Peyman Jafari
DER ANDERE IRAN Geschichte und Kultur von 1goo bis zur Gegenwart
Aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert
Verlag C. H. Beck
Titel der niederländischen Originalausgabe:
Für meine Eltern
«Her andere Iran. V an de revolutie tot vandaag"
Shahnaz und Fereydoun
2009 by PeymanJafari Originally Published by Ambo I Anthos Uitgevers, Amsterdam Der Autor hat das Buch für die deutsche Ausgabe aktualisiert und um ein Kapitel erweitert.
Die Übersetzung dieses Buches "lvurde gefordert vom Nederlands Letterenfonds.
Für die deutsche Ausgabe:
(v Verlag C.H.Beck oHG, München 2010 Umschlaggestaltung: www.kunst-oder·reklame.de Umschlagbild: Demonstration in Teheran, Dezember 2009, Foto: Maryam Rahmanian I UPI i laif Satz: Fotosatz Reinhard Amann, Aichstetten Druck und Bindung: CPI - Ebner & Spiegel, Ulm Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff) Printed in Germany ISBN
978 3 406 60644 www.beck.de
I
Inhalt
Vorwort 9
1. Vom Zoroastrismus zum Islam 17 Vor dem Islam 19- Der Einzug des Islam in Persien
22-
Der Iran und die
Schia 24- Religion und Politik 2.8
2. Orient trifft Okzident 32 Die wirtschaftliche Entwicklung 33 - Religion und Philosophie 35 - Die Qadscharen und der Westen 37- Zwischen Anpassung und Widerstand 40
3· Die Konstitutionelle Revolution (1905-1909) 45 Der Kampf um die Verfassung 48
Erwachen aus einem Albtraum 46 Vom Bürgerkriegzur Restauration 52.
4· Autoritäre Modernisierung zwischen den Revolutionen (1909-1979) 57 Reza Schah: der Mann der Ordnung 59 Der Staatsstreich gegen Mossadegh 64
Mossadegh und die Ölkrise 62 Die Ruhe vor dem Sturm 67
5· Die unerwartete Revolution (1979) 71 Die «Große Zivilisation» 72
Die Opposition 77
Wirbelsturm von Protesten 82
-
1977-1978: Ein
Februar 1979: «Der Frühling der
Freiheit» 87- 1979-198 3: Die Konterrevolution 89
6. Chomeini: Unter dem Mantel des Ayatollahs (1979-1989) g6 Fundamentalismus oder Populismus? 9 8 - Der längste Krieg Illusion des Totalitarismus 105
roo
Die
1· Rafsandschani: Vom Populismus zum Neoliberalismus
(1989-1997) 109
<
Vorwort
Mullah-Millionäre und die
m -
Pragmatiker gegen Konservative II9
-
mostaza_fan
n6
-
Veränderungen in Kultur und
Gesellschaft 122
8.
Seit der Revolution von I979, die den Schah vom pfauenthron stieß,
Chatami: Von der Euphorie zur Ent täuschung (1997-2005}
steht der Iran unausgesetzt im Scheinwerferlicht. Das Land gerät
128
Zwischen Demokratie und Theokratie 130 die Säkularisierung 132 Frühling» 137
-
Religiöse Intellektuelle und
Das Reformprojekt 135
Der "Teheraner
Kraft 148
9·
-
-
Die
die Fatwa gegen Salman Rushdie, die Unterstützung von Hamas und Hisbollah, das Nuklearprogramm. Auch die innenpolitischen Ent
Die Arbeiterbewegung: Eine erstarkende
wicklungen bringen den Iran regelmäßig in die Nachrichten: der
Die Konservativen und die Gegenreformen 149
Ahmadinedschad: Die Farce des Populismus <<..t\.us dem Geschlecht der Frommen)) 158 Die Neokonservativen 164 gramm r66
der amerikanischen Botschaftsmitarbeiter, der Krieg mit dem Irak,
Frauen: Die
Wandel und W iderstand in der Gesellschaft 140
Jugend: Auf der Suche nach Spaß, Jobs und Demokratie 140 Kraft der Beharrlichkeit 145
von einer internationalen Kontroverse in die andere: die Geiselnahme
Machtkampf zwischen Reformern und Konservativen, die Rolle der
(2005-2010) 157
Der Überraschungssieger 161
Der Iran, die USA und das Nuklearpro
Gebrochene Versprechen und Repression 172
Ayatollahs und des Militärs, die Protestaktionen für politische Verän derungen. In jüngster Zeit rückte der Iran in den Blickpunkt des Weltinte resses, als im Juni 2009 Proteste gegen die offenbar manipulierte Prä sidentschaftswahl ausbrachen. Ayatollah Ali Chamenei, politisches
10.
Der Anfang vom Ende Der Wahlkampf 180
und geistliches Oberhaupt des Landes, bezeichnete diese Proteste als
180 Der Aufstand von
«Karikatur)) der «großen Bewegung)) von 1979. Damit räumte er
Die unvollendete Revolu
indirekt ein, dass die Demonstrationen im Jahr 2009 mit denen der
Der Riss an der Spitze 183
«Schmutz und Staub)) 186
-
Irrtümer rgr
-
tion 196
iranischen Revolution vergleichbar waren und dass nicht weniger als das Erbe dieser Revolution auf dem Spiel stand. Auch die Demons
Anhang
199
Zeittafel 201
tranten selbst beriefen sich mit ihren Slogans auf 1979, und auslän -
Übersicht
über
Glossar 207- Anmerkungen 209
die
Machtverteilung
im
Iran 206
Literatur 217- Personenreg ister 221
dische Journalisten zogen Parallelen zwischen beiden Ereignissen. Die Revolution fesselt das Interesse am Iran auch noch nach drei Jahrzehnten, vor allem wegen der Widersprüche, die sie dem Land aufgebürdet hat. Sie hat Kräfte freigesetzt, die sich längst noch nicht voll entfaltet haben. Wie bei anderen Revolutionen ist es im Grunde noch zu früh, um mit einiger Gewissheit ein Urteil zu fällen. Als der chinesische Premierminister Zhou Enlai einmal von Journalisten gefragt wurde, was er von der Französischen Revolution halte, ant wortete er: «Es ist noch zu früh, um etwas darüber zu sagen.)) In dieser Erwiderung, die zu einem geflügelten Wort wurde, steckt ein
10
Vorwort
Vorwort
Körnchen Wahrheit. Historische Ereignisse in der Größenordnung
Kampf der Kulturen, 1996), hat sich die Vorstellung verbreitet, die Welt
11
von Revolutionen sind wie ein Stein, der in einen See geworfen wird;
werde durch den Konflikt zwischen dem Islam und dem Westen zer
die Wellen können noch nach Jahrzehnten die Wasseroberfläche auf
rissen. Die Anhänger der Theorie des «Clash of Civilizations)) gehen
rühren. Mit der iranischen Revolution verhält es sich nicht anders.
von einem unveränderlichen Wesenskern des Islam aus, der Länder
Für ein abschließendes Urteil ist es vielleicht noch zu früh, doch 1979
wie den Iran in die Richtung von Diktatur, Terrorismus und Konflikt
ist zwangsläufig ein Bezugspunkt, will man die jüngsten Entwick
mit dem demokratischen und säkularen Westen treibe. W ährend der
lungen im Iran und in der Region verstehen.
Westen durch Dynamik charakterisiert wird, gelten die islamischen
Auch das Gegenteil trifft zu. Wer in die Vergangenheit blickt, tut
Länder als statisch. Es herrscht eine starke Tendenz, alles, was sich in
dies mit den Augen von heute. Darum ist jede Geschichte eine
islamischen Ländern ereignet, auf den Einfluss der Religion zurück
Geschichte der Gegenwart. Die großen T hemen, Konflikte und
zuführen. Diese übertriebene Fixierung auf den Islam hat dafür ge
dominanten Mächte des Augenblicks farben unsere Sicht auf die Ver
sorgt, dass die Rolle von Politik, sozialen Gegensätzen und wirtschaft
gangenheit.
lichen Entwicklungen aus dem Blickfeld gerät.1 Ironischerweise sind
Im Fall des Iran sind es zwei aktuelle T hemen, die unseren Blick auf
es gerade die Konservativen im Iran, die meinen, ihre Auffassung vom
das Land beeinflussen. Das erste ist der «War on Terror)} nach dem
Islam müsse in allen gesellschaftlichen Bereichen maßgeblich sein. Mit
September 2001. Nach den entsetzlichen Anschlägen auf New York
den neokonservativen Vordenkern im Westen verbindet sie, dass sie an
erklärte der amerikanische Präsident George W Bush den Iran zum
die Besonderheit der islamischen Länder glauben, die Demokratie,
Bestandteil einer «Achse des Bösem und besetzte die Nachbarländer
Frauenrechte und bürgerliche Freiheiten unmöglich mache.
n.
Afghanistan und Irak. Durch die Kriegsdrohungen der USA und das
Wer den «Kampf der Kulturen» zum Ausgangspunkt nimmt, ge
Nuklearprogramm des Iran verschärften sich die Spannungen zwi
langt unvermeidlich zu banalen «Analysem> oder endet mit Kriegser
schen den beiden Ländern. Das zweite Thema ist das Erstarken des
klärungen. Wer davon ausgeht, die Bevölkerung des Iran unterscheide
islamischen Fundamentalismus. Seit der iranischen Revolution wurde
sich im Kern von den Menschen in der westlichen Welt, glaubt an die
nie so oft und heftig über Islam und Politik diskutiert wie nach dem
Klischees, mit denen wir überhäuft werden. Immer steht eine Kamera
11. September 2001. Die Islamische Republik Iran wird als eine der
bereit, um eine Schar verschleierter Frauen oder eine Gruppe bärtiger
treibenden Kräfte hinter dem Wachstum des fundamentalistischen
Männer, die «Tod Amerika)) rufen, auf unsere Fernsehschirme zu
und antiwestlichen Islam gesehen.
bringen. So verfestigt sich die Vorstellung, dass die Iraner von einer
Diese beiden T hemen bilden sozusagen die Brille, durch die viele Menschen auf den Iran blicken. Das so entstehende Bild ist stark verzerrt. Der Iran wird als ein Land gesehen, das von Mullahs mit der
Religion besessen sind, die zu Frauenunterdrückung und antiwestli chen Emotionen animiert. Seit einigen Jahren wird das Klischee zum Glück immer häufiger
Intelligenz einer Pistazie regiert wird, Atomwaffen gegen den Westen
von Journalisten und Schriftstellern in Frage gestellt, die unsere Auf
baut und von religiösem Fanatismus besessen ist.
merksamkeit auf die Widersprüchlichkeiten im Iran lenken. In ihren
Das vorherrschende Bild des Iran ist nicht nur durch die T hemen
Geschichten dominieren oft hippe Typen, die auf die islamischen
Terrorismus und Fundamentalismus geprägt, sondern auch dadurch,
Regeln pfeifen, und elegante junge Frauen, die mit Gucci-Taschen
wie diese Begriffe interpretiert werden. Seit Anfang der neunziger
und Hermes-Sehals durch die Straßen flanieren. Selten fehlen in der
Jahre Samuel Huntingtons Buch The Clash of Civilizations erschien ( dt.
Beschreibung die große Sonnenbrille und das üppige Haar, das unter
12
13
Vorwort
Vorwort
einem kleinen Kopftuch hervorschaut. Skipisten, Internetcafes und
beeinflusst hat, haben umgekehrt die politischen und sozialen Gegen
Parks sind die beliebtesten Orte, an denen diese jungen Leute foto
s ätze die Schia selbst verändert. Fremde Großmächte waren ein
grafiert werden. Zohreh Watanchah, eine junge Frau, die als eine der
ebenso großes Hindernis für eine Demokratisierung wie inländische
besten Rennfahrer des Iran manchen Mann besiegt hat, ist zu einem
Diktatoren. Im Folgenden hoffe ich zu zeigen, wie tief die Sehnsucht
dieser Antiklischeebilder geworden. Die Underground-Musikkultur
nach politischen und gesellschaftlichen Veränderungen in der irani
ist ein anderes Lieblingsthema von Journalisten, die Teheran besuchen
schen Geschichte verwurzelt ist.
und sich über den Alkohol- und Drogenkonsum in dem islamischen
Männer und Frauen, die
Land wundern.
Unterschieden - die Quelle von Widerstand und Wandel bilden. Sie
Der andere Iran ist die Geschichte der
mit all ihren ethnischen und religiösen
Solche Reportagen sind ein wirkungsvolles Gegengift gegen das
entsprechen nicht den Stereotypen passiver Opfer religiöser Fana
einseitige Bild von einem totalitären und fundamentalistischen Iran,
tiker und ausländischer Großmächte. Ihr Leben wird nicht nur vom
das seit der Revolution im Westen dominiert. Es besteht jedoch die
Glauben, sondern auch von der Herausbildung eines modernen
Gefahr, dass die Gegenbilder selbst zu Klischees werden, denn im
Staates, von der Entwicklung der Wirtschaft und den zunehmenden
Grunde zeichnen auch sie ein einseitiges Bild. Die Ideologen des
sozialen Gegensätzen bestimmt. In diesem Sinn ist
«Kampfs der Kulturen)) haben sich lange alle Mühe gegeben, den Iran
anders - und doch wieder nicht. Das Buch schildert einen kleinen
als grundsätzlich anders darzustellen. Es scheint, als könne dieses Bild
Ausschnitt aus dem universalen Erzählen vom Kampf der Menschen
nur richtiggestellt werden, indem man beweist, dass «sie)), die Men
um Selbstbestimmung.
Der andere Iran
schen im Iran, eigentlich nichts anderes wollen, als so wie «wir)) im
Die moderne Geschichte des Iran ist wie ein langer Zyklus, in dem
Westen zu sein. Nicht die Religion, sondern das Erlangen einer
auf den Frühling wieder der Winter folgt. Im Frühling blühen die
Eintrittskarte zur globalen McWorld scheint die neue Obsession der
demokratischen B estrebungen, schießen die gesellschaftlichen Or
iranischenJugend zu sein. Was universell und gut ist, kommt offenbar
ganisationen wie Pilze aus dem Boden und wird die Gesellschaft zu
per definitionem aus dem Westen. Bequemerweise wird außer Acht
einer bunten Palette sozialer Bewegungen. Doch dann kommt der
gelassen, dass es schon aufgrund sozialer Unterschiede im Iran ebenso
Winter: Politische Aktivitäten frieren ein, der Frost sprengt die gesell
wenig wie bei uns eine einheitliche Mentalität gibt. In dieser Art
schaftlichen Organisationen und jagt die demokratischen Bestre
Berichterstattung über den Iran tritt der Lebensstil an die Stelle der
bungen von den Straßen und Plätzen in die Häuser.
Religion, aber das so entstehende Bild bleibt gefangen im kulturellen Paradigma, dass Okzident und Orient Gegenpole sind.
Dieser Zyklus geht zurück bis zum Beginn des zwanzigsten Jahr hunderts, als die Konstitutionelle Revolution (1905-1909) die Macht
Mein Buch Der andere Iran ist eine Antwort auf diese irreführende
des Schahs durch die Einführung eines gewählten Parlaments ein
Vorstellung und die dahinter verborgene Ideologie von den aufein
schränkte und damit schon sehr früh den ersten Impuls zu einer
anderprallenden Kulturen. Es will nicht nur die lange und komplexe
Demokratisierung im Mittleren Osten setzte. Malek al-Scho'ara
Geschichte des Iran verständlich machen, sondern auch die gängigen
Bahar, Lyriker und Teilnehmer an der Revolution, nannte seine Zeit
Iranbilder korrigieren. Die Geschichte des Iran beginnt Jahrhunderte
schrift Neuer Frühling. Nach dem Niedergang der Revolution und der
vor dem Einzug des Islam, und auch nach der Islamisierung spielten
Niederlage der Demokraten kam der Winter zu Pferde, in der Person
viel mehr Kräfte als nur die Religion eine Rolle. Im gleichen Maße,
des Kosakenoffiziers Reza Chan, der sich 1926 zum König krönen ließ
wie die Schia, die
und das Land mit harter Hand regierte.
im
Iran vorherrschende Form des Islam, das Land
Vorwort
14
In den vierziger Jahren, als der größte Teil der Welt die finstersten
Vorwort
15
1997 setzte mit der Wahl des reformorientierten Präsidenten Cha
Tage erlebte, rüttelte ein neuer Frühling die iranische Gesellschaft
tami Tauwetter ein. In einer euphorischen Atmosphäre entstanden
aus dem Winterschlaf Politische Parteien, Gewerkschaften und Frau
im ganzen Land soziale und intellektuelle Bewegungen, Zeitungen
enorganisationen wurden gegründet und oppositionelle Zeitungen
und Weblogs und forderten die vorhandenen Machtstrukturen he
veröffentlicht. Der Wunsch nach Demokratie und nationale Gefiihle
raus. Mit großem Optimismus strebten die Iraner einer besseren
kulminierten in der Wahl des Rechtsanwalts Mossadegh zum Pre
Zukunft entgegen. Die vorsichtigen Reformen unter Chatami stie
mierminister. 1951 verstaatlichte Mossadegh die iranische Ölindustrie
ßen jedoch bald auf den Widerstand der konservativen Kräfte, die
und zog sich damit den Zorn Großbritanniens und der USA zu. Der
Zeitungen verboten und Dissidenten von Wahlen ausschlossen. De
von diesen beiden Ländern initiierte Militärputsch, der 1953 zum
moralisierung trat an die Stelle von Hoffuung auf Veränderung und
Sturz Mossadeghs führte, läutete einen langen Winter ein. Die de
machte den Weg frei für die Wahl des neokonservativen Präsidenten
pressive und misstrauische Stimmung, die sich über das Land legte,
Ahmadinedschad. In der zweiten Hälfte des Jahres 2009 kehrte der
vermittelt das Gedicht ((Winter» von Mehdi Achawan Sales auf sug
Frühling wieder zurück, mit Massenprotesten gegen die manipu
gestive Weise:
lierte Wiederwahl von Präsident Ahmadinedschad. Die Metaphorik von Frühling und Winter könnte zu Unrecht das
Dein Grüßen zu erwidern, scheun sie sich, gesenkt sind alle Köpfe.
Bild von einem Land vermitteln, das sich nicht wandelt. Ich hoffe
Keiner wagt, das Haupt zur Antwort zu erheben, und man meidet die
jedoch, in den folgenden Kapiteln zu zeigen, dass der Iran eine enorme
Gefahrten. Die Blicke reichen wenig weiter als zum Fuß, Der Weg ist dunkel und der Boden glattgefroren.
Entwicklung erlebt hat. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts schrieb ein englischer Reisender nostalgisch nach Hause: «Es gibt
Und wenn du jemand freundschaftlich die Hand entgegenstreckst,
keine Städte in Persien und auch keine ArmenvierteL Es gibt keine
Zieht er die seine widerwillig unter seiner Achsel kurz hervor;
durch Dampfmaschinen angetriebenen Industrien, und darum gibt
Denn beißend ist der Frost. (... )•
es auch nicht die mechanische Tyrannei, die den Kopf betäubt, das Herz sterben lässt und Körper und Geist durch ihre Eintönigkeit
Diese Stimmung schlug Ende der siebziger Jahre um, als Millionen
niederdrückt. Es gibt weder Gas noch Elektrizität, aber ist der Licht
Menschen auf die Straße g ingen und die Diktatur des Schahs beende
schein einer Öllampe nicht viel angenehmer?)>-' Dieser Engländer
ten. Die Revolution bekam den Namen «Frühling der Freiheit». Aufs
hätte den Iran ein Jahrhundert später nicht wiedererkannt. Fast
Neue blühten die politischen Parteien, Gewerkschaften, Frauenor
70 Prozent der Bevölkerung leben heute in Städten, ein Teil davon in
ganisationen, Betriebs- und Nachbarschaftskomitees und Bewegun
den Armenvierteln. Die größte Autofabrik im Nahen und Mittleren
gen ethnischer Minderheiten. Doch es dauerte nicht lange, bis die An
Osten befindet sich etwas außerhalb von Teheran, und fast jedes
hänger von Ayatollah Chomeini die Macht an sich rissen und dem
kleine Dorf in der Islamischen Republik verfügt über Gas und Elek
Frühling ein Ende machten. Wieder folgte der Winter, nun in der
trizität. Der Iran ist eines von rund zehn Ländern, die Satelliten mit
Form der Islamischen Republik, die Oppositionsparteien und freie
eigenen Trägerraketen in die Erdumlaufbahn transportieren können.
Gewerkschaften verbot, Andersdenkende einkerkerte und die Frei
Dass der iranische Satellit im Februar 2009 ins All gebracht wurde,
heiten der Frauen einschränkte. Der lange Krieg mit dem Irak machte
war natürlich kein Zufall. Ein strahlender Präsident Ahmadinedschad
den Winterhimmel der achtziger Jahre noch grauer.
erschien im iranischen Fernsehen, um mit diesem technologischen
Vorwort
16
Fortschritt den dreißigsten Jahrestag der Iranischen Revolution zu würdigen. V iele Iraner waren stolz auf diesen nationalen Erfolg, doch
1.
Vo m Zoroastrism us zum Islam
manche störte, dass Ahmadinedschad ihn für sich beanspruchte. Sie schickten sich per SMS einen Witz zu, der die Gegensätze in ihrem Leben treffend illustriert: Ein paar Tage nach dem Abschuss des Sa telliten erscheint Ahmadinedschad im Fernsehen und sagt: «Liebe
Wie jede nationale Identität ist auch die des Iran fließend, wider
Landsleute, ich habe gute Nachrichten. Wir haben die Bilder des
sprüchlich und umstritten. In der Zeit des Schahs wurde zum Beispiel
Satelliten empfangen und können euch mitteilen, dass die Erde tat
die vorislamische Epoche als die Quelle einer authentischen irani
sächlich rund ist.))
schen Kultur verherrlicht. Nach der Revolution war es genau um
Dieser Witz verspottet die politischen Führer des Iran, die ein in
gekehrt: Die Epoche des Islam wurde von den neuen Machthabern
vieler Hinsicht modernes Land regieren, dabei aber auch traditio
glorifiziert, und die vorislamische Zeit rückte in den Hintergrund. In
nelle Auffassungen vertreten. Der scheinbare Gegensatz betrifft nicht
Wirklichkeit wird die iranische Volkskultur sowohl durch die Schia
nur die Politik, sondern die Gesellschaft als Ganzes. Nicht von un
als auch durch die vorislamische Epoche beeinflusst, und hinzu kom
geHihr wird so häufig das Wort «paradox» benutzt, wenn es um den
men noch andere Faktoren wie das Mosaik aus verschiedenen Spra
Iran geht. Zu oft jedoch soll dieser Begriff suggerieren, der Iran berge
chen und ethnischen Gruppierungen. In vielen Häusern wird man so
etwas Mystisches und Unbegreifliches in sich. Die folgenden Kapitel
wohl das
werden zeigen, wie das iranische Paradox aus den politischen, sozia
Dichter Ferdowsi um das Jahr 1ooo die frühe Geschichte des Iran auf
len und wirtschaftlichen Entwicklungen geboren wurde. Die Kapitel r bis 3 beschäftigen sich mit der Rolle des Islam im Iran, der problematischen Begegnung mit dem Westen im neunzehnten
Schahnameh
(Das Buch der Könige), das Epos, in dem der
zeichnete, als auch den Koran vorfinden. Für viele Iraner ist Husain, der dritte schiitische Imam, ebenso ein Held wie Rustam, die irani sche Version des Herkules.
