch die Regierung Aznar. 27. Juni Die spanischen Cortes verabschieden ein neues Parteiengesetz, das ein dauerhaftes Verbot ETA-naher Parteien ermöglicht. 11. Juli Marokkanische Soldaten besetzen die Insel Perejil/Leila vor der marokkanischen Küste.
12. Juli Großbritanien und Spanien geben ihre Einigung über den zukünftigen Status von Gibraltar bekannt. 17. Juli Spanische Soldaten zwingen die marokkanischen Soldaten, Perejil zu verlassen. 20. Juli Spanien und Marokko legen ihren Konflikt um die Insel Perejil/Leila vorläufig bei. 3. Aug. Marokko erhebt erneut Ansprüche auf die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla. 26. Sept. Der baskische Ministerpräsident Juan Jose Ibarretxe kündigt im baskischen Parlament an, das Baskenland zu einem mit Spanien assoziierten Freistaat machen zu wollen. 8. Okt. Unterzeichnung des Spanisch-Algerischen Freundschaftsvertrages durch Ministerpräsident Aznar und Präsident Bouteflika in Madrid. 7. Nov. Die Bevölkerung der britischen Kronkolonie Gibraltar lehnt eine geteilte Souveränität zwischen Großbritannien und Spanien über Gibraltar mit mehr als 99% ab. 20. Nov. Die Mitglieder der Verfassungskommission der Cortes verurteilen erstmals einstimmig und ohne Enthaltungen die franquistische Diktatur und fordern die Entschädigung ihrer Opfer. 2003 30. Jan. Spanien sowie sieben weitere Staaten veröffentlichen eine gemeinsame Erklärung, in der sie die US-amerikanische Irak-Politik unterstützen. 15. Febr. Mehr als drei Millionen Menschen in ganz Spanien protestieren gegen den Kurs der Regierung Aznar im Irak-Konflikt. 24. Febr. Spanien legt zusammen mit den USA und Großbritannien dem Sicherheitsrat der UN einen Resolutionsentwurf vor, der einen Militärschlag gegen den Irak legalisieren soll. 25. Mai Bei den landesweiten Kommunalund Regionalwahlen in 13 der 17 Autonomen Gemeinschaften wird der PSOE insgesamt zwar zur stärksten Partei, die erwarteten starken Verluste des PP bleiben jedoch aus. 28. Mai Amnesty International berichtet von Folter und Mißhandlungen in spanischen Haftanstalten und Internierungslagern für illegale Einwanderer.
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24. Juli Ein Vorauskommando der spanischen Streitkräfte trifft im Irak ein. Insgesamt entsendet Spanien 1300 Mann als Besatzungstruppen in den Irak. 2. Sept. Mariano Rajoy wird zum Generalsekretär und Spitzenkandidaten des PP für die Wahlen im März 2004 gewählt, Jose Marfa Aznar kandidert nicht mehr. 14. Dez. Durch das "Nein" Spaniens und Polens zur Veränderung der Stimmgewichtung innerhalb der EU scheitert die Einführung der EU-Verfassung zum geplanten Zeitpunkt. 2004 11. März Durch Bombenanschläge in den Madrider Bahnhöfen Atocha, Santa Eugenia und El Pozo werden 191 Menschen getötet und mehr als 1500 verletzt. Auf Druck der amtierenden Regierung Aznar wird der Verdacht sofort auf ETA gelenkt. Obwohl sich in den folgenden Tagen die Hinweise auf eine Täterschaft von islamistischen Terroristen verdichten, beharrt die Regierung des PP auf ihrer These der ETA-Täterschaft, um unmittelbar vor den Parlamentswahlen weiterer Kritik an ihrer Irakpolitik zu entgehen. Bei der Aufklärung des Attentats in den folgenden Monaten wird der Regierung Verschleierung und Manipulation vorgeworfen. 12. März In ganz Spanien nehmen mehr als 11 Millionen Menschen an Demonstrationen gegen die Terroranschläge und zum Gedenken der Opfer teil. 14. März Bei den Parlamentswahlen setzt sich überraschend die Sozialistische Arbeiterpartei PSOE unter Jose Luis Rodrfguez Zapatero mit 42,64% der abgegebenen Stimmen gegen die bisher mit absoluter Mehrheit regierende Volkspartei PP durch. 15. März Zapatero löst sein Wahlversprechen ein und kündigt den Rückzug der spanischen Truppen aus dem Irak an. 16. März Spaniens Sozialisten wollen die Blockadehaltung gegenüber der EU-Verfassung aufgeben. 22. Mai Kronprinz Felipe heiratet Letizia Ortiz Rocasolano in der Madrider AlmudenaKathedrale.
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25. Mai Die Regierung beabsichtigt die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe sowie die Legalisierung der Abtreibung. 13. Juni An den Wahlen zum Europäischen Parlament beteiligen sich 45,94% der Wahlberechtigten. Der PSOE erreicht 25 Mandate, der PP 24, eine Koalition nationalistischer Parteien namens GALEUSCA erhält zwei Mandate. 30. Aug. Die Regierung plant einen drastischen Kurswechsel in der Ausländerpolitik. Sie will illegalen Einwanderern, die Arbeit haben, ein Bleiberecht geben. 15. Okt. Sieben Monate nach den Madrider Anschlägen wird der mutmaßliche Anführer des islamistischen Terrorkommandos identifiziert. 15. Nov. Die verbotene baskische Partei Batasuna legt einen Friedensplan vor und ruft dazu auf, den bewaffneten Kampf zu beenden. Ihr Vorsitzender schlägt Spanien und Frankreich ein Referendum über die Zukunft des Baskenlandes vor. 6. Dez. Die baskische Untergrundorganisation ETA verübt um die Mittagszeit zeitlich abgestimmte Bombenanschläge in mehreren spanischen Städten. 2005 2. Febr. Das spanische Parlament lehnt den umstrittenen Unabhängigkeitsplan (Plan lbarretxe) für das Baskenland ab. 20. Febr. In einem Referendum, an dem 41 % der Stimmberechtigten teilnehmen, ratifiziert Spanien als erstes Land die Verfassung der Europäischen Union mit einer Zustimmung von 78,5% der Abstimmungsteilnehmer. 30. Juni Das Parlament beschließt die Zulassung der Homosexuellenehe.
29. Sept. Beim Ansturm hunderter afrikanischer Flüchtlinge auf die Exklave Ceuta sterben zwei Menschen. 10. Okt. Marokko beginnt mit der Abschiebung von etwa 1000 illegalen Flüchtlingen, die in der Vorwoche in die spanischen Nordafrika-Exklaven Ceuta und Melilla geflohen waren. Das Verhalten der spanischen Regierung in der Flüchtlingspolitik wird von der EU sowie Amnesty International kritisiert. 14. Okt. In Salamanca findet der XV. Iberoamerika-Gipfel statt. Themen sind vor allem die Problemfelder Staatsverschuldung und Migration. 2006 1. Jan. Ein Gesetz zum Nichtraucherschutz tritt in Kraft. 4.-6. März Parteitag des PP; heftige Attacken gegen die Nationalitäten- und Antiterrorismuspolitik des PSOE. 2. Mai Verabschiedung des neuen andalusischen Autonomiestatuts im Regionalparlament von Sevilla. 11. Mai Bruch der katalanischen Regionalregierung wegen der Ablehnung des neuen Autonomiestatuts durch die ERC. 19. Mai Billigung des "Plan Afrika" zur Eindämmung des Zustromes illegaler schwarzafrikanischer Einwanderer auf die Kanarischen Inseln. 9. Juni Arbeitsmarktreform; Besserstellung der Zeitarbeit. 18. Juni Annahme des neuen Autonomiestatuts durch Referendum in Katalonien (74% Zustimmung bei einer Wahlbeteiligung von knapp 50%). 28. Juli Gesetzesprojekt zur Rehabilitierung der Opfer von Bürgerkrieg und Diktatur.
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II Historische Karten
II Historische Karten
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II Historische Karten Karte 1: Hispania in römischer Zeit
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Provinzgrenzen •
Provinzhauptstädte
Karte 1 zeigt die Iberische Halbinsel zur Zeit von Kaiser Caracalla (211-217) zu Beginn des 3. Jahrhunderts. Schon nach dem Zweiten Punischen Krieg (218-201 v. Chr.) hatten die Römer Hispania in Provinzen aufgeteilt: Hispania Citerior (näher an Italien gelegen) und Hispania Ulterior (der von Italien weiter entfernte Teil). Die Lex provinciae aus dem Jahr 133 v. Chr. legte eine Provinzeinteilung fest, die (bei vielfältigen Veränderungen) während der gesamten republikanischen Periode (2. und 1. Jahrhundert v. Chr.) Bestand haben sollte. Eine Neugliederung des Gebiets nahm sodann Kaiser Augustus (29 v. Chr.-14 n. Chr.) vor: Er unterteilte die Provinz Hispania Ulterior in zwei: Baetica und Lusitania; Hispania Citerior wurde zu Tarraconensis (einschließlich der kantabrischen Nordküste). Außerdem führte er zwei Provinzkategorien ein: die senatorischen, die "befriedet" waren und dem Senat unterstanden, und die kaiserlichen, deren Romanisierungsprozeß noch nicht abgeschlossen war und die dem Kaiser direkt unterstanden. Baetica wurde zu einer senatorischen Provinz und einem Prokonsul unterstellt, Lusitania und Tarraconensis wurden zu imperialen Provinzen. Caracalla schuf mit Gallaecia eine neue Provinz. Zu diesem Zeitpunkt war Hispania bereits weitgehend romanisiert, Latein hatte allmählich die einheimischen Sprachen verdrängt. In der Literatur kennt man diese Epoche als die "goldene Phase" Hispaniens, das in den laudes Hispaniae der lateinischen Literatur als privilegierter Teil des Imperium Romanum besungen wurde.
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Karte 2:
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Karte 2 zeigt die politisch-territoriale Organisation des westgotischen "Spania" im 7. Jahrhundert. Zu Beginn des 5. Jahrhunderts waren bereits die Sueben, Vandalen und Alanen in Hispania einmarschiert und hatten den größten Teil des iberischen Territoriums unter sich aufgeteilt (Sueben und Vandalen: Gallaecia; Alanen: Lusitania und Cartaginensis; Vandalen: Baetica und das nordafrikanische Mauretania). Sehr schnell folgten die Westgoten als foederati Roms, deren Hauptstadt Tolosa (Toulouse) war; sie bekämpften im 5. Jahrhundert vor allem die Sueben, die sich in den Nordwesten (Gallaecia) zurückziehen mußten. Nach Niederlagen gegen die fränkischen Merowinger zogen sich die Westgoten zu Beginn des 6. Jahrhunderts ganz auf die Iberische Halbinsel zurück. Die Historia Gothorum des Heiligen Isidor von Sevilla (570-636) berichtet über diese Zeit. Die Westgoten bildeten allenfalls eine 200.000 Personen umfassende militärische Oberschicht, die sich zum Arianismus bekannte und von den sechs bis sieben Millionen katholischen Hispano-Romanen getrennt lebte. Von entscheidender Bedeutung war die Herrschaft Leovigilds (572-586), der die territoriale, juristische und religiöse Vereinheitlichung Iberiens vorantrieb. 587 traten Rekared I. und mit ihm alle Westgoten zum Katholizismus über. Die Westgoten orientierten sich bei ihrer Territorialeinteilung an den römischen Provinzen. Die Tarraconensis wurde zu Iberia, die Cartaginensis zu Aurariola, der Norden wurde Autrigonia genannt, Gallaecia behielt den Namen, von der Bätica spaltete sich im Nordwesten Hispalis ab, Lusitania wurde beibehalten. Septimania reichte im Nordosten über die Halbinsel hinaus. Die Balearen blieben unter vandalischer und spätier byzantinischer Herrschaft. Das Liber Iudiciorum von 654 faßte die Gesetzestexte des Westgotenreiches zusammen.
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Karte 3: Historische Regionen
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Karte 3 zeigt die "historischen Regionen" der Iberischen Halbinsel. Sowohl die territoriale Einteilung als auch die Bezeichnungen der "historischen Regionen" haben sich im Mittelalter, während der Reconquista, herausgebildet. Sie waren großteils bis ins 20. Jahrhundert in Gebrauch. Erst der "Staat der Autonomien", der im Gefolge der Verfassung von 1978 entstand, schuf teilweise neue politische Einheiten und andere Bezeichnungen. "Alt-Kastilien" (Castilla la Vieja) und Leön bilden heute die Autonome Gemeinschaft Kastilien-Leön, "NeuKastilien" (Castilla la Nueva) wurde zur Autonomen Gemeinschaft Kastilien-La Mancha. Die Karte weist Portugal als eine selbständige politische Einheit aus. Ausgehend vom nördlichen Braga, das zu einem bedeutenden Bischofssitz wurde, entwickelte sich der politisch eine Zeitlang im Königreich Galicien zusammengehörige Nordwesten der Halbinsel (mit einer gemeinsamen Sprache, dem Galicisch-Portugiesischen) politisch auseinander, als die Grafschaft Portucale sich nach Süden ausbreitete und sich aus Galicien bzw. später dem Königreich Leön herauslöste. Im 12. Jahrhundert wurde das Königreich Portugal gegründet.
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Karte 4: Emirat von Cördoba
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Karte 4 zeigt das Emirat von Cördoba im 8. Jahrhundert. 711 waren die moslemischen Berber und Araber mit geringen Kräften (etwa 40.000 Mann) als Verbündete einer Partei in das vom Bürgerkrieg zerrissene Westgotenreich eingedrungen, in dem damals ungefähr 6 Mio. Menschen lebten. Die großen Städte, auch die westgotische Hauptstadt Toledo, kapitulierten rasch. Gegenüber dem militärischen Druck der Franken unter Karl Martell (714-741) blieb die Expansion der Moslems auf das Gebiet des Westgotenreichs beschränkt. Der einzige überlebende Nachkomme der von den Abbasiden ausgerotteten Omajjadendynastie von Damaskus errichtete seine Herrschaft als eigenständiges "Emirat" mit Sitz in Cördoba. Er unterdrückte innenpolitische Gegner und Aufstände und legte die Grundlagen für einen unabhängigen Staat. Die Muslime festigten ihre Herrschaft durch ein politisch-militärisches Verwaltungssystem, in dem die wichtigsten Städte mit Garnisonen Schwerpunkte bildeten. Wirtschaftliche Grundlagen des muslimischen Emirats bildeten Landwirtschaft und Gartenbau, die einen Aufschwung erlebten (Bewässerungsanlagen, Obstpflanzungen, Reis, Baumwolle). Hoch entwickelt war auch die Pferde- und Maultierzucht. Gewerbe und Handwerk standen in Blüte, bedeutend waren auch die Textilproduktion (Sevilla) und das Waffenhandwerk (Toledo). Einnahmequellen des Emirats waren Steuern der nichtmoslemischen Grundherren, Erträge aus staatlichem Grundbesitz, Einkünfte aus der Münzprägung und Lösegeldzahlungen für gefangene Christen. Um das große Gebiet verwalten zu können, schufen die Emire sechs Provinzen: Braga (Galicien), Wrida (das römische Lusitania). Toledo (das alte Cartaginensis), Zaragoza (das frühere Tarraconensis), Al-Andalus (das römische Baetica) und Septimania (mit der Hauptstadt Narbona).
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Karte 5: Die Reconquista
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Karte 5 zeigt den Verlauf der Reconquista im 10. Jahrhundert. Im Jahr 711 war der letzte Westgotenkönig Roderich in der Schlacht am Guadalete gegen die Araber gefallen. In nur wenigen Jahren geriet die Iberische Halbinsel als al-Andalus in den Herrschaftsbereich der Kalifen von Damaskus. Die muslimischen Berber und Araber garantierten zu Anfang die geltende Rechtsordnung mit alter Obrigkeit, Eigentumsverhältnissen und Religionsfreiheit. Sie ersetzten lediglich die westgotische Zentralregierung und schöpften mit der Verpflichtung zu Kopfsteuern und Naturallieferungen die wirtschaftlichen Überschüsse der Bevölkerung ab. Ab 718 bildete sich in den Bergen Asturiens unter dem westgotischen Adligen Pelagius (Pelayo) eine Widerstandsbewegung (722 Schlacht von Covadonga), die gegen das Emirat (seit 929: Kalifat) von Cördoba unter Abd ar-Rahman I. (731-788) und Abd ar-Rahman III. (891-961) ankämpfte. Um 750 wurden die Moslems bereits aus Galicien vertrieben. Im Laufe des 9. und 10. Jahrhunderts bildeten sich (aus dem Königreich Asturien) die Königreiche Leön und Galicien heraus. Von Leön lösten sich (im Westen) die Grafschaften Portugal und (im Osten) Kastilien. Am Fuß der Pyrenäen entstanden noch das Königreich Navarra (Pamplona), das Königreich Aragonien und die katalanischen Grafschaften. Der weit überwiegende Teil der Iberischen Halbinsel wurde zu diesem Zeitpunkt noch vom muslimischen Kalifat von Cördoba beherrscht.
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Karte 6: Die Reconquista (Mitte des 11. Jahrhunderts) Ask; CCINDADO
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Karte 6 zeigt den Verlauf der Reconquista um die Mitte des 11. Jahrhunderts. Unter Abd arRahman III. (891-961) war das in Auflösung befindliche Emirat von Cördoba wieder gefestigt worden; 929 hatte er den Titel "Kalif und Fürst der Gläubigen" angenommen. In der Zwischenzeit konnten die christlichen Reiche des Nordens ihr Territorium ausweiten: Navarra eroberte La Rioja, Leön die Gegend um den Duero, die katalanischen Grafen erweiterten ihr Gebiet nach Westen. Trotzdem blieb das Kalifat von Cördoba die bedeutendste islamische Macht jener Zeit. Seinen Höhepunkt erlebte das Kalifat unter Al-Mansur (978-1002). Nach Al-Mansurs Tod versank das Kalifat in dynastischen Auseinandersetzungen, schließlich zerbrach es ganz. In den nachfolgenden Teilkönigreichen (Taifa) übernahmen aristokratische Gruppen, die sich gegenseitig befehdeten, die Regierungsgewalt. Die Königreiche Sevilla, Badajoz und Granada erlangten überregionale Bedeutung. Die politische Schwäche der Teilkönigreiche wurde von einer hohen Kulturblüte begleitet. Unter den christlichen Reichen erlangte Sancho III. von Navarra (1000-1035), der sich Imperator Hispaniae nannte, vorübergehend die Hegemonie; danach ging die Führung an Kastilien über, das mit dem Königreich Leön fusionierte. Einige islamische Reiche, etwa das von Toledo und das von Sevilla, waren faktisch kastilische Protektorate.
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Karte 7: Spanien im 15. Jahrhundert
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Karte 7 zeigt die Iberische Halbinsel in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Schon 1085 hatte Alfons VI. Toledo von den Mauren zurückerobert, seit 1091 nannte er sich Totius Hispaniae Imperator und drückte damit symbolisch einen Hegemonialanspruch über alle übrigen christlichen und moslemischen Reiche auf der Halbinsel aus. Die leonesischkastilische Expansion nach Süden wurde vorübergehend von den Berberstämmen der Almoraviden und später den Almohaden gebremst. Mitte des 13. Jahrhunderts fand die Reconquista (als Folge des christlichen Sieges bei den Navas de Tolosa 1212) im wesentlichen ihren Abschluß, sieht man vom Nasridenreich Granada ab. Das Königreich LeönKastilien war zum Hegemonialreich der Halbinsel geworden, auf der es fortan fünf Reiche gab: Portugal, Navarra, die Krone von Kastilien, die Krone von Aragonien und die muslimische Nasridendynastie im Emirat Granada. Portugal orientierte seine Energien auf den Atlantik und nach Nordwestafrika; Aragonien wandte sich (zusammen mit Katalonien) dem westlichen Mittelmeer zu; der Kontinentalstaat Kastilien war auf die Iberische Halbinsel konzentriert. Intern waren die Reiche äußerst instabil, sie wurden durch viele Kämpfe erschüttert. Seit in Kastilien das Geschlecht der Trastämara regierte (1369), zielte die Politik dieses Reichs auf eine Vereinheitlichung der Halbinsel ab. 1479 kam es zur Vereinheitlichung der Kronen Kastilien und Aragonien, nachdem zehn Jahre zuvor die Thronerben Isabella und Ferdinand geheiratet hatten. Kastilien entwickelte sich zum Zentrum der spanischen Monarchie. 1492 eroberten die "Katholischen Könige" Granada und beendeten damit die Reconquista.
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Karte 8: Aufteilung in Provinzen
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Karte 8 zeigt die Aufteilung Spaniens in 49 Provinzen; das Projekt von 1833 ging auf den liberalen Innenminister Javier de Burgos zurück. In der Habsburger Epoche konnte man die Staatsorganisation eher eine "imperiale Konföderation" unter Führung Kastiliens nennen. Der erste ernsthafte Versuch einer Zentralisierung und "Kastilianisierung" des Landes und seiner staatlichen Behörden erfolgte unter dem faktischen Regierungschef CondeDuque de Olivares im 17. Jahrhundert; erfolgreicher war der erste Bourbone auf dem spanischen Thron, Philipp V., dessen Decretos de Nueva Planta 1716 die politischen Sonderverfassungen Kataloniens und Aragoniens eliminierten und die Gleichstellung aller Landesteile bewirkten. Seit 1749 wurden die früheren Königreiche und Territorien (mit Ausnahme des Baskenlandes und Navarras) nach französischem Vorbild zentralistisch durch Generalkapitäne, audiencias und Intendenten verwaltet. Zwischen 1799 und 1805 erfolgte eine weitere Rationalisierung der Territorialverwaltung durch den Finanzfachmann Miguel C. Soler. Joseph Bonaparte führte 1810 eine neue Verwaltungs- und Territorialorganisation nach Muster der französischen Departements ein, die in der Praxis aber nicht zum Tragen kam. Die Cortes von Cädiz sahen 1813 eine abermalige Reorganisation vor: Die alten Königreiche und Intendanturen wurden aufgelöst, ganz Spanien wurde in eine unbestimmte Zahl von Provinzen aufgeteilt, an deren Spitze ein "politischer Chef" stand. Da Ferdinand VII. die Verfassung 1814 außer Kraft setzte, spielte auch diese Neueinteilung keine Rolle. Erst die liberale Reform von 1833 sollte Bestand haben: Spanien wurde in 49 Provinzen aufgeteilt, die sich allerdings ebenfalls an den alten Demarkationslinien der früheren Königreiche orientierten. Jede Provinz erhielt einen Zivil- und einen Militärgouverneur, eine Finanzverwaltung und ein Gericht (Audiencia Provincial).
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III Politische Geschichte der Neuzeit
Traditionelle Problem- und Konfliktachsen
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zu unversöhnlichen innenpolitischen Polaritäten und schließlich zum blutigsten Bürgerkrieg der spanischen Geschichte geführt hat: Auf der einen Seite stand das nationalistisch-konservative, ländlich-katholische, autoritär-monarchische, auf der anderen das progressiv-weltbürgerliche, urban-antiklerikale, liberal-republikanische Spanien.
n Agrarfrage und Sozialbewegungen: Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts war in Spanien 1. Traditionelle Problem- und Konfliktachsen Die sozialen Konflikte und politischen Gegensätze, die der bewegten Geschichte Spaniens im 19. und 20. Jahrhundert zugrundelagen, lassen sich bis weit in die spanische Geschichte zurückverfolgen. Es handelt sich gewissermaßen um für Spanien "traditionelle", historisch weit zurückgreifende Problem- und Konfliktachsen, deren erste die Agrarfrage war, das heißt die ungleiche Verteilung des Bodens, die Dichotomie des Landeigentums in Latifundien und Minifundien (bei weitgehendem Fehlen bäuerlicher Mittelbetriebe) und die daraus erwachsenen sozialen Spannungen, deren Ergebnis häufige Unruhen und Aufstände des Landproletariats waren. Nicht minder gefährlich für das friedliche Zusammenleben der Nation war die Spannung zwischen dem (kastilischen) Zentrum und der (baskischen bzw. katalanischen) Peripherie, die vor allem daraus resultierte, daß die wirtschaftlich entwickelteren Randregionen politisch der Hauptstadt und dem Regierungssitz Madrid untergeordnet waren. Die zentralistische Regierung hat in der Geschichte Spaniens kaum einmal Verständnis für die wirtschaftlich, soziopolitisch und kulturell ganz anders gearteten Regionen am Atlantik oder Mittelmeer aufgebracht. Das dritte der "historischen" Problemfelder Spaniens ist der Einfluß des Militärs auf die Politik des Landes. In der neueren spanischen Geschichte hat sich die Armee mehr und mehr die Funktion eines politischen Schiedsrichters angemaßt und stand direkt oder indirekt — mit Ausnahme einiger relativ "stabiler" Phasen — hinter den meisten der zahlreichen Regierungswechsel seit dem Unabhängigkeitskrieg gegen Napoleon zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Schließlich gehört noch das Verhältnis zwischen Staat und (katholischer) Kirche, zwischen Gesellschaft und Religion zu den Dauerproblemen der neueren spanischen Geschichte. Denn trotz (oder wegen) des zumeist engen Verhältnisses von Staat und Kirche, das sich etwa in gegenseitigen Schutz- und Treueverpflichtungen, übergreifenden Rechten oder Privilegien ausdrückte, führten die mangelnde Säkularisierungserfahrung im Zeitalter der Aufklärung und die Verquickung von Politik und Religion zu einer ideologischen Spaltung in "fortschrittliche" und "konservative" Kräfte, in liberal-radikalen Antiklerikalismus und traditionalistisch-kämpferischen Klerikalismus — eine Spaltung, die im 19. und 20. Jahrhundert unerbittliche gesellschaftliche Frontstellungen zur Folge hatte. Für jeden der vier angesprochenen Problemkomplexe lassen sich jeweils zwei Lager ausmachen: Landlose Agrararbeiter standen gegen prunksüchtige Großgrundbesitzer, Zentralisten gegen Föderalisten (oder Separatisten), putschtrunkene Militärs gegen politische Zivilisten, liberale Verfechter des Laizismus gegen reaktionäre Katholiken. Die ideologische Spaltung des Landes in zwei sich gegenüberstehende und bekämpfende Richtungen war Ausdruck der "zwei Spanien", deren Konfrontation namentlich seit Beginn des 19. Jahrhunderts
die Landwirtschaft der vorrangige Wirtschaftszweig, der auch im wesentlichen die soziale Struktur des Landes bestimmte. Die Verhältnisse auf dem Land wiesen eine auffällige, zum Teil über Jahrhunderte hinweg zurückverfolgbare Konstanz auf. Die Stabilität im Agrarsektor, der zum einen extreme Verhältnisse, zum anderen deutliche Regionaldifferenzierungen aufwies, betraf insbesondere die Verteilung des Grundeigentums: Während sich der von Tagelöhnern oder Pächtern bewirtschaftete Großgrundbesitz vor allem in Neu-Kastilien, Andalusien und Extremadura — also den südlichen Landesteilen — konzentrierte, herrschten in Teilen Alt-Kastiliens, Galiciens und Leons — den nördlichen Gegenden — die landwirtschaftlichen Kleinstbetriebe vor, deren Bewirtschaftung kaum die Existenzsicherung einer Familie ermöglichte und für Besitzer oder Pächter zumeist einen Nebenerwerb erforderlich machte. Die zwischen 10 und 100 Hektar umfassenden Mittelbetriebe waren schwerpunktmäßig in Katalonien, dem Baskenland und an der levantinischen Ostküste — somit an der Peripherie des Landes — angesiedelt. Nahezu der gesamte Süden, besonders der Südwesten, blieb der Latifundienwirtschaft vorbehalten. Die Grenze zwischen dem Gebiet der Latifundien und dem der Kleinst- und Mittelbetriebe hat in der Geschichte Spaniens eine kaum zu überschätzende Bedeutung erlangt: Es war dieselbe Grenze, die im 19. und 20. Jahrhundert das Spanien der Agrarrevolution von dem des ländlichen Konservativismus trennte. Bis zum Bürgerkrieg (und darüber hinaus) bedeutete Bodenbesitz nicht nur soziales Ansehen und ein arbeitsfreies Leben aus Renteneinkommen; die Kontrolle über den Boden implizierte gleichzeitig die Verfügungsgewalt über die wichtigste Quelle des nationalen Reichtums und bestimmte die soziale, sehr häufig auch die politische Stellung der Bevölkerungsmehrheit. Die hohe Konzentration des Landbesitzes, die Kluft zwischen der Masse der Landbevölkerung und den oberen Schichten in bezug auf Einkommen, Erziehung, soziales Ansehen und politische Partizipationsmöglichkeiten sowie die Unzufriedenheit der landlosen Agrarbevölkerung erklären die auf dem Land viele Jahrzehnte lang vorhandene latente Neigung zu Revolten und Umstürzen, von denen die Umverteilung des Eigentums und die Aufteilung des Großgrundbesitzes erwartet wurden (zu den Sozialbewegungen vgl. Kap. XVII, 1 in diesem Buch).
n Zentrum und Peripherie. Die zweite Problemachse der spanischen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert betrifft das Verhältnis zwischen der zentralistischen Regierung und den Regionen an der Peripherie des Landes. Die seit Jahrhunderten spannungsgeladenen Beziehungen zwischen der Madrider Zentrale und den Küstenregionen lassen sich allerdings für die Zeit vor dem Bürgerkrieg von 1936 im wesentlichen auf die "klassischen" Fälle politischer Regionalismen reduzieren: auf Katalonien und das Baskenland. Diese beiden Regionen wiesen bereits vor 1936 einen politischen Regionalismus auf und überschritten damit eindeutig die Stufe eines (primär sprachlichen) Kulturnationalismus.
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III Politische Geschichten der Neuzeit
Dabei lag das Baskenland in der regionalistischen Bewußtseinsentwicklung im Vergleich zu Katalonien durchweg um einige Jahrzehnte zurück: Während in der Mittelmeerregion der Durchbruch zum massenhaften Kulturnationalismus seit den 1840er Jahren und in den baskischen Provinzen etwa seit dem Ende des 19. Jahrhunderts erfolgte, gelang die Durchsetzung einer politischen Massenbewegung in Katalonien um die Jahrhundertwende, im Baskenland deutlich greifbar erst nach Ausrufung der Zweiten Republik. In beiden Fällen wiesen die Regionalismen überaus komplexe (soziale, historisch-politische und ideologische) Begründungszusammenhänge auf. Beide Regionen waren die reichsten und die am meisten entwickelten Gegenden Spaniens, deren wirtschaftlicher Fortschritt sich zu ihrem politischen Gewicht im gesamtspanischen Staat allerdings umgekehrt proportional verhielt: Die zentralistischen Regierungen Madrids hatten die Katalanen bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts und die Basken im Zuge der Karlistenkriege während des 19. Jahrhunderts ihrer politischen Sonderrechte und -verwaltungen beraubt. Es war diese Spannung zwischen der nie verwundenen politischen Entrechtung einerseits und wachsender wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und Prosperität andererseits, in der sich in beiden Regionen während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Regionalismus ausprägte und allmählich auch politisch wirksam wurde. Die regionalistische Bewegung Kataloniens übte in gewisser Weise eine Art "Vorreiterfunktion" für die anderen Autonomiebestrebungen in Spanien aus (Noblen 1980): Die Katalanen verloren im spanischen Erbfolgekrieg (1701-1714), der für das Land südlich der Pyrenäen den Übergang vom habsburgischen zum bourbonischen Königshaus brachte, ihre auf das frühe Mittelalter zurückgehenden Sonderrechte (fueros) und Privilegien. Im 19. Jahrhundert begründeten sodann wirtschaftliche (Industrialisierung) und geistesgeschichtliche (Romantik) Faktoren einen katalanischen "Nationalismus", der sich zuerst literarisch (Wiedergewinnung des Katalanischen als Schriftsprache) und kurze Zeit später auch politisch (Forderung nach Autonomie) äußerte. Die verschiedenen regionalistischen Tendenzen traten zuerst in Form des Traditionalismus auf, der als antiliberal-konservativer Regionalismus vergangenheitsorientiert war, des Föderalismus, der immer deutlicher demokratischen und republikanischen Ideen zuneigte, und des konservativen Autonomismus, der ein Zusammenfluß unterschiedlicher autonomistischer Strömungen war. Gegen die Übermacht der konservativ-bürgerlichen Erscheinungsformen des katalanischen Regionalismus konnte sich erst gegen Ende des Ersten Weltkriegs ein "linker" Katalanismus herausbilden, der zuerst unter der Führung von Francesc Maciä die Unabhängigkeit Kataloniens anstrebte und zu Beginn der Zweiten Republik in die linkskatalanistische republikanische Partei Esquerra Republicana de Catalunya (ERC) einmündete; diese war bestrebt, die katalanische Frage im Rahmen des republikanisch-demokratisch organisierten gesamtspanischen Staatsverbandes zu lösen. Im Gegensatz zu den Katalanen mußten die Basken erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts, nach der endgültigen Niederlage des Karlismus, auf ihre fueros verzichten; bis 1876 verloren sie ihre eigenen Parlamente, ihre Verwaltungs-, Zoll- und Steuerhoheit. Außerdem wurde die Befreiung vom spanischen Militärdienst — die noch aus der mittelalterlichen Fiktion vom kollektiven Adel der baskischen Gesellschaft hervorging — abgeschafft. Dem Baskenland blieben lediglich einige Steuervorteile nach den Bestimmungen der mit Madrid vereinbarten "Wirtschaftskonzerte".
Traditionelle Problem- und Konfliktachsen
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Die "traditionellen" baskischen Mittelschichten und das agrarische Hinterland erhoben daraufhin Forderungen, die als Reaktion auf den Industrialisierungs- und Modernisierungsprozeß des Landes zu verstehen sind. Zu dieser baskischen "Erneuerung" gehörte die Rückbesinnung auf die ethnisch-rassische Einzigartigkeit ebenso wie die Wiederbelebung der baskischen Sprache (Vereinheitlichung der verschiedenen Dialekte) und die Schaffung baskischer Symbole, einer eigenen Hymne und Flagge ("Ikurrifia"). Auch die Wortneuschöpfung "Euskadi" für Baskenland geht auf diese nationalbaskische Renaissance zurück. Der eigentliche gesamtbaskische Nationalismus, der sich sehr bald vom Karlismus distanzierte, ging Ende des 19. Jahrhunderts aus der kulturnationalen Erweckungsbewegung unter Sabino de Arana hervor, der 1895 die Baskische Nationalistische Partei (Partido Nacionalista Vasco, PNV) gründete. Während die Hochburgen des Karlismus die beiden "Inlands"-Provinzen Alava und Navarra waren, hatte der PNV seinen ursprünglichen Schwerpunkt in den Küstenprovinzen Guipüzcoa und Vizcaya. Zur Zeit seiner Entstehung war der baskische Nationalismus eine in doppelter Hinsicht antimoderne Bewegung: Zum einen richtete er sich gegen die Industrialisierung und Modernisierung (mit all ihren Folgen), zum anderen gegen den politisch-zentralistischen Liberalismus, der von Madrid aus für die Abschaffung der baskischen Sonderrechte verantwortlich war. Die ursprüngliche PNV-Forderung nach Selbständigkeit von Euskadi wurde allmählich zugunsten einer umfassenden Autonomie und "Baskisierung" der Gesellschaft aufgegeben; 1931 entschied sich die Partei, trotz ihrer ständisch-konservativen, antiliberal-klerikalen Orientierung für die Republik, da nur von dieser die erstrebte Regionallösung zu erwarten war. Die übrigen Regionalismen — etwa die Galiciens oder Andalusiens — waren vor dem Bürgerkrieg bei weitem nicht so ausgeprägt wie die Bewegungen in Katalonien und dem Baskenland. Die galicischen Regionalisten konnten nicht mehr erreichen, daß das von ihnen vorgelegte Autonomiestatut in Kraft trat, und als "regionale Frage" Andalusiens wurden sowieso weit mehr Probleme der Agrarstruktur und der ungerechten Eigentumsverhältnisse als Aspekte des politischen Antizentralismus diskutiert. n Das Verhältnis Staat-Kirche: Läßt sich das Spannungsverhältnis zwischen Zentralregie-
rung und nach Autonomie strebenden Regionen letztlich bis auf die Entstehung des modernen spanischen Staates zurückführen, so ist der Problemkomplex Staat/Kirche mindestens genauso alt. Seit der Herrschaft der Katholischen Könige, das heißt seit der staatlichen Einigung des Landes im ausgehenden 15. Jahrhundert, galten in Spanien politische und religiöse Einheit als Synonyma; die Könige benutzten die Religion zur Legitimierung ihrer als Gottesgnadentum aufgefaßten Herrschaft und setzten sie zur Festigung der bestehenden Ordnung ein. Die katholische Kirche wurde zu einem Integrations- und Stabilitätsfaktor ersten Ranges. Im gesellschaftlich-politischen wie im kulturellen Bereich war die Kirche allgegenwärtig, ihre Veräußerlichung (etwa in Form kultischer Prunkentfaltung oder religiöser Selbstdarstellung) trug weiter dazu bei, daß in der Amtskirche eine Verbündete der Mächtigen erblickt wurde. Unter der ideologischen Bedrohung durch die Französische Revolution schlossen sich die Monarchie Karls IV. und die Kirche erneut zu einem im 18. Jahrhundert lockerer gewordenen Bündnis zusammen; die Amtskirche wurde immer mehr zur Verteidigerin des Anden
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III Politische Geschichten der Neuzeit
Reime, sie entwickelte sich zur stärksten beharrenden Kraft in Spanien. Liberale Kreise entwickelten daraufhin einen immer stärkeren Antiklerikalismus, der sehr bald auf das Landproletariat und später auf die Industriearbeiter übergriff; diese sahen in der Kirche und den Klöstern die Alliierten der Mächtigen und auf dem Land die sichtbaren Zeichen materieller Ausbeutung, gegen die sie sich in Klosterstürmen und Gewaltakten gegen Kirchen auflehnten. In den 30er und 40er Jahren des 19. Jahrhunderts enteigneten die Liberalen, die die Regierung Isabellas II. stellten, den Besitz religiöser Orden (1836) und der ganzen Kirche (1841); dafür übernahm der Staat den Unterhalt von Kult und Geistlichkeit, außerdem genoß die katholische Religion weiterhin besonderen Staatsschutz. Das Konkordat von 1851 beendete den wirtschaftlichen "Kirchenkampf", die Kirche verzichtete auf ihren bis dahin veräußerten Besitz, die Krone behielt das alte Patronatsrecht der Bischofsernennung. Dafür bezeichnete das Konkordat den Katholizismus als "die Religion der spanischen Nation", der Staat mußte dafür sorgen, daß die kirchliche Lehre in öffentlichen Schulen durch Priester unterrichtet wurde. Auch in der Verfassung von 1876 wurde das katholische Bekenntnis, wie schon 1812, zur Staatsreligion erklärt, in der restaurierten Bourbonenmonarchie erlangte die Kirche bald ihre frühere einflußreiche Stellung zurück. Allerdings war der Bruch zwischen der Amtskirche und dem Proletariat, das sich den sozialistischen und anarchistischen Organisationen mit ihrem stark ausgeprägten Antiklerikalismus zuwandte, nicht zu kitten. Vielmehr führte die Stellung, die die katholische Kirche in den Augen der Arbeiterklasse als Verbündete des herrschenden Blocks einnahm, dazu, daß die Empörung der verarmten Massen sich nicht nur gegen Grundbesitzer und Kapitalisten, Staat und Bürgertum, sondern auch gegen Kirche und Klöster wandte; identifizierten die Arbeiter die Kirche doch in zunehmendem Maße mit den kapitalistischen Ausbeutern. Während der Diktatur Miguel Primo de Riveras (1923-1930) wurden die geistlichen und erzieherischen Forderungen der Kirche weitestgehend erfüllt, ihre Ansprüche stets bevorzugt befriedigt. Sicherlich blieb diese enge Verbindung zwischen Kirche und Staat nicht ohne Auswirkungen und trägt zur Erklärung der kirchenfeindlichen Reaktionen in den ersten Jahren der Republik bei (zum Verhältnis StaatKirche vgl. ausführlicher Kap. XVIII in diesem Buch).
n Militär und Politik Ebenso wie die Kirche nahm auch das Militär eine Ausnahmestellung im Staate ein. Denn kaum eine zweite Institution hat in der spanischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts eine derart herausragende Rolle gespielt wie das Militär. Nicht von ungefähr ist das spanische Wort pronunciamiento zur Bezeichnung der Machtübernahme durch die Armee in den internationalen Sprachgebrauch aufgenommen worden. Bei nahezu jedem politischen Wechsel wirkte das Militär entweder an vorderster Front oder zumindest im Hintergrund mit; sein Einfluß auf die Politik blieb ein wesentlicher Faktor der Instabilität. Bis zur Schaffung des künstlichen Zweiparteiensystems mit seinem mechanischen Alternieren in der Regierungsausübung während der Restaurationsära (1874-1923) wurden Regierungswechsel fast immer durch Militär-pronunciamientos herbeigeführt. Als auslösendes Moment der Entwicklung, in deren Verlauf sich das Militär in die Politik einmischte und zu einem beherrschenden Faktor im staatlichen Leben Spaniens wurde, wirkte der Unabhängigkeitskrieg gegen Napoleon (1808-1814). Er zwang die Offiziere zu politischen Entscheidungen, politisierte damit das Heer, das sich auch in seiner geistigen
Traditionelle Problem- und Konfliktachsen
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Struktur wandelte. Der Armee fiel eine neue politische Rolle zu, das Offizierskorps übernahm in vielerlei Hinsicht die Funktion der bisher politisch führenden Schicht. In der "Ära der Pronunciamientos" galt das Offizierskorps mehrheitlich als liberal und reformfreudig; es erstrebte – ebenso wie die Kräfte des Liberalismus – die Zentralisierung der öffentlichen Verwaltung, die Vereinheitlichung gesellschaftlicher Normen und staatlicher Verfahrensweisen, die Abschaffung der Sonderrechte bestimmter Randregionen. Die Offiziere unterstützten die Liberalen auch deshalb, weil diese sich für eine Modernisierung der Armee in bezug auf Ausrüstung, Organisation und Professionalisierung des Offizierskorps einsetzten. Im Vergleich zu den strukturellen Wandlungen in Spaniens Wirtschaft und Gesellschaft änderten sich jedoch Haltung und Verhalten der bewaffneten Macht zwischen 1830 und 1930 nur wenig. Zu dieser – wie zu jeder anderen – Zeit wurde das Denken der Offiziere von der Sorge um die nationale Einheit und Einigkeit beherrscht. Diesem Ziel schien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts am besten die konstitutionelle Monarchie zu dienen, zu deren Gunsten die Offiziere wiederholt putschten. In dem fortschreitenden wirtschaftlichen, sozialen, politischen und geistigen Wandel, der das Gesicht Spaniens seit Beginn der Industrialisierung des Landes wesentlich änderte, sahen die Offiziere sodann eine Gefährdung der "nationalen Ordnung" und fühlten sich zu Hütern der Tradition und der überlieferten "nationalen" Werte berufen. Andere Träger der Überlieferung, insbesondere die Politiker, erwiesen sich ihrer Auffassung nach als nicht fähig, dem Auflösungsprozeß Einhalt zu gebieten. Nach der Beseitigung der Ersten Republik (1874) übten sich die Streitkräfte einige Jahrzehnte lang wieder in politischer Enthaltsamkeit, und die verschiedenen Regierungen schufen gesetzliche Regelungen, um die Armee politisch zu neutralisieren und deren Angleichung an westeuropäische Standards zu erreichen. Um die Militärs von der Politik fernzuhalten, versicherte sich der Staat der Loyalität der hohen Offiziere durch halblegale Belohnungen, durch zahlreiche Gewährungen von Adelstiteln und durch das relativ hohe Sozialprestige, das vor allem die Generäle genossen. Die Angleichung der Armee an westeuropäische Standards gelang allerdings nicht: Die Versuche, die überaus große Anzahl von hohen Offizieren und Generälen zu verringern – 1880 gab es über 27.000 Offiziere und mehr als 500 Generäle im aktiven Dienst –, hatten nur mäßigen Erfolg. Trotz Reformen in der Ausbildung blieb die technische Qualität der Ausrüstung mangelhaft und veraltet, die Disziplin und Ausbildung der Rekruten beklagenswert und die Organisation der Streitkräfte unübersichtlich. Ständige Kritik übten die Offiziere an der niedrigen Besoldung des Militärpersonals, die Hand in Hand mit dem relativ kleinen Anteil des Verteidigungsbudgets am Gesamthaushalt ging. Zur weiteren Entfremdung zwischen der militärischen Hierarchie und der zivilen Regierung trug die vollständige militärische Niederlage Spaniens im spanisch-kubanisch-nordamerikanischen Krieg (1898) bei, die den Verlust der letzten überseeischen Kolonien (Kuba, Puerto Rico, Philippinen) zur Folge hatte. Die Niederlage bekundete zugleich den Bankrott des politischen Regimes der Restauration und hatte eine weitreichende geistig-moralische Krise des Landes zur Folge, die am deutlichsten von den Vertretern der philosophisch-literarischen "Generation von 1898" artikuliert wurde. Außenpolitisch suchte Spanien in Marokko einen Ausgleich für die an die USA verlorenen Kolonien. Schließlich verständigte es sich mit Frankreich über die Abgrenzung der jeweiligen Interessensphären, und der nördliche
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IR Politische Geschichten der Neuzeit
Teil Marokkos kam 1904 an Spanien. Die Rifkabylen unterwarfen sich aber der neuen Herrschaft nicht und zwangen die Spanier zu wiederholten militärischen Interventionen. Das gegenseitige Mißtrauen zwischen Armee und ziviler Verwaltung, der unpopuläre Charakter des Marokkofeldzuges, die dauernden Beschwerden über niedrige Besoldung und schlechte Ausrüstung und der ständige Streit um die Zielsetzungen des Krieges ließen im Offizierskorps eine Atmosphäre der Unzufriedenheit reifen, die langsam in eine erklärte Gegnerschaft zum parlamentarischen System und in eine Politisierung konservativer oder restaurativ-reaktionärer Ausrichtung einmündete. Da zugleich — und verstärkt seit 1917 — das politische Spektrum infolge der Zerstückelung der traditionellen Parteienlandschaft immer unübersichtlicher wurde und der Staat zusehends in eine Krise geriet, übernahm durch einen "klassischen" Staatsstreich der Generalkapitän von Katalonien, Miguel Primo de Rivera, 1923 ohne Blutvergießen und mit dem Wohlwollen der Krone die Macht. Die Armee vertrat gegenüber den separatistischen Tendenzen (im Baskenland und vor allem in Katalonien) die unbedingte Einheit der Nation; gegenüber den organisierten Kräften der Arbeiterschaft erschien das Heer als der Garant der bestehenden "Ordnung"; und gegenüber dem diskreditierten parlamentarischen System verkörperten die Streitkräfte die Werte der Effizienz, der Entschlossenheit und des Patriotismus. Trotz dieses Selbstverständnisses war die paternalistische Diktatur Primo de Riveras (1923-1930) wenig effizient. Allmählich verlor der Diktator die Unterstützung der alten Aristokratie, der Bank- und Geschäftswelt, des Militärs, der Universitäten, der Regionen und schließlich des Königs. Als der General 1930 zurücktrat — auch seine kurzlebigen Amtsnachfolger konnten die Staatskrise nicht aufhalten —, war keines der gravierenden soziopolitischen Probleme des Landes gelöst, die tradierte Ordnung jedoch vollends diskreditiert; die Massen wandten sich von der Monarchie ab und der Republik zu (zum Militär vgl. ausführlicher Kap. XIX in diesem Buch).
2. Zweite Republik und Bürgerkrieg Als 1931 die Monarchie förmlich (ohne Blutvergießen) zusammenbrach, harrten die "klassischen" Probleme dringender denn je einer Lösung. Bei den Gemeindewahlen vom 12. April 1931 siegten auf dem Land noch die monarchistischen, in den größeren Städten jedoch die pro-republikanischen Parteien. Zwei Tage danach wurde die Republik ausgerufen, die ihre wechselvolle Existenz nicht nur unter der Last der traditionell ungelösten Probleme begann, sondern sich in ihren ersten Jahren außerdem noch den in Spanien verspätet eintretenden Folgewirkungen der Weltwirtschaftskrise ausgesetzt sah. Bei den Wahlen zu der Verfassung gebenden Versammlung errangen die Sozialisten und die Republikaner im Juni 1931 einen überwältigenden Sieg. Die Parteien der Linken und der Mitte erhielten zusammen nahezu 400, die der Rechten ungefähr 80 Sitze im Parlament. Dieses Ergebnis, das zu einem deutlichen Übergewicht der reformfreundlichen Kräfte in den Cortes führte, täuscht jedoch hinsichtlich der realen Machtverhältnisse im Lande; das überragende Abschneiden der Linken war nämlich auch auf das republikanische Wahlsystem zurückzuführen, das Parteienbündnisse gegenüber isoliert antretenden Par-
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teien oder gar Einzelkandidaten dadurch begünstigte, daß bereits die relative Mehrheit in einem Wahlkreis zu überproportionaler Mandatszuteilung führte. Während der Zweiten Republik kam es immer wieder zu solchen Wahlbündnissen, die umso erforderlicher wurden, als die parteipolitische Zersplitterung weiter voranschritt; vor allem die Republikaner waren in viele Gruppen gespalten und drängten zu Listenverbindungen. Kam das Wahlsystem 1931 insgesamt der Linken zugute, so hatten sich bis 1933 die Rechtsparteien organisiert und zu einem Wahlbündnis verbunden, während jetzt die Linksparteien in Richtungskämpfe verwickelt waren. Mit der Regierungsübernahme durch den "Radikalen" Alejandro Lerroux im September 1933 endeten die "zwei Reformjahre" (bienio de reformas) und begannen die "zwei schwarzen Jahre" (bienio negro). Für die Republik verhängnisvolle Folgen dieses Wahlsystems waren zum einen der Niedergang der gemäßigten Parteien der Mitte, die — wollten sie parlamentarisch überleben — zu einer Wahlkoalition mit der Linken oder Rechten gezwungen wurden, zum anderen die Vergiftung des politischen Klimas und die Zuspitzung der Gegensätze. Mit ihrer deutlichen Parlamentsmehrheit nahm 1931 die erste Regierung des Linksrepublikaners Manuel Azaria mit Tatkraft die Lösung der aus der Monarchie ererbten Probleme in Angriff. Während der Ministerpräsidentschaft Azarias wurde der einzige ernsthafte Versuch einer spanischen Agrarreform unternommen. Die bedeutendste Maßnahme auf dem Landwirtschaftssektor war das Reformgesetz von 1932, das die Fragen der Grundbesitzenteignungen, der Entschädigungen sowie der Landverteilungen an die Agrarbevölkerung regelte. Insgesamt wurde jedoch nur wenig erreicht; über Umfang und Durchführung der heftig umstrittenen Agrarreform waren sich die Republikaner selbst weitgehend uneinig. Die Reform stagnierte vor allem in den Jahren der konservativ-reaktionären Regierungen (1934 und 1935), die das Reformgesetz zum Teil außer Kraft setzten, zum Teil unbeachtet zur Seite schoben; häufig wurden die Reformmaßnahmen der ersten zwei Republikjahre in den folgenden "zwei schwarzen Jahren" wieder rückgängig gemacht, die Landumverteilung fand ein vorläufig klägliches Ende. Auch das zweite Hauptproblem, das Verhältnis Staat-Kirche, erfuhr keine befriedigende Lösung: Als die Republik ausgerufen wurde, wirkte dies auf die kirchliche Hierarchie wie ein Schock. Von Anfang an verfolgte das von sozialistischen und liberal-republikanischen Parteien getragene Regime eine Trennung von Staat und Kirche; letztere konnte fortan nicht mehr auf den jahrhundertealten staatlichen Schutz setzen, mußte vielmehr mit einer Beeinträchtigung ihrer Stellung in Staat und Gesellschaft rechnen. Die Verfassung von 1931 legte den Laizismus des Staates, die Entkonfessionalisierung des Erziehungswesens, die Beschränkung von Kirche und Religion auf den privaten Bereich fest; Zivilehe und Ehescheidung wurden eingeführt, der kirchliche Einfluß im gesellschaftlichen Bereich möglichst weitgehend zurückgedrängt. Alle Orden mußten ihre Liegenschaften vom Justizministerium erfassen lassen, sie durften sich nicht an Wirtschaftsunternehmen beteiligen. Der Jesuitenorden wurde aufgelöst. Der laizistische Charakter des neuen Regimes und der Antiklerikalismus führender Politiker provozierten heftige Reaktionen der verunsicherten kirchlichen Hierarchie, vor allem der katholischen Traditionalisten und der konservativen Rechten. Diese wurden sehr bald zu Gegnern der Republik und zu einem Sammelbecken der Reaktion. Auch die Reform des Militärwesens mißlang weitgehend, obwohl die Republik, verkörpert durch Kriegsminister Azaria, in der Militärreform eines ihrer Hauptanliegen sah. Die
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III Politische Geschichten der Neuzeit
drei Zielsetzungen der beabsichtigten Reform waren die Demokratisierung der Streitkräfte, die Verringerung des militärischen Haushaltes und die Verkleinerung des Offizierskorps. Azaria verkürzte den obligatorischen Militärdienst auf ein Jahr, halbierte die Anzahl der Armeedivisionen von 16 auf 8, reduzierte die Anzahl der Offiziere von etwa 26.000 auf 7.600, bot den ca. 18.000 überzähligen Offizieren die Pensionierung bei vollem Gehalt an. Militärische Ränge, Positionen und Institutionen wurden ersatzlos abgeschafft, der Generalstab und das Kriegsministerium reformiert und verkleinert, die Militärverwaltung in Marokko durch ein ziviles Amt ersetzt. Außerdem sollten Militärgerichte der zivilen Gerichtsbarkeit unterstellt werden. Eine Teillösung erfuhr das vierte der überkommenen Hauptprobleme: die offene Frage des politischen Regionalismus. Bereits im September 1932 konnten die Katalanisten für ihre Region ein Autonomiestatut durchsetzen, durch das Katalonien eine eigene Regierung, die Generalitat, ein Parlament sowie umfangreiche Autonomierechte mit unteren und mittleren Verwaltungskompetenzen und einer beschränkten Kulturhoheit (etwa im Bildungsbereich oder hinsichtlich der Zweisprachigkeit vor Gericht) erhielt. Die Baskische Nationalistische Partei und die Regierung hofften, ein ähnliches Autonomiestatut auch für das Baskenland erlassen zu können, doch erbitterte Auseinandersetzungen zwischen den Karlisten von Navarra – diese Provinz ist nur zu einem Teil baskisch – und den baskischen Nationalisten der übrigen Provinzen Euskadis sowie das Mißtrauen beider streng katholischer Gruppen gegen den Antiklerikalismus der Cortes-Mehrheit verhinderten die Verabschiedung eines Baskenstatuts. Auf welch prekärer Grundlage auch die Lösung des regionalistischen Katalonienproblems stand, zeigen die Ereignisse vom Oktober 1934: Seit den Wahlen vom November 1933 regierte Alejandro Lerroux mit seiner "Radikalen Republikanischen Partei" (Partido Republicano Radical, PRR), die sich von einer zuerst gemäßigt-linken Haltung zu immer konservativeren und schließlich reaktionären Positionen entwickelt hatte. In seinem Kabinett waren auch einige Unabhängige vertreten; parlamentarisch unterstützt wurde die Minderheitsregierung durch die 1933 entstandene rechtskonservativ-katholische Parteienkoalition "Spanischer Bund Autonomer Rechtsparteien" (Confederaciön Espaiiola de Derechas Autönomas, CEDA) unter ihrem Vorsitzenden Jos6 Maria Gil Robles. Die CEDA setzte sich als Interessenvertretung der Oligarchie für die sozialen und ökonomischen Belange der wohlhabenden Oberschicht ein; sie bekannte sich zwar zur Republik, sah in ihr aber nur eine taktische Notwendigkeit, um zu einem "Neuen Staat" berufsständischer Ordnung zu gelangen. Seit dem Wahlsieg der Rechten und der Übernahme der Regierung durch Lerroux (1933) herrschte im Lande nervöse Spannung. In dieser kritischen Situation bildete im Oktober 1934 die CEDA mit der Radikalen Partei eine Regierungskoalition, auf die die Linke mit einem Generalstreik reagierte. Nach Verhängung des Kriegszustands brach die Streikbewegung fast überall schnell zusammen – mit Ausnahme von Katalonien und Asturien. In Barcelona hatten die Regionalwahlen von 1934 zu einer Generalitat geführt, die von der katalanistischen Linkspartei Esquerra Republicana de Catalunya beherrscht wurde. Sofort kam es zu Reibereien zwischen der zentralistisch orientierten Rechtsregierung in Madrid und der stark autonomistisch ausgerichteten Regionalregierung in Barcelona; Madrid versuchte mit allen Mitteln, die Verwaltungskompetenzen Kataloniens zu beschneiden. Im
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Oktober 1934, als die gegen Madrid gerichteten Gefühle in Barcelona einen Höhepunkt erreicht hatten, proklamierte der Präsident der Generalitat, Lluis Companys, den "katalanischen Staat innerhalb der spanischen Bundesrepublik"; die Revolte wurde allerdings nach wenigen Tagen niedergeschlagen, die Generalitat suspendiert. Weiterreichende Folgen hatte der Arbeiteraufstand in Asturien: Dort weitete sich der Generalstreik zu einer sozialen Revolution aus. Sozialisten, Anarchosyndikalisten und Kommunisten schlossen sich unter der Parole "Vereinigt Euch, proletarische Brüder!" zur gemeinsamen Aktion zusammen. Ungefähr 30.000 Bergarbeiter eroberten die Städte Oviedo und Gijön, gründeten Revolutionskomitees und leisteten ca. zwei Wochen lang der Afrikaarmee und der Fremdenlegion, die auf Vorschlag von General Francisco Franco zur Niederwerfung des Aufstandes eingesetzt wurden, Widerstand. Die Nachwirkungen des "spanischen Oktober" von 1934 führten zu einer deutlichen Radikalisierung der Rechten und der Linken und damit zu einer gesamtgesellschaftlichen Polarisierung im Lande: Die Rechte sah all ihre Befürchtungen bestätigt und betrachtete sich selbst als das einzige intakte Bollwerk gegen Separatismus, atheistischen Liberalismus und eine bevorstehende Sozialrevolution; eventuell bis dahin noch vorhandene republikanische Legalitätsskrupel wurden abgelegt. Die Linke wiederum sah – mit Blick auf Italien, Deutschland und Österreich – auch in Spanien den Faschismus an die Macht kommen; die Notwendigkeit des Zusammenstehens wurde deutlicher als bisher erkannt, was den Zusammenschluß zur Volksfrontkoalition erleichterte. Die Auseinandersetzungen zwischen den Parteien über die Liquidierung des Aufstandes von 1934 lähmten das Kabinett, das mehrfach umgebildet wurde. Seine wichtigste politische "Leistung" war der systematische Abbau aller Errungenschaften der ersten Republikjahre. Korruptionsskandale in der Radikalen Partei führten schließlich zu einer totalen Regierungskrise. Im Januar 1936 löste Staatspräsident Niceto Alcalä Zamora die Cortes auf und schrieb Neuwahlen aus. Zu diesem Zeitpunkt war das Land als Folge der reaktionären Politik der beiden vorhergehenden Jahre zerrissener denn je. Für die Wahlen vom 16. Februar 1936 bildete die gesamte Linke Koalitionslisten und trat für ein Wahlprogramm ein, das letztlich nichts anderes als die Übernahme bürgerlich-liberaler Vorstellungen der Republikanischen Linken (Izquierda Republicana) und der Republikanischen Union (Union Republicana) war. Die gravierenden Differenzen zwischen diesen mittelständischen und den Arbeiterparteien konnten bei der Formulierung des Programms nicht verschleiert werden. Im Gegensatz zur Linken war die Rechte diesmal nicht in der Lage, gemeinsame Koalitionslisten zu erstellen. Das Ergebnis der Wahl war eindeutig: Abermals durch das Wahlgesetz begünstigt, erhielt die Linke eine überwältigende parlamentarische Mehrheit. Die neuen Cortes setzten sich aus 277 Abgeordneten der Volksfront, 132 der Rechten und 32 der Mitte zusammen. Obwohl die Sozialisten mit 90 Abgeordneten die stärkste Fraktion stellten, lehnten sie eine Mitarbeit in der Regierung ab. In Katalonien stellte Lluis Companys erneut die Regierung, in Madrid bildete Manuel Azafta mit seinen Linksrepublikanern wieder das Kabinett, mußte jedoch bald feststellen, daß die Arbeiterorganisationen nicht bereit waren, sich für die Verwirklichung "bürgerlicher" Reformziele einzusetzen. Die Republik erwies sich in der Folge als zu schwach, um sich gegen die revolutionären Angriffe der landlosen Arbeiter einerseits und die zunehmende Aggressivität der Rechten
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III Politische Geschichten der Neuzeit
andererseits zu verteidigen. Landarbeiterstreiks, illegale Landbesetzungen, nachträgliche Legalisierungen von Enteignungsmaßnahmen waren an der Tagesordnung. Die Volksfrontregierung beschleunigte die Enteignungen im ersten Halbjahr ihrer Administration so sehr, daß zwischen März und Juli 1936 zahlenmäßig und ihrem Umfang nach mehr Ländereien enteignet wurden als in den voraufgegangenen fünf Jahren zusammen. Ihre eigentlich revolutionäre Akzentuierung gewann die Reform jedoch weniger durch die Maßnahmen der neuen Regierung als vielmehr durch die spontane Initiative landhungriger Agrarproletarier, die massenhaft auf eigene Faust Ländereien besetzten. Mit fieberhafter Aktivität berieten die Cortes 1936 über eine Revision der herrschenden Agrargesetze, bis durch den Militäraufstand der Versuch der Republik, die jahrhundertealten starren Agrarstrukturen zu ändern, in einer blutigen Katastrophe endete. Der Spanische Bürgerkrieg (17.7.1936-1.4.1939) war Folge eines von nationalistischen, traditionalistischen, falangistisch-faschistischen und konservativ-katholischen Kräften getragenen und von Militärs geführten fehlgeschlagenen Putsches gegen die Zweite Republik. Der Putsch und der daraus resultierende Bürgerkrieg waren ihrem Ursprung nach primär ein Ergebnis unbewältigter innerspanischer Probleme politischen, ideologischen und vor allem sozialen Inhalts. In den Monaten nach den Volksfrontwahlen konnten die republikanischen Regierungen dem politischen Terror von rechts und links kaum Einhalt gebieten. Große Teile der sozialistischen UGT und der anarchosyndikalistischen CNT lehnten, ebenso wie die Vertreter des politischen Militarismus, die Republik ab. Vor dem Hintergrund monatelanger Streiks, spontaner Landbesetzungen und ständiger Auseinandersetzungen zwischen Guardia Civil und Landarbeitern putschte (nach der Ermordung des Monarchistenführers Jose Calvo Sotelo) die in ihrem Selbstbewußtsein durch die Militärreform Manuel Azarias verletzte Armee unter Führung der Generäle Jose Sanjurjo, Francisco Franco, Emilio Mola, Gonzalo Queipo de Llano u. a. Lange Zeit waren in der Diskussion über den Bürgerkrieg zwei Verschwörungstheorien vorherrschend. Die eine sprach von einer faschistischen Anzettelung, die andere von einer kommunistischen Bedrohung Spaniens als Kriegsursache. In beiden Fällen ist für die Zeit vor Kriegsbeginn die innenpolitische Bedeutung der faschistischen Falange bzw. der Kommunistischen Partei Spaniens (Partido Comunista de Espafia, PCE) weit übertrieben worden. Nicht Faschismus oder Kommunismus waren die entscheidenden Triebkräfte der zum Bürgerkrieg führenden spanischen Krise der 30er Jahre, sondern weit eher politischer Militarismus/Rechtskonservatismus und Anarchismus/Linkssozialismus in ihrer jeweils spezifisch spanischen Ausprägung. Die militärischen Aktionen des Bürgerkrieges lassen sich in vier Abschnitte einteilen, zwischen die sich einzelne "Gleichgewichtsphasen" schoben. In der ersten Phase (17. Juli 1936 – Frühjahr 1937) konnten die Aufständischen ca. ein Drittel des Landes unter ihre Kontrolle bringen. Nachdem sie mit Hilfe deutscher Flugzeuge – die spanische Marine und Luftwaffe waren zum größten Teil republikanisch geblieben – die Fremdenlegion (Tercio) und die marokkanischen Truppen (Regulares) auf die Halbinsel übergesetzt hatten, eroberten sie den Westen (Badajoz) und stellten damit die Verbindung zwischen der Nord- und der Südarmee her. In der zweiten Phase (Frühjahr 1937 – Frühjahr 1938) gelang den "Nationalisten" die Eroberung der Nordprovinzen. Am 26. April 1937 zerstörten deutsche Bomber der Legion Condor die "heilige" Stadt der Basken, Guernica (Gernika). In der dritten Phase stießen die
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Aufständischen zum Mittelmeer durch (April 1938) und schnitten damit Katalonien vom übrigen republikanischen Territorium ab. Im Juli 1938 gelang den Republikanern ein letzter großer Sieg über die "Nationalisten" am Ebro; danach befand sich das republikanische Heer nurmehr in der Defensive. Die vierte und endgültige Phase (Dezember 1938 – März 1939) erlebte den Zusammenbruch Kataloniens, den "Casado-Putsch" in Madrid (Versuch, einen Verständigungsfrieden mit Franco auszuhandeln) und den schließlichen Zusammenbruch der Republik. Am 1. April 1939 erklärte Franco den Bürgerkrieg für beendet. Von Anfang an erregte der Krieg in der europäisch-amerikanischen Öffentlichkeit heftige Anteilnahme, die von literarisch-publizistischer Parteinahme bis zum persönlichen Kriegs-. dienst (zumeist für die Republik) reichte. "Internationalisiert" wurde der Krieg aber vor allem durch das Eingreifen ausländischer Mächte: Deutschland (vor allem durch die Legion Condor, insgesamt ca. 15.000 Soldaten) und Italien (durch den Corpo Truppe Volontarie, insgesamt ca. 50.000 Soldaten) unterstützten die Aufständischen, die UdSSR und die unter maßgeblicher kommunistischer Leitung stehenden "Internationalen Brigaden" (insgesamt ca. 59.000 Personen) halfen der Republik; die Regierungen Englands, Frankreichs (das unter Uon Blum selbst eine Volksfrontregierung hatte), der USA und vieler anderer Staaten bekannten sich zum Prinzip der Nichteinmischung (Einsetzung eines "Nichteinmischungsskomitees" in London), aus dem faktisch Franco großen Nutzen zog. Parallel zu den militärischen Aktionen begann in der "nationalen" Zone Francos der Aufbau eines "Neuen Staates" mit seiner diktatorialen Struktur, während im republikanisch gebliebenen Landesteil eine soziale Revolution um sich griff, die vor allem von Mitgliedern der millionenstarken anarchosyndikalistischen Gewerkschaft (Confederaciön Nacional del Trabajo), zu einem geringeren Teil auch von Sozialisten der UGT (Uniön General de Trabajadores) und antistalinistischen Marxisten (Partido Obrero de Unificaciön Marxista, POUM) getragen wurde. Ziel dieser sozialrevolutionären Umwälzung war die Errichtung einer "sozialistischen" Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Zu Hauptgegnern der schon vor dem franquistischen Sieg gescheiterten Revolution wurden die stalinistischen Kommunisten des PCE und die übrigen Parteien der Volksfront. Der Sieg Francos im Bürgerkrieg, der sowohl durch die deutsch-italienische Unterstützung als auch die Politik der Nichtintervention und die innere Zerrissenheit der politischen Kräfte der Republik ermöglicht wurde, bedeutete für Spanien den Beginn einer fast 40jährigen Diktatur, für Tausende von Flüchtlingen jahrzehntelanges Exil. Die Zahl der Getöteten beläuft sich möglicherweise auf mehrere Hunderttausend (die Zahlenangaben sind allerdings sehr umstritten); politischem und Justizmord fielen in Franco-Spanien zwischen 1936 und 1944 (nachweisbare Jahreszahl) mindestens 140.000 Personen zum Opfer. Nach 1939 mußten außerdem ungefähr 400.000 Menschen aus politischen Gründen ins Exil gehen.
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Die Franco-Diktatur
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Die Franco-Diktatur war der Zeitabschnitt in der spanischen Geschichte, der von 1936/39 bis 1975 reichte; in jenen Jahren prägte die personalistische Diktatur General Francisco Francos (1892-1975) das ideologiearme System so stark, daß zu seiner Charakterisierung allgemein die Bezeichnung "Franquismus" verwendet wird.
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III Politische Geschichten der Neuzeit
Der Franquismus war ein Ausnahmeregime, das auf der Kontrolle und dem systematischen Einsatz sämtlicher staatlicher Repressionsmittel, auf der Abschaffung demokratischer Freiheiten und der Schaffung von Institutionen beruhte, die der persönlichen Machtausübung Francos und den Interessen der traditionellen Oligarchien entsprachen. Das franquistische System leitete seine Legitimation zuerst aus dem Sieg im Bürgerkrieg und dem traditionalen Katholizismus her; Gewaltenteilung wurde, ebenso wie das allgemeine Wahlrecht, abgelehnt. Franco vereinigte in seiner Person die Ämter des Staatsoberhauptes, des Regierungschefs (die Ausübung dieses Amtes delegierte er später auf Luis Carrero Blanco und Carlos Arias Navarro), des Oberbefehlshabers der Streitkräfte und des Führers der "Nationalen Bewegung"; er führte den Titel Caudillo. Außerdem ernannte er die Inhaber aller wichtigen Staatsämter, bis hin zu den Provinzgouverneuren und Inhabern anderer Ämter auf "mittlerer" Ebene. Seine persönliche, außerordentliche "Magistratur" umfaßte die gesetzgebende und exekutive Gewalt; verantwortlich war er nur "vor Gott und der Geschichte". Das Regime verfügte über keine kodifizierte Verfassung; es begnügte sich damit, im Laufe der Jahre "Grundgesetze" zu erlassen, die in ihrer Gesamtheit die konstitutionelle Grundlage des Regimes darstellten. Diese Grundgesetze lassen sich in zwei Gruppen unterteilen: Die eher dogmatischen Gesetze enthielten die ideologische Grundlage des Regimes und staatsphilosophische Bestimmungen, während die primär staatsrechtlichen Gesetze die grundlegenden politischen Institutionen einsetzten. Die provisorische Organisation des "neuen" spanischen Staates erfolgte durch die Schaffung der "Technischen Staatsjunta" (Junta Tecnica del Estado, 1.10.1936). Durch das Gesetz zur Organisation der Zentralverwaltung (30.1.1938) wurden die Ministerien eingerichtet. Die Grundsätze der neuen Wirtschafts- und Sozialpolitik waren in der "Charta der Arbeit" (Fuero del Trabajo, 9.3.1938, als Gesetz am 26.7.1947 verkündet) niedergelegt, die sich gegen Kapitalismus und Marxismus wandte und nach den Forderungen der Falange alle Zweige der Wirtschaft in sog. vertikalen Syndikaten (Sindicatos verticales) zusammenfaßte. Das "Gesetz über die Bildung der spanischen Cortes" (Ley de Creaciön de las Cortes, 17.7.1942) regelte Zusammensetzung und Funktion der Ständeversammlung. Das "Grundgesetz der Spanier" (Fuero de los Esparioles, 17.7.1945) garantierte — zu einem Zeitpunkt, als Franco seine Position festigen und zumindest pseudodemokratisch legitimieren mußte — bestimmte Grundrechte, deren Anerkennung allerdings die Wahrung der Grundprinzipien des Staates voraussetzte. Politische Betätigung wurde an die Institutionen Familie, Gemeinde und Syndikat (Grundelemente der "organischen Demokratie") gebunden. Das Gesetz enthielt viele autoritäre Züge (z. B. Pflicht zur Treue dem Staatschef gegenüber). Zur Legitimation des "demokratischen" Charakters des Regimes wurde ein "Gesetz über den Volksentscheid" (Ley del Referendum, 22.10.1945) erlassen; allerdings stand nur dem Staatschef das Recht zu, Gesetzentwürfe dem "Volksentscheid" zu unterwerfen, wodurch die akklamatorische Funktion des Gesetzes deutlich wurde. Mit dem durch einen derartigen Volksentscheid gebilligten "Gesetz über die Nachfolge in der Staatsführung" (Ley de Sucesiön en la Jefatura del Estado, 26.7.1947) gelangte die institutionelle Grundlegung des politischen Systems des "neuen" Staates zum Abschluß. Spanien wurde zum Königreich erklärt; die Staatsführung wurde Franco übertragen, dem allein das Recht zustand, seinen königlichen Nachfolger zu bestimmen; 1969 ernannte er Prinz Juan Carlos de Borbön zu seinem Nachfolger.
Die Franco-Diktatur
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Das bedeutendste Grundgesetz des franquistischen Regimes war das "Gesetz über die Prinzipien der Nationalen Bewegung" (Ley de Principios del Movimiento Nacional, 17.5.1958). Dieses Gesetz, das die vorhergehende Verfassungsentwicklung zusammenfaßte, war unabänderlich; es durfte keine Rechtsnorm erlassen werden oder in Kraft bleiben, die gegen die Grundsätze der "Nationalen Bewegung" (konfessionell-katholischer Staat, monarchische Staatsform, ständestaatliche Vertretung) verstieß, die als "Glaubensgemeinschaft aller Spanier in den Idealen, welche den Kreuzzug beseelten", definiert wurde. Die gesamte Staatsordnung beruhte auf den Prinzipien des Movimiento Nacional; dieser Begriff löste den Parteinamen Falange offiziell ab. Eine Zäsur in der Verfassungsgeschichte stellte das durch Referendum angenommene "Staatsgrundgesetz" (Ley Orgänica del Estado, 11.1.1967) dar. Die wichtigste Bestimmung war die Trennung der Ämter des Staatsoberhaupts und des Ministerpräsidenten. Entstehung, Zusammensetzung und Funktion der Cortes wurden geändert bzw. erweitert; die Kammer erhielt neue Kompetenzen (Annahme von Gesetzen) übertragen. Der "Nationalrat" der Nationalen Bewegung fungierte als eine Art zweite Kammer. Der 1947 geschaffene "Rat des Königreiches" erhielt eine neue Zusammensetzung und wurde wegen seiner weitreichenden Kompetenzen zum zentralen Entscheidungsgremium im Staat (Mitbestimmung bei Berufung und Entlassung der Inhaber der höchsten Staatsämter, Entscheidung über Verfassungswidrigkeit von Gesetzen, über Krieg und Frieden). — All diese Anpassungen der verfassungsmäßigen Grundlagen des Regimes dürfen nicht darüber hinweg täuschen, daß es sich nur um Modifikationen der modi operandi handelte, die an den autoritären und wesensbestimmenden Grundzügen des diktatorischen Franquismus jedoch nichts änderten, der sich innenpolitisch im wesentlichen durch Immobilismus und Reformunfähigkeit auszeichnete. Zur Ausübung seiner Herrschaft stützte sich Franco auf verschiedene soziale Kräfte, deren relative Bedeutung im Machtkartell des Regimes Veränderungen unterworfen war. In der faschistischen Frühphase des Regimes, während des Bürgerkrieges und der "blauen", d.h. der von der faschistischen Falange wesentlich mitbestimmten Periode der ersten Nachkriegsjahre, griff er vor allem auf die Falange zurück, die nach 1939 sehr schnell ihre ursprünglich nationalsyndikalistisch-sozialrevolutionäre Orientierung aufgeben mußte. Als eigentliche Machtdomäne blieb der Falange ab den 50er Jahren nur noch der Staatssyndikalismus, der als Instrument des Staates fungieren sollte, mit dem dieser seine Wirtschaftspolitik durchführte. Obwohl der falangistische Beitrag zu Ideologie und Aufbau des "Neuen Staates" entscheidend war, wurde die Staatspartei machtpolitisch Zug um Zug ausgeschaltet. Historisch betrachtet, war die Falange vor allem ein innenpolitisches Instrument Francos zur Absicherung seiner Herrschaft durch Ausbalancieren einander bekämpfender politischer Gruppen. Der Einfluß, den sie in der zweiten Hälfte der Franco-Ära behielt, war vor allem auf ihr weites Propagandanetz (Presse, Rundfunk) und auf ihre korporative Vertretung in den Cortes zurückzuführen. Im Zuge der "Entfaschisierung" seines Regimes konnte Franco schon deshalb zusehends auf die Falange verzichten, weil er sich primär auf das Militär stützte, das stark in der Regierung vertreten war, die Sicherheitskräfte kontrollierte, einen Teil der öffentlichen Verwaltung wahrnahm und wichtige Funktionen in öffentlichen Unternehmen ausübte. Trotz der herausragenden Stellung des Militärs hatte dieses jedoch bei der Konzipierung der politischen Leitlinien des Regimes keine entscheidende Bedeutung. Der Franquismus wurde viel-
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mehr von einer faschistisch inspirierten Militärdiktatur allmählich in ein konservativ-autoritäres System umgewandelt, in dem die Streitkräfte eine zunehmend geringere Rolle spielten; demgegenüber wurden "moderne" und leistungsfähige Eliten eindeutig bevorzugt. Die in nahezu allen Bereichen feststellbare Zurückdrängung des Militärs und seine konsequente Entpolitisierung deuten darauf hin, daß das Regime sich bereits in den 50er Jahren als stabilisiert betrachtete und von außen nicht bedroht fühlte, was nicht zuletzt auf die Unterstützung durch die USA (Abkommen von 1953) zurückzuführen sein dürfte. Neben Falange und Militär gehörte die katholische Amtskirche zu den tragenden Säulen des Franquismus. Staatliche und kirchliche Institutionen waren eng verflochten, der Katholizismus wurde wieder zur Staatsreligion erhoben. Die Kirche erhielt direktes Repräsentationsrecht in wichtigen Staats- und Regierungsgremien, im gesellschaftlichen Bereich übte sie eine starke Repression, v. a. im Sexualbereich, aus; außerdem kontrollierte sie einen großen Teil des Bildungswesens und der Zensur. Das Konkordat von 1953 stellte die aktive Einflußnahme der Kirche auf das öffentliche Leben sicher, bestätigte andererseits das Vorschlagsrecht der spanischen Regierung bezüglich der Ernennung von Bischöfen; außerdem erfüllte das Konkordat innenpolitisch die Funktion einer weiteren ideologischen Abstützung des Systems, so daß für die Legitimierung und Stabilisierung des Regimes die Kirche eine kaum zu überschätzende Rolle spielte. In der "technokratischen" Phase des Regimes (besonders in den 60er Jahren) übte der katholische Laienorden Opus Dei einen enormen Einfluß aus; er saß über ein Jahrzehnt lang an nahezu allen Schalthebeln der Macht, nachdem er den Staatsapparat und wichtige gesellschaftliche Institutionen mit seinen Mitgliedern und Sympathisanten durchsetzt hatte. Zu den bisher genannten Stützen (und Nutznießern) des Regimes gehörten noch die Großgrundbesitzer, die den Militäraufstand von Anfang an unterstützt und mitgetragen hatten, und die Finanzbourgeoisie, deren enge Verflechtung mit dem agrarkapitalistischen Sektor schon vor dem Bürgerkrieg bestand. Durch die staatlich garantierte Monopolstellung der Großbanken übte die Finanzoligarchie Einfluß auf die staatliche Wirtschaftspolitik und Kontrolle über die Industrie aus, da sie die Bedingungen der Kreditvergabe bestimmte. Die hauptbegünstigte Fraktion der Autarkiephase nach 1939 war somit das zentrale Finanzkapital, das mit den Staatsanleihen eine rentable Anlage bei gleichzeitig höchster Liquidität erzielte. Zugleich konnte die enge Verknüpfung der Bodenbesitzer mit der Finanzoligarchie die Agrarreformen aus der Zeit der Zweiten Republik rückgängig machen und grundlegende Strukturreformen im Agrarsektor verhindern. Die Skizze der verschiedenen staatstragenden Kräfte hat bereits deutlich gemacht, daß innerhalb der Elite ein gewisser Pluralismus vorhanden war. Das Fehlen einer einheitlichen Staatsideologie ermöglichte die Bildung und Organisierung einer begrenzten Anzahl pluraler Gruppen innerhalb des vorgegebenen politisch-ideologischen Systems. Im Gegensatz zu totalitär-faschistischen Regimen, in denen eine Ideologie, eine Partei, eine terroristische Geheimpolizei, ein Nachrichten- und Waffenmonopol und eine zentralgelenkte Wirtschaft Ausdruck einer umfassenden Gleichschaltung sind, fehlten im Franquismus sowohl die geschlossene Ideologie und die Massenmobilisierung als auch die durchstrukturierte Organisation einer Partei, die das Monopol der Machtelitenrekrutierung ausübte. Für den Franquismus hat sich systemtypologisch daher die Bezeichnung "Autoritarismus" durchgesetzt; spätestens ab 1943 war Franco auf zunehmende Distanz zum politischen System der Ach-
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senmächte gegangen; totalitär-faschistisches Gedankengut spielte in der Denkweise eines traditional denkenden Diktators wie Franco eine untergeordnete Rolle. Wirtschaftspolitisch läßt sich das Franco-Regime in eine erste Phase der Autarkie (1939 bis ca. 1957) und eine zweite, mit dem "Stabilisierungsplan" von 1959 einsetzende Phase des Wirtschaftsliberalismus einteilen. In der Autarkiephase erlebte das Land als Folge des Bürgerkrieges, der politischen Isolierung durch das Ausland, des Ausschlusses von der Marshallplanhilfe und der staatsinterventionistischen Praktiken nahezu zwei Jahrzehnte wirtschaftlicher Stagnation; für große Teile der Bevölkerung waren vor allem die 40er Jahre nicht nur die härteste Phase der Repression, sondern auch eine harte Hungerperiode. Die in den 60er Jahren praktizierte liberale Wirtschaftspolitik – Reorganisation des Finanzwesens, Auflösung staatlicher Kontrollinstanzen, Liberalisierung des Außenhandels, Emigrationsabkommen mit europäischen Ländern zur Abschiebung der Reservearmee von Arbeitslosen – führte innerhalb weniger Jahre zu einer Periode des Aufschwungs, in der Spanien nach Japan die höchste wirtschaftliche Wachstumsrate der westlichen Welt registrierte. Das "spanische Wirtschaftswunder" führte zum Anschluß des Landes an die entwickelten Industriestaaten; die Kehrseite war eine enorme Zunahme industrieller Streiks, Demonstrationen und Unruhen, die Entstehung der (bald verbotenen) Untergrundgewerkschaft Comisiones Obreras (CCOO), eine zunehmende Distanzierung vieler gesellschaftlicher Kräfte vom Regime. Im letzten Jahrzehnt seiner Existenz (ungefähr ab Mitte der 60er Jahre) sah sich der Franquismus einer verstärkten Opposition durch die Arbeiterschaft, die Regionen, die Studenten, z.T. auch den niederen Klerus und andere gesellschaftliche Kreise ausgesetzt. Entgegen dem Bestreben des Diktators, durch verfassungsrechtliche und personalpolitische Entscheidungen einen "Franquismus nach Franco" sicherzustellen, wurde nach Francos Tod (1975) das gesamte System des Franquismus im Übergang zur Demokratie (transiciem) erstaunlich schnell und relativ reibungslos abgebaut.
4. Monarchie und Demokratie Der friedliche Übergang vom autoritären Franco-Regime in eine liberal-parlamentarische Demokratie hat in den Jahren nach Francos Tod (1975) die internationale Aufmerksamkeit auf Spanien gelenkt und verstärktes Interesse von Historikern und Sozialwissenschaftlern hervorgerufen. Das Besondere des Regimewandels bestand darin, daß er unter Leitung und Kontrolle der franquistischen Institutionen und eines Teils der in ihnen vorherrschenden politischen Elite durchgeführt wurde, formal somit innerhalb der von Franco errichteten Legalität vor sich ging und mit dem autoritären Verfassungsrecht des Franquismus nicht brach – was wohl der wesentliche Grund dafür war, daß die Streitkräfte nicht eingriffen, sondern die Veränderungen akzeptierten –, inhaltlich jedoch nicht eine Reform oder Revision des franquistischen Systems, sondern – unter Bruch mit den Strukturprinzipien des franquistischen Staates – dessen Ersetzung durch eine neue, auf demokratischen Prinzipien basierende Regierungsform darstellte. Die Weichen für den politischen Wandel wurden lange vor Francos Tod gestellt; spätestens seit der Ermordung des Franco-Vertrauten Luis Carrero Blanco (1973) war die
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Zukunft des Regimes ungewiß. Die letzte Phase des Franquismus war politisch bereits von der Diskussion über den Nach-Franquismus beherrscht; zur Diskussion standen die vom "Bunker" des Regimes verfochtene Fortsetzung (continuismo) des Franquismus (mit welchen Mitteln und in welcher Form auch immer), die von reformwilligen Kräften des Systems propagierte allmähliche Veränderung der Systemstrukturen und deren Anpassung an "europäische" Vorbilder (evolucionismo), schließlich der insbesondere von der demokratischen Opposition geforderte inhaltliche Bruch (ruptura) mit den Grundprinzipien des nicht-demokratischen autoritären Regimes. Die Jahre ab 1969 werden als "Vorphase des Übergangs" (pretransiciön politica) bezeichnet; damals wurde in Spanien der Ausnahmezustand verkündet, die königliche Nachfolgeregelung endgültig geklärt, die Diskussion über politische "Assoziationen" als Parteisurrogate in Gang gesetzt – Maßnahmen, die erkennen lassen, daß das Regime für die Zeit nach Ableben des Diktators eine modifizierte und vor allem von oben kontrollierte Form des "Franquismus nach Franco" anstrebte. Zaghafte Reformversuche der Regierung Arias Navarro (1974) dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Regime zu Lebzeiten des Diktators nur unwesentliche Formveränderungen vornahm, in seinen Grundstrukturen aber unverändert blieb. Der Tod Francos bedeutete noch nicht das Ende des Franquismus, war aber Katalysator der folgenden Reformentwicklungen. In seiner Thronrede (22.11.1975) kündigte König Juan Carlos I. eine Öffnung und Demokratisierung des politischen Systems an; dieses Programm wurde dann in der Regierungserklärung von Dezember 1975 konkretisiert (Reform der repräsentativen Institutionen, Gewährung des Vereinigungsrechts, Ausweitung der Freiheiten und Rechte der Bürger), machte in der ersten Hälfte des Jahres 1976 jedoch unter der noch stark dem alten System verpflichteten Führung des altfranquistischen Ministerpräsidenten Carlos Arias Navarro nur wenig Fortschritte. Die Frage, die sich für den König und die politisch Verantwortlichen stellte, lautete: Bruch mit dem Franquismus (wie es die Opposition forderte) oder Kontinuität bei unwesentlichen Korrekturen am System (was die Rechte erstrebte)? Die schließlich eingeschlagene Lösung verzichtete auf die abrupte Demontage des Franco-Systems, setzte statt dessen auf den langsamen Wandel, auf das Aushandeln von Änderungen, auf den "paktierten" Übergang (transiciön/ruptura pactada). Die Transiciön erfolgte als Reform; ihre Originalität bestand darin, daß sie politisch als Verhandlung zwischen Regierung und Vertretern des alten Regimes einerseits, den Kräften der demokratischen Opposition andererseits erfolgte, daß sie verfassungsrechtlich mittels den in den franquistischen "Grundgesetzen" für deren Revision vorgesehenen Mechanismen stattfand, so daß die franquistische Legalität für ihre eigene Ersetzung durch eine neue, demokratische Legalität instrumentalisiert wurde. Die erste, entscheidende Maßnahme im Prozeß des Übergangs war die Ablösung von Arias Navarro durch Adolfo Suärez im Amt des Ministerpräsidenten (Juli 1976). Suärez' Strategie, die bereits im "Projekt für die politische Reform" (September 1976) zum Ausdruck kam, war dualer Art: Einerseits mußte er die erforderliche Unterstützung seitens der Franquisten für die geplanten, als "Reform" dargestellten Änderungen erwirken, andererseits zielte er auf Duldung des eingeschlagenen, inhaltlich als "Bruch" dargestellten Prozesses seitens der demokratischen Opposition ab. Die Dialektik Reform/Bruch begleitete denn auch die gesamte Übergangsphase, deren Erfolg darin bestand, einen breiten Konsens dieser sich eigentlich ausschließenden Positionen erreicht zu haben.
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Daß die Kräfte des alten Regimes dem politischen Wandel schließlich zustimmten, dürfte im wesentlichen auf vier Faktoren zurückzuführen sein: zum einen auf die entschiedene Haltung von König Juan Carlos, der den Demokratisierungsprozeß unterstützte und vorantrieb, was vor allem die Haltung der Streitkräfte beeinflußte; zum anderen das auch und besonders in den Massenmedien zum Ausdruck kommende "politische Klima", das eine demokratieorientierte Entwicklung als unausweichlich erscheinen ließ; sodann die Überzeugung der traditionellen Machtelite, daß nur durch Preisgabe gewisser Positionen eine Radikalisierung des Prozesses verhindert werden könne; schließlich der internationale Rahmen, da die Interessen der westlichen Staaten mit der Einrichtung einer "gemäßigten" liberal-pluralistischen Demokratie übereinstimmten. Im November 1976 stimmten die Cortes dem "Gesetz über die politische Reform" zu, das die Ersetzung der Ständekammer durch ein allgemein gewähltes Zweikammerparlament (mit verfassunggebenden Vollmachten) vorsah; bei einem Referendum (Dezember 1976) über das Gesetz sprachen sich bei einer hohen Wahlbeteiligung (über 77%) mehr als 95 % der Bevölkerung für das Reformprojekt aus, obwohl die demokratische Opposition – da sie am bisherigen Demokratisierungsprozeß nicht beteiligt worden war – zur Stimmenthaltung aufgerufen hatte, die in den autonomistisch orientierten Regionen besonders hoch ausfiel (Euskadi ca. 50%). Mit der Annahme des Reformgesetzes kann die erste Phase der Transiciön als beendet gelten; da in dieser Phase im wesentlichen die Regierung Suärez die Ereignisse vorantrieb, kann 1976 auch als Jahr der "Demokratisierung ohne Demokraten" bezeichnet werden. In der danach beginnenden zweiten Phase hing die Dynamik des Wandels weit mehr als zuvor vom (zuerst impliziten, später expliziten) Konsens zwischen Regierung und demokratischer Opposition ab. Consenso wurde fortan zum Schlüsselwort aller wichtigen, den Übergang bestimmenden Entscheidungen. Die Hauptstationen dieser zweiten Phase waren die Zulassung von Parteien und Gewerkschaften, die Parlamentswahlen von 1977, die soziopolitischen Pactos de La Moncloa und die Verfassung von 1978. – Die demokratische Opposition hatte sich im Frühjahr 1976 zur "Demokratischen Koordination" (Coordinaciön Democrätica) zusammengeschlossen und ihre Absicht bekundet, Spanien auf friedlichem Weg in einen demokratischen Staat umzuwandeln. Auch die 1977 wieder legalisierten Gewerkschaften forcierten durch massenhaften Basisdruck den Demokratisierungsprozeß, dessen Geschwindigkeit nur aus der sich ergänzenden Dynamik von Reformwillen (von oben) und Veränderungsdruck (von unten) zu erklären ist. Im publizistischen und kulturellen Sektor fand ebenfalls eine schnelle Liberalisierung statt, die zwar nicht ohne Rückfälle und Spannungen vor sich ging, seit 1977 aber ein nicht mehr aufzuhaltender Prozeß war. Sprachrohr für die politische und gesellschaftliche Wende wurde die Tageszeitung El Pais. Im Bereich "Sitte und Moral" vollzog sich innerhalb kürzester Zeit ein tiefgreifender Wandel. Seit Consenso für die Politiker jeglicher Couleur auf der historischen Tagesordnung stand und nicht Durchsetzung eines bestimmten parteipolitischen oder ideologischen Credos, machte sich bei vielen Enttäuschung (der vielzitierte desencanto) breit: Den Linken war die politische Entwicklung nicht radikal genug, den Rechten ging sie viel zu weit, vielen anderen brachte die Demokratie nicht die erhoffte materielle Besserstellung, was zu Frustration und politischer Apathie führte. Parallel hierzu entwickelte sich, vor allem in Madrid, eine neue Mischung aus Kunst (Photographie, Malerei, Musik, Mode, Film) und
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apolitischer Bohkne, die unter der Bezeichnung "La movida" mehr Jugendliche anlockt(e) als die Tagespolitik. Aus den Wahlen von 1977 ging die erst kurz zuvor gegründete Union des Demokratischen Zentrums (Union de Centro Democrätico, UCD) von Ministerpräsident Adolfo Suärez mit 34,7% der abgegebenen Stimmen als Siegerin hervor; die Sozialistische Partei (PSOE) kam (mit 28,8%) überraschend auf den zweiten Platz. Das neue Parlament hatte als wichtigste Aufgabe die Ausarbeitung einer Verfassung vor sich, nach deren Verabschiedung (Dezember 1978) Neuwahlen (März 1979) stattfanden, die der UCD (mit 35%) erneut die Mehrheit brachten. Äußerlich sichtbare Zeichen des Regimewechsels waren (u. a.) die Änderung von Straßennamen oder die Beseitigung franquistischer Denkmäler; Feiertage des früheren Regimes wurden abgeschafft, demokratische Gedenktage ("Tag der Verfassung") eingeführt; zu Allerseelen gedenken die Militärs aller Gefallenen im Bürgerkrieg, somit auch der Republikaner. Während der ersten Jahre nach Francos Tod stand die schwierige Änderung der politischen Strukturen, die oft genug einer gefährlichen Gratwanderung glich und alle politischen Energien absorbierte, im Vordergrund: Sanierung und Modernisierung der Wirtschaft (vor allem im Hinblick auf den angestrebten EG-Beitritt) wurden 1976/77 vernachlässigt. Die Übergangsphase zur Demokratie bescherte Spanien auch zweistellige Inflationsraten (um 25 % pro Jahr), zahllose Konkursverfahren, wilde Streiks und einen rapiden Anstieg der Arbeitslosigkeit. Erst das Jahr 1978 zeigte im Anschluß an die "Moncloapakte" (Oktober 1977) zaghafte Versuche der Regierung, im Schatten der die politische Szene beherrschenden Verfassungs- und Autonomiedebatten ein Stabilisierungsprogramm aufzulegen. Charakteristisch für die parlamentarisch und ökonomisch labile Übergangssituation ist die Tatsache, daß es sich bei den "Moncloapakten" um ein zwischen Regierung und Parlamentsparteien ausgehandeltes, von den Gewerkschaften akzeptiertes Abkommen handelte, dessen wirtschaftliche Bestimmungen zwar keinesfalls alle erfüllt wurden, das aber gewisse Verbesserungen (Inflationsrückgang) brachte. Insgesamt blieben die ökonomische Entwicklung und vor allem ihre sozialen Auswirkungen äußerst kritisch: Arbeitslosigkeit und Drogenkonsum wurden zum Hauptproblem der Jugend. In den Großstädten wurde die Zunahme von Delikten wie Straßenraub, Einbruch und Autodiebstahl zu einer alltäglichen Erscheinung. Das zweite große Problem der Transiciön, neben der Bewältigung der Wirtschaftskrise, war die Autonomiefrage, die sich besonders dringlich im Baskenland mit der beängstigenden Zunahme an ETA-Attentaten und Mordanschlägen und in Katalonien, bald aber auch in anderen Regionen des Landes stellte. Nach heftigen und jahrelangen Auseinandersetzungen erfolgte schließlich eine integrale Regionalisierung des Landes, d. h. eine regionalpolitische Neuordnung Gesamtspaniens. Inzwischen ist Spanien ein Staat von 17 Autonomen Regionen, deren Rechte und Pflichten in Autonomiestatuten festgeschrieben sind. Das Ende der Transiciön wird unterschiedlich angesetzt: Für die meisten ist es mit der Verabschiedung der Verfassung Ende 1978 erreicht; andere geben 1981 an, nachdem die spanische Demokratie in der Abwehr des Tejero-Putsches (23. Februar 1981) ihre Bewährungsprobe bestanden hatte; wieder andere sprechen von 1982, da in jenem Jahr die Sozialisten die Regierungsgewalt übernahmen und damit ein in liberal-parlamentarischen Demokratien übliches Alternieren in der Regierung zwischen "linken" und "rechten" Parteien begann.
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Als eigentliche Architekten des Übergangs zur Demokratie gelten vielen Beobachtern König Juan Carlos und Ministerpräsident Adolfo Suärez. Hinzuzufügen sind in jedem Fall noch die politische Mäßigung des spanischen Volkes und die Selbstverpflichtung der politischen Pole – der Rechten von Alianza Popular (Partido Popular) durch Manuel Fraga Iribarne und des Partido Comunista (PCE) durch Santiago Carrillo – auf das demokratische Reformprogramm. Zwei wichtige Voraussetzungen waren für das Gelingen der Übergangsleistung entscheidend: Zum einen liegen die tieferen Gründe für den politischen Wandlungsprozeß in den strukturellen Veränderungen von Wirtschaft und Gesellschaft; von entscheidender Bedeutung war das Vorhandensein einer "modernen" und weitgehend säkularisierten Gesellschaft (demographische Muster entwickelter Industrienationen, hohe Urbanisierungsrate, Professionalisierung und Berufsmobilität, hohe Alphabetisierungsquote, modernes Wertesystem etc.). Zum anderen ließ die nachwirkende traumatische Erfahrung mit der Gewalt, insbesondere während des Bürgerkrieges und in den ersten, stark repressiven Nachkriegsjahren, bei allen Beteiligten die Neigung zu Kompromissen deutlich steigen. In historischer Perspektive hat die Transiciön die in der spanischen Geschichte schon traditionelle Ungleichzeitigkeit der politischen und der wirtschaftlich-sozialen "Verfassung" des Landes endgültig aufgehoben. Galt für die Zeit der Zweiten Republik, daß Spanien in politischer Hinsicht modern, wirtschaftlich-sozial aber eher rückständig war, und für die Schlußphase des Franquismus, daß das Land sozioökonomisch durchaus moderne, politisch aber unzeitgemäß-traditionelle Strukturen aufwies, so ist das Ergebnis der Transiciön die "Gleichziehung" der politischen mit der ökonomischen Entwicklung. In diesem Sinne erhielt bzw. übernahm Spanien durch die Transiciön die Strukturen der "westlichen" Welt. Die Wahlen von 1982 wurden zwischen der rechten Volksallianz (Alianza Popular, AP) und der Sozialistischen Partei unter ihrem jungen Generalsekretär Felipe Gonzälez (geb. 1942) entschieden. Die Sozialisten errangen die absolute Mehrheit der Parlamentssitze und regierten das Land bis 1996. Diese lange Epoche der PSOE-Regierungstätigkeit läßt sich unter zwei Rubriken zusammenfassen (vgl. auch das Porträt von Felipe Gonzälez im Kap. VI, 3): Sozial- und wirtschaftspolitisch ging es um eine längst überfällige Modernisierung, d. h. um die erforderliche strukturelle Anpassung an die Weltwirtschaft; außen- und sicherheitspolitisch standen zuerst der Eintritt in die Europäischen Gemeinschaften und der Verbleib in der NATO, später dann die Integration in die supranationalen Organisationen der westlichen Hemisphäre zur Debatte. In beiden Bereichen sollte es zu erheblichen Friktionen und Widersprüchen kommen. Blickt man auf die lange Regierungszeit des PSOE zurück, so drängt sich ein ambivalenter Eindruck auf: Einerseits ist auf beachtliche Erfolge zu verweisen, die es der Partei ermöglicht haben, die unter demokratischen Verhältnissen einmalig lange Zeit von fast 14 Jahren zu regieren. Andererseits ist eine Negativbilanz unübersehbar, die schließlich zur Abwahl des PSOE führte. Im sozioökonomischen Bereich etwa wird deutlich, daß Spaniens Sozialisten die Restriktionen des Weltmarkts und den Modernisierungsdruck durch den EG-Beitritt als handlungsbestimmend betrachteten. Dementsprechend konzentrierte sich die Politik in einer ersten Phase auch auf die Modernisierung der Wirtschaft, und erst für eine zweite Etappe war der umfassende Aufbau eines Wohlfahrtsstaats vorgesehen. Dementsprechend war auch der ökonomische Modernisierungsschub in der Ära Gonzälez gewaltig: Das Bruttoinland-
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produkt Spaniens stieg seit Mitte der 80er Jahre im Jahresdurchschnitt um 2,9% (EU-Durchschnitt: 2,4%), die Inflationsrate konnte halbiert werden, die Devisenreserven vervierfachten, der Außenhandel verfünffachte, die jährlichen Auslandsinvestitionen verachtfachten sich. Das Wohlstandsniveau der Bevölkerung wurde spürbar erhöht. Die neoliberale Grundorientierung der Wirtschaftspolitik zog in der zweiten Hälfte der 80er Jahre einen regelrechten (nationalen wie internationalen) Investitionsboom nach sich. Das Land wurde zu einem der begehrtesten Märkte in Europa. Auch außenpolitisch ist die Bilanz der Ära Gonzälez erfolgreich: Zuerst ist die Verbesserung des internationalen Ansehens Spaniens durch das "Superjahr" 1992 (Olympiade in Barcelona, Weltausstellung in Sevilla, Madrid Kulturhauptstadt Europas) zu nennen. Sodann ist auf die besonders erfolgreiche Europa-Politik (insbesondere in der zweiten Hälfte 1995, als das Land den Vorsitz in der Europäischen Union innehatte) des überzeugten Europäers Gonzälez zu verweisen. Das Gewicht Spaniens in der Europäischen Union nahm zu, für den Friedensprozeß im Nahen Osten war Spanien ein bedeutender Vermittlungspartner, Spanien wirkte an allen wichtigen NATO-Aktionen mit. Die Ära Gonzälez weist allerdings auch eine andere Seite auf: Bei Regierungsantritt der Sozialisten (1982) betrug die Staatsverschuldung 31,4% des Bruttoinlandproduktes, am Ende ihrer Regierungszeit (1996) lag sie bei 65 % – trotz langjährigen Wachstums, milliardenfacher Unterstützung aus der Brüsseler EU-Kasse und eines stark gestiegenen Steuerdrucks. Im Hinblick auf die Maastrichter Konvergenzkriterien blieb die spanische Wirtschaft deutlich hinter den Mindestanforderungen zurück, eine Teilnahme an der vorgesehenen Währungsunion erschien lange Zeit unwahrscheinlich. Vor allem konnte das Hauptproblem im Sozialbereich nicht gelöst werden: die hohe Arbeitslosigkeit, die (je nach Berechnungsgrundlage) auch in den 80er Jahren zwischen 16 und 22 % lag. Zu der somit nicht uneingeschränkt positiven Bilanz im sozio-ökonomischen Bereich gesellten sich seit Anfang der 90er Jahre stets kritischere Aspekte im politischen Sektor. Immer häufiger wurden in der Öffentlichkeit Vorwürfe wie Vetternwirtschaft, Gefälligkeitskorruption, Arroganz, provozierende Zurschaustellung von Privilegien und Leistungsunfähigkeit in der Staatsverwaltung laut. Gewerkschaften und Arbeiterbasis ergriffen deutlich gegen die Regierungspolitik Partei. Schließlich war das Ansehen der Regierung im Ausland weit besser als im Inland. Die nicht abreißende Kette von Skandalen und Verdächtigungen führte zu erheblichen Einbrüchen des PSOE in der Wählergunst. Bei Kommunal- und Regionalwahlen mußten die Sozialisten selbst in früheren Hochburgen hohe Verluste hinnehmen. Dafür gewannen die Konservativen des Partido Popular (PP, "Volkspartei") zunehmend an politischem Einfluß (zum Partido Popular vgl. ausführlicher Kap. V, 4: Parteien in der Demokratie). Bei den Wahlen vom 3. März 1996 wurde die Volkspartei zwar zur stärksten politischen Kraft; ihr Vorsprung vor den Sozialisten fiel jedoch weit geringer als allgemein erwartet aus. Der Partido Popular erhielt 38,85% der Stimmen und damit 156 (von 350) Sitze, die Sozialistische Partei 37,48% beziehungsweise 141 Sitze. Mit den vorgezogenen Neuwahlen und dem Regierungswechsel kehrte in Spaniens Politik wieder Ruhe ein. Der knappe Wahlsieg des PP hatte zur Folge, daß Aznar parlamentarische Unterstützung von den bürgerlichen Nationalisten Kataloniens (CiU), des Baskenlandes (Partido Nacionalista Vasco, PNV) und der Kanarischen Inseln (Coaliciön Canaria, CC) brauchte. Die Mehr-
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heit im Parlament konnte die neue Regierung nur nach langen Verhandlungen und mit der Zusage großzügiger Finanzleistungen für die Autonomen Regionen erreichen. Das Regierungsprogramm Aznars enthielt vier Schwerpunkte: Maßnahmen zur Stimulierung der Wirtschaft und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze; Vertiefung der regionalen Autonomie; Stärkung der demokratischen Institutionen; Fortführung des europapolitischen Engagements. In der Europapolitik sollte der Erfüllung der Maastrichter Konvergenzkriterien zur Teilnahme an der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion oberste Priorität eingeräumt werden. In der Verteidigungspolitik gliederte sich Spanien auch in die militärische Kommandostruktur der NATO ein. Ende 1996 schickte sich Spanien an, die Maastrichter Konvergenzkriterien zu erfüllen. Die Stabilitätsfortschritte waren unverkennbar, Auslandsgelder strömten wieder massiv ins Land. Die Finanzwelt blickte mit großen Erwartungen der geplanten Währungsunion entgegen; "Euroforia" wurde zum Wort des Jahres an Spaniens Börsen, die Aktienkurse kletterten von einem historischen Rekord zum anderen, der Markt für Peseten-Auslandsanleihen boomte. Ganz offensichtlich sorgten das Ende der langanhaltenden politischen Krise und die Machtübernahme der Konservativen für neue Zuversicht. Trotz der beeindruckenden Wirtschaftszahlen blieb die Arbeitslosigkeit ein ungelöstes Problem. Um die Jahrtausendwende beschäftigte die spanische Wirtschaft rund 12,5 Millionen Personen, eine halbe Million weniger als 1974, obwohl die spanische Bevölkerung in diesem Zeitraum um knapp vier auf 39,3 Millionen Personen gewachsen war. Außerdem war ein Großteil der neugeschaffenen Arbeitsplätze zeitlich begrenzt. Die Arbeitsmarktreformen der konservativen Regierung liberalisierten das Arbeitsrecht so weit, daß außertarifliche Arbeitsverträge, Zeit- und Praktikantenanstellungen unterhalb des Mindestlohns ermöglicht wurden. Nach wie vor bestanden auch erhebliche strukturelle Probleme im Bereich der regionalen und der Jugendarbeitslosigkeit. Durch Ausgabenkürzungen, geringere Gehälter im öffentlichen Dienst, Verkauf von Staatsfirmen und Gebührenerhöhungen wurde das Defizit auf die von Maastricht erlaubten 3% des Inlandprodukts gedrückt. Neben Streichungen bei öffentlichen Investitionen wurden die Subventionen für defizitäre Staatsbetriebe stark gekürzt. Die Sparanstrengungen konzentrierten sich auf die Ausgabenposten Verwaltung, Unternehmenssubventionen und öffentliche Investitionen. Spanien konnte ohne große Probleme die Maastrichter Konvergenzkriterien erfüllen. Das Preisstabilitätskriterium wurde mit 1,8 % problemlos erreicht, das öffentliche Defizit sank unter den Referenzwert, die Schuldenquote war rückläufig, der durchschnittliche langfristige Zinssatz erfüllte die vorgeschriebenen Bedingungen. Da die konservative Regierung im politischen Bereich keine gravierenden Fehler machte, ging sie mit guten Voraussetzungen in die Parlamentswahlen von März 2000. Der Partido Popular gewann (mit 44,5 % der Stimmen) bei dieser Wahl die absolute Mehrheit der Parlamentssitze. Deutlich abgeschlagen folgten die Sozialisten mit lediglich 34,1 %; ihr Spitzenkandidat und PSOE-Generalsekretär Joaqufn Almunia trat nach dieser Niederlage von allen Parteiämtern zurück und wurde kurz danach von Josä Luis Rodriguez Zapatero abgelöst. Damit übernahm bei den Sozialisten eine noch junge Generation mit der Bezeichnung "Neuer Weg" die Führung. Ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der Franco-Diktatur hatte das Land den Anschluß an Europa auch in den Kategorien realer Konvergenz geschafft. Der Transformationsprozeß
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von einer ebenso abgeschotteten wie zurückgebliebenen Staatsverwaltungswirtschaft zur wettbewerbsfähigen offenen Marktwirtschaft war allerdings lange und mühsam; und ohne die massive Hilfe und Rückendeckung der Europäischen Gemeinschaft, der Spanien als Vollmitglied seit 1986 angehört, und später der Europäischen Union wären Wohlstandssprung und Wirtschaftswandel kaum möglich gewesen. Sowohl in der Regierungszeit Gonzalez' als auch Aznars war Spanien der größte Nettoempfänger von Gemeinschaftsmitteln (vor allem aus dem Kohäsions- und Strukturhilfefonds). Die Süderweiterung der Gemeinschaft hat sich im Rückblick für alle Beteiligten gelohnt. Insgesamt kann man der Wirtschaftspolitik der beiden Regierungen Aznar (1996-2004) beachtliche Erfolge im makroökonomischen Bereich attestieren. Auch die Arbeitsmarktsituation verbesserte sich in jenen Jahren erheblich: Bis 2005 war die Arbeitslosenquote auf rund 8,5 % gefallen. Die Gewerkschaften trugen durch Lohnzurückhaltung und Streikeindämmung erheblich zu den wirtschaftlichen Stabilitätserfolgen bei. Die politische Entwicklung verlief in dieser Zeit allerdings nicht so erfolgreich wie die wirtschaftliche. Alle politischen Beobachter sind sich darin einig, daß in der zweiten Legislaturperiode der Politikstil der Regierung Aznar wesentlich härter, unnachgiebiger und gegenüber politischen Positionen der Opposition und der gesellschaftlichen Kräfte arroganter wurde. Einen richtiggehenden Paradigmenwechsel nahm Aznar in der Außenpolitik vor: Er gab den Beziehungen zu den USA Priorität vor allen anderen und riskierte damit eine weitgehende Isolierung in Europa. Hierzu trug auch die starre Ablehnung des europäischen Verfassungsvertrages und das Insistieren auf den in Nizza beschlossenen Regelungen bei. Von Anfang an unterstützte der Regierungschef vorbehaltlos den Kurs der US-Regierung in der Irak-Krise. Dieser Weg einer Allianz mit den USA ging zu Lasten anderer traditioneller Felder der spanischen Außenpolitik, die vor allem in Europa, dem Mittelmeerraum und Lateinamerika liegen. Im neuen Jahrtausend taumelte die Regierung des Partido Popular sodann von einer Krise in die andere: Die Beziehungen zu Marokko wurden zusehends angespannter und hätten 2002 beinahe zu einer kriegerischen Auseinandersetzung wegen der kleinen Insel Perejil geführt. Der Öltanker Prestige verursachte im gleichen Jahr vor Galicien die größte Umweltkatastrophe in der Geschichte des Landes, wobei das Krisenmanagement der Konservativen miserabel war. Im Frühjahr 2003 folgten die millionenfachen Massenkundgebungen gegen das spanische Engagement im Irak-Krieg; gegen die Arbeitsmarktreform der Regierung riefen die Gewerkschaften einen Generalstreik aus. Eine Gesamteinschätzung der Regierungszeit Aznars muß differenziert ausfallen und zwischen der ersten und der zweiten Legislaturperiode unterscheiden. Während in den ersten vier Jahren die Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften und den Nationalismen der Peripherie im Vordergrund stand, die Wirtschaft florierte und das Land der Eurozone beitrat, dominierte in den zweiten vier Jahren die Konfrontation mit den Gewerkschaften und den baskischen Nationalisten, das Durchpeitschen von Reformen ohne Berücksichtigung der Opposition, allgemein: ein arroganter, präpotenter Politikstil. Als der Wahlkampf für die Parlamentswahlen im Frühjahr 2004 sich seinem Ende zuneigte, kam es am frühen Morgen des 11. März in Madrid zu dem verheerendsten Terroranschlag in der Geschichte des Landes, bei dem 191 Menschen getötet und knapp 2000 verletzt wurden. Auf massiven Druck der PP-Regierung hin wurde sofort ETA des
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Verbrechens verdächtigt. Am Vorabend der Wahl vom 14. März wurde aber immer deutlicher, daß die Regierung sich mit ihrer ETA-These klar im Widerspruch zur Annahme der Untersuchungs- und Sicherheitsbehörden befand, die längst die islamistische Täterfährte verfolgten. Die manipulatorische Informationspolitik der Regierung dürfte die Konservativen den Wahlsieg gekostet haben. Unter dem Eindruck der Terroranschläge und der versuchten Informationsvertuschung brachten die Wahlen einen Regierungswechsel. Die Sozialisten erhielten 42,6% der abgegebenen Stimmen und übernahmen mit Jose Luis Rodriguez Zapatero und einer kompetenten Mannschaft, deren Hälfte erstmalig in der spanischen Geschichte aus Frauen bestand, die Regierung (vgl. das Porträt von Jose Luis Rodriguez Zapatero in Kap. VI, 3). Die neue Exekutive ging mit atemberaubender Geschwindigkeit an die ersten Reformen, die in vielerlei Hinsicht Maßnahmen der Vorgängerregierung revidierten: Das spanische Truppenkontingent wurde sofort aus dem Irak zurückgerufen; außenpolitisch wurden die Beziehungen zu den traditionellen Partnern Frankreich und Deutschland sowie im Mittelmeerraum zu Marokko wiederaufgewertet; europapolitisch wurde die Blockadehaltung der konservativen Vorgängerregierung im Hinblick auf die Verabschiedung des europäischen Verfassungsvertrages revidiert, die spanische Bevölkerung stimmte 2005 in einem Referendum für den Verfassungsvertrag; sozialpolitisch schloß die Regierung mit dem Unternehmerverband und den Gewerkschaften einen Pakt zum Erhalt der Konkurrenzfähigkeit und stabiler Arbeitsplätze; bildungspolitisch wurden zahlreiche Bestimmungen der Regierung Aznar revidiert. Verschiedene Reformen im Gesellschaftsbereich führten schnell zu einer ernsthaften Konfrontation mit der katholischen Kirche: die Legalisierung der Homosexuellenehe, die weitere Liberalisierung des Scheidungsrechts, die Abschaffung des obligatorischen Religionsunterrichts. Zu einem der wichtigsten Projekte der sozialistischen Regierung wurde die Reform der Autonomiestatute. Dieses Thema, insbesondere das katalanische Estatut, hielt die Politiker des Landes das ganze Jahr 2005 über beschäftigt; es dürfte auch in den kommenden Jahren von zentraler Bedeutung bleiben.
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III Politische Geschichten der Neuzeit
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IV Verfassungsgeschichte der Neuzeit
1. Die Verfassung von Bayonne (1808) Die moderne Verfassungsgeschichte Spaniens beginnt im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Das Spezifische an dieser Entwicklung bestand darin, daß Spanien seinen Weg in die Moderne mit zwei gewissermaßen konkurrierenden Verfassungen begann, daß beide Verfassungen unter außergewöhnlichen Umständen verabschiedet wurden und daß beide nicht oder nur vorübergehend in Kraft traten. Nachdem Joseph Bonaparte am 7. Juli 1808 durch die im südfranzösischen Bayonne versammelte spanische Notablenversammlung zum spanischen König ausgerufen worden war, verkündete er am darauffolgenden Tag die "Verfassung von Bayonne"; sie ist von ihm unterzeichnet und vom Minister-Staatssekretär Mariano-Luis de Urquijo gegengezeichnet. Zweifellos sollte diese Verfassung als Legitimitätsgrundlage für die napoleonische Monarchie in Spanien dienen. Nachdem sowohl Karl IV. als auch Ferdinand VII. von Napoleon zum Thronverzicht gezwungen worden waren, hatte der französische Kaiser zum 24. Mai 1808 eine spanische Notablenversammlung nach Bayonne einberufen, die ihre Sitzungen am 15. Juni begann. Am 20. Juni wurde der von Napoleon und Maret ausgearbeitete Verfassungsentwurf der Versammlung vorgelegt. Diese gliederte sich (im Anschluß an die traditionellen spanischen Cortes) in drei Stände: Geistlichkeit, Adel und Städte. Die Geistlichkeit umfaßte Erzbischöfe, Bischöfe, Ordensgeneräle, Vertreter der Kapitel, designierte Pfarrer. Zum Adel zählten zehn Grandes von Kastilien sowie zehn von den Städten gewählte Ritter. Die Städte waren durch "Abgeordnete" (diputados) vertreten. Zu diesen "alten" gesellschaftlichen Elementen gesellten sich in der Notablenversammlung auch neue, nämlich Vertreter der Kolonien und der autonomen Landschaften sowie Repräsentanten der Gebildeten und der Interessengruppen. Zu letzteren gehörten die Handelsstädte, die Universitäten, die Armee und die Marine. Die noch von Ferdinand VII. eingesetzte "Oberste Regierungsjunta" (Junta Suprema de Gobierno) erkannte allerdings die Rechtmäßigkeit der Notablenversammlung nicht an, was auch darauf zurückzuführen war, daß sie auf französischem Territorium tagte. Von den eigentlich 150 Abgeordneten erschienen lediglich 91 in Bayonne. Eine Beratung des ihnen vorgelegten Verfassungsentwurfs wurde nicht erlaubt, allerdings durften sie Reden halten. Es sollte nicht zu Debatten kommen, die "verwirren" konnten; ihre Bemerkungen zum Verfassungsentwurf mußten die Abgeordneten daher schriftlich einreichen. Sodann bestimmte eine Kommission, ob und welche Bemerkungen auszugsweise der Versammlung zu unterbreiten waren. In Anbetracht dieser bewußt umständlichen Regelung wurden für die Annahme des Verfassungstextes nur drei Tage benötigt; man kann daher nicht von einer ausgehandelten Verfassung sprechen, wird sie vielmehr als Diktatverfassung bezeichnen müssen. Angesichts des am 2. Mai 1808 begonnenen spanischen "Unabhängigkeitskrieges" gegen die französische Besatzung konnte die Verfassung von Bayonne, obwohl sie am 8. Juli förm-
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IV Verfassungsgeschichte der Neuzeit
lich in Kraft trat, nicht durchgesetzt werden. Spanien befand sich im Ausnahmezustand, somit unter Kriegsrecht. Joseph Bonaparte regierte mittels Besatzungsstatut und königlichen Dekreten. Die Tatsache, daß die Verfassung von 1808 in der Praxis keine Anwendung fand, bedeutet jedoch nicht, daß sie in der spanischen Verfassungsgeschichte als unbedeutend vernachlässigt werden könnte. Im Gegenteil: Sie ist das erste Dokument des Ordnungswandels vom Absolutismus zum Konstitutionalismus und beeinflußte die gesamte weitere Verfassungsgeschichte. Mit der französischen Besatzung und der Einsetzung einer verfassungsmäßig legitimierten und somit beschränkten Monarchie wurde in Spanien das Ende des Anden Regime eingeleitet. Unter Ferdinand VII. kam es zwar zur Wiedereinführung des Absolutismus (1814-1820, 1823-1833); dieser stieß jedoch auf derart zähen Widerstand, daß nach Ferdinands Tod die endgültige Annahme eines konstitutionellen Systems unausweichlich wurde. Außerdem übernahmen spätere Konstitutionen viele Elemente der Verfassung von Bayonne, etwa die starke Stellung des Monarchen mit präsidentialistischen Zügen. Der Verfassungstext besteht aus einer Präambel und 13 Titeln, die wiederum in 146 Artikel untergliedert sind. Der erste Titel handelt von der katholischen Religion, der damit eine herausragende Stellung zugesprochen wird. Der zweite Titel legt die Thronfolgeregelung fest, was bei einer neuen Dynastie von besonderer Bedeutung war. Der dritte Titel regelt die Fragen einer möglichen Regentschaft, der vierte die Finanzausstattung der Krone. Im fünften Titel werden die Beamten des Hofstaates aufgezählt, im sechsten die Ministerien. Der siebte Titel handelt vom Senat, der achte vom Staatsrat, der neunte von den Cortes. Der zehnte Titel ist den Königreichen und spanischen Provinzen in Amerika und Asien gewidmet, der elfte regelt das Justiz-, der zwölfte das Finanzwesen. Der dreizehnte Titel enthält verschiedene allgemeine Bestimmungen, er zählt auch Bürgerrechte (Habeascorpusrechte) auf. In der Präambel wird die Verfassung als "Grundgesetz" und Grundlage des "Paktes" bezeichnet, "der unsere Völker mit Uns sowie Uns mit Unseren Völkern" verbindet. Alle Beteiligten waren somit an die Verfassung gebunden. Diese sah eine "autoritäre" Monarchie vor, in welcher der König die zentrale Entscheidungsstelle war; die übrigen Staatsorgane waren dem Monarchen nachgeordnet. In den "Allgemeinen Verfügungen" wurde zwischen Frankreich und Spanien "ein immerwährendes Offensiv- und Defensivbündnis zu Wasser und zu Land" vereinbart. Mit dieser Bestimmung wollte Napoleon offensichtlich die bourbonische Außen- und Bündnispolitik des 18. Jahrhunderts wieder aufnehmen, als zwischen beiden Staaten "Familienpakte" geschlossen worden waren. Durch diese Bündnisverpflichtung wurden die außenpolitischen Interessen Spaniens denen des französischen Kaiserreichs untergeordnet, Spanien sollte auf Dauer als Instrument zur Durchsetzung der expansionistischen Zielsetzungen des Empire fungieren. Die Verfassung nahm keine Trennung in einen organischen und einen dogmatischen Teil vor; sie enthielt keinen Grundrechtekatalog. Besonders ausführlich wurden dagegen die Staatsorgane behandelt. Im Grunde drehte sich die gesamte Verfassung um die Position des Monarchen, dessen Prärogativen im politischen System verfassungsrechtlich festgeschrieben wurden. Die Ausübung aller nicht ausdrücklich anderen Institutionen zugeschriebenen Gewalten oblag dem Monarchen, dessen Position lediglich durch seine Eidesleistung auf die Verfassung "beschränkt" war.
Die Verfassung von Bayonne (1808)
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Die Exekutive bestand aus dem Staatsrat und neun Ressortministern, die vom König nach freiem Ermessen eingesetzt wurden. Die Minister waren für die Ausführung der königlichen Gesetze und Anordnungen verantwortlich. Der Staatsrat wurde aus 30 bis 60 Mitgliedern gebildet. Kraft Amtes waren die neun Ressortminister sowie der Präsident des Kronrates Mitglieder im Staatsrat, dem mit beratender Stimme auch sechs Vertreter der Kolonien angehörten. Vorsitzender des Staatsrates war der König. Der Staatsrat hatte sechs Ressorts: Justiz und kirchliche Angelegenheiten, Inneres und allgemeines Polizeiwesen, Finanzen, Krieg, Marine, Kolonien. Er hatte die Gesetzesvorschläge und Reglements zu "prüfen und auszustellen"; insofern war er am Gesetzgebungsverfahren beteiligt. An diesem wirkten außerdem der Senat und die Cortes mit – zwei Institutionen, die auf dem Papier blieben, da sie unter den obwaltenden Kriegsbedingungen nie einberufen wurden. Der Senat setzte sich aus den volljährigen Infanten und weiteren "verdienten" 24 Personen zusammen, die vom König auf Lebenszeit zu Senatoren ernannt wurden und nur aufgrund einer Gerichtsentscheidung ihres Amtes enthoben werden konnten (Art. 32-51). Der Senat verfügte über zwei Ausschüsse: den für persönliche Freiheit und den für Druckfreiheit. Er hatte dreierlei Funktionen: Zum einen mußte er über die Wahrung der persönlichen und der Druckfreiheit wachen; zum anderen stand ihm eine Art Notverordnungsrecht im Falle der Bedrohung der Staatssicherheit zu, das es ihm erlaubte, die Verfassungsgarantien (zeitlich und örtlich begrenzt) auszusetzen; zum dritten schließlich trat er als Appelationsgerichtshof bei Wahlunregelmäßigkeiten auf. Das dritte vorgesehene legislative Organ waren die Cortes, deren 172 Mitglieder am Gesetzgebungsverfahren mitwirkten. Die Arbeit der Cortes erfolgte in Kommissionen (Justiz, Inneres, Finanzen, Westindien); die Sitzungen sollten nichtöffentlich sein. Zu den wichtigsten Kompetenzen der Cortes zählte die Verabschiedung – für die Dauer von drei Jahren – des vom Staatsrat eingebrachten Haushaltsgesetzes sowie der ebenfalls vom Staatsrat vorgelegten Gesetzesprojekte. Nach Erörterung und Beschlußfassung sollten die königlichen Dekrete mit dem Zusatz "nach Anhörung der Cortes" verkündet werden. Die Cortes verfügten somit im Gesetzgebungsverfahren über kein Vorschlags- oder Initiativrecht; sie stellten vielmehr ein beratendes und prüfendes Organ dar. Die Gesetzgebung lag beim König und seiner Regierung. Von einer Kontrolle der Exekutive durch die Cortes konnte keine Rede sein, da das Parlament nur das Recht hatte, "schwerwiegende und wohlbegründete Klage wegen des Verhaltens eines Ministers zu führen", über die sodann Mitglieder des Staats- und des Kronrates befanden. Der Monarch hatte das Recht, die Cortes einzuberufen, zu vertagen, ihre Sitzungen aufzulösen und zu verlängern. Reguläre Cortes-Sitzungen waren nur alle drei Jahre vorgesehen. Zwischenzeitlich konnte der Monarch, zusammen mit dem Staatsrat, Gesetze erlassen. Es war vorgesehen, daß die Cortes (in nicht-öffentlichen Sitzungen, deren Protokolle ebenfalls geheim blieben) den Gesetzen ihre Zustimmung gaben. Von einer klaren Gewaltenteilung konnte somit keine Rede sein. Die entscheidenden Funktionen im politischen System lagen beim Monarchen und beim Staatsrat, die sowohl exekutive als auch legislative Funktionen innehatten und darüber hinaus an der Judikative beteiligt waren. Die Verfassung von Bayonne machte – durchaus in Übereinstimmung mit dem französischen Vorbild – aus den einzelnen Verfassungsorganen reine "Registrierkammern" der von der Krone präsentierten Gesetzesprojekte; über tatsächliche Mitbestimmungsrechte verfügten die einzelnen Organe nicht.
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iv Verfassungsgeschichte der Neuzeit
Das "Statut" von Bayonne — so wird es auch oft bezeichnet — stellt einen Modernisierungsschritt im Übergang vom Anden Regime zum Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts dar. Bei dieser ersten Verfassung Spaniens ist vor allem auf die zahlreichen Restriktionen zu verweisen, die eine volle Ausprägung des Konstitutionalismus erschwerten. Schon seine Genese ließ den Text in den Augen vieler Zeitgenossen suspekt erscheinen, nachdem er auf den Willen des französischen Kaisers zurückging und auf französischem Boden erlassen worden war. Bei aller Kritik an der Verfassung ist andererseits aber darauf zu verweisen, daß das "Statut von Bayonne" zum ersten Mal in der spanischen Geschichte die Rechte und Freiheiten der Bürger formalisierte und damit zum Vorbild späterer Verfassungen wurde. Sicherlich sind die Bürgerrechte noch äußerst unsystematisch dargelegt, und die entsprechenden Festlegungen können als allzu beschränkt und unvollständig bezeichnet werden. Trotzdem stellt der Verfassungstext den Beginn und Anstoß einer Entwicklung dar, die in den folgenden Jahren bereits weitreichende Veränderungen im politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bereich bringen würde.
2. Die Verfassung von Cädiz (1812) Im Gegensatz zum Verfassungsstatut von Bayonne hat die am 19. März 1812 im andalusischen Cädiz verkündete "Politische Konstitution der Spanischen Monarchie" wesentlich tiefere Spuren in der Verfassungsgeschichte des Landes hinterlassen. Zwar blieb auch ihre Geltungsdauer auf kurze, zumal äußerst krisenhafte Perioden beschränkt, die Bedeutung der Verfassung von Cädiz als Symbol und Leitbild politischer Reformen wuchs dafür in der Folgezeit um so stärker. Die historischen Koordinaten ihres Entstehens finden sich in der Ausnahmesituation des landesweiten Volksaufstandes gegen die Napoleonische Invasion, im sogenannten Unabhängigkeitskrieg (1808-1814). Den Boden für die Einberufung einer verfassunggebenden Nationalversammlung (Cortes) hatte die in den ersten Kriegsmonaten rasch erodierende Autorität jener Zentralen Junta bereitet, die als provisorische Regierung im Namen Ferdinands VII. den militärischen Widerstand gegen die überlegenen französischen Armeen zu organisieren suchte. Hinzu trat als politische Herausforderung an die erklärten Gegner Napoleons das konstitutionelle Regime Joseph Bonapartes, welches sich dank seines Reformcharakters bisweilen auch für aufgeklärte Spanier als durchaus akzeptable Alternative zum diskreditierten bourbonischen Absolutismus darstellte. So erschien die in jenem südlichen, von französischen Truppen belagerten Winkel der Iberischen Halbinsel erarbeitete Verfassung gleichsam als "nationale" Antwort auf die politische Krise, die die Intervention Napoleons hervorgerufen hatte. In diesem Sinne verstand sich auch das Dekret über die Konstituierung der "allgemeinen und außerordentlichen Cortes" vom 24. September 1810, das den Thronverzicht des spanischen Königs zugunsten Joseph Bonapartes ebenso wie das Verfassungsstatut von Bayonne mit dem Argument annullierte, daß in beiden Fällen die "Zustimmung der Nation" gefehlt habe. Damit war implizit bereits ein wesentliches Prinzip der künftigen Verfassung artikuliert, namentlich der Grundsatz der unumschränkten Souveränität des Volkes, das in Gestalt der spanischen Nationalversammlung als eigentliche Quelle von Recht und Gesetz an die Stelle des absoluten Monarchen trat. Die radikale Umsetzung dieses Grundsatzes
Die Verfassung von Cädiz (1812)
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kam vor allem in der Entscheidung für ein Einkammerparlament zum Ausdruck. Die Ablehnung des Bikameralismus war bereits durch den Einberufungsmodus für die verfassunggebenden Cortes vorentschieden worden. Gegen jene Stimmen, die für eine Versammlung nach Ständen plädiert hatten, um die Privilegien von Adel und Klerus mittels einer Notabelnkammer in das konstitutionelle Zeitalter hinüberzuretten, entschied sich die Zentrale Junta unter dem Eindruck des Volksaufstandes gegen Napoleon schließlich für allgemeine Wahlen. Den Mehrheitsverhältnissen in der Verfassungskommission entsprechend wurden bei der Entscheidung dieser Frage dann auch die Bedenken der liberalen Fraktion gegenüber einer reformverweigernden zweiten Kammer maßgeblich. Die Cortes bildeten zweifellos das Herzstück des neuen Regimes, insofern ihnen als Kernkompetenz der Entwurf, Beschluß und Widerruf der Gesetze zustand. Des weiteren oblag es ihnen, Steuerlasten und Staatsausgaben sowie — in Absprache mit dem König — die Stärke des Militärs festzulegen und über Spaniens äußere Beziehungen in Form von Bündnisverträgen, Handelsabkommen und Außenzöllen zu entscheiden. Schließlich verfügten sie über das Recht, die im Staatsrat versammelten Berater des Königs vorzuschlagen und — wohl unter dem Eindruck der Vorgänge von Bayonne — bestimmenden Einfluß auf alle die Thronfolge betreffenden Fragen zu nehmen, so etwa die Wahl der Regentschaft im Falle der Minderjährigkeit des Thronfolgers oder aber die Abwahl eines "unwürdigen" Prätendenten. Die Funktion des Königs blieb dagegen wesentlich auf den Oberbefehl über die Streitkräfte sowie die Ausübung der exekutiven Gewalt beschränkt. Zu letzterer standen dem Monarchen sieben Fachministerien (secretarias) — das Außenministerium sowie die Ministerien für Inneres, Übersee, Justiz, Finanzen, Krieg und Marine — zur Verfügung, deren jeweilige Vorstände (secretarios del despacho) er nach seiner persönlichen Wahl ernennen durfte. Aus Furcht vor einer Übermacht der Ministerien hatte man dem König als Gegengewicht den Staatsrat (Consejo de Estado) zur Seite gestellt, dessen 40 auf Lebenszeit ernannte Mitglieder bei allen "ernsten Angelegenheiten" zu konsultieren waren (Art. 236). Im Anschluß an die Aufzählung der königlichen Vollmachten enthielt die Verfassung eine ebenso umfassende Liste von Beschränkungen und Verpflichtungen, die geradezu beispielhaft die Ängste vor einer Rückkehr des Absolutismus spiegelten. Möglicherweise um der Nähe zur radikaleren französischen Verfassung von 1791 zu entgehen, die den Weg für Krieg und Terreur geebnet zu haben schien, hatte man dem König in Cädiz eine gewisse Teilhabe an der Gesetzgebung zugestehen wollen. Der Monarch erhielt so nach Artikel 15 das Recht, Gesetzesinitiativen einzubringen, deren Behandlung sich das Parlament nicht verweigern konnte. Darüber hinaus stand dem König bei der ihm ebenfalls obliegenden Sanktion der Gesetze ein suspensives Veto zur Verfügung, das bei (maximal) zweimaliger Anwendung erlaubte, ein Gesetz um bis zu zwei Jahre hinauszuzögern. Erst im dritten Jahr — d. h. mithin in einer neuen Legislaturperiode — war es den Cortes möglich, das königliche Veto zu überstimmen. Darüber hinaus verfügte der Monarch über das Vorrecht, Krieg zu erklären und Frieden zu schließen, wenngleich diese Befugnis an die Konsultation des Staatsrates gebunden war und außerdem strengste Rechenschaftspflicht gegenüber den Cortes bestand. Die radikale Beschneidung der königlichen Kompetenzen einerseits, die Aneignung der legislativen Gewalt durch das Parlament im Verein mit der verfassungsmäßig garantierten Unabhängigkeit der Justizbehörden (tribunales) andererseits hatte dem Prinzip der Gewal-
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tenteilung zu dem in der spanischen Verfassungsgeschichte ersten und wohl auch konsequentesten Ausdruck verholfen. Dafür kennzeichnend war, vor allem im Gegensatz zur modernen parlamentarischen Regierung, der institutionelle Dualismus im Verhältnis von Exekutive und Legislative zueinander. Trotz des königlichen Initiativrechtes hatte man – ähnlich wie in der französischen Verfassung von 1791 – Regierung und Parlament als zwei scharf voneinander getrennte Sphären konzipiert. Zwischen Ministeramt und Abgeordnetenmandat herrschte strikte Inkompatibilität, und König wie Ministern war es grundsätzlich untersagt, dem parlamentarischen Betrieb und insbesondere den Abstimmungen persönlich beizuwohnen (Art. 124/125). Die in Artikel 131, Absatz 25 verankerte Kontrollfunktion der Cortes in bezug auf die Regierungsmitglieder war daher auch (entgegen heutigen Maßstäben) nicht als parlamentarische Ministerverantwortlichkeit gedacht, sondern verstand sich gemäß den Artikeln 228 und 229 lediglich als strafrechtliche Sanktionsgewalt im Falle einer Gesetzesübertretung. Zwar tragen die zentralen Strukturelemente der Verfassung von 1812 unverkennbar die Handschrift eines radikalen Liberalismus, im Hinblick auf die rechtliche Stellung der Kirche bleiben die liberalen Grundsätze jedoch geradezu unkenntlich. Die Verfassung nämlich bestimmte mit Artikel 12 den römisch-katholischen Glauben zu der "ewiglich ... einzig wahrhaftigen" Religion der spanischen Nation und verbot die Ausübung jeder anderen. Ursache dieser verfassungsmäßigen Intoleranz im Religiösen war die vehemente Fürsprache jener Abgeordneten, die als Anhänger des Ancien Regime das Verfassungsprojekt von Anfang an mit großer Skepsis betrachteten und sich die Bewahrung der kirchlichen Vorrechte als zentrale Forderung auf die Fahnen geschrieben hatten. Wenngleich diese – von liberaler Seite als "servil" verunglimpfte – Gruppe von Abgeordneten lediglich eine Minderheit darstellte, reichte deren Einfluß doch aus, um zumindest in diesem Punkt das angepeilte Maximalziel zu erreichen. Doch der Ausschluß aller übrigen Konfessionen bedeutete keineswegs, daß die Kirche ihren sozialkulturellen Einfluß ungebrochen in die neue Zeit mit hinüber nehmen würde. Denn ganz grundsätzlich übernahm nun der Vernunftgedanke, was zuvor die religiöse Metaphysik im Hinblick auf die Legitimation der gesellschaftlichen Ordnung geleistet hatte, so daß sich die Kirche allein hierdurch gezwungen sah, ihre feindselige Haltung gegenüber dem Verfassungsprojekt beizubehalten. Während den Anhängern des Ancien Regime die konstitutionelle Monarchie als eine willkürliche, von gottlosen Jakobinern erdachte Traditionszerstörung galt, mühten sich die Liberalen, den angeblich revolutionären und fremdländischen Charakter ihres Werkes zu widerlegen. Schon die Übernahme des Begriffs Cortes, jener traditionellen Bezeichnung für die Ständekammern der mittelalterlichen iberischen Königreiche, sollte auf nationalgeschichtliche Kontinuitäten verweisen. Das Verfassungswerk selbst wurde von liberaler Seite häufig als Instrument zur "Wiederherstellung" jener ursprünglich dualistischen Herrschaft von Volk und König beschrieben, die einst als Garant von Freiheit und nationaler Unabhängigkeit fungiert habe und erst durch den "Despotismus" der neuzeitlichen Herrscherhäuser (Habsburger und Bourbonen) zerstört worden sei. Allerdings waren die Vollmachten der mittelalterlichen Cortes im wesentlichen auf Petitions- und Beratungsbefugnisse beschränkt gewesen, so daß es trotz vieler publizistischer Bemühungen nicht gelingen wollte, der Verfassung von Cädiz den Nimbus des substantiell Neuen zu nehmen.
Das "Königliche Statut" (1834)
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Tatsächlich kommt man wohl kaum umhin, sowohl die Konstituierung als auch das legislative Werk jener autonomen parlamentarischen Kraft als einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit zu betrachten, für den anstelle der mittelalterlichen Ständevertretung wohl eher der französische Konstitutionalismus von 1791 Pate gestanden hat. Abgesehen von der strikten Eingrenzung der monarchischen Gewalt untergrub die Gesetzgebung der Cortes nämlich auch die Grundfesten der überkommenen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Maßstab und Triebfeder hierfür war die liberale Vorstellung des Individuums als Träger unveräußerlicher Freiheitsrechte, die ihrerseits als Bedingung für die Entfaltung der menschlichen Schöpfungskraft betrachtet wurden. Wenngleich man dem legislativen Werk der Cortes von Cädiz durchaus revolutionären Charakter beimessen kann, blieb es letztlich doch nur eine Revolution auf dem Papier. Die Ausnahmesituation des Krieges hatte zur Folge, daß die Durchsetzung der Verfassungsbestimmungen auf ein geographisches Mindestmaß reduziert blieb, während zum anderen das wichtigste Glied der konstitutionellen Monarchie, König Ferdinand VII., bis zum endgültigen Abzug Napoleons Anfang 1814 im französischen Exil verharrte. Gerade Ferdinands Rückkehr jedoch sollte dem Verfassungsexperiment ein jähes Ende bereiten. Ferdinand hatte die konstitutionelle Bewegung in Spanien von Anfang an mit Abscheu betrachtet und sich erst zur Rückkehr entschlossen, nachdem die mittlerweile deutlich gestärkte Fraktion der Absolutisten in ihrem berüchtigten "Persermanifest" die Restauration der absoluten Monarchie angeregt hatte. Königstreue Streitkräfte vollführten schließlich den Staatsstreich gegen das Verfassungsregime und seine Anhänger.
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Das "Königliche Statut" (1834)
Beim Tode Ferdinands VII. (1833), der zuletzt ein Jahrzehnt lang absolutistisch regiert hatte, war die Nachfolgefrage nicht eindeutig geklärt. Es begann ein Bürgerkrieg zwischen den Anhängern von Ferdinands Bruder Karl (Karlisten) und denen von Ferdinands dreijähriger Tochter Isabella, deren Interessen während ihrer Minderjährigkeit von der Königinwitwe und Regentin Marfa Cristina (Cristinos) wahrgenommen wurden. Der dynastische Erbstreit war aber nur äußerer Anlaß und Fassade dieses ersten Karlistenkrieges (1833-1839), in dem es eigentlich um die Beibehaltung eines extrem reaktionären Absolutismus oder die Einführung einer konstitutionellen Monarchie auf liberaler Grundlage ging. Während auf den Schlachtfeldern die militärische Entscheidung zwischen Liberalismus und Absolutismus fiel, übernahmen im politischen Zentrum die "Oligarchen des Liberalismus", die Moderados, die Macht, die eine Beschränkung der monarchischen Rechte durch eine Volksvertretung durchsetzten. Sehr schnell wurde der Regentin klar, daß sie sich deutlicher als vorgesehen für die liberalen Kräfte entscheiden mußte. Aus den unterschiedlichsten Lagern, sieht man vom absolutistischen ab, kam der Ruf nach Einberufung von Cortes. Der Krieg gegen Don Carlos machte eine sofortige Stabilisierung der politischen Situation erforderlich. Marfa Cristina erfaßte schnell die Gefährlichkeit der Lage und ernannte den liberalen Francisco de Paula Martfnez de la Rosa zum neuen Regierungschef, der seine Mäßigung bereits im konstitutionellen Triennium (1820-1823) unter Beweis gestellt hatte.
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iv Verfassungsgeschichte der Neuzeit
Dieser Regierungswechsel stellt den historischen Augenblick dar, in dem die Krone auf die Fortführung des Absolutismus verzichtete und sich bereit erklärte, das politische System um die Liberalen zu erweitern, damit eine Bourgeoisie an der Macht zu beteiligen, die ihrerseits zur Unterstützung einer konstitutionellen Monarchie Isabellas bereit war. Das Symbol des neuen politischen Systems war das von der Regentin oktroyierte "Königliche Statut" (Estatuto Red von 1834, durch das in Spanien die konstitutionelle Monarchie bis 1931 institutionalisiert wurde. Ihre soziale Basis waren Grundbesitzer und (Groß-)Bourgeoisie, die ihre Vorherrschaft in den Cortes durch ein extrem hohes Zensuswahlrecht sicherstellten ("Demokratie der Aristokratie"). Darin kam auch die Angst der Krone vor der Teilnahme frei gewählter Volksvertreter an politischen Entscheidungen zum Ausdruck. Von einem so oligarchisch zusammengesetzten Parlament waren keine weitreichenden Änderungen zu erwarten. Das Estatuto Real folgte dem Vorbild der französischen Charte von 1830; es verließ wieder die demokratische Linie der Verfassung von Cädiz, die strikte Gewaltentrennung wurde aufgehoben. Obwohl die Verantwortung der Regierung gegenüber den Cortes zugelassen wurde, konnte das Parlament im Verfassungssystem kein Übergewicht erringen. Die Gesetzesinitiative lag ausschließlich bei der Krone. Allerdings hatte das Parlament das Petitionsrecht, von dem in der ersten Legislaturperiode auch ausführlich Gebrauch gemacht wurde. Die Petitionsanträge lassen ein weitgefaßtes liberales Programm erkennen, das als Forderungskatalog einer "bürgerlichen Revolution" gedeutet werden kann: Die an Kirche und Adel bezahlten Tribute sollten abgeschafft, alle Institutionen, auf denen der gesellschaftliche Einfluß der "Privilegierten" beruhte, eliminiert werden. Die zivile und kirchliche Desamortisation stand ebenso auf der Liste wie die Abschaffung aller Majorate und ländlichen "Vinkulationen", die keinen bestimmten Jahresertrag erbrachten. Im politischen Bereich sollten alle Bürgerrechte garantiert, die Repräsentativität des Systems erweitert, den Cortes das Recht zur Ausarbeitung ihrer eigenen Geschäftsordnung zugestanden werden. Weitere Forderungen waren Pressefreiheit, Unabhängigkeit der Gerichte, Ministerverantwortlichkeit; besonders wichtig war die Aufstellung einer städtischen Miliz, die bereits in früheren konstitutionellen Phasen das wirkungsvollste Instrument des radikalen Liberalismus gewesen war, oder einer Nationalgarde, und der Erlaß eines demokratischen Kommunalwahlgesetzes. Der "gemäßigte" Charakter der Verfassung von 1834 kommt am besten in den drei Prinzipien zum Ausdruck, auf denen sie beruhte. Der Ausgangspunkt war die Vorstellung einer doppelten Souveränität, die in Spanien traditionellerweise vom Monarchen und den Cortes gemeinsam ausgeübt wurde. Implizit lehnte das Statut damit das Prinzip der Volkssouveränität ab und entschied sich für eine Doktrin, die in den späteren Verfassungen von 1845 und 1876 explizit zum Prinzip der gemeinsam von rex und regnum ausgeübten Souveränität weiterentwickelt wurde. Das Statut ging nicht vom Prinzip der Gewaltenteilung aus, betonte vielmehr die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit der Gewalten; allerdings mußte die Regierung über das Vertrauen der Cortes verfügen. Die Ideologie des Statuts lief auf einen Ausgleich zwischen Ordnung und Freiheit, zwischen Tradition und Neuerung hinaus. Selbstproklamiertes Ziel war die Aussöhnung der sich noch bekämpfenden und in verschiedenen Lagern verfeindet gegenüberstehenden Spanier. Befürworter des Statuts hoben seine positiven Aspekte hervor. Es bedeutete verfassungsrechtlich die endgültige Überwindung des Ancien Regime; es stellte einen ersten Schritt zur
Die progressistische Kompromißverfassung (1837)
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konstitutionellen Normalität dar; es gab dem Land ein repräsentatives System; es führte in Spanien die parlamentarischen Institutionen und Mechanismen ein, die auch in anderen europäischen Verfassungsstaaten der Zeit üblich waren. Das Zweikammersystem bewährte sich bis 1931. Kritiker wiesen demgegenüber auf die großen Mängel hin: Im Konfliktfall zwischen Monarch und Cortes bot dieses konstitutionelle Modell keine Kompromißlösung. Das hohe Zensuswahlrecht schloß die erdrückende Mehrheit der Bevölkerung von politischer Partizipation aus. Die Kompetenzen der Krone (Recht zur Auflösung des Parlaments, Teilnahme an der Gesetzgebung, absolutes Vetorecht) verschafften dieser ein Übergewicht im Verfassungssystem; vor allem aber: Das Statut gab das Prinzip der Volkssouveränität preis; außerdem enthielt es keinen Grundrechtekatalog. Die linksliberalen Kräfte, die an der Ausarbeitung des Statuts nicht beteiligt worden waren, lehnten das Estatuto Real daher entschieden ab und sprachen ihm nicht den Charakter eines Verfassungstextes zu; sie wollten sich auch nicht in das politische System von 1834 integrieren.
4. Die progressistische Kompromißverfassung (1837) Die anhaltende Unzufriedenheit mit dem Estatuto unter den radikaleren Linken, die sich inzwischen Progresistas nannten, führte 1834/35 zu zahlreichen Aufständen, bei denen die städtische Miliz stets eine ausschlaggebende Rolle spielte. Immer wieder wurde von den revolutionär gebildeten Stadt- und Provinzjuntas die Rückkehr zur Verfassung von 1812 gefordert. Die sozialen Unruhen in den Provinzen nahmen ein derartiges Ausmaß an, daß die Krone zur Überzeugung gelangte, sie seien nur durch Berufung eines Progressisten in das Amt des Regierungschefs unter Kontrolle zu bekommen. Der Sommer 1835 erlebte den Höhepunkt des Kampfes. Das "gemäßigte" Spanien des Estatuto Real sah sich zu diesem Zeitpunkt nicht nur der karlistischen Jacquerie, sondern auch den städtischen Aufständen der (unteren) Mittelschicht ausgesetzt. Zwischen diesen beiden Fronten wurde die letzte Bastion des Feudalismus, der Staat, zerrieben. Selbst die Monarchie und mit ihr die soziale Schicht, die sie vertrat, waren bedroht. Der Regentin blieb keine andere Lösung, als die Macht jemand zu übertragen, der sowohl die Karlisten militärisch schlagen als auch die Mittelschichten durch Reformen besänftigen konnte. Im September 1835 übertrug daher Maria Cristina dem Progresista Juan Alvarez Mendizäbal die Regierungsgeschäfte. Die Ernennung dieser "revolutionären" Regierung bedeutete die Niederlage des bis dahin praktizierten konservativen Reformismus; zugleich war Mendizäbal die letzte Hoffnung der Monarchie. Der neue Regierungschef verkündete sofort die Prinzipien, an denen sich seine Regierung orientieren würde: Übergang vom gemäßigtkonstitutionellen in ein parlamentarisches System und verfassungsrechtliche Verankerung der allgemeinen Bürgerrechte. Die Übertragung der Macht an Mendizäbal bedeutete praktisch die Eroberung des Staatsapparats durch die Bourgeoisie. Politisch stellte Mendizäbal einen radikalen Wandel in der Einstellung und Funktion des Staates dar: War dieser bis dahin ein eifersüchtiger Feind der bürgerlichen Schichten gewesen, so förderte er sie fortab offen und stellte sich damit gegen feudale Interessen. Als Mendizäbal im Januar 1836 die (noch ständischen) Cortes auflösen ließ, um das erste bürgerliche Parlament wählen zu lassen, kommentierte er diese Maßnahme mit den Worten: "Es ist ein großer Schritt vorwärts
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iv Verfassungsgeschichte der Neuzeit
in Richtung auf die Revolution." Unter Revolution verstand Mendizäbal die Machterringung durch das Bürgertum. Mendizäbal bildete nur sieben Monate lang die Regierung; in dieser Zeit erfolgte zwar kein grundlegender Wandel des politischen Systems, der 1823 unterbrochene revolutionäre Prozeß wurde aber mit Duldung der Krone fortgesetzt und vertieft. Die Justizverwaltung erhielt eine neue Grundlage, die Nationalmiliz erfuhr (unter der neuen Bezeichnung Nationalgarde) eine Reorganisation, eine Neustrukturierung des Militärbereichs sollte die Voraussetzungen für eine schnelle Beendigung des Karlistenkrieges schaffen. In jenen Jahren bildeten sich auch allmählich Parteien im heutigen Sinne des Wortes heraus; zu den damals gegründeten Wahlkomitees gesellten sich im Laufe jener Jahre noch die parlamentarischen Gruppen (Vorläufer der Fraktionen) und die Redaktionsstäbe von (Partei-)Zeitungen als weitere Kristallisationszentren, aus denen sich politische Parteien entwickelten. Nachdem Mendizäbal in Zusammenhang mit der beabsichtigten Reform des Wahlgesetzes das Vertrauen des Parlaments verloren hatte und gestürzt worden war, brachten Neuwahlen eine progressistische Parlamentsmehrheit. Der von der Krone eingesetzte Regierungschef Francisco Javier Istüriz gehörte allerdings den Moderados an. Nachdem er Neuwahlen ausgeschrieben hatte, von denen die gemäßigten Liberalen sich wieder eine Mehrheit erhofften, griffen die Progressisten abermals zum Mittel der urbanen Agitation. Sie durchbrachen damit erneut die Regeln des politischen Systems von 1834; das pronunciamiento der Nationalmiliz führte schließlich Mitte 1836 zur Wiederherstellung der Verfassung von Cädiz und, nach der Rebellion der Truppen in der Sommerresidenz La Granja, zur Wiedereinsetzung einer progressistischen Regierung unter Josd Maria Calatrava und Juan Alvarez Mendizäbal. Damit waren die Progressisten innerhalb kurzer Zeit zum zweitenmal auf irreguläre Weise an die Macht gelangt. Der deutlichste Unterschied des progressistischen Verfassungsmodells zu dem der Moderados bestand denn auch in der linksliberalen Theorie von der Legitimität der Revolution, derzufolge die "souveräne Nation" auf die Barrikaden gerufen werden konnte, wenn es keine legalen Mittel gab, die den Zugang zur Macht ermöglichten. Diese Theorie der "berechtigten" Revolution galt primär für die Progressisten selbst, die sich für die eigentlichen Repräsentanten des "Volkes" hielten, da die ihnen von der Krone entgegengebrachte Gegnerschaft und das enge Zensuswahlrecht der Moderados verhinderten, daß sie über Wahlen an die Macht kamen; für die Progresistas blieb daher nur der Rekurs auf die "Volksrevolution", wollten sie das zwischen Krone und Moderados geschlossene "Herrschaftsbündnis" durchbrechen. Verbündeter der Progressisten bei diesen urbanen Aufständen war stets ein Teil des Heeres, der mit den linksliberalen Vorstellungen konform ging. 1836 und 1837 kamen die Progressisten bereits durch derartige "revolutionäre Allianzen" an die Macht; unter veränderten Bedingungen sollten sie später (1840, 1854, 1868) wieder diesen revolutionären Weg einschlagen. Im Gegensatz zum gemäßigten Konstitutionalismusmodell der Moderados ging das radikalere der Progresistas von der Volkssouveränität aus. Die inhaltlichen Unterschiede zwischen den beiden Flügeln des Liberalismus waren aber geringer, als es aufgrund der ständigen Auseinandersetzungen zwischen ihnen den Anschein hat. Sie stimmten prinzipiell mit den Moderados darin überein, daß politische und Eigentumsrechte aufeinander bezogen sind. Während aber der "doktrinäre Liberalismus" (Dfez del Corral) der Moderados in sei-
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nem Verfassungsdenken von der Vorstellung ausging, daß in einer modernen Gesellschaft das Recht zur Ausübung politischer Macht auf Reichtum und Intelligenz weniger beruhe, die soziale Basis der Moderados auch relativ homogen war (grundbesitzende Oligarchie, entstehende Finanz- und Industriebourgeoisie, bessersituierter Mittelstand wie Karrierebeamten oder Anwälte), diese daher für ein hohes bildungs- und besitzbürgerliches Zensuswahlrecht eintreten konnten, wollten die Progresistas das Wahlrecht einer breiteren Schicht öffnen, da ihre, im übrigen sehr heterogene, soziale Basis vor allem die untere Mittelschicht der Städte darstellte. Die Progressisten gestanden dem Monarchen auch das Recht zur Auflösung der Cortes zu; außerdem akzeptierten sie schließlich die These der Moderados, derzufolge der Krone die Schlichtungsfunktion einer vierten, moderierenden Gewalt (poder moderador) über Exekutive und Legislative zugesprochen wurde. Deutlich feststellbare Unterschiede zu den Moderados bestanden in der akzentuierten Gegnerschaft der Progresistas gegen die Wirtschaftsmacht der Kirche, in ihrer Förderung der Nationalmiliz und in ihrem Kampf für die Demokratisierung der Lokalverwaltungen. Die progressistischen Verfassungsvorstellungen kamen in der Konstitution von 1837 relativ klar zum Ausdruck. Die Verfassung läßt zugleich erkennen, daß Progresistas und Moderados sich inzwischen angenähert hatten. Beide Fraktionen gingen in der wichtigen Frage des Wahlrechts einen Kompromiß ein und setzten ein gemäßigtes Zensuswahlsystem durch, während nunmehr nur noch die "Demokraten" (Demöcratas), der linke Flügel der Progressisten, auf der Wiederinkraftsetzung der Verfassung von 1812 und damit des allgemeinen Wahlrechts bestanden. Das Verfassungssystem von 1837 beruhte wiederum auf der monarchischen Prärogative und räumte dem Parlament eine nur nachgeordnete Stellung ein. Durch eine gewisse Ausweitung der Zahl der Wahlberechtigten und eine größere Pressefreiheit hofften die Progressisten offensichtlich, in Zukunft die Wahlen zu ihren Gunsten entscheiden und damit ein ausreichendes Gegengewicht zur Krone bilden zu können. Das Wahlrecht blieb zwar an Besitz gebunden; es ermöglichte jedoch, als Folge wirtschaftlicher Entwicklung, eine fortschreitende Ausweitung der Wählerschaft, die in den folgenden Jahren auf etwa 600.000 Personen (= 5 %) stieg, danach aber wegen einer erneuten Erhöhung des Zensus wieder auf unter 100.000 sank. Mit der Ausweitung der Wählerschaft wuchs auch die Wahlkorruption der nun wirksamer auftretenden politischen Gruppen oder Cliquen. Von den Wählervereinigungen des Estatuto Real ging die Entwicklung zu Parteiclans, die sich bald durch ihre autoritäre Führung von der in den konstitutionell regierten Ländern vorherrschenden Form der Honoratiorenpartei unterschieden. Vor allem die großen Gruppen, Gemäßigte, Progressisten und späterhin die Liberale Union, wurden durch Persönlichkeiten geführt, die ihr Ansehen aufgrund militärischer Leistungen erworben hatten (Espartero, Narväez, O'Donnell, Serrano, Prim usw.). Sie drängten selbst zur Verbindung mit einem, meist geadelten General, da im Lande kein ziviler Politiker ein solches Prestige besaß. Es blieb nicht aus, daß die Streitkräfte in die Politik hineingezogen und mit ihr aufs engste verbunden wurden. Wenn auch Progresistas und Moderados sich in manchen Punkten angenähert hatten, bleibt festzuhalten, daß die Verfassung von 1837 – im Gegensatz zum Statut von 1834 – vom Prinzip der Volkssouveränität ausging. Eine gewisse Ambivalenz ist aber nicht zu übersehen, da zwar die Cortes den Verfassungstext verabschiedet hatten – dieser sich mithin aus der Souveränität der Nation ableitete –, die Regentin ihn aber "annahm" und ihm damit
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IV Verfassungsgeschichte der Neuzeit
Die demokratisch-revolutionäre Verfassung (1869)
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gewissermaßen den Charakter eines zwischen den Gewalten "ausgehandelten" Grundgesetzes gab — eine Idee, die den Vorstellungen der Moderados entstammte. Eher gemäßigte Elemente waren auch die Beibehaltung des Zweikammersystems von 1834 (wobei davon ausgegangen wurde, daß der Senat eine vermittelnde Position zwischen Volksvertretung und Monarch einnehmen sollte), das absolute Vetorecht der Krone und das Recht des Monarchen zur Auflösung des Parlaments. Auch die Gewaltenteilung wurde nicht so strikt wie 1812 durchgehalten. Mit der von den Progressisten ausgearbeiteten, aber auf Vorstellungen der Moderados mit beruhenden Kompromißverfassung sollten beide Fraktionen des spanischen Liberalismus regieren können. Bewußt wurden viele umstrittene Fragen (etwa die Wahl der Kommunalverwaltungen oder die Organisation der Nationalmiliz) Ausführungsgesetzen überlassen, um den eigentlichen Verfassungstext aus den Parteienauseinandersetzungen herauszuhalten.
der Senatoren) und des Zensuswahlrechts das Parlament beherrschten. Nachdem die Regierung, bei strikter Verwaltungszentralisierung, Bürokratisierung des Staatsapparates und Manipulation aller Wahlentscheidungen, den politischen Prozeß auf allen Ebenen kontrollierte, hatten die Progressisten in diesem System keine Chance, über reguläre Wahlen in die Regierung zu gelangen; ihnen blieb nur der Weg des Aufstandes. Seit Mitte der 1860er Jahre zogen sich die Progressisten daher auch aus der politischen Arena zurück und nahmen nicht mehr an Wahlen teil. 1866 schließlich kamen Demokraten, Progressisten und linke Unionisten im belgischen Ostende überein, die Diktatur von Narväez gewaltsam zu stürzen. Die "Septemberrevolution" von 1868 lief nach dem klassischen Muster in zwei Phasen ab: Zuerst fand das militärische pronunciamiento statt, dann folgte die Bildung urbaner Juntas, die auf lokaler Ebene die Initiative an sich rissen. Isabella II. ging ins französische Exil, die lange Ära des gemäßigten Liberalismus war zu Ende.
5. Die gemäßigte Verfassung (1845)
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Im Jahr 1840 kam es erneut zu städtischen Aufständen und in deren Gefolge zur Konstituierung vieler Juntas. Maria Cristina dankte als Regentin ab; der linksliberale Held des Karlistenkrieges, Baldomero Espartero, ließ sich zum Regenten des Reiches wählen (1840-1843). Während Esparteros Regentschaft waren die Progressisten an der Macht, liberale Reformen wurden verstärkt fortgeführt. Infolge politischer und wirtschaftlicher Unzufriedenheit führten 1843 zahlreiche Aufstände und schließlich ein pronunciamiento unter Anführung von General Ramön Maria Narväez jedoch zum Sturz Esparteros, der sich zuletzt nur noch auf einen Teil der Progressisten stützen konnte. Um nach dem Sturz Esparteros das abermalige Problem einer Regentschaft zu umgehen, wurde Isabella 1843 bereits als Dreizehnjährige für volljährig erklärt, damit sie den Thron besteigen konnte. Der Sturz Esparteros brachte seinen konservativen Rivalen Ramön Maria Narväez und mit ihm die Moderados für zehn Jahre an die Macht. Erste antiliberale Maßnahmen der neuen Regierung waren die Rückkehr zum konservativen Kommunalgesetz von 1840, der Erlaß eines restriktiven Pressegesetzes und vor allem eine Reform der Verfassung von 1837, deren Ergebnis das neue Grundgesetz von 1845 war; diese Verfassung blieb praktisch bis 1868 bestehen, nachdem eine Verfassungsrevision von 1856 nicht in Kraft trat. Die neue Verfassung von 1845 stärkte wieder die königliche Stellung im System. Die Krone ernannte erneut die Senatoren, die zuvor aus indirekten Wahlen hervorgegangen waren; die Cortes konnten nicht kraft eigenen Rechts zusammentreten; das Zensuswahlrecht beschränkte den Wahlkörper auf weniger als 100.000 Personen; die Nationalmiliz, die angeblich für alle Unruhen der vorhergehenden Jahre verantwortlich zeichnete, wurde aufgehoben, der Kompetenzbereich der Lokalverwaltungen erfuhr wiederum Einschränkungen. Das in der Verfassung von 1837 niedergelegte Prinzip der Volkssouveränität mußte abermals der traditionellen Vorstellung einer zwischen Monarch und Parlament aufgeteilten Souveränität weichen. Die Verfassungsrevision entsprach nicht nur dem "doktrinären Liberalismus" der Moderados, sondern auch ihren politischen Bedürfnissen, da sie mit Hilfe der Krone (Ernennung
Die nach dem Sturz Isabellas eingesetzte Provisorische Regierung unter dem unionistischen General Francisco Serrano ließ im Januar 1869 Wahlen durchführen, die zum ersten Mal in der spanischen Geschichte nach dem allgemeinen, gleichen und direkten Männerwahlrecht erfolgten (Wahlalter: 25 Jahre). Rund 24 % der Bevölkerung (ca. 3,8 Millionen Spanier) waren wahlberechtigt; zum ersten Mal wurde der Wahlkampf auch bei voller Meinungsfreiheit und unter breiter Einbeziehung der Presse als Meinungsmedium durchgeführt. Erstmals seit 1823 besaßen auch die Überseegebiete Kuba und Puerto Rico wieder eine Vertretung in den Cortes. Die monarchisch-demokratische Richtung trug mit 236 Sitzen — davon 159 Progressisten unter Juan Prim, Präxedes Mateo Sagasta, Salustiano Olözaga und Manuel Ruiz Zorrilla — den klaren Sieg davon. Die vor allem in den Städten starken Republikaner (unter Josä Maria Orense, Estanislao Figueras und Emilio Castelar) erhielten bei 85 Sitzen rund 25 % der Stimmen. Weiter zur Rechten waren die Unionisten (unter Antonio Rios Rosas) und ganz rechts die Traditionalisten und einige Isabelinos (unter Antonio Cänovas) angesiedelt. Bald setzte eine parteipolitische Zersplitterung ein, durch die Demokraten, Progressisten und Unionisten, vor allem aber auch Republikaner, klar voneinander getrennt wurden. Eine stabile parlamentarische Regierung kam nicht zustande, die Mehrheiten zerfielen von einer Wahl zur anderen. Die im Juni 1869 von den Cortes verabschiedete demokratisch-parlamentarische Verfassung, die in der Tradition der Verfassungen von 1812 und 1837 stand, griff viele Forderungen der revolutionären Bewegung auf. Sie ging vom Prinzip der Volkssouveränität aus, enthielt das Recht auf freie Religionsausübung sowie das allgemeine Männerwahlrecht, garantierte die Freiheit der Presse, der Versammlung und Vereinigung. Sie listete als die liberalste aller Verfassungen des 19. Jahrhunderts einen umfangreichen Grundrechtekatalog auf; die vorgesehene Staatsform war die konstitutionelle Monarchie. Für das neue, liberal-demokratische Regime von 1869 waren drei Faktoren von grundlegender Bedeutung: Anerkennung der Grundrechte, Unabhängigkeit des politischen Systems von der Krone, Reform der Machtstrukturen mit dem Ziel der Beendigung des Zentralismus.
Die demokratisch-revolutionäre Verfassung (1869)
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IV Verfassungsgeschichte der Neuzeit
Gewaltenteilung und Dezentralisierung sollten zu Grundlagen der Staatsorganisation werden; das eigentliche Machtzentrum im Staat waren die Cortes, die aus zwei Kammern (Kongreß und Senat) bestanden. Zu den in den konstituierenden Cortes am heftigsten debattierten Fragen gehörten das Problem der Religionsfreiheit und die Beziehungen zwischen Staat und Kirche. Das nach leidenschaftlichen Auseinandersetzungen erzielte Ergebnis stellte einen Kompromiß zwischen den verschiedenen Positionen dar. Die Rechte konnte zwar nicht die katholische "Einheit" durchsetzen, wohl aber die Beibehaltung des katholischen Kultus und Klerus. Die Linke wiederum mußte auf die von ihr verfochtene Trennung von Staat und Kirche verzichten, erhielt aber das Recht auf Religionsfreiheit zugesprochen. Beide Seiten zeigten sich mit diesen Kompromißformeln unzufrieden. Im wesentlichen waren es vier Problemkomplexe, mit denen die Regierung zu kämpfen hatte: a) Der Umsturz in Spanien erfolgte zur gleichen Zeit, als in Kuba die Unabhängigkeitsbewegung verstärkt zu agieren begann. Erst 1878, nach einem zehnjährigen Krieg, konnte eine Waffenruhe erzielt werden. b) Die Republikaner präsentierten sich immer deutlicher als Alternative zum bestehenden System. In der Anfangsphase der Arbeiterbewegung wurden auch Republikanismus und Lösung sozialer Probleme, vor allem auf dem Land, weitgehend gleichgesetzt. c) Eine grundlegende Änderung der Verhältnisse erstrebten die Karlisten, die vorerst gewaltlos Widerstand leisteten, ab 1872 jedoch im Norden und Nordosten einen bewaffneten Aufstand und damit einen weiteren Karlistenkrieg begannen. Kubaner und Karlisten hielten die Regierung derart in Atem, daß an einen Abbau des stehenden Heeres vorerst nicht zu denken war. d) Das vierte Hauptproblem bestand darin, für die "Monarchie ohne Monarchen" einen geeigneten König zu finden. Die Suche erwies sich als außerordentlich schwierig. Als Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen (1835-1905) die Krone beinahe schon sicher hatte, legte Napoleon III. von Frankreich sein Veto ein und provozierte damit den deutsch-französischen Krieg von 1870/71. Schließlich wurde Amadeus von Savoyen, Herzog von Aosta (1845-1890), Sohn des italienischen Königs Victor Emanuel II., gewählt. Amadeus regierte von Dezember 1870 bis Februar 1873. Adel, Kirche und Liberale lehnten ihn ab, Republikaner intrigierten gegen ihn, die Karlisten begannen den überaus hart geführten Krieg um den Thron. Während seiner Regierungszeit fanden drei Parlamentswahlen statt, sechs Regierungen lösten sich im Amt ab. Resigniert dankte Amadeus ab, nachdem es ihm weder innen- noch außenpolitisch gelungen war, das Land zu befrieden. In die Jahre seiner Herrschaft fällt auch der Beginn der eigentlichen spanischen Arbeiterbewegung. Im November 1868 hatte die Provisorische Regierung das Vereinigungsrecht anerkannt; zum gleichen Zeitpunkt entsandte der anarchistische Flügel der Internationalen Arbeiterassoziation (Michael Bakunin) einen Delegierten nach Spanien, der in Madrid und Barcelona sofort Arbeitersektionen gründete. Vorerst blieb die spanische Arbeiterbewegung anarchistisch orientiert. Nach Amadeus' Rücktritt stimmte das Parlament, mangels anderer Alternativen, für die Einführung der Republik. Die Republikanische Partei war zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits gespalten. In den zehn Monaten ihres Bestehens hatte die Republik vier Präsidenten. Im Januar 1874 besetzte General Manuel Pavfa (1827-1895) das Parlament und löste es auf, womit die Erste Republik ihr unrühmliches Ende fand. Per Dekret wurde die Dik-
Die Verfassung der Restauration (1876)
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tatur institutionalisiert. Inzwischen hatte der konservative Antonio Cänovas del Castillo (1828-1897), mit Vollmachten der exilierten Königin Isabella versehen, unermüdlich die Rückkehr der Bourbonen betrieben. Ende Dezember 1874 proklamierte General Arsenio Martfnez Campos (1831-1900) in Sagunto Isabellas Sohn Alfons XII. zum König (1874-1885). Die bourbonische Restauration stieß auf keinen größeren Widerstand.
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Die Verfassung der Restauration (1876)
Konstitutionelle Grundlage des Restaurationssystems war die Verfassung von 1876, die bis 1931 in Kraft blieb. Sie stellte die königliche Prärogative im Verfassungssystem wieder her, d. h. der Monarch hatte das Recht, die Regierung zu ernennen und zu entlassen, an der Gesetzgebung mitzuwirken und die Cortes aufzulösen, die nach einem zensitär beschränkten Wahlrecht gewählt wurden. Das Zensuswahlrecht offenbart in drastischer Weise die Wiederaufnahme "doktrinärer" Verfassungsvorstellungen aus der Zeit der Moderados und damit den konservativen Charakter der Restauration. Die Zahl der Wahlberechtigten lag (prozentual zur Bevölkerung) noch unter der von 1844, wobei außerdem zentralspanischagrarische Provinzen über- und randspanisch-industrialisierte Provinzen unterrepräsentiert waren! 1881 waren etwas weniger als 5 % der Gesamtbevölkerung wahlberechtigt; bis 1886 sank dieser Prozentsatz auf nurmehr 2,1 %. Als die Opposition der republikanischdemokratischen Parteien sich immer mehr auf das Wahlrecht konzentrierte, drängten schließlich auch die Liberalen auf die Gewährung des allgemeinen Männerwahlrechts, dessen Einführung 1890 — fortab waren etwa 27 % der Bevölkerung wahlberechtigt — allerdings, wegen der Praxis der Wahlfälschungen, keine grundlegende Änderung der Wahlergebnisse mit sich brachte. Nachdem die Theorie der Volkssouveränität wieder aufgegeben worden und die Rückkehr zum Prinzip der "internen Verfassung" beschlossen war, derzufolge Monarch und Cortes gemeinsam die Legitimität des neuen Systems bildeten, wurden auch viele andere demokratische Errungenschaften der Verfassung von 1869 eliminiert. Die wichtigsten (Grund-)Rechte konnten relativ einfach außer Kraft gesetzt werden; zwischen 1876 und 1917 wurde 19mal von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht, danach war der Ausnahmezustand ohnehin die Regel. Die Kontrolle des politischen Systems durch die Monarchie und die Oligarchie kam außerdem in der Zusammensetzung des Parlaments zum Ausdruck. Während der Kongreß durch die manipulatorische Kazikenpraxis und die Wahlfälschungen unter Kontrolle gehalten wurde, beherrschte der Adel den Senat, die Zweite Kammer des Parlaments. Lebenszeitsenatoren wurden vom König ernannt oder nahmen diese Position kraft Geburtsrechts ein. Das Militär wiederum war derart in das System integriert, daß es von pronunciamientos Abstand nahm, seinen Einfluß vielmehr durch Beziehungen zur Krone — seit 1913 nahmen die führenden Generäle eine Immediatstellung ein — ausübte. Von einer politischen "Abstinenz" des Militärs kann keine Rede sein. Die Kriegsminister waren Generäle, in der öffentlichen Verwaltung spielten Militärs auf allen Ebenen eine große Rolle, Generalkapitäne waren geborene Senatsmitglieder, der Militärhaushalt und die Personalpolitik waren exklusive Angelegenheiten der Militärs. Die Armee war einzig dem König unterstellt, der eine Art
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IV Verfassungsgeschichte der Neuzeit
"Soldatenkönig" nach preußischem Vorbild wurde. In der Literatur ist davon die Rede, daß das Militär autonome Formen politischer Macht erlangte und sich allmählich zu einer fast unabhängigen Macht im Staatsapparat entwickelte. Das Regierungssystem der Restauration wurde von einem künstlichen Parteienmechanismus der zwei führenden "dynastischen" Parteien, den Liberalen und den Konservativen, geprägt, die im "Pardo-Pakt" 1885, beim frühen Tod von Alfons XII., übereingekommen waren, zur Sicherung der Monarchie ihren Kampf gegeneinander einzustellen und in regelmäßigem Alternieren die zukünftigen Regierungswechsel bei Manipulation der Wahlergebnisse durch die jeweils regierende Partei friedlich vorzunehmen. Bei jeder zweiten Wahl stellten somit die Liberalen beziehungsweise die Konservativen die Regierung; der Austausch ging über die Krone vor sich. Joaqufn Costa (1846-1911), einer der großen "Erneuerer" in Spanien um die Jahrhundertwende, hat das System der Restauration eine "unheimliche Orgie von Oligarchie und Kazikentum" genannt. Kazikentum und Wahlmanipulation waren in der überwiegend vorindustriellen, analphabetischen Gesellschaft der Restaurationsepoche funktionale Bestandteile des Regierungssystems, dessen Nutznießer im wesentlichen wiederum die Oligarchie war. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bildete sich allmählich eine Arbeiterbewegung heraus. In diesem Zusammenhang kam es 1879 zur Gründung der Sozialistischen Spanischen Arbeiterpartei (PSOE). Diese verfolgte das Ziel, die politische Macht mit legalen Mitteln zu erlangen. Auch die 1888 ins Leben gerufene sozialistische Gewerkschaft Uniön General de Trabajadores (UGT, Allgemeiner Arbeiterbund) war reformistisch ausgerichtet und erstrebte den Aufstieg der Arbeiterklasse durch friedliche Mittel. Die sozialistische Bewegung war von Anfang an ein Zweig des europäischen Sozialismus der Zweiten Internationale. Die Organisation wurde maßgeblich durch ihren Gründer Pablo Iglesias (1850-1925) geprägt. Eine legale Basis erlangten die sozialistischen Organisationen erst 1887 durch das "Gesetz über die Vereinsbildung". Zu den Emanzipationsbewegungen der Arbeiterschaft trat im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine Bewegung regionaler Minderheiten, die sich unterschiedlich artikulierte. Die Regionalbewegungen entstanden, zumindest teilweise, als Reaktion auf die Zentralisierungstendenzen in der staatlichen Verwaltung: Das Restaurationssystem vereinheitlichte nicht nur die Rechtssphäre (Strafprozeßordnung, Oberstes Verwaltungsgericht, Bürgerliches Gesetzbuch), sondern hob nach den Karlistenkriegen auch die letzten Sonderrechte des Baskenlandes und Navarras auf, wo fortan sämtliche gesetzliche Bestimmungen uneingeschränkt galten. Insgesamt brachten der wirtschaftliche Aufschwung in der Restaurationsära und die Zentralisierungsbestrebungen der Madrider Regierung auch die Bewegungen hervor, die mittelfristig zu einem Zündsatz für den Bestand der Restauration werden konnten: die Arbeiterschaft, die vom wirtschaftlichen Aufschwung kaum profitierte; die antizentralistischen Bewegungen des katalanischen und baskischen Nationalismus; und die kleinbürgerlich-mittelständischen Schichten, die nicht in das oligarchische Machtkartell des Restaurationsstaates integriert waren. Während des Ersten Weltkrieges kam es zu politischen ebenso wie zu ökonomischen Krisen; diese eskalierten nach dem Krieg in Zusammenhang mit einer verfehlten Kolonial-
Die Verfassung der Zweiten Republik (1931)
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politik in Nordafrika, bis 1923 der Generalkapitän von Katalonien, Miguel Primo de Rivera, versehen mit dem Wohlwollen der Bourgeoisie und der Krone, einen Staatsstreich durchführte, die Cortes auflöste und damit das konstitutionelle System abschaffte. Die Diktatur entstand als 'Notpakt' zwischen den in ihrer Machtausübung bedrohten Gruppen der Oligarchie, die dem Heer und dem König eine neue Herrschaftsform antrugen, da die überkommene konstitutionelle Monarchie sich als funktionsunfähig erwiesen hatte; die Diktatur war eine Lösung 'technischer' Art zur Erhaltung der vom Umsturz bedrohten gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Die paradoxe Unterstützung, die die Diktatur anfangs von liberalen und selbst sozialistischen Kräften erhielt, erklärt sich nicht nur aus der Strukturkrise des Staates, sondern auch aus dem Fehlen wirtschaftlicher und sozialer Lösungen in der vorhergehenden Phase. Im Jahr 1922 waren nahezu alle sozialen Kräfte vom politischen System der Restauration enttäuscht gewesen. Der grundlegende Reformversuch der Diktatur scheiterte jedoch, und allmählich wandten sich all die Kräfte, die anfangs Primo de Rivera unterstützt hatten, enttäuscht über die wirtschaftliche Ineffizienz und Korruption vom Regime ab. Das Scheitern des 'autoritären' Lösungsweges erklärt den Übergang zur demokratischen Staatsform im Jahr 1931.