Jahrhundert und der Konstitutionellen Revolution (1905-1909). Kapi
Wie sehr Vergangenheit und Gegenwart miteinander verwoben
tel 4 behandelt die Ära der Pahlavi, die von 1926 bis 1979 das Zepter
sind, zeigte sich, als 2007 der Kino-Hit 300 herauskam. Im Iran kam es
schwangen. Die Iranische Revolution selbst kommt in Kapitel 5 zur
zu wütenden Reaktionen; eine Zeitung titelte: «Hollywood erklärt
Sprache, und die Kapitel6 bis ro handeln von der Zeit danach. Natür
dem Iran den Krieg.>> Ein Berater von Präsident Ahmadinedschad be
lich besteht für den Leser keinerlei Notwendigkeit, diesem chronolo
zeichnete den Film als einen Versuch Amerikas, die iranische Kultur
gischen Aufbau zu folgen. Wer sich nur für die neueste Geschichte
zu ((demütigen)), Worum ging es?
des Iran interessiert, kann auch mit Kapitel4 oder 5 beginnen.
Der Film beginnt im Jahr
480
v. Chr., als die idyllische Ruhe in
Sparta, wo Demokratie herrscht, auch Frauen etwas zu sagen haben und Jungen zu tapferen Kämpfern erzogen werden, massiv gestört wird. Der persische König Xerxes ist im Begriff, mit seinen «asiatischen Horden» die griechischen Städte anzugreifen, um «Vernunft und Gerechtigkeit zu zerstören>). Der Spartanerkönig Leonidas zieht mit dreihundert Männern los, um ihn am Gebirgspass der T hermo pylen aufzuhalten. Die Spartaner sind gut aussehende, weiße, mus-
18
1.
Vom Zoroastrismus zum Islam
Vor dem Islam
kulöse Männer. Der Perser Xerxes hat ein afrikanisches Äußeres,
19
rückführen lassen. Religion hat sicherlich eine wichtige Rolle ge
und seine Soldaten aus «der Finsternis» Asiens erinnern an Al-Qaida
spielt, jedoch nicht als die Ursache sozialen Unfriedens und politi
Kämpfer. Die Spartaner sterben einen tragischen Tod, jedoch nicht
scher Aufstände, sondern eher für die Form, in der diese Konflikte
umsonst, wie König Leonidas mit seinen letzten Worten deutlich
zum Ausdruck kamen.
macht:
Wie wir sehen werden, hat der Iran eine Geschichte, die weiter in die Vergangenheit reicht als der Islam und die ebenfalls zur histori
Wir retten die Welt vor Mystizismus und Tyrannei. Kein Rückzug, keine Kapi
schen Entwicklung des Landes beigetragen hat. Zudem wird der
tulation. Das ist das Gesetz Spartas. Ein neues Zeitalter ist angebrochen, ein
Islam allzu oft als eine selbständige Kraft gesehen, die den Lauf der
Zeitalter der Freiheit, und jeder wird wissen, dass die Spartaner bis zum letzten
Ereignisse bestimmt hat. Dieses Kapitel betont gerade deshalb die
Atemzug gekämpft haben, um sie zu verteidigen.
sozialen und politischen Veränderungen, die den Einzug und die Aus prägung des Islam selbst, wie die Entwicklung der Schia, in hohem
Der Film wurde von vielen zu Recht als eine Projektion des «Kampfs
Maße bestimmt haben. Über die Jahrhunderte hin hat sich der Islam
der Kulturen)) in die Antike gesehen. Das k lassische Griechenland
kontinuierlich verändert, oft durch Spaltungen und innere Konflikte,
wird in dem Film 300 als die Wiege der westlichen Kultur dargestellt,
die zu neuen Auslegungen führten.
die vom Orient bedroht wird. So wie in der Antike die griechischen Stadtstaaten und das Persische Reich einander gegenüberstanden, stehen sich heute der Westen und die islamische Welt gegenüber. Die
Vor dem Islam
ser Mythos beruht auf der Annahme, dass die Geschichte eine Ab
Lange vor der Islamisierung im siebten Jahrhundert bildete das Ge
folge von Zivilisationen ist, die durch ihre kulturellen oder religiösen
biet, das heute Iran heißt, das Zentrum des Persischen Reichs, das sich
Werte und Normen geprägt sind. Die jüdisch-christliche Tradition
zur Zeit seiner größten Machtentfaltung vom Nil in Ägypten bis zum
und die Aufklärung bilden in dieser Sicht den Kern der westlichen
Indus in Indien erstreckte. Viele Iraner verweisen gern auf die Macht
Kultur, Despotismus und der Islam den Kern des Orients. Der sozio
und den Reichtum injener Zeit, um dem schlechten Image ihres Lan
ökonomische Kontext, in den Kulturen und Religionen eingebettet
des im Westen etwas entgegenzusetzen. Die Architektur von Städten
sind, diese komplexe Basis verschiedener Zivilisationen, verschwin
wie Persepolis und Ktesiphon (T isfun), die ausgeklügelten Bewässe
det so aus dem Blickfeld. Was übrig bleibt, ist die Vorstellung, dass
rungs- und Kommunikationssysteme, die monotheistische Botschaft
sowohl der Westen wie die islamischen Länder einzigartige und un
des Zoroastrismus2 sind nur einige Beispiele für die zivilisatorischen
veränderliche Eigenschaften besitzen und dass es diese Eigenschaften
Höhepunkte jener Zeit. Die Stadt Gundischapur mit ihrer Bibliothek
sind, die, unabhängig von Zeit und Ort, dem Westen und dem Osten
und Universität genoss im sechsten Jahrhundert einen guten Ruf als
die Richtung weisen und zu Konflikten führen.'
Zentrum für Medizin, Astronomie und Mathematik. So gern Iraner
Diese Sicht auf die Geschichte des Iran leidet auch unter dem fal
heute das alte Persien als eine idyllische Gesellschaft mit unerreichter
schen Gegensatz zwischen dem Westen und dem Osten. Seit der
Toleranz, Macht und Kultur sehen, ist dieses Bild doch ein wenig
Gründung des Persischen Reichs vor etwa 2500 Jahren bis zur Errich
idealisiert. Wo die Vergangenheit durch die nationalistische Brille
tung der Islamischen Republik ist der Iran durch Veränderungen und
betrachtet wird, droht immer die Gefahr einer Mythenbildung. Die
soziale Konflikte gekennzeichnet, die sich nicht auf den Islam zu
persischen Könige gingen im Allgemeinen nicht sanftmütig mit ihren
-
20
1.
Vom Zaraastrismus zum Islam
Vor dem Islam
21
Untertanen und den Bewohnern neu eroberter Gebiete um. Kriege
auf der ganzen Welt verbinden sollte. Während der Zoroastrismus
waren ein wichtiges Mittel, ihr Imperium zu vergrößern und zu er
von einem ständigen Kampf zwischen Gut und Böse ausgegangen
halten, mit allen Konsequenzen für die normale Bevölkerung. Das
war, sprach Mani von einem neuen Dualismus
Leben innerhalb des Imperiums war eher durch soziale Krisen und
schen dem Materiellen und dem Spirituellen. Das materielle Leben
Aufstände als durch Harmonie gekennzeichnet.
setzte er mit dem Bösen gleich und das Spirituelle mit dem Guten. Es
dem Kampf zwi
Das Persische Reich entstand, als Kyros der Große 559 v. Chr. König
war kein Zufall, dass gerade in jener Zeit der wirtschaftlichen Misere
der Perser wurde. Er eroberte ein weiträumiges Gebiet und grün
und der Herausbildung eines hierarchischen Klassensystems das
dete die Achämeniden-Dynastie.> Die Achämeniden herrschten bis
Weltliche mit dem Bösen in Verbindung gebracht wurde. Manis
330 v. Chr., als Alexander der Große Persepolis eroberte und in Brand
Lehre ging den orthodoxen zoroastrischen Priestern und Aristokra
steckte. Erst ein Jahrhundert später fiel das Territorium wieder unter
ten zu weit; sie brachten ihn auf grausame Art zu Tode, und seine An
die Regentschaft einer iranischen Dynastie, der Parther. Sie herrsch
hänger wurden massenhaft verfolgt. Das konnte jedoch nicht verhin
ten fast 500 Jahre über ein Gebiet, das um ein Geringes größer war als
dern, dass der Manichäismus sich in den folgenden Jahrhunderten bis
der heutige Iran, bis die Familienfehden und die Kriege mit den Rö
nach China und Europa ausbreitete.
mern zu ihrem Untergang führten.
Im fünften Jahrhundert zeichnete sich der allmähliche Niedergang
226 n. Chr. führte Ardaschir Papakan, ein zoroastrischer Priester
des Sassanidenreiches allerorts in den ärmlichen Verhältnissen der
aus dem Haus Sasan, einen siegreichen Volksaufstand gegen die Dy
Bevölkerung ab. Auch die Belastung durch die Kriege, die die Sassani
nastie der Parther an und gründete das Sassanidenreich. Die Gründe
denherrscher führten, wurde unerträglich. Vor diesem Hintergrund
für die Rebellion der Bevölkerung bestanden jedoch nach wie vor.
begann um das Jahr 488 Mazdak eine radikale und revolutionäre
Die Sassaniden befanden sich in permanentem Kriegszustand mit
Form des Manichäismus zu predigen. Seine Botschaft fiel auf frucht
dem Byzantinischen Reich an ihrer Westgrenze. Unter den Sassani
baren Boden, und er gewann binnen weniger Jahre eine riesige An
den wuchs außerdem die Macht einer neuen Klasse von Priestern und
hängerschaft. Seine Lösung gegen Armut und Ungleichheit war der
Aristokraten, die auf Kosten der restlichen Bevölkerung immer grö
gemeinschaftliche Besitz allen Reichtums und Unterstützung der
ßeren Reichtum anhäuften. Im sechsten Jahrhundert n. Chr. hatte
Armen, eine primitive Form des Sozialismus, die ihn bei den Wohl
sich Ktesiphon, die Hauptstadt des Sassanidenreiches, zur größten
habenden verhasst machte. In seiner Ablehnung von Privatbesitz
Stadt der Welt entwickelt, und der Luxus ihrer Paläste war legendär.
ging er so weit, für die Aufhebung der Ehe und die Einführung freier
Mit dieser Bereicherung an der Spitze der Gesellschaft ging ein wirt
Beziehungen einzutreten. Es verwundert kaum, dass die zoroastri
schaftlicher Niedergang einher. Der Unmut in der Bevölkerung über
schen und christlichen Geistlichen, die ihre Ämter dem König ver
große Klassenunterschiede, Armut und Kriege äußerte sich in dissi
dankten, ihm feindlich gegenüberstanden. Um das Jahr 525 wurden
denten religiösen Bewegungen.
Mazdak und riesige Scharen seiner Anhänger abgeschlachtet; die
Die Sassaniden waren erst kurze Zeit an der Macht, als der erste Rebell erschien, der Prophet Mani (ungefahr 216-276 n. Chr.). Die Re ligionen jener Zeit waren seiner Ansicht nach zu sehr an ein Gebiet oder Volk gebunden. Er vereinte Aspekte des Zoroastrismus, Bud dhismus und Christentums zu einem neuen Glauben, der Menschen
Sehnsucht nach sozialer Gerechtigkeit aber blieb auch in den folgen den Jahrhunderten eine Quelle von Aufständen.
22
1.
Der Einzug des Islam in Persien
23
Der Einzug des Islam in Persien
Vom Zoroastrismus zum Islam
Wunsch nach einem starken Staat hatten, und mit den Beduinen, die von den Neueroberungen profitieren wollten.
W ährend das Sassanidenreich und Byzanz miteinander Krieg führten
Als Mohammed 632 starb, war ein großer Teil der Arabischen Halb
und ihrem Niedergang entgegensahen, entstand auf der Arabischen
insel zum Islam bekehrt. Sein Nachfolger Abu Bakr eroberte die ge
Halbinsel ein neues Handelszentrum rund um die Städte Mekka und
samte Halbinsel und gründete das Kalifat, das islamische Reich, das
Medina. Allmählich entwickelte sich eine komplexe Beziehung zwi
sich unter seinen Nachfolgern sogar auf Spanien und Indien aus
schen diesen Städten und den Beduinen, nomadisch lebenden Hirten,
dehnte. Die Energie der nomadischen Stämme richtete sich in der
die von Oase zu Oase zogen. Die traditionellen Verhältnisse begannen
Folgezeit nach außen, und sie griffen die Städte am Rand des innerlich
sich aufzulösen. Es gab keinen Staat, die Loyalität jedes Individuums
bereits geschwächten sassanidischen und Byzantinischen Reichs an.
galt dem Stamm und Clan, und von allen Mitgliedern wurde gegen
In vielen Fällen begrüßten die jüdischen und christlichen Bewohner
seitige Hilfe erwartet. Das änderte sich allmählich, als sich eine viel
dieser Städte die islamischen Herrscher oder leisteten zumindest kei
hierarchischere Struktur herausbildete. An der Spitze der Stämme
nen Widerstand, weil sie der byzantinischen und sassanidischen Herr
entstand eine mächtige und reiche Elite, die sich als Händler in den
schaft überdrüssig waren. Anfangs wurden sie auch nicht gezwun
Städten niederließ oder enge Verbindungen zu Händlern unterhielt.
gen, zum Islam überzutreten, solange sie ihre Steuern bezahlten. Im
Was nun die Stellung jedes Individuums und Clans bestimmte, war
neunten Jahrhundert urteilte ein syrischer Patriarch beim Rückblick
die Nähe zu dieser Elite. Anders als in der Vergangenheit war diese
auf zwei Jahrhunderte islamischer Herrschaft: «Es stimmt, dass wir
Elite weniger abhängig vom Stamm und fühlte sich nicht mehr an die
mehr oder weniger gelitten haben ( ... ), und dennoch war es zu unse
traditionelle Verpflichtung gebunden, für die armen Stammesmit
rem Vorteil, von der Grausamkeit der Römer [L e. Byzantiner] befreit
glieder zu sorgen, die nun ihre alten Sicherheiten verloren.4
zu werden,)>i
Nicht nur die traditionellen sozialen Verhältnisse lösten sich auf,
65r
besiegten die arabischen Heere das Sassanidenreich, doch es
sondern auch die religiösen. Durch die zunehmenden Kontakte mit
dauerte einige Jahre, bis sie die letzten Aufstände niedergeschlagen
fernen Ländern wuchs der Einfluss von Christentum und Judentum,
hatten. Die meisten Iraner blieben anfangs dem Zoroastrismus treu.
(650-760) traten
und der alte Glaube der Beduinen erodierte. Das durch diese Ver
Im ersten Jahrhundert nach der Eroberung des Iran
änderungen ausgelöste Gefühl der wegbrechenden Sicherheiten und
nur
des Chaos wurde noch verstärkt durch die Kriege und die sozialen
hundert steigerte sich dieser Anteil auf
Unruhen, die mit dem Verfall des sassanidischen und des Byzantini
entgehen und auf der gesellschaftlichen Leiter aufzusteigen, waren
schen Reichs einhergingen.
die wichtigsten Gründe für die Konversion. Dass seit der zweiten
In dieser chaotischen Lage versuchte der Prophet Mohammed An fang des siebten Jahrhunderts, Kohärenz zu schaffen.5 Seine neue Bot
ro Prozent der Bevölkerung zum
Islam über. Im folgenden Jahr
95
Prozent.S Der Steuer zu
Hälfte des achten Jahrhunderts Iraner zunehmend an der politischen Macht teilhatten, war offenbar der entscheidende Faktor.
schaft sprach sowohl die Armen als auch die Händler an, die sich zum
Der Iran wurde zwar islamisch, aber nicht arabisch. Kulturell, poli
Islam bekehrten. 6 Es gelang ihm, eine ihm treu ergebene Gruppe von
tisch und später religiös entwickelte er einen eigenen Charakter in
Anhängern zu sammeln, die bereit waren, bis zum Äußersten zu
nerhalb der islamischen Welt. Die persische Sprache veränderte sich,
gehen; er schloss taktische Bündnisse mit den Bauern und Stadtbe
unter anderem durch den Einfluss des Arabischen, erlebte jedoch im
wohnern, die sich nach Frieden sehnten, mit den Händlern, die den
neunten und zehnten Jahrhundert unter den Samaniden
(8Ig-roos)
1.
24
Der Iran und die Schia
Vom Zaraastrismus zum Islam
25
eine neue Blüte. Die Samalliden gründeten das erste islamische Reich
lifen gehörten zu dieser Gruppe. Nach dem Tod des dritten Kalifen
iranischer Prägung und schufen damit die Grundlage für die Ent
Uthman aus dem Clan der Umayyaden ging die Führung auf Ali über.
wicklung einer eigenen politischen Struktur. Nachdem die Safawiden
Einige mächtige Familien der Umayyaden wollten ihre Privilegien
im sechzehnten Jahrhundert die Schia zur offiziellen Religion mach
nicht aufgeben und widersetzten sich. 661 wurde Ali, wahrscheinlich
ten, unterschied sich der Iran auch in religiöser Hinsicht von den um
in ihrem Auftrag, von einem seiner Freunde mit einem Schwert, des
gebenden Ländern.
sen Klinge vergiftet war, ermordet. Was eigentlich ein politischer und sozialer Konflikt war, eskalierte
Der Iran und die Schia
nach Alis Tod. Die Umayyaden übernahmen die Macht und gründe ten eine Erbdynastie. Ihr Reichtum und ihre T yrannei wurden aller
Der Prophet Mohammed stand nicht nur an der Spitze einer reli
dings auch von vielen Sunniten missbilligt. Die Schüren waren der
giösen Gemeinschaft, sondern auch eines politischen Systems. Nach
Ansicht, die Nachfolge müsse in der Familie Mohammeds bleiben,
seinem Tod im Jahr 632 erkannten die meisten Muslime die Autorität
die nicht der reichen Händlerschicht angehörte, und die Führung
der drei aufeinanderfolgenden Kalifen Abu Bakr, Umar und Uthman
müsse deshalb auf Alis Sohn übergehen. Sie hofften, dass damit die
(Osman) an. Für diese Muslime, die Sunniten, waren die Kalifen
religiöse und politische Macht nah beim einfachen Volk bleiben und
politische Führer ohne religiöse Autorität, da diese nur aus dem
nicht zu Korruption führen würde wie bei den Umayyaden, die zu
Koran und dem Vorbild des Propheten (der
den reichen Familien gehörten.
den konnte. Die geistlichen Führer, die
Sunna) hergeleitet wer Ulama, waren dafür ver
Die Schia wurde mithin aus einem hauptsächlich politischen
antwortlich, den Koran und die Sunna in die zeitgenössische Praxis
Konflikt geboren, doch um sich zu behaupten und auszubreiten, be
umzusetzen.
nötigte sie eine Basis in der Gesellschaft. Sie fand sie in den großen
Eine Minderheit der Muslime war jedoch der Ansicht, dass die
Gruppen Menschen, denen die Korruption und der Reichtum der
Herrschaft Mohammeds auf seinen Vetter und Schwiegersohn Ali
Umayyaden (661-750) ein Dorn im Auge waren. In ihren von Mauern
hätte übergehen müssen. Als einer der ersten hatte er sich zum Islam
umgebenen Palästen pflegten die Kalifen einen luxuriösen Lebensstil,
bekannt, und der Prophet soll ihn zu seinem Nachfolger bestimmt
und gerade das hatte der Prophet als sündig abgelehnt. Unter den Be
haben. Alis Anhänger wurden später Schüten genannt. Sie vertraten
wohnern der meisten Städte in ihrem Herrschaftsbereich waren viele
die Auffassung, dass die politische und religiöse Autorität wie bei Mo
Nicht-Araber, die sich zum Islam bekehrt hatten, die sogenannten
hammed bei einer einzigen Person liegen solle. Zu Anfang waren die
mawali. Sie wurden als Muslime zweiter Klasse behandelt, denen die
religiösen Trennlinien zwischen Sunniten und Schiiten gar nicht so
Rechte und Privilegien «echter» Muslime versagt blieben, wie die Be
deutlich. Hinter der Spaltung verbargen sich jedoch soziale und poli
freiung von der Steuer.9 Unter den mawali, aber auch in vielen Noma
tische Konflikte, die die Kluft zwischen diesen wichtigsten Strömun
denstämmen, die von dem neuen Reichtum nicht profitierten, wuchs
gen des Islam vergrößerten.
die Unzufriedenheit.
W ährend sich das islamische Reich unter den Kalifen ausdehnte,
Die Schia wurde zu einem wichtigen Kristallisationspunkt des so
nahmen die inneren Gegensätze zu. Von den Neueroberungen pro
zialen Unmuts unter der Herrschaft der Umayyaden, insbesondere
fitierten die Anführer der Stämme und die mächtigen Familien in
bei den Bewohnern des früheren Persischen Reichs, für die sie ein
Mekka, die die eroberte Beute untereinander aufteilten. Auch die Ka-
Mittel war, sich von den sunnitischen, arabischen Herrschern zu
1.
26
Der Iran und die Schia
Vom Zoroastrismus zum Islam
distanzieren. Im Wesentlichen handelte es sich dabei nicht um einen
27
Erst nach der mongolischen Invasion 1219 unter Dschingis Chan
ethnischen Konflikt, wie manche iranische Nationalisten behaupten,
wurde das Gebiet des heutigen Iran wieder unter einer Herrschaft
sondern um einen Gegensatz zwischen gesellschaftlichen Klassen.
vereinigt. Die folgenden zwei Jahrhunderte waren eine der blutigsten
Die persische Elite unterstützte die Umayyaden, andererseits gab es
und traumatischsten Epochen der iranischen Geschichte. Die mon
unter den unzufriedenen Gruppen auch viele Araber.
golischen Reiter Dschingis Chans im dreizehnten Jahrhundert und die Krieger von T imur Lenk, der im vierzehnten Jahrhundert die
Die übriggebliebene persische Aristokratie arbeitete mit dem arabischen Staat zusammen, solange er ihre Privilegien anerkannte. Wenn sie sich bekehrte, tauschte sie ihren Zoroastrismus gegen den orthodoxen Islam. Die islamisier ten persischen Stadtbewohner und Bauern tauschten ihren Zoroastrismus ge gen abweichende islamische Strömungen, die sich gegen die sche wie persische -Aristokratie richteten.
sowohl arabi
10
Dy
nastie der Timuriden gründete, hinterließen eine Spur von Plünde rungen und massenhaften Abschlachtungen. Der wirtschaftliche und kulturelle Schaden, den der Iran dadurch erlitt, war immens, doch das Land trotzte auch dieser Eroberung. Die südlichen Städte wie Schi ras, die sich widerstandslos den Mongolen ergeben hatten, wurden die Zentren einer neuen Blütezeit der iranischen Sprache und Kultur.
Obwohl sich ein großer Teil der Iraner in den ersten Jahrhunderten
Große Dichter wie Sa' di und Hafis stammen aus jener Zeit.'2
nach der Islamisierung zur Schia bekannte, blieb die Mehrheit bis ins
Unter der mongolischen und timuridischen Herrschaft nahmen
späte siebzehnte Jahrhundert sunnitisch. Schiiten bildeten nicht nur
die Kontakte mit Europa und dem Femen Osten zu, und es ent
im Iran, sondern auch im übrigen islamischen Reich eine wichtige
wickelte sich ein kultureller Austausch zwischen dem Iran und die
Minderheit.
sen Regionen. Die mongolischen und timuridischen Herrscher über
Das Aufkommen der Schia wurde schließlich ein wichtiger Grund
nahmen sogar das Persische als offizielle Sprache für den Hof und die
für den Niedergang der Umayyaden. Ihre politischen Rivalen, die Ab
Verwaltung ihres Reichs und verbreiteten so das kulturelle Erbe des
basiden, gelangten an die Macht, indem sie unter anderem Schiiten
Iran bis nach Zentral- und Westasien.
und andere unzufriedene Gruppen mit Hilfe einer radikalen Gerech
Nach dem Zerfall des timuridischen Reichs Mitte des fünfzehnten
tigkeitsbotschaft mobilisierten. Nachdem sie die Herrschaft erlangt
Jahrhunderts war der Iran erneut zersplittert, bis das Land 1502 unter
hatten, führten die Abbasiden jedoch eine konservative Version des
den Safawiden wiedervereinigt wurde. Die Safawiden-Könige waren
Sunnitischen Islam ein. Das Kalifat der Abbasiden (750-1258) begann
sich bewusst, dass es zum Aufbau eines eigenen Staates mehr be
dann selbst langsam zu bröckeln, und es entstanden neue Imperien.
durfte als einer starken Armee. Sie brauchten etwas, um eine gemein
So geriet der heutige Iran immer wieder unter die Herrschaft ande
same Identität der Bevölkerung zu fördern und sich gegen ihren be
rer, sich einander oft überschneidender Dynastien.U Zwei davon sind
deutendsten Konkurrenten abzusetzen, das sunnitische Osmanische
in diesem Zusammenhang von Bedeutung: die bereits erwähnten
Reich, mit dem sie sich im Kriegszustand befanden. Unter den Safawi
Samaniden (8r9-I005) aufgrund ihrer Rolle für das Wiederaufleben
den wurde die Schia zur Staatsreligion erklärt. Eine bedeutende Min
der persischen Sprache und Kultur sowie die Buyiden (945-1055 ), da sie
derheit der Bevölkerung war bereits schiitisch, und der Rest wurde
die erste schiitische Dynastie waren. Das neunte und zehnte Jahrhun
zum übertritt gezwungen. Das bezeichnete auch einen Wandel im
dert wird deshalb auch als ein iranisches Intermezzo zwischen den
Charakter der Schia, die jahrhundertelang eine wichtige Opposition
arabischen Abbasiden und den türkischen Ghaznawiden und Seld
gegen die mächtige und reiche Elite gewesen war. Die Safawiden
schuken gesehen, die im elften Jahrhundert über den Iran herrschten.
hatten die radikale Lehre der Schia benutzt, um die Bevölkerung
1.
28
Vom Zoroastrismus zum Islam
Religion und Politik
29
gegen die alten Herrscher zu mobilisieren. Doch nachdem sie ihre
seine Autorität nicht politischer Macht, sondern der Tatsache, dass er
Macht konsolidiert hatten, ersetzten sie die radikale Schia, die von so
vom Propheten abstamme und mit «dem Wissen des Göttlichen>> ge
zialer Gerechtigkeit und Aufstand gegen die Mächtigen sprach, durch
segnet sei. Dadurch sei er in religiösen Urteilen unfehlbar. Das Schick
eine konservative Version, die vor allem ihre eigene Macht rechtferti
sal seiner Vorgänger vor Augen, betonte er, dass die religiöse Autori
gen sollte. Politische und soziale Faktoren beeinflussten also sowohl
tät der Imame und die politische Macht der Kalifen voneinander ge
die Entstehung wie die weitere Entwicklung der Schia.
trennt seien, bis Allah anders darüber entscheiden werde. Er hielt die Schiiten deshalb dazu an, sich nicht gegen die Kalifen aufzulehnen.
Religion und Politik
Das Kalifat galt zwar als Symbol für Unterdrückung, Unrecht und Korruption, doch der Kampf dagegen wurde auf einen unbekannten
Im heutigen Iran Hegt die politische Macht zu einem großen Teil in
Zeitpunkt in der Zukunft verschoben. Vielen hochstehenden Schiiten
den Händen des schiitischen Klerus. Die Entwick lung der Schia zeigt
aus der reichen Händlerschicht, die mit den Kalifen eng zusammen
jedoch, dass Religion und Politik nicht immer auf diese Weise mit
arbeiteten und wichtige politische Ämter bekleideten, kam das sehr
einander verknüpft waren. Einige Elemente entstanden erst in den
gelegen. Diese Anpassung an den Status quo erhielt nach dem Tod
letzten beiden Jahrhunderten, und einige gehen auf die Frühzeit des
des elften Imam eine religiöse Rechtfertigung. Die schiitischen Geist
Islam zurück.
lichen erklärten, dessen kleiner, Mahdi genannter Sohn sei für das
Nach Alis Tod hätte die religiöse und politische Führung der Ge
menschliche Auge unsichtbar geworden. Der Zeitraum, in dem sich
meinschaft nach Ansicht der Schiiten auf dessen Sohn übergehen
der Mahdi in «Verborgenheit»
müssen. Ali und seine elf Nachfolger (die Nachfolge ging vom Vater
er zurückkehre, um die Welt von allem Unrecht zu erlösen. Ein sol
auf den Sohn) werden von den Schiiten als Imame'3 bezeichnet. Doch
cher apokalyptischer und messianischer Glaube ist auch im Judentum
nach Alis Tod übernahmen die Umayyaden die Macht und gründeten
und Christentum zu finden.
eine Erbdynastie, die von vielen frommen Muslimen als rechtswidrig und korrupt angesehen wurde.
(ghaibat)
befinde, werde enden, wenn
Die «Verborgenheit» des Mahdi schuf ein großes Problem für die Schiiten. Nach wem sollten sie sich richten, wenn es um die Leitung
Anfangs wollten sich Alis Nachfolger, die Imame, nicht damit ab
in religiösen und weltlichen Fragen ging? Für den ersten Aspekt for
finden, und sie nahmen den Kampf gegen die Umayyaden auf. Hu
mulierten die Schiiten im Laufe der Jahrhunderte folgende Lösung:
sain, der dritte Imam, wurde zum Symbol dieses Kampfes. Im Jahr
Während der Abwesenheit des Mahdi würden die Ulama der isla
68o wurde er zusammen mit einigen seiner Verwandten und An
mischen Gemeinschaft Rat erteilen, wenn es um die Interpretation
hänger in der Nähe von Kerbela im heutigen Irak von der Armee des
religiöser Texte ging. Für den zweiten Aspekt des Problems fanden
damaligen umayyadischen Kalifen Yazid enthauptet. Husain wurde
sie keine eindeutige Lösung.
für die Schiiten zum Symbol des Martyriums im Kampf zwischen Ge
Die Doktrin der «Verborgenheit» bedeutete die Trennung von reli
rechtigkeit und Tyrannei. Sein Todestag wird noch heute jedes Jahr
giöser und politischer Macht, da nur der Mahdi beide in seiner Per
groß begangen.
son vereinen konnte. Das ermöglichte zwei verschiedene politische
Nach Husains Tod hielten sich die Imame, die auf ihn folgten, von
Schlussfolgerungen. Wenn der zwölfte «verborgene» Imam der Ein
politischen Abenteuern fern. Der sechste Imam, Dscha'far al-Sadiq,
zige ist, der Anspruch auf die weltliche Macht erheben kann, dann ist
entpolitisierte die Schia weiter, indem er äußerte, der Imam verdanke
während seiner Abwesenheit jeder Herrscher im Grunde ebenso in-
1 . Vom Zoroastrismus zum
30
Religion und Politik
Islam
31
akzeptabel wie akzeptabel. Diese Schlussfolgerung bildete die Grund
Mudschtahids jedoch viel mehr Macht als religiöse Führer der Ge
lage des Quietismus: Die Gläubigen müssen sich von weltlichen
meinschaft, die während der Abwesenheit des zwölften Imam für
Angelegenheiten fernhalten und sich auf das jenseits konzentrieren,
religiöse Fragen verantwortlich waren.
indem sie ein frommes Leben führen. Oie andere Schlussfolgerung
Somit bildete sich innerhalb der Schia eine konservative und hier
konnte darin bestehen, dass die Gläubigen sich gegen die unrechtmä
archische Struktur heraus. Selbstverständlich entstanden auch Ge
ßigen Herrscher auflehnen mussten. Welche dieser beiden Schluss
genbewegungen .'4 Manche Gläubige wandten sich dem Sufismus zu,
folgerungen Anhänger fand, hing weitgehend von den politischen
um über einen spirituellen Weg zu Gott zu finden und die G eistlich
und sozioökonomischen Umständen ab.
keit zu umgehen . Andere beriefen sich auf die rebellische Tradition
Es ist interessant, festzustellen, dass der Quietismus sehr lange in
innerhalb der Schia und initiierten verschiedene Aufstände. Es ist kein
der Schia vorherrschte. Als die Safawiden im sechzehnten Jahrhun
Zufall, dass dies vor allem im neunzehnten Jahrhundert geschah, als
dert die Schia zur offiziellen Religion des Iran erklärten, übertrugen
imperialistische M ächte in Erscheinung traten und die sozialen und
sie den schiitischen Geistlichen wichtige Ämter. So entstand eine
politischen Verhältnisse im Iran auf den Kopf stellten.
enge Koalition zwischen den politischen und religiösen Autoritäten.
Die traumatischen Veränderungen, die der Iran in diesem Zeit
Obwohl die Geistlichen die safawidischen Schahs (Könige) akzeptier
raum durchlebte, wirkten sich gravierend auf das Verhältnis zwi
ten, nicht zuletzt, um ihre religiösen Gesetze in der Praxis durchzu
schen Politik und Religion innerhalb der S chia aus. Während ein Teil
setzen, entwickelten sie keine religiöse Theorie über die Funktion
der Geistlichen dem Staat verbunden blieb, wandte sich ein anderer
des Staates während der Abwesenheit des zwölften Imam. Was das
Teil dagegen. Religion wurde auch zur Inspirationsquelle für soziale
betrifft:, blieb also eine Mehrdeutigkeit bestehen, die es möglich
und intellektuelle Bewegungen gegen die Vorherrschaft auslän
machte, dass die Geistlichen später Anspruch auf die politische Macht
discher Mächte.
erheben konnten. Es gab drei Faktoren, welche die Position des schiitischen Klerus gegenüber dem Staat bereits im sechzehnten und siebzehnten Jahr hundert stärkten. Der erste Faktor war politischer Natur: Der safa widische Staat selbst befand sich im Zustand des Verfalls, bis er 1722 von afghaniseben Stämmen überrannt wurde. Der zweite Faktor ist sozioökonomischer Art: Die Geistlichen vergrößerten ihren Grund besitz und gewannen so mehr wirtschaftliche Unabhängigkeit vom Staat. Der dritte Faktor betrifft die Religion: Die Geistlichen erhiel ten viel größere Macht über die Gläubigen. Die Schiiten hatten die Imame anfangs als die ultimative und unfehlbare Quelle religiöser Rechtsprechung angesehen, doch was war während der Abwesenheit des zwölften Imam? Zunächst lautete die Antwort, dass die Gläubi gen sich für einen Rat an die Mudschtahids, die religiösen Rechtsge lehrten, wenden sollten. Im siebzehnten Jahrhundert erhielten die
33
Die wirtschaftliche Entwicklung
des gelang ihnen nicht, doch sie schafften es, den Iran für ihre geo 2.
Orient t rifft Okzident
politischen und wirtschaftlichen Interessen zu benutzen. Es ist kein Zufall, dass gerade im neunzehnten Jahrhundert
im
Westen die Vorstellung aufkam, der Orient sei ökonomisch wie kul turell aufgrund des Islam rückständig. Schließlich gab es dort weder Der bekannte Historiker Eric Hobsbawm bezeichnet das neunzehnte
eine kapitalistische Entwicklung noch eine Aufklärung, Phänomene,
Jahrhundert als «das imperiale Zeitalter>>
die Epoche, in der im Wes
die mit dem Abendland gleichgesetzt wurden. Diese Auffassung
ten der moderne Imperialismus aufkam und sich bis in alle Winkel
spielte eine wichtige Rolle, wenn es darum ging, die Kolonisierung
der Erde verbreitete. Der Iran hatte schon viel eher Bekanntschaft mit
der Region zu rechtfertigen.
Europäern gemacht. Zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts hatte
In diesem Kapitel hoffe ich zu zeigen, dass die Ansätze der kapi
zum Beispiel die niederländische Vereinigte Ostindische Kompanie
talistischen Entwicklung und des Aufklärungsdenkens bereits vor
(VOC) an der Küste des Persischen Golfs mehrere Handelsnieder
dem Erscheinen der ausländischen Großmächte
lassungen gegründet. «Die Niederländer hatten keinen leichten Stand
waren. Während der traumatischen Begegnung zwischen dem Iran
in Persien, und die Angehörigen der VOC wurden nicht immer mit
und dem Westen im neunzehnten Jahrhundert wurden diese Ansätze
dem Respekt behandelt, der ihnen ihrer Ansicht nach zukam. In der
jedoch zerstört. Das bedeutet nicht, dass der Iran sich nicht weiter
Vergangenheit hatte der persische Hof deutlich gemacht, dass die
entwickelte, im Gegenteil. Wie wir sehen werden, wandelten sich
im
Iran vorhanden
Vertreter der VOC lediglich Händler waren, die zwar Privilegien ge
Politik, Wirtschaft und Religion auf dramatische Weise, allerdings im
nossen, aber nur toleriert wurden, solange sie sich angemessen ver
Kontext von und als Reaktion auf die ausländischen Dominanzbe
hielten>>, schrieb ein Historiker über die Beziehungen zwischen der
strebungen.
niederländischen VOC und dem Iran.1 I 766 mussten die Niederländer sogar ihren letzten Handelsposten, Fort Mosselsteyn auf der Insel
Die wirtschaftliche Entwicklung
Charg, aufgeben, als die Iraner die Insel zurückeroberten. Auch bei der britischen Anwesenheit im Iran ging es vom sech
Etwa zwischen dem Jahr Iooo und dem Jahr ISOO bestand keine nen
zehnten bis achtzehnten Jahrhundert vor allem um den Handel und
nenswerte Kluft zwischen Westeuropa, dem Nahen und Mittleren
die Konkurrenz mit den Portugiesen am Persischen Golf. Die politi
Osten und China2 - drei Regionen, die rege Handelsbeziehungen un
schen Beziehungen zwischen dem Heiligen Römischen Reich und
terhielten. Im Orient läutete der erfolgreiche Aufstand der Abbasiden
den Safawiden beruhten darauf, dass sie als Nachbarn des Osmani
im achten Jahrhundert nicht nur eine neue politische Ära ein, son
schen Reichs, das nach Osten und Westen expandierte, die gleichen
dern brachte auch ökonomische Umwälzungen mit sich. Während in
Sicherheitsinteressen hatten.
diesem Zeitraum in Europa die Städte im Schwinden begriffen waren,
Im neunzehnten Jahrhundert sah das Verhältnis zwischen dem
entstanden im Nahen und Mitderen Osten große Städte wie Kairo,
Iran und den westlichen Ländern völlig anders aus. Von halbwegs
Bagdad, Buchara, Samarkand, Täbris, Isfahan, Hamadan, Nischapur
gleichrangigen Beziehungen wie in der Zeit zuvor konnte nun nicht
und Kerman, die zudem über ein Bankensystem miteinander verbun
mehr die Rede sein. Aus dem Norden griffen die Russen und aus dem
den waren.3
Süden die Briten den Iran mehrmals an. Eine Kolonisierung des Lan-
Der Iran bildete einen Schnittpunkt wichtiger Handelsrouten wie
34
Religion und Philosophie
2. Orient trifft Okzident
35
der Seidenstraße. Die pulsierenden Wirtschaftsaktivitäten in den ira
Kontinents, den Handel mit Sklaven aus Afrika und die Kolonisierung
nischen Städten beschrieb Marco Polo in seinem Reisebericht vom
großer Teile der Welt.
Ende des dreizehnten Jahrhunderts. Über T äbris sagt er: «Die Stadt
Der Kapitalismus, der seit dem achtzehnten Jahrhundert in West
ist sehr günstig gelegen, hier kommen alle Waren zusammen, aus
europa aufkam, war von Anfang an ein internationales System, das
Indien, aus Baudac, Mosul und Cremosor und noch aus manchem
sich mit militärischer und ökonomischer Gewalt über die ganze Welt
andern Ort. Lateinische Händler verkehren hier, da kaufen sie die
verbreitete, um sich - so Marx - eine Welt nach seinem Bilde zu schaf
fremdländischen Waren. Hier erwerben sie auch Edelsteine, die Aus
fen. Das gelang natürlich nicht in vollem Maße, da die Bevölkerung
wahl ist groß. In dieser Stadt treiben die reisenden Kaufleute gewinn
in den anderen Teilen der Welt nicht tatenlos zusah, sondern auf ver
bringenden HandeL» Er beschreibt den Iran als ein Land, in dem das
schiedene Weise reagierte. Der Kapitalismus entwickelte sich seit
Handwerk und der Handel blühen: «Gold- und Seidenstoffe der
dem Ende des neunzehntenJahrhunderts auch im Iran, doch war die
verschiedensten Art werden hergestellt. In der Umgebung wächst
ser Prozess nicht die Wiederholung dessen, was sich in den europäi
Baumwolle. An Weizen, Gerste, Hirse, allerlei Maissorten, Wein und
schen Ländern abgespielt hatte. W ährend sich die Wirtschaft dort re
Früchten herrscht Überfluß. ( . . . ) Die Einheimischen verfertigen alles,
lativ unabhängig entfalten konnte, musste im Iran ein starker Staat
was zu einer vollständigen Ritterausrüstung nötig ist, also Zaumzeug
aufgebaut werden, um das Land von oben und gegen den Druck von
und Sattel, Speer und Schwert, Bogen und Köcher und alles übrige.»4
außen zu industrialisieren.
Das sind nur Beispiele für den relativ hohen Zivilisationsgrad des Iran. Die Gründe dafür, dass, anders als in Westeuropa, keine kapita listische Entwicklung in Gang kam, sind weitaus komplexer, als der
Religion und Philosophie
simplifizierende Verweis auf die Rolle des Islam vermuten lässt. Die
Im Iran waren nicht nur die Ansätze des Kapitalismus vorhanden,
kapitalistische Entwicklung blieb nämlich nicht nur - trotz der vor
sondern auch die Ideen, die mit der Aufklärung assoziiert werden,
handenen Ansätze - im Nahen und Mittleren Osten aus, sondern
wie rationales und wissenschaftliches Denken. Die Frage des Verhält
auch in China, einem nicht-islamischen Land. Was beide Regionen
nisses zwischen Religion und Rationalität wurde heftig debattiert.
gemeinsam hatten, war nicht die Religion, sondern das Verhältnis zwischen ihrer Staatsform und der Wirtschaft.
Mehrere iranische Denker leisteten einen wichtigen Beitrag zur wissenschaftlichen Entwicklung in den islamischen Ländern. Razi
Die Kluft zwischen dem Orient und Westeuropa entstand nicht
(Rhazes, um 864-925) und Ibn Sina (Avicenna, 980-1037) schrieben
durch «inhärente» Merkmale dieser geographischen Räume, son
zwei Standardwerke der Medizin; sie stützten sich darin auf das Wis
dern durch das, was der niederländische Historiker Jan Romein als
sen der Griechen, gingen aber weit darüber hinaus. Ibn Sinas Buch
«Gesetz des bremsenden Vorsprungs» bezeichnete. Aufgrund des
wurde ins Lateinische übersetzt und blieb bis ins sechzehnte Jahrhun
hohen Entwicklungsstandes war im Orient und in China ein starker
dert das wichtigste Handbuch der europäischen Medizin.5 Al-Chwa
Staat entstanden, der - nicht zuletzt durch zu hohe Steuern - weiteres
rizmi legte im neunten Jahrhundert die Grundlagen der Algebra und
Wirtschaftswachstum verhinderte. Westeuropa litt sehr viel weniger
verfasste mehrere Bücher über Astronomie. Die bahnbrechenden
unter diesem Hemmfaktor. Die Vergrößerung der Kluft zwischen
Arbeiten von Biruni (973-1048) auf dem Gebiet der experimentellen
Westeuropa und dem Rest der Welt wurde zudem beschleunigt durch
Physik, Anthropologie und Soziologie machten ihn wahrscheinlich
die europäische Entdeckung und Plünderung des amerikanischen
zum größten Gelehrten seiner Zeit. Er behauptete bereits um das
2.
36
Die Qadscharen und der Westen
Orient trifft Okzident
37
Jahr Iooo, dass sich die Erde um die Sonne drehte und nicht umge
blühte, versuchte Mullah Sadra (1572-164I) erneut, Philosophie und
kehrt.
Religion zu versöhnen. Er wandte sich gegen die Unterordnung unter
Iranische Gelehrte leisteten auch einen bedeutenden Beitrag zur
die Autorität der Ulama, die den Islam nur auf die Traditionen grün
Debatte über das Verhältnis zwischen Religion und Philosophie.
deten, und trat für eine mehr humanistische Sichtweise und für den
Der Philosoph und Arzt Razi schrieb dazu drei Bücher, darunter Der
Glauben an den Fortschritt ein.