8. Die Verfassung der Zweiten Republik (1931) Bei den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung errangen die Sozialisten und die Republikaner im Juni 1931 einen überwältigenden Sieg. Die Parteien der Linken und der Mitte erhielten zusammen nahezu 400, die der Rechten ungefähr 80 Sitze im Parlament. Damit hatten zwar die reformfreudigen Kräfte ein deutliches Übergewicht in den Cortes. Der Wahlsieg war jedoch zum Teil auch auf das republikanische Wahlsystem zurückzuführen, das Parteienbündnisse gegenüber isoliert antretenden Parteien begünstigte. Bei den folgenden Wahlen von 1933 wurden angesichts der zunehmenden Auffächerung der Parteienlandschaft gesamtstaatliche Wahlbündnisse wiederum dringend erforderlich. Vor allem die in viele Gruppen aufgespaltenen Republikaner drängten zu Listenverbindungen, da sie ohne eine Wahlkoalition zum parlamentarischen Untergang verurteilt waren. War das Wahlsystem 1931 der Linken zugute gekommen, profitierte 1933 die Rechte davon, die sich zwischenzeitlich organisiert und zu einem Wahlbündnis, der CEDA (Confederaciön Espafiola de Derechas Autönomas), zusammengeschlossen hatte. Die CEDA propagierte, unter ihrem Vorsitzenden Gil Robles, eine konservative, auf Privateigentum basierende Agrarpolitik. Sie war die Interessenvertretung der Oligarchie und setzte sich, unter Berufung auf die Soziallehre der katholischen Kirche, für die Belange der Oberschicht ein. Die Partei bekannte sich zwar zur Republik, sah in ihr aber nur eine taktische Notwendigkeit, um zu einem "neuen Staat" berufsständischer Ordnung zu gelangen; vor allem bekämpfte sie die sozialistische und laizistische Gesetzgebung. Die Eigenart des Wahlsystems führte dazu, daß die Geschichte der Zweiten Republik in drei deutlich voneinander unterscheidbare Phasen aufgeteilt werden kann. Die erste Phase bildeten die Reformjahre (bienio de reformas), in denen die verbündeten Republikaner und Sozialisten die Lösung der Hauptprobleme in Angriff nahmen. Die zweite Phase hat die Bezeichnung "das schwarze Doppeljahr" (el bienio negro) erhalten, als viele Reformen, vor
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allem auf dem Agrarsektor, wieder rückgängig gemacht wurden. Die Monate zwischen den Volksfrontwahlen im Februar 1936 und dem Beginn des Bürgerkriegs im Juli jenes Jahres stellen schließlich die dritte Phase dar, in der die Entwicklung auf dem Agrarsektor der Regierungskontrolle entglitt und revolutionäre Züge annahm. Zu den ersten und wichtigsten Aufgaben der Regierung gehörte 1931 die Ausarbeitung einer Verfassung, deren endgültiger Text stark von der Weimarer Reichsverfassung beeinflußt war. Zu den umstrittensten Problemkomplexen, deren Aufzählung bereits die Belastungsfaktoren der Zweiten Republik erkennen läßt, gehörten das Verhältnis zwischen dem Gesamtstaat und den einzelnen Landesteilen, die Regelung der Beziehungen zwischen Staat und Kirche, die gesellschaftspolitischen Artikel wie Ehescheidung oder Schulpolitik. Bei der Frage des Eigentums stießen die sozialistischen Ziele der Vergesellschaftung mit dem bürgerlich-liberalen Bedürfnis nach Schutz des Eigentums zusammen. Schließlich wurde die Möglichkeit der Zwangsenteignung "im Interesse sozialer Nützlichkeit" vorgesehen. Die Grund- und Bürgerrechte wurden weit umfassender als in jeder früheren Verfassung geregelt. Viele Punkte der am 9. Dezember 1931 verabschiedeten Verfassung der Zweiten Republik waren sozialistisch geprägt. Zu den "Allgemeinen Bestimmungen" etwa hieß es: "Spanien ist eine demokratische Republik von Arbeitern jeder Art, die sich in Freiheit und Gerechtigkeit einrichtet. Die Gewalt aller Organe geht vom Volke aus [...] Der spanische Staat hat keine offizielle Religion." Einen wichtigen Teil der Verfassung bildete das Verhältnis zwischen Gesamtstaat und Landesteilen. Von Anfang an hatte bei den Beratungen der Grundsatz der fakultativen Bildung selbstverwalteter Regionen die Verhandlungsgrundlage gebildet. Der entsprechende Artikel 11 lautete: "Wenn eine oder mehrere aneinander angrenzende Provinzen mit gemeinsamen geschichtlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Merkmalen die Einrichtung einer autonomen Region beschließen sollten, um eine politisch-administrative Einheit innerhalb des spanischen Staates zu bilden, legen sie eine Satzung vor." Im Mittelpunkt des regionalen Problems stand die Abgrenzung der Zuständigkeiten. Der Wirkungskreis des Gesamtstaates blieb weit gefaßt; er war zuständig für die Außenbeziehungen (Vertretungen, Kriegserklärung und Friedensschluß, Kolonien und Protektorate), alle Fragen der Landesverteidigung (Heer und Kriegsflotte), Polizei und Fremdenrecht, Verkehr und Ein- bzw. Auswanderung, überregionale öffentliche Ordnung, Staatsfinanzen und Staatsschuld. Zur Gesetzgebung der Regionen hieß es in Artikel 21: "Das Recht des spanischen Staates geht dem der Regionen in allem vor, was nicht ihrer ausschließlichen Kompetenz in den betreffenden Statuten zugewiesen ist." Die machtvolle Stellung, die die katholische Kirche seit langem in Spanien innehatte, bildete ein starkes Hindernis für die Einführung liberaler Grundsätze in die Verfassung (etwa bei der Glaubensfreiheit und Religionsausübung oder im Unterrichtswesen). Das Verhältnis zwischen Kirche und Staat war daher, wie bereits bei früheren Verfassungsdebatten, ein zentraler Aspekt. Der enge Anschluß der Kirche an den Diktator Primo de Rivera, der ihr großen Handlungsspielraum im Unterrichtswesen gewährt hatte, hatte die linken Parteien ausgesprochen antiklerikal werden lassen. Durch die Verfassung von 1931 verlor die katholische Kirche sodann ihre Stellung als Staatsreligion. Im Gegensatz zum Vorentwurf der Verfassung gewährte der endgültige Verfassungstext der Kirche auch nicht die Stellung einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft. Gewissens- und Kultusfreiheit wurden garantiert, alle
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religiösen Bekenntnisse gleichgestellt, die Kirchen als Vereine betrachtet und einem besonderen Gesetz unterworfen. Der Staat gewährte den Kirchen, den religiösen Vereinen oder Einrichtungen nicht mehr Unterhalt, Vergünstigungen oder wirtschaftliche Unterstützung. Im Mittelpunkt der Neugestaltung des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat stand die Ordensfrage. Religiöse Orden stellten sowohl nach der Zahl ihrer Anstalten und Insassen (2.960 Frauenklöster mit 36.561 Nonnen und 2.219 Männerklöster mit 8.300 Mönchen) als auch nach ihrer vielseitigen Betätigung im Bereich der Fürsorge (Altersversorgung, Krankenpflege) und des Unterrichts (besonders an Mädchenschulen) einen bedeutsamen sozialen Faktor dar; die Verfassungskommission verzichtete daher auf die geplante Aufhebung sämtlicher religiöser Orden. Aufgelöst wurden jene Orden, deren Statuten außer den drei kanonischen Gelübden ein besonderes Gehorsamsgelübde gegenüber einer anderen Gewalt als der des Staates vorschrieben; ihr Vermögen wurde eingezogen und den Wohltätigkeitsund Unterrichtsanstalten überwiesen. Unter diesen Artikel fiel der Jesuitenorden, der im Januar 1932 bereits aufgelöst wurde. Die übrigen Orden durften bestehen bleiben, mußten sich aber in ein Verzeichnis des Justizministeriums eintragen und durften weder Vermögen erwerben noch Gewerbe, Handel oder Unterricht ausüben. Die Orden wurden den Steuergesetzen unterworfen. Durch diese Bestimmungen ging den Orden ein wesentlicher Teil ihrer wirtschaftlichen Macht und ihres ideologischen Einflusses verloren. Auch die Artikel zur Familie und Erziehung beschnitten bisherige Einwirkungsmöglichkeiten der Kirche. Die Verfassung ließ die Ehescheidung zu; sie wies die "nationale Bildung" als wesentliche Aufgabe dem Staat zu, nachdem die religiösen Orden aus dem Unterrichtswesen ausgeschaltet worden waren. Aus dem "weltlichen" Charakter der Schule ergab sich, daß die Kirche keinen Religionsunterricht erteilen durfte, jedoch war ihr dieser Unterricht in ihren eigenen Anstalten unter staatlicher Aufsicht erlaubt. Die Verfassung baute die Freiheit der Meinungsäußerung, das Vereins- und Versammlungsrecht erheblich aus; die Vorzensur wurde abgeschafft. Die Vereinigungsfreiheit wurde um das Koalitionsrecht erweitert. Bei der Frage des Eigentums stießen die sozialistischen Ziele der Vergesellschaftung mit dem bürgerlich-liberalen Bedürfnis nach Schutz des Eigentums zusammen. Umstritten war vor allem die Frage des Eigentums an den "natürlichen Schätzen" innerhalb des spanischen Staatsgebiets. Artikel 44 bestimmte schließlich: "Der gesamte Reichtum des Landes ist, ohne Rücksicht auf das Eigentum, den Interessen der nationalen Wirtschaft unterworfen und trägt [...] zu den öffentlichen Lasten bei. Das Eigentum an jeglichem Vermögen kann im Interesse sozialer Nützlichkeit gegen angemessene Entschädigung den Gegenstand von Zwangsenteignung bilden." Die folgende zusammenfassende Würdigung der spanischen Verfassung von 1931 entstammt der Feder von zwei spanischen Verfassungshistorikern, von denen einer außerdem am Entwurf der heute gültigen Verfassung von 1978 mitgearbeitet hat. Sie schreiben: "Der Verfassungstext von 1931 erhob den Anspruch, den er großteils auch einlöste, die politischen und verfassungsrechtlichen Fortschritte widerzuspiegeln, die seit dem Ersten Weltkrieg erzielt worden waren. Der Einfluß der Weimarer Verfassung, der österreichischen, der mexikanischen und anderer Verfassungen, die höchstes Ansehen genossen, ist nicht nur offensichtlich, sondern wird ausdrücklich in der Rede von Jimnez de Asüa (dem Vorsitzenden des parlamentarischen Verfassungsausschusses) angesprochen. Das Hauptaugenmerk der Verfassungsväter galt der Ausweitung der bürgerlichen Rechte in einem doppel-
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ten Sinn: einerseits die tiefempfundenden sozialen Bestrebungen aufzunehmen, die in früheren spanischen Verfassungen nicht berücksichtigt worden waren, andererseits die Erfüllung der Rechte sicherzustellen. Die Institutionen bildeten ein ausgewogenes parlamentarisches System, in dem die richterliche Gewalt völlig unabhängig war [...] Die republikanische Verfassung untergliedert die Rechte der Bürger in zwei Abteilungen: die individuellen und politischen Rechte sowie die auf die Familie, die Wirtschaft und die Kultur bezüglichen Rechte. Der von diesen Rechten umschriebene Bereich ist weit umfassender als in jeder früheren spanischen Verfassung." (J. Sold Tura / E. Aja: Constituciones, 100f.)
9. Die "Grundgesetze" der Franco-Ära (1939-1975) Nach dem Bürgerkrieg (1936-1939) spielten bei der Gestaltung des "Neuen Staates" konservativ-katholische und militärische Traditionen ebenso eine Rolle wie die Ideologie der Falange. Da das franquistische System seine Legitimation aus dem Bürgerkrieg und dem traditionalen Katholizismus herleitete, bedurfte es keiner demokratischen Institutionen — wie Gewaltenteilung oder allgemeines Wahlrecht — und auch keiner kodifizierten Verfassung; das Regime begnügte sich damit, im Laufe der Jahre "Grundgesetze" zu erlassen, die in ihrer Gesamtheit die konstitutionelle Grundlage des Regimes darstellten. Diese Grundgesetze lassen sich in zwei Gruppen unterteilen: Die eher dogmatischen Gesetze enthielten die ideologische Grundlage des Regimes und staatsphilosophische Bestimmungen, während die primär staatsrechtlichen Gesetze die grundlegenden politischen Institutionen einsetzten, ihre Kompetenzen festlegten und ihre Beziehungen zueinander regelten. Zu ersteren gehörten das "Grundgesetz der Arbeit" (1938), das "Grundgesetz der Spanier" (1945) und vor allem das "Gesetz über die Prinzipien der Nationalen Bewegung" von 1958, zu letzteren das Gesetz über die Einrichtung der Cortes (1942) und die Abhaltung von Volksabstimmungen (1945), das Nachfolgegesetz (1947) sowie — als Abschluß der verfassungsrechtlichen Entwicklung — das Staatsorgangesetz von 1967. Das noch während des Bürgerkrieges erlassene "Grundgesetz der Arbeit" enthielt traditionalistisch-katholische ebenso wie national-syndikalistische und monarchistisch-berufsständische Vorstellungen. In der Präambel hieß es: "In Erneuerung der katholischen Tradition sozialer Gerechtigkeit und hoher menschlicher Gesinnung, die unsere imperiale Gesetzgebung bestimmte, übernimmt der Staat — in seiner nationalen Eigenschaft als totalitäres Instrument im Dienst der Unversehrtheit des Vaterlandes und in seiner syndikalistischen Eigenschaft als Reaktion auf den liberalen Kapitalismus und den marxistischen Materialismus — die militärische, konstruktive und tief religiöse Aufgabe, die in Spanien fällige Revolution durchzuführen, die den Spaniern ein für allemal Vaterland, Brot und Gerechtigkeit bescheren soll." Das Gesetz ging vom Leitgedanken der "Einheit, Freiheit und Größe Spaniens" aus; es legte das Recht auf Arbeit fest, respektierte das Privateigentum und schützte die Familie "als natürliche Urzelle und Grundlage der Gesellschaft". Als nach Ende des Zweiten Weltkrieges das Regime außenpolitisch in arge Bedrängnis geriet und innenpolitisch der Guerrillakampf stärker als vorher um sich griff, war Franco mit allen Mitteln bemüht, seine Position zu festigen und sich eine zumindest pseudodemokratische Legitimation zu verschaffen. Dementsprechend enthielt 1945 das "Grundgesetz der
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Spanier" die Garantie bestimmter Grundrechte, machte deren Anerkennung allerdings von der Wahrung der "Grundprinzipien des Staates" abhängig. Politische Betätigung wurde an die Institutionen Familie, Gemeinde und Syndikat gebunden. Zu den autoritären Zügen des Gesetzes zählte die Pflicht des einzelnen zur Treue dem Staatschef gegenüber. Die zeitweilige Aufhebung der Grundrechte wurde der Regierung außerordentlich leicht gemacht; von der Möglichkeit der Grundrechtsaufhebung sollte sie auch oft genug Gebrauch machen. Von besonderer Bedeutung war das "Gesetz über die Prinzipien der Nationalen Bewegung", das Franco 1958 persönlich in den Cortes verkündete. Dieses Gesetz stand insofern über allen anderen Gesetzen, als keine Rechtsnorm erlassen werden durfte, die gegen die Prinzipien der "Nationalen Bewegung" verstieß; zu diesen unwandelbaren Normen und Werten zählten der Konfessionalismus des Staates, die monarchische Staatsform, die ständestaatliche Vertretung. Alle Staatsorgane mußten die Grundsätze der Nationalen Bewegung strikt einhalten, die Staatsbeamten wurden auf sie vereidigt. Somit ruhte die gesamte Staatsordnung auf den Prinzipien der Nationalen Bewegung, die als "Glaubensgemeinschaft aller Spanier in den Idealen, welche den Kreuzzug beseelten", definiert wurde. Das erste Grundgesetz von eher staatsrechtlich gestaltendem Charakter war das mitten im Zweiten Weltkrieg erlassene Gesetz über die Schaffung des Ständeparlaments. Hauptaufgabe der Cortes war die "Vorbereitung und Ausarbeitung der Gesetze"; die oberste Gewalt zur Setzung von "Rechtsnormen allgemeinen Charakters" verblieb allerdings beim Staatschef. Die Cortes waren somit in erster Linie eine beratende Versammlung, da das Übergewicht der Staatsführung bei der Gesetzgebung eindeutig war. Die Zusammensetzung des Ständeparlamentes ließ dessen mangelnde Repräsentativität deutlich werden: Von den fast 600 Mitgliedern wurden 400 designiert oder gehörten den Cortes aufgrund von Geburtsrechten an (Minister, Nationalräte, Syndikatsvertreter, Bürgermeister, Provinzdelegierte, Universitätsrektoren und 50 von Franco persönlich ernannte Mitglieder). Knapp 200 Cortes-Delegierte galten als "Repräsentanten": gewählte Nationalräte, gewählte Syndikatsvertreter, Abgeordnete von Akademien und Hochschulen. Die Zusammensetzung der Cortes erinnerte somit eher an die Oberhäuser der monarchischen Staaten des 19. Jahrhunderts als an eine moderne Volksvertretung. 1967 reduzierte eine Reform die Anzahl der von Franco direkt oder indirekt ernannten Cortes-Mitglieder erheblich (von zuvor 33% aller Abgeordneten auf nunmehr 15 %) und legte fest, daß fast alle Abgeordneten zu wählen waren. "Familienoberhäupter" und verheiratete Frauen durften 100 Abgeordnete wählen (zwei je Provinz), 150 kamen über die Syndikate in die Cortes, die anderen als Vertreter der Gemeinden, als Nationalräte oder als Vertreter von Berufskammern, Akademien usw. Nurmehr 110 blieben ernannte Mitglieder der Kammer. Das Wahlgesetz enthielt jedoch soviele Beschränkungen, daß praktisch nur regimetreue Kandidaten gewählt werden konnten. Nach der Gesetzesrevision von 1967 bestand die Hauptaufgabe der Cortes nunmehr in "der Ausarbeitung und Billigung der Gesetze" (vorbehaltlich der Bestätigung durch den Staatschef); hierbei handelte es sich um eine deutliche Ausdehnung ihrer Zuständigkeiten. Außerdem billigten die Cortes den Staatshaushalt und ratifizierten Verträge. Ähnlich wie beim "Grundgesetz der Spanier" dürfte auch bei dem im gleichen Jahr 1945 erlassenen "Gesetz über den Volksentscheid" die Notwendigkeit Pate gestanden haben, dem Regime eine (wie auch immer geartete) demokratisch-plebiszitäre Legitimation
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zu verschaffen. Die beschränkte Reichweite des Gesetzes geht aus der Bestimmung hervor, daß nur dem Staatschef das Recht zustand, Gesetzentwürfe dem Volksentscheid zu unterwerfen; dadurch wurde deutlich, daß das Regime dieses Gesetz vor allem in akklamatorischer Absicht verwenden wollte. Später mußten "Grundgesetze" durch Referendum gebilligt werden. Das erste Referendum fand dann auch zwei Jahre nach Verabschiedung des Volksabstimmungsgesetzes statt: bei der Billigung des "Gesetzes über die Nachfolge in der Staatsführung", durch das die institutionelle Grundlegung des politischen Systems des Neuen Staates zum Abschluß gelangte. In diesem Gesetz wurde Spanien zur Monarchie erklärt: "Spanien ist als politische Einheit ein katholischer, sozialer und repräsentativer Staat, der in Übereinstimmung mit seiner Tradition erklärt, als Königreich verfaßt zu sein. Die Staatsführung wurde Franco als persönliche, außerordentliche Magistratur mit Ausnahmecharakter übertragen; ihm allein stand das Recht zu, seinen königlichen Nachfolger zu bestimmen. Franco vereinigte in seiner Person die Ämter des Staatsoberhauptes, des Regierungschefs, des Oberbefehlshabers der Streitkräfte und des Führers der "Nationalen Bewegung". Er hatte gesetzgebende und exekutive Gewalt, außerdem ernannte er die Inhaber aller wichtigen Staatsämter. Verantwortlich war er nur "vor Gott und der Geschichte". Im Laufe der 60er Jahre wurde immer deutlicher, daß die Grundgesetze dringend einer Modernisierung bedurften. Das Regime sah die Notwendigkeit einer Öffnung, versuchte jedoch zugleich, seine Strukturprinzipien zu bewahren. Am 22. November 1966 – also gegen Ende jenes Jahres, das von der spanischen Regierung als das entscheidende Jahr der "Liberalisierung" des Landes bezeichnet wurde – verlas Franco vor den Cortes eine Erklärung über ein Staatsorgangesetz (Ley Orgänica del Estado), in der er die Legitimierung seines Regimes gegen alle Kritik mit 30 Jahren Frieden sowie mit dem wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung des Landes begründete. Anschließend trug der Präsident der Cortes den Wortlaut des Gesetzes vor, dem die Ständekammer akklamierte. Wegen seiner verfassunggebenden Bedeutung wurde das Gesetz am 14. Dezember 1966 einer Volksabstimmung unterzogen und mit angeblich über 95 % der abgegebenen gültigen Stimmen angenommen. Die wichtigste Bestimmung des Staatsorgangesetzes, das Anfang 1967 in Kraft trat, war die Trennung der Ämter des Staatsoberhauptes und des Ministerpräsidenten; letzterer sollte die allgemeine Politik leiten und dem Ministerrat vorstehen. Vorerst wurde das Amt des Ministerpräsidenten allerdings nicht besetzt; Vizepräsident der Regierung wurde 1967 Admiral Luis Carrero Blanco, nachdem der ehemalige Kommandeur der Blauen Division, General Agustfn Mufioz Grandes, der dieses Amt seit 1962 innegehabt hatte, aus der Regierung ausgeschieden und in den "Rat des Königreiches" eingetreten war. Das künftige Staatsoberhaupt würde nicht über die außerordentlichen Kompetenzen Francos verfügen. Die Regierung war nicht den Cortes, sondern zivil- und strafrechtlich dem Obersten Gerichtshof verantwortlich. Der "Nationalrat" der Nationalen Bewegung fungierte fortan als eine Art zweiter Kammer. Auch der 1947 geschaffene "Rat des Königreiches" erhielt eine neue Zusammensetzung und wurde wegen weitreichender Kompetenzen zum zentralen Entscheidungsgremium im Staat: Mitbestimmung bei Berufung und Entlassung der Inhaber der höchsten Staatsämter, Entscheidung über die Verfassungswidrigkeiten von Gesetzen oder über Krieg und Frieden gehörten fortan in seinen Kompetenzbereich.
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Zu den "modernen" Elementen der neuen Verfassungsgesetze gehörten die Garantierung der Religionsfreiheit, die Änderung des Arbeitsrechts auf der Grundlage der sozialpolitischen Entscheidungen des Vatikanischen Konzils und die neue, "repräsentativere" Zusammensetzung der Cortes. Besonders hervorzuheben ist das Zugeständnis eines gewissen politischen Interessenpluralismus. Eines der Ausführungsgesetze des Staatsorgangesetzes betraf nämlich die Neuorganisation der Nationalen Bewegung, die die Möglichkeit bieten sollte, daß "in ihrem Schoß der Meinungskontrast der Spanier" Raum finde. Der Satz diente bald zum Anlaß, die Bildung "politischer Assoziationen" zu fordern. Das Wort "Parteien" blieb zwar weiterhin tabu, doch wurde davon ausgegangen, daß in einer modernen Gesellschaft der "Meinungskontrast" nicht nur von einzelnen, sondern in einem Dialog von Gruppen auszutragen sei. Die Möglichkeit, derartige "politische Assoziationen" zu bilden, wurde allerdings erst Ende 1974, nach langen, teilweise heftigen Diskussionen eingeräumt. Das Staatsorgangesetz war kein einheitlicher Verfassungstext; da es jedoch eine Zusammenfassung und gleichzeitige Revision früherer Grundgesetze darstellte, kann es in gewisser Weise als Kodifizierung des franquistischen Verfassungsrechts in der späteren Phase des Regimes gewertet werden. Von Anfang an gab es zwei mögliche Interpretationen des Staatsorgangesetzes. Die eher optimistische Deutung sah in dem verfassungsähnlichen Gesetz den Beginn eines Versuches, Spaniens politisches Leben allmählich jenem der anderen westeuropäischen Länder anzugleichen. Die Pessimisten wiesen demgegenüber auf die Doppeldeutigkeit der Formulierungen hin, die erwarten ließ, daß das Gesetz lediglich eine Auffrischung der politischen Fassade ohne jegliche Änderung der Substanz sei. Die Grundsätze der "organischen Demokratie" und die persönliche Machtstellung Francos blieben unberührt. Mit der Ley Orgänica zielte der Diktator darauf ab, das Fortbestehen seines Regimes auch nach seinem Ableben sicherzustellen. Die Trennung der Ämter des Staats- und des Ministerpräsidenten blieb zwar vorerst Theorie, verfolgte aber den deutlichen Zweck, dem Caudillo die Möglichkeit zu geben, eine ihm genehme Persönlichkeit über seinen Tod hinaus als "starken Mann" des "nachfranquistischen Franquismus" aufzubauen. 1972 unterzeichnete er dann auch eine Anordnung, derzufolge nach seinem Tod sein Paladin Carrero Blanco fünf Jahre lang als Premierminister fungieren sollte.
10. Die Verfassung der parlamentarischen Monarchie (1978) Als 1977 das erste frei gewählte Parlament (Cortes) nach Francos Tod zusammentrat, waren nach wie vor die "Grundgesetze" von Francos "organischer Demokratie" in Kraft. Wichtige verfassungspolitische Grundentscheidungen waren allerdings schon im Reformgesetz von 1976 gefallen: Volkssouveränität, parlamentarische Demokratie, Zwei-KammerSystem. An diese Vorentscheidungen hielt sich die Verfassungskommission, die im Sommer 1977 ihre Arbeit aufnahm und fast ein ganzes Jahr lang die 169 Artikel vorbereitete, die schließlich von Verfassungsjuristen abschließend redigiert und Ende Oktober 1978 nach intensiver Diskussion mit großer Mehrheit vom Parlament verabschiedet wurden. Am 6. Dezember (seither "Tag der Verfassung") billigte die Bevölkerung mit 87,8% der abgegebenen Stimmen die neue Verfassung, die am 29. Dezember 1978 in Kraft trat; allerdings lag
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die Wahlbeteiligung bei nur 67,1 %. In den baskischen Provinzen stimmte weniger als ein Drittel der Wahlberechtigten (ca. 64% der tatsächlichen Wähler) für die Verfassung; auch in Galicien war die Wahlenthaltung besonders hoch. Bei der Diskussion des Verfassungsentwurfs war versucht worden, zu allseits tragfähigen Kompromissen zu gelangen; Ziel war eine Konsens-Verfassung; immer wieder hatten sich Verantwortungsbewußtsein, Mäßigung und politisch-historischer Weitblick durchgesetzt. In der Verfassungskommission verfügten die Vertreter der damaligen Regierungspartei Uniön de Centro Democrätico (UCD) und der rechtskonservativen Alianza Popular (Partido Populan) zusammen über eine Mehrheit von 19 Stimmen; Sozialisten, Kommunisten sowie die Vertreter der baskischen und katalanischen Regionalparteien hatten 17 Stimmen. Gegensätze brachen oft aus, Debatten wurden heftig und kontrovers geführt, eigentliche Blockbildungen zwischen Rechts und Links hat es jedoch über längere Zeit hinweg kaum gegeben. Die hauptverantwortiichen "Verfassungsväter" waren die Zentrumspolitiker Gabriel Cisneros Laborda, Miguel Herrero Rodriguez de Mifiön und Jose Pedro feez Llorca, der AP-Vorsitzende Manuel Fraga Iribarne, der Sozialist Gregorio Peces Barba, der "Katalanist" Miquel Roca i Junyent und der Kommunist Jordi Sold Tura. Die beiden großen Parteien UCD und PSOE waren in den Diskussionen tonangebend, das Ergebnis kann denn auch als ein Kompromiß zwischen gemäßigt liberalen und sozialdemokratischen Vorstellungen bezeichnet werden. Die Verfassung von 1978 definiert Spanien als einen "demokratischen und sozialen Rechtsstaat", der sich zu "Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und politischem Pluralismus als den obersten Werten seiner Rechtsordnung" bekennt. Staatsform ist die "parlamentarische Monarchie"; der König ist Staatsoberhaupt und Oberbefehlshaber der Streitkräfte, die Krone ist im Hause Bourbon erblich. Wichtigstes Recht des Staatsoberhauptes ist – nach Aussprache mit den Parteienvertretern – das Recht, einen Premierminister vorzuschlagen. Daneben kommen dem König im wesentlichen repräsentative Befugnisse zu. (Die Akzeptierung des Königs und der Monarchie war bei Sozialisten und Kommunisten anfangs sehr umstritten; die beiden Parteien gaben schließlich, angesichts der demokratischen und ausgleichenden Haltung des Königs, ihre Forderung nach einer eigenen Volksbefragung zur Staatsform – Republik oder Monarchie – auf.) Wohl als Folge der Erfahrungen aus der Franco-Diktatur wurden in der neuen Verfassung die Beachtung der Menschenrechte und die Würde der Einzelpersonen besonders hervorgehoben. Der Katalog der Grundrechte, mit allen erforderlichen Garantien gegen willkürliche Verhaftung, Folterung, Verletzung des Post- und Telefongeheimnisses ist ausführlich. Der allgemeinen Wehrpflicht, die inzwischen abgeschafft ist, steht das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen gegenüber. Die Folter wird ausdrücklich verboten, die Todesstrafe ist abgeschafft. Eine Art "Ombudsmann" tritt als "Volksanwalt" (Defensor del pueblo) mit dem Rang eines Hochkommissars beim Parlament für die Rechte der Bürger ein. König und Regierung sind in fast allen Fragen vom Votum des Parlaments abhängig. Zum Sturz des Regierungschefs bedarf es des konstruktiven Mißtrauensvotums – eine dem deutschen Grundgesetz entliehene Vorschrift; die Befugnisse des Parlaments und der Regierung sind klar getrennt, der Regierungschef hat eine starke Stellung inne. Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, das "Träger der nationalen Souveränität" ist. Die Verfassung stützt sich auf
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die "unauflösliche Einheit der spanischen Nation", die "gemeinsames und unteilbares Vaterland aller Spanier" ist, anerkennt und gewährleistet allerdings auch das Recht auf "Selbstverwaltung der Nationalitäten und Regionen". Durch die Regionalautonomie wurde die Staatsstruktur tiefgreifend verändert. Die Regierung wird verpflichtet, auf eine gerechtere Einkommensverteilung und Vollbeschäftigung hinzuwirken. Die Spanier haben das Recht auf und die Pflicht zur Arbeit. Eine der wichtigsten Bestimmungen im wirtschaftspolitischen Bereich schreibt die "Freiheit" der Unternehmen "im Rahmen einer Marktwirtschaft" fest. Tarifautonomie, das Recht zur Aussperrung und das Streikrecht werden garantiert. Die Garantie des Privateigentums ist (ähnlich wie im Bonner Grundgesetz) mit einer sozialen Bindungsklausel versehen. Verschiedene Formen der Beteiligung der Arbeitnehmer im Betrieb sollen "wirksam gefördert werden", Möglichkeiten von Kooperativen und Arbeiterselbstverwaltung werden eröffnet. Die Produktion muß sich auf das Gemeinwohl ausrichten, Wirtschaftsplanung wird anerkannt, Enteignung möglich gemacht. Ein bestimmtes Wirtschaftssystem wird Spanien nicht vorgeschrieben. Besonders umstritten waren die Artikel, die das Verhältnis zwischen Staat und Kirche betreffen. Der ursprüngliche Vorschlag, Spanien schlicht als "nicht-konfessionellen Staat" zu bezeichnen, hatte heftige Proteste der spanischen Bischöfe zur Folge; der schließlich verabschiedete Text spricht nur noch davon, daß es keine "staatliche Konfession" gibt (im Gegensatz zur Franco-Ära); er hebt zugleich die Beziehungen der Staatsgewalten "zur Katholischen Kirche und den übrigen Konfessionen" hervor. Obwohl somit eine Trennung von Staat und Kirche ausgesprochen ist, erhält der Katholizismus doch eine Ausnahmestellung eingeräumt. Schier revolutionär wirkte der Hinweis, daß "Trennung" und "Auflösung von Ehen" möglich sind. Das Wort "Scheidung" wurde zwar noch vermieden, der Verfassungstext sah aber ein Ehescheidungsgesetz voraus, das dann 1981 auch – nach massivem Widerstand seitens konservativ-klerikaler Kreise und gewaltigen Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Regierungspartei – erlassen wurde. Die in der Verfassung prinzipiell festgelegte Trennung von Staat und Kirche wurde in vier Abkommen untermauert, die Spanien und der Vatikan Anfang 1979 unterzeichneten; damit erloschen endgültig die Bestimmungen des Konkordats von 1953. Nicht minder problematisch als das Verhältnis Staat-Kirche war die Regelung der regionalen Autonomiefragen. Zu diesem Problemkomplex liefert die Verfassung nur einen allgemeinen Rahmen, der durch spätere Gesetze inhaltlich gefüllt werden mußte. Daß die Konflikte bereits vorprogrammiert waren, belegen die Kampagne der unzufriedenen baskischen Nationalpartei (PNV) für Stimmenthaltung bei der Abstimmung über die Verfassung sowie die terroristische Einschüchterung der baskischen Bevölkerung durch ETA, die sich zusammen mit den ihr nahestehenden Parteien für ein entschiedenes Nein stark machte. Die Tatsache, daß in der Autonomiefrage (ebenso wie in der Schulfrage) viele Einzelfragen offengelassen und späteren Gesetzen vorbehalten wurden, war andererseits der Preis für den consenso zwischen den Parteien bei der Ausarbeitung des Verfassungstextes. In einer feierlichen Zeremonie unterzeichnete König Juan Carlos am 27.12.1978 vor beiden Häusern des Parlaments die Verfassung; er bekundete seinen Willen, sie zu achten und ihr zu dienen, und hob besonders hervor, daß es sich um eine "Verfassung aller und für alle", somit auch um eine "Verfassung des Königs aller Spanier" handle. Eine Parade der
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Streitkräfte nach dem feierlichen Akt galt symbolisch als Treuebekenntnis des Militärs zur Konstitution. Die meisten Kommentatoren hoben hervor, daß die neue Verfassung eine "Verfassung der Versöhnung und des Ausgleichs" sei; in ihr komme nicht die Ideologie einer einzelnen Partei zum Tragen, sondern der consenso aller verantwortlichen Kräfte im Staat. Die Vernunft habe sich durchgesetzt, die Verfassung sei niemandem aufgezwungen, sie sei ausgehandelt (pactada) worden. Sowohl die Rechte wie die Linke könne mit ihr regieren. Viele Politiker nahmen in ihren Würdigungen der Verfassung Bezug auf den Bürgerkrieg und erklärten die "zwei Spanien" jetzt als endgültig ausgesöhnt. Drei Jahre nach Francos Tod hatte das Land verfassungsrechtlich den Franquismus hinter sich gelassen. In dem auf die Verabschiedung der Verfassung folgenden Vierteljahrhundert regierten sämtliche spanische Regierungen mit ihr, ohne daß eine Verfassungsrevision vorgenommen werden mußte. Erst in der 2004 begonnenen Legislaturperiode stand eine "Modernisierung" der Verfassung auf der parlamentarischen Tagesordnung. Dabei sollte es vor allem um vier Reformen gehen: um eine Funktionsänderung des Senats, der zweiten Kammer des Parlaments, die zu einer echten Territorialkammer werden soll; um eine Gleichstellung von Mann und Frau bei der Frage der Nachfolge auf den spanischen Thron; um die Übernahme des EU-Verfassungsvertrages; und um die namentliche Benennung der Autonomen Gemeinschaften.
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V Parteien, Parteiensysteme und Parteiengeschichte
1. Parteien und politische Strömungen im 19. Jahrhundert Die Geschichte der spanischen Parteien ist eng an die konstitutionelle Bewegung des Landes gebunden; diese begann nach 1808, als liberale Erneuerer während des nationalen Befreiungskrieges gegen die französische Fremdherrschaft versuchten, auf der Grundlage von Rousseaus Lehre vom Contrat social und entsprechend den Gewaltenteilungsideen Montesquieus einen neuen Staat zu gestalten. Die Verfassunggebenden Cortes (Parlament) von Cädiz verabschiedeten 1812 eine Verfassung, die deutlich den liberalen Stempel einer intellektuellen Minderheit mit dem Ziel gesellschaftlicher und politischer Emanzipation trug (vgl. Kap. IV, 2: Die Verfassung von Cädiz). In den Cortes schieden sich die Gruppen der Traditionalisten (Serviles), der Konservativen (Realisten) und der Liberalen (Parteibezeichnung für die fortschrittlichen Abgeordneten); sie bildeten die ideologischen Ausgangspositionen späterer Parteirichtungen. – In den beiden Jahrzehnten nach Proklamation der Verfassung von Cädiz und deren Außerkraftsetzung durch Ferdinand VII. kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Absolutisten und Traditionalisten einerseits und den Liberalen andererseits, in deren Verlauf sich letztere in Exaltados (die späteren Progressisten) und Moderados (Gemäßigte) spalteten. Zu Beginn der 1830er Jahre erfolgte eine Verschiebung der politischen Fronten: Die Anhänger des regierenden Königshauses (Isabelinos) schlossen sich größtenteils den gemäßigten Liberalen an, während die in der Nachfolgefrage unterlegenen Parteigänger von Don Carlos (Karlisten) die absolutistische Reaktion personifizierten. Allerdings bestanden in den 1830er Jahren noch keine festen fraktionellen Formationen in den Cortes. Die Existenz von Parteien wird in keinem Gesetz- oder Verfassungstext des 19. Jahrhunderts erwähnt; sie bleiben daher extrakonstitutionell, ihre Funktionen waren nicht definiert. Die Parteien konstituierten sich anfangs um eine parlamentarische Gruppe mit ähnlicher politischer Programmatik, seit Einführung der Direktwahl in der Verfassung von 1836 um ein Wahlkomitee sowie um den Redaktionsstab einer Zeitung. Die Wahlkomitees durften nur lokal oder regional, nicht jedoch landesweit operieren. Erst das Gesetz über Vereinigungsfreiheit, das im Gefolge der Revolution von 1868 verabschiedet wurde, leitete die eigentliche Entwicklung der spanischen Parteiengeschichte ein, die chronologisch in drei deutlich abgrenzbare Phasen (1868-1923, 1931-1936, und ab 1977) eingeteilt werden kann. Das Wahlrecht und die Frage der Wahlkreiseinteilung, die mit dem Wahlsystem zusammenhing, waren zwischen den Gemäßigt-Liberalen und den Progressisten heftig umstritten. Die verschiedenen Verfassungen des 19. Jahrhunderts änderten wiederholt das System der Wahlkreiseinteilungen, wobei deutlich wurde, daß sich alle Fragen im Zusammenhang mit dem Wahlrecht schon früh an parteipolitischem Opportunitätsdenken orientierten. Ein wichtiges Kriterium war von Anfang an die Möglichkeit, Wähler und Wahlen zu manipulieren. Die Verfassung von 1837 trennte Demokraten und Progressiv-Liberale: Während sich
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V Parteien, Parteiensysteme und Parteiengeschichten
erstere auf die Verfassung von Cädiz beriefen und das allgemeine Wahlrecht forderten, gingen letztere einen Kompromiß ein und setzten ein ermäßigtes Zensuswahlsystem durch, das als Folge wirtschaftlicher Entwicklungen eine fortschreitende Ausweitung der Wählerschaft ermöglichte. Das Wahlrecht blieb an Bildung und Besitz, vor allem an Landbesitz, gebunden. Im Zuge der Erhöhung der Zahl der Wahlberechtigten nahm auch die Wahlkorruption zu. Die oktroyierte Verfassung von 1834 hatte Wählervereinigungen vorgesehen, aus denen sich bald Parteicliquen unter autoritärer Führung entwickelten. Dabei spielte das Militär eine entscheidende Rolle; an der Spitze der großen politischen Gruppen stand zumeist ein General. Mangelnde Einheitlichkeit der Verfassungsvorstellungen führte dazu, daß im 19. Jahrhundert die zwei Gruppen der Konservativen und Progressiven keine gemeinsame Verfassungsbasis fanden. Die Frage des Parteiwesens stand somit von Anfang an in enger Verbindung mit der politischen Verfassung des Landes, die, von keinem Konsens getragen, statt Machtregulativ zu sein, Anlaß von Machtkämpfen wurde. Ein funktionierendes Parteiwesen mußte die offene Verfassungsfrage lösen; dies geschah erst in dem künstlichen Zweiparteiensystem und der Mechanik des Regierungswechsels in der Restaurationsära. Für die Zeit davor gilt, daß Regierungswechsel fast immer durch Militär- pronunciamientos (Putsche) herbeigeführt wurden.
Der Liberalismus: Strömungen und Parteien Lange, bevor es Parteien im modernen Sinne des Wortes gab, hatten sich die in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts entstandenen Liberalen in die eher gemäßigte Richtung der Moderados und die radikalere der Exaltados gespalten. Die Moderados waren ehemals Inhaftierte und Exilierte, deren politische Überzeugungen allmählich (häufig durch die persönliche Anschauung politischer Auseinandersetzungen in England) "gemäßigt" worden waren, die für "Freiheit" und "Ordnung" und eine "ausgewogene" Verfassung — d.h. eine Revision der Konstitution von 1812 — eintraten. Die Exaltados plädierten demgegenüber für die unveränderte Beibehaltung der Konstitution von 1812; ihr Motto lautete: "Verfassung oder Tod!" Sie rekrutierten sich aus den radikalen Kräften der Provinzhauptstädte, waren antiaristokratisch und für die unterprivilegierten Schichten durchaus attraktiv. Das liberale Triennium (1820-1823) begann in einem Klima des euphorischen Optimismus, ohne Repression oder Rachemaßnahmen. Sofort nach Wiederherstellung der konstitutionellen Legalität (März-Juli 1820) und Wiedereröffnung der Cortes (Juli 1820) kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den "Liberalen" wie Argüelles und Martfnez de la Rosa, den alten Parteigängern der Verfassung von 1812 (Doceaffistas), und den "Patrioten" wie Romero Alpuente, Calatrava, Istüriz und Flörez Estrada, den Revolutionären von 1820. Bei diesem zweiten Versuch zur Überwindung des Absolutismus kamen alle Beschränkungen des "revolutionären" Liberalismus in Spanien zum Tragen, da erneut deutlich wurde, daß sich diese liberalen Politiker der reformistischen Illusion hingaben, eine "bürgerliche Revolution" ohne radikalen Bruch mit den traditionellen Kräften durchführen zu können. Ihr Bestreben lief auf ein möglichst enges Zusammenwirken mit den dominanten
Parteien und politische Strömungen im 19. Jahrhundert
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Schichten des alten Systems hinaus, vor einer sozialen Revolution französischer Prägung wichen sie zurück. Im Grunde genommen ging es den Liberalen um die Erreichung zweier Ziele: um die Beseitigung des "Feudalismus" und die Verteidigung des neuen Eigentumsrechtes. Die Progresistas waren anfangs die Fraktion gewesen, auf die sich 1835 Mendizäbal gestützt hatte; sie selbst defmierten ihre Haltung als "tatsächlichen Fortschritt". Ihnen ging es darum, die lokalen Gewalten (Ortsverwaltungen) zu stärken, eine vom Heer unabhängige Volksmiliz aufzustellen, die wirtschaftliche Liberalisierung voranzutreiben. Die Krone stand den Progressisten stets reserviert gegenüber; sie wurden nie "spontan" zur Bildung der Regierung aufgefordert, sondern mußten sich stets (1835-1837, 1840-1843, 1854-1856) in die Exekutive hineinputschen oder ihre Zulassung durch massiven Druck der Straße erzwingen. Die Krone wiederum zog durchaus Vorteile aus der Ernennung progressistischer Regierungen in quasi-revolutionären Situationen: Sie konnte sicher sein, daß die regierenden Progressisten die revolutionären Juntas in den Provinzen auflösen und Cortes-Wahlen ausschreiben würden. Auf diese Weise behielt die Krone die Letztentscheidung und konnte nach einiger Zeit wieder die von ihr bevorzugten Moderados in die Regierung berufen. Die Debatte innerhalb des Moderantismo verweist auf dessen heterogene Basis, die — zusammen mit dem Fehlen einer Binnenstruktur — wiederholt dazu führte, daß die Partei politisch sich selbst blockierte. Allen Parteiflügeln gemein waren aber einige elementare Grundüberzeugungen. Die Moderados betrachteten sich als Vertreter des Juste malet' zwischen dem karlistischen Absolutismus und dem linken Flügel des Liberalismus. In den dreißiger Jahren war Martfnez de la Rosa der Hauptprotagonist dieser "mittleren" Haltung, die — im Gegensatz zu den Progressisten — eine Verständigung mit den Unterlegenen im Bürgerkrieg anstrebte. Die Moderados hielten zwar die absolute Monarchie für überholt, lehnten aber die progressistische Lehre von der Volkssouveränität ab. Die Konsolidierung des Staates sollte über ein höchst zentralisiertes Funktionieren der Verwaltung erfolgen. Der eigentliche Kern der Parteimitglieder bestand aus Bankiers, Grundbesitzern und Freiberuflern aus dem Dienstleistungssektor. Diese Berufsgruppen benutzten die Partei, um sich in das isabellinische System zu integrieren, von dem sie annahmen, daß es einen Ausgleich zwischen dem Anden Regime und der liberalen Revolution darstellte. Deswegen propagierte die Partei auch die Stärkung der königlichen Gewalt, die Lehre von der geteilten Souveränität, die Verteidigung des Privateigentums und die Kontrolle der Macht durch eine Minderheit von Besitzenden und Aufgeklärten über eine Mehrheit von Ignoranten; man kann geradezu von einer Obsession sprechen, mit der die Partei das Problem der öffentlichen Ordnung behandelte. Da die Partei der Moderados ideologisch eine eklektische Synthese des "doktrinären" Liberalismus war, konnte es nicht ausbleiben, daß sich bald verschiedene Tendenzen herausbildeten: eine konservativ-autoritäre (Juan Bravo Murillo), eine zentristisch-gemäßigte (Ramön Marfa Narväez) und eine "reine" (Antonio Rios Rosas, Joaqufn Francisco Pacheco). Zu dieser Fraktionsbildung trugen die Heterogenität der Parteibasis, die dadurch bedingte Breite des Programms, vor allem aber der Personalismus einzelner Parteiführer bei. Die "gemäßigte" Richtung setzte sich durch und übte im wesentlichen zwischen 1844 und 1854 die politische Macht aus. Trotz der zahlreichen Fraktionsbildungen erfolgte keine aus den Moderados hervorgehende neue Parteigründung.
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Parteien und politische Strömungen im 19. Jahrhundert
V Parteien, Parteiensysteme und Parteiengeschichten
Von einer Partei-"Organisation" kann bei den Moderados kaum gesprochen werden. Wegen der Regierungsprotektion, die sie genossen und die sie für viele Jahre zur Regierungspartei machte, brauchte sich die zahlreich entstehende Klientel kaum um Programm oder Organisation zu kümmern; diese beschränkte sich meist auf die Bildung von Wahlkommissionen zum Zeitpunkt von Cortes-Wahlen. Die Basis dieser "Notabelnpartei" war sozial und territorial schlecht entwickelt; über feste Strukturen verfügte sie nicht; ihre Führungsschicht war vielfach miteinander verwandt und verschwägert; ihr Programm gab sie über ein Netz von Zeitungen (EI Heraldo, EI Tiempo, La Epoca) bekannt. Die mangelnde Struktur sollte der Partei schließlich zum Verhängnis werden. Unfähig, weiterhin einziges Sprachrohr des Konservativismus zu sein, zerfiel sie allmählich und mußte 1854 der neugeschaffenen Uniön Liberal die Macht abtreten. Allmählich wurde auch den gemäßigten Kräften klar, daß die von der Krone gedeckte Diktatur der Moderados nur durch einen Umsturz zu beenden sei. Ihr Ziel bestand aber lediglich in einer Änderung der Regierung, nicht in der Auslösung einer breiten Volksbewegung, deren Kontrolle ihnen allzu leicht entgleiten konnte. Ende Juni 1854 unternahm O'Donnell in dem Dorf Vicälvaro ein Pronunciamiento (La Vicalvarada), hinter dem anfangs vor allem kritische Moderados und gemäßigte Progresistas standen. Das politische Programm des Aufstandes (Maneesto de Manzanares), das auf Cänovas del Castillo zurückging, läßt die beschränkte Zielsetzung des Aufstandes erkennen: Beseitigung der Hofkamarilla, Einhaltung der Gesetze, Beendigung der Presseknebelung, Steuersenkung, Selbstverwaltung der Provinzen, Schaffung einer dauerhaften Nationalmiliz. Vor allem letzterer Punkt führte dazu, daß sich in den Städten die Linksprogressisten der Bewegung anschlossen, wiederum zahlreiche revolutionäre Juntas entstanden und die Rückkehr Esparteros an die Macht gefordert wurde. Ende Juli 1854 bildete dieser zusammen mit O'Donnell eine Koalitionsregierung zwischen Moderados und Progresistas. Diese Kräfte vereinigten sich, unter der unbestrittenen Führerschaft O'Donnells, zur "Liberalen Union" (Uniön Liberal), die gleich bei den ersten Cortes-Wahlen im Herbst 1854 die Mehrheit der Parlamentsmandate errang. Aus dem Lager der Moderados gehörten zur neuen Partei Luis Gonzälez Bravo, Antonio Rios Rosas und General Francisco Serrano, aus dem der Progresistas General Evaristo San Miguel, Joaqufn Maria Löpez, Calvo Asensio. Das Programm der Partei kam in ihrem Wahlmanifest zum Ausdruck: Rede- und Schriftfreiheit, Volkswahl der Stadträte, Dezentralisierung der Verwaltung, Ministerverantwortlichkeit, Reorganisation des Heeres, der Bürokratie und der Nationalmiliz. Die Liberale Union war zwei Jahre an der Regierung, mußte in dieser Zeit aber nicht nur gegen die permanente Finanzkrise, sondern außerdem gegen zahlreiche Volksaufstände ankämpfen, die eine "progressivere" Politik forderten, z.B. die Abschaffung der Konsumsteuern, die Änderung des Einberufungssystems zum Wehrdienst, nachdem es den gemäßigten Kräften trotz der Ministerpräsidentschaft Esparteros zusehends gelang, die Regierungspolitik zu bestimmen und in konservative Bahnen zu lenken. Zu den wichtigsten Maßnahmen der Regierung in den beiden "progressistischen Jahren" 1854 bis 1856 ( bienio progresista) gehörte die Fortführung der Desamortisationsgesetzgebung unter Minister Pascual Madoz, die jetzt, über die Kirchenländereien hinaus, vor allem die kommunalen Ländereien erfaßte.
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Demokraten und Republikaner Die Unruhen der Jahre 1854 bis 1856 wurden größtenteils von Kräften getragen, die links von den Progressisten standen. Damit trat die soziale Entwicklung des Landes in eine neue Phase. Linke Abspaltungen der progressistischen Partei gehen auf die 1830er Jahre zurück. Im Gefolge der Debatten über die Verfassung von 1837 und die Desamortisationsmaßnahmen hatte sich immer mehr die Spaltung zwischen der Mehrheit der progressistischen Partei und ihrem linken Flügel, den Demokraten, vertieft, die nunmehr die städtischen Unterschichten und immer deutlicher auch die republikanischen Kräfte vertraten. Mitte 1837 gab es bereits erste, lokal beschränkte republikanische Aufstände in Katalonien (Barcelona, Reus). In den Folgejahren entstanden mit El Huracän (Madrid, Leitung: Juan Olavarrfa) und EI Republicano (Barcelona, Leitung: Abdön Terradas) die ersten republikanischen Zeitungen. Im ersten Jahrzehnt ihres (noch informellen) Bestehens hatte die "Demokratische Partei" (Partido Demöcrata) nur eine vage politische Programmatik, was auf die vielen Tendenzen innerhalb der Organisation zurückzuführen war. Schon für die 1830er Jahre hat Antonio Elorza in der Presse Madrids und Barcelonas zahlreiche Manifestationen von Republikanismus nachweisen können. Dieser erste Republikanismus war "interklassistisch". Er wurzelte in den Geheimgesellschaften, beteiligte sich an den Junta-Bewegungen, beeinflußte die Mitglieder der ersten mutualistischen spanischen Arbeiterorganisation, der Sociedad de Protecciön Mutua de Tejedores de Algodön de Barcelona; er sprach sich in Katalonien schon früh für einen Aufstand gegen die Zentralgewalt aus. Formal konstituierte sich die Partei 1849; anerkannte Parteiführer waren Nicoläs Maria Rivero, Jose Maria Orense, Fernando Garrido, Sixto Cämara. Ihr damals publiziertes Wahl- und Parteiprogramm umfaßte als Forderungen das allgemeine Wahlrecht, eine Nationalmiliz, die Abschaffung des geltenden Einberufungssystems (quintas), die Verkleinerung des stehenden Heeres, die Vereinfachung der Verwaltung, allgemeine und unentgeltliche Volksschulbildung, Pressefreiheit. Um legal auftreten zu können, hatte die Partei die konstitutionelle Monarchie als Staatsform und den Katholizismus als Staatsreligion zu akzeptieren. Zuerst war die Demokratische Partei eine lockere oppositionelle Gruppierung, die sich um die Zeitungen EI Huracän und EI Republicano scharte. Als Kryptorepublikaner hatte sie besonders viele Anhänger in Katalonien, aber auch in Madrid und Andalusien war sie stark. Nach der allmählichen Herausbildung deutlicher republikanischer und sozialistischer Tendenzen durften die Demokraten keine Wahlversammlungen mehr abhalten. In den 1850er und 1860er Jahren bildeten sich immer mehr unterschiedliche Tendenzen heraus: republikanische, demokratisch-progressistische (Orense), sozialistische (Garrido), fourieristische (Cervera), proudhonistische (Francisco Pi y Margall), krausistische (Nicoläs Salmer6n). Zwischen den verschiedenen Flügeln kam es, besonders in den 1860er Jahren, zu heftigen Auseinandersetzungen über die Frage, ob die ursprünglich beschlossene Koalitionspolitik mit den Progressisten fortgesetzt werden solle oder nicht. Der für eine Beendigung eintretende Flügel unter Pi y Margall erlitt in diesem Kampf eine Niederlage, die bereits auf die innerparteilichen Auseinandersetzungen während der "revolutionären sechs Jahre" (1868-1874) vorauswies.
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V Parteien, Parteiensysteme und Parteiengeschichten
Parteien und politische Strömungen im 19. Jahrhundert
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Die Parteienentwicklung in der Revolutionsepoche (1869-1873)
Parteien in der Restaurationsära
Die Revolution von 1868 ist ein Wendepunkt in der spanischen Wahlrechts- und Parteiengeschichte, da sie das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Männerwahlrecht einführte. Allerdings ermöglichte die bald einsetzende parteipolitische Zersplitterung, die Demokraten, Republikaner und Progressisten wieder trennte, keine stabile parlamentarische Regierung; die bei den Wahlen errungenen Mehrheiten der Parteien hatten keinen Bestand, die absolute Mehrheit der Mandate wechselte von einer Wahl zur anderen. Die unmittelbar nach dem Sturz Isabellas eingesetzte Provisorische Regierung unter dem unionistischen General Francisco Serrano ließ im Januar 1869 Wahlen durchführen, die zum ersten Mal in der spanischen Geschichte nach dem allgemeinen, gleichen und direkten Männerwahlrecht erfolgten (Wahlalter: 25 Jahre). Rund 24% der Bevölkerung (ca. 3,8 Millionen Spanier) waren wahlberechtigt; zum ersten Mal wurde der Wahlkampf auch bei voller Meinungsfreiheit und unter breiter Einbeziehung der Presse als Meinungsmedium durchgeführt. Erstmals seit 1823 besaßen auch die Überseegebiete Kuba und Puerto Rico wieder eine Vertretung in den Cortes. Die monarchisch-demokratische Richtung trug mit 236 Sitzen – davon 159 Progressisten unter Prim, Präxedes Mateo Sagasta, Salustiano Olözaga und Manuel Ruiz Zorrilla – den klaren Sieg davon. Die vor allem in den Städten starken Republikaner (unter Jose Marfa Orense, Estanislao Figueras und Emilio Castelar) erhielten bei 85 Sitzen rund 25% der Stimmen. Weiter zur Rechten waren die Unionisten (unter Antonio Rios Rosas) und ganz rechts die Traditionalisten sowie einige Isabelinos unter Antonio Cänovas angesiedelt.
Das politische System der Restauration ruhte auf zwei Parteien: der von Antonio Cänovas del Castillo gegründeten (Liberal-)Konservativen Partei (Partido Liberal Conservador), und der unter der Leitung von Präxedes Mateo Sagasta stehenden (Fusionistisch-)Liberalen Partei (Partido Liberal Fusionista). In der Zeit der Ersten Republik (1873) hatte Cänovas Gleichgesinnte um sich gesammelt, die ebenfalls eine monarchische Restauration anstrebten; aus diesen Moderados und Unionistas bildete er dann die Konservative Partei, deren soziale Basis der Madrider Adel und Landadel, Großgrundbesitzer und Teile des Bürgertums waren. Anfangs setzte sich die Partei besonders für die Sicherung der Monarchie, die institutionelle Neugestaltung des Staates im Innern sowie die Verteidigung der Interessen der besitzenden und gebildeten Schichten ein. Im Programm von 1899 wurde der Zielkatalog erweitert: Nunmehr ging es auch um die Förderung der Wirtschaft, die Treue zu den Beziehungen mit dem Vatikan sowie Kommunal- und Provinzialreformen. Die Konservative Partei war zweifellos die bedeutendste politische Organisation der Restaurationsära. Cänovas bildete auch die ersten Regierungen, wobei seine Partei 1876 überwältigende 333 und 1879 immer noch 293 von jeweils 392 Abgeordnetensitzen errang. Die Liberale Partei entstand als Zusammenschluß mehrerer liberaler Fraktionsgruppen 1880. Ihr Dreipunkteprogramm umfaßte die "aufrichtige Durchführung des repräsentativen Systems", die Monarchie an der Spitze der "fortschrittlichen Entwicklung des Volkes" und scharfe Opposition gegen die konservative Regierung. Vor der eigentlichen Parteigründung waren die Liberalen in drei große politische Gruppen gespalten, was bereits auf die spätere heterogene Mitglieder- und Wählerstruktur vorausdeutete: in eine rechte Gruppe um A. Martfnez und G. Gamazo; eine Mitte, die Konstitutionellen, mit P.M. Sagasta als Chef; und eine linke Gruppe um C. Martos, S. Moret und J. Löpez Domfnguez. Die liberalen Gruppen fanden sich erst allmählich mit der neuen politischen Ordnung der Restauration ab, wollten sie doch ursprünglich zur Verfassung von 1869 zurück. Sie in das System der Restauration integriert und damit eine systemgefährdende Koalition der Linksliberalen mit den Republikanern verhindert zu haben, gehört zu den Leistungen von Cänovas. Nicht zuletzt auf dieser Integration beruhte die Stabilität des Restaurationssystems. Dem ersten Direktorium der Liberalen Partei gehörten Sagasta, Martfnez Campos und Jose Posada Herrera an. Die soziale Basis der Partei war primär die kommerzielle und industrielle Bourgeoisie, im Parlament erhielt sie außerdem die Unterstützung großer Teile der Streitkräfte. Dabei hat der Übertritt von Generälen zu den Liberalen ihre Heranbildung zu einer regierungsfähigen Partei wesentlich begünstigt. 1881 erlangte sie zum ersten Mal in der konstitutionellen Entwicklung des Landes die Regierungsmacht; die folgenden CortesWahlen brachten den Liberalen 297 von 392 Mandaten. Entscheidend für das Parteien- und Regierungssystem war die 1885 beim frühen Tod Alfons' XII. getroffene Absprache (Pacto del Pardo) zwischen den "dynastischen" Parteien, derzufolge sie zur Wahrung der Monarchie ihren Kampf gegeneinander einstellen und in regelmäßigem Alternieren (turno de los partidos) die künftigen Regierungswechsel bei Manipulation der Wahlergebnisse durch die jeweils regierende Partei friedlich vornehmen würden, wodurch der "Parlamentarismus" der Restaurationsmonarchie zur reinen Fiktion wurde. Bei jeder zweiten Wahl stellten daher die Liberalen bzw. die Konservativen die
Tab. 1: Die Mandatsverteilung in den Cortes der Revolutionsepoche 1869-1873 Parteien
Januar 1869
März 1871
April 1872
Demokraten
20
—
Progressisten
159
237
69
—
Unionisten Republ. Unitarier Föderalisten
August 1872
—
—
—
—
2
Mai 1873
1
69
42
87
348
62
224
22
—
129
20
4
—
—
82
—
14
—
—
—
Alfonsisten
—
12
Montpensieristen
—
10
—
—
18
62
38
—
351
369
353
331
Radikale Republikaner Konservative Sagastinos Unabhängige Isabelinos
Karlisten Insgesamt
enthalten
— 2
367
94
V Parteien, Parteiensysteme und Parteiengeschichten
Regierung, wobei der Austausch mit Hilfe der Krone vor sich ging, da diese in aller Regel Minderheitsregierungen ernannte, die sich durch Neuwahlen parlamentarische Mehrheiten verschafften. Nachdem die Revolution von 1868 das allgemeine Männerwahlrecht eingeführt hatte, kehrte das Wahlgesetz von 1878 vorübergehend zum Zensuswahlrecht zurück; die Liberalen führten erst 1890 aus taktisch-politischen Erwägungen das allgemeine Wahlrecht wieder ein: Sie wollten dadurch den republikanischen und demokratischen Parteien die Grundlage für ihre Oppositionspolitik entziehen. 1890 wurde zugleich die Listenwahl mit beschränkter Stimmgebung eingeführt; durch dieses System wurde von den Regierungsparteien systemloyalen politischen Minderheiten die Chance gegeben, parlamentarische Mandate zu erringen, während die in Fundamentalopposition zum Restaurationssystem stehenden Karlisten oder Republikaner faktisch benachteiligt wurden. Das Regierungssystem der Restauration funktionierte einige Jahrzehnte lang über den weiter oben angesprochenen künstlichen Parteienmechanismus. Dabei wurde systematisch Wahlfälschung betrieben. Die Wahlfälschung war ein Element dieses Regierungssystems und bewirkte, daß trotz der Demokratisierung des Wahlrechts die oligarchische Herrschaftsstruktur erhalten blieb. Wie im klassischen Liberalismus, blieb die soziale Grundlage der Politik auf verhältnismäßig kleine Gruppen beschränkt. Die von caciques (Häuptlingen) organisierte Praxis der Wahlkorruption, die sich im 20. Jahrhundert in den Bereich der Kandidatenaufstellung verlagerte, hat Parteien und Parlamentarismus in den Augen der Bevölkerungsmehrheit diskreditiert und zu politischem Desinteresse geführt. Sie hatte außerdem nachhaltige Auswirkungen auf die Parteienstruktur: Lediglich Demokraten, Republikaner und Sozialisten unternahmen einen allmählichen Wandel zu organisierten Mitgliederparteien, blieben jedoch als systemoppositionelle Gruppen parlamentarisch jahrzehntelang nahezu ausgeschaltet. Für die übrigen Parteien entfiel infolge der Wahlfälschung die Notwendigkeit, breite Wählerschichten politisch zu organisieren. Liberale und Konservative blieben primär personalistisch orientierte Parlamentsfraktionen, ihr organisatorischer Apparat wurde vor allem zu Wahlzwecken aktiv. Das Zweiparteiensystem der Restauration, das dem britischen Vorbild folgte, wurde — im Gegensatz zu Großbritannien — von A. Cänovas del Castillo unabhängig von den gesellschaftlichen Bedingungen konzipiert, da im Parteibegriff der Restauration die repräsentativ-demokratische Komponente völlig fehlte und Parteien nur als funktionale Instrumente zur Regierungsbildung betrachtet wurden. Es wäre völlig falsch, aus den Wahlergebnissen von 1876-1923 den Ausdruck eines autonomen politischen Willens des spanischen Volkes herauslesen zu wollen. Die Zusammensetzung der parlamentarischen Oligarchie und ihres Herrschaftssystems blieb von äußeren Einflüssen relativ unberührt. In Katalonien entwickelten sich allmählich katalanistische Parteien und modifizierten das für den Gesamtstaat gültige Bild. Insgesamt kam es zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Zusammenhang mit dem verstärkten Regionalismus zu zahlreichen Parteineugründungen und in deren Folge zu einer Zersplitterung des Parteiwesens, die die aus der Zeit vor der Restauration bereits bekannte Diskontinuität in der Regierungspraxis noch erhöhte. Das in viele Gruppen zerfallene Parlament erwies sich immer unfähiger zur Regierungsbildung, bis 1923 das pronunciamiento des Generals Miguel Primo de Rivera dem Parlamentarismus ein Ende bereitete.
Parteien in der Zweiten Republik (1931-1936/39)
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2. Parteien in der Zweiten Republik (1931-1936/39) Einführung. Während die Linke zu Beginn der Republik ihre traditionellen Organisations-
formen entweder fortführen (PSOE, UGT) oder neu aufbauen konnte (CNT, PCE), war die Rechte vom politischen Wechsel derart überrascht und desorientiert worden, daß sie vorerst keine einheitliche Organisation zu präsentieren imstande war. Die Mittelschichten wiederum und die Kleinbourgeoisie entschieden sich in den Städten zwar mehrheitlich für die Republik, konnten auf dem Land aber ihrer Instrumentalisierung durch die traditionellen, antirepublikanischen Eliten nicht immer erfolgreich Widerstand leisten. Verfechter einer "bürgerlichen" Politik war die "Radikale Republikanische Partei" (Partido Republicano Radical) von Alejandro Lerroux, deren Standort während der Republik sich immer weiter nach rechts verschob. 1934 spaltete sich der linke Parteiflügel unter Diego Martfnez Barrio ab und bildete die "Republikanische Union" (Union Republicana), die — ebenso wie die "Republikanische Linke" (Izquierda Republicana) von Manuel Azafia — für eine umfangreiche Reformpolitik im Rahmen der parlamentarischen Republik eintrat. In Katalonien repräsentierte die linksliberale Esquerra Republicana de Catalunya unter der Führung von Francesc Maciä und Lluis Companys die Interessen des Kleinbürgertums. Bei den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung errangen die Sozialisten und die Republikaner im Juni 1931 einen überwältigenden Sieg. Damit hatten zwar die reformfreudigen Kräfte ein deutliches Übergewicht in den Cortes. Der Wahlsieg war jedoch zum Teil auch auf das republikanische Wahlsystem zurückzuführen, das Parteienbündnisse gegenüber isoliert antretenden Parteien begünstigte. Bei den folgenden Wahlen von 1933 wurden angesichts der zunehmenden Auffächerung der Parteienlandschaft gesamtstaatliche Wahlbündnisse wiederum dringend erforderlich. Vor allem die in viele Gruppen aufgespaltenen Republikaner drängten zu Listenverbindungen, da sie ohne eine Wahlkoalition zum parlamentarischen Untergang verurteilt waren. War das Wahlsystem 1931 der Linken zugute gekommen, profitierte 1933 die Rechte davon, die sich zwischenzeitlich organisiert und zu einem Wahlbündnis, der CEDA (Confederaciön Espariola de Derechas Autönomas), zusammengeschlossen hatte. Die CEDA propagierte, unter ihrem Vorsitzenden Jos Maria Gil Robles, eine konservative, auf Privateigentum basierende Agrarpolitik. Sie war die Interessenvertretung der Oligarchie und setzte sich, unter Berufung auf die Soziallehre der katholischen Kirche, für die Belange der Oberschicht ein. Die Partei bekannte sich zwar zur Republik, sah in ihr aber nur eine taktische Notwendigkeit, um zu einem "neuen Staat" berufsständischer Ordnung zu gelangen; vor allem bekämpfte sie die sozialistische und laizistische Gesetzgebung. In den Parlamentswahlen vom 16. Februar 1936 siegte wiederum der Mitte-Links-Block, der sich als Volksfront konstituiert hatte. Während jedoch die Arbeiterorganisationen (PSOE, PCE) in der Volksfront ein Mittel sahen, um die "Revolution" — was auch immer sie darunter verstehen mochten — voranzutreiben, wollten die republikanischen Parteien (IR, UR) die Interessen des am politischen und wirtschaftlichen Status quo interessierten Bürgertums vertreten. Als nach dem 16. Februar die Linksrepublikaner die Regierung bildeten und das eher gemäßigte als "sozialistische" Programm zu realisieren trachteten, wurde sehr bald deutlich, daß die Arbeiterorganisationen nicht bereit waren, sich für die Verwirklichung "bürgerlicher" Reformziele einzusetzen. Die Republik erwies sich als zu schwach,
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Parteien, Parteiensysteme und Parteiengeschichten
um sich gegen die revolutionären Angriffe der landlosen Arbeiter einerseits und die zunehmende Aggressivität der Rechten andererseits zu verteidigen. In den Monaten nach den Volksfrontwahlen wurde deutlich, daß die Reformpolitik der republikanischen Regierung die drängenden strukturellen Probleme der spanischen Wirtschaft und Gesellschaft nicht lösen konnte. Die Arbeiterorganisationen wiederum konnten (und wollten) ihre Mitglieder nicht davor zurückhalten, die lange versprochenen, jedoch nicht realisierten Veränderungen — vor allem auf dem Agrarsektor — auf revolutionäre Weise in Angriff zu nehmen. n Spanische Sozialistische Arbeiterpartei (PSOE, Partido Socialista Obrero Espafiol), ursprünglich marxistisch-proletarische Klassenpartei. Gründung Am 2.5.1879 in Madrid durch die Schriftsetzer Pablo Iglesias, Antonio Garcia Quejido sowie 23 weitere Gründungsmitglieder. Programm: Das knapp gehaltene Programm von 1880 und das erweiterte Manifest von 1888, das die wesentlichen Punkte des ersten Dokuments aufgriff, gaben als Ziel die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse und den Übergang der Produktionsmittel in gesellschaftliches Eigentum an. Die Partei trat für das allgemeine Wahlrecht, Mindestlöhne, Unternehmenskomitees und den Achtstundentag ein, grenzte sich andererseits schroff von den bürgerlichen Parteien republikanischer Tendenz ab. Ihr revolutionär-marxistisches Ziel blieb die "Diktatur des Proletariats"; in der politischen Alltagspraxis war sie jedoch reformistisch ausgerichtet — ebenso wie die 1888 von F. Mora und A. Garcia Quejido ins Leben gerufene sozialistische Gewerkschaft "Allgemeiner Arbeiterbund" (UGT, Uniön General de Trabajadores). Die Partei war von Anfang an ein Zweig des europäischen Sozialismus der Zweiten Internationale; sie wurde maßgeblich durch ihren Gründer Iglesias sowie den Einfluß P. Lafargues und des französischen Marxisten J. Guesde geprägt. Das bedeutendste Parteiorgan war seit 1886 die Madrider Tageszeitung El Socialista. Geschichte Die 1879 gegründete "Partei" war anfangs nur eine "Madrider Gruppierung" (Agrupaciön madrilena), die seit 1881 legal auftreten durfte, sich unfreiwillig nach Barcelona (Garcia Quejido) und Bilbao (Perezagua) zerstreute, 1886 ihre erste regelmäßige Publikation herausbrachte und erst im August 1888 organisatorische Stabilität auf dem I. Nationalen Kongreß erreichte. 1909 schloß die Partei ein Wahlbündnis mit den ebenfalls antikolonialistischen Republikanern; diese sog. conjunciön ebnete 1910 für P. Iglesias den Weg ins Parlament und ermöglichte auch bei Gemeindewahlen einen breiten Durchbruch. In den Jahren vor 1914 strömten bedeutende Intellektuelle in die proletarische Partei, u. a. F. de los Rios, L. Araquistäin, J. Besteiro, M. Nüfiez de Arenas. Im I. Weltkrieg spaltete sich die Partei; die verschiedenen Flügel unterstützten die Mittelmächte bzw. die Alliierten. Zu diesem Zeitpunkt hatte der PSOE noch keine 5.000 Mitglieder; seine Verwurzelung war außerdem regional (Asturien, Vizcaya, Andalusien, Neu-Kastilien) und umfaßte nicht das ganze Land. Die Partei stellte zu diesem Zeitpunkt einen Abgeordneten im Parlament und 176 Stadträte in 72 Gemeinden. Die eigentliche Stärke des Sozialismus war die Gewerkschaft (1912: 129.000; 1918: 200.000 Mitglieder). In der politischen Krise von 1917 riefen Sozialisten und Anarchosyndikalisten gemeinsam einen Generalstreik aus, der scheiterte und zur Verhaftung des Streikkomitees (Besteiro, Largo Caballero, Anguiano, Saborit) führte; dessen Mitglieder
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wurden bei den folgenden lokalen und legislativen Wahlen aus dem Gefängnis herausgewählt. 1918 stellte der PSOE sechs Parlamentsabgeordnete. — Ende des I. Weltkrieges drängten viele Parteimitglieder auf Anschluß an die Komintern; die heftigen innerparteilichen Auseinandersetzungen endeten erst auf dem III. Außerordentlichen Kongreß im April 1921, als sich die Mehrheit gegen den Anschluß an die Komintern aussprach. Eine Minderheit verließ daraufhin die Partei und gründete die Kommunistische Arbeiterpartei. Aus dieser Krise ging der PSOE geschwächt hervor. Er nahm den Staatsstreich Primo de Riveras (1923) ohne Widerstand hin und fand sich später sogar zur zeitweiligen Zusammenarbeit mit dem Diktator (Largo Caballero wurde Staatsrat) bereit. Als zu Beginn der Zweiten Republik sich eine knappe Mehrheit der Exekutive für eine erneute Allianz mit den Republikanern aussprach, trat der orthodoxe Parteivorsitzende J. Besteiro von seinem Amt, das er als Nachfolger Iglesias' seit 1925 innehatte, zurück. Bei den Gemeinderatswahlen von 1931 wurden 4.183 PSOEVertreter gewählt; in den Cortes der Zweiten Republik (1931) saßen (von insgesamt 470 Abgeordneten) 1931: 105, 1933: 61 und 1936 (Volksfrontwahlen): 99 Sozialisten. In diesen Jahren hatte der PSOE zwischen 60.000 und 80.000, die UGT über eine Million Mitglieder. Zu Beginn der Zweiten Republik war die Sozialistische Partei die einzige bedeutende Arbeiterpartei Spaniens. Sie übte großen Einfluß auf die UGT aus, der die Landarbeitergewerkschaft Federaciön Nacional de Trabajadores de la Tierra (FNTT) angeschlossen war. Die Sozialisten interpretierten den Übergang von der Monarchie zur Republik als "bürgerliche Revolution", in der die politische Führung den republikanischen Parteien zufalle. Bald nach 1931 kam es in der republikanisch-sozialistischen Koalitionsregierung zu erheblichen Meinungsverschiedenheiten und in deren Gefolge zu Flügelbildungen innerhalb des PSOE, die bis 1939 unvermindert fortbestanden. Die drei verschiedenen Tendenzen wurden durch den "Zentristen" Prieto, den "Revisionisten" Besteiro und Largo Caballero als Vertreter des "revolutionären Voluntarismus" repräsentiert. 1933 zerbrach das Bündnis der Partei mit der bürgerlichen Linken und Mitte; nach dem Wahlsieg der Rechten sprachen sich die bisherigen Verfechter einer Zusammenarbeit — allen voran Largo Caballero, der "spanische Lenin" — für die gewaltsame revolutionäre Machteroberung aus. Der neuformierte radikale PSOE-Flügel rückte immer näher an kommunistische Positionen heran. Vor allem nach der Niederlage im Oktoberaufstand von 1934 wurde der von Largo Caballero gesteuerte UGT-Kurs zusehends radikaler. Der Gewerkschaftsführer hatte sich in den ersten drei Jahren der Republik davon überzeugt, daß der reformistische Kurs den Interessen der Arbeiterbewegung nicht förderlich war; ab 1934 trat er für die sofortige Durchführung einer sozialen Revolution mit dem Ziel der Diktatur des Proletariats ein. Spätestens seit 1935 war der Riß im sozialistischen Lager unübersehbar. Der gemäßigtreformistische Indalecio Prieto beherrschte den Parteivorstand und -apparat, der auf einen proletarisch-revolutionären Kurs gedrängte Largo Caballero kontrollierte die UGT. Diese lehnte (ebenso wie die CNT) den bestehenden Staat ab und erstrebte eine von Arbeitern durchgeführte, wenn auch unterschiedlich zielorientierte soziale Revolution. 1936 traten die von Santiago Carrillo geführten Jungsozialisten geschlossen der Kommunistischen Partei bei, die inzwischen jedoch zusehends gemäßigtere Positionen vertrat.
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Zu Beginn des Bürgerkrieges setzte sich der linke Flügel des Sozialismus für die soziale Revolution, die Kollektivierung der Wirtschaft und die Errichtung eines Rätesystems ein. Von November 1936 bis Mai 1937 war Largo Caballero Ministerpräsident; er wurde auf Druck der Kommunisten und seiner eigenen zentristischen Parteifreunde gestürzt und durch den kommunistenfreundlich-gemäßigten Sozialdemokraten Juan Negrfn ersetzt. Der linke PSOE/UGT-Flügel geriet immer mehr in die politische Isolierung; den Kommunisten gelang es, ihre politische Linie – mitunter gewaltsam – durchzusetzen. n Spanischer Bund Autonomer Rechtsparteien (CEDA, Confederaciön Espatiola de Derechas Autönomas), rechtskonservativ-katholische Parteienkoalition während der Zweiten Republik. Gründung Die Parteiengruppierung ging im Februar 1933 aus der Fusion der von A. Herrera Oria gegründeten Volksaktion (Acciön Popular, vorher: Acciön Nacional) mit der von L. Lucia geführten Regionalen Valencianischen Rechten (Derecha Regional Valenciana) hervor; ihr Vorsitzender war Jose Marfa Gil Robles. Programm: Das im Februar 1933 verkündete Programm entsprach weitgehend dem der bisherigen Volksaktion. Als Interessenvertretung der Oligarchie setzte sich die Partei für die sozialen und ökonomischen Belange der konservativ-wohlhabenden Oberschicht ein; sie berief sich auf die Soziallehre der katholischen Kirche. Vor allem propagierte sie eine konservative, auf Privateigentum basierende Agrarpolitik. Ihre Methoden und der sie charakterisierende "Führer"-Kult ließen sie mitunter als eine faschistische Variante erscheinen, die wohl von E. Dollfuß und dem österreichischen Ständestaatskonzept mitbeeinflußt war. – Die CEDA wurde von der Tageszeitung El Debate publizistisch unterstützt. Geschichte Die bedeutendste der CEDA-Vorläuferorganisationen war die Nationale Aktion (Acciön Nacion4 die 1931 drei Parlamentssitze erhielt. Sie wurde von der Kirche unterstützt und hatte eine straff-zentralisierte Organisation, was (trotz des geringen Wahlerfolges) die spätere Bedeutung der Partei mitbedingte. Seit Oktober 1931 hatte Gil Robles die Führung der Partei inne, die sich von Anfang an für die Interessen der Kirche einsetzte. Die Jugendorganisation Juventudes de Acciön Popular war deutlich faschistisch orientiert, die Gewerkschaftsorganisation Acciön Obrerista lehnte den Klassenkampf ab und fußte auf der katholischen Soziallehre. Die CEDA wurde getragen von den wohlhabenderen Bauern Kastiliens, Leöns und z.T. der Levante, für deren Interessen sie von der Regierung aus wirkte. Auch eine breite bürgerliche Mittelschicht der Provinzhauptstädte unterstützte die Partei. Oligarchen wie I. Villalonga und H. Riesgo gehörten zu ihren Parlamentsabgeordneten. Das Wahlbündnis mit den monarchistischen Gruppen sicherte der Partei einen gewaltigen Erfolg. 1933 erhielt sie 105 (von 474) Parlamentsmandaten. Im Oktober 1934 trat die CEDA als Koalitionspartner der Radikalen Republikanischen Partei in die Regierung der Republik ein; Gil Robles wurde im Mai 1935 Kriegsminister. Zwischen 1934 und 1936 war die CEDA der eigentliche Kern einer Koalition der Monarchisten mit den Rechtsrepublikanern; ihre politische "Leistung" war der systematische Abbau aller Errungenschaften der ersten republikanischen Regierungen. Als die Radikalen durch Finanzskandale stark kompromittiert wurden, schied die CEDA im Dezember 1935 aus der Regierung aus.
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Die Volksfrontwahlen 1936 brachten ihr noch 88 Mandate. Während des Bürgerkrieges fiel sie dem allgemeinen Parteienverbot Francos zum Opfer. n Radikale Republikanische Partei (PRR, Partido Republicano Radical), zuerst gemäßigt-linke, zusehends konservativere, schließlich reaktionäre Mittelstandspartei. Gründung Am 6.1.1908 in Santander durch Alejandro Lerroux. Programm: Die Partei war stark antiklerikal ausgerichtet; in ihren Reihen zählte sie viele Freimaurer; es fehlte ihr ein ausgeprägtes Programm, was sicherlich die deutliche politische Entwicklung von links nach rechts begünstigte. 1918 kam es schließlich zur Entwicklung eines (opportunistischen) Programms, dessen Hauptforderungen Neutralität des Heeres, Sozialreformen (Landreform, Kollektivverträge, Produktionsgenossenschaften), Regionalautonomie und Bildungsreform waren; eine eigentliche politische Programmatik hatte die Partei allerdings auch später nicht. Organisation: Basis der Partei waren die (zur Zeit der Zweiten Republik) 3806 Lokal- und Provinzialkomitees, die das ganze Land umfaßten (besondere Stärke: Valencia, besondere Schwäche: Baskenland). Die Parteiführung (das Exekutivkomitee) wurde auf alljährlichen Versammlungen gewählt; alle vier Jahre stattfindende außerordentliche Parteikongresse sollten anstehende programmatische oder organisatorische Änderungen durchführen. Unbestrittener Parteiführer war stets Lerroux. Geschichte Die Partei entstand als linke Abspaltung von der Republikanischen Union. Anfangs umfaßte der PRR, dessen Schwerpunkt in Katalonien lag, vor allem die nichtkatalanistischen und nicht-anarchosyndikalistischen Republikaner. Stark vertreten waren Händler und Industrielle des liberalen Bürgertums. In Valencia konnte sie Kleinbürger, Gartenbauer und einige wenige Arbeiter organisieren, in Andalusien demgegenüber fast nur Rechtskräfte. Die Partei schloß sich 1916 dem breiten republikanischsozialistischen Bündnis der Opposition (Conjunciön republicano-socialista) an; 1908 wurde Lerroux Mitglied des Direktoriums des Republikanischen Bundes (Federaciön Republicana), eines Zusammenschlusses aller bedeutenden (links-) republikanischen Organisationen, die sich zwar auf ein umfangreiches (opportunistisches) soziales Reformprogramm, nicht jedoch über die Grundzüge des erstrebten politischen Systems einigen konnten. Der Republikanische Bund fiel nach den Wahlen von 1919 wieder auseinander. Während der Diktatur Primo de Riveras mußte die Partei in den Untergrund gehen. 1929 trennte sich M. Domingo von Lerroux und gründete die RadikalSozialistische Republikanische Partei. 1930 unterzeichnete Lerroux den "Pakt von San Sebastiän"; er war auch Minister in der ersten Regierung der Republik, brach jedoch bald mit Azatia. Sehr schnell wurde deutlich, daß die Partei ihre frühere Linksposition nach rechts verschoben hatte. Konnte sie 1931 70 Mandate erringen, so stieg diese Zahl 1933 auf 100 (von insgesamt 474). Als die PRR immer weiter nach rechts abdriftete, löste sich 1934 der linke Parteiflügel unter D. Martfnez Barrio und bildete die RadikalDemokratische Partei (Partido Radical Demöcrata), aus der sich bald die Republikanische Union entwickelte. Bis 1935 war der PRR in der Regierung (Lerroux wiederholt als Regierungschef) vertreten. In dieser Zeit betrieb er eine deutlich reaktionäre, gegen die Reformbestrebungen der ersten zwei Republikjahre gerichtete Politik. Finanz- und Korruptionsskandale schadeten der Partei – neben ihren politischen Mißgriffen – so
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sehr, daß sie 1936 nur noch acht Abgeordnete stellte. Während des Bürgerkrieges fiel sie dem allgemeinen Parteienverbot Francos zum Opfer. n Republikanische Linke (IR, Izquierda Republicana), bürgerlich-liberale Partei der linken Mitte während der Zweiten Republik. Geschichte: Hervorgegangen am 24.3.1934 aus dem Zusammenschluß der Republikanischen Aktion, der Radikal-Sozialistischen Republikanischen Partei und der Galicischen Autonomisten; Führer war Manuel Azafia. Das Programm der Partei lehnte sich eng an die Regierungsarbeit ihres Chefs Azaria an. Es sprach sich für eine Beendigung des Einflusses von Heer und Kirche auf die Staatspolitik, für eine Agrarreform und die Verbesserung der Lage der Arbeiter aus. Den Nationalisten wurden Autonomieangebote unterbreitet. Die monopolistischen Grundstoff- und Energieindustrien sollten verstaatlicht oder zumindest unter Staatskontrolle gestellt werden. — Auf dem Gründungskongreß wurden neben Azaria noch Domingo und Salmerön in den Parteivorstand gewählt. Bei den Volksfrontwahlen von 1936 erhielt die IR 87 Parlamentssitze. In den folgenden Monaten und vor allem während des Bürgerkrieges verlor die Partei weitgehend an Bedeutung, obwohl ihr Führer Azaria Staatspräsident wurde. n Republikanische Union (UR, Uniön Republicana), liberal-bürgerliche Mittelstandspartei während der Zweiten Republik, hervorgegangen am 28.9.1934 aus der Fusion der Radikal-Demokratischen Partei (Partido Radical Demöcrata) von Diego Martfnez Barrio mit einem Flügel der Radikal-Sozialistischen Republikanischen Partei. Vorsitzender wurde Martfnez Barrio. Die Partei vertrat nahezu dasselbe Programm wie die Republikanische Linke; sie war stark laizistisch orientiert. Auf wirtschaftlichem Gebiet erstrebte sie die Nationalisierung des Bodens, der Bergwerke und Eisenbahnen, die jedoch verpachtet werden sollten. Die Arbeiter sollten an der Leitung und den Gewinnen der Betriebe beteiligt werden. Ein Jahr nach ihrer Gründung wies die Partei, deren führende Mitglieder zum großen Teil Freimaurer waren, 205 neue Gruppierungen auf. Sie sprach sich für eine breite LinksAllianz aus. Bei den Volksfrontwahlen von 1936 erhielt sie 39 Parlamentssitze. n Republikanische Aktion (AR, Acciön Republicana), intellektuell-liberale Mittelstandspartei während der Zweiten Republik. Gründung Entstanden am Ende der Diktatur Primo de Riveras im Rahmen der 1926 gegründeten Republikanischen Allianz; zu den Gründungsmitgliedern zählten die Intellektuellen M. Azaria, J. Giral, H. de Castro. Programm: Die Partei setzte sich für Reformen zugunsten der Arbeiterklasse ein; sie anerkannte die Regionalautonomien (vor allem die Kataloniens), plädierte für eine Neustrukturierung des traditionellen Heerwesens, für eine Eindämmung der Macht der Kirche und forderte besonders eine Agrarreform. Geschichte: Die Republikanische Aktion agierte bei ihrer Gründung als selbständige Gruppe im Rahmen der Republikanischen Allianz (Alianza Republicana). Diese war ein lockerer Zusammenschluß aller republikanischen Organisationen mit dem Hauptziel der Errichtung einer Republik. Die verschiedenen Parteien, die die Allianz bildeten, behielten ihre Unabhängigkeit bei. Die Republikanische Aktion verstand sich zuerst als
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eine Bewegung, deren ausschließliches Ziel die Zusammenfassung der republikanischen Gruppen war. Daher entwickelte sie anfangs auch kein eigenes Programm und wählte keinen Vorsitzenden, wenn auch Azafia als Haupt der Organisation anerkannt wurde. Im März 1930 wurde Azaria als Delegierter der "Aktion" bei der "Allianz" bestimmt. Bei den Wahlen zu den Verfassunggebenden Cortes von 1931 erhielt die Partei 27 Mandate. In den ersten Republikjahren war sie in Regierung und Verwaltung stark vertreten, wo sie mit dem gemäßigten Flügel der Sozialisten zusammenarbeitete; ihr politisches Programm entsprach dem der Regierung. Als sie im November 1933 nurmehr fünf Mandate errang, wechselte sie zur Opposition über; 1934 fusionierte sie mit der Radikal-Sozialistischen Republikanischen Partei und den Galicischen Autonomisten zur Republikanischen Linken. n Kommunistische Partei Spaniens (PCE, Partido Comunista de Esparia), in den 1920er und 1930er Jahren bolschewistisch-stalinistische Partei. Gründung Im April 1920 ging in Madrid aus dem Sozialistischen Jugendbund (Federaciön de Juventudes Socialistas) unter Führung von R. Merino Garcia eine Spanische Kommunistische Partei (PCE, Partido Comunista Espafiol) hervor; im April 1921 trat eine Gruppe von Kominternanhängern aus der Spanischen Sozialistischen Arbeiterpartei aus und gründete die Kommunistische Arbeiterpartei (PCO, Partido Comunista Obrero); auf dem III. Kominternkongreß 1922 erfolgte der Zusammenschluß der beiden Parteien zur endgültigen Kommunistischen Partei, der sich auch einige Anarchosyndikalisten anschlossen. Sekretär wurde R. Millä, nach seiner Verhaftung M. Nüriez de Arenas. Programm: Während der Diktatur (1923 bis 1930) und in den ersten Jahren der Republik verfocht der PCE als sektiererische Randerscheinung einen linksextremen Kurs. Angestrebt wurde eine Sowjetrepublik von Arbeitern, Bauern und Soldaten mit dem Ziel der Diktatur des Proletariats. Nach dem VII. Kominternkongreß 1935 mäßigte der PCE sein Programm und forderte nurmehr eine umfangreiche Agrarreform, Regionalautonomie, Amnestie, Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen für Arbeiter. Im Bürgerkrieg (1936-1939) setzten sich die Kommunisten für die Verteidigung der bürgerlichdemokratischen Republik "neuen Typs", das Privateigentum und die parlamentarische Legalität ein. Organisation: Der PCE war stets hierarchisch nach dem Prinzip des demokratischen Zentralismus organisiert. Geschichte: Während der Republik war der PCE bei weitem die schwächste Organisation der Arbeiterbewegung. Ab August 1931 erschien — als neues und bis heute existierendes Parteiorgan — Mundo Obrero (Arbeiterwelt). Das schlechte Abschneiden bei den ersten Parlamentswahlen der Republik (der PCE konnte keinen Sitz erreichen) und heftige interne Debatten führten auf dem 4. Parteitag (Sevilla 1932) zum Ausschluß vieler prominenter Mitglieder, darunter von Generalsekretär Bullejos. Neuer Parteisekretär wurde Jos6 Dfaz, mit dem der PCE — in Anlehnung an die neue Politik der Komintern — die Volksfront-Taktik einschlug. Die etwa 30.000 Mitglieder, die die Partei 1933 hatte, standen in keinem Verhältnis zu ihrer wachsenden Bedeutung für die Industriearbeiter und die linksgerichteten Intellektuellen. Da die Weltwirtschaftskrise Anfang der 1930er Jahre als letzte Krise des Kapitalismus angesehen wurde, agitierte der PCE sofort
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gegen das republikanische System; er wandte sich entschieden gegen die neue parlamentarisch-demokratische Ordnung und – in Übereinstimmung mit der Kominternlinie – gegen die "Sozial-" und "Anarchofaschisten". 1934 gelang ihm die Gründung einer eigenen Gewerkschaftsorganisation, der (nie mehr als 150.000 Mitglieder umfassenden) Confederaciön General del Trabajo Unitaria (CGTU), die sich jedoch neben CNT und UGT nicht behaupten konnte und im November 1935 der UGT anschloß. Der Aufstand der asturischen Bergarbeiter gegen die konservative Regierung (1934) brachte den politischen Höhepunkt in der Geschichte des PCE: In den Straßenkämpfen Asturiens wurde – gegen den Widerstand des PSOE – die Volksfrontpolitik verwirklicht. Die Zahl der PCE-Mitglieder wuchs, von Mundo Obrero wurden über 50.000 Exemplare täglich verkauft. Die Jugendorganisationen des PCE und des PSOE bildeten im April 1936 die Juventud Socialista Unificada (Vereinigte Sozialistische Jugend), deren erster Sekretär Santiago Carrillo wurde. In den letzten Jahren der Republik forderte der PCE zuerst die Einheitsfront mit den Sozialisten, dann den "Volksblock" und schließlich die Volksfront aller "antifaschistischen" Kräfte. Mit Hilfe der Volksfront konnte sich der PCE aus seiner Isolierung befreien, neue Mitglieder gewinnen und 1936 immerhin 17 Delegierte ins Parlament entsenden. Trotz gewisser kommunistischer Erfolge steht jedoch unzweifelhaft fest, daß der PCE am Vorabend des Bürgerkrieges so schwach war, daß er kein Gefahrenmoment für das parlamentarische System der Republik darstellte. Die nationalistische Begründung für den Militäraufstand, man habe einem kommunistischen Umsturz zuvorkommen müssen, erweist sich in historischer Perspektive als durchsichtiger Propagandavorwand. Während des Bürgerkrieges vertrat der PCE eine gemäßigte Politik der Koalition aller antifaschistischen Kräfte und der Verteidigung der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie als notwendige Übergangsphase vor einer sozialistischen Revolution, für die seiner Meinung nach die objektiven Voraussetzungen im spanischen Volk noch nicht gegeben waren. Die wachsende Bedeutung und der immer stärkere Einfluß des PCE auf die Regierung und die Streitkräfte der Republik war auch zweifellos eine Folge seiner praktischen Kontrolle durch die UdSSR. Neben groben Irrtümern und Fehlern (Bekämpfung der trotzkistischen und anarchistischen Gruppen praktisch bis zur Ausrottung, Mißbrauch der von ihm kontrollierten Geheimdienste u. a.m.) sind ihm in dieser schwierigen Zeit auch viele positive und wichtige Beiträge anzurechnen; er war jedenfalls ein Bollwerk gegen die Faschisten. Die Zahl seiner Mitglieder wuchs während des Bürgerkrieges auf eine Viertelmillion, mit den baskischen und katalanischen Kommunisten (PSUC) betrug die Zahl etwa 400.000. Diese dominierende Rolle unter den antifranquistischen Kräften sollte der PCE auch in der Nachkriegszeit behalten. n Arbeiterpartei der marxistischen Vereinigung (POUM, Partido Obrero de Unificaciön Marxista), linkskommunistisch-antistalinistische Arbeiterpartei zur Zeit der Zweiten Republik. Gründung Vor der eigentlichen Parteigründung fanden mehrere Zusammenschlüsse statt: Unstimmigkeiten zwischen der stalinhörigen Parteiführung der Kommunistischen Partei (PCE) und der der katalanischen PCE-Organisation Kommunistischer Bund für Kata-
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lonien und die Balearen (FCCB, Federaciön Comunista Catalano-Balear) unter Joaqufn Maurin führten zur PCE-Spaltung. Maurin schloß sich mit seiner Gruppe einer kleineren Organisation, der 1928 gegründeten Katalanischen Kommunistischen Partei (PCC, Partit Comunista Catalal an, die einen katalanistischen Kurs vertrat; aus dieser Fusion ging 1930 der Arbeiter- und Bauernblock (BOC, Bloc Obrer i Camperol) hervor. Parallel zum BOC bildete sich als weitere kommunistische Organisation die von Andreu Nin geführte, eng an Trockij angelehnte Kommunistische Linksopposition (Oposiciön Comunista de Izquierda oder Izquierda Comunista) heraus, die sich im September 1935 mit dem BOC zum POUM zusammenschloß. Parteiführer waren A. Nin und J. Maurin. Programm: Der POUM erstrebte zu Beginn des Bürgerkrieges (1936) eine sofortige "demokratisch-sozialistische Revolution" mit dem Ziel der Diktatur des Proletariats. Er lehnte die Volksfront entschieden ab, da diese den Klassencharakter des Staates verschleiere. Die Position des POUM konzentrierte sich auf die Alternative: Faschismus-Sozialismus. Um den drohenden Faschismus zu verhindern, sei ein bewaffneter Aufstand erforderlich, der von Arbeitern und Bauern gemeinsam unter der Führung einer revolutionärmarxistischen Einheitspartei durchgeführt werden müsse. Organisation: Die Partei dürfte kaum jemals mehr als 3.000 Mitglieder, die vor allem in Katalonien lokalisiert waren, gehabt haben. Sie war nach dem Prinzip des demokratischen Zentralismus aufgebaut. – Ihr Zentralorgan war die Tageszeitung La Batalla. Geschichte. Die Partei, die ihren Einflußbereich kaum über Katalonien ausdehnen konnte, wurde sofort nach ihrer Gründung von ihren stalinistischen Feinden beschuldigt, eine Agentur Trockijs zu sein. Der POUM gehörte jedoch der IV. Internationale nicht an. Bei den Februarwahlen von 1936 erreichte die Partei nur ein Abgeordnetenmandat. Sie wurde von Anfang an, besonders jedoch seit Beginn des Bürgerkrieges, von der Kommunistischen Partei verfolgt. Den Stalinisten gelang zwar kein Schauprozeß Moskauer Art, sie konnten jedoch den POUM aus allen Entscheidungsstellen (u. a. aus der Regionalregierung Kataloniens) verdrängen, die bedeutendsten Parteiführer verhaften oder ermorden und bis Herbst 1937 das Ende des POUM herbeiführen. n Vereinigte Sozialistische Partei Kataloniens (PSUC, Partit Socialista Unificat de Catalunya); während des Bürgerkrieges orthodox-stalinistische Regionalpartei. Gründung Am 25.7.1936 als Zusammenschluß der Kommunistischen Partei Kataloniens (PCC, Partit Comunista de Catalunya), der Katalanischen Proletarischen Partei (PCP, Partit Catalä Proletan) sowie der Sozialistischen Union Kataloniens (USC, Uniö Socialista de Catalunya) und der Katalanischen Regionalsektion der Sozialistischen Partei (Federaciön Catalana del PSO/). Programm: Die Partei verstand sich als Regionalorganisation der Kommunistischen Partei Spaniens (PCE), mit deren Programm das ihrige im wesentlichen übereinstimmte. Geschichte. Sofort nach ihrer Gründung geriet die Partei unter kommunistische Dominanz und trat der Komintern bei. Generalsekretär wurde Joan Comorera. Trotz größter Anstrengungen gelang es dem PSUC – der in Katalonien allerdings die sozialistische Gewerkschaft Uniön General de Trabajadores kontrollieren konnte – nicht, größere Arbeitermassen zu organisieren. Ihr Hauptkontingent rekrutierte sie aus der sicher-
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heitsbewußten und eigentumsorientierten Kleinbürgerschicht. Während des Bürgerkrieges war die Partei wiederholt in der katalanischen Regionalregierung vertreten. Mitte Juli 1937 soll sie bereits 70.000 Mitglieder gehabt haben. n Republikanische Linke Kataloniens (ERC, Esquerra Republicana de Catalunya), klein- und mittelbürgerliche, autonomistische Mehrheits- und Regierungspartei Kataloniens während der Zweiten Republik. Gründung Hervorgegangen aus dem Verbindungskomitee dreier republikanischer Parteien (Partit Republicä Catalä, Gruppe L'Opiniö, Estat Catalä), erfolgte die Gründung am 17.-19.3.1931. Die Führer der Partei wurden E Maciä, J. Aguaci, J. Lluhf Vallescä, L. Companys. Programm: Die Statuten von 1931 gaben als Parteiziele an: nationale Persönlichkeit Kataloniens, Föderation mit den übrigen iberischen Völkern, Menschen- und Bürgerrechte, Sozialisierung des Reichtums zugunsten der Allgemeinheit. Geschichte. Bei ihrer Gründung durch Zusammenschluß 1931 hatte die Partei knapp 17.000, im Juni 1931 bereits 45.000 Mitglieder. Von Anfang an übernahm sie die Führung im politischen Leben Kataloniens. In die Madrider Cortes entsandte die Partei 1931: 34, 1933: 22 und 1936: 36 Abgeordnete Bei ihrem II. Nationalkongreß 1933 hatte sie bereits über 68.000 in 482 Einheiten organisierte Mitglieder. Die ERC stellte 1932 auch die erste autonome Regierung Kataloniens (Regierungschef: Maciä). Von 1933 bis 1936 löste sich ein Flügel und bildete vorübergehend eine eigene republikanisch-nationalistische Linkspartei (Partit Nacionalista Republicä d'Esquerra). Nach Maciäs Tod wurde Companys Vorsitzender der autonomen Regionalregierung (Generalitat). Der fehlgeschlagene Aufstand vom Oktober 1934 brachte die führenden Esquerra-Politiker ins Gefängnis. In enger Verbindung zur Partei stand der mächtige regionale Pächterverband Uniö de Rabassaires, zu dessen Gunsten die Partei 1934 eine regionale Pachtreform durchführen wollte. Nach dem Oktoberaufstand von 1934, in dessen Verlauf es zur Ausrufung des "Katalanischen Staates in der Spanischen Bundesrepublik" kam, wurde Companys bis zu den Volksfrontwahlen von 1936 inhaftiert. Die ERC stellte bis Ende des Bürgerkrieges den katalanischen Regierungschef bzw. den "Präsidenten von Katalonien ". — Wichtige publizistische Organe waren La Humanitat und L'Opiniö (Barcelona). Nach dem Bürgerkrieg wurde die Partei völlig zerschlagen; ihre Führer mußten emigrieren. n Baskische Nationalistische Partei (PNV, Partido Nacionalista Vasco), christlichdemokratische autonomistisch-(separatistische) Mitte-Rechts-Partei. Gründung Am 31.7.1895 durch Sabino Arana. Programm: Der anfängliche Wahlspruch der Partei lautete: "Gott und alte Gesetze" (Jaunkoikua eta lagi-zarra); die katholisch-traditionalistische Organisation trat in ihrem Programm von 1906 für die Wiedereinführung der baskischen Sonderrechte (fueros) und somit für die Abschaffung der Gesetzgebung von 1789 (für die französischen Provinzen) und von 1839 (für die spanischen Provinzen) ein, distanzierte sich jedoch von den Karlisten. Weitere Programmpunkte der anfangs rassisch orientierten Partei waren Kulturautonomie, Freiwilligenheer, Steuerhoheit, Verteidigung der katholischen Kirche,
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Verbesserung der Lage der Arbeiter; die ursprüngliche Forderung nach Selbständigkeit des Baskenlandes wurde zugunsten einer umfassenden Autonomie und "Baskisierung" der Gesellschaft aufgegeben. Der PNV war vor allem eine bürgerlich-mittelständische Partei. Die früheren konservativ-nationalistischen, z.T. rassistischen Tendenzen der Partei haben nach dem Bürgerkrieg von 1936-1939 stark an Terrain verloren gegenüber den sozialpolitisch progressiveren nationalistisch-gemäßigten Strömungen. Organisation: Anfangs stand an der Spitze der Partei ein politisches Direktorium, das Bizkai-Buru-Batzar, das bald in den Untergrund mußte; seine Mitglieder wurden kooptiert. Nach Aranas Tod wurden 1903 A. Zabala und 1908 L. de Arana Parteivorsitzende ("Generaldelegierte"). Eine nennenswerte Parteiorganisation entwickelte sich erst ab 1904 mit der Bildung von Kommunalgremien (Kodifizierung der Organisation in den Statuten von 1906). Danach wählte die aus Lokaldelegierten zusammengesetzte Regionale Versammlung das bedeutsamste Gremium der Partei, den Regionalrat, der umfassende exekutive Befugnisse hatte (Ein- und Absetzung kommunaler Juntas und Kommissionen). Der formal wichtigere "Generalrat" der Partei hatte in der Praxis weniger Macht. Die Organisationsreform von 1920 nahm dem Regionalrat seine wichtigsten Befugnisse zugunsten einer Machtzentralisierung in Händen des Generalrats und einer Demokratisierung der Parteistruktur (Wahl der kommunalen Juntas). Bedingung für die Parteimitgliedschaft war baskische Abstammung. Die Partei blieb auch nach 1920 hierarchisch strukturiert; von allen Mitgliedern wurde strikte Parteidisziplin verlangt. — 1911 gründete die Partei ihre eigene, reformistisch-christliche Gewerkschaft (Solidarität baskischer Arbeiter, SOV, Solidaridad de obreros vascos, seit 1933: STV, Solidaridad de trabajadores vascos). — 1931 gab sich die Partei eine neue demokratische Struktur, nach der die oberen legislativen Instanzen (Regional- und Nationalversammlung) ihre Kompetenzen von den unteren erhielten, die Exekutivgremien (Kommunal-, Regional- und Nationalräte) von unten nach oben aufgebaut waren und der Parteipräsident in allgemeiner, direkter und geheimer Wahl für vier Jahre gewählt wurde. — Ende des 19. Jahrhunderts unterhielt die Partei mehrere Zeitungen: Baserritarra, Correo Vasco, La Patria, Euzkadi. Geschichte. Seit 1897 übte die Partei eine starke propagandistische (Zeitungsgründungen) und organisatorische (Einrichtung sog. "baskischer Zentren") Aktivität aus; 1913 (offiziell 1916) benannte sie sich in Baskisch-Nationalistische Gemeinschaft (CNV, Comuniön Nacionalista Vasca) um. In den Rathäusern Vizcayas und Guipüzcoas war sie stark vertreten. Im Anschluß an die Verkündigung des Selbstbestimmungsrechts der Völker durch US-Präsident Woodrow Wilson nahmen die vor allem von der Jugendorganisation der Partei verfolgten separatistischen Bestrebungen gegen Ende des I. Weltkrieges deutlich zu, bis es 1921 zum Bruch zwischen dem "autonomistischen" und dem "separatistischen" Flügel kam. Letzterer legte sich wieder den alten Parteinamen (PNV) zu. Wiedervereinigungsgespräche scheiterten und konnten erst nach der Diktatur Primo de Riveras erneut aufgenommen werden. Am 16.11.1930 kam es in Vergara zur Fusion der beiden Flügel; allerdings spaltete sich einige Tage später die Nationalistische Baskische Aktion (ANV, Acciön Nacionalista Vasca) ab. In den Cortes trat die Partei von Anfang an für ein baskisches Autonomiestatut und die Verteidigung der Kirche ein. — In den ersten beiden Republikjahren arbeitete sie mit den Karlisten zusammen; dann
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wandte sie sich mehr der Republikanischen Linken Kataloniens zu. Bei den Wahlen von 1931 errang sie zwölf, im Jahr 1933 abermals zwölf und 1936 noch acht Parlamentsmandate. Während des Bürgerkrieges war sie zeitweise in der republikanischen Regierung vertreten. Nach Verabschiedung des baskischen Autonomiestatuts stellte sie ab Oktober 1936 die baskische Regierung (Vorsitz: J.A. Aguirre).
3. "Einheitsparteien" in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts Spanien erlebte im 20. Jahrhundert zwei Diktaturen: die von Miguel Primo de Rivera (1923-1930) und die von Francisco Franco (1939-1975). In beiden Fällen wurde das parlamentarische Leben beendet, an die Stelle der politischen Parteien traten "Einheitsparteien", an die Stelle des Parlaments eine Art Ständekammer. a) Die Diktatur von Miguel Primo de Rivera (1923-1930) Sofort nach seiner Machtübernahme beendete Primo de Rivera die "alte" Politik. Er löste das Parlament und die Stadtverwaltungen auf, setzte neue Bürgermeister ein, versuchte eine Beendigung des Kazikentums auf dem Lande, erlegte der Tagespresse eine Vorzensur auf und gründete eine eigene, offiziöse Zeitung (La Naciön). Bis 1926 wurde die Exekutive von einem Militärdirektorium gestellt, danach traten an dessen Stelle technokratische Zivilisten. Um dem Regime insgesamt einen "zivileren" Anschein zu geben, gründete Primo de Rivera nach der faktischen Ausschaltung aller politischen Parteien 1924 mit der "Patriotischen Union" ( Uniön Patriötica) eine Einheits- und Regierungspartei, deren einziger Zweck in der Legitimation seiner Politik bestehen sollte. Der Partei traten zwar bürgerlich-opportunistische Kräfte bei, sie hatte jedoch nie Massenzulauf. Zum Partei-Ideologen wurde Jos Maria Pemän, der während des Bürgerkrieges von 1936 die franquistische Position vertrat und später vorübergehend Kultusminister wurde. 1927 proklamierte Primo de Rivera als Parteislogan: "Spanien — einzig, groß und unteilbar" (Esparia, una, Brande e indivisible). Sein Sohn Jos6 Antonio fügte später noch "frei" als Grundsatz des spanischen Faschismus hinzu. Die "Patriotische Union" sollte zu allen Wahlen geeignete Kandidaten aufstellen. Auf kommunaler Ebene wurden jedoch während der gesamten Diktatur die Stadträte eingesetzt und nicht gewählt, und die "Wahlen" zu dem Scheinparlament, der Asamblea Nacional, blieben eine pseudodemokratische Farce. Die einzige "Leistung" der Partei bestand in der Organisation der Volksabstimmungen, die mit jeweils überwältigender Mehrheit die Regierungspolitik guthießen. Die "Patriotische Union" war zugleich ein radikaler Bruch mit der parlamentarischen — der "zivilisierten" — Rechten. Sie propagierte eine spanische Variante des "Führerprinzips" und das Dogma "Spanien über alles". Die Monarchie trat als verteidigungswertes Gut an die zweite Stelle. Der Diktator bezeichnete als höchste Werte, ohne die die spanische Gesellschaft nicht überleben könne, den religiösen Geist, die nationale Einheit, die Familienstruktur und einen tiefen Respekt vor der Autorität. Die Uniön Patriötica war für ihn keineswegs eine traditionelle monarchische Partei, sondern eine "nationale Bewegung", die
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einen tiefen Glauben an das Schicksal Spaniens sowie an die Größe der iberischen Rasse zum Ausdruck brachte. Die dynastischen Parteien durchliefen nach 1923 einen schnellen Auflösungsprozeß. Viele ihrer führenden Mitglieder liefen zu republikanischen Parteien oder zur Uniön Patriötica über. Diejenigen, die eine klare Gegnerschaft zur Diktatur bezogen, wurden verfolgt, ihrer Ämter enthoben oder verbannt. Auch die katalanische Lliga erlitt dieses Schicksal. Von den alten Parteien konnte Alfons XIII. nach Beendigung der Diktatur nicht die Rettung seiner Krone und der liberal-konstitutionellen Monarchie erwarten. Die republikanischen Parteien wiederum erfreuten sich eines regen Zuspruchs, vor allem aus den Reihen der früheren Liberalen und Reformistischen Partei. 1926 wurde die "Republikanische Allianz" (Alianza Republicana) gegründet, die angeblich 100.000 Mitglieder hatte. 1929 begannen Marcelino Domingo und Alvaro de Albornoz mit der Organisierung der "Radikalsozialistischen Republikanischen Partei" (Partido Republicano Radical Socialista). Als die Diktatur 1930 Schiffbruch erlitt, war die "zivilisierte" Rechte völlig zerstört. In den Folgejahren wurde sie durch eine aggressive und antidemokratische Rechte ersetzt, deren Grundlagen zu einem nicht geringen Teil auf die Uniön Patriötica zurückgingen. Man hat den Institutionalisierungsprozeß Mitte der 20er Jahre als den Versuch gedeutet, die vorläufig-bonapartistische in eine institutionalisierte "Notabelndiktatur" zu verwandeln. Insgesamt gilt die Diktatur als eine "Übergangsetappe", in der viele ältere politische Bewegungen in Frage gestellt wurden, ein Versuch erfolgte, den institutionellen Korporativismus einzuführen, und, zumindest teilweise, die Voraussetzungen des konservativen Restaurationsstaates liquidiert wurden. Ideologisch konnte Primo de Rivera auf ältere "Modelle" der Rechten zurückgreifen, die zur doktrinären Grundlage seines Regimes wurden: auf den Traditionalismus mit seinen korporativen und antiliberalen Konzepten, auf den Sozialkatholizismus mit seinem Versuch, eine Verankerung in breiten Bevölkerungsschichten zu erreichen, auf den Konservativismus "mauristischer" Prägung. Primo de Riveras "Revolution", so nannte der Diktator seine Machtergreifung, wollte den alten regenerationistischen Begriffen der "nationalen und patriotischen Revolution von oben", wie sie von Costa bis Maura verkündet worden waren, Gestalt verleihen: Spanien sollte "erneuert" werden. Lange Zeit wollten Primo de Rivera und die ihn unterstützenden Kräfte der Rechten keinen "neuen Staat" errichten; sie gingen davon aus, daß sie nach geleisteter "Erneuerungsarbeit" sehr bald wieder von der politischen Bühne abtreten würden. Morodo sieht aufgrund der Klassenkonstellation wie infolge der Mechanismen, Plebiszit oder Identifizierung des "Chefs" mit dem "Volk", den Staatsstreich durch die Elemente des "Regenerationismus und Bonapartismus" charakterisiert. Der Regenerationismus äußerte sich im "residualen Liberalismus", auch wenn dieser autoritär auftrat; der Bonapartismus manifestierte sich in der besonderen Art des Gleichgewichts zwischen den sozialen Klassen, in der modernen Form der Massenmanipulation, im organizistischen Populismus und im soziopolitischen Paternalismus. Die Diktatur Prima de Riveras bedeutete, so gesehen, die Institutionalisierung des Regenerationismus mit bonapartistischen Techniken. b) Die Diktatur von Francisco Franco (1939-1975) Nach dem Bürgerkrieg verstand es der Diktator bei seiner Machtausübung meisterhaft, die verschiedenen Gruppierungen und sozialen Kräfte gegeneinander auszuspielen und für
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seine eigenen Interessen einzusetzen. In der faschistischen Frühphase des Regimes, während des Bürgerkrieges und der "blauen Periode" der ersten Nachkriegsjahre, stützte er sich vor allem auf die Einheitspartei Falange, die nach 1939 sehr schnell ihre ursprünglich nationalsyndikalistisch-sozialrevolutionäre Orientierung einbüßte. Im Krieg waren über 60 % der "Althemden" gefallen, massiver Zustrom ließ nach 1939 die Ausrichtung der einzig zugelassenen Partei weitgehend diffus erscheinen. Sie entwickelte sich zu einer amorphen, hochbürokratisierten Institution, die nur wenig Chancen für eine wirkliche Partizipation der Bevölkerung bot; Mobilisierungsfunktionen konnte sie kaum wahrnehmen. In den Weltkriegsjahren entwickelte die Falange eine Art "Opposition" gegenüber Franco; die verschiedenen Interessengruppen innerhalb der heterogenen Staatspartei hatten für die eine oder andere der kriegführenden Mächte Sympathien. Vor allem die noch lebenden "alten Kämpfer" kritisierten den innenpolitisch reaktionären und außenpolitisch "neutralen" bzw. (ab Juni 1940) "nicht-kriegführenden" Kurs Francos und suchten nach Mitteln, die "verbotene" Revolution nachzuholen – ein Unterfangen, das ihnen in keiner Weise gelang. Als eigentliche Machtdomäne blieb der Falange schließlich nur noch ein Bereich: der Staatssyndikalismus. Seit Beginn des Bürgerkrieges waren die Falangisten bemüht gewesen, das für den "Neuen Staat" geplante Einheitssyndikat ideologisch und organisatorisch unter ihre Leitung zu bringen. Sie konnten mit Recht darauf verweisen, daß das Konzept des "vertikalen" Syndikats schon lange vor dem Bürgerkrieg von ihrem Führer Jose Antonio Primo de Rivera entwickelt worden war. Die Rolle, die die Syndikate in dem erstrebten nationalsyndikalistischen Staat spielen sollten, war im Falange-Programm von 1937 niedergelegt. Der Klassenkampf und damit die Spaltung der Gesellschaft sollten überwunden, alle im Produktionsprozeß stehenden Arbeiter und Unternehmer in einer Organisation und einer vom Staat gesetzten Ordnung zusammengefaßt werden. Autonome Rechte wurden den Syndikaten nicht zugestanden. Diese sollten vielmehr von (bisher) freien Gesellschaftsverbänden zu kontrollierten und gleichgeschalteten Lenkungsorganen im Dienste des Staates werden. Trotz der Beschränkung der Falange auf den Syndikatsbereich und ihrer allmählichen Entmachtung in den 40er und 50er Jahren war der falangistische Beitrag zu Ideologie und Aufbau des "Neuen Staates" entscheidend. Viele Grundsätze fanden (direkt oder indirekt) Eingang in die Grundgesetze des Franquismus. Dies gilt vor allem für das Arbeitsrecht; aber auch die Ablehnung jeder Form von Separatismus und politischer Parteien, die Betonung der "natürlichen Einheiten" Familie, Gemeinde und Syndikat und die Hervorhebung des Katholizismus waren Staatsprinzipien falangistischen Ursprungs. Machtpolitisch wurde die Staatspartei allerdings Zug um Zug ausgeschaltet: Der Anteil der Falangisten an öffentlichen Ämtern ging ständig zurück; die Stellung der Falange zum Staat war nicht definiert; innere Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Flügeln führten zur weiteren Schwächung der Partei. Die Regierungswechsel von 1957 und 1969 erschütterten den Einfluß der Falangisten nachhaltig. Hand in Hand mit dieser Entmachtung ging die rechtliche Auslöschung des alten Namens Falange, nach 1958 war in offiziellen Texten des Staates nur noch von der "Nationalen Bewegung" die Rede. Historisch betrachtet, war die Falange vor allem ein innenpolitisches Instrument Francos – in einer ausgesprochen prekären Phase des Systems – zur Absicherung seiner Herrschaft
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durch Ausbalancieren einander bekämpfender politischer Gruppen. Mit den sozialistischen Elementen ihrer Ideologie diente die Falange als Gegengewicht gegen die traditionelle Rechte, mit ihrem Anti-Monarchismus als Gegengewicht gegen die Monarchisten verschiedener Prägung im Lager Francos. Als sie zur Erfüllung ihrer Stabilisierungsaufgabe in den 50er und 60er Jahren nicht mehr benötigt wurde, sank ihre Macht. Der Einfluß, den sie weiterhin behielt, war vor allem auf das weite Propagandanetz der Organisation (Presse, Rundfunk) und auf ihre korporative Vertretung in den Cortes zurückzuführen.
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Parteien in der Demokratie (seit 1977)
Einführung. Das spanische Parteienspektrum der Demokratie weist im Vergleich zu ande-
ren westeuropäischen Ländern einige Besonderheiten auf, die teils mit der historischen "Sonderentwicklung", d.h. einer späten und vergleichsweise geringen Modernisierung des Landes – vor allem während des 19. und 20. Jahrhunderts –, teils mit dem spezifischen Charakter des Übergangs zur Demokratie in Zusammenhang stehen. Die systematische Verfolgung jeder Opposition unter dem Franquismus bewirkte, daß die Linksparteien ihren Organisationsapparat ins Exil, vor allem nach Frankreich und Mexiko, verlagerten. In den Jahrzehnten des Exils kam es zu Desintegration-, Zersplitterungs- und Abspaltungstendenzen; bei mehreren Parteien bildeten sich "Exilflügel" und Parteigruppen "im Landesinneren". Noch zu Lebzeiten Francos durften (seit 1974) nach dem "Gesetz über politische Assoziationen" Parteisurrogate entstehen, d.h. politische Vereinigungen im Schoß der Nationalen Bewegung, die aber vor und nach ihrer Legalisierung strenger Kontrolle durch die Bewegung unterworfen wurden. Es konnten nur regimetreue Assoziationen entstehen, von denen sich die eigentliche illegale Opposition distanzierte. Mit Francos Tod (1975) sanken diese Asociaciones in die Bedeutungslosigkeit. Die entscheidende Zäsur erfolgte im Dezember 1976 mit dem "Gesetz für die politische Reform", das ein Wahlsystem, Parteien und parlamentarische Institutionen nach liberal-demokratischem Muster vorsah. Von Mitte 1976 bis Mitte 1977 entstanden ca. 260 Parteien; 194 davon stellten ca. 6.000 Kandidaten für die ersten freien Parlamentswahlen nach 40 Jahren (Juni 1977), die einen entscheidenden Strukturierungseffekt auf das heterogene Parteiensystem ausübten und nur wenige Parteien ins Parlament einziehen ließen. Die Demokratie brachte auch einen erneuten Aufschwung des Regionalismus und die Wiederbelebung bzw. Neugründung zahlreicher Regionalparteien, vor allem in Katalonien und im Baskenland, deren Entstehung die Angst vor kultureller Überfremdung und die desolate wirtschaftliche Lage begünstigten. Wie früher, so spielt auch heute in der wiedergewonnenen Demokratie das Wahlrecht im Hinblick auf seine mehrheitsbildende Funktion eine große Rolle: Der Kongreß wird nach einem eingeschränkten proportionalen System gewählt, der Senat nach einem reinen Mehrheitswahlrecht zusammengestellt. Bei der Sitzverteilung für den Kongreß wurden die volksarmen ländlichen (und zumeist konservativeren) Provinzen eindeutig bevorzugt. Das Wahlsystem bewirkt eine starke Verzerrung des Wähler- und Mandatsanteils der Parteien im Kongreß.
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V Parteien, Parteiensysteme und Parteiengeschichten
Eine formale Klassifizierung der Parteien, die sich durch das Legalisierungsdekret vom Februar 1977 nach ca. vier Jahrzehnten wieder formieren konnten, fördert einige Spezifika zutage. Die Parteien lassen sich einteilen in: erstens solche, die bereits vor der franquistischen Machtübernahme existiert haben (vor allem der sozialdemokratische PSOE und der kommunistische PCE); zweitens solche, die während des Franco-Regimes entstanden, aber größtenteils wieder verschwanden (hierzu zählen z.B. der vom späteren Madrider Bürgermeister Enrique Tierno Galvän ins Leben gerufene Partido Socialista en el Interior, aus dem der Partido Socialista Popular hervorging, der sich 1977 wiederum in den PSOE integrierte); drittens schließlich solche Parteien, die — von ehemaligen Franco-Ministern und Movimiento-Funktionären ("Nationale Bewegung") gegründet — nach 1975 entstanden, u. a. die rechtskonservative Alianza Popular (Partido Popular) und die konservative Sammlungsbewegung Uniön de Centro Democrätico des ersten Ministerpräsidenten der NachFranco-Zeit, Adolfo Suärez. Außer einigen Regionalparteien, wie dem baskischen PNV und der Esquerra Republicana in Katalonien, knüpften auf gesamtspanischer Ebene lediglich PSOE und PCE mit einigem Erfolg an ihre Existenz, weniger an ihre politischen Traditionen, der Vor-Bürgerkriegsära an. Andere politische Strömungen jener Jahre verschwanden dagegen fast völlig, wie die republikanischen und christdemokratischen Parteien (z.B. die einflußreiche CEDA, Confederaciön Espafiola de Derechas Autönomas). Die Hauptursachen dieser Entwicklung liegen zum einen in dem tiefgreifenden sozialen Wandel der 1960er und 1970er Jahre, der Spanien in "Rekordzeit" von einem Agrarland in ein Industrie- und Dienstleistungsland verwandelte und dadurch auch die Zusammensetzung des herrschenden franquistischen Blocks nachhaltig veränderte; zum anderen in einem Phänomen, das zahlreiche Autoren als "Bürgerkriegstrauma" oder "selektives Bewußtsein" beschreiben, und das offensichtlich erheblich dazu beitrug, daß politische Formationen mit gesamtspanischem Radius aus den 30er Jahren, wie Kommunisten, Republikaner, aber auch Falangisten, aufgrund ihrer Verknüpfung mit der jüngsten Vergangenheit verschwanden bzw. nur geringes wahlpolitisches Gewicht erhielten. Der Aufstieg des PSOE in der Wählergunst und die hohen Verluste des PCE können diese These (wenngleich auch andere Gründe dafür maßgeblich sind) illustrieren: Während letzterem trotz oder wegen seines starken antifranquistischen Engagements das "Bürgerkriegsstigma" weiterhin anhaftete, spielte der PSOE in den Reihen der antifranquistischen Opposition allenfalls eine marginale Rolle und verschaffte sich durch den Führungswechsel Anfang der 1970er Jahre ein neues, weniger historisch "belastetes" Image. Von großer Bedeutung für die Entwicklung der spanischen Parteienlandschaft war der besondere Charakter des Demokratisierungsprozesses, der trotz erheblichen Drucks von der Basis im wesentlichen aus dem Regime selbst heraus lanciert wurde. Diese Konstellation wurde infolge der Schwäche der demokratischen (vor allem der linken) Parteien in Theorie und Programmatik von diesen weitgehend übersehen. Der von den Oppositionsparteien ursprünglich geforderte demokratische Bruch mit dem alten Regime und die Einsetzung einer Übergangsregierung unter Beteiligung aller demokratischen Kräfte fand nicht statt, der Übergang wurde ausgehandelt (ruptura pactada). Prägend für die Parteienentwicklung, speziell was die christdemokratischen Strömungen betrifft, war, daß die Kirche entsprechende Gründungsversuche nicht unterstützte. Weitere
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Faktoren waren die (recht ungleiche) finanzielle Förderung durch internationale Schwesterorganisationen, kombiniert mit dem Export von politischem Know-how (etwa der politische Einfluß der französischen Sozialisten und der deutschen Sozialdemokraten auf den PSOE); die relative Toleranz, mit der die Sozialisten — aus Furcht vor dem PCE — in der Spätphase des Franquismus und der ersten Zeit der transiciön operieren konnten, die zögernde Legalisierung von Republikanern und radikaler Linker sowie das Stimmen- und Mandatsmehrheiten stark verzerrende Territorialprinzip des Wahlsystems, das die (eher konservativen) Landregionen gegenüber den (eher linksorientierten) Städten eindeutig in Vorteil brachte: so entfiel bei den Wahlen von 1977 in der Provinz Soria ein Mandat auf 33.500 Einwohner, in Madrid hingegen auf 141.200, bei einem Mittelwert von ca. 100.000 Stimmen. Während für die ersten Jahre der transiciön eine gewisse Euphorie kennzeichnend war, fällt für die Jahre danach der extrem geringe Organisationsgrad auf, und zwar in zwei komplementären Facetten: rapider Rückgang der Parteimitglieder und Abnahme der eigentlichen politischen Aktivitäten der verbleibenden Mitglieder. Von der politischen Arbeiterbewegungskultur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die gerade auch in Spanien eine ausgeprägt edukativ-kulturelle Funktion besaß, sind heute kaum mehr Reste vorhanden. Hinzu kommt die starke Bürokratisierung und Hierarchisierung der Parteiapparate, mit einem extremen Hang zur Personalisierung. Außergewöhnlich ist auch die Zersplitterung des spanischen Parteienspektrums: Im offiziellen Register waren 1988 nicht weniger als 506 politische Parteien und Organisationen (203 gesamtstaatliche, 303 regionale und lokale) eingeschrieben. Von Interesse ist die Finanzierung der Parteien: Von den 62 Millionen €, die der PP 2002 einnahm, stammten 14% von Parteimitgliedschaften, rund 79% aus gesetzlich festgelegten, staatlichen Zuschüssen und 5 % aus Spenden. Im gleichen Zeitraum nahm der PSOE 54,5 Millionen € ein, von denen 17% aus Parteimitgliedschaften, 62% aus staatlichen Zuschüssen, 1,1 % aus Spenden und 20% aus "anderen" Quellen stammten. Den höchsten Anteil an Spenden haben die regionalistischen Parteien: Uniö Democrätica de Catalunya bestreitet über 51 % ihres Budgets aus Spenden, ConvergMcia Democrätica 26%, der PNV knapp 24%. n Union des Demokratischen Zentrums (UCD, Uniön de Centro Democrätico), Zusammenschluß von insgesamt zwölf Parteien und Gruppen der (rechten) Mitte um den von 1976 bis Februar 1981 amtierenden Regierungschef Adolfo Suärez; zuerst Wahlbündnis, dann Parlamentsfraktion und Regierungspartei; sie verstand sich selbst als "demokratische, interklassistische und reformistische" Partei, die alle Teile Spaniens umfaßte. Gründung Die UCD konstituierte sich am 6.5.1977 als Wahlbündnis von zwölf Gruppen unter der Führung von Suärez; im neugewählten Parlament bildete sie nach Juni 1977 eine Parlamentsfraktion, im November 1977 lösten sich die einzelnen Gruppen und Parteien innerhalb der UCD auf, im Oktober 1978 fand der eigentliche Gründungskongreß statt. Programm: Die ideologische Heterogenität der UCD-Mitglieder erschwerte die Erarbeitung eines kohärenten Programms. Im wirtschaftlichen Teil ihrer "programmatischen Prinzipien" vertrat sie eine soziale Marktwirtschaft (Verhinderung von Monopolbetrieben, Schutz kleiner und mittlerer Betriebe); ihre ethische Grundlage war der "christliche
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V Parteien, Parteiensysteme und Parteiengeschichten
Humanismus" mit den Grundwerten Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Ihr Minimalprogramm umfaßte Verteidigung der parlamentarischen Demokratie, parlamentarische Monarchie, Wahrung der Einheit Spaniens bei Gewährung von Autonomiestatuten für alle Regionen. Die Partei vertrat die Interessen der mittleren und oberen Mittelschicht und von Industriekreisen; im Parteienspektrum war sie rechts von der Mitte anzusiedeln. Das programmatische Documento ideolögico de UCD von Januar 1978 wurde auf dem 1. Parteikongreß im Oktober 1978 als Parteiprogramm unter der Bezeichnung Principios ideolögicos y modelo de sociedad de UCD verabschiedet. Danach trat die UCD für einen sozialen Rechtsstaat westeuropäischer Prägung ein, der unitarisch, jedoch dezentralisiert (bei Anerkennung der Regionen) strukturiert sein sollte. Außenpolitisch verfocht die Partei eine dreifache Orientierung nach dem Westen, Iberoamerika und dem Mittelmeerraum. Auf dem Sektor der Wirtschafts- und Sozialpolitik propagierte sie im Rahmen einer Stabilitäts- und antiinflationistischen Politik die Vollbeschäftigung; um dieses Ziel zu erreichen, sollten investitionsfreudigen Betrieben steuerliche Vergünstigungen gewährt werden. Die Steuerreform als Mittel der wirtschaftlichen Sanierung sollte verstärkt vorangetrieben werden. Außenwirtschaftliches Ziel war der Ausgleich der Handelsbilanz und die Eindämmung der Kapitalflucht. Auf dem Bildungssektor forderte die UCD die unentgeltliche Schulpflicht bis zum Alter von 16 Jahren sowie die universitäre "Autonomie". Familienpolitisch trat sie mehrheitlich (trotz heftiger interner Auseinandersetzungen) für die Möglichkeit der Scheidung ein; sie war entschieden gegen die Legalisierung der Abtreibung. Organisation: Hervorgegangen aus einem Wahlbündnis und einer gemeinsamen Parlamentsfraktion, konsolidierte sich die Partei erst im Laufe des Jahres 1978. Die vorläufige Parteiexekutive bestand aus einem Exekutivrat (acht Mitglieder) und einem Exekutivkomitee (49 Mitglieder), denen der Parteipräsident vorstand. Im Mai 1978 wurde Rafael Arias Salgado Koordinationssekretär des neuen Exekutivkomitees. Die Partei, die über einige Tausend qualifizierter Kader verfügte, wurde durch den Regierungs- und Verwaltungsapparat unterstützt. Sie hatte viele Anhänger in der Wirtschaftselite des Landes. Der 1. Parteikongreß im Oktober 1978 verabschiedete die Parteistatuten, nach denen die UCD von einem Vorsitzenden, einem Generalsekretär (Rafael Arias Salgado; seit 1979: Rafael Calvo Ortega), dem Exekutivkomitee (35 Mitglieder), dem Politischen Rat (140 Mitglieder) und dem "Rat der Autonomen Gemeinschaften" mit föderalistischer Struktur geleitet wurde. Die UCD konstituierte sich auf ihrem Kongreß als eine Partei von regionaler Struktur, die auf Zonenkomitees aufbaute. Auf diese Grundeinheiten folgten (bei großer organisatorischer Autonomie) die Provinzkomitees (5-15 Mitglieder), die auf Provinzebene die Wahlen organisierten. Zu den Basiseinheiten gehörten schließlich noch die Regionalkomitees. Höchstes Parteiorgan war der Kongreß, der alle zwei Jahre zusammentrat und die Parteistatuten beschloß. Die Ständige Kommission des Kongresses (Comisiön Permanente del Congreso) leitete, koordinierte und überwachte die Durchführung der Kongreßbeschlüsse. Hierzu bediente sie sich des Politischen Rates, der monatlich zusammentrat und für die Überwachung der von oberen Instanzen getroffenen Beschlüsse zuständig war. Dem Exekutivkomitee waren Sekretariate für Organisation, Programm-
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arbeit, Information, Wirtschaftsbeziehungen, internationale Beziehungen, Wahlstrategie und Recht angeschlossen. Im Exekutivkomitee waren Vertreter der wichtigsten politisch-ideologischen Richtungen, aus denen sich die Partei zusammensetzte (ehemaliges Franco-Lager, Christdemokraten, Liberale) etwa gleich stark vertreten. Für die Parteiführung war zum einen das relativ niedrige Durchschnittsalter (1978: 43,6 Jahre), zum anderen die Tatsache bemerkenswert, daß sie – bei deutlicher Dominanz der Juristen, gefolgt von den Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlern – ausschließlich aus Akademikern bestand. Geschichte: Die ursprüngliche Wahlkoalition umfaßte im Frühjahr 1977 als wichtigste Tendenzen die Sozialdemokratische Partei (PSD, Partido Social Democrätico), die Liberalen der Volkspartei (PP, Partido Popular), der Demokratischen Volkspartei (PDP, Partido Demöcrata Popular) und des Bundes demokratischer und liberaler Parteien (FPDL, Federaciön de Partidos Demöcratas y Liberales) mit weitgehend selbständigen Unterparteien in den Regionen, den rechten Flügel der Christdemokraten, der ChristlichDemokratischen Partei (PDC, Partido Demöcrata Cristiano) und unabhängige ehemalige Funktionäre des Franco-Regimes. Die wichtigsten Vertreter der Hauptströmungen in der Partei waren u.a. Pfo Cabanillas (PP), Fernando Alvarez de Miranda (PDC), Joaqufn Garrigues Walker (FPDL), Ignacio Camurias (PDP) und Francisco Fernändez Ord6fiez (PSD). – Bei den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung vom 15.6.1977 erlangte sie 34,5% der Stimmen und 165 Mandate. Seit ihrer Konstituierung bis 1982 war sie ununterbrochen Regierungspartei, die entscheidenden Einfluß auf das staatliche Fernsehen ausübte. Da sie nicht über die absolute Mehrheit im Unterhaus verfügte, war sie auf politische Kompromisse angewiesen. Der diesbezüglich größte Erfolg war im Oktober 1977 der sog. "Pakt von Moncloa", in dem sich die UCD und die Oppositionsparteien auf einen gemeinsamen wirtschaftlichen und politischen Reform- und Stabilisierungsplan einigten. Als Ende 1977 die Auflösung der innerhalb der UCD weiterbestehenden Gruppen beschlossen wurde, schied die sozialdemokratische Gruppe "Sozialdemokratischer Bund" (FSD, Federaciön Socialdemöcrata) wieder aus. Die ideologisch heterogene Herkunft der einzelnen Gruppen bewirkte eine Reihe von Tendenzbildungen und Konflikten, die bis zur Auflösung der Partei andauerten; sie wurden vor allem durch die starke Persönlichkeit des Vorsitzenden Suärez ausgeglichen. Bei den Parlamentswahlen im März 1979 konnte die UCD ihren Stimmenanteil auf 35,5% und ihre Mandatzahl auf 167 knapp verbessern. Bei den Kommunalwahlen im April 1979 blieb sie weit hinter ihren Erwartungen zurück: In Gemeinden mit über 50.000 Einwohnern erlangte sie nur 2-9,5 % der Mandate, in kleineren Gemeinden allerdings 43,9%. Insgesamt jedoch hatte sie die Kontrolle über die Verwaltungen größerer Städte verloren. Erster Generalsekretär der Partei war Rafael Arias Salgado; auf ihn folgte 1979 Rafael Calvo Ortega. Im Februar 1981 trat Suärez von all seinen politischen und Parteiämtern zurück. Zu seinem Nachfolger als Ministerpräsident bestimmte die Partei den bisherigen Wirtschaftsminister Leopoldo Calvo Sotelo. Der 11. UCD-Kongreß wählte im Februar 1981 in Palma de Mallorca nach einer Kampfabstimmung Agustfn Rodriguez Sahagün zum neuen Vorsitzenden; Generalsekretär blieb Calvo Ortega. Suärez wurde Ehrenpräsident der Partei.
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Die UCD stellte noch bis Oktober 1982 die Regierung; der Zerfallsprozeß schritt jedoch rapide voran. Immer mehr Einzelmitglieder und Richtungen verließen die Partei, bis schließlich selbst ihr Gründer Adolfo Suärez ihr den Rücken zukehrte und eine neue Partei, das "Demokratische und Soziale Zentrum", gründete. In den Parlamentswahlen von 1982 erreichte die bisherige Regierungspartei UCD nurmehr elf Abgeordnetenmandate; kurz danach, im Februar 1983, löste die Partei sich selbst auf. Sie hatte ihre Rolle im Demokratisierungsprozeß zu Ende gespielt. n Demokratisches und Soziales Zentrum (CDS, Centro Democrätico y Social). Das "Demokratische und Soziale Zentrum" wurde am 29. Juli 1982 von dem zum Herzog nobilitierten Adolfo Suärez gegründet, dem früheren Regierungschef und Vorsitzenden der konservativen UCD. Der Konstituierende CDS-Kongreß fand Anfang Oktober 1982 in Madrid statt; dort wurde erstmals der 21köpfige Parteivorstand (Comite Nacional) gewählt. Generalsekretär der Partei wurde Jose Ramön Caso Garcia. Bei den Wahlen von 1982 errang der CDS zwei Parlamentssitze (A. Suärez und Agustfn Rodrfguez Sahagün); 1986 konnte die Partei ihren Anteil auf 19 Abgeordnetensitze erhöhen — eine geradezu sensationelle Steigerung, die A. Suärez eine zweite politische Karriere zu eröffnen schien; bei den Parlamentswahlen von 1989 sank der CDS allerdings wieder auf 14 Abgeordnetensitze. Bei der Gründung des CDS bestand Suärez' Strategie darin, als Alternative zum PSOE aufzutreten; die Strategie sollte vier Phasen umfassen: Zuerst sollte der CDS sich als Partei konsolidieren; dieses Ziel war erreicht, als er 1988 von der Liberalen Internationale auch außerhalb Spaniens anerkannt wurde. Sodann sollte sich der CDS als die eigentliche Oppositionskraft profilieren, was ihn natürlich in Konflikt mit den Konservativen Fragas brachte. Der dritte Schritt bestand darin, bei Regionalwahlen erfolgreich abzuschneiden; schließlich sollten Lokal- und Regionalregierungen des PSOE durch Mißtrauensanträge gestürzt werden. Ein Großteil dieser Strategie schlug, was die selbstgesteckten Ziele betrifft, zwischen 1985 und 1990 fehl, wenn auch die Partei quantitativ eine Wachstumsphase erlebte: 1985 hatte der CDS (außer den beiden Kongreßabgeordneten) zehn Abgeordnete in Parlamenten der Autonomen Regionen, 1.500 Stadträte, 250 Bürgermeister, knappe 8.000 Mitglieder; 1988 waren die Mandatsträger auf 19 Kongreßabgeordnete, 105 Abgeordnete in Parlamenten der Regionen, 900 Bürgermeister und 5.000 Stadträte angewachsen. Allerdings stammten fast alle Mandatsträger aus nur neun Regionen: Andalusien, Aragonien, Kanarische Inseln, Asturien, Kastilien-Leön, Katalonien, Galicien, Madrid, Valencia. 1988 zählte der CDS (angeblich) 50.000 Mitglieder (Schwerpunkte: Madrid, Andalusien, Valencia, Kastilien-Leön). In der ersten Legislaturperiode nach seiner Gründung (1982-1986) gab sich der CDS linksliberal-reformistisch; er präsentierte sich als "progressistische und reformistische Partei der Mitte". Er lehnte jeglichen Pakt mit der Rechten ab. Massenmedien und selbst die Regierungspartei PSOE standen dem CDS durchaus wohlwollend gegenüber. Das wirtschaftspolitische Programm war sozialdemokratischen Zuschnitts. Im Laufe des Jahres 1988 näherte sich der CDS den Konservativen Fragas an, um mittels gemeinsamer Pakte auf lokaler und regionaler Ebene PSOE-Bürgermeister und PSOE-
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Regionalregierungen zu stürzen. Den spektakulärsten Erfolg konnte der CDS-PP-Pakt in Madrid erzielen, wo der PSOE-Oberbürgermeister gestürzt und an seine Stelle der CDS-Politiker Agustin Rodrfguez Sahagün gesetzt wurde. Die Wahlen des darauffolgenden Jahres wurden für den CDS allerdings zu einer herben Enttäuschung: Schon bei den Europawahlen — Suärez hatte einen stark nationalistischen, eher anti-europäischen Wahlkampf geführt — mußten die Zentristen im Juni 1989 spürbare Verluste hinnehmen. Die taktische Annäherung des CDS an die Partei Fragas, die in zahlreichen Gemeinden und Regionen zur Bildung von Pakten zwischen CDS und PP geführt hatte, und Suärez' rascher Wechsel vom Fürsprecher der radikalsten Gewerkschaftsforderungen zum Bündnispartner des konservativen Fraga wurden vielerorts zu Recht als Rechtsrutsch interpretiert und irritierten die Wähler der Mitte. Daraufhin beschloß der CDS, wieder auf größere Distanz zum PP zu gehen, um seine Eigenständigkeit deutlicher hervortreten zu lassen. Die "liberale" Orientierung der Partei erhielt im Oktober 1989 dadurch Aufwind, daß Suärez zum Vorsitzenden der "Liberalen und Progressistischen Internationale" gewählt wurde. Nach den enttäuschenden Wahlergebnissen von 1989 begann für den CDS abermals eine Phase der Neu-Orientierung: Suärez sollte häufiger in der Öffentlichkeit auftreten, die Partei sich noch klarer von den Konservativen distanzieren. Die innerparteiliche Kritik kam vor allem von den Regional-"Baronen" (Eduardo Punset, Ifiigo Cavero, Pilar Salarrullana, Rafael Arias Salgado, Miguel Martfnez Cuadrado, Leön Buil, Jaime Garcia Afioveros). Anfang 1990 befand sich die Partei in der tiefsten Krise seit ihrer Entstehung. Im Februar 1990 fand der 3. Nationalkongreß der Partei in Torremolinos statt, wo die wiedergewählte Parteiführung eine Öffnung zur Regierungspartei PSOE beschloß. Nach heftiger Kritik an den früheren Pakten mit dem Partido Popular wurde dem PSOE Unterstützung in vielen Fragen der Regierungstätigkeit zugesagt. Zugleich bezeichnete sich die Partei — die 1990 knapp 54.000 Mitglieder gehabt haben soll —, einem Vorschlag Raül Morodos zufolge, als "sozial, liberal und fortschrittlich", während sie bis dahin unter den Etiketten "reformistisch, volkstümlich und fortschrittlich" firmierte. Nach einem erneuten Mißerfolg bei den Lokal- und Regionalwahlen am 26. Mai 1991 trat Adolfo Suärez als Präsident des CDS zurück, was in der Partei eine tiefe Krise hervorrief und dazu führte, daß viele Mitglieder der Parteispitze ihre Ämter niederlegten. Außerdem befand sich der CDS aufgrund der schlechten Wahlergebnisse in einer schwierigen wirtschaftlichen Situation, da nun die erwarteten Zuschüsse ausblieben und daher die durch die Wahlen entstandenen Schulden nicht zurückbezahlt werden konnten. Im September 1991 fand der 4. Nationalkongreß der Partei statt, der darauf abzielte, die interne Krise des CDS zu bewältigen. Ein weiterer 5. Nationalkongreß wurde im Dezember 1992 abgehalten; es ging darum, eine neue politische Führung zu wählen und die Wahlen des Jahres 1993 vorzubereiten. Zum Parteivorsitzenden wurde Rafael Calvo Ortega gewählt. Bei den Wahlen am 6. Juni 1993 verlor der CDS aufgrund seiner instabilen politischen und wirtschaftlichen Situation seine 14 Abgeordnetensitze. Vor dem Hintergrund dieser Ereignisse fand der außerordentliche 6. Nationalkongreß statt, auf dem über eine mögliche Auflösung der Partei diskutiert wurde. Überraschenderweise sprach sich jedoch die militante Basis des CDS deutlich für ein Fortbestehen der Partei aus und konnte sich gegen die Parteispitze durchsetzen. Die Mehrheit der alten Führungskräfte verließ allerdings den CDS. Damit begann für die Partei eine neue Etappe mit dem Ziel, in der Partei zur Norma-
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lität zurückzukehren, die Regierungsorgane zu restrukturieren und wieder Bedeutung in der spanischen Politik zu gewinnen. 1995 benannte sich der CDS in Zentrumsunion — Demokratisches und Soziales Zentrum (UC-CDS, Uniön Centrista — Centro Democrätico y Social) um, um damit zu demonstrieren, daß die Partei auch offen für andere politische Kräfte der Mitte und des liberalen Lagers war. Dies erforderte eine Änderung der Statuten, die während des 8. Nationalkongresses der Partei im November 1995 erfolgte. Drei Jahre später — im November 1998 — wurde auf dem 9. Parteikongreß die heutige Parteiführung unter der Präsidentschaft von Teresa Gömez-Limön gewählt. Außerdem wurde die UC-CDS dezentralisiert. Den Grundstock der Parteiorganisation bilden nun die Föderationen (Federaciones), die mit weitreichenden Kompetenzen für politische Entscheidungen in ihren Gebieten ausgestattet sind. Die Partei arbeitet mit der "Liberalen Stiftung Jovellanos für den Fortschritt der Demokratie" (Fundaciön Liberal Jovellanos para el Avance de la Democracia) zusammen. Am 10. Nationalkongreß im Oktober 2002 beschloß die Partei einstimmig, zu ihrem ursprünglichen Namen Demokratisches und Soziales Zentrum (CDS) zurückzukehren. Bei den Parlamentswahlen im April 2004 konnte die Partei trotz aller Reformen nur 0,13% der Wählerstimmen (absolut 33.467 Stimmen) gewinnen und schaffte es wiederum nicht, ins Parlament einzuziehen. Damit erscheint das Ziel des CDS, erneut eine gewichtigere Rolle in der spanischen Politik zu spielen, vorerst unerreichbar. Alianza Populad, nachfranquistisches Parteienbündnis in der Tradition des Franquismus, das sich selbst als "demokratisch-konservativ" bezeichnete. Gründung Im Oktober 1976 durch Manuel Fraga Iribarne als Wahlbündnis, das später zu einem Parteienbündnis erweitert wurde. Programm: Die Partei bildete sich aus konservativen und rechtsextremen Kreisen der Diktatur; nach Francos Tod (1975) war es ihr Ziel, die "guten" Leistungen des Franquismus in die Demokratie hinüberzuretten. Sie unterstützte die Monarchie, trat für einen starken Staat ein, orientierte sich an einem "christlichen Humanismus", bekämpfte ausgeprägte Formen der Autonomie der einzelnen Regionen. Wirtschaftlich verteidigte sie die "soziale Marktwirtschaft" (gegen Monopolbetriebe und Teilnahme des öffentlichen Sektors an der Privatindustrie). Die Partei plädierte für einen dezentralisierten Einheitsstaat; sie sprach sich für regionale Autonomie, aber gegen jede sezessionistische Tendenz aus. Außenpolitisch erstrebte die AP den Eintritt in die EG und die Mitgliedschaft im westlichen Verteidigungsbündnis, enge Zusammenarbeit mit Lateinamerika und aktive Mitarbeit in allen internationalen Gremien. Wirtschaftspolitisch sprach sich der 11. Parteikongreß im Januar 1978 für ein System aus, das die Freiheit der Unternehmer; eine "tiefgehende Sozialpolitik" und die Ordnungsfunktion des Staates vereinigte. Die Partei war gegen jede Verstaatlichungspolitik. Organisation: Die AP war eine Föderation von sieben ehemaligen politischen "Assoziationen" oder Parteien. Die Organisation bestand auf Lokalebene aus Komitees, die vor allem bei Wahlen aktiv wurden. Auf Provinzebene sollte jährlich ein Provinzkongreß zusammentreten, auf Regionalebene sollten die Parteiorgane über (nicht näher bestimmte) autonome Rechte verfügen.
III Volksallianz (AP,
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Die obersten Parteiorgane waren der Nationalkongreß, die Nationale Führungsjunta, das Nationale Exekutivkomitee und das Zentralsekretariat der Partei. — Der jährlich zu einer ordentlichen Versammlung zusammenkommende Nationalkongreß legte die politische Linie der Partei fest, er bestimmte bzw. veränderte die Statuten und kontrollierte die Tätigkeit der übrigen Führungsorgane. Der Kongreß wählte auf jeder 2. Versammlung die Nationale Führungsjunta, d.h. den eigentlichen Parteivorstand. Die Teilparteien, die das Bündnis bildeten, stellten je einen stellvertretenden Vorsitzenden der Gesamtpartei. Den Kern der Exekutive bildete die kollegiale Führung. Die Nationale Führungsjunta überwachte die Ausführung der Kongreßbestimmungen und sorgte für die Einhaltung der Parteistatuten. Sie war in nahezu allen Parteiorganen vertreten und verfügte über weitestgehende Kompetenzen, was eine straffe Kontrolle des gesamten Parteiapparates sicherstellte. Das Nationale Exekutivkomitee entsprach einer ständigen Kommission des Parteivorstands. — Die Volksallianz hatte Untergruppen in den Regionen, Provinzen, Distrikten und Gemeinden. Der 1. Parteikongreß fand im Mai 1977, der 11. im Januar 1978 statt. Ende 1977 hatte die Partei (geschätzt) 20.000-25.000 Mitglieder — ihr stand die Madrider Tageszeitung ABC nahe. Geschichte. Die AP versuchte 1976, das gesamte Mitte-Rechts-Spektrum zu integrieren. Vor der Parteibildung waren die meisten der späteren Spitzenpolitiker der AP wichtige Mitglieder von Franco-Regierungen. Das ursprüngliche Wahlbündnis umfaßte die Regionale Katalanische Aktion (ARC, Acciön Regional Catalana) von Laureano Löpez Rodö, die Soziale Demokratie (DS, Democracia Social) von Licinio de la Fuente, die Demokratische Spanische Reform (RDE, Reforma Democrätica Espafiola) von Manuel Fraga Iribarne, die Demokratische Spanische Union (UDE, Uniön Democrätica Espafiola) von Cruz Martfnez Esteruelas, die Soziale Volksunion (USP, Uniön Social Popular) von Thömas de Carranza, die rechtskatholische Demokratische Spanische Aktion (ADE, Acciön Democrätica Espatiola) von Federico Silva Murioz und die nationalistische Nationale Spanische Union (UNE, Uniön Nacional Espafiola) von Gonzalo Fernändez de la Mora. Mitte 1977 versuchte die Volksallianz, neue Wählerschichten der oberen Mittelschicht anzusprechen. Ein "moderner" Parteikurs sollte Großunternehmer und Vertreter der Banken gewinnen. Parteipräsident wurde Felix Pastor. Bei den Parlamentswahlen vom 15.6.1977 blieb die AP mit 8,4% der Stimmen und 16 Mandaten weit hinter ihren Erwartungen zurück. Als Fraga Iribarne im Dezember 1978 der neuen demokratischen Verfassung zustimmte, verließ der ultrakonservative Flügel die Partei. Im Januar 1979 schloß sich Fraga mit der Liberalen Bürgeraktion (ACL, Acciön Ciudadana Liberal) des liberalkonservativen Jose Maria de Areilza, der Demokratischen Fortschrittspartei (PPD, Partido Progresista Democrätico) des christdemokratischen Angel Osorio und dem Sozialdemokratischen Bund (FSD, Federaciön Socialdemöcrata) von Jose Ramön Lasuen zum neuen Wahlbündnis der Demokratischen Koalition (CD, Coaliciön Democrätica) zusammen, die bei den Parlamentswahlen vom März 1979 enttäuschende 5,8% der Stimmen (neun Mandate) erhielt. Daraufhin trat Fraga von seinen Parteiämtern zurück. Bei den Wahlen zum baskischen Regionalparlament am 9.3.1980 erhielt die AP zwei Sitze (von 60). n Volkspartei (PP, Partido Populan). Die "Volkspartei" gibt es unter dieser Bezeichnung erst seit 1989; zuvor hatte die Mitte-Rechts-Partei verschiedene Bezeichnungen. Bei ihrer
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Gründung im Oktober 1976 hieß sie "Volksallianz" (Alianza Popular, AP); sie entstand als nachfranquistisches Parteienbündnis in der Tradition des Franquismus, das sich selbst als "demokratisch-konservativ" bezeichnete. In den folgenden Jahren ging die AP mehrere Wahlbündnisse auf gesamtstaatlicher und regionaler Ebene (unter verschiedenen Bezeichnungen) ein. 1979 schloß sich Fraga, der nach der Trennung von den Ultrakonservativen eine Annäherung an Liberalkonservative und rechte Christdemokraten sowie Sozialdemokraten suchte, mit der Acciön Ciudadana Liberal des liberalkonservativen Jos6 Maria de Areilza, dem Partido Progresista Democrätico des christdemokratischen Angel Osorio, der Federaciön Socialdemöcrata von Josö Ramön Lasun und einigen weiteren kleinen Parteien zum neuen Wahlbündnis der Coaliciön Democrätica (CD) zusammen, die bei den Parlamentswahlen von 1979 allerdings nur enttäuschende 5,8% der Stimmen (neun Mandate) erhielt. Nach diesem erneuten Wahlfiasko konzentrierte die AP ihre ganze Energie auf die Verbesserung der Parteiorganisation, die mit einer Verdoppelung der Mitgliederzahlen von 20.000 auf 40.000 (1984: ca. 60.000), einem Anstieg der Zahl der Ortsverbände von 500 auf 800 und einer Steigerung der Zahl der Lokalbüros von 162 auf 194 in kurzer Zeit erfolgreich war. Außerdem wurde eine Jugendorganisation der AP aufgebaut (Nuevas Generaciones de Alianza Popular). Der geographische Schwerpunkt der Partei lag mit ca. 32 % in der Provinz Madrid. Auch der allmähliche Zerfall der Regierungspartei UCD sollte der AP zustatten kommen. Einen ersten Erfolg konnte die Volksallianz 1981 bei den Regionalwahlen von Galicien verbuchen, wo sie mit 34% die stärkste Partei wurde und mit Gerardo Fernändez Albor bis 1987 den Vorsitzenden der Regional-Xunta, d. h. den Ministerpräsidenten dieser Comunidad Autönoma, stellte. Weitere regionale Schwerpunkte hatte die Partei in Kantabrien, La Rioja, Kastilien-Lehn und Kastilien-La Mancha. Die Wählerschaft der AP (PP) war tendenziell älter, mit gehobenem Bildungsgrad, Einkommen und Lebensstandard und lebte in mittelgroßen Städten sowie im ländlichen Bereich. Außerdem gab es in der AP-Wählerschaft überdurchschnittlich viele praktizierende Katholiken. Im Wahlkampf von 1982 präsentierte sich Fraga teils als extrem Konservativer, teils als "konservativer Liberaler". Mit dieser Angebotsmischung konnte er nicht nur ehemals bürgerliche Mitte-Wähler, sondern auch Anhänger der extremen Rechten gewinnen. Das neue Wahl- und Parteienbündnis der Volkskoalition (Coaliciön Popular, CP) präsentierte sich als Zusammenschluß von AP, der christdemokratischen Partei Partido Demöcrata Popular (PDP) von Oscar Alzaga und einer liberalen Partei, Partido Liberal (PL). Der Wahlausgang vom Oktober 1982 verschaffte der CP mit 26% der abgegebenen Stimmen sensationelle 106 (von insgesamt 350) Parlamentssitze, Fraga Iribarne wurde zum "Oppositionsführer" gegen die sozialistische Regierung von Ministerpräsident Felipe Gonzälez. In den folgenden Jahren war Fraga bestrebt, durch Integration möglichst aller rechts von den Sozialisten stehenden Parteien die "große Rechte" (la grau derecha) im Land zu bilden; sein Ziel war die Zusammenführung der "natürlichen Mehrheit", die er auf der Rechten sah. Dieser Versuch ist mißlungen. Vielmehr zeigte die Rechte in den folgenden Jahren deutliche Desintegrationserscheinungen, als aus den eigenen Reihen immer deutlicher Kritik an Fragas autoritärem Führungsstil geübt und die Ansicht vertreten wurde, mit ihm an der Spitze werde die Coaliciön Popular nie mehrheitsfähig werden.