Er war der Ansicht, dass «alle Missstände aus
Auch in den folgenden Jahrhunderten gab es Entwicklungen, die
Traditionen und Gewohnheiten hervorgingen, dass Religion die Ur
die Macht der Ulama untergruben, wie die Zunahme des Sufismus
sache aller Kriege sei und der Philosophie und Wissenschaft feindlich
und verschiedener dissidenter Strömungen innerhalb der Schia. Die
gegenüberstehe. Er glaubte an den Fortschritt der Wissenschaft und
religiösen und philosophischen Debatten enthielten das Potenzial für
Betrug der Propheten.
hielt Platon, Aristoteles und Hippakrates für weitaus wichtiger als die
eine alternative Entwicklung in Richtung einer größeren Bedeutung
heiligen Schriften.»6 Während Menschen wie Razi trotz solcher anti
von Rationalität und Wissenschaft. Mit dem Auftreten des Imperialis
religiösen Ansichten meist eines natürlichen Todes starben, endeten
mus änderte sich jedoch der Kontext, in dem diese Debatten statt
ihre Mitstreiter in Europa in jener Zeit auf dem Scheiterhaufen. Im
fanden. Es ist wichtig zu sehen, dass es keine dem Denken der Iraner
Iran beschränkte sich das Feuer auf hitzige Debatten, wie die Reak
inhärente Feindseligkeit gegenüber den Ideen der europäischen Auf
tion von Ibn Sina ein Jahrhundert später deutlich macht: «Razi befasst
klärung gab, zumal sie darin viele Elemente ihrer eigenen Entwick
sich ungefragt mit Metaphysik und überschreitet seine Kompetenz.
lung erkennen konnten. Das Problem war nur, dass die Aufklärung mit
Er hätte sich besser auf die Chirurgie und die Untersuchung von
Bajonettgewehren in den Iran und den Rest der Region getragen
Urin- und Stuhlproben beschränken sollen, doch er hat seine Unwis
wurde.
senheit in diesen Dingen verraten.»? Während Razi der Religion die rationale Philosophie entgegen
Die Qadscharen und der Westen
setzte, wollte Ibn Sina beide versöhnen, indem er sie als verschiedene Ausdrucksformen einer Wahrheit sah. Die Ideen Ibn Sinas und seiner
Das Ende des achtzehnten Jahrhunderts läutete den Vormarsch der
Mitstreiter führten zu einer der größten Kontroversen im Islam, bei
westlichen Länder in den Nahen und Mittleren Osten ein. 1784 wurde
der große Persönlichkeiten wie der iranische Gelehrte Al-Ghazali
Indien offiziell zu einer britischen Kolonie. 1798 fiel Napoleon in
(1058-mr) eine orthodoxe Position einnahmen und die Tradition der
Ägypten ein und gab damit den Startschuss zur Aufteilung des Ge
griechischen Philosophen ablehnten. Al-Ghazali bekämpfte die ratio
biets, das durch den Niedergang des Osmanischen Reiches zur Dis
nalistische Interpretation des Islam und postulierte, nur eine spiritu
position stand. Diese Eroberung erfolgte ungefähr zu dem Zeitpunkt,
elle Beziehung zu Gott könne dabei helfen, die Wahrheit zu finden.
als die Qadscharen an die M acht kamen (1796), die den Iran nach
Mit der Stagnation der sozioökonomischen Entwicklungen im Iran
mehreren Jahrzehnten des Chaos unter ihrer Herrschaft vereinten. Es
und im übrigen Nahen und Mittleren Osten stagnierte auch die kriti
dauerte nicht lange, und die europäischen Mächte standen vor ihren
sche Entwicklung des Islam, und Al-Ghazalis Auffassungen gewan
Toren
nen zunehmend an Boden.
Russland im Norden und Großbritannien im Süden.
Bereits zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts wurde den Qa
Diese orthodoxen Auffassungen wurden jedoch immer wieder in
dscharen eine Lektion über die neuen Weltverhältnisse erteilt. In zwei
Frage gestellt. Als der Iran unter der Herrschaft der Safawiden auf-
Kriegen (1804-I8I3 und 1826-1828) eroberte Russland die iranischen
39
2. Orient trifft Okzident
Die Qadscharen und der Westen
Gebiete im Kaukasus. In zwei demütigenden Friedensverträgen, Gu
markt abhängig. Die Situation der Bevölkerung verschlechterte sich
38
erzwang Russland eine Reihe
zudem dadurch, dass die Qadscharen Ackerland aus staatlichem Be
wirtschaftlicher Zugeständnisse, darunter einen festen, niedrigen Zoll
sitz an reiche Händler und Grundbesitzer verkauften und die Steuern
tarif für seine in den Iran exportierten Produkte . Unterdessen zwang
erhöhten, um eine umfangreichere Bürokratie und eine größere Ar
Großbritannien mit einer Invasion in den Süden des Iran die Qadscha
mee zu finanzieren. Viele Bauern hatten große Mühe, noch über die
ren zum Verzicht auf Territorien, die im heutigen Afghanistan liegen.
Runden zu kommen. Zehntausende von ihnen gingen als Gastarbei
(1857) ein
ter in das Gebiet um Baku, die Hauptstadt der heutigen Republik
listan
(1813) und Turkmantschai (1828),
Die Qadscharen erklärten sich damit im Frieden von Paris
verstanden und erhielten dafür die von Großbritannien besetzten Ge biete zurück.
Aserbaidschan, um in der Erdölindustrie zu arbeiten. 8 Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts erreichte die Unzufrie
Obwohl es Russland und Großbritannien nicht gelang, den Iran zu
denheit der Bevölkerung ihren Höhepunkt. Dass die Qadscharen mit
kolonisieren, u. a. auch, weil sie sich gegenseitig Konkurrenz mach
ihrem luxuriösen Lebensstil und den teuren Reisen nach Europa das
ten, durchdrangen sie das Land wirtschaftlich und politisch, sodass es
Geld zum Fenster hinauswarfen, war vielen Iranern ein Dorn im
in Abhängigkeit geriet. Wie bereits erwähnt, unterhielten europäische
Auge. Zudem nahm die Konzessionsvergabe an ausländische Mächte
Länder schon während der Zeit der Safawiden Handelsbeziehungen
bizarre Formen an. Ein britischer Staatsmann schrieb über die Kon
zum Iran. Dabei handelte es sich um relativ gleichrangige Beziehun
zession, die die Qadscharen
1872 seinem
Landsmann Baron Julius de
gen: Auch der Iran exportierte eigene Produkte. Die Verträge, die den
Reuter erteilten, dass sie «für Europa buchstäblich atemberaubend
Iran nun den Interessen Großbritanniens und Russlands unterwarfen,
war und allen Reichtum Persiens für einen Zeitraum von siebzig
resultierten in einer völlig asymmetrischen Beziehung.
Jahren in ausländische H ände gab>).9 Unter dem Druck von Protesten
Im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts verachtfachte sich der
wurde diese Konzession zurückgenommen, doch zehn Jahre später
1881
Außenhandel. Der Iran wurde zum Absatzmarkt für ausländische
folgte eine neue.
Produkte, und die Inlandsproduktion wurde auf die Nachfrage aus
Recht für den Kauf und Verkauf von Tabak und eine weitgehende
dem Ausland abgestimmt. Importiert wurden vor allem M assengüter
Kontrolle über die Tabakproduktion. Das war der sprichwörtliche
erhielt der Brite Talbot für fünfzig Jahre das
wie Textilien, Eisenwaren, Glas, Zucker und Tee, exportiert wurden
Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die Bevölkerung, ins
Baumwolle, Seide, Reis, Tabak und Teppiche. So wurde der Iran in
besondere die unmittelbar betroffenen Händler, reagierte mit Em
die kapitalistische Weltwirtschaft integriert, die seine innere Ent
pörung. Ein Teil des Klerus war auf der Seite des Schahs und unter
wicklung fortan in hohem Maße bestimmte.
hielt gute Beziehungen zu den Briten, ein anderer Teil unterstützte
Die Einfuhr europäischer Waren ruinierte die traditionelle Wirt
jedoch den Widerstand. Ein hoher Geistlicher erließ eine Fatwa (reli
schaft des Iran und damit die Erwerbsquelle der Handwerker. Händ
giöses Gutachten), die zum Boykott von Tabak aufrief, vergleichbar
ler hatten es zunehmend schwerer, da die Briten und Russen ihre
mit Gandhis Aufruf zum Boykott englischer Textilien, die die indi
eigenen Unternehmen gründeten, die den H andel dominierten. Für
schen vom Markt verdrängten. Die Fatwa wurde massenhaft befolgt,
die riesige Masse der Bauern ging der Lebensstandard rasch zurück,
sogar vom Harem des Schahs, und in mehreren Städten brachen Unru
als Großgrundbesitzer begannen, für den internationalen Markt zu
hen aus. Schließlich wurde die Tabakkonzession wieder eingezogen.
produzieren. Die Ausbeutung der Bauern verschärfte sich weiter, und
Diese nationale Eruption war die erste moderne Protestbewegung im
ihre Einkünfte wurden von den Preisschwankungen auf dem Welt-
Iran.
40
Zwischen Anpassung und Widerstand
2. Orient trifft Okzident
41
In dieser Zeit begannen antiwestliche Einstellungen eine zuneh
Staatsgewalt sei. Um die Armee zu bewaffnen, ließ er Fabriken zur
mend größere Rolle zu spielen. Der Grund dafür ist jedoch nicht im
Produktion von Kanonen und Gewehren bauen. Er schickte auch
Islam als solchem, sondern in der unerfreulichen Konfrontation mit
zum ersten Mal iranische Studenten nach Europa, die sich den Mili
dem Imperialismus zu suchen. Noch zu Anfang des neunzehntenJahr
tärwissenschaften, technischen Fächern und europäischen Sprachen
hunderts hatten verschiedene Europäer das Land besucht und so
widmen sollten. Seine Bemühungen scheitertenj edoch an der Macht
gar Gottesdiensten in Moscheen beigewohnt. Christliche Missionare
der Qadscharen, die ihre Privilegien nicht einbüßen wollten, um eine
konnten ungehindert Schulen, Druckereien und Kirchen eröffnen,
teure Armee zu finanzieren. Auch die Stammesführer, die nicht zu
ohne feindselig behandelt zu werden. Einem Missionar sprachen die
gunsten eines starken zentralen Staates auf ihre Macht verzichten
Ulama sogar ihren Dank dafür aus, dass er eine theologische Debatte
wollten, vereitelten sein Vorhaben.
zwischen dem Islam und dem Christentum angestoßen hatte. Mon
Den zweiten Modernisierungsversuch unternahm um
r8so Amir
sieur Tancoigne , ein französischer Diplomat, berichtete: «
Kabir in seiner Funktion als Premierminister. Auch er wollte die
kein einziges Mal, auch nicht in den niedrigeren Schichten, eine Be
Armee stärken und errichtete mehrere Rüstungsbetriebe. Außerdem
zeichnung gehört, die für t1nsere Religion beleidigend gewesen wäre .»ro
gründete er die erste amtliche Zeitung sowie die erste säkulare höhere S chule des Landes. Seine Reformbestrebungen scheiterten ebenfalls,
Zwischen Anpassung und Widerstand
da er sich den gleichen Problemen wie seine Vorgänger gegenüber sah."
Als Russland und Großbritannien zunehmend Macht gewannen,
Modernisierung erwies sich als schwierige Aufgabe, doch die ent
stellte sich im Iran die Frage, was dagegen unternommen werden
stehende Intelligentsia war von ihrer Notwendigkeit überzeugt. Mal
solle. Als Antwort bildeten sich zwei politische Strategien heraus.
korn Chan
Einige moderne Staatsmänner und Intellektuelle entfalteten Initiati
diert hatte, beschrieb die Stimmung unter seinen Zeitgenossen mit
ven, um den Staat gegenüber den ausländischen Mächten zu stärken.
folgenden Worten:
(r833-1908), ein säkularer Intellektueller, der in Paris stu
Sie wollten das Land von oben und mit autoritären Methoden moder nisieren, um die Kluft zum Westen zu schließen. Aus der Bevölkerung
Diese übermächtige Flut [der Westen] bahnt sich einen Weg über die ganze
heraus entstanden wiederum Initiativen, die die Gesellschaft sowohl
Erde ( . . . ). Wie naiv wir doch sind, diese welterobernde Flut mit unseren
den ausländischen Mächten wie auch dem autoritären Staat gegen
bloßen Händen aufhalten zu wollen (. . .). Mit einem solch niedrigen Etat, mit
über stärken sollten und die mehrmals in Aufstände mündeten. Die Entwicklungen im neunzehnten Jahrhundert waren deshalb durch
solchen Ministern, mit einer solchen Regierung und mit solch armseliger Wis senschaft wollen wir der Macht Europas entgegentreten. Bei Gott: Das ist un möglich! Bei Gott: Es wird nicht gelingen! Wenn wir uns nicht in den nächsten
die Wechselwirkung zwischen den Modernisierungsbestrebungen
Jahren von diesem niedrigen Niveau zu dem von Europa erheben, werden wir
von oben und denen von unten geprägt.
akzeptieren müssen, dass wir in der europäischen Flut ertrinken. 12
Den ersten Versuch einer Modernisierung von oben unternahm Kronprinz Abbas Mirza (1789-1833). Als Befehlshaber der Armee hatte
Dagegen wollten andere - säkular wie religiös orientierte - Intellek
er persönlich den bitteren Geschmack der Niederlagen in den Krie
tuelle den Iran nicht durch eine Anpassung an den Westen moderni
gen mit Russland gekostet. Sein Fazit daraus war, dass die einzige Lö
sieren; sie vertraten den Standpunkt, die Modernisierung müsse mit
sung die Modernisierung der Armee und die Zentralisierung der
einem antiimperialistischen Kampf einhergehen. Repräsentant die-
42
2. Orient trifft Okzident
Zwischen Anpassung und Widerstand
43
ser Strömung und Vorläufer des modernen Islamismus war der Intel
nem Kampf gegen die ausländische Vorherrschaft musste Al-Afghani
lektuelle Dschamal al-Din Al-Afghani (I839-1897, im Iran bekannt als
es auch mit dem traditionellen Staat der Qadscharen und den konser
Asadabadi).13 Er hatte eine konventionelle religiöse Ausbildung ab
vativen Ulama aufnehmen. Modernisierung schien für ihn der Weg
solviert, ließ sich jedoch auch von dissidenten Strömungen innerhalb
nach vorn. Chomeini hingegen war mit einem Staat konfrontiert, der
des Islam und den modernen Wissenschaften inspirieren. Seine Neu
als Fahnenträger der Moderne auftrat und in dem eine verwestlichte
gier führte ihn auch nach Indien, wo er den britischen Kolonialismus
Elite das Zepter führte. Bemerkenswert ist im Übrigen, dass in dem
unmittelbar kennenlernte, gegen den er für den Rest seines Lebens
Jahrhundert zwischen dem Auftreten Al-Afghanis und Chomeinis
einen tiefen Hass empfand. Der Aufenthalt fiel zeitlich mit dem In
nicht religiöse, sondern säkulare Strömungen wie der Nationalismus
dischen Aufstand ( r857) zusammen, der ihn von der Notwendigkeit
und der Sozialismus die bedeutendste Rolle spielten.
und der Möglichkeit einer antikolonialen Bewegung in der gesamten
Intellektuelle wie Al-Afghani wollten ihren Landsleuten die Auf
Region überzeugte. Er erlebte dort auch, dass der Islam eine mobi
klärung nahebringen und sie aus ihrem «langen Schlaf der Unwis
lisierende Kraft sein konnte . Zugleich gelangte er zu der Erkenntnis,
senheit» wachrütteln. Von den Alltagssorgen der Bevölkerung waren
dass der Islam der konservativen Ulama den modernen Waffen und
ihre philosophischen Höhenflüge anfangs weit entfernt. Ihr politi
der wirtschaftlichen Macht Europas nicht gewachsen war; deshalb
scher Kampf war zudem mehr von ihrer Abneigung gegen den Im
trat er für einen «ursprünglichen Islam>> als modernisierende und an
perialismus als von ihrer Liebe zur Demokratie inspiriert. Doch
tikoloniale Kraft ein. Mit dieser B otschaft zog er durch Afghanistan,
während sie ihr Leben entweder bei Hofe oder - wenn sie in Ungnade
die Türkei, Ägypten, Indien, den Iran und Frankreich. Sein Ziel war
fielen
eine Bewegung gegen den Kolonialismus, der die säkulare und reli
ders bestimmt. Die Gesellschaft wurde von explosionsartigen Protes
giöse Opposition vereinen sollte.
ten gegen die autoritär herrschenden Qadscharen wie auch gegen die
im Exil verbrachten, wurde der Lauf der G eschichte woan
Al-Afghanis Ideen haben viele Berührungspunkte mit dem mo
kolonialen Mächte aufgerüttelt. Neben die Forderung nach natio
dernen Islamismus, den Chomeini mehr als ein halbes Jahrhundert
naler Unabhängigkeit trat bei diesen Aufständen die Forderung nach
später im Iran einführte. Faktisch handelte es sich bei beidem um na
sozialer Gerechtigkeit.
tionalistische Reaktionen mit religiösem Anstrich gegen die ausländi
Der Aufstand der Babi zwischen 1843 und 1852 erschütterte die
sche Dominanz. Beide Bestrebungen speisten sich aus den Frustratio
Qadscharenmonarchie in ihren Grundfesten. Mirza Ali Mohammed
nen in der Bevölkerung, weil die Regierung vor den Kolonialmächten
(gen. al-Bab, r8I9-185o) formulierte, ausgehend von dem messiani
in die Knie ging. Beide idealisierten den Islam, indem sie auf die «Fun
schen Glauben an die Rückkehr des Mahdi und die dissidente Tradi
damente)) zurückgingen. Bei diesem Prozess der Rückwendung ging
tion innerhalb der Schia, eine neue Religion.14 Er stützte sich auf eine
es jedoch nicht darum, Vergaugenes zu kopieren, sondern neu zu
weltlichere Auslegung des Islam aus dem Anfang des neunzehnten
interpretieren.
Jahrhunderts. Diese Auffassung besagte, dass eine Verbindung zwi
Es gibt aber mindestens einen wichtigen Unterschied. Wie wir
schen dem verborgenen Imam, dem Mahdi, und seinen Anhängern
noch sehen werden, kombinierte Chomeini seine moderne Neuinter
existiere. In naher Zukunft würde diese Verbindung in Gestalt eines
pretation viel stärker mit konservativen Ideen als Al-Afghani, der für
Menschen erscheinen, um den Kampf gegen das Unrecht auf der
einen Dialog mit modernen westlichen Ideen aufgeschlossen war. Der
Welt anzuführen. Mirza Ali Mohammed erklärte, dass er «das Ton>
G rund dafür liegt in ihrem unterschiedlichen Lebenskontext. In sei-
(al-Bab) zum Mahdi sei. Seine Ideen gewannen schnell Anhänger
44
2. Orient trifft Okzident
unter den Armen auf dem Land und in den Städten. Schließlich ging
3· Die Konstitutionelle Revolution (1905-1 909)
Mirza AB Mohammed noch einen Schritt weiter und bezeichnete sich selbst als den erwarteten Erlöser, den Mahdi. Für die Qadscharen und die konservativen Ulama ging er damit einen Schritt zu weit, und sie ließen ihn exekutieren. Nach seinem Tod kam es in verschiedenen Gegenden zu Revolten
Als Fath Ali Schah
1831 sein Porträt auf einer Felswand bei Teheran
seiner Anhänger. Die bemerkenswerteste Persönlichkeit in der Babi
verewigen ließ, war er vermutlich davon überzeugt, dass seine
Bewegung war eine Frau, Qurrat al-'Ain, die wegen ihres Muts und
Qadscharendynastie für immer über den Iran herrschen würde. Doch
ihrer Intelligenz eine führende Rolle spielte . «Die Erscheinung einer
die Geschichte nahm eine ironische Wendung, als wenige Kilometer
solchen Frau wie Qurrat al-'Ain ist in jedem Land ein seltenes Phäno
von diesem Ort entfernt das Ende der Qadscharen eingeläutet wurde.
men, in einem Land wie Persien jedoch außergewöhnlich, nein, fast
Am 30. April r896 erschoss Mirza Reza Kermani, ein ehemaliger Schü
ein Wunder», schrieb ein britischer Historiker in jener Zeit. «Unver
ler Al-Afghanis, Naser ad-Din Schah. EinigeJahre zuvor hatte er mitan
gleichbar und unsterblich hebt sie sich unter ihren Landesgenos
sehen müssen, wie der Schah seinen antikolonialistischen Lehrer aus
sinnen hervor. Wenn der Babi-Glaube keinen anderen Anspruch auf
einer Moschee wegschleppen ließ und in die Verbannung schickte .
Größe hätte, dann wäre dies schon genug: dass er eine Heldin wie
Wenig später war er selbst an der Reihe gewesen, weil er die Meinung
Qurrat al-' Ain hervorgebracht hat.>l'' Der Babi-Glaube hatte mit der
vertrat, dass der Schah durch die an Großbritannien und Russland
Botschaft einer mehr egalitären Gesellschaft die Herzen der Armen
vergebenen Konzessionen die Interessen des Volkes verschacherte.
gewonnen, doch er blieb eine elitäre und undemok:ratische Bewe
Das Attentat war eine Racheaktion für die Demütigung und das Un
gung. Deren historische Bedeutung liegt darin, dass sie die Aufmerk
recht, das er und seine Landsleute erdulden mussten.
samkeit vom Himmlischen auf das Irdische verlagerte und die hoff
Der Schah war nach dem Attentat in seine Kutsche gesetzt wor
nungsvolle Erwartung der Ankunft des Mahdi durch aktives Handeln
den, und obwohl er bereits tot war, hatte sein Minister den ganzen
zur Veränderung der Welt ersetzte.
Weg nach Teheran so getan, als rede er mit ihm, und seinen Arm
Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts bildete sich eine neue,
manchmal aus dem Fenster bewegt, als winke der Schah den Men
viel größere Protestbewegung und griff nicht nur die Forderungen
schen zu. Die N achricht vom Tod des Herrschers sollte sich nicht wie
nach nationaler Unabhängigkeit und sozialer Gerechtigkeit auf,
ein Lauffeuer in der Stadt verbreiten. Die Befürchtung, es könnte zu
sondern stellte auch eine ganz neue Forderung: die Beendigung der
Tumulten kommen, war nicht unbegründet. Mirza Reza Kermanis
autoritären Monarchie der Qadscharen. Inspiriert wurde diese neue
gekränkter Stolz entsprach nicht nur seiner persönlichen, sondern
Bewegung von Ideen, die sowohl der Tradition des Protestes im I ran
einer nationalen Gefühlslage, die in den folgenden Jahren zu einem
als auch den neuen politischen Strömungen in Europa wie dem Libe
revolutionären Ausbruch gegen inländische Tyrannei und auslän
ralismus und dem Sozialismus entstammten.
dische Unterdrückung führte - die Konstitutionelle Revolution. Zwi schen
1905 und 1909 versuchten die Revolutionäre, die Macht des
Schahs durch eine Verfassung (Konstitution) einzuschränken und ein Parlament (madschles) einzusetzen. Die Demok:ratisierungsbewegung richtete sich auch gegen die ausländischen Großmächte, die die dikta-
46
47
3· Die Konstitutionelle Revolution
Erwachen aus einem Albtraum
torisehen Qadscharen unterstützten, weil sie politisch und wirtschaft
ziale und finanzielle Bindungen hatten. Auch sie waren unzufrieden
lich davon profitierten.
und wandten sich unter anderem gegen die Einführung säkularer
Es ist kein Zufall, dass der Anfang der modernen iranischen Ge
Bildung, die ihre religiösen Schulen bedrohte. Die wachsende Gruppe
schichtsschreibung mit dieser Revolution zusammenfallt, die auch als
Intellektueller wurde sich zunehmend der rückständigen Lage des
«das Erwachen der Iraner)) bezeichnet wurde.' Die Ideale der Iraner,
Iran bewusst und trat für eine rasche Modernisierung ein. Die Masse
die seitdem versucht haben, ihr Schicksal selbst zu bestimmen, wur
der armen Bauern und sehr viele Stadtbewohner, die zunehmend in
den auf dem Schlachtfeld der Konstitutionellen Revolution gebo
kleinen Werkstätten arbeiteten,
ren: Unabhängigkeit von Fremdherrschaft, Freiheit von inländischer
wirtschaftlichen Misere.
litten
unter
der allgemeinen
Tyrannei, soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Entwicklung.
Ende 1905 kam es in dieser brisanten Lage zur Explosion. Ein wich
Jeder politische Umbruch, der seither stattfand, kann als ein Versuch
tiger Anlass war die Krise der Binnenwirtschaft in jenem Jahr, hinzu
gesehen werden, eines dieser Ideale, allerdings auf Kosten der ande
kamen jedoch externe Faktoren. Die russische Revolution von 1905
ren, zu verwirklichen: die Modernisierung der Wirtschaft unter den
motivierte Iraner zur Rebellion gegen ihren eigenen König. Die Nie
Pahlavi
derlage Russlands im Krieg gegen Japan im Jahr zuvor gab ihnen die
(1926-1979) und die nationale Unabhängigkeit von ausländi
Zuversicht, dass es möglich wäre, Russland zu besiegen, falls es dem
schen Mächten unter der Islamischen Republik. Die Konstitutionelle Revolution repräsentiert den allerersten Mo
Schah zu Hilfe eilen würde.
bereits im frühen zwanzigsten Jahrhundert -
Die ersten Proteste im Jahr 1905 brachen aus, als der Schah den Ba
den Versuch unternahmen, eine demokratische Politik einzuführen,
zaris Geld schuldig blieb und sie unter Druck setzte, in Zeiten hoher
doch erkennen mussten, dass die Welt inzwischen von Großmächten
Inflation auf Preiserhöhungen zu verzichten. Als Knalleffekt tauchte
beherrscht wurde, die aus Eigeninteresse entschlossen waren, diesen
zudem ein Foto des Belgiers joseph Naus auf, der im Auftrag des
Versuch - mit Unterstützung der herrschenden Klasse in ihrem eige
Schahs das Zollwesen reformieren sollte. Hatte er sich mit seiner Tä
nen Land - im Keim zu ersticken.
tigkeit schon unbeliebt gemacht, so ging er mit diesem Foto, auf dem
ment, in dem Iraner
er sich als Mullah (rangniedriger Geistlicher) verkleidet hatte, für viele zu weit. Die Händler und Geistlichen reagierten mit sym
Erwachen aus einem Albtraum Nach dem tödlichen Attentat auf Naser ad-Din Schah
bolischen Aktionen, indem sie sich an heiligen Stätten wie Moscheen
1896 trat Moz
einschlossen.
affar al-Din Schah die Nachfolge an und setzte die verhasste Politik
Im Dezember 1905 eskalierten die Proteste; es kam zu immer mehr
seines Vaters fort. Er verkaufte das Monopol zur Ausbeutung der Öl
Aktionen dieser Art und zu Streiks. Angeführt wurden die Proteste
vorkommen im Süd- und Zentraliran an den Briten D' Arcy und er
von einer Koalition aus Händlern, Geistlichen und Intellektuellen;
nahm hohe Kredite auf, um seine extravaganten Reisen nach Europa
ihre Forderungen wurden nun radikaler. Sie forderten nicht nur die
zu finanzieren. Die Großbritannien und Russland erteilten Konzes
Entlassung des Gouverneurs von Teheran, der mehrere Demonstran
sionen ruinierten das Leben von Händlern, Handwerkern und Kauf
ten hatte erschießen lassen, sondern auch die Einsetzung eines
leuten im traditionellen Basar, der auch das soziale Zentrum jeder
wählten Parlaments
Stadt bildete. Die Handwerker waren meist in Zünften organisiert.
Diplomat berichtete, verwundert über den Charakter dieser Proteste,
Die Ulama machten sich für die Basaris stark, mit denen sie enge so-
nach London:
(madschles)
und eine Verfassung. Ein britischer
3· Die Konstitutionelle Revolution
48
Der Kampf um die Verfassung
49
Zu den bemerkenswerten Merkmalen der Revolution - denn was hier ge
flug, auch die Dichtkunst erfuhr eine drastische Veränderung. Die
schieht, verdient auf j eden Fall den Namen Revolution
satirische Wochenzeitschrift
gehört, dass der Kle
rus auf der Seite von Fortschritt und Freiheit steht. Das ist meines Wissens in der Weltgeschichte beispiellos. Wenn die Reformen, für die das Volk mit Hilfe der Geistlichen gekämpft hat, verwirklicht werden, geben sie [die Geistlichen] alle Macht ab.2
((Sur-e Esrafil>�,
das wichtigste und popu
lärste Blatt aus dieser Zeit, scheute nicht davor zurück, die konser vativen Ulama zu verspotten, die imperialistischen Mächte scharf zu kritisieren und sozialistische Ideen zu verkünden. In der ersten Num mer beschrieb die Redaktion die Ziele wie folgt:
Am 5· August 1906
erklärte sich Mozaffar al-Din Schah unter dem
Druck der Proteste mit der Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung einverstanden. Damit hatte die Konstitutionelle Revo lution ihren ersten offiziellen Sieg errungen, doch der Kampf um die Ausgestaltung der Verfassung stand noch bevor und stieß auf neue Probleme.
In der Verteidigung der Konstitutionellen Sache und der Unterstützung des Parlaments, der Bauern, der Schwächeren, der Armen und der Unterdrückten hoffen wir bis zum Ende standhaft zu bleiben. ( . . . ) Wir haben keine Angst vor Einschüchterung oder vor dem Tod. Wir legen keinen Wert auf ein Leben ohne Freiheit, Gleichheit und W ürde. ( . . . ) Wir fürchten nichts außer dem All mächtigen Gott und seinen Gesetzen und den Gesetzen der Nation.4
Der Kampf um die Verfassung
Auch etliche revolutionäre Organisationen erschienen auf der politi schen Bühne. Die wichtigsten waren die sogenannten Anjomans, Ver
In einer Zeit, in der nur eine Handvoll europäischer Länder ein par
einigungen, die entweder aus den bestehenden Zünften hervorgin
lamentarisches System mit allgemeinem Wahlrecht hatte, war die
gen oder sich vom Modell der Sowjets inspirieren ließen, der Räte der
Konstitutionelle Revolution ein außergewöhnliches Ereignis, das den
revolutionären Arbeiter, Bauern und Soldaten, die sich während der
Iran auf den Weg der Demokratisierung brachte. Das Parlament trat
Revolution von 1905 in Russland gebildet hatten. Allein in Teheran
zum ersten Mal im Oktober 1906 zusammen und verabschiedete ein
gab es dreißig Anjomans, in denen sich Handwerker, Studenten oder
Grundgesetz, das sich an der Verfassung der belgischen konstitutio
Schriftsteller zusammenschlossen. Auch ethnische und religiöse Min
nellen Monarchie orientierte. Die Macht des Schahs wurde einge
derheiten wie Azeris, Armenier, Juden und Zoroastrier organisierten
schränkt und der Souveränität des Volks unterworfen, das die Minister
sich in Anjomans, um die Konstitutionelle Revolution zu unterstüt
durch gewählte Vertreter kontrollieren sollte. Das Prinzip der Gleich
zen.s Das sich daraus entwickelnde Solidaritätsgefühl begann die re
heit vor dem Gesetz wurde eingeführt, außerdem individuelle Rechte
ligiösen und ethnischen Schranken zu durchbrechen. Der britische
und Freiheiten wie die Pressefreiheit. Nicht nur eine Demokratisie
Botschafter im Iran berichtete entrüstet über die Anjomans und ((den
rung, sondern auch die nationale Unabhängigkeit war das Ziel der
Geist des Widerstandes gegen Unterdrückung und selbst gegen jede
Konstitutionellen Revolution. Darum machte das Parlament der Kon
Autorität im ganzen Land».6 Seine Empörung, die auch von den ge
zessionsvergabe an fremde Mächte und der Kreditaufnahme im Aus
mäßigten Kräften innerhalb der Revolution geteilt wurde, bezog sich
land ein Ende. Um eine größere finanzielle Unabhängigkeit des Landes
insbesondere darauf: dass die Anjomans eine radikal neue und demo
zu erreichen, sollte eine eigene Nationalbank gegründet werden.3
kratische Organisationsform verkörperten, in der die normale Bevöl
Die neuen Freiheiten der Konstitutionellen Revolution ließen im
kerung ihre Macht bündeln konnte.
ganzen Land Zeitungen, Zeitschriften und Organisationen aufblü
Wie grundlegend die Konstitutionelle Revolution die traditionel
hen. Nicht nur politische Analyse und Satire erlebten einen Höhen-
len Verhältnisse auf den Kopf stellte, zeigt auch die emanzipatorische
3· Die Konstitutionelle Revolution
Der Kampf um die Verfassung
Wirkung auf Frauen. Die ersten Organisationen und Publikationen
ten vertraten die Qadscharen und waren folglich gegen die politi
50
51
von Frauen im Iran stammen aus dieser Periode. «Die persischen
schen Reformen. Die Gemäßigten, die die Mehrheit bildeten, vertra
Frauen waren seit
1907 fast sprungartig die fortschrittlichsten, um
ten einen Teil der Ulama, die Händler und die Zünfte, während in der
nicht zu sagen radikalsten der Welt geworden. Dass diese Behauptung
Gruppierung der Liberalen vor allem Intellektuelle vertreten waren.
den ewigen Weisheiten widerspricht, hat nichts zu besagen. Es ist eine
Gemäßigte und Liberale arbeiteten nach dem Vorbild der belgiseben
Tatsache)), schrieb ein amerikanischer Augenzeuge. Er schilderte, wie
Verfassung ein Dokument aus, das die Bedeutung des Parlaments
die verschleierten Frauen, die «von einem Tag auf den anderen Leh
festlegte. Am
rerinnen, Journalistinnen, Gründerinnen von Frauenorganisationen
nete Mozaffar al-Din Schah dieses Dokument auf dem Sterbebett.
und Rednerinnen über politische Themen geworden waren», das
Sein Sohn Mohammed Ali Schah, dessen Regierungsstil autoritärer
erreichten, wofür die Frauenbewegung im Westen Jahrzehnte ge
war, begann den Demokratisierungsprozess jedoch bald zu hinter
braucht hatte.7 Die Revolution gab Frauen das Selbstvertrauen, für
treiben.
ihre Rechte einzutreten und sogar die herrschenden Tabus in Bezug
30. Dezember 1906, kurz vor seinem Tod, unterzeich
Zum unvermeidlichen Konflikt kam es, als das Parlament
1907 ein
auf den Schleier oder die Polygamie zur Diskussion zu stellen. Ihr
zweites Dokument vorlegte, das neben einer Garantie individueller
Kampf brachte sie in Konflikt mit den Ulama und den Theologiestu
Rechte und Gleichheit vor dem Gesetz die Macht des Parlaments ge
denten, die sich gegen Bildungsmöglichkeiten für Frauen wandten.
genüber der Regierung stärkte. Die Souveränität des Schahs wurde
Die Frauenzeitschrift
nicht auf Gott, sondern auf das Volk zurückgeführt. Das Grundge
Musdwit
(Gleichheit) druckte zum Beispiel
einen offenen Brief an Theologiestudenten ab, unterzeichnet von
setz berücksichtigte auch den islamischen Charakter des Iran, indem
«Anhängerinnen der Bildung für die unterdrückten Frauen im Iram:
es einen «Hohen Rat» von Mudschtahids vorsah, der die beschlos senen Gesetze auf Vereinbarkeit mit der Scharia - den islamischen
Sind wir, die unterdrückten Frauen im Iran, nicht Menschen wie ihr? Sind wir
Rechtsgrundsätzen
nicht Bundesgenossen und Mitstreiter im Kampf für die Menschenrechte?
vom Parlament gewählt werden. Mohammed Ali Schah weigerte
Seht ihr uns nur als stimmlose Lasttiere oder betrachtet ihr uns als Menschen? Wir appellieren an euer Gerechtigkeitsgefüh L Wann werden v.rir nicht länger ausgeschlossen von dem Gebot: «Das Streben nach Wissen ist eine Pflicht für jeden Muslim, ob Mann oder Frau?»8
überprüfen durfte. Die Mudschtahids sollten
sich, das zweite Dokument zu unterzeichnen, und forderte ein Sys tem, das seine Legitimität aus den islamischen Rechtsgrundsätzen ableitete und in dem seine Regierung viel größeres Gewicht als das Parlament haben sollte. Unterstützung erhielt er von den konserva
In dieser gesellschaftlichen Aufbruchsstimmung trat im Oktober 1906
tiven Ulama, die befürchteten, dass die politischen Reformen zu weit
das Parlament zu seinen konstituierenden Sitzung zusammen. Bei
gehen würden. Doch als er begann, die Madschles zu behindern, re
den Wahlen zum Parlament besaßen Frauen, wie auch in vielen euro
agierte die Bevölkerung in mehreren Städten mit M assenprotesten
päischen Ländern, kein Stimmrecht, und auch einige Berufe mit nied
und Streiks. In Teheran fand eine Kundgebung mit
50 ooo Teilneh
rigem Sozialstatus waren von der Wahlteilnahme ausgeschlossen.
mern statt, darunter
Deshalb bestanden die Abgeordneten vor allem aus Handwerkern,
Anjoman der Azeris, in dem die Sozialisten großen Einfluss hatten.
Ulama, Händlern und einer kleinen Zahl von Intellektuellen und
Der Schah musste einlenken; die Konstitutionelle Revolution war
Mitgliedern der königlichen Familie. Im Parlament bildeten sich drei
einstweilen gerettet, doch die Gegenkräfte formierten sich neu, und
Fraktionen: Monarchisten, Gemäßigte und Liberale. Die Monarchis-
die Gegensätze innerhalb der Bewegung nahmen stark zu.
3000 bewaffuete Freiwillige, vor allem aus dem
3· Die Konstitutionelle Revolution
52
Vom Bürgerkrieg zur Restauration Als die liberalen Parlamentarier das Wahlrecht ausweiten und für re ligiöse Minderheiten das Recht auf eine eigene Vertretung einführen wollten, kam der Gegensatz zur Fraktion der Gemäßigten an die
53
Vom Bürgerkrieg zur Restauration
Es ist kennzeichnend für diese Bewegung, dass das Parlament und die Mo schee, Seite an Seite, ihren Mittelpunkt bilden. In und um diese beiden Gebäude versammelte sich eine so große Menschenmenge wie noch nie für den uralten Kampf gegen die M ächte der Tyrannei und Finsternis. Ver westlichte junge Männer mit weißen Kragen, Mullahs mit weißen Turbanen, Seyyids [Nachfahren des Propheten] mit den grünen und blauen Insignien
Oberfläche. Außerhalb des Parlaments führten die radikalen, sozialis
ihrer Abstammung, die kulah-namadis (Filzkappen tragende Bauern und Ar
tisch orientierten Kräfte eine Kampagne für säkulare Reformen, um
beiter), die braunen Abayas (Umhänge) der einfachen Händler. In den lierzen
die Macht der Ulama zurückzudrängen und die sozialen Missstände
aller brannte das heilige Feuer des Kampfes für die Freiheit.9
in Angriff zu nehmen. Die Konstitutionalisten spalteten sich nicht nur auf, ihre Popularität wurde auch stark erschüttert, als hohe Le
Dieser massenhafte Widerstand wehrte den Putschversuch ab, jedoch
bensmittelpreise und wirtschaftliche Stagnation die Lage der unteren
nur für kurze Zeit. Aufgrund mehrerer Faktoren gelang es dem Schah,
sozialen Schichten verschlechterten. Die reaktionären Kräfte, die die
die reaktionären Kräfte neu zu formieren und zu stärken. Russland
autoritäre Monarchie wiederherstellen wollten, profitierten davon
und Großbritannien teilten den Iran in einen nördlichen (russischen)
und begannen einen Teil der Bevölkerung zu mobilisieren.
und südlichen (britischen) Einflussbereich auf und steigerten ihre Ak
Sie erhielten massiven Beistand von dem erzkonservativen Scheich
tivitäten gegen die Konstitutionelle Revolution. Außerdem erhielt
Fazlollah Nuri, einem der höchsten geistlichen Würdenträger, der die
der Schah von einem ausländischen Magnaten ro ooo Pfund Sterling,
Konstitutionelle Revolution zuvor unterstützt, jedoch Angst vor den
um Stammesführer zu bestechen und gegen die Konstitutionalisten
radikalen sozialen Veränderungen bekommen hatte. Die Trennlinie
zu bewaffuen.10 Im Juni rgo8 fühlte er sich stark genug, um mehrere
zwischen Anhängern und Gegnern der Revolution verlief ansonsten
Revolutionsführer zu verhaften, das Parlament zu beschießen und so
nicht zwischen Religiösen und Säkularen. Zwei andere hohe Geistli
die alte Ordnung wiederherzustellen. Daraufhin kam es zu einem
che, mit denen Nuri zusammengearbeitet hatte, standen weiter auf
Bürgerkrieg, der das Land bis Juli r909 im Griff hatte .
der Seite der Konstitutionalisten. Auch die Bevölkerung entschied
Die Beschießung des Parlaments und die Eroberung Teherans
sich nicht einfach für die Seite von Scheich Fazlollah Nuri, weil er ein
durch Truppen des Schahs und seiner Verbündeten lösten einen Sturm
hoher Geistlicher war. Das zeigte sich, als er im Dezember r907 eine
der Entrüstung aus. Drei der fünf bedeutendsten schiitischen Wür
Massendemonstration von Geistlichen, Theologiestudenten, B auern
denträger wandten sich gegen den Schah und bekundeten ihre Un
und den Allerärmsten in der Stadt gegen das Parlament anführte,
terstützung des Parlaments: «Allah hat Tyrannen verflucht. Für den
unterstützt vom Schah, der von einem Staatsstreich träumte. Aufs
Augenblick haben Sie gewonnen, aber nicht auf Dauer.>>u Die Ret
Neue gingen große Gruppen der Bevölkerung auf die Straße, um die
tung für die Revolution kam tatsächlich schon bald, nicht von oben,
Revolution zu verteidigen. Hunderttausende, darunter mehrere tau
sondern aus Täbris im Nordwesten und Isfahan im Süden.
send bewaffuete Freiwillige, versammelten sich vor dem Parlament in
Die Stadt Täbris erfreute sich einer wirtschaftlichen Entwicklung
im
Teheran. Ein britischer Augenzeuge berichtet, wie er diese Szene
auf relativ hohem Niveau und spielte eine wichtige Rolle
inter
erlebte:
nationalen Handel. Nicht zuletzt, weil mehrere zehntausend Iraner gleich hinter der Grenze im Russischen Reich arbeiteten, war die Stadt eine Brutstätte für revolutionäre und sozialistische Ideen. Die
54
3- Die Konstitutionelfe Revolution
Vom Bürgerkrieg zur Restauration
55
Bewohner von Täbris unter Sattar Chan lieferten den Truppen des
Recht auf einen garantierten Sitz im Parlament. Einige wichtige Geg
Schahs und der Stämme, die die Stadt umzingelt hatten, einen hef
ner der Revolution wurden vor Gericht gestellt und zum Tode ver
tigen Kampf.
urteilt. Insbesondere die Hinrichtung des Geistlichen Scheich Fazlol
Der Bürgerkrieg hatte eine radikalisierende Wirkung auf die kons
lah Nuri, die große Teile der Bevölkerung guthießen, war auffallig in
titutionelle Bewegung. Manche Teilnehmer sahen den Bürgerkrieg
einem Land, in dem die Macht der Ulama angeblich unangreifbar
immer mehr als einen Klassenkampf zwischen den einfachen Händ
war. Im November 1909 konstituierte sich das zweite Parlament, doch
lern, Handwerkern, Bauern und Arbeitern auf der einen und den
die Anjomans, die im Widerstand die Hauptrolle gespielt hatten,
reichen Händlern und Großgrundbesitzern, darunter vielen Geist
wurden als Zugeständnis an die alten Machthaber und ihre ausländi
lichen, auf der anderen Seite. Die
schen Beschützer kaltgestellt.
1904 in Baku gegründete Sozial
demokratische Partei des Iran gewann in raschem Tempo massenhaft
Die alte Zerrissenheit innerhalb der Madschles kehrte zurück,
Anhänger. Dieser radikale Teil der Bewegung strebte nicht nur nach
noch dazu in einem höheren Maß. Die Sozial-Gemäßigte Partei, die
politischer, sondern auch nach wirtschaftlicher Demokratisierung,
die Unterstützung der Großgrundbesitzer und der Ulama genoss,
die soziale Gerechti gkeit und Gleichheit garantieren sollte. u
war zu Kompromissen mit der alten Ordnung bereit und geriet des
Auch Frauen nahmen aktiv am Bürgerkrieg teil, und es gab interna tionale Bekundungen von Solidarität. Verschleierte Frauen kämpften
halb in Konflikt mit der Demokratischen Partei, die wiederum mehr politische und soziale Reformen forderte.