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Das Jahr 1986 wurde für Fraga und die Alianza Popular zu einem einzigen Debakel: Obwohl die rechtskonservative Opposition eigentlich die NATO-Mitgliedschaft Spaniens erhalten wollte, forderte sie bei der Volksbefragung im März ihre Anhänger zur Stimmenthaltung auf, nachdem sie das Referendum zu einer Entscheidung für oder gegen die sozialistische Regierung stilisiert hatte; obwohl 40,3 % der Wahlberechtigten nicht an der Abstimmung teilnahmen, war das Ergebnis insgesamt ein Erfolg der sozialistischen Regierung. Den sich anschließenden Wahlkampf bestritt Fraga erneut mit dem Ruf nach Formierung einer "natürlichen Mehrheit", die sich rechts von den Sozialisten gebildet habe; das Wahlergebnis (26% der Stimmen, 105 Mandate) war aber nicht besser als 1982. Nach diesem enttäuschenden Wahlausgang ließ die Krise nicht auf sich warten: Die "Christlichen Volksdemokraten" (PDP) unter Oscar Alzaga verließen mit ihren 22 Abgeordneten die Fraktion der Volkskoalition, wodurch diese auf die AP und die Liberale Partei zusammenschrumpfte. (Alzaga erklärte seinen Austritt mit dem Wunsch, zur Bildung einer "gemäßigten und modernen" Rechtsbewegung mit starker sozialer Ausrichtung beizutragen.) Als der langjährige Generalsekretär der AP, Jorge Verstrynge, Fraga zur Kandidatur für das Amt des Madrider Oberbürgermeisters bewegen wollte, zwang Fraga ihn und andere Kritiker zum Parteiaustritt. Neuer Generalsekretär wurde der junge Alberto Ruiz-Gallardön. Zur innerparteilichen kam die Finanzkrise: Die Banken drängten auf sofortige Rückzahlung der 1,2 Milliarden Peseten, die sie der Partei als Wahlkampfkredit zur Verfügung gestellt hatten, die Industrie war zu keinen weiteren Krediten bereit. Die Hauptgründe, die schließlich zum Rücktritt Fragas von allen Parteiämtern führten, waren zugleich die wichtigsten Krisensymptome von AP: In Galicien verfehlte die Partei bei den Regionalwahlen von 1985 die anvisierte absolute Mehrheit; auf dem VII. Parteikongreß (Februar 1986) wurde die Frage einer kollegialen Parteileitung diskutiert; der Aufruf zur Stimmenthaltung bei der NATO-Abstimmung schadete AP im Land und international; die Kongreßwahlen hatten die Höchstgrenze der zu gewinnenden Stimmen aufgezeigt; die Banken (besonders der Banco Popular) forderten die Wahlkampfkredite zurück; die Gesamtschulden der Partei beliefen sich (1986) auf rd. sechs Milliarden Peseten, deren Rückzahlung von den Banken nur widerwillig gestundet wurde; die baskischen Regionalwahlen brachten einen Verlust von 45.000 Stimmen. Anfang 1987 befand sich die AP in der tiefsten Krise seit ihrer Gründung. Im Januar 1987 verließen auch die rechtsgerichteten Liberalen (Partido Liberal) von Josö Antonio Segurado die Coaliciön Popular; die damit zu existieren aufhörte. Neuer Vorsitzender der nunmehr allein auftretenden Alianza Popular wurde im Februar 1987 der Andalusier Antonio Hernändez Mancha, neuer Generalsekretär Arturo Garcia Tizön. Alberto Ruiz-Gallardön wurde Stellvertretender Parteivorsitzender. Seit den Regionalwahlen vom Juni 1987 regierte die AP (mit Unterstützung kleinerer Parteien) in vier Autonomen Regionen. Die neue Parteiführung schlug einen veränderten Kurs ein: Sie vermied allzu "gefährliche" Wahlthemen, etwa Abtreibung oder Todesstrafe, distanzierte sich von den vielzitierten "faktischen Mächten" (Kirche, Militär, Großunternehmer) und präsentierte sich als Alternative für die Mittelschichten. Die Distanzierung vom Unternehmerverband CEOE konnte deshalb erfolgen, weil durch die Verabschiedung des Parteienfinanzierungsgesetzes die AP finanziell unabhängig wurde. Hauptpunkt der neuen Strategie war eine "Öffnung zur Mitte". In der Zwischenzeit war die Partei keine ernste Alternative zur Regierungspartei;
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außerdem war ihre Führungsposition im Mitte-Rechts-Lager ernsthaft bedroht; besonders die Regionalparteien stellten in den Autonomen Regionen eine immer stärkere Konkurrenz zur AP bzw. zum PP dar. Der 9. Parteikongreß (Januar 1989) wurde zu einem wichtigen Wendepunkt in der dreizehnjährigen Parteigeschichte. Nachdem Hernändez Mancha auf eine ohnehin aussichtslose Wiederkandidatur verzichtet hatte, ließ sich Fraga Iribarne erneut zum Parteivorsitzenden wählen. Fraga erschien der dahinsiechenden Partei als einziger Rettungsanker. Dem Altfranquisten gelang es, den Generalsekretär des Europarates, den liberalen Christdemokraten Marcelino Oreja, als Stellvertretenden Vorsitzenden in die Partei zu integrieren. Im Hinblick auf eine Integration in den Bund der Europäischen Christdemokraten änderte der Kongreß den Parteinamen von "Volksallianz" zu "Volkspartei" (Partido Popular). Mit dem abermaligen Parteivorsitz Fragas stieg die finanzielle Unterstützung der Banken und Unternehmerkreise wieder an, wenn auch die Schulden der Partei sehr hoch blieben. Bei den Wahlen von 1989 zum Europaparlament erlitt der PP empfindliche Verluste. Von seinen bisherigen 17 Sitzen behauptete er nur noch 15. Ende August 1989 wurde der Regierungschef von Kastilien-Lehn, lose Marfa Aznar, von Fraga zum PP-Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten bei den bevorstehenden Parlamentswahlen bestimmt; neuer Generalsekretär der Partei wurde Francisco Alvarez Cascos. Der Partido Popular konnte bei den Parlamentswahlen von Oktober 1989 zwar in keiner Weise die Vorherrschaft des PSOE gefährden, aber mit 5,28 Millionen Wählerstimmen und 106 Abgeordnetenmandaten sein Ergebnis von 1986 leicht verbessern. Damit war für Aznar der Weg zum PP-Parteivorsitz frei, Fraga wurde Ehrenvorsitzender. Am 17. Dezember 1989 kandidierte dieser für den Vorsitz der galicischen Xunta, d. h. für das Amt des Regierungschefs in der Autonomen Gemeinschaft Galicien. Es waren die ersten demokratischen Wahlen, aus denen Fraga als Sieger hervorging: Seine Partei erhielt 44,28% der abgegebenen Stimmen und errang mit 38 Abgeordnetensitzen die absolute Mehrheit im Regionalparlament. Damit wurde Galicien von 1990 an (bis 2005) vom Partido Popular regiert. Anfang April 1990 fand in Sevilla der 10. Parteikongreß statt, auf dem Aznar einstimmig zum Parteivorsitzenden gewählt wurde. Manuel Fraga wurde zum "Gründer-Vorsitzenden" (presidente-fundador) der Partei. Auf dem Kongreß betonte der PP seine Position der "Unabhängigkeit, Mäßigung und Mitte"; er präsentierte sich als einzige Alternative zu den regierenden Sozialisten, verwandte in seinem Aufruf zugleich moralisierende Parolen, die deutlichen Anklang an die sozialistischen Aufrufe von 1982 erkennen ließen. Ein Programm"Dekalog" umriß die Programmatik der Partei, war allerdings sehr allgemein gehalten. Jose Marfa Aznar wurde in den folgenden Jahren auf den Parteikongressen stets mit großer Mehrheit als Parteivorsitzender bestätigt und festigte somit seine Position innerhalb des PP. Der Volkspartei gelang es, ihren Ruf, politischer Ausdruck der alten franquistischen Rechten zu sein, abzustreifen und über das konservativ wählende Viertel der spanischen Bevölkerung hinaus zusätzliche Stimmen in der politischen Mitte zu erlangen. Die von Aznar geführte Partei galt nun nicht mehr als politische Heimat der Großbourgeoisie und der Superreichen, sondern stellte auch für die liberale Mittelschicht, insbesondere auch für die jüngere Wählerschaft, eine ernsthafte Alternative zum PSOE dar. Der PP rückte somit — auch dank des Beitritts von liberalen und christlich-demokratischen Politikern aus der verschwundenen Union des Demokratischen Zentrums (UCD) — in die rechte Mitte und kam
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damit dem Anspruch seines Namens, nämlich eine Volkspartei zu sein, näher. Aufgrund dieses Imagewechsels und des damit verbundenen größeren Zuspruchs in der Bevölkerung baute der Partido Popular Anfang der 90er Jahre seinen Stimmenanteil stetig aus und avancierte zu einer zunehmenden Bedrohung für die regierenden Sozialisten. Bei den Parlamentswahlen im Juni 1993 gelang es dem PP, seinen Stimmenanteil von 25,83 % (1989) auf 34,82 % zu steigern. Er blieb damit aber dennoch knapp hinter dem PSOE, der 38,68 % der abgegebenen Stimmen errang, und wurde damit seinem Anspruch, die Sozialisten von der Regierung verdrängen zu können, nicht gerecht. Erst bei den vorgezogenen Parlamentswahlen am 3. März 1996 gelang es dem Partido Popular, mit 38,79 % der abgegebenen Stimmen einen knappen Wahlsieg über den PSOE (37,63%) zu erringen. Somit stellte nun der PP die stärkste Fraktion — wenn auch ohne absolute Mehrheit im Parlament — dar. Mit Hilfe einiger kleinerer Regionalparteien, wie der katalanischen ConvergMcia i Uniö (CiU), wurde Jose Marfa Aznar am 5. Mai 1996 zum Ministerpräsidenten gewählt. Er löste damit den seit 14 Jahren regierenden Felipe Gonzälez ab. In der ersten Amtszeit des konservativen PP profitierte die neue Regierung von der guten Entwicklung der spanischen Wirtschaft, Aznar gewann dadurch an Selbstvertrauen und Popularität. Auf dem 13. Parteikongreß im Januar 1999 demonstrierte Aznar durch die zentrale Besetzung sämtlicher Führungsposten in der Partei seine übergeordnete Stellung innerhalb des PP und bekräftigte immer wieder, daß der Partido Popular eine Partei der Mitte sei. Auch in der Europäischen Volkspartei (EVP), der der PP seit 1994 angehört, gelang es Aznar, eine führende Rolle zu erringen. Auf dem europäischen Parkett orientierte er sich dabei weniger an Frankreich und Deutschland als vielmehr an der Europapolitik Tony Blairs, die einen langsameren politischen Integrationsprozeß vorsah und ein föderalistisches Europa ablehnte. Bei den Parlamentswahlen am 12. März 2000 konnte der PP mit 44,52 % das Wahlergebnis von 1996 nochmals verbessern; er erreichte mit 183 der insgesamt 350 Sitze im Abgeordnetenhaus sein vorerst bestes Wahlergebnis. Die Regierung Aznar war damit nicht mehr auf die Unterstützung der baskischen, katalanischen und kanarischen Nationalisten angewiesen. 2003 profilierte sich Aznar wie kein anderer Regierungschef des europäischen Kontinents als Befürworter des amerikanisch-britischen Militärschlags gegen den Irak. Dieses Verhalten wurde von großen Teilen der spanischen Bevölkerung und von der sozialistischen Opposition vehement kritisiert. Nachdem sich Aznar dazu entschlossen hatte, kein weiteres Mal für das Amt des Ministerpräsidenten zu kandidieren, wurde am 3. September 2003 Mariano Rajoy durch das Nationale Exekutivkomitee auf Vorschlag Aznars zum Parteivorsitzenden und Spitzenkandidat des PP ernannt. Bei den unter dem Eindruck der Madrider Bombenanschläge vom 11. März stehenden Parlamentswahlen vom 14. März 2004 büßte der PP seine absolute Mehrheit im Parlament ein. Diese Wahlniederlage resultierte unter anderem auch aus der Verschleierungstaktik der konservativen Regierung bei der Aufklärung des Attentates. Der PSOE mit seinem Spitzenkandidaten lose Luis Rodrfguez Zapatero als überraschender Sieger aus den Wahlen hervor. Seit April 2004 ist der PP die bedeutendste Oppositionspartei im spanischen Parlament. An der Spitze der Partei stehen der Vorsitzende Mariano Rajoy, der Generalsekretär Angel
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Acebes (zuvor Innenminister in der Regierung Aznar) und der Vorsitzende der Parlamentsfraktion Eduardo Zaplana. Unter der Führung dieser drei Politiker betreibt der PP seither eine ausgesprochen aggressive Oppositionspolitik, deren Härte zu einer extremen Polarisierung der politischen Landschaft geführt hat. Da er im Parlament keine Mehrheiten für seine Position organisieren kann, greift der PP immer häufiger auf die "Straße" zurück, führt Massendemonstrationen gegen die Regierungspolitik durch (auch mit Unterstützung durch die katholische Amtskirche), betreibt Unterschriftensammlungen (gegen das neue Autonomiestatut für Katalonien), spannt die Opferorganisationen in den Kampf gegen die Antiterrorpolitik der Regierung ein; die Abnützungskampagne gegen die Politik des PSOE wird mit allen Mitteln geführt. III Spanische Sozialistische Arbeiterpartei (PSOE, Partido Socialista Obrero Espatiol). Die Spanische Sozialistische Arbeiterpartei ist eine der drei ältesten sozialistischen Parteien Europas. Der Sieg Francos trieb den PSOE ins (meist französische, mexikanische und argentinische) Exil. Während der franquistischen Diktatur waren die in Spanien gebliebenen Mitglieder des nunmehr verbotenen PSOE weitaus weniger aktiv und organisiert als die des PCE; so leisteten sie z. B. keinen Beitrag zum bewaffneten Widerstand (maquis) und nur wenig zur Bekämpfung, Untergrabung und Ablösung der franquistischen "Gewerkschaften" (Sindicatos Verticales). Im Laufe der 1950er und 1960er Jahre kam es zu einer wachsenden Entfremdung zwischen den im Exil lebenden, an den alten Idealen und Prinzipien des Bürgerkrieges festhaltenden Funktionären der Partei und einer kleinen Gruppe meist junger Akademiker, die z.T. in Spanien, z.T. auch im Exil gegen die Franco-Regierung seit Ende der 1960er Jahre tätig waren und eine Reform der Ideologie und der politischen Taktik des PSOE anstrebten, wobei die bundesdeutsche SPD und die Sozialistische Partei Frankreichs als Vorbilder galten. Schon auf dem 11. Kongreß (1970) wurde eine klare linea renovadora (Erneuerungsprogramm) verfochten; obwohl Generalsekretär Rodolfo Llopis an der Macht blieb, brachte der 12. Kongreß (1972) in dessen Abwesenheit den Bruch. Der entscheidende Kongreß von Suresnes (Frankreich 1974) bestätigte die neue Tendenz, und es wurden Vertreter der "Erneuerung" und der jungen, in Spanien lebenden Generation in die Leitungsgremien gewählt. Seit 1974 wurde die Angleichung des PSOE an die politische Linie der SPD immer offenkundiger. In dieser Zeit betrug die Zahl seiner Mitglieder ca. 4.000; kurz nach dem Tode Francos — und dank tatkräftiger Unterstützung insbesondere aus der BRD — wuchs er auf etwa 20.000. Genausoviel hatte damals der linkssozialistische Partido Socialista Popular von Enrique Tierno Galvän, der sich aus Mangel an finanziellen Mitteln 1978 auflöste und seine Mitglieder größtenteils in den PSOE integrierte. In den Jahren der transiciön gestaltete sich der PSOE immer mehr als die Alternative zu den neofranquistischen, liberalkonservativen oder "kontinuistischen" Parteien. Schon 1977 wurde er zur stärksten Partei der parlamentarischen Opposition (117 Sitze). Hatte er unter der Leitung von Felipe Gonzälez immer noch an der alten Ideologie (Marxismus, Internationalismus, Antikapitalismus, Neutralismus usw.) zumindest verbal festgehalten, so wurde auf dem 18. Kongreß (Mai 1979) die Definition der Partei als marxistisch und klassengebunden gestrichen. Die zum Teil heftigen Debatten wurden von Generalsekretär Felipe Gonzälez mit einer politi-
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schen Finte quittiert: Er trat zurück. Auf dem darauffolgenden außerordentlichen Parteikongreß (das "spanische Godesberg") wurde nicht nur die neue sozialdemokratische Linie bestätigt, sondern auch die Wiederwahl von Felipe Gonzälez als Parteileiter und Führer der parlamentarischen Opposition gesichert. Anfang 1980 war die Mitgliederzahl auf etwa 150.000 angewachsen. In diesem Jahr machte aber nicht nur die Gründung einer innerparteilichen "Opposition" (Izquierda Socialista, Sozialistische Linke) um Pablo Castellano, Luis Gömez Llorente u. a. erste Spannungen in der Partei sichtbar; auch die Beziehungen zur "hauseigenen" Gewerkschaft UGT wurden zunehmend gespannter. Im Oktober 1982 gewann der PSOE die Parlamentswahlen mit 48,4% der Stimmen und der absoluten Mehrheit (202 Sitze in der Abgeordnetenkammer, 134 im Senat) in beiden Kammern. Die Politik des PSOE wurde während seiner Regierungsjahre in immer offensichtlicherer Weise von Leitgedanken bestimmt, die hauptsächlich auf zwei große Ziele hinzusteuern schienen: eine Reorganisierung und Modernisierung der spanischen Wirtschaft im Sinne eines liberal-reformistischen Kapitalismus mit dem Zweck ihrer vollen Integration in den EG-Markt und eine Einbeziehung Spaniens in die globale Strategie der NATO. Der PSOE, der 1982 von einer Welle der Hoffnung auf eine tiefe und endgültige Veränderung getragen wurde, verlor in den Folgejahren an Glaubwürdigkeit; sein mitunter autoritärer, häufig als arrogant empfundener Regierungsstil, seine Entwicklung zu immer deutlicher liberal-konservativen Positionen, die Unfähigkeit, mit den großen Problemen des Landes fertig zu werden (Arbeitslosigkeit, Drogensucht, Korruption auf allen Ebenen der öffentlichen Verwaltung, Kriminalität, Vetternwirtschaft usw.), kosteten ihn viele Sympathien. Die Abkühlung der Beziehungen zur Gewerkschaft UGT als Folge einer Wirtschaftspolitik, die auf Kosten der Lohnabhängigen durchgesetzt wurde, war auch ein Indiz dafür, daß der PSOE unter Abnutzungserscheinungen litt. Dennoch erhielt der Partido Socialista Obrero Espatiol auch bei den Parlamentswahlen 1986 mit 44,06% Stimmenanteil die absolute Mehrheit und konnte so die Regierung unter Felipe Gonzälez fortsetzen. Neben zahlreichen Verbesserungen im spanischen Sozialleistungs- und Bildungssektor sowie dem Ausbau der Kommunikations- und Verkehrsinfrastruktur bemühte sich der PSOE in den Folgejahren um eine parteiinterne Öffnung, um so die Einbeziehung anderer spanischer Linker in die sozialistische Organisation zu erleichtern, wie z. B. die Integration des ehemaligen Stellvertretenden Generalsekretärs des PCE, Enrique Curiel (1990), sowie die organisatorische Eingliederung der Spanischen Arbeiterpartei (Partido de los Trabajadores de Espafia) im Jahr 1991 und diejenige der baskischen Sozialisten (Euskadiko Ezkerra) im Jahr 1993. In den Jahren 1989 und 1993 gewann der PSOE weitere Male die Parlamentswahlen mit 39,55 % bzw. 38,68 % der Wählerstimmen und konnte so — wenn auch nur mit knapper Mehrheit vor dem erstarkenden Partido Popular — seine Regierungszeit auf insgesamt vier Legislaturperioden ausdehnen. Bei den Parlamentswahlen am 3. März 1996 verlor er allerdings seine Führung im Parlament an den PP, der nun mit Unterstützung einiger regionaler Parteien die Regierungsgeschäfte übernahm und somit den Partido Socialista Obrero Espariol in die Rolle der Oppositionspartei drängte. Der knappe Wahlsieg des Partido Popular mit 9.716.006 Wählerstimmen (38,79%) über den PSOE, der 9.425.678 Stimmen (37,63%) erhielt, spiegelte sich nicht unbedingt in der Sitzverteilung im Parlament wider,
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in dem der PP 156 und der PSOE 141 Abgeordnetensitze zugeteilt bekamen. Diese Verzerrung war auf das mehrheitsbildende Wahlsystem zurückzuführen. Nach der deutlichen Wahlniederlage des PSOE bei den Parlamentswahlen am 12. März 2000, bei denen der PP mit 44,52% die absolute Mehrheit erzielte, trat der Generalsekretär des PSOE, Joaqufn Almunia, von seinem Amt zurück. Während des 35. Parteikongresses, der vom 21. bis 23. Juli desselben Jahres stattfand, wurde Jose Luis Rodrfguez Zapatero mit 41,69 % der insgesamt 998 Delegiertenstimmen zum neuen PSOE-Generalsekretär gewählt. Des weiteren wurden die neuen Leitungs- und Kontrollorgane der Partei gewählt. Mit diesem Kongreß begann der "stille Wandel" (el cambio tranquilo) des neuen Parteivorsitzenden Zapatero, womit das Vertrauen innerhalb der Partei wiederhergestellt werden sollte. Seinen Höhepunkt erreichte dieser Prozeß ein Jahr später auf der Politischen Konferenz (Conferencia Politica) am 20. und 21. Juli 2001, auf der über die ideologische Entwicklung und die Modernisierung der Organisationsstruktur des PSOE debattiert wurde. Dabei gelangte man zu dem Ergebnis, die Partei durch die Erweiterung der traditionellen Prinzipien "Freiheit, Gleichheit und Solidarität" an die neuen gesellschaftlichen Entwicklungen anpassen. Man beschloß, die Politik wieder deutlicher in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen und einen neuen Impuls in Richtung Demokratie der Staatsbürger zu geben. Erste Erfolge dieser inneren Reformen der Partei zeigten sich bei den Autonomen und Gemeindewahlen im Mai 2003, bei denen der PSOE wieder zur meistgewählten Partei auf nationaler Ebene wurde. Im Jahr 2004, in dem der Partido Socialista Obrero Espariol sein 125-jähriges Bestehen feierte, gelang es den Sozialisten, sich bei den Parlamentswahlen vom 14. März gegen den Partido Popular durchzusetzen. Dieser für viele überraschende Regierungswechsel hat seine Ursachen wohl auch in den Ereignissen, die diesen Wahlen vorangingen. Die vorschnelle (und fälschliche) Beschuldigung der ETA als Urheber der Madrider Bombenanschläge vom 11. März durch die Regierung unter Aznar und die damit in Zusammenhang stehende manipulative Aufklärung der Öffentlichkeit kosteten dem PP viele Wählerstimmen und stärkten den PSOE, der mit 42,64% der abgegebenen Stimmen die Wahlen gewann und damit 164 Sitze im Abgeordnetenhaus erzielte. Zapatero löste Aznar als Regierungschef ab und führt seither die Regierungsgeschäfte. Auf den wichtigsten Feldern – etwa der Außen-, Gesellschafts-, Nationalitäten- und Antiterrorismuspolitik – verfolgt die sozialistische Regierung eine grundsätzlich andere Linie als ihre konservative Vorgängerin. n Kommunistische Partei Spaniens (PCE, Partido Comunista de Esparia), praktisch die einzige politische Organisation, die aktiv und diszipliniert in Spanien gegen die FrancoDiktatur kämpfte. Dreimal wurde das ZK des PCE – etwa 70% seiner rund 90 Mitglieder lebten illegal in Spanien – von der franquistischen Polizei aufgerieben. Die Taktik des bewaffneten Widerstandes (maquis), die sich später als falsch erweisen sollte, forderte bis zum Jahre 1948 etwa 23.000 Tote, unzählige Kommunisten wurden in Francos Gefängnissen ermordet. 1940 wurde Dolores Ibärruri ("Pasionaria", 1895-1989) Generalsekretärin der Partei, die langsam eine Politik der Anpassung an die neuen soziopolitischen Bedingungen des Landes einschlug: längerfristige Aktionen, Förderung und Organisation von Streiks (1947 in Madrid, Katalonien und anderen Orten, 1951 Generalstreik in Barcelona, 1953 im
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Baskenland), Unterwanderung der franquistischen "Gewerkschaften" (Sindicatos Verticales) bzw. Bildung – zusammen mit anderen demokratischen Kräften – der ersten Comisiones Obreras (1956/58). Die Partei gewann ständig an Prestige unter den Intellektuellen und Künstlern, die Mitgliederzahl wuchs in der Illegalität auf einige Zehntausend. Mit dem 5. Parteitag (November 1954) begann eine neue Etappe des PCE: neues Programm, neue Satzung, Vorschlag der Bildung einer breiten nationalen antifaschistischen Front und einer Koalition der demokratischen Kräfte für die Zeit nach dem Sturz der Diktatur, Politik der nationalen Versöhnung (reconciliaciön nacional). Die großen Streiks in Asturien (März 1958), die von der Polizei und der Armee äußerst brutal unterdrückt wurden, und die innenpolitischen Krisen des Regimes prägten den 6. Parteitag des PCE im Januar 1960, auf dem der friedliche und parlamentarische Weg zum Sozialismus und die Strukturierung des PCE als Massenpartei und nicht mehr als Kaderpartei im neuen Programm verankert wurden. Santiago Carrillo wurde neuer Generalsekretär, Dolores Ibärruri Präsidentin. Die 1960er und 1970er Jahre brachten verschiedene und zum Teil auch tiefe Krisen der Partei mit sich: Ideologische Streitigkeiten veranlaßten einige prominente ZK-Mitglieder (Jorge Semprün, Fernando Claudfn), die Partei zu verlassen; die Intervention der Truppen des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei 1968 brachte den ersten Konflikt mit der bisher vom PCE als Leitbild angesehenen Sowjetunion und den Parteiausschluß von Eduardo Garcfa und Enrique Lfster, die eine strenge prosowjetische Linie verfochten; 1976 vollzog sich dann der Bruch der "normalen" Beziehungen zur KPdSU als Folge der 1975 im neuen "Programm-Manifest" der Partei festgelegten politischen Linie, die später als "eurokommunistische" Richtung bekanntwerden sollte. Unter heftigen inneren Diskussionen und der autokratischen Führung Santiago Carrillos wurden die Weichen einer politisch-ideologischen Linie gestellt, die einerseits den PCE zu einem der wichtigsten Protagonisten der transiciön machte, ihn aber andererseits in die wohl schwerste Krise seiner Geschichte stürzte. War der 9. Parteitag (1978) ein Triumphzug der "Eurokommunisten" gewesen, so meldete sich auf dem 10. (1981) eine Gruppe der sog. renovadores (Erneuerer) zu Wort, die eine sozialdemokratisch orientierte Umgestaltung des PCE forderten; der heftige Streit zwischen den oficialistas (Vertretern der Carrillo-Linie) und den prosovi&icos, die eine Rückkehr zur strengen, an die Sowjetunion angelehnten politischen Richtung verlangten, führte zur Lähmung der Partei und in der Folge zum Verlust von fast der Hälfte ihrer rund 200.000 Mitglieder. Der PCE, der in den Wahlen von 1977, wenige Monate nach seiner Wiederzulassung als legale Partei, beachtliche 9,3% der Stimmen erreicht hatte, 1979 dann sogar 10,7%, sank 1982 auf 4,1% und verlor somit fast drei Viertel seiner Mandate im spanischen Parlament. Nach dem Rücktritt Carrillos fand eine gewisse Kursänderung unter dem neuen Generalsekretär Gerardo Iglesias statt, der auch einen neuen Führungsstil an den Tag legte. Der 11. Parteitag (1983) versuchte die Wiederbelebung der Partei durch Selbstkritik zu erreichen. Eine wichtige Gruppe des ZK, gefolgt von vielen bekannten Parteimitgliedern, trennte sich Anfang 1985 unter der Leitung des Altkommunisten Ignacio Gallego vom PCE und gründete eine neue Partei, den Partido Comunista de los Pueblos de Esparia, PCPE (KP der Völker Spaniens), dem sich etwa ein Drittel der übriggebliebenen PCE-Mitglieder anschloß. Carrillo gründete seinerseits zwei kleinere Wahlkampfgruppen und rief Anfang 1987 den
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Partido de los Trabajadores de Espafia — Unidad Comunista (Partei der Arbeiter Spaniens — Kommunistische Einheit) ins Leben. Angesichts der Zersplitterung, der internen Krisen und der schwindenden Anziehungskraft der Partei unter den Wählern regte diese die Bildung der Parteienkoalition Izquierda Unida (IU, Vereinigte Linke) an, die ursprünglich von sieben, heute nur noch von vier Parteien — darunter dem PCE und dem PCPE — gebildet wird. IU errang bei den Parlamentswahlen von 1989 einen Stimmenanteil von 9,05% und 17 Sitze. Bei den Kommunalwahlen im Juni 1987 kam sie nicht über 6,4% der Stimmen hinaus. Der 12. Parteitag des PCE, der Ende Februar 1988 stattfand, beschloß nicht nur eine gründliche Erneuerung des ZK und der Leitungsgremien (neuer Generalsekretär wurde Julio Anguita, ehemaliger Oberbürgermeister von Cördoba), sondern nahm auch das Problem der Wiedervereinigung aller kommunistischen Parteien und Gruppen Spaniens als dringendste Aufgabe in Angriff. Dabei wurde ein neues Parteiprogramm entworfen, das die engen Verbindungen mit der Gewerkschaftszentrale Comisiones Obreras noch verstärkte. Bei den Parlamentswahlen 1993 und 1996 konnte die Parteienkoalition Izquierda Unida mit 9,57% bzw. 10,54% Stimmenanteil stabile Ergebnisse erzielen und festigte sich als drittstärkste Partei im Parlament. Im Jahr 2000 verschlechterten sich die Wahlergebnisse allerdings drastisch, und die Wählerschaft des IU ging auf weniger als die Hälfte im Vergleich zu den vorigen Parlamentswahlen zurück (1996: 2.639.774 Stimmen; 2000: 1.263.043 Stimmen). Dieser Trend setzte sich auch bei den letzten Wahlen im Jahr 2004 fort, bei denen die Vereinigte Linke mit 4,96% Stimmenanteil lediglich fünf Sitze im Abgeordnetenhaus erhielt und damit nun die stimmenschwächste Partei im Parlament darstellt. Die Parteienkoalition hatte bisher drei Generalsekretäre: Gerardo Iglesias, Julio Anguita und Gaspar Llamazares (seit 2000). Infolge der schlechten Wahlergebnisse fand vom 10. bis 12. Dezember 2004 in Madrid die außerordentliche achte Versammlung von IU statt, die versuchte, eine Lösung für die schwere Krise zu finden, die die Vereinigte Linke seit Jahren durchlebte. Doch ein Ende der Führungskrise ist nicht erkennbar. Sie verfestigte sich insbesondere in der offenen Auseinandersetzung zwischen dem Generalkoordinator der Izquierda Unida, Gaspar Llamazares Trigo, und der Führung des Partido Comunista de los Pueblos de Espada (PCPE), der die stärkste politische Kraft in der IU darstellt. Die Agonie der IU ist vor allem auf die Zersplitterung des PCPE in einzelne Fraktionen zurückzuführen. Einige der Mitglieder des PCPE konzentrieren sich in verschiedenen Regionalleitungen, andere im zentralen Parteiapparat. Hinzu kommen noch etwa ein Dutzend Strömungen und Gruppen, die ihren Ursprung in der extremen Linken haben. Der Bevorzugung der eigenen fraktionellen Arbeit vor den Interessen der Koalition verhinderte es, die Izquierda Unida als gemeinsame autonome Organisation zu etablieren. Vor allen Dingen fehlt eine gesamtstaatliche Leitung, die eine demokratische Willensbildung innerhalb der IU und die Kontrolle der verschiedenen Fraktionen und Strömungen ermöglichen könnte. Nach den Parlamentswahlen im März 2004 bildete der PSOE eine Minderheitenregierung, die auch auf die parlamentarische Unterstützung durch die Izquierda Unida angewiesen ist. Doch aufgrund der internen Fraktionskämpfe ist die IU zu schwach, um eigene Vorstellungen gegenüber dem PSOE durchsetzen zu können. Dies wird noch verstärkt durch die Debatte um die Reform der Autonomiestatute. Der Vorschlag der baskischen
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Regierung, ein Referendum über die Schaffung eines mit Spanien frei assoziierten baskischen Staats durchzuführen, hat die Linke in einen zentralistischen und einen nationalistischen Flügel gespalten. Sowohl die baskische Organisation der IU, Ezker Batua (EB-B), als auch das katalanische Pendant der IU, Esquerra Unida i Alternativa (EUiA), vertreten das Recht auf Selbstbestimmung der Nationalitäten. Dagegen halten die Mitglieder des PCPE an ihrer zentralistischen Sichtweise fest. So scheint sich die Uneinigkeit der kommunistischen Koalition und die Zersplitterung in verschiedene Strömungen auch weiterhin fortzusetzen. Die äußerste Rechte ist im heutigen politischen Spektrum Spaniens parlamentarisch nicht vertreten, nachdem ihre ohnehin sehr geringen Stimmen nach 1979 ständig zurückgegangen waren. Sie machte sich in der Transition allerdings auf der Straße und durch Terroranschläge bemerkbar, etwa bei Demonstrationen am Todestag Francos (20. 11.), durch Anschläge (z. B. den auf die Rechtsfakultät der Madrider Universität) und Attentate (so 1977 auf die Arbeiteranwälte in Atocha). Zu den rechtsradikalen Gruppierungen, die das parlamentarisch-demokratische System ohnehin ablehnten und nie Kandidaten für die Cortes-Wahlen aufgestellt haben, zählten Organisationen wie AAA, Alianza Apostölica Anticomunista (Apostolische Antikommunistische Allianz), die Cuerrilleros de Cristo Rey (Christkönigskrieger) oder der 1965 gegründete CEDADE, Circulo Espatiol de Amigos de Europa (Spanischer Kreis der Freunde Europas); über ihre konkreten politischen Konzepte war wenig bekannt. In den ersten Jahren nach Francos Tod erfreuten sich unkontrollierte Terrorkommandos der Rechten der stillschweigenden Duldung (oder gar Förderung) durch die Polizei. Parallel zur Auflösung der Falange (1977) im Übergang zur Demokratie entstanden mehrere rechtsextreme falangistische Nachfolgeorganisationen (Falange Espatiola y de las JONS autMtica, Sector Hedilla; Circulos Jos . Antonio; Falange Espatiola Independiente), die sich alle als "echte" Falange-Organisationen im Sinne von Jose Antonio Primo de Rivera bezeichneten. Zur "Nationalen Allianz 18. Juli" (Alianza Nacional 18 de julio) schlossen sich die Falange Espatiola y de las IONS von Raimundo Fernändez-Cuesta, die 1975 gegründete Fuerza Nueva von Blas Pitlar und die Confederaciön Nacional de Excombatientes von Jose Antonio Girön zusammen; bei den Parlamentswahlen von 1977 erhielt das Wahlbündnis 0,53% der Stimmen. 1979 trat das inzwischen anders gestaltete Bündnis als Uniön Nacional bei den Wahlen an und erreichte 1,9% der Stimmen sowie ein Abgeordnetenmandat (Blas Pifiar). Während der gesamten transiciön waren lose Antonio Girön de Velasco, Raimundo Fernändez-Cuesta und Blas Piriar die "großen" Namen der extremen Rechten. Ende 1979 gründete die Fuerza Nueva — die dominante politische Formation in diesem Feld, deren Ideologie eine Mischung aus faschistischen Bürgerkriegsparolen und mittelalterlichem Mystizismus darstellte — eine eigene, allerdings völlig unbedeutend gebliebene Gewerkschaft (Fuerza Nacional del Trabajo) und erwarb die Aktienmehrheit an der bis dahin angesehenen Zeitung Diario de Barcelona. In der Folgezeit sank jedoch die Anhängerschaft von Fuerza Nueva: Von 380.000 (bei den Wahlen 1979) auf 100.000 (bei den Wahlen 1982; alle rechtsradikalen Gruppierungen zusammen erhielten rd. 150.000 Stimmen oder 0,7 %). Die improvisierte Partei Solidaridad Espatiola des Putschisten Antonio Tejero erreichte 1982 ganze 25.000 Stimmen. Die Wahlen von 1982 waren somit ein entIII Rechtsextreme Parteien.
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scheidender Schlag gegen die militärischen und die zivilen Anhänger eines autoritären Regimes. Ende 1982 wurde die Fuerza Nueva, die damals über 40.000 Mitglieder verfügte, als Partei aufgelöst und in einen "kulturellen Verein" umgewandelt. Seit der Auflösung von Fuerza Nueva hat die extreme Rechte wiederholte Versuche unternommen, erneut eine Einheitsorganisation zu gründen; seit Anfang 1985 arbeiteten ehemalige Franco-Minister (Gonzalo Fernändez de la Mora, Jos Utrera Molina) und Nachwuchskräfte der Rechten (Jaime Alonso, Pedro Gonzälvez Bueno) auf die Gründung einer neuen Partei hin, die 1986 als Juntas de Integraciön Nacional an die Öffentlichkeit trat; ein Großteil der Führungspositionen wurde von Journalisten der Zeitung El Alcäzat; dem wichtigsten publizistischen Organ der extremen Rechten (Hg.: Antonio Izquierdo), eingenommen. Andere rechtsextreme Kräfte (angeblich ein Zusammenschluß von 25 Kleinorganisationen) gründeten 1986 die Coordinadora de Fuerzas nacionales, die den neuen "Führer" Spaniens in den Reihen des Militärs suchte; zu diesem Frente Nacional gehörten u. a. die Organisationen Movimiento Catölico Espafiol (Josd Luis del Corral), Afirmaciön Espatiola (Antonio Diosdado), Comuniön Tradicionalista (Camilo Merindez Vives), Movimiento Falangista (Jos Luis Jarefio) und andere. Die äußerst schwache parlamentarische Verankerung der extremen Rechten darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Mitglieder dieser Parteien sehr militant und eine Zeitlang in der Lage waren, beeindruckende Massenveranstaltungen durchzuführen. Die formelle Aufgabe des Parteienstatus dürfte außerdem eine verstärkte Radikalisierung der Aktionsformen bewirkt haben. In den 1980er Jahren sollen spanische Ultras mit libyschen Beauftragten Gaddafls zum Sturz der Demokratie zusammengearbeitet haben. Libyen finanzierte auch rechtsextreme Kampfblätter und die Schlägertruppen der damals angeblich 30.000 Mitglieder umfassenden Gewerkschaft Fuerza Nacional del Trabajo (Vorsitzender: Jaime Alonso). Zum Jahreswechsel 1989/90 zeichnete sich eine Änderung der Taktik der extremen Rechten ab, die wieder verstärkt politisch agieren und an (kommunalen) Wahlen teilnehmen wollte. Der Frente Nacional, der seit 1987 erneut unter der Leitung von Blas Pitiar stand, beschloß (unter maßgeblichem Einfluß des neuen Generalsekretärs Miguel Bernal) den Zusammenschluß mit den (angeblich 5.000 Mitglieder zählenden) Juntas Espafiolas, die von Ramön Graells angeführt wurden. Vorbilder des Kurswechsels waren die französische "Nationale Front" von Jean-Marie Le Pen und die deutschen "Republikaner". Auch die Organisation CEDADE erhielt in Pedro Varela einen neuen, gemäßigteren Führer, dessen Kurs sich aber die radikalere Basis widersetzte. Nach einer Untersuchung des Europäischen Parlaments war CEDADE 1990 mit 1.500 Mitgliedern eine der stärksten, aktivsten Neonazigruppen in der EG. In den Jahren 2000 bis 2004 verstärkten sich — wie auch in anderen europäischen Ländern — fremdenfeindliche Haltungen in Teilen der spanischen Gesellschaft. Diese wachsende Fremdenfeindlichkeit, insbesondere gegenüber Immigranten aus islamischen Staaten, ist auf die Einwanderungsproblematik (verbunden mit einer steigenden Arbeitslosigkeit) zurückzuführen. Rechtsextreme Gruppen machen sich diese Tendenzen systematisch zunutze, um neue Anhänger zu gewinnen und um so ihr radikales Gedankengut verbreiten zu können. Bisher sind allerdings Parteien der äußersten Rechten weder in regionalen Parlamenten noch in den Cortes vertreten. Dies liegt vor allem am Fehlen einer Führungspersönlichkeit. Aber es existiert bereits eine Anti-Einwanderungs-Partei in Spanien, die Plata-
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forma per Catalunya, welche bei den letzten Gemeindewahlen je ein Stadtratsmandat in vier katalanischen Städten erzielte. Auf nationaler Ebene nimmt der Frente Nacional nach wie vor eine bedeutende Position innerhalb der rechtsextremen Parteien ein und orientiert sich in seiner Ideologie stark am französischen Vorbild Le Pen. In diesem Zusammenhang spricht man auch von einer "lepenizaciön de los espfritus". Damit ist gemeint, daß der "Lepenismus" zunächst das Bewußtsein erobert, bevor Wählerstimmen gewonnen werden. Trotz einer steigenden Fremdenfeindlichkeit beschränkt sich die Ausbreitung des rechtsextremen Gedankenguts bisher auf gesellschaftliche Randgruppen und hat noch keinen Einzug in das spanische Parlament gefunden. In diesem Punkt unterscheidet sich Spanien von vielen anderen europäischen Staaten. n Linksextreme Parteien. Im Gegensatz zur extremen Rechten im politischen Spektrum ist es nicht leicht, die extreme Linke in der postfranquistischen Zeit definitorisch einzugrenzen. Klarheit besteht nur darüber, daß die historisch als "links" einzuordnende Sozialistische Arbeiterpartei Spaniens (PSOE) ihre linken Positionen aufgegeben und damit zur Herausbildung eines links von ihr stehenden Parteienbündnisses (Izquierda Unida) beigetragen hat (das allerdings nicht als "extrem" links bezeichnet werden kann). Die neoliberale Wirtschaftspolitik des PSOE führte in den 1980er Jahren auch dazu, daß Gewerkschaften und neue soziale Bewegungen sich weiter nach links entwickelten. Als extreme Linke kann man zum einen jene politischen Gruppierungen bezeichnen, die eine Gesellschaftsveränderung auf revolutionärem, zumindest auf außerparlamentarischem Weg anstrebten, zum anderen die (von Region zu Region unterschiedliche) nationalistische Linke, schließlich die linksradikalen Terrororganisationen, die ihre Ziele mit Gewalt durchsetzen wollten. Im Übergang zur Demokratie zeichneten sich die Gruppierungen der extremen Linken u. a. dadurch aus, daß sie sich vom eurokommunistisch-reformistischen Kurs der Kommunistischen Partei ebenso wie von der Politik der (damals noch verschiedenen) sozialistischen Parteien distanzierten. 1979 stellten sich etliche dieser "linkskommunistischen" Parteien zur Wahl: etwa die marxistisch-leninistische Revolutionäre Arbeiterorganisation (Organizaciön Revolucionaria de Trabajadores, ORT), die aus dem linken Arbeiterapostolat hervorgegangen war; die Arbeiterpartei Spaniens (Partido del Trabajo de Espafia, PTE), die aus einer Abspaltung des PCE hervorgegangen war und eng mit der radikalen andalusischen Landarbeitergewerkschaft Sindicato de Obreros del Campo (SOC) zusammenarbeitete; die maoistische Kommunistische Bewegung (Movimiento Comunista, MC), eine der über 20 marxistischen Gruppierungen, die wiederholt unterschiedliche Verbindungen eingingen und auflösten; die 1971 gegründete trotzkistische Revolutionäre Kommunistische Liga (Liga Comunista Revolucionaria, LCR), die als spanische Sektion der IV. Internationale auftrat (Organ: Combate); die marxistisch-leninistisch-maoistische Kommunistische Organisation Spaniens — Rote Fahne ( Organizaciön Comunista de Espafia — Bandera Roja, OCE-BR), die für eine sozialistische Republik mit weitgehend nationalisierten Wirtschaftsbereichen eintrat. Diese und zahlreiche andere Parteien der extremen Linken, die in den einzelnen Regionen unter verschiedenen Bezeichnungen antraten, erhielten 1979 etwas über 550.000 Stimmen (3 %); auch danach konnten sie ihren Anteil nicht erhöhen. Die sozioökonomische
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und politische Entwicklung seit Beginn der 80er Jahre trug zur Krise der extremen Linksparteien bei und hatte einen deutlichen Strukturierungseffekt zur Folge. Andererseits beeinflußten die kleinen Linksparteien die Entstehung der immer bedeutender werdenden neuen sozialen Bewegungen. 1986 riefen einige dieser Linksparteien (MC, LCR) zur Stimmenthaltung bei den Parlamentswahlen auf; in einigen Autonomen Gemeinschaften sollten die Wähler allerdings ihre Stimmen abgeben (so etwa im Baskenland für Herri Batasuna, in Galicien für den Bloque Nacionalista Galego, auf den Kanarischen Inseln für das Movimiento de Izquierda Revolucionaria del Archiplago Canario), was auf die linksnationalistische Grundausrichtung der "zentralen" Linksgruppierungen verweist. Die nationalistische Linke war und ist von Region zu Region sehr unterschiedlich, wobei die nationalistische Komponente und das sozialistische Element höchst divergierende Mischungsverhältnisse eingehen können. Von großer Bedeutung war zweifellos die baskische nationalistische (abertzale) Linke (Herri Batasuna, HB), die ETA nahesteht und als Hauptforderung die Selbstbestimmung des baskischen Volkes (mit der Konsequenz einer Unabhängigkeit des Baskenlandes) vertritt; von sich reden machte auch immer wieder die unter der Führung von Antonio Cubillo stehende, in den 60er Jahren entstandene Bewegung für die Selbstbestimmung und Unabhängigkeit des Kanarischen Archipels (Movimiento para la Autodeterminaciön e Independencia del Archiplago Canario, MPAIAC), die die Unabhängigkeit der Kanarischen Inseln von Spanien – unter Betonung ihres "Afrikanismus" – erreichen möchte. Zu den außerparlamentarischen Organisationen, die den bewaffneten Kampf gegen den Staat propagierten, gehörte die 1971 gegründete Revolutionäre Antifaschistische Patriotische Front (Frente Revolucionario Antifascista Patriötico, FRAP), die über ein revolutionäres Volksheer eine sozialistisch-föderalistische Volksrepublik anstrebt (Organ: Acciön); das seit 1987 operierende Guerrilla-Heer des Freien Galicischen Volkes (EArcito Guerrilheiro do Povo Galego Ceive, EGPGC), das als extremistische Untergrundbewegung Anschläge gegen die "Ausbeuter" des galicischen Volkes (Holzindustrie, Banken) verübte; die baskische Separatistenorganisation ETA, die bis heute die größte Herausforderung an den spanischen Staat bildet; die von der ETA abgespaltenen Antikapitalistischen Autonomen Kommandos (Comandos Autönomos Anticapitalistas, CAA), deren Attentate sich vor allem gegen Vertreter des Kapitals im Baskenland richteten; die 1979 gebildete katalanische Terroristenorganisation Terra Lliure (Freies Land), die – ähnlich wie ETA, mit der sie wahrscheinlich zusammenarbeitete – den bewaffneten Kampf (Attentate, Sprengstoffanschläge) zur Erlangung der katalanischen Unabhängigkeit einsetzte, wobei sie politisch von der radikalen Unabhängigkeitsorganisation Bewegung zur Verteidigung des Bodens (Moviment de Defensa de la Terra, MDT) mitvertreten wurde; die seit dem 1. Oktober 1975 operierende Terrororganisation Antifaschistische Widerstandsgruppe Erster Oktober (Grupo de Resistencia Antifascista Primero de Octubre, GRAPO), die immer wieder gegen Polizisten und Militärs Attentate verübte. Insgesamt blieb die extreme Linke äußerst schwach; sie verfügte auch nicht über eine überzeugende Strategie zur Umwandlung von Staat und Gesellschaft. Die in Spanien "klassischen" Formationen der extremen Linken, die Anarchisten, spielten nach wiederholten Spaltungen und Organisationsproblemen nach 1975 keine politische Rolle mehr.
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n Baskische Nationalistische Partei (PNV, Partido Nacionalista Vasco). Die älteste Partei des Baskenlandes wurde 1885 von Sabino Arana Goiti unter dem Motto "Gott und Altes Gesetz" gegründet, womit die alten Sonderrechte und Privilegien der Basken gemeint waren. Mit einem bürgerlich-nationalistischen Programm, das die Verteidigung der politischen Autonomie des baskischen Volkes, dessen Sprache, Kultur und Traditionen mit einer starken katholischen Ideologie verband, kämpfte der PNV bis zur Zweiten Spanischen Republik für die Errichtung einer lokalen autonomen Regierung im Baskenland. Verboten und verfolgt während der franquistischen Diktatur, konnte der PNV während der transiciön seine führende Rolle schnell wiedererlangen. Nach den Wahlen zum regionalen baskischen Parlament im November 1986 sank die Zahl der Abgeordneten von 32 auf 17, wohl u.a. als Folge der im September desselben Jahres vollzogenen Spaltung der Partei, die aber schon seit dem Tode des "geistigen Vaters" des PNV Juan de Ajuriaguerra (1978) latent vorhanden gewesen war. Die "kritische Gruppe" der sog. "Baskischen Nationalisten" (Eusko Abertzaleak), angeregt vom ehemaligen lehendakari (baskischen Ministerpräsidenten) Carlos Garaikoetxea, konstituierte sich in einer neuen Partei, Eusko Alkartasuna (Baskische Solidarität), die bei den Wahlen 1986 auf Anhieb 14 Sitze im baskischen Parlament errang. Die gemäßigten bürgerlichen Nationalisten blieben somit die zahlenmäßig stärkste politische Macht im Baskenland. Als Folge der Wahlen von 1986, bei denen die Sozialistische Partei des Baskenlandes (PSE), eine regionale Organisation des PSOE, mit 19 Sitzen die relative Mehrheit erreichte, sah sich der PNV dazu gezwungen, mit dem "zentralistischen" PSE eine Koalitionsregierung zu bilden. Regierungschef des Baskenlandes wurde 1985 Jose Antonio Ardanza (PNV). Das Presseorgan des PNV ist DEIA. 1995 feierte der Partido Nacionalista Vasco, der seit 1979 die stärkste politische Partei im Baskenland ist und ohne Unterbrechung den lehendakari stellte, sein hundertjähriges Bestehen. Am Ende jenes Jahres wurde auf der Generalversammlung des PNV Xabier Arzalluz zum Parteipräsidenten gewählt. Im Oktober 2003 legte der baskische Ministerpräsident, Juan Jose Ibarretxe, ein Zögling von Arzalluz, einen Gesetzesentwurf vor, den so genannten Plan Ibarretxe, dessen Ziel es ist, mittels eines Referendums den Autonomiestatus des Baskenlandes bis an die Grenze der Unabhängigkeit zu erweitern. Dies beinhaltet unter anderem eine unabhängige Gerichtsbarkeit sowie das Recht auf eigene diplomatische Vertretungen des Baskenlandes. Dies wäre ein großer Schritt in der Entwicklung zu einem eigenen baskischen Staat, der mit dem spanischen Staat "frei assoziiert" ist. Anfang 2004 übergab der Vorsitzende des PNV, Xabier Arzalluz, nach 25 Jahren die Parteiführung an seinen Nachfolger Josu Jon Imaz. Bei den Wahlen zum Madrider Parlament vom März 2004 erzielte der PNV einen Stimmenanteil von 1,63 % und verbesserte sich damit gegenüber den Parlamentswahlen in den Jahren 1993 (1,24 %), 1996 (1,27%) und 2000 (1,53%). Auf regionaler Ebene verbesserte der PNV nach dem Debakel im Jahr 1986 mit nur 23,7% Stimmenanteil kontinuierlich seine Wahlergebnisse (1990: 28,5 %; 1994: 29,3 %; 1998: 28,0%) und konnte 2001 mit 42,7% der abgegebenen Stimmen erstmals seit 1984 wieder eine deutliche Mehrheit im baskischen Regionalparlament erzielen. Bei den Regionalwahlen am 17. April 2005 entfielen allerdings nurmehr 38,6% der Wählerstimmen auf den PNV und seinen kleineren Koalitionspartner Eusko Alkartasuna (EA). Damit konnte die
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V Parteien, Parteiensysteme und Parteiengeschichten
bisherige nationalistische Regierungskoalition mit 29 von 75 Sitzen ihre Position im baskischen Regionalparlament vor der stärksten Oppositionspartei, den baskischen Sozialisten des PSE-EE/PSOE (18 Sitze), zwar verteidigen, aber keine Regierungsmehrheit erlangen. Seither regiert Ibarretxe mit einer PNV-Minderheitsregierung. n Konvergenz und Union (CiU, Convergencia i Uni6) ist die von ursprünglich eher dynamischen Sektoren in Industrie und Banken getragene Parteienallianz der bürgerlichen Nationalisten in Katalonien. Sie stellte seit Mai 1980 bis Herbst 2003 mit Jordi Pujol den Präsidenten der katalanischen Generalitat. Das Wahlbündnis wurde 1978 geschlossen zwischen der 1974 von Pujol gegründeten Convergencia Democrätica de Catalunya, die für 1987 knapp 15.000 Mitglieder angab, und der bereits 1931, zu Beginn der Zweiten Republik gegründeten christdemokratischen Uniö Democrätica de Catalunya. Zwischen 1977 und 1980 galt Jordi Pujol, der während des Franco-Regimes mehrere Jahre inhaftiert war, im Madrider Parlament als Sprecher des Bürgertums, das die späteren Autonomias vertrat. Aus den ersten Wahlen in Katalonien im April 1980 ging CiU überraschend als stärkste Gruppierung hervor (27,6% gegenüber 22,3% für den sozialistischen PSC/PSOE). Sie stellte eine Minderheitsregierung, die von der linksnationalistischen Esquerra Republicana de Catalunya (ERC) mitgetragen wurde. 1983 konnte sie sich auch bei den Kommunalwahlen konsolidieren (25 %), besonders im ländlichen und kleinbürgerlichen Milieu. Wiederum unerwartet war der erdrutschartige Sieg von 46,7% bei der Katalonien-Wahl von 1984, der CiU mit 72 Sitzen eine klare absolute Mehrheit brachte (unter Ausschöpfung des Wählerreservoirs der aufgelösten Zentrumspartei UCD). Anläßlich des Nato-Referendums von 1986 rief die Partei zur Stimmenthaltung auf. Bei den Wahlen zum Madrider Parlament im selben Jahr verbesserte sich CiU, die in Katalonien auf 32% gekommen war, von 12 auf 18 Abgeordnetensitze. Miquel Roca jedoch, ihr ehemaliger Generalsekretär und Fraktionsführer in Madrid, der auf gesamtspanischer Ebene über den Partido Reformista Democrätico (PRD) die Stimmen der rechten Mitte auf sich vereinigen wollte, fiel mit 1% der Stimmen durch. Eine weitere leichte Konsolidierung für CiU brachten die Kommunalwahlen von 1987, auch im Industriegürtel um Barcelona. Bei den katalanischen Wahlen von 1988 verlor Pujol mit 46,6% einen Prozentpunkt, behauptete aber mit 69 Abgeordneten die absolute Mehrheit (vorher 72). Bei der Europawahl 1989 verlor die Partei einen ihrer drei Sitze, bei der Parlamentswahl hielt sie – bei gesamtspanischen 5,04% – ihre 18 Mandate in Madrid. Programmatisch versteht sich CiU als aktiver Vertreter der katalanischen Interessen, etwa bei der geforderten Revision des Autonomiestatuts oder jener der Verfassung. Zugleich betrieb sie eine eigene Außen- und Europapolitik. Mit dem konservativen Partido Popular arbeitete sie punktuell zusammen. In Wirtschaftsfragen und bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit vertrat sie stets den Unternehmer- oder liberalen Standpunkt. Ihre Verfilzung mit der Wirtschaft wurde bei Skandalen um die Banca Catalana oder die katalanischen Spielbanken deutlich. Bei den gesamtspanischen Parlamentswahlen nahm der Stimmenanteil der CiU in den 90er Jahren leicht aber stetig ab. Konnte die Parteienkoalition 1993 noch 17 Abgeordnetensitze (= 4,95%) erreichen, so waren es im Jahr 1996 nurmehr 16 Sitze (= 4,60%) und im Jahr 2000 15 Sitze (= 4,19%). Bei den letzten Wahlen zum gesamtspanischen Parlament
Parteien in der Demokratie (seit 1977)
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erlebte die CiU mit einem auf 3,24 % gesunkenen Stimmenanteil einen herben Einbruch und erhielt somit nur noch 10 Sitze im Abgeordnetenhaus. Vor den Regionalwahlen 2003 gab Jordi Pujol, bis dahin amtierender Regierungschef Kataloniens, bekannt, daß er nicht mehr zur Wahl antreten würde. Sein politischer Erbe wurde Artur Mas, der als Spitzenkandidat der CiU antrat. Bei den Wahlen zum katalanischen Regionalparlament am 16. November 2003 konnte Convergencia i Uniö zwar erneut ihre relative Mehrheit nach Sitzen (46 Sitze) gegenüber den katalanischen Sozialisten (42 Sitze) und dem linksgerichteten ERC (23 Sitze) verteidigen, nach relativen Stimmenanteilen war sie aber mit 30,9% hinter den Sozialisten (31,2%) nur zweitstärkste Partei. In den nachfolgenden Koalitionsgesprächen zeichnete sich erstmals seit 1980 eine Regierungsmehrheit ohne die CiU ab. Am 14. Dezember 2003 unterschrieben der sozialistische PSC, der republikanische ERC und die Grünen Kataloniens (ICV) ein entsprechendes Regierungsabkommen, das Convergencia i Uniö in die Opposition brachte. Anschließend wurde Pasqual Maragall (PSC) von der neuen Regierungskoalition zum ersten katalanischen sozialistischen Regionalpräsidenten seit Wiedereinführung der Regionalwahlen im Jahr 1980 gewählt. n Sozialistische Einheitspartei Kataloniens (PSUC, Partit Socialista Unificat de Catalunya). Die "Sozialistische Einheitspartei Kataloniens" wurde am 26. Juli 1936 als Vereinigung von vier katalanischen Parteien – Uniö Socialista de Catalunya, Partit Comunista de Catalunya, Federaciö Catalana del PSOE und Partit Catalä Proletari – gegründet. Die neue Partei zählte insgesamt etwa 6.000 Mitglieder; erster Generalsekretär wurde Joan Comorera. Die ein Jahr später einberufene 1. Parteikonferenz beantragte die Aufnahme in die III. Internationale, die Zahl der Mitglieder war inzwischen auf über 60.000 angewachsen. 1940 wurden die führenden Mitglieder der Parteileitung (Girabau, Di4uez, Larrafiaga) von der franquistischen Regierung zum Tode verurteilt und erschossen. Die Partei konnte sich bis 1943 langsam reorganisieren und die politische Arbeit in der Illegalität wiederaufnehmen: Herausgabe des Parteiorgans Treball, Teilnahme an der katalanischen Exilregierung und am bewaffneten Widerstandskampf (maquis), Organisierung der ersten illegalen Gewerkschaften. 1947 und 1949 wurden zahlreiche Parteiführer hingerichtet, andere zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. 1956 hielt der PSUC seinen 1. Kongreß im französischen Exil ab; im Einvernehmen mit dem PCE verkündete er die neue Politik der "nationalen Versöhnung", die vom III. Parteitag in der Illegalität (Februar 1973) bestätigt wurde. 1964 hatte eine Abspaltung linkssektiererischer Gruppen stattgefunden, 1967 kam es zu einer zweiten ähnlichen Charakters. Am 3. Mai 1977 wurde der PSUC legalisiert; in den ersten demokratischen Wahlen nach dem Ende der Diktatur erreichte er 18,2 % der Stimmen in Katalonien. Der PSUC, organisatorisch in den PCE integriert, erlebte in jenen Jahren alle Spannungen, Konflikte und inneren Zerreißproben, die den PCE selbst erschütterten. Seine Verankerung in der regionalen katalanischen Politik war aber stets viel stärker als die des PCE auf nationaler Ebene (1979: 17,1 % bei den Parlamentswahlen, 34,0% bei den Kommunalwahlen in Katalonien). Auch seine Bedeutung als eine der führenden politischen Kräfte Kataloniens konnte er in den Wahlen zum autonomen Regionalparlament 1980 unter Beweis stellen (20,2% der Stimmen). Die von der sog. "eurokommunistischen" Linie ent-
134
V Parteien, Parteiensysteme und Parteiengeschichten
fachten inneren Diskussionen innerhalb der spanischen Kommunisten führten 1981 im Laufe des 5. Kongresses des PSUC zu dessen Spaltung: Der PSUC blieb sehr knapp — nicht zuletzt unter dem massiven Druck der PCE-Leitung — der "eurokommunistischen" Linie treu, eine Gruppe unter Pere Ardiaca gründete den Partit dels Comunistes de Catalunya, PCC (Partei der Kommunisten Kataloniens). Der im März 1982 auf Drängen des PCE abgehaltene außerordentliche Parteitag wählte den "Eurokommunisten" Antoni Guti&rez Dfaz wieder zum Generalsekretär. In den Parlamentswahlen erlebte der PSUC einen ersten Einbruch (4,6% der Stimmen), der sich bei den Kommunalwahlen 1983 wiederholen sollte (7,2 %). Auch in den Wahlen zum autonomen Katalanischen Parlament (1984) kam er nicht über ein bescheidenes Ergebnis hinaus (6%). Nach 1986 versuchte man, wieder eine Annäherung beider Parteien herzustellen und — auf der Basis neuer Koalitionen mit anderen linken Gruppierungen und Parteien — ein besseres Wahlergebnis zu erreichen. Bei den Gemeindewahlen am 10. Juni 1987 erreichte der PSUC (in Koalition mit dem PCC und der Esquerra Republicana de Catalunya, Katalanische Republikanische Linke) knapp 5 % der Wählerstimmen. 1986 wurde Rafael Ribö Generalsekretär des PSUC. Er behielt dieses Amt bis 1997, als auf dem 9. Parteikongreß eine Sekretariatskammer (secretarla colegiada) bestehend aus Quim Mestre, Rafael Ribö, Simön Rosado, Joan Saura und Lali Vintrö den Parteivorsitz übernahm. 1987 gründete der PSUC gemeinsam mit dem Partit dels Comunistes de Catalunya (PCC) und dem Entesa Nacionalista d'Esquerra die Parteienföderation Iniciativa per Catalunya (IC), um eine neue regionale linke Alternative zu schaffen, welche sich insbesondere um soziale und nationale Fragen kümmerte. 1990 wurde auf der 1. Nationalversammlung Rafael Ribö zum Parteivorsitzenden gewählt. In den folgenden Jahren gewann der ökologische Aspekt kontinuierlich eine immer größere Bedeutung in der Ideologie der IC. Dies äußerte sich 1993 in der Allianz mit den Grünen (Els Verds) und erreichte schließlich seinen Höhepunkt während der 5. Parteiversammlung im November 1998, als sich die IC in Iniciativa per Catalunya-Verds (IC-V) umbenannte, um auch nach außen hin ihr ökologischsoziales Profil zu verdeutlichen. Im Jahr 2000 fand die 6. Nationalversammlung der IC-V statt, auf der sich ein Wechsel in der Parteiführung vollzog und Joan Saura den bisherigen Vorsitzenden Rafael Ribö ablöste. Bei den autonomen Wahlen am 16. November 2003 erreichte die IC-V gemeinsam mit der Esquerra Unida i Alternativa (EUA) einen Stimmenanteil von 7,3% und damit 9 von insgesamt 135 Sitzen im katalanischen Regionalparlament. Damit verbesserte die IC-V ihr Wahlergebnis im Vergleich zu den vorherigen Wahlen im Jahr 1999, als sie alleine nur 2,5% (3 Sitze) erzielte.
Literatur Älvarez Junco, Jos: Alejandro Lerroux. El emperador del Paralelo. Madrid 2005 Ardid Pellön, Miguel A. / Castro-Villacarias, Javier: Josä Maria Robles. Barcelona 2004 Esteban, Jorge de: La alternancia. La caida del PSOE y el ascenso del PP al poder. Madrid 1997 Esteban, Jorge de / Löpez Guerra, Luis: Los partidos polfticos en la Esparia actual. Barcelona 1982 Garcia Cotarelo, Ramön: Los partidos politicos. Madrid 1985
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135
Gunther, Richard / Sani, Giacomo / Shabad, Goldie: El sistema de partidos polfticos en Esparia. Madrid 1986 Huneeus, Carlos: La Uniion de Centro Democrätico y la transiciön a la democracia en Esparia. Madrid 1985 Linz, Juan Josä / Montero, Josä Ramön: The Party Systems of Spain: Old Cleavages and New Challenges. Madrid 1999 Nohlen, Dieter: Spanien. In: Sternberger, Dolf / Vogel, Bernhard (Hg.): Die Wahl der Parlamente und anderer Staatsorgane. Bd. 1. Berlin 1968,1229-1285 Otto Pardo, Ignacio de: Defensa de la Constituciön y partidos politicos. Madrid 1985 Ramirez, Manuel: Sistema de partidos en Esparia (1931-1990). Madrid 1991 Rath, Corinna: Regierungs- und Parteiprogramme in Italien, Portugal und Spanien. Frankfurt am Main 2000
136
VI Der Zentralstaat: Regierungssystem, Staatsform, Wahlen
1. Staatsform und Regierungssystem Die Verfassung von 1978 definiert Spanien als einen "demokratischen und sozialen Rechtsstaat", der sich zu "Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und politischem Pluralismus als den obersten Werten seiner Rechtsordnung" bekennt. Staatsform ist die "parlamentarische Monarchie"; der König ist Staatsoberhaupt und (symbolisch) Oberbefehlshaber der Streitkräfte, die Krone ist im Hause Bourbon erblich. Wichtigstes Recht des Staatsoberhaupts ist – nach Aussprache mit den Parteienvertretern – das Recht, einen Ministerpräsidenten vorzuschlagen. Daneben kommen dem König im wesentlichen repräsentative Befugnisse zu. Die Akzeptierung des Königs und der Monarchie war bei Sozialisten und Kommunisten anfangs sehr umstritten; die beiden Parteien gaben schließlich, angesichts der demokratischen und ausgleichenden Haltung des Königs, ihre Forderung nach einer Volksbefragung zur Staatsform – Republik oder Monarchie – auf (zur Verfassung vgl. ausführlicher Kap. IV, 10: Die Verfassung der parlamentarischen Monarchie). Die parlamentarische Monarchie ist ein Novum in der spanischen Verfassungsgeschichte, da frühere monarchische Verfassungen nicht über die "konstitutionelle" Monarchie hinausgegangen waren, in der die Souveränität und die Legislativfunktionen zwischen Krone und Parlament aufgeteilt waren. Seit 1978 liegt demgegenüber die Souveränität beim Volk und die gesetzgebende Funktion ausschließlich beim Parlament (bzw. den Asambleas Legislativas der Autonomen Gemeinschaften). Dem Monarchen obliegen im wesentlichen politische Funktionen. Alle in den Artikeln 62 und 63 der Verfassung aufgeführten "Rechte des Königs" (u. a. Billigung und Bekanntmachung von Gesetzen, Einberufung und Auflösung des Parlaments, Festsetzung von Wahlen und Volksbefragungen, Ernennung und Entlastung der Regierungsmitglieder, Ausfertigung der im Ministerrat beschlossenen Dekrete, Ausübung des Begnadigungsrechts, Ratifikation internationaler Verträge, Kriegserklärung und Friedensschluß) können nur nach vorhergehender Genehmigung durch andere Staatsorgane ausgeübt werden. Von unbedeutenden Ausnahmen abgesehen, müssen alle Urkunden des Königs vom Ministerpräsidenten und gegebenenfalls von den zuständigen Ministern gegengezeichnet werden, die damit die (rechtliche) Verantwortung übernehmen. König und Regierung sind in fast allen Fragen vom Votum des Parlaments abhängig. Zum Sturz des Regierungschefs bedarf es des konstruktiven Mißtrauensvotums – eine dem deutschen Grundgesetz entliehene Vorschrift; die Befugnisse des Parlaments, der Cortes, und der Regierung sind klar getrennt, der Regierungschef (Presidente del Gobierno) hat eine starke Stellung inne. Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, das "Träger nationaler Souveränität" ist. Die Verfassung stützt sich auf die "unauflösliche Einheit der spanischen Nation", die "gemeinsames und unteilbares Vaterland aller Spanier" ist, anerkennt und gewährleistet allerdings auch das Recht auf "Selbstverwaltung der Nationalitäten und Regionen". Durch
Staatsform und Regierungssystem
137
die Regionalautonomie wurde die Staatsstruktur tiefgreifend verändert (vgl. Kap. VII: Der Staat der "Autonomen Gemeinschaften"). Seit 1977 hat Spanien wieder ein parlamentarisches Regierungssystem. In der Vergangenheit war die rechtliche und organisatorische Behandlung der politischen Institution "Regierung" von den verschiedenen Verfassungen des Landes stets vernachlässigt worden, so daß sie das Werk von praktischen Normen, Gewohnheiten und Erlassen von niedrigerem juristischen Rang blieb. Erst die Verfassung der Zweiten Republik (1931) befaßte sich systematisch mit diesem Problem. Aus der Zeit der franquistischen Diktatur ist die Ley de Regimen Juridico de la Administraciön del Estado – eine Art Rahmengesetz für die Staatsverwaltung – aus dem Jahr 1957 von Bedeutung, weil viele der dort festgeschriebenen technischen und juristischen Strukturen auch noch in der transiciön gültig waren. Erst die Ley de la Organizaciön de la Administraciön del Estado von 1983 – ein Gesetz zur Organisation der Staatsverwaltung – entwickelte bestimmte Verfassungsnormen weiter und setzte das Gesetz von 1957 in wichtigen Punkten außer Kraft. Das in der Verfassung verankerte Regierungssystem kann in vielerlei Hinsicht mit dem britischen Parlamentarismus verglichen werden. Die gesetzgebende Gewalt ist auf zwei Kammern aufgeteilt: das Abgeordnetenhaus (Congreso de los Diputados) und den Senat (Senado). Beide Parlamentskammern haben den übergeordneten Begriff Cortes Generales, deren Rechte und Funktionen in den Art. 66-80 der Verfassung festgelegt sind. Ihre Hauptaufgaben bestehen in der Verabschiedung von Gesetzen, der Genehmigung der Staatshaushalte und der Kontrolle der Regierung. Die Zahl der auf vier Jahre gewählten Kongreßabgeordneten schwankt zwischen 300 und 400 (ein Abgeordneter auf ca. 100.000 Einwohner), die sich zu Parlamentsfraktionen zusammenschließen müssen. Der Senat hat insofern den Charakter einer Territorialkammer, als für jede Provinz vier Senatoren gewählt, für jede autonome Region außerdem ein Senator und ab einer Million Einwohner pro Autonomer Gemeinschaft ein weiterer von der Legislative der jeweiligen Comunidad Autönoma bestimmt werden. Von den ca. 260 Senatoren sind somit 210 "Provinzvertreter". Ein Veto des Senats kann vom Kongreß mit absoluter Mehrheit zurückgewiesen werden. Die Verfassung stärkt deutlich die Exekutive und ihre Befugnisse, so daß diese in den gesetzgebenden Prozeß und in die Zusammensetzung der rechtsprechenden Organe eingreifen kann. Die Figur des Regierungschefs ist demnach auch mit breiten Machtbefugnissen ausgestattet. Art. 97 der Verfassung bestimmt seine spezifischen Funktionen. Obwohl die richterliche Gewalt die Rechtmäßigkeit der Regierungshandlungen kontrolliert und eventuell auch für nichtig, somit für verfassungswidrig erklären kann, ist der praktische Handlungsspielraum der Regierung sehr groß. Die Exekutive wird vom Presidente del Gobierno geführt; dem Kabinett gehören ein Vizepräsident (der die Funktionen des Präsidenten gegebenenfalls übernimmt, aber keinen Ministerposten innehat) und eine variable Zahl von Ministern an. Die Minister werden vom Ministerpräsidenten bestimmt und vom König ernannt. Eine Änderung, Umgestaltung oder Abschaffung der zentralen Staatsverwaltung kann nur vom Parlament vorgenommen werden. Ein eventuelles Mißtrauensvotum gilt dem Ministerpräsidenten, nicht der Regierung. Der Regierungschef schlägt die Durchführung von Volksbefragungen (referendum) und die Auflösung des Parlaments vor, er leitet die Innen- und Außenpolitik sowie (in seiner Eigen-
138
VI Der Zentralstaat: Regierungssystem, Staatsform, Wahlen
schaft als Vorsitzender des "Rats der Nationalen Verteidigung", der Junta de Defensa Nacional) die Verteidigungspolitik. Der Ministerrat berät über die Gesetzesvorlagen und leitet sie an das Parlament weiter, er genehmigt die Dekrete und erklärt den Ausnahmezustand. Der König kann selbst den Vorsitz des Ministerrats übernehmen, um über wichtige Staatsfragen direkt informiert zu werden. Der Ministerpräsident wird formal vom König ernannt. Die zur Zeit amtierende Regierung (Wahlperiode 2004-2008) ist folgendermaßen zusammengesetzt: lose Luis Rodrfguez Zapatero: Ministerpräsident (Presidente del Gobierno) Maria Teresa Fernändez de la Vega: Stellvertretende Ministerpräsidentin und Ministerin im Amt des Regierungschefs Pedro Solbes: Stellvertretender Ministerpräsident, Wirtschafts- und Finanzminister lose Bono: Verteidigungsminister (seit April 2006: Jose Antonio Alonso) Miguel Angel Moratinos: Außenminister lose Antonio Alonso: Innenminister (seit April 2006: Alfredo Perez Rubalcaba) Juan Fernando Löpez Aguilar: Justizminister Jesüs Caldera: Arbeits- und Sozialminister lose Montilla: Industrie-, Tourismus- und Handelsminister Jordi Sevilla: Minister für Regionalverwaltung Magdalena Älvarez: Entwicklungsministerin (seit April 2006: Mercedes Cabrera) Maria Jesüs Sansegundo: Bildungs- und Wissenschaftsministerin Maria Antonia Trujillo: Wohnungsbauministerin Carmen Calvo: Kulturministerin Cristina Narbona: Umweltministerin Elena Espinosa: Landwirtschafts- und Fischereiministerin Elena Salgado: Gesundheitsministerin
2. Wahlen und parlamentarische Kräfteverhältnisse Die bis 1936 in Spanien übliche Form des Mehrheitswahlrechts wurde 1977 bzw. 1978 durch das Verhältniswahlrecht ersetzt. Das allgemeine Wahlrechtssystem, d.h. das Wahlverfahren für die Parlaments- und Kommunalwahlen sowie für die Abgeordneten des Europa-Parlaments, wird vom Gesetz 5/1985 — modifiziert durch Gesetz 1/1987 — geregelt. Die Autonomen Gemeinschaften haben besondere Wahlnormen für die Konstituierung ihrer Parlamente und Regierungen; diese Normen können aber nicht gegen den Geist und die rechtlichen Grundlagen der beiden Verfassungsgesetze (Ley Orgänica) verstoßen. Der Abgeordnetenkammer (Congreso de los Diputados) gehören z. Zt. 350 Volksvertreter an (Art. 16.1 der spanischen Verfassung), also etwa ein Abgeordneter für je 110.000 Einwohner. Jeder Wahlbezirk besitzt eine Mindestzahl von zwei Abgeordneten, zu der dann weitere hinzukommen können, und zwar im Verhältnis zu der entsprechenden Bevölkerungszahl: je 144.500 Einwohner und die über 70.000 Einwohner gehenden Stimmenanteile haben das Recht auf weitere Abgeordnete. Die Parlamentssitze werden nach dem umstrittenen D'Hondt-System verteilt. Dabei können nur diejenigen Kandidatenlisten Sitze
Wahlen und parlamentarische Kräfteverhältnisse
139
Schema 1: Regierungs- und Wahlsystem König (erbliche Thronfolge)
Allg. Rat d rechtssprech. ( Gewalt
ei» Regierung
Ernennung) Ernennung Ernennung
Oberstes Gericht Verfassung sgencht
Parlamente der Autonomen Reg.onen
Ministerpräsident Minister
Auflösung auf Vorschlag des Ministerpräsidenten
Wahl VerantVertrauen wortlich 1
Volksabstimmung
•., Gesetzsenat gebung: Kongreß 248 Mitglieder Aufschie- 350 Mitglieder l. -) bendes ♦ Vetorecht Cortes Generales Wahl auf 4 Jahre
Wahl auf 4 Jahre
Wahlberechtigte Bevölkerung
erhalten, die in ihrem Wahlbezirk mehr als 3 % der Stimmen bekommen. Listenbündnisse sind in jedem Wahlbezirk möglich. Das spanische Wahlsystem gewährt nur unzureichend die im Art. 68 der Verfassung garantierte Verhältnismäßigkeit (proporcionalidad) der Vertretung, und dies nicht nur deshalb, weil das D'Hondt-Verfahren die großen Parteien begünstigt, sondern weil die Bevölkerungsdichte und -struktur der spanischen Wahlbezirke höchst unterschiedlich ist, mit dem Ergebnis, daß in den dünn besiedelten Bezirken nur diejenigen Kandidaten gewählt werden können, die insgesamt 12 % oder gar 15 % der Stimmen auf sich vereinigen, was die "Drei-Prozent-Klausel" de facto aufhebt. Auch die in das D'Hondt-System gesetzten Hoffnungen im Sinne einer Dämpfung der parlamentarischen Parteienzersplitterung haben sich nicht voll erfüllt. Die großen Parteien können mit knapp über 40% der Wahlstimmen die absolute Mehrheit im Parlament erreichen, regionale Parteien können im Congreso de los Diputados vertreten sein. Für den Senat (Senado) gilt das Mehrheitswahlrecht. Jede Provinz wählt vier Senatoren; für die Balearen, die Kanarischen Inseln und die Exklaven von Ceuta/Melilla sowie für die Autonomen Gemeinschaften gelten davon leicht abweichende Normen.
140
VI Der Zentralstaat: Regierungssystem, Staatsform, Wahlen
Wahlen und parlamentarische Kräfteverhältnisse
Schema 2: Spanisches Wahlsystem Wahlkörper (Spanier im Alter von mind. 18 Jahren)
Politische Parteien und Wahlbündnisse
Parlamentswahlen Zweikammerparlament
Regionalwahlen Parlamente der Autonomen Regionen und der Städte mit Autonomiestatut 4
Gemeinderatswahlen
Europawahlen Europäisches Parlament
85.572 Gemeinderatsmitglieder
64 Europaparlamenrarier
4
350 Abgeordnete des Abgeordnetenhauses
208 Senatoren 48 Senatoren pro Autonome Region
1.169 Abgeordnete der 17
Regionalparlamente
50 Mitglieder der Parlamente von Ceute und Melilla (gleichzeitig Gemeinderatsmitglieder)
1.250 Provinzialratsmitglieder
Ministerpräsident 7 Präsidenten der Autonomen Regionen
2 Präsidenten der mit Autonomiestatut ausgestatteten Städte (gleichzeitig Bürgermeister)
• 8.104 Bürgermeister
43 Präsidenten der Provinzialräte
Insgesamt hat die Entwicklung der politischen Kräfteverhältnisse in den bisherigen Jahrzehnten spanischer Demokratie einen "vernünftigen" Verlauf genommen. Die Wähler haben bei den ersten Wahlen im Übergang zur Demokratie (1977, 1979) einer Koalition der rechten Mitte (UCD) mehrheitlich ihre Stimmen gegeben; die Regierungen unter Adolfo Suärez konnten unter Rückgriff auf die konstitutionelle Legalität des franquistischen Regimes die neue demokratische Legalität ohne allzu große Erschütterungen durchsetzen, was einer Linksregierung wegen der wahrscheinlich größeren Widerstände von seiten der Vertreter des alten Regimes wohl nicht gelungen wäre. Als besonders günstig erwies es sich dabei, daß die UCD im damaligen Parlament über keine absolute Mehrheit verfügte, weshalb sie zu einer Politik des "Konsenses" mit den anderen politischen Kräften gezwungen war (zur Veränderung der parlamentarischen Kräfteverhältnisse in der Demokratie vgl. Tab. 2). Als genauso günstig erwies es sich, daß der PSOE 1982 und während der gesamten 80er Jahre mit absoluten Mehrheiten regieren konnte, da eine Linksregierung die erforderlichen Wirtschaftsreformen leichter als eine Rechtsregierung durchführen konnte. Da die Sozialisten auf keine Koalitionspartner Rücksicht nehmen mußten, sie außerdem über die Macht in den meisten Autonomen Gemeinschaften verfügten, konnten sie die notwendigen Reformen im sozio-ökonomischen Bereich konsequent durchführen. Nicht weniger eindeutig als bei den Parlamentswahlen 1982 war der sozialistische Erfolg bei der Wahl der 13 Regionalparlamente, die 1983 zum ersten Mal bestimmt wurden: In sechs dieser 13 Parlamente (Aragonien, Asturien, Extremadura, Madrid, La Rioja, Valencia) erhielt der PSOE ebenfalls die absolute, in fünf (Kanarische Inseln, Kastilien-Leön, KastilienLa Mancha, Murcia, Navarra) die relative Mehrheit. Nur in der Nordregion Kantabrien (der
141
früheren Provinz Santander) erlangte die konservative Volksallianz knapp die absolute Mehrheit. Auf den Balearischen Inseln kamen Konservative und Sozialisten auf die gleiche Abgeordnetenzahl. Insgesamt bestätigte sich bei diesen ersten Regionalwahlen der Trend zum Zweiparteiensystem – wenn auch die Kommunisten ihre schwere Wahlniederlage vom Oktober 1982 dadurch einigermaßen wettmachen konnten, daß sie jetzt rund 8% der Stimmen erhielten. Die im Mai 1983 errungene Übermacht gab den Sozialisten die Möglichkeit, ihr Programm ohne Rücksicht auf andere politische Gruppen durchzusetzen. Sofort nach der Wahl kündigte Ministerpräsident Gonzälez ein umfangreiches Sanierungsprogramm für die krisengeschüttelte Wirtschaft und Verhandlungen mit Gewerkschaften und Unternehmern über einen "Gesellschaftspakt" zur Überwindung der hohen Arbeitslosigkeit an. Die Wahlen vom 8. Mai 1983 brachten – neben dem sozialistischen Sieg – noch ein zweites wichtiges Ergebnis: Der zentralistische Staat wurde endgültig zu Grabe getragen. Zu den bereits bestehenden vier Regionalautonomien des "schnelleren Weges" gesellten sich jetzt 13 weitere des von der Verfassung als "langsamer" eingestuften Weges. Mit der Wahl der Autonomieparlamente konnte der regionalistische "Alltag" Spaniens beginnen. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes bestimmen seit Mai 1983 auf allen politischen Ebenen – der lokalen, der regionalen und der gesamtstaatlichen Ebene – vom Volk frei gewählte Vertreter die Geschicke Spaniens. Unter der Perspektive des "vernünftigen" Wählens war es für Spanien wohl auch gut, daß am Ende einer langen Phase sozialistischer Regierung der seit langem vorhergesagte Sieg der Konservativen 1996 eher knapp ausfiel, da der Partido Popular auf diese Weise seine zentralistischen und allzu konservativen Positionen zurücknehmen und sich der Mitte annähern mußte. Sowohl die letzte Regierung der Sozialisten (1993-1996) als auch die erste der Konservativen waren zur Beschaffung parlamentarischer Mehrheiten auf "Legislaturpakte" angewiesen, durch welche die Parteien Kataloniens und des Baskenlandes in die Madrider Regierungsverantwortung mit eingebunden wurden. Die gesamtstaatlichen Parteien (PSOE, PP) wurden genauso wie die regionalistischen Parteien (PNV, CiU, CC) in ein Verantwortungsbündnis gezwungen, das beiden Seiten zahlreiche Kompromisse und Mäßigung abnötigte. Profitiert hat davon die spanische Demokratie. Unter dieser Perspektive ist es auch nachvollziehbar, daß die spanischen Wähler im Jahr 2000 die konservative Regierung mit einer breiten parlamentarischen Mehrheit ausstatteten, nachdem sie während ihrer vorhergehenden ersten Legislaturperiode einen Kurs der Mitte und der gemäßigten Kompromisse hatte steuern müssen. Und 2004 übertrugen die Wähler wieder den Sozialisten die Regierungsverantwortung, nachdem sie sich von den Konservativen in der entscheidenden Frage der Terrorbekämpfungspolitik hintergangen gefühlt hatten. Die Demokratie ist in Spanien längst solide verankert.
142
VI Der Zentralstaat: Regierungssystem, Staatsform, Wahlen
Politische Porträts: König und Ministerpräsidenten
Tab. 2: Parlamentswahlen 1977-2004
Kongreßabgeordnete Parteien
Anzahl der Stimmen (in %) Parteien
PSOE
1977
1979
1982
1986
1989
1993
1996
2000
2004
%
%
%
%
%
%
%
%
%
29,4
30,5
48,2
44,06
39,55
38,68
37,63
34,16
42,64
AP-CP-PP UCD
PSOE
PCE-IU 8,4
AP-CP-PP UCD
6,0
26,0
26,00
25,83
34,82
38,79
44,52
1977
1979
1982
35,0
6,8
-
-
-
-
-
-
9,4
10,8
4,1
4,61
9,05
9,57
10,54
5,45
4,96
2,7
3,9
5,02
5,04
4,95
4,60
4,19
3,24
-
2,8
9,23
7,91
1,76
0,18
0,10
0,13
1,6
HB
2000
2004
175
159
141
125
164
16
9
106
105
107
141
156
183
148
166
168
12
-
-
-
-
-
-
20
23
4
7
17
18
21
8
5
8
12
18
18
17
16
15
10
2
19
14
-
-
-
-
7
8
6
5
5
5
7
7
5
4
2
-
-
-
1
1
1
8
-
-
3
2
ERC
1
1
1
EE
1
1
1
20
17
350
350
HB
PNV
1996
184
8
PNV
-
1993
202
CDS
CDS
1989
121
37,64
34,6
CiU
1986
118
CiU
PC E-IU
143
1,5
1,9
1,53
1,24
1,24
1,27
1,53
1,63
1,0
1,0
1,15
1,06
0,88
-
-
-
0,7
0,7
0,42
0,41
0,80
0,67
0,84
2,54
Andere ERC
0,8
EE
0,4
0,5
0,5
0,53
0,51
-
-
-
-
Andere
12,3
12,7
4,1
6,55
9,40
8,18
6,32
10,05
7,22
Insgesamt
100
100
100
100
100
100
100
100
100
Insgesamt
3.
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2
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4
8
7
7
10
8
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Politische Porträts: König und Ministerpräsidenten in der Demokratie Juan Carlos I. (*5. Januar 1938 in Rom), seit Juli 1969
Anzahl der Stimmen (absolut) Parteien PSOE
1979
1977 5.358.781
1982
5.469.813 10.127.392
1989
1993
1996
8.887.345
8.088.072
9.076.218
9.425.678
8.169.585
9.716.006 10.321.178
AP-CP-PP
1.524.758
1.067.732
5.478.533
5.245.396
5.282.877
UCD
6.337.288
6.268.890
1.494.667
-
-
PCE-IU
1.718.026
1.911.217
865.267
930.223
1.851.080
-
483.353
772.726
1.012.054
CiU
2004
1986
2000
7.918.752 10.909.687 9.630.512
-
-
-
2.246.107
2.639.774
1.263.043
1.269.532
1.030.476
1.162.534
1.151.633
970.421
829.046
413.213
44.771
23.576
33.467
CDS
-
-
604.309
1.862.856
1.617.104
PNV
314.409
275.292
395.656
308.991
253.769
290.386
318.951
353.953
417.154
-
172.110
210.600
231.558
216.822
206.296
-
-
-
143.409
123.452
138.116
84.103
84.400
188.800
167.641
194.715
649.999
-
-
-
-
1.833.640
1.707.604
2.293.852
107.223
HB ERC EE Andere Insgesamt
60.312
85.677
100.326
106.937
105.217
2.850.908
2.075.354
736.385
1.822.589
1.372.543
18.307.891 17.932.890 20.923.978 20.492.052 20.597.629 23.586.779 25.172.058 23.339.490 23.846.620
Prinz von Spanien, ist seit dem 22. November 1975 König von Spanien. Sein Vater war Don Juan de Borbön y Battemberg, Graf von Barcelona (Sohn von König Alfons XIII.), seine Mutter Marfa de las Mercedes de Borbön y Orleans. 1962 heiratete er Sofia von Griechenland. Die Ausrufung von Juan Carlos zum König im November 1975 hatte eine kompliziert-verschlungene Vorgeschichte, die es lange Zeit als eher unwahrscheinlich erscheinen ließ, daß der Prinz je den spanischen Thron besteigen würde. Nach dem Tod von König Alfons XIII. (1941) erbte sein Sohn, Don Juan de Borbön y Battemberg, sämtliche dynastischen Rechte und Ansprüche auf den Thron. Seit den 40er Jahren erhielt Juan Carlos unter der Obhut von Franco in Spanien seine Schul- und Ausbildung. Erst am 22. Juli 1969 verkündete Franco vor den Cortes, daß er Prinz Juan Carlos zu seinem königlichen Nachfolger ernennen wolle. Dieser erhielt den neugeschaffenen Titel eines "Prinz von Spanien". Juan Carlos mußte Treue gegenüber den grundlegenden Prinzipien der Nationalen Bewegung sowie gegenüber den Grundgesetzen des Staates schwören. Schon früh deutete Juan Carlos seine Bereitschaft an, sich unter Umge-
144
VI Der Zentralstaat: Regierungssystem, Staatsform, Wahlen
hung der regulären Erbfolge — das hieß: seines Vaters — selbst auf Spaniens Thron berufen zu lassen. Zwischen 1969 und 1975 übernahm Juan Carlos immer häufiger staatliche Funktionen. Am 30. Oktober 1975 wurde er von der Regierung wegen der schweren Krankheit Francos zum amtierenden Staatschef ernannt. Als er nach Francos Tod endgültig das Amt des Staatsoberhaupts übernahm, war Juan Carlos weit mächtiger als jeder andere Monarch Europas. Die franquistischen Grundgesetze gaben dem neuen Staatschef symbolische, exekutive, legislative und judikative Gewalten. Staatsrechtlich nahm der neue Monarch somit eine zentrale Stellung ein, die ihm gewissermaßen die Funktion zusprach, die Zeit nach Franco entscheidend zu beeinflussen. Nach seiner Vereidigung vor den Cortes stellte Juan Carlos in seiner ersten "Botschaft der Krone" größere Partizipationsrechte der Bürger und eine Demokratisierung in Aussicht. In den folgenden Monaten verwarf der König den "demokratischen Bruch", die abrupte Demontage des Franco-System; er setzte statt dessen auf den langsamen Wandel, den "paktierten Übergang". Die erste und wichtigste Aufgabe bestand für den neuen König darin, die Monarchie zu stabilisieren. Nur eine parlamentarische Monarchie konnte die Defizite an Legitimität ausgleichen, mit denen er ins Amt gekommen war. In seiner Strategie lassen sich drei Schwerpunkte feststellen: Der eine war personalpolitischer Art, der andere hatte die Gewinnung der Eliten, der dritte die Unterstützung des Volkes zum Ziel. Vom ersten Augenblick an war der Monarch bestrebt, reformwillige Politiker zu ernennen, denen er die politische Durchführung des Demokratisierungsprozesses übertragen konnte. Er nötigte den Ministerpräsidenten Carlos Arias Navarro zum Rücktritt und ernannte Adolfo Suärez zum bis dahin jüngsten Premier in der spanischen Geschichte. Mit Torcuato Fernändez Miranda als Cortes-Präsidenten und Suärez als Regierungschef hatte der König zwei äußerst geschickte Politiker, die bereit waren, mit ihm zusammen den Demokratisierungsprozeß voranzubringen. Sodann suchte der König vor allem den Kontakt mit den Streitkräften, da er sich darüber im klaren war, daß er die Unterstützung durch die Militäreliten brauchte. Die Gewinnung des Volkes wiederum erfolgte durch Amnestien, durch zahlreiche Antrittsbesuche in den verschiedenen spanischen Regionen, durch Mobilisierung der Bevölkerung und insbesondere durch sein konkretes politisches Verhalten im Demokratisierungsprozeß. Sehr schnell nämlich wurde einer breiteren Öffentlichkeit klar, daß der König der eigentliche "Motor des Wandels" war und hinter vielen der weitreichenden Reformmaßnahmen stand. Vor allem erwarb sich der König den Respekt der Demokraten durch sein Verhalten beim Putschversuch vom 23. Februar 1981. In jener Nacht rettete er — zuerst hinter den Kulissen, in den frühen Morgenstunden sodann durch seinen Fernsehauftritt — die spanische Demokratie. Insgesamt ist die Strategie von Juan Carlos aufgegangen: Ihm gelang es, in einer Kombination von rückwarts- und vorwärtsgerichteter Legitimation die Monarchie sowohl bei den aus dem alten Regime stammenden Eliten als auch in breiten Schichten des Volkes zu verankern. Damit konnte zugleich die Demokratie durchgesetzt und schließlich stabilisiert werden. Im Verlauf dieses Prozesses wurde zwar die Akzeptanz des Königs in der Bevölkerung ständig größer, seine reale Machtposition aber beschnitten und schließlich in der heute noch gültigen Verfassung von 1978 festgeschrieben. Durch die Gegenzeichnungspflicht aller Handlungen der Krone bleiben dem König nahezu keinerlei Befugnisse, deren Aus-
Politische Porträts: König und Ministerpräsidenten
145
übung nicht von einem Kabinettsmitglied politisch zu vertreten wären. Artikel 62 der Verfassung zählt die wichtigsten Aufgaben des Königs auf: Er bestätigt und verkündet die Gesetze, er löst das Parlament auf und schreibt Neuwahlen aus, er setzt Volksabstimmungen fest, er schlägt den Regierungschef vor und entläßt ihn, er ernennt die Regierungsmitglieder, er bestätigt die Regierungsverordnungen, er hat den Oberbefehl über die Streitkräfte und das Begnadigungsrecht inne. Mit dem Inkrafttreten der Verfassung wurde der König zu einer weiteren Gewalt unter den verfaßten Gewalten. Der heutige Monarch verfügt zur Ausübung seiner politischen Funktionen weit mehr über auctoritas als über potestas; letztere hat er mit der Unterzeichnung der Verfassung Ende 1978 abgetreten. Adolfo Suärez Gonzälez (* 25. September 1932 in Cebreros, Provinz Ävila), erster demokratisch gewählter Ministerpräsident Spaniens nach dem Ende der Diktatur Francos, studierte Rechtswissenschaften an der Universität Salamanca und promovierte an der Universität Complutense in Madrid. Unter der Obhut von Fernando Herrero Tejedor, dem Zivilgouverneur von Ävila, diente er der franquistischen Einheitspartei (Falange/Movimiento) in verschiedenen Funktionen und stieg seit 1958 im Generalsekretariat der Falange auf. 1961 wurde Suärez Chef des Technischen Kabinetts des Stellvertretenden Generalsekretärs der Partei, ab 1967 war er Mitglied der franquistischen Cortes für Ävila, von 1968 bis 1969 Zivilgouverneur von Segovia, von 1969 bis 1973 Generaldirektor für Rundfunk und Fernsehen; 1973 übernahm er das Amt des Präsidenten des Verwaltungsrates der staatlichen Tourismusorganisation. Im März 1975 wurde Suärez zum Stellvertreter des neuen Partei-Generalsekretärs Herrero Tejedor ernannt. Bis November 1975 gehörte er als Staatssekretär dem ersten Kabinett Carlos Arias Navarro an. Nach dem Tode Francos trat er zurück, gründete die Uniön del Pueblo Espatiol (UPE, Union des Spanischen Volkes) und sprach sich für die Errichtung einer parlamentarischen Monarchie unter Juan Carlos aus. Im Juli 1976 beauftragte König Juan Carlos I. Suärez mit der Bildung einer Übergangsregierung. Obwohl er zunächst aufgrund seiner 18jährigen Einbindung in das franquistische System von Seiten des demokratischen Zentrums und der Linken abgelehnt wurde, bewies Suärez mit seinen erst 43 Jahren großes politisches Geschick, und es gelang ihm, gemeinsam mit anderen "konvertierten" Falangisten das alte Regime zu demontieren, die franquistischen Strukturen zu beseitigen und so den paktierten Übergang in die Demokratie (transiciön) voranzutreiben. Nach einem Referendum im Dezember 1976 und der Zulassung politischer Parteien und Gewerkschaften fanden im Juni 1977 die ersten allgemeinen freien Wahlen in Spanien statt, aus denen die Uniön de Centro Democrätico (UCD, Union des Demokratischen Zentrums) mit Suärez an der Spitze als Sieger hervorging. Dessen Aufgabe bestand nun darin, eine Regierung zu bilden und eine Verfassung auszuarbeiten, die im Dezember 1978 durch ein Referendum vom Volk angenommen wurde. 1978 wurde Suärez zum Vorsitzenden der UCD ernannt; im März 1979 gewann er erneut die Wahlen. Er blieb bis Januar 1981 Regierungschef, als er aufgrund der zahlreichen politischen und wirtschaftlichen Probleme und der zunehmenden Spannungen in seiner eigenen Partei von
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VI Der Zentralstaat: Regierungssystem, Staatsform, Wahlen
seinem Amt als Ministerpräsident zurücktrat. Eine Woche später legte er auch den Parteivorsitz nieder. Im Juli 1982 trat er endgültig aus der UCD aus und gründete den Centro Democrätico y Social (CDS, Demokratisches und Soziales Zentrum), zu dessen Vorsitzenden er im Oktober 1982 ernannt wurde. Bei den drei Wochen später stattfindenden Parlamentswahlen konnte der CDS allerdings nur 2,8 % (zwei Abgeordnetensitze) erlangen. Im Jahr 1991 zog sich Suärez aus politischen und familiären Gründen aus der Politik zurück. Für seinen bedeutenden Beitrag zum friedlichen Übergang des franquistischen Spanien zur Demokratie wurde er 1996 mit dem Premio Principe de Asturias de la Concordia (Preis der Eintracht des Prinzen von Asturien, des spanischen Kronprinzen) ausgezeichnet; schon zuvor war er vom König in den Stand eines Herzogs erhoben worden. Leopoldo Calvo-Sotelo Bustelo (*14. April 1926 in Madrid) studierte bis 1951 Bauingenieurwesen für den Straßenbau. Anschließend war er in verschiedenen Posten tätig, z. B. 1967 als Präsident der staatlichen Eisenbahngesellschaft RENFE. Drei Jahre später wurde er zum Geschäftsführer der Uniön Explosivos Riotinto, S.A. ernannt. Ab 1971 war er Cortes-Vertreter für die Unternehmer der chemischen Industrie. Dieses Amt führte er vier Jahre aus, als er zum Handelsminister in der ersten Regierung der Monarchie gewählt wurde. Unter Ministerpräsident Adolfo Suärez übte er verschiedene Funktionen in der Verwaltung aus, etwa als Minister für öffentliche Bauten, Minister für die Beziehungen mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft oder zweiter Vizepräsident für wirtschaftliche Angelegenheiten. Am 23. Februar 1981 wurde er nach dem Rücktritt von Adolfo Suärez zum Ministerpräsidenten gewählt. Während dieser Wahl fand der Putschversuch des Guardia CivilOberstleutnants Antonio Tejero statt, der letztlich dank des Eingreifens von Juan Carlos I. scheiterte und damit gar zur Stabilisierung der Demokratie in Spanien führte. Calvo-Sotelo übte das Amt des Regierungschefs nur für eine relativ kurze Zeit (bis Oktober 1982) aus. Seine Regierungszeit war von Demonstrationen der Bevölkerung gegen Arbeitslosigkeit sowie der schwachen politischen Koalition gekennzeichnet. Felipe Gonzälez Märquez (*5. März 1942 in Sevilla) legte 1966 seinen Abschluß in Rechtswissenschaften ab, danach vertrat er überwiegend Arbeiter vor Gericht und hielt Vorlesungen an der Universität von Sevilla. Zu Beginn seiner Studienzeit war er Mitglied zweier katholischer Organisationen. 1962 trat er unter dem Tarnnamen Isidoro dem damals illegalen PSOE bei; von 1965 bis 1969 gehörte er dem Komitee der Provinz Sevilla an, ab 1969 dem Nationalen Komitee und ab 1970 der Exekutivkommission des PSOE. Aufgrund seiner Teilnahme an Protesten gegen das franquistische Regime wurde Gonzälez 1971 inhaftiert. Seine Wahl zum Vorsitzenden der Sozialistischen Arbeiterpartei markierte 1974 den Sieg des jungen Reformflügels über die in Traditionen verhafteten Parteiveteranen.
Politische Porträts: König und Ministerpräsidenten
147
Nach dem Ende der Diktatur Francos übernahm Gonzälez eine Führungsposition innerhalb der demokratischen Opposition. Im Februar 1977 wurde der PSOE legalisiert. Bei den ersten freien Wahlen im Juni 1977 schnitt er als zweitstärkste Partei ab. Gonzälez bemühte sich darum, den marxistisch geprägten PSOE in eine moderne sozialdemokratische Partei umzuwandeln. 1978 wurde er zum Vizepräsidenten der Sozialistischen Internationalen ernannt. Bei den Parlamentswahlen von 1979 konnte der PSOE seinen Stimmenanteil zwar ausbauen, blieb aber dennoch in der Opposition. Erst 1982 gelang ein Regierungswechsel, Gonzälez wurde Ministerpräsident. Unter seiner Regierung wurden viele Reformen durchgeführt, z. B. im Bildungswesen auf allen Ebenen der Schulbildung bis zur Förderung der Universitätsausbildung. Des weiteren wurde eine Neugestaltung der Sozialversicherung angestoßen und trotz des Widerstandes von Seiten der katholischen Kirche teilweise eine Legalisierung der Abtreibung erreicht. Gonzälez bemühte sich um Liberalisierung und Umstrukturierung der spanischen Wirtschaft. So wurden z. B. 1985 zahlreiche Staatsunternehmen teilweise oder vollständig privatisiert. Nicht selten riefen diese Reformen aufgrund der damit verbundenen Entlassungen den Protest der Arbeiter und Gewerkschaften hervor. Dennoch konnte der PSOE die folgenden Parlamentswahlen in den Jahren 1986 und 1989 gewinnen und seine absolute Parlamentsmehrheit bis 1993 verteidigen; danach war Gonzälez in seiner letzten Legislaturperiode auf die Unterstützung einiger Regionalparteien angewiesen. Aufgrund der schlechten Wirtschaftslage, verbunden mit hoher Arbeitslosigkeit und zahlreichen Korruptionsskandalen sowie Rechtsverstößen bei der Strafverfolgung von ETA, verlor der PSOE knapp die Wahlen von 1996 gegen den Partido Popular. Damit ging auch die 14 Jahre andauernde Amtszeit von Felipe Gonzälez als Ministerpräsident zu Ende. Ein Jahr später legte er den Parteivorsitz nieder, sein Parlamentsmandat behielt er bis 2000. Josä Maria Aznar Löpez (*25. Februar 1953 in Madrid) war nach seinem Jurastudium als Steuerinspektor tätig, bevor er seine politische Karriere begann. Zwischen 1982 und 1987 war er als Generalsekretär der Alianza Popular (AP) tätig; in den Jahren 1987 bis 1989 hatte er das Amt des Ministerpräsidenten von Kastilien-Lehn inne. Nachfolgepartei der AP wurde 1989 der Partido Popular (PP), zu dessen Vorsitzenden Aznar 1990 gewählt wurde. Am 19. April 1995 verübte ETA ein Attentat auf ihn, bei dem er aber nur leicht verletzt wurde. Ein Jahr später, im März 1996, gewann der PP mit knappem Vorsprung die Parlamentswahlen; mit Unterstützung kleinerer Regionalparteien konnte er eine Minderheitsregierung bilden. Aznar wurde am 5. Mai 1996 als Regierungschef vereidigt und begann, da er im Parlament von Regionalparteien abhing, zunächst damit, die Bestrebungen der Regionen nach Autonomie zu fördern. Innenpolitisch verfolgte sein Programm die Konsolidierung des Staatshaushaltes, die Erreichung eines starken Wirtschaftswachstums und den Kampf gegen den ETATerrorismus. Bei den Parlamentswahlen im März 2000 gelang es dem PP, die absolute Mehrheit zu erringen. Aznar konnte seine Amtszeit auf insgesamt acht Jahre ausdehnen. Obwohl seine Amtszeit als spanischer Ministerpräsident von einer äußerst positiven wirtschaftlichen Entwicklung des Landes und von zahlreichen Erfolgen gegen ETA gekenn-
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VI Der Zentralstaat: Regierungssystem, Staatsform, Wahlen
zeichnet war, wurden ihm immer wieder Starrsinn und Selbstherrlichkeit vorgeworfen. Die Opposition kritisierte häufig seine Politik, z.B. die schlechte Handhabung der Prestige-Katastrophe, seine militärische Unterstützung der Alliierten im Irakkrieg gegen den Willen der großen Mehrheit der Bevölkerung und seine verschleiernde Informationspolitik nach den Madrider Anschlägen vom 11. März 2004. Der PP verlor die drei Tage nach den Terrorattentaten stattfindenden Wahlen vom 14. März 2004. Bereits 2003 hatte Aznar angekündigt, für diese Wahl nicht mehr zu kandidieren; er hatte Mariano Rajoy zu seinem Nachfolger als Parteivorsitzenden vorgeschlagen. Infolge seines nicht unerheblichen Beitrags zur Wahlniederlage des PP verschlechterte sich Aznars Beziehung zu seiner Partei. Im Herbst 2004 übernahm er den Posten eines Gastdozenten an der Georgetown-Universität in Washington D.C. und leitete einwöchige Seminare zu den Themen zeitgenössische europäische Politik und transatlantische Beziehungen. (*4. August 1960 in Valladolid) stammt aus einer traditionell politisch linksgerichteten Familie. Der studierte Rechtswissenschaftler begann schon in jungen Jahren, sich politisch zu engagieren, nachdem ihn — eigenen Aussagen zufolge — ein Wahlauftritt von Felipe Gonzälez derart beeindruckte, daß er 1977 dem PSOE beitrat. 1982 war er Vorsitzender der Jugendorganisation des PSOE in seiner Heimatprovinz Leön. Im Jahr 1986 zog er als jüngster Abgeordneter ins spanische Parlament ein, 1988 übernahm er den Parteivorsitz in Leön. Nachdem er 1997 in den Vorstand der Sozialistischen Arbeiterpartei aufgestiegen war, wurde er drei Jahre später überraschend zum Generalsekretär des PSOE gewählt. Ein weiterer Höhepunkt seiner raschen politischen Karriere war der unerwartete Wahlerfolg der Sozialisten bei den Parlamentswahlen im März 2004 infolge der Madrider Anschläge. Am 16. April wurde Zapatero zum neuen Ministerpräsidenten ernannt. Dabei erhielt er sowohl die Stimmen seiner eigenen Partei als auch die einiger nationalistischer Regionalparteien. Unmittelbar nach seiner Amtsübernahme kündigte er den Rückzug spanischer Truppen aus dem Irak an. In der Außenpolitik orientierte er sich — im Gegensatz zu seinem Vorgänger — weniger an den USA, er trat für eine stärker europaorientierte Politik ein. Während seiner Regierungszeit stimmte die spanische Bevölkerung in einem Referendum Anfang 2005 für die neue EU-Verfassung. Auch in der Ausländerpolitik fand ein Kurswechsel statt. Die neue sozialistische Regierung beschloß, illegalen Einwanderern, die eine Arbeitsstelle hatten und ihre Situation legalisierten, ein Bleiberecht zu geben. Innenpolitisch stand Zapatero am Anfang der Legislaturperiode für eine gemäßigte linksgerichtete Politik, er setzte sich für Reformen und einen Ausbau des Autonomiestaates ein. Seine geplanten gesellschaftspolitischen Neuerungen, z. B. die Legalisierung der Abtreibung und vor allem die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe, führten zu Konflikten mit der katholischen Kirche.
Jose Luis Rodriguez Zapatero
Literatur
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Literatur Alcäntara, Manuel / Martfnez, Antonia (Hg.): Politica y gobierno en Esparia. Valencia 2001 Alvarez Conde, Enrique: El rögimen polftico espanel. Madrid 1983 Barrios, Harald: Das politische System Spaniens. In: Ismayr, Wolfgang (Hg.): Die politischen Systeme Westeuropas. Opladen 2002,609-649 Blas Guerrero, Andres de (Hg.): Introducciön al sistema polftico espafiol. Barcelona 1983 Campillo Madrigal, Oscar: Zapatero. Presidente a la primera. Madrid 2004 Garcia de Enterrfa, Eduardo (Hg.): Esparia: un presente para el futuro. Bd. 2: Las instituciones. Madrid 1984 Gonzälez Encinar, Jos6 Juan (Hg.): Diccionario del sistema polftico espafiol. Madrid 1984 Guerrero Salom, Enrique: El Parlamente. Quö es, cömo funciona, quö hace. Madrid 2004 Heywood, Paul: The Government and Politics of Spain. Houndmills 1995 Justel, Manuel: La abstenciön electoral en Esparia, 1977-1993. Madrid 1995 Magone, Josö M.: Comtemporary Spanish Politics. London 2004 Montabes, Juan (Hg.): El sistema electoral a debate: veinte anos de rendimiento del sistema electoral espariol (1977-1997). Madrid 1998 Montero Gibert, Josö R.: Stabilising the Democratic Order: Electoral Behaviour in Spain. Madrid 1998 Powell, Charles T.: Espaila en democracia, 1975-2000. Barcelona 2001 Preston, Paul: Juan Carlos. El rey de un pueblo. Barcelona 2003 Rodriguez Aizpeolea, Luis: Ciudadano Zapatero. Madrid 2004 Sänchez Agesta, Luis: El sistema polftico de la Constituciön espariola de 1978. Madrid 1982
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VII Der Staat der Autonomen Gemeinschaften
1. Die Regionalisierung des Landes nach 1975 Jedem Kenner der politischen Landschaft Spaniens war beim Tode Francos klar, daß das jahrzehntelang ungelöste Regionalismusproblem zu den schwierigsten Hypotheken gehörte, die der Diktator dem Land hinterlassen hatte. Der Weg Spaniens in die Demokratie mußte zugleich ein Prozeß der Regionalisierung, der Rekonstruktion der demokratischen Institutionen wie auch der Emanzipation einer demokratischen Kultur in den einzelnen Landesteilen sein. Schon sehr bald sah sich die Regierung zur Erwägung der Frage gezwungen, ob es nicht angebracht sei, anstelle individueller Lösungen für einzelne Regionen eine konstitutionelle Formel mit allgemeiner Gültigkeit zu finden. Derartige Überlegungen drängten sich auf, da es nach 1975 zu einem rapiden Anwachsen regionalistischen Eigenwillens und föderalistisch-autonomistischer Bestrebungen auch in Landesteilen kam, wo diesen früher kein großes politisches Gewicht zukam. Neben den drei "historischen" Regionen Baskenland, Katalonien, Galicien forderten und erhielten bis 1978 die Regionen Aragonien, Extremadura, Valencia, Murcia, Asturien, Neukastilien/La Mancha, Altkastilien/Le6n, die Kanarischen Inseln und die Balearen einen "vorautonomen Status". Die Lösung konzentrierte sich schon bald auf eine integrale Regionalisierung des Landes, das heißt auf eine regional-politische Neuordnung Gesamtspaniens. Vorerst machten jedoch, wie nicht anders zu erwarten, das Baskenland und Katalonien von sich sprechen. Bereits im Dezember 1975, wenige Wochen nach Francos Tod, stellten sich in beiden Regionen "demokratische Versammlungen" der Öffentlichkeit vor. Sofortige Amnestie politischer Häftlinge und Wiedereinführung der früheren Autonomiestatute waren ihre wichtigsten Forderungen. Die demonstrative Zurschaustellung ihres regionalistisch-nationalistischen Bewußtseins erfolgte zuerst auf sprachlich-kultureller Ebene: Die lange Jahre unterdrückten Sprachen wurden nicht nur wieder offen gesprochen, sondern auch in Schulen unterrichtet; Zeitungen und Bücher erschienen zuhauf in nicht-kastilischen Sprachen; sehr schnell etablierte sich in Barcelona ein katalanisches Theater, das kollektiv geführte Teatro Llture (Freies Theater), erste Fernsehsendungen erschienen auf katalanisch. König Juan Carlos reiste im Frühjahr 1976 nach Katalonien und sprach einige Sätze in katalanischer Sprache – ein sensationelles Ereignis. Die Presse sprach immer seltener vom "spanischen" Volk und der "spanischen" Sprache, sondern von den Völkern und Nationalitäten des Staates; es gab kein "spanisch" mehr, sondern kastilisch – neben katalanisch, baskisch, galicisch, kanarisch. Die Hervorhebung der eigenen Sprache und Kultur war nur ein Aspekt (und keineswegs der wichtigste) der Autonomiebewegung. Es ging vor allem um die Wiedererringung der politischen und wirtschaftlichen Selbstverwaltungsrechte der Regionen. Bei der Übertragung politischer Kompetenzen an die Regionen hatte es Ministerpräsident Suärez aber nicht
Die Regionalisierung des Landes nach 1975
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eilig; er verbot vorerst "nationalistische" Feiern und zögerte den Autonomieprozeß, wo immer möglich, hinaus. Die Unruhen nahmen daraufhin sehr schnell zu, vor allem im Baskenland und in Katalonien. Um den wachsenden politischen Druck aus den verschiedenen Landesteilen zu vermindern, entschied sich Suärez schließlich noch vor der Verabschiedung der neuen Verfassung für eine Übergangslösung, die ab Herbst 1977 bis Sommer 1978 fast allen Regionen vorläufige Autonomiestatute brachte. Diese Übergangsstatute waren das Ergebnis bilateraler Verhandlungen zwischen der Madrider Zentralregierung und Abordnungen der stärksten Parteien aus den jeweiligen Regionen; sie übertrugen den Landesteilen zumeist nur geringe Kompetenzen, waren heftig umstritten und hinterließen häufig Unbehagen. Im Herbst 1977 wurde schließlich die (provisorische) Generalitat von Katalonien wiedereingesetzt, nachdem sich zuvor im französischen Perpignan Vertreter der Madrider Regierung, Repräsentanten der politischen Parteien Kataloniens und der Exilpräsident der Generalitat, Josep Tarradellas, darüber geeinigt hatten. Die katalanischen Parlamentarier waren keineswegs einverstanden mit der Rolle, die der fast 80jährige Tarradellas erneut im politischen Leben Kataloniens spielte – versuchte er doch, in direkten Verhandlungen mit Suärez die Autonomiefrage über die Köpfe der katalanischen Vertreter hinweg zu lösen. Wenige Tage vor der Wiedereinsetzung der Generalitat hatten die Katalanen am 11. September 1977 das überwältigendste Zeugnis ihres Nationalbewußtseins abgelegt. An jenem Tag war Barcelona Schauplatz einer der größten Demonstrationen in der Geschichte Europas. Anderthalb Millionen Katalanen demonstrierten für ihr Recht auf Selbstbestimmung, auf eigene Sprache, Kultur und Nation. Noch nie hatte es in Spanien einen derartigen Akt nationaler Selbstdarstellung gegeben. Nach den Parlamentswahlen vom Juni 1977 hatte die Regierung erlaubt, die Diada zum ersten Mal seit 1939 wieder zu feiern. Die ganze Stadt bot eine Farbensymphonie von Transparenten, Spruchbändern und katalanischen Fahnen mit ihren vier roten Streifen auf gelbem Grund. Ein halbes Jahr später feierte auch das Baskenland, unter ebenfalls großer Anteilnahme der Bevölkerung, gleichfalls zum ersten Mal seit dem Bürgerkrieg wieder legal seinen "Tag des Vaterlandes", den Aberri Eguna. Zur gleichen Zeit, als die Generalitat unter der Präsidentschaft von Tarradellas wiedereingesetzt wurde, begannen auch die Regierungsverhandlungen mit den baskischen und galicischen Vertretern. Baskische Parlamentarier hatten im Sommer 1977 bereits ein provisorisches "Baskisches Parlament" gegründet und sich mit dem baskischen Exilpräsidenten Jesüs Marfa de Leizaola in Verbindung gesetzt. Im Dezember 1977 erhielten sodann die drei baskischen Provinzen Alava, Guipüzcoa und Vizcaya einen "vorautonomen Status" zugebilligt, nach dessen Bestimmungen sie im Februar 1978 unter dem Sozialisten Ramän Rubial – einem Fräser, der 19 Jahre in Francos Gefängnissen zugebracht hatte – einen "Generalrat" bildeten, der von der Zentralregierung zahlreiche Kompetenzen (Wirtschaft, Handel, Städteplanung, Lokalverwaltung, Tourismus, Verkehr) übertragen bekam. (Die umstrittene Zugehörigkeit Navarras zum Baskenland soll erst in einem späteren Referendum entschieden werden.) Sodann ruhten sämtliche Autonomieverhandlungen für längere Zeit, da in Madrid gerade die neue Verfassung ausgearbeitet wurde, die einen landesweiten und definitiven Rahmen zur Lösung der einzelnen Regionalprobleme bringen sollte. Inzwischen drohten auch die Kanarischen Inseln zu einem Problem zu werden. Die "Volksbefreiungsfront für die
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vH Der Staat der Autonomen Gemeinschaften
Unabhängigkeit der Kanarischen Inseln" (MPAIAC) verlieh ihrer Forderung nach Selbständigkeit der "glücklichen Inseln" durch Bombenanschläge auf dem Archipel Nachdruck, einzelne afrikanische Staaten erkannten den MPAIAC an und unterstützten das Unabhängigkeitsbegehren. Die Verfassung sah schließlich eine regionalistische, keine föderalistische Lösung der Autonomiefrage vor; jede "Nationalität und Region" hat das Recht auf Selbstverwaltung. Dabei sollte der Begriff "Nationalität" den Basken, Katalanen und Galiciern vorbehalten bleiben, die sich von den übrigen Spaniern nicht nur historisch, sondern auch sprachlichkulturell und zum Teil ethnisch unterscheiden. Die verfassungsmäßig festgelegten Kompetenzen der Regionalorgane betreffen allerdings unterschiedslos alle Regionen; hierzu zählen Städtebau, öffentliche Arbeiten, Umweltschutz, Nutzung der Wasserkräfte, Wirtschaftsförderung usw.; zu den Kompetenzen der Zentralregierung zählen Verteidigung, Außenpolitik, Zollhoheit und andere. Die Kompetenzen der Regionen können durch Übertragung weiterer Befugnisse, die im einzelnen von Fall zu Fall auszuhandeln sind, erweitert werden. Gerade der für die Regionen häufig unbefriedigende Verlauf der Folgeverhandlungen zwischen der Zentralregierung und den autonomen Behörden führte nach 1978 — bis heute — zu vielerlei Auseinandersetzungen, Drohungen, Beschuldigungen, vor allem gegenseitigem Mißtrauen. Im Mai 1979 übernahm Carlos Garaicoetxea vom bürgerlich-nationalistischen PNV den Vorsitz im baskischen Generalrat. Nach mehreren Wochen zäher Verhandlungen, bei denen Garaicoetxea und Ministerpräsident Suärez sich persönlich stark engagierten, einigten sich Regierung und PNV am frühen Morgen des 19. Juli 1979 auf ein Statut für das Baskenland. In Einklang mit der spanischen Verfassung wurde in diesem sogenannten Statut von Guernica den Basken eine autonome Regierung und ein eigenes Parlament, die Gleichberechtigung ihrer Sprache mit dem Spanischen, eine weitgehende Finanzautonomie, die Einrichtung eines regionalen Obersten Gerichtshofes und das Hoheitsrecht über Justiz und Erziehungswesen zugestanden. Sie wurden ermächtigt, zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung anstelle der staatlichen eine eigene Polizei aufzubauen und erhielten weitgehende Kompetenzen im wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereich eingeräumt. In einer Zusatzklausel wurde dem "baskischen Volk" die Rückforderung weiterer "historischer Rechte" erlaubt, allerdings nur im Rahmen der geltenden spanischen Verfassung. (Trotzdem wird dieser Satz stets als Umschreibung einer möglichen späteren Unabhängigkeit des Baskenlandes gedeutet.) Mit Ausnahme von ETA militar und ihres "politischen Armes" Herri Batasuna, die an der Forderung nach einem sofortigen selbständigen sozialistischen Baskenland festhielten, wurde das Statut von allen baskischen Parteien und politischen Gruppen begrüßt; auch ETA politico-militar äußerte sich zustimmend. Bald nach der Unterzeichnung des Baskenstatuts wurden die Verhandlungen über das Statut für Katalonien abgeschlossen. In diesem Statut von Sau wird das Katalanische als die "eigene Sprache" Kataloniens bezeichnet, Katalonien als "Nationalität" (nicht als "Region") definiert, die weitgehende Selbstbestimmungsrechte in den Bereichen Kultur und Erziehung erhielt; Katalonien durfte, ebenso wie das Baskenland, ein eigenes Fernsehprogramm errichten und eine eigene Polizei aufbauen. Die Ceneralitat ist seither allein zuständig bei der Regionalentwicklung sowie bei vielen Fragen der Gesetzgebung und der Rechtsprechung.
Die Regionalisierung des Landes nach 1975
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Am 25. Oktober 1979 stimmten sowohl das Baskenland wie Katalonien über die Autonomiestatute ab. In beiden Regionen wurden die Statute von der Bevölkerung mit überwältigenden Mehrheiten angenommen — allerdings bei einer hohen Wahlenthaltung von (in beiden Fällen) rund 40%. Kurz danach verabschiedete der Verfassungsausschuß in Madrid noch das Autonomiestatut für Galicien. Skandalös waren Vorgeschichte und Verlauf der Autonomiegewährung an Andalusien. Für die "historischen" Regionen Baskenland, Katalonien und Galicien war die Autonomiefrage inzwischen geklärt. Für die übrigen Regionen waren zwei Möglichkeiten zur Erlangung der Autonomie vorgesehen: entweder über den Verfassungsartikel 151, der nach einer Volksabstimmung eine schnelle Erarbeitung eines Autonomiestatuts, die Bildung eines Regionalparlaments und weiterer Selbstverwaltungsorgane vorsieht; oder über den Artikel 143, der eine schrittweise Hinführung zur Autonomie ermöglichen soll, aber keineswegs notwendig zur Bildung von Regionalparlamenten und Selbstverwaltungsorganen führen muß, im übrigen der Zentralregierung durch "Kann-Vorschriften" mehr Bewegungsspielraum einräumt. Während mehrere Regionen für den "langsameren" Weg (Artikel 143) optiert hatten, war für Andalusien der "schnellere" Weg (Artikel 151) vorgesehen. Im Januar 1980 änderte die UCD-Regierung plötzlich ihre Meinung — wahrscheinlich aus der Befürchtung heraus, daß auch Andalusien, ebenso wie Katalonien und das Baskenland, bei Regionalwahlen eine Links- oder autonomistische Regierung erhalten würde. (Die Befürchtungen von Suärez waren keineswegs unbegründet, hatten bei den CortesWahlen von 1979 die "nationalistischen", das heißt regionalistischen Parteien doch überraschend gut abgeschnitten, und das nicht nur im Baskenland und in Katalonien, sondern auch in Andalusien, auf den Kanarischen Inseln und in anderen Regionen.) Daher setzte sich die UCD-Regierung jetzt dafür ein, bei der Abstimmung über das andalusische Autonomiestatut von Carmona entweder mit Nein zu stimmen oder sich der Stimme zu enthalten. Außerdem versuchte sie mit allerhand administrativen Tricks, den Wahlausgang in ihrem Sinne zu beeinflussen. Um die Autonomie durchzusetzen, war ohnedies die absolute Mehrheit der Wahlberechtigten in allen acht andalusischen Provinzen erforderlich. Das Volksbegehren scheiterte schließlich — obwohl insgesamt weit mehr als die Hälfte aller Andalusier mit Ja stimmten —, weil in den Provinzen Almerfa und Jan die absolute Mehrheit verfehlt wurde. Der Rückzieher von Suärez, seine "Notbremsung" in der Regionalismusfrage, ließ deutlich werden, daß der Autonomieprozeß in den einzelnen Regionen der Zentralregierung aus der Hand glitt, daß die Regionalisierung des Landes eine Eigendynamik zu entwickeln begann, die der UCD politisch nicht mehr kontrollierbar erschien. Die Regierung hatte es versäumt, ein Modell für jene Regionen zu entwickeln, die kulturell anders ausgeprägt sind als das Baskenland, Katalonien oder Galicien. Im Herbst 1980 änderte Premier Suärez in den Cortes allerdings erneut seine Marschrichtung: Um im Parlament die erforderliche Unterstützung der andalusischen Sozialisten (PSA) zu erhalten, stellte er in Aussicht, Andalusien doch noch eine rasche und vollständige Autonomie zu gewähren. Das Verwirrspiel fand im Oktober sodann ein vorläufiges Ende, als die Regierung auf sozialistisches Drängen hin das Ergebnis des Referendums vom Februar "neuinterpretierte" und Andalusien in die Kategorie der "erstklassigen" Autonomiegebiete einreihte. Eine erneute Abstimmung über das Autonomiestatut mußte allerdings stattfinden.
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VII Der Staat der Autonomen Gemeinschaften
Inzwischen hatten (im März 1980) im Baskenland und in Katalonien die ersten Regionalwahlen zu den jeweiligen Landesparlamenten stattgefunden. Sie brachten Premierminister Suärez und der UCD schwere Niederlagen; auch die übrigen "gesamtspanischen" Parteien, insbesondere die Sozialisten, schnitten schlecht ab. In beiden Regionen siegten die autonomistischen bürgerlichen Parteien über die "gesamtspanischen Filialen" Madrids. Im Baskenland war der PNV, dessen besondere Stärke in Kleinstädten und Dörfern lag, mit 38% der abgegebenen Stimmen (25 von 60 Mandaten) der klare Sieger; sein Spitzenkandidat Carlos Garaicoetxea wurde Chef (Lehendakari) der ersten autonomen baskischen Regierung mit provisorischem Sitz in Vitoria. Zweitstärkste politische Kraft wurde Herri Batasuna (elf Mandate), deren Abgeordnete allerdings das baskische Regionalparlament boykottierten, da sie für eine unabhängige baskische Volksrepublik eintreten. Im baskischen Parlament — das Ende März an historischer Stätte, der "tausendjährigen" "heiligen" Eiche von Guernica, erstmals zusammentrat — waren die "gesamtspanischen" Parteien mit 18 Abgeordneten gegenüber den baskischen Nationalisten mit 42 Abgeordneten deutlich in der Minderheit. Durch ständige ETA-Kampagnen, die vielfach politische Forderungen enthielten, wurden die weiteren Verhandlungen zwischen Madrid und der neuen Baskenregierung beschleunigt. Bis Ende 1980 wurde zwischen den baskischen und den zentralstaatlichen Vertretern als weitere Maßnahme vereinbart, daß Euskadi seine historischen Wirtschaftsvorrechte (conciertos econörnicos) wiedererhalten sollte. In Katalonien gewann bei der ersten Parlamentswahl mit 28% der abgegebenen Stimmen (wider Erwarten) die bürgerlich-nationalistische Wahlkoalition Convergencia i Uniö des früheren Antifranquisten und Bankiers Jordi Pujol. "Konvergenz und Union" knüpft an die Tradition des bürgerlich-liberalen Katalanismus der Zeit vor dem Bürgerkrieg an. Die katalanischen Sozialisten, die nur 23% der Stimmen erhielten, wurden schwer enttäuscht; die UCD schließlich erreichte lediglich 11 % — ungefähr genauso viel, wie die (einst dominierende) linksliberal-republikanische "Katalanische Linke" (Esquerra Republicana de Catalunya), die im katalanischen Regionalparlament mit Heribert Barrera wenigstens den Parlamentspräsidenten stellen konnte. Pujol übernahm von Tarradellas die Führung der Generalitat, außer auf seine eigene Partei stützte er sich im Parlament auf die katalanische Linke und die UCD. Nach dem Baskenland und Katalonien wurde nun mit Spannung der Fortgang der Autonomiebestrebungen in Galicien und Andalusien verfolgt. In diesen beiden Regionen verlief der Prozeß völlig unterschiedlich: Im Dezember 1980 fand in Galicien das Referendum über die Autonomie statt. 70 % der Wähler entschieden sich für, 20% gegen das vorgelegte Autonomiestatut. Damit wurde Galicien die dritte autonome Region des Landes. Das wichtigste Ergebnis des Referendums war die enttäuschend schwache Stimmbeteiligung von nur 28%, wozu sicherlich das nach wie vor geringe politische Bewußtsein der Bevölkerung im "grünen Armenhaus" Spaniens, die schlechte Wahlkampagne und viele technisch-organisatorische Pannen beitrugen. Ein knappes Jahr später, im Oktober 1981, wählten die Galicier ihr erstes Regionalparlament. Befürchtungen der UCD und der Sozialisten bewahrheiteten sich: Der große Wahlsieger war die Partei des Rechtsaußen Manuel Fraga Iribarne, der für seine Alianza Popular 26 Sitze erringen konnte, während an die UCD nur 24 und an den PSOE 17 Sitze fielen. Die regionalistischen Parteien spielten praktisch gar keine Rolle; das geringe Regionalbewußtsein Galiciens kam auch in der erneut sehr hohen Wahlenthaltung von 55 %
Rechtsnatur, Kompetenzen und Finanzverfassung der Autonomen Gemeinschaften
155
zum Ausdruck. Als Vorsitzender der Xunta Galiciens wurde der Arzt Gerardo Fernändez Albor, der sich erst spät der Alianza Popular angeschlossen hatte, erster Präsident der nordwestlichen Region. Am gleichen Tag, an dem im "grünen Armenhaus Spaniens" der deutlichste Rechtsruck bei nachfranquistischen Wahlen erfolgte, stimmte das "südliche Armenhaus" Andalusien ein zweites Mal über sein Autonomiestatut ab. Diesmal enthielten sich 46 % der abstimmungsberechtigten Andalusier der Stimme; 90 % der abgegebenen Stimmen waren für die Autonomie, nur 7% dagegen. Als im Mai 1982 sodann das erste andalusische Parlament gewählt wurde, trug diesmal die Linke den großen Sieg davon. Zum ersten Mal bei Wahlen seit Francos Tod errang eine Partei die absolute Mehrheit: Der PSOE erhielt 52,5 % der Stimmen. Weit abgeschlagen folgten die übrigen Parteien: die Alianza Popular (als immerhin zweitstärkste politische Kraft) mit 17 %, die UCD mit 13 %, die Kommunistische Partei mit 8,5 %. Deutlich geschlagen wurde die einzige regionalistische Partei, die Sozialistische Partei Andalusiens, die mit ungefähr 5 % weit hinter ihren Erwartungen zurückblieb — ein deutliches Anzeichen dafür, daß es in Andalusien (anders als im Baskenland und Katalonien) keine ausgeprägte nationalistisch-regionalistische Tendenz gab, daß der Regionalismus Andalusiens sich nicht gegen das Kastilische wandte. Neuer Präsident der Autonomen Regierung mit Sitz in Sevilla wurde Rafael Escuredo, ein Mann des rechten PSOE-Flügels und guter Freund des damaligen Parteichefs Felipe Gonzälez. Seit ihrem Beginn Anfang 1997 wurden die Autonomieverhandlungen von den unterschiedlichsten Reaktionen begleitet, die von überwiegender Ablehnung und Warnung vor weitergehender Dezentralisierung — etwa durch einen Teil der Streitkräfte — über die Forderung nach umfassender Autonomie oder Errichtung eines Bundesstaates — eine Zeitlang etwa durch den PSOE — bis hin zu offen separatistischen Bestrebungen — etwa durch ETA — reichten. Wer im Jahr 1983, als sich alle "Autonomen Gemeinschaften" konstituiert hatten, auf die bis dahin zurückgelegten Etappen der Autonomieregelung zurückblickte, konnte zum einen die wenig konsequente, oft widersprüchliche Haltung der Zentralregierung, zum anderen die von Region zu Region unterschiedliche Problemlage feststellen, die jede Prognose auf diesem überaus vielschichtigen und komplexen Gebiet unmöglich machte. Nur ein Aspekt war durchgängig feststellbar: Die UCD, die bis 1982 Regierungspartei gewesen war, hatte bei allen Regionalwahlen (aus sicherlich unterschiedlichen Gründen) Schiffbruch erlitten. Als Sieger hatten sich die "bürgerlich-nationalistischen" Parteien (Baskenland, Katalonien), aber auch die "gesamtspanische" Rechte (Galicien) und Linke (Andalusien) profiliert.
2. Rechtsnatur, Kompetenzen und Finanzverfassung der Autonomen Gemeinschaften Artikel 2 der spanischen Verfassung von 1978 enthält sowohl das Prinzip der Einheit der Nation als auch das der Autonomie: "Die Verfassung gründet sich auf die unauflösliche Einheit der spanischen Nation, gemeinsames und unteilbares Vaterland aller Spanier; sie anerkennt und gewährleistet das Recht auf Autonomie der Nationalitäten und Regionen, aus denen sie sich zusammensetzt, und auf die Solidarität zwischen ihnen." Diese Norm geht
156
vH Der Staat der Autonomen Gemeinschaften
über eine reine Dezentralisierung hinaus; allerdings definiert die Verfassung weder "Nationalität" noch "Region". Auch nach der Verfassung bleibt Spanien, trotz der verfassungsrechtlichen Verankerung des Regionalismus, ein Einheitsstaat. Die Staatsgewalt beruht auf dem Willen der Bürgerschaft. In Art. 1 der Verfassung heißt es: "Das spanische Volk, von dem alle Staatsgewalt ausgeht, ist Träger der nationalen Souveränität." Die Autonomie der Autonomen Gemeinschaften ist allerdings verfassungsrechtlich gesichert. In seinem Amtseid verpflichtet sich sogar das Staatsoberhaupt, die Rechte der Bürger und der Autonomen Gemeinschaften zu achten. Diese verfügen jedoch über keine eigenen Staatsqualitäten, sondern besitzen lediglich abgeleitete Staatsgewalt. Die Autonomiestatute sind die Grundordnungen der Autonomen Gemeinschaften. Art. 147 der Verfassung besagt: "Im Rahmen der vorliegenden Verfassung sind die Autonomiestatute die grundlegende institutionelle Norm der jeweiligen Autonomen Gemeinschaft; der Staat erkennt sie an und schützt sie als integralen Bestandteil seiner Rechtsordnung." Es gibt kein allgemeines Homogenitätskriterium für die Autonomiestatute. Da die Autonomen Gemeinschaften keine Verfassungshoheit besitzen, muß bei jeder Statutänderung der Zentralstaat mitwirken; die Statutänderung bedarf auch der Bestätigung durch ein staatliches Organgesetz. In den Regionen, die ihre Autonomie auf dem "schnellen Weg" erlangt haben, muß außerdem die wahlberechtigte Bevölkerung der Änderung in einem Referendum zustimmen. Das aber bedeutet: Ein Autonomiestatut kann nur im Zusammenwirken der Cortes mit dem entsprechenden Regionalparlament (und eventuell dem wahlberechtigten Volk) geändert werden. Die Aufteilung der Staatsaufgaben zwischen dem Zentralstaat und den Autonomen Gemeinschaften ist ausgesprochen komplex. Die Zuständigkeitsverteilung ergibt sich aus dem Zusammenspiel von Verfassung, Autonomiestatuten und Gesetzen. Von Anfang an wiesen die Autonomen Gemeinschaften unterschiedliche Zuständigkeitsniveaus auf ("dispositives Prinzip"). Die Vielschichtigkeit der Zuständigkeitsverteilung führte zu einer außerordentlich hohen Zahl an Kompetenzkonflikten vor dem Verfassungsgericht. (Eindeutig geregelt ist die Kompetenz im Justizwesen: Dieses steht dem Zentralstaat zu.) Die Ungleichheit der Autonomen Gemeinschaften bezüglich der Zuständigkeiten hat dazu geführt, daß im spanischen Fall von einem "asymmetrischen Staat" (J.J. Gonzälez Encinar) gesprochen wird. In der Tat gibt es keine Zuständigkeitssystematik, sondern man könnte eher von einem flexiblen und offenen Modell sprechen, wobei in den letzten Jahren Angleichungsprozesse stattgefunden haben. Art. 148 der Verfassung zählt die Materien auf, für die die Autonomen Gemeinschaften die Kompetenz übernehmen dürfen. Es handelt sich um die Organisierung der eigenen Institutionen, die Verschiebung von Gemeindegrenzen, Stadtplanung, öffentliche Arbeiten, Eisenbahnen und Straßen (des eigenen Gebiets), Landwirtschaft und Viehzucht, Umweltschutz und Kanäle, Fischfang, Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung, lokale Museen und Bibliotheken, Kultur und Forschung, Unterricht in der Sprache der jeweiligen Gemeinschaft, Sport und Freizeit, Sozialfürsorge und Gesundheit. Darüber hinaus konnten die Autonomen Gemeinschaften auch all jene Kompetenzen übernehmen, die im Art. 149 nicht ausdrücklich dem Staat vorbehalten waren und die in die Autonomiestatute aufgenommen wurden. In den Jahren nach 1978 versuchten die Autonomen Gemeinschaften
Rechtsnatur, Kompetenzen und Finanzverfassung der Autonomen Gemeinschaften
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immer wieder, ihre Kompetenzen und Prärogativen zu erweitern. Der Kampf um die Zusprechung von Kompetenzen zieht sich wie ein roter Faden durch das Verhältnis zwischen Staat und Autonomien in der Demokratie. Die Zweideutigkeiten und der Streit um Kompetenzen resultierten aus der wenig eindeutigen Konzeption Spaniens in der Verfassung. Diese deutet zwar an, daß Spanien eine "Nation von Nationen" ist, gelangt aber nicht zu einer deutlichen Anerkennung des plurinationalen Charakters des Staates. Die territoriale Organisationsstruktur ist vielmehr als Mischform zwischen Zentralismus und Föderalismus bezeichnet worden. Der vollen Durchsetzung eines föderalistischen Modells stehen mehrere Faktoren entgegen: Zum einen liegt — wie weiter oben ausgeführt — die alleinige Souveränität bei den Cortes Generales, dem Parlament des Gesamtstaates; zum anderen wird die Zentralgewalt in den Autonomen Gemeinschaften durch einen Regierungsvertreter (Delegado del Gobierno) repräsentiert; außerdem fehlt ein Organ zur Koordination von Zentralgewalt und Autonomen Gemeinschaften; der Senat erfüllt nicht seine Funktion als Territorialkammer; schließlich hängen die Gemeinschaften immer noch viel zu sehr von den Finanzzuweisungen des Zentralstaates ab. Zwischen den Autonomen Gemeinschaften entwickelte sich ein Wettlauf um die möglichst rasche Erlangung der vollen Autonomie und eine möglichst weitreichende Ausdehnung der jeweiligen Kompetenzen. Die UCD-Regierung von Leopoldo Calvo Sotelo versuchte daher 1981/82, den zu raschen und ungeordneten Dezentralisierungsprozeß zu bremsen. Das in Zusammenwirken mit den Sozialisten erlassene "Harmonisierungsgesetz zum Autonomieprozeß" (Ley Orgänica Armonizadora del Proceso Autonömico, LOAPA) wurde vom Verfassungsgericht allerdings in Teilen für verfassungswidrig erklärt und aufgehoben; der politische Dezentralisierungsprozeß wurde fortgesetzt. Zwischen Dezember 1979 und Februar 1983 wurden die Statuten der 17 Autonomen Gemeinschaften verabschiedet. Nicht alle verfügten über den gleichen Grad an Autonomie. Das höchstmögliche Ausmaß an Kompetenzen hatten die sieben Gemeinschaften Baskenland, Katalonien, Galicien, Andalusien, Navarra, Valencia und Kanarische Inseln erreicht; die anderen zehn Gemeinschaften verfügten über geringere Kompetenzen. Nach Ablauf der vorgeschriebenen fünf Jahre forderten einige Autonome Gemeinschaften mit geringeren Kompetenzen eine Anhebung derselben. Nach vielen Polemiken unterzeichneten 1992 die PSOE-Regierung und der oppositionelle Partido Popular die "Autonomiepakte" (Pactos Autonömicos) zur Reform der Statuten und zur Kompetenzerweiterung; erreicht werden sollte eine weitgehende Homogenisierung der Autonomen Gemeinschaften. Die bestehende Asymmetrie konnte zum größten Teil, allerdings nicht vollständig, eliminiert werden. Damit war die Frage der territorialen Staatsstruktur allerdings bei weitem nicht gelöst. Zwischen den Autonomen Gemeinschaften gibt es kaum horizontale Kooperation; demgegenüber haben vertikale Formen der Zusammenarbeit zwischen Staat und Regionen große Bedeutung erlangt. Über den Senat als zweite Gesetzgebungskammer können die Autonomen Gemeinschaften allerdings nur sehr begrenzt an der staatlichen Willensbildung mitwirken. Denn obwohl der Senat laut Verfassung "die Kammer der territorialen Repräsentation" ist, machen ihn seine Zusammensetzung und seine begrenzten Befugnisse zu einem weitgehend mißlungenen Verfassungsorgan, dessen grundsätzliche Reform sich 2005 die Regierung Rodriguez Zapatero vorgenommen hat.
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Rechtsnatur, Kompetenzen und Finanzverfassung der Autonomen Gemeinschaften
VII Der Staat der Autonomen Gemeinschaften
Wenige Jahre nach den Pactos Autonömicos begannen 1998 die peripheren historischen Nationalismen, das gesamte System der territorialen Staatsorganisation in Frage zu stellen. Sie traten nunmehr für eine neue Interpretation der Selbstregierung ein, die sie als Souveränität oder zumindest als mit dem Zentralstaat zu teilende Souveränität deuteten. Vorreiter dieser Neu-Interpretation waren abermals das Baskenland und Katalonien. Die baskische Regierung ging dabei am weitesten: Sie schlug vor, das Baskenland in einen "mit Spanien assoziierten Freistaat" umzuwandeln (vgl. hierzu Kap. VIII: Das Baskenland). Auch die Katalanen strebten ein neues Autonomiestatut an, das den bestehenden Rahmen überwindet und die Beziehungen zwischen Spanien und Katalonien auf eine neue Grundlage stellen sollte. Die gesamte Staatsstruktur wurde sodann nach dem Wahlsieg der Sozialisten 2004 Gegenstand heftiger politischer Auseinandersetzungen im Land. Ein besonderer Streitpunkt zwischen Zentralstaat und Autonomen Gemeinschaften war von Anfang an (bis heute) die Finanzverfassung. Lauf Verfassung genießen die Autonomen Gemeinschaften "finanzielle Autonomie für die Entwicklung und Ausübung ihrer Zuständigkeiten" (Art. 156). Mit dem Beitritt Spaniens zur EG (1986) wurde ein neues, reguläres Finanzierungssystem eingeführt. Demnach setzen sich die Einnahmequellen der Autonomen Gemeinschaften aus vom Staat überlassenen Steuern, staatlichen Zuweisungen, eigenen Finanzierungsquellen und Mittelüberweisungen aus dem Interterritorialen Ausgleichsfonds zusammen. (An außerspanischen Zuwendungen sind noch die Fördergelder aus den verschiedenen Fonds der EG/EU zu nennen, die für viele Regionen von großer Bedeutung wurden.) Somit können die Autonomen Gemeinschaften eigene Steuern, Gebühren und Sonderabgaben, außerdem Zuschläge auf staatliche Steuern erheben. Allerdings haben die meisten Autonomen Gemeinschaften in der Vergangenheit weitgehend darauf verzichtet, da sie die politisch undankbare Aufgabe der Steuererhebung lieber dem Zentralstaat überlassen. Haupteinnahmequelle der Autonomen Gemeinschaften ist deren Beteiligung an den drei ertragreichsten Steuerarten: der Einkommen-, Körperschaft- und Mehrwertsteuer. Der Anteil der Regionen am Steueraufkommen des Staates hängt von bestimmten Kriterien ab, etwa der Bevölkerungsdichte, dem Ausmaß übernommener Zuständigkeiten oder der relativen Wirtschaftskraft. Im Lauf der Jahre wurde der Anteil am staatlichen Steueraufkommen für die Autonomen Gemeinschaften kontinuierlich erhöht. Momentan beträgt er 33% der Einkommensteuer, 35 % der Mehrwertsteuer, 40 % der Steuern auf bestimmte Produkte (Bier, Wein, Kraftstoff) und 100% der Steuern auf Strom. Die folgende Tabelle macht deutlich, daß sich diese vom Staat transferierten Steuern 2005 auf über 50 Milliarden € beliefen, während die von den Autonomen Gemeinschaften selbst erhobenen Steuern nur rund eine Milliarde € betrugen (s. Tab. 3). Sieht man vom Sonderfall der Kanarischen Inseln ab (diese haben eine eigene Steuer geschaffen, da dort keine Mehrwertsteuer erhoben wird), dann nimmt die Autonome Gemeinschaft Madrid mit über 72 Millionen Euro am meisten eigene Steuern ein. Vier Autonome Gemeinschaften wiederum (Kantabrien, Baskenland, Navarra, Kastilien-Lehn) haben auf die Erhebung der regionalen Sondersteuern ganz verzichtet. Dieses reguläre Finanzsystem findet auf die "Foralgebiete" Baskenland und Navarra keine Anwendung. Diese zwei Autonomen Gemeinschaften sind für die Steuergesetzgebung selbst zuständig, das heißt sie erheben nach den Bestimmungen des concierto econö-
Tab. 3:
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Einnahmen der Autonomen Gemeinschaften (2005, in Mio. €) Einnahmen
Eigene Steuererhebungen
Vom Staat transferierte Steuern
Andalusien
Steuer auf Bingo Ökosteuern (Emissionen, Müll, radioaktive Abfalle)
63,20
9.300,56
Asturien
Steuer auf große Handelsfirmen Steuer auf Bingo Aufschlag auf Steuern aus Wirtschaftstätigkeiten
17,65
1.532,38
Balearen
Ökosteuer (2003 vom PP abgeschafft) Steuer auf Mietwagen (ab 2006)
Kanarische Inseln
Allgemeine indirekte Steuer Steuer auf Matrikel Steuer auf Import und Aushändigung von Waren Sondersteuer auf Kraftstoff Steuer auf bestimmte Umweltaktivitäten
Kastilien-La Mancha
1.690,83 (2004) 789,04
1 139,77
18,05 (2004) 42,20
1.807,24 (2004)
25,31
3 221,81
Extremadura
Steuer auf Einlagen in Kreditanstalten Steuer auf Produktion und Transport von Energie Steuer auf unbebaute Grundstücke
Galicien
Steuer auf Umweltbelastung Steuer auf Glücksspiele
Madrid
Steuer auf Bingo Steuer auf Müllablagen Steueraufschlag auf Wirtschaftstätigkeiten
72,87 (2004)
10 184,80 (2004)
Murcia
Steuer auf Bingo Steueraufschlag auf Wirtschaftstätigkeiten
7,79 (2004)
1 421,79 (2004)
La Rioja
1,05
483,57
Valencia
Steueraufschlag auf Wirtschaftstätigkeiten Steuer auf Bingo Steuer auf Spielautomaten und Kasinos
50,85
6 443,05
Katalonien
Steuer auf große Handelsflachen
Aragon ien
Steuer auf Schadstoffe Steuer auf große Handelsflächen Steuer auf Skilifte
909,94 (2004)
10 454,00 (2004) Im November 2005 beschlossen
1.997,00
mico bzw. des convenio econömico sämtliche Steuern selbst und treten sodann einen vereinbarten Anteil an den Staat ab. Damit haben das Baskenland und Navarra weitreichende finanzielle Autonomie — ein deutlicher Unterschied zu allen anderen Autonomen Gemeinschaften. Was die Entwicklungsdisparitäten zwischen den einzelnen Regionen Spaniens betrifft — ein traditionelles Problem des Landes, das während des ungleichen Wirtschaftsbooms im
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vH Der Staat der Autonomen Gemeinschaften
Franquismus noch verschärft wurde —, so läßt sich allgemein festhalten, daß sich das ProKopf-Einkommen in den relativ weniger entwickelten Regionen im Lauf der letzten Jahrzehnte — vor allem seit Spaniens Beitritt zur EG — dem spanischen Durchschnitt angenähert hat, während die Vorteile der relativ entwickelteren Regionen geringer geworden sind. Tendenziell läßt sich somit eine Konvergenz der Pro-Kopf-Einkommen in den verschiedenen spanischen Regionen feststellen, wenn auch nach wie vor die Unterschiede zwischen der "reichsten" Region Madrid (mit einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen von 131,1 % im Verhältnis zum spanischen Durchschnitt) und der "ärmsten" Region Extremadura (mit 66,3 %) zumindest hinsichtlich des Indikators Pro-Kopf-Einkommen sehr beträchtlich sind. Tabelle 4 gibt die relative Position der einzelnen Autonomen Gemeinschaften wieder: Tab. 4: Durchschnittliches Pro-Kopf-Einkommen in den Autonomen Gemeinschaften
(2004, in €; Spanien = 100%) Andalusien
77,1%
Aragonien
107,0%
Asturien
86,7%
Balearen
112,7%
Baskenland
125,0%
Extremadura
66,3%
Galicien
79,7%
Kanarische Inseln
92,3%
Kantabrien
98,2%
Kastilien-La Mancha
78,0%
Kastilien-Leön
93,7%
Katalonien
119,9%
La Rioja
108,7%
Madrid
131,1%
Murcia
83,9%
Navarra
126,6%
Valencia
93,1 %
Ceuta
89,4%
Melilla
86,3%
Die Reform der Autonomiestatute
161
3. Die Reform der Autonomiestatute Schon vor dem Regierungswechsel von 2004 setzten sich mehrere Autonome Gemeinschaften für eine Reform ihrer Autonomiestatute ein; Ziel war die Anhebung des Kompetenzenniveaus der Regionalregierungen. Den politisch Verantwortlichen war klar, daß die anstehenden Autonomiereformen wichtige Veränderungen nach sich ziehen würden. Zum einen ging es um das Finanzierungsmodell der Autonomen Gemeinschaften; die anvisierten Reformen müßten den Regionen größere Steuerkompetenzen übertragen. Zum anderen stand die Frage der Vertretung der Autonomen Gemeinschaften bei den europäischen Gremien zur Debatte. Des weiteren bestand weitgehender Konsens in der Frage, daß der Senat gründlich reformiert und zu einer tatsächlichen Territorialkammer werden müsse. Schließlich bedurfte es einer Stärkung der Kooperations- und Ausgleichsmechanismen zwischen den Autonomen Gemeinschaften, um das verfassungsrechtlich vorgegebene Ziel zu erreichen, die Lebensbedingungen aller Spanier einander anzupassen. Seit dem Regierungsantritt von Jose Luis Rodrfguez Zapatero machte dieser sich die Frage der Reform der Autonomiestatute zu eigen; sie sollte ein Kernstück seiner Regierungstätigkeit werden. Er argumentierte, die neuen Herausforderungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts — Masseneinwanderung, Rechtsprechung, technologische Revolution — erforderten eine Kompetenzerweiterung der Autonomen Gemeinschaften, die er mit Hilfe des "Verfassungspaktes" von 1978 durchsetzen wollte, also unter voller Einbeziehung der nationalistischen Fliehkräfte an der Peripherie des Landes. Das Dezentralisierungsmodell sollte durch eine neue und intensivere Form der Zusammenarbeit zwischen Zentralregierung und Autonomen Regierungen ergänzt werden. Hierzu schuf er 2004 die "Konferenz der Präsidenten" (Conferencia de Presidentes), ein Konsultationstreffen sämtlicher regionaler Regierungschefs mit dem spanischen Ministerpräsidenten; außerdem stieß er die Debatte über eine Umformung des Senats in eine echte Territorialkammer an. Eine erste wichtige Reform ging noch 2004 relativ lautlos über die Bühne: Den Autonomen Gemeinschaften wurde das Recht zugestanden, das vor allem das Baskenland und Katalonien seit langem forderten: sich an Ministerratstreffen der Europäischen Union zu beteiligen, bei denen Fragen zur Diskussion standen, welche die Autonomen Gemeinschaften betrafen. Die Revisionsdebatte zu den Autonomiestatuten begann sodann im Baskenland, wo die Unzufriedenheit mit der Madrider Zentralregierung in der zweiten Legislaturperiode der Konservativen (2000-2004) außerordentliche Ausmaße angenommen hatte. Die baskische Regionalregierung intensivierte seit Beginn des neuen Jahrtausends ihren Souveränitäts- und Unabhängigkeitskurs, bei dem es formal um eine "Fortentwicklung" des Autonomiestatuts von 1979, faktisch jedoch um eine grundsätzliche Neuregelung der Beziehungen zwischen dem Baskenland und Spanien geht. Regierungschef Ibarretxe und seine Partei PNV ließen keine Zweifel an ihrer Überzeugung aufkommen, daß der historische Moment einer Selbstbestimmung des Baskenlandes gekommen sei. Im September 2002 verkündete Ibarretxe seinen "Plan", der für das Baskenland den Status "freier Assoziierung" an Spanien vorsieht. Der Plan wurde schnell Gegenstand heftiger Polemik, da er für das Baskenland das Selbstbestimmungsrecht reklamiert, was die Zentralregierung und führende Verfassungsjuristen für verfassungswidrig halten. Ende 2004 verabschiedete das baskische Parlament mit knapper Mehrheit den Plan, der im
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vH Der Staat der Autonomen Gemeinschaften
darauffolgenden Februar im spanischen Parlament allerdings mit überwältigender Mehrheit von Sozialisten und Konservativen abgelehnt wurde. Da bei den baskischen Wahlen von April 2005 der PNV außerdem seine Mehrheit im baskischen Parlament verlor, wurde es vorerst ruhig um den Ibarretxe-Plan, der von der baskischen Regierung allerdings nicht aufgegeben worden ist (vgl. hierzu ausführlicher Kap. VIII, 2: Das Baskenland zwischen Terrorismus und Friedenssehnsucht). Die meisten politischen Energien wurden im Jahr 2005 auf die Reform verschiedener Autonomiestatute verwandt. Relativ reibungslos ging die Debatte über eine Reform des valencianischen Autonomiestatuts vor sich. Schon im September 2005 wurde der Entwurf des revidierten Statuts zur Debatte im gesamtspanischen Parlament zugelassen. Der in Valencia regierende PP konnte mit der dortigen Hauptoppositionspartei PSOE schnell Einverständnis über die wichtigsten Reformpunkte erzielen. Es ging um das Recht des valencianischen Regierungschefs, das Regionalparlament (Cortes Valencianas) aufzulösen; um die Schaffung einer valencianischen Steuereintreibungsagentur; um Wiedererlangung — im Rahmen der Verfassung — früherer valencianischer Sonderrechte (Derecho Foral); um die Schaffung eines Justizrates; um die Gleichstellung Valencias mit dem Kompetenzenniveau aller anderen Autonomen Gemeinschaften (Meistbegünstigungsklausel); um die Festschreibung einer regionalen 5 %-Klausel bei Autonomiewahlen; um das Recht auf Wasserversorgung aus anderen Regionen; um die Anerkennung der "Valencianischen Sprachakademie" (Academia Valenciana de la Lengua) als normsetzende Institution der valencianischen Sprache; um die Verwaltung der Flughäfen. In Andalusien drehte sich die Reformdebatte eingangs um eine eher symbolische Frage, den Begriff "Nationalität", den die Autonome Gemeinschaft für sich reklamiert. Bald ging es dann um konkrete Forderungen: Andalusien soll Mitspracherecht bei der Planung staatlicher Strukturmaßnahmen in der Autonomen Gemeinschaft erhalten, es soll bei der Besetzung zentraler staatlicher Ämter mitentscheiden können (z. B. bei der Besetzung des Verfassungsgerichts oder der Nationalen Energiekommission), es soll über die Anstellung von Einwanderern selbst entscheiden dürfen, der andalusische Regierungschef soll Volksbefragungen durchführen können. Andalusien fordert außerdem die Verwaltungskompetenz über Häfen, Flughäfen, Eisenbahnen, Museen und Archive auf seinem Gebiet. Bei Fragen der Finanzierung ist die Autonome Gemeinschaft mit dem bestehenden Modell im wesentlichen einverstanden; nur das Kriterium "Bevölkerung" als Parameter bei staatlichen Finanzzuweisungen soll überprüft werden. Aragonien begann die Debatte zur Statutreform schon 2003. Im Entwurf wird dem regionalen Regierungschef die Kompetenz der Parlamentsauflösung und der Ansetzung von Regionalwahlen zugesprochen, dem "Oberlandesgericht" ( Tribunal Superior de Justicia de Aragön) werden erweiterte Funktionen eingeräumt, die Exekutive soll die Bezeichnung Gobierno Autönomo (autonome Regierung; bisher: Diputaciön General de Aragön) erhalten. Aragonien strebt an, eine eigene autonome Polizei aufzustellen. In den ersten Debatten wurde als allgemeines Ziel der Reform die Erlangung einer "weitestreichenden Selbstregierung" definiert. Die Balearen erstreben ein Kompetenzenniveau, das dem der "historischen" Autonomen Gemeinschaften Katalonien und Baskenland vergleichbar ist. Die Balearen sollen als "historische Nationalität" anerkannt werden.
Die Reform der Autonomiestatute
163
Das beanspruchte Finanzierungsmodell sieht eigene Steuereintreibungskapazität und eine eigene autonome Polizei vor. Auf den Kanarischen Inseln standen (und stehen) sich in der Revisionsdebatte zwei Tendenzen gegenüber: Die eine reklamiert Kompetenzen, die über die des Gesamtstaates hinausgehen können, und begründet diese weitreichende Forderung mit einem Passus in der vorgesehenen Europäischen Verfassung, wo von der "ultraperipheren Lage" der Inseln deren Recht auf Letztentscheidung in Fällen von Konflikten mit dem Staat abgeleitet wird. Die andere konzentriert sich auf die Übertragung weiterer Kompetenzen: Häfen und Flughäfen, autonome Polizei, Küsten, Einwanderung, Steuereintreibung, Justizwesen. Die leidenschaftlichste Diskussion betraf 2005 die katalanische Statutänderung. Nach vielen Debatten verabschiedete das katalanische Parlament schließlich am 30. September 2005 den Entwurf des neuen Autonomiestatuts mit einer Mehrheit von fast 90%. Als dieser Entwurf der Verfassungskommission des spanischen Parlaments vorgelegt wurde, stellte diese fest, daß eine ganze Reihe von Reformformulierungen nicht mit der spanischen Verfassung in Einklang zu bringen war. Im Winter 2005/2006 fand dann eine intensive Überarbeitung des Entwurfs zwischen Vertretern der Zentralregierung und katalanischen Politikern statt. Diese Überarbeitung wurde im Frühjahr 2006 abgeschlossen. In den Grundfragen konnten die in Madrid regierenden Sozialisten überraschenderweise mit der katalanischen Oppositionspartei Convergencia i Uniö Übereinstimmung herstellen, was andererseits jedoch zur Entfremdung des katalanischen Koalitionspartners Esquerra Republicana de Catalunya von den Sozialisten führte. Die Hauptauseinandersetzungen drehten sich um Fragen der Kompetenzzuweisung und der Finanzierung sowie um die politisch äußerst kontrovers debattierte Frage, ob Katalonien eine "Nation" oder "nur" eine "Nationalität" sei. Während die Katalanen — und zwar alle Parteien — auf der Definition als Nation bestanden, lehnten die Vertreter der Zentralregierung unter Hinweis auf die Verfassung, die diese Bezeichnung nur der "spanischen" Nation vorbehält, eine derartige Terminologie ab — auch in der Befürchtung, daß die Katalanen daraufhin einen eigenen Staat für ihre Nation fordern könnten. Katalanen weisen allerdings darauf hin, daß sie den Begriff "Nation" nicht primär staatspolitisch, sondern vor allem historisch-kulturell auffassen. Andererseits benutzen sie ihn zur Rechtfertigung weitreichender Selbstbestimmungsansprüche. Mitte März 2006 verabschiedete die Verfassungskommission des spanischen Parlaments den Entwurf des neuen katalanischen Autonomiestatuts, der dann am 30. März im Plenum des Parlaments diskutiert und verabschiedet wurde. Ein Vergleich der ursprünglichen Bestimmungen, wie sie im September 2005 vom katalanischen Parlament verabschiedet worden waren, mit der schließlich erzielten Endfassung läßt die Hauptdivergenzen zwischen den "nationalistischen" Parteien Kataloniens und den gesamtstaatlich orientierten Sozialisten erkennen: Im Bereich des Symbolischen hatte der ursprüngliche katalanische Statutentwurf formuliert: "Katalonien ist eine Nation." Die Endfassung des Textes lautet demgegenüber: "Katalonien als Nationalität übt seine Selbstregierung in der Form einer Autonomen Gemeinschaft in Übereinstimmung mit der Verfassung und mit dem vorliegenden Statut aus, das seine grundlegende Identitätsnorm darstellt." Der Begriff "Nation" kommt nur noch in der Präambel vor, in der es heißt: "Das Parlament Kataloniens hat sich das Fühlen und Wollen der Bürger Kataloniens zu eigen gemacht und mit großer Mehrheit Katalonien als Nation
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VII Der Staat der Autonomen Gemeinschaften
definiert. Die spanische Verfassung erkennt in ihrem zweiten Artikel die nationale Realität Kataloniens als eine Nationalität an." Gestrichen wurde auch die ursprüngliche Formulierung: "Katalonien hält Spanien für einen plurinationalen Staat." Anstelle dieser Formulierung ist im endgültigen Text zu lesen: "Die Selbstregierung Kataloniens gründet auf der Verfassung sowie auf den historischen Rechten des katalanischen Volkes, die, im Rahmen der Verfassung, in diesem Statut die Anerkennung einer besonderen Position der Generalitat begründen. Katalonien will seine politische Persönlichkeit im Rahmen eines Staates entwickeln, der die Vielfalt der Identitäten der Völker Spaniens anerkennt und respektiert." Nach langen Debatten akzeptierte der PSOE schließlich, daß die Symbole Kataloniens als "national" bezeichnet werden. Artikel 8 heißt daher: "Katalonien, das in Artikel 1 als Nationalität definiert wird, hat als nationale Symbole die Flagge, den Feiertag und die Hymne." Beschnitten wurde auch die Reichweite der "historischen Rechte" Kataloniens. Im katalanischen Entwurf hatte es geheißen: "Die Annahme der Autonomiebestimmungen, die im vorliegenden Statut festgelegt werden, bedeutet keinen Verzicht des katalanischen Volkes auf die Rechte, die ihm als Volk aufgrund seiner Geschichte zustehen und die in Übereinstimmung mit der ersten Zusatzbestimmung der Verfassung wieder in Kraft gesetzt werden können." Der endgültige Text spricht nur noch davon, daß die "historischen Rechte" in bezug auf "das Zivilrecht, die Sprache, die Kultur, deren Schutz im Erziehungsbereich und auf das institutionelle System, demgemäß sich die Generalitat konstituiert, Anwendung finden." Ein weiterer Stein des Anstoßes war (und ist) immer wieder die Sprachpolitik. Gerade auf diesem Gebiet reklamiert Katalonien eine Souveränität, die dazu führt, daß die nordöstliche Region katalanische Sprachnormen in der Verwaltung und im öffentlichen Leben rigide durchsetzt und außerdem versucht, das Katalanische in den Rang einer offiziellen EUSprache erheben zu lassen. In der Praxis stoßen die katalanische Sprachpolitik und der Anspruch z. B. der kastilisch-andalusischen Zuwanderer, ihre Kinder auf Kastilisch unterrichten zu lassen, aufeinander und führen zu erheblichen Konflikten. Vor diesem Hintergrund wurde die Debatte über die Regelung der Sprachenfrage im neuen Statut mit besonderem Interesse verfolgt. Im katalanischen Entwurf hatte es geheißen: "Alle Personen in Katalonien haben das Recht, die beiden offiziellen Sprachen Katalanisch und Spanisch zu benutzen sowie das Recht und die Pflicht, sie zu kennen." In der überarbeiteten Endfassung heißt es: "Alle Personen haben das Recht, die beiden offiziellen Sprachen zu benutzen", und die Bürger "haben das Recht und die Pflicht, sie zu kennen." Allerdings dürfe es "wegen des Gebrauchs der einen oder der anderen Sprache" zu keiner Diskriminierung kommen. Zur Gleichrangigkeit der Sprachen heißt es: "Das Katalanische ist die offizielle Sprache Kataloniens"; "auch das Kastilische ist offizielle Sprache." Ursprünglich war vorgesehen, daß Richter und Staatsanwälte, die in Katalonien arbeiten wollen, Katalanischkenntnisse nachweisen müßten, um eine Planstelle erhalten zu können. Schließlich heißt es, weniger rigide, Richter und Staatsanwälte "müssen über angemessene und ausreichende Kenntnisse [des Katalanischen] verfügen." Etliche im katalanischen Entwurf vorgesehene Kompetenzen wurden in der Verfassungskommission schließlich ganz gestrichen. Hierzu gehört die Verwaltung der Häfen und Flughäfen in Katalonien; an letzterem Punkt wären die Verhandlungen in der Verfassungskommission fast gescheitert. Die endgültige Regelung wird durch ein Organgesetz er-
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Die Reform der Autonomiestatute
Karte 13: Die Regionalregierungen Spaniens 2006 Kania-
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Andalusien
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.1 Konservative (Volkspartei)
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Algerien
Kanarische Inseln tenzaro
Sozialisten (PSOE) Regionalisten (verschiedene Regionalparteien)
1) Teilweise Koalitionen. Die Zuordnung zu einer Partei bezieht sich auf die Parteizugehörigkeit des jeweiligen Regierungschefs.
folgen. Zu den gestrichenen Kompetenzen gehört auch die Aufstellung eigener "nationaler" Sportmannschaften Kataloniens, die sich an internationalen Turnieren hätten beteiligen können. Schließlich konnte der PSOE noch durchsetzen, daß die Bezeichnung Kataloniens als eigenständiger Wahlbezirk bei "Europawahlen" wieder rückgängig gemacht wurde. Von besonderer Bedeutung waren die Fragen, die sich auf die Finanzverfassung bezogen. Im katalanischen Statutentwurf war vorgesehen, daß die Steuerbehörde Kataloniens (Agenda Tributaria de Catalutia) "die Verwaltung, Eintreibung, Liquidierung und Überwachung aller Steuern übertragen bekommt, die in Katalonien aufgebracht werden". Und weiter: "Ein Teil des Katalonien überlassenen Steuerbetrags wird dem Staat zur Finanzierung seiner Dienstleistungen und Kompetenzen überschrieben." Damit hätte Katalonien ein Steuersystem erhalten, das dem des Baskenlandes sehr ähnlich gewesen wäre. Die schließlich erzielte Kompromißformulierung lautet: Die katalanische Steuerbehörde verwaltet "alle
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VII Der Staat der Autonomen Gemeinschaften
Steuern, die der Generalitat zustehen". Das aber bedeutet, daß Lohn- und Einkommenssteuer, Mehrwertsteuer und Unternehmenssteuer weiterhin vom spanischen Staat eingezogen werden; allerdings wurde der Prozentsatz, den Katalonien behalten darf, erhöht, und ein gemeinsames spanisch-katalanisches Steuerkonsortium soll die Steueraufteilung weiterdiskutieren. Fortan stehen Katalonien 50 % der Lohn- und Einkommenssteuer, ebenfalls 50% der Mehrwertsteuer und 58 % der "Sondersteuern" zu. Die Diskussion über die Reform des katalanischen Autonomiestatuts hielt die spanische Politik viele Monate in Atem. Daß schließlich ein Kompromiß erzielt werden konnte, der eine klare parlamentarische Mehrheit erlangte, wurde von (fast) allen politischen Lagern als Erfolg bezeichnet. Der Kompromiß war auch deshalb von großer Bedeutung, weil er der anderen Autonomen Gemeinschaft mit weitreichenden Forderungen, dem Baskenland, als Vorbild dienen könnte. Im Frühjahr 2006 war die Revisionsdebatte zu den Autonomiestatuten voll im Gange. Die Verfassung erlegt jeder Statutänderung strenge Vorschriften auf: Ein neues Statut bedarf zuerst der Zustimmung des Regionalparlaments, sodann des gesamtspanischen Parlaments (mit absoluter Mehrheit) und schließlich einer Volksabstimmung in der jeweiligen Autonomen Gemeinschaft. Bis sämtliche Autonomiestatute überarbeitet und verfassungskonform in Kraft getreten sind, dürfte noch einige Zeit vergehen.
4. Die Autonomen Gemeinschaften im Überblick
Die Autonomen Gemeinschaften im Überblick
Politische Daten Autonomiereferenden: Inkrafttreten des Autonomiestatuts: Parlamentarische Kräfteverhältnisse (2006): Regierung (2006) Regierungschef (2006)
Hauptstadt: Räche: Bevölkerung: Bevölkerungsdichte: Regionaler Haushalt: Pro-Kopf-Einkommen: BIP: BIP nach Sektoren:
Wirtschaft:
Almerfa, Cädiz, Cördoba, Granada, Huelva, Jaen, Mälaga, Sevilla Sevilla 87.595 km' (17% Spaniens) 7.850.000 (2005) 85 E/km2 24,5 Mrd. € (2005) 15.140 € (2004) 115 Mrd.(2004) Landwirtschaft 7,8%; Industrie und Bauwesen 22,3%; Dienstleistungen 69,8% Tourismus (Costa del Sol, Städte), agrotechnischer Spezialanbau subtropischer Früchte und Gemüse (Almeria), Ölsaatenanbau (Mais, Soja), Oliven (Jaen), Erdbeer- und Himbeerplantagen (Huelva), Sherryweine (Jerez de la Frontera), Bodenschätze (Quecksilber, Zinn, Zink, Blei, Eisen) um Huelva
28.2.1980 und 20.10.1981 11.1.1982 PSOE 61 Abg., PP 37 Abg., IU 6 Abg., PA 5 Mg. PSOE Manuel Chaves Gonzälez (PSOE)
n Aragonien (Aragön) Grunddaten: Provinzen: Hauptstadt: Fläche: Bevölkerung: Bevölkerungsdichte: Regionaler Haushalt: Pro-Kopf-Einkommen: BIP: BIP nach Sektoren:
Wirtschaft:
n Andalusien (Andaluda) Grunddaten: Provinzen:
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Politische Daten Inkrafttreten des Autonomiestatuts: Parlamentarische Kräfteverhältnisse (2006): Regierung (2006) Regierungschef (2006)
Huesca, Teruel, Zaragoza Zaragoza 47.670 km2 (9,4% Spaniens) 1.270.000 (2005) 25,5 E/km2 4,2 Mrd. € (2005) 21.006 € (2004) 26 Mrd. (2004) Landwirtschaft 5,3%; Industrie und Bauwesen 34,2%; Dienstleistungen 60,4% Viehwirtschaft (Rinder, Schweine, Schafe), Obstplantagen, Opelwerk (Zaragoza) und Zulieferbetriebe 16.8.1982 PSOE 27 Abg., PP 22 Abg., ChA 9 Abg., PAR 8 Abg., IU 1 Abg. PSOE und PAR Marcelino Iglesias Ricou (PSOE)
n Asturien (Principado de Asturias) Grunddaten: Provinz: Hauptstadt: Fläche: Bevölkerung: Bevölkerungsdichte: Regionaler Haushalt: Pro-Kopf-Einkommen: BIP: BIP nach Sektoren:
Oviedo Oviedo 10.600 km2 (2,1 % Spaniens) 1.077.000 (2005) 102 E/km2 3,4 Mrd. € (2005) 17.029 € (2004) 18 Mrd. (2004) Landwirtschaft 2,5%; Industrie und 32,3%; Dienstleistungen 65,2%
esen
168
VII Der Staat der Autonomen Gemeinschaften
Wirtschaft:
Politische Daten Inkrafttreten des Autonomiestatuts: Parlamentarische Kräfteverhältnisse (2006): Regierung (2006) Regierungschef (2006)
Hauptstadt: Fläche: Bevölkerung: Bevölkerungsdichte: Regionaler Haushalt: Pro-Kopf-Einkommen: BIP: BIP nach Sektoren:
Wirtschaft: Politische Daten Inkrafttreten des Autonomiestatuts: Parlamentarische Kräfteverhältnisse (2006): Regierung (2006) Regierungschef (2006)
BIP: BIP nach Sektoren:
51,5 Mrd. (2004) Landwirtschaft 1,6%; Industrie und Bauwesen 37,9%; Dienstleistungen 60,5%
11.1.1982 PSOE 22 Abg., PP 19 Abg., IU 4 Abg., PSOE und IU Vicente Alvarez Areces (PSOE)
Wirtschaft:
Finanzgeschäfte, Metall-, Papier-, Nahrungsmittel-, Möbelindustrie, Automobilzulieferindustrien, Fischerei, fischverarbeitende Industrie, Forstwirtschaft
Politische Daten Autonomiereferendum Inkrafttreten des Autonomiestatuts: Parlamentarische Kräfteverhältnisse (2006): Balearen; Inseln: Mallorca, Menorca, Ibiza, Formentera, Cabrera (Pityusen) Palma de Mallorca 4.992 km2 (1% Spaniens) 983.000 (2005) 197 E/km2 2,6 Mrd. € (2005) 22.137 € (2004) 21 Mrd. (2004) Landwirtschaft 2,1 %; Industrie und Bauwesen 15%; Dienstleistungen 82% Tourismus, Bauwirtschaft
1.3.1983 PP 30 Abg., PSOE 19 Abg., PSM 4 Abg., IU 1 Abg., UM 3 Abg. PP Jaume Matas Palou (PP)
Regierung (2006) Regierungschef (2006)
Pro-Kopf-Einkommen;
Alava, Guipüzcoa, Vizcaya Vitoria/Gasteiz 7.261 km2 (1,4% Spaniens) 2.200.000 (2005) 291 E/km2 7,1 Mrd. € (2005); außerdem 477 Mio. € für die Autonomen Polizeieinheiten 24.547 € (2004)
25.10.1979 22.12.1979 PNV 22 Abg., PSE 18 Abg., PP 15 Abg., EHAK 9 Abg., EA 7 Abg., EB 3 Abg., Aralar 1 Abg. PNV, Koalition mit EA und EB Juan Jose Ibarretxe (PNV)
n Extremadura Grunddaten: Provinzen: Hauptstadt: Fläche: Bevölkerung: Bevölkerungsdichte: Regionaler Haushalt: Pro-Kopf-Einkommen: BIP: BIP nach Sektoren:
Wirtschaft:
III Baskenland (Pais Vasco/Euskad,) Grunddaten: Provinzen: Hauptstadt: Fläche: Bevölkerung: Bevölkerungsdichte: Regionaler Haushalt
169
Kohle- und Erzvorkommen (Mieres, Langreo), Eisenhütten (Gijön), Glashütten, Zink, Wasserund Kohlekraftwerke
ir Balearische Inseln (Daleares) Grunddaten: Provinz:
Die Autonomen Gemeinschaften im Überblick
Politische Daten Inkrafttreten des Autonomiestatuts: Parlamentarische Kräfteverhältnisse (2006): Regierung (2006) Regierungschef (2006)
Badajoz, Cäceres Merida 41.634 km2 (8,2% Spaniens) 1.084.000 (2005) 25 E/km2 4,1 Mrd. € (2005) 13.012 € (2004) 14 Mrd. (2004) Landwirtschaft 12,2%; Industrie und Bauwesen 21 %; Dienstleistungen 66,8% Forstwirtschaft (Eichen, Korkeichen), Getreide, Oliven, Wein, Viehwirtschaft (Rinder, Schafe, Schweine), luftgetrockneter Schinken,Tabakplantagen, Obst und Gemüse, Baumwolle, Reis, Soja, Sonnenblumen 26.2.1983 PSOE 36 Abg., PP 26 Abg., IU 3 Abg. PSOE Juan Carlos Rodriguez Ibarra (PSOE)
170
VII Der Staat der Autonomen Gemeinschaften
n Galicien (Galicia) Grunddaten: Provinzen: Hauptstadt: Fläche: Bevölkerung: Bevölkerungsdichte: Regionaler Haushalt: Pro-Kopf-Einkommen: BIP: BIP nach Sektoren:
Wirtschaft:
Politische Daten Autonomiereferendum Inkrafttreten des Autonomiestatuts: Parlamentarische Kräfteverhältnisse (2006): Regierung (2006) Regierungschef (2006)
Corufia, Lugo, Orense, Pontevedra Santiago de Compostela 29.575 km' (5,8% Spaniens) 2.760.000 (2005) 92,4 E/km2 9,1 Mrd. € (2005); 9,9 Mrd. € (2006) 15.560 € (2004) 14 Mrd. (2004) Landwirtschaft 7,1 %; Industrie und Bauwesen 30,9%; Dienstleistungen 62% Rinderzucht, Geflügelproduktionen, Stallhasen, Schweine, Forstwirtschaft (8% des gesamten spanischen Waldbestands), Fischerei, fischverarbeitende Industrie, mittelständische verarbeitende Industrie 21.12.1980 28.4.1981 PP 37 Abg., PSdG 25 Abg., BNG 13 Abg. PSdG, Koalition mit BNG Emilio P6rez Tourifio (PSdG)
n Kanarische Inseln (Islas Canarias) Grunddaten: Provinzen:
Hauptstädte: Fläche: Bevölkerung: Bevölkerungsdichte: Regionaler Haushalt: Pro-Kopf-Einkommen: BIP: BIP nach Sektoren: Wirtschaft:
Las Palmas, Santa Cruz de Tenerife; Inseln: Gran Canaria, Tenerife, Fuerteventura, Lanzarote, Gomera, El Hierro, La Palma, weitere kleine Inseln Santa Cruz de Tenerife, Las Palmas de Gran Canaria 7.492 km' (1,5% Spaniens) 1.970.000 (2005) 262,9 E/km2 5,2 Mrd. € (2005 18.130 € (2004) 34 Mrd. (2004) Landwirtschaft 3,2%; Industrie und Bauwesen 18,9%; Dienstleistungen 77,9% Tourismus, Bananen, Tomaten, Blumen- und Pflanzenplantagen, Koschenille
Die Autonomen Gemeinschaften im Überblick
Politische Daten Inkrafttreten des Autonomiestatuts: Parlamentarische Kräfteverhältnisse (2006): Regierung (2006) Regierungschef (2006)
171
16.8.1982 CC 23 Abg., PSC 17 Abg., PP 17 Abg., PIL 3 Abg. CC (Minderheitsregierung; bis Mai 2005 Koalition mit PP) Adän Martin Menis (CC)
n Kantabrien (Cantabria) Grunddaten: Provinz: Hauptstadt: Fläche: Bevölkerung: Bevölkerungsdichte: Regionaler Haushalt: Pro-Kopf-Einkommen: BIP: BIP nach Sektoren: Wirtschaft:
Politische Daten Inkrafttreten des Autonomiestatuts: Parlamentarische Kräfteverhältnisse (2006): Regierung (2006) Regierungschef (2006)
Santander Santander 5.321 km2 (1,1 % Spaniens) 562.000 (2005) 105,6 E/km2 1,86 Mrd. € (2005) 19.280 € (2004) 10,5 Mrd. (2004) Landwirtschaft 5 %; Industrie und Bauwesen 31 %; Dienstleistungen 64% Bodenschätze, Schwerindustrie, Metallverarbeitung, chemische Industrie, Lebensmittelindustrie, fisch- und milchverarbeitende Industrie 11.1.1982 PP 18 Abg., PSOE 13 Abg., PRC 8 Abg. PRC (Koalition mit PSOE) Miguel Angel Revilla Roiz (PRC)
n Kastilien-La Mancha (Castilla-La Mancha) Grunddaten: Provinzen: Hauptstadt: Fläche: Bevölkerung: Bevölkerungsdichte: Regionaler Haushalt: Pro-Kopf-Einkommen: BIP: BIP nach Sektoren:
Albacete, Ciudad Real, Cuenca, Guadalajara, Toledo Toledo 79.461 km2 (15,7% Spaniens) 1.895.000 (2005) 23,8 E/km2 7,1 Mrd. € (2005) 15.321 (2004) 28 Mrd. (2004) Landwirtschaft 10,4%; Industrie und Bauwesen 30,5 %; Dienstleistungen 59,1%
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VII Der Staat der Autonomen Gemeinschaften
Wirtschaft:
Politische Daten Inkrafttreten des Autonomiestatuts: Parlamentarische Kräfteverhältnisse (2006): Regierung (2006) Regierungschef (2006)
Weizen, Gerste, Ölsaaten, Knoblauch, Wein, Mineralien (Steinkohle, Zinnober, Silber, Quecksilber), Schuh und Lederindustrie 16.8.1982 PSOE 29 Abg., PP 18 Abg. PSOE Jose Maria Barreda Fontes (PSOE)
Die Autonomen Gemeinschaften im Überblick
Regionaler Haushalt:
Pro-Kopf-Einkommen: BIP: BIP nach Sektoren: Wirtschaft:
n Kastilien-Lehn (Castilla y Lehn) Grunddaten: Provinzen: Hauptstadt: Fläche: Bevölkerung: Bevölkerungsdichte: Regionaler Haushalt: Pro-Kopf-Einkommen: BIP: BIP nach Sektoren:
Avila, Burgos, Lehn, Palencia, Salamanca, Segovia, Soria, Valladolid, Zamora Valladolid 94.224 km2 (18,6% Spaniens) 2.511.000 (2005) 27 E/km2 8,55 Mrd. € (2005) 18.401 € (2004) 45 Mrd. (2004) Landwirtschaft 7,5%; Industrie und Bauwesen 31,9%; Dienstleistungen 60,6%
Politische Daten Autonomiereferendum Inkrafttreten des Autonomiestatuts: Parlamentarische Kräfteverhältnisse (2006): Regierung (2006) Regierungschef (2006)
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26,5 Mrd. € (2005); außerdem 835 Mio. € für die Autonomen Polizeieinheiten und 675 Mio. € für das Justizwesen (Gefängnisse) 23.542 € (2004) 157,6 Mrd. (2004) Landwirtschaft 1,5%; Industrie und Bauwesen 36,4%; Dienstleistungen 62% Textilindustrie, metallverarbeitende Industrie, chemische Industrie, Automobilindustrie, pharmazeutische Betriebe, elektrische und elektronische Industrie; Tourismus; Getreide, Gemüse, Obst, Viehfutter, Wein, Hülsenfrüchte, Viehzucht (Rinder Schweine, Schafe), Fleischindustrie, Schaumweine (Cava) 25.10.1979 22.12.1979 CiU 46 Abg., PSC 42 Abg., ERC 23 Abg., PP 15 Abg., ICV 9 Abg. PSC (in Koalition mit ERC und ICV) Pasqual Maragall (PSC)
n La Rioja Wirtschaft:
Politische Daten Inkrafttreten des Autonomiestatuts: Parlamentarische Kräfteverhältnisse (2006): Regierung (2006) Regierungschef (2006)
Automobilindustrie (Valladolid), Nahrungsmittelindustrie (Gemüse, Kekse), Zuckerrübenanbau, Wein (Ribera del Duero, Rueda), Papierindustrie (Miranda del Ebro), Schafzucht 2.3.1983 PP 48 Abg., PSOE 32 Abg., UPL 1 Abg., GM 1 Abg. (Überläufer von UPL) PP Juan Vicente Herrera Campo (PP)
n Katalonien (Catalufia/Catalunya) Grunddaten: Provinzen: Hauptstadt: Fläche: Bevölkerung: Bevölkerungsdichte:
Grunddaten: Provinz: Hauptstadt: Fläche: Bevölkerung: Bevölkerungsdichte: Regionaler Haushalt: Pro-Kopf-Einkommen: BIP: BIP nach Sektoren: Wirtschaft:
Barcelona, Gerona (Girona), Lerida (Lleida), Tarragona Barcelona 32.113 km2 (6,3% Spaniens) 6.995.000 (2005) 218 E/km2
Logrorio Logjorio 5.045 km2 (1% Spaniens) 301.000 (2005) 59,6 E/km2 981 Mio. € (2005) 21.345 € (2004) 6 Mrd. (2004) Landwirtschaft 10,4%; Industrie und Bauwesen 38,4%; Dienstleistungen 51,3% Wein, Konserven, metallverarbeitende und chemische Mittelbetriebe, Viehzucht, Forstwirtschaft
Politische Daten Inkrafttreten des Autonomiestatuts: Parlamentarische Kräfteverhältnisse (2006): Regierung (2006)
19.6.1982 PP 17 Abg., PSOE 14 Abg., PR 2 Abg.. PP
Regierungschef (2006)
Pedro Sanz Alonso (PP)
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VII Der Staat der Autonomen Gemeinschaften
n Madrid Grunddaten: Provinz: Hauptstadt: Fläche: Bevölkerung: Bevölkerungsdichte: Regionaler Haushalt: Pro-Kopf-Einkommen: BIP: BIP nach Sektoren:
Wirtschaft:
Politische Daten Inkrafttreten des Autonomiestatuts: Parlamentarische Kräfteverhältnisse (2006): Regierung (2006) Regierungschef (2006)
Madrid Madrid 8.028 km2 (1,6% Spaniens) 5.964.000 (2005) 743 E/km2 15,1 Mrd. € (2005) 25.742 € (2004) 148 Mrd. (2004) Landwirtschaft 2,1 %; Industrie und Bauwesen 15,9%; Dienstleistungen 82% Handel, Verwaltung, Transport, Hotellerie, Banken und Versicherungen, metallverarbeitende Industrie, Papier- und Druck, Textilien und Leder 1.3.1983 PP 57 Abg., PSOE 45 Abg., IU 9 Abg. PP Esperanza Aguirre (PP)
n Murcia Grunddaten: Provinz: Hauptstadt: Fläche: Bevölkerung: Bevölkerungsdichte: Regionaler Haushalt Pro-Kopf-Einkommen: BIP: BIP nach Sektoren:
Wirtschaft:
Murcia Murcia 11.314 km 2 (2,2% Spaniens) 1.336.000 (2005) 118 E/km2 3,3 Mrd. € (2005) 16.469 € (2004) 21 Mrd. (2004) Landwirtschaft 8,7%; Industrie und Bauwesen 27,6%; Dienstleistungen 63,9% Obst- und Gemüseplantagen (Tomaten, Artischocken, Paprika, Aprikosen, Pfirsiche, Kirschen), Mandeln und Getreide; Nahrungsmittelindustrie (Obst- und Gemüsekonserven), Textilindustrie, chemische und metallverarbeitende Industrie
Die Autonomen Gemeinschaften im Überblick
Politische Daten Inkrafttreten des Autonomiestatuts: Parlamentarische Kräfteverhältnisse (2006): Regierung (2006) Regierungschef (2006)
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19.6.1982 PP 28 Abg., PSOE 16 Mg., IU 1 Mg. PP Ramön Luis Valcärcel Siso (PP)
n Navarra Grunddaten: Provinz: Hauptstadt: Fläche: Bevölkerung: Bevölkerungsdichte: Regionaler Haushalt: Pro-Kopf-Einkommen: BIP: BIP nach Sektoren:
Wirtschaft:
Politische Daten Inkrafttreten des Autonomiestatuts: Parlamentarische Kräfteverhältnisse (2006): Regierung (2006) Regierungschef (2006)
Navarra Pamplona 10.421 km' (2,1 % Spaniens) 593.000 (2005) 57 Ulan' 3,15 Mrd. € (2005) 24.857 € (2004) 14,3 Mrd. (2004) Landwirtschaft 4,3%; Industrie und Bauwesen 40,8%; Dienstleistungen 54,9% Automobilindustrie (VW), Elektronik-, Haushaltsgeräte-, Textilindustrie, Nahrungsmittelindustrie, Kaliwerke, Wein-, Oliven- und Kornanbau, Gemüse 16.7.1982 UPN 23 Abg., PSN 11 Abg., IU 4 Abg., Aralar 4 Abg., CDN 4 Abg., EA 3 Abg., PNV 1 Abg. UPN Miguel Sanz Sesma (UPN)
n Valencia (Comunidad Valenciana) Grunddaten: Provinzen: Hauptstadt: Fläche: Bevölkerung: Bevölkerungsdichte: Regionaler Haushalt: Pro-Kopf-Einkommen: BIP: BIP nach Sektoren:
Alicante, Castell6n, Valencia Valencia 23.255 km2 (4,6% Spaniens) 4.692.000 (2005) 201,7 E/km2 10,55 Mrd. € (2005) 18.279 E (2004) 81,3 Mrd. (2004) Landwirtschaft 3,5%; Industrie und Bau esen 31,6%; Dienstleistungen 65%
176
vH Der Staat der Autonomen Gemeinschaften
Wirtschaft:
Politische Daten Inkrafttreten des Autonomiestatuts: Parlamentarische Kräfteverhältnisse (2006): Regierung (2006) Regierungschef (2006)
Tourismus, Zitrusfrüchte, Wein, Reis; Schuhindustrie, Kachel-, Möbel- und Textilindustrie, Salzgewinnung, Fischerei 1.7.1982 PP 47 Abg., PSPV 35 Abg., EUL 6 Abg., GM 1 Abg. (Überläufer des PP) PP Francisco Enrique Camps Ortiz (PP)
Fläche: Bevölkerung: Bevölkerungsdichte: Regionaler Haushalt: Pro-Kopf-Einkommen: BIP: BW nach Sektoren:'
Wirtschaft: Politische Daten Inkrafttreten des Autonomiestatuts: Parlamentarische Kräfteverhältnisse (2006):
Regierung (2006) Regierungschef/A/ca/de Presidente (2006)
Ceuta 60% Christen, 35% Muslime, 5% Hinduisten und Juden 20 km2 75.700 (2004) 3.785 E/km2 230 Mio. € ; Staatszuschuß davon 120 Mio. € (2004) 17.548 E (2004) 1,2 Mrd. (2004) Landwirtschaft 0,3%; Industrie und Bauwesen 7,7%; Dienstleistungen 92% Handel mit Marokko; Sondersteuergebiet; Tourismus; Dienstleistungen 13.3.1995 PP 19 Abg., line? Dem6crata Ceutt 3 Abg., PSOE 2 Abg., Partido Democrätico y Soda! de Ceuta 1 Abg. PP Juan Vivas (PP)
• Melilla Grunddaten: Autonome Stadt: Religiöse Zugehörigkeit: Fläche: Bevölkerung:
Melilla 60% Christen, 30% Muslime, 10% Hinduisten und Juden 12 km' 74.500 (2004)
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Bevölkerungsdichte: Regionaler Haushalt: Pro-Kopf-Einkommen: BIP: BIP nach Sektoren:
6.208 E/km2 240 Mio. € 16.950 € (2004) 1,1 Mrd. (2004) Landwirtschaft 0,3%; Industrie und Bauwesen 7,7%; Dienstleistungen 92%
Wirtschaft:
Handel mit Marokko (60% des BIP), Status eines Freihafens; Bauwirtschaft, Tourismus; Dienstleistungen
Politische Daten Inkrafttreten des Autonomiestatuts: Parlamentarische Kräfteverhältnisse (2006):
Ceuta Grunddaten: Autonome Stadt: Religiöse Zugehörigkeit:
Literatur
Regierung (2006) Regierungschef/Alcalde Presidente (2006)
13.3.1995 PP-UPM (PP- Uniön de! Pueblo Melillense) 13 Abg., Coaliciön por Melina 6 Abg., PSOE 3 Abg. PP Juan Jose Imbroda (PP)
Literatur Aja, Eliseo: El Estado autonömico. Federalismo y hechos diferenciales. Madrid 1999 Alcaide Inchausti, Julio: Evoluciön econömica de las regiones y provincias espariolas en el siglo XX. Madrid 2004 Blanco Valci6s, Roberto L.: Nacionalidades histöricas y regiones sin historia. Madrid 2005 Germän, Lluis / Llopis, Enrique / Maluquer de Motes, Jordi / Zapata, Santiago (Hg.): Historia Econömica Regional de Esparia. Siglos XIX y XX. Barcelona 2001 Goerlich Gisbert, Francisco J. / Mas Ivars, Matilde: La evoluciön econömica de las provincias espariolas (1955-1998). Madrid 2002 I imhez Blanco, Antonio / Martfnez Simancas, Juliän (Hg.): El Estado de las Autonomfas. 4 Bde. Madrid 1997 Martino, Antonio: Spanien zwischen Regionalismus und Föderalismus. Entstehung und Entwicklung des Staates der Autonomien (Estado de las Autonomfas) als historischer Prozeß. Frankfurt am Main 2004 Nüriez Seixas, Xose Manoel: Los nacionalismos en la Esparia contemporänea (siglos XIX y XX). Barcelona 1999 Solozäbal, Juan Jos& Naciön y Constituciön. Soberanfa y Autonomfa en la forma polftica espariola. Madrid 2004 Soto Carmona, Älvaro: Transiciön y cambio en Esparia, 1975-1996. Madrid 2005 rombeil, Anne-Sophie: Regionale Entwicklungsprozesse in Südeuropa. Italien und Spanien im Vergleich. Leverkusen 1999
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Chronologie zum (spanischen) Baskenland
VIII Das Baskenland - eine Problemskizze
1. Chronologie zum (spanischen) Baskenland 1820-1823 Während des Trienio Constitucional werden die Fueros (traditionelle Sonderrechte der Basken und Navarrenser) erstmals vollständig abgeschafft; nach der Restauration des Absolutismus werden sie wieder eingeführt. 1872-1876 Auch im zweiten Karlistenkrieg beherrschen die Karlisten das ländliche Baskenland; nach ihrer Niederlage werden die Fueros in Älava, Vizcaya und Guipüzcoa abgeschafft; zwei Jahre später erhält das Baskenland mit den Conciertos Econömicos jedoch fiskale Autonomie. 1895 Sabino de Arana gründet den Partido Nacionalista Vasco (PNV). 1. Okt. 1936 Die Cortes (spanisches Parlament) verabschieden das baskische Autonomiestatut; Josd Antonio Aguirre wird lehendakari (Regierungschef) der Comunidad Autönoma
Vasca. 26. April 1937 Die deutsche Legion Condor bombardiert Gernika, die heilige Stadt der Basken. Juni 1937 Die aufständischen Truppen Francos erobern Vizcaya, die Conciertos Econömicos werden annuliert. 1952 Im Baskenland gründet sich eine antifranquistische, baskisch-nationalistische Studentenorganisation, die in der Illegalität die Zeitschrift Ekin (Handeln) publiziert. 31. Juli 1959 Verschiedene Ekin-Gruppen gründen die radikal-nationalistische Gruppe Euskadi ta Askatasuna (ETA = Baskenland und Freiheit) als Widerstandsbewegung gegen die Diktatur; ab 1960 verübt ETA Sabotageakte. 1970 Trotz weltweiter Proteste werden bei einem Schauprozeß in Burgos 16 etarras zumeist zum Tode verurteilt. 20. Dez. 1973 ETA ermordet den spanischen Ministerpräsidenten Luis Carrero Blanco durch ein spektakuläres Sprengstoffattentat.
1975-1987 Viele Basken sehen in der Mischung aus polizeilichen Übergriffen und rechtsextremem (Gegen-)Terror die Fortsetzung der franquistischen Repressionspolitik gegen ihr Volk; rechtsstaatlich besonders problematisch ist die Verstrickung staatlicher Behörden in die Aktivitäten der Grupos Armados de Liberaciön (GAL) zwischen 1983 und 1987. 1976/77 Fast 600 inhaftierte etarras werden amnestiert. 1977 Die den Basken 1937 entzogenen Conciertos Econömicos werden wiederhergestellt. 30. Dez. 1977 Das Baskenland erhält ein vorläufiges Autonomiestatut. 25. Okt. 1979 Die Bevölkerung des Baskenlandes nimmt das "Statut von Gernika" (Autonomiestatut) in einer Volksabstimmung an. 9. März 1980 Bei den ersten Wahlen zum baskischen Regionalparlament siegen die nationalistischen Parteien. 10. April 1980 Carlos Garaicoetxea wird zum lehendakari gewählt. 1986 Zwischen ETA und der Zentralregierung kommt es zu Verhandlungen, um den Konflikt im Baskenland auf friedlichem Weg zu lösen. 13. Jan. 1988 Bis auf HB treten alle im baskischen Parlament vertretenen Parteien dem Antiterror-"Pakt von Ajuria Enea" bei. 10. Juli 1997 Die Entführung und Ermordung des baskischen Kommunalpolitikers Miguel Angel Blanco löst massive Anti-ETA-Demonstrationen in ganz Spanien aus. 12. Sept. 1998 23 nationalistische Parteien und Organisationen im Baskenland unterzeichnen die "Erklärung von Lizarra", in der eine Friedensinitiative vorgeschlagen wird, ohne einen vorherigen Gewaltverzicht von ETA zu fordern.
16. Sept. 1998 ETA verkündet einen unbefristeten und totalen Waffenstillstand. 29. Dez. 1998 Der gemäßigte PNV-Politiker Juan Josd Ibarretxe wird zum lehendakari gewählt und bildet eine von EH unterstützte Minderheitsregierung von PNV und Eusko Alkartasuna (EA). 25. Okt. 1999 Am 20. Jahrestag der Annahme des "Statuts von Gernika" erklären die nationalistischen Parteien des Baskenlandes das Statut für obsolet und lehnen es als oktroyierte Regelung ab. 28. Nov. 1999 ETA kündigt ihren 1998 verkündeten Waffenstillstand auf und begründet dies mit der anhaltenden Repression gegen ihre Mitglieder. Jan. 2000 Der PNV spricht sich wiederholt für eine "Souveränitätspolitik" der neuen Art aus und verschärft seinen Konfrontationskurs gegen die Zentralregierung in Madrid. 21. Juni 2001 Die Partei Batasuna wird als Nachfolgerin von HB gegründet. Febr. 2002 Der nach 20 Jahren ausgelaufene Concierto Econömico wird nach langen Verzögerungen und harten Auseinandersetzungen zwischen Ibarretxe und der Zentralregierung nach einem Einlenken der Basken erneuert. 16. April 2002 Das baskische Parlament erlaubt der Fraktion von Batasuna, sich in Sozialista Abertzaleak (SA) umzubenennen, um so ihre Auflösung zu verhindern. 15. Juni 2002 Xabier Arzalluz verkündet auf einer Versammlung des PNV, daß der Moment gekommen sei, für die endgültige Unabhängigkeit des Baskenlandes einzutreten. 8. Juli Juan Josd Ibarretxe fordert ultimativ die Umsetzung der noch fehlenden Punkte des Autonomiestatuts von 1979, andernfalls werde die baskische Regierung den Sezessionsprozeß einleiten; wenige Tage später erklärt das baskische Parlament das Autonomiestatut für obsolet. 26. Aug. Die spanische Justiz verbietet jegliche Aktivitäten von Batasuna; die Cortes leiten das Verbotsverfahren ein. 26. Sept. Lehendakari Juan Josd Ibarretxe kündigt im baskischen Parlament an, das Baskenland zu einem mit Spanien assoziierten Frei-
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staat machen zu wollen und die Bürger darüber abstimmen zu lassen (Plan Ibarretxe). 20. Okt. 2003 Das Provinzparlament von Älava fordert den sofortigen Rückzug des Plan Ibarretxe, da der Plan grundlegende Übereinkünfte innerhalb des spanischen Staates brechen würde. 17. Jan. 2004 Josu Jon Imaz tritt die Nachfolge von Xabier Arzalluz als Vorsitzender des PNV an. 15. Nov. 2004 Die verbotene baskische Partei Batasuna legt einen Friedensplan vor und ruft dazu auf, den bewaffneten Kampf zu beenden. Ihr Vorsitzender schlägt Spanien und Frankreich ein Referendum über die Zukunft des Baskenlandes vor. 30. Dez. 2004 Der Entwurf des sogenannten "Ibarretxe-Plans", der die Bildung eines baskischen "Freistaats" vorsieht, wird vom baskischen Regionalparlament mit knapper Mehrheit angenommen. Die Mehrheit konnte nur dank der partiellen Unterstützung der illegalen Partei Batasuna erreicht werden. Der Plan soll fortan mit Madrid verhandelt werden. 2. Febr. 2005 Das spanische Parlament lehnt den umstrittenen Unabhängigkeitsplan für das Baskenland mit großer Mehrheit ab. Der baskische Regionalpräsident Juan Josd Ibarretxe will dennoch eine Volksabstimmung über das Vorhaben abhalten lassen. 17. April 2005 Autonomiewahlen im Baskenland: Der EAJ/PNV erzielt gemeinsam mit seinem kleineren Koalitionspartner Eusko Alkartasuna (EA) 38,6% der Wählerstimmen und verliert seine absolute Mehrheit. Ibarretxe kann seine Wiederwahl zum Ministerpräsidenten nur dank zweier Stimmen des PCTV/EHAK sichern und ist somit von den "Erben" der ETA-treuen Batasuna-Partei abhängig. 18. Juni ETA verkündet einen zeitlich unbegrenzten Waffenstillstand; Attentate auf "gewählte Politiker" sollen beendet werden. Begründet wird die partielle Waffenruhe mit den politischen Veränderungen der letzten Monate. 22. März 2006 ETA verkündet einen "dauerhaften Waffenstillstand", beginnend mit dem 24. März.
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VIII Das Baskenland — eine Problemskizze
2. Das Baskenland zwischen Terrorismus und Friedenssehnsucht
n
Zur Vorgeschichte: Drohender Identitätsverlust durch Strukturveränderungen Die Vorgeschichte des heutigen baskischen Nationalismus läßt sich auf das 19. Jahrhundert zurückführen, als nach den Karlistenkriegen der 1830er und 1870er Jahre die liberalen Regierungen die traditionellen baskischen Sonderrechte (fueros) zum Teil einschränkten, zum Teil ganz abschafften. Zu diesen Privilegien hatten persönliche Freiheitsrechte, die Ableistung des Militärdienstes im Baskenland selbst, Steuer- und Zollfreiheiten gegenüber der kastilischen Krone und ein relativ hoher Grad an Autonomie gezählt. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entwickelte sich sodann das Baskenland, vor allem die Provinz Vizcaya, zu einer der am weitesten industrialisierten Regionen Spaniens. Als Reaktion auf den Industrialisierungsprozeß ihrer Region erhoben die "traditionellen" baskischen Mittelschichten und das agrarische Hinterland Forderungen, die als Defensivhaltung gegen die wachsende Bedrohung der baskischen Ethnie durch den Modernisierungsprozeß zu verstehen sind. Die rapiden Strukturveränderungen und die ethnische Vermischung durch den breiten Zustrom von Arbeitskräften aus anderen Teilen Spaniens wirkten auf die baskische Bevölkerung in ihrem dörflich-ländlichen, von Katholizismus und moralischem Konservativismus geprägten Milieu bedrohlich. Zum Sprecher gesamtbaskischer Belange machte sich in dieser Situation Sabino de Arana (1865-1903), dessen kulturnationale Erweckungsbewegung die baskische "Erneuerung" auf ihre Fahnen schrieb; hierzu gehörte die Rückbesinnung auf die angeblich ethnisch-rassische Einzigartigkeit (baskische Nationalisten rekurrieren z.T. heute noch auf dieses "Argument") ebenso wie die Wiederbelebung und Vereinheitlichung der baskischen Sprache, die Schaffung baskischer Symbole (eine eigene Hymne, die Flagge "Ikurrifia") und die Wortneuschöpfung Euskadi für Baskenland. 1895 gründete Sabino de Arana die Baskische Nationalistische Partei (Partido Nacionalista Vasco, PNV), deren ursprüngliche Forderung nach Selbständigkeit von Euskadi allmählich zugunsten einer umfassenden Autonomie und "Baskisierung" der Gesellschaft aufgegeben wurde. Vorerst blieb der PNV allerdings unbedeutend, da weder das baskische Großbürgertum noch die Arbeiterschaft oder die Intellektuellen für Unabhängigkeitsforderungen Verständnis aufbrachten. Somit stellte die nationalistische Bewegung eine Minderheit in der Minderheit dar, ihre soziale Basis blieb auf die mittlere und untere Mittelschicht sowie die obere Unterschicht beschränkt. n Unterdrückung und Selbstbehauptung: Die Basken während des Franquismus Während des Spanischen Bürgerkrieges (1936-1939) ergriffen die Basken — trotz ihrer konservativen, antiliberal-klerikalen Orientierung — Partei für die Republik, da nur von dieser die erstrebte Regionallösung zu erwarten war. Die Rache des Siegers Franco ließ nicht auf sich warten: Alle Autonomie- und Regionalregelungen aus der Zeit der Republik wurden noch während des Bürgerkrieges außer Kraft gesetzt, ganz Spanien einem rigiden Zentralismus unterworfen. Das aus dem Bürgerkrieg siegreich hervorgegangene Regime betrieb von Anfang an eine systematische und brutale Politik der Unterdrückung und Auslöschung des Baskischen (und des Katalanischen). Im Baskenland und in Katalonien kam es nach 1939 zu massenhaften "Säuberungen" in Verwaltung und öffentlichen Institutionen, alle Zeugnisse der Regionalkultur wurden zerstört oder verboten, der Gebrauch der Regionalsprachen bei Behörden und in der Öffentlichkeit mit Strafen belegt.
Das Baskenland zwischen Terrorismus und Friedenssehnsucht
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Seit den 60er Jahren erlebte der ethnische Nationalismus des Baskenlandes jedoch eine deutliche Renaissance. Daß dabei die Nationalismusbewegung im spanischen Baskenland derart militante Formen angenommen hat, läßt sich vor allem anhand zweier eng miteinander zusammenhängender Kriterien erklären: Zum einen mit der rapiden ("zweiten") Industrialisierung des Baskenlandes in den 50er und 60er Jahren und deren Folgeerscheinungen wie Veränderungen in der Berufsstruktur, Umweltzerstörung oder massive Zuwanderung von Arbeitskräften aus anderen Teilen Spaniens; zum anderen mit der Bedrohung von Sprache und Kultur des Baskenlandes, dem Rückgang des Baskischen als Folge der soziodemographischen Veränderungen und der franquistischen Repressionsmaßnahmen. Bei der baskischen Industrialisierung der 50er und 60er Jahre handelte es sich hauptsächlich um Klein- und Mittelbetriebe, die sich zum größten Teil im Hinterland Guipüzcoas, vor allem in der Goierri-Gegend, ansiedelten, somit in einer Region, die mit Einzelgehöften, dörflichen oder kleinstädtischen Gemeinschaften und ausgeprägtem Katholizismus noch stark traditionell geprägt war. Die Industrialisierung löste auch einen strukturellen Wandel aus, der sich in einem starken Rückgang der selbständig Erwerbstätigen und einer deutlichen Zunahme der abhängig Beschäftigten äußerte. 1980 waren über 80% der Erwerbstätigen in einem abhängigen Arbeitsverhältnis. Dies bedeutet, daß sich viele ehemals selbständige Bauern und kleine Handwerker in einen Großbetrieb eingliedern mußten. Besonders in Guipüzcoa und Vizcaya waren viele Kleinbauern von diesem Wandel betroffen. Die Strukturveränderungen fanden in einer sehr schnellen, intensiven und anarchischen Weise statt, so daß die sozialen Kosten des Akkumulationsprozesses außerordentlich hoch waren. Die massive Industrialisierung hatte vielerlei Folgen im urbanistischen und demographischen Bereich. Zuerst ist auf die gewaltige Zuwanderung aus anderen spanischen Regionen zu verweisen. 1970 waren bereits knapp 30% der Einwohner des Baskenlandes in anderen Regionen Spaniens geboren. Berücksichtigt man die Herkunft der Eltern, so ist die Situation für die Basken noch problematischer: 1975 waren nur 51 % der baskischen Bevölkerung 100 %ige Basken (d.h. im Baskenland geboren und beide Eltern Basken), 49% waren Zuwanderer oder Personen, die zwar im Baskenland geboren waren, aber mindestens einen nichtbaskischen Elternteil hatten. Diese demographischen Veränderungen bewirkten einen markanten Rückgang der baskischen Sprache, deren Grenze sich ohnehin seit Jahrhunderten nach Norden verschoben hatte. Für diesen Rückgang waren verschiedene Gründe verantwortlich: Zum einen die politische Repression; zum anderen das geringe Prestige des Baskischen im Baskenland selber, da es sich um die Sprache der Kleinbauern und Fischer handelte, während die Bourgeoisie sich des Kastilischen bediente, das auch die Sprache des sozialen Aufstiegs war; des weiteren die rapide Urbanisierung, die zur relativ schnellen Preisgabe des Baskischen führte, sobald Basken aus ihrer Heimatgemeinde weggezogen waren; schließlich der massive Zuzug von Nichtbasken ins Baskenland, die das Baskische nicht nur aus den angegebenen politischen Gründen nicht lernten. Hinzu kamen die Aufsplitterung der Sprache in viele Dialekte und die mit dem Erlernen verbundenen Schwierigkeiten, da das Baskische nicht zur indo-europäischen Sprachfamilie gehört. Während sich in den Provinzen Vizcaya und Alava die Zuwanderer vor allem auf die Großstädte konzentrierten, ließen sie sich in Guipüzcoa auch in den kleinen industrialisierten Städten des Hinterlandes nieder. Erneut war besonderes die Goierri-Gegend sehr stark
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VIII Das Baskenland — eine Problemskizze
betroffen: Durch die Zuwanderer wurde nicht nur die Sprache bedroht; auch die traditionelle Lebensweise wurde infrage gestellt. Dagegen setzte sich der baskische Nationalismus zur Wehr. Es ist kein Zufall, daß aus dieser Gegend die meisten ETA-Mitglieder stammen. Der neuere baskische Nationalismus entstand somit als Reaktion auf die zunehmende Bedrohung der baskischen Ethnie und der traditionellen, vom Katholizismus geprägten dörflich-ländlichen Lebensformen durch die Industrialisierung, die Verstädterung, die Zuwanderung und den repressiven Zentralismus der Madrider Regierung. n Der gewaltsame Nationalismus von ETA Das Baskenland und Katalonien unterschieden sich wesentlich in den Artikulationsformen des aktiven, auf die Wiederherstellung der Autonomie hin orientierten Widerstands. Während sich in Katalonien nämlich der Kampf im wesentlichen auf die Bewahrung und Verteidigung der Regionalsprache und Kultur konzentrierte, war es im Baskenland die Geheimorganisation ETA (Euskadi ta Askatasuna, "Baskenland und Freiheit"), die mit Gewaltaktionen und ständig zunehmenden Terrormaßnahmen das Regime in erhebliche Bedrängnis brachte, schließlich klar in die Defensive verwies. ETA brach mit der traditionellen, rückwärts gewandten Ideologie des PNV; das Baskentum wurde nicht mehr mit "Rassenzugehörigkeit", sondern kulturell und sprachlich definiert. Zur Leitidee wurde ein nach innen und außen souveräner baskischer Staat, der sowohl die französischen als auch die spanischen Provinzen umfassen und sich innerhalb eines sozialistischen Rahmens (entsprechend den neomarxistischen Strömungen der 60er Jahre) konstituieren sollte. ETA verfolgte somit sowohl ein nationalistisches als auch ein sozialistisches Ziel. Diskussionen darüber, welchem dieser beiden Fernziele die Priorität zukomme, führten zu mehreren Spaltungen der Organisation, deren bedeutendste die Aufgliederung in ETA Politico-Militar und ETA Militar war. Später gründeten Mitglieder der 1981 wieder aufgelösten ETA PoliticoMilitar die linksgerichtete nationalistische Partei Euskadiko Eskerra, die sich zunehmend von der Gewaltorganisation entfernte. ETA Militar blieb bei ihrem Gewaltkurs, wurde aber durch die radikal-nationalistische Partei Herri Batasuna (HB) in dem Sinne ergänzt, daß HB zumeist als Sprachrohr von ETA Militar fungierte. Der ursprünglich von Studenten gegründeten ETA schlossen sich im Laufe der Zeit immer mehr Angehörige der beruflichen Mittel- und Unterschicht an. Auch ihre Sympathisanten stammten zum größten Teil aus diesen Schichten. Sie betrachteten die baskische Wirtschafts- und Finanzoligarchie, die schon früh auf gesamtspanischem Territorium operierte und in den Führungskadern des Regimes überrepräsentiert war, als Verräter an der baskischen Sache. Lange Zeit (ca. 1959-1966) beschränkte sich ETA auf friedliche Aktionsformen (Propaganda, Mitarbeit an der Wiederbelebung baskischer Sprache und Kultur). Allmählich setzte sich jedoch die Ansicht durch, daß der repressiven Staatsgewalt nur durch gewalttätige Aktionen entgegengewirkt werden könne. Die Beherrschung der baskischen Peripherie durch das Zentrum in Madrid wurde als eine Form des internen Kolonialismus gedeutet. Ideen für das taktische Vorgehen übernahm ETA von verschiedenen Protest- und Befreiungsbewegungen, vor allem von der Stadtguerrilla in Lateinamerika. Der Mechanismus von "Aktion und Repression" wurde zum taktischen Leitprinzip erhoben: Es galt, die Sicherheitskräfte durch Attentate zu Repressionsmaßnahmen zu provozieren, die dann den Auf-
Das Baskenland zwischen Terrorismus und Friedenssehnsucht
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VIII Das Baskenland – eine Problemskizze
Das Baskenland zwischen Terrorismus und Friedenssehnsucht
ständischen immer mehr Anhänger zutreiben würden, bis die Situation für eine Massenerhebung reif sei. Ab 1968 fanden Anschläge auf Menschen statt. Handelte es sich vorerst noch um selektiven Terror, so eskalierte die Gewalt nach 1974. Die Anschläge forderten immer mehr Opfer, die mit der Situation im Baskenland nicht in Verbindung standen. Die Anzahl der Opfer stieg dramatisch an: von zwei im Jahr 1968 auf 78 im Jahr 1979. Bis heute sind bei ETA-Attentaten über 800 Menschen umgekommen, darunter weit über 600 Militärs oder Polizisten. Graphik 1: Todesopfer von ETA 1968-2005 92
43 46 0 0 .iiiiieJ 1111161/6".. . . . i2 5.2 .. 76
Verhaftung der ETA-Spitze in Bidart (Frankreich)
52
7
37
26
1 15 13 14 5
?_..
15
968 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 00 01 02 03 04 05
Todesoper insgesamt: 817
n Das Territorialprinzip im baskischen Nationalismus Von den vielfältigen Aspekten, die bei einer Analyse von ETA zu berücksichtigen sind, wird im Folgenden schwerpunktmäßig auf das Territorialprinzip im Sinne der Grenzüberschreitung eingegangen. a) Grenzüberschreitend war das Problem des baskischen Nationalismus in der Neuzeit in dem Sinne von Anfang an, daß die parteipolitischen Vertreter dieses Nationalismus nach Francos Sieg im Bürgerkrieg ins Exil gehen mußten und von jenseits der spanisch-baskischen Grenzen auf die Entwicklung im Land einzuwirken versuchten. Als 1960 unerwartet der Präsident der Exilregierung Jos Antonio de Aguirre starb, begann für den baskischen Nationalismus eine lange und tiefe Krise. Mit Aguirre starb auch eine politische Strategie, die über 20 Jahre lang darauf gesetzt hatte, daß der Antifaschismus der Alliierten sich nach 1945 zu einem Antifranquismus entwickeln würde, der über kurz oder lang der Diktatur ein Ende bereiten und den Basken ein Leben in Freiheit und Selbstverwaltung ermöglichen sollte. Der Kalte Krieg machte dieser Überlegung allerdings einen Strich durch die Rechnung. Mit der Übernahme der Exilregierung durch den vormaligen Vizepräsidenten Jesüs Marfa de Leizaola brach der Konflikt zwischen den exilierten Nationalisten und den unzufriedenen Jugendlichen der neuen Generation voll auf. Zu Beginn der 60er Jahre war der definitive Bruch der nationalistischen baskischen Bewegung nicht aufzuhalten, zumal sich auch im baskischen Innenland eine gänzlich neue Situation abzuzeichnen begann, die den Drang nach alternativen politischen Handlungskonzepten verstärkte. Der große Bruch geschah 1963, als Federico Krutwig sein mittlerweile klassisches Buch mit dem Titel Vasconia veröffentlichte. Krutwig wurde schnell zum Chefideologen der ETA und zum
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Schreckgespenst der exilierten PNV-Politiker, die miterleben mußten, wie ihre Orthodoxie zugunsten der neuen Ideen Krutwigs unter der baskischen Jugend an Boden verlor. b) Hinsichtlich der Behauptung von ETA während der franquistischen Diktatur ist auf zwei Aspekte zu verweisen, die ebenfalls mit dem Territorialprinzip zusammenhängen: Auf Schonräume und Fluchttore. Schonräume sind jene Zonen, die weitgehend aus dem Konflikt ausgespart bleiben, weil sie durch institutionelle oder sonstige Barrieren dem Augenmerk und Zugriff der überlegenen Macht entzogen sind. Hochschulen, Klöstern oder Pfarrhäusern kann die Rolle eines Frei- oder Schonraumes zufallen. Für den Fortbestand von ETA unter den repressiven Bedingungen der Diktatur war die Tatsache besonders wichtig, daß sie kirchliche Einrichtungen wie Gemeindesäle, Pfarrheime, Abteien als Arsenale für Waffen und Propagandamaterial, als Unterschlupf und Beratungsort benutzen konnte. Neben inneren Freiräumen und Zonen, in denen sie einen gewissen Rückhalt finden, bedürfen die Rebellen, wenn sie sich längerfristig behaupten wollen, auch einer Fluchtmöglichkeit nach außen, in ein benachbartes Land, wo sie sich erholen und von wo aus sie den Widerstand erneut aufbauen können. Die nahegelegene Grenze nach Frankreich bildete und bildet für die Basken dieses Fluchttor. Wenn die Organisation sich nach Phasen des Niedergangs in der Regel wieder rasch regenerierte, so ist dies neben dem Zustrom neuer Mitglieder vor allem dem Umstand zuzuschreiben, daß jedes Mal ein Rest der Führungskader in das benachbarte Frankreich entkommen konnte. Der Exodus von ETA-Mitgliedern in das französische Baskenland setzte schon bei der ersten großen Verfolgungswelle im Jahr 1960 ein. Seitdem haben sich Biarritz, Bayonne und vor allem Saint-Jean-de-Luz zum Auffanglager für alle ETA-Angehörigen entwickelt, denen der Boden im spanischen Baskenland zu heiß geworden ist. Außerdem unterhält die Gewaltorganisation im französischen Baskenland militärische Schulungslager, hat Waffen- und Vorratsdepots angelegt und läßt ihre Mitglieder sogar von dazu eigens bestellten baskischen Ausbildern unterrichten. Erst seit antiseparatistische Todesschwadronen wie die GAL einzelnen ETA-Mitgliedern in Südfrankreich auflauerten und sie umbrachten, und seitdem auch eine autochthone Gewaltorganisation auf den Plan getreten war, die durch Bombenanschläge auf die Benachteiligung und Ausbeutung der baskischen Departements in Südfrankreich durch Paris aufmerksam machen wollte, begann die französische Regierung das Problem ernster zu nehmen. c) Seit dem Übergang in die Demokratie sind die Verhältnisse undeutlicher, auch differenzierter geworden. Da der repressive Druck, der jahrzehntelang auf dem Baskenland lastete, nachgelassen hat, ist auch die Notwendigkeit für die separatistische Bewegung, sich in bestimmten sozialen und geographischen Nischen zu verschanzen, geringer geworden. Sie hat vielmehr mit ihrem politischen Arm Herri Batasuna und deren Sympathisantengruppen die Straße gewonnen, ist also in den öffentlichen Raum vorgestoßen. Das nationalistische Lager hat sich in mehrere Fraktionen aufgespalten, zwischen denen zum Teil beträchtliche Spannungen bestehen. Nach wie vor diente der südwestfranzösische Raum – und dies gilt nahezu bis in die Gegenwart – als relativ sicherer Zufluchtsort für flüchtige ETA-Mitglieder. Die beiden sozialistischen Regierungen in Spanien und Frankreich vereinbarten zwar eine engere Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Terrorismus; in der Praxis gingen aber die französischen Behörden nicht allzu hart gegen flüchtige ETA-Terroristen vor, da sie den Kon-
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flikt nicht von Spanien nach Frankreich importieren wollten. Es drängt sich der Verdacht auf, daß die relative Passivität der französischen Behörden dazu diente, ETA davon abzuhalten, auch auf französischem Territorium aktiv zu werden. d) Die Situation hat sich in neuester Zeit, vor allem seit dem Attentat auf das New Yorker World Trade Center vom 11. September 2001, geändert. Die Verschärfung des antiterroristischen Kampfes gewann durch die verschiedenen staatlichen Aktivitäten erneut eine grenzüberschreitende Dimension. Zum einen kam es sehr schnell zu einer Intensivierung der bilateralen antiterroristischen Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Spanien, zum anderen wurde innerhalb kürzester Zeit ein gemeinsamer europäischer Rechtsraum geschaffen, der eine Verfolgung der Terroristen auf europäischer Ebene erheblich erleichtern dürfte. Es dürfte kein Zweifel darüber bestehen, daß die aufwendige Finanzierung des terroristischen Apparats über Briefkastenfirmen, Scheingesellschaften, Pseudo-Unternehmen funktioniert; die holländischen Antillen, Frankreich und die Schweiz werden schon seit Jahren verstärkt von den Sicherheitskräften observiert, wenn auch bisher mit geringen Erfolgen. Auf dem EU-Gipfel im belgischen Laeken wurde Mitte Dezember 2001 eine europäische Festnahme- und Auslieferungsverordnung verabschiedet. In den Jahren der Transition hatte ETA eine Doppelstrategie zur Erreichung ihres politischen Zieles eines unabhängigen Baskenlandes entwickelt: Neben den Terrorismus trat der Versuch der politischen Durchsetzung der Institutionen. Der zu diesem Zweck gegründeten "Patriotischen Sozialistischen Koordinationsgruppe" KAS gehörten auch (neben ETA selbst) die Jugendorganisation Jarrai, die nationalistische Gewerkschaft LAB und einige weitere Gruppierungen an. In den folgenden Jahren vertrat KAS zumeist die von ETA propagierten Maximalforderungen, kämpfte aber auch für (von großen Teilen der baskischen Bevölkerung mitunterstützte) kurzfristige Ziele wie Zusammenlegung der baskischen Gefangenen, Amnestie oder Rückzug zentralstaatlicher Polizeikräfte aus dem Baskenland. Seit die baskische Regierung die Kompetenz über eine eigene Polizei hat (Ertzaintza), ist diese auch immer öfters Opfer von Attentaten geworden. Was früher ein Konflikt zwischen dem Baskenland und der Zentralregierung war, wurde nunmehr eine innerbaskische Auseinandersetzung. Vor allem ist seit einigen Jahren eine Entwicklung festzustellen, die im Zuge der willkürlichen ETA-Morde deutlich zugenommen hat: die Distanzierung der baskischen Gesellschaft von ETA. Lange Zeit war in Euskadi zum ETA-Terror geschwiegen worden, teils aus angeblichem Verständnis, teils aus Angst. Es war lange Zeit mit nicht unerheblichen Risiken verbunden, öffentlich seine Stimme gegen ETA zu erheben. In den letzten Jahren hat sich allerdings eine immer breitere Widerstandsfront gegen das radikalnationalistische Lager und dessen Gewalttaten gebildet. Die militante Organisation verliert im Baskenland seit Jahren an sozialem Rückhalt, die Politiker von HB — die sich nach wie vor weigerten, die Morde und Entführungen zu verurteilen — wurden immer offensiver ausgegrenzt. Allerdings gibt es auch widersprüchliche Entwicklungen: Schon 1988 hatten sich die demokratischen Parteien des Baskenlandes im "Pakt von Ajuria Enea" zu einer Antiterrorismusfront zusammengeschlossen. Die Front durchlief Höhen und Tiefen, überstand letztlich aber alle Krisen bis 1998, als sich der PNV den radikalen Nationalisten zuwandte
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und die Gemeinsamkeiten mit den gesamtstaatlichen Parteien immer weiter schrumpften. Eines der Probleme bestand darin, daß einige Führer des PNV — vor allem ihr damaliger Vorsitzender Xabier Arzalluz und der Parteisprecher Joseba Egibar — wiederholt ambivalente Äußerungen von sich gaben, die als Verständnis für die Haltung von ETA und HB interpretiert werden konnten. In den 90er Jahren wurde immer häufiger der Vorwurf an den PNV gerichtet, sich nicht deutlich genug von den Positionen der Terroristen zu distanzieren; erst darauf reagierte die baskische Regierungspartei und ging (erstmals 1994) gerichtlich gegen die Bedrohung der demokratischen Parteien durch die Separatisten-Organisationen vor. Nach dem Mord an dem jungen konservativen Gemeinderat von Ermua, des Partido Popular-Mitglieds Miguel Angel Blanco im Juli 1997, entschlossen sich die demokratischen Parteien des Baskenlandes, alle HB-Bürgermeister, die sie bis dahin mitgetragen hatten, abzuwählen. Während die 80er Jahre trotz des Autonomiestatuts und einer Konsolidierung der demokratischen Institutionen nur sehr langsam eine Erosion des Rückhalts von ETA in der baskischen Bevölkerung brachten, schritt ab Mitte der 90er Jahre dieser Prozeß der moralischen Delegitimierung von ETA und den Hilfsorganisationen in ihrem Dunstkreis schnell voran. Friedensorganisationen wie Gesto por la Paz ließen sich nicht politisch vereinnahmen, neue Initiativen wie Elkarri entstanden. Andererseits nahm auch der Terror wieder zu: Seit der Übernahme der Regierung durch den Partido Popular (PP) im Frühjahr 1996 und der parlamentarischen Tolerierungspolitik durch den PNV erfolgte eine Ausweitung des Bombenterrors und eine Konzentration auf PP-Gemeinderäte im Baskenland als Ziele der Attentate. n Die "Nationalistische Front" und der Waffenstillstand von ETA Als ein Großteil der baskischen Bevölkerung Terrorakte von ETA sichtbar verurteilte und sich politisch von Herri Batasuna abzuwenden schien, andererseits die polizeilichen Maßnahmen zur Zerschlagung mehrerer ETA-Kommandos geführt hatten, änderten die separatistischen Linksnationalisten ihre Taktik. Anfang September 1998 taufte sich Herri Batasuna in Euskal Herritarrok ("Wir baskische Bürger") um; diese "patriotische" Liste sollte als erweiterte Wahlplattform bei den Regionalwahlen antreten. Euskal Herritarrok (EH) übernahm im wesentlichen das politische Programm von Herri Batasuna, welches das Recht auf Selbstbestimmung des baskischen Volkes, eine demokratische Lösung des Gewaltproblems, mehr soziale Gerechtigkeit und die Vereinigung aller Basken (einschließlich derer in der nur teilweise baskischen Provinz Navarra und in Frankreich) fordert. Wenige Tage nach der Gründung von EH unterzeichneten in Estella (baskisch: Lizarra) die nationalistischen Kräfte des Baskenlandes einen Pakt, der im wesentlichen einen zuvor präsentierten "Friedensplan" des baskischen Ministerpräsidenten aufgriff und mit den klassischen ETA-Forderungen verband. Er enthielt die Verpflichtung zu allseitigen und offenen, zugleich aber ausschließlich baskischen Verhandlungen über die politische Zukunft des Baskenlandes. Kaum war die "Deklaration von Lizarra" verabschiedet, erklärte ETA einen "unbefristeten und vollständigen Waffenstillstand", der an keine Bedingungen geknüpft war; allerdings behielt sich die Separatistenorganisation vor, zu ihrer Strategie des Terrors zurückzukehren. Offensichtlich hatte der Gewaltverzicht der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) in Nordirland Einfluß auf die Waffenstillstandserklärung von ETA ausgeübt. Begrüßt wurde die Waf-
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fenruhe vom PNV, mit dem Hem' Batasuna langwierige Geheimverhandlungen geführt hatte. Die baskischen Regionalwahlen von Oktober 1998 führten zu einer stärkeren Polarisierung des Parlaments. Starke Gewinne konnte Euskal Herritarrok verbuchen, noch mehr legten allerdings die Konservativen des Partido Popular zu. Nach ihren Zugewinnen bei den Wahlen erklärte EH, sie werde eine nationalistische Minderheitsregierung in allen Belangen unterstützen, welche die baskische Nation stärken; der Kampf für die Unabhängigkeit aller Baskenprovinzen solle aktiv in den demokratischen Institutionen geführt werden. In den Monaten, die auf die Ausrufung des Waffenstillstandes durch ETA folgten, näherten sich der PNV und die separatistischen Organisationen immer mehr an: Gemeinsame Demonstrationen für die Zusammenführung und Annäherung von ETA-Häftlingen, übereinstimmende Erklärungen beider Organisationen, Zusammenarbeit in politischen Fragen charakterisierten die neue politische Szene. Der von ETA ausgerufene Waffenstillstand wurde bis Januar 2000 eingehalten; in der Zwischenzeit griffen allerdings Brandanschläge, Zerstörungen, Aufforderungen zur Zahlung der "Revolutionssteuer" und vor allem Straßenterror (kale borroka) durch die Jugendorganisation Jarrai, somit ein Terrorismus "niedriger Intensität", wieder um sich. Außerdem bereitete sich ETA während des Waffenstillstands durch Waffenkäufe, Diebstahl von Sprengstoffen und Verbesserung ihrer Infrastruktur auf neue Attentate vor, so daß inzwischen feststeht, daß der Waffenstillstand von Anfang an ein Täuschungsmanöver der Terroristen war. n Die Radikalisierung des PNV Im Herbst 1999 sollte das Baskenproblem eine weitere dramatische Wendung nehmen. Zum 20. Jahrestag des Erlasses des Autonomiestatuts erklärten die nationalistischen Parteien das "Statut von Gernika" für "beendet"; die Autonomieregelung für das Baskenland wurde als oktroyierte Regelung abgelehnt, da sie "Unterordnung" bedeute; angekündigt wurde ein "Souveränitätsprojekt", das dem Baskenland eine gleichberechtigte Verhandlungsbasis einräumen sollte. Im Oktober 1999 nannte ETA sodann die Bedingungen, unter denen sie Friedensgespräche mit Madrid wiederaufzunehmen bereit war: Erstens solle die spanische Regierung alle von Basken getroffenen Übereinkommen und den frei ausgesprochenen Willen der Basken akzeptieren. Alle Beschlüsse über die Zukunft des Baskenlandes sollten ausschließlich von Basken getroffen werden. Zweitens forderte ETA eine GarantieErklärung der spanischen Regierung, die Entwicklung im Baskenland zu respektieren. Drittens wurde die Freilassung der ETA-Häftlinge verlangt. Viertens bestand die Separatistenorganisation auf dem Abzug der "ausländisch-spanischen" bewaffneten Kräfte aus dem Baskenland, insbesondere der Bereitschaftspolizei und der Guardia Wenige Wochen später, am 28. November 1999, verkündete ETA das Ende ihres Waffenstillstandes. Sie rechtfertigte ihren Schritt mit der angeblich von Spanien und Frankreich ausgeübten "Repression" sowie vor allem mit der Weigerung der Nationalisten des PNV, die extremen Forderungen von ETA zu erfüllen, zu denen er sich angeblich in einem Geheimpakt mit ETA verpflichtet hatte. Der PNV habe nicht mit den "spanischen" Parteien gebrochen, vielmehr den "Pakt zum Aufbau einer baskischen Nation" als "Friedensprozeß" verkannt. Der PNV leugnete, je ein Geheimabkommen mit den Terroristen geschlossen zu haben. Er warnte zwar ETA nachdrücklich vor einer Wiederaufnahme des Terrorismus, führte aber
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parlamentarische Zusammenarbeit mit Euskal Herritarrok bedingungslos weiter. Anfang Dezember 1999 brach der PNV endgültig mit der Madrider Regierungspartei und entzog Ministerpräsident Aznar seine parlamentarische Unterstützung. Zugleich kündigte der PNV-Vorsitzende Xabier Arzalluz an, er werde mit der Separatistenorganisation Euskal Herritarrok über deren "Souveränitätsprojekt für Euskadi" in ein Gespräch eintreten. Im Januar 2000 sprach sich der PNV-Parteitag für eine "Souveränitätspolitik" neuer Art aus. Damit ließ die Partei zwanzig Jahre Politik auf der Grundlage des Autonomiestatuts hinter sich. Zum damaligen Zeitpunkt war der Pakt mit der radikal-separatistischen Partei EH, der im Gefolge des Lizarra-Abkommens vom September 1998 zustandegekommen war, noch in Kraft. Im Laufe des Jahres 2000 kam es zu einer immer deutlicheren Distanzierung des baskischen PNV-Nationalismus von der Madrider Regierung – vor allem, nachdem der PNV und HB übereingekommen waren, einen neuen politischen und rechtlichen Rahmen zu schaffen, der die Zielsetzung einer vollständigen Souveränität des Baskenlandes erreichbar machen sollte. n Der politische und juristische Kampf gegen das terroristische Umfeld Anfang Juni 2002 verabschiedete das spanische Parlament mit überwältigender Mehrheit ein Parteiengesetz, das ein Verbot von Parteien vorsah, die Gewalt und Terrorismus direkt oder indirekt unterstützen. Als Verbotsgründe galten zudem alle Behinderungen demokraI ischer Grundrechte oder deren Mißbrauch zugunsten terroristischer Gruppen. Auf die Partei Batasuna zugeschnitten war auch das mögliche Verbot einer Partei, die in ihren Reihen Personen duldet, die wegen Terrorismus verurteilt worden sind und diesem nicht abgeschworen haben. Am 17. März 2003 erklärte das Oberste Gericht Spaniens Batasuna für illegal; die Separatistenpartei mußte sich auflösen. Im April ordnete das Gericht die Auflösung der parlamentarischen Batasuna-Gruppen im Baskenland an, ließ allerdings offen, ob die Anordnung auch auf Sozialista Abertzaleak zutraf (diese Bezeichnung hatte Batasuna schon kurz vor ihrer erwarteten Illegalisierung angenommen). Sämtliche Konten und Guthaben von Batasuna wurden beschlagnahmt; die Mittel sollten den Opfern des Terrorismus zugutek ommen. Im September 2002 verkündete Ibarretxe schließlich seinen Plan, den er eine "Initiative Ihr das Zusammenleben" nannte. Für das Baskenland sieht der Plan den Status "freier Assoziierung" an Spanien vor. Außerdem kann das Baskenland institutionelle Verbindungen mit Navarra und den in Frankreich gelegenen baskischen Provinzen aufnehmen. Schließlich solle es der baskischen Regierung zustehen, internationale Verträge zu schließen und in den I I-Gremien vertreten zu sein. Das Baskenland wird als "assoziierte Nation" in Europa definiert, die eigenständig Volksbefragungen auf baskischem Territorium durchführen kann. Ein Referendum im Baskenland soll den Plan demokratisch legitimieren; die Volksbefragung soll allerdings erst stattfinden, wenn Bedingungen "vollständiger Freiheit" herrschen, d.h. nachdem ETA ihre Terroraktivitäten eingestellt hat. Der verfassungsrechtlich bedenklichste Teil des Ibarretxe-Plans besteht im baskischen elbstbestimmungsanspruch. Das baskische Volk – so heißt es im Plan – "ist kein untergeordneter Teil des Staates"; es verfüge vielmehr über eine "originäre Souveränität" und das "Recht, befragt zu werden, um über seine eigene Zukunft in Übereinstimmung mit dem
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Selbstbestimmungsrecht zu entscheiden". Die Verfassung von 1978 überträgt die Souveränität aber "dem spanischen Volk"; außerdem proklamiert sie die "unauflösliche Einheit der spanischen Nation", so daß Verfassungsrechtler den Ibarretxe-Plan für unvereinbar mit der spanischen Verfassung halten. Im November 2004 unterbreitete der Sprecher der illegalen Batasuna-Partei, Arnaldo Otegi, einen erneuten "Friedensplan" auf der Grundlage von drei Punkten: Zum einen solle die Auseinandersetzung in einen "demokratischen und friedlichen Prozeß am Verhandlungstisch" übergeleitet werden; zum zweiten wolle man die Frage der "territorialen Einheit" des Baskenlandes (also den Einbezug von Navarra und der französischen Departements) vorerst ruhen lassen; zum dritten sei man bereit, das Ergebnis des von Ibarretxe angestrebten Referendums zu akzeptieren. Am 30. Dezember 2004 verabschiedete das baskische Parlament den "Freistaatsplan" Ibarretxes, wobei drei (der verbliebenen sechs) Batasuna-Abgeordneten, die ihre Mandate trotz der Illegalisierung ihrer Partei behalten durften, dem Plan über die entscheidende Hürde der absoluten Parlamentsmehrheit verhalfen. Ibarretxe forderte daraufhin Ministerpräsident Rodrfguez Zapatero auf, mit ihm in einen "unmittelbaren Verhandlungsprozeß" über die politische Zukunft der Region einzutreten; "nichts und niemand" werde die Basken davon abhalten, mittels einer Volksabstimmung die eigene Zukunft selbst zu bestimmen. Anfang Februar 2005 brachte Ibarretxe seinen Freistaatsplan sodann in das spanische Parlament ein; dieses lehnte den Plan erwartungsgemäß mit der überwältigenden Mehrheit der Sozialisten und Konservativen ab. Während der baskische Regierungschef ein Referendum über seine Absichten ankündigte, bot Rodrfguez Zapatero einen Neubeginn mit einer einvernehmlichen und verfassungskonformen Reform des Autonomiestatuts von Guernica aus dem Jahr 1979 an. Unmittelbar nach seiner Niederlage im spanischen Parlament kündigte Ibarretxe für den 17. April vorgezogene Neuwahlen im Baskenland an. Sein explizites Ziel bestand darin, mit seiner Regierungskoalition eine absolute Mehrheit zu erringen, um die spanische Regierung anschließend zu Verhandlungen über seinen Plan zu zwingen. Das Wahlergebnis war sodann überraschend und widersprach allen Vorhersagen: Die seit vier Jahren regierende Koalition aus PNV und zwei kleineren Parteien erhielt keine Mehrheit für eine abermalige Regierungsbildung; im 75-köpfigen baskischen Parlament ging ihre Abgeordnetenzahl vielmehr von 36 auf 32 zurück. Die beiden nicht-nationalistischen Parteien – Sozialisten und Konservative – haben zusammen 33 Abgeordnete (wobei vor allem die Sozialisten deutlich zulegen konnten, während die Konservativen erhebliche Einbußen hinnehmen mußten). Somit ist im Parlament eine Art Pattsituation eingetreten. Die erstmalig antretende radikale "Kommunistische Partei der baskischen Länder" (Partido Comunista de las Tierras Vascas – Euskal Herrialdeetako Alberdi Kommunistak, PCTV-EHAK) kam auf Anhieb auf neun Abgeordnete. Das Ergebnis der baskischen Parlamentswahl und die augenscheinliche Schwäche von ETA ließen in Spanien wieder die Hoffnung auf ein Ende der Gewalt keimen. Ministerpräsident Rodrfguez Zapatero verkündete seine Absicht, unter bestimmten Voraussetzungen (vorherige bedingungslose Einstellung der Gewalt) mit ETA in Verhandlungen zu treten – was vor ihm bereits die Ministerpräsidenten Gonzälez und Aznar (erfolglos) getan hatten. Trotzdem scheinen inzwischen die Voraussetzungen für Gespräche geeigneter als früher zu
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sein. Denn trotz aller Einschränkungen läßt sich sagen, daß ETA durch die Sicherheitskräfte in den letzten Jahren sehr geschwächt worden ist und ihre Strukturen ernsthaft angeschlagen sein dürften. Die Polizei konnte erhebliche Erfolge verbuchen. Allein 2001 wurden 135 etarras festgenommen, 2004 noch einmal 131, zwischen 1996 und 2000 waren 250 inhaftiert worden. Immer häufiger wurden ETA-Mitglieder auch in Frankreich verfolgt und gefangengenommen. Die Fahndungserfolge und spektakulären Waffenfunde waren (auch) das Ergebnis der verbesserten Zusammenarbeit zwischen spanischer und französischer Polizei. Im Jahr 2002 saßen über 500 etarras in spanischen Gefängnissen ein. Im Frühjahr 2006 verdichteten sich die Hinweise auf eine bevorstehende Grundsatzerklärung von ETA. Am 22. März war es schließlich soweit: ETA erklärte eine "dauerhafte Waffenruhe", die am 24. März beginnen sollte. In einer vom baskischen Fernsehen ausgestrahlten Videoaufzeichnung nannte eine vermummte ETA-Sprecherin den Gewaltverzicht einen "Anstoß zu einem demokratischen Prozeß". In der Erklärung verlangte die Terrorgruppe eine Anerkennung der Rechte der Basken als "Volk" und eine Garantie dafür, daß im Baskenland "alle politischen Optionen" möglich sein sollten. (Diese Forderung war eine Umschreibung für die Wiederzulassung der verbotenen Batasuna-Partei.) Am Abschluß des "demokratischen Prozesses" müsse die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der Basken stehen; wörtlich hieß es: "Am Ende dieses Prozesses müssen die baskischen Bürger das Wort haben und über ihre Zukunft entscheiden können." Der spanische und der französische Staat müßten die Ergebnisse "ohne irgendeine Einschränkung" anerkennen. Die Reaktionen auf die ETA-Ankündigung waren überwiegend von Erleichterung und Zuversicht geprägt. Ministerpräsident Zapatero sprach von einem "langen und schwierigen" Weg, der nun bevorstehe, während Oppositionsführer Rajoy sofort davor warnte, den Terroristen durch Konzessionen bei Verhandlungen einen "politischen Preis" zu bezahlen. Der Regierungschef bot der konservativen Opposition enge Zusammenarbeit bei den bevorstehenden Verhandlungen an. Die Regierung wollte aber zunächst einmal abwarten, ob der Gewaltverzicht sich nur auf tödliche Attentate bezog oder auch Straßengewalt und Erpressungen mit einbezog. In den ersten Monaten des Jahres 2006 hatte ETA immer wieder mit vorab angekündigten Bombenanschlägen, Attentaten mit großen Sachschäden, Straßengewalt sowie Droh- und Erpresserbriefen mit der Forderung, die "Revolutionssteuer" zu bezahlen, auf sich aufmerksam gemacht. Kommentatoren wiesen darauf hin, daß auch in der Erklärung vom 22. März nicht die Rede von einer ETA-Auflösung oder von einer Ablieferung der Waffen ist; Skepsis bleibe angesagt. Bei aller Zurückhaltung in der Einschätzung der neuen Situation überwogen im Frühjahr 2006 die Hoffnungen. Der 22. März 2006 könnte der Anfang vom Ende von ETA gewesen sein.
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Die Debatte über das Verhältnis Spaniens zu Europa ist so alt wie die "Abkoppelung" der Iberischen Halbinsel von einer als gemeineuropäisch verstandenen Entwicklung in der Neuzeit. Spanier selbst haben die Differenz ihres Landes zu Europa immer wieder dichotomisch als Rückständigkeit versus Fortschritt charakterisiert, diesen Gegensatz allerdings – je nach Perspektive – unterschiedlich bewertet: entweder als zivilisatorische Unterlegenheit gegenüber wissenschaftlich-rationaler Überlegenheit, oder als geistig-moralische Stärke gegenüber materialistischem Fortschrittsfetisch. Wird nun als ein entscheidendes Kriterium für die Auseinanderentwicklung von Spanien und Europa der Stand der industriellen Entwicklung, die ökonomische Leistungsfähigkeit des Landes oder volkswirtschaftliche Prosperität angesehen und darauf hingewiesen, daß der Abstand zwischen dem Süden und dem Norden der Pyrenäen im Verlauf der Neuzeit immer größer wurde, so liegt es nahe, nach den entscheidenden Weichenstellungen zu fragen, die auf der einen Seite zu dynamischer Entfaltung, auf der anderen zu Stagnation und Dekadenz führten.
1. Historischer Rückblick: Zwischen Abschottung und Annäherung Als Kriterien für die Ausformung eines neuzeitlich-westlichen Wirtschaftsstils gelten zum einen dessen geistig-wissenschaftliche Fundierung, zum anderen die Verinnerlichung und Legitimierung der Arbeit. Seit den religionssoziologischen Untersuchungen von Max Weber wird in der Forschung ein Zusammenhang zwischen der protestantischen Ethik und dem Aufstieg des Frühkapitalismus im 16. Jahrhundert gesehen (Weber 1981; vgl. auch Ludwig 1988). Die im protestantischen Calvinismus angelegte rastlose Berufsarbeit sollte durch ihre innerweltlichen Erfolge dem Christen offenbaren, ob er zu den Erwählten Gottes zählte, die sich durch materiellen Erfolg seine Gnade erarbeitet hatten. Das antireformatorische Spanien Karls V. und Philipps Il. nun bekämpfte nicht nur die religiösen Neuerungen des 16. Jahrhunderts, sondern schottete sich auch von der zusehends auf Rationalität und Naturwissenschaften beruhenden geistig-ökonomischen Entwicklung ab, blieb scholastischen Lehren verhaftet, lehnte im wirtschaftlichen Bereich weltimmanente Nützlichkeitserwägungen ab, richtete seinen Blick weg von Europa und verwandte seine Energien auf die vollständige Eroberung und Unterwerfung des jüngst erworbenen Weltreichs in Übersee. Die Vertreibungen von Juden und Muslimen im 15. und 16. Jahrhundert, deren Folgen unmittelbar auf das Problem der bald danach einsetzenden spanischen "Dekadenz" verweisen, waren Ausdruck jener (gegen angenommene Überfremdungsgefahren gerichteten) Abwehrhaltung, die fortan so häufig anzutreffen sein würde: gegen Protestanten und Aufklärer, Liberale und Sozialisten, Freimaurer und Demokraten. Im 18. Jahrhundert führten der Einfluß aufgeklärten Gedankenguts und seine Bekämpfung zur Herausbildung jener zwei Strömungen, die Marcelino Men&Klez y Pelayo die "Heterodoxen" und die "Anti-
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IX Spanien und Europa — ein ambivalentes Verhältnis
Heterodoxen" genannt hat. Erstere waren die aufgeklärten Neuerer, letztere die konservativen Verteidiger des traditionellen und traditionalistischen Spanien. Der Entwicklungsvorsprung Europas nahm im 19. Jahrhundert unaufhaltsam zu. Während die Industrialisierung in Großbritannien, Frankreich, Belgien und Deutschland ein gesamtwirtschaftliches Wachstum vorher unbekannten Ausmaßes bewirkte und weitreichende Folgen im staatlichen und gesellschaftlichen Bereich zeitigte, war Spanien durch innenpolitische Auseinandersetzungen zwischen Traditionalisten und Liberalen unversöhnlich gespalten.
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n Die Krise von 1898 Das ungelöste "Problem Spanien" sollte gegen Ende des 19. Jahrhunderts wieder voll aufbrechen. Auslöser war der Verlust der letzten spanischen Überseekolonien (Kuba, Puerto Rico, Philippinen) im Krieg von 1898 gegen die USA. Wohl kein zweites Ereignis wirkte sich auf die Restaurationsmonarchie und – in einem umfassenderen Sinne – auf die weitere Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert nachhaltiger aus als der Verlust dieser letzten Kolonien. Bis heute werden in der spanischen Historiographie jene Ereignisse als das "Desaster von 1898" bezeichnet. Es ging dabei keineswegs nur um das Ende Spaniens als Kolonialmacht; der koloniale Niedergang wurde vielmehr bereits von Zeitgenossen als Zusammenbruch des Restaurationssystems, von vielen Systemvertretern gar als eine Art finis Hispaniae gedeutet; die vielzitierte spanische "Dekadenz" und der "Verlust der Größe Spaniens" erhielten in der Kriegsniederlage von 1898 ihren symbolhaften Ausdruck. Das Erwachen aus dem imperialen Traum löste in Spanien eine gewaltige Bewegung aus, die teils geistig-literarisch, teils politisch-reformerisch orientiert war. Philosophen und Schriftsteller erblickten Spanien in einer tiefen Krise, aus der entweder die Rückbesinnung auf das "wahre Wesen" oder die "Europäisierung" des Landes herausführen konnten. Die nationale Hoffnungslosigkeit der "Generation von 1898" (La generaciön del 98) führte allerdings zu den unterschiedlichsten Zukunftsvisionen, Zielprojektionen und politischen "Ratschlägen".
europäischen Vorbildern mündete allerdings in eine elitär gefärbte "Germanisierungsthese". Als Sprachrohr fortschrittlicher Ideen aus dem Ausland gründete Ortega 1923 die Kulturzeitschrift Revista de Occidente. Vor allem aufgrund seines Essays La rebeliön de las masas ("Der Aufstand der Massen") wurde der Philosoph als Herold der Einigung Europas gefeiert, der schon früh die Möglichkeiten der wirtschaftlichen Integration des Kontinents erkannt habe. Von den ersten übernationalen Anläufen der Zwischenkriegszeit (Völkerbund, PaneuropaBewegung) wurden auch die spanischen Europäisten jener Zeit geprägt; einige von ihnen – etwa Eugenio d'Ors und Salvador de Madariaga – nahmen auch aktiv an jenen institutionellen Erfahrungen teil. Und als 1931 die Zweite Spanische Republik gegründet wurde, schien endgültig jene geistig-politische Richtung im öffentlichen Leben Spaniens die Oberhand zu gewinnen, die für Außenorientierung und Europa-Zugewandtheit eintrat. Die vorübergehende Dominanz des "westeuropäischen Modells" – das sich in parlamentarischer Demokratie, Pluralismus, Marktwirtschaft und wohlfahrtsstaatlichen Einrichtungen äußerte – ließ sich nach Ausrufung der Zweiten Republik allenthalben in Politik und Kultur feststellen. Der politische Konsens, von dem die Zweite Spanische Republik in den 30er Jahren getragen wurde, war äußerst brüchig. Die Reformpolitiker wollten einen laizistischen und liberalen Staat schaffen, der den bürgerlichen Vorstellungen Ausdruck verlieh. Erstrebt wurde daher eine demokratische Verfassung, eine Militärreform, die Beschränkung der Macht der Kirche, eine Bildungsreform. Die Durchführung dieser Reformmaßnahmen hatte sowohl eine soziale als auch eine ideologische Polarisierung im Land zur Folge. Die Agrarreformen und der laizistische Staat wurden von der grundbesitzenden Oligarchie bzw. von der Kirche als frontaler Angriff auf ihre säkularen Rechte verstanden; das "traditionale" und das "moderne" Modell standen sich unversöhnlich gegenüber. Da das parlamentarische System den traditionellen Eliten keine Mechanismen zur Bewahrung ihrer privilegierten Position an die Hand gab, rekurrierten sie auf das Militär zur gewaltsamen Wiederherstellung ihrer vordemokratischen Stellung. Der Bürgerkrieg von 1936 besiegelte sodann das Scheitern des modernisierend-"europäisierenden" Reformismus.
n Polarisierung der Positionen In der Zwischenkriegszeit griff die akademische Elite auf die Möglichkeit von Auslandsaufenthalten zurück, absolvierte Studien in verschiedenen europäischen Ländern (vornehmlich in Deutschland) und trug anschließend zur Propagierung "europäischen" Gedankenguts an spanischen Universitäten bei. Was diese Elite aus dem Ausland mitzubringen vermeinte, waren Technik und Methode. Zu jenen Erben der 98er Generation gehörte auch Jos Ortega y Gasset (1883-1955), dessen gesonderte Erwähnung insofern gerechtfertigt erscheint, als er wie kaum ein zweiter Spanier im 20. Jahrhundert die "Europäisierung" Spaniens und den Anschluß des Landes an den "Fortschritt" Westeuropas gefordert hat. Gründe für diese Forderung gab es, Ortega y Gasset zufolge, mehr als genug, war er doch der Meinung: "Die ganze Geschichte Spaniens [...] ist die Geschichte einer Dekadenz gewesen." Insbesondere die letzten drei Jahrhunderte waren nur "Schlaf, Verblödung, Egoismus" (zit. nach Lafn Entralgo 1948, 113). Die Abrechnung mit der Heuchelei der alten Politik fand 1921 in Ortegas Essay Esparia invertebrada ("Spanien ohne Rückgrat") statt; die Forderung nach Regenerierung an
n Der franquistische Sonderweg 1)er Ausgang des Bürgerkrieges sollte das spanisch-europäische Verhältnis jahrzehntelang prägen und jenen "Sonderweg" bedingen, den das franquistische Spanien bis in die 60er I a hre hinein propagierte. Hatte im Bürgerkrieg die Linke die Hoffnung gehegt, Spanien als zweites sozialistisches Land der Geschichte installieren zu können, so machte die Rechte bewußt die glorreiche spanische Vergangenheit zum Leitstern ihrer Bestrebungen. Die franquistische Propaganda setzte fortan Liberalismus, Sozialismus, Kommunismus und Freiinaurerei – die modernisierungswilligen und Europa zugewandten Kräfte der Zweiten Republik – mit dem ewigen "Antispanien" gleich, verkündete die konservative Ideologie vom einmaligen Sonderweg Spaniens und seiner kreuzfahrerischen Mission in der Zeit der Säkularisierung und der Ausbreitung des Sozialismus und machte nahezu alle Modernisierungsmaßnahmen des vorangegangen Jahrfünfts rückgängig. Politisch und ökonomisch schlug Spanien nach Bürgerkrieg und Weltkrieg somit einen "Sonderweg" ein, der teils freiwillig gewählt war, teils von außen auferlegt wurde. Der in den 60er Jahren von den Regime-Propagandisten zur Lockung sonnenhungriger Mittel- und
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IX Spanien und Europa – ein ambivalentes Verhältnis
Nordeuropäer entwickelte Tourismusslogan Spanien ist anders stellte auch ein bewußt vorgetragenes ideologisch-politisches Selbstbekenntnis dar. Der politische Sonderweg, der das franquistische Spanien von der westeuropäischen Entwicklung unterschied, sollte bis zum Tode des Diktators beibehalten werden: Hatte Franco bereits wenige Wochen nach Beendigung des Bürgerkrieges programmatisch Spaniens Beziehungen zur Außenwelt als Defensivhaltung gegen eine weltweite Verschwörung charakterisiert, so sollte das Regime von dieser Grundeinschätzung nie abweichen. Wie sehr das repressive System des Franquismus den "europäischen" Werten entgegenstand, läßt sich schon der Tatsache entnehmen, daß in jenen Jahren das Nachdenken der spanischen Intellektuellen über Europa zumeist ein Plädoyer für eine Öffnung des Landes war. Europa wurde zum Maßstab, und der Hinweis auf diese europäische Vielfalt zur Kritik an der aufgezwungenen politischen und kulturellen Uniformität Spaniens. Der Bezug auf Europa war (direkt oder verklausuliert) Ausdruck von Diskonformität und Perspektive ermutigender Hoffnung auf Freiheit und Demokratie. Die Vision war nicht auf wirtschaftliche Besserstellung, sondern auf soziale, politische und kulturelle Entwicklung gerichtet. Ein geradezu paradigmatisches Beispiel für diese Einstellung war jener (in Spanien selbst und international vielbeachtete) Kongreß der Europäischen Bewegung im Juni 1962 in München, dem Persönlichkeiten aus den verschiedensten politischen Lagern der demokratischen Opposition gegen Franco (u. a. Salvador de Madariaga, Jos Maria Gil Robles, Rodolfo Llopis) beiwohnten. Die Teilnehmer an der Münchner Konferenz sahen sich in den Wochen nach ihrer Tagung einer Hetz- und Verleumdungskampagne ausgesetzt, wie sie in Spanien schon lange nicht mehr erfolgt war. Beschimpft als "ewige Feinde Spaniens" wurden sie verbannt, abgeschoben oder mit Redeverbot belegt. Deutlicher hätte die anhaltende Dichotomie Spanien-Europa in der Franco-Ära nicht zum Ausdruck gebracht werden können. n Die Öffnung nach Europa: Abendland-Ideologie und Wirtschaftsliberalisierung Eine wesentliche Rolle für die Zunahme an internationaler Akzeptanz des Franco-Regimes spielten der Katholizismus und die damit eng verknüpfte Abendland-Ideologie. Der Katholizismus war es, der nach 1945 im Ausland den Gedanken der Vorbildlichkeit Spaniens für eine europäische Neuordnung belebte und bei der konservativen Grundgestimmtheit der 50er Jahre wesentlich zur Aufwertung des franquistischen Regimes beitrug. Spanien wurde wieder bruchlos in die christliche Einheit Europas eingeordnet, die Wallfahrt nach Santiago de Compostela als Bindeglied abendländischer Gemeinschaftsidee verherrlicht, der Gedanke der europäischen Einheit und die Idee des christlichen Abendlandes gleichgesetzt. Die Regierungsumbildung von 1957, durch die zum ersten Mal Vertreter des Opus Dei in das Kabinett aufgenommen wurden, stellte einen grundlegenden Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik, eine Veränderung der Entscheidungs- und Lenkungsmechanismen auf wirtschaftlichem Gebiet und den Erwerb einer neuen Legitimitätsbasis für das autoritäre Regime dar. Die Männer des Opus Dei, die im folgenden Jahrzehnt die spanische Wirtschaftspolitik weitgehend bestimmen sollten, waren die eigentlichen Exponenten jener "technokratischen" Ideologie, deren Verfechter seit den späten 50er Jahren offen auf eine durchgreifende Modernisierung der antiquierten spanischen Wirtschaftsstruktur hinarbeite-
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ten, eine forcierte ökonomische Expansion auf der Grundlage eines selbständigen, aber vom Staat geförderten Unternehmertums anstrebten und Spanien enger an Europa, vor allem an den Gemeinsamen Markt, heranführen wollten. Der wirtschaftliche Aufschwung der 60er Jahre zog gewaltige Veränderungen im sozioökonomischen und sozio-kulturellen Bereich nach sich: Die Demographie nahm immer ausgeprägter die Muster entwickelter Industrienationen an: Erhöhung der Lebenserwartung, Nachlassen der Geburtenhäufigkeit, Anwachsen der älteren Bevölkerung, Rationalisierung des generativen Verhaltens. Die Wanderungsbewegungen führten zu hochgradiger Verdichtung der spanischen Bevölkerung in wenigen Provinzen, zu gewaltigen Verschiebungen im Siedlungsgefüge und in deren Gefolge zu einer hohen Urbanisierungsrate. Die Erwerbsstruktur paßte sich mit ihrem Übergewicht an Beschäftigten im tertiären und sekundären Bereich gegenüber der Landwirtschaft weitgehend der anderer Industriegesellschaften an. Im Gefolge der Industrialisierung und Arbeitsplatzspezialisierung nahm die Professionalisierung und intergenerative Berufsmobilität in nahezu allen Bereichen deutlich zu. Die Alphabetisierung erreichte Quoten, die in etwa entwickelten Industrienationen entsprachen. Bildungspolitisch waren die letzten 50 Jahre ein Übergang von einem zuvor noch massiven Analphabetentum zu einer soziokulturellen Differenzierung. Die Familienstruktur entwickelte sich immer deutlicher auf die sogenannte Kernfamilie hin, die Erwerbsquoten der Frauen stiegen rasch. Das Wertesystem (Einstellung zur Ehescheidung, Sexualität, Emanzipation) war fundamentalen Wandlungen unterworfen; der reale Säkularisierungsprozeß der Bevölkerung schritt weit voran; Leistung und Erfolg zählten bald zu den "positiven" Werten in der spanischen Gesellschaft. In vielerlei Hinsicht widersprach damit das Ergebnis der franquistischen Politik den ursprünglichen Intentionen: Am Ende der Franco-Herrschaft war die spanische Gesellschaft politisierter, urbanisierter und säkularisierter denn je, die Arbeiter und Studenten waren so aufsässig wie noch nie, die Autonomie- und Selbständigkeitsbewegungen der Regionen ausgeprägter als zu jedem anderen Zeitpunkt der neueren spanischen Geschichte, Sozialisten und Kommunisten bei den ersten Wahlen nach Francos Tod so erfolgreich wie nie zuvor, die spanische Wirtschaft finanziell und technologisch vom internationalen Kapital in geradezu beängstigendem Ausmaß abhängig. Nie zuvor in seiner Geschichte dürfte Spanien wirtschaftlich und sozial so "europäisch" gewesen sein wie im Übergang zur Demokratie nach dem Ende des autoritären Regimes.
2. Spanien und die EG/EU Spanien mag zwar am Ende der Franco-Ära ökonomisch und sozial weitgehend europäisiert gewesen sein; politisch befand es sich allerdings nicht in der Europäischen Gemeinschaft, obwohl seine Bemühungen um engeren Anschluß an die EWG weit zurückreichen. Bis zur Unterzeichung der Römischen Verträge hatte Spanien der europäischen Integrat ionsbewegung kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Erst nach Gründung der EWG reagierte die spanische Regierung, die eine interministerielle Kommission einsetzte und 1962 selbst einen Beitrittsantrag an die EWG richtete. Brüssel reagierte auf den damaligen Assoziierungsantrag mit dem Ziel der Vollmitgliedschaft ausgesprochen zurückhaltend, nachdem
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eine wesentliche Voraussetzung für die Mitgliedschaft — eine demokratische Grundordnung — in Spanien fehlte. Erst 1970 schlossen die EWG und Spanien schließlich ein Präferenz-Handelsabkommen ab, nachdem jahrelange und schwierige Verhandlungen vorausgegangen waren, bei denen Spanien zuerst eine Antwort auf sein Beitrittsgesuch von 1962 verlangte, sodann sich mit Gesprächen über ein Handelsabkommen zufrieden gab, dessen Aushandlung sich mehrere Jahre hinzog (Marquina Barrio 1989). n Der lange Weg in die Europäische Gemeinschaft Als in der Übergangszeit nach Francos Tod die außenpolitischen Weichenstellungen vorgenommen wurden, stand Spanien vor der Entscheidung, ob es sich stärker an (West-) Europa anlehnen, ob es die außereuropäische, vor allem die lateinamerikanische und die nordafrikanische Karte spielen oder ob es sich eine blockfrei-neutralistische Ausrichtung geben sollte. Mit der Übergabe des offiziellen Beitrittsgesuchs am 28. Juli 1977 vollzog das inzwischen demokratische Spanien die eindeutige Hinwendung zu Europa. Im gleichen Jahr noch wurde der iberische Staat in den Europarat aufgenommen, zwei Jahre später unterzeichnete Madrid die Europäische Menschenrechtskonvention (Niehus 1988; Armero 1989). Als von spanischer Seite 1977 der erneute Beitrittsantrag gestellt wurde, geschah dies im Bewußtsein, eine historische Weichenstellung vorzunehmen. In Spanien setzte eine neue Phase der Diskussion über Europa ein: Die erhoffte EG-Mitgliedschaft wurde mit Rückkehr zur "Normalität" und in das "gemeinsame Haus" Europa, mit wirtschaftlicher Modernisierung, mit Verhinderung einer politischen Involution gleichgesetzt. Die Öffnung Spaniens nach Europa und die zunehmende Akzeptanz durch Europa auf der einen sowie der Prozeß des innerspanischen Wandels auf der anderen Seite bedingten sich gegenseitig. Es bestand somit eine Korrelation zwischen dem inneren Demokratisierungsprozeß und dem Bestreben, die außenpolitische Isolierung aufzubrechen. Im Verlauf der Beitrittsverhandlungen veränderten sich die spanischen Vorstellungen Europa gegenüber zumindest in drei Kernbereichen: Wurde die EG zunächst als eine Art Schutzbeauftragter der noch schwachen spanischen Demokratie gesehen, so überwog allmählich immer deutlicher die Vorstellung, die spanische Demokratie habe sich ohne nennenswerte Einflüsse von außen stabilisiert und die EG sei keineswegs ein Garant für die Sicherung der Demokratie. Im Hinblick auf den Modernisierungsimpuls durch die Gemeinschaft wich die ursprüngliche Vorstellung einer von außen einwirkenden ökonomischen Wandlungsstrategie der Überzeugung, Modernisierung sei eine weit über die Wirtschaft hinausreichende Aufgabe der eigenen Gesellschaft. Und galt bezüglich der Regionalismusproblematik Europa als Inbegriff von Vielfalt und Dezentralisierung, so führten die Zweifel über die föderalen Wirkungsmöglichkeiten der Gemeinschaft zur Umkehrung der ursprünglichen Vorstellungen; schließlich galt Spanien als Beispiel für andere Länder Europas. Die Enttäuschungen und Unsicherheiten über Europa haben sogar Spekulationen über isolationistische spanische Sonderwege wieder zum Leben erweckt (Frey 1988). In der Schlußphase wurden die Beitrittsverhandlungen durch ein weiteres Problem erheblich belastet. Für die EG ging es bei der zweiten Süderweiterungsrunde nämlich nicht nur um Fragen der Integrationspolitik und der wirtschaftlichen Interessen, sondern darüber
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hinaus um sicherheitspolitische Erwägungen, präsentierte sich Spanien doch als wichtiges Operationsgebiet zwischen den Kanarischen Inseln und den Pyrenäen. Immer deutlicher verschmolzen EG-Beitritt und Verbleib in der NATO politisch zu einem Projekt, was sich hinsichtlich der Akzeptanz des spanischen EG-Beitritts durch die Öffentlichkeit als höchst problematisch erweisen sollte, denn während Europa eigentlich bei der Mehrheit der Spanier unumstritten war, lehnten sie einen NATO-Verbleib ebenso deutlich ab. Die Vermengung beider Fragen mußte notwendigerweise zu einer stärkeren Distanzierung von Europa führen, das als Erpressung empfundene Junktim wurde scharf abgelehnt. Die Wahlen von 1982 hatte die Sozialistische Partei auch wegen ihrer Anti-NATO-Parolen gewonnen; sie hatte in Aussicht gestellt, daß sie im Falle der Regierungsübernahme ein Referendum über den Verbleib des Landes in der Atlantischen Verteidigungsgemeinschaft abhalten würde. Nachdem Felipe Gonzälez Ministerpräsident geworden war, merkte er rasch, daß die angestrebte Zugehörigkeit zur EG vom Verbleib in der Verteidigungsallianz nicht zu trennen war. Die europäischen Mächte und die USA legten aus geostrategischen Gründen größten Wert auf einen Verbleib Spaniens in der NATO. Es war auch kein Geheimnis, daß die Sicherheitserwägungen eine wesentliche Rolle bei der Zustimmung zur Aufnahme in die EG spielten. Damit geriet die spanische Regierung in eine politische Zwickmühle, da einerseits die Alliierten keinen Zweifel am engen Zusammenhang zwischen EGund NATO-Mitgliedschaft ließen, andererseits die Sozialisten vor der Regierungsübernahme für einen NATO-Austritt plädiert hatten. Entscheidend für den Meinungsumschwung des spanischen Regierungschefs zugunsten des Verbleibs in der NATO dürfte schließlich der "Druck" von außen gewesen sein: das faktische EG-NATO-Junktim; der Hinweis der USA, daß ohne einen Verbleib Spaniens im Bündnis die wirtschaftliche und technologische USHilfe drastisch reduziert werden müsse; das Argument der EG-Staaten, daß Profit in der Wirtschaftsgemeinschaft mit Engagement im Verteidigungsbündnis zu kompensieren sei. Immer mehr Sozialisten wurden daraufhin zu Vernunft-"Atlantikern". Das gefährliche Referendum über Spaniens Verbleib in der NATO gewann Gonzälez mit dem ausdrücklichen Hinweis auf Spaniens Zukunft in Europa. n Spaniens europäische Identität dir die Spanier gingen während der Beitrittsverhandlungen und danach — auch wenn primär über wirtschaftliche Angleichungsprobleme diskutiert wurde — die kulturellen und politischen Aspekte der EG-Mitgliedschaft nie verloren. In diesem Sinne läßt sich sagen, daß der spanische Beitritt zur EG ökonomisch, politisch und kulturell drei bedeutende historisc he Funktionen erfüllt: Zum einen beschleunigte die Beteiligung an den Institutionen der Gemeinschaft — im ökonomischen Bereich — die Außerkraftsetzung der traditionellen Funktionsprinzipien der spanischen Wirtschaft. Die volle Teilhabe an den Mechanismen der internationalen Arbeitsteilung in Westeuropa öffnete die spanische Wirtschaft einem breiten, dynamischen Konkurrenzmarkt, was zwar einerseits zu schmerzhaften Anpassungsprozessen führte, andererseits jedoch die ökonomischen Abschottungsversuche der Vergangenheit endgültig zu einem Relikt der Erinnerung verkommen ließ. — Zum anderen wurde Spanien — im politischen Bereich — in den Prozeß multilateraler Zusammenarbeit integriert und erhielt damit Informationen und Mitwirkungsrechte an Entscheidungen, die die /ukunft Europas und damit der Welt mitbedingen. — Zum dritten schließlich führte die Mit-
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sprache in Europa - im Hinblick auf nationale Identitätsfindung - zu einer stärkeren Solidarisierung mit europäischen Geschicken; Spanien fand damit zu seinem europäischen Schicksal zurück, von dem es zuletzt durch den Franquismus fast ein halbes Jahrhundert lang entferntgehalten worden war. Daß Spanien heute zweifellos ein demokratisches und europäisches Land ist, bedeutet in historischer Perspektive, daß das lange Zeit ungelöste politische Problem dieses Landes sowie die Frage seiner Identität als europäische Nation als geklärt betrachtet werden können (Miguel/Escuin 1997). Die europäische Modernität Spaniens läßt sich an vielen Indikatoren aufzeigen: Mitte der 90er Jahre wies das Bruttoinlandsprodukt Spanien als die Nummer 8 in der Weltskala der Staaten aus; im Hinblick auf den Human Development Index (Lebenserwartung, Alphabetisierungs- und Einschulungsquote, Pro-Kopf-Einkommen) war es das neunte Land der Welt; die Lebenserwartung bei Geburt liegt für Männer bei etwas über 73 und für Frauen bei etwas über 81 Jahren. Der Urbanisierungsgrad beträgt 76%. Die Hälfte der Erwerbsbevölkerung ist im Dienstleistungssektor tätig, während die Beschäftigten im Agrarbereich nur noch 8,3% der Erwerbsbevölkerung, ungefähr eine Million Menschen, betragen. Die Landwirtschaft trägt nur noch 3,4% zum Bruttoinlandsprodukt bei. Spanien verfügt über rund 60 Universitäten mit 1,5 Millionen Studierenden; seit Mitte der 80er Jahre studieren mehr Frauen als Männer; Frauen stellen ungefähr 50% der Erwerbsbevölkerung. Im Jahr 1976, zu Beginn der Demokratisierungsphase, fuhren rund fünf Millionen Autos in Spanien, 1994 waren es 13,5 Millionen. In dem traditionellerweise katholischen Land sank die Zahl der kirchlichen Hochzeiten zwischen 1976 und 1985 um rund 100.000, während die der standesamtlichen Trauungen im gleichen Zeitraum um rund 48.000 zunahm. 1978 wurde der Verkauf von Empfängnisverhütungsmitteln legalisiert, 1981 die Ehescheidung, 1985 die Abtreibung. Von den knapp 40 Millionen Einwohnern unternahmen im Jahr 1995 über 21 Millionen eine Auslandsreise. Kein Zweifel: Spanien hat eine Gesellschaft mit klarer Dominanz der städtischen Mittelschichten und einem relativ hohen Lebensstandard. Die Probleme, denen sich Spanien ausgesetzt sieht, sind Probleme entwickelter Gesellschaften: die Finanzierung der Sozialsysteme, der städtische Verkehr, die Unsicherheit auf den Straßen, neue Formen der sozialen Marginalisierung, jugendliche Gegenkulturen, Drogenproblematik, Umweltgefährdung. Typisch moderne Krankheiten wie Herz-KreislaufPathologien und Krebs sind die häufigsten Todesursachen. Die überkommenen Stereotypen treffen somit schon längst nicht mehr auf Spanien zu. Seit Mitte der 80er Jahre wuchs die spanische Wirtschaft weit überdurchschnittlich schnell. Die Maastrichtkriterien wurden erfüllt, im Mai 1998 trat das Land der Europäischen Währungsunion bei. Seit gut zwei Jahrzehnten läßt sich Spanien als eine stabile Demokratie bezeichnen, die Monarchie als Staatsform wird von der überwiegenden Mehrheit der Bürger akzeptiert. In Übereinstimmung mit der Verfassung von 1978 ist Spanien kein zentralistischer Staat mehr, sondern ein Staat der Autonomen Gemeinschaften, deren Kompetenzen und Handlungsrahmen ständig erweitert wurden und Spanien faktisch als einen Bundesstaat erscheinen lassen. Die territoriale Neuordnung gehört zu den bedeutendsten politischen Reformen, die es je in Spanien gegeben hat, weil sie das Problem des Regionalismus und des ethnischen Nationalismus einer Lösung erheblich näherbrachte und damit zur Stabilisierung der politischen und institutionellen Ordnung beitrug.
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Trotz einiger kritischer Erscheinungen ist das Fazit für Ende des 20. Jahrhunderts eindeutig: Sämtliche Umfragen lassen erkennen, daß die meisten Spanier optimistisch und zukunftsorientiert sind. Ein Vergleich mit dem Ende des vorhergehenden Jahrhunderts ist aufschlußreich: Erlebte die spanische Öffentlichkeit das Jahr 1898 in einem Klima tiefer Krise und Depression, so war es 100 Jahre später gerade umgekehrt. Soziologen sprechen von einem Ende des Jahrhunderts des Pessimismus. Sahen die Intellektuellen von 1898 die Ges chichte Spaniens als eine Aufeinanderfolge von irregeleiteten Sonderwegen, Dekadenz und Niedergang an, so ist heute - bei aller realistischen Einschätzung der bestehenden Probleme die Rede von Optimismus, wirtschaftlicher Dynamik, demokratischer Stabilität und europäischer Zugehörigkeit. Aus dieser Perspektive ist Spanien längst in Europa angekommen. n Europäisch-atlantische Turbulenzen während der Regierungszeit der Konservativen
Seit dem Übergang Spaniens in die Demokratie stand für die Mehrzahl der Politiker und Bürger fest, daß die Zukunft des Landes in Europa lag. Verstärkt worden war diese Überzeugung während der langen Regierungszeit von Ministerpräsident Felipe Gonzälez, dessen Politik von Anfang an auf Integration Spaniens in die europäischen Strukturen ausgerichtet war. In engem Zusammenwirken mit dem deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl und dem französischen Präsidenten Franwis Mitterrand bewerkstelligte die sozialistische Regierung den Eintritt Spaniens in die EG. Die Ära Gonzälez (1982-1996) repräsentiert gewissermaßen das spanische Modell der Konstruktion Europas: enge Anlehnung an Deutschland und Frankreich, Erweiterung der EG-Politik auf den Mittelmeerraum, Einbeziehung Lateinamerikas in die außenpolitische Dimension Europas, Friedensinitiativen in Nahost. Da Spanien zugleich von den Regional- und Kohäsionsfonds der EG enorm profitierte, kann von einer harmonischen Phase der Beziehungen zwischen dem iberischen Land und Europa gesprochen werden. Als Josä Maria Aznar von der konservativen Volkspartei (Partido Popular, PP) 1996 die Regierung übernahm, bezeichnete er die Konvergenz mit Europa als einen zentralen Bereich seiner Außenpolitik, in dem er vor allem auf Kontinuität setzte. Diese Kontinuität ä ußerte sich primär in der Beibehaltung der europapolitischen Ziele von der sozialistischen zur konservativen Regierung. Die beiden wichtigsten Ziele lauteten: Zugehörigkeit Spaniens zu den Kernländern der für 1999 vorgesehenen Währungsunion; und Wahrung der spanis chen Position als Kohäsionsland auch nach der geplanten EU-Osterweiterung. Zugleich setzte der PP aber auch neue außenpolitische Akzente: Es ging darum, die transatlantischen Beziehungen der Europäischen Union zu intensivieren und die Rolle Spaniens in der NATO neu zu definieren. Der eingeschlagene Weg einer Allianz mit den USA ging zu Lasten anderer traditioneller elder spanischer Außenpolitik, die vor allem in Europa, dem Mittelmeerraum und Lateina merika liegen. Im europäischen Kontext nahm die Regierung Aznar bewußt die Funktion eines Protagonisten des "Neuen Europa" wahr. Statt zur Achse Frankreich-Deutschland suchte sie die Nähe zu Großbritannien und den EU-Beitrittsländern, vor allem zu Polen, um ihrem neuen Rollenverständnis Geltung zu verschaffen. Am deutlichsten wurde die spanische Hinwendung zu den USA in der Irakpolitik. 1997 bereits unterstützte Spanien bedenkenlos die Haltung Washingtons, Madrid stimmte zusam-
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men mit der angelsächsischen Allianz einer militärischen Intervention zu und stellte dem US-Heer seinen Luftraum zur Verfügung. Die Regierung Aznar entwickelte in den Folgejahren ein Profil absoluter Solidarität mit der Regierung der USA; diese Haltung wird gemeinhin als Atlantismus bezeichnet. Im Jahr 2000 gewann die konservative Volkspartei die Parlamentswahlen mit absoluter Mehrheit. Danach war die Politik Aznars von der Absicht geprägt, Spanien zu einer der stärksten Mächte Europas zu machen, in den Kreis der G-7-Staaten aufgenommen zu werden, als nicht-ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat vertreten zu sein. Ein strategischer außenpolitischer Plan sah vor, daß Spanien eine führende Rolle in der EU zu übernehmen habe, daß das wirtschaftliche und kulturelle Gewicht Spaniens im lateinamerikanischen Bereich zu stärken sei, daß das Land sich allen Regionen der Welt zu öffnen habe und daß in der globalisierten Welt von heute eine solidarische Haltung besonders wichtig sei, daher vor allem Anstrengungen im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit unternommen werden müßten. Mit diesem Plan überschritt Spanien deutlich die traditionellen Grenzen früherer Politik. n Der Bruch des außenpolitischen Konsenses: der Irak-Krieg Der Irak-Krieg spaltete im Frühjahr 2003 die öffentliche Meinung Europas, die darniederliegende Friedensbewegung erlebte eine unerwartete Renaissance, das Thema polarisierte den Alten Kontinent. In manchen Ländern — wie in Großbritannien — entfremdete der kriegerische Einsatz die Regierung von ihrer Wählerbasis, in anderen — etwa in Deutschland — trug die Gegnerschaft zum Krieg zum Wahlerfolg der Kriegskritiker bei. Spanien stellte im europäischen Kontext gewissermaßen einen Sonderfall dar. Kein anderes europäisches Land unterstützte, sieht man vom kriegführenden Großbritannien ab, den Kurs der US-Regierung so vorbehaltlos und entschieden wie Spanien, genauer: die spanische Regierung; in keinem europäischen Land aber war die öffentliche Meinung derart entschieden gegen den Krieg wie in Spanien. Umfrageergebnisse erbrachten rund 90% Ablehnung, und selbst nach Abschluß der Kampfhandlungen vertraten noch 78% die Meinung, der Angriff auf den Irak sei nicht gerechtfertigt gewesen. Obwohl der (militärische) Beitrag Spaniens zum Krieg ohnehin zu vernachlässigen war, hätte man aufgrund der gewaltigen, sich über Wochen hinziehenden Massenproteste in nahezu allen wichtigen Städten Spaniens vermuten können, es gehe um eine Existenzfrage von Staat und Nation. Nicht einmal in Großbritannien waren die Proteste so massiv. Aznar setzte voll auf die USA, überzeugt davon, daß der einzige verbleibende Hegemon der Weltpolitik die Orientierungsmarke spanischer Außenpolitik sein müsse. Der Atlantismus wurde der Absprache mit den EU-Partnern vorgezogen, da nach Überzeugung des spanischen Ministerpräsidenten Spaniens außenpolitische Zukunft in einer engen Allianz mit den USA lag. Daß die kriegerische Option an der Seite der USA zu ernsthaften Verstimmungen mit seinen EU-Partnern Frankreich und Deutschland führen würde, hielt Aznar anfangs wohl für äußerst unwahrscheinlich. Er ging nämlich davon aus, daß die ablehnende Haltung Frankreichs und Deutschlands vorübergehend sei und beide Länder schließlich den US-Kurs unterstützen würden. Möglicherweise hat Aznar den Dissens mit Frankreich und Deutschland auch bewußt weitergetrieben, nachdem mit Sicherheit davon ausgegangen werden kann, daß der außen-
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politische deutsch-französische Schulterschluß — Paris und Berlin verkündeten ihre Übereinstimmung in der Irakfrage anläßlich der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag des Elysee-Vertrages — ohne Absprache mit anderen europäischen Partnern erfolgt war; nicht von Anfang an zur Teilnahme an der "Achse Berlin-Paris" eingeladen worden zu sein, dürfte bei Aznar Erinnerungen an jene Zeiten wachgerufen haben, als Spanien außenpolitisch nicht ernstgenommen wurde. Hier mußte selbstbewußt ein deutlicher Kontrapunkt gesetzt werden. Verschätzt hat sich Aznar auch im Hinblick auf die Reaktion der spanischen Gesellschaft. Millionenfach wurde die Ablehnung des Regierungskurses in nicht endenden Massendemonstrationen zum Ausdruck gebracht. Nachdem der konservative Partido Popular bei den Wahlen des Jahres 2000 die absolute Mehrheit errungen hatte, wurde nun sehr schnell deutlich, daß die Antikriegs- und Antiregierungsdemonstrationen nicht nur von Anhängern der Opposition durchgeführt, sondern zu einem Großteil auch von Wählern des PP sekundiert wurden. Das Ansehen Aznars sank auf einen Tiefpunkt, nachdem die Sympathiewerte in den vorhergehenden Monaten wegen des ungeschickten Krisenmanagements nach dem Unglück des Öltankers Prestige, der die größte Umweltkatastrophe in der Geschichte des Landes hervorgerufen hatte, ohnehin bereits deutliche Blessuren erlitten hatte. Allenthalben bekam Aznar heftigen Gegenwind zu spüren. n Das "Bettelsyndrom" Was die originäre Zugehörigkeit Spaniens zur Euro-Zone betrifft, so entwickelten sowohl die sozialistische als auch die konservative Regierung aufgrund der historisch begründeten Angst Spaniens vor einer zu großen Distanz zu Europa eine Zukunftsvision, bei der der Beitritt zur Währungsunion für Spanien mit Wohlergehen, Beschäftigung und Zukunftschancen gleichgesetzt wurde. Aznar präsentierte die Teilnahme Spaniens an der Wirtschafts- und Währungsunion als eine historische Wende für sein Land. Während der ersten Legislaturperiode der konservativen Regierung (1996-2000) wurde Spaniens Verhältnis zu Europa von Kritikern als eine Politik der reinen "Gewinnoptimierung", des Nettoempfangs und der Nutznießung interpretiert; das Wort vom "Bettelsyndrom" machte die Runde. Aus den 1992 eingerichteten Kohäsionsfonds erhielt Spanien zwischen 1994 und 1999 nicht weniger als 55 % sämtlicher Mittel. Jeder EU-Versuch, den spanischen Anteil zu reduzieren, wurde von seiten Madrids mit der Drohung beantwortet, die Reform der EU zu blockieren. Auf dem Berliner EU-Gipfel von 1999 konnte Aznar in einem persönlichen nächtlichen Duell mit Bundeskanzler Schröder schließlich sogar durchsetzen, daß Spanien fortan 62 % des Kohäsionsfonds zurückerhielt. Aznar verfolgte ein klares Ziel: Spanien solle im Rahmen einer erweiterten EU weiterhin den Status eines Großen genießen. Spanien sollte bei der Einführung des Rotationsprinzips ständig in der EU-Kommission vertreten sein, im Rat wiederum sollte es unter den Großen Fünf sein, von denen bereits drei mit ihren Stimmen eine Sperrminorität bilden können. Von zukunftsträchtiger Bedeutung wurde auf der Regierungskonferenz von Nizza die Stimmenverteilung innerhalb des Ministerrates. Spanien erhielt damals 27 Stimmen zugesprochen, womit das Land sehr zufrieden sein konnte. Aznar selber argumentierte, daß Spanien bei der Schlacht von Nizza am besten davongekommen sei (Areilza Carvajal 2001; Elorza 2001). Zu den grundlegenden europapolitischen Zielen der Regierung Aznar gehörte somit die Anerkennung Spaniens als "großes" Mitgliedsland der EU und die Forderung, Empfänger
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von Regionalfonds zu bleiben. Letzteres Ziel wurde zu einem Konfliktthema in Zusammenhang mit der geplanten Osterweiterung der EU. Denn obwohl die spanischen Regierungen ebenso wie die Mehrheit der Spanier die Erweiterung befürworteten, hielt Madrid an zwei substantiellen Vorstellungen fest: an der vollständigen Übernahme des gemeinschaftlichen Besitzstandes und an der Verpflichtung, sich innerhalb der finanziellen Perspektiven zu bewegen, die 1999 beim Europäischen Rat von Berlin beschlossen worden waren. Das Festhalten am Status quo wurde von spanischer Seite vor allem wegen des Kohäsionsprinzips und seiner Konsequenzen befürwortet – immerhin machen die europäischen Subventionen über 1% des spanischen Bruttosozialproduktes aus. Gegenwärtig sind noch elf der 17 Autonomen Gemeinschaften Spaniens Ziel- 1 -Fördergebiete, nachdem ihr durchschnittliches Pro-Kopf-Einkommen (noch) bei unter 75% des Pro-Kopf-BIP der EU liegt. An die 28% der europäischen Ziel- 1 -Fördermittel fließen (noch) nach Spanien, außerdem erhält das Land etwa 62 % der EU-Mittel aus den Kohäsionsfonds. Seit langem ist Spanien der größte Nettoempfänger europäischer Gelder aus den Strukturund Kohäsionsfonds. Schon im April 2001 legte die spanische Regierung ein Memorandum vor, in dem die Union in Betracht ziehen sollte, daß die Osterweiterung einen "statistischen Effekt" hervorrufen würde, durch den einige spanische Regionen über 75 % des EU-Bruttosozialprodukts erreichen und so den Anspruch auf Hilfe verlieren würden. Da die Einnahmen in diesen Regionen nicht wirklich, sondern nur durch einen einfachen "statistischen Effekt" steigen würden, forderte das spanische Memorandum, diese Regionen weiterhin zu unterstützen. Hiermit eröffnete Spanien das Thema der Haushalts-Budgetierung in Zusammenhang mit der Osterweiterung zu einem Zeitpunkt, zu dem noch keine Verhandlungen diesbezüglich anstanden. Deutschland und andere Länder, etwa Frankreich, waren radikal dagegen, Spanien Garantien einzuräumen, die diesen Effekt relativieren bzw. aufheben würden. Allerdings beschloß Brüssel, um diesen statistischen Nachteil auszugleichen, das neue Zielprogramm "Konvergenz und Konkurrenzfähigkeit", demzufolge die betroffenen Regionen in einer Übergangszeit weiterhin 66 % der Beihilfen erhalten, die sie bekommen hätten, wenn sie noch Ziel-1-Regionen wären (Gillespie/Younges 2001). Der Berliner Gipfel von 1999 hatte den Spaniern mehr als 56 Milliarden € aus den Regional- und Kohäsionsfonds der EU für die Jahre 2000-2006 gebracht; fast 40% der gesamten EU-Strukturförderung fließen seitdem in spanische Bauprojekte. Damit ist das Land zum mit Abstand größten Nettoempfänger der EU geworden. Im Finanzzeitraum 2007-2013 dürfte Spanien mindestens 30% dieser Fonds verlieren. Durch die drohende Streichung des Kohäsionsfonds würde Spanien ersatzlos auf rund zwölf Milliarden € verzichten müssen. Seit seinem Beitritt zur EG (1986) bis 2005 hat Spanien über 93 Milliarden € aus den Fördertöpfen der EU erhalten. Deshalb strebt das Land langjährige Übergangsfristen an, bevor die Förderung endgültig ausläuft. 2003 betrug der Nettosaldo der europäischen Gelder 8,7 Milliarden € zugunsten Spaniens; das waren 1,21 % des spanischen BIP. 2005 erhielt Spanien immer noch 7,8 Milliarden €, 24% sämtlicher unter den 25 EU-Staaten verteilter Mittel. Einige weitere Zahlen lassen die enorme Bedeutung Europas für Spanien erkennen: Seit 1987 bis heute sind Jahr für Jahr im Durchschnitt 0,8% des spanischen BIP auf Nettozahlungen der EU zurückzuführen. 90 % aller ausländischen Investitionen in Spanien kommen aus EU-Ländern. Jährlich wer-
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den knapp 300.000 Arbeitsplätze in Spanien dank EU-Mitteln geschaffen; vier von zehn spanischen Autobahn- und Schnellstraßenkilometern sind mit EU-Mitteln gebaut worden; 87% der (jährlich über 52 Millionen) Spanien-Touristen kommen aus EU-Ländern; 74% der spanischen Exporte gehen in EU-Länder, 66 % der spanischen Importe kommen aus EULändern; 24% der spanischen Einnahmen aus der Landwirtschaft sind auf direkte EU-Hilfen zurückzuführen; seit dem EG-Beitritt Spaniens (1986) sind bis 2004 die Überweisungen von EU-Agrarsubventionen an Spanien um das 30 fache gestiegen; zwischen 2000 und 2003 haben 16 Millionen Spanier direkt von den EU-Sozialfonds profitiert; 46% der in den Fischfang fließenden EU-Fördermittel gingen (im Zeitraum 2000-2006) nach Spanien. Ohne EU-Mittel gäbe es heute keinen Hochgeschwindigkeitszug (AVE) in Spanien. 38 % aller seit 1986 in den Eisenbahnbau geflossenen Mittel stammen aus EU-Töpfen. Im Frühjahr 2005 ließ sich die Luxemburger EU-Ratsführung auf den spanischen Vorschlag ein, Übergangslösungen für den Kohäsionsfonds für die Zeit nach 2006 vorzusehen. Zumindest zeichnet sich ab, daß in den Jahren 2007 und 2008 Spanien weiterhin (wenn auch weniger) Mittel aus diesen Fonds erhält (zuvor waren 60 % dieser Fondsmittel nach Spanien geflossen). Allerdings wird in den nächsten Jahren der spanische EU-Beitrag in jedem Fall drastisch steigen: von (2005) 9,8 Milliarden € auf (2013) 15,8 Milliarden €. Rechnet man die spanischen Mindereinnahmen aus der EU-Kasse und die spanischen Mehrausgaben in die EU-Kasse zusammen, dann ergibt sich eine Differenz von rund sechs Milliarden €, die Spanien ab 2007 pro Jahr einbüßen wird. Der Nettosaldo der Finanzflüsse zwischen Spanien und der EU zwischen 2000 und 2006 betrug 48 Milliarden € zugunsten Spaniens; für den Zeitraum 2007 bis 2013 ist ein Nettosaldo von nurmehr fünf Milliarden € vorgesehen. Ab 2013 würde Spanien zu einem Nettozahler. Die Negativauswirkungen auf das Wirtschaftswachstum dürften gewaltig sein. Die folgende Tabelle läßt den für jedes Jahr einzeln ausgewiesenen Nettosaldo Spaniens mit der EU erkennen (s. Tab. 6, S. 208). Folgt man den EU-Finanzplanungen für die Periode 2007-2013, dann soll Spanien 30% der bisher erhaltenen Kohäsionsfonds verlieren. Die EU-Erweiterung von 2004 kostet Madrid somit knapp 40 Milliarden €, rund 0,6 % des spanischen BIP. Die Entwicklung der EU-Mittel für Spanien zwischen 1.0000 e, „,, 2000 und 2013 sieht folgender. ,. oo maßen aus (ab 2007 handelt es sich , r 8.000vorerst nur um den vorgeschlagenen Finanzentwurf der EU-Kommission): 6.000 -
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12 13
Graphik 3: Finanzsaldo der EU-Mittel für Spanien (in Mio. €) 2000-2013 (ab 2006: Prognose)
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IX Spanien und Europa - ein ambivalentes Verhältnis
Spanien und die EG/EU
Tab. 6: Finanzsaldo Spaniens mit der EU 1986-2005 (in Mio. €) Jahr
Einzahlungen Spaniens
Zuwendungen der EU
Saldo
1986
666,52
616,04
-50,49
1987
825,19
1.043,36
218,17
1988
1.340,26
2.298,27
958,01
1989
1.726,71
2.813,94
1.087,23
1990
2.251,99
2.970,80
718,81
1991
3.280,32
5.618,26
2.337,94
1992
3.893,36
5.861,67
1.968,31
1993
4.451,10
6.787,83
2.336,74
1994
4.828,53
6.913,44
2.084,91
1995
3.702,23
10.535,74
6.833,51
1996
4.441,48
9.928,72
5.487,24
1997
5.409,11
10.403,52
4.994,41
1998
5.234,82
11.136,75
5.901,94
1999
5.028,67
10.489,46
5.460,80
2000
6.650,06
10.961,19
4.311,13
2001
6.776,93
12.287,20
5.510,27
2002
8.193,28
15.320,16
7.126,88
2003
8.496,65
16.858,81
8.362,16
2004
9.275,14
16.179,46
6.904,32
2005
10.130,21
15.759,58
5.629,37
Insgesamt
96.602,56
174.784,20
78.181,64
n Die Wahlen vom 13. März 2004: die außenpolitische Wende Unter dem Eindruck der Terroranschläge vom 11. März 2004 haben die drei Tage später stattfindenden Parlamentswahlen in Spanien einen Regierungswechsel erbracht. In der Außenpolitik waren deutliche Gewichtsverschiebungen zu erwarten, nachdem der sozialistische Kandidat Josä Luis Rodriguez Zapatero wiederholt angekündigt hatte, aus der Koalition der "US-Willigen" in das Lager der "UN-Willigen" überzuwechseln. Mit dem bereits im Wahlprogramm angekündigten und kurz nach der Regierungsübernahme durchgeführten Rückzug der 1.300 spanischen Soldaten aus dem Irak setzte ein Zerfall der Kriegskoalition ein, der begleitet wurde von einer erneuten Hinwendung Spaniens nach Europa. Das bedeutete eine Abkehr von der Strategie der Vorgängerregierung, die Europa von der Peripherie her gedacht und aus dieser Perspektive auch europapolitische Allianzen zu bilden versucht hatte, ergänzt um transatlantische Koalitionen.
209
Die neue sozialistische Regierung sah es als ihre Aufgabe an, das Land international aus der von ihr als Isolierung empfundenen "Ehrgeiz-Falle" der Regierung Aznar herauszuführen. Dabei bekennt sich die Partei des sozialistischen Regierungschefs zu Europa und zu einer an Multilateralismus orientierten Außenpolitik. Die Reform des UN-Sicherheitsrates sowie eine gemeinsame Vertretung der EU bei den Vereinten Nationen sind konkrete Initiativen, die die neue Regierung vorantreibt. Für die künftige Außenpolitik sollten folgende Grundprinzipien gelten: eine eindeutige Priorität für die Vertiefung und Erweiterung der EU; die Unterstützung der internationalen Legalität, wie sie die UN repräsentieren; das handlungsleitende Bewußtsein der Zugehörigkeit zur Iberoamerikanischen Gemeinschaft; eine umfassende, nicht nur außenpolitisch motivierte Initiative zur Förderung von Dialog und Kooperation mit allen Ländern der Mittelmeerregion und zur Herbeiführung einer gerechten und dauerhaften Lösung des arabisch-israelischen Konflikts; die Anerkennung der Bedeutung des transatlantischen Dialogs auf der Grundlage einer gleichgewichtigen Beziehung zu den USA bei gleichzeitiger politischer Autonomie gegenüber den Vereinigten Staaten auch auf bilateraler Ebene; der Kampf gegen den Terrorismus und das organisierte Verbrechen, national wie international. Für die Umsetzung dieser Grundorientierungen wollte die Regierung Zapatero die vier zentralen Achsen spanischer Außenpolitik - EU, Iberoamerika, Mittelmeerraum und transatlantische Beziehungen - im Sinne eines Kurswechsels neu gestalten und einen Teil des insbesondere in den letzten vier Jahren der Regierung Aznar eingeleiteten Wandels der spanischen Außenpolitik zurücknehmen. n Spaniens Rückkehr nach Europa Die außenpolitische Kurskorrektur wurde allgemein als eine Rückkehr nach Europa interpretiert. Rodrfguez Zapatero sprach selbst davon, daß er Spanien "in das Herz Europas zurückgeführt" habe. Das Motto der Sozialistischen Partei für die Europawahlen vom 13. Juni 2004 lautete denn auch dementsprechend: "Wir kehren nach Europa zurück" ( Volvemos a Europa) - eine deutliche Kritik an der vorhergehenden konservativen Politik, die aus dieser Sicht Spanien von Europa entfernt hatte. Allerdings wurde die schon seit längerem bekannte Indifferenz der spanischen Bevölkerung gegenüber europäischen Themen auch bei der Wahl zum Europaparlament sichtbar: Gerade einmal 46% der Wahlberechtigten gingen zur Abstimmung. Es war die niedrigste Beteiligung, seit es Wahlen zum Europäischen Parlament gibt. Klare Sieger waren mit 43,37% die Sozialisten (rund acht Prozentpunkte mehr als bei den letzten Europawahlen), allerdings hart verfolgt von den Konservativen, die sowohl ihr Ergebnis der Europawahlen von 1999 (um 1,5 Prozentpunkte) als auch ihr Ergebnis der wenige Monate zuvor stattgefundenen spanischen Parlamentswahlen (um rund vier Prozentpunkte) verbessern konnten. In Straßburg wurde der spanische Sozialist Josä Borrell zum Präsidenten des Europaparlaments gewählt. Mit seiner neuen Außenpolitik befand sich Zapatero in voller Übereinstimmung mit der mehrheitlichen Meinung der spanischen Bevölkerung: 76 % der Spanier waren Mitte 2004 gegen die Führungsposition der USA in der Welt, 86% gegen die auswärtige Politik von George W Bush eingestellt. Traditionellerweise waren die außenpolitischen Alternativen Atiantismus und Europäismus keine sich ausschließenden Optionen für Spanien gewesen. Der überzeugte Europapolitiker Felipe Gonzälez etwa hatte 1995, während der spanischen EU-Präsidentschaft,
210
IX Spanien und Europa – ein ambivalentes Verhältnis
zusammen mit Bill Clinton und Jacques Santer in Madrid die neue Transatlantische Agenda sowie den Entwurf einer neuen euro-amerikanischen Deklaration unterzeichnet. Repräsentative Umfragen haben im Frühjahr 2004 ergeben, daß die Spanier sich nach wie vor ungern zwischen Europäismus und Atlantismus entscheiden wollten. 80 % der Befragten sprachen sich dafür aus, daß Europa die erste außenpolitische Priorität zukomme, einem Europa allerdings, das keine Supermacht darstelle; und jeder dritte Bürger war der Meinung, daß Europa und die USA gleichermaßen wichtig seien. Die Massendemonstrationen gegen die spanische Beteiligung am Irakkrieg lassen somit die Interpretation zu, daß diese Politik Aznars einen in der spanischen Außenpolitik lange Zeit vorherrschenden Konsens der Ausgewogenheit zwischen Europa und den USA preisgegeben und sich einseitig dem Atlantismus verschrieben hat. Der Scheidung von Bush und dem schnellen, ja: überstürzten Truppenabzug aus dem Irak folgte das Ja zum europäischen Verfassungsentwurf. Am 20. Februar 2005 hielt Spanien als erstes Land der EU ein Referendum zum Verfassungsvertrag ab. Die Wahlbeteiligung war mit 42,3% zwar gering, das Ergebnis jedoch eindeutig: 76,7% stimmten für, 17,2% gegen den Verfassungsvertrag, rund 6% gaben leere Wahlzettel ab. Mit dem "Haager Programm" einigten sich die Innen- und Justizminister der Europäischen Union 2005 sodann auf eine langfristige Politikagenda, deren Schwerpunkte der Kampf gegen den Terrorismus, die Einwanderungspolitik und die Integration von Einwanderern in die Gesellschaft der Union ist. Da ca. 20 % aller "illegalen" Flüchtlinge die EU über Spanien erreichen, ist eine gemeinsame europäische Immigrationspolitik für die spanische Europapolitik prioritär (vgl. hierzu ausführlicher Kap. XV, 3: Migrationen: Spanien vom Auswanderungs- zum Einwanderungsland). n Ausblick Seit nunmehr 20 Jahren ist Spanien solide in den europäischen Strukturen verankert, und in vielerlei Hinsicht läßt sich sogar sagen, daß Spanier so etwas wie "Vorzeige-Europäer" geworden sind. Daran hat auch der atiantistische Kurs der Regierung Aznar nichts (oder nur vorübergehend etwas) ändern können. Schon lange vor den Wahlen vom März 2004 kündigte Aznar an, daß er nicht wieder für das Amt des Ministerpräsidenten kandidieren werde. An seine Stelle trat sein bisheriger Stellvertreter, der ihm völlig loyale galicische Jurist Mariano Rajoy, der im wesentlichen die Fortführung der bisherigen PP-Politik in Aussicht stellte. Im Wahlkampf wiederholten die Konservativen stets dieselben Parolen: staatliche Einheit, Kampf gegen den Terrorismus, Wirtschaftswachstum, Protagonismus Spaniens in Europa und in der Welt. Wahlforscher stellten zwar vor der Wahl eine allmähliche Hinwendung der Wähler zur Sozialistischen Partei fest; trotzdem gingen bis kurz vor den Wahlen von 2004 nahezu alle Beobachter von einem sicheren Wahlsieg der Konservativen aus. Die Frage war nur, ob der PP mit absoluter oder nur mit relativer Mehrheit siegen würde. Die Sozialisten kündigten unter ihrem Spitzenkandidaten Josd Luis Rodrfguez Zapatero eine radikale Kehrtwendung in der Außenpolitik und zahlreiche Reformen in der Innenpolitik an. Besondere Betonung legten sie auf ein "plurales Spanien"; das hieß, daß sie sich zu einer Reform der Autonomiestatuten (im Rahmen der Verfassung) bereiterklärten, daß darüberhinaus die Autonomen Gemeinschaften stärkere Berücksichtigung in der Euro-
Literatur
211
päischen Union finden sollten. Rodrfguez Zapatero stellte einen "ruhigen Wechsel" in Aussicht. Nach ihrem überraschenden Wahlsieg nahmen die Sozialisten in mehreren Politikfeldern eine Kursänderung vor. Dies gilt vor allem für die Europapolitik. Rodriguez Zapatero wandte sich entschieden den traditionellen Verbündeten Spaniens in Europa, Deutschland und Frankreich, zu, beendete die Blockadehaltung gegenüber der europäischen Verfassung und signalisierte auch bei anderen Streitfragen Entgegenkommen. Die Frage ist, wie lange dieser europafreundliche Kurs beibehalten wird, nachdem inzwischen klar steht, daß die üppigen Finanzzuwendungen aus der Brüsseler Kasse sehr bald deutlich abnehmen und schließlich ganz versiegen werden. Spätestens dann steht eine erneute Debatte über das Verhältnis Spaniens zu Europa ins Haus.
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IX Spanien und Europa – ein ambivalentes Verhältnis
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X Das Spanische Kolonialreich in Amerika und Afrika
1.
Der Kolonialismus in Amerika
a) Das spanisches Kolonialreich in Amerika: Chronologie 1479 Im Vertrag von Alcäcovas zwischen Kastilien und Portugal wird der Konflikt um die Erbfolge in Kastilien beigelegt, die beiderseitigen Interessen im Atlantik werden abgegrenzt; Portugal verzichtet zugunsten Kastiliens endgültig auf die Kanarischen Inseln, im Gegenzug erlangt es die Anerkennung einer auf der Höhe von Kap Bojador angenommenen in Ost-WestRichtung verlaufenden Grenzlinie, südlich derer den Portugiesen ein Schiffahrts-, Handels- und Entdeckungsmonopol zugesprochen wird; der Papst sanktioniert den Vertrag. 1492 Abschluß der Capitulaciones de Santa Fe zwischen den Katholischen Königen und Kolumbus zur Entdeckung des westlichen Seewegs nach Asien und zur Monopolisierung des daraus erhofften Handels; am 12. Oktober betritt Kolumbus zum ersten Mal eine zum amerikanischen Kontinent gehörige Insel. 1494 Am 4. Juni werden im Vertrag von Tordesillas die Interessensphären Spaniens und Portugals in Übersee entlang einer Nord-SüdLinie 370 Seemeilen westlich der Azoren aufgeteilt, der östliche Teil (Brasilien) gehört zur portugiesischen, der westliche Teil Amerikas zur spanischen Einflußsphäre. 1498 Vasco da Gama erreicht im Auftrag der portugiesischen Krone auf dem Seeweg um Afrika Indien. 1499/1500 Der Portugiese Pedro Alvares Cabral und der Spanier Vicente Yäriez Pinzön landen zeitgleich (aber unabhängig voneinander) als erste Europäer in Brasilien. 1503 Gründung der Casa de la Contrataciön in Sevilla und Monopolisierung des Verkehrs nach Amerika durch diese Stadt.
1507 In der Weltkarte Martin Waldseemüllers wird erstmals der südliche Teil des neuen Kontinents nach dem Seefahrer Amerigo Vespucci benannt. 1508 Papst Julius II. verleiht der kastilischen Krone die Patronatsrechte über die zu errichtende Kirchenorganisation in Amerika. 1511 Diego Colön, Sohn des Kolumbus, initiiert die Eroberung Kubas; der Dominikanerpater Antonio de Montesinos prangert die Grausamkeit der Spanier bei der Eroberung Amerikas erstmals an; auf Santo Domingo werden die erste audiencia (Gerichtsbezirk) und der erste Bischofssitz in Amerika gegründet. 1512 Die Leyes de Burgos, die ersten königlichen Gesetze für Amerika, gewähren den Ureinwohnern unter kastilischer Herrschaft die persönliche Freiheit. 1513 Der Kronjurist Palacios Rubios verfaßt das Requerimiento, einen Text, der die indigenas ultimativ zur Unterwerfung und Annahme des christlichen Glaubens auffordert; als Gegenleistung werden ihnen persönliche Freiheit und ihr Besitz garantiert; Vasco Nüriez de Balboa überquert die mittelamerikanische Landenge und stößt in der Nähe Panamas auf den Pazifik. 1519 Hernän Cortös beginnt mit der Eroberung Mexikos; Karl V. vergibt die erste Lizenz zur Einfuhr schwarzafrikanischer Sklaven nach Amerika; Fernäo de Magalhäes beginnt die erste Weltumsegelung; Panama wird gegründet; auf Hispaniola kommt es zur ersten Pockenepidemie Lateinamerikas. 1523/4 Der Consejo Real y Supremo de las Indias wird als unabhängige Zentralbehörde für die amerikanischen Reiche eingerichtet.
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Der Kolonialismus in Amerika
X Das Spanische Kolonialreich in Amerika und Afrika
1528 Das Augsburger Kaufmannsgeschlecht der Welser erlangt das Monopol zur Kolonisation Venezuelas. 1537 Papst Paul III. erklärt, daß die Indianer vernunftbegabte Menschen und in der Lage seien, den christlichen Glauben anzunehmen; Asunciön wird gegründet. 1564 Die spanische Krone reagiert auf die überhandnehmende Tätigkeit der englischen Freibeuter durch die Einführung des Flottensystems, bei dem mehrmals jährlich große Flottenverbände unter Geleitschutz von Spanien bzw. Amerika aus aufbrechen, um ihre Waren dadurch sicher ans Ziel zu bringen. 1573 Philipp II. erläßt mit den Ordenanzas de descubrimiento, nueva poblaciön y pacificaciön de las Indias einen umfangreichen Gesetzestext, der detailliert die Bedingungen für weitere Vorstöße und Kolonisationsmaßnahmen in Amerika festlegt; mit der Manila-Galeone (Nao de China) wird eine regelmäßige Schiffsverbindung zwischen den Philippinen und Neu-Spanien geschaffen, die den kompletten Handel sowie die Kommunikation zwischen den Philippinen und dem Mutterland übernehmen soll. 1598 Im Todesjahr Philipps II. erscheint die von de Bry illustrierte Fassung von Las Casas'
Brevisisma relaciön de la destrucciön de las Indias, die die Grausamkeit der Spanier in Kupferstichen belegt und maßgeblich zur Verbreitung der leyenda negra beiträgt. 1680 Die Portugiesen gründen auf dem zu Spanien gehörenden Gebiet des heutigen Uruguay (Vertrag von Tordesillas) die Colonia do Sacramento, was zu wiederholten Konflikten zwischen den beiden Kolonialmächten führt. 1697 Im Frieden von Ryswick tritt Spanien den westlichen Teil der Insel Hispaniola (Haiti) an Frankreich ab. 1702-1712 Durch die Vergabe des Sklavenhandelsmonopols (Asiento de Negros) an die französische Guinea-Kompanie werden erstmals nichtspanische Unternehmen am offiziellen Amerikahandel der Spanier beteiligt. 1743-1754 Der Marqus de la Ensenada, ein engagierter Reformpolitiker und Minister Philipps V., forciert die Flottenbaupolitik und beendet die Steuerpacht in Amerika.
1750 Vertrag von Madrid zwischen Spanien und Portugal, in dem ein Abweichen vom Vertrag von Tordesillas und die Festlegung neuer Grenzen entsprechend der geographischen Gegebenheiten vereinbart wird; als Folge dieses Vertrages kommt es zu einem Aufstand in den Jesuitenmissionen am östlichen Ufer des Rio Uruguay, der erst 1756 niedergeschlagen werden kann. 1764-1787 Einführung des Intendantensystems in Hispanoamerika. 1765-1771 Generalvisitation in Neu-Spanien durch Josd de Gälvez als Grundlage des späteren Reformprogramms; Beginn der Liberalisierungsmaßnahmen im Amerikahandel. 1767 Die Jesuiten werden aus Hispanoamerika vertrieben. 1803 Haiti wird von Frankreich unabhängig.
1804 Karl IV. überträgt per Dekret die consolidackin de los vales reales (Desamortisation von Kirchengütern) auf Amerika. 1810 In Caracas, Cartagena, Bogotä und Quito werden Juntas eingesetzt. 13.3.1811 Die Cortes von Cädiz schaffen den 'Eingeborenentribut' ab. 1813 Die Unabhängigkeitsbewegung in Lateinamerika erhält durch Simön Bolivar einen neuen Anstoß. 1819 Nach seiner Ernennung zum Präsidenten von Groß-Kolumbien besiegt Simön Bolivar am 7. August die Royalisten bei Boyacä und marschiert in Bogotä ein; Spanien verkauft Florida an die USA. 24.2.1821 Im Plan von Iguala machen die Royalisten um Iturbide in Allianz mit den Unabhängigkeitskämpfern den Weg für die Unabhängigkeit Mexikos frei. 7.12.1824 Bei der Schlacht von Ayacucho, Peru, erleiden die royalistischen Truppen eine endgültige Niederlage in Hispanoamerika; der spanische Vizekönig kapituliert daraufhin. 1836-1894 Spanien erkennt Schritt für Schritt die Unabhängigkeit der hispanoamerikanischen Länder formell an. 1845 Spanien verfügt die Abschaffung des Sklavenhandels für Kuba, setzt den Erlaß aber nicht um.
1861 Santo Domingo kehrt kurzzeitig zur spanischen Monarchie zurück; Spanien interveniert zusammen mit Frankreich und Großbritannien in Mexiko, um die Beendigung des Schuldenmoratoriums der Regierung Juärez zu erzwingen. 1868-1878 Auf Kuba kommt es zum ersten Aufstand gegen die spanische Kolonialherrschaft. 1895 Beginn des zweiten kubanischen Unabhängigkeitskrieges.
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1896 Auf den Philippinen beginnt die Unabhängigkeitsbewegung einen Aufstand, der erst mehrere Jahre nach der Übernahme der Inseln durch die USA beendet wird. 1898 Der Aufstand der Kubaner weitet sich zum Spanisch-Amerikanischen Krieg aus; im Verlauf des Krieges besetzen die Vereinigten Staaten Kuba, Puerto Rico und die Philippinen; im Frieden von Paris verliert Spanien diese letzten großen Kolonien seines alten Kolonialreiches.
b) Grundstrukturen und Entwicklungen des spanischen Kolonialreiches in Amerika Der spanische Teil der Iberischen Halbinsel gehörte während des Mittelalters zum großen Teil zum islamischen Herrschaftsbereich. In seinem christlichen Norden zerfiel er in mehrere unabhängige Königreiche, die ab dem 13. Jahrhundert nach einer Ausweitung ihrer Herrschaftsbereiche strebten. Nach der dynastischen Einigung Spaniens durch die Heirat Isabellas von Kastilien mit Ferdinand von Aragonien (1469) wurden alle Kräfte auf die Rückeroberung (Reconquista) Granadas, der letzten islamischen Machtbastion auf der Iberischen Halbinsel, konzentriert. Dies gelang am 2. Januar 1492. Die Reconquista schuf wichtige Anknüpfungspunkte und Voraussetzungen für die unmittelbar nach ihrem Abschluß einsetzende Eroberung (Conquista) Amerikas – und zwar sowohl bezüglich der Vorgehensweise als auch hinsichtlich der Motive und Zielsetzungen. Diese Zusammenhänge zeigen sich anhand der zur Zeit der Reconquista entwickelten Tradition privater Beutezüge ins islamische Feindesgebiet, die nach einem stets gleich bleibenden Schema abliefen: Gegen einen relativ bescheidenen Anteil am Gewinn einer Expedition beauftragte die Krone eine Gruppe von Kriegern, einen Rückeroberungszug in feindliches Territorium durchzuführen. Das Streben nach Landbesitz und Beute sowie der staatliche Wunsch nach einer Ausweitung des Herrschaftsbereichs und das weltlich-religiöse Anliegen des Papsttums nach Wiederherstellung des orbis christianus, der Welt des christlichen Abendlandes, lieferten die Anstöße für Reconquista und Conquista gleichermaßen. n Die Träger der spanischen Expansion und ihre Zielsetzungen Drei Hauptfaktoren wirkten mit unterschiedlichem Gewicht und in wechselseitiger Beeinflussung auf die spanische Expansion und Kolonisation in Amerika ein: die Krone, die Konquistadoren und Kolonisten sowie die Kirche. Schiffahrt und Handel nach Lateinamerika wurden staatlich gefördert und über eine wirtschaftliche Monopolbehörde (Casa de Contrataciön) in Sevilla kontrolliert, um die Zolleinnahmen und Abgaben aus den überseeischen Unternehmungen für die Krone zu sichern (vgl. Pietschmann 1989, 19ff.). Schon bald zielte die Kolonialpolitik der Krone zusätzlich darauf ab, in Übersee eine kontinuierliche staatliche Herrschaft zu errichten und einen möglichst homogenen Untertanenverband aufzubauen. Deswegen verfolgte sie auch das Ziel, die autochthone Bevölkerung Amerikas kulturell in eine christlich-spanisch geprägte Weltordnung einzubinden (vgl. Schmitt 1991, 46).
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X Das Spanische Kolonialreich in Amerika und Afrika
Der Kolonialismus in Amerika
Der Historiker und Befreiungstheologe Enrique Dussel (10f.) hat ein Interaktionsschema entworfen, aus dem das Zusammenwirken der für die Conquista relevanten Kräfte deutlich wird. Er geht von fünf Akteuren aus: dem Staat (der Krone), dem Geldkapital, den Konquistadoren, den Missionaren und dem "Herrschaftsobjekt", also den Unterworfenen (Indios und später schwarze Sklaven). Letztere bildeten den gesellschaftlichen Block der Unterdrückten, die ersteren vier Kräfte stellten den Machtblock. Jeder dieser Akteure übte unterschiedliche Funktionen aus: Der Staat (1) kontrollierte als entscheidender Akteur mit seiner Herrschaft die gesamte Struktur der Conquista (c, d, e). Der Konquistador (2) rekrutierte sich häufig aus der sozialen Schicht des Adels, zumeist des verarmten Landadels (hidalgos), dessen Existenz wegen der Landwirtschafts- und Viehzuchtkrise in Spanien durch den Eroberungs- und Plünderungszug in Übersee materiell gesichert werden sollte. Die spanischen und immer häufiger auch die europäischen Kaufleute (3) — etwa die Fugger oder die Welser — streckten als Finanziers das erforderliche Kapital zur Finanzierung der Expeditionen vor. Die Schwäche des spanischen Bürgertums infolge der Mauren- und Judenvertreibung verlieh diesen Vertretern des Kapitals große Macht über die Krone und den Adel. Kirche und Missionare (4) spielten als Vertreter der spanischen Christenheit bei der Conquista eine wesentliche Rolle; die Amtskirche lieferte die religiöse Legitimation der Eroberung und führte die "geistliche Conquista" durch. Der Indio und später der Negersklave (5) bildeten als Herrschaftsobjekte die Basis der Machtpyramide, deren Ausbeutung das ganze System erst funktionieren ließ. Schema 4: Die fünf Akteure der Conquista (16. ih.) (3) Das (spanische und europäische) Geldkapital
b
a
(1) Der spanische Staat c d (2) Der Adel 4 (der Konquistador)
e
► (4) Die Kirche (der Missionar)
fl
(5) Der Indio (der Negersklave)
Mit dem Ende der Reconquista wurde eine große Zahl militärisch geschulter und geprägter Menschen freigesetzt, die aufgrund ihrer kriegerischen Vergangenheit alle Voraussetzungen für die koloniale Invasion Amerikas mitbrachten. Die Konquistadoren erhofften sich von
217
den überseeischen Unternehmungen in erster Linie einen materiellen und damit sozialen Aufstieg und ließen sich auch auf Dauer in den neu erworbenen Gebieten nieder, sofern damit der verbunden war (vgl. Pietschmann 1989, 21ff.). Die Kirche unterstützte die kolonialen Zielsetzungen der iberischen Könige, da sie aufgrund des Patronatskirchentums an die weltlichen Machtstrukturen gebunden war. Indem der Papst Portugal 1455 und Spanien 1486 bzw. 1508 das Patronatsrecht über neu eroberte Gebiete zusprach, erhielten die iberischen Herrscher den Auftrag und das Recht zur Christianisierung und kirchlichen Verwaltung dieser Gebiete. Insgesamt hielten sich im 15. und 16. Jahrhundert ökonomisch-machtpolitische und missionarisch-zivilisatorische Zielsetzungen in der Kolonialpolitik der spanischen Krone in etwa die Waage. Die den Konquistadoren rasch nachrückenden Missionsorden sahen in den machtpolitischen Aspirationen der Eroberer ein entscheidendes Hemmnis für die Verbreitung des katholischen Glaubens unter den Indianern. Unter der Führung von Bartolom de Las Casas bekämpften vor allem die allein an religiösen Belangen orientierten Bettelorden (Dominikaner, Franziskaner), die Konquistadoren sowohl vor Ort als auch an den Königshöfen der Mutterländer (vgl. Pietschmann 1989, 24). n Die Etappen der spanischen Kolonisation Lateinamerikas
Die "Entdeckung" und Inbesitznahme Lateinamerikas durch Spanien erfolgte in zwei Schüben: Während der ersten Etappe bis etwa 1508 brachten die Konquistadoren die (spanischen) Antillen unter ihre Kontrolle und erkundeten die zentral- und südamerikanischen Küsten. Nach der Schaffung von sicheren Operationsbasen vollzog sich in einer zweiten Etappe die eigentliche Eroberung und Durchdringung Zentral- und Südamerikas. Da sich der Orienthandel auf dem Landwege im Verlaufe des 15. Jahrhunderts weiter verteuerte, gelangte Kolumbus mit dem Vorschlag an die iberischen Königshäuser, eine Schiffspassage nach Indien (= Asien) zu suchen. Nachdem Portugal den Plan des Kolumbus als unrealistisch abgelehnt hatte, wurde er von spanischen Finanzkreisen aufgegriffen und an die um einen außenpolitischen Erfolg bemühten "Katholischen Könige" herangetragen. Als Kolumbus schließlich am 12. Oktober 1492 in der von ihm berechneten Entfernung von Europa auf der anderen Seite des Atlantiks Inseln vor einem Festland antraf, gab es für ihn keinen Zweifel, daß er Asien erreicht hatte. In Wirklichkeit war er auf einen den Europäern unbekannten Kontinent gestoßen, der zuerst "Neue Welt" und einige Zeit später, im Anschluß an die Küstenfahrten des in portugiesischen Diensten stehenden Florentiners Amerigo Vespucci, "Amerika" genannt wurde. Noch bevor die spanische Expansion nach Amerika über das Stadium der Entdeckung hinauskam, meldete Portugal seinerseits Ansprüche auf Amerika an. Unter Berufung auf den Vertrag von Alcawvas machte Portugal geltend, daß die 1492 entdeckten Inseln portugiesisches Interessengebiet seien. Da Portugal durch den Besitz der Azoren viel günstiger zum neuen Kontinent lag, sah sich Spanien zu einer Einigung mit Portugal gezwungen. Unter der Vermittlung des Papstes lösten die beiden iberischen Mächte im Jahre 1494 im Vertrag von Tordesillas ihren Streit. Sie teilten die außereuropäische Welt durch einen um 270 kastilische Meilen nach Westen verschobenen Längengrad in eine kastilische und eine portugiesische Hälfte. Dadurch fiel mit Ausnahme Brasiliens ganz Lateinamerika in die Interessensphäre Spaniens.
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X Das Spanische Kolonialreich in Amerika und Afrika
Ab 1495 gewährte die spanische Krone privaten Expeditionen das Recht, ein bestimmtes Gebiet für Kastilien in Besitz zu nehmen. Als Gegenleistung wurden dem Anführer die zentralen zivilen und militärischen Ämter in der eroberten Region übertragen und der gesamten Mannschaft wirtschaftliche Privilegien in Aussicht gestellt. Nach Erhalt der königlichen Zustimmung, der so genannten Kapitulation, mußte der Anführer die Expedition selbständig finanzieren und organisieren (vgl. Pietschmann 1989, 22). Mit dieser Vorgehensweise erreichte die Krone mit einem Schlag zwei Ziele: Sie konnte die Kosten der Entdeckungs- und Eroberungsfahrten auf private Geldgeber abwälzen, behielt aber gleichzeitig die Kontrolle über die koloniale Entwicklung, indem sie die Ausreise der Expeditionen von ihrer Genehmigung abhängig machte. Unmittelbar im Anschluß an die Eroberung eines Küstenstreifens erfolgte die Gründung von Städten. Sie dienten der Konzentration der zahlenmäßig der autochthonen Bevölkerung unterlegenen Konquistadoren, als militärische Stützpunkte und als Basen für die kolonialistische Durchdringung des jeweiligen Hinterlandes. Damit war der Übergang zur Eroberung des gesamten Kontinents und zur Siedlungskolonisation vollzogen. Die Siedler strebten vor allem nach Gold, Arbeitskräften und Land. Da sie selbst nicht zur Leistung körperlicher Arbeit bereit waren, stieg der Bedarf an Arbeitskräften stetig an und löste räumlich immer weiter ausgreifende Sklavenjagden aus. Ähnlich raumgreifend wirkte sich der Hunger nach Edelmetallen und Landbesitz aus. Innerhalb weniger Jahrzehnte wurde das hispanoamerikanische Kolonialreich in seinen annähernd endgültigen Umrissen geschaffen (vgl. Reinhard 1985, 49 ff.). n Die Rechtfertigung und die Methoden der spanischen Conquista Der Besitzanspruch der Spanier über die transatlantischen Gebiete wurde in den Bullen Papst Alexanders VI. aus dem Jahre 1493 anerkannt und damit völkerrechtlich die europäische Expansion nach Lateinamerika sanktioniert. Wie schmal die Nahtstelle zwischen Entdeckung und Eroberung war — und damit zwischen Krieg und Frieden —, zeigt sich im sogenannten requerimiento: Es handelte sich dabei um ein Schriftstück, das den Indianern vorgelesen wurde und in welchem diese unter Hinweis auf die Weltherrschaft des Papstes ultimativ aufgefordert wurden, sich den Spaniern zu unterwerfen. Es versteht sich von selbst, daß die Indianer nicht in der Lage waren, die Konquistadoren sprachlich und inhaltlich zu verstehen; für die Spanier war das requerimiento aber ein ausgezeichnetes Mittel, die Verantwortung für ihre Taten auf die autochthone Bevölkerung abzuschieben. Die Hinweise auf den Erfolgszwang, die überlegene Waffentechnik, Strategie und Härte allein vermögen die schnellen Erfolge der Konquistadoren nicht zu erklären. Grundsätzlich fiel den Spaniern die Unterwerfung der Indios um so leichter, je höher deren zivilisatorisches Niveau und je zentralisierter ihre politische Ordnung war. In sehr vereinfachender Weise lassen sich die indianischen Ureinwohner des Kontinents in dieser Hinsicht in drei Gruppen einteilen: 1. Die Hochkulturen Mexikos, Mittelamerikas und des Andenraumes mit stark gegliederter, hierarchisierter Gesellschaftsordnung und straffer politisch-religiöser Organisation; 2. die seßhaften Volksgruppen der Karibik und der tropisch-subtropischen Zonen mit weitaus weniger ausgeprägter sozialer Gliederung und Durchorganisierung; 3. die ganz oder teilweise nomadisierenden Stammesverbände in den
Der Kolonialismus in Amerika
219
Karte 14: Von den Handelsstützpunkten zur Siedlungskolonisation
Atlantischer Ozean -1
CORTES betritt Tenochtitlan am 8.11. 1519
t
Gründung von Santo Domingo 1496
SANTO DOMINGO
MEXI Vertrag von Tordesillas 1494
zu den Philippinen Legazpi und Urdaneta 1564-65
PANAMA BALBOA entdeckt das Südmeer am 29. 9. 1513 "*"..
Pazifischer
Pinzon 1499
Pizarro 1532-33
Ozean PIZARRO be Cuzco am 15.11. 1533
N,
O
Magellan 1519-20
Ausgangsstellung der Conquista
Cabral 1500 VALDIVIA gründet Santiago am 12.2. 1541
' Magellan 1519-20
Halt j 12, (553
entscheidende Etappe
.4,2) wichtige Entdeckungsreise
gemäßigten Breiten des südlichen Amerika und nördlichen Mexiko, die als Jäger- und Sammlergesellschaften nur eine geringe soziale Differenzierung und nur rudimentäre Formen politischer sowie religiöser Organisation kannten (vgl. Pietschmann 1989, 10 f.) Im Falle der Hochkulturen kamen den Eroberern innenpolitische Spannungen der Großreiche entgegen, die sie für ihre Zwecke nutzten, indem sie sich mit unterworfenen Völkern zum Sturz der Herrscher verbanden. So war es im Falle der Eroberung Mexikos ein Bündnis mit den Totonaken und den Tlaxcalteken, das Hernän Corts den Einmarsch in
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X
Das Spanische Kolonialreich in Amerika und Afrika
Tenochtitlän, den Mittelpunkt des aztekischen Großreiches, ermöglichte. Die Gefangennahme des obersten Herrschers war ein weiteres Mittel, das meist ausreichte, um den gesamten Verwaltungsapparat lahmzulegen und um auch die letzte Widerstandskraft der adeligen Krieger zu brechen. Der Erfolg dieser Strategie zeigte sich bei der endgültigen Eroberung Mexikos, als der aztekische Herrscher Moctezuma II. im Jahre 1520 gefangen gesetzt werden konnte, sowie im Falle der Unterwerfung der Inka-Kultur in Peru, deren gottähnlich verehrter Kaiser Atahualpa 1532 in die Hände von Francisco Pizarro fiel (vgl. Schmitt, Bd. 2, 1984, 308ff.). Bei den zumeist friedfertigen Völkerschaften der zweiten Gruppe stießen die Europäer in der Regel auf keinen oder nur auf vorübergehenden Widerstand. Mehr Zeit und Gewalt erforderte die Unterwerfung der weitverstreut lebenden und kriegerischen Nomadenstämme an der Nord- und Südgrenze des Kolonialreichs. So konnte ein Teil der Araukaner Südchiles und Südargentiniens bis ins späte 19. Jahrhundert hinein seine Unabhängigkeit bewahren. Im Verlauf der spanischen Landnahme kam es zu einer wechselseitigen Beeinflussung der aufeinandertreffenden Kulturen (vgl. Pietschmann 1989, 10 ff.). In jedem Fall ergaben sich biologische und kulturelle Vermischungsprozesse, die dazu führten, daß die Spanier teilweise die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen der Indianer respektierten – wenn auch zumeist nur, um sie für ihre eigenen Interessen zu instrumentalisieren.
Der Kolonialismus in Amerika
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Konquistadoren und ihren Anspruch auf Belohnung für die Eroberung vorsichtig behandeln, um die Fortführung der Expansion nicht zu gefährden. Die Bekämpfung der politischen Auswirkungen der Encomienda betrieb die Krone in erster Linie über den konsequenten Aufbau eines staatlich kontrollierten Verwaltungsapparates. Den Ausgangspunkt dazu bildete die Einrichtung von kollegialen Gerichtsbehörden (Audiencias), die die immer wiederkehrenden Streitigkeiten der Konquistadoren um die Verteilung der Encomienda-Ansprüche beendeten und der Macht der Kolonisten erste Schranken setzten (vgl. Pietschmann 1989, 25). Bald trat neben die Audiencias das Amt des Vizekönigs, der als unmittelbarer Vertreter der Krone die oberste Regierungsgewalt ausübte und die Monarchie nach außen vertrat. Im 16. Jahrhundert entstanden zunächst zwei Vizekönigreiche: Neu-Spanien (1536) und Peru (1543). Aus ihnen gingen im 18. Jahrhundert zwei weitere hervor, nämlich Neu-Granada (1739) und Rio de la Plata (1776). Diese Vizekönigreiche waren in Generalkapitanate und Gouvernements eingeteilt, in deren Händen die Verantwortung für die Militär-, Zivil- und Finanzverwaltung lag. Schema 5: Verwaltungsbereiche und Ämter in der spanischen Kolonialverwaltung, um 1610 König Justizverwaltung
Militärverwaltung
Zivilverwaltung
Finanzverwaltung
vl
n Das koloniale Herrschaftssystem der Spanier Der für die Krone kritische Punkt einer kolonialen Unternehmung war meist im Moment des Sieges der Konquistadoren erreicht, als es darum ging, den Übergang zur dauerhaften Herrschaft und zur Kolonisation zu vollziehen. Dies wurde durch zwei institutionelle Mechanismen erreicht, die in der Übergangsphase zwischen Inbesitznahme und Kolonisation auch die staatliche Ordnung der hispanoamerikanischen Kolonien prägten: die Gründung von Städten und das System der Encomienda. Dieses bestand darin, daß Gruppen von Eingeborenen einem Teilnehmer des Conquista-Zuges "anvertraut", d. h. in Encomienda übergeben wurden. Der Konquistador erhielt dadurch in Form von indianischen Naturalabgaben und Arbeitsleistungen Anspruch auf Tributleistungen, die der Krone geschuldet wurden. Dafür verpflichtete er sich, militärisch einsatzbereit zu sein, sich dauernd in den eroberten Gebieten niederzulassen sowie die Indianer zu christianisieren und zu beschützen (vgl. Reinhard 1985, 60f.). In wirtschaftlicher Hinsicht diente die Encomienda unter Ausnutzung der Arbeits- und Produktivkraft der Indianer der ökonomischen Ausbeutung des Kontinents und der Belohnung bzw. Bereicherung der Kolonisten. Dies hatte zur Folge, daß sie sich kaum von der Sklaverei unterschied, obwohl sie den Indianern formell den Status freier Lohnarbeiter zuerkannte. Faktisch war die Encomienda gleichzusetzen mit hemmungsloser Ausbeutung der Indianer, mit gewaltsamer Rekrutierung der Arbeitskräfte und Terror, wobei oft nicht einmal das Existenzminimum an Nahrung bereitgestellt wurde (vgl. Konetzke 1965, 190 ff.). Die Encomienda förderte Feudalisierungstendenzen, die einerseits eine Überausbeutung der Indianer befürchten ließen und andererseits eine Gefahr für den politischen Einfluß der Krone auf die innere Entwicklung der Gebiete darstellten. Aus diesen Gründen mußte die Encomienda den Widerspruch der Krone hervorrufen. Diese mußte allerdings die
Consejo de Indias
5
Casa de Contrataciön
Vizekönig Audiencia Gouverneur
Generalkapitän
Junta de Hacienda Tnbunal de Cuentas
► Provinzgouverneur
Justicia Mayor • Alcalde Mayor • oder Corregidor Alcaldes Ordinarios
Cajas Reales
♦
Temente de Capten General oder Camtan a Guerra
ge
Cabildo
Anmerkung: In den Fällen, m denen statt der Amtsbezeichnung des Beamten der Name der Institution genannt wird, handelt es sich um Kollegialbehörden. = Verwaltungsbereiche in der Hand eines Beamten oder einer Behörde. 4---> = in Personalunion vereinigte Amter bzw. Präsidium über eine Kollegialbehörde.
Neben die staatlichen traten mit den Erzbistümern, Bistümern und Diözesen kirchliche Verwaltungseinheiten sowie – unabhängig von diesen – ein von den Bettelorden und später auch von den Jesuiten bestrittener Apparat der Indianermissionen. Beiden kirchlichen Strukturen kam jedoch wegen des Patronatsrechts der Krone keine administrative, juristi-
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Das Spanische Kolonialreich in Amerika und Afrika
sche oder politische Selbständigkeit zu. Der gesamte spanische Verwaltungsapparat unterstand zwei direkt der Krone unterstellten, gleichberechtigten, mit unterschiedlichen Verantwortungsbereichen ausgestatteten Zentralbehörden im Mutterland: der für den gesamten Handels-, Nachrichten-, Verwaltungs- und Personenverkehr zuständigen Casa de Contrataciön in Sevilla sowie dem ebenfalls direkt der Krone gegenüber verantwortlichen Consejo de Indias (Indienrat) als oberster Verwaltungs- und Finanzbehörde, höchstem Gericht und Leitungsinstanz für die Kirche (vgl. Reinhard 1985, 75 ff.). Die riesige Entfernung zwischen den hispanoamerikanischen Gebieten und dem spanischen Herrschaftszentrum machte es unvermeidlich, daß die staatliche Kontrolle nicht ebenso unmittelbar ausgeübt werden konnte wie im Mutterland.
n
Die Eingeborenenpolitik Spaniens
Die Eroberer und Kolonisatoren sprachen sich für eine gewaltsame Integration der einheimischen Bevölkerung aus. Die Sklaverei sowie der faktische Arbeitszwang im System der Encomienda waren ihrer Ansicht nach dazu am besten geeignet. Dieser Sichtweise hielten die proindigenistischen Missionare entgegen, daß die Indianer durch eine solche Strategie vernichtet würden. Sie verlangten, die Indianer rechtlich zu freien Vasallen unter dem Schutz der Krone zu machen und sie durch eine schrittweise Vermittlung der spanischen Lebensweise in den Staatsverband zu integrieren. Nicht nur wegen der politischen Implikationen des Encomienda-Systems setzte die spanische Krone in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts mehr und mehr auf die Strategie der Missionare. Zu dieser Haltung trugen vielmehr auch religiös-zivilisatorische und ökonomisch-machtpolitische Überlegungen bei: Zum einen war es aufgrund päpstlicher Weisung verboten, Eingeborene, die — zumindest potentiell — vor der Annahme des Christentums standen, gegen ihren Willen als Sklaven und reine Arbeitstiere zu halten (vgl. Piepke 1989, 124). Zum anderen bedurften Staat und Wirtschaft eines gesunden und leistungsfähigen sowie eines disziplinierten Untertanenverbandes. Aus diesen Gründen erließ die Krone die ersten Indianerschutzgesetze und übertrug den Bettelorden — ab 1556 auch den Jesuiten — die Aufgabe, die autochthone Bevölkerung durch die allmähliche Vermittlung eines christlich-spanischen Kulturkonzeptes in den Reichsverband zu integrieren. In den 1512 verabschiedeten "Gesetzen von Burgos" wurde das Zusammenleben von Spaniern und Indianern streng reglementiert. Die Krone erklärte die unter spanischer Herrschaft lebenden Eingeborenen zu freien Vasallen der Krone, die aber zum Zwecke der Christianisierung und Europäisierung in möglichst enger Gemeinschaft mit den europäischen Siedlern leben sollten. Zu diesem Zweck sollten sie in der Nachbarschaft der Europäer in Dörfern angesiedelt werden. Ein Priester und ein weltlicher Beamter sollten sie zu einem christlichen Leben und zu geregelter Arbeit anhalten (vgl. Pietschmann 1989, 24). Las Casas und die Dominikaner, denen dieser Indianerschutz bei weitem nicht ausreichte, erlangten 1537 von Papst Paul III. die Bulle Sublimis Deus, in der ausdrücklich und keineswegs überflüssigerweise festgehalten wurde, die Indianer seien rationale menschliche Wesen wie andere und als solche zur Annahme der christlichen Botschaft fähig. Mittels dieser päpstlichen Rückenstärkung bewirkte Las Casas 1542 beim Kaiser eine Revision der Indiogesetze, die auf eine drastische Einschränkung der Verfügungsgewalt der Kolonisten über die Indianer abzielten. In diesen Leyes nuevas wurde die Indianersklaverei endgültig
Der Kolonialismus in Amerika
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verboten und die Encomienda praktisch abgeschafft (vgl. Reinhard 1985, 80 ff.). Die faktischen Auswirkungen der veränderten Rechtslage blieben jedoch gering. Zum einen konnte sie vor Ort nur schwerlich durchgesetzt werden, und zum anderen lösten sie Aufstände der Siedler gegen die Beeinträchtigung ihrer Privilegien aus. Die Indianerschutzpolitik gipfelte Mitte des 16. Jahrhunderts auf Vorschlag der Dominikaner in der räumlichen Trennung indianischer und europäischer Gemeinwesen und teilte die kolonialen Gebiete in zwei Repüblicas ein: die Indianergemeinden (repüblica de Indios), die zwar ebenfalls nach spanischem Gemeinderecht verwaltet wurden, aber den Indianern ein gewisses Maß an kommunaler Selbstverwaltung und die freie Wahl ihrer Gemeindeautoritäten unter der Oberaufsicht eines Corregidor garantierten, und die spanischen Munizipien (repüblica de espanoles) (vgl. Pietschmann 1989, 25). Dieses Konzept fand seine vollkommenste Verwirklichung in den von Las Casas vorgeschlagenen Missionsreservaten, den so genannten Reduktionen. Sie sollten es ermöglichen, die Indianer unter Ausschluß spanischer Siedler und allein mit missionarischer Überzeugungskraft an die spanische Lebensweise heranzuführen (vgl. Reinhard 1985, 83 f.). Fernziel blieb also die Hispanisierung. Am erfolgreichsten in dieser Hinsicht war der sogenannte "Jesuitenstaat" im unwegsamen Gebiet von Paraguay — die Bezeichnung ist insofern falsch, als auch die Jesuiten der staatlichen Kontrolle unterstanden und deswegen keinen autonomen Staat aufbauen konnten. In dieser Reduktion schufen die Jesuiten, indem sie die spanische Kommunalverwaltung und indianische Lebensformen miteinander verknüpften, ein fast 200 Jahre überdauerndes wirtschaftlich blühendes Gemeinwesen (vgl. Prien 1978, 262 ff.). Letztlich dienten die Reduktionen der Grenzsicherung, indem sie ausnahmslos in unwirtlichen Gebieten angelegt wurden. Diese Leistungen zeigen, daß die Kirche über die Missionierung auch vor Ort eine äußerst wichtige Funktion für das spanische Herrschaftssystem in Lateinamerika innehatte.
n Das Wirtschaftssystem der spanischen Kolonien Insgesamt stellten die Edelmetalle, vor allem Silber, das bei weitem wichtigste Produkt dar, das Spanien aus seinen Kolonien bezog; als Rohstoffe oder als Zahlungsmittel für die Einfuhr spanischer Konsumgüter machten sie in der Zeit von 1531 bis 1700 zwischen 90 und 99 % des Wertes der Sendungen nach Spanien aus. Das Interesse der Krone an den Edelmetallen erklärt sich aus ihren hohen Militärausgaben als katholische Führungsmacht in Europa und dem tiefen Entwicklungsstand der spanischen Wirtschaft im 16. und 17. Jahrhundert. Die Habgier der Konquistadoren war damit mehr als ein individuelles Laster; sie war individueller Ausdruck genereller wirtschaftlicher und sozialer Tendenzen. Der Bergbau war in mehrfacher Hinsicht von großer Bedeutung für die Entwicklung der Landwirtschaft. Dort, wo reichhaltige Edelmetallminen entdeckt wurden und deshalb eine zahlreiche Bevölkerung zusammenströmte, entstand ein rasch ansteigender Bedarf an Lebensmitteln (vgl. Konetzke 1965, 306). Dieser Bedarf ließ sich bald über die traditionelle Form der landwirtschaftlichen Produktion, die Encomienda, nicht mehr decken. Aus diesem Grund entstanden etwa zur selben Zeit wie die Silberminen aus der Zusammenlegung von Encomienda-Landstücken die noch heute für Lateinamerika typischen agrarischen Großbetriebe, Hacienda und Plantage. Die Hacienda ist gekennzeichnet durch aus-
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X Das Spanische Kolonialreich in Amerika und Afrika
gedehnten Landbesitz, extensive Bewirtschaftung, geringe Produktivität und Binnenmarktorientierung; sie produzierte vor allem Fleisch und Getreide. Die in Monokulturen angelegten, kapitalintensiveren Plantagen wurden meist unter Einsatz von afrikanischen Sklaven bewirtschaftet. Sie waren vor allem in den Küstenzonen der Andengebiete, Brasiliens und auf den Antillen verbreitet und im Gegensatz zu den Haciendas auf den Export von Rohstoffen und Nahrungsmitteln — Zucker, Kakao, Tabak, Baumwolle, Färbstoffe — ausgerichtet. Neben diesen beiden Formen der landwirtschaftlichen Produktion fanden sich nur selten kleinbäuerliche Betriebe und bäuerliche Siedlungsgemeinschaften, die für den Eigenbedarf insbesondere der indianischen Bevölkerung produzierten. Die hispanoamerikanische Wirtschaft war in das spanische Monopolhandelssystem eingebunden, das im wesentlichen bis zum Ende der Kolonialzeit beibehalten wurde. Sevilla blieb Monopolhafen und Sitz der Monopolbehörde Casa de Contrataciön. Damit behielt die Amerikapolitik des Mutterlandes einen restriktiven Charakter. Das Monopol wurde lange Zeit aus zwei Gründen aufrechterhalten: Zum einen, um andere europäische Mächte — allerdings erfolglos — vom Amerikahandel fernzuhalten und zum anderen, um die spanischen Exporte nach Amerika nicht durch eine dortige Eigenproduktion zu beeinträchtigen. Neben der Textilmanufaktur erreichten von den verarbeitenden Betrieben in Hispanoamerika lediglich das Gold- und Silberhandwerk eine gewisse Bedeutung (vgl. Konetzke 1965, 322 ff.). Neben dem erwerbswirtschaftlichen Monopolismus wirkte auch das staatliche Steuersystem stark auf das Wirtschaftsleben der Kolonien ein. Auf dem Handel lasteten eine Export- und eine Importabgabe. Im Zeichen des Merkantilismus ging es der spanischen Krone darum, so schnell wie möglich so viel wie möglich aus den amerikanischen Kolonien herauszuholen, um die stets leeren Staatskassen zu füllen (vgl. Reinhard 1985, 96).
Karte 15: Das spanische Kolonialreich im 18. Jahrhundert
USA
tatsächliche Grenze;2
der spanischer Besiedi '.......
Vereinigte Stäliten von Amerika seit 1776-5‚ Florida
1783-1783 Mit.
Golf von
Vizekönigreich 6uadalajar
ATLANTISCHER OZEAN
Mexiko .°
Sento Domingo
t1Meiiko
-1697 an Frankreich •= 2. r:" Jemeica Santo Domingo; 0> 1655 Karibik von England 0 erobert •
Neu Spanien o
Guatemäl
Caraerta
Vizeköni re ch 1717gotä Neu-Graiiiida
Gua ana
1739 vom Vizekönigreich Peru etrennt
Gude,
dar
izekönigreich
111 Die Bevölkerungsentwicklung in Hispanoamerika Schätzungen gehen davon aus, daß im 16. Jahrhundert etwa 300.000 Spanier nach Amerika auswanderten, wobei aber nicht alle auf Dauer blieben. Alle individuellen Entschlüsse zur Auswanderung, wie auch zu einer vorübergehenden Reise in die überseeischen Gebiete, bedurften aufgrund des seit dem Vertrag von Tordesillas allein dem spanischen Staat vorbehaltenen Entdeckungs- und Herrschaftsrechts einer staatlichen Erlaubnis (vgl. Schmitt, Bd.3, 1986, 269 ff.). Dabei achtete die Casa de Contrataciön in der Auswahl der Emigranten auf die Nützlichkeit und Zuverlässigkeit der Leute, so daß vor allem Bauern und Handwerker als Siedler zugelassen wurden. Im Zuge der europäischen Durchdringung Amerikas kam es zu einem dramatischen Rückgang der indianischen Bevölkerung. Die wesentlichste Ursache für das indianische Massensterben lag in den von den Europäern eingeschleppten Bakterien und Viren — Pocken, Grippe, Typhus, Lungenentzündung —, die sich in viel rascherem Tempo als die Europäer selbst unter der autochthonen Bevölkerung ausbreiteten (vgl. Reinhard 1985, 62ff.). Dazu kamen die Folgen der wirtschaftlichen Ausbeutung und der durch die Zerstörung der traditionellen Dorfstrukturen eingeleiteten politischen und sozialen Veränderungen, von denen insbesondere die indianischen Hochkulturen betroffen waren: In Zentralmexiko ging die Bevölkerung von 25,2 Millionen Einwohnern im Jahre 1519 auf 2,6 Millionen 1568 und auf eine Million im Jahre 1605 zurück, und in Peru war in der Zeit zwischen 1520 und 1620 ein Bevölkerungsrückgang von 93 % zu verzeichnen. (vgl. Reinhard 1985, 63).
225
Der Kolonialismus in Amerika
Vizeköni reic
Pernam •
Brasilien
Lima
•
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Peru CNA (Litelatereb
PAZIFISCHER OZEAN
Sli -e Rio de Janeiro Hauptstadt 1763
Viz 'ne eich 17. Santiago
Peru enos Aires
Audiencia Chile
1776 an Vizekönigreich Peru von S amen beanspruchtes, edoairn'clit besiedeltes Gebiet • Hauptstadt eines Vizekönigreichs 0 Sitz einer Audiencia
dE
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X Das Spanische Kolonialreich in Amerika und Afrika
Aus drei Gründen setzte im 16. Jahrhundert die Einfuhr afrikanischer Sklaven nach Lateinamerika ein: Zum ersten wegen des Massensterbens der Indianer, zum zweiten infolge des frühzeitigen (1500) königlichen Verbots der Indianersklaverei, zum dritten aufgrund der Arbeitsunwilligkeit der Einwanderer. Sogar Geistliche befürworteten zunächst die Einfuhr von Negersklaven, insbesondere um die weniger robusten Indianer vor der Vernichtung zu schützen. In der Tat zeigten sich die Negersklaven in Leistungsfähigkeit, Ausdauer und Fügsamkeit den Indianern bei weitem überlegen. Insgesamt wurden von 1492 bis 1870 etwa 1,5 Millionen schwarze Sklaven aus Afrika nach Hispanoamerika verschleppt. Die entsprechenden Zahlen für die Antillen und Brasilien liegen noch weit höher (vgl. Reinhard 1985, 90). n Die Sozialstruktur in Hispanoamerika Im Zuge der Conquista bildete sich in Hispanoamerika eine streng hierarchische Gesellschaftsordnung nach spanischem Vorbild heraus. An der Spitze der kolonialen Gesellschaft standen die leitenden Beamten der Krone und der hohe Klerus, die oft dem spanischen Geburts- oder Dienstadel entstammten. Wurden die höchsten kirchlichen und staatlichen Ämter meist mit Spaniern besetzt, so waren auf den mittleren und unteren Stufen der Behördenpyramide auch Kreolen, d.h. in Amerika geborene Spanier anzutreffen. Zusammen mit dem Gros der Händler, Kaufleute und mit angesehenen Handwerkern des Textilgewerbes und der Edelmetallverarbeitung bildeten sie die nächste soziale Stufe. Neben den weniger angesehenen städtischen Berufsschichten — etwa den Bauarbeitern — zählte vor allem die breite Masse der unfreien indianischen bäuerlichen Bevölkerung zur Unterschicht (vgl. Reinhard 1985, 91). Parallel zu dieser Rangordnung entstand nach und nach eine soziale Stufenabfolge aufgrund ethnisch-rassischer Merkmale. Im Sinne dieser Rangordnung war es entscheidend, ob sich jemand zur kleinen Gruppe der Weißen zählen konnte oder nicht. Allerdings bestanden auch innerhalb der beiden rassischen Hauptgruppen feinere Abstufungen. So galt etwa ein in Spanien Geborener einem in Lateinamerika geborenen Weißen gegenüber als überlegen. Der indianische Adel erfuhr lange Zeit eine relativ großzügige Behandlung, indem er oft in seinen ursprünglichen Funktionen belassen wurde und eine Reihe von Privilegien genoß, die ihn dem spanischen Niedrigadel gleichstellten. Dagegen hatte die übrige indianische Bevölkerung keinen eindeutigen Platz in der rassisch-sozialen Stufenfolge, da sie als schlecht in die spanische Kultur integrierte Bevölkerungsmehrheit eine autochthone Subkultur am Rande der Kolonialgesellschaft bildete (vgl. Pietschmann 1989, 12). Ambivalent war der Status der Mischlinge, vor allem der Mestizen, die aus Verbindungen zwischen Europäern und Indianerinnen hervorgingen. Ursprünglich waren diese in keiner Weise diskriminiert, sanken jedoch im Laufe der Zeit zu Bürgern minderen Rechts herab. Dazu trug auch der Umstand bei, daß sie meist unehelichen Verbindungen entstammten. Die unterste Stufe in der rassisch-sozialen Rangfolge wurde überall von den schwarzen Sklaven und ihren Nachkommen eingenommen.
Der Neo-Kolonialismus in Afrika
2.
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Der Neo-Kolonialismus in Afrika
a) Das spanische Kolonialreich in Afrika: Chronologie 1497 Der Herzog von Medina Sidonia erobert Melilla. 1556 Melilla fällt an die spanische Krone. 1580-1661 Tanger geht von Portugal an Spanien über. 1640 Portugal tritt Ceuta an Spanien ab. 1778 Portugal tritt Fernando Pöo an Spanien ab. 1843 Spanien besetzt die Nachbarinseln von Fernando Annobön, Corisco, Elobey Grande und Elobey Chico. 1859/60 Spanische Truppen erobern Tetuän, die Einnahme Tangers wird von den Briten verhindert. 1860 Marokko überläßt Spanien "für immer" Sidi Ifni, einen Küstenstreifen gegenüber den Kanarischen Inseln, der bereits seit dem 15. Jahrhundert zur spanischen Interessensphäre gehörte. 1890 Spanien besetzt Rio Muni und macht es zusammen mit den vorgelagerten Inseln um Fernando Pöo zur Kolonie Guinea Espatiola. 1904 Spanien und Frankreich verständigen sich auf die Aufteilung Marokkos in eine spanische und eine französische Einflußsphäre. 1906 Internationale Konferenz von Algeciras zur Lösung der ersten Marokko-Krise; im Anschluß kommt es in Cartagena zum zweiten spanisch-französischen Vertrag über Marokko. 1909 Die Proteste gegen die Verschiffung junger Spanier in den Kolonialkrieg nach Marokko führen zur Semana trägica in Barcelona. 1912-1956 Der nördliche Teil Marokkos ist unter der Bezeichnung Protectorado de Marruecos Teil des neokolonialen Reichs der Spanier. 1921 Beginn des Aufstandes der Rif-Kabylen unter Abd el-Krim gegen die spanische Protektoratsmacht und Proklamation der Rif-Republik; beim Desastre de Annual verlieren die spanischen Streitkräfte mehr als 13.000 Soldaten. 1936 Spanische Kolonialtruppen setzen mit deutscher Hilfe von Marokko nach Spanien über und kämpfen auf Seiten der Aufständischen im Spanischen Bürgerkrieg.
1956 Spanien gibt den von ihm besetzten Teil Marokkos formal frei, bis Anfang der 60er Jahre bleiben allerdings spanische Truppen in Marokko stationiert. 1957 Beginn des "Ifni-Krieges". 1959 Die Kolonie Guinea Espatiola erhält den Status einer Provinz. 1960 Der Entkolonialisierungsbeschluß der UNO schließt Ceuta und Melilla ausdrücklich mit ein. 1963 Spanien organisiert ein Plebiszit in Guinea Espatiola, in dem sich die Mehrheit der Bevölkerung für die Unabhängigkeit von Spanien ausspricht; am 1. Januar 1964 erhält die Provinz die Verwaltungsautonomie. 12.10.1968 Nach einem von der UNO überwachten Referendum in Guinea Espatiola erklärt sich die spanische Provinz für unabhängig und wird von Spanien geräumt. 4.1.1969 Spanien übergibt Sidi Ifni an Marokko; Sahara Espafiol wird zur spanischen Provinz erklärt. 1973 Der Frente Polisario, der für die Unabhängigkeit der West-Sahara sowohl von Spanien als auch von Marokko kämpft, wird gegründet. 1975 Das Unabhängigkeits- bzw. Abtretungsverfahren für Ceuta und Melilla wird eingefroren. 14.11.1975 Im "Abkommen von Madrid" vereinbaren Spanien, Marokko und Mauretanien die Übertragung von Sahara Espafiol an die beiden letztgenannten Staaten. 13.3.1995 Ceuta und Melilla erhalten das Sonderstatut einer Ciudad Autönoma. 11.7.2002 Besetung der Insel Perejil durch marokkanische Soldaten. 17.7.2002 Spanische Elitesoldaten vertreiben die Marokkaner von der Insel. Oktober 2005 Fast 2000 afrikanische Flüchtlinge überwinden einen doppelten Stacheldrahtzaun um die Autonomen Städte Ceuta und Melilla und gelangen damit auf "europäisches Gebiet".
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X Das Spanische Kolonialreich in Amerika und Afrika
Spanien und der Maghreb im 20. Jahrhundert
Von seiner geographischen Lage her ist die Iberische Halbinsel der Teil Europas, der Afrika am nächsten kommt. Lediglich die Meerenge von Gibraltar trennt die beiden Kontinente. Somit ist es naturgegeben, daß Spanien eine wichtige Rolle als Transitraum zwischen den Kulturen beider Kontinente in Vergangenheit und Gegenwart spielt(e). Von besonderer Bedeutung waren und sind dabei die Beziehungen zu den Ländern des Maghreb, und hier wiederum vor allem die zu Marokko. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf das Verhältnis Spaniens zu seiner nordafrikanischen Nachbarregion im 20. Jahrhundert. Geprägt wurden die Beziehungen vom Imperialismus und Kolonialismus Spaniens. In Nordafrika betrieb das iberische Land zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ebenso wie Frankreich, eine neokolonialistische Politik und machte den Nordteil Marokkos zu einem spanischen Protektorat. Der Kampf gegen die dortigen Rifkabylen in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts war außerordentlich hart und grausam, seit 1927 konnte die Region als einigermaßen "befriedet" gelten. In der einen oder anderen Form aber belastete das Marokkoproblem auch weiterhin die spanische Politik. Marokko sollte zu Beginn und im Verlauf des Spanischen Bürgerkrieges (1936-1939) abermals eine wichtige Rolle für das iberische Land spielen. In Marokko siegte der Aufstand Francos von Anfang an, von dort setzte der Putschgeneral auf das Festland über, das Afrikaheer mit seinen ca. 45.000 Mann schloß sich sofort dem Militärputsch an. Die "maurische Leibgarde" (Guardia Mora), mit der sich Franco nach dem Krieg jahrzehntelang schmückte, erinnerte Spanien lange daran, daß der Sieg über die Demokratie mit maßgeblicher Hilfe der afrikanischen Truppen errungen worden war. Eine eigentliche Kolonialpolitik betrieb das Franco-Regime nicht. Spanisch-Marokko wurde von einem Hochkommissar regiert, spanische Unternehmen beuteten die spärlichen Erzvorkommen und landwirtschaftlichen Erträge des Landes aus. Die Kolonialpolitik erschöpfte sich im wesentlichen in der geordneten Durchführung der Entkolonisierung der spanischen Besitzungen in Nordafrika. 1956 beschloß Spanien, Marokko die Unabhängigkeit zu gewähren, falls Frankreich für seinen Verantwortungsbereich dasselbe tat. Die Kolonialkrise hatte 1953 mit den Handlungen der Nationalisten in Französisch-Marokko eingesetzt; diese provozierten den Sturz und die Gefangensetzung von Sultan Mohammed V. Das spanische Regime unterstützte den marokkanischen Nationalismus und verschaffte sich auf diese Weise die Anerkennung der arabischen Welt, die der Franquismus in jener ersten Phase der vorsichtigen außenpolitischen Öffnung dringend benötigte. Die Haltung der spanischen Regierung provozierte allerdings auch eine Reaktion gegenüber der spanischen Besetzung der marokkanischen Nordzone. Im März 1956 erkannte Frankreich die Unabhängigkeit seiner Besatzungszone an, Spanien mußte einen Monat später nachziehen. Ungeklärt blieben allerdings zwei Fragen: die Zukunft von Ifni und die der Westsahara. Beide Gebiete wurden von Marokko reklamiert; Spanien wiederum führte seine Ansprüche auf historische Rechte zurück. Die Ifni-Frage wurde als erste gelöst: Zwischen November 1956 und Februar 1958 kam es zu einem Krieg, der mit dem Verlust des nördlichen Teils von Ifni endete. Die Saharafrage blieb vorerst offen und ein Streitpunkt zwischen Spanien und Marokko.
Der Neo-Kolonialismus in Afrika
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Karte 16: Spanien erkennt 1956 die Unabhängigkeit Marokkos an
MITTELMEER TÄNGER
CEUTA AN Tres Forcas
Gipfel von Gomera
MELILLA Mar Chica / r 1
seid. Rio Inaque
FEZ.e
HY4BsErL-0
,.Guersif
Rio = Fluß Seit der Erlangung seiner Unabhängigkeit beanspruchte Marokko die Souveränität über Spanisch-Sahara (der Wüstenstreifen am Atlantik erstreckt sich über 270.000 km 2), später machte auch Mauretanien auf den südlichen Teil Ansprüche geltend. Spanien war jedoch nicht bereit, auf seine Überseeprovinz zu verzichten, diente ihr diese doch als militärischer Flankenschutz für die Kanarischen Inseln. Durch dieses ungelöste Kolonialproblem litten die traditionell guten spanisch-arabischen Beziehungen nicht unerheblich. Nach der Entkolonisierung Marokkos förderte Spanien die Stammesbewegung zugunsten der saharahui. 1967 wurde in der Westsahara eine autonome Verwaltung unter einer "Generalversammlung der Sahara" eingesetzt. Die "Partei der Nationalen Union Saharas" (Partido de Union Nacional Saharahui, PUNS) trat sogleich für eine Beibehaltung der engen Beziehungen mit Spanien ein. 1973 bildete sich jedoch der Frente Polisario als nationalistische politische Kraft, die für die Unabhängigkeit des Territoriums eintrat. Obwohl der marokkanische König kurzfristig die Sahara-Selbstverwaltung unterstützte, änderte er — bedrängt durch ein instabiles politisches Klima im Landesinneren — bald seine Meinung und
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Der Neo-Kolonialismus in Afrika
X Das Spanische Kolonialreich in Amerika und Afrika
Karte 17: Marokko 1957 Angriffe auf IFNI
forderte die Eingliederung der Sahara in sein Nationalgebiet. Marokko brachte den Fall sogar vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag; dabei schloß es in seine Forderung gleich die beiden spanischen Städte Ceuta und Melilla mit ein. Die spanische Regierung unter dem damaligen Ministerpräsidenten Carlos Arias Navarro reagierte auf die massiven marokkanischen Druck- und Drohgebärden, indem sie ein Referendum für die Selbstbestimmung der Sahara ansetzte. Die Abstimmung sollte ursprünglich im Frühjahr 1975 stattfinden. Nachdem es im Herbst jenes Jahres jedoch immer noch nicht dazu gekommen war, fällten der Haager Gerichtshof und die UNO einen Beschluß zugunsten des Selbstbestimmungsrechts des Volks der Sahara, somit gegen die Interessen der Marokkaner. In den letzten Jahren des Francoregimes spitzte sich das Saharaproblem gefährlich zu, vor allem, seit in den 60er Jahren gigantische Phosphat-Reserven und wertvolle Eisenerzvorkommen in dieser Region entdeckt worden waren. Ende 1973 verabschiedete die UN-
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Vollversammlung erneut eine Resolution, in der Spanien aufgefordert wurde, in SpanischSahara eine Volksabstimmung über die Zukunft des Gebietes abzuhalten. Ab Juli 1974 startete der marokkanische König Hassan II. eine weltweite diplomatische Offensive, in der er sehr bald erkennen ließ, daß er nur eine Volksabstimmung akzeptieren würde, die als Ergebnis den Anschluß des phosphatreichen Saharagebietes an Marokko vorsah. 1974/75 verstärkten Marokko, Algerien und Spanien ihre Truppen an den Grenzlinien der Sahara. Inzwischen nahm auch die Guerrillatätigkeit des Frente Polisario (Volksfront fur die Befreiung der Sahara) und anderer Untergrundorganisationen in Spanisch-Sahara immer mehr zu. Im Sommer 1975 gab König Hassan bekannt, daß er noch im Laufe des Jahres "friedlich oder militärisch" Spanisch-Sahara zurückerobern werde, und im Oktober verkündete er, daß 350.000 freiwillige unbewaffnete Marokkaner unter seiner Führung einen "Grünen Marsch" in die Spanische Sahara bis zur Hauptstadt el-Ayoun unternehmen würden. Während Franco in der Agonie lag, flog Prinz Juan Carlos als amtierender Staatschef nach el-Ayoun, konnte jedoch nicht verhindern, daß wenige Tage später — parallel zu hektischen diplomatischen Aktivitäten der Vereinten Nationen — der Grüne Marsch durchgeführt wurde. In der zweiten Novemberwoche einigten sich sodann Marokko, Mauretanien und Spanien über die Entkolonisierung von Spanisch-Sahara. Der völlig überstürzte Rückzug der Spanier aus der Sahara war, wenige Stunden vor dem Tode Francos, die erste außenpolitische Maßnahme von Juan Carlos. Es mag mehr als nur ein Zufall gewesen sein, daß das physische Ende des Diktators zugleich mit dem Ende der spanischen Präsenz in Nordafrika — sieht man von Ceuta und Melilla ab, die allerdings ebenfalls von Marokko reklamiert werden — zusammenfiel. Franco hatte in den 20er Jahren seine militärische Karriere in Nordafrika begonnen, auf die Soldaten der dort stationierten Fremdenlegion hatte er sich im Bürgerkrieg bedingungslos verlassen können. Die Symbolträchtigkeit, die der Gleichzeitigkeit dieser beiden Ereignisse — Tod Francos und politischdiplomatische Niederlage in der Nordafrikafrage — innewohnte, war unübersehbar. Im Februar 1976 mußte Spanien endgültig die Sahara verlassen. Im "Abkommen von Madrid" (14. November 1975) hatte Spanien lediglich die Verwaltungshoheit, nicht aber die Souveränität über das bis dahin "Spanisch-Sahara" und fortan "Westsahara" genannte Gebiet an Marokko und Mauretanien übertragen. Über ihre Zukunft sollten die saharahui später selbst entscheiden. Diese Art der "Entkolonisierung" kann nur als mißglückt bezeichnet werden. Das Sahara-Problem war nicht gelöst, sondern erst geschaffen worden.