Seite an Seite mit den Männern auf den Barrikaden, ebenso Dutzende
Das bedeutendste Hindernis für die Demokratie kam jedoch aus
Freiwillige aus Geergien und Armenien. Der internationalistische
dem Ausland. Das Parlament hatte im Mai 19n den Amerikaner Mor
Charakter der Revolution zeigte sich auch in dem tragischen Schick
gan Shuster mit der Sanierung der Staatsfinanzen beauftragt. Russ
sal des jungen Amerikaners Howard Conklin Baskerville. Er war als
land, das der Ansicht war, der Iran benötige dazu seine Zustimmung,
christlicher Missionar nach Täbris gegangen, gab diese Position jedoch
benutzte dies als Vorwand für eine Invasion. Großbritannien wiede
auf, um an der Seite der Revolutionäre zu kämpfen. Beim Versuch,
rum stationierte mit größerem Eifer denn je Truppen im Süden des
mit einer von ihm angeführten Gruppe von Studenten die Umzinge
Landes; nur wenige Jahre zuvor
lung der Stadt zu durchbrechen, wurde er erschossen. '3
etwas entdeckt, was viel wertvoller war als alle wirtschaftlichen Mo
Im April
1909 eroberten russische Truppen Täbris und entwaffue
ten die Bewohner, doch deren Kampf hatte inzwischen mehrere Pro
(1908) hatte der Brite D' Arcy dort
nopole, die der Iran Großbritannien bis dahin eingeräumt hatte: Erdöl.
vinzen zu Aufständen ermutigt. Aufständische aus dem Norden und
In den großen Städten kam es zu Massendemonstrationen unter
Süden des Landes zogen nach Teheran und eroberten die Stadt imJuli
der Losung «Unabhängigkeit oder Tod;;, doch die zögerlichen Par
1909 im Kampf gegen die Truppen des Schahs zurück. Der Bürger
lamentarier fügten sich den Forderungen der Großmächte . Tausende
krieg war endlich vorbei. Mohammed Ali Schah wurde zur Abdan
von ausländischen Soldaten besetzten das Land, das Parlament funk
kung gezwungen und sein zwölfjähriger Sohn Ahmad, der einige
tionierte kaum noch, die Anführer der Konstitutionellen Revolution
Monate später nach Russland ging, wurde zum neuen Herrscher aus
flohen, und der Iran glitt langsam in ein Chaos. In den Provinzen
gerufen. Die Revolution hatte erfolgreich eine konstitutionelle Mo
sorgten die Stämme für Unruhe und erhielten dabei Unterstützung
narchie zustande gebracht. Das Wahlrecht wurde auf die unteren
von Großbritannien und Russland, die den Ersten Weltkrieg zum An
Schichten ausgedehnt, und die religiösen Minderheiten erhielten das
lass nahmen, ihre Präsenz im Iran zu verstärken . Es wurde nun deut-
56
3· Die Konstitutionelle Revolution
lieh, dass sich die Großmächte angesichts der strategischen Lage und der großen Ölvorkommen nicht ohne weiteres zurückziehen wür den. Dazu ließe sich noch einiges sagen, doch das letzte Wor t soll
4. Autoritä re Modern isierung zwischen den Revol utionen (1909-1979)
Morgan Shuster haben: Die Fähigkeit der Perser, sich selbst zu regieren, wurde scheinheilig von Krei sen in Abrede gestellt, die etwas bestreiten, ohne sich vorher sachkundig zu machen. Dass sich die Perser in der praktischen Politik und in der Hand habung einer repräsentativen konstitutionellen Regierung ungeschickt an stellten, lässt sich nicht bestreiten; aber dass sie das volle Recht hatten, sich
In der Zeit zwischen der Konstitutionellen Revolution und der Revo lution von
I979 erlebte der Iran drei tiefgreifende politische Wandlun
gen. In den zwanziger Jahren hatte ein Kosakenoffizier, Reza Chan,
entsprechend ihren eigenen Gebräuchen, ihrem Naturell, ihren Eigenschaf
mit britischer Unterstützung das Chaos beendet, das nach der Nieder
ten und Neigungen zu entwickeln, ist ebenso offenkundig. Fünf Jahre sind
lage der Konstitutionellen Revolution im Iran herrschte . Reza Chan
nichts im Leben einer Nation; es ist nicht einmal eine lange Zeit für eine ein
bestieg den Pfauenthron und gründete die Dynastie der Pahlavi. In
zelne Reform; und dennoch verkünden nach nur fünfJahren, in denen es dem persischen Volk trotz aller Schwierigkeiten und Obstruktionen durch die sogenannten befreundeten Mächte gelang, die Versuche eines Diktators ab zuwehren, der ihnen die hart erkämpften Freiheiten entreißen wollte, zwei
den vierziger Jahren fand eine Wachablösung statt: Großbritannien zwang Reza Schah, abzudanken, und sein junger Sohn Mohammed Reza trat die Nachfolge an.
europäische Nationen [Großbritannien und Russland] der ganzen Welt, dass
Das wichtigste Merkmal der Pahlavi-Ära war der autokratische
diese Menschen ungeeignet, rückständig und unfahig seien, eine stabile und
Stil, mit dem Vater und Sohn das Land regierten und die Wirtschaft
wohlgeordnete Regierungsform zu schaffen. Wenn sie die Fakten über Per
modernisierten. Mit ihrer Politik schadeten sie sich jedoch selbst, da
siens Niedergang zur Kenntnis nehmen, fallt es sogar den größten Skeptikern
sie die gesellschaftliche Basis ihrer M acht unterhöhlten. Reza Schah
wie Schuppen von den Augen, und es wird deutlich, dass dieses Land ein hilf loses Opfer des infamen Spiels mit gezinkten Karten war, das ein paar euro päische Mächte mit dem Geschick jahrhundertelanger Übung noch immer
brachte die Nomadenstämme, die zu Beginn des zwanzigsten Jahr hunderts noch eine große Rolle spielten, unter die Kontrolle der
spielen, mit den schwächeren Ländern als Einsatz und mit den Leben, der
zentralen Staatsgewalt, indem er ihre Wanderungen einschränkte, sie
Würde und dem Fortschritt ganzer V ölker als Pfand.•4
entwaffnete, ihre Führer sabotierte und interne Konflikte schürte. Hintergrund seines Handeins war das Ziel, einen modernen Staat mit
einem Volk, einer Kultur und einer Sprache zu schaffen. In der Vergan genheit waren Stammesführer und ihre Truppen zwar eine poten zielle Gefahr für die Zentralmacht gewesen, doch die Schahs hatten sich ihrer auch jederzeit bedienen können, wenn ihre eigene Position gefahrdet war. Reza Schahs Modernisierungsprojekt hatte zur Folge, dass sein Sohn nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr auf die Macht der Stammesführer zurüc kgreifen konnte. Unter Mohammed Reza verschwand ein weiterer Stützpfeiler der Monarchie: die Macht der Großgrundbesitzer. Der Schah verwen dete die gestiegenen Öleinnahmen, um das Land zu industrialisieren,
58
4. Autoritäre Modernisierung zwischen
den Revolutionen
und änderte die politische Struktur, in der die Grundbesitzer früher viel zu sagen hatten. Unter den Pahlavi wuchs die Macht des Staates,
Reza Schah: der Mann der Ordnung
59
Reza Schah: der Mann der Ordnung
er entfernte sich jedoch zugleich von der Gesellschaft. Die Moderni
Die Fronten, an denen der Erste Weltkrieg ausgetragen wurde, be
sierung der Wirtschaft brachte außerdem neue soziale Kräfte hervor,
fanden sich in großem Abstand vom Iran, der vom Beginn des Krieges
die nicht mehr zu der alten Ordnung passten.
an seine Neutralität erklärt hatte. Das konnte jedoch nicht verhin
Die zweite Wandlung erfolgte innerhalb der Opposition gegen die
dern, dass vier Mächte das Land zu einem Schlachtfeld machten. 1914
Pahlavi und die sie unterstützenden ausländischen Mächte. Bis in die
marschierten die Armeen des Osmanischen Reichs in die Provinz
fünfziger Jahre bildeten zwei säkulare Bewegungen, Nationalismus
Aserbaidschan ein. Ihre deutschen Bündnispartner bewaffueten einige
und Kommunismus, wie in der gesamten Region die wichtigsten Ge
Stämme im Süden des Iran und organisierten einen Aufstand gegen
genkräfte in der Gesellschaft. Viele politische Parteien, Zeitungen
die britischen Truppen, die dort aktiv waren. Russland, ein Bündnis
und gesellschaftliche Organisationen wie etwa die Gewerkschaften
partner Großbritanniens, stationierte Truppen im N orden.1
standen unter dem Einfluss dieser Strömungen. Seit den sechzigerJah
Bis zu der Zeit, als diese Mächte den Iran wieder (teilweise) ver
ren begannen die Islamisten unter der Führung des charismatischen
ließen, hatten sie eine immense Verwüstung angerichtet. Viele Iraner
Geistlichen Ayatollah Chomeini die Rolle der Opposition zu über
gelangten zu der Schlussfolgerung, dass ein unabhängiger und star
nehmen. Die Wende hatte sich 1953 angebahnt, als der demokratisch
ker Iran nicht nur ein Ideal war, sondern auch zum Überleben not
gewählte Premierminister Mossadegh durch einen von den USA und
wendig. Da die Zentralregierung geschwächt war, blühten überall
G roßbritannien initiierten Putsch gestürzt wurde. Die nationalisti
im Land für kurze Zeit wieder revolutionäre und demokratische Be
schen und kommunistischen Bewegungen, die ihn unterstützt hat
wegungen auf, die nicht zuletzt von den Ereignissen in Russland
ten, wurden verfolgt und verloren ihre Kraft und ihren Elan. Die Folge
inspiriert waren. Dort hatten die Bolschewiki eine sozialistische Re
war ein politisches Vakuum in der Gesellschaft. Bekanntermaßen dul
volution gegen den Zaren angeführt und eine Rätedemokratie er
det die Politik ein Vakuum ebenso wenig wie die Natur. Den Raum,
richtet. Als Zeichen ihres Internationalismus zog die neue Regierung
den die säkularen Kräfte hinterließen, nahmen die Islamisten ein. Die dritte Wandlung vollzog sich auf internationaler Ebene. Bis zum Zweiten Weltkrieg war Großbritannien der größte Akteur auf
die russischen Truppen vom iranischem Territorium ab und machte alle Geheimabkommen zwischen dem Zaren und Großbritannien über den Iran öffentlich.
der Weltbühne, der seine Macht auch im Nahen und Mittleren Osten
Der Abzug der Besatzer im Norden schuf Raum für die sozialen
geltend machte. Nach dem Krieg änderte sich das politische Kräfte
Bewegungen, die stark nach links tendierten. In der kaspischen Re
verhältnis; Sowjetunion und USA standen sich als Supermächte ge
gion führte Mirza Kutschek Chan, ein Mullah, der Guerillero gewor
genüber und teilten die Welt in den westlichen und östlichen Einfluss
den war, die Bewegung der Dschangali (Männer aus dem Dschungel)
bereich auf. Der Iran blieb nicht nur in der westlichen Hälfte, als die
an, die vom Islam inspiriert eine demokratische und egalitäre Gesell
USA den Platz ihres Bündnispartners Großbritannien übernahmen,
schaft anstrebten. 1920 gründeten einige sozialistische Veteranen der
unter Mohammed Reza Schah entwickelte sich das Land sogar zu
Konstitutionellen Revolution die Kommunistische Partei des Iran. 2
einem wichtigen Stützpfeiler.
Für kurze Zeit entstand sogar eine Sozialistische Sowjetrepublik im Norden des Iran.J Die ersten Gewerkschaften wurden gegründet, und in der Provinz Aserbaidschan ließ die Demokratische Partei den
60
4· Autoritäre Modemisierung zwischen den
Revolutionen
Reza Schah: der Mann der Ordnung
61
Traum von der Konstitutionellen Revolution wieder aufleben. «Es
dem er sogar seinen Beamten Angst einjagte. «
muss Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit geben ( . . . ) wir wollen die
nierem), war einer seiner oft benutzten Aussprüche. Die Polizei wurde
Söhne unseres eigenen Landes sein», erklärte ihr populärer Führer,
unter seiner Herrschaft zu einem berüchtigten Instrument der Ein
ein Geistlicher wohlgemerkt.4
schüchterung und Repression. «
Das Aufleben oppositioneller Bewegungen bildete eine erhebliche
äußert haben.6 Indem er die rebellischen Stämme, sozialen Bewegun
Bedrohung für die Position Großbritanniens. 1914 war die britische
gen und linken Organisationen unterdrückte, gelang es Reza Schah,
Flotte von Kohle auf Öl umgestellt worden, und der Iran grenzte seit
innerhalb kürzester Zeit alle Macht in seiner Hand zu konzentrieren
1917 an den Einflussbereich des sozialistischen Russland. Darum ver
und die Grundlagen für einen autoritären Staat zu schaffen: eine
suchte Großbritannien mit ganzer Kraft, den Iran unter seine Kon
starke Armee, eine umfangreiche Bürokratie, ein Steuersystem und
trolle zu bringen. Die demokratischen Kräfte konnten gerade noch
loyale Bündnispartner.
verhindern, dass der Iran kolonisiert wurde, aber sie waren nicht
Dieser starke Staat diente nur einem Ziel: der Modernisierung des
stark genug, die von Großbritannien protegierte Zentralregierung zu
Landes von oben. Mit dem Bau von Straßen und Eisenbahnlinien
besiegen. Das Patt zwischen dieser Regierung und der nationalisti
schuf er eine moderne Infrastruktur und initiierte ein ehrgeiziges
schen und sozialistischen Opposition führte zu einem chaotischen
Industrialisierungsprogramm. 1925 besaß der Iran nur 2o moderne In
Zustand des Landes.
dustrien; 1941 wuchs diese Zahl auf 346, darunter Textilfabriken und
In der Bevölkerung wuchs das Verlangen nach Ordnung, und ge
Chemiebetriebe.7 Reza Schah erreichte, wovon die Reformer des
nau das hatte Reza Chan zu bieten. Er versprach, mit harter Hand
neunzehnten Jahrhunderts geträumt hatten, nämlich wirtschaftliche
Ordnung zu schaffen, das Land unabhängig zu machen und zu mo
Entwicklung, jedoch auf Kosten von Idealen wie Freiheit und soziale
demisieren.s Unterstützt von englischem Militär unternahm er 1921
Gerechtigkeit. Seine ausländischen Bündnispartner ließen sich davon
einen Staatsstreich. Nach einem kurzen Flirt mit republikanischen
übrigens nicht um den Schlaf bringen, wie der geringschätzige Kom
Ideen setzte er 1925 den Qadscharenherrscher Ahmad Schah ab und
mentar eines britischen Abgesandten 1933 deutlich macht: «Wie lange
ließ sich zum König krönen. Die Verfassung von 1907 blieb offiziell in
Persien von Angst vor einem einzigen Mann regiert werden kann,
Kraft, war jedoch in der Praxis Makulatur. Reza Schah regierte das
lässt sich schwer vorhersagen. Seine Geschichte ist eine lange Folge
Land als Autokrat, den Wahlen und Gesetze nicht interessierten.
von Tyrannen, die sich im Grad ihrer Grausamkeit unterscheiden,
Für seine Dynastie wählte er den Namen Pahlavi, ein Verweis auf die vorislamische Epoche. Einige Intellektuelle hatten bereits vorher
und Perser haben wahrscheinlich eine geringere Abneigung gegen Unterdrückung als die meisten anderen Völker.»8
aufgrund einer idealisierten Sicht dieser Zeit eine neue Form des Na
In der Bevölkerung herrschte selbstverständlich großer Unmut,
tionalismus begründet. Reza Schah erhob diesen Nationalismus zu
sowohl wegen Reza Schahs Terror der Angst als auch wegen seiner
einer Art Staatsideologie, um eine neue iranische Identität zu schaf
Sozial- und Kulturpolitik, die den Iranern westliche Verhaltensregeln
fen und die Bevölkerung für sein Modernisierungsprojekt zu gewin
auferlegte. 1935 ordnete er an, dass alle Männer ihre traditionelle Kopf
nen. 1935 ersuchte er alle ausländischen Botschafter, nicht mehr den
bedeckung gegen Hüte mit Krempen tauschen mussten. Frauen durf·
alten Namen Persien zu benutzen, sondern die Bezeichnung Iran
ten nicht mehr mit dem Tschador, einem traditionellen Gewand, das
(Persien ist eigentlich der Name einer südlichen Provinz) .
den ganzen Körper bedeckt, in der Öffentlichkeit erscheinen. Höher
E r war wegen seines brutalen Charakters bekannt und regierte, in-
gebildete Frauen hatten kein Problem damit, doch Frauen auf dem
62
Mossadegh und die Ölkrise
4.Autoritäre Modernisierung zwischen den Revolutionen
63
Land oder in den städtischen Unterschichten konnten sich damit
Seit der Gründung der Anglo-Persian Oil Company (in den drei
nicht abfinden und verließen kaum noch das Haus. Statt die gesell
ßiger Jahren änderte sich der Name in Anglo-Iranian Oil Company,
schaftliche Teilhabe von Frauen zu fördern, wirkte diese Politik in die
AIOC) im Jahr 1909 waren ungefähr 8oo Millionen Pfund Sterling
entgegengesetzte Richtung und traumatisierte einen großen Teil der
nach Großbritannien geflossen, während der Iran nur 105 Millionen Pfund erhielt.9 Nicht von ungefähr bezeichnete der britische Pre
Bevölkerung.
Mossadegh und die Ölkrise
mierminister Churchill die AIOC als einen «Preis aus dem Märchen land, jenseits unserer kühnsten Träume)).1° Für die Iraner selbst war es
Schon früher hatte sich gezeigt, dass Iraner immer dann, wenn sich
eher ein imperialistischer Albtraum. In der Ölindustrie herrschte
eine Möglichkeit dazu bot, alles daransetzten, ihre Freiheit zu er
große Wut über die schlechten Arbeitsbedingungen. In Ölstädten wie
kämpfen. Eine neue Chance tat sich auf, als der Beginn des Zweiten
Abadan, die eine Art britische Kolonie waren, existierte ein System
Weltkriegs Reza Schahs autoritäres Modernisierungsprojekt unter
der Apartheid, wie die Aufschrift «Nicht für Iraner» an den Trinkwas
brach. In den Jahren zuvor hatte er die Beziehungen mit Deutschland
serbrunnen deutlich machte. Die schlechten Arbeitsbedingungen
als Gegengewicht zum Einfluss Großbritanniens und der Sowjet
führten hin und wieder zu Streiks, die gewaltsam niedergeschlagen
union intensiviert, was ihm verübelt wurde. Von Neuern wurde der
wurden.
Iran in einen Krieg hineingezogen, für den er nicht verantwortlich
Ende der vierziger Jahre wurde das Thema Öl auf Platz I der politi
war, als im August 1941 die Alliierten vom Norden und Süden aus ins
schen Agenda gesetzt, als eine Gruppe von Parlamentariern forderte,
Land einfielen und Reza Schah zur Abdankung zwangen. Sein zwei
das Abkommen mit Großbritannien aus dem Jahr 1933 müsse revi
undzwanzigjähriger Sohn Mohammed Reza trat die Nachfolge an.
diert werden. Sprecher dieser Gruppe war ein Rechtsanwalt, der in
Die Zeit, die darauf folgte, war von demokratischer Partizipation
Europa studiert und sich in j enen Jahren einen Namen als Verteidiger
und Experimenten geprägt, bis der von der CIA und dem Ml6 (dem
der Verfassung gemacht hatte - Mohammed Mossadegh. Großbritan
britischen Geheimdienst) inszenierte Staatsstreich dieser Phase ein
nien wehrte sich dagegen mit Hilfe des Schahs und dessen loyaler Ge
Ende bereitete.
folgschaft, die aufgrund von Manipulationen zahlreich im Parlament
Durch die Abdankung Reza Schahs und den Krieg, der die Auf
vertreten war. Mossadegh und seine Mitstreiter gründeten die Natio
merksamkeit Großbritanniens absorbierte, entstand eine günstige
nale Front, um gegen die ausländischen Einflüsse und die inländische
Situation für die Opposition. Kritische Intellektuelle griffen wieder
Autokratie anzukämpfen. Sie forderten unter anderem Pressefreiheit,
zur Feder und gaben Dutzende neuer Zeitungen heraus. Linke Ak
freie und faire Wahlen und ein Ende der Behinderungen durch den
tivisten vrorden freigelassen, und einige von ihnen gründeten die
Schah.
Tudeh-Partei (Partei der Massen), die zur größten Partei des Landes
1950 erzielte die Nationale Front bei den Parlamentswahlen ein be
vrorde. Zehntausende wurden Mitglieder von Gewerkschaften und
achtliches Ergebnis und unterbreitete der AIOC einen Vorschlag zur
Frauenorganisationen. Ein Teil der Opposition forderte die Einhal
fairen Aufteilung der Öleinnahmen. Als sich die AIOC weigerte, auf
tung des Grundgesetzes, während eine Minderheit eine demokra
diesen Vorschlag einzugehen, kam es zu großen Protesten und zu
tische Republik anstrebte. Was jedoch alle vereinte, war der Ruf nach
Streiks; nun forderte die Bevölkerung nicht weniger als die vollstän
nationaler Unabhängigkeit. Ein fairer Anteil an den Öleirrnahmen
dige Verstaatlichung des iranischen Öls. Die Nationale Front fühlte
wurde zur populären Forderung der Opposition.
sich von Großbritannien provoziert und übernahm diese populäre
4· Autoritäre Modernisierung zwischen den Revolutionen
Der Staatsstreich gegen Mossadegh
Forderung. Auch ein bedeutender Teil der Geistlichen schloss sich der
General, der während des Zweiten Weltkrieges mit den Nazis sym
Bewegung an. Ayatollah Kaschani rief alle «aufrechten Muslime und
pathisiert hatte, bekam die Hauptrolle zugewiesen und wurde von
patriotischen Bürger auf, sich dem Kampf um die Verstaatlichung
einem großen Netz von Informanten unterstützt, die die Briten schon
anzuschließen und so gegen die Feinde des Islam und des Iran zu
vorher rekrutiert hatten. Im März 1953 schickten die USA eine Million
64
kämpfen>>.ll
65
Dollar an ihre CIA-Agenten zur Ausführung der Operation Ajax. Mit
im
März 1951 Premierminister wurde, begriffen
diesem Geld wurden Verbündete von Mossadegh im Parlament, in
seine Gegner, dass es ernst war. In Großbritannien und in den USA
der Armee und in der Bürokratie bestochen. Der fundamentalistische
entbrannte eine wahre Propagandaschlacht; die Medien bezeichne
Ayatollah Kaschani erhielt Geld, um seine Unterstützung Mossa
ten Mossadegh als wutschäumenden «Extremisten» oder einfach als
deghs aufzugeben und zu Demonstrationen gegen die Regierung
«Irrem. Britische Politiker und ihre iranischen Verbündeten verbrei
aufzurufen. Die berüchtigten Schläger von Teheran wurden dafür be
Als Mossadegh
teten das Gerücht, er wolle den Schah absetzen, um den Iran der
zahlt, ihre Banden zusammenzutrommeln und mit Krawallen Chaos
Sowjetunion auszuliefern. Die amerikanische Regierung, die keine
anzurichten, damit die Armee einen Vorwand zum Einschreiten
unmittelbaren Interessen am iranischen Öl hatte und von der brö
hatte. Schließlich wurden Dutzende Journalisten bestochen, damit
ckelnden Position Großbritanniens zu profitieren hoffte, schlug an
sie Mossadegh als Spion der Sowjetunion anschwärzten.
fangs einen vorsichtigen Kurs gegenüber Mossadegh ein, fügte sich
Am r6. August 1953 schlugen die Putschisten zu, doch ihre Pläne
jedoch 1953 der harten Linie Großbritanniens, die Regierung Mos
waren dank Mitgliedern der Tudeh-Partei in der Armee nach außen
sadegh durch einen Putsch zu stürzen. Dass in jenem Jahr der Re
gesickert. Am folgenden Tag organisierte die Tudeh Massendemons
publikaner Eisenhower den Demokraten Truman im Amt des Prä
trationen, um die demokratische Regierung zu unterstützen. Die
sidenten ablöste, spielte dabei eine nicht unwesentliche Rolle.