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Die Saharafrage
Die anhaltenden Auseinandersetzungen um die Saharafrage bescherten Spanien ein weiteres Problem: Auf den Kanarischen Inseln bildete sich, unter aktiver Mithilfe Marokkos und Algeriens, eine "Befreiungsbewegung" (Movimiento por la Autonomia e Independencia del Archiplago Canario, MPAIAC). Eines der Hauptziele der spanischen Regierungen bestand deshalb in der zweiten Hälfte der 70er Jahre darin zu verhindern, daß die Organisation Afrikanischer Staaten und die UNO die "Afrikanität" der Kanarischen Inseln erklärten. 1978 verweigerten schließlich die afrikanischen Staatsoberhäupter auf einer Tagung in Khartum der kanarischen Befreiungsbewegung die Anerkennung. Nach dem Abzug der Spanier im Februar 1976 besetzte die marokkanische Armee sofort den Nordteil der Westsahara. Marokkanische Soldaten und Polizisten gingen hart gegen die
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X Das Spanische Kolonialreich in Amerika und Afrika
saharahui vor, etwa die Hälfte der Westsahara-Bevölkerung floh in die Gegend von Tindouf in Algerien. Der Frente Polisario kämpfte militärisch mehrere Jahre lang gegen die marokkanische Besatzungsmacht. Das politisch und militärisch schwache Mauretanien zog sich 1979 aus dem Krieg in der Westsahara zurück und verzichtete zugleich auf den ihm zugeteilten Südteil der Sahara zugunsten des Frente Polisario. Ende der 80er Jahre stabilisierten sich die Stellungen beider kriegführender Parteien, nachdem Marokko einen 1.500 km langen, radarüberwachten "Verteidigungswall" um die "nützliche" Westsahara gezogen hatte. Um den Konflikt zu lösen, stimmten die Kontrahenten 1989 einem Referendum zu, das unter Aufsicht der Vereinten Nationen abgehalten werden sollte. Dazu kam es aber bis heute nicht. Im September 1991 begann schließlich ein bis heute andauernder Waffenstillstand. In den 90er Jahren kamen die Verhandlungen über die Westsahara nicht vom Fleck. Die Vereinten Nationen setzten mit James Baker, dem ehemaligen US-Außenminister, einen Sonderbeauftragten für die Saharafrage ein, der sich redlich um eine einvernehmliche Lösung bemühte, verschiedene Pläne vorlegte und unermüdlich mit den Konfliktparteien verhandelte – alles umsonst. Erst nach der Jahrtausendwende sollte wieder Bewegung in die Verhandlungen kommen. Im April 2002 sprachen sich die USA für eine Autonomieregelung für die Sahara im Rahmen des marokkanischen Staatsverbandes und damit gegen die Abhaltung eines Selbstbestimmungsreferendums in der früheren spanischen Kolonie aus. Spanien und der Frente Polisario (als Vertretung der Sahara-Bevölkerung) sprachen sich gegen den US-Vorschlag und für eine Volksabstimmung aus. Auch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen stimmte der Eingliederung der Westsahara (als autonome Provinz) in Marokko nicht zu, verlängerte vielmehr das Mandat der UN-Mission für die Vorbereitung eines Referendums. Im Januar 2003 legte der UN-Sonderbeauftragte James Baker einen (weiteren) Plan für die Zukunft der Region vor. Zu diesem Zeitpunkt konnte die UNO bereits auf elf Jahre Verhandlungen und Zahlungen über rund 500 Millionen Dollar zurückblicken, die vor allem für Behelfsunterkünfte, -schulen und -krankenhäuser zur notdürftigen Versorgung von rund 300.000 versprengten saharahui eingesetzt worden waren. Allein Baker hatte die Streitparteien neunmal an den Verhandlungstisch gebracht – jedesmal ohne Ergebnis. Auch diesem Plan sollte es nicht besser gehen: Während ihn der Frente Polisario mit gewissen Einschränkungen annahm, lehnte ihn Marokko ab, da er ein Selbstbestimmungsreferendum vorsah, das (angeblich) "die Sicherheit des Landes und die Aufrechterhaltung der Ordnung" gefährdete. Ende Juli 2003 nahm der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen den Plan einstimmig an, was Marokko allerdings unbeeindruckt ließ. n Krisen und Konflikte: Ceuta, Melilla und die Petersilieninsel Natürlich lassen sich die Beziehungen Spaniens zum Maghreb nicht auf die Saharafrage reduzieren, wenn auch dieses bis heute ungelöste Problem nahezu alle anderen Aspekte mit beeinflußt. Das läßt ein kursorischer Überblick über die konfliktive Beziehungsgeschichte der letzten Jahrzehnte deutlich werden: Nach der "Entkolonisierung" der Sahara ging es Spanien in Nord-Afrika vor allem um eine Politik des Gleichgewichts. Die Beziehungen mit Marokko blieben allerdings angespannt. 1979 erkannte Spanien den Frente Polisario an, 1981 akzeptierte Madrid die Hal-
Der Neo-Kolonialismus in Afrika Karte 18: Die Saharafrage
Ceuta
Casablanca
ALGERIEN
• Tinduf
Kap Jubi EI Aiün
Villa Cisneros
MAURETANIEN MALI
• Nuakchott
Grüner Marsch
/1/
Vorrücken Mauretaniens nach dem spanischen Rückzug
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X Das Spanische Kolonialreich in Amerika und Afrika
tung Algeriens zur Saharafrage. Zum damaligen Zeitpunkt war Spanien mehr denn je von den algerischen Gaslieferungen abhängig und konnte seinen wichtigsten Handelspartner in Afrika nicht verprellen. Hassan II. sprach offen davon, daß Spanien ein "doppeltes Spiel" zu Lasten Marokkos trieb, dementsprechend harsch waren auch die marokkanischen Reaktionen: 1977 ratifizierte Marokko das Fischfangabkommen mit Spanien nicht, zu Beginn der 80er Jahre engte Marokko die spanischen Fischfangrechte erheblich ein, wiederholt kam es zur Kaperung spanischer Schiffe durch Marokkaner. Zugleich verstärkte Rabat seine Ansprüche auf die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla und betrieb einen regelrechten Handelskrieg gegen die beiden Städte. Außerdem drohte Marokko damit, daß es die Zugehörigkeit der Kanarischen Inseln zu Spanien in Frage stellen könnte. Eine gewisse "Beruhigung" trat in den Beziehungen erst mit der Machtübernahme durch die Sozialisten (1982) ein. Hatte die Sozialistische Partei unter Felipe Gonzälez ursprünglich eine Haltung vertreten, die den Interessen des Frente Polisario und Algeriens entgegenkam, so näherte sich die spanische Regierungspartei nunmehr Marokko an. Sie ersetzte die spanische Gleichgewichtspolitik zwischen Algerien und Marokko durch eine Politik der globalen politischen Zusammenarbeit mit allen Ländern des Maghreb, wobei die Beziehungen mit Marokko allerdings Vorrang behielten. 1988 etwa wurde zwischen Madrid und Rabat ein Rahmenvertrag zur wirtschaftlichen und finanziellen Zusammenarbeit unterzeichnet, der eine entschiedene Unterstützung Marokkos bedeutete. Weitere Abkommen betrafen die militärische Zusammenarbeit, die Garantie für Investitionen und eine (bis heute nicht begonnene) Brückenverbindung zwischen Europa und Afrika. Mit diesen diplomatischen Aktivitäten dachte Spanien (irrtümlicherweise), die marokkanische Forderung nach Ceuta und Melilla auf Eis legen, die Differenzen über den Selbstbestimmungsprozeß der Sahara beilegen und ein Abkommen zur Überlassung der marokkanischen Fischgründe an die spanische Fischfangflotte erreichen zu können. Der Beitritt Spaniens zur EG (1986) gab den spanisch-marokkanischen Wirtschaftsbeziehungen eine erneute Wendung. Der Streitfall über die Fischereirechte wurde nun, zugleich mit den Auseinandersetzungen um den Gemüse-Export, zu einem Problem der gemeinschaftlichen Wirtschaftspolitik gegenüber Marokko. Rabat nutzte das Thema geschickt aus und konnte bei Verhandlungen Zollsenkungen für seine Gemüse- und Obstexporte in die EG durchsetzen. Die Fischfangflotten von EG-Staaten wurden schließlich allerdings doch aus marokkanischen Gewässern ausgeschlossen, worunter vor allem die spanische Flotte litt. Außerdem sind bis heute die Grenzen der Hoheitsgewässer zwischen Spanien und Marokko nicht festgelegt. Die spanische Politik gegenüber Algerien hing lange Zeit eng mit dem Saharaproblem (und vorübergehend mit der von Algerien behaupteten Zugehörigkeit der Kanarischen Inseln zu Afrika) zusammen. Algerien hat kontinuierlich Druck auf Spanien ausgeübt, um in Madrid in der Saharafrage eine antimarokkanische Haltung durchzusetzen. Seit Algerien aber intern mit Problemen des fundamentalistischen Islamismus zu kämpfen hat, konnten die Beziehungen zu Spanien weitgehend normalisiert und auf wirtschaftlichem Gebiet (spanische Investitionen, algerischer Gasexport) intensiviert werden. Auch im Maghreb betrieb die sozialistische spanische Regierung eine weitgehend erfolgreiche Politik. Wegen der zunehmenden Instabilität in Algerien näherte sich Madrid in den 80er und 90er Jahren wieder Marokko an, obwohl mehrere bilaterale Differenzen ungelöst
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waren. 1989 besuchte Hassan II. Spanien; der Besuch förderte die gegenseitige Annäherung zwischen beiden Staaten. Vorläufiger Höhepunkt der Entspannungspolitik zwischen Spanien und Marokko war die Unterzeichnung des "Abkommens über gute Nachbarschaft, Freundschaft und Zusammenarbeit" im Januar 1991. In ihm wurde u. a. die gegenseitige Verpflichtung zur friedlichen Lösung der territorialen Probleme festgelegt. Trotz des "Tauwetters" zwischen beiden Staaten blieben weitere Krisen nicht aus, etwa als die Autonomiestatute von Ceuta und Melilla (1994) verabschiedet wurden. Eine Eskalation der Krise konnte allerdings (auch wegen des guten persönlichen Einvernehmens von König Hassan II. und König Juan Carlos I.) verhindert werden. Madrid unterstützte auch die "Union des Arabischen Maghreb", die im Februar 1989 von Algerien, Libyen, Marokko, Mauretanien und Tunesien mit dem Ziel der politischen Stabilisierung der Region gebildet wurde. In den Regierungsjahren der konservativen Volkspartei (1996-2004) konnte ein allgemeiner Rückgang des spanischen Einflusses im Mittelmeerraum festgestellt werden. Die Inthronisation des neuen Königs Mohammed VI. (1999) weckte zwar vorübergehend auf beiden Seiten Hoffnungen, schnell stellte sich jedoch heraus, daß die ohnehin angespannten bilateralen Beziehungen durch die anhaltende illegale Einwanderung von Marokkanern nach Spanien und die spanische Unterstützung einer Volksabstimmung in der westlichen Sahara weiter verschärft wurden. Schließlich weigerte sich Rabat im Jahr 2000, das Fischfangabkommen mit der EU zu erneuern, was zu einer undiplomatischen Reaktion Aznars führte, der öffentlich "Konsequenzen" androhte. Marokko erblickte in dieser Erklärung eine Drohung und zog – nachdem es zu verschiedenen unliebsamen Zwischenfällen gekommen war – im Oktober 2001 seinen Botschafter von Spanien ab. Als die diplomatische Krise mit Marokko andauerte, verstärkte Spanien wieder seine Beziehungen mit Algerien. Auf dem euromediterranen Gipfeltreffen im April 2002 in Valencia unterzeichnete Algerien einen Assoziationsvertrag mit der EU; zustandegekommen war dieser Vertrag wesentlich aufgrund spanischer Bemühungen. Der algerische Präsident Bouteflika sprach sogar von der Herstellung einer "mustergültigen strategischen Allianz" zwischen Spanien und Algerien. Auch auf wirtschaftlichem Gebiet wurde die Zusammenarbeit intensiviert. Zum bedeutendsten Projekt wurde der Bau einer zweiten Erdgas-Pipeline, die vom algerischen Beni Saf direkt ins spanische Almerfa (nicht über marokkanisches Gebiet) gehen und 2006 abgeschlossen sein soll. Spanien bezieht 60% seines Erdgaskonsums aus Algerien. Die Verbesserung der Beziehungen Spaniens zu Algerien ging Hand in Hand mit einer Verschlechterung der Beziehungen zu Marokko: Im April 2001 war die Verlängerung des Fischereiabkommens gescheitert, im August schoben Spanien und Marokko sich gegenseitig die Schuld an der hohen Zahl "irregulärer Immigranten" zu, im Oktober wurde der marokkanische Botschafter aus Madrid abberufen, im Dezember der hispano-marokkanische Gipfel abgesagt; im Januar 2002 beklagte sich Marokko über die spanische Berichterstattung zum Saharakonflikt, im Februar protestierte Marokko gegen ein spanisches Dekret, das Lizenzen für Probe-Erdölbohrungen in kanarischen Gewässern zuließ; im Mai brachte das spanische Außenministerium seine ernste Besorgnis darüber zum Ausdruck, daß das Saharagebiet von immer mehr marokkanischen Kolonisten "besetzt" werde; Anfang Juli protestierte Rabat gegen ein spanisches Flottenmanöver vor der (spanischen) AlhucemasFelseninsel (gegenüber der marokkanischen Küste). Als im ersten Halbjahr 2002 Spanien
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Das Spanische Kolonialreich in Amerika und Afrika
den EU-Vorsitz innehatte, schlug Ministerpräsident Jos Maria Aznar vor, all jenen Ländern die europäische Entwicklungshilfe zu streichen, die ihre Grenze nicht kontrollierten und (illegale) Migranten nach Europa passieren ließen. Diese Initiative war zweifellos gegen Marokko gerichtet. Zur größten Spannung zwischen beiden Ländern kam es im Juli 2002, als die Marokkaner die vor ihrer Küste liegende (unbewohnte) Insel Perejil ("Petersilie") militärisch besetzten, um auf diese Weise ihren Anspruch auf das Eiland, das sie Leila oder Tura nennen, geltend zu machen. Nach einer knappen Woche holten spanische Streitkräfte die Handvoll marokkanische Marinesoldaten von der Petersilieninsel und hißten die spanische Flagge. Die marokkanische Regierung rief daraufhin den UN-Sicherheitsrat an und forderte den sofortigen und bedingungslosen Abzug der spanischen Streitkräfte. Rabat bezeichnete die spanische Aktion als eine "Kriegserklärung". Ein offener Krieg zwischen beiden Ländern konnte nur dank der schnellen Vermittlung durch US-Außenminister Colin Powell verhindert werden. Obwohl das gewaltsame Vorgehen der spanischen Seite in der veröffentlichten Meinung Spaniens z.T. erhebliche Kritik erfuhr, begrüßten in einer Blitzumfrage Ende Juli über 75% der befragten Spanier die Politik ihrer Regierung. Während der Krise um die Petersilieninsel wies der EU-Kommissionspräsident Romano Prodi die Marokkaner darauf hin, daß die "bevorzugten Beziehungen" zwischen Marokko und der Europäischen Union durch die illegale Besetzung der Insel beschädigt würden. Wenige Wochen vor der Krise hatte Marokko 40 Millionen € aus dem europäischen MEDA-Budget erhalten, um bessere Programme zur Kontrolle der illegalen Auswanderung von Marokkanern entwickeln zu können. Zwischen 1996 und 1999 hatte die EU Marokko Entwicklungshilfe in Höhe von 630 Millionen € zukommen lassen, für den Zeitraum 2000-2006 waren weitere 251 Millionen € an Hilfsleistungen und 323 Millionen an Darlehen von seiten der Europäischen Investitionsbank vorgesehen. Den größten wirtschaftlichen Vorteil zog Rabat jedoch aus dem im März 2000 unterzeichneten Assoziationsabkommen mit der EU, das eine graduelle Liberalisierung der Zolltarife im Lauf der folgenden zwölf Jahre vorsieht. Allein im Jahr 2001 exportierte Marokko Waren im Wert von 6,2 Milliarden € – rund 75 % seiner Gesamtexporte – in die EU und importierte von dort Güter im Wert von 7,4 Milliarden € – ca. 50 % all seiner Importe. Hintergrund der diplomatisch-militärischen Krise um die "Petersilieninsel" war die marokkanische Forderung nach Abtretung von Ceuta und Melilla sowie der Streit um die Abgrenzung der Hoheitsgewässer um die Kanarischen Inseln. Beide Streitpunkte werden von Marokko als Druckmittel gegen Spanien benutzt, um von Madrid in der Saharafrage eine marokkofreundliche Haltung zu ertrotzen: Spanien soll endlich der Annexion des Saharagebiets durch Marokko zustimmen und seine Unterstützung der Selbstbestimmungsansprüche der saharahui aufgeben. Die Forderung nach Rückgabe von Ceuta und Melilla taucht regelmäßig in marokkanischen Erklärungen auf. Zumeist ist die Rede von "besetzten Städten", womit die marokkanische Regierung sämtliche spanische Ansprüche auf die Orte, die in Afrika (und vor seinen Küsten) liegen, leugnet. Andererseits läßt Spanien im Konflikt mit Marokko keinen Zweifel daran, daß es an der "Hispanität" von Ceuta und Melilla nicht rütteln läßt. Politisch und verfassungsrechtlich seien die beiden Städte "integraler Bestandteil Spaniens", militärisch sind sie gut gesichert, wirtschaftlich sollen sie weiter konsolidiert werden.
Der Neo-Kolonialismus in Afrika
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Ceuta ist seit 1640 spanisch (zuvor war es portugiesisch), es umfaßt 20 km 2 und zählt heute rund 75.000 Einwohner; Melilla wurde 1597 nach internen Auseinandersetzungen zwischen Arabern und Berbern von Spanien erobert, es umfaßt 12 km 2 und weist 68.000 Einwohner auf. Beide Städte waren schon in spanischem Besitz, als es noch keinen marokkanischen Staat gab. Das ist bis heute das wichtigste völkerrechtliche Argument der spanischen Regierung für die Zugehörigkeit der Städte zu Spanien. Inzwischen wohnen in beiden Städten zunehmend mehr Menschen arabisch-marokkanischer Herkunft (in beiden Fällen rund ein Drittel), allerdings haben die meisten von ihnen inzwischen die spanische Staatsbürgerschaft erhalten, nachdem es 1985/86 zu erheblichen Unruhen (mit Toten und Verletzten) im Kampf der ansässigen Marokkaner um das Recht auf die spanische Staatsangehörigkeit gekommen war. Spanien läßt sich seine Besitzungen in Nordafrika durchaus etwas kosten, finanziell hängen beide Städte am Madrider Subventionstropf. Vom Jahresetat Ceutas in Höhe von 230 Millionen € etwa steuert der spanische Staat 120 Millionen bei, rund 52 %. Industrie, Landwirtschaft und Bauwesen erwirtschaften zusammen rund acht% des Bruttosozialprodukts, die übrigen 92 % werden von "Dienstleistungen" aufgebracht. Die spanische Regierung verfolgt das Ziel, die "ökonomische Abhängigkeit" der Städte von Marokko zu verringern, aus eigener Kraft neue Arbeitskräfte zu schaffen und mehr private Investitionen anzulocken; für das Haushaltsjahr 2003 etwa erhielt Ceuta rund 90 Millionen € aus der Madrider Staatskasse zugesprochen, um damit vor allem den Bau eines Containerhafens zu finanzieren. Beide Städte sind Freihäfen und Sondersteuergebiete; trotzdem hat sich nur wenig produzierendes Gewerbe dort angesiedelt. In beiden Städten ist der Handel mit Abstand der wichtigste Wirtschaftszweig. Nach Ceuta überqueren täglich 20.000 Personen die Grenze, nach Melilla sind es sogar 30.000. Sie versorgen sich dort mit zollfreien Waren aller Art, entweder zum Eigenkonsum oder um sie jenseits der Grenze wieder gewinnbringend zu verkaufen. Zehntausende (Schätzungen sprechen von 45.000 Personen) leben vom lukrativen Schmuggel von Haschisch, Tabak, Getränken oder Lebensmitteln. Er soll sich – zwischen den zwei Exklaven und Marokko – jährlich auf 1,5 Milliarden € belaufen. Eine Studie des spanischen Landwirtschaftsministeriums spricht davon, daß der illegale Handel dreimal so hoch ist wie der legale. Die Behörden von Ceuta und Melilla haben nicht nur gegen den Schmuggel anzukämpfen, sondern auch gegen die illegale Einwanderung. In Ceuta z. B. sind allein in den ersten sechs Monaten des Jahres 2004 von der Guardia Civil rund 5.000 Versuche vereitelt worden, illegal in die Stadt zu kommen. Beide Exklaven schützen sich mit Stacheldrahtzäunen: Der von Ceuta ist 8,2 km, der von Melilla 12 km lang. Momentan sind beide noch drei Meter hoch; sie sollen allerdings in die Höhe ausgebaut werden, um das Überklettern weiter zu erschweren. Sowohl die hohen spanischen Investitionen als auch die politischen Erklärungen der letzten Jahre lassen deutlich werden, daß Spanien an seinen nordafrikanischen Vorposten auch in Zukunft festhalten will.
n Ausblick: Alte Probleme und ein Neuanfang Die Krise zwischen Spanien und Marokko, deren Höhepunkt die Auseinandersetzung um die "Petersilieninsel" war, machte sich in vielen Bereichen bemerkbar, auch im finanziellen. Im Jahr 2002 fiel die Finanzhilfe Spaniens für Marokko um ca. 40% niedriger aus als
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X Das Spanische Kolonialreich in Amerika und Afrika
ursprünglich geplant. Davon betroffen waren mehrere Entwicklungsprojekte, u. a. eine ländliche Stromversorgung, ein Straßenteilstück, eine Schule oder Wasserversorgungsanlagen für die Landwirtschaft. Beiden Seiten war klar, daß sie wieder aufeinander zugehen mußten. Vorsichtige Wiederannäherungsschritte erfolgten bereits im Spätherbst 2002: Nach den marokkanischen Wahlen gratulierte Ministerpräsident Aznar dem neuen Regierungschef in Rabat, Driss Jettou, und drückte die Hoffnung auf einen Neuanfang aus. Im Dezember öffnete König Mohammed VI. die marokkanischen Fischfanggründe für die durch die Prestige-Umweltkatastrophe stark geschädigte galicische Fischfangflotte. Im Dezember 2003 versprach Spanien Rabat Entwicklungshilfe in Höhe von 390 Millionen € (bis 2007). Auch in vielen anderen Punkten kamen sich beide Regierungen wieder näher: bei der Bekämpfung der illegalen Einwanderung etwa oder bei der Gewährung von Bohrrechten an die spanische Erdölfirma Repsol. Keine Fortschritte gab es allerdings in der Saharafrage. Anfang 2004 unterbreitete Marokko zwar den Vereinten Nationen einen Alternativplan zur Zukunft der Sahara, der eine (nur sehr beschränkte) Autonomie für die frühere spanische Kolonie vorsieht; dieser Vorschlag führte die Diskussion aber nicht weiter. Erschwert wurde die Situation außerdem durch den Rücktritt, im Juni 2004, von James Baker von seinem Amt als UNO-Sonderbeauftragter für die Westsahara. Ein Neubeginn in den bilateralen Beziehungen schien sich nach dem Regierungswechsel in Spanien im März/April 2004 anzukündigen. Der neue sozialistische Ministerpräsident Jose Luis Rodrfguez Zapatero unternahm seine erste Auslandsreise demonstrativ nach Casablanca, sprach von einer "strategischen Beziehung" mit Marokko und definierte als wichtigste Gesprächsthemen den gemeinsamen Kampf gegen den Terrorismus sowie eine Entwicklungspolitik, die beiden Seiten nütze. Ähnlich drückte sich Mohammed VI. aus. Die Probleme zwischen beiden Ländern waren zwischenzeitlich nicht weniger, sondern durch das Attentat vom 11. März in Madrid mehr geworden. Die gemeinsame Bekämpfung des Terrorismus bekam vor dem Hintergrund der Tatsache, daß die meisten Terroristen des Madrider Massakers vom März 2004 marokkanischer Herkunft waren, einen ganz anderen Stellenwert; der Islamismus hatte schon im Mai 2003 in Casablanca ein Blutbad angerichtet; mit seinen "Schläferzellen" aus maghrebinischen "Afghanistanveteranen" und ausgewanderten Extremisten strahlt er über Spanien nach Mittel- und Nordeuropa aus; der von den Haschischfeldern des Rif ausgehende Rauschgifthandel hat in den letzten Jahren weiter zugenommen, ebenso die irreguläre Völkerwanderung aus Schwarz- und Nordafrika über die Kanarischen Inseln und Spanien nach Europa. Verglichen mit diesen Hauptproblemen klingen die alten Reizthemen wie Fischerei, die Zukunft der Exklaven und die Reibereien wegen der kleinen vorgelagerten Felseninseln wie Nebensächlichkeiten. Auch mit dem Saharaproblem sah sich der neue spanische Ministerpräsident schnell konfrontiert. Da sich seine ersten Erklärungen etwas unverbindlich anhörten, erfuhr er sofort heftige Angriffe von seiten des Frente Polisario, der argwöhnte, der sozialistische Regierungschef habe die traditionelle spanische Unterstützung des Selbstbestimmungsrechts der saharahui preisgegeben, um sich Rabat und Frankreich anzunähern. In der Tat setzte die neue Westsahara-Politik von Rodrfguez Zapatero andere Schwerpunkte: Nach dem Scheitern der verschiedenen Baker-Pläne mahnte er eine "kreative Lösung" der UNO an, bestand
Literatur
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aber nicht mehr auf einem Referendum der saharahui; damit näherte er sich etwas der französischen Position an, die in den letzten Jahrzehnten stets die Politik Rabats unterstützt hatte. Eine enge Zusammenarbeit beschlossen Madrid und Rabat noch auf einem anderen Gebiet: Beide Staaten wollten unter dem Dach der UNO eine gemeinsame Friedenstruppe 2004 nach Haiti senden — ein Novum in der bilateralen Geschichte beider Länder. So erfreulich diese Entspannung zwischen Spanien und Marokko ist, darf sie andererseits nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Hauptprobleme fortbestehen: Es geht um die Kontrolle der (legalen und illegalen) Einwanderung, um die Zukunft der Westsahara mit ihrem großen ökonomischen Potential (Bodenschätze, Fischgründe, Erdölfunde), um die Bekämpfung des Drogenhandels. In Spanien leben heute rund 600.000 Moslems, von denen 90% Marokkaner sind. Deren Rimessen in ihr Heimatland sind die wichtigste Devisenquelle Marokkos. Die Situation dieser Einwanderer ist für beide Länder von größter Bedeutung. Spanien ist inzwischen zum wichtigsten Einwanderungsland in der EU geworden: 2003 registrierte das Land 600.000 Immigranten, die überwiegend aus (Nord-)Afrika (und Lateinamerika) kamen. Madrid weiß, daß die EU auf die Mitarbeit von Marokko angewiesen ist, um den Immigrantenstrom zu kontrollieren und zu kanalisieren. Vor allem aber: Spanien (und die EU insgesamt) muß ein vitales Interesse an der ökonomischen und sozialen Entwicklung Marokkos haben, um das Land politisch zu stabilisieren, die Reformkräfte zu unterstützen und den radikalen Kräften den Wind aus den Segeln zu nehmen. Eine europäische Politik, die in Marokko die demokratische Öffnung, den wirtschaftlichen Aufschwung und die soziale Entwicklung fördert, liegt daher in unser aller Interesse.
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X Das Spanische Kolonialreich in Amerika und Afrika
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WIRTSCHAFT
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XI Die Wirtschaft in der Neuzeit (bis 1975)
1.
Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung
Die europäische Wirtschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts beginnt und endet mit Agrarkrisen. Die eine setzte gegen Ende der napoleonischen Kriege ein und dauerte bis 1830, die andere begann um 1880 und betraf vor allem Getreide, dessen Preis infolge umfangreicher Importe aus Übersee und Rußland rapide verfiel. Die gegen 1817 einsetzende große Agrarkrise äußerte sich ebenfalls in einem dramatischen Preisverfall. War der Getreidepreis während des 18. Jahrhunderts kontinuierlich angestiegen, halbierte er sich nunmehr innerhalb weniger Jahre. Setzt man den Index der Weizenpreise in Zentral- und Westeuropa für den Durchschnitt der Jahre 1813 bis 1817 mit 100 an, betrug er 1825 nurmehr 51, d.h. fast nur noch die Hälfte. In Spanien ist ein ähnlicher Preisverfall zu registrieren, der bei einigen Produkten sogar noch ausgeprägter war (Garrabou 1975). Ein gravierender Belastungsfaktor zu Beginn des 19. Jahrhunderts war der Zusammenbruch des Kolonialhandels. Der spanisch-amerikanische Handel lag seit 1797 darnieder und konnte sich in der Folgezeit, sieht man von der kurzen Zeitspanne 1802/03 ab, nicht mehr erholen. Von den 34 Jahren zwischen 1779 und 1812 war Spanien 22 Jahre lang im Kriegszustand — entweder mit Frankreich oder mit England. Der Zusammenbruch des kolonialen Handelssystems ist daher nicht auf die lateinamerikanischen Unabhängigkeitsbewegungen zurückzuführen, sondern reicht weiter zurück. Er ist Ausdruck der Unfähigkeit Spaniens, sich auf den Weltmeeren gegen seine Gegner durchzusetzen. Die Folgen dieses Handelseinbruchs mußten weitreichend sein, da es über die Abhängigkeit Spaniens, insbesondere Kataloniens, von seinem Kolonialmarkt gerade in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts — in Zusammenhang mit den bourbonischen Reformen — keinen Zweifel gibt (Garcia-Baquero 1972; Delgado u. a. 1986). Die ökonomische Folge des Kolonialverlustes war der Zwang zur Umorientierung der Wirtschaftsaktivität auf den spanischen Binnenmarkt. Dieser aber bestand aus einer Vielzahl lokaler, allenfalls regionaler landwirtschaftlicher Kleinmärkte inmitten einer primär subsistenzorientierten Agrarwirtschaft. Überregionalen Handel mit Landwirtschaftsprodukten gab es nur in einigen Küstengebieten und im Versorgungsnetz um die Landeshauptstadt. Zwischen dem kastilischen Binnenland und den Küstenregionen bestand demgegenüber kein kontinuierlicher Handel (Fontana 1975). Seit infolge der europäischen Kriege die Verbindung Spaniens mit den Überseekolonien weitgehend unterbrochen war und nach 1808 die Abfallbewegung eingesetzt hatte, verschlechterte der unzulängliche Entwicklungsstand des spanischen Binnenmarktes die ökonomische Situation der Handels- und Industriebourgeoisie ganz erheblich, da das Ancien Regime keine "Kompensation" für den Verlust des Kolonialmarktes anzubieten hatte. Damit zerbrach aber der stillschweigende Konsens, der im 18. Jahrhundert zwischen Grundherren, Bourgeoisie und Ancien Reime bestanden hatte. Während die Landwirtschaft
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XI Die Wirtschaft in der Neuzeit (bis 1975)
weitgehend der Aristokratie und Kirche vorbehalten geblieben war, hatte die Bourgeoisie den Handel mit Lateinamerika betrieben. Das Ancien Regime überließ den katalanischen Textilfabrikanten monopolartig den Kolonialmarkt, wofür diese im Gegenzug das absolutistische System unterstützten und politischen Ambitionen entsagten. Dieser ökonomischpolitische Konsens hatte aber nur Gültigkeit, solange das Regime der Handels- und Industriebourgeoisie den Kolonialmarkt sichern konnte. Als diese "Geschäftsgrundlage" entfiel, das Außenhandelssystem zusammenbrach und damit die ökonomische Basis des Ancien Regime erschüttert wurde, setzte in der spanischen Bourgeoisie ein Bewußtwerdungsprozeß ein, der allmählich zu der Überzeugung führte, daß das politische System selbst das allgemeine Wachstum verhinderte. Die notwendige Wirtschaftsentwicklung konnte nicht in einem Regime erfolgen, welches das System der "Toten Hand", der Majorate und grundherrschaftlicher Privilegien aufrechterhielt. Daher mußten die bürgerlichen Kreise nicht nur mit dem grundherrschaftlichen Landwirtschaftssystem, sondern darüber hinaus und vor allem mit dem absolutistischen Staat in Konflikt geraten, der die Aufrechterhaltung der ineffizienten Agrarstruktur politisch ermöglichte. Im Verlauf des einsetzenden Prozesses gaben Händler und Fabrikanten ihre Unterstützung der traditionellen Monarchie auf, nachdem deutlich geworden war, daß der absolutistische Staat nicht in der Lage war, die ökonomischen und politischen Reformen durchzuführen, die zur Herausbildung eines "nationalen" Marktes erforderlich gewesen wären (Fontana 1975). Die wichtigste Rationalisierungsmaßnahme, zugleich eine der beachtenswertesten Leistungen der Regierung der Moderados, war die Steuerreform von Alejandro Mon und Santillän aus dem Jahr 1845, die nahezu unverändert bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in Kraft blieb. Die pragmatische und maßvolle Reform erfaßte aber nur rund 50% der Abgaben, da die andere Hälfte des Steueraufkommens aus Zöllen und Staatsmonopolen (Tabak, Stempelmarken) stammte. Die neuen Veranlagungskategorien, die nunmehr für das ganze Staatsgebiet galten, waren die Grundsteuer, die Industrie- und Handelsabgaben, die Konsum-, Hauszins- und Hypothekensteuer. Obwohl das Mon-Santillän-System sozial unausgeglichen war und die Steuerabschöpfungsmöglichkeiten bei weitem nicht nutzte, etablierte es doch eine einigermaßen stabile Steuereintreibungspraxis, die erst 1899 durch die Reformen von Raimundo Fernändez Villaverde um die Besteuerung von Einkünften aus Kapital und Arbeit ergänzt wurde. Parallel zur Finanz- und Steuerreform läßt sich in der isabellinischen Ära auch eine Entwicklung des Bankwesens feststellen, das insgesamt allerdings — vor allem im Vergleich mit Mitteleuropa — unterentwickelt blieb. Noch zu Zeiten Ferdinands VII. war 1829 die "Bank von San Fernando" (Banco Espariol de San Fernando) als offizielle Emissionsbank gegründet worden; sie trat an die Stelle der 1782 gegründeten "Bank von San Carlos" (Banco Nacional de San Carlos), die seit der Jahrhundertwende praktisch bankrott war, nachdem ihr die Regierung Karls IV. die Bewirtschaftung der Staatsschuld, der vielzitierten vales reales, übertragen hatte. Wirtschaftlich betrachtet waren die Jahre von 1839 bis 1866 im wesentlichen eine Phase des Aufschwungs, die durch die Krisen von 1847/49 und 1857/59 unterbrochen wurde. Seit Beginn der 60er Jahre waren die Krisensymptome jedoch, vor allem in der Baumwollindustrie, unübersehbar. Die Lieferschwierigkeiten von Rohbaumwolle aus den USA wegen des dortigen Bürgerkrieges führten zu einer Produktionskrise in Katalonien, die noch
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dadurch verstärkt wurde, daß ein Teil der Kapitalinvestitionen in den Eisenbahnbau floß. In den 60er Jahren war in der katalanischen Textilindustrie — vor allem im Vergleich zur starken Entwicklung der Jahre 1840 bis 1850 — eine Stagnation zu registrieren (Gömez Mendoza 1982). Die wichtigste Tätigkeit der Kreditgesellschaften bestand zu jener Zeit darin, enorme Mengen von Eisenbahnaktien auf den in- und ausländischen Finanzmärkten zu plazieren. In Anbetracht dieses Zusammenhangs ist es nicht verwunderlich, daß die internationale Finanzkrise von 1866, die zur Unterbrechung des ausländischen Investitionsflusses nach Spanien führte, auf den spanischen Eisenbahnbau zurückwirken mußte. Jetzt rächte sich, daß der Eisenbahnbau von Anfang an spekulativ angelegt war und das Produktionsniveau des Landes dem raschen Verkehrsmittelausbau nicht entsprach. Der Ertrag der Eisenbahnen hatte zwischen 1861 und 1868 um 15 % abgenommen, die Zahl der Passagiere und der transportierten Güter war zurückgegangen, was auf die zu hohen Tarife und die Schrumpfung der gesamtwirtschaftlichen Tätigkeit zurückzuführen war (Fontana 1975, 110-115). Die Spekulation mit Eisenbahnaktien war nur ein Aspekt — wenn auch im Jahrzehnt vor der Septemberrevolution von 1868 der wichtigste — des ökonomischen Verhaltens der bürgerlichen Schichten. Diese investierten nicht in Industrieunternehmungen, sondern außer in Eisenbahnaktien in Immobilien und an der Börse. In Madrid übernahmen seit der zweiten Hälfte der 1850er Jahre private Sparkassen mit Börsenspezialisierung (tontineras) indirekt die Finanzierung des Eisenbahngeschäftes; die bekanntesten waren La Tutelat; EI Porvenir de las Familias, Montepio Universal, La Nacional. Die Fragilität dieser Unternehmungen bestand darin, daß sie an den Konjunkturverlauf der Börse gebunden waren. Schon vor Mitte der 60er Jahre breitete sich allmählich Mißtrauen gegenüber diesen Institutionen aus. Zugleich verlagerte sich der Investitionsschwerpunkt der Mittelschichten auf Immobilien. Mit dem Börsenkrach von 1866 gingen die meisten Ersparnisse verloren. Die Immobilienspekulation nahm demgegenüber sprunghaft zu. Sie hatte ihren Ursprung in Mendizäbals Desamortisation, durch die vier Fünftel der städtischen Liegenschaften, die zuvor der "Toten Hand" gehört hatten, auf den freien Markt geworfen worden waren. Verstärkt wurde die Spekulation durch den Bevölkerungsanstieg der Städte, insbesondere Madrids, die erforderlichen Baumaßnahmen und den Anstieg der Mieten. Eine Unmenge privater Sparkassen fungierte als Immobiliengesellschaften. Die Grundstückspreise in der Hauptstadt stiegen dramatisch. Setzt man den Index für das Jahr 1848 mit 100 an, hatte er 1863 auf dem Höhepunkt der Preisentwicklung 448 erreicht! Die Krise von 1866 beendete die Aufwärtsentwicklung auch auf dem Immobiliensektor, die überhitzte Konjunktur brach zusammen. Eine deutliche Rezession wurde eingeleitet. Kostete ein Quadratfuß (12,88 Quadratfuß = 1 Quadratmeter) Land 1865 noch 144 reales, so 1866 nur noch 89 und 1867 sogar nur 73,5 reales. Viele Gesellschaften gingen bankrott, kleine und mittlere Sparer verloren massenhaft ihre Investitionen. Die übereilte Liquidierung zahlreicher Gesellschaften führte andererseits dazu, daß solventere (Groß-)Investoren selbst aus der Liquidation der Firmen noch Kapital schlugen. Der Zusammenbruch des Börsen- und Immobiliengeschäfts brachte daher für viele Investoren hohe Verluste, aber für einige, z.B. die Sociedad Espatiola de CrMito Comercial oder den Banco Hipotecario de Espafia, auch zusätzliche Akkumulationsmöglichkeiten (Bahamonde 1981).
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Die Krise, die schließlich in die Revolution von 1868 mündete, war globaler Art und umfaßte viele Bereiche. Der vom Eisenbahnbau ausgehende Impuls hatte weite Sektoren der Wirtschaft erreicht, und die "nationale Regeneration" war in eine "desarrollistische" Mystik gemündet, die sich nationalpolitisch in die Vorstellung eines mächtigen Vaterlandes umsetzte. Ministerpräsident O'Donnell konzentrierte sich auf den Bau von Kasernen und Schiffen; eine Reihe außenpolitischer Abenteuer setzte ein, die ihren Höhepunkt in der Einnahme des nordafrikanischen Tetuän fanden. Dieser abermalige "Kreuzzug" gegen die "ungläubigen" Moslems kostete über 70.000 Tote. 1866 machte sich die Krise im Eisenbahnbau bemerkbar. Der spanische Handel mit Kuba ging um ein Drittel zurück, der Außenhandel litt allgemein unter einer deutlichen Rezession, was wiederum zum Stillstand der katalanischen Webstühle führte. Da aber gleichzeitig der Krieg gegen Chile und Peru geführt wurde, sah sich Regierungschef O'Donnell zur Bewältigung der Finanznot zu einer Erhöhung der Bodensteuer um 10% gezwungen. Die Aufträge an die Werftindustrie mußten rückgängig gemacht werden, wodurch die katalanische Eisenindustrie noch tiefer in die Krise geriet. 1867 gesellte sich zu diesen Krisenerscheinungen noch eine Subsistenzkrise, der Weizenpreis erlebte den stärksten Anstieg des ganzen Jahrhunderts. Ökonomisch bildete das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts insofern einen Kontrast zur wirtschaftlichen Situation der vorangegangenen Jahrzehnte, als in einigen peripheren Landesteilen – vor allem in Katalonien und im Baskenland – ein enormer Industrialisierungsschub stattfand, der die regionalen Strukturen grundlegend veränderte. Bemerkenswert ist, daß für das 19. Jahrhundert gesamtwirtschaftlich keineswegs von Stagnation gesprochen werden kann, vielmehr dieser Zeitraum eine "wirtschaftliche Modernisierung" (SänchezAlbornoz) erlebte: Die Landwirtschaft wurde zunehmend agrarkapitalistisch betrieben, der Eisenbahnbau erlebte einen Boom, das Bankensystem entwickelte sich, die katalanische Textilindustrie erfuhr ein beachtliches Wachstum, der Bergbau erhielt nach 1868 eine stets zunehmende Bedeutung, in Asturien und später in Vizcaya entstanden schwerindustrielle Zentren, nach 1870 nahm der Außenhandel erheblich zu, der Telegraph wurde eingeführt, das Steuersystem und die Staatsverwaltung wurden rationalisiert, das Bildungssystem erfuhr Reformen, die Urbanisierung nahm zu – alles Indizien einer Wirtschaft und Gesellschaft in Bewegung. Und trotzdem: Während des gesamten 19. Jahrhunderts blieb die Landwirtschaft der vorrangige Wirtschaftszweig, der auch im wesentlichen die soziale Struktur des Landes bestimmte. Die Beschäftigungslage entsprach dabei der Bevölkerungssituation auf dem Land. Bei dem Versuch, die Gründe für die späte und dann nur zögernde Industrialisierung festzustellen, verweisen nahezu alle Autoren auf den unterentwickelten Agrarbereich. Die Desamortisation bewirkte keine "Agrarrevolution" im technisch-produktiven Sinne. Die Landwirtschaft blieb weiterhin extensiver Bewirtschaftung unterworfen, die Latifundienstruktur wurde sogar ausgeweitet. Die Knappheit an heimischem Kapital verhinderte, daß neue Bewirtschaftungsformen eingeführt wurden. Die landwirtschaftliche Produktivität konnte nicht gesteigert werden. Der Fehlschlag der "Agrarrevolution" wirkte sich mithin negativ auf die Entwicklung der Industrie aus (Nadal 1977, 398). Der negative Saldo im Industriebereich ist vor allem in jenen Regionen festzustellen, die zu Beginn des Jahrhunderts relativ gute Entwicklungschancen aufwiesen, dann aber ihren Entwicklungsvorsprung einbüßten und, ökonomisch betrachtet, zurückblieben. Andalusien
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etwa erlebte im Verlauf des 19. Jahrhunderts einen Prozeß relativer Peripherisierung im Verhältnis zu den spanischen Entwicklungszentren. Gekennzeichnet war dieser Prozeß durch die enge Interaktion von landwirtschaftlichen Strukturschwächen und Konjunkturkrisen einerseits, von De-Industrialisierung und ihren sozioökonomischen Folgen andererseits. Die südliche Region hat daher, trotz ihrer reichen Bodenschätze und einiger regional konzentrierter protoindustrieller Ansätze, keinen industriell getragenen Wirtschaftsaufschwung erlebt. Statt dessen setzte nach 1860 ein kontinuierlicher Prozeß der De-Industrialisierung ein, der – zusammen mit den weiteren Faktoren: landwirtschaftliche Strukturschwäche, traditionelle Dominanz der Beschäftigung landloser Arbeiter in latifundistischen Großbetrieben, hoher Grad an Konfliktivität, Dauerarbeitslosigkeit und Abwanderung, ausländische Enklaven im Bergbau, institutionelle Barrieren wie etwa protektionistische Zölle, Fehlen einer ausgeprägten Unternehmermentalität – entscheidend zur heutigen relativen Unterentwicklung Andalusiens beigetragen hat. Der entscheidende Faktor zur Erklärung der Ablösung des Südens durch den Norden sind die Produktionskosten, vor allem die teuren Brennstoffe. In Mälaga betrug wegen der überdurchschnittlich hohen Kohlekosten 1865 der Abgabepreis für eine Tonne Roheisen schließlich 158, in Oviedo nur 104 Peseten. Der asturische Koks leitete damit den seit den 1860er Jahren unaufhaltsamen Niedergang der andalusischen Eisenindustrie ein. Bevor sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Asturien und im Baskenland die Schwerindustrie entwickelte, hatte Katalonien an der Spitze der wirtschaftlichen Entwicklung gestanden. Auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die katalanische (Leicht-)Industrie insgesamt positiv. Die erste Phase der Restaurationsära wurde sogar als "Goldfieber" (febre d'orj bezeichnet. In jenen Jahren besaß die Provinz Barcelona noch über 40% der spanischen Industrie. Die Bedeutung des öffentlichen Sektors für die wirtschaftliche Modernisierung wird von den meisten Autoren kritisch beurteilt. Insgesamt behinderte die protektionistische Außenhandels- und Wirtschaftspolitik der Regierung die Entstehung einer konkurrenzorientierten Wirtschaft, die unternehmerische Initiative und die optimale Ressourcenzuteilung, nachdem der Staat sich sowohl als Steuereintreiber als auch in seiner Rolle als Überwacher der wirtschaftlichen Spielregeln als ineffizient erwies. Im Industrialisierungsprozeß spielte daher der Staat eine untergeordnete Rolle. Seine geringe Steuereintreibungskapazität und seine Politik öffentlicher Arbeiten ließen keine Kapitalmittel zur Finanzierung der industriellen Entwicklung übrig. Einige Autoren behaupten sogar, daß der Staat, der von einer konservativen Oligarchie hegemonisiert wurde, zu einem der retardierenden Faktoren in der spanischen Industrialisierung wurde (Gonzälez Portilla 1985, 28). Die geographisch bedingte Zweiteilung der spanischen Wirtschaft in eine sich industrialisierende Peripherie und eine nach wie vor agrarisch strukturierte Hochebene ist als "duale Wirtschaft" (Sänchez-Albornoz) bezeichnet worden. Die späte und dann nur zögerliche Industrialisierung wurde, soviel läßt sich zusammenfassend sagen, primär mit Staatsanleihen im Ausland und ausländischen Direktinvestitionen in Spanien eingeleitet. Dies gilt vor allem für den Aufbau der Bergbau- und Schwerindustrie sowie für den Eisenbahnbau. Spaniens Stellung als auslandsabhängiges "halbkoloniales" Land wird noch deutlicher durch den Hinweis, daß der Export von Rohstoffen (Landwirtschaftsprodukte, Erze und Metalle) die Außenhandelsbilanz des Landes bestimmte. Der Eigenkapitalmangel hing mit dem per-
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manenten Budgetdefizit des Staates zusammen, das den Rückgriff auf Kredite erforderlich machte. Um diese Kredite zu erhalten, war der Schuldzinssatz des Staates hoch, was einerseits eine Kapitalanlage in Staatsschuldverschreibungen attraktiver als in einem produktiven Wirtschaftszweig erscheinen ließ, andererseits die Kredite aller Art zum Schaden der Gesamtwirtschaft verteuerte. Die Staatsschuld wurde somit als Hebel für die Kapitalakkumulation betrachtet; Spekulation mit Staatspapieren (und Eisenbahnaktien) war die lukrativste Investition. Für den spanischen Industrialisierungsprozeß im 19. Jahrhundert haben Historiker einige Grundcharakteristika herausgearbeitet, die den spanischen vom mitteleuropäischen "Normalfall" unterscheiden. Zuerst ist die starke Regionalisierung zu betonen, da die Industriestruktur durch ihre nahezu ausschließliche Konzentration auf die Peripherie des Landes gekennzeichnet blieb. Sodann ist — von der Ausnahme der katalanischen Textilindustrie abgesehen — auf die Abhängigkeit der industriellen Expansion von ausländischen Initiativen und Investitionen zu verweisen, was wiederum mit dem Mangel an spanischem Eigenkapital zusammenhing. Zwischen 1848 und 1881 wurden in Spanien 3 Milliarden Peseten an Auslandskapital investiert, von denen 1,5 bis 2 Milliarden in den Eisenbahnbau flossen. Die Abhängigkeit vom Ausland bestand auch in bezug auf Rohstoffe (Nahrungsmittel und Kohle), Produktionsmittel und technische Neuerungen. Vor dem Ersten Weltkrieg beruhte der spanische Außenhandel immer noch auf dem Verkauf von Rohstoffen und Bodenschätzen und dem Ankauf von Fertigwaren. Die Spulen der Baumwollindustrie etwa waren zu 98% ausländischer Herkunft. Das Volkseinkommen von 10,7 Milliarden Peseten im Jahr 1914 wurde zu 38,4% aus Landwirtschaft und Viehzucht und nur zu 25,9% aus Bergbau, Industrie und Handwerk erwirtschaftet. Schließlich wurde die ausländische Konkurrenz durch das Prinzip des "reservierten Marktes" und hohe Schutzzölle eliminiert. Damit ordnete sich die spanische Industrie allerdings den Fluktuationen der landwirtschaftlichen Produktion und den sehr beschränkten Konsummöglichkeiten des Binnenmarktes unter. Spanien blieb im wesentlichen ein Agrarland. Der Erste Weltkrieg zog auch in der spanischen Wirtschaftsentwicklung eine deutliche Zäsur. Zunehmende Kapazitäten in der Rohstoffgewinnung bei Drosselung der Importe von Bodenschätzen und ein intensives Anwachsen der verarbeitenden Industrie mit einem hohen Exportausstoß waren Kennzeichen einer forcierten Industrialisierung. Die wirtschaftliche Hochkonjunktur kam jedoch fast ausschließlich Kaufleuten und Spekulanten zugute. Der Boom der Weltkriegsjahre führte nicht zu einer nachhaltigen Belebung der spanischen Wirtschaft, da die Handelsgewinne kaum als Kapitalinvestition für den Ausbau der Unternehmen verwendet wurden. Preissteigerungen und sinkende Kaufkraft bewirkten nach dem Krieg einen deutlichen Produktionsrückgang. Aus der Weltkriegserfahrung, daß die Gründung von Industrien nicht rein konjunkturbedingt sein dürfe, sondern einer soliden Existenzbasis bedürfe, förderte Miguel Primo de Rivera (1923-1930) die Industrialisierung, gründete aber zugleich einen zentralen Ausschuß zur Überwachung und Koordinierung der industriellen Unternehmungen. Der 1924 geschaffene Consejo de la Economia Nacional erarbeitete einen nationalen Wirtschaftsplan, um entgegengesetzte Wirtschaftsinteressen auszugleichen. Staatlicher Dirigismus sollte die wirtschaftliche Entwicklung leiten. Die Erdölversorgung wurde zum Staatsmonopol erklärt und 1928 der Compariia Arrendataria del Monopolio de Petröleo S.A. (CAMPSA) übertragen.
Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung
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Die Wirtschaftsentwicklung zur Zeit der Republik (1931-1936) litt unter den heftigen Wechselfällen der Politik und den verspäteten Folgen der Weltwirtschaftskrise, die sich allerdings wegen der relativ geringen Verflechtung der spanischen mit der Weltwirtschaft nicht durchschlagend auswirkte. Die Abwertung der Pesete verhinderte den Preisabfall, die guten Ernteerträge von 1932 und 1934 hielten die Kaufkraft ziemlich konstant. Die Förderung von Mineralien erfuhr einen starken Rückgang, auch die Produktion der Eisen- und Stahlindustrie sank. Die 1931/32 im Bergbau und der Metallindustrie einsetzende Wirtschaftskrise erreichte 1933 auf gesamtwirtschaftlichem Sektor, im Finanzbereich und in der Entwicklung des Volkseinkommens ihren Höhepunkt, wurde allerdings durch die Entwicklung der agrarischen Expansion und der Verarbeitungsindustrie für Landwirtschaftsgüter bis zu einem gewissen Grad neutralisiert. Die strukturellen Hauptschwierigkeiten der spanischen Wirtschaft — die negative Handelsbilanz, das Agrarproblem, die Arbeitslosigkeit und die Textilkrise — wurden im Bürgerkrieg z.T. potenziert. z.T. auf andere Sektoren verlagert. Die Wirtschaft in der republikanischen Bürgerkriegszone erfuhr durch revolutionäre Erschütterungen tiefgreifende Änderungen ihrer Struktur, die durch neue Produktions- und Organisationsformen gekennzeichnet waren. Die neuen Schwierigkeiten lagen auf dem Gebiet der Rohstoffbeschaffung und des Produktionsabsatzes; sie betrafen die Arbeitslosigkeit sowie Verpflegung und Unterbringung von Flüchtlingen; Inflation und Preissteigerungen gehörten ebenso dazu wie der drastische Rückgang der Handelstätigkeit. Der Handel zwischen den beiden Kriegszonen war unterbrochen. Da die Nationalisten von Anfang an den größten Teil der Agrarzonen kontrollierten, war für die bevölkerte republikanische Zone die Versorgung mit Lebensmitteln eines der Hauptprobleme. Durch den Bürgerkrieg wurde der größte Teil der Produktionsanlagen zerstört; 1940 war das Volkseinkommen auf den Stand von 1914 zurückgefallen. Zwischen 1939 und 1959 betrieb Spanien eine Autarkiepolitik im Sinne einer radikalen Importsubstitution und der systematischen Reduktion der Weltmarktverflechtung in allen Bereichen. Die importsubstituierende Industrialisierung sollte das Land von Einfuhren unabhängig machen und die Grundlagen für eine verhältnismäßig arbeitsteilige und gegliederte, am inneren Markt ausgerichtete Produktionsstruktur schaffen. Die Bereiche, in denen die industrielle Konzentration sehr ausgeprägt war (Stromerzeugung, Eisen-, Zement-, Kunstfaser-, Kunstdünger-, Automobilindustrie), unterlagen nach 1939 staatlicher Lenkung mit Höchstpreisen. Obwohl Spanien nicht am Zweiten Weltkrieg teilnahm, erlebte das Land als Folge des Bürgerkrieges, der politischen Isolierung durch das Ausland und des Ausschlusses von der Marshall-PlanHilfe nahezu zwei Jahrzehnte wirtschaftlicher Stagnation. Um die Politik der Autarkie durchzusetzen, griffen die Behörden in den Wirtschaftsprozeß ein. Das Ergebnis dieser Politik der Wirtschaftslenkung (bis 1958) war ein Sinken des allgemeinen Lebensstandards, eine laufende Erhöhung der Arbeitslosigkeit, Fehlinvestitionen großen Stils, Mängel in der Qualität der Industrieerzeugnisse, Stagnation von Forschung und Entwicklung, ein ungenügendes Niveau der Produktion und Produktivität sowie (durch Schwarzmärkte, Privilegierungen und Spekulationen) Untergrabung der Wirtschaftsmoral. Bis Ende der 1950er Jahre blieb Spanien ein Agrarland mit einer auf dem internationalen Markt konkurrenzunfähigen Industrie. Als 1956/57 das Scheitern der autarkistischen Wirtschaftspolitik offenkundig wurde, tiihrten die neu in die Regierung aufgenommenen Technokraten des katholischen Laien-
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ordens Opus Dei eine Änderung der Wirtschaftspolitik herbei. In der Ideologie des Opus Dei werden Kapitalismus und Katholizismus durch eine Morallehre so verknüpft, daß die aktive Arbeit in der bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ethisch überhöht wird; man hat dieser Ideologie für die Entwicklung einer bürokratisch-unternehmerischen Ethik im katholischen Spanien dieselbe Impulsfunktion zugeschrieben wie der calvinistischen Ethik für die Entwicklung des kapitalistischen Wirtschaftsgeistes. Ziel der neuen Wirtschaftspolitik war eine Rationalisierung, d. h eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit, der spanischen Wirtschaft im Rahmen der franquistischen Gesellschaftsordnung. Der Stabilisierungsplan von 1959 verursachte zunächst (bis 1962) eine starke Rezession, an die sich als Phase des wirtschaftlichen take-off eine Periode des Aufschwungs ("spanisches Wirtschaftswunder") mit starker unternehmerischer Konzentration und Zentralisation des Kapitals anschloß. Die Maßnahmen im außenwirtschaftlichen Bereich beseitigten die Autarkie und führten zur Eingliederung Spaniens ins internationale kapitalistische System. Die Reglementierung des Außenhandels wurde mit der OEEC abgestimmt. Die Produktion orientierte sich stärker am Export, der bei der gleichzeitigen Abschirmung des Binnenmarktes durch hohe Schutzzölle vom Staat intensiv gefördert wurde. Emigrationsabkommen mit europäischen Ländern förderten die Auswanderung der Reservearmee an Arbeitslosen; die Devisen aus den Emigrantenüberweisungen wiederum besserten die Zahlungsbilanz auf. Die gespaltenen Wechselkurse wurden abgeschafft, Beschränkungen für ausländische Investitionen weitgehend fallengelassen. Die drastische Abwertung der Pesete erleichterte die Exporte, zog Investitionen an und leitete den Touristenboom ein. Im Mittelpunkt des ersten der vier "Vier-Jahres-Wirtschafts- und Sozialentwicklungspläne" stand die Produktivitätsverbesserung; der zweite und vor allem der dritte Entwicklungsplan sahen unter Berücksichtigung regionaler Strukturunterschiede nicht nur Wirtschaftswachstum, sondern darüber hinaus eine bessere und "sozial gerechtere" Verteilung der Entwicklungszuwächse vor. Insgesamt hat die spanische Regionalentwicklungspolitik ihre Ziele nicht erreicht; die Wachstumsziele der Pläne 1964/67 und 1968/71 wurden zwar erfüllt, die von 1972/75 und 1976/79 jedoch erwiesen sich (infolge der Ölpreisexplosion) als zu hoch gesteckt. Hauptziele wie die Unterbrechung der Migrationsströme in den industrialisierten Norden durch Ansiedlung sogenannter "Pol-Industrien" in Entwicklungspolen und Erreichung eines größeren Gleichgewichts zwischen armen und reichen Gegenden bei den regional erzeugten Bruttosozialproduktzuwächsen erfüllten sich nicht. Seit 1974 befand sich die spanische Wirtschaft in einer schweren Krise, die durch eine Abschwächung der Produktion, mangelnde Investitionstätigkeit, hohe Arbeitslosigkeit und eine starke Inflationsrate gekennzeichnet war. Die Ursachen lagen in der zu späten Reaktion auf die Ölkrise von 1973, den Folgen der weltweiten Rezession und der abwartenden Haltung von Regierung und Unternehmern angesichts des politischen Klärungsprozesses. Der Pakt von Moncloa (Oktober 1977), ein Abkommen der Regierung mit den politischen Parteien, sollte zur Sanierung der Wirtschaft beitragen, zeitigte aber nur begrenzte Erfolge auf dem Gebiet der Außenwirtschaft und hinsichtlich der Inflation. Die Realeinkommen sanken leicht, private Investitionen nahmen nicht zu. Die Arbeitslosigkeit stieg auf 12%; die Einkünfte aus dem Tourismus waren rückläufig; die Wirtschaft registrierte Nullwachstum; die Zahlungsbilanz war negativ; das Defizit im Staatshaushalt erreichte Rekordhöhen. 1982
Die Landwirtschaft
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übernahm die sozialistische Regierung unter Felipe Gonzälez eine krisengeschüttelte Wirtschaft.
2.
Die Landwirtschaft
Im 18. und 19. Jahrhundert konnten die aus der Reconquista überkommenen Agrarstrukturen die Ernährung der zunehmenden Bevölkerung nicht mehr gewährleisten; sie behinderten zugleich die weitere Ausbreitung der Warenproduktion. 1837 wurden die Gesetze und Erlasse über die Abschaffung von Gutsherrschaft und Erbuntertänigkeit in Kraft gesetzt, so daß formal von diesem Jahr an die Arbeitskraft von feudalen Bindungen befreit war. An der desamortizaciön, der öffentlichen Versteigerung enteigneter kommunaler, staatlicher und vor allem kirchlicher Ländereien, beteiligten sich insbesondere ehemalige Großpächter, neureiche Industrielle, Angehörige der Handels- und Industriebourgeoisie sowie die alten und reichen Adelsfamilien. Es waren also die politisch und wirtschaftlich bereits einflußreiche Oberschicht und die durch die beginnende Industrialisierung reich gewordene obere Mittelschicht, die den größten Teil des zu veräußernden Landes aufkauften, so daß das Ergebnis der Desamortisation lediglich eine Erweiterung der grundbesitzenden Schicht, nicht jedoch eine Änderung der alten Sozialstruktur auf dem Lande war. Der nach Anzahl kleinste, aber ökonomisch bedeutendste Teil der neuen Agraroligarchie war der großgrundbesitzende Adel. Die wichtigsten Anbauprodukte waren Getreide, Wein, Öl und gegen Ende des 19. Jahrhunderts Gartenbauprodukte im Bewässerungsland. Während des gesamten Jahrhunderts nahm die größte Fläche der Anbau von Getreide und Hülsenfrüchten, besonders Weizen, ein. Die Weizenproduktion reichte jedoch nur in Ausnahmefällen für die Versorgung des Binnenmarktes aus. Zwischen 1860 und 1905 mußten im Jahresdurchschnitt 100.000 bis 200.000 t zusätzlich eingeführt werden. Mit der auf die Desamortisation folgenden Erweiterung der Weizenanbaufläche von 2,9 Millionen ha im Jahr 1800 auf 5,1 Millionen ha im lahr 1860 nahmen die Erträge von 6,31 dz/ha im Jahr 1800 auf 5,8 dz/ha im Jahr 1860 ab; nach 1860 verringerte sich die Anbaufläche wieder; die Ertragsleistung jedoch stieg. Tab. 7: Landwirtschaftliche Anbaufläche und Ertragsleistung 1800-1900 Anbaufläche (in 1.000 ha) 1800
1860
1900
Weizen
2.900
5.100
3.700
Getreide
6.100
9.000
7.000
400
1.200
1.450
859
1.360
Wein 01
Produktion (in 1.000)
dz:
hl:
Jahresertrag pro ha
1800
1860
1900
1800
1860
1900
18,3
29,6
25,7
6,31
5,80
6,92
39,5
55,7
51,5
6,47
6,20
7,06
3,8
10,3
21,6
9,62
9,00
14,88
0,7
1,4
2,1
-
1,60
1,80
1)er Weinbau dehnte sich aus. Von 1860 bis 1900 nahmen die Weinbaugebiete von 1,2 Millionen ha auf 1,45 Millionen ha zu. Die Ertragsleistung stieg im gleichen Zeitraum von 0 hl/ha um über 60 % auf 14,88 hl/ha, die Gesamtproduktion von 10,3 Millionen ha um
252
XI Die Wirtschaft in der Neuzeit (bis 1975)
100% auf 21,6 Millionen ha. Die Anlage neuer Weinbaukulturen hing damit zusammen, daß die französischen Weinberge verheerende Schäden durch die Reblausplage (seit 1865) davongetragen hatten. Die fast monopolartige Stellung des spanischen Weinhandels auf dem Weltmarkt brach jedoch zusammen, als die Reblaus nach 1878 auch über die Pyrenäen wanderte und sich in den folgenden 15 Jahren allmählich nahezu über die ganze Halbinsel verbreitete. Erst nach dem Tiefstand von 1892/93 erholte sich der Weinanbau allmählich. Die Hauptanbaugebiete für Wein waren in der ersten Jahrhunderthälfte Galicien, der Mittelmeerraum (von Barcelona bis Murcia) und der Süden (von Badajoz über Cädiz bis Mälaga); nach 1860 kamen die Gegenden des Landesinneren (Lehn, Rioja, La Mancha) hinzu. Die Olivenbaumpflanzungen erfuhren seit der Jahrhundertmitte, vor allem jedoch nach 1880, sowohl in Andalusien (Jah, Cördoba) wie in Aragonien und Katalonien eine weitere Ausdehnung der Anbauflächen. Die Fortschritte in Produktion und Export waren durch die Entwicklung des amerikanischen Marktes und hier besonders der spanischen Auswanderer nach Amerika bedingt. Da jedoch die Techniken der industriellen Verwertung und der Kommerzialisierung sehr rückständig waren, wurde das spanische Olivenöl oft in Italien raffiniert und abgefüllt. Auch Apfelsinen (in der Levante) und Zuckerrüben (in Cördoba und Granada, Aranjuez und Aragonien) wurden verstärkt angebaut. Insgesamt drängte der Obstbau Ende des 19. Jahrhunderts den Getreideanbau zurück. Seit 1871 nahm der Export von Mandeln und Konserven, seit 1887 der verschiedener Obst- und Gemüsesorten, seit 1890 der von Orangen und seit 1899 der von Zuckerrüben erheblich zu. Die Struktur der spanischen Agrarverhältnisse blieb im 20. Jahrhundert (mit Ausnahme der Zeit der Republik) im wesentlichen die gleiche wie im 19. Jahrhundert. Bodenbeschaffenheit, klimatische Verhältnisse, Fehlorientierung der Produktion, mangelnde Mechanisierung sowie Betriebs- und Besitzverhältnisse bewirkten lediglich magere Ergebnisse bei der Agrarproduktion. Bis weit über den Bürgerkrieg hinaus erwiesen das Übermaß an landwirtschaftlichen Arbeitskräften, der Landhunger der Bauern, die meist rückständig gebliebene Landbautechnik, eher wachsende als sinkende Massenarmut und geringe Arbeitsproduktivität die Erforderlichkeit einer ebenso ökonomisch wie gesellschaftlich akzentuierten Agrarreform. Mit Ausnahme der republikanischen Ansätze ist dieses Grundproblem der spanischen Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung bis heute nicht angegangen worden. Die Ausrufung der Zweiten Republik leitete den einzigen ernsthaften Versuch einer spanischen Agrarreform ein. Die bedeutendste Maßnahme auf dem Agrarsektor war das Reformgesetz von 1932, das die Fragen der Grundbesitzenteignungen, der Entschädigungen sowie der Landverteilungen an die Agrarbevölkerung regelte. Den Auftrag zur Durchführung der Gesetzesbestimmungen erhielt das Institut für Agrarreform. Die politische Entwicklung der Jahre 1933-1936 verhinderte die konsequente Anwendung des Gesetzes; erst die Volksfrontregierung beschleunigte 1936 wieder die Enteignungen von Latifundien und die Landzuweisungen an besitzlose Arbeiter. Hatten diese in den ersten fünf Republikjahren insgesamt 164.265 ha Land erhalten, so bekamen sie allein 1936 nach unterschiedlichen Angaben des Instituts für Agrarreform zwischen 572.055 und 712.070 ha Land zugewiesen. Während des Bürgerkrieges machte Franco die Agrarreform in seinem Herrschaftsbereich sofort rückgängig. In der republikanischen Zone kam es zu einer tiefgreifenden sozia-
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len Revolution, die vor allem vom anarchistisch und sozialistisch organisierten Agrarproletariat gegen den Willen der Volksfrontregierung durchgeführt wurde. Die Revolution richtete sich gegen die kapitalistische Ordnung, den Großgrundbesitz und das Privateigentum an Produktionsmitteln. Ihr Charakteristikum auf dem Land war die Überführung der Latifundien in Kollektiveigentum. An der Kollektivierungsbewegung beteiligten sich ca. drei Millionen Menschen; vor allem in den ersten zwei Kriegsjahren wurden mehrere Tausend Agrarkollektive angelegt, die zum Teil beachtliche landwirtschaftliche Erfolge aufwiesen. Bis August 1938 enteignete die Volksfrontregierung fast 5,5 Millionen ha Land. Obwohl der Agrarsektor nach 1939 zugunsten der Industrialisierungspolitik weitgehend vernachlässigt wurde, profitierten die Großgrundbesitzer durch die staatlich garantierten Preise außerordentlich von der Autarkiepolitik. Die Landarbeiterlöhne waren so niedrig, daß eine Mechanisierung der Landwirtschaft unrentabel erschien. Als Folge der Knappheit an Düngemitteln und Arbeitsvieh wurde nach dem Krieg die Anbaufläche um ca. 15 % verringert. Die land- und viehwirtschaftliche Produktion brach weitgehend zusammen. Lebensmittelknappheit und -rationierung führten zur Ausbreitung blühender Schwarzmärkte. Die Auswirkungen der Wirtschaftssituation waren so verheerend, daß die aktive Landbevölkerung nach 1939 wieder zunahm. Damit verbunden war der Rückfall weiter Landgebiete in Subsistenzwirtschaft, Tauschhandel und soziale Inaktivität. Nach dem Bürgerkrieg setzte die Wiederaufforstung weiter Ödflächen ein (repoblackin forestal). Die 1940 reorganisierte staatliche Forstbehörde konnte bis 1967 an 2,3 Millionen ha Ödland und Kahlflächen aufforsten; danach verlangsamte sich das Tempo der Wiederaufforstung. Der Versuch, die Abhängigkeit von der Holzeinfuhr (vor allem für die Papierndustrie) abzubauen, scheiterte allerdings an der schnellen Entwicklung des Holzverbrauchs. Zur Förderung der Landwirtschaft sollten auch die künstlichen Bewässerungsanlagen beitragen. Der Plan Badajoz ermöglichte durch sechs Stauanlagen am Guadiana die I lmwandlung von 115.000 ha Trockenland in bewässerte Gärten und Felder. Das Ebrohecken wurde durch 179 Stauseen reguliert; durch sein Bewässerungssystem konnten 930.000 ha Land bewässert werden. Auch in den Flußgebieten des Duero und Tajo wurden Bewässerungssysteme angelegt. Insgesamt wurden zwischen 1950 und 1968 ungefähr 840.000 ha Land bewässert. Die gesamte bewässerte Fläche umfaßte mit 2,289 Millionen ha 11,5% der Anbaufläche. In den 1960er Jahren verloren die bewässerten Kleinbetriebe zugunsten von kapitalstärkeren Großbetrieben immer mehr an Bedeutung. Seit 1962 stieg der Mechanisierungsgrad der Landwirtschaft infolge der Landflucht und der Aufhebung von Einfuhrbeschränkungen auf Agrargeräte stark an. Die ebenfalls seit 1962 beschleunigt durchgeführte Flurbereinigung (Jahresdurchschnitt 187.000 ha) blieb hinter dem Tempo anderer europäischer Länder zurück. Bis zum EG-Beitritt Spaniens (1986) litt der Agrarsektor unter einer geringen Arbeitsproduktivität, die wiederum zu einem sinkenden Selbstversorgungsgrad Spaniens im Agrarbereich führte.
3.
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/ u Beginn des 20. Jahrhunderts betrug der Anteil der in der Industrie beschäftigten PersoMT 16% der erwerbstätigen Bevölkerung. Zu den Hauptgründen der späten und sodann
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nur zögernden Industrialisierung zählte vor allem der Mangel an Eigenkapital. Die Industrialisierung wurde mit Staatsanleihen im Ausland und ausländischen Direktinvestitionen in Spanien eingeleitet. Dies gilt — mit Ausnahme von Katalonien, wo sich auf der Grundlage einheimischen Kapitals eine solide Textilindustrie etablierte — vor allem für den Aufbau der Schwerindustrie und für den Eisenbahnbau. Spaniens Stellung als auslandsabhängiges "halbkoloniales" Land wird noch deutlicher durch den Hinweis, daß der Export von Rohstoffen die Außenhandelsbilanz des Landes bestimmte. So gründete die weitere Industrialisierung in der Restaurationsära vor allem auf dem Export baskischen Eisenerzes nach England, dem Export katalanischer Textilwaren in die verbliebenen Kolonien und den Geldsendungen emigrierter Spanier. Die Industriestruktur war durch ihre nahezu ausschließliche Konzentration auf die Peripherie des Landes gekennzeichnet; die regionale Verteilung der Lagerstätten der Mineralien hat sie zum größten Teil in die Küstengebiete Randspaniens verwiesen. Die wichtigsten industriellen Konzentrationsgebiete waren Barcelona und Vizcaya, Valencia, Guipüzcoa und Asturien, in zweiter Linie Santander, Vigo, Alicante und Mälaga. Rund 80 % der Gesamtindustrie waren in Rand-, nur 20% in Innerspanien lokalisiert; allein Barcelona besaß über 40% der spanischen Industrie. In Randspanien waren 78% der Wollindustrie (Katalonien: 63%) und 97,7% der Baumwollindustrie (Katalonien: 90,2%) konzentriert. 75% der Roheisenerzeugung und über 50% der Rohstahlproduktion entfielen auf Vizcaya. Fast die Hälfte der Holzindustrie hatte ihren Standort im Mittelmeerküstengebiet. Der große Mineralreichtum hätte schon früh zu einer starken Entfaltung der Industrie führen müssen. Kohle wurde in Asturien, Galicien, zum Teil auch in Katalonien gefördert, Eisenerz in Vizcaya, Zink- und Bleierze in Santander, Quecksilber in Almaden (Provinz Ciudad Real). Die Schwerindustrie war überwiegend in den nördlichen Provinzen, die Fertigindustrie (alle Zweige der Textilindustrie, die Holzverarbeitung, Olivenölproduktion, Parfümerie) im katalanischen Raum lokalisiert. Dem industriellen Aufschwung stand jedoch die ungünstige geologische Beschaffenheit der Ablagerungen entgegen, die z. B. im asturischen Bergbau, der 70% der gesamten Kohlegewinnung Spaniens erzeugte, eine im internationalen Vergleichsmaßstab weit unterdurchschnittliche Ertragsleistung ergab. Hemmend wirkten sich auch die infolge geographischer Verhältnisse und eines im europäischen Maßstab rudimentären Eisenbahn- und Landstraßennetzes großen Transportschwierigkeiten, das Fehlen eines kaufkräftigen Binnenmarktes sowie vor allem die mangelnde Infrastruktur der Schwerindustrie aus. Katalonien stand an der Spitze der wirtschaftlichen Entwicklung. Abgesehen von einigen konjunkturellen Einbrüchen entwickelte sich die katalanische Industrie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr günstig. Durch Nutzung der Wasserkraft verschiedener Flüsse legte man dort den Grundstein für die Textilindustrie, insbesondere für die Baumwollverarbeitung. Die Industrialisierung Barcelonas wurde anfangs durch das Aufkommen der Dampfmaschine und den mechanischen Webstuhl, später durch die Elektrizität, durch hohe Investitionen und einen Überfluß an zugewanderten Arbeitskräften möglich. Der Mangel an Eisenerzen und Kohle behinderte in Katalonien zwar die Entwicklung einer Schwerindustrie; allerdings siedelten sich metallverarbeitende Betriebe (Maschinenbauindustrie) an (1885: La Maquinista Terrestre y Maritima). Auch die Leichtindustrie faßte auf den Spuren der Baumwolltextilindustrie festen Fuß. Es handelte sich anfangs um eine heimarbeitorientierte, weit gestreute und wenig rationalisierte Industrie. 1873 entstand in
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Barcelona das erste Elektrizitätswerk; in den anderen Teilen Spaniens wurden noch vor dem Irrsten Weltkrieg die Gesellschaften gegründet (u. a. Iberduero, HidroeMctrica Espafiola, Barcelona Traction, Uniön EMctrica Madrilefia), die bis heute auf diesem Sektor führend sind. Im Jahr 1900 gab es in Spanien bereits 861 Elektrizitätswerke. Später entwickelte sich auch die chemische Industrie, deren Standorte keineswegs auf Katalonien beschränkt blieben. Zu wichtigen Unternehmen wurden für die Sprengstoffindustrie die Sociedad Espafiola de la Dinamita (1872) und die Sociedad Espatiola de Explosivos (1896; beide in Bilbao), für verschiedene andere Zweige die Sociedad Electroquimica del Flix (1897), die Sociedad Espatiola de Carburos Metälicos (1897), die Industrial Ouimica de Zaragoza (1899) und die Compaiiia Solvay (1908), für die Düngemittelindustrie Cros S.A. (in Badalona). Anfang des 20. Jahrhunderts erfolgte auch der erste zaghafte Versuch, mit der Automobilproduktion in Spanien zu beginnen (Hispano Suiza, 1904). Dieser Zweig konnte sich allerdings jahrzehntelang nicht entwickeln. Die wichtigsten Zentren der Schwerindustrie lagen, vor allem nach 1870, längs der kantabrischen Küste, in Asturien und Vizcaya, wo die Kohle- und Erzvorkommen den Betrieb von Hochöfen im Tal des Nerviön (Baracaldo, Sestao) und von Schmelzhütten rentabel machten. Dank der Gewinne, die nach der Erfindung des Bessemer-Verfahrens 1856 der Eisenerzverkauf nach Großbritannien zwischen 1860 und 1880 abwarf, erklommen die Basken innerhalb von 20 Jahren den ersten Platz in der Schwerindustrie, in der Handelsschiffahrt und der Finanzwirtschaft Spaniens. Ihren höchsten Stand erreichte die Eisenerzausfuhr zwischen 1895 und 1903 (1899: 9,5 Millionen t). Die Eisenerzgewinnung der baskischen Provinzen wurde durch die Beteiligung ausländischer Gesellschaften (z. B. 1874 der Orconera Iron Ore Company Ltd. und 1876 der Societ , Franco-Belge des Mines de Somorrostro) und die Investierung englischer, französischer und deutscher Kapitalien (u. a. der deutschen Firmen Geuschin und Krupp, der englischen Consett, der belgischen Cockerill, der französischen Denain) begünstigt. Die Produktion nahm vor allem nach 1877, der Beendigung der Karlistenkriege, zu. Zur Verarbeitung des geförderten Eisens wurde die bask ische Hüttenindustrie entwickelt (1882: Altos Hornos y Fäbricas de Hierro y Acero de Bilbao, Metalürgica y Construcciones La Vizcaya, Hochöfen der Firma Chävarri; 1900: Iberia; 1902: Fusionierung zur Firma Altos Hornos de Vizcaya). Zur Verhüttung verwendete man zuerst asturische Kohle; Asturien verlor allerdings als Kohlelieferant ab 1876 an Bedeutung, man begann, baskisches Eisen als Gegenleistung für die englischen Kokslieferungen nach England auszuführen. Bilbao wurde als Folge der Eisenerzeugung und der Hüttenindustrie zum Mittelpunkt des Schiffsbaus und -verkehrs (Gründung von Schiffahrtsgesellschaften). Am Nerviön und bei Sestao (1888: Astilleros del Nerviön) wurden Werften angelegt (1900: S ociedad Euskalduna de Construcciön y Reparaciön de Buques). Santander exportierte den kastilischen Weizen und verarbeitete ihn zu Mehl(-produkten). Auch die Industrie- und Bergbauzentren im Süden des Landes hatten große Bedeutung. Durch das Gesetz von 1868 (Ley de Bases) wurde die Ausbeutung der Bergwerke kapitalkräftigen ausländischen Firmen ermöglicht. Die seit 1873 in englischer Hand (Firma Methensson & Co., London) befindlichen Kupferminen von Rio Tinto (bei Huelva) machum Spanien zum größten Kupferproduzenten Europas (1900: 2.706.000 t). In der Sierra de Cartagena stieg die Bleigewinnung stark an; obwohl sich seit Ende des 19. Jahrhunderts die Bleiausfuhr wieder verringerte, konnten zwischen 1901 und 1910 im Jahresdurch-
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schnitt 137.000 t Blei exportiert werden. Die Quecksilbergewinnung aus den Minen bei Almad&I (Jahresförderung: ca. 25.000 t) betrieb seit 1870 (bis 1916) das Haus Rothschild. 1877 war Spanien das bedeutendste Land Europas in der Gewinnung von Blei, Kupfer und Eisen. Obwohl Spanien dank seiner politisch neutralen Stellung während des Ersten Weltkriegs in eine günstige internationale Wettbewerbssituation kam, die eine ungeahnte Nachfragesteigerung nach spanischen Produkten und damit einen erheblichen Goldzufluß zur Folge hatte, blieb der Index der industriellen Produktion während der Kriegs- und der unmittelbar folgenden Nachkriegsjahre nahezu konstant. Die Chance zur Ausweitung der industriellen Produktion verstrich ungenutzt; die vom Ausland bewirkte Erhöhung der kaufkräftigen Nachfrage verpuffte ausschließlich in Form einer Geldentwertung. Besonders die Textilindustrie machte im Krieg hohe Gewinne, die jedoch mit wenigen Ausnahmen nicht zur Modernisierung und Umstrukturierung der Branche eingesetzt wurden. Erst die hochprotektionistische Periode der Diktatur Primo de Riveras mit ihrer interventionistischen Politik der Produktionsförderung (Industrieschutzgesetz von 1926) bewirkte ab 1923 wieder eine Produktionssteigerung der spanischen Industrie, die den Index der industriellen Produktion von 102,5 (im Jahr 1923) bis auf 146,1 (im Jahr 1931) fast ohne Unterbrechung stetig steigen ließ. Das bedeutendste Industrierevier war wieder Katalonien. Dort trat neben die Textilindustrie die Maschinen- und die eisenverarbeitende Industrie, die vor allem auf baskisches Roheisen angewiesen war. Lokomotiven-, Brückenund Schiffsbau, Landwirtschafts- und Industriemaschinen waren ihre bedeutendsten Zweige. In den Jahren der Republik war die Wirtschaftspolitik hauptsächlich mit kurzfristigen Maßnahmen befaßt. Die Wirtschaftsordnung ruhte auf wirtschaftlicher Freizügigkeit im Innern, aber ausgeprägtem Zollprotektionismus und immer stärkerer Devisenbewirtschaftung. Wegen des verminderten Außenhandels sank die Industrieproduktion in den 1930er Jahren. Der Produktionsindex (1930 = 100) lag 1931 bei 101,5, 1932 bei 92,2, 1933 bei 84,4, 1934 bei 93,3 und 1935 bei 98,9. Nach Kriegsbeginn mußte die gesamte Produktion auf Kriegswirtschaft umgestellt werden. Interventionstische Maßnahmen waren auf beiden Seiten die Folge. In der republikanischen Zone, vor allem in Katalonien, ging im Zuge der sozialen Revolution ein Großteil der Industriebetriebe in die Hände der Arbeiter über. Im weiteren Kriegsverlauf bildete sich ein von den Gewerkschaften koordiniertes, vom Staat mit Zielvorgaben versehenes Wirtschaftssystem heraus, das bis 1939 einer dynamischen Entwicklung unterworfen blieb und bis zuletzt eine dualistische Struktur beibehielt, in der kapitalistisch-privatwirtschaftliche und kollektivistisch-sozialisierte Produktionseinheiten nebeneinander bestanden. Die wirtschaftlichen Folgen des Bürgerkrieges belasteten die Entwicklung nach 1939 schwer: Die erwerbstätige Bevölkerung war um weit über eine halbe Million gesunken, der republikanische Staat hatte zur Kriegsfinanzierung 510 t Gold in einem Wert von 575 Millionen Dollar ausgegeben; die Kriegskosten beider Seiten beliefen sich auf 300 Milliarden Peseten von 1963; rund 8% aller Wohnungen waren beschädigt oder zerstört, über 40% aller Lokomotiven und Waggons unbrauchbar geworden; die Handelsmarine büßte 225.000 BRT, d.h. über 30% ihres Gesamtbestandes, ein. Die Industrieproduktion sank von 1935 bis 1939 um 31%, die Agrarproduktion um 21,2%, das Volksvermögen um 25,7%, das durch-
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schnittliche Pro-Kopf-Einkommen um 28,3%. Das Pro-Kopf-Einkommen erreichte erst 1952 wieder den Stand der Vorkriegszeit. Auch das industrielle Wachstum verlief bis 1950 ausgesprochen langsam, was u. a. auf den Mangel an Energie und Rohstoffen zurückzuführen war; erst nach 1951 beschleunigte sich das Wachstum (infolge der US-Hilfe 1951 und besonders 1953) etwas. Von der nach 1939 praktizierten Politik der Autarkie profitierte eine große Anzahl kleiner Kapitalisten, die mit Hilfe günstiger Kredite die notwendigsten Güter für den inneren Markt produzierten. Die rigide Importsubstituierungspolitik ließ zahlreiche neue Industriezweige entstehen, die durch den staatlichen Protektionismus vor der ausländischen Konkurrenz geschützt waren. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich an der Peripherie von Madrid ein neues Industriegebiet, das inzwischen zum zweitgrößten industriellen Ballungsraum des Landes geworden ist. Ende der 1950er Jahre entstand in Asturien der große Schwerindustriekomplex von Avils, in dem Eisenerze aus den Montes de Lehn verhüttet wurden. An der Mittelmeerküste verarbeitete man in verschiedenen Hochöfen am Hafen von Sagunto die Eisenerze aus dem Iberischen Randgebirge. Nach Beginn des Stabilisierungsplans (1959) konnte die verarbeitende Industrie (Textilund Bekleidungsindustrie, Druckerei und Vervielfältigung, Kunststoffverarbeitung, Kraftfahrzeugbau, Herstellung von Gemüsekonserven) ihre Beschäftigtenzahlen beträchtlich erweitern, während die Beschäftigten im Bergbau zurückgingen und die der Energiewirtschaft nur unbedeutend stiegen. Die negative Entwicklung im extraktiven Bereich ist auf den Rückgang in der Kohleförderung zurückzuführen. Zwischen 1960 und 1974 wies der Industriesektor (zu konstanten Preisen) eine jährliche Wachstumsrate von rund 9 % auf; in diesem Zeitraum nahm die Arbeitsproduktivität in der Industrie um jährlich 6,9% zu. Durch Einkauf ausländischer Investitionsgüter wurden die Produktionsanlagen erheblich modernisiert. Die Bruttoindustrieproduktion setzte sich 1960 zu 75,7% aus der verarbeitenden Industrie (1974: 70,6%), zu 12,3% aus der Kauindustrie (1974: 21,9%), zu 6% aus den Versorgungsbetrieben (1974: 4,8 %) und zu ()% aus dem Bergbau (1974: 2,7%) zusammen. Zwischen 1960 und 1974 verloren tradionelle Industriezweige (Nahrungs- und Genußmittelindustrie, Textil- und Holzwirtschaft) dn Bedeutung, während Grundstoff- oder Basisindustrien und dauerhafte Konsumgüter u nahmen. Die quantitativen Erfolge der Wirtschaftsentwicklung in den 1960er Jahren sind nicht zu bersehen: Die durchschnittliche jährliche Expansionsrate des BSP betrug 7,13% und lag damit nach Japan an zweiter Stelle unter den OECD-Ländern. Auch die Bruttoanlagenvestitionen nahmen rapide zu. Allerdings wies die Entwicklung auch Mängel auf: So lagen ie Forschungsausgaben mit 0,2-0,4% des Bruttoinlandprodukts deutlich unter denen der yroßen Industrieländer. In den letzten Jahrzehnten hat demgegenüber eine wahllose und irrkontrollierte Einfuhr ausländischer Technologien stattgefunden. Die Erzeugnisse der cheiii ischen Industrie und der Metallverarbeitung (Maschinen- und Fahrzeugbau, ElektrotechEisen-, Blech- und Metallwarenherstellung) werden zum größten Teil mit ausländischen Patenten hergestellt. In bestimmten Wirtschaftszweigen (Fahrzeugbau, Chemie) ind Großunternehmen hat sich Auslandskapital besonders stark konzentriert.
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4. Das Bank- und Kreditwesen Seit dem Bankengesetz von 1856 (Ley de regulaciön de las sociedades financieras) nahm die Entwicklung des privaten Bankensystems mit der Umwandlung des Nuevo Banco Espafiol de San Fernando in Banco de Espafia großen Aufschwung. Der Banco de Bilbao spielte seit 1857 eine entscheidende Rolle für die baskische Schwerindustrie; im gleichen Jahr wurde der der Montanindustrie angeschlossene Banco de Santandergegründet; es folgten mehrere katalanische Banken (Banco de Barcelona, Banca Anis). Die zweite Phase der Bankenentwicklung setzte 1874 mit der Ley Echegaray ein, die dem Banco de Espafia für 30 Jahre das Monopol für die Emission von Banknoten übertrug (1891 um weitere 30 Jahre verlängert). Zuvor waren 15 Banken zur Emission von Noten berechtigt gewesen. Fortan spielte der Banco de Espafia die Hauptrolle im Finanz- und Kreditwesen. Er war Hauptkreditgeber ebenso für den Staat, dessen Geldbedarf durch die Kolonialkriege ständig zunahm, wie für Privatleute. Die dritte Phase der Bankenentwicklung setzte 1899/1901 mit den Finanzreformen des Ministers Fernändez Villaverde ein, der die ständige Erhöhung des Banknotenumlaufs stoppte, die Haushaltsdefizite verringerte und die Kontrolle des Staates über den Banco de Esparia verstärkte. Die angestrebte finanzielle Stabilisierung konnte bis zum Ersten Weltkrieg erreicht werden. Aus der politischen und wirtschaftlichen Krise von 1898 gingen die katalanischen Banken geschwächt und die gemischten Depositen- und Industriebanken Madrids und des Baskenlandes gestärkt hervor. 1902 kontrollierten der 1900 aus dem Kolonialkapital gegründete Banco Hispano-Americano, der 1901 von baskischen Schwerindustriellen geschaffene Banco de Vizcaya, der 1902 gegründete und dem französischen Crddit Mobilierangeschlossene Banco Espafiol de Cffidito zusammen mit dem Banco de Bilbao bereits ein Drittel des gesamten Finanzkapitals und leiteten den Monopolisierungsprozeß finanzieller Macht ein, der sich bis heute auf die spanische Wirtschaft auswirkt. Im Ersten Weltkrieg konnten die Privatbanken ihre Gewinne steigern und den Konzentrationsprozeß fortsetzen. Die Anzahl der Banken nahm zwischen 1915 und 1920 von 52 auf 91 zu; ihre Gewinne stiegen im gleichen Zeitraum von 25 Millionen auf 119 Millionen Peseten. Auch der Banco de Esparia partizipierte an der Gewinnentwicklung. Zentrale Positionen im Bankgewerbe errangen Hispano-Americano, Espafiol de CrMito, Bilbao und Vizcaya. Nach der Gründung des Banco Urquijo (1918) und des Banco Central (1919) schloß sich der kleine Kreis der bis heute führenden Geldinstitute über Jahrzehnte hinweg ab. Die katalanischen Banken verloren gegenüber Madrid und Bilbao an Bedeutung. Die auf Cambö zurückgehende Ley de ordenaciön bancaria erkannte 1921 den Banco de Esparia als Zentralbank an und zog eine deutliche Trennungslinie zwischen Privat- und anderen Banken. Die Großbanken konnten in den 1920er Jahren ihre Position konsolidieren; zwischen 1922 und 1929 erhöhten die vier führenden Banken ihre Zweigstellen von 156 auf 791. Der Versuch der Republik, zur Finanzierung der Agrarreform eine Agrarbank zu gründen, scheiterte am geschlossenen Widerstand der Finanzoligarchie, deren Interessenidentität mit den Großgrundbesitzern dadurch offensichtlich wurde. Nach 1939 wurde die traditionell zentrale Stellung des Finanzkapitals wiederhergestellt. Der 1936 beschlossene Status quo bancario, der 1940 Gesetzescharakter erhielt (gültig bis 1962), verbot die Zulassung neuer Banken, deren Anzahl von 200 (1939) auf 112 (1964)
Der Außenhandel
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ank. Durch das 1946 verabschiedete Gesetz zur Bankenordnung wurde der Oberste Bank enrat gegründet, durch den die Vertreter der führenden Banken über einen direkten institutionalisierten Einfluß auf die staatliche Wirtschaftspolitik verfügten. Durch die staatlich geförderte Monopolstellung der Großbanken hatte die Finanzaristokratie zugleich die Kontrolle über die Industrie, da sie die Bedingungen der Kreditvergabe bestimmte. Die hauptbegünstigte Fraktion der Autarkiephase war somit das zentrale Finanzkapital, das mit den Staatsanleihen eine rentable Anlage bei gleichzeitig höchster Liquidität erzielte. Zugleich konnte die enge Verknüpfung der Bodenbesitzer-Oligarchie mit der Finanz-Oligarchie grundlegende Strukturreformen im Agrarsektor verhindern. Die eigentliche Macht übten sieben Großbanken aus (Espafiol de Cffidito Central, Hispano-Americano, Bilbao, Vizcaya, Santanderund Popular), die 30-40% der Industrie und 51 % des Bankengeschäftsvolumens kontrollierten; sie waren mit hohem Anteil am Aktienkapital wichtiger Unternehmen beteiligt und beherrschten häufig die Verwaltungsräte; sie verfügten über fast 70% aller Fremdeinlagen der Privatbanken und kontrollierten den Rest über ihre Aufsichtsratsmitglieder. Auch wenn es neben den "sieben Großen" noch weitere 98 Banken und 81 Sparkassen gab und die Regierung im Jahr 1979 ausländischen Banken die Eröffnung von Niederlassungen in Spanien erlaubte, konnte an der dominierenden Stellung der Großbanken nicht gerüttelt werden.
5. Der Außenhandel Der spanische Außenhandel blieb im 19. Jahrhundert in fast unveränderter Form überwiegend auf die Ausfuhr von Rohstoffen (Mineralien) und Agrarerzeugnissen (Wein, Zitrusfrüchte) beschränkt. In der Zahlungsbilanz wurde die stets passive Handelsbilanz durch ausländische Investitionen und Geldsendungen der Auswanderer (1902: 1,2 Milliarden Peseten) ausgeglichen. Nach der Jahrhundertmitte wirkte sich der Krimkrieg günstig auf die Konjunktur und den spanischen Außenhandel aus. In den 1860er Jahren war die Handelsbilanz extrem passiv, da in diesen Jahren die Importnachfrage für die einsetzende Inustrialisierung und vor allem für den Eisenbahnbau besonders hoch war. Durch das Gesetz des Ministers Figuerola von 1869 kam das Land aus dem Engpaß heraus, in den es der Protektionismus des voraufgegangenen Jahrzehnts geführt hatte. Jetzt wurden die Mineralien Spaniens ausländischem Kapital zugänglich, und spanisches Kupfer, Blei und Eisen wurden nach Frankreich, England und Belgien exportiert. Nach 1870 nahm der Außenhandel erheblich zu. In den 80er Jahren bestand die Ausfuhr zu über 50% aus Wein; die zweite Stelle in den Ausfuhren (ca. 20%) nahmen die Eisen-, Kupfer- und Bleierze ein. Es folgten mit 12 % weitere Produkte aus Ackerbau und Viehzucht. Auch Kork war, vor allem gegen E nde des Jahrhunderts, ein wichtiger Exportartikel. Im letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts nahm der Export von Mineralien mit ca. 36% des ;esamtexports die erste Stelle im spanischen Außenhandel ein. Allmählich steigerte sich .eich der Export von Apfelsinen und Olivenöl. Die Einfuhren setzten sich überwiegend (1883: zu 31,3 %) aus Nahrungsmitteln (Weien, gesalzener Fisch, Zucker, Kaffee), an zweiter Stelle (1883: zu 24,3%) aus Maschinen, Werkzeugen und Baumaterialien, sodann (1883: zu 18,7%) aus Textilfasern (besonders
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Transport und Verkehr
Baumwolle) sowie Webstoffen (7,9%), Kohle und anderen Brennstoffen (5,6%), chemischen Erzeugnissen (2,3%) und anderen Waren zusammen. Während des Ersten Weltkrieges wurde Spanien zu einem begehrten Umschlagplatz im internationalen Warenaustausch und zum Lieferanten der immer knapper werdenden Lebensmittel. Auf den Exportboom der Kriegsjahre folgte die Depression der Nachkriegszeit. Die weltweite Krise wirkte sich zwar negativ auf den spanischen Außenhandel aus, der jedoch trotzdem 1920-1929 ein Rekordvolumen erreichte, das sich 1929 auf 5,8 Milliarden Goldpeseten belief. Die Handelsbilanz war allerdings ständig negativ. Nach 1923 wurden Zoll- und Verwaltungsschranken (Kontroll- und Hygienebestimmungen, Einfuhrkontingentierungen) errichtet, die den Binnenmarkt von ausländischer Konkurrenz abschirmen sollten. Insgesamt war die Verflechtung der spanischen mit der Weltwirtschaft sehr gering. Spaniens Anteil am Welthandel betrug 1935 in der Einfuhr nur 1,4%, in der Ausfuhr nur 1 %. Die vier Industriestaaten Großbritannien, USA, Frankreich und Deutschland waren 1932 am Gesamtaußenhandel Spaniens mit über 51 % beteiligt, während der Anteil Spaniens am Außenhandel dieser Länder nur 6,3% betrug. Nur 30-40% der Eisenerzförderung Spaniens wurden in eigenen Hochöfen verhüttet. Die Erzausfuhr betrug 1935 an Eisenerz 1,9 Millionen t, an Pyriten 1,8 Millionen t, d.h. daß die Hälfte der geförderten Eisenerze und über 80% der Pyrite (vor allem nach England) ausgeführt wurden. Auch der Export von Rohblei und Kupfer spielte eine große Rolle. Durch die Weltwirtschaftskrise erlitt der Außenhandel Spaniens erhebliche Einbußen (Tab. 8). Tab. 8:
Der Außenhandel Spaniens 1929-1935 (in
Mio.
261
leistungen waren auch zunehmend am BSP beteiligt; ihr Beitrag belief sich jedoch 1968 erst auf 13% (Ausfuhr) und 15,6% (Einfuhr). 1970 stieg der Anteil auf 15,3% bzw. 17,1 %. Die Handelsbilanz blieb chronisch negativ; der Saldo der Warenbilanz war seit 1961 passiv. Von 1962 bis 1967 wurde jedes Jahr weniger als die Hälfte der Wareneinfuhr durch die gleichzeitigen Lieferungen an das Ausland kompensiert. Erst 1968 setzte eine Besserung ein; 1970 betrug der Export rund 57% des Imports, und 1971 erreichte die Deckungsquote schon 59,1 %. Zu dieser Besserung trugen die neuen Exportförderungsmaßnahmen, die Anstrengungen der Unternehmen um eine stärkere Exportorientierung ihrer Erzeugnisse und die Auswirkungen der Pesete-Abwertung von 1967 bei. Eine der Antriebskräfte der neuen Entwicklung war auch die Ausfuhr von gewerblichen Fertigwarenerzeugnissen bei abnehmender Beteiligung der Nahrungsmittel an der Gesamtausfuhr (1970: 35,8% gegenüber mehr als 50% bis 1964). Dafür wiesen inzwischen die Importziffern stark wachsende Nahrungsmitteleinfuhren auf. Auch die Einfuhr von Brennstoffen und Rohmaterialien stieg deutlich an. Zu den wichtigsten Importgütern zählten nichtelektrische Maschinen, Erdöl und Derivate, Eisen und Stahl, Chemieprodukte, Getreide, elektrische Maschinen. Die Gewichtung der Ausfuhrgüter wies zwei Hauptmerkmale auf: Einerseits verlor der Export von Früchten (vor allem Zitrusfrüchten) relativ an, andererseits wurden immer mehr Halbfabrikate und Fertigwaren (Maschinen, Schuhe, Schiffe, Erdölnebenprodukte) exportiert. Die wichtigsten Handelspartner wurden die EG-Länder.
Goldpeseten) 6. Transport und Verkehr
1929
1930
1931
1932
1933
1934
1935
Einfuhr
2736
2447
1176
975
835
855
875
Ausfuhr
2108
2300
961
738
669
611
583
Saldo
-628
-147
-215
-237
-166
-244
-292
Nach 1939 wurde der Außenhandel durch ein kompliziertes staatliches Kontrollsystem stark reduziert, da das erklärte Ziel der Autarkiepolitik die ökonomische Selbstversorgung war. Hauptinstrument dieser Kontrolle war ein System von individuellen Lizenzen auf Import- und Exportgüter, verbunden mit bilateralen Handelsabkommen, in denen spezielle Austauschquoten festgelegt waren. Während dieser Nachkriegsjahre wurden hauptsächlich Agrargüter importiert; der Export stagnierte weitgehend. Mit dem Stabilisierungsplan setzte zwar ein verstärkter Export von Industrieprodukten ein, die Ausfuhr konnte jedoch zu keinem Zeitpunkt die Handelsbilanz ausgleichen, deren Defizit sich laufend auf ca. 6% des BSP belief. Der Ausgleich der Zahlungsbilanz erfolgte vielmehr durch die Emigrantenüberweisungen, ausländische Investitionen und vor allem durch die Einnahmen aus dem Fremdenverkehr. Obwohl der Außenhandel im Verlauf der 1960er Jahre deutlich anstieg, hatte er im europäischen Vergleich ein relativ geringes Gewicht. 1961 machte er 11 %, 1967: 19,8% und 1969: 24% des Nationaleinkommens aus. Ausfuhr und Einfuhr von Gütern und Dienst-
Der Mangel an Kapital, der bereits die Entstehung der einheimischen Industrie erschwert hatte, belastete auch die Entwicklung des spanischen Eisenbahnnetzes. Seit 1840 gab der Bau der Eisenbahn Anlaß zu wilden Spekulationen, an denen sich Banken, Politiker und ausländisches Kapital beteiligten. Im Jahr 1855 wurde das erste, 1877 das zweite Gesetz über den Bau von Eisenbahnen verabschiedet; neben einer Verbesserung des Verkehrswesens sollte die Eisenbahn vor allem die Binnenmarktstrukturen stärken. Die ersten Bahnstrecken wurden von lokalen Gesellschaften in der Erwartung hohen Gewinns in Betrieb genommen (Strecke Barcelona-Matarö 1848, Madrid-Aranjuez 1851, Valencia-El Grao 1853, Valencia-Jätiva 1855). 1853 beliefen sich die Eisenbahnteilstrecken auf 219 km. Die Ausländer zeigten an der Finanzierung des Eisenbahnbaus auch deshalb Interesse, weil eine Mindestrendite für das in Eisenbahngesellschaften investierte Kapital garantiert und Linienkonzessionen großzügig vergeben wurden. Der größere Teil des Eisenbahnnetzes wurde mit ausländischem (Frankreich, Belgien, England; Finanzgruppen der Prost, Pereyre, Rothschild) und katalanischem Kapital finanziert. Nach einem zehnjährigen Boom brach das Eisenbahnfieber unter dem Druck der weltweiten Rezession zusammen. Das gesamte Material zum Eisenbahnbau war aus dem Ausland importiert worden; der spanische Staat hatte sich enorm verschuldet. Außerdem wies das Netz unterschiedliche Spurweiten auf, und fast alle Linien führten nach Madrid. Als später der Eisenbahnbau der spanischen Industrie Aufträge brachte, wurde er nur noch mit halber Kraft weitergeführt. Zwischen 1860 und 1880 wurden noch 5.500 km Eisenbahn-
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Staat und Wirtschaft
XI Die Wirtschaft in der Neuzeit (bis 1975)
Karte 19: Spanisches Eisenbahnnetz Ende 1870 Burdeos Santander Sinns) ta Vege ä n Sebareen Sornade Langreell' Poto de Gortlen•, Orboa ♦ Pomplona BroSuelas•-‘ Caporreso Astorgoe'i; Logrollo Castejön •Hacoca • Patencis"' Burgos Tartliente Vente 'lree Beim Caseto e--„ "(Valladolid Zaragoza Zamora Reu Jadragee Sancled hen • empos la Porto ../Guadalejaro Ulldecona Avito Gij6n
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Streckeneröffnung
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Puerto Real
Metaga
---- bis 1855 bis 1860 - bis 1865 bis 1870
Karte 19 zeigt das spanische Eisenbahnnetz von seinen Anfängen (1829) bis 1870. Die ersten Eisenbahnkonzessionen konnten in den 1830er Jahren sowohl wegen Kapitalmangels als auch wegen des ersten Karlistenkrieges (1833-1839) nicht umgesetzt werden. Nach 1843 begann der Bau der ersten Linie, die 1848 eingeweiht wurde (Barcelona-Matar6, 29 km). Es folgten die Strecken Madrid-Aranjuez (1851) und Sama de Langreo-Gijön (1855) in Asturien. Seit dem Gesetz von 1844 war es zu massiver Spekulation über Eisenbahnkonzessionen gekommen, an denen sich vor allem Politiker und die Königsfamilie selbst beteiligten. Josö Salamanca gewährte als Minister der Strecke Madrid-Aranjuez enorme Subventionen, die er selber als Unternehmer und Leiter der Eisenbahngesellschaft in Empfang nahm. Das Eisenbahngesetz von 1855 führte sodann zu einer Konzentration der Investitionen im Eisenbahnbau. Bis 1863 betrugen die Subventionen für die Eisenbahngesellschaften 788 Millionen reales bei einer Gesamtinvestitionssumme von weniger als sechs Milliarden reales. Eisenbahnkonzessionsgesellschaften erhielten alle Abgaben, die auf die Einfuhr von Kapitalgütern, von rollendem Material und von Brennstoffen bezahlt worden waren, zurückvergütet. Das bedeutete, daß das gesamte zum Bau von Eisenbahnen erforderliche Material zollfrei importiert werden durfte. In der Boomphase 1861-1865 war die Einfuhr von Eisenwaren stets größer als die Gesamtproduktion der spanischen Eisen- und Stahlindustrie. Das Eisenbahngesetz von 1855 ist in engem Zusammenhang mit dem Bankgesetz von 1856 zu sehen, durch das Auslandskapital angelockt werden sollte. Das neue Kreditsystem konzentrierte sich auf spekulative Investitionen im Eisenbahnbau. Bis 1864 flossen 6,2 Milliarden reales in die Eisenbahnen und nur 393 Millionen in die Gründung echter Industriegesellschaften. Das Eisenbahnfieber führte zu einem raschen Ausbau des Verkehrsnetzes. Bis 1865 entstanden 4.800 Streckenkilometer; die Jahresleistung am Streckenausbau übertraf damals Preußen und Österreich. Die Compariia de los Ferrocarriles del Norte de Esparia baute die Strecke Irün-Madrid. Die Compania de los Ferrocarriles de Madrid a Zaragoza y Alicante (M.Z.A.) übernahm den Ausbau der Oststrecken. In Spanien floß vor allem katalanisches Kapital in die Eisenbahnspekulation. Zu den Eigenarten des Systems gehörte die Streckenführung, die kein Netz bildete, sondern strahlenförmig von Madrid in die Seehäfen ging. Von Anfang an wurde die Eisenbahn somit in den Dienst der (Bergbau-)Ausfuhr und nicht in den des Binnenverkehrs gestellt. Die schlechten wirtschaftlichen Ergebnisse der Eisenbahngesellschaften und ihre kargen Ausschüttungen spiegelten sich in der Talfahrt der Aktienkurse an der Börse von Barcelona wider.
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strecke fertiggestellt; zwischen 1876 und 1900 waren es im Jahresdurchschnitt ca. 300 km. Im Jahr 1870 war die Eisenbahn zum wichtigsten Verkehrsmittel für Güter- und Personenbeförderung geworden. Zwischen 1872 und 1901 nahm das Eisenbahnnetz von 5.478 auf 13.168 km auf mehr als das Doppelte zu. Seit 1855 wurde auch der Ausbau von Straßen vorangetrieben. Zwischen 1856 und 1868 wurden 7.822 km gebaut; bis 1880 hatte der Staat knapp 20.000 Straßenkilometer errichtet; bis 1900 stieg die Länge des Straßennetzes auf 35.400 km, bis 1911 auf 45.000 km. Zusammen mit den Provinzstraßen und Gemeindewegen erhöhte sich das Netz bis 1919 auf 77.745 km. Zugleich nahm der Fahrzeugbestand zu, wenn auch ausgesprochen langsam. Um 1910 wurden jährlich an die 1.000 Kraftfahrzeuge (Pkw, Lkw, Bus) zugelassen. Die spanische Handelsflotte gehörte gegen Ende des Jahrhunderts zu den bedeutendsten der Welt. Sie erwirtschaftete im letzten Drittel des Jahrhunderts sowohl im Gütertransport mit den Kolonien wie im Personentransport (Auswanderer) große Gewinne. Im Jahr 1881 verfügte sie über 560.000 BRT (233.000 BRT Dampfschiffe); 1886 zählte sie über 1.800 Schiffe (430 Dampf-, 1.370 Segelschiffe). Die wichtigsten Häfen waren Bilbao und Barcelona. Seit dem Ersten Weltkrieg bestand im Verkehrssystem eine Konkurrenzsituation zwischen dem Straßen- und dem Schienenverkehr. In den 1920er Jahren wurden die defizitären Eisenbahngesellschaften bereits staatlich subventioniert, in den 1930er Jahren fuhr die Eisenbahn endgültig in die roten Zahlen. Während der Regierungszeit Primo de Riveras wurden auch 2.800 km moderne Autostraßen fertiggestellt; noch bedeutender war der Ausbau der Landstraßen. 1931 stand Spanien hinsichtlich seines Wagenparks mit 255.000 Kfz an fünfter Stelle in Europa. Die Zerstörungen im Bürgerkrieg und die fortschreitende Überalterung der Eisenbahnen verschärften seit 1945 die Verkehrsschwierigkeiten und wirkten hemmend auf die Durchführung des Industrialisierungsprogramms. 1941 wurden die normalspurigen Eisenbahnlinien des Landes verstaatlicht und zu einem Unternehmen, der RENFE (Red Nacional de Ferrocarriles) vereinigt: die Aktionäre der alten Gesellschaften wurden entschädigt. Seit Anfang der 1950er Jahre hat sich der Fremdenverkehr zu einem der Hauptwirtschaftszweige des Landes entwickelt. Zwischen 1961 und 1976 erhöhten sich die Einnahmen an Devisen aus dem Ausländerreiseverkehr von 384,6 Millionen US-Dollar auf über drei Milliarden US-Dollar im Jahr. Im gleichen Zeitraum stieg die Anzahl der Touristen von 7,45 Millionen (1961) über 25 Millionen (1970) auf knapp 40 Millionen (1979) an.
7. Staat und Wirtschaft
Hauptproblem der spanischen Finanzpolitik im 19. Jahrhundert war der Ausgleich des stets defizitären Staatshaushalts. Die Reform von Mon schaffte 1845 das komplizierte Steuersys tem ab, das seinen Ursprung im Mittelalter hatte. Nach 1850 gab es weder bei den direkten noch bei den indirekten Steuern größere Veränderungen, bis Ende des 19. Jahrhunderts I inanzminister Fernändez Villaverde eine neue Steuerreform durchführte. In der gesamten zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schlossen die jährlichen Staatshaushalte (mit Ausnah-
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XI Die Wirtschaft in der Neuzeit (bis 1975)
me des Jahres 1876) mit einem Defizit ab. Daher war der Staat stets bemüht, seinen Haushalt durch außerordentliche Einnahmen (wie etwa durch die Desamortisation oder den Verkauf der Bergwerksrechte an ausländische Firmen) und die ständige Emission von Staatsschuldverschreibungen auszugleichen. Diese Bemühungen führten dazu, daß im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und bis zum Ersten Weltkrieg ausländisches Kapital zum großen Teil die spanische Wirtschaft durch seine Direktinvestitionen beherrschte. In einer ersten Phase bis zu den 70er Jahren waren der Eisenbahnbau und der Bergbau die bevorzugten Sektoren des Auslandskapitals; später flossen die Investitionen den Wasser-, Gas- und Elektrizitätsgesellschaften sowie den Versicherungen zu. Nach seinem Eintritt in die Lateinische Währungsunion (1868) hatte Spanien eine schwankende Währung. Die Parität betrug 1 Pesete = 0,29032 g Feingold. Im Jahre 1882 begann eine Entwertung der Pesete, und 1883 stellte der Banco de Espafia den Umtausch von Papiergeld in Gold ein. Der Kurs der Pesete sank am tiefsten in der Zeit des spanischamerikanischen Krieges. Angesichts der u. a. durch die Kolonialkriege weiter vergrößerten Ausgaben des Staates waren die ergriffenen finanzpolitischen Maßnahmen unzureichend. Die komplizierte Struktur der Staatsschulden sollte durch Schuldumwandlungen vereinfacht werden; 1851, 1876, 1881/82 und 1900 wurden solche Versuche unternommen. Die wirtschaftliche Entwicklung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hing in entscheidendem Maße von den Auseinandersetzungen ab, die während des gesamten Zeitraums zwischen Anhängern des Freihandels und Befürwortern des Protektionismus stattfanden. Da sich die katalanischen Industriellen im internationalen Rahmen nicht konkurrenzfähig fühlten und ihre Stellung über die Abschirmung des spanischen Binnenmarktes sichern wollten, traten sie für eine weitgehende Schutzzollpolitik ein. Die in Madrid herrschende soziale Schicht, die Handels- und Agrarinteressen verpflichtet war, sah ihr Interesse im Export von Agrarprodukten und Rohstoffen und dem preiswerten Einkauf von Verbrauchsgütern, vor allem Textilien. Sie vertrat darum ein Freihandelskonzept und bemühte sich um entsprechende Handelsverträge. Die liberalen Regierungen des 19. Jahrhunderts vertraten nach innen zumeist ökonomische Laissez-faire-Prinzipien und schwankten nach außen zwischen Protektionismus und Freihandel. Bis zum Jahr 1840 war die Wirtschaftspolitik entschieden protektionistisch. Seit dem Zolltarif von 1841, der die Zölle vereinheitlichte, nahmen jedoch die freihändlerischen Tendenzen deutlich zu; die Bestimmungen von 1849 stellten zwar einen Sieg der Freihändler dar, doch konnte die katalanische und die sich entwickelnde baskische Industrie durchsetzen, daß ausländische Waren, die mit der eigenen Textil- und Eisenindustrie konkurrierten, mit hohen Zöllen belegt wurden. 1865 wurden die Zollsätze einiger Waren wieder verringert, und nach dem Sieg der September-Revolution stellte das Zolltarifgesetz des Ministers Figuerola 1869 den Höhepunkt der Freihandelspolitik dar. Die Befürworter des Protektionismus versuchten, die Durchführung der freihändlerischen Bestimmungen zu verhindern. Der Zolltarif von 1869 wurde 1877 und erneut 1882 geändert, wobei die katalanischen Industriellen durch die Interessenvertreter der asturischen Kohle und der baskischen Eisenindustrie unterstützt wurden. Nach 1875 ging der spanische Staat allmählich zur Schutzzollpolitik über. Die entscheidende Wende zum Protektionismus erfolgte durch die Zolltarifgesetze von 1890 und 1891, die die alten Zollfreiheiten aufhoben und alle Zollsätze heraufsetzten. Das alte Spannungs-
Staat und Wirtschaft
265
verhältnis zwischen Agrar- und Industriebourgeoisie, zwischen kastilischem Zentralismus und katalanischem Regionalismus, hatte sich unter dem Druck ausländischer Weizen- und Textilkonkurrenz immer mehr gelockert und war schließlich in protektionistischer Interessenidentität aufgegangen. Das Schutzzollsystem sollte zugleich den asturischen Bergbau (gegen englische Kohleimporte), die katalanische Textilindustrie (gegen englische Textilien), die kastilische Landwirtschaft (gegen amerikanische Getreideimporte) und die baskische Eisenwarenindustrie (gegen englische und französische Konkurrenz) schützen. Spätestens seit Anfang der 1890er Jahre waren die grundlegenden Strukturkonstanten der spanischen Wirtschaftspolitik der Zollprotektionismus zur Abschirmung des inneren Marktes, der Wirtschaftsnationalismus als Antwort auf die äußere (Kapital- und Handels-)Abhängigkeit und der Staatsinterventionismus zur Ersetzung unzulänglicher privatwirtschaftlicher Möglichkeiten. Vor allem nach dem Verlust der letzten Überseebesitzungen im Jahr 1898 kam es zur Propagierung eines spanischen Wirtschaftsnationalismus, der der Wirtschaftspolitik die Aufgabe zuwies, die nationale Unabhängigkeit sicherzustellen. Demgemäß wurde die neue Wirtschaftspolitik mehr von nationalpolitischen als von ökonomischen Motiven geprägt. Seit 1907 ("Gesetz zum Schutz der einheimischen Industrie") verfolgte der Staat eine Politik der Autarkie. Um eine Steigerung der nationalen Produktivkräfte zu erreichen, wurde seit der Jahrhundertwende mehr oder minder ausgeprägt der Weg einer umfassenden Wirtschaftslenkung beschritten. Die interventionistische Politik war im Industriesektor stets besonders ausgeprägt. Nach dem Bürgerkrieg wurde 1941 als wirtschaftspolitisches Instrument der Autarkie und des Dirigismus das "Nationale Industrieinstitut"' (Institut° Nacional de Industria, INI) gegründet und mit einem Startkapital von 50 Millionen Peseten ausgestattet. Die Hauptaufgabe dieser staatlichen Industrieholding bestand in der Unterstützung der Verteidigungsbemühungen des Landes, der Förderung der wirtschaftlichen Autarkie und der Brechung von Monopolen. Das INI sollte als treibende Kraft wirken, wenn unterentwickelte Regionen gefördert werden mußten; eines seiner Ziele bestand darin, den großen Gegensatz zwischen relativ wenigen modernen (vom Staat, Auslandskapital oder spanischen Finanzgruppen kontrollierten) Unternehmen und den vielen mittleren und kleinen Firmen (ohne ausreichendes Kapital und technologisches Wissen) zu verringern. Das INI hat keinen Bereich ganz verstaatlicht, es war allerdings mit relativ hohen Anteilen an einzelnen Sektoren beteiligt. So betrug 1968 der Anteil der INI-kontrollierten Unternehmen am jeweiligen Sektor bei Eisen und Stahl 25%, bei Elektrizität 20 %, bei Steinkohle 36%, bei Automobilen 50%, bei Aluminium 58%, bei stickstoffhaltigem Dünger 40%, beim Schiffbau 46%, bei raffiniertem Öl 48%. In sieben der 20 wichtigsten spanischen Unternehmen hatte das INI Beteiligungen (Stahlkonzern Esidesa, Fluggesellschaft lberia, Automobilkonzern Seat, Ölraffinerie Enpetrol, Schiffswerft Hunosa usw.). Dieser Staatskapitalismus als Versuch der öffentlichen Hand, über staatseigene Unternehmen die Industrialisierung zu forcieren, zeigte allerdings nicht den gewünschten Erfolg. Von seinen Hauptzielen konnte das INI keines verwirklichen: So wurde die Monopolisierungstendenz im Grundstoffsektor durch die INI-Interventionen eher noch verstärkt, die Autarkie wurde nicht erreicht, im Bereich der Rüstungsindustrie wurde lediglich der Kriegsschiffbau aktiviert. Positive Auswirkungen hatte die INI-Intervention in den Bereichen Elektrizität, eisenschaffende Industrie und Ölraffinerien.
266
XI Die Wirtschaft in der Neuzeit (bis 1975)
Für die spanische Währung hatte der Erste Weltkrieg äußerst positive Auswirkungen. Zwischen 1913 und 1920 stiegen die Goldreserven von 664 Millionen auf 2,54 Milliarden Peseten; gleichzeitig erhöhte sich die Menge der zirkulierenden Banknoten um mehr als das Doppelte auf drei Milliarden Peseten; außerdem wurde die Ausgabe von Schuldscheinen in Höhe von einer Milliarde genehmigt. Spanien konnte eine große Anzahl Auslandsschuldanleihen nationalisieren und den hohen Anteil ausländischer Kapitalien an der Eisenbahn zurückkaufen. Die Wechselkursverhältnisse änderten sich im Kriegsverlauf zugunsten der Pesete. In den 1920er Jahren versuchte Primo de Rivera, den hohen internationalen Kurs der Pesete aufrechtzuerhalten. Seit Mitte der 1920er Jahre strömten viele hundert Millionen Peseten aus dem Ausland nach Spanien zurück, da man in internationalen Börsenkreisen mit einer Aufwertung der Pesete spekulierte. Als diese jedoch nicht eintrat, sank die Notierung erneut (seit Anfang 1928). Außerdem wurden die Auslandsgelder (mindestens 800 Millionen Peseten) wieder abgezogen. Die Regierung konnte trotz staatlicher Intervention die Preisinflation und Abwertung der Pesete nicht mehr in den Griff bekommen. Während der Republik waren die Träger der äußeren Währungspolitik für die allgemeinen Richtlinien die im neuen Notenbankgesetz von 1931 errichtete Kommission zur Überwachung der Wechselkurse (Junta interventora del cambio exterior) und für die tägliche Geschäftsführung das im Sommer 1930 eingesetzte Devisenbewirtschaftungsamt Centro Oficial de Contrataciön de Moneda, die beide den Weisungen des Finanzministeriums unterstanden. Variable Devisenkurse ermöglichten 1921-1935 eine relativ große Stabilität der inneren Preise. Erst 1928 hatte der Staat in der Regelung des Pesetenwertes die Initiative ergriffen; da die Notenbankleitung aber die Weisungen des Finanzministeriums nur mit Widerstand ausführte, übertrug das neue Notenbankgesetz dem Staat die Leitung der äußeren Währungspolitik. Die innere Währungspolitik, besonders hinsichtlich der Kreditgewährung, trug und entschied der Banco de Espafia. Dieser war verpflichtet, der Staatskasse zinslose Vorschüsse zu gewähren, deren Gesamtbetrag bis auf 12 % der Ausgabenseite des Haushaltvoranschlags steigen konnte. Infolge der dauernd ungünstigen Kassenlage der Zweiten Republik war die Regierung auf die zinslose Kreditgewährung angewiesen. Die Kreditgewährung an Private wurde nach 1931 planmäßig eingeschränkt, nachdem sich im ersten Republikjahr die Gesamtkredite an Private auf über 4,6 Milliarden Peseten erhöht hatten. Während des Bürgerkrieges wurden die beiden Zonen auch finanz- und währungspolitisch getrennt. Bereits am 12. November 1936 führte Franco für die in seinem Herrschaftsbereich zirkulierenden Noten den Abstempelungszwang ein; im März 1937 ließ er neue "nationale" Banknoten emittieren. Die republikanische Pesete war einer dauernden Kursverschlechterung unterworfen, die verschiedene Ursachen hatte: Die republikanische Regierung setzte die Außenhandels- und Devisenkontrolle nicht ausreichend zur Kursstützung ein; sie betrieb die Kriegsfinanzierung — weit mehr als Franco — mit dem Mittel der Notenausgabe, ersetzte im Oktober 1936 die umlaufenden Silbermünzen durch "Silberzertifikate" in unbegrenzter Emissionshöhe und wirkte dem Mangel an Scheidegeld durch Abgabe neuer Münzen entgegen; hinzu traten die Notgeldemissionen lokaler Stellen. Der Banknotenumlauf nahm im republikanischen Gebiet von 3,4 auf 16,6 Milliarden Peseten zu, während gleichzeitig der Goldvorrat von 2,2 Milliarden auf Null sank. Demgegenüber verstanden es die nationalen Machthaber, durch Devisenbewirtschaftung, Außenhandelsüberwachung, Verbot der Ein- und Ausfuhr von Banknoten und des Hortens von Silbermünzen
Staat und Wirtschaft
267
sowie durch Beschlagnahme von Devisen und ausländischen Wertpapieren, durch weitgehendes Festhalten an Vorkriegspreisen und strikte Kontrollen der Notenausgaben eine Stabilisierung der "nationalen" Pesete herbeizuführen. In der Nachkriegsphase war die Regierung gezwungen, zur Finanzierung ihrer Industrialisierungspolitik ständig auf den Kapitalmarkt zurückzugreifen und schließlich den Banco de Esparia zu autorisieren, die Geldmenge zu vermehren, was zu einer enormen Inflationsrate führte. Die folgende Tabelle macht den Zusammenhang von Geldumlauf und Preisentwicklung deutlich (Tab. 9). Tab. 9: Staatsschuldenemission, Geldumlauf und Preisentwicklung 1950-1958 Jahr
Emittierte Staatsschuld
1950
8,17
32,00
100
100
1951
5,95
36,60
112
128
1952
10,42
38,89
121
129
1953
9,82
39,19
122
138
1954
10,12
43,45
136
139
1955
16,72
47,61
148
145
1956
19,99
56,45
176
158
1957
11,46
67,33
210
184
1958
8,09
73,33
228
202
Geldmengenumlauf (Milliarden Peseten)
Index des Index der Geldmengenumlaufs Großhandelspreise
1957 wurde zur Bremsung der Inflation eine Erhöhung des Zinssatzes von 4,25 auf 5 %, die Begrenzung spekulativer Geschäfte und eine Abwertung der Währung auf 42 Peseten pro Dollar verfügt. Bis 1959 bestanden verschiedene offizielle Wechselkurse. In jenem Jahr wurde die Parität der Pesete im Einklang mit dem Internationalen Währungsfonds geändert (0,0148112 g Feingold, d. h. 1 Dollar = 60 Peseten). Danach war der Devisenkurs stabil. 1974 führte Spanien das Floaten des Wechselkurses ein und hob damit die Bindung an den Dollar auf. Das bis zur Zweiten Republik gültige Steuersystem ging auf die Bestimmungen von 1900 des Ministers Fernändez Villaverde zurück, der seinen Verordnungen wiederum die Steuerreform Mon-Santilläns von 1845 zugrunde legte. Das Hauptproblem war der hohe Anteil indirekter und der niedrige Prozentsatz direkter Steuern. Obwohl die Republik die progressive Einkommensteuer einführte, war der Steuersatz so gering (1 %-7,7 %), daß die Reform 1932) keine erwähnenswerten Auswirkungen hatte. Vor allem in der Franco-Ära vertiefte das Steuersystem die Ungleichheiten im Verteilungssystem weiter. Der Anteil des gesamten Steueraufkommens am BSP schwankte stets bei etwa 12 %. Gemessen am Entwicklungsgrad der spanischen Wirtschaft war dies eine der niedrigsten Steuerlastquoten der Welt. Der Handlungsspielraum des Staates bei der Befriedigung von Kollektivbedürfnissen war
268
XI Die Wirtschaft in der Neuzeit (bis 1975)
dadurch stets stark eingeengt. Auch in der Franco-Ära machten die direkten Steuern nur etwa 30% des gesamten Steueraufkommens aus. Die veranlagte Einkommensteuer, die die Einkünfte der Selbständigen (und somit die Verdienste der größten Einkommensbezieher) belastete, erbrachte nicht einmal 2% des gesamten Aufkommens. Der überdurchschnittlich hohe Anteil indirekter Steuern am Gesamtsteueraufkommen hat besondere Kritik erfahren, da die Verbrauchssteuer für die Masse der Bevölkerung eine schwere Belastung darstellte. Das Gewicht dieser Steuern wird am Staatshaushalt deutlich: Der Anteil der indirekten Steuern an den gesamten Budgeteinnahmen lag bei 60%. Direkte Steuern stellten dagegen nur rund 25% der Einnahmen. Eine der ersten Aktionen des Opus Dei nach dem Regierungsantritt 1957 war eine Steuerreform gewesen, deren einziger Zweck jedoch in der Erhöhung der Staatseinnahmen lag. Eine weitere Reform folgte 1964. Keine der beiden änderte etwas an der starken Steuerregression. Die Meistverdienenden zahlten nach wie vor überproportional wenig Steuern. Für Unternehmer war das franquistische Spanien besonders attraktiv: In bestimmten Regionen gewährte die Regierung erhebliche Steuererleichterungen für die Gründung und Erstausstattung eines Betriebes, die bis zu 95 % reichen konnten. Für Ausrüstungsgüter, die nicht im Lande hergestellt wurden, brauchten weder Zölle noch Einfuhrsteuern gezahlt zu werden. Für die ersten fünf Jahre galt völlige Abschreibungsfreiheit. Kredite, die aus dem Ausland stammten, waren von der Kapitalsteuer befreit. Unter Ministerpräsident A. Suärez wurde 1977 eine umfassende Steuerreform in Angriff genommen. Mit der Reform sollten das veraltete und ungerechte Steuersystem verbessert, die Steuerpflicht eingedämmt, hohe Einkommen und große Vermögen stärker belastet sowie dem Staat größere Einnahmen verschafft werden. 1979 wurde die Steuerverwaltung reorganisiert. Die direkten Steuern bestanden danach im wesentlichen aus der allgemeinen Steuer auf das Einkommen natürlicher Personen und der Körperschaftssteuer; die früheren Proportionalsteuern wurden abgeschafft. Die neue Einkommensteuer hatte einen progressiven Satz von 15 % bis 65,51 %. Bezüglich der indirekten Steuern wurde das Mehrwertsteuersystem eingeführt.
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XII Die Wirtschaft in der Demokratie
1.
271
Staat und Wirtschaft: Umstrukturierung und Modernisierung
Staat und Wirtschaft: Umstrukturierung und Modernisierung
In den auf Francos Tod folgenden Jahren standen die politische Reform, die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft sowie die Regionalisierung des Landes eindeutig im Vordergrund aller Regierungsbemühungen; demgegenüber wurde die Sanierung und Modernisierung der Wirtschaft sträflich vernachlässigt. Der gesamte ökonomische Sektor, der in den Schlußjahren des Franquismus ohnehin in einer tiefen Krise steckte, bedurfte dringend einer Radikalkur: Die Inflationsrate hatte ständig zugenommen (1976: rund 20%; 1977: rund 30%), die Industrieproduktion stagnierte, wilde Streiks lähmten den ohnehin ins Stocken geratenen Produktionsprozeß und bescherten dem Land pro Jahr weit über 100 Millionen verlorener Arbeitsstunden, das reale Wirtschaftswachstum sank, die Auslandsverschuldung kletterte - infolge der verteuerten Erdölimporte und der stagnierenden Exporte - immer höher, das Handelsbilanzdefizit nahm zu, die Arbeitslosigkeit überschritt 1977 die Millionengrenze, die industriellen Investitionen schrumpften. Der Übergang in die Demokratie fiel in Spanien mit der durch den Ölpreisschock ausgelösten Weltwirtschaftskrise der 70er Jahre zusammen; die spanische Wirtschaft, vor allem die Industrie, war wenig anpassungsfähig und auf die einsetzende Strukturkrise nicht vorbereitet. Plötzlich sahen sich Spaniens Wirtschaft und Gesellschaft dem Problem der Arbeitslosigkeit, einer hohen Inflation und einem überdimensionierten Defizit im Staatshaushalt ausgesetzt. Die sozialen Auseinandersetzungen nahmen schlagartig zu und erhöhten die Regierbarkeitsprobleme während der Transition. Der industrielle Umstrukturierungsplan der sozialistischen Regierung sah nach 1982 die Schließung vieler Fabriken, zahlreiche vorzeitige Ruhestandsversetzungen und Arbeitsplatzabbau vor. Hinzu kam, daß die Lösung politischer Probleme in jenen Jahren absolute Priorität vor der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, der Staatsverschuldung und den industriellen Strukturveränderungen besaß. Weitgehende wirtschaftspolitische Abstinenz und die politische Schwäche der Regierungen in der transiciön trugen zur Verschärfung der Wirtschaftskrise bei: Bis 1984 kann man von einer tiefen Depression sprechen. Die Wachstumsraten des Bruttoinlandprodukts waren niedrig bis negativ, die Investitionen und die Beschäftigungen gingen im internationalen Vergleich überdurchschnittlich zurück, die Preissteigerungsraten waren hoch, das Haushaltsdefizit stieg weiter an. Die Wirtschaftslage verbesserte sich erst ab 1985 deutlich: Die Investitionen und die Beschäftigung nahmen wieder zu, die Inflationsrate und das Haushaltsdefizit gingen deutlich zurück, die Wachstumsraten des realen Bruttoinlandprodukts schnellten erneut in die Höhe. Die seit 1973 drastisch angestiegene Arbeitslosenrate konnte allerdings nicht wesentlich reduziert werden. Daß in den Jahren der transiciön die Inflation derart zunahm, hing - neben anderen Ursachen - mit den Streiks und Arbeitskonflikten zusammen, die die realen Lohnstückkosten im internationalen Vergleich in die Höhe schnellen ließen. Das Haushaltsdefizit wie-
Tab. 10: Inflationsrate Spaniens 1975-2005 1975
14,1
1983
12,2
1991
5,5
1999
2,2
1976
19,8
1984
9,0
1992
5,3
2000
3,5
1977
26,4
1985
8,2
1993
4,9
2001
2,8
1978
16,5
1986
8,3
1994
4,3
2002
3,6
1979
15,6
1987
4,6
1995
4,3
2003
3,1
1980
15,2
1988
5,8
1996
3,2
2004
3,1
1981
14,4
1989
6,9
1997
1,9
2005
3,4
1982
14,0
1990
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Graphik 4: Entwicklung der Inflation 1962-2005 30 Tod F an. ° S 25 -
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derum ist auf die außerordentliche Ausweitung der Staatsausgaben zwischen 1978 und 1983 zurückzuführen; in jenen Jahren erfuhren die Staatsausgaben eine durchschnittliche Jahressteigerung von 24,9 %, wobei es sich vor allem um konsumlive Ausgaben und um öffentliche Subventionen für Unternehmen handelte. Die Verschärfung der Wirtschaftskrise nach 1975 sowie das deutliche Interesse der politischen und gewerkschaftlichen Kräfte, die entstehende Demokratie zu festigen und einen möglichen autoritären Rückschlag zu verhindern, führten bald zu einer Politik der Pakte und Übereinkommen, die eine deutliche "Bremswirkung" auf die Streikfreudigkeit der Arbeiter ausübten: Nach den Parlamentswahlen vom Juni 1977 nahm die Anzahl der Streikenden deutlich ab, stieg allerdings nach der Verabschiedung der Verfassung, als die Verteilungskämpfe härter wurden und politisch die Demokratie abgesichert zu sein schien, erneut deutlich an. Diese Streikaktivitäten standen aber überwiegend in wirtschaftlichen Bezügen und hielten sich zumeist im Rahmen üblicher Arbeitskampfmaßnahmen. Seit 1980 läßt sich
272
XII Die Wirtschaft in der Demokratie
feststellen, daß die soziale Konzertation (Abschluß tariflicher Mantelverträge und Beschäftigungsabkommen) zu einer deutlichen Reduktion an verlorenen Arbeitsstunden (im Vergleich zur zweiten Hälfte der 70er Jahre) geführt hat. Auch die stets prekärer werdende Arbeitsmarktsituation dürfte zu einer Eindämmung der Streikfreudigkeit beigetragen haben. Den politisch verantwortlichen Kräften war klar, daß langfristig eine Umstrukturierung der Industrie erforderlich sein würde, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen wiederherzustellen. Während jedoch die UCD-Regierungen es bei isolierten Maßnahmen beließen, die vor allem zum Abbau von Arbeitsplätzen führten, betrieben die Sozialisten seit ihrem Regierungsantritt (1982) eine kohärente und längerfristig angelegte Industriepolitik. Die industrielle Umstrukturierungspolitik der PSOE-Regierungen setzte sich das Ziel, Ressourcen an Kapital und Arbeit von Krisensektoren in zukunftsträchtige Industrien zu transferieren. De-Industrialisierung und Re-Industrialisierung liefen somit parallel, die Volkswirtschaft sollte "modernisiert" und wettbewerbsfähig gemacht werden. Dabei wurde das Ziel der Vollbeschäftigung der Revitalisierung der privaten Investitionen untergeordnet. Die Deregulierung des Arbeitsmarktes, die Verstärkung sozialer und regionaler Unterschiede sowie der schließlich (1988) zustandegekommene Bruch zwischen Regierung und sozialistischer Gewerkschaft UGT trüben im sozialen Bereich ganz erheblich die makroökonomische Erfolgsbilanz der Regierung. Bei der Gegenüberstellung von Erfolgen und Defiziten der PSOE-Politik der 80er Jahre wird deutlich, daß Spaniens Sozialisten die Restriktionen des Weltmarkts und den Modernisierungsdruck durch den EG-Beitritt (1986) als handlungsbestimmend betrachtet haben. Dementsprechend konzentrierte sich die Politik auch in einer ersten Phase auf die Modernisierung der nationalen Wirtschaft, und erst für eine zweite Etappe war der Aufbau eines Wohlfahrtsstaates vorgesehen. Die Konzentration der (neo-)liberalen PSOE-Wirtschaftspolitik auf den Markt verwies Umverteilungsvorstellungen deutlich an die zweite Stelle der regierungspolitischen Ziele, während die gesamtwirtschaftliche Strategie sich primär an der Inflationsbekämpfung, der Stabilisierung der Leistungsbilanz und der Eindämmung des Defizits im öffentlichen Sektor (etwa durch Rationalisierung und Teilprivatisierung) orientierte. Die gesamte Epoche der PSOE-Regierungstätigkeit (1982-1996) läßt sich unter zwei Rubriken zusammenfassen: Sozial- und wirtschaftspolitisch ging es um eine längst überfällige Modernisierung, d.h. um die erforderliche strukturelle Anpassung an die Weltwirtschaft; außen- und sicherheitspolitisch standen zuerst der Eintritt in die Europäische Gemeinschaft und der Verbleib in der NATO, später dann die Integration in die supranationalen Organisationen der westlichen Hemisphäre zur Debatte. In beiden Bereichen sollte es zu erheblichen Friktionen und Widersprüchen kommen. Der ökonomische Modernisierungsschub in der Ära Gonzälez war gewaltig: Das Bruttoinlandprodukt Spaniens stieg seit Mitte der 80er Jahre im Jahresdurchschnitt um 2,9% (EUDurchschnitt: 2,4%), die Inflationsrate konnte halbiert werden, die Devisenreserven vervierfachten, der Außenhandel verfünffachte, die jährlichen Auslandsinvestitionen verachtfachten sich. Das Wohlstandsniveau der Bevölkerung wurde spürbar erhöht. Die neoliberale Grundorientierung der Wirtschaftspolitik zog in der zweiten Hälfte der 80er Jahre einen regelrechten (nationalen wie internationalen) Investitionsboom nach sich. Das Land wurde zu einem der begehrtesten Märkte in Europa, die Wirtschaft wuchs überdurchschnittlich schnell. Was Gonzälez, vor allem unter den älteren Spaniern, seine Stamm-
Staat und Wirtschaft: Umstrukturierung und Modernisierung
273
Karte 20: Wirtschaftskrise und industrielle Umstrukturierung (1975-1985) Camargc Corrales de Buelna it2C12ao M Pontes de Garcia Rodriguez s anLos m, de Ni,„ 3asauri Narb Figueras n11. 1.1.. morebleta FRA KREICH I N via iibn Azkoitia Ferrol -1 Azpeitta . »He Do stla-San Sebastian Ares Eisela Tre e, AST 3 ,Ö9AS ertnint GALICIA ryatl ' "'t6 c,',,,,,e(ig. 16,36% 2z14 % KADI Ei weamplonailrub 3 , 10vrense Vigo AVARRA 19,53 % CA • (AA 31,07% Sabade dell. '-^5 .1 7iit ' dela Martorelles CASTILLA Y LE—N Ca p vanon ,;! rdedeu 1120 , % anollers C Ibisballira adalona Atlantischer R,,, ......—e—Barcelona A.. i.de,ans ARAGDN Ozean ,2.ACIR D 20,26 % T. ona Esplugues de Llobregat San Sebastian de los R4so ifr:er Vilafranca del Renees A -, de "Ire id 131 liya d'Ulxö .,,, ela-Vil erde -b. PORTUGAL I gunto/Sagunt 0 ucol Valencia EXTRE M ADURA Silla I CAS IL -LA MAN. A 213% ,7 1 2%
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wählerschaft einbrachte, war der unter seiner Regierung deutlich gestiegene Lebensstandard für die Mehrheit der Bevölkerung. Vor allem auf das flache Land brachte er (einige) Segnungen des Wohlfahrtsstaates: Renten, Arbeitslosengelder, staatlicher Gesundheits-
XII Die Wirtschaft in der Demokratie
274
Staat und Wirtschaft: Umstrukturierung und Modernisierung
dienst sind Errungenschaften, die mit der Regierung des PSOE in Zusammenhang gebracht werden.
Graphik 6: BIP Spaniens 1986-2004 zu Marktpreisen (Jahr 2000 = 100)
Graphik 5: Entwicklung des BIP pro Kopf in Spanien 1825-2005 (in internationalen Dollars von 1990)
Februar 1992
Mai 1998
Dezember 2005
Unterzeichung des Maastricht-Vertrags
Erfüllung der Konvergenz- kriterien für den Euro
Verlust Spaniens an europäischen Zuwendungen als Folge der realen Konvergenz und der EU-Beitritte der osteuropäischen Länder
September 1992
15.000
Krise des Europäischen Währungssystems. Abwertung der Pesete.
Juni 1989
Beitritt Spaniens zum Europäischen
Juni 1998
Gründung der Europäischen Zentralbank
Dezember 1992
Währungssystem
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Januar 1986
Beitritt Spaniens zur E
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1975
2000
86
Graphik 5 läßt klar drei Phasen der BIP-Entwicklung pro Kopf erkennen: Die erste reicht von 1820 bis 1870, die zweite von 1870 bis 1950, die dritte von 1950 bis heute. Es wird deutlich, daß der entscheidende Modernisierungssprung der spanischen Wirtschaft in den 1950er Jahren einsetzte (1959 Stabilisierungsplan) und – mit Schwankungen und einer vorübergehenden Rezession nach 1975 – bis heute andauert. Die Ära Gonzälez weist allerdings auch eine andere Seite auf: Bei Regierungsantritt der Sozialisten (1982) betrug die Staatsverschuldung 31,4% des Bruttoinlandproduktes, am Ende ihrer Regierungszeit (1996) lag sie bei 65% – trotz langjährigen Wachstums, milliardenfacher Unterstützung aus der Brüsseler EU-Kasse und eines stark gestiegenen Steuerdrucks. Hatte die Vorbereitung auf das "Feierjahr" 1992 im Lande selbst wie im Ausland eine regelrechte Spanien-Euphorie bewirkt, so war schon vor Ablauf des Jubeljahres der Einbruch erfolgt, von dem sich das Land nur allmählich erholte. Im Hinblick auf die Maastrichter Konvergenzkriterien blieb die spanische Wirtschaft deutlich hinter den Mindestanforderungen zurück, eine Teilnahme an der vorgesehenen Währungsunion erschien lange Zeit unwahrscheinlich. Vor allem konnte das Hauptproblem im Sozialbereich nicht gelöst werden: die hohe Arbeitslosigkeit, die (je nach Berechnungsgrundlage) zwischen 16 und 22 % lag. Arbeitslosigkeit und Sozialabbau für die Verlierer des ökonomischen Modernisierungsprozesses waren auch die Hauptgründe, weswegen sich zuerst die Gewerkschaften und allmählich immer breitere Schichten der Gesellschaft von der Regierungspolitik abwandten. Die Regierung mußte zumindest partiell Konzessionen machen. Das Ende der Sparpolitik führte auch zum Zusammenbruch der spekulativen "Kasino-Wirtschaft", ausländische Anleger zogen erschreckt ihre Gelder ab, die Pesete verlor an Wert, eine Welle von Pleiten und
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Entlassungen erfaßte das Land. An diesen Schwierigkeiten zerbrach schließlich das Reformbündnis zwischen Arbeitern und urbaner Mittelschicht, das über zehn Jahre lang die Grundlage "felipistischer" Politik gewesen war, nachdem die besserverdienenden Angestellten nicht länger bereit waren, mit höheren Steuern, steigenden Zinsen und stagnierenden Renten das soziale Netz für die Verlierer der sozialistischen Modernisierung zu finanzieren. 1996 gelang es schließlich den Konservativen, die Regierung zu übernehmen. Allerdings fiel der Wahlsieg des PP nur äußerst knapp aus; um regieren zu können, bedurfte der neue Regierungschef Jos6 Marfa Aznar der parlamentarischen Unterstützung durch die bürgerlichen Nationalisten Kataloniens (CiU), des Baskenlandes (PNV) und der Kanarischen Inseln (CC). Die erforderliche Rücksichtnahme auf die nationalistischen Parteien der Autonomen Gemeinschaften führte dazu, daß die neue konservative Regierung keine spanisch-nationalistische Politik treiben konnte, wie das große Teile der Partei und auch die Spitzenkandidaten im Wahlkampf angekündigt hatten. Auch die versprochenen Steuersenkungen für die Wohlhabenden, die eine wirksame Defizitbekämpfung erschwert hätten, konnten nicht durchgesetzt werden, da die Katalanisten dafür nicht zu haben waren. Stattdessen erhöhte die Regierung mehrere indirekte Steuern für Verbrauchsgüter (Tabak, Alkohol). Die eindeutig europäische Einstellung der katalanischen Partei und die außenpolitischen Erfahrungen des katalanischen Regierungschefs Pujol verhinderten eine allzu rechtsgerichtete Wirtschafts- und Sozialpolitik. Spaniens Wirtschaftsverbände und Großbanken zeigten sich mit der politischen Wende in Madrid zufrieden; insbesondere lobten sie die wirtschaftsliberalen Reformen – etwa die Einleitung eines umfangreichen Privatisierungsprogramms – und die "ausgleichende Dialogbereitschaft" mit den Sozialverbänden.
276
XII Die Wirtschaft in der Demokratie
Das Regierungsprogramm Aznars enthielt vier Schwerpunkte: Maßnahmen zur Stimulierung der Wirtschaft und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze; Vertiefung der regionalen Autonomie; Stärkung der demokratischen Institutionen; Fortführung des europapolitischen Engagements. In der Europapolitik sollte der Erfüllung der Maastrichter Konvergenzkriterien zur Teilnahme an der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion oberste Priorität eingeräumt werden. Bei seinem Regierungsantritt fand Aznar positive volkswirtschaftliche Zahlen vor: Die Aktienkurse waren auf einem historischen Höchststand, die Zinsen fielen auf das niedrigste Niveau seit mehreren Jahren, die Pesete stieg auf ein neues Jahreshoch. Mit rund 2,2 Millionen arbeitslos gemeldeten Personen erreichte die Arbeitslosigkeit Mitte 1996 den niedrigsten Stand seit 1982. Zurückgeführt wurde die Senkung der Arbeitslosenzahlen auch auf die Arbeitsmarktreformen der Regierung (drastische Liberalisierung des Arbeitsrechts, Legalisierung von "Lehrlingsverträgen" mit Taschengeldbezahlungen). Trotz der beeindruckenden Wirtschaftzahlen blieb die nach wie vor hohe Arbeitslosigkeit das ungelöste Problem des spanischen Wirtschaftslebens. Um die Jahrhundertwende beschäftigte die spanische Wirtschaft mit rund 12,5 Millionen Personen eine halbe Million weniger als 1974. Die spanische Bevölkerung war in diesem Zeitraum aber von 35,4 auf 39,2 Millionen Personen, also um knapp vier Millionen gewachsen; der Arbeitsmarkt hatte um 2,8 Millionen Personen zugenommen, die Beschäftigung jedoch war rückläufig. Das gewaltige Anwachsen der poblaciön activa, der Arbeit ausübenden und Arbeit suchenden Bevölkerung, ist vor allem auf die massive Eingliederung der Frauen in den Arbeitsmarkt zurückzuführen. Ende der 70er Jahre bestand die Arbeitsbevölkerung aus 9,2 Millionen Männern und 3,1 Millionen Frauen, zusammen somit 12,3 Millionen Personen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts waren es über 16 Millionen, wobei die Anzahl der Männer mit 9,8 Millionen fast gleichgeblieben war, während die der Frauen sich verdoppelt hatte; von diesen inzwischen sechs Millionen Frauen waren fast zwei Millionen arbeitslos. Mit 14% lag die Frauenarbeitslosigkeit mehr als doppelt so hoch wie die der Männer (6,5%). Ein Großteil der neugeschaffenen Arbeitsplätze war zeitlich begrenzt. Rund 38% aller Verträge hatten kurze Laufzeiten; in der Land- und der Bauwirtschaft betrugen die Zeitarbeitsverträge sogar 63% bzw. 62 %. Die Arbeitsmarktreformen der konservativen Regierung haben das Arbeitsrecht so weit liberalisiert, daß außertarifliche Arbeitsverträge, Zeitund Praktikantenanstellungen unterhalb des Mindestlohns ermöglicht wurden. Von den Gewerkschaften wurden die neuen Arbeitsverträge auf Zeit als contratos basura ("Müllverträge") vehement bekämpft; andererseits ermöglichten sie vielen den Neu- oder Wiedereintritt in den Arbeitsmarkt. Die neu zugelassenen Arbeitsvermittler spielten dabei eine wichtige Rolle (vgl. hierzu ausführlicher Kap. XV, 2: Gesellschaftliche Entwicklungen). Mitte 1999 waren 9,5% der Erwerbsbevölkerung (1,55 Millionen Spanier) arbeitslos gemeldet — die niedrigste Zahl seit 1979. Nach wie vor bestanden jedoch erhebliche strukturelle Probleme im Bereich der regionalen und der Jugendarbeitslosigkeit. Wie ernst die Situation der Jugendarbeitslosigkeit war, ließ das Verhalten von Regierungschef Aznar auf dem Luxemburger EU-Beschäftigungsgipfel von 1997 erkennen: Er war nicht bereit, den Gipfelbeschluß zu unterzeichnen, demzufolge sich jedes Land verpflichtete, Jugendlichen unter 25 Jahren und Langzeitarbeitslosen einen Ausbildungs- und Arbeitsplatz zu garantieren. Sein Argument lautete, Spanien könne eine derartige Maßnahme nicht finanzieren. Damit erwies sich dieses soziale Problem als das gravierendste in Spanien; Madrid hatte
Staat und Wirtschaft: Umstrukturierung und Modernisierung
277
andere, ökonomische EU-Bedingungen wie Defizitbegrenzung, Inflation oder Zinssätze akzeptiert, um die Euro-Prüfung zu bestehen. Im Sozialbereich fiel demgegenüber die außerordentliche Zurückhaltung der konservativen Regierung auf. Durch Ausgabenkürzungen, etwa durch niedrigere staatliche Investitionen, durch geringere Gehälter im Öffentlichen Dienst, durch Verkauf von Staatsfirmen und durch Gebührenerhöhungen (für Geldspielautomaten, Flughafensicherheit, Gesundheitskontrollen, Lizenzgebühren, Fernmeldebetreiber, Spezialsteuern auf Versicherungsprodukte und ähnliches mehr) wurde das Defizit auf die von Maastricht erlaubten drei% des Inlandproduktes gedrückt. Neben Streichungen bei öffentlichen Investitionen wurden die Subventionen für defizitäre Staatsbetriebe stark gekürzt; zahlreiche Privatisierungen staatlicher Betriebe wurden vorgenommen. Die Sparanstrengungen konzentrierten sich auf die drei Ausgabenposten Verwaltung, Unternehmenssubventionen, öffentliche Investitionen. Die Zustimmung der baskischen Nationalisten zum Staatshaushalt erhielt die Minderheitsregierung Aznar, nachdem sie der Regierung des Baskenlandes das Recht zugestand, "spezielle Steuern" (auf Tabak, Alkohol, Mineralöl) in ihrer Region selbst zu erheben. Ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der Franco-Diktatur hatte das Land den Anschluß an Europa auch in den Kategorien realer Konvergenz geschafft. Graphik 7 läßt deutlich werden, wie nahe inzwischen das Durchschnittseinkommen der Spanier dem EU-Mittel ist. Der Transformationsprozeß von einer ebenso abgeschotteten wie zurückgebliebenen Staatsverwaltungswirtschaft zur wettbewerbsfähigen, offenen Marktwirtschaft war allerdings lange und mühsam; und ohne die massive Hilfe und Rückendeckung der Europäischen Union wären Wohlstandssprung und Wirtschaftswandel kaum möglich gewesen. Auch in der Regierungszeit Aznars blieb Spanien der größte Nettoempfänger von EU-Mitteln (vor allem aus dem Kohäsions- und Strukturhilfefonds). Die Süderweiterung der Gemeinschaft hat sich im Rückblick für alle Beteiligten gelohnt (zum Verhältnis Spanien-EG/EU vgl. ausführlicher Kap. IX, 2: Spanien und die EG/EU). Hatte die erste Reform nach Übernah100 me der Regierung durch die Konservativen sich vor allem auf steuerliche Aspekte EU 25 (=Basis 100) bezogen — es wurden fiskalische Anreize zur Förderung der Investitionstätigkeit geschaffen — und eine Senkung der Kapi90 talgewinnsteuer zur Folge gehabt, so wurde im Februar 1997 ein zweites wirtschaftliches Liberalisierungspaket verabschiedet. Diesmal ging es im wesentlichen um die Einführung von mehr Wettbewerb 80 in zahlreichen zuvor geschützten Wirtschaftssektoren wie dem Boden-, dem i !! Fernmelde-, dem Energie- oder dem TransEU 15 (=Basis 100) ...
Graphik 7: Einkommen pro Kopf 70 88
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(in % des europäischen Durchschnitts; EU = 100)
278
XII Die Wirtschaft in der Demokratie
portwesen; mittelfristig sollten die Preise in diesen Dienstleistungsbereichen gesenkt und Arbeitsplätze geschaffen werden. Aus wahltaktischen Gründen blieben allerdings wichtige Bereiche wie der Arbeitsmarkt und das Gesundheitswesen von der Offensive ausgeklammert. Der bis dahin staatliche Telekommunikationskonzern Telefönica de Espafia befindet sich seit 1997 in privaten Händen. Für die Regierung waren die Privatisierungen nicht nur ordnungspolitisch überfällig, sondern auch ein Instrument zur Haushaltssanierung. Kurz danach kündigte Ministerpräsident Aznar den "völligen Ausverkauf aller Staatsbeteiligungen" an. "Spanien wird in das 21. Jahrhundert ohne Staatsunternehmen eintreten." Sein Land brauche einen weiteren "Liberalisierungsschub"; nur ein starker Privatsektor garantiere dauerhaft Wohlstand und Wachstum. Die Privatisierungsbilanz der konservativen Regierung ist beeindruckend. Das Industrieministerium meldete für die Jahre 1996 und 1997 staatliche Beteiligungsverkäufe im Volumen von umgerechnet mehr als 15 Milliarden €. Mit Repsol (Öl), Telefönica (Telekommunikation), Aceralia (Stahl) und Argentaria (Großbank) wurden vier Schlüsselkonzerne Spaniens binnen weniger Monate voll privatisiert. Im April 1998 begann auch die Privatisierung des 350 Jahre alten staatlichen Tabakunternehmens Tabacalera. Selbst das von Franco so hoch geschätzte Aluminiumkonglomerat des Staates wurde an die amerikanische Alcoa-Gruppe abgestoßen. Neben der Privatisierungsoffensive stand auch eine umfassende Deregulierung im Zentrum der Wirtschaftspolitik. Schlüsselmärkte wie Telekommunikation, Finanzen, Energieversorgung und Immobilien wurden von Regularien befreit und für den Wettbewerb geöffnet. Uralte Monopole im Tabak-, Transport-, Gas- und Telefongeschäft fielen. Selbst die Staatsholding Agencia Industrial del Estado wurde aufgelöst. Diese Holding sollte ursprünglich alle maroden Staatsbetriebe aus Krisenbranchen (Kohle, Stahl, Rüstung, Werften) am Subventionstropf durchfüttern. Fortan werde es für die Staatsbetriebe (mit Ausnahme des Steinkohlebergbaus) gar keine direkten Subventionen mehr geben, hieß es aus dem Industrieministerium. Spanien konnte ohne große Probleme die Maastrichter Konvergenzkriterien erfüllen. In den Jahren nach dem Machtantritt der Konservativen war die Wirtschaftsentwicklung Spaniens außerordentlich günstig. Die Währung hatte sich an den Märkten als stabil erwiesen, die Staatsverschuldung lag im Verhältnis zum Sozialprodukt unter dem EU-Durchschnitt, die Devisenreserven (56 Milliarden Dollar) hatten erheblich zugenommen. Die Stabilitätsfortschritte waren unverkennbar. Die Wirtschaft wuchs von 2,3% im Jahr 1996 auf 4 % im Jahr 1998. Auslandsgelder (vor allem aus der EU und den USA) strömten wieder massiv ins Land. Die Finanzwelt blickte mit großen Erwartungen der geplanten Währungsunion entgegen. Euroforia wurde zum Schlüsselwort an Spaniens Börsen, die Aktienkurse kletterten von einem historischen Rekord zum anderen, der Markt für Peseten-Auslandsanleihen boomte. Andererseits investierten die Spanier massiv im Ausland. Vor allem Lateinamerika wurde für spanische Unternehmen zum gelobten Kontinent. Mit einer spektakulären Serie von Übernahmen engagierten sich fast alle großen Konzerne Spaniens in den "lukrativen Wachstumsmärkten spanischer Zunge". Allein die fünf Gesellschaften Repsol (Öl), Telefönica (Telekommunikation), Mapfre (Versicherung), Banco Bilbao Vizcaya und Banco Santander (Banken) besetzten innerhalb kurzer Zeit Schlüsselpositionen der südamerikanischen Wirtschaft. Erklärtes Ziel war der Aufbau transatlantischer Verbundkonzerne für die hispanische
Staat und Wirtschaft: Umstrukturierung und Modernisierung
279
Welt. Im Sommer 1998 trafen allerdings die Asien- und die Rußlandkrise die investierenden Firmen, die Börse büßte den größten Teil ihrer Gewinne wieder ein. Trotzdem setzte die Madrider Börse 1999 auf den "Latino-Markt" und nahm den Handel mit iberoamerikanischen Titeln auf; die engen Wirtschafts- und Handelsbande zwischen Spanien und Lateinamerika sollten auf die Finanzmärkte übertragen werden. Zu den rapiden Veränderungen in der Wirtschaft der 90er Jahre gehörten auch die Bankfusionen. 1988 machten der Banco de Bilbao und der Banco de Vizcaya — alte Konkurrenten — den Anfang und fusionierten zum Banco Bilbao Vizcaya, der nach turbulenter Anfangszeit schließlich unter der geschickten Leitung von Emilio Ybarra eine beherrschende Position einnehmen sollte. Kurz danach folgten der staatliche Banco Exterior und die Corporaciön Bancaria de Esparia, die sich zu Argentaria zusammenschlossen. Die nächste große Fusion erfolgte zwischen dem Banco Central und dem Banco Hispano zum Banco Central Hispano, der allerdings große Überlebensprobleme hatte und sich schließlich mit dem Banco Santander, der zuvor Banesto geschluckt hatte, Anfang 1999 zum Banco Santander Central Hispano (BSCH) zusammenschloß. Im Oktober 1999 folgte schließlich noch der Zusammenschluß von Banco Bilbao Vizcaya mit Argentaria zum zweitgrößten Geldinstitut des Landes, dem Banco Bilbao Vizcaya Argentaria (BBVA). Aznar beendete seine Regierungszeit mit einem ausgeglichenen Staatshaushalt; hierzu hatten nicht nur Einnahmen aus Privatisierungen und die Sparmaßnahmen, sondern auch die EU-Hilfen beigetragen, die immerhin 1 % des BIP ausmachten (rund 8 Milliarden € pro Jahr). Zwischen 1987 und 2003 erhielt Spanien 85 Milliarden € aus den Fördertöpfen der Europäischen Union. Die Privatisierungen schwemmten in den Regierungsjahren des PP 33,5 Milliarden € in die Staatskasse. Auch die Arbeitsmarktsituation verbesserte sich in jenen Jahren erheblich: Betrug 1995 die Arbeitslosenquote noch 22,9%, so war sie 2004 auf knapp über 11 % gefallen; in dieser Zeit waren 4,5 Millionen Arbeitsplätze geschaffen worden. Die Gewerkschaften trugen durch Lohnzurückhaltung und Streikeindämmung erheblich zu den wirtschaftlichen Stabilitätserfolgen bei. (Erst in der zweiten Legislaturperiode des PP gingen die Gewerkschaften auf Konfrontationskurs, als sie auf eine 2002 dekretierte Arbeitsmarktreform mit einem Generalstreik reagierten.) Allerdings ließ die "Qualität" der geschaffenen Arbeitsplätze sehr zu wünschen übrig: Über 32 % waren Zeitarbeitsverträge von wenigen Monaten, die Berufsunfallquote war im europäischen Durchschnitt weit überdurchschnittlich hoch. Arbeitsplätze und Wohnungsnot sind seit langem die größten strukturellen Probleme der spanischen Wirtschaft und Gesellschaft. Dabei war die Bauwirtschaft der eigentliche Motor der ökonomischen Entwicklung. Der (auch durch niedrige Hypothekarzinsen bewirkte) Bauboom führte allerdings zu einer Kostenexplosion bei Wohnungen: Zwischen 1996 und 2003 stiegen die Preise pro Quadratmeter um 115%; im Landesdurchschnitt muß eine Familie 42 % ihres Monatseinkommens zur Abzahlung der Wohnungsdarlehen aufbringen. Die Wohnungspreise stiegen dreimal so schnell wie Löhne und Gehälter. Die spanische Gesellschaft trägt momentan eine Hypothekarschuldenlast von rund 526 Milliarden € vor sich her — mehr als das verfügbare Bruttoeinkommen Spaniens in einem ganzen Jahr. Die gesamte private Schuldenlast belief sich 2004 auf knapp 600 Milliarden €, fast 90 Milliarden mehr als das akkumulierte Privateinkommen aller spanischen Haushalte und ca. 75 % des spanischen BIP.
XII Die Wirtschaft in der Demokratie
280
Die Wirtschaftsbereiche
Tab. 11: Wirtschaftsdaten Spaniens Bevölkerung (in tausend) 2005
44.109
Erwerbslose (in tausend) 2005
1.841,3
Produktionsstruktur (2004) in % des BIP — Landwirtschaft
3,1
— Energie
2,2
— Industrie
14,5
— Bauwirtschaft
9,7
— Dienstleistungen
60,4
— Nettosteuern
10,0
BIP zu Marktpreisen (in Mio. €) 2004
837.316
Bilanz Leistungsbilanz (in tausend €) 2005 — Handelsbilanz
—
8.197.408
—
6.466.366
— Dienstleistungsbilanz — Übertragungsbilanz
793.350 —
782.032
Außenhandel 215.291
— Exporte (in Mio. €) — Importe (in Mio. €)
—
245.532
— Saldo
—
30.241
Inflationsrate 2005 in %
3,4
Arbeitslosenquote 2005 in %
8,7
2.
Die Wirtschaftsbereiche
a) Der Primärsektor: Land-, Vieh-, Forst- und Fischereiwirtschaft Auch wenn die Bedeutung der spanischen Landwirtschaft in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich zurückgegangen ist, erwirtschaftet sie (2004) immer noch 3,1 % des BIP und beschäftigt 5,9% der Bevölkerung, wobei die Schwankungen von Region zu Region sehr groß sind. Dabei läßt sich die Agrarlandschaft folgendermaßen gliedern: Den atlantisch beeinflußten, gebirgigen Nordsaum prägen grünlandbetonte Landschaften. In diesem "immerfeuchten" Spanien wird die Agrarstruktur durch Kleinbetriebe und Flurzersplitterung bestimmt, Rinderhaltung ist weit verbreitet. Im größten Teil des Landes herrscht
281
Trockenfeldbau vor (cultivo de secano); vor allem in den Zentralräumen muß sich der Anbau dem Wechsel von sommerlicher Hitze und winterlicher Kühle anpassen (Trockenbrachen). Hier wird die Agrarstruktur von Großbetrieben dominiert. Klassische mediterrane Leitkulturen des Trockenfeldbaus sind Getreide und Dauerkulturen wie Oliven- und Weinanbau, seit einigen Jahrzehnten auch Sonnenblumenanbau. Bei Oliven, Olivenöl und Wein zählt Spanien zu den weltweit größten Exporteuren. Der Trockenfeldbau ist traditionellerweise mit extensiver Schafhaltung (z.T. immer noch in Form von Transhumanz) und der Zucht von Kampfstieren verbunden. Der Bewässerungsfeldbau (cultivo de regadio) nimmt ca. 15 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche ein; er ist im wesentlichen auf den sommertrockenen Teil des Landes beschränkt. Dabei wird das Defizit an Niederschlägen durch Wasserzuleitung aus Grundwasservorräten oder aus Flüssen und den seit den 1950er Jahren zahlreich angelegten Stauseen (embalses) ausgeglichen. Im Landesinneren wurden zwischen dem Zweiten Weltkrieg und 1982 mehr als 1,7 Millionen Hektar Bewässerungsfläche neu geschaffen. In diesen Gegenden werden Gemüse, Obst (Zitrusfrüchte), Futterpflanzen und Reis angebaut. Vor allem in den mediterranen Küstenebenen (Valencia) spielt der Bewässerungsfeldbau eine große Rolle. Im extrem semiariden Südosten des Landes gibt es seit einiger Zeit moderne Sonderformen des Bewässerungsfeldbaus; in der Provinz Almerla etwa nutzt man die lange winterliche Sonnenscheindauer und produziert in Gewächshäusern (invernaderos) mit Folienabdeckung hochwertiges Freilandgemüse, Obst und Schnittblumen, allerdings unter ökologisch höchst bedenklichen Bedingungen. Durch agrartechnologische Innovationen, vor allem durch wärmespeichernde und verdunstungshemmende Abdeckung der Anbauflächen, wurden die durchschnittlichen Anbaubedingungen erheblich verbessert. Die meisten Plastikgewächshäuser sind heute beheizbar, um kühle Temperaturen im Winter zu kompensieren. Zum Einsatz kommen vor allem billige nordafrikanische Arbeitskräfte. Die Erntetermine können im Durchschnitt um vier Wochen vorgezogen werden. Der Knappheit und dem hohen Preis des Wassers begegnet man mit kapitalintensiver Tropfbewässerung. Viele Gewächshäuser sind inzwischen computergesteuert, sodaß sich der Anbau immer mehr von der traditionellen Bodenpflanzung löst (Wagner 2001, 260). Ein wichtiges Element der Agrarpolitik bildet der "Nationale Plan für die Bewässerungslandwirtschaft" von 2002, der im Zusammenwirken mit dem "Nationalen Wasserplan" (Plan Hidrolögico Nacional) eine Ausweitung des Bewässerungsfeldbaus vorsieht. Das Hauptproblem besteht in der äußerst ungleichgewichtigen räumlichen Verteilung des Wassers, nachdem nur ein geringer Teil der Landesfläche auf niederschlagsreiche Gebiete (vor allem im Norden) entfällt, den weitaus größeren Teil hingegen trockene Gebiete ausmachen (besonders die östliche Mittelmeerküste und der Süden), wo die Nachfrage nach Wasser am größten ist (intensiver Bewässerungsfeldbau). Wasser ist daher seit längerem ein bedeutendes Handlungsfeld der Infrastruktur- und der Umweltpolitik. Verteilungskonflikte zwischen den Regionen sind an der Tagesordnung, die Interessenkonflikte zwischen wasserreichen und -armen Regionen haben in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Eine Korrektur der naturgegebenen hydrologischen Grundbedingungen ist durch die künstliche Überleitung von Wasser über die Grenzen der Einzugsgebiete hinweg möglich. Das größte und bekannteste Wasserbauprojekt dieser Art ist die Überleitung (trasvase) vom
282
XII Die Wirtschaft in der Demokratie
Die Wirtschaftsbereiche
Karte 21: Regionale Wasserbilanz der spanischen Flußeinzugsgebiete
Frankreich
5.323
:Barcelona
Überschuß Defizit hm' jährlich 0
100 200 300 km
283
dar. Durch großräumige Aufforstungen versucht man seit einigen Jahrzehnten, die Bodenerosion (und die extremen Überschwemmungen) zu verringern. Allerdings ist bis heute die Bodenerosion, die zur Desertifikation weiter Landstriche (vor allem im Süden und Zentrum des Landes) geführt hat, eines der alarmierendsten Umweltprobleme Spaniens geblieben. Das Land verliert pro Jahr mehr als eine Milliarde Tonnen Boden. Ursachen der Verwüstung sind übermäßige Abholzungen, Waldbrände, Überweidung, ackerbauliche Nutzung in ungeeigneten Hanglagen und chemische Überdüngung (Nohlen/Hildenbrand 2005, 352). Die Mechanisierung der Landwirtschaft, die in den 1960er Jahren einsetzte, führte dazu, daß leicht mechanisierbare Kulturen wie Weizen, Mais und Sonnenblumen auf Kosten traditioneller, handarbeitsintensiver Kulturen zunahmen. Im Rahmen der Mechanisierung erlebte die Landwirtschaft gewaltige Produktionssteigerungen, wobei sich auch ein verändertes Konsumverhalten der Verbraucher bemerkbar machte. Mit zunehmender Urbanisierung sank etwa die Nachfrage nach traditionellen Leguminosen (Bohnen, Kichererbsen), nach Schaf- und Ziegenfleisch. Dafür erlebten Produkte wie Milch, Rind- und Schweinefleisch, Früchte und Gemüse, pflanzliche Öle und Fette enorme Steigerungsraten. Zwischen 1960 und 1985 stieg zum Beispiel die Zahl der für die Schlachtung vorgesehenen Rinder und Schweine um das Fünfzigfache. Der landwirtschaftliche Transformationsprozeß führte auch zu einem betriebsstrukturellen Wandel. Bis 1984 kam es bei 20 % der ausgewiesenen Flächen zur Flurbereinigung und, damit verbunden, zur Zusammenlegung von Eigentumsparzellen. Damit entstanden in vielen Fällen rentable Betriebsgrößen. Der agrarwirtschaftliche Strukturwandel hatte zwar gewaltige soziale Folgen (etwa massenhafte Abwanderung vom Land), legte aber die Grundlage dafür, daß Spaniens Landwirtschaft den EG-Beitritt relativ gut bewältigen konnte. Tab. 12: Betriebsgröße, Betriebe und Nutzflächen 1995
r
Betriebsgröße in ha <5
oberen Tajo zum Segura mit Hilfe des Tajo-Segura-Kanals, einer ingenieurtechnischen Meisterleistung der 1970er Jahre, von der vor allem die "Dürre-Provinzen" Alicante, Murcia und Almerfa im Südosten profitiert haben. Über 70% der Fläche Spaniens liegen in einer Höhe von über 500 Metern; beherrschend sind die ausgedehnten Hochflächen, die von einzelnen Gebirgszügen überragt werden. Zentralspanien wird von der hochgelegenen Meseta (500-800 m ü.M.) eingenommen, diese wird von Gebirgssträngen umrahmt. Die Anbauflächen für Getreide, Kartoffeln, Ölpflanzen und Zuckerrüben erstrecken sich eher im Landesinneren, während in den Küstenregionen und flußnahen Gebieten primär Obst- und Gemüseanbau betrieben wird. Spanien erzeugt ca. 40% des Olivenöls der Europäischen Union bzw. rund 30% der Weltproduktion. In der Fischereiwirtschaft nimmt die spanische Produktion in der EU die Spitzenposition ein. Spanien erreicht den vierthöchsten Wert in der Gesamtagrarerzeugung der EU (hinter Frankreich, Deutschland und Italien). Mit der Waldvernichtung, die schon in vorrömischer Zeit einsetzte, sind auf vielen Hängen die Böden stark erodiert und in die Flußtäler abgespült worden. Die starke Bodenzerstörung auf den Ackerflächen stellt ein strukturelles Problem der spanischen Landwirtschaft
Betriebe (in %) Nutzfläche (in %)
5-10
10-20
20-50
57,7
15,9
11,3
8,4
6,7
6,3
6,0
8,7
14,3
64,7
> 50
absolut 1,3 Mio. 24,7 Mio. ha
Tabelle 12 läßt deutlich werden, daß der Kleinbetrieb zwar das dominante Element in der Agrarlandschaft ist, aber nur einen kleinen Teil der Nutzfläche ausmacht. Demgegenüber nimmt die Größenklasse über 50 Hektar nur wenige Prozentpunkte ein, allerdings mit dem bei weitem größten Anteil an der landwirtschaftlich genutzten Fläche. Als Spanien 1986 der EG beitrat, war absehbar, daß es zu einer Änderung der gemeinschaftlichen Agrarpolitik kommen würde. Immer weitere Ausgleichszahlungen und Subventionen waren nicht länger finanzierbar. In den Folgejahren kam es in der Gemeinschaft zu einer schrittweisen Rücknahme der Agrarsubventionen, wodurch die spanische Landwirtschaft einem besonders hohen Anpassungsdruck ausgesetzt wurde. In nur wenigen Jahren änderte sich die Agrarstruktur gravierend: Die Zahl der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft sank rapide, die landwirtschaftlich genutzte Fläche ging von 20,4 Millionen Hektar (1985) auf 19,5 Millionen Hektar (1994) zurück, die ländliche Bevölkerung schrumpfte, die wirt-
284
XII Die Wirtschaft in der Demokratie
Die Wirtschaftsbereiche
schaftliche Wertschöpfung der Landwirtschaft nahm allerdings zu. Damit verbunden war eine grundlegende Umverteilung der Produktionsschwerpunkte. Seit dem EG-Beitritt des Landes ist der Trockenfeldbau rückläufig, wobei wegen der sommerlichen Trockenheit ohnehin nur 42 % der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche ackerbaulich genutzt werden. In den großen Ebenen überlebt der Trockenfeldbau auf großen, extensiv bewirtschafteten Flächen, bei Wechselfeldkulturen alterniert häufig Getreide mit Sonnenblumen, bei Dauerkulturen dominieren weiterhin (vor allem im Süden) Oliven- und Weinanbau. Rund 30 % der spanischen Landesfläche sind bewaldet, allerdings spielt die Forstwirtschaft keine große Rolle. Im mediterran-trockenen Landesteil haben die dehesas (mit Korkund Steineichen durchsetzte Heidelandschaften) wegen der dort praktizierten Schweinezucht eine gehörige wirtschaftliche Bedeutung; die schwarzen Schweine liefern den weltweit begehrten luftgetrockneten Schinken (jamön iberico). Weitaus bedeutender als die Forst- ist die Fischereiwirtschaft. Spanien verfügt über die größte Fischereiflotte der EU (knapp 15.000 Schiffe). Im Rahmen der Anpassung an EURichtlinien kam es allerdings nach 1986 zu einer deutlichen Reduzierung der Schiffszahl und der Bruttoregistertonnen. Mit Unterstützung durch EU-Subventionen wurde ein Plan zur Modernisierung und Anpassung der Fischereiflotte durchgeführt. Die wichtigen VereinKarte 22: Spaniens Wirtschaft Santande Cortribe-r• Lego
IPP
oPamplona
m" • )ANDORRA ,
barungen mit dem Nachbarland Marokko betreffen seit dem EG-Beitritt Spaniens die gesamte Gemeinschaft. 2001 scheiterten die Verhandlungen über ein neues Fischereiabkommen zwischen der EU und Marokko, wodurch die spanische Fischereiflotte hart getroffen wurde, da sie den Zugang zu den marokkanischen Fanggründen verlor (Nohlen/Hildenbrand 2005, 49). Zentrum der Fischkonservenindustrie ist Galicien.
b) Der Sekundärsektor: Industrie und Bauwirtschaft Seit dem EG-Beitritt Spaniens erlebt die Industrie des Landes eine zunehmende wirtschaftliche Einbindung in die globale Produktionskette. Vor allem im Bereich der Automobilbranche machten sich ausländische Direktinvestitionen schon früh bemerkbar; zwischen 1985 und 1990 verzehnfachten sich sodann die Auslandsinvestitionen in Spanien. Mit der Modernisierung der Industrie einher gingen Rationalisierung und Personalabbau im verarbeitenden Gewerbe; im Unterschied zu den 60er Jahren lernte Spanien in den 70er und 80er Jahren daher industrielle Arbeitslosigkeit kennen. Seit längerem schon gehört Spanien zu den zehn bedeutendsten Industriestaaten. Der Sekundärsektor erzeugt eine Bruttowertschöpfung von noch rund 30 % des BIP, wobei dieser Anteil in den vergangenen Jahrzehnten rückläufig war (in den 60er und 70er Jahren lag er noch zwischen 35 und 40 %); die Branche gibt 29,5 % der Beschäftigen Erwerbsmöglichkeiten. Im Jahr 2004 waren folgende zwölf Unternehmen die wichtigsten in Spanien: Tab. 13: Die wichtigsten Unternehmen Spaniens 2004
N
Unternehmen
Real
Sektor
Einnahmen (in Mio. €) Personal
reelone
-er arragana Utrillaara
285
NettoGewinn
1
Repsol YPF
Erdöl und Derivate
40.585,00
32.376
2.180,00
2
Telefönica
Telekommunikation
30.321,89
156.819
3.258,30
3
Endesa
Elektrizität
17.642,00
26.985
1.833,00
4
El Corte Ingles
Warenhaus
15.049,01
87.610
611,46
5
Compahia Espahola de Petröleo
Energie
14.687,55
10.640
657,26
6
Telefönica Möviles Esparia
Telekommunikation
11.827,59
14.012
1.612,19
7
ACS Act. de Construcciön y Servicios
Bausektor und Immobilien
10.960,65
106.994
477,49
8
Mondragön Compahia Cooperativa
Finanzgesellschaft
10.459,00
70.884
502,00
9
Iberdrola
Elektrizität
ar ,OTeruel
9 ,;
Palme Malleu 5:1 Quecksilber Ril Magnesium Blei Lgi Zinn 01 Titan GO Uran Wolfram 25 Zink
purntollano
•
e
kante
unsrem
Sims
Materea
Caatellän la Plane
5 Kernkrahwerk • Erdiffraffinerie • Aluminiumerzeugung Ge 11..etalthüro Cu
-
Erdölleitung
Maga
Cädi
Wald
Gibraltar (brat( 0
SO
100
Im Inn
ora'lar
MAROKSK0,-/Vremit. (9.P.1
9 d
Weizen Reis Zuckerrüben Zuckerrohr
9
Ir
Zitanfrüchte Weinboa Oliv. Bewässerungskullaren
Steinkohlenbergbau 941 Braunkohlenbergbau Erdölförderung A SI Silber 22 Gold ce2 Kupfer KI Eisen
® O e e
Eisen-, Stahlwerk
22:279' Elektroindustrie Krafdahrzeugbou Schiffbau 5 chemische Induroie Temilindromie OSOT Nahrungemigelindrotrie Wein-, Sektkellereien © wichtiger Handelshoten • Fischereihafen -011- Industrieshand. mir Staudamm
y
10.270,74
13.019
1.223,05
10 Altadis
Verschiedene
9.707,08
25.699
469,55
11 Centros Comerciales Carrefour
Warenhaus
9.671,60
49.275
341,00
12 Renault Espaha
Automobilbranche
8.533,00
14.181
141,60
286
XII Die Wirtschaft in der Demokratie
Im Unterschied zu anderen Industriestaaten ist die relative Bedeutung der Großunternehmen in Spanien allerdings geringer, was die Wettbewerbsfähigkeit des Landes beeinträchtigt. In Spanien stellten (im Jahr 2000) die Großunternehmen (mit jeweils mehr als 250 Beschäftigten) nur 20,3% der Beschäftigten, während die Kleinstbetriebe (mit jeweils weniger als 10 Beschäftigten) 40,6% sowie Klein- und Kleinstbetriebe zusammengenommen (1-49 Beschäftigte) 65% der Beschäftigten stellten. Die Dominanz von Kleinbetrieben erschwert auch den Zugang zu hochwertiger Technologie; gerade ihre Schwäche im Technologie- und Innovationsbereich ist eines der Hauptprobleme der spanischen Industrieunternehmen. Viele Industriebereiche hängen übermäßig von ausländischer Technologie ab, häufig produzieren sie mit ausländischen Patenten oder unter Lizenz ausländischer Firmen (Noblen / Hildenbrand 2005, 51). Manche Sektoren, etwa der Chemiebereich, werden von multinationalen Unternehmen beherrscht. Der dem Umsatz nach wichtigste Industriezweig ist traditionellerweise die Nahrungsmittelbranche, die bei 14% Beschäftigten 16,7% des industriellen Gesamtumsatzes erwirtschaftet, gefolgt von der Produktion von Transportmaterial (12,8%) sowie der Eisen- und Stahlerzeugung (11,5%). Bei den Beschäftigten folgt sodann die Textil-, Bekleidungs-, Lederwaren- und Schuhindustrie. Die Gesellschaftssitze der 100 führenden Industrieunternehmen konzentrieren sich auf die drei Provinzen Madrid (1997: 61 Sitze), Barcelona (1997: 18 Sitze) und Bilbao (1997: 6 Sitze). Von besonderer Bedeutung ist der Automobilbau (Peugeot Citroän Automöviles, Renault Esparia, Seat, Opel Esparia de Automöviles). Auf ihn entfällt rund ein Viertel aller Exporte, indirekt hängen 500.000 Arbeitsplätze an der Branche, der Staat bestreitet circa 22% seiner Steuereinnahmen aus diesem Bereich. Im Jahr 2003 produzierte Spanien drei Millionen Fahrzeuge (davon 2,4 Millionen Pkw), von denen rund 80% exportiert wurden. Von den gut 2,7 Millionen spanischen Unternehmen (2002) entfallen allerdings nur 9,1 % auf den Industriesektor, immerhin noch 12,4% auf die Bauwirtschaft und weit überwiegende 78,5% auf den Dienstleistungssektor. Mit großem Abstand überwiegen rein numerisch die Klein- und Mittelbetriebe (Pequerias y Medianas Empresas, PYMES). An die 90% aller Unternehmen verfügen über weniger als fünf Beschäftigte. Im Industriebereich gehören 90% aller Unternehmen zu den PYMES, und diese geben 64% der in dieser Branche Beschäftigten Arbeit. Klein- und Mittelbetriebe haben in den letzten beiden Jahrzehnten auch die meisten neuen Arbeitsplätze geschaffen. Im Jahr 2004 befanden sich unter den nach Einnahmen 100 bedeutendsten Unternehmen Europas drei spanische: Repsol YPF (Mineralölsektor), Telefönica (Telekommunikation) und Banco Santander Central Hispano (Finanzdienstleistungen), unter den ersten 500 weitere vier (Endesa / Elekrizität; BBVA / Finanzdienstleistung; Cepsa / Mineralölsektor; ACS / Bauwirtschaft). Der Bausektor gehört seit langem zu den dynamischsten Bereichen der spanischen Wirtschaft. Die Baubranche boomt wie nirgends sonst in Europa, angetrieben von niedrigen Bauzinsen und einer schier grenzenlosen Nachfrage nach Wohnraum (auch seitens vieler Dauertouristen).