CIA ersann jedoch eine List, um den Gang der Dinge zu ihrem Vorteil urnzusteuern. CIA-Informanten erhielten den Auftrag, sich unter die
Der Staatsstreich gegen Mossadegh
Demonstranten zu mischen, Läden und Moscheen anzugreifen und so einen Keil zwischen Mossadegh und die Tudeh zu treiben, die sich
Zwischen April 1951 und August 1953 geriet Mossadegh immer wie
ohnehin schon misstrauten. Außerdem überzeugte der amerikani
der in Konflikt mit monarchistischen Politikern und Offizieren, die
sche Botschafter Mossadegh davon, dass Ausländer bedroht würden,
von Großbritannien unterstützt wurden. Er konnte sich jedoch -
und forderte ein Ende der Proteste. Mossadegh hegte großes Miss
dank des Rückhalts
im
Volk
behaupten. Als er zum Beispiel 1952
trauen gegenüber Großbritannien, kam jedoch nicht auf den Gedan
vom Schah derart sabotiert wurde, dass er zurücktreten musste, bra
ken, dass sich die USA imperialistischer Praktiken schuldig machen
chen im ganzen Land spontane Proteste aus, und die Nationale Front
würden. Er glaubte dem Botschafter aufs Wort und rief die Demons
und die Tudeh-Partei riefen zu einem Generalstreik und zu Demons
tranten dazu auf, nach Hause zu gehen; die Polizei erhielt den Auf
trationen auf. Der Schah machte einen Rückzieher und beauftragte
trag, für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Dieser verhängnisvolle Schach
Mossadegh mit der Bildung einer neuen Regierung.
zug führte zu Verwirrung bei Mossadeghs Anhängern und gab den
Von diesen Entwicklungen alarmiert, begannen einige Offiziere,
Putschisten die Gelegenheit, sich zu reorganisieren und einen neuen
Am 19. August 1953 griffen mehrere Panzer Mossa
mit Hilfe der britischen Geheimdienste und der CIA unter dem Code
Versuch zu wagen.
namen «Operation Ajax» einen Putsch vorzubereiten. '2 Ein iranischer
deghs Haus an, doch diesmal blieb es auf der Straße ruhig - der Staats-
66
67
Die Ruhe vor dem Sturm
4· Autoritäre Modernisierung zwischen den Revolutionen
streich gelang. Der Schah kehrte zurück, Nationale Front und Tudeh
Iran «Tod Amerika)) gerufen wurde.
Partei wurden verboten. Zwei Minister wurden exekutiert. Mossadegh
CIA für das Phänomen benutzt, dass Geheimoperationen in anderen
und einige andere hohe Politiker wurden zu Gefangnisstrafen verur
Ländern wie ein Bumerang zurückkehren können, ist der Schlüssel
teilt. Die härtesten Maßnahmen trafenjedoch die Aktivisten der Tu
zu einer Antwort auf diese Frage. '3
Blowback,
der Begriff, den der
deh-Partei. Mehr als 3000 Mitglieder wurden verhaftet, 200 erhielten lebenslängliche Gefängnisstrafen, und Dutzende wurden exekutiert. Unweigerlich stellt sich die Frage: Wie konnte der Putsch trotz
Die Ruhe vor dem Sturm
Mossadeghs großer Popularität gelingen? Der Ölboykott der west
«
lichen Länder gegenüber dem Iran hatte Mossadeghs Regierung
Ihnen», sagte der Schah zu Kermit Roosevelt, dem amerikanischen
finanziell handlungsunfahig gemacht. Mossadegh selbst beging den
Drahtzieher des Staatsstreichs von 1953 .'4 In den folgenden Jahrzehn
großen Fehler, nicht zu Demonstrationen und Streiks aufzurufen,
ten spürten die USA mehr von dieser Dankbarkeit als das iranische
um die Bevölkerung zu mobilisieren, und statt dessen auf die USA zu
Volk. Der Schah machte aus dem Iran einen Militärstützpunkt für die
vertrauen, ohne zu wissen, dass sie zusammen mit Großbritannien
USA an der Südgrenze der Sowjetunion und knüpfte enge Beziehun
an dem Staatsstreich beteiligt waren. Nicht weniger Schuld trug die
gen zu Israel an. Er machte den Iran zu einem Polizisten Amerikas,
Tudeh-Partei. Sie hatte von Anfang an eine schwankende Haltung
der den Einfluss nationalistischer und linker Bewegungen in der Re
gegenüber Mossadeghs Nationaler Front eingenommen und sie vor
gion eindämmen sollte.
allem als Konkurrenz angesehen. Diese Haltung schlug in pures Sek
Auch auf wirtschaftlicher Ebene ernteten die USA und ihre west
tierertum um, als Mossadegh sich nach dem ersten Putschversuch ge
lichen Bündnispartner die Früchte des Staatsstreiches. Ein interna
gen die Tudeh wandte. Beim zweiten Putschversuch verhielt sich die
tionales Ölkonsortium wurde gegründet; die amerikanischen Firmen
Tudeh passiv, statt zu versuchen, alle Kräfte, auch Mossadeghs An
und British Petroleum hielten jeweils 40, Shell 14 und die Compagnie
hänger, zu mobilisieren; man war sich nicht darüber im Klaren, dass
Fran�aise des Perroles 6 Prozent der Anteile. Der neue Vertrag sah
Mossadeghs Sturz alle fortschrittlichen Bewegungen um Jahrzehnte
eine Gewinnteilung vor; 50 Prozent der Profite behielt das Konsor
zurückwerfen würde. Dass die Tudeh es gewohnt war, auf Direktiven
tium, 50 Prozent erhielt der Iran. Ironischerweise hatte die nationa
aus Moskau zu warten, spielte wahrscheinlich auch noch eine Rolle.
listische Bewegung zu höheren Öleionahmen geführt, die der Schah
Moskau hatte nämlich zu diesem Zeitpunkt weder Interesse an
nun verwenden konnte, um das Land zu industrialisieren.
grundlegenden Umwälzungen im Iran noch an einem eskalierenden Konflikt mit den USA.
1972 stattete der damalige Bundeskanzler Willy Brandt Teheran einen Besuch ab, als dessen Ergebnis ein wichtiges Handelsabkom
Der Staatsstreich von 1953 hinterließ eine traumatische Spur im
men geschlossen wurde. Drei Jahre später war die Bundesrepublik
Nationalbewusstsein des Iran. Ein halbes Jahr vor dem Coup gegen
der zweitgrößte Exporteur nicht-militärischer Güter in den Iran. In
Mossadegh hatte sich der amerikanische Präsident Eisenhower in
dieser Zeit startete der Schah mit Hilfe der USA ein Atomprogramm,
einer Versammlung des Nationalen Sicherheitsrates schon gefragt,
an dem mehrere wichtige deutsche Unternehmen beteiligt waren,
warum die meisten Menschen in unterdrückten Ländern die USA
wie Thyssen Krupp und die Kraftwerk Union AG, ein Joint venture
so hassten. Diese Frage muss dem amerikanischen Präsidenten 1979
der Siemens AG und AEG Telefunken.
von neuem durch den Kopf gegangen sein, als auf den Straßen des
Als treuer Bündnispartner war der Schah im Westen ein gern ge-
68
4· Autoritäre Modernisierung zwischen den Revolutionen
Die Ruhe vor dem Sturm
69
sehener Gast. So besuchte er im Mai 1959 die Niederlande, wo ihm ein
1963 wurde er dreimal verhaftet; i n seinen Predigten hatte er den
überschwenglicher Empfang bereitet wurde, während nur einige
Schah beschuldigt, den Iran dem amerikanischen Imperialismus aus
Jahre zuvor Mossadegh nach Den Haag gekommen war, um sich, ver
zuliefern und die israelische Unterdrückung der Palästinenser zu un·
gebens, beim Internationalen Gerichtshof über Großbritannien zu
terstützen. Die Proteste gegen seine Verhaftung wurden gewaltsam
beklagen. Diese Besuche liefen jedoch nicht ohne Aufsehen ab. Als
niedergeschlagen, und Hunderte Menschen verloren das Leben. Als
der Schah 1967 zu einem Staatsbesuch in Deutschland war, empfin
der Schah 1964 ein Gesetz durch das Parlament schleuste, das ame
gen ihn massenhafte Proteste von Studenten, die auf die heuchleri
rikanischen Militärangehörigen und Beratern Immunität verlieh, und
sche Unterstützung eines diktatorischen Regimes durch ihre Regie
danach auch noch einen Kredit über 200 Millionen Dollar bei den
rung aufi:nerksam machen wollten. Hunderte Studenten, die sich in
USA für Waffenkäufe aufnahm, äußerte Chomeini von neuem Kritik.
Berlin vor der Deutschen Oper versammelt hatten, wurden von der
Diesmal 'Wtirde er aus dem Iran verbannt und ließ sich im Irak nie
Berliner Polizei und vom Geheimdienst des Schahs angegriffen. Der
der, wo er bis 1978 bleiben sollte. Von dort aus agitierte er weiterhin
Student Benno Ohnesorg kam durch einen Schuss in den Hinterkopf
mit Pamphleten und Tonbandkassetten, die von einem Untergrund·
ums Leben.
Netzwerk verbreitet wurden, gegen die Diktatur des Schahs und die
Als Gegenleistung für seine Loyalität zum Westen erhielt der Schah
«Arroganz» der USA. Obwohl Chomeini und die islamistische Op
umfangreiche Finanz- und Militärhilfen der USA. Die amerikani
position zu einem wichtigen Faktor wurden, bildeten sich auch neue
schen und israelischen Geheimdienste halfen ihm beim Aufbau der
säkulare Kräfte, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden.
Armee und des berüchtigten Geheimdienstes SAVAK, bei dem einige
Nach den Protesten von 1963 brach eine Zeit der Ruhe an. Der
tausend M enschen fest angestellt und für den um ein Vielfaches mehr
Schah reorganisierte den SAVAK und verstärkte die Kontrolle über
inoffiziell tätig waren. Die Militärausgaben stiegen von 67 Millionen
die Bevölkerung, aber er versuchte auch, durch einige Reformen eine
Dollar 1953 auf 9,4 Milliarden Dollar 1977. '5 Der Schah errichtete eine
breitere gesellschaftliche Basis zu gewinnen. Auch das bis Mitte der
äußerst repressive Diktatur; kritische Journalisten, Intellektuelle und
siebziger Jahre anhaltende Wirtschaftswachstum trug dazu bei. Die
Angehörige der Opposition wurden verhaftet und gefoltert. Um den
ser Zeitraum war durch die Fortsetzung der staatskapitalistischen
Schein von Demokratie zu wahren, rief er zwei Parteien ins Leben,
Entwicklung gekennzeichnet, die unter Reza Schah begonnen hatte,
die sich kaum voneinander unterschieden, außer dass die eine die Re·
sich nun jedoch in beschleunigtem Tempo vollzog. Der Schah gab
gierung bildete und die andere die Opposition.
r963 mit seiner «Weißen Revolution» das Startsignal für diesen Pro
Nach einem relativ ruhigen Jahrzehnt konnte der Repressions
zess, bei dem Bodenreformen eine wichtige Rolle spielten, da zwei
apparat des Schahs zu Beginn der sechziger Jahre nicht verhindern,
Drittel der Bevölkerung auf dem Land lebten. Das ursprüngliche Ziel
dass vor dem Hintergrund einer Wirtschaftskrise und zunehmender
war es, die Staatskontrolle in den ländlichen Gebieten zu vergrößern
Inflation Proteste ausbrachen. Diese Proteste kennzeichneten einen
und einen Teil des Bodens der Großgrundbesitzer unter der wach
wichtigen Bruch mit der Vergangenheit, da nicht mehr die säkularen
senden Zahl armer Bauern zu verteilen, um so die soziale Basis des
Nationalisten und Kommunisten, sondern die islamische Opposition
Regimes zu vergrößern. Die Reformen brachten jedoch nicht die
der Ulama die Hauptrolle beanspruchte . Chomeini, ein Ayatollah,
gewünschten Ergebnisse: Die Regeln begünstigten nicht die kleinen
der sich bis dahin wie die meisten anderen Geistlichen apolitisch ver
und mittelgroßen Bauern, sondern die großen Agrarbetriebe.
halten hatte, erlangte in dieser Zeit landesweite Bekanntheit.
Um den Iran in raschem Tempo zu industrialisieren, hatte der
70
4· Autoritäre Modernisierung zwischen
den Revolutionen
Schah ein ehrgeiziges Wirtschaftsprogramm gestartet. Sein Ziel war s.
es, das Land zu einem der fünf mächtigsten Staaten der Welt zu
Die u ne rwa rtete Revolution (1979)
machen. Faktisch verfolgte er die gleiche Strategie wie sein Vater, nämlich Modernisierung von oben. Der Staat bildete den Motor der kapitalistischen Entwicklung, die gestiegenen Öleinnahmen, 20 Mil liarden Dollar 1975-1976, waren der Treibstoff. Obwohl ein Teil davon
Der Iran sei eine «<nsel der Stabilität in einer der turbulentesten Welt
für Rüstung, Korruption, Paläste und Prestigeprojekte wie ein Atom
gegenden>>, erklärte der amerikanische Präsident Carter im Dezem
programm vergeudet wurde, wurde auch in die Industrialisierung
ber 1977 und lobte den Schah für «den Respekt, die Bewunderung und
investiert. In den siebziger Jahren erreichte die iranische Wirtschaft
die Liebe», die sein Volk ihm verdientermaßen entgegenbringe. Nur
eine der höchsten Wachstumsziffern weltweit. Das Nationaleinkom
zweiJahre später musste der Schah unter dem Druck von Massenpro
men pro Kopf der Bevölkerung stieg von 200 Dollar im Jahr 1963 auf
testen des Volkes aus dem Land fliehen. Der Turban rückte an die
rooo Dollar Ende der siebziger Jahre. 16
Stelle der Krone . Am
I.
Februar 1979 kehrte Ayatollah Chomeini aus
1971 lud der Schah Hunderte Staatsoberhäupter und Angehörige
dem Exil zurück und begab sich vom Flughafen sofort zu dem Fried
von Königshäusern zu einer Großveranstaltung ein, um «2500 Jahre
hof mit Gräbern Hunderter «Märtyrer)) der Revolution. Vor mehr als
Persisches Reich)) zu feiern. Damit wollte er der Welt vor allem de
einer Million Menschen, die sich versammelt hatten, legte er seine
monstrieren, dass unter seiner Führung die <
Zukunftsvorstellungen dar:
der zum Leben erweckt worden war. Bezeichnend für die ihm eigene Arroganz ist es, dass er gar nicht erst auf den Gedanken kam, die
Ich muss euch sagen, dass Mohammed Reza Pahlavi, der üble Verräter, fort ist.
Hunderte von angereisten Journalisten könnten sich mehr für das
Er ist geflohen und hat das Land ausgeplündert. Er zerstörte unser Land und
ärmliche Leben der Bevölkerung interessieren als für sein extravagan
füllte die Friedhöfe. Er ruinierte die Wirtschaft unseres Landes. Sogar die Re
tes Fest, das 300 Millionen Dollar verschlang.
formen, die er im Namen des Fortschritts durchführte, machten das Land dekadent. Er unterdrückte unsere Kultur, zerstörte Menschenleben und Men schenkraft. Wir sagen, dass dieser Mann, seine Regierung und sein Parlament illegal sind. ( . . . )
Ich werde meine
Regierung ernennen. Ich werde der
gegenwärtigen Regierung ins Gesicht schlagen. Ich werde mit der Un terstützung der Nation eine neue Regierung ernennen, weil die Nation mich akzeptiert.'
Die Staatsform, die Chomeini für den Iran vor Augen hatte, war na türlich die Islamische Republik, die einen Monat nach seiner Ankunft durch eine Volksabstimmung begründet wurde. Wegen dieses Resul tats wird die Revolution zu Unrecht als «islamisch» bezeichnet. Ers tens waren außer den Islamisten nicht nur säkulare Nationalisten und linke Organisationen aktiv; sondern auch religiöse Kräfte , die keines falls einen islamischen, vom Klerus geführten Staat anstrebten.
72
Die «Große Zivilisation»
s. Die unerwartete Revolution
73
Zweitens suggeriert «islamisch», das Ergebnis der Revolution,
fühlte sich dennoch in einem politischen System gefangen, das keine
Chomeinis Sieg, habe von Anfang an festgestanden. Zwischen 1977
Teilhabe, geschweige denn Kritik duldete. Von außen gesehen schien
und 1979 musste Chomeini zwischen verschiedenen politischen Kräf..
der Iran eine «<nsel der Stabilität» zu sein, doch das Modernisierungs
ten lavieren, um schließlich eine nach der anderen ausschalten zu
projekt des Schahs hatte unter der Oberfläche zwei tiefe Bruchlinien
können. Sein Charisma und sein taktisches Gespür halfen ihm enorm,
geschaffen. Die eine verlief zwischen den sozialen Schichten, die an
doch auch die Fehler seiner Konkurrenten spielten ihm in die Hände.
dere zwischen der politischen Machtelite und dem Rest der Gesell
Auch nach dem Sturz des Schahs im Februar 1979 war sein Sieg noch
schaft.
keine beschlossene Sache. Chomeinis Anhänger benötigten vierJahre,
Unter dem Schah hatte der Iran seit den sechzigerJahren ein beein
um den Rest der Opposition zu marginalisieren, und erst während des
druckendes Wirtschaftswachstum erlebt. Die Steigerung des Wohl
langen Krieges mit dem Irak in den achtziger Jahren konnten sie ihre
standes kam jedoch vor allem den höheren Schichten zugute. 1960
Macht endgültig festigen.
betrug der Anteil der reichsten zwanzig Prozent der Bevölkerung an
Drittens war das politische Programm Chomeinis nicht «isla
den Gesamtausgaben fast 52 Prozent, während der Anteil der ärms
misch», sondern entsprach, wie wir sehen werden, einer spezifischen
ten zwanzig Prozent weniger als 5 Prozent ausmachte. Damit war
Auslegung, die er Ende der sechziger Jahre entwickelt hatte: welayat-e
der Iran schon damals eines der Länder mit der größten Ungleichheit,
faqih (Vormundschaft des Rechtsgelehrten). Sein Ziel war es, die Poli
doch in den folgenden 14 Jahren wurde die Kluft zwischen Arm und
tik zu islamisieren, doch es kam umgekehrt: Der Islam wurde politi
Reich noch größer. 2 Einer Schätzung zufolge konzentrierte sich die wirtschaftliche
siert. Schließlich zielt «islamisch» auf die Motive der Millionen Men
Macht 1974 in den Händen von 45 Familien, die eine enge Beziehung
schen, die auf die Straße gingen und die Absetzung des Schahs forder
zum Schah-Regime hatten und zusammen 85 Prozent der größten
ten. Dass religiöse Gefühle eine wichtige Rolle spielten, steht außer
Unternehmen des Landes besaßen.J Während des Wirtschaftswachs
Frage, doch sie waren stark von sozialen, politischen und wirtschaft
tums Anfang der siebziger Jahre entstand auch eine neue Gruppe
lichen Faktoren geprägt, die auch von sich aus den Gang der Ereig
reicher Händler und Industrieller, die sich jedoch vom politischen
nisse bestimmten.
System, das die Anhänger des Schahs privilegierte, nicht vertreten fühlte. Die zunehmende Zahl von Arbeitern in der Industrie, im Bau Die «Große Zivilisation>>
gewerbe und im modernen Diensdeistungssektor begann zudem einen starken Gegenpol zur Wirtschaftselite zu bilden. Die Tatsache,
Der Schah wollte sich an den großen Perserkönigen des Altertums
dass relativ mehr Arbeiter in Großbetrieben arbeiteten und besser
messen und behauptete, die «Große Zivilisation» zu errichten; zwi
ausgebildet waren, äußerte sich in einem gesteigerten Selbstbewusst
schen seiner Rhetorik und den Erfahrungen der einfachen Iraner
sein, das zur Forderung nach besseren Arbeitsbedingungen führte.
klaffte jedoch ein Abgrund. Der Iran des Schahs war ein Land immen
Eine seit jeher wichtige Gruppe, die von der Modernisierung der
ser Gegensätze. Gleich neben modernen Industriezentren lagen Dör
Wirtschaft hart getroffen wurde, war die traditionelle Mittelschicht.
fer, die weder Wasser noch Elektrizität hatten. In den Städten konnte
Vor allem der Basar, ein wirtschaftliches Netzwerk von Händlern,
zumindest ein Teil der Bevölkerung eine Universität besuchen, die
Handwerkern und Geschäftsinhabern, bekam den Druck zu spüren.
Entwicklung in der Welt verfolgen und sogar ins Ausland reisen und
Ein Bazari äußerte gegenüber einem amerikanischen Journalisten:
74
s. Die unerwartete Revolution
75
Die «Große Zivilisation»
«Wenn wir den Schah gewähren lassen, wird er uns vernichten. Die
Zu einem bedeutenden Teil ging dieses Wachstum auf das Konto
Banken übernehmen alles. Große Geschäfte nehmen uns die Exis
der städtischen Armen, die Chomeini die mostazafan (die Unterdrück
tenzgrundlage weg. Und die Regierung will den Basar planieren, um
ten oder Entrechteten) nannte. Sie strandeten in den sich ausdeh
Raum für Bürogebäude zu schaffen.>>4 Der Basar hatte und hat nicht
nenden Elendsvierteln und mussten versuchen, ihr Brot als Tage
nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine soziale und religiöse
löhner oder Straßenverkäufer zu verdienen, und oft wurden sie wie
Funktion, sodass die Unzufriedenheit, die dort aufkam , sich schnell
Abschaum behandelt. Die gebildete und westlich orientierte Mittel
und weit verbreitete.5 In jedem Basar stehen eine oder mehrere
schicht in den Städten sah die Zugezogenen als Dörfler
Moscheen, die von den Bazaris finanziert werden. Die Ulama, die da
kennbar an ihrem Akzent und ihrer religiösen, traditionellen Lebens
mals fast
weise. Die ländlichen Zuwanderer fühlten sich in der Stadt entwur
90 ooo Mitglieder zählten und ebenfalls ihre traditionellen
(dehati),
er
Werte und Normen bedroht sahen, hatten seit jeher enge (Familien-)
zelt und fanden Halt in ihrem Glauben und den sozialen Netzen rund
Bande mit den Bazaris und waren über Tausende Moscheen und re
um die Moscheen. Die sozialen Gegensätze bekamen damit auch
ligiöse Einrichtungen bis tief in die Kapillaren der Gesellschaft vor
eine kulturelle und religiöse Dimension.
gedrungen .