Die Wirtschaftsbereiche
287
Tab. 14: Branchenstruktur der Industrie 1993/2002 Industriezweig
Beschäftigte 2002 (absolut)
Bergbau/Erdöl
2002 (in%)
Netto Umsatz (Zum Vergleich 1993 in %)
2002 (in %)
50.870
1,9
2,7
6,0
Nahrungsmittel/Getränke/Tabak
371.738
14,0
16,2
16,7
Textil/Kleidung/Leder/Schuhe
286.534
10,8
12,2
5,0
Holz/Kork
103.734
3,9
3,7
2,1
PapierNerlagswesen/Druck
194.309
7,3
7,0
6,0
Chemie
134.566
5,0
5,9
8,5
Gummi/Plastik
122.478
4,6
3,7
3,8
Verschiedene
190.286
7,1
6,6
6,0
Nichtmetallische Mineralprodukte Eisen-/Stahlerzeugung/Metallprodukte
414.080
15,6
12,6
11,5
Maschinenbau/Mechanische Geräte Elektrische, elektronische und optische
190.450
7,1
5,9
5,3
Materialien und Geräte
157.497
5,9
5,9
5,5
Transportmaterial
217.693
8,2
8,2
12,8
Verschiedene Fertigungsindustrien
167.922
6,3
6,1
3,0
59.985
2,3
3,1
7,9
2.662.093
100,0
100,0
100,0
Wasser/Energie Insgesamt:
c) Der Tertiärsektor: Dienstleistungen Spanien ist längst ein Dienstleistungsland. Seit den 1960er Jahren hat die Tertiärisierung der Wirtschaft immer weiter um sich gegriffen. Das bedeutet, daß seit Jahrzehnten sowohl der Anteil des Dienstleistungssektors am Bruttoinlandprodukt als auch die Beschäftigung im Tertiärsektor deutlich dominieren. Lag im Jahr 1960, zu Beginn der rasanten Wirtschaftsentwicklung Spaniens, der Anteil des Tertiärsektors am BIP noch bei 40,6% (Erwerbstätigkeit: 30,6%), so stieg er bis 1975 auf 51,1 % (Beschäftigung: 41,4%), bis 1998 auf 65,2% und bis 2002 auf 68,3% (Beschäftigung: 64,7 %). Die Anteile des Tertiärsektors an der regionalen Bruttowertschöpfung variieren von einer Autonomen Gemeinschaft zur anderen; sie liegen in den touristischen Hochburgen Balearen und Kanarische Inseln mit rund 80% an der Spitze, gefolgt vom Verwaltungs- und Finanzzentrum Madrid mit rund 75%.
288
XII
Die Wirtschaft in der Demokratie
Die Wirtschaftsbereiche
Zweifellos spielt der Tourismus als zentraler Dienstleistungsbereich in vielerei Hinsicht für Spanien eine entscheidende Rolle. 2005 reisten über 92 Millionen ausländische Besucher nach Spanien, von denen über 55 Millionen (statistisch gesehen) als Touristen betrachtet werden (weil sie mindestens einmal übernachteten), der Rest als "Besucher" oder "Exkursionisten". Spanien liegt damit weltweit (hinter Frankreich) auf dem zweiten Platz sämtlicher Tourismusdestinationen mit einem Marktanteil von 7%. Die Bruttoeinkünfte im Tourismus beliefen sich 2004 auf 36,3 Milliarden €, die Netto-Einkünfte (nach Abzug der Zahlungen an ausländische Firmen) immer noch auf 26,6 Milliarden €. Die Einnahmen aus dem Tourismus tragen erheblich zur Verringerung des großen Außenhandelsdefizits bei. Tab. 15: Touristen und Deviseneinnahmen 1996-2005 Jahr
Ausländische Besucher (in Tsd.)
Einnahmen (in Mio. €)
Zahlungen (in Mio. €)
Saldo (in Mio. €)
1996
61.785,4
20.975
3.749
17.227
1997
64.962,9
23.668
3.973
19.695
1998
70.857,7
26.806
4.491
22.315
1999
76.391,9
30.416
5.166
25.250
2000
74.413,0
33.750
5.967
27.783
2001
75.712,0
36.602
6.661
29.941
2002
78.952,7
35.543
7.020
28.523
2003
81.944,1
36.871
7.315
29.556
2004
85.872,2
36.376
9.772
26.604
2005
92.118,3
Die wirtschaftliche Bedeutung des Tourismus spiegelt sich nicht nur in den Einnahmen, sondern nicht minder in den Beschäftigungszahlen wider. Ein Viertel aller spanischen Unternehmen im Dienstleistungsbereich ist dem Tourismussektor zuzurechnen, mehr als die Hälfte davon sind Hotelbetriebe und Reisebüros. 2001 waren über 1,6 Millionen Arbeitnehmer im Tourismussektor beschäftigt; die höchste Beschäftigungsrate in diesem Bereich weisen die Balearen auf, gefolgt von den Kanarischen Inseln und — mit deutlichem Abstand — von Kantabrien, Asturien, Katalonien, Madrid und Valencia. "Das Wachstum, an das sich die spanische Wirtschaft in den Tourismusregionen beinahe wie selbstverständlich gewöhnt hat, schlägt sich zuallererst in einer hohen und jährlich steigenden Besucherzahl nieder. Der Dienstleistungssektor sowie die private und öffentliche Bautätigkeit entwickelten sich so in einigen Gegenden Spaniens zu den fast ausschließlichen Grundpfeilern der Wirtschaft. Aber sie stehen in einer so prekären Abhängigkeit vom labilen Tourismusgeschäft, daß das Ausbleiben der Besucher nicht selten Bauvorhaben gänzlich stoppt und schwere Beschäftigungsprobleme in der betroffenen Region nach sich zieht.
289
Auch andere Auswirkungen des Tourismus lassen das 'gute Geschäft' durchaus in einem problematischen Licht erscheinen. So wurde in nicht wenigen Fällen die Landschaft auf irreversible Weise verändert, landwirtschaftliche Aktivitäten verschwanden aus einigen Gegenden gänzlich, das Verhältnis zwischen den drei Wirtschaftssektoren geriet aus dem Lot" (Domfnguez Rodriguez 2004, 578). Begonnen hatte der Tourismusboom in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. 1950 reisten 750.000 Personen nach Spanien, 1955 waren es schon 2,5 Millionen, 1960 über sechs Millionen, 1965 über 14 Millionen, 1970 über 24 Millionen, 1975 über 30 Millionen, 1980 über 38 Millionen, 1990 über 52 Millionen, 2000 über 74 Millionen. Die schwindelerregenden Zuwächse wurden nur in den 70er Jahren durch konjunkturelle Fluktuationen unterbrochen. Der weitaus größte Teil der Touristen (rund 75 %) kommt aus Europa, vor allem aus Großbritannien, Deutschland und Frankreich. Bemerkenswert ist die Treue, mit der Spanien Jahr für Jahr als Urlaubsdestination gewählt wird. Die hohen Touristenzahlen sind vor allem auf diese Treue zurückzuführen, da mindestens 60 % der Besucher schon früher einmal Spanien besucht haben, 70% schon mindestens viermal. Der seit den 50er Jahren gewaltig expandierende Tourismus machte eine Infrastruktur erforderlich, über die das Land anfangs nicht verfügte. Innerhalb kürzester Zeit mußten Hotels und Appartements, Straßen und Flughäfen gebaut werden. Die Bautätigkeit boomte und sorgte für erhebliches Wirtschaftswachstum in den touristischen Regionen. Trotzdem fehlte es oft an Raumordnungsplanung und elementarsten Erschließungsmaßnahmen, die Bebauung war mitunter chaotisch. Der saisonabhängige Massentourismus mit seinen sprunghaften Bevölkerungssteigerungen zog einen beträchtlichen Raumbedarf für die Errichtung von Wohn- und Freizeitstrukturen nach sich; in vielen Fällen führte er zur Anfälligkeit der betroffenen Regionen für ökologische Destabilisierungen. Inzwischen sind mit den Preisen auch die Bedürfnisse gestiegen, und Spanien ist bemüht, das Image von ausschließlich "Sonne und Meer" zugunsten eines qualitativ differenzierteren Angebots (Kultur-, Sport- oder Ökologietourismus) loszuwerden. Zum Ausbau touristischer Unterkünfte kam der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur. Schon 1967 wurde ein Staatsplan zur Verbesserung des Straßennetzes verabschiedet; 1980 folgte der Plan zur Errichtung von Autobahnen, der den Bau von 6.500 Kilometern vierspuriger Schnellstraßen vorsah. Das Jahr 1992 brachte mit seinen Großveranstaltungen in Barcelona (Olympische Spiele), Madrid (Kulturhauptstadt) und Sevilla (EXPO) einen weiteren Anstoß zum Neubau wichtiger Verkehrswege, u. a. eines Schienennetzes für den Hochgeschwindigkeitszug AVE auf der Strecke Madrid-Sevilla. Geplant sind zwei weitere Trassen: von Madrid über Zaragoza und Barcelona nach Montpellier und von Madrid über Vitoria nach Dax, wodurch eine Verbindung mit dem französischen Hochgeschwindigkeitsnetz hergestellt werden soll. Das vorerst letzte Projekt bezieht sich auf die Hochgeschwindigkeitsstrecke Madrid-Lissabon. Seit Beginn der 90er Jahre machen sich Tourismusunternehmer und Politiker in Spanien zunehmend Gedanken, wie die Zuverlässigkeit und Regelmäßigkeit der Einnahmequelle Tourismus sichergestellt werden können. In ihren Tourismusplänen geht es der staatlichen Politik darum, die starke Saisongebundenheit des Fremdenverkehrs zu reduzieren, die geographische Konzentration (auf den Inseln und an den Küsten) zu vermindern, das Angebot zu diversifizieren, neue Produkte zu schaffen und die Qualität der Dienstleistungen zu ver-
290
XII Die Wirtschaft in der Demokratie
bessern. Inzwischen liegt ein Großteil der Zuständigkeiten für den Tourismus bei den Autonomen Gemeinschaften. Der Sektor steht vor der Entscheidung, ob er sich für Qualität an Stelle von Quantität entscheiden soll. "Die Ausweitung des touristischen Angebots auf das Binnenland und die Entwicklung neuer Tourismusformen, die im Grunde auf eine stärkere Nutzung historischer, aber auch landschaftlicher Qualitäten fern der Küste hinauslaufen, birgt die Gefahr in sich, daß auch im Binnenland die Umwelt aus dem Gleichgewicht gerät, wenn man diesen neuen Tourismus mit den gleichen Rezepten der Erschließung für die Massen verfolgt" (Domfnguez Rodrfguez 2005, 603). Augenmaß und überlegtes Vorgehen sind somit gefragt. Neben dem Tourismus spielen im Tertiärsektor der Handel und die Finanzdienstleister (Banken und Sparkassen) eine herausragende Rolle. Innerhalb des Tertiärsektors ist der Binnenhandel sogar der bedeutendste Bereich, auf den ca. 46 % der Unternehmen, 64% des Umsatzes und 42 % der Beschäftigten in diesem Sektor entfallen. Der private Bankensektor spielt im Finanz- und Kreditwesen eine bedeutendere Rolle als die Sparkassen, wenngleich diese etwa 40% des Sparvolumens auf sich vereinigen. Seit 1978 sind ausländische Banken wieder zugelassen. Ähnlich wie in Deutschland, kennt das private Kreditgewerbe in Spanien traditionell mehr die gemischte Universalbank als die Spezialbank. Zusammengeschlossen sind die Banken in der einflußreichen Asociaciön Espafiola de Banca Privada (AEB), die wiederholt offen in die (Partei-)Politik eingegriffen hat. Die Bankenaufsicht obliegt der Zentral- bzw. Notenbank, dem 1962 verstaatlichten Banco de Esparia. Der gewaltige Einfluß der Banken wird durch deren starke Verflechtung untereinander weiter gesteigert. Hinzu kommen die großen Industriebeteiligungen bei Kredit- und Geschäftsbanken sowie die traditionell niedrige Selbstfinanzierungsquote der spanischen Unternehmen, die diese stärker von Bankkrediten abhängig macht. Banken und Sparkassen bilden daher die entscheidende Wirtschaftsmacht in Spanien, die wichtige Firmen in allen Branchen kontrollieren. Seit Ende der 80er Jahre haben die Banken auf den steigenden Globalisierungsdruck durch zahlreiche Fusionen und die Schaffung wettbewerbsfähigerer Unternehmenseinheiten reagiert. Insgesamt gibt es ca. 370 Kreditinstitute mit ungefähr 39.000 Filialen (an die 14.700 Banken, 20.000 Sparkassen und 4.000 Kreditgenossenschaften) (s. Tab. 16). Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wies der spanische Bankensektor eine der höchsten Konzentrationen Europas auf: Die zwei größten spanischen Banken, der BSCH und der BBVA, besaßen um die Jahrhundertwende zusammen einen Marktanteil von 37%, die fünf größten Banken kamen zusammengenommen auf 53%. Neben der hohen Bankenkonzentration gilt als weitere Besonderheit des spanischen Bankensektors die markt- und rentabilitätsorientierte Arbeitsweise sowohl der Privatbanken als auch der Sparkassen; die deutliche Kostenreduzierungspolitik der Kreditinstitute führte zur Schließung zahlreicher Filialen.
3. Spanien in der Weltwirtschaft Seit der ökonomischen Öffnung des Landes zu Beginn der 1960er Jahre fand eine immer engere Verflechtung der spanischen mit der Weltwirtschaft statt. Die Integration erfuhr durch den EG-Beitritt Spaniens 1986 und sodann abermals in den 90er Jahren im Zuge der
Spanien in der Weltwirtschaft
291
Tab. 16: Die führenden Banken und Sparkassen 2005 Banken
Vermögens- Anteil am Sparkassen bestand Vermögens(in Mio. €) bestand aller Banken (in %)
Vermögensbestand (in Mio. €)
Anteil am Vermögensbestand aller Sparkassen (in %)
Banco Bilbao Vizcaya Argentaria (BBVA)
272.388
28,36
La Caixa
150.616
19,52
Banco Santander Central Hispano
249.867
26,02
C.A. de Madrid
105.013
13,61
Banco Espahol de Crklito
81.082
8,44
Bancaja
46.001
5,96
Banco Popular Espanol
55.839
5,81
C.A. de Catalunya
43.537
5,64
Banco Sabadell
47.952
4,99
C.A. Mediterräneo
41.188
5,34
Bankinter
39.399
4,10
C.A. de Galicia
34.161
4,43
Banco Pastor
18.877
1,97
Ibercaja
26.595
3,45
Globalisierung eine deutliche Intensivierung. Von den drei wichtigsten Bereichen der Außenwirtschaft — dem Außenhandel, den Auslandsinvestitionen und dem Tourismus — wird kurz auf die ersten beiden eingegangen, da der Tourismus bereits dargestellt worden ist (vgl. Kap. XII, 2 c). Seit den 60er Jahren hat der Anteil des Außenhandels am spanischen BIP kontinuierlich zugenommen; seit Mitte der 90er Jahre liegt er bei ungefähr 50 %. Exportierte Spanien im Jahr seines EG-Beitritts Güter im Wert von 22,9 Milliarden €, so konnten die Ausfuhren bis 2002 auf 133 Milliarden € gesteigert werden. Die Importe beliefen sich in diesen beiden Jahren auf 29,7 Milliarden € bzw. 175,2 Milliarden €. Traditionell ist die spanische Handelsbilanz negativ, d. h. das Land importiert mehr als es exportiert. Seit der Einführung des Euro (2002) hat Spanien ca. 10 % an Konkurrenzfähigkeit wegen der hohen Inflation und dem Anstieg der Arbeitskosten eingebüßt. Das aber bedeutet, daß das Außenhandelsdefizit kontinuierlich ansteigt.
XII Die Wirtschaft in der Demokratie
292
Spanien in der Weltwirtschaft
293
Tab. 17: Spanische Exporte und Importe 2004
Graphik 8: Import und Export von Industriegütern, 1975-1999 (in Mio. Peseten von 1975)
Importgüter 2 600 -
- -
Wert in Mio. €
Anteil am Wert aller Exporte (in %)
2 400 - - -
Automobile, Traktoren, Mopeds
35.209
22,21
2 200 -
Nuklearreaktoren, Heizkessel, mechanische Geräte
24.935
15,73
2 000
Brennstoffe, Mineralöle
23.086
14,57
Elektrische Maschinen und Apparate
18.021
11,37
Gußeisen und Stahl
8.185
5,16
Kunststoffe und Fertigwaren aus Plastik
6.739
4,25
Pharma-Produkte
6.424
4,05
Organische chemische Produkte
5.837
3,68
1 800
•
•
• 1 600
#
1 400 -
4*
•
•
1 200 1 000 •
600 .. . •
os
* s.o.
Exportgüter
• e#
Anteil am Wert aller Exporte (in %)
400 - *0-e-
Automobile, Traktoren, Mopeds
34.378
21,69
200 - - -
Nuklearreaktoren, Heizkessel, mechanische Geräte
11.864
7,49
Elektrische Maschinen und Apparate
9.910
6,25
Brennstoffe, Mineralöle
5.562
3,51
Kunststoffe und Fertigwaren aus Plastik
5.044
3,18
Obst
4.285
2,70
Gußeisen und Stahl
4.261
2,69
Pharma-Produkte
3.538
2,23
•
0 -I 1975
1978
T-
1981
1984
n sonn Exporte
1987
1990
1993
1996
1999
eam=xxxo Importe
Zwischen 1975 und 2000 haben die spanischen Industrie-Exporte um das 4,2 fache und die industriellen Importe um das 2,4 fache zugenommen. Wirtschaftspolitischer Hintergrund dieser Entwicklung war die Öffnung Spaniens für internationale Handlungsströme. Der Außenhandelssaldo war stets negativ – Spanien importierte mehr als es exportierte –, wobei die Differenz zwischen Importen und Exporten in den auf den EG-Beitritt unmittelbar folgenden Jahren 1987-1992 besonders groß war. Das Wachstum an Importen und Exporten betraf praktisch alle Sektoren; besonders ausgeprägt war das Exportwachstum bei Kraftfahrzeugen sowie bei elektrischem und elektronischem Material. Diese Posten führten auch die Liste der Importe an. Die Anwesenheit transnationaler Unternehmen korreliert direkt mit dem Grad an Außenöffnung der verschiedenen Industriesektoren; diese wiederum hängen von den Strategien der großen Unternehmen ab. Seit dem Beitritt Spaniens zur EG (1986) kommen 66% der spanischen Importe aus EG-Ländern, 70% der spanischen Exporte gehen in EG-Länder. Die zweitwichtigste Herkunftsregion spanischer Importe ist Asien (12,5%); die zweitwichtigste Exportdestination ist der amerikanische Kontinent (11,3%; USA und Lateinamerika zusammen), gefolgt von Osteuropa (6%).
Die mit Abstand wichtigsten Handelspartner Spaniens liegen in der EU. Schon vor dem EGBeitritt Spaniens exportierte das Land fast die Hälfte seiner Ausfuhren in Länder der Gemeinschaft. Inzwischen (2004) exportiert Spanien rund 73 % in die EU-25 (106 Milliarden €), es importiert aus der EU-25 rund 65 % (133 Milliarden €). Hauptabnehmer spanischer Produkte sind Frankreich, Deutschland, Portugal und Großbritannien, Hauptlieferanten für Spanien sind Frankreich, Deutschland, Italien, Großbritannien. Lateinamerika blieb außerhalb der Vorteile, die die Gemeinschaftsabkommen mit sich brachten. Das erklärt auch, weshalb der spanische Handelsaustausch mit Lateinamerika in der zweiten Hälfte der 80er Jahre von 20% der Exporte in Nicht-EG-Märkte (1980) auf 11 % zu Ende des Jahrzehnts zurückging. Der EG-Beitritt Spaniens (1986) brachte außerdem eine Umlenkung des Handels in Richtung des gemeinschaftlichen Marktes mit sich. So stieg der Export in den EG-Raum von 8,08 Milliarden Ecu (1980) auf beeindruckende 67 Milliarden
294
XII Die Wirtschaft in der Demokratie
Spanien in der Weltwirtschaft
Tab. 18: Importe und Exporte Spaniens 1986-2004 (in Mio. €) Jahr
1986
1987
1988
1989
Importe
29.778,30
36.370,80
42.007,10
50.463,40
53.480,50
57.915,90
61.332,10
Exporte
22.933,40
25.313,40
28.004,20
30.859,00
33.840,60
36.449,60
40.013,00
Saldo
-6.844,30
-11.056,20
-14.003,00
-19.604,40
-19.639,90
Jahr
1993
1994
1995
1996
1997
Importe
60.893,30
79.972,50
84.783,00
94.179,20
Exporte
46.606,10
58.578,20
68.152,40
78.212,10
93.419,50
Saldo
-14.282,50
-15.384,10
-16.630,60
-15.967,10
-16.049,40
-23.006,20
Jahr
2000
2001
2002
2003
2004
2005
Importe 169.468,00
173.210,10
175.267,90
185.113,70 207.129,96 231.371,60
Exporte
124.177,50
129.771,00
133.267,70
138.119,00
146.460,36 153.559,00
Saldo
-45.290,50
-43.439,10
-42.000,20
-46.994,70
-60.669,60
1990
1991
1992
-21.468,80 -21.318,50 1998
1999
109.468,90 122.855,90 139.093,40 99.849,70 104.788,90 -34.304,50
295
Märkte geworden. Spanien wiederum hat sich in einen zentralen Akteur der europäischlateinamerikanischen Handelsbeziehungen verwandelt. Der wirtschaftliche Aufschwung Spaniens seit den 80er Jahren führte auch zu einer verstärkten ausländischen Investitionstätigkeit. Spanien entwickelte sich zu einem der beliebtesten Investitionsstandorte weltweit. Der größte Teil der ausländischen Direktinvestitionen stammte (2004) aus den Niederlanden (20,79 %), der Schweiz (11,11 %), den USA (11,01 %), Luxemburg (9,37%) und Großbritannien (7,39 %); die meisten spanischen Direktinvestitionen flossen (2003) nach Großbritannien (34,91 %), Mexiko (11,51 %), Frankreich (10,55%) und in die Niederlande (10,06 %). Ausländer investierten in Spanien in die chemische Industrie, in den Automobilbau, in den Immobilienbereich, in die Nahrungsmittelindustrie, in den Handel und in die Pharmabranche; das spanische Kapital - zumeist handelte es sich um Direktinvestitionen, nur in ca. 10 % der Fälle um Kapitalbeteiligungen - bevorzugte den Bankensektor und das Versicherungswesen, die Elektrizitätsbranche, Gas und Erdöl, Transport- und Kommunikationswesen. Tab. 20: Direktinvestitionen 1993-2004 (in Mio. €)
-77.812,60
Ecu im Jahr 1997. Entsprechend gering blieben die spanischen Exporte in alle nicht-europäischen Märkte (s. Tab. 19). In Lateinamerika entwickelte sich der Mercosur im Hinblick auf Handel und Investitionen zum bevorzugten Partner der EU und insbesondere Spaniens. Die Handelsbeziehungen zu den Mitgliedsländern des Mercosur (Brasilien, Argentinien, Uruguay, Paraguay) und dem assoziierten Partner Chile entsprachen 1997 schon 56,8% der spanischen Exporte nach Lateinamerika und 54,4% seiner Importe aus der Region. Damit ist der Mercosur zu einem strategischen Ziel im Rahmen der spanischen Bemühungen um die Erschließung neuer Tab. 19: Spanische Exporte nach Regionen (in %) 1997
1998
1999
2000
Eurozone
58,6
59,8
60,2
58,5
EU (ohne Eurozone)
10,7
11,1
10,1
11,1
Mittel- und Osteuropa
1,6
1,8
1,8
2,1
Nordamerika
4,8
4,6
4,8
5,3
Lateinamerika
6,4
6,6
6,1
6,1
Asien
7,5
5,7
5,7
5,9
Afrika
3,5
3,7
3,6
3,3
Andere
6,9
6,7
7,7
3,3
Jahr
Ausländische in Spanien
Spanische im Ausland
1993
5.427
1.837
1994
6.527
4.233
1995
5.392
5.890
1996
5.473
4.956
1997
6.820
10.426
1998
9.214
15.407
1999
18.432
51.344
2000
38.291
60.068
2001
34.741
46.897
2002
32.160
45.342
2003
17.812
30.588
2004
17.857
46.730
Die spanische Leistungsbilanz ist seit 1998 defizitär. Das Defizit wird u. a. darauf zurückgeführt, daß die Einnahmen aus dem Tourismus keine ausreichende Kompensation mehr darstellen, um das steigende Handelsbilanzdefizit zu kompensieren. In den letzten 20 Jahren ist Lateinamerika zu einem Hauptziel im Internationalisierungsprozeß der spanischen Unternehmen geworden. Diese profitierten dabei von den wirtschaftlichen Umbrüchen und der Privatisierung staatlicher Unternehmen, die seit Mitte der 80er Jahre in Lateinamerika stattfanden. Zwischen 1997 und 2002 kauften der BSCH in Lateinamerika 27 Banken für 12,3 Milliarden Dollar, der BBVA 34 Banken für 7,8 Milliar-
296
XII Die Wirtschaft in der Demokratie
Spanien in der Weltwirtschaft
Tab. 21: Spanische Zahlungsbilanz 1999-2003 (in Mio. €)
2003
1999 Einnahmen Ausgaben Laufende Konten
180.417
193.529
Handelsbilanz
105.735
134.320
Einnahmen Ausgaben
2000 Saldo -13.112 -28.585
Einnahmen Ausgaben
Saldo
246.332
267.159
-20.828
141.017
178.860
-37.843
213.213
234.205
-20.992
Handelsbilanz
126.070
163.848
-37.778
Dienstleistungen
67.903
40.638
27.265
- Tourismus und Reisen
50.362
28.838
21.524
58.407
34.163
24.243
- Tourismus und Reisen
30.416
5.166
25.250
33.750
5.967
27.783
- Andere Dienst- leistungen
19.946
28.196
-3.539
Einkommen
11.820
- aus Beschäftigung - aus Investitionen
322 11.498
Laufende Übertragungen 12.500 Kapitalbilanz Laufende Konten + Kapital
20.724 322 20.402 9.647
-3.726 -8.904 1 -8.905 2.853
24.657 16.321 387 15.934 12.415
25.307 450 24.857 10.887
-8.985 -63 -8.923
6.278
1.098
5.181
187.997
194.557
-6.561
219.491
235.303
-15.811
2002 Einnahmen Ausgaben
Saldo
Laufende Konten
232.951
251.297
-18.346
238.086
254.967
-16.881
Handelsbilanz
131.703
168.099
-36.396
135.640
170.242
-34.602
Dienstleistungen
65.111
37.981
27.131
66.072
39.490
26.582
- Tourismus und Reisen
36.602
6.661
29.942
35.543
7.020
28.524
- Andere Dienst- leistungen
28.509
31.320
-2.811
30.529
32.470
-1.942
Einkommen
22.156
33.034
-10.878
21.357
32.633
-11.276
435
460
446
440
5
21.721
32.574
-10.853
20.912
32.193
-11.281
Laufende Übertragungen 13.982
12.184
1.798
15.017
12.603
2.414
6.566
1.000
5.566
8.675
934
7.741
239.517
252.297
246.761
255.901
-9.141
- aus Beschäftigung - aus Investitionen
Kapitalbilanz Laufende Konten + Kapital
- 25
-12.780
29.556
33.323
-2.291
Einkommen
21.812
32.398
-10.586
455
399
56
21.357
31.999
-10.642
Laufende Übertragungen 15.599
15.263
336
9.699
937
8.762
256.031
268.096
- aus Beschäftigung - aus Investitionen
Laufende Konten + Kapital
6.552
Saldo
7.315
31.032
1.528
1.028
2001
36.871
- Andere Dienst- leistungen
Kapitalbilanz
7.580
Einnahmen Ausgaben
Saldo
Laufende Konten
Dienstleistungen
23.672
297
-12.065
den Dollar auf. Insgesamt hat Spanien heute über 90 Milliarden € in Lateinamerika investiert. BBVA und BSCH sind inzwischen die wichtigsten Finanzdienstleister in Lateinamerika; Telefönica ist die führende Telekommunikationsgesellschaft, Arcelor der wichtigste Stahlproduzent, Prosegur die bedeutendste Sicherheitsgesellschaft, Endesa und Iberdrola sind auf dem Elektrizitätssektor führend, Repsol YPF und Gas Natural nehmen im Erdölsektor herausragende Plätze ein; die Baugesellschaften Acciona, ACS-Dragados, FCC, Ferrovial, OHL gehören zur Weltspitzengruppe. Im Jahr 2004 brachte der lateinamerikanische Markt 49% der Gewinne der BBVA, 35 % von BSCH, 41% von Telefönica, 45 % von Repsol YPF, 23% von Endesa, 7 % von Arcelor, und die lateinamerikanischen Gewinne dieser sechs Unternehmen (41 Milliarden €) entsprachen 2004 schon 5,2 % des spanischen BIP. Allerdings scheint der Höhepunkt der spanischen Lateinamerika-Auslandsinvestitionen überschritten zu sein. Die Politik, die inzwischen in mehreren lateinamerikanischen Staaten gegenüber dem Auslandskapital praktiziert wird, hat zu einem deutlichen Rückgang der spanischen Investitionen geführt: von 27,6 Milliarden € (1999) auf 7,3 Milliarden € (2204), d.h. von 63% der gesamten spanischen Auslandsinvestitionen auf nurmehr 17%. Das besondere Verhältnis zu Lateinamerika hat auch die Verhandlungsposition Madrids innerhalb der EU gestärkt. (Mit einem Anteil von knapp 13 % ist Spanien auch der bedeutendste europäische Geber von Entwicklungshilfe für Lateinamerika.) So spielen etwa die Auslandsdirektinvestitionen in den Beziehungen Spaniens zu Lateinamerika eine wichtige Rolle. Dabei flossen (und fließen) spanische Direktinvestitionen in Lateinamerika nicht in erster Linie in die Ausbeutung von Rohstoffen, sondern sind primär von dem Wunsch geleitet, neue Märkte zu erschließen. Wichtigstes Motiv für die umfangreichen Direktinvestitionen in Lateinamerika ist jedoch, durch die Internationalisierung der Unternehmen deren
298
XII Die Wirtschaft in der Demokratie
Spanien in der Weltwirtschaft
Tab. 22: Investitionen spanischer Unternehmen in Lateinamerika 2006 (in Mio. €) Mexiko
Graphik 9: Direkte Brutto-Investitionen Spaniens in Lateinamerika 1993-2004 (in Mio. €)
Perü
BSCH
2.626
BBVA
377
35000
BBVA
4.508
Endesa
279
30000
4.151
25000
Iberdrola
584
Fenosa
286
Gas Natural
600
Telefönica
2.180
Dragados
80
BSC H
FCC
BBVA 40
BBVA Endesa
1.001
Fenosa
573
2.200
1.186
0
470
Telefönica
500
Dragados
134
OHL
66
BSCH
1.800
BBVA
414
Gas Natural
200
7.200
BBVA
542
Aguas de Barcelona
Endesa
799
Telefönica
Gas Natural
1.718 450
Telefönica Möviles Repsol YPF
85 9.800 810
2.780
OHL
40
Dragados
46
ACS
40
OHL
60
FCC
40
Telefönica Möviles
Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Das Interesse der Investoren galt insbesondere dem Finanz-, Transport- und Kommunikationssektor. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts standen die spanischen Unternehmen mit 53% der gesamten Auslandsinvestitionen in Lateinamerika noch vor den USA an erster Stelle der Investoren. Seit Mitte der 90er Jahre stieg die Investitionsattraktivität Lateinamerikas für Spanien und überstieg erstmals die EU-Mitgliedsländer. Seither ist Lateinamerika die bevorzugte Zielregion für Investitionen spanischer Unternehmen. Unter den größten transnationalen Unternehmen, die in Lateinamerika präsent sind, befinden sich einige spanische, die die ersten Ränge belegen. An der Spitze der Investoren stehen die Telekommunikationsgesellschaft Telefönica (Platz 3), der Öl- und Gaskonzern Repsol YPF (Platz 11), die Energieunternehmen Endesa (Platz 5) und Iberdrola sowie die Banken BBVA und BSCH. Zwischen 1990 und 1999 wurde bei den spanischen Direktinvestitionen in Lateinamerika eine jährTab. 23: Spanische Auslandsinvestitionen nach Regionen (in %)
EU
BBVA
Dominikanische Republik 407
Fenosa
2000
34,5
48,8
Europa ohne EU
1,8
2,9
4,0
USA
7,8
0,7
7,9
0,39
0,23
1,93
1,2
0,41
0,2
56,3
57,5
33,8
0,5
0,5
0,1
Mittel- und Osteuropa
Lateinamerika 543
1999
27,9
Afrika Venezuela
Zentralamerika und Karibik (ohne Steuerparadiese)
1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004
1998 79
12.800
iLateinamerika njg est
5.942,9
10.500
Dragados
Telefönica
.930 Telefönica investiert in Perü
5000
Aguas de Barcelona
BSCH
Iberdrola
10000
880
Argentinien
Brasilien
Wiederaufnahme der Investitionen spanischer Banken in Lateinamerika; Markteintritt von Repsol In Argentinien
15000
40
795
Reduzierung der Invesitionen der Großunternehmen, gefolgt von mittleren Unternehmen
Markteintritt spanischer Banken und Unternehmen in Brasilien
342
Endesa
Kolumbien
31.287 Repsol kauft YPF und erwirbt Beteiligungen anderer Unternehmen; Fortsetzung der Banken-Expansion in Lateinamerika
20000 Chile
Telefönica
ACS
299
Asien ohne Japan
300
XII Die Wirtschaft in der Demokratie
liche Wachstumsrate von 71,62 % verzeichnet. Hauptempfängerländer sind Argentinien, Brasilien, Chile, Kolumbien und Mexiko; diese Gruppe von Ländern erhielt fast 95 % aller spanischen Investitionen in die Region. Ein Großteil der Direktinvestitionen wurde über Holdings (Beteiligungsgesellschaften) realisiert und floß in eine beschränkte Anzahl Sektoren: Industrien zur Förderung und Raffinerie von Erdöl, Finanzdienstleistungen, Gas-, Wasser- und Elektroenergie, Transport und Kommunikation. 1999 übernahm der spanische Ölkonzern Repsol für 17 Milliarden Dollar das argentinische Ölunternehmen YPF. In den 90er Jahren forcierten auch die spanischen Banken, allen voran der Banco Santander und der BBV, ihren Expansionsprozeß in Richtung Lateinamerika, wo sie in wenigen Jahren zahlreiche lateinamerikanische Banken übernahmen und in einigen Ländern einen Marktanteil erzielten, der den auf dem spanischen Heimatmarkt überstieg. Viele lateinamerikanische Länder öffneten und deregulierten ihre Finanzsysteme gerade zu dem Zeitpunkt, zu dem spanische Banken auf der Suche nach Investitionsmöglichkeiten im Ausland waren. Während in der ersten Hälfte der 90er Jahre zunächst in den Bereich Telekommunikation (durch Telefönica) und zunehmend auch in den Energiesektor (durch Endesa Espafia und Repsol) investiert wurde, folgten die spanische Banken in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts mit verstärkter Expansion. Banco Santander etwa akquirierte 1996/97 in sieben verschiedenen Ländern acht Banken (mit einer Gesamtausgabe von mehr als 3,5 Milliarden US-Dollar). Der BBV wiederum betrieb 1996-98 in zehn verschiedenen Ländern Lateinamerikas eine aktive Expansionspolitik. Als Ergebnis ihres Internationalisierungsprozesses haben es die beiden größten spanischen Kreditinstitute geschafft, sich an die Spitze der Rankings ausländischer Banken in Lateinamerika zu setzen und wichtige Märkte zu dominieren. Spanische Unternehmen investieren aber nicht nur in Lateinamerika. In den letzten Jahren sind mehrere europäische Märkte (Großbritannien, Italien, Frankreich) und die USA hinzugekommen. Hintergrund der expansiven Auslandstätigkeit spanischer Unternehmen ist deren Liquidität. Während die spanische Wirtschaft 2004/2005 im Jahresdurchschnitt um 3,3% wuchs, stieg der Wert der börsennotierten Unternehmen des Landes um jahresdurchschnittlich weit über 20 %. Tab. 24 zeigt die wichtigsten Übernahme-Aktionen 2004-2006 auf. Kritische Ökonomen weisen seit Jahren darauf hin, daß Spanien über seine Verhältnisse lebt. Das Handelsbilanzdefizit, das von Jahr zu Jahr zunimmt, hängt mit dem Verlust an Konkurrenzfähigkeit der spanischen Wirtschaft, mit dem nachlassenden Export spanischer Waren gerade in die dynamischen Weltregionen (USA und Asien) und mit der problematischen technologischen Zusammensetzung der spanischen Exporte zusammen, die vor allem Güter im unteren Technologiebereich (mit geringem Mehrwert) umfassen. Weitere Probleme kommen hinzu: Die millionenfache Einwanderung der letzten Jahre hat sich zwar auf das Wachstum der spanischen Wirtschaft, auf die faktische Liberalisierung des Arbeitsmarkts und somit auf die äußere Konkurrenzfähigkeit der spanischen Wirtschaft positiv ausgewirkt. Aber die Wirkung auf die Geldströme war negativ, da die Einwanderer millionenfache Beträge ins Ausland transferieren. Schließlich noch die Auslandsinvestitionen: Die spanischen Auslandsinvestitionen sind inzwischen fast doppelt so hoch wie die ausländischen Direktinvestitionen in Spanien. Verbunden mit der Perspektive, daß Spanien in wenigen Jahren schon Netto-Beitragszahler in der EU sein wird, ist abzusehen, daß die Verschuldung
Literatur
301
Tab. 24: Die wichtigsten Operationen spanischer Unternehmen 2004-2006 Spanisches Unternehmen Santander
Aufgekauftes/fusioniertes ausländisches Unternehmen
Datum
Betrag (Mio. €)
Abbey (Großbritannien)
Juli 2004
Sovereign Barcorp (USA)
Oktober 2005
Laredo National Bancshares (LNB) (USA)
September 2004
680
Valley Bank (USA)
Mai 2004
10,8
Ferrovial
BAA (Großbritannien), noch offen
April 2006
Cintra (Ferrovial)
Indiana Toll Road (USA)
Januar 2006
3.080
Chicago Skyway Toll Bridge (USA)
2004 / 2005
1.820
Metrovacesa
Gecina (Frankreich)
März 2005
5.500
Telefönica
0 2 (Großbritannien)
November 2005
Cesky Telecom (Tschechische Republik)
Juli 2004
TBI (Großbritannien)
November 2004
788
Sanef (Frankreich)
Dezember 2005
4.030
Autostrade (Italien)
Fusion. Börsenwert:
Sacyr
Eiffage (Frankreich)
April 2006
1.661
Agbar (Aguas de Barcelona)
Bristol Water (Großbritannien)
April 2006
246
Colonial
Societe Fonciere Lyonnaise (SFL) (Frankreich)
Juni 2004
BBVA
Abertis
13.467 1.944
12.405
26.000 2.754
25.000
1.638
des Landes außerordentlich zunehmen wird. Die Zukunftsperspektiven sind somit bei weitem nicht so rosig, wie die gesamtwirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre war.
Literatur Arias Veira, Pedro: Esparia va bien. Claves y dilemas de la prosperidad espariola. Madrid 2004 Arifio, Gaspar (Leitung): Privatizaciones y liberalizaciones en Esparia. Balance y resultado. Madrid 2004 Banco de Esparia, Servicio de Estudios: El analisis de la economfa espatiola. Madrid 2005 Carreras, Albert / Tafunell, Xavier: Estadfsticas histöricas de Esparia. Siglos XIX–XX. Bilbao 2. Aufl. 2005 Chislett, William: Spanish Direct Investment in Latin America: Challenges and Opportunities. Madrid (Real Institut° Elcano) 2002
302
XII Die Wirtschaft in der Demokratie
Domfnguez Rodriguez, Rafael: Der Tourismusboom und seine Folgen. In: Walther L. Bernecker / Klaus Dirscherl (Hg.): Spanien heute. Politik — Wirtschaft — Kultur. Frankfurt am Main 2004, 577-603 Garcia Delgado, Jose Luis (Leitung): Economfa espariola de la transiciön y de la democracia. Madrid 1990 Garcia Delgado, Jose Luis (Leitung): Esparia, Economfa: ante el siglo XXI. Madrid 1999 Gil Olcina, Antonio / Morales Gil, Alfred() (Hg.): Insuficiencias Hfdricas y Plan Hidrolögico Nacional. Alicante 2002 Martin Acefta, Pablo / Comfn, Francisco: INI, cincuenta arios de industrializaciön en Espana. Madrid 1991 Nohlen, Dieter / Hildenbrand, Andreas: Spanien. Wirtschaft — Gesellschaft — Politik. Ein Studienbuch. Wiesbaden 2005 Ruiz Maciä, Jose Pascual: La via espafiola hacia una economfa moderna. Madrid 2003 Tamames, Ramön / Rueda Guglieri, Antonio: Estructura econömica de Esparia. Madrid 2000 Wagner, Horst Günter: Mittelmeerraum. Darmstadt 2001
BEVÖLKERUNG UND GESELLSCHAFT
305
XIII Die Bevölkerung in der Neuzeit (bis 1975)
1. Das Bevölkerungswachstum Zwischen dem Ende des 18. Jahrhunderts und 1920 wuchs die spanische Bevölkerung von 10.541.000 auf 21.303.000. Tab. 25: Bevölkerungswachstum 1797-1920 Jahr
Bevölkerung in 1000
Index (1797 = 100)
1797
10.541
100,0
1857
15.455
146,6
1860
15.645
148,4
1877
16.622
157,7
1887
17.534
166,3
1897
18.066
171,4
1900
18.594
176,4
1910
19.927
189,0
1920
21.303
202,1
Dabei war die Bevölkerungsvermehrung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im europäischen Vergleich relativ gering und lag deutlich unter dem Wachstum der ersten Jahrhunderthälfte. Während die Bevölkerung von 1800 bis 1850 nämlich um 49 % stieg, nahm sie zwischen 1850 und 1900 nurmehr um weitere 28% zu (1800 = Basis 100; 1850 = 149; 1900 = 177). Zu den wichtigsten Gründen, die dieses geringere Wachstum der Bevölkerung erklären, zählen die verhältnismäßig hohe Sterblichkeitsrate, Seuchen und Hungerepidemien, Kriege (bes. die Karlistenkriege) sowie vor allem die Auswanderung nach Übersee. Die hohe Geburtenrate von durchschnittlich 37,9 %o im Jahrzehnt 1861-1870, von 36,2 %o im Jahrzehnt 1881-1890, von 34,8 %. im Jahrzehnt 1891-1900 und von 34,5 %. im Jahrzehnt 1901-1910 wurde durch eine ebenfalls verhältnismäßig hohe Sterberate im gleichen Zeitraum ausgeglichen. Die durchschnittliche Sterblichkeitsrate lag höher als in den europäischen Nachbarstaaten; sie schwankte zwischen 26,7 %o (1861) und 37,9 %o (1885). Noch im Jahre 1900 starben 28,9 %o der Bevölkerung im Vergleich zu durchschnittlich 18 %o in Europa. Die natürliche Wachstumsrate lag insgesamt bei durchschnittlich 0,5-0,6 %. Bei der Frage nach den Gründen für die hohe Sterblichkeitsrate ist zuerst darauf hinzuweisen,
306
XIII Die Bevölkerung in der Neuzeit (bis 1975)
daß die für eine Senkung der Sterblichkeitsrate entscheidenden Neuerungen auf den Gebieten der Hygiene, des Lebensstandards, der (quantitativen und qualitativen) Ernährung sowie vor allem des öffentlichen Gesundheitswesens in Spanien im Vergleich zum restlichen Europa mit deutlicher Verzögerung eingeführt wurden. Das erste Estatuto Municipal, das verbindliche Hygienevorschriften für Stadtverwaltungen aufstellte, stammt aus dem Jahr 1924. Ansteckende Krankheiten blieben somit während des gesamten 19. Jahrhunderts eine der wesentlichen Ursachen für die hohe Sterblichkeitsrate. Wegen mangelnder öffentlicher Vorsorge wurden vor allem die niederen Schichten von den Infektionskrankheiten erfaßt, die somit eine schichtenspezifische Erscheinung darstellten. In Barcelona, der Stadt mit den meisten Arbeitern Spaniens, waren noch zwischen 1880 und 1889 in über 41 % aller Fälle Infektionskrankheiten, vor allem Tuberkulose, die Todesursache. In der Mitte des 19. Jahrhunderts betrug in Barcelona die durchschnittliche Lebenserwartung eines reichen Bürgers bei der Geburt 38,38 Jahre, eines Handwerkers 25,41 Jahre, eines Tagelöhners 19,68 Jahre. Angesichts der mangelnden öffentlichen Vorsorge mußten die auftretenden Epidemien verheerend wirken: Die Choleraepidemie von 1853/56 betraf etwa 5.000 (von insgesamt 9.000) Ortschaften und verursachte nach offiziellen Angaben 236.744, tatsächlich jedoch weit mehr Tote, vor allem im Norden (in den Provinzen Logrofio, Navarra, Vizcaya, Teruel) und im Zentrum (in der Provinz Guadalajara). 1859/60 brach die Epidemie erneut aus; diesmal suchte sie primär die Levante und Andalusien heim (1860: knapp 7.000 Opfer). 1885 brach zum letztenmal in Spanien eine Choleraepidemie aus; sie forderte 120.254 Tote. Bei sämtlichen Epidemien waren die am meisten betroffenen Personen Frauen (1853/56: 161 Frauen auf 100 Männer; 1885: 131 Frauen auf 100 Männer) und Kinder unter vier Jahren. Zu den Seuchen kamen die Ernährungskrisen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besonders in den Jahren 1856/57, 1868, 1882 und 1887, zu den Hauptgründen des geringen natürlichen Wachstums gehören. Erhöhung der Preise für Grundnahrungsmittel (besonders für Getreide) und Geburtenrückgang korrelieren deutlich: Je stärker der Getreidepreis anstieg, desto deutlicher läßt sich Bevölkerungsrückgang feststellen. Die am meisten betroffenen Gegenden waren die zentralspanischen Provinzen Cäceres, Badajoz, Segovia, Burgos und Toledo. Der Erste Weltkrieg bedeutete für Spanien den Beginn eines "neuen demographischen Abschnitts seiner Geschichte" (J. Nadal). Vor allem seit den 1960er Jahren hat Spaniens Demographie die Muster entwickelter Industrienationen angenommen: Erhöhung der Lebenserwartung, nachlassende Geburtenhäufigkeit, Anwachsen der älteren Bevölkerung, Rationalisierung des generativen Verhaltens. Zwischen 1910 und 1976 wuchs die spanische Bevölkerung von 19.927.000 auf 36.350.000, d.h. um 82,41 % (Tab. 26). In diesem Zeitraum gingen sowohl die Geburten- als auch die Sterblichkeitsrate deutlich zurück und näherten sich dem Durchschnitt der europäischen Länder an. Die Sterblichkeitsrate sank von 23 °/.. (1910) auf 8,1 %. (1976) und stellt damit den hervorstechendsten Zug der demographischen Entwicklung Spaniens im 20. Jahrhundert dar. Vor allem die Kindersterblichkeit nahm deutlich ab: Starben 1901 noch 18,59% aller Kinder im ersten Lebensjahr, so waren es 1943 noch 9,92 % und 1970 nur noch 2,07%. Nach wie vor bestanden große interprovinzielle Unterschiede: So lag die Kindersterblichkeit in den innerspanischen Regionen Kastilien, Lehn und Extremadura deutlich über der der Randprovinzen Nordostspaniens. Insgesamt ist der deutliche Rückgang der Sterblichkeitsrate im
Das Bevölkerungswachstum
307
Karte 23: Bevölkerungswachstum 1877-1920
112.819 32.794
g
(1877) (1920)
NKREICH sJ-fg"-2 NAVARRA 8,45 %
-77103.35
STILLA VIEJA ,27 %
ATLANTISCHER OZEAN
97.816
P RTUGAL
,98% a lencla 520.195
EPAA132.1 42,54.%' MURCIA " 38,74 % ,
iisgss 1'5" KANARISCHE INSELN 63,41 %
J
Wachstum (in Prozent) 1-10% 1 10-20% 20-30%
(1877)
V NC1A
BALEAREN 17,25 % (1920)
MITTELMEER
(1877) (1920) 0
100
300 km
Bevölkerung der größten Städte
ag
1877 1920
710.335 Einwohneranzahl
30-40% 40-50% 50--70,13%
20. Jahrhundert vor allem auf soziale und sanitäre Faktoren (öffentliches Gesundheitswesen, Hygiene) zurückzuführen. Gleichzeitig sank die Geburtenrate von 32,6 % (1910) auf 18,5 %. (1976). Besonders kraß manifestierte sich der Geburtenrückgang als Folge des Bürgerkrieges von 1936-1939: Lag die Geburtenrate im Jahrfünft 1931/35 noch bei 27 %., so sank sie im darauf folgenden Jahrfünft 1936/40 schlagartig auf 21,6 X., d.h. um ein Fünftel; die gewaltsame `Anpassung' der Geburtenrate an den europäischen Durchschnitt konnte später nicht mehr
308
Auswanderung und Binnenwanderung
XIII Die Bevölkerung in der Neuzeit (bis 1975)
Tab. 26: Bevölkerungsstatistik Spaniens 1900-1976 Jahr
Gesamtbevölkerung in 1.000
Heiraten in%0
Geburten in 7,..
Sterblichkeit in %.
Natürliches Wachstum in%o
1900
18.594
8,8
33,8
28,3
5,5
1910
19.927
7,0
32,6
23,0
9,6
1920
21.303
7,2
29,3
23,2
6,1
1930
23.564
7,6
28,5
17,8
10,7
1940
25.878
8,4
24,3
16,5
7,8
1950
27.977
7,5
20,0
10,8
10,2
1960
30.431
7,8
21,6
8,6
12,7
1970
33.824
7,3
20,5
8,5
12,0
1976
36.350
7,2
18,5
8,1
10,4
erhöht werden. Im interregionalen Vergleich waren am Ende der Franco-Ära die Kanarischen Inseln, Südspanien (Andalusien, Murcia, Extremadura) und Guipüzcoa die kinderreichsten Gegenden, Nordspanien mit Galicien, Asturien, Aragonien und Katalonien die nachwuchsärmsten Regionen des Landes. Da die Sterblichkeitsrate in den letzten Jahrzehnten noch schneller als die Geburtenrate sank, war das natürliche Wachstum der Bevölkerung relativ hoch. Es schwankte zwischen 6,1 %. (1920) und 12,7 %. (1960). Die durchschnittliche Lebenserwartung stieg drastisch von 41,15 Jahren (1920) auf 72,32 Jahre (1970). 1970 kamen auf 100 Männer 104,8 Frauen. Die Altersstruktur der spanischen Bevölkerung hat sich im 20. Jahrhundert deutlich verschoben. 1910 waren 35,9 % der Bevölkerung jünger als 15 Jahre, 1950 nur noch 28,3%; im gleichen Zeitraum stieg der Anteil der über 61jährigen von 7,7% auf 9,9 % und der der arbeitsfähigen Altersgruppe (zwischen 16 und 60 Jahren) von 56,4% auf 61,8%; die relative, heute verstärkt anhaltende Alterung der Gesellschaft hat nach 1930 begonnen. Die durchschnittliche Bevölkerungsdichte lag am Anfang des Jahrhunderts deutlich unter dem europäischen Mittel. Sie betrug 1910: 39,4 E/km 2, 1920: 46,7 E/km2 , 1970 war sie auf 67 E/km2 angestiegen, wobei die regionalen Differenzen allerdings deutlich zugenommen hatten: Die größte Dichte wies Madrid mit 474,1 E/km2 auf, gefolgt von Katalonien mit 214,2 E/km 2 , den Kanarischen Inseln mit 160,3 E/km 2 und der kantabrischen Küste mit 158,6 E/km2 . Das Ende der Skala nahmen die östliche Tajo-Guadiana-Gegend mit 16,5 E/km2 und die östliche Duero-Region mit 21,2 E/km 2 ein.
der spanische Staat eine Reihe von Verfügungen, die zuerst für die bis dahin untersagte Auswanderung nach Übersee Ausnahmen zuließen und schließlich (1873) die restriktiven Emigrationsbestimmungen aufhoben. Die Hauptzielländer der spanischen Auswanderer waren Kuba, Argentinien und Brasilien. Zwischen 1857 und 1915 ließen sich 1,5 Millionen Spanier (vor allem 18-21 jährige Landarbeiter und Handwerker, von denen nicht wenige dem Militärdienst entgehen wollten) in Argentinien nieder. 1914 waren 10,5 % der argentinischen Bevölkerung Spanier. Die Auswanderung nach Brasilien, vor allem nach Sao Paulo, war bedeutend geringer; sie umfaßte in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ca. 300.000 Emigranten. Insgesamt wanderte zwischen 1882 und 1914 mindestens eine Million Spanier aus, d. h. ungefähr ein Drittel des natürlichen Bevölkerungszuwachses dieser Zeit. Der Höhepunkt der Auswanderungswelle lag in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts blieb Lateinamerika das bevorzugte Auswanderungsziel für arbeitsuchende Spanier. In den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wanderten insgesamt rund zwei Millionen Spanier nach Argentinien, Uruguay, Chile, Brasilien und Kuba aus, wo sie zumeist wegen ihres Fleißes und ihres Initiativreichtums sehr willkommen waren. Argentinien, das Haupteinwanderungsland, nahm zwischen 1870 und 1930 ca. vier Millionen Einwanderer auf, von denen ein Drittel Spanier waren. Die spanische Auswanderung nach Kuba war auf besonders enge (und emotionale) Bindungen zwischen Spanien und der Karibikinsel zurückführen. In Brasilien führte vor allem die Abschaffung der Sklaverei (1888) zu einem erhöhten Arbeitskräftebedarf. Die meisten Auswanderer kamen aus den Provinzen mit der größten Bevölkerungsdichte (Kanarische Inseln, Pontevedra, Corutla, Oviedo, Santander), in denen der Lebensunterhalt für eine überdurchschnittlich schnell anwachsende Bevölkerung immer schwieriger wurde. In Galicien und Asturien kamen als weitere Emigrationsgründe die besonderen Preiserhöhungen für Grundnahrungsmittel (50 % teurer als in Kastilien) und die durch den Arbeitskräfteüberschuß bedingte auffallend schlechte Entlohnung ungelernter Arbeiter hinzu. Im Vergleich zur Auswanderung hatte die Einwanderung einiger Zehntausend Portugiesen, Italiener, Franzosen, Engländer und Deutscher keine weiterreichende demographische Bedeutung. Die Binnenwanderung war im 19. Jahrhundert noch relativ unbedeutend. Selbst für das wichtigste Einwanderungsgebiet - Katalonien mit seinem Industriegürtel um die Hauptstadt Barcelona - lassen sich die für das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts vorliegenden Zahlen nicht entfernt mit der Bedeutung der Auswanderung vergleichen. Auf gesamtspanischer Ebene war allerdings eine deutliche intraprovinzielle Mobilität feststellbar: Die Landbevölkerung zog verstärkt in die jeweilige Provinzhauptstadt. ZwiTab. 27: Einwanderung nach Katalonien 1877-1920 Jahre
2. Auswanderung und Binnenwanderung Ein Hauptgrund für das relativ langsame Bevölkerungswachstum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Auswanderung nach Übersee. Zwischen 1853 und 1903 erließ
309
Einwanderer
1877-1900
83.004
1901-1910
133.559
1911-1920
124.294
XIII Die Bevölkerung in der Neuzeit (bis 1975)
310
Auswanderung und Binnenwanderung
Karte 24: Auswanderung nach Lateinamerika 1885 - 1930
CANTABRIA 3%
FRANKREICH
PO
NCIA 63. BALEAREN
OALyiA
MITTELMEER
ATLANTISCHER -TAN
KANARISCHE INSELN 6% 100
200 km
4 Regionaler Prozentsatz am Gesamt der Übersee-Auswanderung (1885-1930) 2-5% 5-10% 36% Alle übrigen Regionen zusammen stellten 28% der Auswanderer.
schen 1834 und 1877 nahm der Anteil der Bevölkerung in den Provinzhauptstädten von 10,87% auf 13,53 % der gesamtspanischen Bevölkerung zu; 17 Hauptstädte (vor allem die galicischen und kantabrischen) konnten in dieser Zeit ihre Bevölkerung zumindest verdoppeln, in einigen Fällen verdreifachen. Für die zweite Jahrhunderthälfte läßt sich somit bereits eine deutliche Urbanisierungstendenz feststellen.
311
Trotz der auf gesamtspanischer Ebene feststellbaren Bevölkerungszunahme litten einige Provinzen unter einer negativen demographischen Entwicklung. Die interprovinziellen Bevölkerungsverschiebungen sind auf verschiedene Ursachen zurückzuführen: So verloren etwa zwischen 1857 und 1877 sieben nordspanische Provinzen (Alava, Burgos, Palencia, Lugo, Huesca, Urida und Gerona) 60.700 Einwohner oder 3,1 % ihrer Bevölkerung, was sowohl auf die Todesfälle in den Karlistenkriegen als auch auf die Attraktivität Barcelonas als Einwanderungsstadt zurückzuführen ist. Die Bevölkerungsverluste, die einzelne Provinzen zwischen 1877 und 1887 erlitten, hingen mit Hungerepidemien und Auswanderung nach Nordafrika (Almerfa), der Cholera (Teruel, Soria) und der verstärkten Emigration nach Übersee (Pontevedra) zusammen. Zwischen 1887 und 1900 wiederum erlitten durch Auswanderung als Folge der Reblausplage Gerona und Mälaga, durch die verstärkte Industrialisierung Barcelonas Huesca und Urida, infolge der anhaltenden Übersee-Auswanderung Orense und durch den Krieg gegen Kuba eine Reihe weiterer Provinzen Bevölkerungsverluste. Dadurch änderte sich die relative demographische Bedeutung der einzelnen Regionen. Extremadura, Andalusien, Murcia und Valencia stellten im Jahr 1787 erst 32,5 % der Bevölkerung, 1910 bereits 37,2 %. Galicien, Lehn, Alt-Kastilien und Aragonien stellten 1787 noch 36,9%, 1910 nurmehr 29,4% der Bevölkerung. Während somit die demographische Bedeutung Nord- bzw. Nordwestspaniens zum Teil wegen der Auswanderung, zum Teil wohl auch wegen überdurchschnittlicher Sterblichkeitsraten relativ abnahm, stieg die Bevölkerung Süd- und Ostspaniens im 19. Jahrhundert wegen der viel geringeren Auswanderungsrate sowie vereinzelter Industrialisierungsanfänge (etwa Murcia) deutlich an. Die Altersstruktur der spanischen Bevölkerung änderte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur geringfügig. Die Angaben für 1857 können fast ohne Veränderungen auch für 1910 übernommen werden: Kinder (bis 15 Jahre) machten im Jahr 1857 35,7% (1910: 35,9%) der Bevölkerung aus, Erwachsene (15-60 Jahre) 58,9% (1910: 56,4 %); der Anteil der über 61jährigen betrug im Jahr 1857 5,4 % (1910: 7,7%). Auch die prozentuale Aufteilung der Geschlechter blieb nahezu unverändert: 49,82 % Männer und 50,18 % Frauen. Die durchschnittliche Lebenserwartung betrug 1900: 34,76 Jahre, 1910: 41,73 Jahre. Unabhängig davon, welche Kriterien angewendet werden, blieb die Urbanisierung gering. Der größte Teil der Spanier zählte zur Landbevölkerung. Allerdings wohnten im Jahr 1856 bereits 24,6% der Bevölkerung in (ländlichen) Provinzhauptstädten, die zwar über 5.000 Einwohner zählten, ihren agrarischen Charakter jedoch beibehalten hatten. Noch 1900 lebten 50,8% der Bevölkerung in Ortschaften mit weniger als 5.000 Einwohnern; 78,4% der Gesamtbevölkerung lebten in Orten mit weniger als 20.000 Einwohnern. Städte mit über 100.000 Einwohnern erfaßten im Jahr 1900 lediglich 8,9% der Gesamtbevölkerung. Die durchschnittliche Bevölkerungsdichte lag 1857 bei 30,5 E/km2 ; die geringste Dichte wies die Provinz Ciudad Real (12 E/km2), die höchste Pontevedra (95 E/km2) auf. Einen relativ hohen Konzentrationsgrad hatten die Küste, das Guadalquivir-Tal und Madrid. Die durchschnittliche Bevölkerungsdichte stieg von 32,92 (1877) auf 34,76 (1887), 35,87 (1897), 36,88 (1900) und 39,40 E/km2 (1910) an. Hinsichtlich der Migrationstendenzen unterscheidet sich das 20. vom 19. Jahrhundert durch die Verlagerung des Auswanderungsstromes von Übersee nach Europa und die starke Land-Stadt-Bewegung: Seit 1914 ließ die Auswanderung nach Übersee deutlich nach. Zu
312
XIII Die Bevölkerung in der Neuzeit (bis 1975)
den Hauptgründen für den Rückgang zählten die riskante Überfahrt und der zunehmende Bedarf an Arbeitskräften in den kriegführenden Staaten Europas. Der demographische Überschuß orientierte sich z.T. nach Frankreich, z.T. auf die sich entwickelnden Industriezentren im eigenen Land. Daß auch nach dem Ersten Weltkrieg die Auswanderungsquoten der Vorkriegszeit nicht wieder erreicht wurden, hing sowohl mit den restriktiven (Wirtschafts- und Einwanderungs-)Bedingungen der Nachkriegszeit als auch mit einer Verbesserung der spanischen Sozialgesetzgebung und dem Geburtenrückgang im eigenen Lande zusammen. In den 1930er Jahren überwog sogar die Rückwanderung. Erst die Hungerjahre nach dem Bürgerkrieg und dem Zweiten Weltkrieg ließen die Auswanderungsquoten mit 1,34 %o wieder auf eine ähnliche Höhe wie vor dem Ersten Weltkrieg ansteigen. Die Hauptauswanderungsgebiete waren Galicien und die ebenfalls übervölkerte kantabrische Küste (Oviedo, Vizcaya), die Haupteinwanderungsländer Argentinien und Venezuela. Die Auswanderung nach Frankreich nahm während des Ersten Weltkriegs deutlich zu; sie wurde vor allem von Landarbeitern der Ostküste getragen (Levante und Katalonien), die sich schwerpunktmäßig in der Provence niederließen. 1919 waren über 50% der Einwohner von Nimes Spanier. Zwischen 1919 und 1931 schwankte die Anzahl der Spanier in Frankreich zwischen 250.000 und 352.000; sie nahm erst nach dem Bürgerkrieg wieder deutlich zu. Der Bürgerkrieg hatte eine verstärkte Emigration der unterlegenen Republikaner (mindestens 300.000), ca. 800.000 Tote durch Kampfhandlungen, Hunger und Erschießungen sowie eine unerwartete Senkung der Geburtenrate zur Folge. In den ersten Jahren nach dem Bürgerkrieg verhinderten die spanischen Behörden aus ideologischen Gründen Auswanderungen größeren Umfangs. Nachdem jedoch 1946 erneut die gesetzlichen Voraussetzungen geschaffen waren, setzte wieder ein breiter Migrationsstrom nach Übersee ein. Bis 1970 wanderten ca. 900.000 Spanier nach (Latein-)Amerika aus; im gleichen Zeitraum kehrten ungefähr 400.000 zurück. Die restriktive und selektive Einwanderungspolitik lateinamerikanischer Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg sowie deren erhöhte Qualifikationsanforderungen für einwandernde Arbeiter ließen seit Beginn der 1960er Jahre den Migrationsstrom nach Übersee allmählich verebben. An seine Stelle trat die Auswanderung nach Europa. Die Bundesrepublik, die Schweiz und Frankreich wurden nach 1960 zu den wichtigsten Zielländern für spanische Auswanderer. Die Kontinuität von der Übersee- zur Europa-Auswanderung blieb auch hinsichtlich der Abwanderungsgebiete gewahrt: Noch 1971 zählten die galicischen Provinzen Orense (25 %o), La Corufia (10,2 %o) und Pontevedra (8,6 %o) - wie schon früher - zu den Gebieten mit den meisten Emigranten; auch Andalusien, Valencia und Murcia lieferten einen Großteil der Auswanderer. Zwischen 1960 und 1969 erreichte die spanische Auswanderungsquote mit fast 1,5 Millionen einen nie dagewesenen Höhepunkt (Tab. 28). Tab. 28: Die spanische Auswanderung nach Europa 1960-1969 Deutschland Belgien Frankreich Holland
444.119 41.688 426.529 48.000
313
Auswanderung und Binnenwanderung
Großbritannien Schweiz Andere Länder
96.364 361.634 7.579
Der im Ersten Weltkrieg gestiegene Bedarf an Industriekräften sowie die gleichzeitige Wirtschaftskrise in den agrarischen Gebieten verstärkten die Migrationstendenz vom Land in die Stadt. Von den 2.040.000 Personen, auf die sich das natürliche Wachstum der Landbevölkerung zwischen 1920 und 1930 belief, wanderten über 750.000 in die jeweiligen Provinzhauptstädte ab; das Land gab somit jährlich ca. 40 % seiner Zuwachsrate an die Städte ab. Aus Tab. 29 wird deutlich, daß der Bevölkerungsverlust kleinerer Ortschaften (bis 5000 E.) zuerst (ungefähr bis zum Bürgerkrieg) sowohl mittleren als auch großen Städten zugute kam; danach konzentrierte sich der Migrationsstrom immer deutlicher auf einige wenige Großstädte. Tab. 29: Die Verteilung der Bevölkerung auf Städte verschiedener Größenordnung 1900-1970 (in %) Einwohnerzahl
1900
1920
1930
1940
1950
1970
Bis zu 5.000
50,92
44,50
40,34
36,29
33,67
22,30
5.000-100.000
40,06
43,44
44,73
44,47
42,24
41,00
9,01
12,05
14,91
19,20
24,09
36,70
über 100.000
Hauptzuwanderungsstädte bzw. -provinzen wurden (mit großem Abstand vor allen anderen) Madrid und Barcelona sowie (deutlich abgesetzt) Bilbao (Vizcaya) und San Sebastiän (Guipüzcoa). Der Anteil an Personen, die nicht in ihrer Heimatprovinz, sondern in den Provinzen Madrid, Barcelona und Vizcaya von den Volkszählungen erfaßt wurden, lag weit über dem nationalen Durchschnitt (Tab. 30). Tab. 30: Personen, die in anderen als ihren Herkunftsprovinzen von den Volkszählungen erfaßt wurden, 1877-1950 (in %) 1877
1887
1900
1910
1920
1930
1950
Provinz Madrid
45,4
43,4
41,7
38,7
39,9
46,9
44,3
Prov. Barcelona
19,5
20,5
22,2
26,2
29,3
36,0
37,8
Prov. Vizcaya
13,7
19,5
26,4
26,0
26,1
24,9
26,0
8,5
8,0
8,5
9,0
10,2
12,2
15,3
Landesdurchschnitt
Zwischen 1940 und 1970 waren 21 der insgesamt 50 Provinzen ständige Abwanderungsgebiete; in diesem Zeitraum gehörten Le6n und Murcia ununterbrochen sowie seit 1946 die Regionen Galicien, Alt-Kastilien (außer Valladolid), Neu-Kastilien (außer Madrid) und Extremadura zu den wichtigsten Abwanderungsgebieten. Seit 1956 zählte auch Andalusien zu diesen Regionen. Insgesamt übertrafen die Abwanderungsregionen bei weitem die Zuwanderungsgebiete: Zwischen 1951 und 1960 gab es bereits 80% Abwanderungsprovinzen (40 von 50); in weiten Agrargebieten wurden richtige Entvölkerungstendenzen wahrnehmbar. Zwischen 1950 und 1960 wanderte über eine Million Landarbeiter von den agrarischen Gebieten Kastiliens, Extremaduras und Andalusiens in die industriellen Ballungszentren ab.
XIII Die Bevölkerung in der Neuzeit (bis 1975)
314
Auswanderung und Binnenwanderung
In diesen zehn Jahren sank in 18 sowieso schon äußerst bevölkerungsarmen Provinzen, die zusammen 44,2 % der Gesamtfläche des Landes ausmachten, die Bevölkerungszahl noch weiter. Noch deutlicher läßt sich die Entvölkerung agrarischer Gebiete für das Jahrzehnt 1961-1970 nachweisen. In diesem Zeitraum sank die Bevölkerung von 23 Provinzen, d.h. von drei Fünfteln der Gesamtfläche des Landes. Der Bevölkerungsrückgang zwischen 1961 und 1970 erreichte in einigen Gegenden extreme Ausmaße; er betrug z. B. in den vor allem landwirtschaftlich geprägten Provinzen Soria und Cuenca je 21 %, Teruel 20%, Guadalajara 19%, Badajoz und Lugo je 17%, Segovia und Zamora je 16%. Madrid und Barcelona wirkten in der gleichen Zeit wie Magnete: Madrid wuchs zwischen 1951 und 1960 um 35,3 % und zwischen 1961 und 1970 um 45,5 %; heute ist Madrid eine weitgehend dysfunktionale Oase in der kastilischen Wüste. Katalonien registrierte nach dem Bürgerkrieg 20 Jahre lang einen Jahresdurchschnitt von 50.000 Zuwanderern, von denen sich 90 % in der Provinz Barcelona niederließen. Zwischen 1950 und 1960 stieg die Zahl der Zuwanderer auf fast 440.000, zwischen 1961 und 1965 auf ca. 800.000, von denen sich wiederum 50 % in Barcelona (Stadt und nächste Umgebung) niederließen. Bereits 1960 waren 51,7% der Bevölkerung Barcelonas Zuwanderer. 1974 lebte schon ein knappes Drittel der spanischen Bevölkerung in Madrid, Barcelona, dem Baskenland und auf den Kanarischen Inseln.
31 5
Karte 26: Binnenemigrationen der 1950er/1960er Jahre Monbde-0 Nimes talbi Marsan FRAN C A 0,- Maisekts Montpellier Toulouse 0 01Marbona Tarbes Forro ANDORRA °perplanan
La< Santiap Compri Ponte,
Viana du Castelo
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.2.i ►e Bad'elona
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Menorca Lalldu la Plans
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Ss
sederi.,,ii, , , Evora z
Formentera
4,0 Beja
Karte 25: Auswanderung 1964-1977
ordrbri
Prozentsatz der in der jeweiligen Provinz Geborenen (1991)
AN
ALiÄRVE
I
70 - 80%
unter 50%
111 80 - 85%
50 ” 70% r.4,• Migrationsströme
CM.
FRANKREICH
GALICUL
N
ASTURIAS
1
ANDOR 0 2,2 %
CATAL UI A
6,5 %
111111911
CASTILLA LA NUEVA
0,1 ,1 i % BALEAREN , PAIS VALE IANO
URCIA 30,4 %
KANARISCHE BFM INSELN 0,9%
190 290 km
Auswanderer in europäische Länder
II
Prozentsatz der Gesamtauswandererzahl (931.282)
0
Maßstab 1: 9.000.000 50 100 120 200
(Esp.) Tänzer
Larachei 250 lon/ M A R R U E C O S °Alcazarquivir
(Esp.) ARCEL/A
I
Kanarische Inseln Lanzarael La Palma s t, mruz de Tenertfe Fuerteventura' Gomera llas Palmas Gran anai• e Gran Canaria 45 1-11erro
Karte 26 zeigt die innerspanischen Wanderungsbewegungen der 1950er und 1960er Jahre, die für Spanien wichtiger wurden als die Auswanderung. Der über Jahre ansteigende Bedarf an Industriekräften sowie die gleichzeitige Wirtschaftskrise in den agrarischen Gebieten setzten eine breite Wanderungswelle vom Land in die Stadt in Bewegung. Während des Franquismus (1939-1975) verloren die argarischen Gebiete Bevölkerung in Millionenhöhe: Andalusien verlor 1,8 Millionen Personen, Kastilien-Lehn 1,1 Millionen, Kastilien-La Mancha 1 Million, Galicien 573.000, Muarcia 235.000, Aragonien 136.000. Dafür gewann Katalonien 1,64 Millionen Personen, Madrid 1,63 Millionen, das Baskenland 498.000, Valencia 470.000. Auch die Balearischen und die Kanarischen Inseln gewannen 120.000 bzw. 109.000 Einwohner hinzu. Vor allem die beiden Städte Madrid und Barcelona wirkten seit den 1950er Jahren wie Magnete: Madrid wuchs zwischen 1951 und 1960 um 35,3% und zwischen 1961 und 1970 um 45,5%. Katalonien registrierte nach dem Bürgerkrieg 20 Jahre lang einen Jahresdurchschnitt von 50.000 Zuwanderern, von denen sich 90% in der Provinz Barcelona niederließen. Zwischen 1950 und 1960 belief sich die Zahl der Zuwanderer auf fast 440.000, zwischen 1961 und 1965 auf circa 800.000, von denen sich wiederum 50% in Barcelona niederließen. Es handelt sich um die größte Wanderungsbewegung der spanischen Geschichte, die teilweise auf den innerspanischen Raum beschränkt blieb, sich teilweise aber auch über die Landesgrenzen hinweg erstreckte. Zwischen 1960 und 1970 verließen durchschnittlich jeden Tag nicht weniger als 1.000 Menschen ihren Herkunftsort, d.h. insgesamt ungefähr 3,7 Millionen. Die Konzentration der Bevölkerung in einigen wenigen Gebieten beschleunigte den Verstädterungsprozeß. Der Prozentsatz von Personen, die in Großstädten mit über 100.000 Einwohnern lebten, stieg von 19% (1930) auf fast das Doppelte (1970).
316
317
XIII Die Bevölkerung in der Neuzeit (bis 1975)
Beim Übergang von der Periode 1900-1930 zur Periode 1930-1960 änderten sich die traditionellen, vor allem nordspanischen, Abwanderungsregionen nicht, sie wurden jedoch durch südliche Gegenden ergänzt. So wuchs im östlichen Andalusien die Zahl der Abwanderer von 317.500 (1901-1930) auf 640.000 (1931-1960); in der östlichen Tajo-GuadianaRegion erhöhte sich die Zahl von 91.000 auf 271.000 Abwanderer; Westandalusien, das 1901-1930 ein Zuwanderungsgebiet war, wurde 1931-1960 zu einer Abwanderungszone. Die Migrationen erfolgten auf dem Hintergrund gewaltiger interprovinzieller und interregionaler Entwicklungsgefälle. Während (1969) in den fünf entwickeltsten Provinzen Guipüzcoa, Vizcaya, Alava, Madrid und Barcelona das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen um 44,8% über dem nationalen Mittel lag, lag es in den fünf rückständigsten Provinzen Granada, Cäceres, Jah, Almerfa und Orense um 46,01 % unter dem Landesdurchschnitt. In letzterer Provinzgruppe waren durchschnittlich 55,4% der jeweiligen erwerbstätigen Bevölkerung im Agrarsektor tätig, während es bei den entwickelten Provinzen nur mehr 9,0% waren. Die Migrationsströme führten im Spanien der 1960er und 1970er Jahre immer deutlicher auf eine "dualistische Gesellschaft" hin: auf einige relativ hochentwickelte und dicht bevölkerte Inseln innerhalb eines unterentwickelten und entvölkerten Umlandes. Im gesamten 20. Jahrhundert wuchs die spanische Bevölkerung um weit mehr als das Doppelte, von 18,8 auf 40,8 Millionen Einwohner. Zugleich erfolgte aber ein demographisch-territoriales Ungleichgewicht: Die Spanier verließen das Landesinnere – mit Ausnahme von Madrid, das überdurchschnittlich anwuchs – und siedelten sich an den Küstenregionen an. Heute wohnen 40,4% der Bevölkerung auf lediglich 1% des spanischen Territoriums; 95,9% der Bevölkerung leben in der einen Hälfte des Staatsgebiets, und 4,1 % leben in der anderen Hälfte. Die Rede ist von einem "leeren" und einem "überbevölkerten" Spanien. Die Provinzen Madrid und Barcelona nehmen allein ein Viertel der Bevölkerung auf; die Provinzen Madrid, Barcelona, Valencia und Sevilla knapp 35 %.
Literatur Garcia Barbancho, Alfonso: Las migraciones interiores espariolas, estudio cuantitativo desde 1900. Madrid 1967 Garcfa Barbancho, Alfonso: Las migraciones interiores espariolas en 1961-1970. Madrid 1975 Garcia Fernändez, Jesils: La emigraciön exterior de Esparia. Barcelona 1965 Nadal, Jordi: La poblaciön espariola (siglos XVI y XX). Barcelona 1976 Palazön, Salvador: Los esparioles en Amörica Latina (1850-1990). Madrid 1995 Pörez Moreda, Vicente / Reher, David-Sven: Demograffa histörica en Esparia. Madrid 1988 Sänchez Alonso, Blanca: Las causas de la emigraciön espariola 1880-1930. Madrid 1995 Vicens Vives, Jaime (Hg.): Historia social y econömica de Esparia y Amörica. Bd. 5. Barcelona 1972
XIV Die Gesellschaft in der Neuzeit (bis 1975)
1.
Soziale Schichtung und Mobilität
Im gesamten 19. Jahrhundert blieb die Landwirtschaft der vorrangige Wirtschaftszweig, der auch im wesentlichen die soziale Struktur des Landes bestimmte. Die Beschäftigungslage entsprach der Bevölkerungssituation auf dem Land. Der Anteil der in der Landwirtschaft Tätigen an der Gesamtbeschäftigtenzahl veränderte sich bis Ende des 19. Jahrhunderts kaum. 1887/88 waren lediglich 42,52% der Gesamtbevölkerung berufstätig, 1901/02 noch weniger (40,71 %). Der Prozentsatz der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft betrug in den 80er Jahren über 72% (Deutschland 1870: 50%). Nach anderen Quellen (Martfnez Cuadrado, Tufiön de Lara) waren 1890 ca. 40% der Bevölkerung erwerbstätig, davon 66,5 % in der Landwirtschaft (1900 nahezu unverändert 66,35 %), 14,6% in der Industrie (1900: 16,33%) und 18,7% im Dienstleistungssektor (1900: 17,32 %). Über die Hälfte des Sektors "Industrie" bezog sich um die Jahrhundertwende auf Bauwirtschaft und Textilherstellung, über ein Viertel des "Dienstleistungssektors" auf häusliche Dienste. Um die soziale Schichtung der spanischen Gesellschaft seit Mitte des 19. Jahrhunderts darstellen zu können, müssen zuerst die Besitzverhältnisse auf dem Land angesprochen werden, die eine auffällige, zum Teil bis in das 18. Jahrhundert und noch weiter zurückverfolgbare Konstanz aufweisen. Während sich der von Tagelöhnern (jornaleros) und Pächtern (arrendatarios) bewirtschaftete Großgrundbesitz primär in Neu-Kastilien, Andalusien und Extremadura konzentrierte, dominierten in Teilen von Alt-Kastilien, Galicien und Lehn die landwirtschaftlichen Kleinstbetriebe, deren Bewirtschaftung kaum die Existenzsicherung einer Familie ermöglichte und für Besitzer (Pächter) zumeist einen Nebenerwerb erforderlich machte. Im kantabrischen Gebiet und besonders in Galicien hatte die Fragmentarisierung des Bodens ungewöhnliche Ausmaße erreicht. Die zwischen 10 und 100 ha umfassenden Mittelbetriebe waren schwerpunktmäßig in Katalonien, dem Baskenland und der Levante lokalisiert. Eine Globalcharakterisierung der agrarischen Eigentumsverhältnisse läßt eine deutliche Dichotomie erkennen: Im südlichen Drittel des Landes überwogen die Latifundien, die primär von Landwirtschaftsarbeitern bewirtschaftet wurden; im Zentrum und Norden des Landes war die überkommene Agrarverfassung im allgemeinen durch das Nebeneinanderbestehen von grundbesitzenden Kleinstbauern und Großgrundbesitzern gekennzeichnet, deren Land sowohl von lohnabhängigen Landarbeitern als auch von Kleinpächtern in der Kleinbetriebsform bewirtschaftet wurde. Trotz der revolutionären Umbrüche 1810/12, 1820/23 und 1836 und der in dieser Zeit erfolgten Besitzwechsel auf dem Land, trotz der Desamortisation, der Säkularisierung und des öffentlichen Verkaufs der kirchlichen Güter und Ländereien, die sich in "Toter Hand" befanden, kam es im 19. Jahrhundert zu keiner grundlegenden Änderung der Agrarstruktur, weder zu breiter gestreutem Besitz noch zu ertragreicheren Anbauformen. Mit der Einführung der liberal-kapitalistischen Rechts- und Sozialordnung im zweiten Drittel des 19.
318
XIV Die Gesellschaft in der Neuzeit (bis 1975)
Jahrhunderts wurde zwar ein Versuch gemacht, zu einer neuen Landverteilung zu gelangen; die Vorrangstellung des Großgrundbesitzes jedoch blieb ungebrochen. Der religiös und sozial konservative Landadel behielt auch nach der Aufhebung der patrimonialen Gerichtsbarkeit faktisch die alte Stellung auf dem Lande, vor allem im Bereich der Latifundienherrschaft. Allerdings trat jetzt neben den alten Adel ein großgrundbesitzendes Bürgertum, das als Folge der Liberalisierung des Eigentumsrechtes entstanden war. Die mit der Desamortisation einhergehende Auflösung bzw. Umstrukturierung der Zünfte, Gilden, Bruderschaften und Hilfsorganisationen (wie Getreidemagazine und Hospitäler), der Feld-, Flur- und Waldgemeinschaften, der Allmenden sowie weiterer genossenschaftlich-gemeinschaftlicher Landeinrichtungen hatte eine weitere Verschlechterung der Situation der Landbevölkerung zur Folge. Die Arbeitslosigkeit der Tagelöhner stieg in einzelnen Provinzen des Südens infolge der dort häufig praktizierten Monokulturen (Getreide, Wein, Öl) bis auf 180 Tage im Jahr; zum Teil waren die Arbeitsmöglichkeiten noch schlechter (etwa in Jah). Das ständige Überangebot an Arbeitskräften und das Heer von Arbeitslosen, die bei Arbeitsanfall jederzeit abrufbar waren, drückten die ohnehin niedrigen Löhne noch weiter. Der Durchschnittslohn eines andalusischen Landarbeiters lag bei ungefähr einem Drittel des Landesdurchschnitts. Die billigen weiblichen Arbeitskräfte, die zur Erntezeit eingesetzt wurden, und die nur zur Erntezeit aus anderen Provinzen oder Portugal angereisten Arbeitsuchenden verhinderten, daß die Tagelöhner auf Dauer eine wirtschaftliche Verbesserung ihrer Situation durchsetzen konnten. Die Neuverteilung des Besitzes während der Regierungszeit Isabellas verdoppelte zwar die landwirtschaftliche Anbaufläche; dennoch trug dies nicht zur Verbesserung des äußerst niedrigen Lebensstandards und der sozialen Lage der großen Mehrheit der Landbevölkerung bei. Vielmehr schuf der rasche Bevölkerungszuwachs ein sich ständig vergrößerndes Landproletariat, vor allem in Andalusien (braceros) und Extremadura (yunteros). Versuche, diese Ungleichverteilung zu mildern, wie z. B. durch die Umwandlung von Trockenland in künstlich bewässertes Land, konnten infolge des Kapitalmangels nicht in größerem Maßstab durchgeführt werden. Im Gegensatz zu den Verhältnissen in Süd- und Nordwestspanien überwogen in Katalonien landwirtschaftliche Familienbetriebe kleinen Umfangs und mittelgroße Betriebe mit einigen darauf beschäftigten Landarbeitern; trotz dieser Agrarstruktur stellte die Schicht der Pächter – insbesondere die der Weinpächter (rabassers) – ein Problem dar. Seit 1879, dem Beginn der Reblausplage, sank die durchschnittliche Pachtdauer der Weinberge auf die Hälfte; die Pächter erhielten ungünstigere Verträge. Um ihre Interessen zu wahren, gründeten die rabassers Widerstandsgruppen und Verteidigungsbündnisse, deren politische Bedeutung allerdings erst im 20. Jahrhundert zum Tragen kam. Ende der 1860er Jahre – nach Abschluß der Umschichtungsprozesse – gab es bei einer Landbevölkerung von 13 Millionen ungefähr fünf Millionen in der Landwirtschaft Beschäftigte. 700.000 davon waren Bauern mit einem Stück Land, das zu ihrem Auskommen reichte; eine weitere halbe Million waren Siedler auf Staatsland und mittlere Pächter; der Rest lebte in ärmlichsten Verhältnissen: ca. 2,5 Millionen Minifundisten, die sich zum Überleben bei Mittel- und Großbauern verdingen mußten, und ungefähr 1,5 Millionen primär auf Latifundien dahinvegetierende Tagelöhner. Mitte des 19. Jahrhunderts erlebte die spanische Gesellschaft als Folge der beginnenden Industrialisierung die erste bedeutende Veränderung seit Jahrhunderten. Seit 1830 ent-
Soziale Schichtung und Mobilität
319
wickelte sich allmählich eine auf Dampfmaschine und Textilproduktion basierende katalanische und seit 1850 eine auf Eisen, Stahl und Mineralien beruhende baskisch-asturische Industriebourgeoisie. Der Eisenbahnbau förderte den industriellen Aufschwung und verband die Landesteile. Um die Mitte des Jahrhunderts gab es in Katalonien ungefähr 100.000 Textilarbeiter; die Zahl der Bergarbeiter belief sich (in ganz Spanien) auf ca. 25.000, die der Metallarbeiter auf 12.000. Insgesamt waren in der aufstrebenden Industrie an die 200.000 Arbeiter beschäftigt. Ende der 60er Jahre dürfte die Zahl der katalanischen Textilarbeiter auf 130.000, in Spanien insgesamt die der Berg- und Metallarbeiter auf 50.000 angewachsen sein. Noch weitgehend in ländlichem Milieu lebten die ca. 40.000 Arbeiter der Getreideund Ölmühlen. Das anfänglich schwache Bürgertum im Küstengebiet (Katalonien, Asturien, Baskenland) breitete sich im Zuge der Industrialisierung rasch aus. Über das Zensuswahlrecht (bis 1890) übte es entscheidenden Einfluß im Parlament, über die Presse auf die öffentliche Meinung aus. Der allmähliche wirtschaftliche Aufschwung führte in den fortschrittlichen Regionen zur Ausprägung eines breiteren Bürgertums und – unterhalb dieser Schicht – zur Ausbildung einer unteren Mittelschicht, der sogenannten clase media, zu der Anwälte und Ärzte, Handwerker und Kaufleute, Militärs und Kleingewerbetreibende zu rechnen sind. Nach Vicens Vives gehörten gegen Anfang des 19. Jahrhunderts bereits 5 % der Familien Barcelonas dieser unteren Bürgerschicht an. In der zweiten Jahrhunderthälfte entwickelten sich in Katalonien die mit Bank- und Handelsinteressen verflochtene und auf den gesamtspanischen Markt orientierte Großbourgeoisie und das eher lokal ausgerichtete Kleinbürgertum deutlich auseinander. Auf gesamtspanischer Ebene dominierte das Kleinbürgertum nach der Anzahl über die Großbourgeoisie: Von den 898.000 Beschäftigten, die 1877 im "Industrie"Sektor tätig waren, waren über 500.000 kleine Handwerker; ungefähr ebensoviele arbeiteten als Kleinhändler. Auch Intellektuelle und Staatsbeamte gehörten dieser "Zwischenschicht" an. Ein Großteil dieser Berufsgruppen, vor allem die Handwerker, unterlag im 19. Jahrhundert einem allmählichen Proletarisierungsprozeß, wenn sie auch nach außen eine bürgerliche Scheinwelt aufrechterhielten. Politisch waren diese Schichten ganz unterschiedlich orientiert: In den aufstrebenden Küstenstädten unterstützten sie eher demokratisch-republikanische Kräfte oder die Progressisten, auf der zentralen Hochebene und in Galicien konservative Interessen, im Baskenland die Karlisten. Die politische Elite des Landes entstammte um die Jahrhundertmitte den (altadeligen, geadelten oder geldaristokratischen) Großgrundbesitzern, den (häufig, vor allem unter Isabella II. geadelten) Militärs und traditionell dem Anwaltsberuf, dessen Spitzenrepräsentanten oft in die führenden Schichten einheirateten. In den Cortes von 1901 etwa waren 62 % der Abgeordneten Anwälte. Die "politischen Familien" waren zwar zumeist an Finanzgeschäften der verschiedensten Art beteiligt, gehörten jedoch nur selten zu den eigentlichen Unternehmerkreisen; sie entstammten fast immer dem großagrarischen Milieu. Die Finanzbourgeoisie gehörte den Regierungskreisen weit häufiger an als die erst entstehende Industriebourgeoisie, die allerdings aus wirtschaftlichen Gründen ebenfalls das "Ordnungssystem" der Monarchie unterstützte. Auch die gegen den Karlismus gerichtete baskische Großbourgeoisie stand hinter der Restaurationspolitik. Nur in den kurzlebigen Regierungen der I. Republik (1873/74) waren – neben den führenden Militärs – "bürgerliche" Berufe besonders zahlreich vertreten: Anwälte, Professoren, Ärzte, Philologen, Händler. In der
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XIV Die Gesellschaft in der Neuzeit (bis 1975)
Restaurationsära stand an der Spitze der sozialen Pyramide die Allianz der traditionellen Klasse, des Adels, mit den wirtschaftlich Führenden, dem Großbürgertum. Die bedeutendste Rolle spielten nach wie vor die Großgrundbesitzer; die Schicht ihrer wichtigsten Vertreter belief sich auf ungefähr 8.000. Auch wenn der Adel unter ihnen zahlenmäßig nicht mehr in der Mehrheit war, übte er weiterhin eine "ideologische Hegemonie" (M. Tufiön de Lara) aus. Diesem Machtblock fügte sich vor allem die Finanzbourgeoisie ein; die Integration durch Assimilation erfolgte auf dem Wege der Adelsverleihung, der Einheirat und über wirtschaftliche Verflechtungen. Der gemeinsame Nenner der in Wirtschaft, Politik und Militär führenden Männer war ihre Integration in den Adel. Während der Regierungszeit Isabellas II. wurden 401 Adelsverleihungen vorgenommen (vor allem an Militärs), in der Restaurationszeit noch einmal 288, in erster Linie an die neue Finanzund Industriebourgeoisie. Allerdings bildete sich während der Restauration, vor allem in Katalonien, unter der in den Machtblock integrierten Großbourgeoisie ein "anderes Bürgertum", das diesem Machtblock nicht angehörte und sich (vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts) als Alternative zu diesem verstand. Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein unterschied sich die Sozialstruktur Spaniens nur geringfügig von der des 19. Jahrhunderts. Signifikante Merkmale der ökonomischen Sozialstruktur waren nach wie vor die Besitzverhältnisse im Agrarsektor mit ihrem weitgehend unveränderten Konzentrations- und Ungleichheitsindex. So nahmen im Jahre 1930 im Süden des Landes die Ländereien mit mehr als 100 ha immer noch eine doppelt so große Fläche ein wie die Parzellen mit weniger als 10 ha; die Großgrundbesitzer verfügten dort über 66,5% des Landes. Über 500 ha große Besitzungen stellten im Süden 53% der Landoberfläche dar. Demgegenüber betrug im Zentrum des Landes die von Latifundien eingenommene Fläche weniger als die Hälfte des Kleinbesitzes; im Norden bedeckte der Großgrundbesitz nicht einmal 25% des Bodens. 1930 nahmen die Latifundien, die lediglich 0,1 % aller Landwirtschaftsbetriebe darstellten, 33,28% der Gesamtoberfläche ein, während die Minifundien zwar 96% aller Betriebe stellten, aber nur über 29,57% des Bodens verfügten. Weite Gegenden Südspaniens wiesen klassische Merkmale ökonomischer und sozialer Rückständigkeit auf: Hunger, Arbeitslosigkeit, Analphabetismus, überdurchschnittliche Bevölkerungsvermehrung, Kapitalmangel, soziale Unruhen. Nach dem Ersten Weltkrieg verloren die Großgrundbesitzer infolge rapide zunehmender Industrialisierung einen Teil ihrer früheren Macht; während der Zweiten Republik (1931-1936) erhielt diese Schicht durch den Beginn der Agrarreform eine weitere Schwächung. Ein Teil des alten Adels verkaufte daraufhin seine Ländereien an Finanz- und Industriekapitalisten sowie begüterte Angehörige der oberen Mittelschicht, die damit zu Agrarunternehmern wurden. Nach der fehlgeschlagenen Agrarreform der Zweiten Republik und den agrarkollektivistischen Enteignungen der Bürgerkriegszeit wurden die Großgrundbesitzer durch das "neue" Spanien Francos vollauf entschädigt, die alten vor-republikanischen Grundverhältnisse wiederhergestellt. Der erste Nationale Agrarzensus von 1962 ließ deutlich werden, daß sich an der überkommenen Agrarstruktur nicht viel geändert hatte: 1,8% der Landwirtschaftsbetriebe bedeckten 52,8% der Fläche. Zieht man davon die Gemeindeliegenschaften ab, dann verfügten die 31.888 größten privaten Landwirtschaften (1,1% vom Ganzen) über 33,1% (14,5 Millionen ha) aller und über 41,2% aller privaten Grundflächen, während die verbleibenden 2,7 Millionen Kleinbetriebe sich auf 17,1 Mil-
Soziale Schichtung und Mobilität
321
lionen ha oder 39,1 % der landwirtschaftlichen Fläche drängten. Die tatsächliche Bodenkonzentration war noch größer, da der Zensus von 1962 nach Gemeinden registrierte, so daß ein Großgrundbesitzer, dessen Ländereien über die Grenzen der Gemarkungen hinausreichten, als zwei oder mehr Betriebe gezählt wurde. Wie radikal die alten Besitzverhältnisse wiederhergestellt wurden, geht aus der Untersuchung von E. Malefakis hervor, der darauf hingewiesen hat, daß die Struktur des Grundbesitzes 1959 im Grunde die gleiche wie 1930 oder gar 1910 war. Nach 1939 wurde eine große Anzahl der landwirtschaftlichen Klein- und Kleinstbetriebe aufgelöst. Hunderttausende kleiner Landwirte gaben ihre unrentablen Minifundien auf und wanderten in die Industrie- und Verwaltungszentren ab. Gab es am Ende des Bürgerkrieges ca. 3,2 Millionen Landwirtschaftsbetriebe, so waren es 1962 noch 2,8 Millionen und 1972 nur noch 2,5 Millionen. Hiervon zählten ungefähr 300.000 als "mittlere Bauernstellen", während die restlichen 2,2 Millionen Kleinbauern eher zu den Agrarproletariern zu zählen waren, deren Durchschnittseinkommen in den meisten Fällen unter denen von Industriearbeitern blieben und die physisch und als soziale Schicht nur infolge der staatlichen Festsetzung der Preise für ihre Agrarprodukte überleben konnten. Mitte der 1950er Jahre setzte die wirtschaftlich bedingte Ab- und Auswanderung der Landarbeiter ein. Während der Zweiten Republik gab es noch an die zwei Millionen; bis 1975 war diese ärmste Schicht des spanischen Agrarproletariats auf unter 600.000 gesunken. Zuerst hatte der massive Exodus landwirtschaftlicher Arbeitskräfte eine Mechanisierung der Landwirtschaft zur Folge; allmählich trug dann diese Mechanisierung zur weiteren Abwanderung bzw. (bis heute) zu einem hohen Prozentsatz an Arbeitslosen in den Latifundiengebieten bei. Der Abwandererstrom brach erst infolge der Überalterung der landwirtschaftlichen Bevölkerung ab. Obwohl Spanien in der ersten Jahrhunderthälfte überwiegend agrarisch strukturiert war, durchliefen die "randspanischen" Gebiete einen rapiden Industrialisierungsprozeß. 1930 gab es ca. 1,5 Millionen Industriearbeiter an der Peripherie des Landes. Zu Beginn der Zweiten Republik wies die erwerbstätige Bevölkerung folgende Struktur auf: 28,12% waren selbständig und in der Landwirtschaft tätig (Kleinbauern, Pächter), 17,39% waren angestellte Landarbeiter (Tagelöhner), 9,12 % arbeiteten als selbständige Handwerker und Industrielle, 17,4% verdienten sich als Industrie- und Bauarbeiter ihren Unterhalt, 17,1% hatten ein eigenes Dienstleistungsunternehmen (Händler, Geschäftsleute) oder waren im Dienstleistungssektor angestellt (Beamte), 10,88% waren Arbeiter in Dienstleistungsbetrieben oder Hausangestellte. Im Landwirtschaftssektor zählten zur Führungsschicht (Großgrundbesitzer) 3,45%, zu den Mittelschichten (Kleineigentümer, Pächter) 50,89 %, zur Arbeiterschicht 45,66%. Im Industriesektor belief sich der Prozentsatz der Großindustriellen auf 3,54%, der mittleren Unternehmer auf 30,85%, der Arbeiterschaft auf 65,51 %. Im Tertiärsektor wurden in der Spitzenkategorie (Handelsgroßbourgeoisie, Freiberufler, Spitzenbeamte) 5,31 %, in der mittleren Schicht (Kleinhändler, Militärs mittleren Ranges, Angestellte und Beamte) 55,81 % und bei den Arbeitern, Hausangestellten usw. 38,87% gezählt. In den Jahren zwischen 1930 und dem Ende des Franquismus erfolgte eine sektorale Verschiebung der erwerbstätigen Bevölkerung, die einzigartig in der spanischen Geschichte war (Tab. 31).
322
XIV Die Gesellschaft in der Neuzeit (bis 1975)
Soziale Schichtung und Mobilität
Tab. 31: Die Entwicklung der erwerbstätigen Bevölkerung nach Wirtschaftszweigen 1930-1976 Jahr
Erwerbstätige in % der Gesamtbevölkerung
Sektorale Verteilung der erwerbstätigen Bevölkerung in % Landwirtschaft
Industrie
Dienstleistungen
1930
35,51
45,51
26,51
27,98
1940
34,61
50,52
22,13
27,35
1950
37,09
47,57
26,55
25,88
1960
38,11
39,70
32,98
27,32
1965
38,50
34,30
35,20
31,20
1970
37,44
29,11
37,28
33,61
1976
36,78
23,10
37,20
39,70
Die stetige Zunahme des Anteils der in der Industrie beschäftigten Personen verlief parallel zur abnehmenden Entwicklung der erwerbstätigen Agrarbevölkerung; lediglich 1940 änderten sich die Vorzeichen beider Tendenzen, was auf die Folgen des Bürgerkrieges zurückzuführen war. Gleichzeitig trat ein kontinuierliches, aber langsameres Wachstum des Dienstleistungssektors ein. Im Lauf der 1960er Jahre setzte dann, bevor sich der Industrialisierungsprozeß voll auswirken konnte, eine schnellere Zunahme der im tertiären Sektor tätigen Bevölkerung ein; 1975 hatte sie bereits den größten Anteil an der gesamten erwerbstätigen Bevölkerung. Die frühzeitige Beschleunigung der Verschiebung in der Beschäftigungsstruktur zugunsten des Dienstleistungssektors steht mit dem Übergewicht dieses Zweiges innerhalb des spanischen Sozialprodukts (1970: 51,1 %) im Einklang. Die kapitalstarke Finanz- und Industriebourgeoisie war eine äußerst schmale Schicht von ca. 1.000 Personen, die im Franquismus jedoch zu den wichtigsten Stützen des Regimes zählten. Die das Regime tragenden bzw. vom Regime profitierenden Kräfte (Streit- und Sicherheitskräfte, Kirche, Großgrundbesitzer, Industrie- und Finanzoligarchie) beliefen sich auf ungefähr 864.000 Personen, d.h. 2,5 % der Gesamtbevölkerung Spaniens in den 1960er Jahren. Die Mittelschichten (clases medias) betrugen zu dieser Zeit - sieht man von den 600.000 Angehörigen der Streit- und Sicherheitskräfte sowie den 60.000 Kirchenangehörigen ab - ungefähr 2,33 Millionen, die sich nach R. Tamames folgendermaßen zusammensetzten: 50.000 Ärzte, 60.000 Anwälte, 120.000 freie Berufe, 300.000 Staatsbeamte, 300.000 Angestellte anderer öffentlicher Institutionen, 500.000 kleine und mittlere Industrieunternehmer, 700.000 kleine und mittlere Dienstleistungsunternehmer, 300.000 mittlere Landwirtschaftsunternehmer. Zusammen mit ihren Familienangehörigen umfaßte diese soziale Schicht über neun Millionen Personen, d. h. ca. 28 % der Gesamtbevölkerung. Seit 1939 hatten diese Mittelschichten eine gewaltige Ausweitung erfahren; damals betrugen sie lediglich 17% der Bevölkerung. Zu dieser Ausweitung trugen die enorme Aufblähung des Staatsapparats und die Wirtschaftspolitik der ersten 20 Jahre mit ihrer relativen Sicherheit für Kleinunternehmer erheblich bei.
323
1970 betrug die Arbeiterschaft (zusammen mit ihren Familienangehörigen) 69,5 % der Gesamtbevölkerung (2,2 Millionen kleine Landwirte, 700.000 Agrararbeiter, 3,85 Millionen Industriearbeiter, zwei Millionen Arbeiter im Dienstleistungssektor). Dabei hat sich die Industriearbeiterschaft zwischen 1940 und 1970 von zwei auf knapp vier Millionen nahezu verdoppelt. Die zwei Millionen Arbeiter im Dienstleistungssektor waren vor allem im Gaststättengewerbe (400.000), im Handel, in Verwaltung und häuslichen Diensten (je 300.000), im Verkehrsbereich, in den Banken und anderen Berufssparten angestellt. Dieser Sektor expandierte infolge der überdurchschnittlichen Lohnerhöhungen seit den 1950er Jahren besonders intensiv. Die Industrialisierung erhöhte auch die Notwendigkeit der Professionalisierung; die inter-generative Berufsmobilität nahm zu: Ein Viertel der Söhne war am Ende des Franquismus nicht mehr in den Berufen der Väter tätig. Insbesondere die Gruppe der Facharbeiter hatte im Generationenwechsel erheblich zugenommen (von 18,1 % auf 27,2 % aller Erwerbstätigen). Zugleich sank die Vererbungswahrscheinlichkeit des Landarbeiterberufs von 20,3 % auf 7,5 %. Die Fundaciön FOESSA hat Mitte der 70er Jahre eine Untersuchung durchgeführt, um den sozialen Status und die Schichtzugehörigkeit der spanischen Bevölkerung zu ermitteln. Als wichtige Variablen wurden das Familieneinkommen (ökonomisches Niveau), der Ausbildungsstand (kulturelles Niveau) und das Berufsprestige angesehen (Tab. 32). Tab. 32: Die soziale Schichtung in Spanien 1970 Schicht Oberschicht
Zahl der Haushalte
Anteil in %
98.800
1,1
Obere Mittelschicht
698.300
7,8
Untere Mittelschicht
1.674.700
18,8
Unterschicht
6.460.400
72,3
Summen
8.932.200
100,0
Demnach waren die Mittelschicht viel kleiner und die Basis der Sch'chtungspyramide viel breiter als in anderen westeuropäischen Industriegesellschaften. Der oligarchischen Oberschicht standen nach diesen Berechnungen eine nur ca. 26% der Gesamtbevölkerung umfassende Mittelschicht und vor allem eine breite Unterschicht gegenüber. Außerdem fand eine Verschlechterung der Einkommensverteilung zum Nachteil der niedrigeren Lohnkategorien statt, während die Einkommen aus Vermögen und unternehmerischer Tätigkeit eine überdurchschnittliche Entwicklung der Nettogewinne verbuchen konnten. Im Jahr 1970 erhielten auf der unteren Ebene 52,6% der Haushalte lediglich 21,6% des gesamten verfügbaren Einkommens, während am oberen Ende der Skala 22,4% des Gesamteinkommens auf 1,2% der Haushalte entfielen. Allein die höchste Einkommensgruppe (0,12% aller Hausbalte) bezog 11,2% der Gesamtsumme. Die Erwerbsquote war nach wie vor relativ niedrig. 1974 betrug sie 37% (54,7% bei den Männern, 21,4% bei den Frauen). Diese ungünstige Relation wurde durch eine hohe offene und verdeckte Arbeitslosigkeit verschärft.
324
XIV Die Gesellschaft in der Neuzeit (bis 1975)
2.
Vom Sozialprotest zum Klassenkampf
Der Siegeszug des Liberalismus im Spanien des 19. Jahrhunderts, die Entstehung einer vorerst noch peripher lokalisierten Industrie und die Durchsetzung kapitalistischer Wirtschaftsstrukturen mußten unweigerlich zu neuen Formen der Sozialbeziehungen und -auseinandersetzungen führen. Während des 18. Jahrhunderts hatte es zahlreiche ländliche und städtische Subsistenzrevolten gegeben, die jedoch als kollektiver Sozialprotest stets im Rahmen der bestehenden und grundsätzlich akzeptierten soziopolitischen Ordnung erfolgten. Die Aufstände waren lokal begrenzt, richteten sich gegen konkret definierbare Mißstände und forderten die Wiederherstellung der vorübergehend gestörten "gerechten" Ordnung. Auch die wenigen "industriellen" Auseinandersetzungen, die aus den Manufakturbetrieben überliefert sind, waren "vorpolitischer" Art und überschritten nicht den Rahmen des einzelnen Betriebs. Es war noch nicht das Bewußtsein vorhanden, einen gemeinsamen Kampf führen zu müssen, der sich gegen die Organisation der Gesellschaft selbst richtete und ein alternatives Modell propagierte. Die traditionelle (Textil-)Industrie des Anden Reime war weit über das spanische Territorium verbreitet; es gab keine regionale Industriekonzentration von einiger Bedeutung. Meist wurde für den lokalen Markt produziert, mitunter war das Textilwesen nach dem Verlagssystem organisiert und damit vom Handelskapital abhängig. Diese Form der Industrie stellte kein Element dar, das die sozialen Beziehungen im Ancien Reime in Frage stellte oder verändern wollte. Im Gegenteil: Sie war ein Stabilitätsfaktor, da viele Arbeiter, die in der Landwirtschaft beschäftigt oder Handwerker waren, diese "industriellen" Tätigkeiten als Nebenerwerb praktizierten, und da es diesen Nebenerwerb gab, konnten die landwirtschaftlichen Löhne niedrig und die Bauern in Abhängigkeit von den Landherren gehalten werden. Die aufklärerischen Politiker des 18. Jahrhunderts waren sich über diese Zusammenhänge durchaus im klaren. Sie förderten daher auch die traditionelle, überwiegend handwerklich geprägte Form der Industrie, lehnten jedoch die neuen, aus England bereits bekannten industriellen Organisationsformen mit ihren Massierungen von Arbeitern an einem Ort ab, da sie davon schädliche soziale Auswirkungen befürchteten. Als gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Katalonien als Folge des von den Kolonialmärkten ausgehenden Stimulus ein "moderner" Industriesektor entstand, traten (trotz des bescheidenen Ausmaßes, das es nicht erlaubt, schon von "Industrialisierung" zu sprechen) prompt die von den Aufklärern befürchteten Folgen ein. Zum einen erfolgte eine größere Konzentration von Arbeitskräften an einem bestimmten Ort — in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es in Katalonien schon 100.000 Textilarbeiter. Zum anderen waren diese Arbeiter nunmehr ausschließlich von ihrer Industriearbeit abhängig, da sie ihr teils handwerkliches, teils landwirtschaftliches Berufsleben aufgegeben hatten und wegen der höheren Löhne sich ganz ihrer Fabriktätigkeit widmeten. Das Schicksal dieser Arbeiter hing nunmehr von der Entwicklung ihrer jeweiligen Branche, das heißt von der industriellen Konjunktur ab; ihre Interessen waren aufs engste mit denen der Arbeitgeber verbunden. Die katalanischen Städte des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts erlebten allenthalben den Übergang von halbautonomen Arbeitskräften zu Industrieprole-
Vom Sozialprotest zum Klassenkampf
325
tariern; der Prozeß fand erst gegen Mitte des Jahrhunderts seinen Abschluß. Während des größten Teils dieses Übergangsprozesses befand sich die Arbeiterschaft nicht nur in materieller, sondern auch in ideologischer Abhängigkeit von den Unternehmern. Diese wiesen ihre Arbeiter immer wieder darauf hin, daß ihr Wohlergehen nicht vom Arbeitgeber, sondern ausschließlich von der Regierungspolitik abhing. Befand sich das Land im Krieg und stagnierte der Kolonialabsatz, wurde die sich einstellende Krise im katalanischen Textilsektor nicht den Unternehmern, sondern der Regierungsentscheidung über Krieg und Frieden angelastet. In Krisenzeiten galt das absolutistische Regime als gemeinsamer Gegner von Arbeitern und Unternehmern. Die Länge des Kampfes des aufsteigenden Bürgertums gegen das Ancien Reime bedingte auch die lange Dauer der "interklassistischen" Solidarität zwischen Unternehmern und Arbeitern. Erst allmählich erlangte die gemeinsam vorgetragene Forderung nach "Freiheit" für die beiden Sozialgruppen einen unterschiedlichen Bedeutungsinhalt. Die Bourgeoisie hatte Mitte der 30er Jahre mit dem Verfassungsstaat und der allgemeinen Liberalisierung des Wirtschaftssystems ihre Form von Freiheit erreicht; wie schon im Agrarbereich, wo sie nach der Desamortisation zur Agrarbourgeoisie wurde und eine konservative Allianz mit der Aristokratie einging, läßt sich auch im industriellen Sektor eine konservative Wende der Unternehmer feststellen. Unterstützten sie 1820 bis 1823 noch die exaltados im Verfassungskampf, gehörten sie seit Ende der 30er Jahre mehrheitlich zu den moderados. Die Arbeiter hatten aber nach wie vor nur die "Freiheit", ihre Arbeitskraft zu verkaufen; sie setzten den Kampf fort. Da der Staat nicht mehr mit dem Ancien Reime identifiziert werden konnte, sondern der liberale Staat des an die Macht gelangten Bürgertums war, sahen die Arbeiter in Bürgertum und Staat fortab ihre Gegner. Damit war die Klassentrennung vollzogen. Die ersten größeren Unruhen im Industriebereich erfolgten in Form von Maschinenzerstörungen. Die Protestforschung hat deutlich gemacht, daß der Luddismus eine Form des Arbeiterprotests ist, die in die vorindustrielle Zeit gehört und sich im Industrieproletariat kaum durchsetzen würde. Maschinenstürmerei war auch unter Handwerkern und Heimarbeitern anzutreffen, deren Existenz durch die rapide Mechanisierung der Fertigungsprozesse in den Fabriken bedroht wurde, weniger unter den ausschließlich von der Industrieproduktion abhängigen Arbeitern, die mit den Maschinen zugleich ihre eigene Erwerbsbasis zerstört hätten. Diese Beobachtung trifft auch auf Spanien zu, obwohl andererseits zu berücksichtigen ist, daß Luddismus eine erste Form des Widerstands gegen die "Entfremdung" war, gegen die Ausbeutung in Fabriken, die nicht nur die Moral, sondern die gesamte traditionelle Lebensweise der Landbevölkerung bedrohte. Die ersten spanischen Fälle von Maschinenstürmerei fanden im levantinischen Alcoy während des liberalen Trienniums (1820-1823) statt. Einige Jahre zuvor waren für die dortige Wollindustrie neue Textilmaschinen eingeführt worden, was mit einer Verlagerung der Kapitalinvestitionen von der traditionellen Papier- zur neuen Textilwirtschaft und mit einer Konzentration von Arbeitern in dieser Branche einherging. Im März 1821 kam es zum ersten Aufstand: Über tausend Personen, die aus der Umgebung in die Stadt kamen, griffen die Betriebe, besonders die Real Fäbrica de Parios, an und zerstörten 17 Spinnmaschinen in einem Wert von zwei Millionen reales. Die liberalen Cortes verurteilten den Zwischenfall sogleich auf das schärfste; sie betrachteten das Phänomen aber als einen Fall von Störung
326
XIV Die Gesellschaft in der Neuzeit (bis 1975)
öffentlicher Ordnung, die bestraft werden mußte; die anvisierte Lösung entsprach den Vorstellungen des Aufgeklärten Absolutismus. Da der Ursprung der Unruhen angeblich in der Ignoranz der Arbeiter lag, die positiven Wirkungen der neuen Maschinen zu erkennen, müsse diese Ignoranz mit Hilfe philanthropischer Maßnahmen seitens der städtischen und kirchlichen Behörden überwunden werden. Die 30er und 40er Jahre des 19. Jahrhunderts erlebten eine dramatische Entwicklung der katalanischen Textilindustrie. Die technischen Neuerungen griffen schnell um sich. Die alten bergadanas (Textilmaschinen) wurden durch die MuleJennies ersetzt, von denen es 1850 schon über 475.000 gab; und die 1840 noch praktisch unbekannten selfactinas (mechanische Spinnmaschinen) beliefen sich zehn Jahre später auf nahezu 100.000. Zum gleichen Zeitpunkt wurde an noch ungefähr 180.000 Handwebstühlen gearbeitet. Angesichts dieses stürmischen Aufschwungs der Industrie gelangten die Arbeiter schnell zu der Überzeugung, daß sie ihre Interessen nur verteidigen konnten, wenn sie sich zusammenschlossen und Widerstandskassen gründeten. Vorerst wurden alle derartigen Anträge abgelehnt. Die Behörden übernahmen die Unternehmerargumentation, derzufolge die Freiheit der Arbeiter und Industriellen zum Abschluß von Beschäftigungsverträgen durch keine gesetzlichen Regelungen eingeschränkt werden durfte. Erst 1840 gelang es den Webern, eine "Gesellschaft für gegenseitige Hilfe" zu gründen (Sociedad de tejedores): Die erste spanische "Gewerkschaft" war geboren. 1842 zählte sie bereits 50.000 Mitglieder; schnell folgten andere Industriebranchen. Damit aber waren für die Arbeiter die ersten organisatorischen Voraussetzungen geschaffen, um in Zukunft kollektiv agieren zu können – und das nicht nur ohne Mitwirkung der Bourgeoisie, sondern gegen diese. Hätte Marx den Übergang von der Klasse "an sich" zur Klasse "für sich" nicht am englischen, sondern am spanischen Beispiel exemplifiziert, hätte er die Entwicklung des Klassenbewußtseins der spanischen Arbeiterschaft in der zweiten Hälfte der 30er Jahre beschreiben müssen.
3. Zur Entwicklung von Emanzipationsbewegungen Die seit Mitte des 19. Jahrhunderts neu entstehende Industriearbeiterschaft wurde weder in das politische und gesellschaftliche System der isabellinischen Monarchie noch in das der Restauration integriert. Beim Aufbau der Industrie im Zeichen eines liberalen Kapitalismus wurden die Belange der Arbeiterschaft nur wenig berücksichtigt. Da überdies gewerkschaftliche Zusammenschlüsse (bis 1887) verboten waren, entlud sich soziale Unzufriedenheit häufig in spontanen Einzelaktionen. Seit Mitte des Jahrhunderts (1854 erfolgte der Zusammenschluß katalanischer Arbeitervereine zur Untön de Clases) entwickelte sich immer deutlicher ein Arbeiterbewußtsein: An der Spitze der Forderungen stand die Koalitionsfreiheit. Die zahlreichen Landarbeiter, die in die Industriezentren abwanderten, hatten keinerlei Aufstiegschancen. Sie bildeten sehr schnell die unterste Schicht, deren Erwartungen unerfüllt blieben. Schon 1854/55 kam es in Katalonien zu Fabrikzerstörungen, Maschinenstürmen und Generalstreiks. Parallel dazu organisierten die Arbeiter in den 60er Jahren ihre ersten Genossenschaften und Hilfskassen, eigene Kulturzentren und Presseorgane. Im folgenden Jahrzehnt griff die internationalistische Lehre vor allem unter den Industriearbeitern Kataloniens um sich; in den 80er Jahren entwickelte sich auch im Basken-
Zur Entwicklung von Emanzipationsbewegungen
327
land und Asturien ein proletarisches Bewußtsein. Während der wirtschaftlichen Depression der 90er Jahre häuften sich die gewalttätigen Streiks (1890, 1897, später 1901). Ein katalanischer Arbeiter mußte im Durchschnitt 75% seines Lohns ausschließlich für die Ernährung aufbringen. Ergebnis der Niedriglöhne waren Analphabetismus und Alkoholismus, Tuberkulose und Typhus, menschenunwürdige Wohnraumverhältnisse und Prostitution. Eine Sicherung oder gar Besserung der Lebensverhältnisse der Arbeiterschaft war von den Regierungen der Restaurationszeit nicht zu erwarten. Erst um die Jahrhundertwende wurde mit einer sozialpolitischen Gesetzgebung begonnen. Erste Gesetze betrafen den Schutz bei Arbeitsunfällen und die Regelung der Frauen- und Kinderarbeit. Nachdem zuvor Unruhen und Sozialproteste weitgehend unorganisiert und regional begrenzt gewesen waren, erfolgte die Bildung einer wirklichen spanischen Arbeiterbewegung mit proletarischem Klassenbewußtsein im Zuge der Industrialisierung erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts (zur Entwicklung der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung vgl. Kap. XVII: Der Arbeitsbereich). Zu den Emanzipationsbewegungen der Arbeiterschaft trat, zum Teil als Reaktion auf die Zentralisierungstendenzen in der staatlichen Verwaltung, im letzen Drittel des 19. Jahrhunderts eine Bewegung regionaler Minderheiten, die sich im Baskenland seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert als Autonomiebewegung und in Katalonien schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts als Kulturnationalismus, seit Ende des Jahrhunderts ebenfalls mehr als politische Autonomiebewegung bemerkbar machte. 1913 erfolgte die Gewährung der Selbstverwaltung in Form der vereinigten katalanischen Provinzialausschüsse, der Mancomunitat. Bereits um 1830/40 war eine eigene neukatalanische Literatur entstanden; der Aufstieg Kataloniens zum wichtigsten, ökonomisch am weitesten fortgeschrittenen spanischen Industriegebiet verstärkte noch das Bewußtsein regionaler Bedeutung und Eigenständigkeit. Den Basken ging es vorerst mehr um die Erhaltung bzw. Wiedergewinnung ihrer alten, nach den Karlistenkriegen abgeschafften fueros (vgl. ausführlich Kap. VIII: Das Baskenland). Währenddessen betonte die Theorie eines "nationalen Regionalismus" die historische Eigenständigkeit von Katalonien; der nationale Katalanismus der Jahrhundertwende war bereits auf einen politischen Separatismus hin orientiert. Das Minderheitenproblem des (katalanischen und baskischen) Regionalismus blieb auch im 20. Jahrhundert – neben der sozialen Frage – das wichtigste ungelöste Strukturproblem des Landes. Unter Miguel Primo de Rivera (1923-1930) wurde die regionalistische Bewegung wieder stärker unterdrückt; Katalonien konnte erst 1932, während der Zweiten Republik, durch Gewährung eines Autonomiestatuts vorübergehend beruhigt werden, unternahm allerdings bereits 1934 – parallel zu der sozialen Revolte der asturischen Minenarbeiter – einen erneuten Aufstand gegen die Madrider Zentralregierung. Während des Bürgerkriegs erhielt auch das Baskenland ein Autonomiestatut (Oktober 1936); beide Landesteile konnten zeitweise ihre Selbstverwaltungskompetenzen erheblich ausdehnen. Die Autonomiegewährungen der Republik wurden unter Franco zurückgenommen; sogar die Pflege nicht-kastilischer Sprache, Folklore usw. wurde lange Zeit verboten. Unter dem Franquismus konnte der politische Regionalismus Kataloniens und des Baskenlands nur im Untergrund fortbestehen. Dort entwickelte er sich allerdings zu einem bedeutenden Oppositionselement zum kastilisch-zentralistischen Staat. Erst im Übergang zur Demokratie nach 1975 wurde der ernsthafte Versuch unternommen, die Frage des
328
XIV Die Gesellschaft in der Neuzeit (bis 1975)
Regionalismus und peripheren Nationalismus zu lösen (vgl. Kap. VII: Der Staat der Autonomen Gemeinschaften).
329
XV Bevölkerung und Gesellschaft in der Demokratie (1975-2006)
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Mit einer Gesamtbevölkerung von 44,1 Millionen Einwohnern zählte Spanien 2005 mit Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien zu den fünf bevölkerungsstärksten Ländern der EU. Ungefähr jeder elfte Europäer besitzt einen spanischen Paß. Allerdings gehört Spanien aufgrund seiner Bevölkerungsdichte von nur knapp 87 E/km2 (EU-15: 122 E/km 2 ) zu den eher dünn besiedelten europäischen Staaten, wobei es große regionale Unterschiede innerhalb des Landes gibt. Seit dem Ende der Diktatur Francos und dem Übergang in die Demokratie vor rund 30 Jahren hat Spanien weitreichende demographische und gesellschaftliche Veränderungen erfahren. Hierzu zählen etwa die Entwicklung von einem Auswanderungs- zu einem Einwanderungsland sowie der damit verbundene überdurchschnittliche Anstieg der ausländischen Bevölkerung, die rückläufige Geburtenrate oder die zunehmende Scheidungsquote.
1. Demographische Grunddaten a) Bevölkerungsentwicklung
In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ist die Einwohnerzahl Spaniens kontinuierlich gestiegen. Laut den Volkszählungen von 1991 und 2001 vergrößerte sich die Zahl der Spanier und Spanierinnen allein in diesem Zeitraum um fast zwei Millionen. Die Veränderung der Einwohnerzahl ist immer auf zwei Faktoren zurückzuführen: zum einen auf das natürliche Bevölkerungswachstum (vegetativer Bevölkerungssaldo, der sich aus der Differenz von Geburten- und Sterbefällen ergibt), zum anderen auf den Migrationssaldo. Tabelle 33 veranschaulicht, daß sich die Einwohnerzahl Spaniens gegen Ende des 20. Jahrhunderts nur noch zu einem geringen Teil aufgrund des natürlichen Bevölkerungswachstums vermehrt hat. Während 1970 der vegetative Bevölkerungssaldo noch bei 375.932 Personen lag, betrug er 31 Jahre später nur noch 46.249. Diese Entwicklung wurde vor allem durch Tab. 33: Bevölkerungsentwicklung auf Basis der Volkszählungen 1970-2001
1970 Bevölkerung
1981
1991
2001
34.040.657
37.683.363
38.872.268
40.847.371
Geburten
656.102
533.008
395.989
406.380
Sterbefälle
280.170
293.386
337.691
360.131
Natürliches BevölkerungsWachstum
375.932
239.622
58.298
46.249
330
XV Bevölkerung und Gesellschaft in der Demokratie (1975-2006)
Demographische Grunddaten
die rückläufige Geburtenrate hervorgerufen, aber auch die gestiegene Anzahl von Sterbefällen trug ihren Anteil hierzu bei. Eine größere Bedeutung für die Zunahme der spanischen Einwohnerzahl gewannen seit der Jahrtausendwende verstärkt die Einwanderungsströme. Diese verzeichneten insbesondere 2000 und 2004 einen sprunghaften Anstieg im Vergleich zum jeweiligen Vorjahr (2000: + 233,81 %; 2004: + 50,36%). Das natürliche Bevölkerungswachstum, das gegen Ende der 1990er Jahre massiv gesunken war, legte zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder zu, was bereits auf die erfolgte Einwanderung zurückzuführen war. Doch trotz der leicht positiven Entwicklung des vegetativen Bevölkerungssaldos in den letzten Jahren ist der Bevölkerungszuwachs in erster Linie das Resultat der enorm gestiege-
Bevölkerungszahl Geburten Sterbefälle
Natürliches Einwanderung Bevölkerungswachstum
1995
40.460.055
363.469
346.227
17.242
19.539
1996
39.669.394
362.626
349.182
13.444
16.686
369.035
347.160
21.875
35.616
1997
nen Einwanderungsströme. Im Jahr 2005 überschritt die Zahl der in Spanien ansässigen Ausländer erstmals die Vier-Millionen-Marke und erreichte damit einen Anteil von über 9% an der Gesamtbevölkerung. Dieser Wert hatte 1998 noch bei lediglich 1,60% gelegen. Die Gründe für den rasant gestiegenen Anteil der ausländischen Bevölkerung sind in der zunehmenden Attraktivität Spaniens als Einwanderungsland sowie in der Immigrationspolitik der spanischen Regierungen zu sehen. So ist seit Beginn der 1990er Jahre die Anzahl der Ausländer mit gültiger Aufenthaltsgenehmigung kontinuierlich gestiegen. Besaßen 1992 lediglich 393.100 Personen nicht-spanischer Herkunft ein dauerhaftes Wohnrecht, so betrug diese Zahl im Jahr 2004 bereits 1.776.953. Graphik 11: Entwicklung der ausländischen Bevölkerung in Spanien 1998-2005 (absolut und in % an der Gesamtbevölkerung)
Tab. 34: Bevölkerungsentwicklung 1995-2004 Jahr
331
5.000.000 4.060.000' (9,20%)
4.500.000 4.000.000 3.500.000 2.664.168 (6,24%)
1998
39.852.651
365.193
357.950
7.243
57.195
3.000.000
1999
40.202.160
380.130
368.453
11.677
99.122
2.500.000
2000
40.499.791
397.632
357.788
39.844
330.881
2.000.000 -
2001
41.116.842
403.859
357.580
46.279
394.048
1.500.000 -
2002
41.837.894
416.518
366.538
49.980
443.085
637.085 1.000.000 (1,60%)
2003
42.717.064
439.863
383.729
56.134
429.524
2004
43.197.684
453.278
370.698
82.580
645.844
3.030.000 (7,01%)
1.977.944 (4,73%)
748.954 (1,86%)
923.879 (2,28%)
1.370.657 (3,33%)
500.000 0 1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
Graphik 10: Natürliches Bevölkerungswachstum und Zuwachs durch Einwanderung 700.000
Graphik 12: Ausländer mit gültiger Aufenthaltsgenehmigung
600.000 Regierung Gonzälez (PSOE)
2 500 000
500.000 400.000
Regierung Aznar (PP)
Regierung Zapatero (PSOE)
2 000 000 104/
ol I
1.776.953
300.000 1 32400
1 500 000
200.000
1 109 060 1 000.000
100.000 0 1995
EI 984 609 613
895.72 71 9 647 991 329
393 100 430 422 461 364 499 773 „
1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
-4-Natürliches Bevölkerungswachstum -B-Einwanderung
2003
500 000
2004 1992
1993
1994
1995
19%
1997
19%
1999
2000
2001
2002
2003
2004
332
XV Bevölkerung und Gesellschaft in der Demokratie (1975-2006)
In den kommenden Jahren ist mit einem weiteren Anstieg des Ausländeranteils an der spanischen Gesamtbevölkerung zu rechnen. Durch das im April 2004 unter der Regierung Rodriguez Zapatero initiierte Projekt zur Legalisierung "illegaler" Einwanderer wurden im Laufe des Jahres 2005 an über 700.000 Immigranten, die eine Beschäftigung nachweisen konnten, die notwendigen Papiere ausgehändigt. Ziel dieses Vorhabens war es, die Schattenwirtschaft einzudämmen sowie der wirtschaftlichen Ausbeutung der sich illegal in Spanien aufhaltenden Ausländer entgegenzuwirken.
b) Bevölkerungsstruktur Die quantitative Bevölkerungsentwicklung wirkt sich auch auf das Gefüge der spanischen Bevölkerung aus. So bestimmt etwa die Entwicklung des Verhältnisses von Geburten und Sterbefällen maßgeblich die Ausprägung der Altersstruktur. Die folgenden Abbildungen basieren auf den Daten der Volkszählungen von 1900, 1960, 1991 und 2001. Besaß die graphische Darstellung der Altersstruktur der spanischen Bevölkerung zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch die typische Form einer Pyramide, so nahm sie im Laufe der Jahre bis 1991 immer deutlicher die Gestalt einer Zwiebel an. Diese Entwicklung haben andere europäische Länder bereits früher durchlaufen; sie ist symptomatisch für den demographischen Übergang, der durch sinkende Geburtenzahlen sowie eine abnehmende Sterblichkeit gekennzeichnet ist. Betrug im Jahr 1900 der Anteil der unter Zehnjährigen mehr als 20% an der Gesamtbevölkerung, derjenige der unter Vierzigjährigen sogar knapp 75%, so machten diese Altersgruppen im Jahr 2001 nur noch rund 10% bzw. 55% aus. Demgegenüber stieg der Bevölkerungsanteil der Personen älter als 65 von ca. 8% (1900) über rund 13 % (1960) auf mehr als 20% (2001) an. Dabei fiel der Zuwachs der weiblichen Bevölkerung über 65 Jahre stärker aus als der ihrer männlichen Altersgenossen. Die Lebenserwartung einer Spanierin lag 2002 bei 83,5 Jahren, die eines Spaniers bei 75,8 Jahren. Zu dieser hohen Lebenserwartung hat auch der medizinische Fortschritt der letzten Jahrzehnte erheblich beigetragen: Die Kindersterblichkeit nahm zwischen 1978 und 2000 von 1,2 auf 0,5 ab; die Anzahl der Ärzte auf 1.000 Einwohner nahm von 2,04 auf 4,35 zu, die der Zahnärzte von 0,10 auf 0,42, die von Krankenpflegern (immer auf 1.000 Einwohner gerechnet) von 2,64 auf 4,97. Von der Gesundheitsversorgung werden inzwischen 99,8% der Bevölkerung erfaßt. Die Prognosen für die Bevölkerungsentwicklung im 21. Jahrhundert gehen von einer weiteren Verschlankung der Basis und einer Verbreiterung der mittleren sowie oberen Altersgruppen aus, so daß langfristig gesehen die Bevölkerungspyramide die Form eines Pilzes annehmen wird. Dies ist ein Indiz für die zunehmende Kinderlosigkeit und den fortschreitenden Alterungsprozeß, der von Politikern und Demographen als äußerst kritisch gesehen wird, da er die Finanzierung des Sozialsystems gefährdet. Insbesondere im Bereich der Altersvorsorge wird Spanien in den kommenden Jahren mit einer enormen Kostenbelastung zu rechnen haben. Betrachtet man die verschiedenen Altersgruppen der in Spanien lebenden Bevölkerung unter dem Kriterium der nationalen Herkunft, so wird deutlich, daß es insbesondere die mittleren Altersschichten (20-45 Jahre) sind, die den höchsten Zuwachs von außerhalb des
Demographische Grunddaten
Entwicklung der Altersstruktur (Vergleich der Jahre 1900, 1960, 1991 und 2001)
Graphik 13:
Zensus 1900
Zensus 1960
85 und älter 1 80 - 84 la 75 - 79 II ,.. : 70 - 74 13.7' 65 -69 IIIII' 7, .. 60 - 64 55 -59 111.1111 50 - 54 11.11.11111..1.1 46 - 49 1.1111111111111.11111. 40 - 44 35-39 IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII 32 - 34 2-34 20 - 24 15 - 19 10 - 14 iMini 5-9 0 - 4 1110
85 und älter 80 - 84 75 - 79 70 - 74 65 - EY 60 - 64 55 - 59 50 - 54 45 - 49 40 - 44 35 - 39 30 - 34 25 - 29 20 - 24 15 - 19 10 - 14 5-9 0-4
I"
4
6
2
%
2
46
_________
-
4
6
Zensus 2001
85 und älter 11U.,, 80 - 84 ar .... 75 - 79 t M ain 70 - 74 MIM 65 - 69 - -60 - 64 55 - 59 50 - 54 45 - 49 40 - 44 35 - 39 -----30 - 34 25 - 29 111.1.1111111111111 20 - 24 1.1.1.111.1111•.:-.-: 15 - 19 Z 10 - 14 50 - 4 ^:
85 und älter 80 134 75 - 7 9 70 - 74 65 - 69 60 - 64 55 - 59 50 - 54 46 - 49 40 - 44 35 - 39 30 - 34 25 - 29 20 - 24 15 - 19 10 - 14 5-9 0-4
4
2
%
2
4
6
6
9
1.111':", 1111111111..,':: £t"
Zensus 1991
6
333
2
%
2
6
4
EM Man
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_...
4
2
2
4
6
Landes erfahren. Dies äußert sich auch im Durchschnittsalter der in Spanien lebenden Bevölkerung: Betrug im Jahr 2004 das durchschnittliche Alter eines Einwohners spanischer Herkunft 40,99 Jahre, so war der Durchschnittsimmigrant mit 32,82 Jahren wesentlich jünger. Es ist anzunehmen, daß sich diese Differenz in den nächsten Jahren weiter vergrößern wird, da die Geburtenrate bei Einwanderern höher ist als bei der spanisch geborenen Bevölkerung. In den letzten Jahren ist der Anteil von Neugeborenen mit ausländischer Mutter kontinuierlich gestiegen: Lag er 1999 noch bei 4,9 %, so stammten 2002 bereits 10,4% der Kinder, die in Spanien das Licht der Welt erblickten, von einer Mutter ausländischer Herkunft ab.
c) Regionale Verteilung der Bevölkerung Die Bevölkerungsdichte Spaniens, die im Mittel 86,96 E/km 2 beträgt, weist große regionale Unterschiede auf. Die autonome Region mit der größten Siedlungsdichte ist die Comunidad de Madrid (742,92 E/km 2 ), gefolgt vom Baskenland (293,73 E/km 2 ) und den Kanarischen Inseln (264,31 E/km 2 ). Auch Katalonien (217,82 E/km 2 ), die Comunidad de
334
XV Bevölkerung und Gesellschaft in der Demokratie [1975-2006)
Demographische Grunddaten
Valencia (201,78 E/km2) sowie die Inselgruppe der Balearen (196,94 E/km2 ) gehören zu den eher stark besiedelten Gebieten Spaniens. Dagegen besitzen Kastilien-Lehn (26,65 E/km2), Aragonien (26,59 E/km 2), Extremadura (26,03 E/km2) sowie Kastilien-La Mancha (23,84 E/km2) die geringste Bevölkerungsdichte. Obwohl diese vier Regionen mehr als die Hälfte des nationalen Territoriums umfassen, leben nur rund 15 % der Bevölkerung dort. Im Gegensatz hierzu konzentrieren sich knapp 39 % der in Spanien lebenden Personen auf die fünf Provinzen Madrid (5,80 Millionen), Barcelona (5,12 Millionen), Valencia (2,36 Millionen), Sevilla (1,79 Millionen) und Alicante (1,66 Millionen). Damit ergibt sich eine sehr unausgewogene Bevölkerungsverteilung, die einerseits durch dicht besiedelte Industriezentren in den Küstenregionen und um Madrid, andererseits durch eher agrarisch geprägte, nahezu menschenleere Landstriche gekennzeichnet ist. Auch die regionale Verteilung der ausländischen Bevölkerung entspricht weitgehend diesem Muster. Wie Karte 28 veranschaulicht, erreicht der Immigrantenanteil an der Gesamtbevölkerung in Küstennähe sowie in der Gegend um Madrid die höchsten Werte. Die Provinz mit der größten Ausländerdichte ist Alicante (15,1 %), gefolgt von den Balearen (13,4%), Girona (11,2 %) und Madrid (10,3 %). Aber auch Almerfa (9,9%), Mälaga (9,5 %) und Murcia (9,0 %), die allesamt an der Mittelmeerküste liegen, sowie die Kanarischen Inseln weisen eine hohe Ausländerquote auf. In den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts nahmen allein die Autonomen Gemeinschaften Madrid und Katalonien, die nur 29,1 % der
Bevölkerungsdichte nach Autonomen Regionen (Einwohner/km2)
Autonome Regionen
Madrid (Comunidad de) Baskenland Kanarische Inseln Katalonien Valencia (Comunidad de) Balearische Inseln Murcia Kantabrien Asturien Galicien Andalusien La Rioja Navarra Kastilien-L8on Aragonien Extremadura Kastilien-La Mancha Insgesamt
IM
IM
Mehr als 300 190 bis 300
85 bis 190 Weniger als 95
gesamten spanischen Bevölkerung ausmachen, 45 % der Zuwanderer auf. In Madrid, Katalonien, Andalusien, Valencia und den Kanarischen Inseln konzentrieren sich über 75 % der in Spanien ansässigen ausländischen Bevölkerung. Hinzu kommt, daß in den drei zuletzt genannten Regionen sich sowohl Einwanderer wie auch ausländische Pensionäre und Unternehmer (vor allem aus den Ländern der EU) angesiedelt haben.
d) Nationalitäten der ausländischen Bevölkerung in Spanien Mehr als die Hälfte der in Spanien lebenden Ausländer stammen aus Zentral- und Südamerika (38,6 %) sowie aus den Ländern der EU-15 (22 %). Afrikaner stellen fast ein Fünftel der ausländischen Bevölkerung dar. Die wichtigsten ausländischen Nationalitäten in Spanien sind die Ecuadorianer, Marokkaner und Kolumbianer. Fast 40 % aller Immigranten stammen aus diesen drei Ländern. Mit Ecuador, Kolumbien, der Dominikanischen Republik und Peru hat Spanien bilaterale Migrationsabkommen geschlossen; mit weiteren lateinamerikanischen Staaten werden vergleichbare Abkommen ausgehandelt. Im Mittelpunkt dieser Verträge stehen Maßnahmen zur Regulierung der Arbeitsmigration und zur Kontrolle der illegalen Einwanderung (Gratius 2005, 21), teilweise wurden auch illegale Zuwanderer amnestiert. Insgesamt gilt, daß (im Karte 28: Ausländeranteil (in %) an der Gesamtbevölkerung nach Provinzen (2004)
Karte 27: Bevölkerungsdichte nach Autonomen Regionen 2005
Bevölkerungsdichte (Einwohner/km')
742,92 293,73 264,31 217,82 201,78 196,94 118,08 105,68 101,53 93,40 89,95 59,68 57,11 26,65 26,59 26,03 23,84 86,96
335
Ausländeranteil in Prozent an der Gesamtbevölkerung
4,6
7,2 52
4
6,4
11410 7,9
7.8
53 4,3 4,0
4,6
5,3
Spanien 6,2%
0 bis 2% 2 bis 4%
e
9, 2
4 bis 6% 6 bis 8% 8 bis 10% mehr als 10%
IIIIIII
336
XV Bevölkerung und Gesellschaft in der Demokratie (1975-2006)
Demographische Grunddaten
Graphik 14: In Spanien lebende Ausländer nach Herkunftsländern 2002/2003
Zentral- und Südamerika EU
es.
Afrika
2.
Gesellschaftliche Entwicklungen
348.585 211.249 128.952 196.942
Asien
41.398 32.351
Nordamerika
n 2003 ei 2002
Sonstige
Vergleich zu den USA) die Hürden für eine Einreise nach Spanien für Lateinamerikaner geringer sind; auch die Einbürgerung in Spanien ist für Lateinamerikaner ein relativ einfaches und schnelles Verfahren. Unter den europäischen Einwanderern machen die Engländer und die Deutschen den größten Anteil aus, unter den Asiaten die Chinesen. Zu den Bevölkerungsgruppen mit den höchsten Zuwachsraten innerhalb der letzten Jahre zählen insbesondere Rumänen, Argentinier und Bulgaren.
522.682
423 423.045
Restliches Europa
337
2.736 2.333
Die folgenden Abschnitte sprechen exemplarisch einige wichtige gesellschaftliche Entwicklungen der letzten Jahrzehnte an: Eheschließungen und Scheidungen, Geburtenrate, Struktur der Privathaushalte, Sozialsystem, Jugend und Jugendkultur. Viele andere Entwicklungen im gesellschaftlichen Bereich werden in anderen Kapiteln angesprochen (vgl. insbesondere Kap. XVI, 2: Bildung und Schulwesen in der Demokratie; XVII, 4: Gewerkschaften und Arbeiterschaft in der Demokratie; XVIII, 6: Zur Glaubenspraxis der Spanier; XIX, 3: Das Militär in der Demokratie).
a) Eheschließungen und Scheidungen
Tab. 35: Die wichtigsten ausländischen Nationalitäten 2004 Anzahl
%
Ecuador
475.698
15,7%
Marokko
420.556
13,9%
Kolumbien
248.894
8,2%
Rumänien
207.960
6,9%
Großbritannien
174.810
5,8%
Argentinien
130.851
4,3%
Deutschland
117.250
3,9%
Italien
77.130
2,5%
Bulgarien
69.854
2,3%
Peru
68.646
2,3%
Frankreich
66.858
2,2%
China
62.498
2,1%
Portugal
55.769
1,8%
Seit Beginn der 1980er Jahre ist die Zahl der Eheschließungen relativ konstant geblieben. Im gesamten Betrachtungszeitraum (1982 bis 2004) konnte sogar eine leichte Zunahme von 11,38% verzeichnet werden. Setzt man dies allerdings in Relation zur Bevölkerungsentwicklung der relevanten Altersgruppen, d.h. der Spanier, die sich im "heiratsfähigen" Alter befinden, so ergibt sich ein anderes Bild. Ausgehend von den Volkszählungen der Jahre 1981 und 2001 wuchs in diesem Intervall die Gruppe der 20- bis 39-Jährigen um durchschnittlich 1,56% pro Jahr (1981: 10.180.726; 2001: 13.356.496); die Zahl der geschlossenen Ehen stieg im gleichen Zeitraum aber nur um knapp 0,57%. Folglich heiraten heutzutage – gemessen an der Bevölkerungsentwicklung – deutlich weniger Paare in Spanien. Diese Entwicklung läßt sich unter anderem anhand der gesellschaftlichen Modernisierung erklären, die Spanien seit dem Ende der Franco-Diktatur durchlaufen hat. Gestiegene Frauenerwerbstätigkeit, verbunden mit größerer finanzieller Unabhängigkeit, höhere gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber unverheirateten Lebensgemeinschaften sowie ein Wertewandel, infolgedessen Religion und traditionelle Familie an Bedeutung und Einfluß im Leben des Einzelnen verlieren, waren Ergebnisse dieses sozialen Umbruchs. Diese Entwicklung führte ebenfalls dazu, daß der Entschluß, den Bund der Ehe einzugehen, heute in der Regel mehr auf einer freien Willensentscheidung als auf religiösen und traditionellen Gewohnheiten beruht. Besonders auffällig in den Jahren 1982 bis 2005 ist der enorme Anstieg aufgelöster Ehen, deren Zahl sich fast vervierfachte. Hintergrund dieser Entwicklung ist das spanische Eheund Familienrecht. Dieses wurde im Zuge des rechtlichen Auftrags der Verfassung von 1978 grundlegend reformiert. Von Bedeutung sind das Gesetz 11/1981 über die Neuordnung des Kindschaftsrechts, des Rechts der elterlichen Gewalt sowie des Ehegüterrechts, aber vor
338
XV Bevölkerung und Gesellschaft in der Demokratie (1975-2006)
Graphik 15: Eheschließungen und Scheidungen 1982-2004/05
Gesellschaftliche Entwicklungen
339
Graphik 16: Europäischer Vergleich der Gesamtfruchtbarkeitsrate 1960-2003
250.000
3,50
225.000
Eheschließungen
2,86
3,00
200.000 175.000
2,79
2,50
150.000
u_
125.000
2 100.000
1,50
0)
75.000
2
50.000 25.000
Scheidungen 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005
1,36
1,19
1,00
1,24
1,29
0,50
0,00
1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003
allem das Gesetz 30/1981. Letzteres reformierte die Eheschließung einschließlich Nichtigkeit sowie Trennung und führte das Scheidungsrecht (wieder) ein. Das Reformgesetz 30/1981 ist von allgemeiner Gültigkeit, d.h. unabhängig davon, in welcher Form die Ehe geschlossen wurde. Von da an stellte das spanische Eherecht auf das System der Zivilehe ab, auch wenn die Eheschließung zivil oder kirchlich erfolgen kann. Beendet wird der Ehebund durch Tod, Todeserklärung oder Scheidung. Die wichtigsten Neuerungen der Gesetzesnovelle 30/1981 sind folglich zum einen die Säkularisierung des Eheschließungsrechts und zum anderen die (Wieder-) Einführung der Ehescheidung. Parallel zum Übergang in eine moderne Zivilgesellschaft nahmen seit den 1980er Jahren – ermöglicht durch die Reformen im Ehe- und Familienrecht – mehr Paare das Recht in Anspruch, ihre Lebensgemeinschaft per Trennungs- oder Scheidungsverfahren zu beenden. Es ist davon auszugehen, daß sich dieser Trend in Zukunft fortsetzen wird. 2004 initiierte die sozialistische Regierung eine weitere Reform des Bürgerlichen Rechts, die im Juli 2005 in Kraft trat und die Notwendigkeit einer Trennung als ersten Schritt im Scheidungsprozeß abschaffte. Ziel der Regierung ist es, durch die Vereinfachung des Scheidungsverfahrens Kosten einzusparen und die psychologischen Belastungen während der Trennungszeit zu vermeiden. Infolge der Gesetzesreform stieg 2005 die Zahl der Scheidungen im Vergleich zum Vorjahr um 76,4 % auf 87.345 an, davon allein 59.908 in der zweiten Jahreshälfte. Im Gegensatz dazu sank die Zahl der Trennungen um 32,6% auf 52.074. Folglich fand eine Verschiebung zugunsten der Scheidungszahl statt. Sechs von zehn Scheidungen wurden im gegenseitigen Einvernehmen vollzogen, wodurch die einvernehmliche Scheidung 2005 die häufigste Modalität von aufgelösten Ehen war.
•
•
EU-15
Deutschland
-Frankreich
(1990) Kinder pro Frau. Ihren vorläufigen Tiefststand erreichte sie im Jahr 1997 mit einem Wert von 1,19. In den letzten Jahren verbesserte sich die Fertilitätsrate leicht, verharrt aber nach wie vor auf einem niedrigen Niveau. Im europäischen Vergleich besitzt Spanien damit eine der niedrigsten Geburtenraten. Die gesellschaftlichen Gründe für dieses Phänomen sind vor allem – ähnlich wie bei der Entwicklung der Eheschließungs- und Scheidungsraten – in der steigenden Frauenerwerbstätigkeit zu sehen. Ein unzureichendes Angebot an öffentlichen Betreuungsmöglichkeiten sowie das tradierte Leitbild der Hausfrauenfamilie erschweren die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Zudem leben die jungen Spanier wegen des akuten Wohnraummangels zu Graphik 17: Durchschnittsalter der spanischen Bevölkerung bei der ersten Eheschließung Alte 32
Atter (Jahre) 32
31
3
30
30
29
29
28
78 27
26
26
25
25
b) Entwicklung der Geburtenrate
24 23tf
Nach dem Übergang in die Demokratie nahm die Geburtenrate rapide ab; sie sank in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre und während der 1980er Jahre von 2,79 (1975) auf 1,36
S panien
711 n FIIIr
r 9 `2 .444.. Männer
23
Graphik 18: Durchschnittsalter der Mütter bei der Geburt ihres ersten Kindes
340
XV Bevölkerung und Gesellschaft in der Demokratie (1975-2006)
Gesellschaftliche Entwicklungen
341
erschwinglichen Preisen lange im Haushalt ihrer Eltern. Eine Heirat sowie die Gründung einer eigenen Familie erfolgen heutzutage relativ spät. Dies belegen die Statistiken über das Durchschnittsalter der Spanier bei ihrer ersten Eheschließung sowie das durchschnittliche Alter der Mütter bei Geburt ihres ersten Kindes, das im Jahr 2003 bei über 29 Jahren lag. Auffällig ist der parallele Verlauf der Graphen: Nach dem Ende der Franco-Diktatur sank zunächst das Durchschnittsalter sowohl der Ehepaare als auch das der Mütter bei ihren Erstlingsgeburten, seit Beginn der 1980er Jahre steigt es allerdings kontinuierlich an.
gen häufiger auf Sozialleistungen angewiesen sind. In der Vergangenheit wurden diese Aufgaben überwiegend von im gleichen Haushalt lebenden Familienangehörigen übernommen. 2,5 Millionen der insgesamt 6,8 Millionen über 65-Jährigen wohnen bei einem ihrer Kinder, womit dies nach wie vor der am häufigsten vorkommende Haushaltstyp bei Personen über 65 Jahren ist. Dennoch steigt der Anteil der Alleinlebenden innerhalb dieser Altersgruppen an. Das durchschnittliche Jahreseinkommen eines Privathaushalts ist zwar seit Beginn der 1990er Jahre stetig gestiegen; allerdings reichte es (mit Ausnahme einiger Jahre) zumeist nicht aus, um die jährlichen Ausgaben zu bestreiten.
c) Struktur der Privathaushalte
Tab. 36: Jahreseinkommen (netto) und -ausgaben der Privathaushalte 1993-2003
Im Jahr 2003 betrug die Anzahl der Privathaushalte 14.407.000 und stieg damit im Vergleich zu 1991 (11.536.300) um knapp 25 % an. Einen überdurchschnittlich hohen Zuwachs konnten mit 70 % die Einperson-Haushalte (1991: 1.160.000; 2003: 1.973.900) sowie mit ca. 55 % die kinderlosen Paare (1991: 1.947.100; 2003: 3.005.300) verzeichnen. Auch die Anzahl der Alleinerziehenden hat zugenommen, wohingegen die Zahl der vierbzw. fünfköpfigen Familien rückläufig ist. Diese Verschiebung innerhalb der Haushaltstypen zugunsten von Kleinfamilien- und Single-Haushalten läßt sich auch anhand der Veränderung der durchschnittlichen Haushaltsgröße nachvollziehen: So reduzierte sich diese von einem Durchschnittswert von 3,36 Personen je Haushalt im Jahr 1991 auf durchschnittlich 2,90 Haushaltsangehörige im Jahr 2003. Die Gründe für diese kontinuierliche Verringerung der Haushaltsgröße sind vor allem in den Entwicklungen der spanischen Gesellschaft zu sehen, etwa in der Erhöhung der Löhne und Gehälter im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs, in der gestiegenen Frauenerwerbstätigkeit und im Sinken der Geburtenziffern, auch in der Vereinfachung des Scheidungsprozesses. So wirkte sich die Zunahme der Ehescheidungen entscheidend auf die Durchschnittsgröße eines Haushaltes und die Haushaltsstruktur aus: Gemäß den Volkszählungen von 1991 und 2001 stieg in diesem Zeitraum die Zahl der getrennt lebenden oder geschiedenen Ehepartner, die in einem Einperson-Haushalt wohnen, von 82.000 (1991) auf 272.000 (2001). Dabei fiel 2001 der Anteil der Männer an den Single-Haushalten mit 167.000 um einiges höher aus als derjenige der Frauen (105.000). Eine mögliche Erklärung für diesen zahlenmäßigen Unterschied liegt darin, daß, soweit Kinder aus der Ehe hervorgegangen sind, der Nachwuchs in den meisten Fällen bei der Mutter lebt, womit diese in der Statistik unter den Haushaltstyp "Alleinerziehende/r mit Kind/ern" fallen würde. Die Anzahl der getrennt lebenden bzw. geschiedenen Mütter belief sich 2001 auf 352.757 und fiel damit sieben Mal höher aus als der entsprechende Anteil an allein erziehenden, geschiedenen Männern (49.926). Beide Werte haben sich im Vergleich zur Volkszählung von 1991 deutlich erhöht, als die Zahl der alleinerziehenden, geschiedenen Frauen bei 164.650 bzw. die der Männer in der gleichen Situation bei 20.572 lag. Des Weiteren ist die Zunahme der Einperson-Haushalte auch auf die Alterung der Gesellschaft zurückzuführen. Die Gruppe der allein lebenden Personen über 65 Jahren ist seit Beginn der 1990er Jahre stark angestiegen (1991: 712.800; 2003: 1.278.300). Auf diesen Trend wird sich insbesondere auch das Sozialsystem einstellen müssen, da die über 65-Jähri-
Mittleres Einkommen
Mittlere Ausgaben
(Pro Haushalt in €)
(Pro Haushalt in €)
1993
13.598
16.006
1994
14.503
16.557
1995
15.353
17.151
1996
16.035
17.418
1997
16.895
17.576
1998
18.290
17.731
1999
18.326
18.330
2000
21.454
19.863
2001
20.329
20.879
2002
21.360
21.320
59% aller Spanier haben Probleme, mit dem ihnen zur Verfügung stehenden Geld das Monatsende zu erreichen, 41 % schaffen es nur mit Hilfe der Kreditkarte. In den letzten acht Jahren hat sich die Verschuldung der Familien verdreifacht, sie liegt inzwischen über dem europäischen Durchschnitt. 2005 belief sich der private Gesamtschuldenbetrag auf 636 Millarden €, das waren 21 % mehr als ein Jahr zuvor. Praktisch alle Konsumprodukte werden in Spanien mehr oder minder systematisch über Kredite finanziert: 61 % aller Elektro- und Haushaltsgeräte sowie der Immobilien, 28% der Autos und Motorräder, 19 % der Elektroanlagen, der Computer und der DVD, 5 % der Urlaubsreisen, 4 % der Kleidung (vgl. El Pais, 30.4.2006). Auch 2004 überstiegen die mittleren Ausgaben eines Privathaushalts (22.685 €) das jährliche Durchschnittseinkommen (21.551 €). Der Wohlstandsanstieg der letzten 30 Jahre macht sich vor allem im Konsum langlebiger Haushaltsgeräte bemerkbar. Verfügten 1975 erst 79 % aller Hauthalte über ein Fernsehgerät, so war dieser Prozentsatz bis 2003 auf 99,5% angestiegen. 1975 hatten 33,5% der Haushalte einen Pkw, 2003 rund 80 %. Sehr hohe Zuwächse waren in diesem Zeitraum auch bei anderen Geräten zu registrieren: bei
342
XV Bevölkerung und Gesellschaft in der Demokratie (1975-2006)
Gesellschaftliche Entwicklungen
343
Kühlschränken (von 72% auf 99 %), bei Waschmaschinen (von 28 % auf 97%), bei Geschirrspülmaschinen (von 2,6 % auf 25,8%), bei Musikanlagen (von 35 % auf 61 %), bei Computern (von null auf 32%), bei telephonischen Festanschlüssen (von 32% auf 90%). Die Mobiltelefone haben in diesem Zeitraum um 510% zugenommen, die Ausgaben für Freizeit und Dienstleistungen sind um 100% (real) gestiegen. Über das höchste Einkommen verfügten 2004 die Privathaushalte in der Autonomen Region Madrid, gefolgt von Katalonien, Navarra und Kantabrien. Die ärmste Region (mit deutlichem Abstand hinter Andalusien) war die an der Grenze zu Portugal liegende und überwiegend landwirtschaftlich geprägte Extremadura. 2004 lebten 19,9% der Bevölkerung unterhalb der relativen Armutsgrenze (EinpersonHaushalt: 6.278,80 €; Zweipersonen-Haushalt: 9.418,10 €; Familie mit einem Kind unter 14 Jahren: 11.301,70 €; Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren: 13.185,30 €). Der
Definition von Eurostat zufolge liegt die relative Armutsgrenze bei weniger als 60 % des nationalen Durchschnittseinkommens. Für Frauen (20,8 %) war dieses Risiko höher als für Männer (19,0 %). Die Regionen mit der höchsten relativen Armut waren Andalusien und Extremadura sowie die Exklaven Ceuta und Melilla. In der Autonomen Gemeinschaft Madrid, im Baskenland und in der Region Kantabrien wies das relative Armutsrisiko die niedrigsten Werte auf. Das Konsumverhalten der spanischen Haushalte hat sich in den letzten Jahren kaum verändert. Durch die Umstellung im Jahr 1997 von neun auf zwölf Gruppen wurde eine differenzierte Darstellung bestimmter Konsumgüter ermöglicht. So werden heute beispielsweise die Ausgaben für Kommunikation sowie im Gastronomiebereich gesondert angegeben.
Tab. 37: Durchschnittliches Jahreseinkommen (netto) nach Autonomen Regionen 2004
d) Soziale Schichtung und Sozialsystem
Einkommen pro Einkommen Haushalt (€) pro Person (€)
Relatives Armutsrisko (%)
BIP pro Kopf (EU = 100))
Gesamtspanien
21.551
7.591
19,9
98,3
Madrid
25.493
9.111
9,5
129,0
Katalonien
24.763
9.064
12,5
117,8
Navarra
24.695
8.777
12,7
124,6
Kantabrien
24.120
8.085
11,9
96,5
Baskenland
23.777
8.728
11,2
122,9
Balearen
23.096
8.601
15,2
110,9
Asturien
22.414
8.229
12,6
85,3
Aragonien
22.198
8.383
12,5
105,1
Ceuta und Melilla
21.851
6.971
37,3
86,4
Murcia
20.554
6.566
24,5
82,4
Valencia
20.398
7.350
19,6
91,5
Galicien
20.102
6.925
21,2
78,5
Kanaren
19.834
6.748
24,1
90,7
La Rioja
19.724
7.520
18,5
106,8
Kastilien-La Mancha
18.909
6.484
29,4
76,7
Kastilien-Leön
18.727
6.902
25,1
92,1
Andalusien
18.336
6.027
31,1
75,7
Extremadura
16.470
5.653
37,0
65,2
Aufgrund der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Umbruchprozesse seit dem Ende der Diktatur hat sich die soziale Schichtung der Gesellschaft enorm gewandelt. Als Kriterien für eine Unterteilung in verschiedene Bevölkerungsschichten können etwa der Berufsstatus, die Einkommens- und Vermögensverhältnisse, das Bildungsniveau oder die Konsum- und Lebensgewohnheiten herangezogen werden. Als Ergebnis bleibt festzuhalten, daß die Gesellschaft Spaniens von einer breiten Mittelschicht dominiert wird und weitgehend dem Strukturbild einer (post-)modernen Industriegesellschaft entspricht. Der Wandlungsprozeß in Richtung einer postindustriellen Gesellschaft, deren Mitglieder überwiegend im tertiären Sektor beschäftigt sind, ist seit längerem in vollem Gange. Mit Ausnahme der Transferzahlungen an Arbeitslose, für die das Nationale Beschäftigungsinstitut (Institut° Nacional de Empleo, INEM) zuständig ist, umfaßt das allgemeine System der Sozialen Sicherheit sämtliche Leistungen zur Abdeckung der Risiken infolge von Krankheit, Invalidität, Alter, Witwen- und Waisenschaft. Die Sozialleistungsquote, d.h. der Anteil aller Sozialleistungen am BIP, lag 2003 bei 19,7% und damit deutlich unter dem Durchschnittswert der EU-15-Länder (28,3%). Das gleiche Bild ergibt sich bei Betrachtung der Gesamtausgaben für soziale Absicherung pro Kopf der Bevölkerung, gemessen an den Kaufkraftstandards: Diese betrugen 2003 in Spanien 4.186,0 €, in den Mitgliedsstaaten der EU-15 allerdings durchschnittlich 6.926,20 €. Die Finanzierung der Sozialleistungen erfolgt - wie in Deutschland - überwiegend durch Zahlungen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Allerdings ist in Spanien die relative Beitragslast der Arbeitgeber mit 52,3 % (2003) höher als die der deutschen Arbeitgeber (2003: 36,3 %). Demgegenüber fallen die Arbeitnehmeranteile in Spanien geringer aus als in Deutschland (vgl. Graphik 19). Der absolute Wert der Beitragszahlungen von Seiten der Arbeitgeber und -nehmer ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen (1995: 42,1 Milliarden €; 2003: 71,7 Milliarden €). Dies ist zum einen auf die positive Entwicklung der Löhne, zum anderen aber auch und insbesondere auf die Schaffung neuer Arbeitsplätze zurückzuführen, wodurch sich die Zahl der Beitragsleistenden kontinuierlich erhöht hat. Ende November 2005 lag sie bei rund 18,3 Millionen (vgl. Graphik 20), im April 2006 bereits bei 18,5 Millionen (von denen 8 %
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XV Bevölkerung und Gesellschaft in der Demokratie (1975-2006)
Gesellschaftliche Entwicklungen
Graphik 19: Sozialschutzeinnahmen nach Einnahmeart 2003 (in % der Gesamteinnahmen)
345
Graphik 20: Arbeitnehmer mit Mitgliedschaft in der Sozialversicherung 20.000.000
Prozent 60
18.000.000
Sozialbeiträge der Arbeitgeber
52,3 50
16.000.000 14.000.000
36,3
40
D Sozialbeiträge der geschützten Personen
34,6
10.000.000
28,4
30
D Staatliche Beiträge 20
12.000.000
8.000.000 6.000.000
16,4
4.000.000
q Sonstige Einnahmen
10
2.000.000
2,8
1,7 0
Spanien
§ sä' `j,‚,
Deutschland
`og,
2 2 2 2 -2 " Januar - November
inzwischen Einwanderer aus Nicht-EU-Staaten sind). Durch diese Zuwächse verbesserte sich auch die angespannte finanzielle Situation des Systems der Sozialen Sicherheit, dessen Bilanz seit 1999 positiv ist (vgl. Graphik 20). Die Sozialleistungen, d.h. die Geld- oder Sachübertragungen von sozialen Sicherungssystemen an private Haushalte oder Einzelpersonen, können verschiedenen Funktionen respektive Risiken zugeordnet werden (Krankheit/Gesundheitsvorsorge, Invalidität, Alter, Hinterbliebene, Arbeitslosigkeit). Den größten Anteil nahmen 2003 mit 40,9% die Zahlungen für Alters- und Ruhestandsgelder ein, gefolgt von den Ausgaben im Gesundheitswesen (30,7%) sowie den Transferzahlungen bei Arbeitslosigkeit (13,3 %) und Invalidität (7,4 %) (vgl. Graphik 21). Die Ausgaben für Rentenzahlungen (vgl. Tab. 38), d.h. der Teil der Sozialleistungen, der für die Abdeckung der Risiken infolge von Alter, Invalidität sowie Witwen- und Waisenschaft verwendet wird, sind in den letzten Jahren enorm gestiegen. Allein im Zeitraum 1998 bis 2006 wuchsen sie insgesamt um knapp 65% von 46,1 Milliarden € auf 75,7 Milliarden €. Dabei nehmen die Ruhestandsgelder mit mittlerweile fast 50 Milliarden € den größten Posten ein, gefolgt von den Witwenrenten (2006: 14,8 Milliarden €) und den Rentenzahlungen bei Invalidität (2006: 9,7 Milliarden €) (vgl. Tab. 38). Insgesamt gilt: Neben Portugal gibt Spanien am wenigsten an Sozialleistungen für seine Bürger aus. Während das BIP pro Kopf der Bevölkerung schon 90% des durchschnittlichen BIP der EU-15 beträgt, belaufen sich die öffentlichen Ausgaben auf lediglich 62 % des europäischen Durchschnitts. Kritische Beobachter führen dieses geringe Niveau an Sozialleistungen auf die niedrigen Steuersätze Spaniens zurück, die im Durchschnitt bei 34,8 % des nationalen BIP liegen (EU-15: Durchschnitt 41 %). Vor allem die Besserverdienenden zahlen weit unterdurchschnittlich wenig Steuern (vgl. Navarro 2006).
Graphik 21: Sozialleistungen nach Funktionen in % 2003
Arbeitslosigkeit 13,3% Farrilie/Kinder 3,0%
Wohnung 0,8%
Soziale Ausgrenzung 0,9% Krankheit/ Gesundheitsversorgung 30,7%
Hinterbliebene 2,9%
Invalidität 7,4%
40,9%
346
XV Bevölkerung und Gesellschaft in der Demokratie (1975-2006)
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Gesellschaftliche Entwicklungen
347
e) Jugend und Jugendkultur In modernen Gesellschaften läßt sich der Lebenszyklus "Jugend" durch langwierige Übergangsprozesse vom abhängigen Kind zum unabhängigen Erwachsenen charakterisieren. Die in dieser Lebensphase stattfindenden Rollen- und Statusveränderungen finden in sämtlichen Lebensbereichen statt; sie wirken sich auch im Bereich der Lebensstile und der soziokulturellen Ausdrucksformen aus. Mit dem Begriff "Jugendkultur" werden all jene Lebensstile, Arbeits-, Beziehungs-, Kommunikations- und Ausdrucksformen bezeichnet, die der Jugend zugeschrieben werden. Im spanischen Fall läßt sich die Entstehung moderner Jugend- und Subkulturen im Rahmen der gesellschaftlichen Brüche und Modernisierungsprozesse verorten, die vor allem seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts zum Ausdruck kamen. Mit den 70er Jahren setzte in Spanien eine krisenhafte Entwicklung ein, deren Auswirkungen für Jugendliche bis in die 90er Jahre zu spüren waren. Ökonomische Rezession und daraus resultierende hohe Arbeitslosigkeit machten sich insbesondere bei jungen Arbeitern und Studenten bemerkbar. Daraus resultierte eine wachsende Zahl von desillusionierten und zum Teil marginalisierten jungen Menschen, die ihre Zukunftserwartungen enttäuscht oder reduziert sahen. Es entstand jene "Nullbock"-Generation der pasotas, die dem bestehenden Wertesystem immer weniger zustimmten und eine eigene Sprache, den lenguaje pasota, als gegenkulturelle Erscheinung ausbildeten. Die von den pasotas verwendeten Ausdrucksformen waren Bestandteil einer Sprache der Krise und der Enttäuschung, des vielzitierten desencanto. Seit Beginn der 80er Jahre läßt sich in einem Klima von wachsender Entpolitisierung und kultureller Aufbruchstimmung das Phänomen der movida feststellen, die insbesondere soziale Gruppen wie Intellektuelle, Künstler, Studenten und junge Menschen aus den Mittelschichten erfaßte, die einem neuen Lebensgefühl Ausdruck verleihen wollten. Das jugendkulturelle Pendant war die movida nocturna, jener nächtliche "Marsch" der Jugend durch öffentliche Parks, belebte Straßen, Kneipen und Diskos bis in die frühen Morgenstunden. In jenen 80er Jahren, als Spanien der EG beitrat, wurde das Land von einer sozialen Modernisierung erfaßt, die sich u. a. in der Individualisierung der Lebensführung (vor allem unter jungen Menschen) auswirkte. Neueren Autoren zufolge "widerspiegeln sich im soziokulturellen Phänomen der movida grundlegende Mutationen der herrschenden Beziehungscodes und der ästhetischen Vorstellungen. Zu Beginn der 80er Jahre wirkte sich die movida wie eine Umkehrung der damals noch vorherrschenden politischen Codes und Verhaltensweisen aus, die sich in der Zeit des Widerstandes gegen die Diktatur herausgebildet hatten und die von der Zeit des Franquismus in die Übergangsperiode zur Demokratie hinübergerettet worden waren. Die movida stellt nun diese Codes und Verhaltensweisen in Frage (insofern entpolitisiert sie die Kultur), sie symbolisiert aber auch zugleich eine Ablehnung der Ideologie des 'Kompromisses' und der Leistungsmoral und eine Abkehr von jeglicher Ethik der Askese im Alltagsleben. Movida bedeutet also seit Mitte der 80er Jahre nicht nur 'Bewegung', sondern auch, sich frei in einem bekannten physischen und sozialen Raum zu bewegen, den eigenen Körper und seine spezielle Verpackung zu präsentieren und dadurch auch nonverbale Zeichen auszutauschen. Gerade das Feiern, dieses Kernelement jeglicher Jugendkultur, wird zum Markenzeichen der aktuellen movida" (Bendit/Bendit 2002, 227).
348
XV Bevölkerung und Gesellschaft in der Demokratie (1975-2006)
Gesellschaftliche Entwicklungen
Die Jugend der 90er Jahre war stark hedonistisch geprägt: Soziologen und Anthropologen charakterisieren sie als diesseitsorientiert, konsumfreudig, eher unpolitisch und relativ angepaßt. Freiheit als Wert war für sie wichtiger als Gleichheit. Große gesellschaftliche Änderungen waren nicht ihr Ziel; ihnen ging es vielmehr primär um Gesundheit, Familie, Liebe, Sex und Geld. Reichtum und Prestige spielten in ihrem Leben eine große Rolle. Die größte Sorge bereitete diesen Jugendlichen ihre eigene Gesundheit. Bezüglich der beruflichen Zukunft waren sie pessimistisch eingestellt. Das Konkurrenzverhalten in der Gesellschaft nahmen sie als gegeben hin, für die großen Weltprobleme sahen sie keine Lösungen. Nahezu alle Analysten bezeichneten diese Jugendgeneration als "konservativ". Im Bereich der Sexualität waren sie allerdings alles andere als konservativ. Die von den Eltern erkämpften sexuellen Freiheiten genossen sie ohne Einschränkung. Ihre sexuelle Aufklärung ließ dabei zugleich sehr zu wünschen übrig: In den 90er Jahren nahm die Zahl der ungewollten Schwangerschaften bei 15-17Jährigen jährlich um ein Drittel zu; die Zahl der Abtreibungen und der ledigen Mütter schnellte in die Höhe. Anfang des 21. Jahrhunderts unterbrachen vier von zehn jugendlichen Frauen ihre Schwangerschaft (der Prozentsatz für Schwangerschaftsunterbrechungen in allen Altersstufen liegt bei 13%), wobei vor allem im vorangegangenen Jahrzehnt der 1990er Jahre eine drastische Zunahme stattgefunden hat. Eines hat sich in den letzten Jahrzehnten kaum verändert: Die meisten Jugendlichen wohnen nach wie vor bei ihren Eltern. Von den 15- bis 29jährigen sind es, dem Centro de Investigaciones Sociolögicas zufolge, rund 80%. Von den 18- bis 34jährigen sind es immerhin noch knapp 65%, dem Consejo de la Juventud de Espafia zufolge. Gründe für dieses Verhalten sind teuere Mieten, niedrige Gehälter, prekäre Arbeitsverhältnisse, Arbeitslosigkeit, Tradition und Bequemlichkeit. Soziologen sprechen von einem "Peter-Pan-Syndrom". Ein Hinweis auf die Wohnraumsituation läßt die Probleme junger Paare erkennen, zu erschwinglichen Preisen eine Wohnung mieten zu können. Tab. 39 macht die gewaltigen Veränderungen in den Wohnraumverhältnissen im Verlauf der letzten 30 Jahre deutlich: Über Wohneigentum verfügen inzwischen (wenn auch zum Teil noch nicht bezahlt) 84,6 % der Familien, in Mietwohnungen leben nur noch 9,5% der Bevölkerung. Dafür verfügen 17,5% inzwischen über eine Zweitwohnung. Für junge Menschen wird es immer schwieriger, eine erschwingliche Mietwohnung zu bekommen. Tab. 39:
Wohnraum 1975/2001 1975
1975
2001
2001
in absoluten Zahlen
in %
in absoluten Zahlen
in %
Hauptwohnsitze
9.351.952
100
12.917.897
100
Wohneigentum
5.215.466
55,7
8.540.765
66
755.215
8,1
2.413.751
18,6
Zugang zu Wohneigentum Mietwohnungen
2.690.781
28,8
1.198.370
9,5
Andere Formen
690.490
7,4
765.011
5,9
Nebenwohnsitz/Zweitwohnung
695.727
7,4
1.346.680
17,5
349
Zu diesem Bild paßt es, daß spanische Jugendliche sich in erster Linie zu ihrem Viertel oder ihrer Stadt zugehörig fühlen. So verwundert es nicht, daß die Probleme in der engeren Umgebung, der Familie oder dem Freundeskreis eine größere Rolle spielen als die große Politik. Viele Jugendliche gelten deshalb als apolitisch, obwohl eine Mehrheit von ihnen nach eigenen Angaben eher mit dem Mitte-Links-Spektrum sympathisiert. Parteien und Kirchen spielen für die Jugendlichen eine eher geringe Rolle. Die meisten heiraten zwar noch kirchlich, bezeichnen sich selbst aber nicht mehr als "praktizierende" Katholiken. Sicher sehen viele Jugendliche eine eigene Familie mit Kindern als Ideal, aber Studium und Berufstätigkeit rangieren in der Werteskala ganz oben. Daher ist die Geburtenrate in den letzten Jahrzehnten auch rapide gesunken: Mit einem Durchschnitt von jährlich 9,4 Kindern pro 1.000 Einwohnern ist die spanische Geburtenrate eine der niedrigsten der Welt. Die größte Sorge der Jugendlichen besteht darin, einen Job zu finden. 2006 betrug die Jugendarbeitslosigkeit (Jugendliche unter 30 Jahren) 14,7%, während die der älteren Arbeitnehmer (ab 30 Jahren) bei nur 7,1 % lag. Rund 50% aller Jugendlichen haben Zeitarbeitsverträge unterschiedlicher Laufdauer, höchstens elf Monate (bei älteren Arbeitnehmern reduziert sich dieser Prozentsatz auf 20,3 % der aktiven Bevölkerung). Grundsätzlich gilt: Je jünger ein Arbeitnehmer ist, desto prekärer ist sein Anstellungsverhältnis (bei den 16 bis 19Jährigen haben 70 % Zeitarbeitsverträge). Bei Themen wie Aids, Armut, Umweltschutz, Homosexualität, Ausländerrechte oder Abtreibung zeigen sich die spanischen Jugendlichen solidarisch und tolerant. Allerdings organisieren sie sich ausgesprochen ungern: In kaum einem anderen Land der EU sind so wenig Jugendliche in Hilfsorganisationen, Bürgerinitiativen oder Umweltschutzgruppen organisiert wie in Spanien. Aktiv werden die Jugendlichen vor allem in den Wochenendnächten. Dann strömen sie scharenweise in die Kneipen- und Diskothekenviertel der Städte und lassen (zumeist auf der Straße) ihre lärmenden Partys steigen. Ausgerüstet mit Schnaps- und Coca Cola-Flaschen, bevölkern die Jugendlichen Plätze und Parks. Mixgetränke wie kalimotxo (Wein und Cola) oder tinto de verano stehen hoch im Kurs, der Alkoholkonsum hat inzwischen besorgniserregende Ausmaße angenommen. In den letzten Jahren haben sich immer mehr Nachbarn über den Lärm und den Unrat aufgeregt, erste städtische Verordnungen zur Eindämmung der marcha sind bereits erlassen worden – bei nur mäßigem Erfolg. Das Freizeitritual wiederholt sich jedes Wochenende. Außenstehenden mag es einfallslos oder eskapistisch erscheinen. Umfragen unter spanischen Jugendlichen haben jedoch ergeben, daß ein Großteil von ihnen mit ihrem Leben zufrieden ist. Spanien zählt zu den EU-Ländern mit dem höchsten Konsum von Drogen, insbesondere von Kokain und Haschisch. 41 % der Jugendlichen haben, eigenen Angaben zufolge, Drogen konsumiert. An der Spitze steht Haschisch (37%), gefolgt von Kokain (7,4%), Extasis (6,4 %), Anfetaminen (5 %) und anderen Designerdrogen. In den 1990er Jahren hat sich der Haschischkonsum unter 14 bis 18jährigen Schülern verdoppelt (36,1 % aller Schüler haben die Droge konsumiert), der Kokainkonsum sogar vervierfacht (6,8 % aller Schüler). Quantitativ weitaus bedeutender ist der Alkoholkonsum unter Jugendlichen. Von den 15 bis 29Jährigen gehen 40% an den Wochenenden regelmäßig aus, konsumieren Alkohol und betrinken sich drei- bis viermal im Monat. 15 % gaben botellön als Wochenendaktivität an, das heißt jenen massenhaften Alkoholkonsum auf der Straße, bei dem die Jugendlichen sich
350
XV Bevölkerung und Gesellschaft in der Demokratie (1975-2006)
Migrationen: Vom Auswanderungs- zum Einwanderungsland
ihr Getränk selbst mixen. Inzwischen (2006) gibt es sogar einen Wettbewerb zwischen den Jugendlichen verschiedener Großstädte, welche Stadt die größere Wochenendsauforgie aufzubieten imstande ist (macrobotellön). Soziologen ziehen eine Entwicklungslinie von der Repression im Franquismus über die movida als demokratische Begleiterscheinung der Transition bis zum macrobotellön als Zeichen von Anomie und Orientierungslosigkeit im Zeichen der Globalisierung; andere sprechen (wohlwollender) bei diesen hedonistischen Jugendritualen von Kulturkampf, Rebellion oder einer neuen Form der "Massenkommunikation". Der weitaus überwiegende Teil der Jugendlichen (72,4%) geht regelmäßig in Bars oder in Diskotheken (57,4%).
Graphik 22: Wochenendaktivitäten der Jugendlichen in Spanien 72,4%
Jugendliche zwischen 15 und 29 Jahren; I Mehrfachantworten möglich 57,4% 48,4% 38,2% 32,2%
1 5,0%
In Bars, Cafes oder Pubs gehen
In Diskos zum Tanzen gehen
Ins Kino gehen
Einen Freund besuchen
In Restaurants gehen
Botellön
Graphik 23: Alkoholkonsum spanischer Jugendlicher am Wochenende
Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren; Mehrfachantworten möglich
47,5% 28,6%
Bars, Cafes, Diskotheken, ...
Straßen und Parks
Zu Hause bei Freunden
351
3. Migrationen: Spanien vom Auswanderungs- zum Einwanderungsland Weiter oben (Kap. XV, 1) ist bereits auf die enorme demographische Bedeutung der massenhaften Einwanderung während des letzten Jahrzehnts hingewiesen worden. In den Regierungsjahren der Konservativen veränderte sich die Einwanderungsthematik von Grund auf. 1996 gab es etwas über 500.000 Ausländer in Spanien, deren Status legalisiert war; bis 2004 stieg die Zahl der Ausländer auf 2,5 Millionen, von denen 853.000 illegal im Land lebten. In diesen acht Jahren verschärfte die PP-Regierung das Ausländerrecht viermal; die Zuständigkeit für die Ausländer wurde dem Arbeitsministerium entzogen und dem Innenministerium übertragen. Trotz vieler restriktiver Maßnahmen nahm die Einwanderung von Ausländern jedoch unaufhörlich zu. Anfang 2001 verabschiedete das konservativ dominierte Parlament ein höchst umstrittenes Ausländergesetz, das der Regierung die Möglichkeit eröffnete, all jene Ausländer des Landes zu verweisen, deren Status "irregulär" war. Außerdem wurden die sozialen Rechte der "Nicht-Dokumentierten" erheblich eingeschränkt. Als Folge massiver gesellschaftlicher Proteste gegen das Gesetz und wegen seiner inkonsequenten Anwendungen in den Autonomen Gemeinschaften mußte die Regierung ein halbes Jahr später allerdings viele Legalisierungen "unrechtmäßiger" Einwanderer vornehmen. Die illegale Einwanderung behielt sodann einen Spitzenplatz in der politischen Agenda der Regierung. Scheinbar unbemerkt wurde der spanische Staat zum Vorreiter einer "harmonisierten" Integrationspolitik auf europäischer Ebene. Andererseits war die Zuwanderung ein Grund dafür, daß Spanien in den vergangenen Jahren mit einem stabilen Staatshaushalt aufwarten konnte. Der Saldo der Sozialversicherung geht nämlich in den Staatshaushalt ein; und in den letzten Jahren erwirtschaftete der Saldo stets einen Überschuß von etwa 0,5 % des BIP, was vor allem auf die Zuwanderer zurückzuführen war, da sie zwar in die Rentenkasse einbezahlen, aber vorerst noch keine größeren Leistungen entgegennehmen. Statistiker haben errechnet, daß ohne Zuwanderer Spanien spätestens 2015 vor großen Schwierigkeiten mit der Finanzierung der Sozialversicherungen stehen würde. Die Beiträge der Einwanderer tragen jedoch entscheidend dazu bei, daß das vorhersehbare Defizit im Sozialsystem erst 2025 eintreten dürfte. (2006 waren bereits 8% aller in die Sozialkassen einbezahlenden Personen Ausländer, die nicht aus EULändern stammten.) Die Einwanderer haben auch entscheidend zum Wirtschaftswachstum der letzten Jahre, zur Eindämmung der Inflation und zur Reduzierung des Außenhandelsdefizits beigetragen. Der Durchschnittslohn der Einwanderer liegt 30 %-40 % unter dem der Spanier, da sie zumeist in Tätigkeiten mit geringer Qualifikation beschäftigt sind. Im Normalfall bedeutet dies, daß die Zuwanderer bezüglich der offenen Stellen kaum in Konkurrenz zu den Einheimischen treten, sondern vielmehr in ein komplementäres Verhältnis, da sie häufig Positionen besetzen, die eine geringe Qualifikation erfordern und für Spanier relativ unattraktiv sind. Der Niedriglohnsektor, d. h. der häufig informelle Arbeitsmarkt der (illegal arbeitenden) Ausländer, erwirtschaftete 2003 bereits 23 % des spanischen BIP, rund 130 Milliarden €. Durch das Überangebot an Schwarzarbeitern können die Unternehmer die Löhne drücken und die Arbeitsbedingungen verschlechtern; die prekären Arbeitsverhältnisse wiederum führen zu überdurchschnittlich hohen Unfallquoten. Jeder dritte Tote bei Arbeitsunfällen ist Ausländer.
352
XV Bevölkerung und Gesellschaft in der Demokratie (1975-2006)
Ein Schlüsselelement für die Integration von Ausländern ist der Schulbesuch der Kinder, durch den sowohl die räumliche als auch die soziale Absonderung überwunden werden kann. Im spanischen Fall ist die Parallelität öffentlicher und privater Schulen der Integration eher hinderlich, da die Mehrheit der ausländischen Kinder in unentgeltlichen öffentlichen Schulen untergebracht ist. Im Schuljahr 2003/04 stieg die Zahl ausländischer Kinder an spanischen Schulen um 25 % auf 400.000 an (4,7% aller Schüler im Land). Die Schulbildung ist für alle Ausländer – seien sie "legal" oder "illegal" im Land – kostenlos. Der massive Zustrom von Ausländerkindern hat das spanische Schulsystem vor enorme finanzielle und personelle Probleme gestellt (Aparicio Gömez / Tornos 2003, 80). Die sozialistische Regierung war sofort nach ihrem Amtsantritt (2004) bemüht, das innenpolitisch brisante Problem der "illegalen" Einwanderer durch eine rasche Legalisierungskampagne zu lösen. Da aber einige Monate nach Bekanntgabe der Legalisierungsvorschriften sich nur wenig Hunderttausende "Illegale" mit den nötigen Papieren (Wohnsitznachweis in Spanien vor August 2004, Arbeitsvertrag, Sozialversicherung) gemeldet hatten, lockerte die Regierung während der Aktion die Vorschriften. Schwarzarbeiter konnten sich nachträglich bei den Einwohnermeldeämtern registrieren lassen. Mit der Legalisierung des Aufenthaltes von Hunderttausenden von Ausländern verfolgte die Regierung Rodriguez Zapatero verschiedene Ziele: Einerseits sollte zumindest ein Teil der Schattenwirtschaft und des Schwarzmarktes für illegal Beschäftigte ausgetrocknet werden; andererseits sollte Geld in die Steuer- und Rentenkassen kommen. Spanien hat zwar immer noch eine hohe Arbeitslosenquote; aber die Regierung ist daran interessiert, die illegal eingewanderten Afrikaner, Lateinamerikaner, Asiaten und Osteuropäer einzugliedern, die überwiegend als Hausangestellte, Bauarbeiter und Landwirtschaftshelfer tätig sind. Der Zuzug von "Illegalen" nach Spanien hält unvermindert an. Entsprechend schnell sind die Ausländerzahlen in die Höhe geschnellt: Waren im Jahr 1999 nicht einmal 2 % der Bevölkerung (knapp eine dreiviertel Million) Ausländer, so registrierte das Nationale Statistikinstitut im April 2005 bei einer Gesamtbevölkerung von rund 44 Millionen bereits 3,7 Millionen oder 9,2 % Ausländer (zwei Millionen davon mit Aufenthaltserlaubnis). Seit Jahren ist Spanien in der EU das Hauptziel von Einwanderern. Auch 2005 nahm Spanien wieder am meisten Einwanderer in der EU auf, ca. 652.000 (Italien folgte mit "nur" 338.000 Einwanderern). Ein Ende ist nicht abzusehen: 2006 gingen Schätzungen davon aus, daß an der mauretanischen Küste ca. 500.000 Afrikaner auf eine günstige Gelegenheit warteten, nach Spanien übersetzen zu können. Inzwischen hat Madrid eilige Rückführungsabkommen mit Ghana, Mali, Nigeria, Marokko, Algerien, Guinea-Bissau und anderen Ländern geschlossen, mit deren Hilfe der illegale Zustrom unterbunden werden soll. Immer wieder müssen Krisenkabinette in Madrid über die Lage in überfüllten Flüchtlingslagern auf den Kanarischen Inseln beraten. Spanien hat Mauretanien inzwischen Patrouillenboote für die Kontrolle der Küstengewässer und Hilfe bei der Einrichtung von Aufnahmelagern angeboten. Die Regierung der Kanarischen Inseln mußte im Frühjahr 2006 den "nationalen Notstand" ausrufen. In den ersten Monaten des Jahres 2005 bewarben sich rund 700.000 illegal tätige Gastarbeiter um die Legalisierung ihres Status. Die größte Gruppe waren Lateinamerikaner, vor allem Ecuadorianer. Ein Drittel der Antragsteller waren Hausangestellte, jeweils ein Fünftel war auf dem Bau und im Gaststättengewerbe tätig, der Rest waren vorwiegend Erntehelfer
Migrationen: Vom Auswanderungs- zum Einwanderungsland
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in der Landwirtschaft. Arbeits- und Sozialminister Jesüs Caldera ging davon aus, daß es nach dieser größten Legalisierungsaktion in der Geschichte des Landes Mitte 2005 nurmehr rund 120.000 "illegale" Ausländer in Spanien gab. In den letzten Jahren haben die Ausländer jährlich über drei Milliarden € in ihre Herkunftsländer überwiesen; das entsprach in etwa 1 % des spanischen BIP. 2005 überwiesen die Immigranten sogar 4,6 Milliarden € in ihre Heimatländer. (Allerdings erhielt Spanien von seinen eigenen Auswanderern, vor allem aus den USA und europäischen Ländern, im gleichen Zeitraum 4,3 Milliarden € rücküberwiesen.) Außerdem kaufen Ausländer pro Jahr rund 40.000 Wohnungen und tragen damit entscheidend zum Immobilienboom und zu den Hypothekargeschäften bei. Innerhalb von nur wenigen Jahren sind die Ausländer somit zu einem wichtigen Faktor im Wirtschaftsleben des Landes geworden. Einige wenige Ausländer finden auch eher ungewöhnliche Arbeitsplätze: Von den 5.000 Neuzugängen in der spanischen Armee im Jahr 2005 waren 2.500 lateinamerikanische und guineanische Einwanderer. Die Fallschirmspringerbrigade (Bripac) zählt inzwischen 30% Ausländer in ihren Reihen. Viele Tausende von Frauen landen in der Zwangsprostitution; diese hat inzwischen erschreckende Ausmaße angenommen. Nur in den Jahren 2004/2005 gelang es der Polizei, über 3.000 Ausländerinnen – vor allem Rumäninnen und Lateinamerikanerinnen – aus den Mafiastrukturen der Menschenhändler zu befreien. In dem Land, das im Mittelalter unter islamischer Herrschaft Al-Andalus hieß, gibt es inzwischen wieder über 600 Moscheen und über 800.000 Moslems. Diese leben zumeist in räumlicher Nähe zueinander. Die Wahl des Wohnortes eines Immigranten bestimmt sich nach drei Faktoren: seiner sozioökonomischen Position, seiner familiären Situation und dem Grad, in dem sich seine Bezugsgruppe in einer Stadt segregiert (Garreta Bochaca 2003, 140). Da die Einwanderer meist in die unterste Schicht der Gesellschaft eintreten und über wenig finanzielle Mittel verfügen, wohnen sie vielfach in den ärmeren Vierteln einer Stadt. Dies liegt nicht ausschließlich am Mangel an finanziellen Ressourcen, sondern auch daran, daß es ihnen in diesen Vierteln leichter fällt, soziale Kontakte zu knüpfen und sie dort Hilfe sowie Sicherheit von ihren Landsleuten erfahren. Schon ist die Rede von Ghettobildungen; in Großstädten bestehen bereits "exklusive" Wohngegenden, in denen vor allem Ausländer leben. Zu diesen zählen etwa die Stadtteile Villaverde (Madrid), La Roqueta und Orriols (Valencia), La Mina (Barcelona), El Puche (Almerfa), Polfgono Sur (Sevilla), San Francisco (Bilbao). Vor allem seit den islamistischen Attentaten vom 11. März 2004 ist es – besonders in Katalonien – wiederholt zu anti-islamischen Ausschreitungen gekommen. Aufschlußreich ist auch der sehr niedrige Anteil marokkanischer Einwanderer am Arbeitsmarkt: Nur 49,3% der Bevölkerung mit Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung zahlte 2003 Beiträge an die Sozialversicherung und übte somit auch eine reguläre Beschäftigung aus. Eine Erklärung für diesen niedrigen Prozentsatz ist in den kulturellen Mustern der maghrebinischen Bevölkerung zu suchen, wo das Leben der Frau auf den häuslichen Bereich beschränkt ist und sie keine Möglichkeit zu produktiver Tätigkeit hat. Ein weiterer möglicher Grund ist die Ablehnung, die viele Zuwanderer aus den Maghreb-Ländern von spanischer Seite erfahren, die sich in Form eines latenten Rassismus äußert. Im Gegensatz zu den Marokkanern waren 2003 die Zuwanderer aus Lateinamerika zu mehr als 60 % in den regulären Arbeitsmarkt
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XV Bevölkerung und Gesellschaft in der Demokratie (1975-2006)
integriert (die Ecuadorianer sogar zu 80,5 %), die aus Osteuropa erreichten noch höhere Quoten (Rumänen: 84,1 %). In mancher Beziehung unterscheidet sich das demographische Profil der lateinamerikanischen Einwanderer von dem aus anderen Weltregionen: Die Lateinamerikaner sind eine junge Immigrationsbevölkerung mit einem hohen aktiven Bevölkerungsanteil, einem relativ hohen Prozentsatz an Frauen, so daß ein weitestgehend ausgeglichenes Verhältnis zwischen männlichen und weiblichen Immigranten besteht, einem im Vergleich zu anderen Herkunftsregionen eher hohen Bildungsniveau und einer starken Neigung zur Überweisung von Rimessen in ihr Heimatland. Häufig ist die lateinamerikanische Abwanderung nach Spanien kein Armutsexport, sondern eine Migration von Fachkräften aus der Mittelschicht, wenn sie auch in Spanien in wenig qualifizierten Bereichen tätig sein müssen. Wenngleich die Eingliederung der Lateinamerikaner und Lateinamerikanerinnen in den spanischen Arbeitsmarkt nicht einheitlich ist, erlauben ihre Erfahrungen in der Arbeitswelt und ihre Einbindung in das soziale und familiäre Netzwerk vielen von ihnen, sich schnell in der Gesellschaft und auf dem Arbeitsmarkt zurechtzufinden (Martfnez Bujän 2003). Die Einwanderung aus Lateinamerika ist nicht unbedingt an die Anerkennung der Staatsbürgerschaft gebunden; durchschnittlich besitzt fast ein Drittel der Einwanderer aus Lateinamerika die spanische Staatsbürgerschaft, in manchen Nationalitätengruppen sind es sogar mehr als 40 %. Dies legt die Vermutung nahe, daß der Besitz der Staatsbürgerschaft auch indirekte Wirkungen hat, die sich stark im sozialen Netzwerk widerspiegeln. "Zwar wird die zunehmende Lateinamerikanisierung Spanien nachhaltig und langfristig verändern, im Unterschied zu den USA stellen die neuen lateinamerikanischen Bürger aber keine Bedrohung bestehender Werte dar. Vielmehr haben die Latinos durch die gemeinsame Sprache, Religion und Kultur eine bessere Chance als andere Einwanderergruppen, sich gesellschaftlich und politisch in Spanien zu integrieren. Auch deshalb ist mittel- und langfristig zu erwarten, daß sich Lateinamerikaner in Spanien zwar politisch engagieren, dabei aber nicht als eine ethnische Gruppe mit klar definierten Partikularinteressen auftreten werden" (Gratius 2005, 26).
Literatur Alberdi, La nueva familia espariola. Madrid 1999 Aparicio Gömez, Rosa / Tornos, Andres: El Estado de Bienestar y la inmigraciön en Esparia. Madrid 2003 Atlas de la inmigraciön marroquf en Esparia. Taller de estudios internacionales mediterräneos. Madrid 2004 Aubarell, Gemma (Hg.): Perspectivas de la inmigraciön en Esparia. Una aproximaciön desde el territorio. Barcelona 2003 Bendit, Ren / Bendit, Eva R. de: Altersrollen: Gibt es eine spanische Jugendkultur? In: Collado Seidel, Carlos / König, Andreas u. a.: Spanien Mitten in Europa. Zum Verständnis der spanischen Gesellschaft, Kultur und Identität. Frankfurt am Main 2002,209-228 Cabrera Pkez, Luis Alberto: Mujer, trabajo y sociedad (1839-1983). Madrid 2005 Centro de Investigaciones Sociolögicas: Informe Juventud 2000. Madrid 2001 Centro Pignatelli (Hg.): La inmigraciön, una realidad en Esparia. Zaragoza 2002
Literatur
355
Collado Seidel, Carlos / König, Andreas u. a.: Spanien: Mitten in Europa. Zum Verständnis der spanischen Gesellschaft, Kultur und Identität. Frankfurt am Main 2002 Domingo Valls, Andreu: Reinventando Esparia. Migraciön Internacional estrenando el siglo XXI. Barcelona 2003 Eiras Roel, Antonio / Gonzälez Lopo, Domingo L. (Hg.): La inmigraciön en Esparia. Santiago de Compostela 2004 Garreta Bochaca, Jordi: La integraciön sociocultural de las minorfas knicas (gitanos e inmigrantes). Barcelona 2003 Giner, Salvador: Los esparioles. Barcelona 2000 Gonzälez, Juan Jesüs / Requena, Miguel (Hg.): Tres dkadas de cambio social en Esparia. Madrid 2005 Gratius, Susanne: Machtfaktor Hispanics? Die Folgen der lateinamerikanischen Zuwanderung für die USA und Spanien. Berlin 2005 (SWP Studie S 14) Instituto Nacional de Estadistica (INE): Los extranjeros residentes en Esparia, 1998-2002. Madrid 2003 Instituto Nacional de Estadistica (INE): La sociedad espariola tras 25 arios de Constituciön. Madrid 2003 Izquierdo Antonio: La inmigraciön inesperada. La poblaciön extranjera en Esparia, 1991-1995. Madrid 1996 Kreienbrink, Axel: Einwanderungsland Spanien. Migrationspolitik zwischen Europäisierung und nationalen Interessen. Frankfurt am Main 2004 Martfnez Bujän, Raquel: La reciente inmigraciön latinoamericana a Esparia. Santiago de Chile 2003 (CEPAL-serie poblaciön y desarrollo, 40) Martfnez Pizarro, Jorge u. a.: Lateinamerikanische Wanderungsbewegungen: ihre Wirkungen für Europa. Rio de Janeiro 2004 (Europa America Latina: Analysen und Berichte, Nr. 17) Navarro, Vicen: El subdesarrollo social de Esparia. Causas y consecuencias. Barcelona 2006 Pellegrino, Adela: Migration from Latin America to Europe: Trends and Challenges. Genf 2004 (IOM Migration Research Series, Nr. 16) Rodrfguez Cabrero, Gregorio: Estado de bienestar en Esparia: debates, desarrollo y retos. Madrid 2004 Valenzuela, Javier: Esparia en el punto de mira. La amenaza del integrismo islämico. Madrid 2002 Villalafn, Jose Luis: La sociedad espariola de los noventa y sus nuevos valores. Madrid 1992
356
Bildung und Schulwesen in der Neuzeit (bis 1975)
XVI Bildung und Schulwesen
1.
Bildung und Schulwesen in der Neuzeit (bis 1975)
Das spanische Bildungswesen befand sich lange Zeit in einem äußerst schlechten Zustand. Während des größten Teils des 19. Jahrhunderts verhinderten konservative Regierungen und der Einfluß des Klerus, daß die Mehrheit der Bevölkerung eine systematische und regelmäßige (Aus-)Bildung erhielt. Das öffentliche Schulwesen wurde nur langsam aufgebaut; es orientierte sich am französischen Vorbild im Sinne eines von Madrid aus die gesamte Bildungspolitik steuernden Zentralismus. Als Erbe des 19. Jahrhunderts lassen sich zwei Charakteristika des spanischen Bildungswesens bezeichnen, die sich bis heute erhalten haben: zum einen das konkurrierende Nebeneinander von öffentlichen (staatlichen) und privaten (meist kirchlichen) Bildungseinrichtungen, zum anderen die regionale und soziale Ungleichheit mit einem ausgeprägten Land-Stadt-Gefälle. Hinzu kommt die Tradition der "Lernschule" mit Frontalunterricht, Auswendiglernen, Ausrichtung an vorgeschriebenen Lerninhalten und Prüfungsorientierung – Methoden, die bis in die Universität hinein praktiziert werden. Der wirtschaftliche Aufschwung während der Restauration hatte keine tiefergehende soziale Umstrukturierung im Landesinneren zur Folge, die den Fortschritt und neue Lebensgewohnheiten auf die Dörfer und in die kleineren Landstädte gebracht hätte. Vielmehr machte sich der Gegensatz zwischen den industriellen und den agrarischen Gebieten (mit der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung) in einem kulturellen und zivilisatorischen Gefälle bemerkbar; die Gebiete mit dem höheren Bildungsstand befanden sich – ebenso wie die industrialisierten Zonen – an der Peripherie der Halbinsel. Diese Ungleichheit des kulturellen Niveaus machte eine Reform des Erziehungswesens besonders notwendig. Obwohl seit 1857 Schulpflicht bestand, gab es (die verschiedenen Quellen stimmen nicht ganz überein) 1887 ca. 72 %, 1900 ca. 64% und 1910 immer noch ca. 60 % Analphabeten (bei deutlichem Überwiegen des Frauen-Analphabetismus). Die Versuche der Regierung, die allgemeine Schulpflicht strenger durchzuführen, scheiterten vor allem an finanziellen Schwierigkeiten der Gemeinden, die die Lehrer hätten bezahlen müssen. Die Manipulation der Landbevölkerung, die nach der Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts 1890 über zwei Drittel der Wählerschaft stellte, durch die lokalen caciques erklärt sich u. a. auch aus diesem Analphabetismus. Grundsätzlich nahm der Einfluß des Staates auf das Schulwesen im Laufe des 19. Jahrhunderts zu: Im Jahr 1857 wurde die Ley Moyano erlassen, die bis 1945 im Erziehungssektor Gültigkeit besaß. 1887 übernahm der Staat die Kosten für die öffentlichen Oberschulen (institutos). Die politischen Unruhen des 19. Jahrhunderts unterbrachen mehrmals die Entwicklung des Erziehungswesens. 1876 wurde in Madrid von Francisco Giner de los Rios (1839-1915) die Instituciön Libre de Ensefianza gegründet, die durch eine Erziehungsreform die spanische Gesellschaft an das Bildungsniveau anderer europäischer Völker
357
heranführen wollte. Unter Übernahme der Erziehungs- und Unterrichtsmethoden Fröbels führte diese Volks- und höhere (Privat-)Schule (ursprünglich Universität) den Werkunterricht (eine Art Gewerbeschule) und die heftig umstrittene Koedukation ein. Der aufklärerische Charakter der Instituciön Libre rief die konservativ-klerikalen Kräfte auf den Plan, die bei den konservativen Regierungen der Restaurationszeit durchsetzen konnten, daß Lehrpläne und -bücher dem Unterrichtsministerium zur Bewilligung vorgelegt werden mußten. Diese kulturkämpferische Einschränkung der (universitären) Lehrfreiheit wurde von den liberalen Regierungen zwar immer wieder gelockert, von den konservativen jedoch stets erneut verschärft. Von großer Bedeutung im Erziehungs- und Bildungssektor war die Kirche. Reichtum und Ansehen sicherten ihr großen Einfluß sowohl auf Schulen und Universitäten als auch auf die Pfarreien in den Dörfern und Gemeinden. Allerdings kümmerte sich die Kirche wenig um die sozialen Mißstände und verlor den Kontakt zu den Armen. Aus ihrer Verbindung mit den Mächtigen und Wohlhabenden resultierte die antiklerikale Stoßrichtung nahezu aller sozialrevolutionären Bewegungen in Spanien. Von den knapp 1,7 Millionen, die Ende der 1870er Jahre eine Schule besuchten, waren 1,64 Millionen Volksschüler. Bis 1900 hatte sich deren Zahl auf 1,87 Millionen erhöht; die Zahl der Schüler weiterführender Schulen belief sich auf knapp 100.000. Im Jahr 1908 gab es, offiziellen Angaben zufolge, 2,55 Millionen schulpflichtige Kinder (zwischen 6 und 12 Jahren), von denen 1,52 Millionen (60%) in die 24.861 "offiziellen" und die 5.212 privaten Volksschulen gingen; nach wie vor besuchten ungefähr 100.000 Schüler weiterführende Schulen. Ebenso wie bei den Oberschulen stagnierte auch die Entwicklung der Universitäten: 1879 gab es noch 16.874 Studenten, 1910 waren es nurmehr 16.000. Daß zwischen den verschiedenen Indikatoren der Modernisierung keine zu enge Wechselwirkung unterstellt werden darf, zeigt das ungleiche Verhältnis von Verstädterungs- und Alphabetisierungsrate. Während erstere in Spanien schon relativ früh Quoten entwickelter Industrienationen erreichte, näherte sich letztere erst jüngst westeuropäischen Werten. Die Analphabetenrate sank im 20. Jahrhundert von 59,4% (1910) auf 52,3% (1920), 44.4 % (1930) und 33,7% (1940). Erst die 1963-1968 durchgeführte Alphabetisierungskampagne konnte die Rate auf 5,7% drücken. Die höchsten Analphabetenraten wiesen die latifundistischen Provinzen des Südens auf (Andalusien 1970: 15,2 %). Wenn auch nur allmählich, so stellte jedoch insgesamt das 20. Jahrhundert im bildungspolitischen Bereich den Übergang von einem massiven Analphabetentum zu einer sozio-kulturellen Differenzierung dar. 1910 entstanden mehrklassige Volksschulen (escuelas graduadas), und bis 1933 wurden neue Gesetze zur Reorganisation von Oberschulen (Ensefianza Media) und Hochschulausbildung (Ensefianza Universitaria oder Superiod erlassen. Die Universitäten expandierten im ersten Drittel des Jahrhunderts von 16.000 (1911) auf 35.717 Studenten (1931). Zu Beginn der Zweiten Republik gab es ca. zwei Millionen Volks- und über 200.000 Mittelund Oberschüler (einschließlich der ca. 36.000 Studenten). Obwohl sich die Situation gegenüber der Restaurationszeit wesentlich gebessert hatte, wurde sie von den republikanischen Politikern als unbefriedigend erkannt. 1931 begann sofort eine umfassende Einschulungs- und Bildungskampagne, deren Ziel die allgemeine Erhöhung des kulturellen Niveaus der Bevölkerung war. Die Regierung gründete sogenannte "Unterrichtsräte" zur Koordination der Ausbildung, richtete Abendkurse für Erwachsene und Wanderbiblio-
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XVI Bildung und Schulwesen
theken für entfernte Landesteile ein und suchte über ihre "pädagogischen Missionen" alle Bevölkerungsschichten zu erreichen. 27.000 neue Schulen sollten errichtet werden; bis 1933 wurden 13.570 gebaut; bereits im ersten Jahr der Republik wurden 7.000 Volksschullehrer eingestellt, deren Gehälter um 50% erhöht. Die Anzahl der Oberschüler erhöhte sich von 71.000 (1929) auf 131.000 (1933), fiel allerdings während der "zwei schwarzen Jahre" wieder auf 125.000 zurück. Da der Staat der Kirche ihre Lehrbefugnis entzog, entstand in den ersten Republikjahren ein gewaltiges Defizit an Lehrkapazität und Unterrichtsräumen; auch die neue laizistische Orientierung des Unterrichts wurde von der Kirche heftig bekämpft. Das Franco-Regime wandte sich entschieden von der Bildungspolitik der Republik ab; die Kirche wurde in ihre alten Rechte auf dem Erziehungssektor wieder eingesetzt. Als erstes wurden Laizismus, Koedukation und der Unterricht in nicht-kastilischen Sprachen (d.h. auf baskisch oder katalanisch) abgeschafft. Alle Schulbücher wurden einer strengen (religiösen und politischen) Zensur unterworfen. Religion, Staatsbürgerkunde (falange) und Leibeserziehung erhielten als Fächer neue Bedeutung. Katholische Konfessionalität, politischer Dogmatismus und repetitive Lernmethoden kennzeichneten auf allen Ebenen die erste Schulphase nach 1939. Während Jesüs Ibäfiez Martin Erziehungsminister war (1939-1951), traten neben die staatliche Volksschulerziehung, deren Niveau wegen der rigorosen Lehrer-"Säuberungen" nach dem Bürgerkrieg noch weiter sank, für die begüterten Mittel- und Oberschichten erneut verstärkt die religiösen Privatschulen. (Bis heute hat die Bedeutung der schulgeldpflichtigen privaten oder kirchlichen Lehranstalten nicht ab-, sondern eher zugenommen: Im Schuljahr 2005/06 gingen 4.712.864 Schüler auf öffentliche, 2.265.531 auf private Schulen.) Die Phase mit Joaqufn Ruiz Gimänez als Erziehungsminister (1951-1956) zeichnete sich durch einen ersten Öffnungs- und Liberalisierungsversuch gegenüber dem vorhergehenden Jahrzehnt aus. Der seit 1965 acht Jahre umfassende Primarunterricht ist unentgeltlich und obligatorisch; die Schulpflicht wurde allerdings lange Zeit nicht strikt eingehalten (1966: 72 % Einschulungsquote schulpflichtiger Kinder). Die verstärkten Anstrengungen auf dem Gebiet der Bildungsreformen in den 1960er Jahren (Alphabetisierungskampagne, Verlängerung der Schulpflicht, Ausarbeitung eines neuen Erziehungsgesetzes) waren auf die Überzeugung der regierenden Technokraten zurückzuführen, daß zur Ankurbelung der Wirtschaftsentwicklung mehr ausgebildete Arbeiter auf zumindest mittlerem Qualifikationsniveau erforderlich waren. Das Erziehungsgesetz von 1970 (Ley General de Educaciön) bedeutete einen wichtigen Einschnitt im spanischen Erziehungswesen. Es versuchte, ein Bildungssystem zu entwerfen, das den veränderten Anforderungen der Wirtschaft genügte und ein efflzent-durchrationalisiertes Studium ermöglichte. Das Gesetz umfaßte alle Bereiche der Erziehung vom Kindergarten bis zum Hochschulstudium und stimmte die Laufbahnen aufeinander ab. Auf die Vorschulerziehung (Educaciön Preescolar) folgte die acht Jahre dauernde Schulpflicht (Educaciön General Bäsica, EGB), auf diese die drei Jahre umfassende Sekundarstufe (Bachillerato Unificado y Polivalente, BUP). Dem eigentlichen Fachstudium ging ein einjähriger Einführungskurs (Curso de Orientaciön Universitaria, COU) voraus. Inhaltliche Schwerpunkte des neuen Bildungskonzepts waren Durchlässigkeit des Systems, lebenslanges Lernen, größere Autonomie der Bildungseinrichtungen. In den Folgejahren traten bei der Umstellung des Erziehungswesens auf dieses neue Programm erhebliche Probleme auf.
Bildung und Schulwesen in der Demokratie (1975-2006)
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Bis zur Erziehungsreform von 1970 war das Schulsystem im wesentlichen durch eine Zweiteilung in eine schulgeldfreie "Volksschule" und eine schulgeldpflichtige "höhere Schule" charakterisiert gewesen, wobei die "Volksschule" nahezu ausschließlich von Kindern aus ärmeren Schichten besucht wurde, während die Kinder aus wohlhabenderen Schichten auf der höheren Schule, die meist von der Kirche oder religiösen Orden betrieben wurde, unter sich blieben.
2. Bildung und Schulwesen in der Demokratie (1975-2006) In den rund 30 Jahren Demokratie hat sich die spanische Bildungslandschaft radikal verändert. Einige wenige Parameter lassen die zwischenzeitlich erreichten Fortschrittte erkennen: Heutzutage absolvieren mehr als ein Drittel der Kinder von Eltern, die keinerlei Schulabschluß haben, ein Hochschulstudium. Diese Form der sozialen Mobilität ist eine Erscheinung, die es so in der spanischen Geschichte noch nie gegeben hatte. Von den knapp anderthalb Millionen Studierenden sind 54% Frauen. Für Bildung wurden aus öffentlichen Mitteln zu Beginn der Transition knapp 4% des BIP ausgegeben, in den Folgejahren stieg die Quote um einen Prozentpunkt, heute liegt sie wieder bei 4,4 %. Selbst im Forschungsbereich kann das Land deutliche Fortschritte aufweisen. Lagen 1978 die Ausgaben für "Forschung und Entwicklung" bei 0,35 % des BIP, so lagen sie 2001 bereicht bei 0,96 %. 1978 kam auf tausend Beschäftigte ein Forscher, 2001 waren es schon durchschnittlich 4,4. Gerade im Forschungsbereich ist der relative Fortschritt am deutlichsten zu erkennen: Bis 1968, als ein erster Plan zur Ausbildung von Wissenschaftlern in Kraft trat, wurde als einzige Aufgabe der Universitäten die Lehre betrachtet. Hochschulforschung existierte praktisch nicht. Lediglich in einigen, dem "Rat für Wissenschaftliche Forschung" (Consejo Superior de Investigaciones Gienleas, CSIC) angeschlossenen Instituten wurde Forschung betrieben. Bis zum Ende des Franquismus (und darüber hinaus) war Spanien in bezug auf die vom Staat aufgebrachten Forschungsmittel Schlußlicht unter den westeuropäischen Staaten. Die Situation änderte sich erst seit Beginn der 80er Jahre; seither bedenkt der CSIC verstärkt auch Universitätsinstitute mit Kooperationsverträgen. Allerdings liegen bis heute die Forschungsausgaben deutlich unter dem Durchschnitt der OECD-Staaten, immer noch ist die Infrastruktur universitärer Forschungseinrichtungen (Laboratorien, Ausstattung) unzureichend, der Beitrag der Privatwirtschaft zu Forschungsausgaben ist ausgesprochen gering. Tab. 40 läßt die tiefgreifenden Veränderungen erkennen, die in der Demokratie auf dem Bildungssektor erzielt worden sind. Die Schulbildung ist auf praktisch allen Niveaustufen prozentual und absolut erheblich verbessert worden. Besonders auffällig ist die prozentuale Halbierung der Schülerzahlen, die nur Primarschulabschluß aufweisen, während sich die Zahl der Berufsschulabsolventen verzehnfacht hat. Trotz aller bildungspolitischen Fortschritte ist die Bilanz nach 30 Jahren Demokratie "durchwachsen". Neben unzweifelhaften Fortschritten gibt es wichtige Bereiche mit nach wie vor erheblichen Defiziten. Die folgenden Abschnitte beschränken sich darauf, die wesentlichen Veränderungen in der untersuchten Zeitspanne in den Bereichen Schule und Hochschule aufzuzeigen.
360
XVI Bildung und Schulwesen
Bildung und Schulwesen in der Demokratie (1975-2006)
Tab. 40: Bildungsniveau der Bevölkerung 1978-2002
361
Tab. 41: Schüler- und Studentenzahlen 2005/2006
(Bevölkerung über 16 Jahre; in Tausend) Insgesamt 1978
%
2002
%
Analphabeten
2.353,6
9,0
1.043,1
3,1
Ohne Schulabschluß
4.249,5
16,2
3.813,2
14.298,8
54,7
3.779,0
Mit Berufsschulabschluß
Öffentliche Einrichtungen in % absolut
Private Einrichtungen absolut in %
Vorschulerziehung
1.480.810
960.606
64,9
520.204
35,1
11,2
Primarbereich
2.481.667
1.654.825
66,7
826.842
33,3
8.620,1
25,3
Sonderschule
29.892
15.562
52,1
14.330
47,9
14,4
12.213,2
35,9
Sekundarstufe I
1.843.313
1.222.931
66,3
620.382
33,7
296,3
1,1
3.719,1
10,9
Sekundarstufe II
640.241
481.882
75,3
158.359
24,7
Mit Oberschulabschluß
708,3
2,7
2.197,0
6,5
Berufsausbildung
502.472
377.058
75,0
125.414
25,0
Mit Hochschulabschluß
471,3
1,8
2.455,1
7,2
Insgesamt alle Schulstufen
6.978.395
4.712.864
67,5
2.265.531
32,5
26.156,8
100
34.060,9
100
Universität
1.442.081
1.303.109
90,4
138.972
9,6
Insgesamt
8.420.476
6.015.973
Mit Primarschulabschluß Mit mittlerem Schulabschluß
Insgesamt
2.404.503
n
Das Schulwesen Das Schulsystem der Demokratie orientierte sich rund 20 Jahre lang am spätfranquistischen "Allgemeinen Bildungsgesetz" (Ley General de Educaciön, LGE) aus dem Jahr 1970. Weitere Rahmenprinzipien, die fortan dem Bildungssektor zugrunde lagen, definierte die Verfassung von 1978. Zu diesen Prinzipien gehört die Pflicht des Staates, das Recht auf Bildung zu gewährleisten. Außerdem muß er im Hinblick auf die Bildung der Bürger auch andere Rechte anerkennen; schließlich werden die Zuständigkeiten im Bildungswesen auf Zentralstaat und Autonome Gemeinschaften aufgeteilt. Zur Implementierung dieser Verfassungsgrundsätze wurden in den folgenden Jahrzehnten mehrere Organgesetze verabschiedet: 1985 das "Gesetz zum Recht auf Bildung" (Ley Orgänica del Derecho a la Educaciön, LODE), 1990 das "Gesetz zur Allgemeinen Neuordnung des Bildungswesens" (Ley Orgänica de Ordenaciön General del Sistema Educativo, LOGSE), 2002 das "Gesetz zur Verbesserung der Qualität des Bildungswesens" (Ley Orgänica de Calidad de la Ensetianza, LOCE), 2006 das "Bildungsgesetz" (Ley Orgänica de Educaciön, LOE); ausschließlich für den Hochschulbereich folgten noch 1983 das "Hochschulreformgesetz" (Ley de Reforma Universitaria, LRU) und 2001 das "Hochschulgesetz" (Ley Orgänica de Universidades, LOU). Jede Betrachtung des spanischen Bildungssystems muß einleitend darauf verweisen, daß in diesem System private Einrichtungen - und zwar auf allen Ebenen, vom Primarbereich bis hin zu den Universitäten - nach wie vor große Bedeutung haben. In der Aufteilung zwischen öffentlichen und privaten Bildungseinrichtungen kommt auch am deutlichsten die Trennung der sozialen Schichten zum Ausdruck. Die kostenpflichtigen Privateinrichtungen weisen zumeist eine günstigere Schüler-Lehrer-Relation als die unentgeltlichen öffentlichen Anstalten auf; sie sind auch zumeist besser mit Lehr- und Lernmaterial ausgestattet. Seit 1985 werden die Schulen in drei Kategorien eingeteilt: staatliche (öffentliche) Schulen, Privatschulen ohne Finanzunterstützung des Staates (centros no concertados) und Privatschulen mit staatlicher Subvention (centros concertados). Tab. 41 läßt deutlich werden, daß nach wie vor ein erheblicher Prozentsatz der Schüler auf Privatschulen geht.
Kernstück der Bildungsreform von 1970 war die Schaffung einer für alle Kinder obligatorischen, unentgeltlichen, aus acht Schuljahren bestehenden Grundbildungsschule (von 6 bis 14 Jahren). Die fehlende Aufteilung in leistungsstärkere und -schwächere Zweige wurde (und wird) durch das Nebeneinander von kostenlosen staatlichen und teuren privaten Schulen ersetzt. Die acht obligatorischen Schuljahre bildeten die Educaciön General Bäsica (EGB). Als qualifizierter Abschluß wurde nach dem letzten Schuljahr der Titel Graduado Escolar verliehen, der den Übertritt in weiterführende Bildungseinrichtungen ermöglichte. Waren die Leistungen nicht ausreichend, so konnte nach der EGB nur noch eine Berufsschule besucht werden. In den auf die Reform folgenden Jahren erreichten ungefähr 55 % eines schulpflichtigen Jahrgangs den Graduado Escolar. Auf die EGB folgte die gymnasiale Sekundarstufe, das Bachillerato Unificado y Polivalente (BUP), bestehend aus drei Schuljahren. Kaum mehr als die Hälfte der Schüler, die in dieser Schulform begannen, erreichte den Abschluß (bachillerato). Wer es schaffte, mußte - wenn er studieren wollte - noch ein Universitätsvorbereitungsjahr (Curso de Orientaciön Universitaria, COU) und (seit 1975) eine universitäre Aufnahmeprüfung (Selectividad) absolvieren. Das Universitätsvorbereitungsjahr war als ein Propädeutikum konzipiert, das faktisch einen Teil der Sekundarstufe darstellte und auch dort unterrichtet wurde. Das erste bedeutende Schulreformgesetz der seit 1982 amtierenden sozialistischen Regierung Gonzälez war die Ley Orgänica del Derecho a la Educaciön (LODE) von 1985. Das zentrale Anliegen der LODE bestand darin, die Privat- und Konfessionsschulen, die vom Staat massiv subventioniert wurden, gewissen staatlichen Auflagen zu unterwerfen. Durch das Gesetz wurden alle Schulen - somit auch die privaten - verpflichtet, einen Schulbeirat zu wählen, der gewisse Mitbestimmungsfunktionen, wie die Wahl des Schulleiters an öffentlichen Schulen, hatte. Die Ausführungsdekrete des Gesetzes regelten die prinzipiell freie Zulassung aller Schüler zu allen Schularten, die demokratische Konstituierung von Schulbeiräten, die Schaffung von Schülerbeiräten und den Bezuschussungsmodus bestimm-
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XVI Bildung und Schulwesen
ter privater Schulen, der centros concertados, durch den Staat. Die konservative Opposition im Parlament, katholische Elternvereine und die zahlreichen Privatschulverbände liefen Sturm gegen das Gesetz, organisierten Massendemonstrationen und riefen das Verfassungsgericht an. Zum einen wandten sie sich gegen jegliches Mitbestimmungsrecht des Staates in Privatschulen, zum anderen forderten sie eine stärkere Staatssubventionierung eben dieser Privatschulen. Nach einigen Änderungen wurde die LODE allerdings in die Praxis umgesetzt. Die 1970 geschaffene Struktur des Schulwesens wurde 20 Jahre später durch das Reformgesetz von 1990 (Ley de Ordenaciön del Sistema Educativo, LOSE) grundlegend. verändert. Insbesondere erfolgte eine Umgestaltung der Sekundarstufe: Die zwei letzten Schuljahre in der Grundbildungsschule (EGB) wurden mit den beiden ersten Schuljahren der damaligen gymnasialen Sekundarstufe (BUP) zu einer Sekundarstufe I zusammengefaßt, die fortan Educaciön Secundaria Bäsica hieß. Da zugleich die allgemeine Schulpflicht auf zehn Jahre erhöht wurde, bedeutete dies, daß die Jugendlichen bis zum 16. Lebensjahr gemeinsam in einer Schulform unterrichtet wurden. Danach konnte der Schüler zwischen einer zweijährigen gymnasialen Sekundarstufe II und einem einjährigen spezialisierten Ausbildungsgang wählen. Der Reform gingen zahlreiche Modellversuche voraus, bei denen vor allem eine Erprobung der Integration von allgemeiner und beruflicher Bildung in den zwei letzten Schuljahren und der in verschiedene Zweige ausdifferenzierten gymnasialen Sekundarstufe II erfolgte. Auch dieses Gesetz wurde von der konservativen Opposition heftig bekämpft, da für das Fach "katholische Religionslehre" ein Ersatzunterricht eingerichtet wurde. Noch vor seiner Verabschiedung wurde das Gesetz in Ley de Ordenaciön General del Sistema Educativo (LOGSE) umbenannt. Um die Reform finanzieren zu können, nahm sich die Regierung vor, die Ausgaben für das Bildungswesen deutlich anzuheben. Ziel der Reform war es, den Anschluß an den Bildungsstandard mitteleuropäischer Länder zu erreichen. Daher wurde besonderer Wert auf eine sorgfältige Auswahl der Lerninhalte, eine Verbesserung der materiellen Unterrichtsbedingungen, eine stärkere Betonung von Fremdsprachen sowie von Informations- und Kommunikationstechnologie und eine solide Vorbereitung sowie Weiterbildung der Lehrer gelegt. 1996 kam der konservative Partido Popular an die Regierung, der im Bildungsbereich abermals tiefgreifende Reformen durchführte; er verabschiedete ein neues Universitätsgesetz, ein "Bildungsqualitätsgesetz", ein Berufsbildungsgesetz. Praktisch alle Gesetze wurden von der Regierungspartei im Alleingang in Angriff genommen, der Widerstand der (jetzt sozialistischen) Opposition und aus den Autonomen Gemeinschaften war erheblich. Die Sozialisten sprachen von "Gegenreform" und gravierenden Fehlentwicklungen: Vernachlässigung des öffentlichen Schulwesens zugunsten des privaten, Klassencharakter der (Aus-) Bildung, Überbetonung des Religionsunterrichts, autoritäre Erziehungsmodelle, Zentralisierung der Bildungsentscheidungen, Reduzierung der Bildungsausgaben von unter ihnen erreichten 4,9% auf 4,4% des BIP, Vernachlässigung der schulpflichtigen Einwandererkinder (deren Zahl in der Regierungszeit der Konservativen von 60.000 auf 400.000 angewachsen war). Die Konservativen verabschiedeten 2002 noch Organgesetze über die berufliche Bildung und über die Qualität der Erziehung. Vor allem letzteres Gesetz veränderte die sozialistische
Bildung und Schulwesen in der Demokratie (1975-2006)
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LOGSE von 1990 wieder von Grund auf, war allerdings nicht lange in Kraft, da die sozialistische Regierung Rodrfguez Zapatero nach ihrer Amtsübernahme 2004 sofort mit der Revision des Gesetzes begann. Im April 2006 verabschiedete sodann der Kongreß nach monatelangen, heftigen Diskussionen mit der Opposition und massenhaften Straßendemonstrationen seitens der Konservativen und der Katholischen Kirche gegen die Reformabsichten der Sozialisten das 6. Bildungsreformgesetz der Demokratie (Ley Orgänica de Educaciön, LOE), das zwar zahlreiche Neuerungen einführt, aber auch viele Bestimmungen früherer Gesetze – etwa der sozialistischen LOGSE von 1990 und des konservativen "Qualitätsgesetzes" von 2002 – beibehält. Die LOE von 2006 führt eine gewisse Systematisierung im Bildungsbereich ein. Am umstrittensten – von Seite der Konservativen und der Katholischen Kirche – war die Neuregelung in bezug auf das Schulfach Religion: Es muß an Schulen angeboten werden, die Schüler müssen es aber nicht belegen. Religion ist kein Vorrückungsfach mehr, die Note ist auch bei einer Beantragung von Stipendien irrelevant. Es wurde auch kein alternatives Pflichtfach für die Schüler eingeführt, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen. Andererseits unterliegen Religionslehrer fortan, wie alle anderen Lehrer auch, dem Arbeiterstatut. Das bedeutet, daß die Kirche zwar weiterhin die Religionslehrer aussucht, sie diese aber nicht mehr aufgrund moralischer Bedenken (etwa, wenn sie sich scheiden lassen) entlassen kann (was im vorhergehenden Jahrzehnt den Staat 330 Millionen € gekostet hatte). Andere Neubestimmungen des Gesetzes waren die Einführung eines Staatsbürgerunterrichts (Educaciön para Ciudadania), weitgehende Autonomie der Schulen bei der Organisation von Sonderprogrammen für bestimmte Schülergruppen (etwa Einwanderer), eine "ausgewogene" Zulassungspolitik zu öffentlichen und privaten Schulen, eine Zuständigkeitserweiterung der Schulleiter in disziplinarischen Angelegenheiten, eine neue Vorrückungsregelung und die Festlegung der Mindestunterrichtsinhalte, die von der Regierung bestimmt werden können (55 % in den Autonomen Gemeinschaften mit eigener Sprache, 65 % in allen anderen). Zum ersten Mal in der neueren Geschichte sieht ein Bildungsgesetz eine verbindliche Finanzierungsverpflichtung seitens des Staates vor. Geplant sind (bis 2010) Zusatzinvestitionen in Höhe von sieben Milliarden € in den Bildungsbereich; außerdem sollen die Staatsausgaben für Bildung im Laufe des nächsten Jahrzehnts denen des EU-Durchschnitts angepaßt werden. Zusammenfassend können somit erhebliche positive Veränderungen im Schulwesen während der letzten 30 Jahre festgestellt werden. Trotz aller Fortschritte jedoch gilt: Die Bildungsinvestitionen des spanischen Staates gehören weiterhin zu den niedrigsten in Europa; der Prozentsatz der Spanier, die mindestens eine abgeschlossene Sekundarstufenausbildung haben, ist mit 35 % der viertniedrigste in der OECD; Schulen und Universitäten sind in akademischer und ökonomischer Hinsicht noch weit vom europäischen Durchschnitt entfernt, in den letzten 13 Jahren ist der öffentliche Anteil der Bildungsausgaben am BIP von 4,9% (1993) auf 4,4% (2005) gefallen. Bis heute verlassen über 72% der Arbeiterkinder die Schule, sobald sie das Pflichtschulprogramm absolviert haben, nur 27,5% rücken in die Sekundarstufe II oder in die Phase der Berufsausbildung vor. Demgegenüber gehen Kinder aus "bürgerlichen" Kreisen zu 85 % auch nach der Mindestschul-
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XVI Bildung und Schulwesen
Bildung und Schulwesen in der Demokratie (1975-2006)
Schema 6: Struktur des Schulwesens nach dem Bildungsreformgesetz von April 2006 Jahre / Schulabschnitte
Charakteristika
Anzahl der Schüler im Schuljahr 2005/006
3 Richtungsoptionen: – Kunst
16-18 Jahre
– Naturwissenschaft und Technologie Sekundarbereich II
640.241
– Geistes- und Sozialwissenschaften
(Bachillerato) Neues Fach: • Wissenschaft für die Welt von heute
Reduktion der Fächer in den ersten zwei Jahren Staatsbürgerkunde 12-16 Jahre
Nach dem 2. Jahr: Evaluierung
Sekundarbereich 1 (Ensenaza Secundaria Obligatoria, ESO)
Ab dem 3. Jahr: Diversifiziertes
1.843.313
Curriculum Ab dem 4. Jahr: Ausbildungsoption für Arbeitsbereich Bei drei nicht bestandenen Fächern: • Kurswiederholung
Unterstützungskurse 6-12 Jahre Primarbereich
Tutorate
(Primaria)
Nach dem 4. Schuljahr: Evaluierung
0-6 Jahre
2.481.667
Staatsbürgerkunde
Vorschulbereich (Infantil)
Freiwillig, mit Erziehungsauftrag Unentgeltlich ab 3. Lebensjahr 1. Fremdsprache ab 5. Lebensjahr
1.480.810
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pflicht weiter auf die Schule. Insgesamt haben unter den heute 20 bis 24Jährigen nur 62,5 % den Schulabschluß der Sekundarstufe II – übrigens weit mehr Frauen (70%) als Männer (55,2%), was darauf hinweisen könnte, daß junge Männer mit einfachem Schulabschluß leichter auf dem Arbeitsmarkt zu vermitteln sind und deswegen schneller ins Berufsleben eintreten als junge Frauen. Die Regierung Rodriguez Zapatero hat sich das bildungspolitische Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2010 insgesamt 85 % aller Schüler zum Abitur oder zu einer Berufsausbildung zu führen. Heute ist Spanien noch weit von diesem Ziel entfernt. Obwohl die sozialistische Regierung bei ihrem Amtsantritt im April 2004 der Bildungspolitik Priorität einräumte, sind sich Analysten darin einig, daß in den ersten zwei Jahren der Legislaturperiode wenig Reforminitiativen vom Bildungsministerium ausgegangen sind. Im April 2006 wurde die Bildungsministerin Maria Jesüs Sansegundo abgelöst und durch Mercedes Cabrera ersetzt. Vor allem hatten die bisherigen Bildungsreformen in den 30 Jahren Demokratie übereinstimmend einen Mangel: Die jeweiligen Reformgesetze wurden stets mit der Regierungsmehrheit gegen den erbitterten Widerstand der Opposition und unter Inkaufnahme von Massenprotesten seitens der Studenten und Professoren verabschiedet; sobald die Opposition dann die Regierungsverantwortung übernahm, wurde das entsprechende Gesetz wieder modifiziert. Es fehlte somit an Kontinuität; die Tatsache, daß es in der demokratischen Zeitspanne schon sechs verschiedene Bildungsreformgesetze gegeben hat, ist deutlicher Ausdruck dieser Kurzatmigkeit.
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Das Sprachproblem in den Autonomen Gemeinschaften Im Laufe der 1980er und 1990er Jahre wurden die Bildungs- und Ausbildungskompetenzen vom Zentralstaat auf die Autonomen Gemeinschaften übertragen (zu folgendem vgl. El Pais 6.2.2006, 35-37). Diese Kompetenzerweiterung war vor allem für die Gemeinschaften mit einer (neben dem Spanischen) "ko-offiziellen" Sprache von Bedeutung (Balearen, Katalonien, Valencia, Galicien, Nord-Navarra, Baskenland), da sie nun daran gehen konnten, ihre jeweilige Sprache in das Schulcurriculum zu integrieren. In Katalonien dominiert inzwischen als reguläre Unterrichtssprache das Katalanische; in anderen Fällen werden unterschiedliche Modelle praktiziert, denen zufolge die Eltern (mitunter nur theoretisch) die Sprache wählen dürfen, in der ihre Kinder unterrichtet werden sollen. In jedem Fall läßt sich aber sagen, daß die "ko-offiziellen" Sprachen sich immer mehr verbreitet haben; Lehrer müssen sie bis zu einem gewissen Grad beherrschen, wenn sie eine Anstellung in den betreffenden Autonomen Gemeinschaften bekommen wollen. In den letzten Jahren ist es immer wieder – vor allem in Katalonien – zu Problemen zwischen Schulbehörden und aufgebrachten Eltern gekommen; letztere fühlten sich häufig in ihrem gesetzlich festgeschriebenen Grundrecht eingeengt, die Unterrichtssprache für ihre Kinder – das bezog sich immer auf das Spanische – wählen zu dürfen. Anfang 2006 fällte der Oberste Gerichtshof Kataloniens erneut ein Urteil, das die Generalitat verpflichtete, die Bedingungen zu schafffen, daß ein Primarschüler auf Antrag den gesamten Unterricht auf spanisch erhält – wie es das "Gesetz über Sprachpolitik" (Ley de Politica Lingüistica) von 1998 vorsieht. Die Verfassung legt fest, daß jeder Spanier die Pflicht und das Recht hat, die spanische Sprache zu verwenden, sowie die Verpflichtung, sie zu kennen. Wenn auch in Katalonien die schulische "Verkehrssprache" das Katalanische ist – entsprechend dem
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XVI Bildung und Schulwesen
Sprachgrundsatz des "Eintauchens" in die katalanische Sprache —, sehen die Gesetze zur Sprachpolitik das Recht der Eltern vor, für ihre Kinder Unterricht auf spanisch zu reklamieren. Wegen der wechselseitigen Verständnisnähe beider Sprachen lehnten es die katalanischen Parteien seinerzeit ab, unterschiedliche sprachliche Unterrichtszweige einzuführen. In der Primarstufe erhalten alle Schüler Unterricht auf spanisch (Sprache und Literatur) ebenso wie auf katalanisch. Dem katalanischen Bildungsministerium zufolge unterrichten 10 %-20 % der Primarschullehrer und 30 %-40 % der Sekundarschullehrer auf spanisch. An den Universitäten dürfen die Professoren selbst bestimmen, in welcher Sprache sie lehren. Auch im Schulsystem der Balearen sind spanisch und katalanisch gleichgestellt. Da auf den Balearen 15 % der Schüler Ausländer sind, erhalten diese nach ihrer Einschulung einen katalanischen Intensivkurs. Jede Anstalt darf ihr eigenes "Sprachprojekt" festlegen, vorausgesetzt, daß — entsprechend einem Dekret von 1997 — mindestens 50 % des Unterrichts auf katalanisch stattfinden. Viele öffentliche Schulen unterrichten nahezu ausschließlich auf katalanisch. Der Unterricht in den ersten zwei Grundschuljahren kann auf Antrag spanisch oder katalanisch sein, der Unterricht im Sekundarbereich ist zweisprachig, Sozialwissenschaften und Geschichte müssen auf katalanisch unterrichtet werden. Am Ende ihrer Schulzeit müssen alle Schüler zweisprachig sein. In der Autonomen Gemeinschaft Valencia herrscht ein flexibler Bilingualismus vor. Das Sprachgesetz von 1983 (Ley de Uso y Enserianza del Valenciano) regelt das Recht der Eltern, die Unterrichtssprache für ihre Kinder bestimmen zu dürfen. Andererseits darf auch jede Lehranstalt festlegen, in welcher Sprache der Unterricht stattfindet. Im (seltenen) Konfliktfall müssen Eltern eine andere Lehranstalt für ihre Kinder suchen. Das Gesetz teilt das Gebiet der Autonomen Gemeinschaft Valencia sprachlich in zwei Teile: einen größeren, überwiegend valencianisch (katalanisch) sprechenden und einen kleineren, überwiegend spanisch sprechenden Teil. Am Ende ihrer obligatorischen Schulzeit müssen die Schüler beide Sprachen beherrschen. (In politischen Kreisen gibt es seit einiger Zeit eine Polemik, ob das Valencianische eine Sprache ist oder dem Katalanischen entspricht. Sprachwissenschaftler sind sich darin einig, daß das Valencianische eine Variante des Katalanischen ist. Auf diese Auseinandersetzung wird hier nicht näher eingegangen.) Es gibt drei verschiedene "Sprachprogramme": In zwei davon ist die Verkehrssprache valencianisch, im dritten müssen mindestens zwei Fächer auf valencianisch unterrichtet werden. Ein Minimum von 525 Unterrichtsstunden auf spanisch ist für alle Schüler obligatorisch. Im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften ist jede Lehreinheit weitgehend autonom bei der Festlegung ihres Sprachprogramms. Alle Lehrer müssen beide Sprachen beherrschen. Im Sekundarbereich gibt es keine verbindlichen Sprachvorschriften. Auch das galicische Schulsystem ist dem Bilingualismus verpflichtet. Eine bestimmte Anzahl von Fächern muß auf galicisch unterrichtet werden, über die restlichen entscheiden die Lehranstalten autonom. Im ländlichen Umfeld dominiert das Galicische, im städtischen das Spanische. Das heutige System geht auf Bestimmungen des Jahres 1995 zurück, als eine Sprachpolitik des "harmonischen Bilingualismus" eingeführt wurde. Der "Plan zur linguistischen Normalisierung" (Plan de Normalizaciön Lingiiistica) von 2004, dem im Regionalparlament alle politischen Kräfte zustimmten, sieht vor, daß mindestens die Hälfte des Unterrichts in allen Schultypen und Altersstufen auf galicisch stattfinden soll. Die Bestimmungen werden flexibel angewendet.
Bildung und Schulwesen in der Demokratie (1975-2006)
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Im Baskenland gibt es drei Sprachmodelle. Im Modell A werden alle Fächer, mit Ausnahme der baskischen Sprache, auf spanisch unterrichtet. Im Modell B werden die Fächer zur Hälfte auf spanisch und zur anderen Hälfte auf baskisch unterrichtet (in der Praxis variiert der Prozentsatz der jeweiligen Sprache von einer Schule zur anderen). Im Modell D findet der gesamte Unterricht, mit Ausnahme des spanischen Sprachunterrichts, auf baskisch statt. Während in der Primar- und Sekundarstufe I die baskischen Modelle B und D dominieren (ca. 70 % der Schüler), herrscht in der Sekundarstufe II (mit 55 %) und in der Berufsausbildung (mit 85 %) das spanische Modell vor. Bei der Einschulung ihrer Kinder dürfen die Eltern (theoretisch) eines der drei Modelle wählen; praktisch herrschen aber im öffentlichen Schulwesen die baskisch dominierten Modelle B und D vor, die vom baskischen Bildungsministerium eindeutig bevorzugt werden, während das Modell A im öffentlichen Schulwesen eine Residualkategorie bildet. Von allen Lehrern werden solide Grundkenntnisse im Baskischen verlangt. Das Sprachgesetz von 1983 (Ley de Normalizaciön del Uso del Euskera) definiert als bildungspolitisches Ziel, daß am Ende der obligatorischen Schulzeit alle Schüler zweisprachig sind. Die Realität sieht heute noch anders aus. Die Schüler des Modells A sind weit davon entfernt, das Baskische zu beherrschen, und selbst die Baskischkenntnisse der Schüler der Modelle B und D lassen zu wünschen übrig. Navarra teilt sich nach dem Sprachgesetz von 1986 (Ley Foral del Vascuence) in drei Zonen auf: Im baskisch-sprachigen Norden und im gemischtsprachlichen Zentrum der Autonomen Gemeinschaft (einschließlich der Hauptstadt Pamplona) dürfen die Eltern baskisch oder spanisch als Unterrichtssprache für ihre Kinder wählen. Im spanischsprachigen Süden wird an öffentlichen Schulen nur auf spanisch unterrichtet. Zu diesen drei Zonen kommen drei Modelle: Modell A (Unterricht nur auf spanisch, baskisch nur als Sprachunterricht) ist in der gesamten Region anzutreffen; Modell D (Unterricht nur auf baskisch, spanisch nur als Sprachunterricht) kann im baskischsprachigen Nordteil und im gemischtsprachlichen Zentrum gewählt werden. Modell G sieht im Süden Navarras ausschließlich Unterricht auf spanisch vor (wenn es auch in diesem Landesteil — ebenso wie im Baskenland — baskischsprachige Privatschulen, die ikastolas, gibt, die ein stark nationalistisch geprägtes Lehrprogramm vertreten). In Einzelfällen kann es zu Einschränkungen bei der Wahlfreiheit kommen. An der staatlichen Universität von Navarra — in Pamplona gibt es darüber hinaus eine private Universität des Opus Dei — werden einzelne Fächer auf baskisch unterrichtet. n Die Universitäten Die spanische Hochschullandschaft wird seit der späten Franco-Zeit kontinuierlich reformiert. Beobachter waren sich aber in jeder Phase dieser rund 35jährigen Entwicklung weitgehend darin einig, daß die durchgeführten Reformen und Neuerungen kaum einmal ihr Ziel erreichten; kaum war eine Reform abgeschlossen, wurde schon nach einer dringenden Revision der Reform gerufen. Hintergrund des offensichtlich nicht endenden Reformbedarfs waren die gewaltigen Veränderungen, denen die spanische Hochschule in dieser Zeit unterworfen war: Kein anderes europäisches Land hatte in den letzten Jahrzehnten eine derartige Zunahme an Studentenzahlen zu verzeichnen wie Spanien: Zwischen 1965 und 1990 vervierfachte sich ihre Zahl von rund 243.000 auf ungefähr eine Million, im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhundert stieg die Zahl noch einmal um 60 % auf knapp 1,6 Millionen. Wegen des
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XVI Bildung und Schulwesen
Geburtenrückgangs ist die Studentenzahl inzwischen (2006) auf 1,4 Millionen gesunken. Seit Mitte der 1980er Jahr studieren mehr Frauen als Männer, momentan sind es rund 54%. Bei den Absolventen steigt der Prozentsatz der Frauen sogar auf 60 %. Der weit überwiegende Teil studiert an staatlichen Universitäten, nur relativ wenige an privaten. Die universitäre Berufsausbildung durchlaufen zur Zeit etwas über eine halbe Million Studierender. Alle Universitäten erheben Studiengebühren, die alljährlich neu festgelegt werden. Zur Zeit bewegen sie sich (an den öffentlichen Hochschulen) zwischen 500 und 1000 € pro Studienjahr (die Gebühren an Privatuniversitäten sind teilweise erheblich höher). Im europäischen Vergleich ist der Anteil der Studenten an der Gesamtbevölkerung überdurchschnittlich hoch. So besuchen etwa prozentual fast doppelt so viele Spanier wie Deutsche eine Hochschule, nämlich 27% aller 18-24jährigen. Dieser hohe Prozentsatz ist zum einen auf das Fehlen eines dualen Berufsausbildungssystems, zum anderen auf die hohe Jugendarbeitslosigkeit und die geringen Berufsmarktperspektiven zurückzuführen. Hinzu kommt, daß in Spanien Ausbildungsberufe und viele kaufmännische Berufe als universitäre Studiengänge angeboten werden. Der weit überwiegende Teil der Studenten besucht die lokale Hochschule, Mobilität findet kaum statt. Dies gilt auch für die Professoren, die häufig Karriere an der eigenen Universität — vom Student bis hinauf zum Professor — machen. Die Berufungsverfahren sind stark von endogamen Strukturen geprägt. Ein Berufsschulwesen existierte in Spanien traditionellerweise nur in Ansätzen. 1955 waren erstmalig "Arbeitsuniversitäten" ( Universidades Laborales) eingerichtet worden; es handelte sich um Lehranstalten zur Aus- und Weiterbildung von Jugendlichen zu Facharbeitern und Handwerksmeistern. Sie funktionierten als Internatsschulen, die anfallenden Lebenshaltungskosten und Gebühren trug der Staat. Am Ende des Franquismus gab es 18 solcher Bildungseinrichtungen mit rund 30.000 Studienplätzen. Die Studierenden stammten fast ausschließlich aus Arbeiterfamilien. Ende der 70er Jahre wurden die "Arbeitsuniversitäten" der Sekundarstufe mit gymnasialem Curriculum (BUP) zugeordnet und umbenannt. 1964 wurde eine Berufsgrundbildung eingeführt, neben der es vereinzelte Gewerbeschulen gab, die in einer fünfjährigen Ausbildungszeit bis zum Handwerkermeister führte. Die insgesamt unzureichende Berufsschulausbildung erklärt, weshalb von den rund 15 Millionen Erwerbstätigen im Spanien der 1980er Jahre 57% keine anerkannte berufliche Ausbildung hatten. Die Bildungsgesetze von 1970 und 1990 regelten auch die fachspezifische Berufsausbildung (Formaciön Profesional Especifica, FPE). Diese Ausbildung soll eine berufliche Erstausbildung ermöglichen und die Eingliederung von Jugendlichen in das Berufsleben unterstützen. Die Berufsausbildung folgte auf die Phase des obligatorischen Schulunterrichts (6-16 Jahre). Das Gesetz von 1990 führte ein verpflichtendes Betriebspraktikum ein. Die Veränderungen, denen die spanische Universität in den letzten 30 Jahren ausgesetzt war, betreffen zum einen den rasanten Anstieg der Studierendenzahlen, zum anderen auch die Anpassung von Studienplänen und Abschlüssen an europäische Normen. Außerdem hat eine Dezentralisierung der Strukturen stattgefunden. Den Universitäten wurde größere Autonomie zugesprochen, die vor allem in dem Auftrag bestand, in Eigenverantwortung Studien- und Finanzpläne zu entwickeln, diese den Bedürfnissen der Gesellschaft anzupassen und sich in der Wirtschaft neue Finanzierungsquellen zu erschließen.
Bildung und Schulwesen in der Demokratie (1975-2006)
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Von ihrer Struktur her sind sämtliche spanische Universitäten "integrierte" Hochschulen, an denen nicht nur die klassischen universitären Fächer studiert werden können, sondern häufig auch ein Studium der Ingenieurwissenschaften oder ein Fachhochschulstudium möglich ist. An den für viele Hochschulen zu ihrer Entlastung geschaffenen und meist an anderen Orten angesiedelten Colegios Universitarios — einer Art Studienkolleg — kann nur ein dreijähriges Grundstudium absolviert werden. Von den heute 71 Universitäten ist ungefähr die Hälfte erst in den letzten 20 Jahren gegründet worden. 21 dieser Universitäten sind privat, sieben davon kirchlich. Im Studienjahr 2004/05 waren bereits rund 10% aller Studierenden an Privatuniversitäten immatrikuliert: 134.743 zu 1.349.248. Die gewaltige Zunahme an Universitäten hat zugleich zu einer geographischen Dezentralisierung und Streuung über das ganze Land geführt. Heute gibt es nahezu keine Provinz mehr, die nicht über eine eigene Hochschule verfügt. Vor allem die neuen Universitäten versuchten, ihr Studienangebot flexibel den Bedürfnissen des Marktes anzupassen. Hierzu zählt auch die Zunahme an Hochschulabschlüssen: Gab es 1987 "nur" 50 Studiengänge, so lag deren Zahl zu Beginn des 21. Jahrhunderts bei über 160 mit stets weiter ausdifferenzierten Schwerpunkten. Diese Studienplanänderungen gehen auf die Reformen der 80er Jahre, während der Regierungszeit von Felipe Gonzälez, zurück. Obwohl damals ein Großteil der Universitätskompetenzen an die Autonomen Gemeinschaften übertragen wurde, behielt sich die Zentralregierung in Madrid gewisse Rechte vor. 1986 etwa beauftragte das Erziehungsministerium das oberste korporative Organ der spanischen Universitäten, den "Universitätsrat" (Consejo de Universidades), mit einer Reform der Studiengänge. Die aus den Reformvorschlägen hervorgegangenen Rahmenrichtlinien sahen 1987 eine Steigerung der Zahl möglicher Abschlüsse vor. Vor allem wurden zahlreiche kürzere, dreijährige Studiengänge mit spezialisierten, auf die Bedürfnisse der Arbeitswelt zugeschnittenen Ausbildungsprofilen geschaffen. In den Expansionsjahren der spanischen Universitäten stieg auch die Zahl der Hochschullehrer deutlich: Gab es 1991 (an öffentlichen Hochschulen) etwas über 53.000 Professoren, so war deren Zahl bis 2005 auf fast 90.000 gestiegen (rund 36 % davon Frauen). Noch beeindruckender ist der Anstieg der Zahl der Forscher im Verhältnis zur Bevölkerung. 1981 kamen lediglich 14 Forscher auf 10.000 Einwohner — ein in industrialisierten Staaten weit unterdurchschnittlicher Wert —, 2001 waren es schon 44. Dementsprechend stieg auch die Zahl der wissenschaftlichen Publikationen: von 4.182 (1981) auf 23.461 (1998) um weit mehr als das Fünffache. Der gewaltige Zuwachs an Studenten- und Professorenzahlen hat dazu geführt, daß auch die Bildungsinvestitionen weit überdurchschnittlich zugenommen haben. Relativ gesehen bildet Spanien allerdings (mit Ungarn und Griechenland) das Schlußlicht in Europa, was öffentliche und private Bildungsausgaben pro Student betrifft: Um die Jahrtausendwende beliefen sich diese Ausgaben auf 4.994 Dollar pro Student, weit entfernt von Schweden (13.168 Dollar), den Niederlanden (9.026 Dollar) oder Dänemark (8.157 Dollar). Setzt man die öffentlichen Bildungsausgaben für sämtliche Bildungseinrichtungen in Relation zum jeweiligen BIP, dann liegt Spanien mit 4,4% (2005) ebenfalls deutlich unter dem EU-Durchschnitt von 5%. Außerdem waren diese Ausgaben im letzten Jahrzehnt rückläufig. Greift man nur die Ausgaben für Hochschulen und Forschung heraus, dann fällt auch in diesem
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Bereich Spanien mit rund 1% bzw. 0,9% des BIP deutlich hinter den OECD-Durchschnitt zurück. Die Unterfinanzierung der Forschung, vor allem im technologischen Bereich, hat für Spanien deutlich greifbare negative Folgen: 2001 waren nur 0,59 % aller europäischen Patente spanischen Ursprungs. Das Land muß von Jahr zu Jahr mehr für Patentrechte bezahlen, die technologische Abhängigkeit vom Ausland nimmt weiter zu. Ganz offensichtlich sind Hochschule und Forschung in Spanien unterfinanziert, und das Mißverhältnis zwischen quantitativer Expansion und finanzieller Unterausstattung ist eines jener Strukturprobleme, die man mit permanenten Reformen anzugehen versuchte. Allerdings ziehen die spanischen Universitäten trotz aller Probleme und Mängel Jahr für Jahr Tausende von ausländischen Studenten an: 2003 waren 16.500 Ausländer regulär immatrikuliert, 9.000 waren in Master- oder Doktoratsstudiengängen eingeschrieben, außerdem gab es 17.800 Erasmus-Studenten (vor allem aus Italien, Spanien und Deutschland). Die Strukturen des heutigen spanischen Hochschulwesens beruhen im wesentlichen auf dem Bildungsreformgesetz von 1970 (Ley General de Educaciön, LGE) und dem von der ersten sozialistischen Regierung in großer Eile 1983 verabschiedeten Hochschulreformgesetz (Ley de Reforma Universitaria, LRU). Alle späteren Reformen des Hochschulwesens sind Entwicklungen im Rahmen der von der LRU gesetzten Vorgaben. Mit dem "Hochschulrahmengesetz" von 1983 waren praktisch alle Betroffenen unzufrieden. Unter der Maßgabe der "Autonomie" wurden sowohl den Autonomen Gemeinschaften als auch den Hochschulen selbst mehrere Kompetenzen übertragen; damit wurde zugleich der frühere, nach französischem Vorbild praktizierte Zentralismus im Hochschulwesen deutlich abgebaut. So ernannten nunmehr die Autonomien den Rektor der Universität und den Präsidenten des Sozialbeirats ( Consejo Social); letzterer sollte die Verbindung der Universität zur Gesellschaft und Arbeitswelt sicherstellen, er mußte den jeweiligen Universitätshaushalt genehmigen. Der Sozialbeirat bestand zu 60% aus Vertretern der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Das Hochschulrahmengesetz von 1983 wurde nach der Regierungsübernahme durch die Konservativen vom Hochschulgesetz von 2001 (Ley Orgänica de Universidades, LOU) abgelöst. Schon der Gesetzesentwurf provozierte massive Demonstrationen seitens der Studenten und Professoren, die in dem Projekt Privatisierungstendenzen und eine Verschiebung der universitären Entscheidungsbefugnisse zugunsten der Wirtschaft entdeckten. Zugleich wurde eine nationale "Habilitation" als zentrale Qualifikationsprüfung zur Berufung auf eine Professorenstelle eingeführt. Mit dieser Neuerung verschaffte sich der Zentralstaat wieder direkten Einfluß auf die Personalpolitik; zugleich drängte er die Kompetenzen der Autonomen Gemeinschaften weiter zurück, er beschnitt die Autonomie der Hochschulen und schränkte die studentische Mitbestimmung ein. Das Gesetz stellte private mit öffentlichen Universitäten gleich, was in der Praxis auf eine Benachteiligung staatlicher zugunsten privater und kirchlicher Hochschulen hinauslief. Sofort nach seiner Verabschiedung und Inkraftsetzung reichten im Frühjahr 2002 verschiedene Organisationen und Autonome Gemeinschaften Verfassungsklage gegen das Gesetz ein. Die seit April 2004 amtierende sozialistische Regierung Rodrfguez Zapatero kündigte eine Radikalrevision des Universitätsgesetzes an, räumte dieser Reform dann aber keine große Priorität ein. Erst im Oktober 2005 präsentierte das Bildungsministerium den Entwurf des neuen Reformgesetzes, das zahlreiche Bestimmungen (u. a. die "Habilitation")
Literatur
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der LOU wieder abschaffen und ein studentisches Vertretungsorgan (Consejo de Estudiantes) einrichten wird. Außerdem ist im Projekt die Rede von der notwendigen Anpassung an den europaweiten Bologna-Prozeß. Dem Wildwuchs an Studiengängen und Abschlüssen, der in den letzten beiden Jahrzehnten um sich gegriffen hat, soll entgegengewirkt werden, indem zahlreiche Studiengänge abgeschafft oder zusammengelegt werden. Kaum waren diese ministeriellen Pläne bekannt geworden, als dem geplanten Reformgesetz das Schicksal aller anderen, vorhergegangenen Reformgesetze widerfuhr: Massive Ablehnungsdemonstrationen von seiten der Studenten, die von der konservativen Opposition weiter angeheizt wurden, ließen den geballten Unmut der Betroffenen deutlich werden, die außerdem eine solide Finanzierung der Hochschulen einforderten. Mitte 2006 war das Gesetz noch nicht verabschiedet.
Literatur Arilla, Gonzalo: Schule und Universität in Spanien. In: Bernecker, Walther L. / Dirscherl, Klaus (Hg.): Spanien heute. Politik – Wirtschaft – Kultur. Frankfurt am Main 2004, 451-476 Ballarfn Domingo, Pilar: La educaciön de las mujeres en la Esparia contemporänea: siglos XIX–XX. Madrid 2001 Bricall, Josep Maria u. a.: Informe Universidad 2000. Barcelona 2000 Escolano Benito, Agustin: La educaciön en la Esparia contemporänea: politicas educativas, escolarizaciön y culturas pedagögicas. Madrid 2002 Goetze, Dieter: Spanien. In: Anweiler, Oskar u. a.: Bildung in Europa. Weinheim 1996, 213-230 Miclescu, Maria: Die spanische Universität in Geschichte und Gegenwart. Köln 1985 Miclescu, Maria: Die Beschäftigung der Hochschulabsolventen in Spanien. Köln 1988 Sänchez, Paul: Das Bildungswesen in Spanien. Bonn 1995
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XVII Der Arbeitsbereich: Arbeiterbewegung und Arbeitsbeziehungen
1. Die historische Arbeiterbewegung: Anarchismus und Sozialismus Als Folge der beginnenden, wenn auch regional höchst einseitigen und ungleichgewichtigen Industrialisierung erlebte die spanische Gesellschaft um die Mitte des 19. Jahrhunderts die erste bedeutende Veränderung seit Jahrhunderten. Zum damaligen Zeitpunkt gab es in Katalonien ungefähr 100.000 Textilarbeiter, die Zahl der Bergarbeiter belief sich in ganz Spanien auf rund 25.000, die der Metallarbeiter auf 12.000. Insgesamt waren in der entstehenden Industrie an die 200.000 Arbeiter beschäftigt. Bis Ende der 1860er Jahre dürfte die Zahl der katalanischen Textilarbeiter auf 130.000, in Spanien insgesamt die der Bergund Metallarbeiter auf 50.000 angewachsen sein. Von den 898.000 Beschäftigten, die 1877 im "Industrie"-Sektor tätig waren, können über 500.000 als kleine Handwerker bezeichnet werden. Ungefähr ebensoviele arbeiteten als Kleinhändler. Bis 1910 war diese Zahl auf rund 1.120.000 angestiegen. Trotz dieses deutlichen Anwachsens der industriellen Arbeiterschaft setzte die Arbeiterbewegung nicht im Industriebereich, sondern im nach wie vor deutlich dominierenden Agrarsektor ein. Hier sollte die Lehre Michail Bakunins auf besonders fruchtbaren Boden fallen. Seither läßt sich der Zusammenhang zwischen Arbeiterbewegung und Anarchismus bis zum Ende des Bürgerkrieges (1939) in der spanischen Geschichte weit deutlicher greifen als in allen anderen europäischen Gesellschaften. 70 Jahre lang stellte der Anarchismus in Spanien eine bedeutende revolutionäre Kraft dar, die im Bund mit der Gewerkschaftsbewegung eine erstaunliche organisatorische Stabilität aufwies. Von Anfang an hatte der iberische Anarchismus sozial und regional zwei Schwerpunkte: den latifundistischen Süden des Landes, in dem der andalusische Agrar- und Handwerkeranarchismus Wurzeln schlug, und den relativ industrialisierten Nordosten der Halbinsel, wo sich der katalanische Anarchosyndikalismus durchsetzte. Diese soziale (Landarbeiter-Industriearbeiter) und regionale (Andalusien-Katalonien) Differenzierung war nicht nur Anlaß für die verschiedensten Erklärungshypothesen zu den Entstehungsursachen des spanischen Anarchismus, sondern stellte die Bewegung selbst im Verlauf ihrer Geschichte wiederholt vor nahezu unlösbare strukturelle Probleme und dürfte letztlich für das Scheitern des Anarchismus und seinen Untergang als sozialrevolutionäre Kraft mitverantwortlich sein. Die unterschiedliche soziale und regionale Zusammensetzung der anarchistischen Bewegung führt auch auf die Problematik der "direkten Aktion" und der Gewaltanwendung im iberischen Anarchismus, da die Frage nach den Konstituierungsbedingungen des Anarchismus und seiner Entfaltung als Massenbewegung zugleich die Frage nach den verschiedenartigen Strategien des "libertären Sozialismus" zum Inhalt hat. Für die spanischen Anarchisten ergab sich aus dem Motto der Ersten Internationale: "Die Emanzipation der Arbeiter muß das Werk der Arbeiter selbst sein", als Folge die konsequente Ablehnung der partei- und verbandsmäßigen Einflußnahme auf politische Willens-
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bildungs- und Entscheidungsprozesse. Diese "antipolitische" Haltung hielt sie auch lange Zeit von einer Koalition mit republikanischen oder sozialistischen Parteien oder Gewerkschaften ab. An die Stelle der "politischen" setzten die Anarchisten die "direkte" Aktion, unter der sie ursprünglich die unmittelbare Auseinandersetzung der sich gegenüberstehenden gesellschaftlichen Kräfte, das Aushandeln von Kollektivverträgen, propagandistische Aktionen und Streiks verstanden. Vor allem die Streiks waren während der Existenz der spanischen Regionalföderation der Internationale (1870-1888) die bevorzugte Strategie der organisierten Arbeiterschaft. Ihr Endziel blieb aber die soziale Revolution, durch welche die bestehende Staats- und Wirtschaftsform beseitigt und die herrschaftsfreie Gesellschaft herbeigeführt werden sollte. Die auf dem zweiten Nationalkongreß der spanischen Sektion der Internationale im April 1872 ausgeschlossene Richtung der "Autoritären" organisierte in Madrid die Richtung des marxistischen Sozialismus, die 1879 zur Gründung der Sozialistischen Partei (Partido Democrätico Socialista Obrero Espatiol, seit 1888: Partido Socialista Obrero Espariol, PSOE) führte. Diese entwickelte sich anfangs, unter der Führung von Pablo Iglesias, ausgesprochen langsam, was sicherlich auch auf ihre selbstbestimmte Isolierung von den übrigen demokratischen Linksparteien zurückzuführen war. Nachdem 1887 das neue Vereinsgesetz die Bildung von Gewerkschaften ermöglicht hatte, wurde 1888 von Francisco Mora und Antonio Garcia Quejido die sozialistische Gewerkschaft "Allgemeiner Arbeiterbund" ( Uniön General de Trabajadores, UGT) ins Leben gerufen, die als Zweig des europäischen Sozialismus der Zweiten Internationale gemäßigt-reformistisch war. Bei ihrer Gründung hatte die Gewerkschaft etwas über 3.000, einige Jahre später erst 6.000 Mitglieder (Schwerpunkte: Madrid, Vizcaya, Asturien). Die von den Sozialisten errichteten "Volkshäuser" (casas del pueblo) wurden bald zu Sammel- und Mittelpunkten der in PSOE und UGT organisierten Arbeiter. Der quantitative Durchbruch gelang der Gewerkschaft allerdings erst im 20. Jahrhundert. Man kann von mindestens drei Phasen sprechen, die der spanische Sozialismus durchlief: In einer ersten Phase waren die Sozialisten vom guesdisme beeinflußt. Immer deutlicher wurde in dieser Phase (den 1880er Jahren) jedoch die mangelnde Übereinstimmung zwischen dem theoretisch-revolutionären Anspruch und der reformistischen Praxis der sozialistischen Bewegung, die seit ihrem Beginn die gewerkschaftlichen Lohnforderungen vertreten hatte. In einer zweiten Phase übten die Sozialisten Kritik an ihrer früheren Haltung und versuchten, auch mittels ihres neuen theoretischen Organs La Nueva Era, theoretischen Anspruch und praktische Politik in Übereinstimmung zu bringen. In einer dritten Phase ging es darum, eine neue theoretische Synthese zu formulieren, die jede kurzfristige Revolutionsperspektive preisgab. Die spanischen Anarchisten waren seit 1910 in der revolutionär-syndikalistischen Confederaciön Nacional del Trabajo (CNT), seit 1927 in der anarchistischen Federaciön Anarquista lberica (FAI) organisiert. Die Anfänge anarchistischer Organisation reichen allerdings in das Jahr 1868 zurück, als der Italiener Guiseppe Fanelli als Gesandter Bakunins in Spanien eintraf und die bereits in den 1840er Jahren in Katalonien gegründeten Gewerkschaften, die sich zu den sozialistischen Ideen antistaatlicher Tendenz, zur direkten Aktion als Kampfwaffe und zum Föderalismus im Sinne des von Proudhon beeinflußten Pi y Margall bekannten und Konsum- und Produktivgenossenschaften proudhonistischer Richtung ge-
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XVII Der Arbeitsbereich
gründet hatten, mit der 1864 gegründeten Internationalen Arbeiter-Assoziation (IAA) in Verbindung brachte. Bereits 1869 wurde in Madrid die Federaciön Obrera Regional Espafiola, der regionale spanische Arbeiterbund, gegründet, der sich ein Jahr später der Ersten Internationale anschloß. 1870 fand in Barcelona der erste spanische Arbeiterkongreß statt, auf dem das Programm der Juraföderation — "in der Politik anarchistisch, in der Wirtschaft kollektivistisch, in der Religion atheistisch" — angenommen wurde. Die spanische Sektion der Internationale und somit die ganze "antiautoritäre" Bewegung der Internationalisten sprach breite Arbeiterschichten an und beeinflußte bis 1939 die gesamte nationale Arbeiterbewegung. Nach der Wiederzulassung der Internationale durch die liberale Regierung Sagasta (1881) wurde die weitere Entwicklung des spanischen Anarchismus durch die vehementen Tendenzkämpfe zwischen den syndikalistisch organisierten Arbeitern Kataloniens, die den Bakuninschen Anarcho-Kollektivismus und seine Mittel (Massenbewegung, Generalstreik, Kollektivierung der Produktionsmittel, Entlohnung nach der Leistung) bevorzugten, und den andalusischen Befürwortern eines Anarcho-Kommunismus Kropotkinscher Prägung (autonome Gruppen, individuell-revolutionäre Tat, Terrorismus, Geheimgesellschaften, kein Privatbesitz an Konsumgütern, Entlohnung nach den Bedürfnissen) bestimmt. Die Auseinandersetzungen zwischen kollektivistischen Anarchisten und aufständischen Anarcho-Kommunisten endete Anfang des 20. Jahrhunderts in einem Kompromiß, der den Bakuninismus als Grundlage des Klassenkampfes und der Arbeiterorganisation und den "freiheitlichen Kommunismus" als Endziel im revolutionären Syndikalismus vereinigte. Der Überblick über die spanische Arbeiterbewegung in der Restaurationsära läßt deutlich werden, daß diese zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits die Charakteristika und Organisationsformen aufwies, die sie bis zum Ende des Bürgerkrieges beibehalten sollte. Es läßt sich von einer Art gewerkschaftlichem Dualismus sprechen. Die Arbeiterorganisationen bildeten zwei große Blöcke, deren Trennung ideologisch und geographisch klar definierbar ist. Die Sozialisten dominierten in Madrid, den Bergwerkszonen und der Schwerindustrie (Baskenland, Asturien); die Anarchosyndikalisten hatten ihr Schwergewicht in den Agrarzonen Andalusiens und im "revolutionären Dreieck" Katalonien — Zaragoza (Aragonien) — Valencia. Einige Ausnahmen zu dieser schematischen Aufteilung bestätigen diese im Grunde nur (etwa die sozialistischen Einflußbereiche im Süden, die praktisch nur Industrieenklaven waren: Rfo Tinto, Puertollano, Linares). Trotz der Bildung von Gewerkschaften und der Entstehung einer Arbeiterbewegung im modernen Sinne war diese zumindest bis 1910 äußerst schwach und schlecht organisiert. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind kaum 5 % des spanischen Proletariats gewerkschaftlich organisiert gewesen, und die industriellen Arbeitskämpfe bildeten kein politisches Problem von nationaler Tragweite. Sie blieben vielmehr isoliert und auf einige wenige Bereiche und Regionen beschränkt. Insgesamt muß man von einem Mangel an politischer und gewerkschaftlicher Mobilisierung, von einer Unterentwicklung der spanischen Arbeiterbewegung sowie, allgemein, von einer ausgesprochenen Schwäche der demokratischen Linken sprechen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts unterstützten die katalanischen Arbeiter die Republikanische Partei (Partido Republicano) von Alejandro Lerroux, die sich vorübergehend zu einer richtigen Arbeiterpartei entwickelte. Bis zum Ersten Weltkrieg praktizierten die Arbeiter eine "doppelte Loyalität". Bei Wahlen stimmten sie für Lerroux, gewerkschaftlich waren
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sie bei den Anarchosyndikalisten organisiert. In jedem Fall war ihr Einfluß im politischen Bereich eher unbedeutend. Die Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Flügeln blieben im organisierten Anarchismus auch nach 1910 bestehen. Der Kurs der CNT schwankte zwischen dem Dogmatismus der extremistischen Fraktion und dem Pragmatismus einer gemäßigten Linie um Salvador Seguf und Angel Pestafia. Ausdruck der tastenden Unsicherheit des Anarcho-Syndikalismus waren sowohl der Pakt mit der sozialistischen UGT (1917) als auch der vorübergehende Eintritt (1920/1922) in die Komintern bei gleichzeitigem Festhalten an den von Bakunin entworfenen Prinzipien. Ende 1922 trat die CNT der Internationalen ArbeiterAssoziation bei, deren explizites Ziel es war, den Klassenkampf zu verschärfen, gegen ein Übergreifen politischer Parteien auf die Gewerkschaften anzukämpfen, schließlich den Kapitalismus und den Staat zu zerstören. 1923 löste sich die CNT formal auf, um einer Zwangsauflösung durch den Diktator Miguel Primo de Rivera zuvorzukommen. Da sich innerhalb der im Untergrund operierenden CNT in den folgenden Jahren die "reformistische" Strömung durchzusetzen begann, die zum Sturz des Diktators eine Zusammenarbeit mit republikanischen Parteien befürwortete, wurde 1927 auf einem illegalen Kongreß in Valencia die Federaciön Anarquista lberica als Geheimorganisation gegründet, die ihre Aufgabe darin sah, über die Reinerhaltung der Lehre Bakunins zu wachen und zu verhindern, daß sich die Arbeiter dem Reformismus und der Kooperation mit politischen Parteien oder dem sowjetischen Kommunismus und der Lehre von der Diktatur des Proletariats zuwendeten. Eine besondere Entwicklung nahmen die Sozialisten während der Diktatur Primo de Riveras: Sie unterstützten den Diktator und wurden im Gegenzug von diesem hofiert. Unter Rückgriff auf die katholische Soziallehre nahm Primo de Rivera noch vor der Falange in den dreißiger Jahren die Verschmelzung von Nationalismus und Sozialismus vor. Der Diktator war zweifellos am Wohlergehen der Arbeiterschaft interessiert. Ihm schwebte in seiner paternalistischen Grundeinstellung eine Interessenharmonie zwischen Kapital und Arbeit vor. Die Zusammenarbeit der Sozialisten mit dem Regime erfolgte vor allem durch die paritätischen Schiedsgerichte (Comites Paritarios), die seit 1926, übrigens gegen den erklärten Willen der Unternehmer, zur Regelung von Arbeitskonflikten im Industriebereich eingerichtet wurden. UGT-Chef Largo Caballero wurde "Staatsrat" für Arbeitsfragen. In den Jahren der Diktatur sanken die sozialen Auseinandersetzungen deutlich. Hatte es 1923 noch 465 Streiks gegeben, ging diese Zahl in den Folgejahren auf durchschnittlich 100 zurück. Die Zusammenarbeit von PSOE und UGT mit der Diktatur resultierte aus der sozialistischen Überzeugung, daß nur durch eine Kooperation mit den staatlichen Instanzen die Errungenschaften der Arbeiterbewegung aufrechterhalten werden konnten. Besteiro, der seit dem Tod von Iglesias (1925) zur Symbolfigur des spanischen Sozialismus wurde, befürchtete andernfalls die Entfesselung eines Bürgerkrieges, und Largo Caballero war von den guten Absichten des Generals gegenüber der Arbeiterschaft überzeugt. Die pragmatische Haltung der Sozialisten rief zwar Widersprüche und innere Auseinandersetzungen hervor. Insgesamt gelangten sie aber in ihrer Analyse der soziopolitischen Situation zu dem Ergebnis, daß die Diktatur die einzige Lösung darstelle, um den sozialen Spannungen der vorhergehenden Epoche ein Ende zu bereiten und einer starken Bourgeoisie zur Konsolidierung zu verhelfen, die die Unterentwicklung und den Archaismus der sozialen und poli-
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XVII Der Arbeitsbereich
tischen Strukturen überwand und dadurch auch die Situation der Arbeiterschaft in Stadt und Land verbesserte. Die enge Zusammenarbeit zwischen dem organisierten Sozialismus und der Diktatur schlug sich aber nicht in einer deutlichen Zunahme der Mitgliederzahlen nieder. Diese erlebten keine großen Änderungen, so daß insgesamt eher von einer Stabilisierung gesprochen werden kann. Hatte der PSOE 1926, nach dem Mitgliederschwund der Nachkriegsjahre, 8.561 Mitglieder, so 1929 immer noch nur 10.528. Der eigentliche Aufschwung in Partei und Gewerkschaft erfolgte erst nach Primo de Riveras Rücktritt und dann vor allem zu Beginn der Zweiten Republik (1930 hatte der PSOE 18.207, ein Jahr später 67.336 und 1932 schon 75.133 Mitglieder), wobei der spektakuläre Anstieg der UGT von 277.011 (1930) auf 958.451 Mitglieder (1931) primär auf die Gründung der sozialistischen Landarbeitergewerkschaft Federaciön Nacional de Trabajadores de la Tierra (FNTT) zurückzuführen ist, die 42% der Mitgliedschaft umfaßte. Der PSOE beteiligte sich nicht an den Verschwörungen gegen die Diktatur. Im Gegenteil: Der Kongreß von 1928 lehnte eindeutig einen Antrag von Indalecio Prieto und anderen ab, die "Kollaboration" mit dem Regime zu beenden und sich den Republikanern anzunähern. Erst 1929 distanzierten sich die Sozialisten von der Diktatur. Sie weigerten sich, an der "Beratenden Versammlung" (Asamblea Consultiva) teilzunehmen, mit der Primo de Rivera seinem Regime seit 1926 eine repräsentative Fassade geben wollte. Auch nach ihrer Distanzierung von der Diktatur blieben PSOE und UGT allerdings vorsichtig. Der republikanischen Verschwörung schlossen sie sich erst spät, im Oktober 1930, an. Die Anarcho-Syndikalisten erlebten den Beginn der Republik unter ganz anderen Verhältnissen. Die verschiedenen Tendenzen innerhalb der CNT führten zu Beginn der Zweiten Republik zur Spaltung der anarcho-syndikalistischen Gewerkschaft. 1931 verkündete die rein syndikalistische Richtung ein Maneesto de los Treinta genanntes Programm — deren Anhänger daraufhin Treintistas genannt wurden —, das sich gegen die angeblich drohende Vorherrschaft der minoritären FAI in der Gewerkschaftsbewegung auflehnte und die Unabhängigkeit des Syndikalismus und seinen Anspruch, sich selbst zu genügen, bestärkte. Eine Anzahl von Einzelsyndikaten, die einen gewissen Grad an Mitarbeit in der gegebenen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung vertrat, verließ unter der Führung von Angel Pestafia die Dachorganisation CNT und gründete die "Oppositionssyndikate". Als 1931 die Monarchie zusammenbrach, harrten die "klassischen" Probleme Spaniens dringender denn je einer Lösung. Die Hoffnungen, die in die Republik gesetzt wurden, waren derart überzogen, daß die Diskrepanz zwischen Zielvorstellungen und konkret Realisierbarem zwangsläufig zu Enttäuschungen führen mußte. Die Sozialisten interpretierten den Regime-Übergang als "bürgerliche Revolution", in der liberal-republikanische Parteien die politische Führung zu übernehmen hätten und der PSOE sie dabei unterstützen müsse. Bald nach 1931 kam es in der republikanisch-sozialistischen Koalitionsregierung zu erheblichen Meinungsverschiedenheiten und in deren Gefolge zu Flügelbildungen innerhalb des PSOE, die bis 1939 und darüber hinaus unvermindert fortbestanden. Im Gegensatz zu den Sozialisten betrachteten die Anarchisten die Republik von Anfang an mit Skepsis. Die Federaciön Anarquista IMrica drängte zur sofortigen Revolution, die Gewerkschaft CNT war hinsichtlich des einzuschlagenden Kurses uneinig. Die von Anarchisten ausgerufenen Streiks und mehrere Aufstände wurden von den Behörden mit äußerster Härte niederge-
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schlagen; von Anfang an wurde damit deutlich, daß die Republik ihre wohl härteste Bewährungsprobe im Sozialbereich würde bestehen müssen.
2. Staatssyndikalismus und oppositionelle Arbeiterschaft im Franquismus War die geschichtliche Phase der II. Republik durch intensive Spannungen und offene Konflikte gekennzeichnet, so waren unter dem Franquismus nationale Einheit und soziopolitische Eintracht die dominierenden Leitideen. Die rigiden zentralistischen Strukturen, welche das politische System des Franquismus prägten, konnten allerdings nicht verhindern, daß sich in jenen gesellschaftlichen Bereichen, die von den politischen Zwangsmechanismen nicht vollständig erfaßt wurden, die bestehende Pluralität nicht nur erhielt und weiterentwickelte, sondern auch immer deutlicher manifestierte. Die Arbeiterbewegung gehört zu diesen Erscheinungen. Die franquistische Politik verfolgte nach 1939 auf dem Arbeitssektor zwei Ziele: Zum einen ging es darum, die bisherigen Interessenvertretungen der Arbeiterschaft zu verbieten und erforderlichenfalls gewaltsam zu zerstören, zum anderen sollten alle "Produzenten" verpflichtet werden, den neuen Staatssyndikaten beizutreten. Repression der Klassenorganisationen und Integration in die korporativistischen Gremien waren die Leitideen dieser neuen Politik, die sich noch während des Bürgerkrieges in einer intensiven Gesetzgebungstätigkeit niederschlug. Bereits am 13. September 1936 verfügte der "Nationale Verteidigungsrat" in Burgos das Verbot der Volksfrontparteien sowie aller Organisationen, die der "Nationalen Bewegung" Widerstand leisteten, und beschlagnahmte deren Güter. Es wurde eine Verordnung erlassen, die alle unter das Verbots- und Beschlagnahmedekret fallenden Organisationen aufzählte. Durch diese Maßnahmen waren bereits wenige Monate nach Kriegsbeginn die Arbeiter in allen von den Nationalisten eroberten Gebieten ihrer Interessenvertretungen beraubt. Neben die Zerstörung der alten sollte der Aufbau einer neuen "Gewerkschaft" treten, deren Leitung von Anfang an die Falangisten zu okkupieren trachteten, die auch mit Recht darauf verwiesen, daß die ideologische Grundlage des vertikalen Syndikalismus schon lange vor dem Bürgerkrieg von Jos Antonio Primo de Rivera entwickelt worden war. Der Falange-Gründer hatte bereits 1935 gefordert, daß die Gewerkschaften zu geschlossenen, vertikalen Syndikaten werden sollten, denen alle in dem jeweiligen Produktionszweig wirtschaftlich Tätigen angehören müßten. In den Falange-Statuten vom 4. August 1937 wurde festgehalten, daß die Führung der "Syndikatsorganisationen" nur aus der "Bewegung", d.h. aus der Falange kommen dürfe. Die Struktur der Syndikate müsse "vertikal und hierarchisch" sein. Das ideologisch-programmatisch wichtigste Gesetz auf dem Arbeitssektor war das am 9. März 1938 erlassene "Grundgesetz der Arbeit", das Fuero del Trabajo, das die wirtschaftlichen Ordnungsvorstellungen des nationalsyndikalistischen Staates fixierte, zahlreiche sozialpolitische Maßnahmen ankündigte und zur Leitlinie der gesamten weiteren Arbeitsgesetzgebung des Franquismus wurde. Fast zwanzig Jahre lang blieb das Gesetz unverändert Grundlage aller arbeitsrechtlichen Bestimmungen; es wurde erst durch das "Organische Staatsgesetz" vom 11. Januar 1967 den inzwischen wesentlich veränderten Verhältnissen des Wirtschafts- und Sozialbereichs angepaßt.
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XVII Der Arbeitsbereich
Das Syndikatswesen wies zwei Stränge auf: die "politische oder Befehlslinie" und die "repräsentative oder sozialökonomische Linie". Während erstere von Anfang an konstitutiver Bestandteil des neuen Syndikalismus war, dauerte es mehrere Jahre, bis die "repräsentative" Linie eingerichtet wurde. Erst als sich seit der Schlacht von Stalingrad eine Niederlage der Achsenmächte im Krieg abzeichnete, versuchte die spanische Führung — mit Blick auf das demokratische Ausland sowie als Versuch, die faschistische Herkunft zu vertuschen —, sich einen Anschein "syndikalistischer Demokratisierung" zu geben. Ein Dekret von 1943 stellte "Normen zur Besetzung von Hierarchien", d.h. Regeln für die Wahl der Posten in den Syndikaten auf; die Wahl zu einzelnen Syndikatsämtern blieb allerdings auch fortan praktisch auf Falangisten beschränkt. Ebenso zögernd ging die "Demokratisierung" des Betriebes voran. Neben die "syndikalen Verbindungsleute" (enlaces) traten seit 1947 sog. Betriebsausschüsse, die zur Harmonisierung verschiedenartiger Interessen beitragen sollten. In den ersten zehn Jahren ihres Bestehens spielten diese jurados de empresa keine besondere Rolle. Für die spanische Arbeiterbewegung wichtiger als das gesetzliche Verbot sämtlicher Organisationen des republikanischen Lagers war deren faktische Verfolgung und Zerschlagung. Unter der massiven Repression des Regimes hatten vor allem die Kommunistische Partei (PCE), die sozialistischen Organisationen (PSOE/UGT) und die anarchosyndikalistische Gewerkschaft (CNT) zu leiden. Zwar waren deren wichtigste Vertreter bei Kriegsende nach Frankreich geflohen; die große Masse der Anhängerschaft jedoch mußte im Land bleiben und sah sich den vielfältigsten Formen der Unterdrückung ausgesetzt. Bis zum Bürgerkrieg waren es eher die Gewerkschaften als die Parteien gewesen, die die Entwicklung der spanischen Arbeiterbewegung besonders beeinflußt hatten, und hier wiederum war das langwährende Übergewicht der Anarchosyndikalisten das besondere Merkmal der sozialen Bewegung in Spanien gewesen. Daß die heutige soziale Realität des Landes sich grundsätzlich von der Situation unterscheidet, die über Jahrzehnte hinweg ohne große Veränderungen bis zum Bürgerkrieg vorherrschte, ist auf die wirtschaftlichen Veränderungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückzuführen. Dominierten bis in die 1930er Jahre Strukturen eines fast noch in mittelalterlichen Traditionen verhafteten halbfeudalen Agrarlandes, in dem die Industrie nur schwach entwickelt und außerdem von ausländischem Kapital beherrscht war, so gehört das Land heute in vielerlei Hinsicht zum Kreis der Industrienationen. Der späte Übergang vom Agrar- zum Industriestaat machte sich erst rund 20 Jahre nach dem Bürgerkrieg bemerkbar. Die "große Wende" trat 1959 im Gefolge des Stabilisierungsplans und der deutlichen Abwendung von der autarkischen Wirtschaftspolitik ein. Das international abgestützte Sanierungsprogramm führte zur Drosselung der Inflation, zur Lockerung der Devisenbewirtschaftung, zur Öffnung des Landes. Die marktwirtschaftliche Neuorientierung der spanischen Wirtschaftspolitik hatte das "Wirtschaftswunder" der 1960er Jahre zur Folge. Diese wirtschaftlichen Veränderungen schlugen sich deutlich auf die Sozialstruktur des Landes nieder. Die sektorale Veränderung der erwerbstätigen Bevölkerung jener Jahre ist einzigartig in der spanischen Geschichte und sprengt alle Vergleiche. Die Entwicklung der Arbeiterschaft und der allmähliche Wiederaufstieg einer Arbeiterbewegung sind auf dem Hintergrund dieser strukturellen und demographischen Veränderungen zu betrachten.
Staatssyndikalismus und Arbeiterschaft im Franquismus
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Aus den illegalen Arbeitskämpfen seit Ende der 1950er Jahre ging eine neue und authentische Form der Interessenvertretung der Arbeiterschaft hervor: die Arbeiterkommissionen (Comisiones Obreras, CCOO). Diese breiteten sich in der ersten Hälfte der 1960er Jahre über das ganze Land aus. Ihre Stärke lag zweifellos darin (mit-)begründet, daß sie Arbeiter sämtlicher ideologischer Richtungen vereinigten. Neben den Kommunisten bildeten linkskatholische Strömungen den größten Anteil in den CCOO; viele ihrer Treffen fanden auch in Kirchen und Klöstern statt. Schon bald zog das Industriemanagement bei Streiks die Kommissionen den offiziellen Syndikatsvertretern vor, da die mit den CCOO abgeschlossenen Abkommen von der Arbeiterbasis weit besser eingehalten wurden. Die Regierung ihrerseits tolerierte anfangs die Kommissionen, da sie hoffte, über die Mitarbeit der anerkannten Führer der Arbeiterbewegung die traditionelle Gegnerschaft der Arbeiter gegenüber dem Regime überwinden und die CCOO als Instrumente systemkonformer Konfliktregelung benutzen zu können. Die regierungsamtliche Tolerierungspolitik fand jedoch in dem Augenblick ein Ende, als sich die Arbeiterkommissionen überregional und auf Branchenebenen zu organisieren begannen und dazu übergingen, in ihren Programmen nicht mehr nur ökonomische und soziale, sondern auch politische Forderungen wie Gewerkschaftsfreiheit, Amnestie oder Streikrecht zu artikulieren. 1967 schließlich wurden die Arbeiterkommissionen verboten, ihre Mitglieder diskriminiert oder ins Gefängnis geworfen. Damit wurde diese neue "soziopolitische" Bewegung gegen ihren Willen in den Untergrund gedrängt, von wo aus sie in den letzten Jahren des Franquismus allerdings stetig an Bedeutung zunahm, so daß sie im Übergang von der Diktatur zur Demokratie eine entscheidende Rolle spielen konnte. Bis ungefähr 1950 stellte für große Teile der Linken ihr andauernder Kampf gegen das Regime nichts anderes als eine Fortführung des Bürgerkrieges mit veränderten Mitteln dar; erst die Einstellung des ergebnislosen Guerrillakampfes ließ deutlich werden, daß die Arbeiterschaft nicht nur einen Krieg, sondern außerdem ihre Gewerkschaften und Parteien und vor allem ihre Moral verloren hatte. Insbesondere dieser Mangel an Glauben an die eigene Sache vermag das Ausbleiben eines breiten Volkswiderstandes nach dem Zusammenbruch der republikanischen Front zu erklären. Zumindest teilweise ist das Verhalten der spanischen Linken auf die (im spanischen Fall schon traditionelle) Theoriearmut der marxistischen Parteien zurückzuführen, die wiederum beim Partido Comunista de Esparia (PCE) in beträchtlichem Umfang aus seiner Abhängigkeit von exogenen Anweisungen und Interpretationsmustern resultierte sowie jegliche kritische Überprüfung der Bürgerkriegspolitik und eine Realanalyse des Franquismus lange Zeit erschwerte. Eine kritische Überprüfung der inzwischen zum Mythos avancierten Linie des PCE zwischen 1936 und 1939 — das Bündnis mit dem Kleinbürgertum und den Mittelschichten, der Wiederaufbau des republikanischen Staatsapparats, die bürokratisch-stalinistischen Methoden den übrigen Linkskräften gegenüber — hätte nämlich die als einzig richtig interpretierte kommunistische Strategie (während des Krieges und danach) in Frage stellen müssen. Das Ergebnis dieser fehlenden Eigenkritik und ideologisch-programmatischen Erneuerung sowie des Beharrens auf einer unangemessenen Sicht der sozialpolitischen Realität Spaniens nach 1939 war eine weitgehend fehlorientierte Politik ohne reale Perspektiven,
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die nach vielen erfolglosen Ansätzen in einer Sackgasse endete. Die Fehlanalyse des Franquismus hatte nicht nur den ruhmlosen Niedergang des Guerrillakampfes zur Folge. Im Grunde genommen blieb der PCE – von gewissen zeitbedingten Anpassungen abgesehen – während der gesamten Ära des Franquismus bei seiner subjektivistischen Interpretation, schätzte seine eigenen Möglichkeiten und Kräfte falsch ein, unterschätzte die Stärke des Regimes, achtete den internationalen Kontext (Aufschwung des Kapitalismus in den 1950er Jahren, Kalter Krieg) zu gering und schrieb der Arbeiterbewegung ein politisches und organisatorisches Niveau zu, das diese bei weitem nicht hatte. Als Fernando Claudfn und andere eine neue Strategie durchsetzen wollten, kostete sie das noch Mitte der 1960er Jahre ihre Parteiämter. Was der PCE allmählich änderte, war seine Taktik. Nach 1948 ließ er das Konzept des Guerrillakampfes und bewaffneten Aufstandes fallen und trat für eine partielle Mitarbeit in bestehenden Staatsinstitutionen – etwa den vertikalen Syndikaten – ein, um auf diese Weise den "langen Marsch durch die Institutionen" anzutreten und das System von innen her aufzuweichen. Die in den 1950er Jahren angewandten Taktiken des Politischen Generalstreiks und des Friedlichen Nationalstreiks belegen die Fortdauer der grundsätzlichen PCE-Interpretation der spanischen Situation: Die Kommunisten gingen davon aus, daß an diesen (schließlich jedoch gescheiterten) Streikaktionen die breite Masse der Bevölkerung – einschließlich der "nichtmonopolistischen Bourgeoisie" – teilnehmen würde, da ja das Regime lediglich vom monopolistischen Finanzkapital und den oligarchischen Großgrundbesitzern getragen werde. Nach dem Scheitern dieser Aktionen propagierte der PCE den interklassistischen Pakt für die Freiheit als Übereinkommen aller – auch der "neokapitalistischen" – antifranquistischen Kräfte, denen der Franquismus keine ausreichenden (wirtschaftlichen oder politischen) Entfaltungsmöglichkeiten mehr bot. Noch kläglicher als die kommunistische sah die Franquismus-"Analyse" der Sozialisten aus: Der Partido Socialista Obrero Espafzol hatte infolge interner Divergenzen bei Kriegsende die Hegemonie im republikanischen Lager längst an die Kommunisten abtreten müssen. 1939 emigrierte die Parteiführung, die organisatorischen Reste im Landesinneren fielen zusehends auseinander. Die Exilführung in Toulouse verlor sehr bald den nötigen Kontakt zur soziopolitischen Realität in Spanien, konnte sich nicht flexibel und schnell genug auf neue Situationen einstellen und traf gravierende Fehlentscheidungen, die auf mangelnden Überblick und fehlende Informationen zurückzuführen waren. Außerdem lehnten die Toulouse-Sozialisten entschieden jeden Kontakt mit Kommunisten ab, während die Gewerkschafter im Landesinneren für eine breite Allianz aller antifranquistischen Kräfte eintraten. Der gemäßigte Flügel unter Rodolfo Llopis konnte schließlich die Kontrolle über den Parteiapparat erringen und erlegte dem PSOE eine quietistische Strategie auf, derzufolge der Sturz des Franco-Regimes weniger durch einen breiten Volksaufstand als vielmehr durch das Eingreifen der Alliierten herbeigeführt werden sollte. Während aber die Kommunisten weiterhin Strategien entwarfen, ihre Politik änderten und auf den verschiedensten Ebenen unermüdlich tätig waren, führte die Verunsicherung bei den Sozialisten zu Orientierungslosigkeit und Lähmung; nach wie vor setzten sie – ebenso wie die Republikaner – ihre Hoffnungen auf die spanischen Exilregierungen und erwarteten bessere Zeiten. Die Position von PSOE und UGT im Gesamtspektrum der antifranquistischen Opposition verkümmerte in
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den 1950er Jahren und ließ den sozialistischen Einfluß auf die innerspanische Arbeiterschaft weiter abnehmen. Die Entwicklung schließlich der anarchistischen Bewegung und deren Einschätzung der sozialen Situation Spaniens ist der der Sozialisten weitgehend vergleichbar. Bis 1945 wurden im Landesinneren zehn Nationalkomitees der CNT zerschlagen, bis 1949 waren es 16. An den Guerrillaaktionen jener Jahre waren die Anarchosyndikalisten führend beteiligt. Den wesentlichen Impuls zum Sturz des Franco-Regimes erwarteten aber auch sie von den Alliierten. Als deren Unterstützung ausblieb, die Guerrillataktik sich als ein Fehlschlag erwies und außerdem ideologische Probleme zwischen Exilführung und den Mitgliedern im Landesinneren auftraten, begann der eigentliche Niedergang der Anarchosyndikalisten. Und als 1945 zwei Anarchosyndikalisten in die Exilregierung Giral eintraten, spaltete sich über dieser Frage außerdem die libertäre Bewegung in einen "politischen" und einen "apolitischen" Flügel. In den 1950er Jahren erhielt die CNT im Landesinneren kaum mehr Unterstützung von außen; ihre Strukturen wurden nahezu vollends zerschlagen. Die neue Arbeitergeneration, die den Bürgerkrieg nur als Kinder miterlebt hatte, kannte die anarchosyndikalistische Gewerkschaft allenfalls vom Hörensagen. Der direkte Kampf gegen die Diktatur mit dem Ziel, Franco zu stürzen, ließ in jenen Jahren deutlich nach. Bereits 1949/50 wurde der Guerrillakampf im wesentlichen eingestellt; der von libertärer Seite sporadisch fortgesetzte Kleinkrieg fand um 1960, nachdem die letzten Symbolfiguren des bewaffneten Widerstandes hingerichtet worden waren, ein Ende. In den Jahren zuvor hatten sich immer mehr Anarchisten – enttäuscht von den internen Streitigkeiten, von der Erfolglosigkeit ihrer Anstrengungen, zermürbt von jahrelanger Untergrundtätigkeit und Gefängnishaft – vom bewaffneten Kampf gegen den Franquismus zurückgezogen.
3. Die Arbeiterbewegung in der Transition Als in den 1970er Jahren das Franco-Regime in der Agonie lag und in allen oppositionellen Kreisen Spaniens bereits über den Nach-Franquismus diskutiert wurde, forderten die damals illegalen Gewerkschaften im Untergrund die Bildung einer "einheitlichen Gewerkschaftsorganisation", die nach dem Ableben des Diktators die Interessen der Arbeiterschaft vertreten sollte. Bereits wenige Jahre nach Francos Tod erschien der Plan einer Einheitsgewerkschaft unrealisierbar. Inzwischen hatte sich in Spanien vielmehr eine Gewerkschaftsstruktur herausgebildet, die in mancherlei Hinsicht der Situation in den romanischen Ländern Frankreich und Italien vergleichbar war. Außerdem schienen die spanischen Traditionen einer über hundertjährigen Geschichte der Arbeiterbewegung wieder aufgegriffen worden zu sein: Politische Richtungsgewerkschaften, die im wesentlichen als Industrieverbände organisiert sind, vertreten die Position der Arbeiter. Bei näherem Zusehen werden allerdings die Unterschiede zur "traditionellen" Orientierung der spanischen Arbeiterbewegung deutlich: Stritten bis 1939 primär Anarchisten und Sozialisten um die Gunst der Arbeiter, so waren es nach dem Bürgerkrieg vor allem Sozialisten und Kommunisten. Die Chance zur Errichtung einer mächtigen Einheitsgewerkschaft wurde nicht wahrgenommen, die parteipolitische und gewerkschaftliche Spaltung der Arbeiterschaft ist
382
XVII Der Arbeitsbereich
erhalten geblieben, wenn auch die ideologische Trennungslinie anders verläuft als vor dem Bürgerkrieg. Die nach dem Tode Francos einsetzende Reform läßt sich auf arbeitsrechtlichem Gebiet in zwei Phasen unterteilen: Die erste reicht von November 1975 bis Juni 1977 und umfaßt vor allem die Einführung der Gewerkschaftsfreiheit bei gleichzeitiger Abschaffung des vertikalen Syndikalismus; die zweite geht bis März 1980 und endet mit dem Erlaß des "Arbeiterstatuts", das die franquistische Arbeitsgesetzgebung endgültig überwand. Dabei stellte für die von den Kabinetten Arias/Fraga und Suärez im Jahre 1976 beabsichtigte Reform das Vorhandensein der staatlichen Zwangssyndikate und deren Verquickung mit den politischen Repräsentationskörperschaften durch das verfassungsrechtlich abgesicherte System der "organischen Demokratie" ein rechtliches, wegen des Gewichts der großen Organisation aber auch ein politisches Problem dar, das äußerst behutsam angegangen werden mußte. Vorerst versuchte das syndikalistische Reformprogramm der Regierung, den Vertikalismus durch Korrekturen den veränderten Gegebenheiten anzupassen, ohne ihn ganz aufzugeben. Der erste Syndikatsminister der Monarchie, Rodolfo Martfn Villa, legte das reformistische Gewerkschaftsprogramm der Regierung Arias Navarro dar: Oberstes Ziel war die Erhaltung der "Einheit"; nur innerhalb dieser staatlich gezogenen Grenze sollte der "Pluralismus der verschiedenen Bewegungen in der Arbeiterschaft" zum Tragen kommen. Ein gewerkschaftlicher "Bruch" dürfe nicht stattfinden; jede Änderung müsse "aus der Rechtmäßigkeit, der Legalität und den Institutionen des Systems heraus" erfolgen. Wenige Monate später – im Juni 1976 – gab allerdings der "syndikalistische Bunker", von dem die größten Widerstände gegen eine Liberalisierung der Strukturen erwartet worden waren, überraschend deutlich grünes Licht für grundsätzliche Reformen. Der neue Syndikatsminister der Regierung Suärez, Enrique de la Mata, nahm inoffiziell Gespräche mit der (nach wie vor illegalen) "Gewerkschaftsopposition" – wie CCOO, UGT und USO allgemein genannt wurden – auf und ließ deutlich werden, daß das Ergebnis der Reformen die Institutionalisierung der Gewerkschaftsfreiheit sein würde. Auch Adolfo Suärez hatte schon Mitte Juli 1976 in seiner Regierungserklärung diese Reformabsicht bekanntgegeben. Die nun einsetzende Diskussion drehte sich sehr bald um zwei zentrale Aspekte des Übergangs vom Syndikalismus zur Gewerkschaftsfreiheit: Es ging um die Frage, was aus den ungefähr 40 Milliarden Peseten des Syndikatsvermögens und den ca. 32.000 Funktionären des vertikalistischen Apparats werden sollte. Die Lösung bestand in der Schaffung eines "autonomen Organs", der Administraciön Institucional de Servicios Socioprofesionales (AISS), das als Anstalt des öffentlichen Rechts die gesamte Syndikatsbürokratie übernahm und insofern die Auflösung der bisherigen Syndikatsorganisation einleitete, als es deren eigentlich "gewerkschaftliche" Aufgaben von den bis dahin in großem Umfang (und nicht ohne soziales Verdienst) betriebenen Sozialeinrichtungen trennte. Das Gesetzesdekret vom 4. März 1977 regelte den künftigen Wirkungsbereich freier Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen im Hinblick auf Arbeitskonflikte, Kollektivverträge, Entlassungsmöglichkeiten, Aussperrung und Streik. Vor allem der Streik wurde neu geregelt, nachdem das Gesetzesdekret vom 22. Mai 1975 – den damaligen ideologischen Linien des Regimes folgend – es vermieden hatte, den Streik als allgemeines subjektives Recht anzuerkennen.
Gewerkschaften und Arbeiterschaft in der Demokratie
383
Parallel zur Diskussion des Gesetzesdekrets über Arbeitsbeziehungen wurde in der zuständigen Cortes-Kommission ausführlich ein neues Gesetz über gewerkschaftliche Vereinigungsfreiheit beraten. Am 30. März 1977 verabschiedeten die Cortes schließlich mit 320 gegen 41 Stimmen (bei 41 Enthaltungen) das Gesetz über die Vereinigungsfreiheit im Gewerkschaftsbereich. Es rief zwar weiterhin durch gewisse restriktive Möglichkeiten, z.B. die Vorschrift, daß gewerkschaftliche Vereinigungen "nach Wirtschaftszweigen" zu bilden seien, Kritik hervor, führte jedoch in der Folge zur Legalisierung der bestehenden illegalen Gewerkschaften. Der vorletzte Schritt in diesem Prozeß wurde drei Wochen später getan: Am 22. April 1977 billigte der Ministerrat ein Dekret über die Regelung der Hinterlegung von Statuten gewerkschaftlicher Zusammenschlüsse, das am 28. April 1977 in Kraft trat. Auf Grund dieses Dekretes konnten nunmehr alle gewerkschaftlichen Zusammenschlüsse, vor allem die bisher mehr oder minder im Untergrund arbeitenden, sich beim zuständigen Ministerium durch Hinterlegung ihrer Statuten legalisieren lassen. Noch am 28. April erlangten CCOO, UGT und USO sowie (auf regionaler Ebene) SOC und ELA-STV ihre Legalisierung. Der Staatsanzeiger vom 2. Mai 1977 veröffentlichte eine Liste von bereits 180 Gewerkschaftsund Unternehmervereinigungen, die in den vorhergegangenen Tagen ihre Statuten hinterlegt hatten. Schließlich zog ein Erlaß vom 2. Juni 1977 aus der Zulassung der positiven Vereinigungsfreiheit im Gewerkschaftsbereich die Konsequenz und hob die bis dahin vorgeschriebene Zugehörigkeit zur Syndikatsorganisation auf. Die Verpflichtung zur Zahlung der "Syndikatsquote" fiel zum 1. Juli 1977 fort. Damit war der vertikale Syndikalismus endgültig überwunden. Die neue demokratische Verfassung Spaniens vom Dezember 1978 garantiert die Gewerkschaftsfreiheit.
4. Gewerkschaften und Arbeiterschaft in der Demokratie Die Entwicklung der Gewerkschaftsbewegung in den ersten anderthalb Jahren nach Francos Tod läßt zweierlei deutlich werden. a) Die Interessenvertretungen der Arbeiterschaft gelangten zu keiner dauerhaften Zusammenarbeit, die über vorübergehende taktische Allianzen hinausgegangen wäre; das bei allen Gewerkschaften allzu sehr strapazierte Thema der Gewerkschaftseinheit degenerierte sehr bald zu floskelhaften Deklamationen. Weit mehr als die Gemeinsamkeiten traten immer deutlicher die Unterschiede in den Vordergrund. b) Gegenüber der vorerst reformunwilligen Regierung traten die Gewerkschaften allerdings durchaus geschlossen auf und forcierten durch vielfältigen Basisdruck den Demokratisierungsprozeß. Die Aktionen der Arbeiter erreichten eine derartige Durchschlagskraft, daß zweifelsfrei behauptet werden kann, daß die Geschwindigkeit des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie nur aus der sich ergänzenden Dynamik von Veränderungsdruck (von unten) und dadurch beschleunigtem Reformwillen (von oben) zu erklären ist. Ohne die massiven Pressionen durch die Basis wäre der rasche politische Wandel nach Francos Tod nicht erfolgt. Bis Mitte 1977 verfolgte die Gewerkschaftsstrategie primär politische Ziel-
384
XVII Der Arbeitsbereich
setzungen: Abschaffung des autoritären und Erringung eines demokratischen Systems. Politisch motivierte Streiks und Massendemonstrationen waren in dieser Phase der transiciön weit häufiger als ökonomisch bedingte. Nachdem jedoch der inhaltliche Bruch mit dem Franquismus erfolgt war und die ersten freien Parlamentswahlen im Juni 1977 stattgefunden hatten, konnten sich die (eben erst legalisierten) Gewerkschaften deutlicher als vorher darauf konzentrieren, in ihrer Funktion als Repräsentanten der Arbeiterschaft deren soziale und ökonomische Interessen zu vertreten. War von der Arbeiterschaft zur Herbeizwingung politischer Reformen bis dahin im wesentlichen eine Konfrontationsstrategie angewandt worden, die sich zumeist (aus dem Franquismus ererbter) antikapitalistischer Rhetorik bediente, so sollte die zweite Phase des Demokratisierungsprozesses durch konzertierte Sozialpakte abgesichert werden. Der erste dieser Pakte war der zwischen Regierung und Parteien im Oktober 1977 abgeschlossene "Pakt von Moncloa", der sowohl wirtschaftliche Modernisierungsmaßnahmen als auch politisch-strukturelle Reformen (Steuer- und Agrarreform, Neuformulierung der Bildungs- und Erziehungspolitik etc.) vorsah. Die Wirkungen des Moncloa-Paktes waren eher politischer als sozioökonomischer Natur, da die strukturellen Wirtschaftsmaßnahmen zwar weitgehend unterblieben, die politisch-programmatischen Punkte aber ihren Niederschlag in der Verfassung von 1978 fanden. Bedeutsam war der Pakt auch deshalb, weil er die gewerkschaftliche Ablehnung einer Politik der "Sozialpakte" beendete und den Übergang zu einer neuen Phase im Verhältnis der Tarifpartner markierte. Das deutlichste Beispiel dieser neuen, vor allem bei der sozialistischen Gewerkschaft feststellbaren "kooperativen" Haltung ist das Arbeiterstatut von 1980 (eine Art Betriebsverfassungsgesetz), an dessen parlamentarischer Beratung die UGT maßgeblich beteiligt war. Die Strategie der kommunistischen CCOO ging von anderen Bedingungen aus: Parlamentarisch nur schwach durch die Kommunistische Partei (PCE) vertreten, versuchten sie, ihre dominierende Rolle im Arbeitsbereich durch Streikdrohungen und Mobilisierungen wirksam werden zu lassen. Um diese Strategie glaubwürdig vertreten zu können, mußten die kommunistischen Abgeordneten das Arbeiterstatut im Parlament ablehnen. Die unterschiedliche Strategie von CCOO bzw. UGT manifestierte sich nicht nur in ihrer Haltung zu den "normativen" Texten (Moncloa-Pakt, Verfassung, Arbeiterstatut), sondern auch und insbesondere in der Verhandlungspraxis mit der Unternehmerseite (und der Regierung). Seit 1978 praktizierte die UGT nämlich eine Politik der Sozialpakte und Wirtschaftsabsprachen, die zumeist die Opposition der CCOO hervorriefen und die unterschiedlichen Strategien von UGT bzw. CCOO festigten. 1979 schloß die UGT mit dem Unternehmerverband (Confederaciön Espatiola de Organizaciones Empresariales, CEOE) ein "Grundsatzabkommen" über Tarifverhandlungen, 1980 ein "Rahmenabkommen", 1981 ein erneutes "Grundsatzabkommen" und (zusammen mit den Arbeiterkommissionen und der Regierung) ein "Nationales Beschäftigungsabkommen", 1983 ein Tarifabkommen, 1984 das "Wirtschaftsund Sozialabkommen", an dem sich auch die Regierung und die Vereinigung der Mittelund Kleinunternehmer beteiligten. Die Rivalität zwischen den beiden großen Gewerkschaften — die zahlreichen anderen und z.T. (vor allem regional, etwa im Baskenland) durchaus bedeutsamen Gewerkschaften bleiben unberücksichtigt — machte sich nicht nur bei Tarifverhandlungen oder den divergierenden Strategiekonzepten, sondern vor allem bei Betriebsratswahlen feststellbar. Deren
Gewerkschaften und Arbeiterschaft in der Demokratie
385
Ergebnisse ließen einen bedeutsamen Trend erkennen: Während 1978, bei den ersten Wahlen, die CCOO mit 34,45 % klar vor der UGT (21,69 %) lagen, bedeuteten die Wahlen von 1980 schon ein Kopf-an-Kopf-Rennen beider Gewerkschaften (CCOO: 30,86%; UGT: 29,27%); im Jahr 1982 schließlich überrundete die UGT mit 36,71 % ihre Konkurrentin CCOO (33,40 %) deutlich. Für die Wahlen von 1978 dürfte gelten, daß der CCOO-Sieg auf die jahrzehntelange Verankerung dieser Gewerkschaft in der Arbeiterschaft zurückzuführen war und die "neue" UGT noch keine ernsthafte Konkurrenz darstellte. In den beiden folgenden Wahlen hatte sich die UGT organisatorisch konsolidiert und zwischenzeitlich ein eindeutiges Eigenprofil gewonnen. Vor allem aber profitierte sie von einem in der spanischen Arbeiterschaft sich ausbreitenden "Mentalitätswandel", den Vfctor Hrez Dfaz untersucht hat: "Konservatives" Gedankengut nahm unter den Arbeitern zu, sie waren weniger streikfreudig und aggressiv, hielten immer weniger vom Klassenkampf und sprachen sich häufiger für "sozialpartnerschaftliches" Verhalten aus (vgl. Tab. 42). Die Pakte zwischen Regierung, Unternehmern und Gewerkschaften haben vor allem den marktwirtschaftlichen, von sozialen Komponenten durchdrungenen Kapitalismus in Spanien legitimiert; sie haben bewirkt, daß die Arbeiter das bestehende Wirtschaftssystem akzeptierten (was anfangs überhaupt nicht klar war). Die Gewerkschaften waren bestrebt, die Rolle "ihrer" Parteien zu stärken und den konstitutionellen "Pakt für den Übergang" zu konsolidieren. Daß die Arbeiter insgesamt die Marktwirtschaft akzeptiert haben, geht nicht nur aus der sinkenden Konfliktivität hervor, sondern läßt sich auch in der Bevorzugung der "gemäßigteren" UGT während der 1980er Jahre und dem vollständigen Positionsverlust revolutionärer Gewerkschaften erkennen; je "näher" eine Gewerkschaft an der Aushandlungspraxis der Pakte stand, desto mehr stieg sie in der Gunst der Arbeiter. Die Pakte und die mit den Tarifpartnern quasi vereinbarte Wirtschaftspolitik haben somit in wesentlichem Maße zur Konsolidierung der liberalen Demokratie beigetragen. Mit dem Gesetz über Gewerkschaftsfreiheit (LOLS — Ley Orgänica de Libertad Sindical) von 1985 kann die Institutionalisierung eines demokratischen Systems auf dem spanischen Arbeitsmarkt als abgeschlossen betrachtet werden. Auf betrieblicher Ebene werden die Arbeitnehmerinteressen in Betrieben ab 50 Mitarbeitern von den Betriebskomitees bzw. in Kleinbetrieben (10-50 Mitarbeitern) von Belegschaftsdelegierten wahrgenommen. Auf überbetrieblicher Ebene obliegt die Vertretung der Beschäftigten den Gewerkschaften. Die Betriebskomitees sind ebenfalls wie die Gewerkschaften tarif- und streikfähig, besitzen allerdings — anders als in Deutschland — keine Befugnis zur Mitwirkung bei betrieblichen Personalentscheidungen, sondern verfügen nur über Informations- und Konsultations- sowie gewisse Kontrollrechte. Von entscheidender Bedeutung sind die Wahlen der Belegschaftsdelegierten und Belegschaftskomitees, da von den dort erzielten Ergebnissen nicht nur die Zusammensetzung der Arbeitnehmervertretung auf Betriebsebene abhängt. Denn um Tarifverträge vereinbaren zu können, muß ein gewerkschaftlicher Verband mehr als 10 % der Delegierten in einem Betrieb bzw. Sektor stellen. Erzielt er landesweit über 10% bzw. in einer Autonomen Region über 15 % der Stimmen (Repräsentativitätsklausel), so erhält er ein generelles Recht zum Abschluß von Tarifverträgen sowie Zugang zu bestimmten staatlichen Subventionen und ist in öffentlichen Institutionen, wie z. B. dem Arbeitsamt, vertretungsberechtigt.
XVII Der Arbeitsbereich
386
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387
Durch weitere Arbeitsrechtsreformen in den 90er Jahren wurde insgesamt der soziale Dialog zwischen Regierung, Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften wieder belebt. Ferner wurden Maßnahmen zur Stärkung der Position der Betriebe sowie zur Verbesserung der Transparenz des Tarifverhandlungssystems eingeführt: Die durch das Reformgesetz von 1994 eingeführten "Öffnungsklauseln" erlauben es den Betrieben, in schwierigen Situationen vom geltenden Tarifvertrag abzuweichen, und durch die Reform von 1997 wurde eine klare Ebenenstruktur für die Zuordnung von Verhandlungskompetenzen geschaffen. Mehrere Abkommen stärkten zudem die Rolle der Tarifparteien und damit auch die Tarifautonomie: 1994 führte man schrittweise Rahmentarifverträge ein und 1996 wurden einige Rahmenvereinbarungen abgeschlossen, wie z. B. über die Rentenversicherung oder die Mitbestimmung bei der betrieblichen Fortbildung. Diese Rahmenverträge zwischen den Tarifpartnern sind in der Regel einige Jahre wirksam und werden nach Ablauf der Geltungsdauer verlängert bzw. neu verhandelt. Somit befinden sich die Mehrheitsgewerkschaften und der Arbeitgeberverband CEOE/CEPYME in einem permanenten Verhandlungsprozeß, wobei die Regierung eine Moderator- und Vermittlerrolle einnimmt. Dieser soziale Dialog wurde allerdings durch die neoliberalen Arbeitsmarktreformen von 2001 und 2002 untergraben. Trotz eines massiven Protests der Gewerkschaften verabschiedete die Regierung im Alleingang Maßnahmen, die die Position der Arbeitnehmer verschlechterte: Entlassungen wurden durch die Streichung der Pflicht zur Lohnfortzahlung im Falle einer unberechtigten Kündigung erleichtert, einige Aspekt der Arbeitslosenversicherung wurden verschärft und der Druck auf Arbeitslose, eine Stelle auch unter dem eigentlichen Qualifikations- und Lohnniveau anzunehmen, wurde erhöht. Der Konflikt führte schließlich zu einem Generalstreik aller Gewerkschaften am 20. Juni 2002, an dem sich fast 13 Millionen Beschäftigte und damit 84% der Aufgerufenen beteiligten. Infolge der Demonstrationen nahm die konservative Regierung unter Aznar schließlich ihr Vorhaben zurück. Trotz dieses Mobilisierungserfolgs gelang es den organisatorisch gespaltenen Arbeitnehmerverbänden aber nicht, eine gemeinsame gewerkschaftspolitische Strategie zu entwickeln. Obwohl die Gewerkschaften ihre strukturellen Schwächen also noch nicht überwinden konnten, wurde insgesamt gesehen die Rolle der Tarifparteien im Verhandlungsprozeß auf dem Arbeitsmarkt durch die Reformen seit Mitte der 90er Jahre gestärkt. Dies wird auch von der zahlenmäßigen Entwicklung der Tarifverträge bestätigt. Erfuhren die Tarifverhandlungen im Jahr 1994 mit 4.581 abgeschlossenen Verträgen einen leichten Rückgang im Vergleich zu den Vorjahren, so konnten 2003 insgesamt 5.497 Tarifverträge vereinbart werden (vgl. Tab. 43 und Graphik 24). Dies entspricht gegenüber 1986 einer Steigerungsrate von 45% im Hinblick auf die Vertragsabschlüsse. Auch die Zahl der durch die Abmachungen betroffenen Arbeitnehmer erhöhte sich in diesem Zeitraum um knapp 60% von 6.275.100 auf 9.966.700 Beschäftigte (vgl. Tab. 43). Gemessen an diesen quantitativen Kriterien ist der Einfluß der Gewerkschaften deutlich gestiegen und damit ein Indiz für die gestiegene Legitimität des Interessenvertretungssystems auf dem spanischen Arbeitsmarkt. Auf der anderen Seite sind die Verhandlungen aber von einer großen Inhaltsarmut gekennzeichnet, da sich die Mehrheit der Tarifverträge auf Lohn- und Arbeitszeitfragen beschränkt. Damit bleiben die Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten der Gewerkschaften relativ gering.
388
XVII Der Arbeitsbereich
Gewerkschaften und Arbeiterschaft in der Demokratie
Tab. 43: Die Tarifverhandlungen in Spanien 1986-2005 Tarifverträge
Betriebe
Betroffene Arbeitnehmer
1986
3.790
891.800
6.275.100
1987
4.112
996.800
6.867.700
1988
4.096
958.331
6.864.738
1989
4.302
982.651
6.993.751
1990
4.595
1.037.906
7.623.867
1991
4.848
1.006.167
7.821.850
1992
5.010
1.055.084
7.921.935
1993
4.749
1.048.193
7.737.138
Durchschn. Arbeitszeit (Std./Jahr)
Lohnerhöhung (in %)
389
Die Frage nach der Legitimation der Gewerkschaften als repräsentative Arbeitnehmerinteressenvertretungen und nach den Grenzen ihrer Legitimität kann auch anhand weiterer Kriterien versucht werden zu beantworten. Zieht man den Organisationsgrad (definiert als Anteil der Erwerbspersonen, die Mitglied einer Gewerkschaft sind) in Betracht, so stellt man einerseits fest, daß dieser zwar relativ gering ist, in den letzten Jahren aber - im Gegensatz zu vielen europäischen Ländern - gestiegen ist (vgl. Tab. 44). Diese positive Entwicklung ist auf das starke Anwachsen der Gewerkschaftsmitglieder zurückzuführen (vgl. Tab. 45). Die beiden führenden Verbände CCOO und UGT konnten in den Jahren 1981 bis 2003 ihre Mitgliederzahl von insgesamt 597.407 auf 1.902.000 erhöhen. Damit hat sich seit Beginn der 80er Jahre der Anteil der Erwerbspersonen, die Mitglied in einer der beiden Mehrheitsgewerkschaften sind, mehr als verdreifacht.
Graphik 24: Tarifverhandlungen in Spanien 1986-2003 Betroffene Arbeitnehmer
Tarifverträge
12.000. 000
---- 6.000
1994
4.581
950.700
7.502.100
1995
4.827
975.100
7.605.100
1.765,90
3,94
10.000.000
1996
5.028
1.027.500
8.128.200
1.767,50
3,82
8.000.000
-
1997
5.040
1.018.300
8.365.100
1.767,80
2,87
6.000.000 p
- 3.000
1998
5.091
1.077.600
8.750.600
1.766,60
2,56
1999
5.110
1.122.600
9.008.100
1.765,00
2,72
4.00(3.000
- 2.000
2000
5.252
1.198.300
9.230.400
1.761,30
3,72
2001
5.421
1.293.200
9.496.000
1.758,70
3,68
2002
5.462
1.302.300
9.696.500
1.756,30
3,85
2003
5.497
1.276.400
9.966.700
1.752,80
3,68
2004 1
4.647
1.051.000
8.745.700
1.757,90
3,62
2005 2
2.332
556.600
4.762.000
1.760,90
2,85
•
• - 5.000
V
2.000.000
000
- 1.000
I
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0
II= Arbeitnehmer -.-Tarifverträge
Tab. 44: Gewerkschaftlicher Organisationsgrad
1 Bisher für 2004 registrierte Zahlen, werden mit hoher Wahrscheinlichkeit noch steigen 2 Zahlen für 2005 bis einschließlich März
1990 Erwerbspersonen' Gewerkschaftsmitglieder' Organisationsgrad 3
1994
1998
2001
2003
15.922.760 16.440.060 16.984.800 17.814.600 18.821.900 1.053.212
1.340.207
1.509.000
1.667.217
1.902.000
6,61%
8,15%
8,88%
9,36%
10,11%
1 Erwerbspersonen = Erwerbstätige + Arbeitslose 2 Gewerkschaftsmitglieder = von CCOO und UGT 3 Anteil der Gewerkschaftsmitglieder an den Erwerbspersonen
390
XVII Der Arbeitsbereich
Tab. 45: Entwicklung der Mitgliederzahlen von CCOO und UGT 1981
1983
391
Gewerkschaften und Arbeiterschaft in der Demokratie
1986
1990
1994
1998
2001
2003
CCOO
389.237
357.905
332.019
508.428
656.167
713.000
925.000
958.000
UGT
208.170
344.265
368.523
544.784
684.040
796.000
742.217
944.000
Summe
597.407
702.170
700.542
1.053.212
beziehungen unabdingbar. Diese Entwicklungen wirken sich auch auf die Gewerkschaften und Betriebskomitees aus, die sich ohnehin schon aufgrund der strukturellen Probleme des spanischen Arbeitsmarktes in einer prekären Situation befinden.
Tab. 46: Arbeitskonflikte in Spanien 1978-2004
1.340.207 1.509.000 1.667.217 1.902.000
Betroffene Arbeitnehmer Ausgefallene Arbeitstage Zahl der Streiks Graphik 25: Mitgliederentwicklung von CCOO und UGT 1.200.000 1.000.000 -
1978
3.864.000
11.550.900
1.128
1979
5.713.000
16.311.360
2.680
1980
2.287.000
6.177.500
2.130
5.153.800
1.993
1981
1.945.000
800.000 -
1982
1.059.000
2.787.600
1.810
600.000 -
1983
1.484.000
4.416.700
1.451
400 000 -
1984
2.242.000
6.357.800
1.498
200.000 -
1985
1.511.000
3.223.500
1.092
1986
860.000
2.279.400
943
1987
1.881.000
5.025.000
1.497
1988
6.692.000
11.641.100
1.193
1989
1.382.000
3.685.400
1.047
1990
864.000
2.442.800
1.231
1991
1.945.000
4.421.300
1.552
1992
5.170.000
6.246.500
1.296
1993
997.000
2.013.000
1.131
1994
5.428.000
6.254.700
890
1995
570.000
1.442.900
866
1996
1.078.000
1.552.900
807
1997
631.000
1.790.100
709
1998
672.000
1.264.000
618
0
1981
1983
1986
1990
1994
1998
2001
2003
UGT -4,-0000
Insgesamt gesehen sprechen der steigende Organisationsgrad, die Mitgliederzuwächse und auch die wachsende Anzahl an abgeschlossenen Tarifverträgen durchaus dafür, daß sich die Gewerkschaften seit dem Ende der Franco-Diktatur als Instrument der Interessenvertretung etabliert haben. Allerdings zeigen Inhaltsarmut der Tarifverhandlungen, die geringen Mitwirkungsmöglichkeiten der Arbeitnehmerrepräsentanten bei betrieblichen Entscheidungen und die Alleingänge der Regierung bei Gesetzesreformen deutliche Grenzen der Legitimität auf. Insbesondere die organisatorische Spaltung sowie fehlende gemeinsame Aktionspläne und Strategien schwächen die Mehrheitsgewerkschaften bei der Durchsetzung ihrer Ziele. Die Streikhäufigkeit (vgl. Tab. 46 und Graphik 26), die in der transiciön noch auf Rekordhöhen lag, sank während der 80er und 90er Jahre kontinuierlich auf ein niedriges europäisches Durchschnittsniveau, welches sich in den letzten Jahren stabilisiert hat. Auch die Zahl der ausgefallenen Arbeitstage reduzierte sich auf ein "normales" Mittelmaß. Ausnahmen bilden die Jahre 1988, 1992, 1994 und 2002, in denen ein von allen Gewerkschaftsverbänden durchgeführter Generalstreik stattfand. Dennoch kann man heute auch in Spanien davon sprechen, daß sich mit dem Interessenvertretungssystem auf dem Arbeitsmarkt der soziale Frieden deutlich gegenüber den bewegten 70er Jahren erhöht hat. In der heutigen Zeit entstehen auch in Spanien im Zuge der Globalisierung neue Herausforderungen, denen sich weder Unternehmen noch Gewerkschaften entziehen können. Ein wachsender Wettbewerbsdruck auf den Märkten macht eine Internationalisierung und Modernisierung der Unternehmensstrukturen sowie eine Flexibilisierung der Arbeitsmarkt-
1999
1.125.000
1.477.000
739
2000
2.061.300
3.577.300
727
2001
1.242.458
1.916.987
729
2002
4.528.210
4.938.535
684
2003
728.481
789.043
674
2004
555.832
4.472.191
707
392
XVII Der Arbeitsbereich
Gewerkschaften und Arbeiterschaft in der Demokratie Tab. 47: Arbeitslosenraten 1977-2004 (in ')/0)
Graphik 26: Arbeitskonflikte 1978-2004
Arbeitslosenrate
Ausgefallene Arbeitstage bzw. betroffene Arbeitnehmer
Zahl der Streiks
20.0120.003
3.030
Abnahme der Streikhäufigkeit um ca. 400/o
18.003.003
12.000.000
Frauenarbeitslosigkeit
Jugendarbeitslosigkeit
1977
5,3
5,6
14,1
1982
16,2
18,9
40,5
1986
21,5
25,6
48,2
1990
16,3
24,2
33,0
1992
18,4
25,5
35,7
1996
22,2
29,6
42,0
1997
20,6
28,2
35,4
1998
18,6
26,5
32,5
1999
15,6
22,9
26,8
2000
13,9
20,4
23,5
2001
10,6
15,2
18,9
2002
11,5
16,4
20,3
2003
11,5
16,0
20,2
2004
11,0
15,0
19,9
8.001003
4.000.002
0 1978 1980
1982 1984 1995 1988 1810 19'3:: Betroffene Arbeitnehmer Zahl der Streiks
393
' :194 1!. i8 1998 2000 2002 2004
Ausgefallene Arbeitstage - Linear (Zahl der Streiks)
Trotz Wirtschaftswachstums in den letzten Jahren weist Spanien mit 11,0% (2004) im europäischen Vergleich eine der höchsten Arbeitslosenrate auf. Besonders stark betroffen von diesem Problem sind dabei zum einen die Frauen mit 15,0% (2004), zum anderen die Jugendlichen mit einer Erwerbslosenquote von 19,9% (2004). Gegenüber den 80er und 90er Jahren, die von einer Arbeitslosigkeit von bis zu über 20% bzw. bei den Jugendlichen sogar von bis zu knapp 50% gekennzeichnet waren (vgl. Tab. 47), erscheinen diese Zahlen zwar gemäßigt, allerdings sind diese Rückgänge zu einem nicht unerheblichen Teil auf Reformen im Bereich der Statistik zurückzuführen, auf Grund derer zahlreiche Gruppen nicht mehr als Erwerbslose erfaßt werden. Anfang der 90er Jahre versuchte die Regierung, mit Hilfe von befristeten Verträgen den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern. Diese Strategie führte allerdings nicht zu mehr Festanstellungen, sondern erhöhte insbesondere unter den geringer Qualifizierten die Unsicherheit in bezug auf die Beschäftigungsstabilität. Heute liegt der Anteil befristeter Arbeitsverhältnisse an der Gesamtbeschäftigung bei über 30% und ist damit mehr als doppelt so hoch wie der EU-Durchschnitt. Unzureichende Ausbildung und mangelnde Erfahrung der kurzfristig Beschäftigten bedingen eine alarmierend hohe Zahl der Arbeitsunfälle, die weit über dem europäischen Durchschnittsniveau liegt. Das Thema Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz wird erst seit einigen Jahren öffentlich diskutiert. Im Dezember 2002 wurde eine Vereinbarung über die Verhinderung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten unterzeichnet. Für eine Beurteilung der beschlossenen Maßnahmen ist es noch zu früh, dennoch ist eine Verbesserung erkennbar. Seit 2002 ist die Unfallhäufigkeit um knapp 11 % gesunken, das Auftreten berufsbedingter Krankheiten steigt allerdings kontinuierlich weiter (vgl. Tab. 48).
Tab. 48. Arbeitsunfälle und berufsbedingte Krankheiten 1995-2004 Arbeitsunfälle
berufsbedingte Krankheiten
1995
1.139.020
6.005
1996
1.212.846
7.244
1997
1.321.940
8.700
1998
1.486.109
11.064
1999
1.671.004
14.755
2000
1.801.416
17.858
2001
1.888.531
21.216
2002
1.909.702
23.799
2003
1.815.836
25.701
2004
1.706.830
27.543
394
XVII Der Arbeitsbereich
Literatur
Graphik 27: Arbeitsunfälle und berufsbedingte Krankheiten berufsbedingte Krankheiten --- 30.000
Arbeitsunfälle 2.200.000
25.000 1.800.000 — 20.000 1.400.000 —
15.000 10.000
1.000.000 — 5.000 600.000
0 1995
1996
1997 —4 '
1998
1999
Arbeitsunfälle
2000
2001
—4i— berufsbedingte
2002
2003
2004
Krankheiten
Verbesserung der Arbeitsplatzqualität, Stabilität der Beschäftigungsverhältnisse und Erhöhung des Ausbildungsniveaus der Arbeitskräfte werden die zukünftigen Forderungen der Gewerkschaften sein. Globalisierung und steigender Wettbewerbsdruck werden allerdings die Position der Arbeitgeber, insbesondere die der transnationalen Konzerne, im sozialen Verhandlungsprozeß stärken. Eine Erneuerung der gewerkschaftlichen Strukturen wird daher immer unausweichlicher, um eine Abwehr negativer Globalisierungsfolgen aufbauen zu können.
Literatur Almendros Morcillo, Fernando u.a.: El sindicalismo de clase en Esparia (1939-1977). Barcelona 1978 Bernecker, Walther L.: Arbeiterbewegung und Sozialkonflikte im Spanien des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1993 Bernecker, Walther L.: Gewerkschaftsbewegung und Staatssyndikalismus in Spanien. Frankfurt am Main/New York 1985 Führer-Ries, Marie Ilse: Gewerkschaften in Spanien. Frankfurt am Main 1991 Garcia Femenfa, Ana Maria: El asociacionismo empresarial en Esparia. Madrid 2002 Köhler, Holm-Detlev / Tosstorf, Reiner (Hg.): Forschungen zur Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung in Spanien. Mitteilungsblatt des Instituts zur Erforschung der europäischen Arbeiterbewegung. Heft 17. Bochum 1996 Köhler, Holm-Detlev: Die Gewerkschaftsbewegung im Baskenland. HBS-Manuskripte. Düsseldorf 1993 Köhler, Holm-Detlev: Gewerkschaften und Arbeitsbeziehungen in der Demokratie. In: Bernecker, Walther L. / Dirscherl, Klaus (Hg.): Spanien heute. Frankfurt am Main 1998, 267-293 Köhler, Holm-Detlev: Spaniens Gewerkschaftsbewegung. Demokratischer Übergang – Regionalismus Ökonomische Modernisierung. Münster 1993 Magone, Josä M.: Iberian Trade Unionism. New Brunswick/London 2001
395
Migu6lez, Faustino: Die Modernisierung der Gewerkschaften in Spanien. In: Waddington, Jeremy / Hoffmann, Reiner (Hg.): Zwischen Kontinuität und Modernisierung: Gewerkschaftliche Herausforderungen in Europa. Münster 2001, 348-369 Oliet Palä, Alberto: La concertaciön social en la democracia espariola: crönica de un dificil intercambio. Valencia 2004 Pärez Yruela, Manuel / Giner, Salvador (Hg.): El corporatismo en Esparia. Barcelona 1988 Schütz, Roland / Konle-Seidl, Regina: Arbeitsbeziehungen und Interessenrepräsentation in Spanien: vom alten zum neuen Korporatismus? Baden-Baden 1990 Valdeza, Rafael: Die spanische Gewerkschaftsbewegung unter Franco. München 1982
396
XVIII Kirche, Staat und Religion
Kaum ein anderes Volk wird so häufig und so eindeutig mit dem Katholizismus identifiziert wie das spanische. Der Gemeinplatz der "katholischen Nation" haftet den Spaniern zumindest seit der Reichseinigung unter den Katholischen Königen Ende des 15. Jahrhunderts an. Eigentlich ist dieses Bild schon seit langem korrekturbedürftig; da aber nach wie vor weit über 90% aller Spanier katholisch getauft werden, hat die Bezeichnung "katholisches Spanien" immer noch eine gewisse Gültigkeit – obwohl die Taufe nichts über die Glaubenspraxis und die Religiosität der heutigen Spanier aussagt. Richtig ist allerdings, daß der Katholizismus als nationale Ideologie in der Geschichte des Landes eine kaum zu überschätzende Rolle gespielt hat. In der katholischen Staatsreligion ist bis in die jüngste Vergangenheit hinein ein Mittel gesehen worden, den in jahrhundertelangem Kampf gegen die Muslime zusammengefügten Staat zusammenzuhalten und gegen fremde Einflüsse abzuschotten. Das Verhältnis zwischen Staat und Kirche, zwischen Gesellschaft und Religion ist eines der Grundprobleme in der spanischen Geschichte. Seit der Herrschaft der Katholischen Könige galten in Spanien politische und religiöse Einheit als gleichbedeutend; die Könige benutzten die Kirche zur religiösen Legitimierung ihrer als Gottesgnadentum aufgefaßten Herrschaft und setzten sie zur Festigung der jeweils bestehenden Ordnung ein. Die Katholische Kirche wurde zu einem Integralions- und Stabilitätsfaktor ersten Ranges. Im gesellschaftlich-politischen wie im kulturellen Bereich war die Kirche allgegenwärtig, ihre Selbstdarstellung – etwa in Form kultischer Prunkentfaltung – trug dazu bei, daß in der Amtskirche eine Verbündete des Staates und der wirtschaftlich Mächtigen erblickt wurde (Bernecker 1995). Ganz offensichtlich gilt bis heute, daß viele Spanier eine äußerst ambivalente Haltung zu Kirche und Katholizismus haben. Einerseits gibt es zahlreiche religiöse Feiertage, die im lokalen und regionalen Raum noch vermehrt werden; kirchliche Hochzeiten werden ebenso pompös gefeiert wie Erstkommunionen; kein wichtiger Lebensabschnitt wird nicht von der Kirche abgesegnet; lokalen religiösen Gebräuchen begegnet man auf Schritt und Tritt. Wohl kaum eine zweite Sprache verfügt über derart viele Sprichwörter und Redewendungen religiösen Inhalts wie das Spanische. Andererseits dürfte es kaum ein anderes europäisches Land geben, in dem derart viele Flüche religiöse Anspielungen enthalten wie im Spanischen; die unflätigen Ausdrücke, die Gott und den gesamten katholischen Umkreis ordinär in den Schmutz ziehen, sind unzählbar; blasphemische Äußerungen sind allenthalben zu hören, ohne daß die Sprecher sich allerdings Rechenschaft über ihre Äußerungen ablegen würden; gegen die Kirche wird munter polemisiert, geschrieben oder gespottet (Doucastella 1975).
Das Verhältnis Staat-Kirche in historischer Perspektive
1.
397
Das Verhältnis Staat-Kirche in historischer Perspektive
Das Verhältnis zwischen Staat und Kirche gehört zu den Konstanten spanischer Geschichte; es läßt sich bis auf die Entstehung des modernen spanischen Staates im ausgehenden 15. Jahrhundert zurückführen. Seit der Herrschaft der Katholischen Könige, das heißt seit der staatlichen Einigung des Landes vor nunmehr über 500 Jahren, galten in Spanien politische und religiöse Einheit nahezu ununterbrochen als Synonyma. Unter der ideologischen Bedrohung durch die Französische Revolution schlossen sich die Monarchie Karls IV. und die Kirche erneut zu einem im 18. Jahrhundert lockerer gewordenen Bündnis zusammen; die Amtskirche wurde immer mehr zur Verteidigerin des Ancien Regime, sie entwickelte sich zur stärksten beharrenden Kraft in Spanien. Liberale Kreise entwickelten daraufhin einen immer stärkeren Antiklerikalismus, der sehr bald auf das Landproletariat und später auf die Industriearbeiter übergriff; diese sahen in der Kirche und den Klöstern die Alliierten der Mächtigen und auf dem Land die sichtbaren Zeichen materieller Ausbeutung, gegen die sie sich in Klosterstürmen und Gewaltakten gegen Kirchen auflehnten. In den 30er und 40er Jahren des 19. Jahrhunderts enteigneten die Liberalen, die die Regierung Isabellas II. stellten, den Besitz religiöser Orden (1836) und der ganzen Kirche (1841); dafür übernahm der Staat den Unterhalt von Kult und Geistlichkeit, außerdem genoß die katholische Religion weiterhin besonderen Staatsschutz. Das Konkordat von 1851 beendete den wirtschaftlichen "Kirchenkampf", die Kirche verzichtete auf ihren bis dahin veräußerten Besitz, die Krone behielt das alte Patronatsrecht der Bischofsernennung. Dafür bezeichnete das Konkordat den Katholizismus als "die Religion der spanischen Nation", der Staat mußte dafür sorgen, daß die kirchliche Lehre in öffentlichen Schulen durch Priester unterrichtet wurde. Auch in der Verfassung von 1876 wurde das katholische Bekenntnis, wie schon in der liberalen Verfassung von Cädiz aus dem Jahr 1812, zur Staatsreligion erklärt, in der restaurierten Bourbonenmonarchie erlangte die Kirche bald ihre frühere einflußreiche Stellung zurück. Allerdings war der Bruch zwischen der Amtskirche und dem Proletariat, das sich den sozialistischen und anarchistischen Organisationen mit ihrem stark ausgeprägten Antiklerikalismus zuwandte, nicht zu kitten. Vielmehr führte die Stellung, die die katholische Kirche in den Augen der Arbeiterklasse als Verbündete des herrschenden Blocks einnahm, dazu, daß die Empörung der verarmten Massen sich nicht nur gegen Grundbesitzer und Kapitalisten, Staat und Bürgertum, sondern auch gegen Kirche und Klöster wandte, identifizierten die Arbeiter die Kirche doch in zunehmendem Maße mit den kapitalistischen Ausbeutern. Während der Diktatur Miguel Primo de Riveras (1923-1930) wurden die geistlichen und erzieherischen Forderungen der Kirche weitestgehend erfüllt, ihre Ansprüche stets bevorzugt befriedigt. Sicherlich blieb diese enge Verbindung zwischen Kirche und Staat nicht ohne Auswirkungen und trägt zur Erklärung der kirchenfeindlichen Reaktionen in den ersten Jahren der Republik bei (Lannon 1987). Als 1931 die Zweite Republik ausgerufen wurde, wirkte dies auf die kirchliche Hierarchie wie ein Schock. Von Anfang an verfolgte das von sozialistischen und liberal-republikanischen Parteien getragene Regime eine Trennung von Staat und Kirche; letztere konnte fortan nicht mehr auf den jahrhundertealten staatlichen Schutz setzen, mußte vielmehr mit einer Beeinträchtigung ihrer Stellung in Staat und Gesellschaft rechnen. Ministerpräsident
398
XVIII Kirche, Staat und Religion
Manuel Azatia — der liberale Intellektuelle, der sehr bald zu einem Symbol für die Zweite Republik wurde — verkündete programmatisch (und bewußt provokativ), Spanien habe aufgehört, katholisch zu sein. Die Verfassung von 1931 legte den Laizismus des Staates, die Entkonfessionalisierung des Erziehungswesens, die Beschränkung von Kirche und Religion auf den privaten Bereich fest; Zivilehe und Ehescheidung wurden eingeführt, der kirchliche Einfluß im gesellschaftlichen Bereich möglichst weitgehend zurückgedrängt. Alle Orden mußten ihre Liegenschaften vom Justizministerium erfassen lassen, sie durften sich nicht an Wirtschaftsunternehmen beteiligen. Der Jesuitenorden wurde aufgelöst. Der laizistische Charakter des neuen Regimes und der Antiklerikalismus führender Politiker provozierten heftige Reaktionen der verunsicherten kirchlichen Hierarchie, vor allem der katholischen Traditionalisten und der konservativen Rechten. Diese wurden sehr bald zu Gegnern der Republik und zu einem Sammelbecken der Reaktion. Das Verhältnis zwischen Staat und Kirche blieb in den Friedensjahren der Republik kontinuierlichen Spannungen ausgesetzt. Im Frühjahr 1936, nach dem parlamentarischen Wahlsieg der Volksfrontkoalition, spitzten sich die Beziehungen weiter zu. Die Regierung konnte den antikirchlichen Leidenschaften (Plünderungen, Brandschatzungen, Verwüstungen) des Proletariats, das in den vorhergehenden "zwei schwarzen Jahren" erneut die "unheilige" Allianz der konservativ-katholischen Confederaciön Espatiola de Derechas Autönomas mit der Amtskirche zu spüren bekommen hatte, nicht mehr Einhalt gebieten. Für den überwiegenden Teil der Katholischen Kirche stand zu Beginn des Bürgerkrieges fest, daß sie sich an diesem "Kreuzzug" auf der Seite der Aufständischen "für die Erhaltung der christlichen Zivilisation" (und damit für die Wiederherstellung der früheren kirchlichen Stellung in Staat und Gesellschaft) beteiligen werde.
2.
Kirche, Bürgerkrieg und früher Franquismus
Seit Beginn des Bürgerkrieges gehörte die katholische Amtskirche zu den tragenden Säulen des entstehenden, faschistoid-autoritären Regimes. Mitte 1937 veröffentlichten die spanischen Bischöfe — lediglich zwei von ihnen verweigerten ihre Unterschrift — einen Brief an alle Bischöfe der Welt, in dem sie den Aufstand als "Kreuzzug" und "nationale Bewegung zur Verteidigung der grundlegenden Prinzipien jeder zivilisierten Gesellschaft" verteidigten. Die eindeutige Parteinahme der kirchlichen Hierarchie kam nicht von ungefähr, erwartete sie doch vom "nationalen" Spanien die Wiedereinsetzung des Katholizismus in seine alten, "vorrepublikanischen" Privilegien. Gefestigt wurde das Bündnis zwischen den Mächtigen von Kirche und "Neuem Staat" noch durch die Abwehrhaltung gegen den haßerfüllten Antiklerikalismus, der zu Beginn des Bürgerkrieges zerstörerisch aufbrach und sich in Form von Ausschreitungen, Kirchenverbrennungen und Priestermorden äußerte — übrigens auf beiden Seiten, wenn auch die Übergriffe der "Nationalen" nicht so bekannt geworden sind (Montero 1961; Raguer 1977). Erwartungsgemäß erhielt die Kirche im franquistischen Staat all ihre Vorrechte zurück: In dem 1945 verabschiedeten "Grundrechtskatalog" wurde die katholische Religion zur Staatsreligion erhoben: "Das Bekenntnis zur katholischen Religion, die die Religion des spanischen Staates ist, und ihre Ausübung stehen unter staatlichem Schutz. Niemand wird
Das Konkordat mit dem Vatikan (1953)
399
wegen seiner religiösen Überzeugungen und der. privaten Durchführung von Kulthandlungen behelligt. Andere öffentliche Zeremonien und Kundgebungen als die der katholischen Religion sind nicht erlaubt." (Grundgesetz der Spanier, Artikel 6). 1946 legten Abkommen zwischen Staat und Kirche fest, daß der Staat die Kirche zu subventionieren habe; das Eherecht von 1947 erklärte zivile Eheschließungen, ebenso wie Scheidungen, für ungesetzlich; seit 1950 verfügten Kirchenangehörige über eigene Gerichte. Die Kirche erhielt direktes Repräsentationsrecht in wichtigen Staats- und Regierungsgremien, etwa in den Cortes, im Kron- und Staatsrat. Im gesellschaftlichen Bereich übte sie (vor allem über die Zensurbehörde) eine Sexualrepression aus, von der sich die spanische Gesellschaft erst nach Francos Tod allmählich erholte. Zu den bedeutendsten Rechten und Einflußmöglichkeiten der Kirche gehörte zweifellos die Kontrolle fast des gesamten Bildungswesens — nicht nur in der Schule, sondern auch auf der Universität (Gonzälez-Anleo 1975). Das Franco-Regime wandte sich entschieden von der Bildungspolitik der Republik ab, die Kirche wurde in ihre alten Rechte auf dem Erziehungssektor wieder voll eingesetzt. Als erstes wurden Laizismus, Ko-Edukation und der Unterricht in nicht-kastilischen Sprachen (das heißt auf baskisch oder katalanisch) abgeschafft. Alle Schulbücher wurden einer strengen (religiösen und politischen) Zensur unterworfen. Religion, Staatsbürgerkunde (Falange) und Leibeserziehung erhielten als Fächer neue Bedeutung. Katholische Konfessionalität, politischer Dogmatismus und repetitive Lernmethoden kennzeichneten auf allen Ebenen die erste Schulphase nach 1939. Bis heute besucht über ein Drittel aller Schüler schulgeldpflichtige private oder kirchliche Lehranstalten. Neben den staatlichen Veranstaltungen, an denen die Kirche ständig partizipierte, machte sich ihre Omnipräsenz vor allem auf dem gesellschaftlichen Sektor bemerkbar, mit dem der einzelne täglich in Berührung kam. Das konfessionell fixierte System und die ständige Kirchenpräsenz führten zu einer religiösen Ausnahmesituation, deren Charakteristika in den ersten Nachkriegsjahren der intolerante "Nationalkatholizismus", ein religiöses Ausufern im öffentlichen, häufig auch im privaten Leben, Doktrinarismus und Autoritarismus waren. Zweifellos hat sich die Kirche nach 1939 als eine Märtyrerorganisation im Bürgerkrieg verstanden und für die Leiden und Verluste an Kirchengut und Priestern vom Staat erhebliche Konzessionen im Bereich von Gesellschaft und Erziehung einräumen lassen. Nicht von ungefähr ist der Franquismus eine "klerikalfaschistische" Herrschaftsform genannt worden — eine Bezeichnung, die auf die enge Verflechtung staatlicher und kirchlicher Institutionen hinweist, die durch das Konkordat mit dem Vatikan 1953 abermals verstärkt wurde (Hermet 1980/81).
3. Das Konkordat mit dem Vatikan (1953) Ende August 1953 erfolgte der Abschluß eines Konkordats mit dem Vatikan, nachdem das Konkordat aus dem Jahre 1851 — zwischen Pius IX. und Isabel II. — durch die republikanische Regierung 1931 gekündigt worden war und danach (1941, 1946 und 1950) begrenzte Abkommen nur Einzelfragen geregelt hatten. Die Initiative zum Abschluß des Konkordats
400
XVIII Kirche, Staat und Religion
von 1953 ging vom spanischen Regime aus; die Kurie schien keine Eile zu haben und verschleppte die Verhandlungen, die 1951 vom damaligen spanischen Botschafter am Vatikan und späteren Erziehungsminister Joaqufn Ruiz Gimhez begonnen worden waren. Das Konkordat anerkannte die bereits vorher der Kirche staatlicherseits gewährten Privilegien, erweiterte und kodifizierte sie förmlich. Der Katholizismus wurde als Staatsreligion bestätigt: "Die Katholische, Apostolische und Römische Religion bleibt weiterhin die einzige Religion der spanischen Nation; sie genießt die Rechte und Privilegien, die ihr gemäß dem göttlichen Gesetz und dem kanonischen Recht zustehen" (Konkordat, Art. 1). Im Hinblick auf die Toleranz nichtkatholischer Kulte wurde die Bestimmung aus dem "Grundgesetz der Spanier" von 1945 bestätigt, derzufolge niemand wegen seiner Religion, seines Glaubens oder der privaten Vornahme von Kulthandlungen belästigt werden durfte; in der Öffentlichkeit blieb somit weiterhin nur der katholische Kultus zugelassen. Das Konkordat verzeichnete die kirchlichen Finanzprivilegien, vor allem die Steuerfreiheit für Kircheneigentum, religiöse Orden, Kongregationen, Schulen und Priestergehälter, sowie die Entschädigung der Kirche für frühere staatliche Konfiskationen; der Staat verpflichtete sich zur Zahlung der (rund 24.000) Priestergehälter, zu jährlichen Subventionen für die Errichtung und Erhaltung kirchlicher Gebäude sowie zu weiteren finanziellen Unterstützungsmaßnahmen (Casanova 2001). Die politisch relevantesten Kirchenprivilegien lagen auf dem Erziehungssektor (obligatorischer Religionsunterricht in allen Lehranstalten bis hinauf zu den Universitäten) und im Bereich der Zensur (kirchliches Einspruchsrecht gegen Publikationen, die katholischer Moral und Dogma zuwiderliefen). Die aktive Einflußnahme der Kirche auf das öffentliche Leben wurde durch die Bestimmung sichergestellt, daß der Staat "in den Institutionen der Bildung der öffentlichen Meinung, insbesondere in Radio und Fernsehen, angemessene Möglichkeiten für die Darlegung und Verteidigung der religiösen Wahrheit durch Priester und Ordensleute" zur Verfügung stellen müsse. Weitere Bestimmungen betrafen die Respektierung religiöser Feiertage, den Schutz religiöser Kunstwerke und Denkmäler, die Verwaltung von Diözesen, Kirchenprovinzen und Pfarreien sowie die Wirkungsmöglichkeiten der "Katholischen Aktion". Kirchliche Eheschließungen hatten zivile Gültigkeit, für Trennung von Eheleuten und Annullierungen von Ehen waren ausschließlich kirchliche Gerichte zuständig. Kirchenangehörige waren vom Militärdienst befreit und durften nur mit Billigung des zuständigen Bischofs vor Gericht gestellt werden, Prozesse mußten ohne jegliche Publizität durchgeführt werden, im Falle einer Gefängnishaft standen Priestern Sondergefängnisse zu. Gerade diese letztere Bestimmung führte in den 60er und 70er Jahren zu wiederholten und ernsten Auseinandersetzungen zwischen Kirche und Staat, da die staatlichen Behörden sehr oft die kirchlichen Privilegien nicht respektierten. Aufschlußreich für die Stellung der Kirche zum Staat war die Bestimmung, daß das mißbräuchliche Tragen von geistlichen oder Ordenstrachten ebenso bestraft wurde wie der Mißbrauch einer Militäruniform (Callahan 2003). Durch diese Privilegien verfügte die Kirche über die Möglichkeit, auf Angelegenheiten des Zivilrechts, der Erziehung, der öffentlichen Meinung und der Finanzen massiv Einfluß zu nehmen. Dafür ließ sich auch der Staat Konzessionen einräumen, die jedoch großenteils nur symbolischer oder liturgischer Art waren. Ein staatliches Vorrecht allerdings sollte von entscheidender Bedeutung werden: Das Vorschlagsrecht der spanischen Regierung bezüg-
Das Konkordat mit dem Vatikan (1953)
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lich der Ernennung von Erzbischöfen und Bischöfen wurde bestätigt. Demnach durfte Franco für die Besetzung eines Bischofsstuhls jeweils sechs (ihm genehme) Kandidaten nominieren, deren Namen vertraulich nach Rom übermittelt wurden. Dort wurden drei aus der Liste ausgewählt, von denen der Staatschef dann einen als seinen Vorschlag offiziell präsentierte. Ein Franco nicht genehmer Prälat konnte bei diesem Verfahren unmöglich auf einen Bischofsstuhl gelangen — ein Umstand, der auf die innerkirchliche Entwicklung der folgenden Jahrzehnte großen Einfluß ausüben sollte. Für das franquistische Regime war das Konkordat das erste bedeutende internationale Abkommen; es erfüllte nicht nur innenpolitisch die Funktion einer weiteren ideologischen Abstützung des Systems, sondern machte Franco außenpolitisch salonfähig und beendete die internationale Isolierung des Landes. Damit hatte es zweifellos eine überragende Bedeutung für die Legitimierung und Stabilisierung des franquistischen Systems; diese eminent politische Funktion des Konkordats läßt es verständlich erscheinen, weshalb vor allem die spanische Seite am Abschluß des Vertragswerks interessiert war. Die Kirche spielte aber keineswegs nur die Rolle eines staatlichen Hilfsorgans zur Beschaffung von Legitimität; sie wurde vielmehr Bestandteil der politischen Macht. Im Gefolge des Konkordats erreichten die Verflechtung und Verfilzung staatlicher und kirchlicher Institutionen einen in der spanischen Geschichte nie dagewesenen Umfang. Die feste Position der Kirche wurde durch die vertragliche Festlegung der zahlreichen Kirchenprivilegien weiter ausgebaut. Die Einwirkungsmöglichkeiten der Kirche auf das öffentliche Leben und das Bewußtsein der Bevölkerung versetzten sie in die Lage, das geistige Leben der Nation nahezu vollständig in die Hand zu bekommen. Eine ganze Generation von Spaniern erlebte das kirchliche Meinungsmonopol wie eine Selbstverständlichkeit. Wenn von der Konsolidierung der Macht Francos mit Hilfe der Kirche die Rede ist, so bedarf es der Erwähnung einer besonderen Organisation im Rahmen der Katholischen Kirche: des Opus Dei ("Gotteswerk"). Die ordensähnliche Organisation konzentrierte sich von Anfang an auf die Gewinnung intellektueller Eliten; sie lancierte ihre Vertrauten in die Führungspositionen von Wirtschaft und Politik. Es gehört zu den Eigenarten des Opus Dei, daß es zwar seine Ziele rein religiös definiert, gleichwohl zur einflußreichsten kollaborationistischen Bewegung innerhalb der Kirche wurde. In Verfolgung seiner konservativen Ziele war das Opus seit Beginn der 50er Jahre bemüht, den Staatsapparat und wichtige gesellschaftliche Institutionen mit seinen Mitgliedern und Sympathisanten zu durchsetzen. Wirtschaftstheoretisch förderte das Opus den Neoliberalismus, der angesichts der volkswirtschaftlich archaischen Autarkievorstellungen der 40er und 50er Jahre zweifellos innovatorisch wirkte. Durch starke Betonung des Arbeits- und Pflichtethos erlangte die OpusDoktrin außerdem große Bedeutung für die Überlagerung vorkapitalistischer Strukturen und Einstellungen durch eine kapitalistische Wirtschaftsgesinnung. In der Ideologie des Opus Dei werden Kapitalismus und Katholizismus durch eine Morallehre so verknüpft, daß die aktive Arbeit in der bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ethisch überhöht wird. Man hat dieser Ideologie für die Entwicklung einer bürokratisch-unternehmerischen Ethik im katholischen Spanien dieselbe Impulsfunktion zugeschrieben wie der calvinistischen Ethik für die Entwicklung des kapitalistischen Wirtschaftsgeistes. Seit Ende der 50er Jahre wurden Wirtschaftskommissionen und Planungsinstanzen konsequent mit Mitgliedern und Sympathisanten des Opus Dei besetzt, wodurch der gesamte
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Wirtschaftsbereich sich allmählich zu einer Domäne des "Gotteswerks" entwickelte. 1962 war die Aufstiegsphase des Opus zur Macht abgeschlossen; in jenem Jahr hatte es fast alle Machthebel der Regierung auf dem Gebiet des Außenhandels, der Industrieerzeugung, der Finanzen und somit der Planung in der Hand (Artigues 1971,12). Durch diese geschickte Personalpolitik konnte das "Gotteswerk" in der zweiten Hälfte der 60er Jahre nahezu die gesamte Wirtschaftspolitik lenken (Bernecker 1997, 114-119). Die erste, vorsichtige Änderung im Verhältnis zwischen spanischem Staat und Katholischer Kirche erfolgte im Jahr 1967. Damals verabschiedeten die Cortes das "Gesetz über Religionsfreiheit", auch "Protestantenstatut" genannt. Das Gesetz hatte eine lange und wechselreiche Vorgeschichte, die bis in die 50er Jahre zurückreicht. In jenen Jahren hatte Außenminister Fernando Marfa Castiella als erster auf internationaler Ebene zu spüren bekommen, wie sehr die religiöse Diskriminierung dem Ansehen Spaniens im Ausland, vor allem in den angelsächsischen Ländern, schadete. Auch kamen durch den mächtig anschwellenden Tourismus immer mehr Spanier mit Nicht-Katholiken in Kontakt; größte Schwierigkeiten ergaben sich immer wieder, wenn Glaubensverschiedene in Spanien heiraten wollten oder ein Nicht-Katholik auf einem spanischen Friedhof beerdigt werden sollte. Die rechtliche Lösung vieler offener Fragen wurde immer dringender erforderlich. Castiella ließ daher ein Protestantenstatut entwerfen, das er 1964 dem Kabinett vorlegte. Der konservative Widerstand in Regierung und Kirche verhinderte jedoch zwanzig Monate lang die Diskussion des Gesetzentwurfes; nicht einmal die befürwortende Haltung von Papst Paul VI. konnte die klerikale Abwehrhaltung ändern. Erst das Zweite Vatikanische Konzil brachte die Wende. Die Erklärung, daß "der Mensch ein Recht auf religiöse Freiheit" habe, veranlaßte den Madrider Ministerrat, Mitte 1966 erstmals wieder Castiellas Projekt zu beraten; jetzt gab auch der spanische Episkopat dem Gesetzentwurf seine Zustimmung. Nach dem Protestantenstatut von 1967 sicherte "der spanische Staat die Freiheit von allem Zwang bei der legitimen Ausübung des Rechts auf religiöse Freiheit". Allerdings verlangte das Gesetz von dem Andersgläubigen "Respekt vor der katholischen Religion, der Moral, dem Frieden und der öffentlichen Ordnung". Die Andersgläubigen: Das waren im ganzen Land damals rund 2.000 Moslems, 6.000-8.000 Juden und 31.000 Protestanten der verschiedenen Richtungen, insgesamt etwas mehr als ein Tausendstel der spanischen Bevölkerung. Künftig sollten "die religiösen Überzeugungen keinen Grund für Ungleichheit der Spanier vor dem Gesetz" bilden. Die Diskriminierung der nicht-katholischen Kirchen blieb jedoch bestehen: Im Gegensatz zur katholischen Kirche, die dem Staat über ihre Finanzen keine Auskunft zu geben brauchte, mußten sie dem Justizministerium jährlich Mitgliederlisten und Buchführung zur Genehmigung vorlegen, sie mußten — anders als die Staatskirche — ihre Einkünfte und Vermögenswerte versteuern; ihre Geistlichen hatten den Wehrdienst abzuleisten, während der katholische Klerus nicht zu den Waffen gerufen wurde. Die Militärs im Kabinett verhinderten, daß den Nicht-Katholiken das Recht zur Gründung karitativer und sozialer Einrichtungen eingeräumt wurde. Konservativ-traditionalistische Cortes-Abgeordnete verwässerten den ursprünglichen Gesetzentwurf des Regimes noch weiter, so daß auch nach 1967 Nicht-Katholiken in der Armee an katholischen Gottesdiensten teilnehmen mußten, wenn es sich um "dienstliche Akte" handelte; nicht-katholische Gottesdienste durften nur durch Anschläge an den Gebäuden der betreffenden Religionsgemeinschaft bekanntgemacht werden.
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Insgesamt wurden die den Andersgläubigen eingeräumten Freiheiten so weit eingeschränkt, daß selbst Regierungspolitiker von einem "Gesetz des religiösen Mißtrauens" sprachen. Das Protestantenstatut ist auch weniger als Dokument der Religionsfreiheit denn vielmehr als Sonderregelung für eine Minderheitengruppe zu werten, die — nach den Worten des damaligen Vorsitzenden der evangelischen Christen in Spanien — zu "Ausländern im eigenen Land" geworden waren. Das Gesetz blieb weit hinter den Forderungen des Zweiten Vatikanums zurück. Vor allem die Einschränkungen der nicht-katholischen Konfessionen als Gemeinschaften und bei der Propagierung ihres Glaubensgutes waren mit den Konzilserklärungen nicht vereinbar (Bernecker 1997).
4. Die Distanzierung der Kirche vom Regime In den ersten Jahren des Regimes war das "Bündnis von Thron und Altar" enger als je zuvor gewesem; die Verflechtung von Staat und Amtskirche nahm derartige Ausmaße an, daß der Katholizismus als der Wesenszug schlechthin der Hispanität ausgegeben werden konnte. Übersehen wurde dabei eine Entwicklung, die sich schon lange vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil anbahnte und ihren Anfang als innerkirchlicher Konflikt in den Arbeiterzentren der Industriegebiete nahm. Dort, wo die soziale Situation der unteren Volksschichten am deprimierendsten war, griff an der Basis kirchlicher Organisationen ein neues Bewußtsein bezüglich der Rolle von Kirche und Religion in Staat und Gesellschaft um sich; die sozialkritische Haltung vieler junger Priester, die die berechtigten Forderungen der Arbeiter unterstützten, richtete sich nicht nur gegen die herrschenden Klassen und den Staat, sondern (vorerst nur indirekt und vorsichtig) auch gegen die kirchliche Hierarchie, die das System wesentlich mittrug und legitimierte. Dieser allmähliche Bewußtseinswandel an der kirchlichen Basis läßt deutlich werden, daß die Kirche sich anschickte, eine neue Funktion im Staat zu übernehmen. Denn in einem autoritären Regime wie dem franquistischen übernehmen religiöse Institutionen stillschweigend einige der Funktionen, die in demokratischen Systemen Parteien oder freie Gewerkschaften innehaben. Die politischen Funktionen, die die Kirche während des Franquismus ausübte, lassen sich denn auch chronologisch in zwei Phasen unterteilen: Die erste Phase umfaßt den Bürgerkrieg und ungefähr zwanzig Nachkriegsjahre; in dieser Zeit hatte die Hauptfunktion der Kirche bekanntlich in der Legitimierung der etablierten Macht bestanden; die Kirche spielte die Rolle eines ideologischen Instruments des Staates. Die Unterstützung des Regimes äußerte sich ganz offen in der moralischen Indoktrinierung der Bevölkerung, in den Erklärungen und Hirtenbriefen der Bischöfe, im Religionsunterricht, in politischen Handlungen wie der systematischen Teilnahme kirchlicher Würdenträger an offiziellen Feierlichkeiten, an der Übernahme von politischen und Verwaltungsämtern durch Kirchenangehörige (Casanova 2001). Die zweite Phase umfaßt ungefähr die beiden letzten Jahrzehnte des Franquismus; in dieser Zeit war die Kirche der bevorzugte Ort einer reformistisch gesinnten Opposition gegenüber dem Regime. Die politische Funktion, die die Kirche in dieser Zeit hatte, war eher kritischer als legitimierender Art, und es ging nicht nur um die Verteidigung religiöser Interessen gegenüber dem Staat, sondern um die Vertretung politischer und vor allem
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sozialer Belange breiter Bevölkerungsschichten, die keine direkte Repräsentation im System hatten. Die Kirche wurde zu einer Art "Volkstribun", zum Verteidiger von Gruppen, denen die Staatsmacht gesetzliche Formen politischer Meinungsäußerung vorenthielt. Die Stellungnahmen der kirchlichen Hierarchie und der Laienverbände wurden immer weiter gefaßt, die Grenze zwischen sozialem Lehramt und politischer Stellungnahme war kaum mehr zu erkennen. Es begann mit Kritik an den sozialen Einrichtungen und Zwängen des Staates, führte zur Forderung nach Anerkennung der Menschenrechte und mündete in stets "radikalere" Vorstellungen von grundsätzlicher Revision der politischen Struktur. In der letzten Phase des Regimes war die Kritik der Bischöfe unmißverständlich; engagierte katholische Studenten und Arbeiter, ein bedeutender Teil des jungen Klerus und einige junge Weihbischöfe radikalisierten sie weiter, so daß die Kritik schließlich immer mehr die Form eines fast politischen Programms als Alternative zum bestehenden politischsozialen System annahm (Hermet 1980/81). Der Prozeß der Übernahme dieser zweiten, der kritischen Funktion der Kirche läßt sich genau verfolgen: Bereits 1946 gingen aus der "Katholischen Aktion" Arbeiterbruderschaften hervor, die sich immer deutlicher zu einer Alternative zu den Staatssyndikaten sowie zu einer (vorerst geduldeten) Opposition entwickelten, in deren Rahmen unter dem Schutz der Kirche ein vielfältig genutzter Meinungsfreiraum entstand. Vor allem in den ersten größeren Streiks der Franco-Ära (1956 und 1962) solidarisierten sich "Arbeiterpriester" und viele andere Geistliche mit den Forderungen der Arbeiter, die vom Episkopat in dieser Phase zumeist noch verurteilt wurden. Galt somit die "offizielle" Kirche weiterhin als Stütze des Regimes und seiner Ideologie, so forderten immer mehr Angehörige des kirchlichen Fußvolks ein sozial-religiöses Umdenken und ein deutliches Eintreten für die gesellschaftlich Unterprivilegierten. Die Konflikte zwischen Staat und Kirche mehrten sich. Der Vatikan forderte Franco wiederholt und vergeblich auf, auf sein Mitwirkungsprivileg bei der Bischofsernennung zu verzichten. Die Gegensätze zwischen dem Staatschef und dem päpstlichen Nuntius in Madrid nahmen zu, da letzterer sich immer deutlicher als Schutzherr der "Oppositionskirche" profilierte. Der Vatikan griff schließlich zu einer Notlösung: Er ließ verwaiste Bischofsstühle unbesetzt und ernannte Weihbischöfe, bei deren Bestellung Franco kein Mitspracherecht hatte. (1972 erreichten der Nuntius und die "postkonziliaren" Bischöfe, daß die Weihbischöfe in der spanischen Bischofskonferenz das Stimmrecht erhielten, während es den pensionierten Bischöfen entzogen wurde. Damit befand sich die Bischofskonferenz endgültig in den Händen der "Postkonziliaren".) Die Umgehung des staatlichen Mitspracherechts bei den Bischofsernennungen durch die Ausnützung dieser Gesetzeslücke wurde von Regierungsblättern als Verstoß gegen das Konkordat bezeichnet. Die Kirche ihrerseits warf der Regierung Verletzung des Konkordats vor, da Dutzende von Priesterverhaftungen ohne Einwilligung des zuständigen Bischofs (und somit unter Bruch der Konkordatsbestimmungen) erfolgten. 1969 wurde Vicente Enrique y Tarancön als Nachfolger des verstorbenen Kardinals Enrique Pla y Deniel zum Erzbischof von Toledo und damit zum Primas von Spanien ernannt. Vor allem in jenen Kreisen, die auf eine Lockerung des Verhältnisses von Staat und Kirche drängten, wurde die Ernennung Tarancöns begrüßt (Martin Descalzo 1982). Während des Vatikanischen Konzils hatte er sich entschieden für Öffnung und Reform der
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Kirche eingesetzt. Im September 1971 fand die erste "Gemeinsame Versammlung von Bischöfen und Priestern" statt, die einen umfangreichen Forderungskatalog an die Regierung verabschiedete (Meinungs-, Versammlungs-, Gewerkschaftsfreiheit, Rechte für ethnische Minderheiten, Abschaffung der Folter usw.). Die Schlußpassage der Resolution erhielt nicht die erforderliche Zweidrittelmehrheit von 165 Ja-Stimmen, sondern nur 137, wurde somit nicht offiziell verabschiedet. Es ist die deutlichste kirchliche Distanzierung vom Franco-Regime und das beeindruckendste Schuldbekenntnis der spanischen Kirche wegen ihrer seit 1936 eingeschlagenen Politik: "Wir erkennen demütig an und bitten um Verzeihung, daß wir es nicht rechtzeitig verstanden haben, echte Diener der Wiederversöhnung im Schoß unseres durch einen Krieg zwischen Brüdern gespaltenen Volkes zu sein" (Biescas/Tuhön de Lara 1980, 417). Anfang 1973 ließen Sprache und Inhalt einer mit Spannung erwarteten Erklärung der Bischofskonferenz die Distanz erkennen, die inzwischen Staat und Kirche trennte. Geprägt vom vielbeschworenen postkonziliaren Geist und gestützt auf den Rückhalt Papst Pauls VI. strebten die Bischöfe umwälzende Neuerungen an. Vor allem sollte Franco auf das Mitspracherecht bei der Bischofsernennung verzichten. Gerade dieses Recht vertrage sich, so der Episkopat, nicht mit der Unabhängigkeit der nachkonziliaren Kirche vom Staat; es schaffe auch Verwirrung bei den Gläubigen über die wahren Kompetenzen von Staat und Kirche. Die Bischöfe weigerten sich, fortan alle Maßnahmen der Regierung gutzuheißen. Wenn Spanien sich auch als konfessionell-katholischer Staat definiere, verpflichte das die Kirche nicht, alle Gesetze dieses Staates mitzutragen und zu unterstützen. Als sozialpolitische Ziele der Kirche forderten sie freie Gewerkschaften, Beseitigung der ungerechten Vermögensverteilung, ein Statut für Wehrdienstverweigerer, größere politische Mitwirkung der Bürger und Aufhebung der Freiheitsbeschränkungen, die die herrschende Auffassung von öffentlicher Ordnung mit ihren Sondergerichten und drakonischen Strafen dem Land auferlegte. Im Gegenzug verzichtete der Episkopat auf das Recht, Priester nur mit Zustimmung ihrer Bischöfe vom Staat anklagen zu lassen. Auf das zweifelhafte Privileg, in der Ständekammer und im Rat des Königreiches durch vom Staatschef ernannte Bischöfe vertreten zu sein, legte der Episkopat ebenfalls (schon zum wiederholten Male) keinen Wert mehr. In diesem spannungsgeladenen Klima kamen die Verhandlungen über eine Erneuerung des Konkordats nicht voran.
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In den letzten Jahren des Franco-Regimes war die Lage des spanischen Katholizismus ziemlich widersprüchlich. Die äußere Struktur des religiösen Systems war zwar intakt geblieben, aber seine kulturellen und geistlichen Grundlagen befanden sich in einem tiefgreifenden Umwandlungsprozeß. Entsprechend anders als beim Regimewechsel 1931 (von der Monarchie zur Republik) gestalteten sich beim Regimewechsel nach 1975 die Beziehungen zwischen Staat und Kirche. Im Unterschied zu 1931 unterstützte die Kirche in den Jahren nach 1975 nämlich den zweiten Versuch zur Einführung einer Demokratie in Spanien. Während der transiciön gab es sogar weniger Spannungen im Verhältnis zwischen Staat und Kirche als in den letzten 20 Jahren des Franquismus. "Eine freie Kirche in
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einem freien Staat" könnte als Motto über die Veränderungen im Demokratisierungsprozeß gesetzt werden (Pifiol 1999). Besondere Verdienste um den Prozeß der politischen Öffnung hat sich der Erzbischof von Toledo, Kardinal Vicente Enrique y Tarancön, als Vorsitzender der Bischofskonferenz in den Jahren 1972 bis 1981 erworben, unter dem die Kirche freiwillig auf manche Privilegien verzichtete und zur Umgestaltung Spaniens von einem autoritären Staat in eine pluralistische Demokratie beitrug. In der Krönungsmesse von König Juan Carlos I. hielt er eine stark politische und staatsethische Predigt, in der er die Regierung zu demokratischen Reformen drängte und sich für eine klare Trennung pastoraler und politischer Wirkungsbereiche aussprach. Das neue Verhältnis zwischen Staat und Kirche wurde in der Verfassung von 1978 festgelegt. Der ursprüngliche Vorschlag, Spanien schlicht als "nicht-konfessionellen Staat" zu bezeichnen, hatte heftige Proteste der spanischen Bischöfe zur Folge; der schließlich verabschiedete Text spricht (in Art. 16, 3) nur noch davon, daß es keine "Staatsreligion" gibt. Zugleich heißt es in der Verfassung aber, der Staat habe den religiösen Überzeugungen der spanischen Gesellschaft Rechnung zu tragen und "dementsprechende kooperative Beziehungen mit der Katholischen Kirche und den anderen Konfessionen" zu unterhalten. Obwohl somit eine Trennung von Staat und Kirche ausgesprochen ist, erhält der Katholizismus doch eine Ausnahmestellung eingeräumt; faktisch bedeutet dies eine klare Privilegierung der Katholischen Kirche, der aufgrund der Taufe nach wie vor über 90 % der Spanier angehören. Der nach langen Diskussionen durchgesetzte Verweis auf die besonderen historischen Verbindungen des spanischen Staates mit der Katholischen Kirche kann als Hinweis auf eine konservative Wende in der spanischen Kirche gedeutet werden. Dieser Konservativismus ist in den 80er Jahren immer deutlicher geworden und entspricht der allgemeinen Tendenz in der Katholischen Kirche seit dem Amtsantritt (1978) von Papst Johannes Paul II. Die neue Linie des Vatikans ließ sich klar an den Bischofsernennungen erkennen. Kenner der Szene stimmten in ihrer Einschätzung überein: Die neuen Bischöfe wurden nach den Kriterien "Folgsamkeit" und "Konservativismus" ausgesucht. Trotz der härteren Gangart zwischen Staat und Kirche kam es in Spanien aber weder zur Gründung einer kirchlich-klerikalen Partei noch zu unüberwindbaren Brüchen mit der von 1982 bis 1996 regierenden Sozialistischen Partei. Die in der Verfassung prinzipiell festgelegte Trennung von Staat und Kirche wurde in vier Abkommen untermauert, die Spanien und der Vatikan Anfang 1979 unterzeichneten; damit erloschen endgültig die Bestimmungen des Konkordats von 1953. König Juan Carlos hatte schon 1976 freiwillig auf das Präsentations- und Mitentscheidungsrecht bei der Ernennung von Bischöfen verzichtet. Die Abkommen von 1979 betreffen den juristischen Status der Katholischen Kirche, die finanziellen Beziehungen zwischen Staat und Kirche, Unterrichtsfragen und den Militärdienst der Priester (Callahan 2003). Streitpunkte mit den demokratischen (konservativen wie sozialistischen) Regierungen der Folgejahre waren (und sind) vor allem vier Themen: die Ehescheidung, die Abtreibung, die Rolle der Kirche im Schulwesen und die Finanzierungsfrage. Schier revolutionär wirkte der Verfassungshinweis, daß "Trennung" und "Auflösung von Ehen" möglich werden sollten. Das Wort "Scheidung" wurde zwar noch vermieden, der Verfassungstext sah aber ein
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Ehescheidungsgesetz voraus, das dann 1981 auch — nach massivem Widerstand seitens konservativ-klerikaler Kreise ünd gewaltiger Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Regierungspartei — verabschiedet wurde (Carvajal/Corral 1980). Läßt sich das Scheidungsgesetz als Niederlage der Kirche bezeichnen, so erzielte sie beim Abtreibungsrecht einen zumindest partiellen Erfolg. Mit offener Unterstützung durch den Vatikan lehnte die spanische Kirchenführung jegliche gesetzliche Regelung für Abtreibung entschieden ab. Der Kirche und kirchennahen Organisationen gelang es, große Menschenmassen gegen das geplante Abtreibungsgesetz (1984) zu mobilisieren. Erst nachdem das Verfassungsgericht auf Betreiben der parlamentarischen Opposition interveniert hatte, konnte schließlich 1985 ein deutlich konservativeres Abtreibungsgesetz in Kraft treten. Andauernder und grundsätzlicher waren die Auseinandersetzungen über das Erziehungswesen und die Finanzierung der Kirche. Als besonders schwierig erwies sich die Neuregelung des Erziehungswesens. Die Verfassung beließ der Kirche die Möglichkeit, eigene Lehranstalten zu unterhalten, was gesamtgesellschaftlich von großer Bedeutung ist, da die Kirche über einen Anteil von 20% am gesamten Schulwesen und über vier konfessionelle Universitäten verfügt. Als es um die gesetzliche Ausgestaltung des Artikels ging und die Kirche vehement für die Erhaltung ihrer Lehranstalten eintrat, wandten sich Teile der Linken gegen eine weitere Staatssubventionierung konfessioneller Schulen. Nach langen Auseinandersetzungen einigte man sich auf die Festschreibung der "Erziehungsfreiheit". Neuregelungen sahen die demokratische Wahl von Eltern- und Lehrerräten vor. Kirchliche Schulen erhielten (und erhalten) weiterhin — allerdings unter bestimmten Bedingungen — staatliche Unterstützung (Collado Seidel 1993, 86-103). In einem der Abkommen hatten sich Staat und Kirche auch über die Frage der Finanzierung geeinigt. Grundsätzlich sollte sich die Kirche selber um ihre Finanzierung kümmern. Sie mußte also ihre Einnahmen durch direkte Beiträge ihrer Gemeindemitglieder erzielen. Vorerst verpflichtete sich allerdings der Staat, für die Ausgaben der Kirche bis zu dem Zeitpunkt aufzukommen, zu dem diese sich selbst tragen könne. In der Folgezeit wurden verschiedene Übergangslösungen praktiziert. Seit 1987 wird die staatliche Finanzierung durch eine Kirchensteuer geregelt, bei der jeder Spanier über 0,52 % seines Steueraufkommens verfügen und es frei entweder für die Katholische Kirche oder für andere nicht-religiöse soziale Institutionen bestimmen darf. Interessanterweise überwiesen anfangs nur 34% der einkommensteuerpflichtigen Spanier ihre Quote an die Katholische Kirche; 1990 waren es landesweit 39 %. Bis heute ist eine finanzielle Autarkie der Kirche nicht erreicht. Seit 1992 wird erneut über eine Änderung der Kirchenfinanzierung diskutiert. Die Religionssteuer zugunsten der Katholischen Kirche soll — da sie in einem akonfessionellen Staat als nicht verfassungskonform gilt — abgeschafft und durch direkte, steuerlich abzugsfähige Spenden ersetzt werden. Vorerst blieb allerdings alles beim alten: Mitte der 80er Jahre sagte die sozialistische Regierung sogar eine Anhebung der Subventionen zu, so daß die Kirche insgesamt über Einnahmen in Höhe von 18 Milliarden Peseten im Jahr (drei Milliarden mehr als zuvor) verfügte; außerdem wurde die Darlehensschuld der Kirche an den Staat (in Höhe von mehreren Milliarden Peseten) gestrichen. Die Kirche behielt auch eine Reihe von Finanzprivilegien wie Steuerfreiheit für Kircheneigentum, für die Priestergehälter und
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sonstige Einnahmen bei. Dies gilt vor allem für das Schulwesen, nachdem ja private katholische Schulen ersatzweise für staatliche Schulen tätig sind und aus ihrer Unterrichtstätigkeit Einnahmen beziehen. Als die Sozialisten noch in der Opposition waren, traten sie für eine Revision des Finanzierungsmodus der Kirche ein. Obwohl sie seit Frühjahr 2004 wieder an der Regierung sind, haben sie vorerst die Finanzmodalitäten nicht verändert. Das bedeutet, daß die rund 40.000 katholischen Institutionen (Diözesen, Orden, Kongregationen, Pfarreien, Stiftungen und Vereine) monatlich 11,78 Millionen € vom Staat überwiesen bekommen. Die Kirche unterhält allein über 6.500 Bildungs- und Lehranstalten mit insgesamt rund zwei Millionen Schülern. Die Akzeptanz katholischer Lehranstalten ist hoch, die Schülerzahl vorerst konstant. Für 2005 hat die Katholische Kirche vom Staat 141,46 Millionen € erhalten. 2006 erhält die Kirche 157,7 Millionen € vom Staat überwiesen (über Steueraufkommen und freiwillige Zuweisungen); hinzu kommt ein staatlicher Zuschuß in Höhe von jährlich "über drei Milliarden €" zur Finanzierung der Erziehungs-, Gesundheits- und Sozialfürsorgetätigkeiten der Kirche sowie zum Erhalt des gewaltigen kirchlichen Immobilienbesitzes. 2006 begannen auch die Verhandlungen zwischen Staat und Kirche über eine Revision des Finanzierungsmodus. Daß die Stellung der Katholischen Kirche heute nicht mehr ganz der früherer Zeiten entspricht, läßt auch ein Gesetz deutlich werden, das das Parlament 1992 verabschiedete. Es geht in diesem Gesetz um die Zusammenarbeit des Staates mit den evangelischen Religionsgemeinschaften Spaniens (die damals 300.000 Gläubige aufwiesen), dem Verband der jüdischen Gemeinschaften (mit damals 15.000 Gläubigen) und der Islamischen Kommission. Dabei betonte der Justizminister, alle drei "Konfessionen" (so werden in Spanien Glaubensgemeinschaften genannt) seien repräsentativ für die spanische Tradition und Kultur. Das Gesetz garantierte die Gleichheit der Religionen "unter Beachtung der logischen Unterschiede zur Katholischen Kirche". Kurz zuvor war im Beisein von König Juan Carlos in Madrid das Islamische Kulturzentrum eröffnet worden. Das imposante Gebäude aus weißem Marmor, die größte Moschee Europas, wurde dank einer Spende von über zwei Milliarden Peseten von König Fand von Saudi Arabien errichtet. Mitte der 90er Jahre lebten 450.000 Moslems im Land, 50.000 allein in Madrid. Heute gibt es in Spanien rund 2.200 evangelische Glaubensgemeinschaften, die Zahl der Moslems hat inzwischen infolge der massiven Einwanderung aus den Maghreb-Staaten auf 700.000 zugenommen (Motilla 2004). Die staatliche Stiftung "Pluralismus und Zusammenleben" (Pluralismo y Convivencia) verfügt über ein Jahresbudget von drei Millionen € zur Finanzierung der nicht-katholischen Kirchen. Kritiker verweisen auf die lächerlich geringe Summe, Verteidiger bezeichnen es als einen erfolgversprechenden Anfang.
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Zur Glaubenspraxis der Spanier
Seit Francos Tod sind inzwischen über 30 Jahre vergangen; das Verhältnis zwischen Staat und Kirche, aber auch der spanische Katholizismus insgesamt, hat sich in dieser Zeit grundlegend gewandelt. Im Jahr 1981 endete in der spanischen Kirchenführung die Ära des liberalen, klugen und taktvollen Kardinals Enrique y Taranc6n. In seiner Abschiedsrede
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lieferte Enrique y Tarancön eine nüchterne Analyse der religiösen Situation im Lande. Zu den negativen Erscheinungen zählte er die "nicht überwundene Identitätskrise von Priestern, Ordensleuten und Laien"; weiterhin erwähnte er den mangelnden Priesternachwuchs, die Relativierung des Sündenverständnisses, den damit verbundenen Rückgang der Beichtpraxis, Disziplinlosigkeit gegenüber liturgischen Vorschriften. Zu den positiven Entwicklungen rechnete er "die Hinwendung der Kirche und ihrer Hierarchie zu den Schwachen, Unterdrückten; diese mißtrauten früher der Amtskirche als einer Verbündeten der weltlichen Macht." Enrique y Tarancöns Nachfolger als Vorsitzender der Bischofskonferenz wurde der ebenfalls liberale Erzbischof Gabino Diaz Merchän, der allerdings nicht verhindern konnte, daß in den 80er Jahren der Stil in der Kirche — auch unter dem Einfluß des polnischen Papstes — wieder zusehends konservativer wurde. Nachdem die großen politischen Entscheidungen der Übergangsjahre gefallen waren, widmete sich die Amtskirche in den 80er Jahren verstärkt innerkirchlichen Fragen, was ihr jedoch den Vorwurf eintrug, sie ziehe sich unter römischem Druck in die Sakristei zurück. Wie wichtig allerdings für die Kirche die verstärkte Hinwendung zu pastoraler Tätigkeit war (und ist), zeigten (und zeigen) alle Meinungsumfragen zur religiösen Praxis im Lande (Doucastella 1975; Actitudes 2002). Alle systematischen Umfragen der letzten Jahrzehnte haben nämlich ergeben, daß seit dem Wegfall des früheren sozialen Drucks die Glaubenspraxis deutlich nachgelassen hat. Ende der 80er Jahre ließ sich von einer Dreiteilung der spanischen Bevölkerung sprechen: Ein Drittel konnte als praktizierend bezeichnet werden; ein weiteres Drittel bezeichnete sich als gläubig, aber nicht praktizierend; das restliche Drittel war als indifferent oder atheistisch anzusehen. Unabhängig von diesen Zahlen ließ die große Mehrheit (83 %) ihre Kinder nach wie vor taufen, und auch die kirchliche Trauung erfreute sich ungebrochener Beliebtheit (94%). In Anbetracht der kritischen Umfrageergebnisse zur religiösen Praxis bemerkte Kardinal Enrique y Tarancön bereits 1980, der Glaube des Spaniers reiche wohl aus, um als Christ zu sterben, möglicherweise aber nicht, um als Christ zu leben. Die Bischofskonferenz sprach von der Notwendigkeit einer Re-Evangelisierung des Landes. Dabei sollte Glaubenserziehung die zentrale pastorale Aufgabe der Kirche sein. Sie sollte dem erheblichen Mangel an religiösem Grundwissen, der Glaubensschwäche und der lauen Praxis im spanischen Katholizismus abhelfen. Die Wiederbelebung der Hauptziele der Kirche sollte in der Demokratie zu einem schwierigen, letztlich unerreichbaren Unterfangen werden. Für die meisten Spanier hatte ihre Identität als Katholiken nicht mehr die gleiche Bedeutung wie eine Generation zuvor; Wertvorstellungen und Verhalten der Bevölkerung hatten sich zwischenzeitlich radikal verändert. In einer Umfrage Mitte der 80er Jahre unter Madrider Jugendlichen nach der ihrer Meinung nach überflüssigsten Institution wurde an erster Stelle die Kirche genannt; dann folgten die Armee und die Ehe. Und auf die Frage, welche Institution ihnen die beste Orientierung für ihr Leben gebe, gaben Anfang 1994 nur 8% der befragten Jugendlichen die Kirche an. Spaniens Jugend hat seit längerem schon liberale Wertvorstellungen, die von der kirchlichen Lehrmeinung weit entfernt sind: 72 % heißen voreheliche Beziehungen, 80 % empfängnisverhütende Mittel gut; 60 % sprechen sich für die Möglichkeit der Abtreibung aus, nur 44% verurteilen grundsätzlich einen ehelichen Seitensprung.
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XVIII Kirche, Staat und Religion
Von einer allgemeinen Abnahme der Religiosität kann man allerdings in Spanien nicht sprechen. Eine Untersuchung von 1979 ergab, daß 83% der Befragten an die Existenz Gottes glaubten. Selbst über drei Viertel der Jugendlichen gaben an, an Gott zu glauben. Diese Zahlen blieben in den 80er Jahren relativ konstant: 1990 gaben 51 % der Befragten an, "fest" an Gott zu glauben, 28% glaubten "mehr oder weniger" an ihn. Die Zahl der praktizierenden Christen sank allerdings deutlich: 1983 betrug sie noch 31 % (während sie 1970 noch 53% betragen hatte), bis 1989 war sie auf 24% zurückgegangen (Recio u. a. 1990, 53). Für 1990 besagten Schätzungen, daß 10% der spanischen Gesellschaft sich als aktive und 33% als teilnehmende Kirchenmitglieder verstanden. 28% beteiligten sich am kirchlichen Leben nur in Zusammenhang mit Taufen oder Trauungen, und 29 % wollten mit der Kirche gar nichts zu tun haben. Fast 50% der damals Jugendlichen (bis zu 25 Jahren) gaben an, nie in die Kirche zu gehen. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts war dieser Anteil auf 57% gestiegen. 2002 betrachteten sich 70% der Jugendlichen (unter 28 Jahren) als nicht-praktizierende Katholiken; 2004 erklärten nur noch 14,2% der Jugendlichen, "praktizierende Katholiken" zu sein. Von der spanischen Gesamtbevölkerung gingen zu Beginn des 21. Jahrhunderts 25,6% "nie" in die Kirche; 61,1% beteiligten sich in keiner Form an irgendwelchen kirchlichen Aktivitäten. Allerdings vertraten 42,7% der Befragten die Meinung, sie seien "sehr" oder "ziemlich" religiös, 20,3% würden für ihren Glauben sogar ihr Leben opfern, und nicht weniger als 72,9 % glaubten "fest" oder "einigermaßen" an Gott (Actitudes 2002). Trotz dieser Angaben vertraten 44,3 % die Meinung, die Kirche habe viel zu viel oder zumindest zuviel Macht in Spanien. Ende 2004 war die Kirche (neben dem Fernsehen) die Institution, der die Spanier am wenigsten trauten; 61,5% sprachen ihr Mißtrauen gegenüber der Kirche aus (El Pais, 21.10.2004, 14). Anfang 2006 bezeichneten sich nur noch 49% der Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren als katholisch (1996 waren es noch 77% gewesen). Als Agnostiker, Atheisten oder Indifferente bezeichneten sich 46%. Die Kirche flößte den Jugendlichen weniger Vertrauen ein als die NATO oder multinationale Unternehmen. Als Gründe für den drastischen Rückgang an Popularität der Katholischen Kirche gaben die Autoren der Umfragestudie die Haltung der Kirche in Fragen der Moral und die laizistische Ausrichtung des gesellschaftlichen Lebens an. Nicht nur die Zahl der praktizierenden Katholiken ging kontinuierlich zurück. Als besonders gravierend erwies sich der Rückgang der ordinierten Pfarrer. Mitte der 90er Jahre gab es etwa 200 Ordinationen im Jahr, wegen des hohen Durchschnittsalters der Pfarrer gleichzeitig allerdings rund 400 Todesfälle und außerdem 50 Säkularisierungen pro Jahr. Hatte es 1966 noch 26.308 Priester gegeben, so waren es 1999 nur noch 19.500. Längst sind viele Pfarreien verwaist: Von den über 22.000 Pfarreien haben weit über die Hälfte keinen eigenen Pfarrer mehr; in den nächsten Jahren dürfte sich die Krise im Pfarrerstand weiter zuspitzen (Collado Seidel 2004, 441). Deutet man die Umfrageergebnisse der letzten Jahre richtig, dann wird man das heutige Spanien weder ein katholisches Land im Sinne der Amtskirche noch ein Land von Agnostikern oder religiös indifferenten Personen nennen können. Der dominierende Katholizismus darf aber nicht mit Gefolgschaft der Amtskirche gleichgesetzt werden. Während diese unter Papst Johannes Paul II. einen umfassenden Versuch der Re-Evangelisierung startete, wider-
Zur Glaubenspraxis der Spanier
411
setzten die Spanier sich vielfach diesem Begehren. Die Säkularisierung der Gesellschaft geht ihren eigenen Weg, Glaube und Religion haben eine "Privatisierung" vollzogen (Cärcel Orti 2003; Mardones 2003). Anfang der 90er Jahre verschlechterten sich die Beziehungen zwischen der (sozialistischen) Regierung und der Katholischen Kirche zusehends. Der konservative Vorsitzende der spanischen Bischofskonferenz, Kardinal Angel Suqufa, griff die Regierung wegen ihrer angeblich unmoralischen und laizistischen Politik heftig an, sekundiert von Papst Johannes Paul II., der die Entchristianisierung Spaniens anprangerte und sich große Sorgen um den moralischen Zustand der spanischen Gesellschaft machte. Erst mit der Wahl des relativ progressiven Elfas Yanes, Erzbischof von Zaragoza, zum Vorsitzenden der Bischofskonferenz entspannten sich die Beziehungen zwischen Staat und Kirche wieder, der Konfrontationskurs wurde aufgegeben. Dabei war die sozialistische Regierung weit vom Antiklerikalismus früherer Sozialisten entfernt. Sie hoffte zwar, im Erziehungs- und Kulturbereich die Säkularisierung weiter vorantreiben zu können. Die finanzielle Förderung der Privatschulen durch den Staat zeigte jedoch, daß es der sozialistischen Regierung nicht auf eine Konfrontation ankam. Zu Auseinandersetzungen mit der Kirche kam es vor allem im Schulbereich. Das Bildungsgesetz von 1990 (Ley de Ordenaciön General del Sistema Educativo, LOGSE) machte Religionsunterricht zum optionalen Lehrfach; jede Lehranstalt mußte demnach katholischen Religionsunterricht anbieten, den Schülern stand es aber frei, sich für oder gegen den Religionsunterricht zu entscheiden. Nach erheblichen Streitigkeiten wurde schließlich festgelegt, daß die Alternative zum Religionsunterricht ein Fach mit starkem Freizeitcharakter sein würde — eine Regelung, die von der Kirche heftig bekämpft wurde. — Trotz mancher anhaltender Probleme läßt sich als Ergebnis von 14 Jahren sozialistischer Regierung festhalten: Zum ersten Mal in der spanischen Geschichte bestand ein offener Dialog, in dem sich die Amtskirche klar zur Demokratie bekannte und die regierende Sozialistische Partei auf jeden Antiklerikalismus verzichtete (Gonzälez Blasco/Gonzälez-Anleo 1992). Die "offiziellen" Zahlen über praktiziertes Christentum und regelmäßigen Kirchenbesuch sind im übrigen nur bedingt aussagekräftig im Hinblick auf die "gelebte" Religion. Zum einen zeigt die spanische Kirche nämlich eine Fülle von regionalen Varianten, progressiven Einzelinitiativen und Gruppierungen, wie etwa die sehr aktiven Basisgemeinden, zum anderen gibt es am Rande der Amtskirche eine überaus lebendige, mit folkloristischen Elementen durchzogene Volksreligiosität. Die Basisgemeinden entstanden im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils und des sozialen Engagements der Kirche; sie verstehen sich als Minderheitengruppierungen in Opposition zur Mehrheit der Amtskirche, deren hierarchisch-ritualisierte Frömmigkeit sie zu überwinden trachten. Allein in der Hauptstadt Madrid gibt es 80 dieser Gemeinden, die von engagierten Priestern und Laien getragen werden und nach einem einfachen, am Evangelium orientierten Leben sowie nach einer demokratischen Kirche "von unten" streben. Im Sinne der Theologie der Befreiung übernehmen sie häufig die fehlende Sozialarbeit des Staates. Anfang 1982 gab es 5.000 Basisgemeinden, die entweder eine spirituelle und bewußt unpolitische Ausrichtung hatten oder sich an dem von der Theologie der Befreiung entwickelten lateinamerikanischen Typ orientierten. Die Einbindung dieser aktiven Gemeinschaften in die lokalen Kirchen ist allerdings sehr unterschiedlich.
412
XVIII Kirche, Staat und Religion
7. Probleme zwischen Kirche und Regierung
Probleme zwischen Kirche und Regierung (2004/2006) (2004/2006)
Hatte sich das Verhältnis zwischen Staat und Kirche während der achtjährigen Regierungszeit der Konservativen (1996-2004) einigermaßen entspannt, so wurden die Beziehung zwischen sozialistischer Regierung und Katholischer Kirche nach dem überraschenden Wahlsieg von Jos Luis Rodrfguez Zapatero im März 2004 erneut gewaltigen Spannungen ausgesetzt. Die neue Regierung führte eine Reihe gesellschaftspolitischer Reformen durch, die überwiegend entschiedene Ablehnung durch die Katholische Kirche erfuhren. Zu den sozialistischen Reformvorhaben gehörten die schrittweise Erleichterung von Ehescheidungen, die weitergefaßte Legalisierung von Abtreibungen, die Zulassung gleichgeschlechtlicher Eheschließungen und die Stammzellenforschung. Auch die Abwertung des Religionsunterrichts als Vorrückungsfach und die Kürzung der finanziellen Privilegien der Kirche spielten bei den Diskussionen eine große Rolle. Der erste Streit zwischen der Regierung und der Katholischen Kirche bahnte sich bereits Ende Mai 2004 an, als Pläne der Sozialisten bekannt wurden, die Gesetze zur Abtreibung, zur Scheidung sowie zur Forschung mit embryonalen Stammzellen zu lockern und die Ehe unter Homosexuellen zu erlauben. Solche Initiativen seien zutiefst "ungerecht" und stellten selbst die Legitimität des Staates in Frage, so die Kirchenführung. Die Embryonenforschung gleiche der "Eliminierung" eines Menschen. Die Bischofskonferenz kündigte an, daß die Kirche den gesellschaftlichen Protest gegen derartige Maßnahmen unterstützen werde. In der Folgezeit kritisierten die Bischöfe immer häufiger die neue Regierung und unterstützten Demonstrationen zur Verteidigung religiöser Werte und Überzeugungen. Der Sprecher der Bischofskonferenz berief sich darauf, daß den Katholiken die gleichen Rechte zur freien Meinungsäußerung zustünden wie anderen Bürgern auch. Ende Juli 2004 forderte die spanische Bischofskonferenz alle katholischen Abgeordneten auf, im Parlament gegen die von der Regierung geplante Einführung der "Homo-Ehe" zu stimmen. Außerdem wurden alle Katholiken zum Protest aufgerufen. Im September 2004 verabschiedete das Parlament ein Reformgesetz, das den Scheidungsprozeß leichter, schneller und billiger machen soll. Die Kirche äußerte zwar Einwände, allerdings fiel der Protest schwächer aus als erwartet. Die größte Kritik kam diesmal von Seiten der feministischen Linken, der das geteilte Sorgerecht mißfällt und die stattdessen eine klare Bezugsperson für die Kinder fordert — im Zweifelsfall die Mutter. Kein anderes Reformvorhaben der sozialistischen Regierung hat die Gemüter in Spanien jedoch derart angeheizt wie die Zulassung der Homosexuellen-Ehe. Im April 2005 wurde das entsprechende Gesetz in den Cortes verabschiedet. Danach werden gleichgeschlechtlichen Paaren die gleichen Rechte zuerkannt wie heterosexuellen, etwa bei Erbschaftsangelegenheiten, in Rentenfragen oder in bezug auf die Adoption von Kindern. Nur die Abgeordneten des Partido Popular stimmten im Parlament gegen das von der sozialistischen Regierung angeregte und von linken sowie regionalnationalistischen Parteien gebilligte Projekt. Im Juni 2005 fanden in Madrid mehrere Großdemonstrationen, an denen auch Vertreter der Kirche sowie des Partido Popular teilnahmen, gegen das Vorhaben der Regierung statt. Dessen ungeachtet trat das Gesetz in Kraft. Nach Kanada, Belgien und den Nieder-
413
landen ist Spanien das vierte Land, das schwulen und lesbischen Paaren die Eheschließung erlaubt. Regierungschef Zapatero nannte diese Entscheidung einen "weiteren Schritt auf dem Weg zu Freiheit und Toleranz". Der Chef der Oppositionspartei, Mariano Rajoy, warf der Regierung dagegen vor, das Land gespalten zu haben, und kündigte an, einen Gang vor das Verfassungsgericht zu prüfen. Andere konservative Politiker deuteten an, das Gesetz im Falle eines Regierungswechsels wieder rückgängig zu machen. Trotz des Widerstandes der Kirche, des Partido Popular und mehrerer konservativer Familienvereinigungen fand die Zulassung gleichgeschlechtlicher Eheschließungen vor allem unter der jungen Bevölkerung regen Zuspruch. In einer Meinungsumfrage sprachen sich 2004 über 70% der Spanier für die Homo-Ehe aus. Studien beziffern den Anteil der Homosexuellen an der spanischen Bevölkerung (44 Millionen) auf zwischen fünf und zehn Prozent. Nach ersten Hochrechnungen über die Zahl der zu erwartenden gleichgeschlechtlichen Eheschließungen ist mit bis zu fünfzehntausend Trauungen pro Jahr zu rechnen. Im April 2005 hatten sich Ministerpräsident Rodrfguez Zapatero und der neue Vorsitzende der Bischofskonferenz Ricardo Bläzquez, Nachfolger von Rouco Varela, zu Gesprächen über die Zukunft des Schulfaches Religion und die Finanzierung der Kirche getroffen. Mit diesem Treffen sollten die Spannungen zwischen Staat und Kirche abgebaut werden. Ein Hauptpunkt war die Einsetzung gemischter Kommissionen, die eine stabile Basis für zukünftige Diskussionen schaffen sollen. Diskussionsbedarf gab es, vor allem für die Kirche, zuhauf. So hat in der Oberstufe der staatlichen Gymnasien die Teilnahme am Religionsunterricht in den zehn Jahren zwischen dem Schuljahr 1996/97 und 2005/06 von 57,5 % auf 39,2 % abgenommen, in sämtlichen Klassenstufen der Gymnasien von 60,1 % auf 51,4 %. (Zum Vergleich: An konfessionellen Schulen nehmen 99% der Schüler am Religionsunterricht teil.) Die Kirche führt diesen drastischen Rückgang auf die Auswirkungen des Bildungsgesetzes von 1990 (LOGSE) zurück und wendet sich deshalb mit Nachdruck gegen die 2005/06 im Parlament diskutierte Ley Orgänica de Educaciön (LOE), die einen weiteren Statusverlust für das Fach Religion vorsieht. Sie argumentiert, die neue LOE stehe in Widerspruch zu den Abmachungen von 1979 zwischen dem Vatikan und dem spanischen Staat. Von kritischer, linkskatholischer Seite ist der Hierarchie der Katholischen Kirche vorgeworfen worden, sie wolle faktisch zu einer "vierten Gewalt" im Staate werden. Im Unterschied zur Transition, als die Kirche mit den demokratischen Kräften loyal bei der politischen Umgestaltung des Landes zusammenarbeitete, fühle sie sich inzwischen im demokratischen Staat des 21. Jahrhunderts unwohl und versuche, verlorengegangenes Terrain zurückzuerobern. Dazu wende sie vornehmlich vier Strategien an: Zum einen appelliere sie an das "Naturgesetz", das über allen menschlichen Gesetzen stehe und zu dessen ewigen Interpreten die Bischöfe sich selbst erklärten; sie dürfe daher die Grenzen der Gesetze festlegen und erhebe sich damit über die Gesetzgeber. Zum anderen "besetze" sie die Straße, organisiere Massendemonstrationen und stelle damit ihre gesellschaftliche Mobilisierungsfähigkeit unter Beweis. Zum dritten sei sie bestrebt, eine Konfessionalisierung der laizistischen Institutionen (wie Schule und Universität) mit religiösem Gedankengut durchzusetzen. Zum vierten schließlich greife die Kirche auf Finanzmittel des Staates zurück, was ihre fehlende Unabhängigkeit und die geringe Glaubwürdigkeit beweise, die sie unter den Katholiken selbst habe.
414
XVIII Kirche, Staat und Religion
Auch die Beziehung des Vatikans zum spanischen Staat hat sich seit dem Regierungswechsel in Madrid verschlechtert. Im Januar 2005 kritisierte Papst Johannes Paul II. die spanische Regierung öffentlich für die "wachsende Ideologie des Laizismus". Die lediglich freiwillige Teilnahme am Religionsunterricht führe, so der Papst, zu einer Beschneidung der Religionsfreiheit und könne in einer offenen Geringschätzung der Religion gipfeln. Außerdem betonte er, daß der Staat das Recht der Eltern auf eine religiöse und wertorientierte Erziehung der Kinder energischer verwirklichen müsse. Es widerspreche der katholischen Tradition Spaniens, das Religiöse in die Privatsphäre zu verbannen. Dies würde auf eine Geringschätzung des Glaubens hinauslaufen. In Madrid lösten die Worte des Papstes Unmut aus. Spanien befinde sich "in der Phase der größten religiösen Offenheit seiner Geschichte", wurde Ministerpräsident Rodrfguez Zapatero drei Tage später in den spanischen Medien zitiert. Zapatero versicherte seinen "größten Respekt" gegenüber dem Papst. Allerdings habe ein Großteil der Spanier die päpstlichen Aussagen als übertrieben empfunden. Die Mehrheit der Bevölkerung stehe hinter der Regierungspolitik. Die spanische Verfassung geht von einem akonfessionellen, nicht aber von einem laizistischen Staat aus. Das aber dürfte langfristig das Ziel der spanischen Linken sein – vom sozialistischen PSOE über die Vereinigte Linke (IU) bis hin zu den Grünen und Linksrepublikanern (ERC) aus Katalonien. Dabei verweisen sie auf das in der Verfassung verankerte "Prinzip der ideologischen Neutralität". In der gesellschaftlichen Debatte befindet sich die Linke mit ihren Forderungen stets in starkem Gegensatz zu den Standpunkten der Katholischen Kirche. Der Vorsitzende der Bischofskonferenz (bis 2005), Kardinal Antonio Maria Rouco Varela, bekannte sich zwar in seiner Eröffnungsansprache der Frühjahrstagung zum Grundgedanken des akonfessionellen Staates, aber er mahnte auch, daß niemand an der Ausübung seiner religiösen Rechte gehindert werden dürfe. Zugleich sprach er von der "traurigen Wahrheit", daß sich die spanische Gesellschaft "bewußt und entschieden vom christlichen Glauben entfernt". Reformen wie die Erleichterung der Ehescheidung, ein liberalisiertes Abtreibungsrecht, die Einführung der Homo-Ehe und die Abschaffung des obligatorischen Religionsunterrichts an staatlichen Schulen dürften auch in Zukunft den Widerstand der Katholischen Kirche hervorrufen. Es wird noch lange dauern, bis es zu einem spannungsfreien Miteinander von Kirche und Staat kommt.
Probleme zwischen Kirche und Regierung (2004/2006)
415
Übersicht: Die Katholische Kirche Spaniens in Zahlen 2002 n Personal Bischofskonferenz Kardinale Erzbischöfe
2
15 65 38 120
Bischöfe Emeriti Kongregationen Weibliche Männliche Geistliche Pfarrer Nonnen Mönche Im Ausland Bischöfe im Ausland
295 104 399
Seminaristen Mit Hochschulabschluß (seminario mayor) Mit Abitur Arbeitendes Personal In Altenheimen Lehrer an Schulen
1.797 1.842 3.639 12.202 60.282 72.484
19.837 48.585 13.010 15.166 104 96.702
III Finanzierung Finanzierung durch Steuern 1980: 44,83 Mio. € 1990: 85,69 Mio. € 2000: 128,01 Mio. € 2006: 144,24 Mio. € Öffentliche Finanzierung des Fachs Religion (Schuljahr 2004/2005) An "konzertierten" Privatschulen 129 Mio. € An öffentlichen Schulen 388 Mio. € Kapläne (in Krankenhäusern, Gefängnissen und Kasernen) 36 Mio. € Jahreszuweisung durch den Staat:
3,5 Mrd. €
Steuerprivilegien Befreiung von der Zahlung der Mehrwertsteuer, der Grundsteuer, der Unternehmenssteuer, der Übertragungssteuer, der Steuern auf notarielle Akte. Geschätzte Steuerersparnis:
2 Mrd. €
416
IIII
XVIII
Kirche, Staat und Religion
Literatur
Literatur
Immobilien
Pfarreien Mit Pfarrer Ohne Pfarrer
Kathedralen Klöster Museen Gesundheitszentren Krankenhäuser Ambulanzen und Polikliniken
12.270 10.690 22.960 103 961 280
107 128 235
Rundfunksender Cope (Bischofskonferenz) Sozialzentren Altenheime Waisenhäuser Kindertagesstätten Resozialisierungseinrichtungen Fürsorgeanstalten Andere
417
876 937 321 365 144 305, 2.948
Erziehungszentren Kindergärten Unterrichtsstätten
2.129 5.197 7.326
Universitäten Deusto (Jesuiten) Navarra (Opus Dei) San Pablo-CEU (ACNP) Comillas (Päpstl. Univ.) Salamanca (Päpstl. Univ.) Murcia (Kath. Univ.) Avila (Kath. Univ.)
15 41 11 55 72
kirchliche Fakultäten theologischeZentren Wohnheime Hochschulfakultäten höhere Anstalten
Personen, die Zentren der Katholischen Kirche aufgesucht haben: Krankenhäuser 387.356 Ambulanzen und Polikliniken 849.728 Aufnahmestätten 57.653 Waisenhäuser 10.835 Kindertagesstätten 10.607 Resozialisierung 53.140 Fürsorgeeinrichtungen 1.721.894 Andere 79.868 Erteilte Sakramente (2204) Taufen 283.226 Erstkommunionen 265.801 Firmungen 132.885 Eheschließungen 150.739 Angaben aus: El Pais, 21.11.2005, 32
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418
Militär und Politik in der neueren spanischen Geschichte
XIX Das Militär
1.
Militär und Politik in der neueren spanischen Geschichte
Alle Regime- und viele der zahlreichen Regierungswechsel zwischen 1814 und 1874 fanden durch direkte oder indirekte Einwirkung des Militärs statt. Wohl in keinem anderen westeuropäischen Land hat die Armee im 19. und 20. Jahrhundert eine derart herausragende Rolle wie in Spanien gespielt. Als auslösendes Moment der Entwicklung, in deren Verlauf sich das Militär in die Politik einmischte und zu einem beherrschenden Faktor im staatlichen Leben des Landes wurde, wirkte der Unabhängigkeitskrieg gegen Napoleon. Er zwang die Offiziere zu politischen Entscheidungen, politisierte damit das Heer, das sich auch in seiner geistigen Struktur wandelte. Der Armee fiel eine neue politische Rolle zu, das Offizierskorps übernahm in vielerlei Hinsicht die Funktion der bisher politisch führenden Schicht. In der "Ära der pronunciamientos" (1814-1874) galt das Offizierskorps mehrheitlich als liberal und reformfreudig, was damit zusammenhängen dürfte, daß es sich am Ende des Unabhängigkeitskrieges neben den traditionellen Militärs aus ehemaligen guerrilleros, aus jungen Offizieren aus der unteren Mittelschicht und 4.000 weiteren Offizieren zusammensetzte, die aus französischer Gefangenschaft zurückgekehrt waren; sie alle dürften liberalem Gedankengut gegenüber aufgeschlossen gewesen sein. Das Offizierskorps erstrebte, ebenso wie die Kräfte des Liberalismus, die Zentralisierung der öffentlichen Verwaltung, die Vereinheitlichung gesellschaftlicher Normen und staatlicher Verfahrensweisen, die Abschaffung regionaler Sonderrechte. Die Offiziere unterstützten die Liberalen auch deshalb, weil diese sich für eine Modernisierung der Armee in bezug auf Ausrüstung, Organisation und Professionalisierung des Offizierskorps einsetzten. Im Vergleich zu den strukturellen Wandlungen in Spaniens Wirtschaft und Gesellschaft änderten sich jedoch Haltung und Verhalten der bewaffneten Macht zwischen 1830 und 1930 nur wenig. Zu dieser — wie zu jeder anderen — Zeit wurde das Denken der Offiziere von der Sorge um die nationale Einheit und Einigkeit beherrscht. Diesem Ziel schien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die konstitutionelle Monarchie am besten zu dienen (Cardona 1983). Der Militarismus des 19. Jahrhunderts zeichnete sich durch ein "Regime von Generälen" aus (Espartero, Narväez, O'Donnell, Prim u. a.), deren pronunciamientos zwischen 1814 und 1874 im Dienste verschiedener parteipolitischer Optionen standen. Die pronunciamientos nahmen in nahezu formalisierter Weise die Ablösung von Regierungen vor, Zumeist liefen sie nach bestimmten "Regeln" ab, denen zufolge ein Militärführer sich gegen die herrschenden Mißstände "aussprach" und ein Programm — mit der stereotypen Forderung nach nationaler Einheit — als Manifest an die Truppe verkündete. Der Aufstand hatte zuerst lokalen Charakter, sprang dann auf die Provinz und von dort auf die Hauptstadt über. Nach einiger Zeit gab die Regierung ihren inzwischen sinnlos gewordenen Widerstand auf, die neuen Machthaber zogen in Madrid ein.
419
Nahezu alle Historiker sind sich darin einig, daß die Schwäche des politischen Systems in der liberalen Ära Isabellas und seine mangelnde Verankerung in der Gesellschaft die zahlreichen Militärinterventionen ermöglichten, die sich stets gegen die "Verräter" und "Tyrannen", gegen "Unterdrückung" und "Diktatur" der jeweiligen Regierung wandten. Nach einem erfolgreichen pronunciamiento figurierte in der neuen Regierung sodann einer der Soldaten, die den militärischen Gewaltakt durchgeführt hatten — nunmehr aber als Parteiführer. Fast sämtliche "großen" Namen der spanischen Parteipolitik im 19. Jahrhundert haben ihren cursus honorum als Soldaten im Krieg, häufig im Karlistenkrieg, begonnen und in höchsten Staats- und Regierungsämtern beendet. Sicherlich erklärt die Schwäche der spanischen Bourgeoisie die Notwendigkeit, zur Durchsetzung ihrer politischen Interessen auf das Militär zurückgreifen zu müssen, das in den Jahrzehnten nach 1833 von den sich bekämpfenden Fraktionen des Liberalismus instrumentalisiert wurde. Grundlage hierfür war die Ausübung verschiedenartiger Tätigkeiten durch die Armee im Bereich der zivilen Verwaltung, vor allem aber der öffentlichen Ordnung. Während des liberalen Trienniums (1820-1823) führte die Notwendigkeit, das neue Regime fest zu verankern, zu einem "Modell" öffentlicher Ordnung, das, abweichend vom liberalen britischen Fall, den Einfluß des Militärs auf Regierungsangelegenheiten und die innere Ordnung stärkte und die Militärgerichtsbarkeit auf politische Delikte, die von Zivilisten begangen worden waren, ausdehnte; außerdem wurden viele zivile Stellen mit Soldaten besetzt. In der liberalen Ära wiederholte sich nach 1833 die Situation des vorhergegangenen konstitutionellen Zwischenspiels. Abermals wurden den Militärs außerordentliche Kompetenzen eingeräumt, um eine Absicherung des liberalen Regimes zu erreichen. Die zivilen Provinzvorsteher etwa, die Subdelegados de Fomento, wurden praktisch durch die Militärbehörden neutralisiert, was die Möglichkeit einer Professionalisierung der Verwaltung und einer zivilen Kontrolle der Polizeifunktionen abermals zunichte machte. Insgesamt wird man sagen können, daß der Ursprung der herausragenden Rolle der Militärs als gesellschaftliches Kollektiv und der Armee als Institution in der mangelhaften Ausprägung der "bürgerlichen Revolution" und in der Schwäche des Bürgertums als Klasse lag. Das Bewußtsein ihrer Schwäche bewog die spanische Bourgeoisie, die Militärs im politischen Leben zu instrumentalisieren. Zugleich führte aber das politische Vakuum in der neueren Entwicklung dazu, daß es von der Armee als Institution ausgefüllt wurde, wobei die Interessen des Staates und der Gesellschaft in einem Prozeß des zunehmenden Interventionismus mit denen des Militärs gleichgesetzt wurden. Der Kulminationspunkt dieser Entwicklung sollte im 20. Jahrhundert 1923 und vor allem 1936 erreicht werden. Versucht man, die Rolle der Militärs in der Ära der pronunciamientos analytisch zu erfassen, bietet sich die Modernisierungstheorie Samuel P. Huntingtons an, da sich im fraglichen Zeitraum in der spanischen Gesellschaft zweifellos eine tiefgreifende Modernisierung vollzogen hat, so daß die Thesen Huntingtons zur Stabilität sich modernisierender Gesellschaften durchaus auf den spanischen Fall anwendbar sind. Militärische Intervention ist, Huntington zufolge, ein untrennbarer Bestandteil politischer Modernisierung, eine spezifische Manifestation der allgemeinen Politisierung sozialer Kräfte und Institutionen in unterentwickelten Gesellschaften. Diese Politisierung sozialer Kräfte, die über keine institutionalisierten Kanäle verfügen, ist ein Kennzeichen "prätorianischer" Gesellschaftssysteme. Insge-
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XIX Das Militär
samt besteht die Rolle des Militärs in prätorianischen Gesellschaften darin, der Mittelschicht den Aufstieg nach oben zu ermöglichen, ihn der Unterschicht aber unmöglich zu machen (Huntington 1968, 194-201). Die liberalen pronunciamientos des 19. Jahrhunderts haben die von Huntington beschriebene Funktion erfüllt. Sie haben den Einfluß der Mittelschichten, zumindest zeitweilig, gestärkt und zu bescheidenen Reformen der politischen Institutionen geführt. In diesem Sinne der Unterstützung der politischen Einflußausweitung der Mittelschichten ist die reformerische Rolle des Militärs als "modernisierend" zu bewerten. Sobald diese Mittelschichten jedoch ihren politischen Einfluß gesichert hatten, trug das Militär zur Konsolidierung ihrer erzwungenen Machtpositionen und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Verhinderung des politischen Aufstiegs der Arbeiterschaft bei. Neben dem Heer entstand im Spanien des 19. Jahrhunderts eine streng zentralistisch aufgebaute paramilitärische Institution: die "Zivilgarde" (Guardia Civil). Die Entstehung dieser Institution, die über die Jahrzehnte hinweg wie kaum eine zweite das traditionell-agrarische Spanien repräsentieren und symbolisieren sollte, ist ein Beispiel für den Kompetenzstreit zwischen ziviler Gewalt und militärischer Führung. Die spanische Bourgeoisie war sich der Gefahren und Hindernisse eines militarisierten Staatsaufbaus für die weitere Wirtschaftsentwicklung des Landes durchaus bewußt und daher bestrebt, eine flexible und zugleich koaktive zivile Administration zur Umsetzung der politischen Initiative einzurichten. Die aus dieser Überlegung hervorgehende Guardia Civil sollte ein bewaffnetes Elitekorps im Dienste der zivilen Gewalt sein. Dieser ursprüngliche Plan konnte aber schon deshalb nicht realisiert werden, weil die Armee gegen Mitte des Jahrhunderts 60 % des Staatshaushaltes beanspruchte und 90 % der Staatsbediensteten stellte (Löpez Garrido 1982). Eines der Hauptprobleme der spanischen Armee im 19. ebenso wie im 20. Jahrhundert war die enorme "Kopflastigkeit" der Institution, die jedoch – angesichts der engen Verflechtung zwischen Militär und Politik – keine Regierung abzuschaffen wagte. Mitte des Jahrhunderts gab es, bei ca. 100.000 Soldaten, 661 Generäle. Zum Vergleich: In Preußen waren es, bei einem Heer von 217.000 Mann, 122 Generäle. Zwischen 60% und 70 % des Verteidigungshaushaltes entfielen auf Personalkosten. Zum Vergleich: In Frankreich und Italien waren es weniger als 20 %. Die 1844 als Sicherheitskorps zur Verankerung des liberalen Staates gegründete und vom Herzog von Ahumada organisierte Guardia Civil war deshalb schließlich kein ziviles, den politischen Institutionen unterstelltes, sondern ein paramilitärisches Korps, das der zivilen Gewalt gegenüber relativ autonom auftrat. Da es institutionell vom Kriegsministerium abhing, trug es in der Folgezeit zur Konsolidierung der militärischen Gewalt im Staate bei. Im Gründungsdekret der Guardia Civil – deren Motto: "Alles für das Vaterland" ( Todo por la Patria) lautet – heißt es unmißverständlich, sie sei "eine Sondereinheit für Schutzmaßnahmen und öffentliche Sicherheit. Die soziale Ordnung macht diese Hilfe erforderlich, und die Regierung bedarf einer Einheit, die stets zum Schutz von Personen und Eigentum zur Verfügung steht". Der Zeitpunkt der Gründung und die zugewiesene Funktion, Schutz des Eigentums, sind besonders aussagekräftig. Während der unmittelbar vorhergehenden Regentschaft Esparteros (1840-1843) waren die Desamortisationsmaßnahmen verstärkt vorangetrieben worden und hatten zu zahlreichen Bauernaufständen und Unruhen auf dem Land geführt. Von Anfang an war daher die Zivilgarde ein Instrument zur Unterdrückung
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des sozialen Protestes auf dem Land. Die neuen Agrareigentümer konnten sich vor den aufgebrachten Bauern nur schützen, indem die konservative Regierung eine eigene rurale Polizei schuf. Sofort ging die Benemerita, wie der Beiname der Zivilgarde lautet, mit äußerster Härte an die Arbeit. In den ersten zehn Jahren ihres Bestehens wurden 55.500 "Delinquenten", 21.500 "Diebe", 16.000 "Deserteure" und 170.000 weitere Personen, denen kleinere Straftaten zur Last gelegt wurden, in die "Kasernen" (casas-cuarteles) eingeliefert – ein deutliches Anzeichen für den hohen Grad an ruralen Konflikten um die Jahrhundertmitte. 1846 hatte sie an 500 Orten Stützpunkte (puestos), 1900 bereits an über 2.000 mit rund 20.000 guardias civiles. Während der Restaurationszeit, also in dem auf 1875 folgenden halben Jahrhundert, war das Militär derart in das System integriert, daß es von pronunciamientos Abstand nahm, seinen Einfluß vielmehr durch Beziehungen zur Krone – seit 1913 nahmen die führenden Generäle eine Immediatsteilung ein – ausübte. Von einer politischen "Abstinenz" des Militärs kann allerdings keine Rede sein. Die Kriegsminister waren Generäle, in der öffentlichen Verwaltung spielten Militärs auf allen Ebenen eine große Rolle, Generalkapitäne waren geborene Senatsmitglieder, der Militärhaushalt und die Personalpolitik waren exklusive Angelegenheiten der Militärs. Die Armee war einzig dem König unterstellt, der eine Art "Soldatenkönig" nach preußischem Vorbild wurde. Cardona spricht davon, daß das Militär "autonome Formen politischer Macht" erlangte und sich allmählich zu einer "fast unabhängigen Macht im Staatsapparat" entwickelte (Cardona 1983). Im Sommer 1917 trafen drei Krisen aufeinander, die dem System einen Schlag versetzten, von dem es sich nicht mehr erholte. Die erste dieser Krisen ging vom Militär aus. Die auf der Halbinsel stationierten Soldaten fühlten sich von der Regierung schlechter behandelt und langsamer befördert als die in Marokko eingesetzten africanistas, die aufgrund ihrer "Kriegsverdienste" rangmäßig ausgezeichnet wurden. Die peninsulares brachten immer wieder ihre Unzufriedenheit über berufliche Benachteiligungen zum Ausdruck und forderten die strikte Einhaltung des Anciennitätsprinzips bei Beförderungen. Im Hintergrund der anhaltenden Proteste stand auch die materielle Verschlechterung der Lebensbedingungen der Soldaten, da ihre Bezahlung während des Ersten Weltkriegs, trotz erheblicher Preissteigerungen, nicht angehoben wurde. Seit 1916 gingen die Infanterieoffiziere dazu über, als informelle Interessenvertretungen und autonome berufsständische Verbände "Verteidigungsjuntas" (Juntas de Defensa) zu organisieren, deren Ziele die Aufwertung des aktiven Offizierskorps, verstärkte Gruppensolidarität, Prestigepflege und unmittelbare beruflich-finanzielle Besserstellung waren. Im Frühsommer 1917 widersetzten sich die Juntas dem Auflösungsbefehl der liberalen Regierung Prieto. Aus der darauffolgenden Kraftprobe zwischen der Offiziersbewegung und der Regierung ging diese, die außerdem von einem Generalstreik bedroht wurde, geschwächt hervor. Prieto mußte zurücktreten, der Konservative Dato wurde im Juni 1917 neuer Regierungschef und erkannte die Juntas als Sprachrohr der Militärbelange an. Diese zivile Kapitulation vor den Militärs war vor allem darauf zurückzuführen, daß die Regierung nicht auf die Armee als Bollwerk gegen die für politische (Katalanisten) und soziale (Arbeiterschaft) Reformen eintretenden Kräfte verzichten konnte und mit allen Mitteln verhindern wollte, daß es zu einer Allianz ziviler und militärischer Protestbewegungen kam (Seco Serrano 1984).
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In den folgenden Monaten unterbreiteten die Offlziersjuntas dem König wiederholt Ultimaten. Durch dieses Verhalten etablierten sie eine mit der verfassungsmäßigen Exekutive konkurrierende autonome Vetomacht, die auch den König unter Druck setzte. Faktisch war damit das Ende des Restaurationssystems als eines funktionierenden konstitutionellen Parteiensystems erreicht, da die Zivilregierung sich dem Machtanspruch des Militärs effektiv unterordnen mußte. Auch in den folgenden Jahren konnten die fortbestehenden Juntas, die nach wie vor eine politisch bedeutsame Rolle spielten, die Berufung und vor allem die Demission von Regierungen erzwingen. Erst Ende 1919 gelang es dem Kriegsministerium, die Juntas in Beratungskommissionen umzuwandeln und sie direkter ministerieller Aufsicht zu unterstellen. Da die Regierung jedoch weiterhin auf das Militär zur Bewältigung der sprunghaft angestiegenen sozialen Konflikte zurückgreifen mußte, blieb dessen faktische Autonomie weitgehend erhalten. Aufgelöst wurden die Juntas — vor allem auf Druck der africanistas hin — erst 1922 (Boyd 1979). Insgesamt läßt sich sagen, daß die verschärften Konflikte zwischen den dynastischen Parteien dazu beitrugen, daß das Militär bis 1923 seine strukturelle Autonomie weiter ausbauen konnte. Zeitweilig errichtete es eine mit der Exekutive konkurrierende militärische Vetomacht. Nach dem endgültigen Zusammenbruch des Systems in der Staatskrise von 1917 bis 1923 war es sicherlich kein Zufall, daß am Ende der Restaurationsära eine politische Situation erreicht war, die — bei erneutem Eingreifen des Königs in die Regierungsgeschäfte und direkter Intervention des Militärs in die politische Sphäre — derjenigen ähnelte, die in der "Ära der pronunciamientos" vorherrschend gewesen war (Boyd 1979). Am 13. September 1923 erfolgte das pronunciamiento des Generalkapitäns von Katalonien, Miguel Primo de Rivera. In seinem Aufruf erklärte der Putschgeneral, er wolle "Spanien von Berufspolitikern befreien", die das Vaterland entehrten. Alfons XIII. ernannte Primo de Rivera zum Präsidenten eines Militärdirektoriums. Damit fand das konstitutionelle System der Restaurationsära sein Ende. Die strukturellen Ursachen des pronunciamiento von 1923 waren die im Verfassungssystem niedergelegte politische Dominanz der Krone gegenüber dem Parlament und die durch ihre Bindung an die Krone begründete Autonomie des Militärs. Der Anstoß zur Bildung der Militärdiktatur von Primo de Rivera kam nicht aus den Reihen des Militärs, sondern ging auf den Druck der katalanischen Großbourgeoisie zurück, die in einer militärischen Führung des Landes das einzig probate Mittel sah, der zunehmenden sozialen Unruhen Herr zu werden. Man könnte von einer abermaligen Instrumentalisierung der Armee durch die politisch schwache Bourgeoisie sprechen, die nicht in der Lage war, sich ein geeignetes politisches Instrument zur Durchsetzung ihrer Interessen zu schaffen, sondern im Krisenfall stets auf bewaffnete Lösungen zurückgriff. Allerdings stellt die Tatsache, daß aus dem pronunciamiento von 1923 (zumindest bis 1926) eine Militärdiktatur hervorging, das auffälligste Unterscheidungsmerkmal zu den militärischen Interventionen im 19. Jahrhundert dar. Der Staatsstreich Primo de Riveras ist daher eine neue Form militärischer Intervention in die Politik, wie sie für das 20. Jahrhundert charakteristisch geworden ist. Die Armee intervenierte nun in die Politik mit der offensichtlichen Absicht, sich selbst als Interpret der nationalen Interessen in ihrer umfassendsten Definition darzustellen (Seco Serrano 1984).
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Die eigentliche Zäsur zwischen den beiden Verhaltensformen des Militärs gegenüber der nationalen Politik ist das Jahr 1923, wenn auch der "Militarismus" des 20. Jahrhunderts schon früher einsetzte. Seit Beginn der Regierungszeit des "Soldatenkönigs" Alfons XIII. läßt sich von einem Aufschwung des Militarismus und seit den Juntas de Defensa von 1917 kann man zum ersten Mal im vollen Wortsinn von der Übernahme der Macht durch das Militär sprechen. Die Diktatur Primo de Riveras war die Kulmination eines Prozesses, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts seinen Anfang genommen hatte. Die Republik von 1931 strebte von Anfang an eine Militärreform an. Im Rückblick wird man sagen müssen, daß die Reform weitgehend mißlang, obwohl die Republik, verkörpert durch Kriegsminister Manuel Azafia, gerade in der Militärreform eines ihrer Hauptanliegen sah. Die drei Zielsetzungen der beabsichtigten Reform waren die Demokratisierung der Streitkräfte, die Verringerung des militärischen Haushaltes und die Verkleinerung des stark aufgeblähten Offizierskorps. Azafla verkürzte den obligatorischen Militärdienst auf ein Jahr, halbierte die Anzahl der Armeedivisionen von 16 auf 8, war bestrebt, die Anzahl der Offiziere von etwa 21.000 auf 7.600 zu reduzieren, bot den ca. 13.400 überzähligen Offizieren die Pensionierung bei vollem Gehalt an. Einige militärische Ränge, Positionen und Institutionen wurden ersatzlos abgeschafft, der Generalstab und das Kriegsministerium reformiert und verkleinert, die Militärakademie von Zaragoza geschlossen, die Militärverwaltung in Marokko durch ein ziviles Amt ersetzt. Außerdem sollten Militärgerichte der zivilen Gerichtsbarkeit unterstellt werden (Alpert 1983; Cardona 1983). Diese Maßnahmen hatten eine zunehmende Abneigung vieler Offiziere gegenüber der Republik zur Folge. Die Unzufriedenheit unter den Militärs nahm noch durch "politische" Beförderungen, aufgrund starker von der Regierung geduldeter antimilitaristischer Propaganda und wegen des Ausbleibens der versprochenen Professionalisierung und technischen Modernisierung der Armee zu. Die Haltung der Regierung wurde von der Armee als Demütigung und Herabsetzung interpretiert und bestärkte viele konservative Offiziere in ihrer feindseligen Haltung gegenüber der republikanischen Ordnung. Schon relativ früh wurden daher in den Offizierskasinos Pläne geschmiedet, die auf eine Abschaffung der Republik abzielten. Von der Möglichkeit vorzeitiger Pensionierung machten ungefähr 8.000 Offiziere Gebrauch. Technisch war die Reform Azafias durchaus positiv, sie schuf aber kein republiktreues Militär. General Jos6 Sanjurjo, der frühere Chef der Zivilgarde, der Anfang 1932 zum Befehlshaber der Grenzpolizei ernannt worden war, fungierte als Anführer der ersten größeren Verschwörung gegen die Regierung der Republik; dem Putschversuch vom 10. August 1932 schlossen sich zwar sowohl einflußreiche Zivilisten (Monarchisten, Karlisten) als auch Militärs (die Generäle Goded, Barrera, Cavalcanti, Orgaz) an, er konnte aber mühelos von der Regierung unterdrückt werden. Nach dem Bürgerkrieg stützte sich Franco bei der Ausübung der Macht auf verschiedene Kräfte, zu denen anfangs vor allem die faschistische Partei Falange gehörte. Aber noch im Laufe des Zweiten Weltkriegs, als eine Niederlage der Achsenmächte immer deutlicher wurde, distanzierte er sich von der Falange. Daß Franco im Zuge der "Entfaschisierung" seines Regimes auf die Falange zusehends verzichten konnte, hängt damit zusammen, daß er sich primär auf eine andere Institution stützte: das Militär. Die Planung des Aufstandes von 1936, die Führung im Krieg und die Gestaltung der ersten Maßnahmen
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XIX Das Militär
des "Neuen Staates" befanden sich fest in den Händen hoher Offiziere. Als Franco 1936 zum "Generalissimus" bestimmt wurde, handelte es sich um eine Entscheidung unter Militärs. Die erste Kriegsregierung bestand fast ausschließlich aus Soldaten, und auch als nach 1938 die meisten Ministerposten mit Zivilisten besetzt wurden, behielten Militärs Schlüsselpositionen (vor allem das Innenministerium) in der Regierung. Von den 113 Ministern der Franco-Ära waren immerhin 33 Militärs. Außerdem kontrollierte die Armee weitgehend die Sicherheitskräfte, nahm einen Teil der öffentlichen Verwaltung wahr und übte wichtige Funktionen in öffentlichen Unternehmen aus. Zweifellos waren die Streitkräfte die wichtigste Stütze Francos; keine andere Institution, nicht einmal die Kirche, unterhielt zum Regime eine vergleichbar entscheidende Beziehung wie die Militärs. Diese besondere Situation führte dazu, daß der Franquismus als System häufig falsch eingeschätzt, daß die Beziehung zwischen ihm und der Armee als statisch mißverstanden wurde, ohne die wichtigen Veränderungen in diesem Verhältnis zu registrieren. Der Bürgerkrieg hatte der Armee erneut ein Gefühl politischer und korporativer Identität verliehen, das seit langem abhanden gekommen war. Nach 1939 nahm das Militär eine privilegierte Stellung ein; es war in höchsten Positionen vertreten; trotz seiner herausragenden Stellung ist jedoch in der weiteren Entwicklung des Franco-Regimes ein auffälliges Phänomen zu konstatieren: Der militärische Anteil am Staatshaushalt ist nach 1945 konstant niedrig geblieben, die Militärs hatten keinen hohen Stellenwert bei der Konzipierung der politischen Leitlinien des Regimes, und selbst das Sozialprestige der Offiziere ist ständig gesunken. Der Franquismus zeigte bei seiner Entfaltung sehr bald eine Bevorzugung der traditionellen privilegierten Sektoren. Es läßt sich die These vertreten, daß das aus der militärischen Erhebung von 1936 hervorgegangene Regime allmählich von einer faschistisch inspirierten Militärdiktatur in ein konservativ-autoritäres System umgewandelt wurde, in dem die Streitkräfte eine zunehmend geringere Rolle spielten, vielmehr "moderne" und leistungsfähige Eliten eindeutig bevorzugt wurden. Die Identifizierung des Franco-Regimes mit einer monolithischen Militärdiktatur würde die Sicht auf die vielfältige interne Dynamik Spaniens verdecken, die nach 1975 den friedlichen Übergang in eine parlamentarisch-demokratische Monarchie ermöglicht hat. Die Blütezeit des Militärs fiel mit der Phase des Bürgerkrieges und des Zweiten Weltkrieges (1936-1945) zusammen. Sowohl die Erfordernisse des Krieges bis 1939 und die anhaltende Gefahr einer Einbeziehung des Landes in den Weltkrieg danach wie die massive innenpolitische Repression im ersten Jahrzehnt nach Kriegsende ließen die zahlenmäßige Stärke, den Verteidigungsanteil am Staatshaushalt und die politische Bedeutung der Armee zunehmen. Die Militärgerichtsbarkeit wurde ausgedehnt, viele Bereiche der öffentlichen Verwaltung unter militärische Aufsicht gestellt; die Armee erhielt mannigfaltige Sicherungsfunktionen übertragen. Das aufgeblähte Feldheer der Kriegsjahre wurde 1939 zwar auf rund 220.000 Mann reduziert, in den folgenden Jahren jedoch — auch wegen des Einsatzes gegen die sehr aktiven Guerrillaeinheiten — zusammen mit Marine und Luftwaffe erneut auf rund 380.000 aufgestockt. Die Militärs genossen nach dem Krieg ein hohes gesellschaftliches Prestige; die Bezüge der Offiziere blieben zwar niedrig, durch bestimmte Sozialleistungen (Sonderverpflegungen, Wohnungsvermittlung, Befreiung von Verbrauchssteuern) und eine Welle von Beförderun-
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gen wurde die Sonderstellung der ranghöchsten Soldaten in der Gesellschaft jedoch unterstrichen. Das reguläre Offizierskorps wuchs von etwa 15.000 (1940) rapide auf rund 25.000 (1945) an, was vor allem auf die vielfältigen Beförderungen zurückzuführen war. Parallel zu dieser erneuten Aufblähung des Personalbestandes lief ein technischer Rückschritt auf dem Gebiet der Ausrüstung. Schon vor Ende des Zweiten Weltkriegs hätte die spanische Armee von ihrem technischen Ausrüstungsstand her keine internationale Auseinandersetzung bestreiten können. Gelände- und Kampfausbildung wurden vernachlässigt, die finanziellen Zuwendungen zugunsten der Armee eingeschränkt, die fachliche Qualifikation der Offiziere ließ sehr zu wünschen übrig, auch der politische Einfluß der Spitzengeneräle in Regierungsämtern nahm ab; das Regime wandte sich verstärkt den drängenden Wirtschaftsproblemen zu. Trotz der allmählichen Einfluß-, Macht- und Kompetenzbeschneidung der Militärs hat sich unter ihnen keine organisierte Opposition entwickelt. Finanzielle Privilegien und dekorative Ämter ließen die Offiziere zumeist ihr Schicksal widerspruchslos akzeptieren. Das durch den Bürgerkrieg geschmiedete Zusammengehörigkeitsgefühl, die überragende Stellung Francos als Oberkommandierender und Staatschef sowie die formale Beibehaltung vieler ranghoher Positionen trugen zur weitgehenden Disziplinierung und Entpolitisierung der Armee bei, die zwar weiterhin die wichtigste Stütze des Regimes blieb, in der Praxis aber keine großen Mitentscheidungsrechte genoß. Es ist Franco immer wieder gelungen, Unzufriedenheit und Kritik seitens der Streitkräfte durch geschicktes Ausspielen einer Militärfraktion gegen die andere, durch gezielte Beförderungen bzw. Entlassungen, durch überlegtes Taktieren und Ausmanövrieren unterschiedlicher Richtungen zu neutralisieren — zum Beispiel zwischen den deutsch- und alliiertenfreundlichen Offizieren während des Zweiten Weltkrieges oder zwischen den Befürwortern einer Restauration der Monarchie und eher falange-freundlichen Kräften. Die (soziale und geographische) Herkunft der Offiziere, ihre Selbstrekrutierung, ihr besonderer Lebensstil und ihre weitgehende Isolierung vom Rest der Gesellschaft haben unter ihnen eine besondere Mentalität erhalten oder erzeugt, die das Offizierskorps als katholischkonservativ, national und autoritätsgebunden erscheinen ließ. In einer Studie über Bedeutung und Einfluß der verschiedenen Offiziersgenerationen auf die Politik Francos unterteilt Barbara Könitz die spanischen Streitkräfte nach Generationen (Könitz 1975): "Die Franco am treuesten ergebene Generation ist die der Afrika-Offiziere. Hierunter fallen alle Offiziere, die den 18 Jahre lang währenden Krieg (1909-1927) in Marokko mitgemacht haben [...] Die Offiziere dieses Kolonialheeres waren die verläßlichsten Machtstützen Francos und nahmen wichtige Positionen im militärischen und politischen Leben ein [...] Die meisten Generale, die unter Franco Kabinettsposten und andere hohe Stellungen in der Militärhierarchie wie Militärgouverneur, Wehrbereichsbefehlshaber, hohe Verwaltungsposten in den Ministerien erreichten, gehörten der Afrika-Generation an. Viele von ihnen sympathisierten mit Deutschland, was nicht gleichzusetzen war mit Sympathien für den Nationalsozialismus. Einige, besonders die einflußreicheren Monarchisten, waren anglophil, ebenso fast alle Aristokraten unter den Afrika-Offizieren [A Was war die Geisteshaltung dieser Afrika-Kämpfer, die auch die Generation von 1915 genannt wurde? Sie zeichnete sich vor allem durch Loyalität und Ordnung aus. Kindelän bezeichnete sie als die loyale Generation [...]Die dritte Offiziersgeneration ist mit dem Bürgerkrieg von
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1936-1939 eng verbunden. Sie ist bestimmt durch die große Zahl von provisorischen Leutnants (alftreces provisionales), die in die Streitkräfte der Nationalisten aufgenommen wurden. Das Offizierskorps der Nationalisten wurde hauptsächlich von jungen Männern zwischen 20 und 30 Jahren aufgefüllt, die eine Berufsausbildung oder einen dem Abitur vergleichbaren Abschluß haben mußten. In der Praxis bedeutete das, daß die rund 29.000 am Ende des Bürgerkriegs festgestellten Hilfsoffiziere Universitätsstudenten waren oder die mittlere Reife mit Berufsausbildung hatten. Etwa 4.000 der provisorischen Leutnants sind gefallen. Ein großer Teil kehrte nach dem Bürgerkrieg ins Zivilleben zurück, doch bestand Mitte der 60er Jahre noch ungefähr die Hälfte des spanischen aktiven Offizierskorps aus inzwischen in die Streitkräfte aufgenommenen und beförderten ehemaligen Bürgerkriegsleutnants. Diese Generation zeichnet sich vor allem durch Nationalismus, Antikommunismus, Antiliberalismus und vor allem starken Dogmatismus aus, wie dies logisch ist bei Leuten, die ihre Ideen jahrelang mit der Waffe in der Hand verteidigt haben [...] Anhänger der Nationalisten zu sein, bedeutet gleichzeitig ein Synonym für Religion, Tradition und spanischen Patriotismus." Die vergangenen 40 Jahre haben jedoch bei zumindest partieller Professionalisierung und weitgehender Entpolitisierung des Militärs ein neues Rollenverständnis der Streitkräfte hervorgebracht, zu dem nicht unbedingt die Identifizierung mit dem Franquismus gehörte. Gerade die Respektierung von Autorität sowie die Entpolitisierung und Disziplinierung der Militärs während des Franquismus sollten zu entscheidenden Voraussetzungen dafür werden, daß die Streitkräfte nach 1975 letzten Endes doch den in legalen Wahlen vorgenommenen politischen Wechsel zu einer demokratischen Staatsform akzeptierten.
2.
Die Streitkräfte in der Transition
Im Übergang zur Demokratie nach Francos Tod kam es wiederholt zu Umsturz- und Putschversuchen seitens des Militärs. Viele Kommandeure befürchteten, die Einheit des Nationalstaates werde durch den eingeschlagenen Reformkurs gefährdet. Daß es in Polizei und Militär viel Unzufriedenheit mit der Regierungspolitik gab, zeigte sich bei Beerdigungen ermordeter Polizisten und Soldaten, wo Offiziere immer wieder den Stellvertretenden Ministerpräsidenten Manuel Gutirrez Mellado, Regierungschef Suärez und selbst König Juan Carlos beleidigten und ihm "Verrat" vorwarfen. In ihrer Kritik an der Regierung stellten die Politiker der extremen Rechten und ihnen nahestehende Offiziere stets die beiden Fragen des Terrorismus und der Autonomiepolitik in den Vordergrund. Weitere Probleme, die angeprangert wurden, waren die angeblich steigende Kriminalität, die Zulassung "pornographischer" Zeitschriften, die "Verwilderung der Sitten", das Drogenproblem, die angebliche Ohnmacht und der Mangel an Autorität der Regierung. Die frühzeitige Pensionierung mehrerer Generäle und die relativ häufigen Umbesetzungen der obersten Befehlsstellen und im Generalstab waren deutliche Anzeichen dafür, daß der Demokratisierungsprozeß im militärischen Bereich auf Schwierigkeiten gestoßen war. Eine Personalentscheidung von Ministerpräsident Suärez sollte für die Integration der Streitkräfte in das demokratische System entscheidend werden: Im Oktober 1976 hatte er General Manuel Gutirrez Mellado zum Stellvertretenden Regierungschef, im Juli 1977
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zum Verteidigungsminister ernannt. Diese Besetzung des wichtigsten militärischen Amtes hatte große Auswirkungen auf den weiteren Demokratisierungsprozeß, da Gutirrez Mellado — der Verfassung und dem König gegenüber äußerst loyal — fortan in der Lage war, die Streitkräfte zu kontrollieren und Angriffe gegen den Demokratisierungsprozeß abzuhalten. 1977 wurde als oberstes militärisches Kollegialorgan die "Junta der Oberbefehlshaber im Generalstab" (Junta de Jefes del Estado Mayor, JUJEM) geschaffen. Es ist aufschlußreich, daß von den 53 Stimmen, die im November 1976 in den Cortes gegen das von Suärez eingebrachte "Gesetz über die politische Reform" vorgebracht wurden, 15 von Militärs (sieben davon in höchsten Rängen) kamen. Dieses Abstimmungsergebnis ließ deutlich werden, daß der Demokratisierungsprozeß von den Militärs nicht mitgetragen wurde. Und im Dezember 1978 stimmten im Senat die drei ranghöchsten Generäle gegen die demokratische Verfassung, obwohl diese (Art. 8) als Auftrag der Streitkräfte definiert, "die Souveränität und Unabhängigkeit Spaniens zu garantieren sowie seine territoriale Integrität und Verfassungsordnung zu verteidigen". Zu einer besonders harten Konfrontation zwischen Regierung und Militärs kam es als Folge der Legalisierung der Kommunistischen Partei am Karsamstag 1977. Marineminister Admiral Gabriel Pita da Veiga trat aus Protest zurück; der Oberste Rat des Heeres (Consejo Superior del Ejercito) verabschiedete eine Resolution, die die Legalisierung der KP mißbilligte. In der Erklärung hieß es, daß die Generäle die Legalisierung der Kommunisten mit Widerwillen, lediglich aus dem Geist des Patriotismus und der Pflicht gegenüber dem Vaterland akzeptierten; der Oberste Rat sei entschlossen, weiterhin die Einheit des Vaterlandes, die Fahne, den König sowie Würde und Einheit der Armee zu verteidigen. Während des gesamten Transitionsprozesses übten die Militärs immer wieder Druck auf die zivilen Politiker aus, um Reformen zu verhindern oder in eine von ihnen gewünschte Richtung zu lenken. Selbst der Text des Verfassungsentwurfs mußte modifiziert werden. Bei der Frage militärischer Ehrengerichte und der Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen setzten sich die Militärs weitgehend durch. Sie konnten auch erreichen, daß die zuvor aus dem Dienst entfernten Militärs, die der demokratisch-liberalen Vereinigung Uniön Militar Democrätica (UMD) angehörten, von den Streitkräften ausgeschlossen blieben, obwohl (oder gerade: weil) sie sich für Freiheit und Demokratie eingesetzt hatten. (Die Mitglieder der UMD wurden erst 1986 wieder in ihr altes Dienstverhältnis aufgenommen.) Reformen im Militärwesen — stets als "Modernisierung" apostrophiert — wurden nur äußerst behutsam angegangen: Durch ein Gesetzesdekret von November 1977 wurde es Angehörigen der Streitkräfte fortan verboten, sich politisch oder gewerkschaftlich zu betätigen. Damit konnte verhindert werden, daß Militärs von rechtsextremen Parteien als Kandidaten aufgestellt wurden. 1981 wurde per Gesetz das Staatswappen geändert, der neue Fahneneid sah einen Treueschwur auf die Verfassung vor, neue militärische Dienstvorschriften legten den Vorrang der Verfassungstreue und die Grenzen der Gehorsamspflicht fest, der Autonomie der Militärjustiz wurde ein Ende bereitet. Der Militärsoziologe Julio Busquets ist — neben anderen — der Frage nachgegangen, inwieweit das Militär auf den Verlauf der Transition Einfluß genommen hat. Er betont die Bedeutung, die die antifranquistische Opposition (auch innerhalb des Militärs) auf den friedlichen Verlauf des Übergangs hatte. Zum Verständnis der militärischen Haltung müssen einige soziologische Grundzüge der Streitkräfte in Erinnerung gerufen werden, die ihren
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extremen Konservativismus erklären. Ideologische Indoktrination, Depuration liberal oder "links" gesinnter Militärs und die soziale Isolation hatten nach 1939 aus den Streitkräften einen zuverlässigen Streitarm des Franquismus geformt. Hinter dem nach 1975 implementierten Reformwerk zur Einfügung der Streitkräfte in ein demokratisches Spanien standen konkrete Befürchtungen der demokratischen Entscheidungsträger: Eine zu schnelle und radikale Reform wäre von den Streitkräften wohl nicht akzeptiert worden und mußte daher vermieden werden. Die Transition vollzog sich in den Streitkräften daher nur sehr langsam. Sie fand nach der Reformierung aller anderen Institutionen — zum großen Teil erst unter sozialistischen Regierungen in den 1980er Jahren — statt. Die Militärs hätten sich aber womöglich zu einem weitaus gefährlicheren Verhalten hinreißen lassen können, wenn die Reformierung der Streitkräfte vor der Verankerung der Demokratie in Angriff genommen worden wäre (Busquets 1993). Die gravierendste Gefährdung erlebte die gerade entstehende demokratisch-rechtsstaatliche Ordnung am 23. Februar 1981. Als im Parlament gerade der Nachfolger von Adolfo Suärez für das Amt des Ministerpräsidenten gewählt wurde, besetzten zwei Hundertschaften der paramilitärischen Guardia Civil, der kasernierten bewaffneten Polizei, unter der Führung von Oberstleutnant Antonio Tejero in einem Überraschungscoup das CortesGebäude, in dem gerade die Abstimmung stattfand, unterbrachen — vor laufenden Fernsehkameras — die Sitzung, feuerten Maschinenpistolensalven in die Decke, nahmen alle Abgeordneten und Regierungsmitglieder als Geiseln gefangen. Der militärische Putschversuch erfolgte mit Unterstützung bedeutender Offiziere im Generalstab und in den militärischen Regionalverbänden. Dokumente, die erst viele Jahre später bekannt wurden, lassen deutlich werden, daß damals fast alle obersten Befehlshaber deutliche antidemokratische Ressentiments hatten. So verhielten sich etwa die Mitglieder der Junta der Stabschefs und die Mehrheit der neuen Wehrbereichsbefehlshaber während des Putsches abwartend. Nur drei blieben dem König und der Verfassung gegenüber loyal. Alle übrigen waren in den entscheidenden Stunden für Telephonate des Königs nicht erreichbar, sie versetzten vielmehr ihre Truppen in Bereitschaft. Die Panzerdivision im Süden von Madrid stand zum Sturm auf die Hauptstadt bereit, Teile der Einheit besetzten die staatlichen Rundfunk- und Fernseheinrichtungen. Selbst der militärische Geheimdienst (CESID) war in den Umsturzversuch verwickelt. Der Oberbefehlshaber der III. Militärregion, General Jaime Milans del Bosch, verkündete in Valencia den Ausnahmezustand. Erst sieben Stunden nach Beginn des Putsches, kurz nach ein Uhr nachts, erklärte König Juan Carlos über Fernsehen, der Vereinigte Generalstab halte die Lage in der Hand, alle Spanier bitte er um Ruhe und Vertrauen. Die entscheidenden Sätze seiner Erklärung lauteten: "Die Krone, Symbol der Einheit Spaniens, kann auf keinen Fall Aktionen oder Handlungsweisen von Personen dulden, die mit Gewalt den Demokratisierungsprozeß zu unterbrechen versuchen, der in der Verfassung bestimmt wurde, über die das spanische Volk in einem Referendum entschieden hat." Die Verschwörer hatten offensichtlich nur eine Operation beschränkten Ausmaßes ins Auge gefaßt und keine detaillierte Vorbereitungsarbeit geleistet. Trotz des Anfangserfolgs konnten die Putschisten daher rasch isoliert werden. Bar jeder Unterstützung mußten sich die Rebellen nach 18 dramatischen Stunden widerstandslos ergeben. Im Anschluß an den fehlgeschlagenen Putsch wurden die Generäle Milans del Bosch, Alfonso Armada und Luis Torres Rojas festgenommen. Es gilt inzwischen als erwiesen, daß
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Tejero und Milans del Bosch in ihrer Absicht, mit Hilfe des Königs eine Militärregierung zu errichten, einer größeren Verschwörergruppe zuvorgekommen waren, die wohl im März losgeschlagen hätte. Wahrscheinlich überlagerten sich somit zwei Putschpläne — der eine von Armada, der eine gewaltlose Übernahme der Regierungsmacht nach türkischem Muster vorsah, der andere von Milans und Tejero, der auch Gewaltanwendung nicht ausschloß. Daß der zeitliche Ablauf beider Pläne durcheinander geriet, lag möglicherweise daran, daß Geheimdienstleute Premier Suärez warnten, der daraufhin Ende Januar zurücktrat. Dieser Rücktritt könnte dann die Krise beschleunigt haben. Am Tag nach dem fehlgeschlagenen Putschversuch demonstrierten in den spanischen Städten mehrere Millionen Menschen "für Freiheit und Demokratie". Tejero blieb hiervon unbeeindruckt, er zeigte keinerlei Reue. In ultrarechten Kreisen wurde er in den folgenden Monaten zu einem Helden hochstilisiert. Seine Verherrlichung blieb in Armeekreisen, auch nach seiner Verurteilung zur Höchststrafe von 30 Jahren, weit verbreitet. (Keiner der drei Hauptverurteilten mußte die Höchststrafe absitzen; als letzter wurde Tejero 1996 aus der Haft entlassen.) Während des Prozesses behaupteten Tejero und Milans standhaft, sie seien von Armada in dem Sinne unterrichtet worden, daß der König den Putsch befürworte, während Armada wiederum — jahrelang Lehrer und Berater des Königs — leugnete, die beiden Haupttäter durch solche Behauptungen zu ihrer Tat angestiftet zu haben. Für Regierung und Parteien war der Putschversuch vom 23. Februar 1981 ein Alarmzeichen. Seither war den zivilen Behörden bewußt, daß sie sich um die "Stimmung" in der Armee kümmern, daß die Loyalität und der Gehorsam der Offiziere überwacht werden mußten. Der neue Ministerpräsident Leopoldo Calvo Sotelo sprach im Parlament davon, daß sich die spanische Demokratie in einer Art Belagerungszustand befinde, daß sie von einer Verschwörung gegen die Freiheit umzingelt sei. In den folgenden Jahren versuchten Parteipolitiker jeglicher Couleur immer wieder, die Streitkräfte zu besänftigen und ruhig zu halten; die Presse wurde angehalten, die Armee nicht zu reizen, eine gewisse Selbstzensur zu üben. Sofort nach seinem Regierungsantritt intensivierte Calvo Sotelo den Kampf gegen den Terrorismus, zog das Militär im Kampf gegen ETA mit heran, verabschiedete ein vorher zurückgestelltes Gesetz zur Ausrufung des Ausnahmezustandes, verschärfte die Antiterrormaßnahmen. Zurückhaltung prägte fortan das politische Klima. Ob der Putschversuch vom 23. Februar 1981 die Demokratie gestärkt oder geschwächt habe, war lange Streitthema der spanischen Öffentlichkeit. Die Regierung Calvo Sotelo forcierte kurz nach Amtsantritt die in Spanien heftig umstrittene Frage eines Beitritts des Landes zur NATO. Im Frühsommer 1981 beschloß die Regierung sodann, Spanien in einer Art Schnellverfahren in den Nordatlantischen Verteidigungspakt einzugliedern. Ende Mai 1982 wurde Spanien 16. NATO-Mitglied. Aus der Sicht der Regierung sprachen mehrere Argumente für den Beitritt zur Verteidigungsgemeinschaft: Die junge Demokratie werde stabilisiert, die Armee werde durch Übernahme neuer Aufgaben ihrer bisherigen Lieblingsbeschäftigung — Ordnungsmacht im Innern zu sein — abgelenkt, die Streitkräfte würden modernisiert, das Gibraltar- und das EG-Problem könnten einer Lösung nähergebracht werden. Der Putschversuch von 1981 war weder der einzige noch der letzte im Demokratisierungsprozeß. Kurz vor dem sich abzeichnenden Wahlsieg der Sozialisten (Oktober 1982) konnte der reorganisierte militärische Geheimdienst einen weiteren Putsch rechtsextremer
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XIX Das Militär
Befehlshaber in letzter Minute vereiteln. Und 1983 erhielt die erst seit kurzem im Amt befindliche PSOE-Regierung Kenntnis davon, daß Wehrbereichskommandeure im Zusammenwirken mit Befehlshabern operativer Einheiten einen "sanften Staatstreich" (golpe blando) planten, durch den die politische Selbstbestimmung der Regionen wieder abgeschafft werden sollte. Außerdem wollten sie die vom Verteidigungsministerium ausgearbeiteten Reform- und Umstrukturierungspläne des Militärs vereiteln und im Prinzip der "Militärautonomie" zum Durchbruch verhelfen, der zufolge die Streitkräfte nur dem Oberbefehl des Königs, nicht jedoch der Weisungsbefugnis eines zivilen Ministers unterstanden. Offensichtlich wirkten bei dieser Verschwörung auch frühere Agenten des franquistischen Geheimdienstes mit. Der letzte größere, bekannt gewordene Attentatsversuch geht auf das Jahr 1985 zurück: Damals plante eine Gruppe von Militärangehörigen, den König und die wichtigsten Mitglieder der Regierung zu ermorden; anläßlich des Tages der Streitkräfte in La Coruria sollte die Ehrentribüne in die Luft gesprengt und der Anschlag der baskischen ETA angelastet werden. Das Attentat, das zu einer Machtübernahme des Militärs führen sollte, konnte dank geheimdienstlicher Ermittlungen im Vorfeld vereitelt werden. Doch bis weit in die 80er Jahre kam es immer wieder von seiten des Militärs zu Angriffen auf die Demokratie und auf demokratische Politiker. Vielen militärischen Befehlshabern fiel es schwer, ihre Vorstellung aufzugeben, sie seien innenpolitische Ordnungshüter, denen die korrekte Interpretation der Verfassung obliege. Allerdings wurde im Lauf der Jahre auch immer deutlicher, daß solche Überzeugungen nur noch von einer Minderheit von Militärs geteilt wurden.
3. Das Militär in der Demokratie: Von der Wehrpflicht zur Berufsarmee Die eigentliche Reform der Streitkräfte erfolgte erst nach der weitgehenden Konsolidierung der Demokratie, vor allem in den Regierungsjahren der Sozialisten (1982-1996). Selbst dann war aber in politischen Kreisen weit häufiger von "Modernisierung" als von "Reform" die Rede; die sozialistische Regierung war bestrebt, die Militärs nicht durch drastische Änderungen zu provozieren. Verteidigungsminister Narcfs Serra trieb in den ersten Regierungen von Felipe Gonzälez zwar vorsichtig, aber kontinuierlich die Reformen voran: Militärs, die während des Bürgerkriegs auf Seiten der Republik gekämpft hatten, wurden 1984 rehabilitiert, ihnen wurde Pensionsanspruch zugesprochen. Die Militärgesetzgebung wurde reformiert, die Militärgerichtsbarkeit in Übereinstimmung mit der Verfassung gebracht, die Dauer des obligatorischen Wehrdienstes auf ein Jahr reduziert, das System der Beförderungen und Pensionierungen geändert. Um das Problem des Überhangs an Offizieren einigermaßen bewältigen zu können — 1975 gab es 34.000 Offiziere bei einer Personalstärke von 303.000 Mann (220.000 im Heer, 37.000 in der Luftwaffe, 46.000 in der Marine) —, ermöglichte ein Dekret von 1985 knapp 7.000 Offizieren den Übertritt in den Ruhestand im Laufe der kommenden vier Jahre. Außerdem sollten weniger Kadetten an den Militärakademien zu Offizieren ausgebildet werden. Auch die Zahl der Militärregionen wurde deutlich verringert. Da fortan nicht mehr (wie zumeist in der Vergangenheit) der "innere Feind" der potentielle Gegner der Streitkräfte war, wurden die Einheiten nicht mehr primär
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um Großstädte herum postiert (von wo aus sie schnell eventuelle Aufstände von Arbeitern oder anderen "subversiven Kräften" hätten bekämpfen können). Der 1984 neu geschaffene Generalstab für Verteidigung (Estado Mayor de Defensa) berät seither die Verteidigungsminister bei der Planung und Durchführung der Militärpolitik; die Junta de Jefes del Estado Mayor wurde zu einem weiteren Beratungsorgan des Verteidigungsministeriums (Busquets 1993). Die Wahlen von 1982 hatte die Sozialistische Partei auch wegen ihrer Anti-NATO-Parolen gewonnen; sie hatte in Aussicht gestellt, daß sie im Falle der Regierungsübernahme ein Referendum über den Verbleib des Landes in der Atlantischen Verteidigungsgemeinschaft abhalten würde. Nachdem Felipe Gonzälez Ministerpräsident geworden war, wandelte er sich allmählich zum "Atlantiker". Er trat nun für einen Verbleib Spaniens in der NATO ein, knüpfte daran aber bestimmte Bedingungen: Auf spanischem Boden dürften keine Nuklearwaffen gelagert werden; die US-Präsenz in Spanien sei zu reduzieren; die NATO-Mitgliedschaft bedeute keine militärische Integration. Innerhalb dieses Rahmens beabsichtige Spanien, aktiv in der NATO mitzuarbeiten und die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Allianz mitzugestalten. Gegen sämtliche Prognosen gewann die Regierung 1986 das unter diesen Prämissen formulierte NATO-Referendum; 52,5% stimmten für den Verbleib in der Verteidigungsgemeinschaft, 39,8% waren dagegen. Spaniens NATO-Mitgliedschaft ließ sich in den folgenden Jahren mit dem Wunsch nach höchstmöglicher politischer Zusammenarbeit mit den NATO-Führungsstäben sowie politischer Informations- und Beratertätigkeit umschreiben. Spanien arbeitete im NATO-Rat und in der nuklearen Planungsgruppe mit; die spanischen Streitkräfte nahmen an der gemeinsamen Verteidigung — allerdings außerhalb der Brüsseler Kommandostruktur — teil, das Land wurde Mitglied in allen NATO-Kommissionen, es beteiligte sich an allen Rüstungsprogrammen und Planungsgruppen, es wurde festes Glied in der Logistik der USA und der NATO für den Mittelmeerraum und die Nahost-Region. Aus dem Beitritt Spaniens zur NATO (1982/1986), aus seiner Mitgliedschaft in der Westeuropäischen Union (seit 1990) und in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (seit 1992) sowie aus seiner Zugehörigkeit zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU (GASP) ergaben sich wichtige Veränderungen in der Verteidigungspolitik Madrids. Vor allem hat das Land in den letzten 15 Jahren immer häufiger Aufgaben im Rahmen des NATO-Bündnisses übernommen, es beteiligt sich an multilateralen Interventionsverbänden, es hat außerdem — was für das Selbstverständnis der Truppe bedeutsam ist — Zugang zu moderner Rüstungstechnologie erhalten. 1995-1999 war Javier Solana darüber hinaus NATO-Generalsekretär. Verlagerte sich somit der Schwerpunkt der Aktivitäten der spanischen Streitkräfte auf multilaterale Aktionen im Rahmen von NATO- und UNO-Einsätzen, so schritt andererseits der Reform- und Modernisierungsprozeß der Militärstrukturen im Landesinneren weiter voran. Wichtige Positionen wurden mit demokratisch gesinnten Offizieren besetzt, die Streitkräfte insgesamt ziviler politischer Führung untergeordnet, das Militärstrafgesetzbuch und das militärische Disziplinarrecht wurden reformiert. Der Personalbestand des Heeres wurde drastisch von 220.000 auf 150.000 Mann reduziert, die Gehälter wurden angehoben, Beförderungen sollten nach Verdienst und Qualifikation erfolgen. Auch die paramilitärische Guardia Civil wurde nicht nur ziviler Leitung unterstellt, sondern außerdem ihrer
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XIX Das Militär
Funktion als vierte Teilstreitkraft entkleidet; in Friedenszeiten hat sie nur noch Polizeiaufgaben. Insgesamt kam es zu einer allmählichen Professionalisierung der Streitkräfte und im Zusammenhang mit der Beteiligung spanischer Firmen an NATO-Gemeinschaftsprogrammen auch zu einer Anpassung der Rüstungsindustrie an das in der Verteidigungsgemeinschaft übliche technologische Niveau. Im Laufe der 80er Jahre geriet das traditionelle Wehrdienstmodell in die Krise. Seit 1984 das Recht auf Wehrdienstverweigerung eingeführt worden war, stieg die Zahl der Wehrunwilligen (vor allem in den autonomistisch orientierten Regionen Baskenland und Katalonien) drastisch an und führte schließlich dazu, daß der Personalbestand der Streitkräfte nicht mehr gehalten werden konnte. Die Regierung zog schließlich zwei Konsequenzen aus dieser Situation: Zum einen verkürzte sie die Wehrpflicht 1989 abermals auf nunmehr neun Monate, zum anderen führte sie ein gemischtes Rekrutierungsmodell ein, so daß in den 90er Jahren die spanischen Streitkräfte sich aus ungefähr 50 % Wehrpflichtigen und 50 % Berufssoldaten zusammensetzten. Außerdem wurde die Armee 1989 für Frauen geöffnet (modelo mixto). Stieß die Rekrutierung von Frauen anfangs noch auf größere Schwierigkeiten, so ist inzwischen (2006) der Anteil von Frauen an den Streitkräften auf 13,5 % gestiegen (in absoluten Zahlen: 16.300); es handelt sich um den europaweit höchsten Frauenanteil im Militär. In die Regierungszeit des konservativen PP (1996-2004) fielen zwei wichtige Entscheidungen im Hinblick auf die Streitkräfte. Erstens wurde 1996 die definitive Umstellung auf eine Berufsarmee beschlossen, bis Ende 2001 wurde der Beschluß umgesetzt. Verbunden mit der Umstellung auf eine Freiwilligenarmee war eine abermals deutliche Reduzierung der Personalstärke auf 100.000-120.000 (und 48.000 Offiziere bzw. Unteroffiziere). Qualität sollte fortan eine größere Rolle als Quantität spielen. Zweitens beschlossen Regierung und Parlament, Spanien schließlich doch in die Integrierte Militärstruktur der NATO einzubeziehen; die Integration erfolgte zu Beginn des Jahres 1999. In den 90er Jahren kam es auch zu verstärkten Werbekampagnen für die Streitkräfte; diese erhielten ein neues, modernes Image, womit das gesellschaftliche Akzeptanzdefizit abgebaut werden sollte. Das Problem bestand aber im 21. Jahrhundert fort, es fehlte (und fehlt) an genügend qualifizierten Bewerbern für die Zeitsoldatenstellen. Anfang 2006 bestanden die spanischen Streitkräfte aus etwas über 75.300 Soldaten und Soldatinnen; damit war zum ersten Mal ein Zuwachs gegenüber den Vorjahren festzustellen. Die Regierung Rodrfguez Zapatero ließ ein neues "Gesetz zur Nationalen Verteidigung" (Ley de Defensa Nacional) verabschieden, das sicherstellt, daß jeglicher Auslandseinsatz spanischer Truppen vom Parlament gebilligt werden muß. (Das Gesetz war eine Reaktion auf das Verhalten der konservativen Vorgängerregierung, die den Irak-Einsatz nicht vom Parlament hatte billigen lassen.) Obwohl Spanien in den letzten Jahren seinen Verteidigungshaushalt deutlich aufgestockt hat, ist er im internationalen Vergleich sehr gering. Er lag 2004 bei rund 6,5 Milliarden €; das entsprach etwa 2,5% des Haushalts, oder weniger als 1% des BIP. (Zum Vergleich: Deutschland gibt für die Bundeswehr das Vierfache aus, rund 1,5 % des deutschen BIP, Italien rund 2 % des BIP, Frankreich und Großbritannien je 2,5 % des BIP.) Im April 2006 beschloß Verteidigungsminister Jos6 Bono eine weitere Verringerung des Generalkorps und des Offiziersstandes um 15 %: 40 Generals- und 185 Obristenstellen sollen bis 2009 eingespart werden. Allgemein werden die oberen Dienstgrade stärker redu-
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ziert, die Unteroffiziersstellen eher gestärkt (Ley de Carrera Militat). Die Streitkräfte sollen fortan insgesamt eine maximale Personalstärke von 140.000 haben. Geplant ist eine "nationale Verteidigungsuniversität", in die die bisherigen drei Militärakademien von Zaragoza, San Javier (Murcia) und Marin (Pontevedra) integriert werden sollen. Aufgrund der vorgesehenen Änderungen sind in einzelnen Teilstreitkräften folgende Personalanpassungen geplant: Tab. 49:
Personalstärke der Streitkräfte Landstreitkräfte
Marine
2006
52.053
11.346
11.248
74.647
geplant (bis 2009)
59.600
15.136
11.282
86.018
einschließlich Kommandostellen
85.900
24.264
22.464
136.018
Luftwaffe
Insgesamt
Der ebenfalls im April 2006 verabschiedete "Plan zur Umformung der Streitkräfte" (Plan de Transformaciön de las Fuerzas Armadas) sieht eine umfassende Reorganisation der drei Teilstreitkräfte vor. Die zwei Landdivisionen (Brunete und "Schnelle Eingreifskraft") werden ebenso aufgelöst wie 30 Bataillone. Basisorganisation der Landstreitkräfte ist fortan die Brigade. Geschaffen werden soll außerdem eine "Gemeinsame Schnelle Reaktionseinheit". Das neue Verteidigungskonzept sieht — wie in anderen europäischen Staaten auch — keinen konventionellen Gegner mehr vor; in Zukunft wird es vielmehr "hybride Kriege" mit einer Vielzahl von Formen und weltweiten Fronten geben. Die spanischen Streitkräfte bereiten sich auf diese neuen Einsätze vor. 2006 war die Umstrukturierung voll im Gange: mit dem "Plan für die Umstellung der Streitkräfte" (Plan de Transformaciön de las Fuerzas Armadas), dem "Truppen- und Marinegesetz" (Ley de Tropa y Marineria), dem "Gesetz zur militärischen Laufbahn" (Ley de Carrera Militat) und dem Verteidigungsgesetz (Ley de Defensa). Diese Bestimmungen stellen den gesetzlichen Rahmen für die neue Struktur der Streitkräfte dar. Die alten Einheiten (einschließlich der Divisionen) werden aufgelöst und durch kleinere, aber flexiblere ersetzt. Auch alte Waffensysteme werden ausgemustert; an ihre Stelle treten neue, die den geänderten internationalen friedenschaffenden Anforderungen angepaßt sind und vor allem auf Militärkommunikation, Transport und Information ausgelegt sind. Die Kommandostrukturen werden zusammengelegt, politische und militärische Führung müssen engstens zusammenarbeiten; die Rede ist von einer erforderlichen "Politisierung" der obersten militärischen Kommandostellen, je "politischer" in Zukunft die militärischen Einsätze werden. Es spricht einiges dafür, daß am Ende der Legislaturperiode des 2004 unter pazifistischen Vorzeichen angetretenen Ministerpräsidenten Rodrfguez Zapatero die Streitkräfte besser ausgebildet, moderner bewaffnet und politisch einflußreicher als zu Beginn der zweiten sozialistischen Regierungsepoche sein werden.
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XIX Das Militär
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XX Anhang
1.
Spanische Herrscher und Präsidenten
n Königreich Asturien Pelayo (Pelagius) Favila Alfons I. Fruela I. Aurelio Silo Mauregato Bermudo I. Alfons II., der Keusche Ramiro I. Ordorio I. Alfons III., der Große (910 Entstehung des Königreichs Leön aus der Erbmasse Asturiens, dessen gesamtes Gebiet es ab 924 umfaßte)
718/722-737 737-739 739-757 757-768 768-774 774-783 783-788 788-791 791-842 842-850 850-866 866-910
n Köni eich Leön Garcia Ordorio II. Fruela II. Alfons IV Ramiro II. Ordofio III. Sancho I. Ramiro III. Bermudo II. (Gegenkönig seit 982) Alfons V. Bermudo Ferdinand I., der Große (seit 1035 auch König von Kastilien) Alfons VI., der Tapfere (seit 1072 auch König von Kastilien) Urraca (zugleich Königin von Kastilien) Alfons VII., der Kaiser (zugleich König von Kastilien) Ferdinand II. Alfons IX. (1230 endgültige Vereinigung Leöns mit Kastilien)
910-914 914-924 924-925 926-932 932-950 950-956 957-966 966-985 985-999 999-1028 1028-1037 1037-1065 1065-1109 1109-1126 1126-1157 1157-1188 1188-1230
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XX Anhang
n Königreich Navarra Sancho I. Garc6s Garcia I. Sänchez Sancho II. Garc6s Abarca Garcia II. Sänchez Sancho III., der Ältere oder der Große (beherrschte auch Aragonien, Kastilien (seit 1029] und Teile Leöns) Garcia III. de Näjera Sancho IV de Penalen Sancho V. Ramfrez (seit 1063 als Sancho I. König von Aragonien) Peter 1 (zugleich König von Aragonien) Alfons I., der Schlachtenkämpfer (zugleich König von Aragonien) Garcia IV. Ramfrez Sancho VI. Sancho VII. Thibaut I. Thibaut II. Heinrich I. Johanna L Ludwig I. Johann I., das Kind Philipp II. Karl I. Johanna II. Karl Il. Karl III. Blanca II. Johann II. (1458-1479 auch König von Aragonien) Leonore Francisco Febo Katharina von Foix (seit 1484 zusammen mit ihrem Gemahl Johann von Albert; 1512 Vereinigung Navarras südlich der Pyrenäen mit Aragonien und Kastilien)
n Grafschaft Barcelona (Katalonien) Wilfredo I. Wilfredo II. Suniario Borrell II. Ramön Borrell I. Berenguer Ramön I. (Berengar Raimund L) Ramön Berenguer I.
Spanische Herrscher und Präsidenten
905-925 925-970 970-994 994-1000 um 1000-1035 1035-1054 1054-1076 1076-1094 1094-1104 1104-1134 1134-1150 1150-1194 1194-1234 1234-1253 1253-1270 1270-1274 1274-1305 1305/07-1316 1316 1316-1322 1322-1328 1328-1349 1349-1387 1387-1425 1425-1441 1425-1479 1479 1479-1483 1483-1512
878-897 898-911 911-947 947-992 992-1017 1017-1035 1035-1076
Ramön Berenguer II. Berenguer Ramön II. Ramön Berenguer III., der Große Ramön Berenguer IV. (ab 1137 Vereinigung von Barcelona/ Katalonien mit Aragonien)
1076-1082 1082-1097 1097-1131 1131-1162
BI Königreich Aragonien Ramiro I. Sancho I. Ramfrez (seit 1076 auch König von Navarra) Peter I. Alfons I., der Schlachtenkämpfer Ramiro II., der Mönch Petronila Ramön Berenguer IV., der Heilige Alfons II., der Keusche Peter II., der Katholische Jakob I., der Eroberer Peter III., der Große Alfons III., der Freigebige Jakob II., der Gerechte Alfons IV, der Gütige Peter IV., der Zeremoniöse Johann I., der Jäger Martin I. Ferdinand I. (von Antequera) Alfons V., der Großmütige Johann Ferdinand II., der Katholische (1479 Vereinigung der Kronen Aragonien und Kastilien)
III Grafschaft beziehungsweise (ab 1035) Königreich Kas' Ferdinand Gonzälez Garcia (Garcf) Fernändez Sancho Garcfa Garcia Sänchez Sancho I., der Große (seit etwa 1000 König von Navarra) Ferdinand I., der Große Sancho II. Alfons VI., der Tapfere Urraca Alfons VII., der Kaiser
1035-1063 1063-1094 1094-1104 1104-1134 1134-1137 1137-1162 1137-1162 1162-1196 1196-1213 1213-1276 1276-1285 1285-1291 1291-1327 1327-1336 1336-1387 1387-1396 1396-1410 1412-1416 1416-1458 1458-1479 1479-1516
en 923-970 970-995 995-1017 1017-1028 1029-1035 1035-1065 1065-1072 1072-1109 1109-1126 1126-1157
437
438
XX Anhang
Sancho III. Alfons VIII. Heinrich I. Berenguela Ferdinand III., der Heilige (seit 12 mit Le6n) Alfons X., der Weise Sancho IV. Ferdinand IV. Alfons XI. Peter I., der Grausame Heinrich II. (von Trastämara) Johann I. Heinrich III. Johann II. Heinrich IV. Isabella I., die Katholische
Spanische Herrscher und Präsidenten
1157-1158 1158-1214 1214-1217 1217 1217-1252 1252-1284 1284-1295 1295-1312 1312-1350 1350-1369 1369-1379 1379-1390 1390-1406 1406-1454 1454-1474 1474-1504
n Erste Republik (Präsidenten) Estanislao Figueras Francisco Pi Margall Nicolas Salmer6n y Alonso Emilio Castelar y 4011 Francisco Serrano y Dominguez, Herzog de la Torre
Februar Juni 1873 Juni—Juli 1873 Juli—September 1873 September 1873— Januar 1874 Januar Dezember 1874
n Restauration Alfons XII. (Bourbon) Maria Christina von Österreich (Regentin bis 1902) Alfons XIII.
1874-1885 1885-1886 (1902) 1886 (1902)-1931
n Zweite Republik (Staatspräsidenten) n Spanien von der Vereinigung der Kronen Kastilien und Ar agonien bis zur Ersten Republik Die "Katholischen Könige" Isabella I. von Kastilien (t 1504) und Ferdinand II. von Aragonien (t 1516); in den kastilischen Reichen: 1504-06/16 Johanna die Wahnsinnige (t 1555) und (1504/06) ihr Gemahl Philipp I., der Schöne (t 1506); 1506-16 Regentschaft Ferdinands II. Karl I. (Habsburg) Philipp II. Philipp III. Philipp IV. Karl II. Philipp V. von Anjou (Bourbon) Ludwig Philipp V. von Anjou Ferdinand 'Vl. Karl III. Karl IV. Ferdinand VII. Joseph (Bonaparte) Ferdinand VII. (Bourbon) Isabella II. Francisco Serrano y Domfnguez, Herzog de la Torre (Regent) Amadeus, Herzog von Aosta (Savoyen)
Niceto Alcalä Zamora y Torres Manuel Azafia y Dfaz
1931-1936 1936-1939
1479-1504/16
III Franco-Regime Francisco Franco Bahamonde
1516-1556 1556-1598 1598-1621 1621-1665 1665-1700 1700-1724 1724 1724-1746 1746-1759 1759-1788 1788-1808 März—Mai 1808 1808-1813 1814-1833 1833-1868/70 1869-1870 1870-1873
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1939-1975
n Königreich Juan Carlos I. (Bourbon)
seit 1975
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2.
XX Anhang
Siglen
AAA ACL ACNP ADE AEB AHI AIPF AISS AP AR ARC AuB AVE BNG BOC BRD BRT BUP CAA CAMPSA CCOO CC CD CDI CDN CDS CEDA CEDADE CEOE CEPYME CEU CGTU CHA CIG CiU CM CNT COICOP COU CP CREX-PREX CSIC
Alianza Apostölica Anticomunista Acciön Ciudadana Liberal Asociaciön Catölica Nacional de Propagandistas Acciön Democrätica Espafiola Asociaciön Espafiola de Banca Privada Agrupaciön Herrefia Independiente Agrupaciö Independent Popular de Formentera Administraciön Institucional de Servicios Socioprofesionales Alianza Popular Acciön Republicana Acciön Regional Catalana Autodeterminaziorako Bilgunea (Tren de) Alta Velocidad Espafiola Bloque Nacionalista Galego Bloc Obrer i Camperol Bundesrepublik Deutschland Bruttoregistertonnen Bachillerato Unificado y Polivalente Comandos Autönomos Anticapitalistas Compafiia Arrendataria Monopolistica de Petröleos S.A. Comisiones Obreras Coaliciön Canaria Coaliciön Democrätica Christdemokratische Internationale Convergencia de Demöcratas de Navarra Centro Democrätico y Social Confederaciön Espafiola de Derechas Autönomas Circulo Espariol de Amigos de Europa Confederaciön Espafiola de Organizaciones Empresariales Confederaciön Espafiola de Pequefias y Medianas Empresas Ceuta Unida Confederaciön General del Trabajo Unitaria Chunta Aragonesista Confederaciön Intersindical Gallega Convergencia i Uniö Coaliciön por Melilla Confederaciön Nacional del Trabajo Classification of Individual Consumption by Purpose Curso de Orientaciön Universitaria Coaliciön Popular Coaliciön Regionalista Extreme na Consejo Superior de Investigaciones Cientificas
Siglen
DS EA EAJ-PNV EB EE EG EGB EGPGC EH EHAK ELA EM-EU ERC ESO ETA EU EU-EV EU-EV EuiA EUPV EVP EWG FAI FCCB FDPL FN FNC FNTT FPE FRAP GAL GIL GRAPO HB IAA IC ICV INE INEM INI IR IU/EBN IU IU-CE
Democracia Social Eusko Alkartasuna Eusko Alderdi Jetzalea-Partido Nacionalista Vasco Izquierda Unida Ezker Batua Euzkadiko Eskerra Europäische Gemeinschaft Educaciön General Bäsica Ex&cito Guerrilheiro do Povo Galego Ceive Euskal Herritarrok Euskal Herrialdeetako Alberdi Kommunistak Eusko Langiteen Alkartasuna Esquerra de Menorca Esquerra Republicana de Catalunya Ensefianza Secundaria Obligatoria Euskadi Ta Askatasuna Europäische Union Esquerra Unida – Els Verds Esquerra Unida – Esquerra Valenciana Esquerra Unida i Alternativa Esquerra Unida del Pais Valenciä Europäische Volkspartei Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Federaciön Anarquista lb&ica Federaciön Comunista Catalano-Balear Federaciön de Partidos Democräticos y Liberales Fuerza Nueva Federaciön Nacionalista Canaria Federaciön Nacional de Trabajadores de la Tierra Formaciön Profesional Especifica Frente Revolucionario Antifascista Patriötico Grupos Antiterroristas de Liberaciön Grupo Independiente Liberal Grupo de Resistencia Antifascista Primero de Octubre Herri Batasuna Internationale Arbeiter-Assoziation Iniciativa per Catalunya Iniciativa per Catalunya Verds Instituto Nacional de Estadistica Instituto Nacional de Empleo Instituto Nacional de Industria Izquierda Republicana Izquierda Unida – Ezker Batua de Navarra Izquierda Unida Izquierda Unida – Compromiso por Extremadura
441
442
IU-CyL IURM IU-SIEX JSU JUJEM KAS KPdSU KSZE KSZM LAB LCR L'Entesa LGE LOAPA LOCE LODE LOE LOGSE LOLS LOSE LOU LRU MC MDT MPAIAC NATO OCE-BR OECD OEEC ORT PA PAR PAS PC PCC PCE PCO PCP PCPE PCTV PDC PDP PDSC
XX Anhang
Izquierda Unida Castilla y Leön Izquierda Unida de la Regiön de Murcia Izquierda Unida – Socialistas Independientes de Extremadura Juventud Socialista Unificada Junta de Jefes del Estado Mayor Koordinadora Abertzale Sozialista Kommunistische Partei der Sowjetunion Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Mittelmeerraum Langile Abertzale Batzordeak Liga Comunista Revolucionaria Esquerra Unida – Els Verds/LV – Esquerra Valenciana Ley General de Educaciön Ley Orgänica Armonizadora del Proceso Autonömico Ley Orgänica de Calidad de Ensefianza Ley Orgänica de Derecho a la Educaciön Ley Orgänica de Educaciön Ley Orgänica de Ordenaciön General del Sistema Educativo Ley Orgänica de Libertad Sindical Ley de Ordenaciön del Sistema Educativo Ley Orgänica de Universidades Ley de Reforma Universitaria Movimiento Comunista Moviment de Defensa de la Terra Movimiento para la Autodeterminaciön e Independencia del Archipidlago Canario North Atlantic Treaty Organization Organizaciön Comunista de Espafia – Bandera Roja Organization for Economic Cooperation and Development Organization for European Economic Cooperation Organizaciön Revolucionaria de Trabajadores Partido Aragords Partido Aragonds Partiu Asturianista Partido Carlista Partit Comunista Catalä Partido Comunista de Esparia Partido Comunista Obrero Partit Catalä Proletari Partido Comunista de los Pueblos de Espafia Partido Comunista de las Tierras Vascas Partido Democrätico Cristiano Partido Democrätico Popular Partido Democrätico y Social de Ceuta
Siglen
PFC PIM PL PNC PNV-EA POUM PP PPD PR PRC PRD PROCOME PRR PSA PSD PSE PSM-EN PSN-PSOE PSOE PSPC PSPV-PSOE PSUC PTE PUNS PYMES RDE RENFE SA SOC SOV SPD STV TC-PNC UCD UDCE UDE UdSSR UGT UM UMD UN UNE UNESCO UPCA
443
Partido del Progreso y Futuro de Ceuta Partido Independiente de Melilla Partido Liberal Partido Nacionalista Canario Partido Nacionalista Vasco – Eusko Alkartasuna Partido Obrero de Unificaciön Marxista Partido Popular Partido Progresista Democrätico Partido Riojano Partido Regionalista de Cantabria Partido Reformista Democrätico Produits de consommation des mdnages Partido Republicano Radical Partido Socialista de Andalucia Partido Social Democrätico Partido Socialista de Euskadi Partit Socialista de Mallorca – Entesa Nacionalista Partido Socialista de Navarra-Partido Socialista Obrero Esparlol Partido Socialista Obrero Espafiol Partido Socialista del Pueblo de Ceuta Partit Socialista del Pais Valenciä – Partido Socialista Obrero Espafiol Partit Socialista Unificat de Catalunya Partido del Trabajo de Esparia Partido de Uniön Nacional Saharahui Pequefias y Medianas Empresas Reforma Democrätica Espafiola Red Nacional de Ferrocarriles Espafioles Sozialista Abertzaleak Sindicato de Obreros del Campo Solidaridad de Obreros Vascos Sozialdemokratische Partei Deutschlands Solidaridad de Trabajadores Vascos Tierra Comunera – Partido Nacionalisa Castellano Uniön de Centro Democrätico Uniön Demöcrata Ceuti Uniön Democrätica Espatiola Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Uniön General de Trabajadores Uniö Mallorquina Uniön Militar Democrätica United Nations Uniön Nacional Espatiola United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization Uniön para el Progreso de Cantabria
444
XX Anhang
UPE UPL UPM UPN UR URAS USA USC USO USP UV-FICVA-CC WEU YPF ZK
3.
Internetadressen
Uniön del Pueblo Espatiol Uniön del Pueblo Leon& Uniön del Pueblo Melillense Uniön del Pueblo Navarro Uniön Republicana Uniön Renovadora Asturiana United States of America Uniö Socialista de Catalunya Uniön Sindical Obrera Uniön Social Popular Uniö Valenciana — Independientes — Centristas Westeuropäische Union Yacimientos Petroliferos Fiscales Zentralkomitee
445
www.inem.es
Homepage des Instituto de Empleo mit spezifischen Informationen über den spanischen Arbeitsmarkt, z.B. Publikationen und Statistiken.
www.mtas.es/mujer/
Spezielle Informationsseite des Instituto de la Mujer mit Berichten, Publikationen und Statistiken zu den Themen Gleichstellung, Gewalt gegen Frauen etc. sowie Auskünfte über den Service und die Programme des Instituto de la Mujer.
www.injuve.mtas.es
Homepage des Instituto de la Juventud mit Informationen zum Thema Jugend (z. B. Bildung, Beschäftigung, Freizeit, Gesellschaft und Gesundheit).
www.boe.es
Homepage des Boletin Oficial del Estado; Amtsblatt der Regierung; Amtliche Veröffentlichungen der spanischen Ministerien.
Internetadressen n Botschaften und Handelskammer
n Regierungen und Ministerien www.la-moncloa.es
Internetseite der spanischen Regierung; Informationen über die Mitglieder der amtierenden Regierung sowie über aktuelle politische Themen und Aufgabenfelder.
www.euskadi.net
Internetseite der baskischen Autonomieregierung; Informationen über die Mitglieder und Institutionen der baskischen Regierung sowie umfangreiche Auskünfte über die spezifische Kultur, die Politik, die Wirtschaft und den Fremdenverkehr des Baskenlandes.
www.mec.es
www.mtas.es
Internetseite des Ministerio de Educaciön y Ciencia; Informationen und Auskünfte über das Schulund Bildungswesen, die Universitäten, die Bereiche Wissenschaft und Technologie sowie den Sport. Internetseite des Ministerio de Trabajo y Asuntos Sociales; Informationen sowie amtliche Mitteilun- gen und Statistiken zu den Themengebieten Soziale Sicherheit, Ein- und Auswanderung, Beschäftigung, Gleichstellung und Jugend.
www.spanischebotschaft.de
Internetseite der Spanischen Botschaft in Berlin; Auskunft über die Zuständigkeiten und Aufgaben der verschiedenen Botschaftsabteilungen und Konsulate sowie Kontaktdaten; allgemeine Informationen über Kultur, Tourismus und Wirtschaft Spaniens.
www.embajada-alemania.es
Internetseite der Deutschen Botschaft in Madrid; Informationen über die deutsch-spanischen Beziehungen, Auskünfte für deutsche Staatsangehörige (Leben und Arbeiten in Spanien, Reisehinweise).
www. ahk.de/bueros/s/spanien/
Informationen, Service-Angebot und Kontaktdaten der Deutschen Außenhandelskammer in Madrid.
n Statistische Institute www.ine.es
Homepage des Instituto Nacional de Estadistica; Aktuelle Informationen sowie Publikationen und Ergebnisse statistischer Datenerhebungen zu den Themenbereichen Demographie, Gesellschaft, Wirtschaft, Umwelt etc. Spaniens.
446
XX Anhang
epp.eurostat.cec.eu.int
447
Aktuelle Informationen und Ergebnisse statistischer Datenerhebungen auf europäischer Ebene; Publikationen zu verschiedenen Themenbereichen, z. B. Wirtschaft und Finanzen, Bevölkerung und soziale Bedingungen, Umwelt und Energie etc.
Verzeichnis der Graphiken, Karten, Schemata und Tabellen
Graphiken n
Presse/Medien S. 184 Graphik 1: Todesopfer von ETA 1968-2005, eigene Erstellung
www. abc.es www.elmundo.es www.elpais.es www.efe.es
n
Homepage der Zeitung ABC. Homepage der Zeitung El Mundo. Homepage der Zeitung El Pais. Homepage der Nachrichtenagentur Efe.
S. 192 Graphik 2: Entwicklung der politischen "Lager" bei den baskischen Autonomiewahlen 1980-2005, eigene Erstellung S. 207 Graphik 3: Finanzsaldo der EU-Mittel für Spanien (in Mio. €) 2000-2013 (ab 2006: Prognose), Angaben aus: El Pais, 4.3.2005, 67
Internetportale S. 271 Graphik 4: Entwicklung der Inflation 1962-2005, eigene Erstellung
www.spanien. historicum.net
www.ratgeber-spanien.de
Online-Portal und allgemeine Informationen zum Thema Spanien; Links zu weiteren Portalen, Organisationen, Diskussionsforen und Archiven; Hinweise für Literaturrecherche; Informationsplattform zur Geschichte und Kultur Spaniens. Links und allgemeine Informationen zu Spanien; Bücher, Kultur und Geschichte, Bildung, Wirtschaft.
S. 274 Graphik 5: Entwicklung des BIP pro Kopf in Spanien 1825-2005 (in internationalen Dollars von 1990), aus: Capital (Madrid) Nr. 67, März 2006, 37 S. 275 Graphik 6: BIP Spaniens 1986-2004 zu Marktpreisen (Jahr 2000 = 100), adaptiert aus: El Pais, 2.1.2006, 47 S. 277 Graphik 7: Einkommen pro Kopf (in % des europäischen Durchschnitts; EU = 100), adaptiert aus: El Pais, 2.1.2006, 47 S. 292 Graphik 8: Import und Export von Industriegütern, 1975-1999 (in Mio. Peseten von 1975), adaptiert aus: Jordi Nadal 011er u. a., Atlas de la industrializaciön de Esparia 1750-2000, Barcelona 2003, 409 S. 299 Graphik 9: Direkte Brutto-Investitionen Spaniens in Lateinamerika 1993-2004 (in Mio. €), adaptiert aus: El Pais, 13.3.2006, 17 S. 330 Graphik 10: Natürliches Bevölkerungswachstum und Zuwachs durch Einwanderung, Angaben des Institut() Nacional de Estadistica, padrdn municipal S. 331 Graphik 11: Entwicklung der ausländischen Bevölkerung in Spanien 1998-2005 (absolut und in % an der Gesamtbevölkerung), Angaben des Instituto Nacional de Estadistica S. 331 Graphik 12: Ausländer mit gültiger Aufenthaltsgenehmigung, adaptiert aus: El Pais, 13.9.2004, 27
448
XX Anhang
S. 333 Graphik 13: Entwicklung der Altersstruktur (Vergleich der Jahre 1900, 1960, 1991 und 2001), adaptiert aus: Anuario Estadistico de Esparia 2005, 56
Verzeichnis der Graphiken, Karten, Schemata und Tabellen
Karten S. 18
Karte 1:
Hispania in römischer Zeit, adaptiert aus: Julio Löpez-Davalillo Larrea, Atlas histörico de Esparia y Portugal. Desde el Paleolftico hasta el siglo XX, Madrid 1999, 66
S. 20
Karte 2:
Das Westgotenreich, adaptiert aus: Julio Löpez-Davalillo Larrea, Atlas histörico de Esparia y Portugal. Desde el Paleolftico hasta el siglo XX, Madrid 1999, 80
S. 22
Karte 3:
Historische Regionen, adaptiert aus: Julio Löpez-Davalillo Larrea, Atlas histörico de Esparia y Portugal. Desde el Paleolftico hasta el siglo XX, Madrid 1999, 24
S. 24
Karte 4:
Emirat von Cördoba, adaptiert aus: Julio Löpez-Davalillo Larrea, Atlas histörico de Esparia y Portugal. Desde el Paleolftico hasta el siglo XX, Madrid 1999, 86
S. 26
Karte 5:
Die Reconquista (10. Jahrhundert), adaptiert aus: Julio Löpez-Davalillo Larrea, Atlas histörico de Esparia y Portugal. Desde el Paleolftico hasta el siglo XX, Madrid 1999, 89
S. 28
Karte 6:
Die Reconquista (Mitte des 11. Jahrhunderts), adaptiert aus: Julio LöpezDavalillo Larrea, Atlas histörico de Esparia y Portugal. Desde el Paleolftico hasta el siglo XX, Madrid 1999, 100
S. 30
Karte 7:
Spanien im 15. Jahrhundert, adaptiert aus: Julio Löpez-Davalillo Larrea, Atlas histörico de Esparia y Portugal. Desde el Paleolftico hasta el siglo XX, Madrid 1999, 117
S. 32
Karte 8:
Aufteilung in Provinzen, adaptiert aus: Miguel Artola u. a., Enciclopedia de Historia de Esparia, Madrid 1988, Bd. 2, 81
S. 45
Karte 9:
Der Spanische Bürgerkrieg Juli 1936, aus: Manuel Turiön de Lara u. a., Der Spanische Bürgerkrieg. Eine Bestandsaufnahme. Aus dem Spanischen von Ulrike Liebert, Thomas Maier, Gerhard Poppenberg u. a. der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1987, 76
S. 45
Karte 10:
Der Spanische Bürgerkrieg März 1937, aus: Manuel Turiön de Lara u. a., Der Spanische Bürgerkrieg. Eine Bestandsaufnahme. Aus dem Spanischen von Ulrike Liebert, Thomas Maier, Gerhard Poppenberg u. a. © der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1987, 163
S. 336 Graphik 14: In Spanien lebende Ausländer nach Herkunftsländern 2002/2003, Angaben des Instituto Nacional de Estadistica S. 338 Graphik 15: Eheschließungen und Scheidungen 1982-2004/05, Angaben des Instituto de la Mujer S. 339 Graphik 16: Europäischer Vergleich der Gesamtfruchtbarkeitsrate 1960-2003, Angaben von Eurostat S. 339 Graphik 17: Durchschnittsalter der spanischen Bevölkerung bei der ersten Eheschließung, Angaben des Instituto Nacional de Estadistica S. 339 Graphik 18: Durchschnittsalter der Mütter bei der Geburt ihres ersten Kindes, Angaben des Instituto Nacional de Estadistica S. 344 Graphik 19: Sozialschutzeinnahmen nach Einnahmeart 2003 (in % der Gesamteinnahmen), Angaben von Eurostat S. 345 Graphik 20: Arbeitnehmer mit Mitgliedschaft in der Sozialversicherung, Angaben aus: Anuario El Pais 2006, 311 S. 345 Graphik 21: Sozialleistungen nach Funktionen in % 2003, Angaben von Eurostat S. 350 Graphik 22: Wochenendaktivitäten der Jugendlichen in Spanien, adaptiert aus: El Pais, 16.3.2006, 28 S. 350 Graphik 23: Alkoholkonsum spanischer Jugendlicher am Wochenende, adaptiert aus: El Pais, 16.3.2006, 28
449
S. 389 Graphik 24: Tarifverhandlungen in Spanien 1986-2003, eigene Erstellung S. 390 Graphik 25: Mitgliederentwicklung von CCOO und UGT, eigene Erstellung S. 392 Graphik 26: Arbeitskonflikte 1978-2004, eigene Erstellung S. 394 Graphik 27: Arbeitsunfälle und berufsbedingte Krankheiten, eigene Erstellung
450
XX Anhang
S. 46
Karte 11:
S. 46
Karte 12:
Verzeichnis der Graphiken, Karten, Schemata und Tabellen
451
Der Spanische Bürgerkrieg Oktober 1937, aus: Manuel Tufiön de Lara u. a., Der Spanische Bürgerkrieg. Eine Bestandsaufnahme. Aus dem Spanischen von Ulrike Liebert, Thomas Maier, Gerhard Poppenberg u. a. © der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1987, 207
S. 307
Karte 23:
Bevölkerungswachstum 1877-1920, adaptiert aus: Fernando Garcia de Cortäzar, Atlas de Historia de Esparia, Barcelona 2005, 437
S. 310
Karte 24:
Auswanderung nach Lateinamerika 1885-1930, adaptiert aus: Fernando Garcia de Cortäzar, Atlas de Historia de Esparia, Barcelona 2005, 435
Der Spanische Bürgerkrieg Juli 1938, aus: Manuel Turiön de Lara u.a., Der Spanische Bürgerkrieg. Eine Bestandsaufnahme. Aus dem Spanischen von Ulrike Liebert, Thomas Maier, Gerhard Poppenberg u. a. © der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1987, 249
S. 314
Karte 25:
Auswanderung 1964-1977, adaptiert aus: Fernando Garcia de Cortäzar, Atlas de Historia de Esparia, Barcelona 2005, 503
S. 315
Karte 26:
Binnenmigrationen der 1950er/1960er Jahre, adaptiert aus: Julio LöpezDavalillo Larrea, Atlas histörico de Esparia y Portugal. Desde el Paleolftico basta el siglo XX, Madrid 1999, 191
S. 334
Karte 27:
Bevölkerungsdichte nach Autonomen Regionen 2005, Angaben des Instituto Nacional de Estadistica
S. 335
Karte 28:
Ausländeranteil (in %) an der Gesamtbevölkerung nach Provinzen 2004, Angaben des Instituto Nacional de Estadistica
S. 165
Karte 13:
Die Regionalregierungen Spaniens 2006, eigene Erstellung
S. 219
Karte 14:
Von den Handelsstützpunkten zur Siedlungskolonisation, aus: Schulpraxis I (Bern), Jg. 82, 1992, 9
S. 225
Karte 15:
Das spanische Kolonialreich im 18. Jahrhundert, aus: Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, Bd. 2, hg. von R. Th. Buve /1. R. Fisher, Stuttgart 1992, 14
S. 229
Karte 16:
Spanien erkennt 1956 die Unabhängigkeit Marokkos an, adaptiert aus: Enrique Martfnez Ruiz u.a., Atlas histörico de Esparia II, Madrid 1999, 186
Schemata
S. 230
Karte 17:
Marokko 1957 Angriffe auf IFNI, adaptiert aus: Enrique Martfnez Ruiz u.a., Atlas histörico de Esparia II, Madrid 1999, 186
S. 139
Schema 1:
Regierungs- und Wahlsystem, eigene Erstellung
S. 140
Schema 2:
Spanisches Wahlsystem, eigene Erstellung
S. 183
Schema 3:
Vernetzung von ETA in der spanischen Gesellschaft, eigene Erstellung, bereits in: Walther L. Bernecker: Ethnischer Nationalismus und Terrorismus im Baskenland. In: W.L. Bernecker / K. Dirscherl (Hg.): Spanien heute. © Vervuert Verlagsgesellschaft, Frankfurt am Main 2004, 209
S. 233
Karte 18:
Die Saharafrage, adaptiert aus: Enrique Martfnez Ruiz u. a., Atlas histörico de Esparia II, Madrid 1999, 192
S. 262
Karte 19:
Spanisches Eisenbahnnetz Ende 1870, adaptiert aus: Historia 16, Extra XXI (April 1982), 81
S. 216
Schema 4:
Die fünf Akteure der Conquista (16. Jh.), aus: Schulpraxis I (Bern), Jg. 82, 1992, 7
S. 273
Karte 20:
Wirtschaftskrise und industrielle Umstrukturierung (1975-1985), adaptiert aus: Atlas de Historia de Esparia, Barcelona 2005, 519
S. 221
Schema 5:
Verwaltungsbereiche und Ämter in der spanischen Kolonialverwaltung, um 1610, nach Horst Pietschmann: Die staatliche Organisation des kolonialen Lateinamerika, Stuttgart 1980, 181
S. 282
Karte 21:
Regionale Wasserbilanz der spanischen Flußeinzugsgebiete, aus: Toni Breuer: Der geographische Raum und seine wechselnde Bewertung. In: W.L. Bernecker / K. Dirscherl (Hg.): Spanien heute. © Vervuert Verlagsgesellschaft, Frankfurt am Main 2004, 15
S. 364
Schema 6:
Struktur des Schulwesens nach dem Bildungsreformgesetz von April 2006, eigene Erstellung
S. 284
Karte 22:
Spaniens Wirtschaft, aus: Brockhaus: Länder und Städte. Spanien, Madrid. Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG, Leipzig 1999, 50
XX Anhang
452
Verzeichnis der Graphiken, Karten, Schemata und Tabellen
Tabellen
453
S. 287
Tab. 14:
Branchenstruktur der Industrie 1993/2002, aus: D. Nohlen / A. Hildenbrand: Spanien. Wirtschaft - Gesellschaft - Politik. Ein Studienbuch. Wiesbaden 2005, 52
S. 288
Tab. 15:
Touristen und Deviseneinnahmen 1996-2005, Angaben aus: Anuario El Pais 2006, 302
S. 92
Tab. 1:
S. 142
Tab. 2:
S. 159
Tab. 3:
Einnahmen der Autonomen Gemeinschaften (2005, in Mio. €), Angaben aus: El Pais, 5.12.2005, 17
S. 291
Tab. 16:
Die führenden Banken und Sparkassen 2005, Angaben aus: Anuario El Pais 2006, 325 f.
S. 160
Tab. 4:
Durchschnittliches Pro-Kopf-Einkommen in den Autonomen Gemeinschaften (2004; in €; Spanien = 100 %), Angaben des Instituto Nacional de Estadistica
S. 293
Tab. 17:
Spanische Exporte und Importe 2004, Angaben aus: Anuario El Pais 2006, 294
S. 294
Tab. 18:
S. 191
Tab. 5:
Wahlen im Baskenland, eigene Zusammenstellung
Importe und Exporte Spaniens 1986-2004 (in Mio. €), Angaben des Instituto Nacional de Estadistica
S. 208
Tab. 6:
Finanzsaldo Spaniens mit der EU 1986-2005 (in Mio. €), Angaben aus: El Pais, 18.6.2005, 3
S. 294
Tab. 19:
Spanische Exporte nach Regionen (in %), aus: Hugo Fazio Vengoa: Spanien und Lateinamerika. Berlin 2003 (= Ibero-Analysen 12), 10
S. 251
Tab. 7:
Landwirtschaftliche Anbaufläche und Ertragsleistung 1800-1900, Angaben aus: Jaime Vicens Vives: Manual de historia econömica de Esparia. Barcelona 1987, 585
S. 295
Tab. 20:
Direktinvestittionen 1993-2004 (in Mio. €), Angaben aus: Anuario El Pais 2006, 292
5.296
Tab. 21:
5.260
Tab. 8:
Der Außenhandel Spaniens 1929-1935 (in Mio. Goldpeseten), aus: A. Kling, Die Wandlung der Wirtschaftsstruktur im Agrarstaat Spanien und die Entwicklung der deutsch-spanischen Handelsbeziehungen seit dem Ersten Weltkrieg. Diss. München 1955, 97
Spanische Zahlungsbilanz 1999-2003 (in Mio. €), Angaben aus: Anuario Estadistico de Esparia
S. 298
Tab. 22:
Investitionen spanischer Unternehmen in Lateinamerika 2006 (in Mio. €), Angaben aus: El Pais, 13.3.2006, 17
Die Mandatsverteilung in den Cortes der Revolutionsepoche 1869-1873, nach: Dieter Nohlen: Spanien. In: D. Sternberger / B. Vogel (Hg.): Die Wahl der Parlamente und anderer Staatsorgane. Bd. 1. Berlin 1968, 1271 Parlamentswahlen 1977-2004, eigene Zusammenstellung
5.267
Tab. 9:
Staatsschuldenemission, Geldumlauf und Preisentwicklung 1950-1958, Angaben des Ministerio de Hacienda, Banco de Espar7a und Instituto Nacional de Estadistica
S. 299
Tab. 23:
Spanische Auslandsinvestitionen nach Regionen (in %), aus: Hugo Fazio Vengoa: Spanien und Lateinamerika. Berlin 2003, (= Ibero-Analysen 12), 19
S. 271
Tab. 10:
Inflationsrate Spaniens 1975-2005, Angaben 1975-1996 aus El Pais, 1997-2005 Instituto Nacional de Estadistica
5.301
Tab. 24:
Die wichtigsten Operationen spanischer Unternehmen 2004-2006, Angaben aus: El Pais, 1.5.2006, 59
S. 280
Tab. 11:
Wirtschaftsdaten Spaniens, Angaben des Instituto Nacional de Estadistica und des Instituto Espariol de Comercio Exterior
S. 305
Tab. 25:
Bevölkerungswachstum 1797-1920, Angaben aus: J. Vicens Vives (Hg.): Historia social y econömica de Esparia y America. Bd. 5. Barcelona 1972, 11
S. 283
Tab. 12:
Betriebsgröße, Betriebe und Nutzflächen 1995, aus: Horst-Günter Wagner: Mittelmeerraum. Darmstadt 2001, 243
S. 308
Tab. 26:
Bevölkerungsstatistik Spaniens 1900-1976, Angaben aus: Jordi Nadal, La poblaciön espafiola (siglos XVI a XX). Barcelona 1976, 16 sowie Anuario econdmico y social de Esparia 1977. Barcelona 1977, 198
S. 285
Tab. 13:
Die wichtigsten Unternehmen Spaniens 2004, Angaben aus: Anuario El Pais 2006, 319
454
S. 309
Verzeichnis der Graphiken, Karten, Schemata und Tabellen
XX Anhang
Tab. 27:
Einwanderung nach Katalonien 1877-1920, Angaben aus: Josö Iglesias Fort: El movimiento demogräfico de Cataluria durante los ültimos cien arios. In: Memorias de la Real Academia de Ciencias y Artes de Barcelona. Bd. 33, Nr. 16 (1961), 345
S. 346
Tab. 38:
Entwicklung der Rentenzahlungen 1998-2006 (in Mio. €), Angaben aus: Anuario EI Pais 2006, 307
S. 348
Tab. 39:
Wohnraum 1975/2001, Angaben aus: EI Pais, 3.12.2003, 32
S. 360
Tab. 40:
Bildungsniveau der Bevölkerung 1978-2002 (Bevölkerung über 16 Jahre; in Tausend), Angaben aus: El Pais, 3.12.2003, 32
S. 361
Tab. 41:
Schüler- und Studentenzahlen 2005/2006, Angaben aus: Anuario El Pais 2006, 116
5.386
Tab. 42:
Ergebnisse der Betriebskomitee-Wahlen, aus: Holm - Detlev Köhler: Arbeitsmarkt und Arbeitsbeziehungen in Spanien zu Beginn des 21. Jahrhunderts. In: W.L. Bernecker / K. Dirscherl (Hg.): Spanien heute. © Vervuert Verlagsgesellschaft, Frankfurt am Main 2004, 407
S. 388
Tab. 43:
Die Tarifverhandlungen in Spanien 1986-2005, Angaben des Ministeno de Trabajo yAsuntos Sociales
S. 389
Tab. 44:
Gewerkschaftlicher Organisationsgrad, Angaben des Instituto Nacional de Estadistica
S. 390
Tab. 45:
Entwicklung der Mitgliederzahlen von CCOO und UGT, Angaben der Gewerkschaften
S. 391
Tab. 46:
Arbeitskonflikte in Spanien 1978-2004, Angaben des Ministerio de Trabajo yAsuntos Sociales
S. 393
Tab. 47:
Arbeitslosenraten 1977-2004 (in %), Angaben aus: Anuario Estadistico de Espar7a 2005
S. 393
Tab. 48:
Arbeitsunfälle und berufsbedingte Krankheiten 1995-2004, Angaben des Ministerio de Trabajo y Asuntos Sociales
S. 433
Tab. 49:
Personalstärke der Streitkräfte, Angaben aus verschiedenen Ausgaben von El Pais
S. 312
Tab. 28:
Die spanische Auswanderung nach Europa 1960-1969, Angaben aus: Jordi Nadal, La poblaciön espariola (siglos XVI a XX). Barcelona 1976, 221
S. 313
Tab. 29:
Die Verteilung der Bevölkerung auf Städte verschiedener Größenordnung 1900-1970 (in %), Angaben aus: J. Vicens Vives (Hg.): Historia social y econömica de Esparia y Amörica. Bd. 5. Barcelona 1972, 38
S. 313
S.322
S. 323
Tab. 30:
Tab. 31:
Tab. 32:
455
Personen, die in anderen als ihren Herkunftsprovinzen von den Volkszählungen erfaßt wurden, 1877-1950 (in %), Angaben aus: Jordi Nadal, La poblaciön espariola (siglos XVI a XX). Barcelona 1976, 244 Die Entwicklung der erwerbstätigen Bevölkerung nach Wirtschaftszweigen 1930-1976, Angaben aus: Ramön Tamames, La Repüblica. La Era de Franco. Madrid 1979, 382 sowie Anuario Econömico 1977, 90 Die soziale Schichtung in Spanien 1970, Angaben aus: J. Garcia-Petit / B. Schäfers, Sozialer Wandel in Spanien. Über einige Prozesse der Modernisierung und sozialen Mobilisierung. In: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie 6 (1980), 105
S. 329
Tab. 33:
Bevölkerungsentwicklung auf Basis der Volkszählungen 1970-2001, Angaben aus: Anuario Estadistico de Esparia 2005
S. 330
Tab. 34:
Bevölkerungsentwicklung 1995-2004, Angaben des Instituto Nacional de Estadistica, padrön municipal
S. 336
Tab. 35:
Die wichtigsten ausländischen Nationalitäten 2004, Angaben des Instituto Nacional de Estadistica
S. 341
Tab. 36:
Jahreseinkommen (netto) und -ausgaben der Privathaushalte 1993-2003, Angaben des Instituto Nacional de Estadistica. Indicadores sociales 2005. Renta, distnbuciön y consumo
S. 342
Tab. 37:
Durchschnittliches Jahreseinkommen (netto) nach Autonomen Regionen 2004, Angaben des Instituto Nacional de Estadistica sowie Anuario El Pais 2006, 335 Für die Bereitstellung von Bildmaterial danken wir der Casa de S.M. El Rey (S. 143) sowie der Presidencia del Gobierno, Subdirecciön General de Informacidn Internacional (S. 145-148).
456
Personenregister
Personenregister
Abd el Krim 8, 227 Acebes, Angel 122 Aguade, Jaume 104 Aguirre, Esperanza 174 Aguirre, Jose Antonio de 106, 178, 184 Ajuriaguerra, Juan de 131 Alcalä Zamora y Torres, Niceto 8, 43, 439 Alfons I., K. von Aragonien 3, 437 Alfons I., K. von Asturien 435 Alfons I., K. von Navarra 436 Alfons II., K. von Aragonien 437 Alfons II., K. von Asturien 435 Alfons III., K. von Aragonien 437 Alfons III., K. von Asturien 435 Alfons IV., K. von Aragonien 437 Alfons IV., K. von Leön 435 Alfons V., K. von Aragonien 437 Alfons V., K. von Leön 435 Alfons VI., K. von Leön 435 Alfons VI., K. von Kastilien 3, 31, 438 Alfons VII., K. von Kastilien 3, 76, 93, 438 Alfons VII., K. von Leön 435 Alfons K. von Kastilien 8, 10, 75, 107, 143, 422f., 438 Alfons IX., K. von Leön 435 Alfons X., K. von Kastilien 3, 438 Alfons XI., K. von Kastilien 438 Alfons XII., K. von Spanien 439 Alfons XIII., K. von Spanien 439 Al-Mansur 29 Almunia, Joaqufn 13, 57, 124 Alonso, Jaime 128 Alonso, Jose Antonio 138 Alvares Cabral, Pedro 213 Alvarez, Magdalena 138 Alvarez Areces, Vicente 168 Alvarez Cascos, Francisco 120 Alvarez de Miranda, Fernando 113 Alvarez Mendizäbal, Juan 69f. Alzaga, Oscar 118f. Amadeus von Savoyen, K. von Spanien 7, 74, 439
Anguiano, F. 96 Anguita, Julio 126 Arana y Goiri, Sabino de 37, 104f., 131, 178-180 Araquistäin, Luis 96 Ardiaca, Pere 134 Areilza, Jose Marfa de 117f. Argüelles, Agustfn 88 Arias Navarro, Carlos 11 f., 48, 52, 144f., 230, 382 Arias Salgado, Rafael 112-115 Armada, Alfonso 428 f. Arzalluz, Xabier 131, 179, 187-189 Atahualpa, Inka-Kaiser 220 Augustus, Kaiser 19 Aurelio, K. von Asturien 435 Azaria y Dfaz, Manuel 8-10, 41-44, 95, 99-101, 398, 423, 439 Aznar Löpez, Jose Maria 13-15, 56-59, 120-124, 147f., 189f., 203-205, 209f., 235-238 Baker, James 232, 238 Bakunin, Michail 372-375 Barreda Fontes, Jose Maria 172 Barrera, Emilio 423 Berenguela, K. von Kastilien 438 Berenguer, Dämaso 8 Berenguer Ramön I., Graf von Barcelona 437 Berenguer Ramön II., Graf von Barcelona 437 Bermudo I., K. von Asturien 435 Bermudo II., K. von Leön 435 Bermudo III., K. von Leön 435 Bernal, Miguel 128 Besteiro, Juliän 96 f., 375 Blanca, K. von Navarra 436 Blanco, Miguel Angel 178, 187 Bläzquez, Ricardo 413 Blum, Leon 47 Bolivar, Simön 214 Bonaparte, Joseph 6, 33, 61-64, 439
Bono, Jose 138, 432 Borrell, Jose 209 Borrell II., Graf von Barcelona 437 Bouteflika, Abd al-Aziz 15, 235 Bravo Murillo, Juan 89 Buil, Leön 115 Burgos, Javier de 33 Bush, George W. 209f. Cabanillas, Pfo 113 Cabrera, Mercedes 138, 365 Calatrava, Jose Maria 70, 88 Caldera, Jesüs 138, 353 Calvo, Carmen 138 Calvo Asensio, Pedro 90 Calvo Ortega, Rafael 112-115 Calvo Sotelo, Jose 9, 44 Calvo Sotelo, Leopoldo 12, 113, 146, 157, 429 Cämara, Sixto 91 Camps Ortiz, Francisco Enrique 176 Camufias, Ignacio 113 Cänovas del Castillo, Antonio 8, 73-75, 90-94 Caracalla, Kaiser 19 Carranza, Thömas de 117 Carrero Blanco, Luis 11, 48, 51, 82f., 178 Carrillo, Santiago 55, 97, 102, 125 Casado, Segismundo 47 Casares Quiroga, Santiago 9 Caso Garcia, Jose Ramön 114 Castelar y Ripoll, Emilio 73, 92, 439 Castellano, Pablo 123 Castiella, Fernando Maria 402 Castro, H. de 100 Cavero, Iriigo 115 Chaves Gonzälez, Manuel 167 Cisneros Laborda, Gabriel 84 Claudfn, Fernando 125, 380 Clinton, Bill 210 Colön, Diego 213 Comorera, Joan 103, 133 Companys, Lluis 43, 95, 104 Corral, Jose Luis del 128 Cortes, Hernän 4, 213, 219 Costa, Joaqufn 76 Cubillo, Antonio 130 Curiel, Enrique 123
457
Dato, Eduardo 421 Dfaz Merchän, Gabino 409 D'Ors, Eugenio 197 Dussel, Enrique 216 Egibar Artola, Joseba 187 Elorza, Antonio 91 Enrique y Tarancön, Vicente 404-409 Ensenada, Marquds de la 241 Escuredo, Rafael 155 Espartero, Baldomero 7, 71 f., 90, 418-420 Espinosa, Elena 138 Fand, König von Saudi Arabien 408 Fanelli, Guiseppe 373 Favila, K. von Asturien 435 Ferdinand Gonzälez, Graf von Kastilien 438 Ferdinand I., K. von Kastilien 438 Ferdinand III., K. von Kastilien 438 Ferdinand IV., K. von Kastilien 438 Ferdinand V., K. von Kastilien 3 Ferdinand I., K. von Aragonien 437 Ferdinand I., K. von Leön 435 Ferdinand II., K. von Aragonien 3f., 31, 215, 437, 439 Ferdinand II., K. von Leön 435 Ferdinand VI., K. von Spanien 6, 439 Ferdinand VII., K. von Spanien 6, 33, 61 f., 64, 67, 87, 244, 439 Fernändez Albor, Gerardo 118, 155 Fernändez de la Mora, Gonzalo 117, 128 Fernändez de la Vega, Maria Teresa 138 Fernändez Miranda, Torcuato 144 Fernändez Ordöriez, Francisco 113 Fernändez-Cuesta, Raimundo 127 Fernändez Villaverde, Raimundo 244, 258, 263, 267 Figueras, Estanislao 73, 92, 439 Figuerola, Laureano 259, 264 Flörez Estrada, Alvaro 88 Fraga Iribarne, Manuel 11, 13, 55, 84, 114-120, 154, 382 Francisco Febo, K. von Navarra 436 Franco Bahamonde, Francisco 9-12, 43f., 47-54, 57, 80-86, 99f., 106-113, 116f., 122, 124, 127f., 132, 143-147, 150f., 155, 178, 180, 184, 198-203, 228, 230f., 240, 252, 255, 266-270,
458
XX Anhang
277f., 308, 320, 327, 329, 337, 340, 358, 367, 380-383, 390, 399, 401, 404f., 408, 423-426, 440, 454 Fröbel, Friedrich 357 Fruela I., K. von Asturien 435 Fruela II., K. von Leön 435 Fuente, Licinio de la 117 Gallego, Ignacio 125 Gälvez, Josö de 214 Gama, Vasco da 213 Garaicoetxea, Carlos 152, 154, 178 Garcia, Eduardo 125 Garcia, K. von Leön 435 Garcia Arioveros, Jaime 115 Garcia Fernändez, Graf von Kastilien 438 Garcia Prieto, Manuel 421 Garcia Quejido, Antonio 96, 373 Garcia Sänchez, Graf von Kastilien 438 Garcia Tizön, Arturo 119 Garcfa I. Sänchez, K. von Navarra 436 Garcia II. Sänchez, K. von Navarra 436 Garcia III. de Näjera, K. von Navarra 436 Garcia IV. Ramfrez, K. von Navarra 436 Garrido, Fernando 91 Garrigues Walker, Joaqufn 113 Gil Robles, Josö Maria 42, 77, 95, 98, 198 Giner de los Rios, Francisco 356 Giral, Josö 9, 100, 381 Girön de Velasco, Josö Antonio 127 Goded, Manuel 423 Godoy, Manuel 6 Gömez-Limön, Teresa 116 Gömez Llorente, Luis 123 Gonzälez Bravo, Luis 90 Gonzälez Encinar, Josö Juan 156 Gonzälez Märquez, Felipe 12 f., 55-58, 118, 121-123, 141, 146-148, 155, 190, 201, 203, 209, 234, 251, 272, 274, 361, 369, 430f. Gonzälvez Bueno, Pedro 128 Graells, Ramön 128 Guesde, Jules 96 Gutiörrez Dfaz, Antoni 134 Gutiörrez Mellado, Manuel 426 f. Hassan II., K. von Marokko 231, 234f. Heinrich I., K. von Kastilien 438
Personenregister
Heinrich I., K. von Navarra 436 Heinrich II., K. von Kastilien 438 Heinrich III., K. von Frankreich 5 Heinrich III., K. von Kastilien 438 Heinrich IV., K. von Frankreich 5 Heinrich IV., K. von Kastilien 438 Hernändez Mancha, Antonio 119 f. Herrera Campo, Juan Vicente 172 Herrero Rodrfguez de Mitiön, Miguel 84 Herrero Tejedor, Fernando 145 Ibäriez Martin, Jesüs 358 Ibarretxe, Juan Josö 14-16, 131 f., 161 f., 169, 179, 189f. Ibärruri, Dolores 124f. Iglesias, Gerardo 125f. Iglesias, Pablo 7, 76, 96f., 373, 375 Iglesias Ricou, Marcelino 167 Imaz, Josu Jon 131, 179 Imbroda, Juan Josö 177 Isabella I., K. von Kastilien 3, 31, 215, 438 Isabella II., K. von Spanien 6f., 38, 62, 68, 72-75, 92, 318-320, 397, 419, 439 Isidor von Sevilla 21 Istüriz, Francisco Javier de 70, 88 Jakob I., K. von Aragonien 3, 437 Jakob II., K. von Aragonien 437 Jarerio, Josö Luis 128 Jettou, Driss 238 Jimönez de Asüa, Luis 79 Johann I., K. von Kastilien 438 Johann II., K. von Kastilien 438 Johann I., K. von Aragonien 437 Johann I., K. von Navarra 436 Johann II., K. von Aragonien 3, 437 Johann II., K. von Navarra 436 Johanna I., K. von Navarra 436 Johanna II., K. von Navarra 436 Johanna "die Wahnsinnige" 439 Johannes Paul II., Papst 406, 410f., 414 Joseph (Bonaparte), K. von Spanien 439 Juan Carlos I., K. von Spanien 11 f., 14, 48, 52-55, 85, 143-146, 150, 169, 231, 235, 406, 408, 426, 428, 440 Juan de Borbön y Battemberg 143 Juärez, Benito 215 Julius II., Papst 213
Karl I., K. von Navarra 436 Karl II., K. von Navarra 436 Karl III., K. von Navarra 436 Karl I., K. von Spanien (Karl V., Kaiser) 4, 213, 439 Karl II., K. von Spanien 5, 439 Karl III., K. von Spanien 6, 439 Karl IV., K. von Spanien 6, 37, 61, 214, 244, 397, 439 Katharina von Foix, K. von Navarra 436 Kindelän, Alfredo 425 Kohl, Helmut 203 Kolumbus, Christoph 3, 213, 217 Krutwig, Federico 184, 185 Lafargue, Paul 96 Largo Caballero, Francisco 9, 96-98, 375 Las Casas, Bartolomö de 217, 222f. Lasuön, Josö Ramön 117f. Leizaola, Jesüs Maria de 151, 184 Leonore, K. von Navarra 436 Lerroux, Alejandro 9, 41 f., 95, 99 Lfster, Enrique 125 Llamazares Trigo, Gaspar 126 Llopis, Rodolfo 122, 198, 380 Lluhf Vallescä, Joan 104 Löpez, Joaqufn Maria 90 Löpez Aguilar, Juan Fernando 138 Löpez Domfnguez, Josä 93 Löpez Rodö, Laureano 117 Ludwig I., K. von Navarra 436 Ludwig, K. von Spanien 439 Ludwig X., K. von Frankreich 3 Maciä, Francesc 36, 95, 104 Madariaga, Salvador de 197f. Madoz, Pascual 90 Magalhäes, Fernäo de 213 Maragall, Pasqual 133, 173 Maret, Hugues-Bernard 61 Maria Christina von Österreich, Regentin von Spanien 6f., 439 Martell, Karl 25 Martin I., K. von Aragonien 437 Martin Menis, Adän 171 Martin Villa, Rodolfo 382 Martfnez Barrio, Diego 95, 99f. Martfnez Campos, Arsenio 7, 75, 93
459
Martfnez Cuadrado, Miguel 115 Martinez de la Rosa, Francisco de Paula 67, 88 f. Martfnez Esteruelas, Cruz 117 Martos, Cristino 93 Marx, Karl 326 Mata, Enrique de la 382 Matas Palou, Jaume 168 Maura, Antonio 8 Mauregato, K. von Asturien 435 Maurin, Joaqufn 103 Menöndez Vives, Camilo 128 Menöndez y Pelayo, Marcelino 195 Merino Garcia, Ramön 101 Mestre, Quim 134 Milans del Bosch, Jaime 428f. Millä, Rafael 101 Mitterrand, Franwis 203 Moctezuma II., Kaiser der Azteken 220 Mohammed V., K. von Marokko 228 Mohammed VI., K. von Marokko 14 Mola, Emilio 44 Mon, Alejandro 244, 267 Montilla, Josö 138 Mora, Francisco 96, 373 Moratinos, Miguel Angel 138 Moret, Segismundo 93 Morodo, Raül 107, 115 Murioz Grandes, Agustin 82 Mussolini, Benito 10 Napoleon I. 6, 34, 61-67, Napoleon III. 7, 38, 74, 418 Narbona, Cristina 138 Narväez, Ramön Maria 7, 71-73, 89, 418 Negrin, Juan 9, 98 Nin, Andreu 103 Nühez de Arenas, Manuel 96, 101 Nütlez de Balboa, Vasco 213 O'Donnell, Leopoldo 7, 71, 90, 246, 418 Olavarria, Juan 91 Olivares, Conde-Duque de 5, 33 Olözaga, Salustiano 73, 92 Ordorio I., K. von Asturien 435 Ordorio II., K. von Leön 435 Ordorio III., K. von Leön 435 Oreja, Marcelino 120
460
XX Anhang
Orense, Jose Marfa 73, 91 f. Orgaz, Luis 423 Ortega y Gasset, lose 196 f. Ortiz Rocasolano, Letizia 15 Osorio, Angel 117f. Otegi, Arnaldo 190 Pacheco, Joaqufn Francisco 89 Palacios Rubios, Juan Löpez de 213 Paul III., Papst 4, 214, 222 Pavfa, Manuel 74 Peces Barba, Gregorio 84 Pelayo, K. von Asturien 27, 435 Perez Dfaz, Victor 385 Perez Llorca, lose Pedro 84 Perez Touririo, Emilio 170 Pestafia, Angel 375 f. Peter I., K. von Kastilien 438 Peter I., K. von Navarra und Aragonien 436 f. Peter II., K. von Aragonien 437 Peter III., K. von Aragonien 437 Peter IV., K. von Aragonien 437 Petronila, K. von Aragonien 437 Philipp I. der Schöne, K. von Kastilien 439 Philipp II., K. von Navarra 436 Philipp II., K. von Spanien 4f., 195, 214, 439 Philipp III., K. von Spanien 439 Philipp IV., K. von Spanien 5, 439 Philipp V. von Anjou, K. von Spanien 5, 33, 214, 439 Pi y Margall, Francisco 91, 373, 439 Pihar, Blas 127 f. Pinzön, Vicente Yäfiez 213 Pita da Veiga, Gabriel 427 Pius IX., Papst 399 Pizarro, Francisco 4, 220 Pla y Deniel, Enrique 404 Posada Herrera, lose 93 Powell, Colin 236 Prieto, Indalecio 97, 376, 421 Prim, Juan 71, 73, 92, 418 Primo de Rivera, Jose Antonio 9, 108, 127, 377 Primo de Rivera, Miguel 8, 38, 40, 77f., 94, 97-100, 105-107, 248,256, 263, 266, 327, 375f., 397, 422f.
Personenregister
Prodi, Romano 236 Pujol, Jordi 132f., 154, 275 Punset, Eduardo 115 Queipo de Llano, Gonzalo 44 Rajoy, Mariano 15, 121, 148, 193, 210, 413 Ramiro I., K. von Aragonien 3, 437 Ramiro I., K. von Asturien 435 Ramiro II., K. von Aragonien 437 Ramiro II., K. von Leön 435 Ramiro III., K. von Leön 435 Ramön Berenguer I., Graf von Barcelona 437 Ramön Berenguer II., Graf von Barcelona 437 Ramön Berenguer III., Graf von Barcelona 437 Ramön Berenguer IV., Graf von Barcelona 437 Ramön Berenguer IV., K. von Aragonien 437 Ramön Borrell 1., Graf von Barcelona 437 Revilla Roiz, Miguel Angel 171 Ribö, Rafael 134 Riego y Nufiez, Rafael de 6 Riesgo, Honorio 98 Rios Rosas, Antonio 73, 89f., 92 Rivero, Nicoläs Maria 91 Roca i Junyent, Miquel 84, 132 Rodriguez Ibarra, Juan Carlos 169 Rodrfguez Sahagün, Agustfn 113-115 Rodriguez Zapatero, Jose Luis 15, 57, 59, 121, 124, 138, 148, 157, 161, 190, 208-211, 238, 332, 352, 363, 365, 370,412-414, 432f. Romero Alpuente, Juan 88 Rosado, Simön 134 Rouco Varela, Antonio Marfa 413 f. Rubial, Ramön 151 Ruiz Gimenez, Joaqufn 358, 400 Ruiz Zorrilla, Manuel 73, 92 Ruiz-Gallardön, Alberto 119 Saborit, Andres 96 Sagasta, Präxedes Mateo 8, 73, 92f., 374 Salarrullana, Pilar 115
Salgado, Elena 138 Salmerön y Alonso, Nicoläs 91, 100, 439 San Miguel, Evaristo 90 Sancho Garcia, Graf von Kastilien 438 Sancho II., K. von Kastilien 438 Sancho III., K. von Kastilien 438 Sancho IV., K. von Kastilien 438 Sancho I. Garces, K. von Navarra 436 Sancho I. Ramfrez, K. von Aragonien 436f. Sancho I., Graf von Kastilien 438 Sancho I., K. von Leön 435 Sancho II. Garces Abarca, K. von Navarra 436 Sancho III., K. von Navarra 436 Sancho IV. de Pehalen, K. von Navarra 436 Sancho V. Ramfrez, K. von Navarra 436 Sancho VI., K. von Navarra 436 Sancho VII., K. von Navarra 436 Sanjurjo y Sacanell, Jose 9, 44, 423 Sansegundo, Maria Jesüs 138, 365 Santer, Jacques 210 Santillän, Ramön de 244, 267 Sanz Alonso, Pedro 173 Sanz Sesma, Miguel 175 Saura, Joan 134 Schröder, Gerhard 205 Següi, Salvador 375 Segurado, lose Antonio 119 Semprün, Jorge 125 Serra, Narcfs 430 Serrano Surier, Ramön 71 Serrano y Domfnguez, Francisco, Regent von Spanien 73, 90, 92, 439 Sevilla, Jordi 138 Silo, K. von Asturien 435 Silva Murioz, Federico 117 Sofia von Griechenland, K. von Spanien 143 Solbes, Pedro 138 Sole Tura, Jordi 84 Soler, Miguel C. 33
461
Suärez Gonzälez, Adolfo 12, 52-55, 110115, 140, 144-146, 150-154, 268, 382, 426-429 Suniario, Graf von Barcelona 437 Suqufa, Angel 411 Tarradellas, Josep 151, 154 Tejero, Antonio 12, 54, 127, 146, 428f. Terradas, Abdön 91 Thibaut I., K. von Navarra 436 Thibaut II., K. von Navarra 436 Tierno Galvän, Enrique 110, 122 Torres Rojas, Luis 428 Trujillo, Maria Antonia 138 Urquijo, Mariano-Luis de 61 Urraca, K. von Kastilien 435, 438 Urraca, K. von Leön 435, 438 Utrera Molina, Jose 128 Valcärcel Siso, Ramön Luis 175 Varela, Pedro 128 Verstrynge, Jorge 119 Vespucci, Amerigo 213, 217 Victor Emanuel II., K. von Italien 74 Villalonga, I. 98 Vintrö, Lali 134 Vivas, Juan 176 Waldseemüller, Martin 213 Weber, Max 195 Wilfredo I., Graf von Barcelona 437 Wilfredo II., Graf von Barcelona 437 Wilson, Woodrow 105 Yanes, Elfas 411 Ybarra, Emilio 279 Zabala, Angel 105