Durch den Ausbau des Bildungssystems wuchs die neue Mittel
Die sogenannte «Weiße Revolution)) des Schahs hatte gravierende
schicht. Zwischen
1963 und 1977 stieg die Zahl der Hochschulstuden
Folgen für die ländlichen Regionen, wo die Lebensbedingungen der
ten von
Bevölkerung nicht anders waren als ein Jahrhundert zuvor. Das wich
Führungsebene der Armee und der Bürokratie aufgenommen wurde,
tigste Element der ((Weißen Revolution)) war die Bodenreform, mit
hatten die meisten Absolventen große Schwierigkeiten, Arbeit zu
der der Schah die Macht der alten Großgrundbesitzer schwächen und
finden, und endeten nicht selten als Taxifahrer.
24 885 auf 154 215/ Während ein kleiner Teil davon in die
mehr Rückhalt bei den Bauern gewinnen wollte. Er war erfolgreich
Das Modernisierungsprojekt des Schahs unterhöhlte nicht nur die
beim ersten Teil dieses Vorhabens, scheiterte jedoch beim zweiten
alten Gesellschaftsstrukturen, sondern auch die politische Legitimi
Teil, sodass die alte Basis seiner Macht schwand, ohne dass eine neue
tät seiner Regierung. Er schaffte es, fast die gesamte Gesellschaft -
hinzukam.
sieht man einmal von der allerhöchsten Führungsebene ab -, dem
Mehr als eineinhalb Millionen Familien erhielten ein kleines Stück
politischen System zu entfremden. Seine Macht basierte nicht auf
Land. Das bedeutete freilich, dass eine von drei Familien leer ausging.
Rückhalt im Volk, sondern auf den Streitkräften, dem Geheimdienst
Für die, die ein Stück Land bekommen hatten, reichte die Größe des
SAVAK, der Bürokratie und den Politikern, die sich von ihm gängeln
Besitzes nur in einem von vier Fällen aus, um einen eigenen Betrieb
ließen. Zwischen
zu gründen. Der Rest musste sein Grundstück an große Agrarbe
rigen von
triebe verkaufen. Wie in der Stadt begannen moderne kapitalistische
in diesem Zeitraum um den Faktor 25 zu. 8 über ein weit gespanntes
Unternehmen auch auf dem Land die traditionelle Wirtschaft zu er
Informantennetz hatte der SAVAK eine große Dosis Misstrauen in
setzen. Die bedeutendste Folge war, dass das Problem der Armut und
die Gesellschaft gestreut. Kaum jemand wagte es, seine Meinung zu
Arbeitslosigkeit nicht gelöst wurde und viele Bauern in die großen
äußern, da der Taxifahrer, der Arzt, der Lehrer, im Grunde j eder auf
Städte abwanderten. Die Urbanisierung erfolgte in rasantem Tempo.
der Gehaltsliste des Geheimdienstes stehen konnte. Die Erzählungen
Von 1966 bis
über die grausamen Foltermethoden des SAVAK schürten zudem die
1977 stieg die Einwohnerzahl Te herans von zweieinhalb
auf viereinhalb Millionen. 6
1963 und 1977 wuchs die Zahl der Militärangehö
20 ooo auf 410 ooo Mann, und der Verteidigungsetat nahm
Angst, irgendein Risiko einzugehen.
76
s. Die unerwartete
Die Opposition
Revolution
Die Kluft zwischen diesem archaischen System politischer Ver
77
Die Opposition
flechtungen und einer sich modernisierenden Gesellschaft wurde in den siebziger Jahren nur noch größer. Während der Schah ein Jahr
G egen Ende der siebziger Jahre bahnte sich die Unzufriedenheit mit
zehnt zuvor noch zwei Parteien gegründet hatte, damit bei den Parla
den sozialen und politischen Verhältnissen, die sich unter der Ober
mentswahlen der Schein einer Alternative gewahrt blieb, löste er die
fläche aufgebaut hatte, einen Weg. Wie sich dieser Unmut manifes
Parteien 1975 auf und schuf die Partei der Wiederauferstehung. Auf
tierte, welche Strategien er wählte und welche Alternativen er an
kritische Journalistenfragen antwortete er: ((Gedankenfreiheit! Ge
strebte, wurde durch die politischen und intellektuellen Strömungen
dankenfreiheit! Demokratie, Demokratie ! Fünfjährige, die streiken
bestimmt, die am Vorabend der Revolution die Opposition bildeten.
und auf die Straße gehen! . . . Demokratie? Freiheit? Was bedeuten
Die wichtigsten waren:
diese Wörter? Ich will nichts damit zu tun habenß Die Legitimität des Schahs litt vor allem unter seinem innigen Ver
Die politischen Organisationen. Die kommunistische Tudeh-Partei war
hältnis zu den USA, die seine Diktatur unterstützten. Aufgrund der
in den siebziger Jahren nur noch ein S chatten ihrer Vergangenheit.
strategischen Lage war der Iran neben Israel zum wichtigsten Stütz
Die Unterdrückung durch den Schah hatte sie stark geschwächt, und
pfeiler der amerikanischen Dominanz im Nahen und Mittleren Osten
wegen ihrer Loyalität mit dem stalinistischen Ostblock hatte sie an
geworden. Nachdem Großbritannien 1968 seine Präsenz im Persi
Popularität eingebüßt. Dank ihrer realen Wurzeln in der Bevölkerung
schen Golf verringert hatte, nutzte der Schah seine Chance, die Rolle
erholte sie sich einigermaßen und propagierte über verschiedene
der regionalen Macht zu übernehmen. Anfang der siebziger Jahre
Publikationen und eine Rundfunkstation eine friedliche Umwälzung
organisierte er sogar mehrere militärische Interventionen in der Re
durch Demonstrationen, Streiks und, falls der Schah es zuließe, Wah
gion, unter anderem gegen die Rebellen in Oman, um seine Rolle als
len. Ihre Strategie basierte auf der Bildung einer Koalition mit der
Amerikas ((Golf-Polizist)) zu unterstreichen. Zwischen r972 und 1976
Nationalen Front, den «progressiven Ulama)) und dem «liberalen Flü
wurde er von den USA mit Waffen im Wert von 10 Milliarden Dollar
gel der nationalen Bourgeoisie».u
belohnt. Die enge Beziehung zu den USA manifestierte sich auch in
Die Nationale Front selbst war auch geschwächt, doch einige alte
der Anwesenheit einer großen Zahl amerikanischer Experten und
Mitstreiter Mossadeghs hauchten ihr neues Leben ein und erklärten:
Berater, die Mitte der siebziger Jahre von 24 ooo auf fast 6o ooo an
«Wir sind Muslime, Iraner, Konstitutionalisten und Mossadeghisten:
stieg.W Da sie viele Privilegien hatten und Immunität vor der irani
Muslime, weil wir uns weigern, unsere Prinzipien von unserer Politik
schen Gerichtsbarkeit genossen, verbreitete sich in der iranischen
zu
Bevölkerung das Gefühl, nicht der Schah, sondern die Amerikaner
tionalisten, weil wir Freiheit des Denkens, freie Meinungsäußerung
hätten in Wirklichkeit das Sagen. Die Abneigung gegen den ameri
und Vereinigungsfreiheit fordern; Mossadeghisten, weil wir die natio
trennen; Iraner, weil wir unser nationales Erbe achten; Konstitu
kanischen Einfluss war im übrigen nicht gleichbedeutend mit einer
nale Unabhängigkeit wollen.>P Die Nationale Front hatte einen säku
Vorliebe für die Sowjetunion; gegen dieses Land hegte die Bevölke
laren und einen religiösen Flügel. An der Spitze der Religiösen stan�
rung genauso großes Misstrauen.
den Bazargan von der Iranischen Freiheitsbewegung und Taleqani, ein hoher Geistlicher, der ein bedeutendes Werk verfasst hatte, in dem er ausführlich begründete, dass die Schia gegen Autokratie und für Demokratie sei. Diese Religiösen strebten ein demokratisches
78
s. Die unerwartete
Revolution
System an, innerhalb dessen die islamischen Werte respektiert wurden. In den sechzigerJahren verloren einige Studenten von der Nationa len Front und der Tudeh-Partei die Geduld mit den in ihren Augen zu moderaten und wirkungslosen Methoden ihrer Parteien und spra chen sich für den bewaffneten Kampf aus. Am Vorabend der Revolu tion gab es zwei wichtige Guerillaorganisationen: die kommunistisch orientierte Organisation der Volksfedayin (Fedayin) und die links-isla misch orientierte Modschahedin-e Chalq. Neben diesen landesweit operierenden Organisationen wuchs in einigen Provinzen der Einfluss politischer Parteien, die sich für die Rechte nationaler Minderheiten stark machten. Die wichtigste war die Kurdische Demokratische Partei des Iran (KPD-1), die mit dem Slogan «Demokratie für Iran, Autonomie für Kurdistan» gegen den Schah kämpfte.1.J Die
religiösen Intellektuellen. Die intellektuellen Debatten des zwan zigsten Jahrhunderts waren durch das Ringen mit der Moderne ge kennzeichnet, mit der der Iran wie der Rest der Dritten Welt in der Form von militarisiertem Imperialismus Bekanntschaft machte. I4 Die Abneigung gegen das autoritäre Modernisierungsproj ekt des Schahs und die Enttäuschung über das Scheitern der säkularen Reaktionen darauf (Nationalismus und Kommunismus) ebneten religiösen Ideo logien den Weg. Eine wichtige Mittlerfunktion erfüllte Dschalal Al-e Ahmad; er entstammte einer Familie von Geistlichen, schloss sich mit zwanzig der Tudeh an, verließ die Partei jedoch wegen seiner Kritik am Sta linismus und entwickelte sich zu einem tonangebenden Intellektuel len. Er führte den Begriff gharbzadegi («vom Westen geschlagen>; oder «vergiftet>;) ein, der sowohl bei säkularen wie religiösen Aktivisten sehr populär wurde. Gharbzadegi war für ihn eine «Krankheit», die von außen in die Gesellschaft eindringt und sie zersetzt. Die Ursache sah er in der wirtschaftlichen Abhängigkeit der Dritten Welt vom Westen, und die Symptome beschrieb er als Entfremdung, Materialis-
Die Opposition
79
mus und Nachahmung der westlichen Kultur. Hatten bisher die poli tischen und wirtschaftlichen Ursachen des Imperialismus irn Fokus gestanden, so rückte der Begriff gharbzadegi nun die kulturellen Fol gen in den Mittelpunkt. Von dieser Position aus war es ein kleiner Schritt, die kulturellen Veränderungen nicht als Folge des Imperialismus zu sehen, sondern als die Ursache. Diese Ansicht war populär unter den Ulama, die die ökonomische Benachteiligung des Iran und die Vorherrschaft des Westens darauf zurückführten, dass Muslime ihren «wahrem) Glau ben gegen westliche Einflüsse eingetauscht hätten. Al-e Ahmad repräsentierte die Bewegung säkularer Intellektueller in Richtung Religion, doch auch das Umgekehrte geschah unter dem Einfluss der nationalistischen und linken Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt. Ein Beispiel dafür ist Ali Schariati; seine Ideen spiel ten eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Bildung einer ganzen Schicht von Intellektuellen und Aktivisten, die zu den führenden Ak teuren der Revolution von 1979 gehörten.1' Während Schariati Anfang der sechziger Jahre an der Sorbonne promovierte, ließ er sich als gläubiger Muslim von den nationalen Be freiungsbewegungen in Algerien inspirieren und vom Marxismus, zu dem er eine Art Hassliebe entwickelte. Er bewunderte die Fähigkeit des Marxismus, die Welt zu erklären, lehnte jedoch die materialisti sche Sichtweise ab. Nach seiner Rückkehr in den Iran machte er sich zwischen 1967 und 1972 einen Namen mit einer Reihe von Vorträgen, in denen er eine revolutionäre Auslegung des Islam formulierte; er sprach damit vor allem junge, gebildete Menschen an, die auf der Su che nach einer politischen Strategie waren statt der religiösen Haar spaltereien, mit denen sich die Ulama beschäftigten. Schariati gelangte zu neuen Einsichten durch seine Erfahrung mit dem Putsch von 1953 , seine Arbeit als Lehrer in einer armen Provinz und seine Bekanntschaft mit radikalen westlichen Ideen. Dass sein politischer Islam eine Neuinterpretation aus dem Blickwinkel der siebziger Jahre und nicht der Zeit des Propheten Mohammed war, zeigt sich an Folgendem: Während seiner Tätigkeit als Lehrer brachte
s. Die
80
81
Die Opposition
unerwartete Revolution ((Abu Zarr Qe
ßes Problem zu sein, da die Mehrheit der Ulama der apolitischen Tra
fari: der Gott anbetende Sozialist)), heraus, das auf einem Roman des
dition des Quietismus folgte. Bis zur Wiederkehr des Mahdi würden
radikalen ägyptischen Schriftstellers Abd ol-Hamid Dschaudat al
die weltlichen Angelegenheiten ja vom Staat geregelt werden. Man
Sahar beruhte. Das Buch handelte von einem der ersten Anhänger
che Akteure ignorierten den Schah und andere unterstützten ihn so
des Propheten, der nach Mohammeds Tod die Kalifen als korrupt ab
gar. Außerdem reagierten die Ulama mehrheitlich auf die Probleme,
lehnte und Ali, den ersten Imam der Schiiten, unterstützte. Nachdem
die sie am meisten empörten - Prostitution, Alkoholismus, Drogen
Ali besiegt worden war, zog sich Abu Zarr in die Wüste zurück, wo er
konsum und Kriminalität
ein einfaches Leben führte und predigte, dass der Islam für die Armen
kritisierten nicht das soziale und politische System, sondern den mo
und gegen die Reichen kämpfe. Abu Zarr wurde für Schariati zu einer
ralischen Verfall der Gesellschaft.
er das Buch
Abu Zarr Ghifari: Choda-parast-e Socialist,
wie Konservative das in der Regel tun. Sie
mythischen Figur, auf die er seine modernen Ideale proj izierte. Abu
Diejenigen, die sich mit der Politik einließen, waren gemäßigte
Zarr wandelte sich so in eine islamische Entsprechung von Camus,
Geistliche wie Ayatollah Taleqani, der die Nationale Front unter
Sartre, Fanon oder Che Guevara.
stützte. Sie wollten nicht den Sturz des Schahs, sondern forderten die
Für viele religiöse Iraner war Schariati deshalb eine islamische Ant
Einhaltung der Verfassung. Als der Schah zwischen
1975 und 1977
wort auf Marx, dessen Ideen große Anziehungskraft auf junge Leute
mehr Druck auf die Ulama ausübte, unter anderem durch eine stär
hatten, allerdings in einer völlig deformierten Gestalt - der des Sta
kere staatliche Kontrolle der religiösen Seminare, wurde die Position
linismus. Schariati sprach ebenfalls von einer klassenlosen Gesell
der moderaten Kleriker untergraben, und eine dritte Gruppe gewann
schaft, jedoch einer islamischen
an Boden: die radikalen Geistlichen.
(nezam-e towhidi).
Ausgehend von
diesen Ideen konnten die islamischen Aktivisten, die hauptsächlich
Die wichtigste Persönlichkeit aus dieser Gruppe war Ayatollah
aus der Mittelschicht stammten, den Marxismus ablehnen und doch
Chomeini, der bis Anfang der sechziger Jahre einen apolitischen Kurs
ihrer Wut über Armut und Ungleichheit Ausdruck geben. Sie konn
verfolgt hatte. Er änderte seine Haltung während der «Weißen Revo
ten sich gegen die Diktatur des Schahs und die amerikaDisehe Vor
lution)}, und er wandte sich gegen die Bodenreform und die Diktatur
herrschaft auflehnen und den Iran dennoch durch die Übernahme
als solche. Der Autor einer wichtigen Biographie bemerkt, dass Cho
westlicher Technologien und sogar sozialwissenschaftlicher Erkennt
meinis Rhetorik nach
nisse voranbringen. Sie wollten Modernisierung ohne gharbzadegi und
und der Stolz des Iran> hielten nun Einzug in das Vokabular der Geist
unter Wahrung ihrer nationalen Identität. Schariati trat auch für ein
lichen im Allgemeinen und Chomeinis im Besonderen und machten
gleichwertigeres Verhältnis zwischen Mann und Frau ein. Kurzum,
Chomeini für die nicht-klerikalen Aktivisten akzeptableu16 Dieser
Schariati ermöglichte es religiösen jungen Menschen, sich von den
Schritt ging mit einem bedeutenden Wandel seiner Ideen einher.
konservativen Ulama abzuwenden, ohne dem Islam Lebewohl zu
1964 nationalistischer wurde: <«Das Interesse
Ende der sechziger Jahre schockierte er - aus dem irakischeu Exil die klerikale Hierarchie mit einer Reihe von Vorträgen, in denen er
sagen.
die unpolitische Haltung der Ulama kritisierte. Seine Vorträge wur
Chomeini und die Ulama. Was für die Anhänger S chariatis,
der schon
den im Iran unter dem Titel
Welayat-e Faqih: Hokumat-e Eslami
(Die
vor der Revolution starb, zum Dilemma werden sollte, war der Wille,
Vormundschaft des Rechtsgelehrten: Die islamische Regierung) he
unter dem Banner des Islam einen Aufstand zu beginnen, ohne des
rausgegeben und verbreitet. In diesen Texten interpretierte er das
sen Führung den Ulama zu überlassen . Anfangs schien das kein gro-
Prinzip der welayat-efaqih neu und definierte es nun als die Herrschaft
5 · Die
82
1977-1978: Ein
unerwartete Revolution
Wirbelsturm von Protesten
83
des höchsten Geistlichen, der während der Abwesenheit des Mahdi
sich nur mutmaßen, was schließlich den Funken bildete und die Pro
als «Vormund» der Gläubigen fungieren müsse.
teste in Gang brachte, doch mindestens zwei Faktoren spielten eine
Von diesem Zeitpunkt an predigte Chomeini den AufStand gegen
entscheidende Rolle . Der erste war die Wirtschaftskrise mit hoher
die Monarchie. Um potenzielle Bündnispartner nicht abzuschrecken,
Inflation und zunehmender Arbeitslosigkeit. Sie traf nicht nur die un
sprach er j edoch kaum noch von welayat-e faqih. Stattdessen legte er
teren Schichten hart, sondern auch die Bazaris, denen der Schah die
den Nachdruck auf die soziale Misere der Unterschichten und das
Schuld an den hohen Preisen gab. Der zweite Faktor war die relative
Unrecht, das die USA dem Iran antaten. Dazu musste er auch seine
Lockerung der Diktatur
alten Ideen über die Gesellschaft ändern. Wie nahezu alle Religionen
kanische Präsident Jimmy Carter hatte durch seine Betonung der
betrachtete der Islam Privateigentum und eine hierarchische Gesell
Menschenrechte den Schah zu dieser Veränderung veranlasst. Auch
die sogenannte «Carter-Brise>); der ameri
schaftsordnung als gottgegebene Realität. Die Armen sollten sich in
die Tatsache, dass Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty Inter
ihr Schicksal fügen , ohne die Reichen zu beneiden, die Reichen wie
national das Schah-Regime an den Pranger stellten, spielte eine wich
derum sollten Korruption und Verschwendung vermeiden und den
tige Rolle. Die Wirtschaftskrise motivierte mehr Menschen, aktiv zu
Armen helfen. Chomeini brach mit dieser Tradition und sprach nun
werden, und die Lockerung der Repression bedeutete, dass es weni
von Klassen und Revolution
ger Hindernisse gab, die sie aufhalten konnten.
Begriffe, die mit politisch linken Vor
stellungen assoziiert wurden. Die Gesellschaft, so Chomeini, sei in
Die gängige Deutung der Revolution schreibt den Sturz des Schahs
(die Verworfenen,
vor allem den Geistlichen und den Intellektuellen zu. Es stimmt, dass
die Unterdrückten) und die mostakberin (die Unterdrücker). Zu Letz
ab Mai 1977 Schriftsteller und Rechtsanwälte die «Carter-Brise» nutz
teren gehörten nicht nur der Schah und die reiche Elite, sondern auch
ten, um mit Manifesten und offenen Briefen Bürgerrechte einzu
die Imperialisten aus West und Ost:
fordern. Aber diese Art «respektabler» Aufrufe war nichts Neues;
zwei feindliche Klassen gespalten: die
mostazafan
bedrohlich wurde die Lage für den Schah durch zwei andere Äuße Der Schah hat den Ausländern alle unsere Bodenschätze und die lebens wichtigen Belange des Volkes überlassen. Amerika hat er Öl gegeben, der Sowjetunion Gas, Großbritannien und anderen Ländern Weideland, Wälder und einen Teil des Öls.( . . . ) Das imperialistische System hat die Kontrolle über die Armee, das Bildungswesen und die Wirtschaft unseres Landes
rungen des Protestes im Sommer und Herbst 1977Zu physischen Konfrontationen mit dem Regime kam es zum ersten Mal in den Armenvierteln am Rande Teherans, als die Stadt verwaltung im Sommer Bulldozer, Polizisten und SAVAK-Agenten
übernommen und verwehrt unserem Volk die Möglichkeit der Entwick
schickte, um die Behausungen der Bewohner zu räumen. Das eska
lung.'7
lierte in Straßenschlachten, bei denen mitunter so ooo Menschen gegen die Vertreter der Behörden kämpften. Im Herbst folgten noch
1977-1978: Ein Wirbelsturm
von Protesten
mindestens dreizehn Angriffe auf die Armenviertel, bei denen es auch Tote gab.'8
1977 erwartete niemand, dass große Proteste ausbrechen, geschweige
Die zweite M anifestation des Protestes waren Sabotageakte und
denn, dass diese Aktionen das Schah-Regime stürzen würden. Die
Streiks in der Industrie. Im Juli wurde zum Beispiel in der Niederlas
Opposition war schwach und uneinig, Armee und SAVAK schienen
sung von General Motors in Teheran Feuer gelegt; daraufhin wurden
unbesiegbar. Doch unter der Oberfläche hatten sich Wut und Enttäu
300 Arbeiter verhaftet. In den folgenden drei Monaten kam es in etwa
schung angestaut; eine explosive Situation war entstanden. Es lässt
130 Betrieben zu ähnlichen Brandstiftungen. Im gleichen Zeitraum
84
1977-1978: Ein
s. Die unerwartete Revolution
Wirbelsturm von Protesten
85
fanden mehrere Streiks gegen Lohnsenkungen und die Streichung
Ein auffalliges Merkmal dieser Proteste war, dass die Teilnehmer
von Zulagen statt. Die Wirtschaftskrise brachte die iranischen Arbei
kaum Gewalt gegen Personen anwandten. «Vor allem die Banken
ter gegen die Regierung in Stellung, aber es sollte noch ein Jahr dau
wurden zur Zielscheibe der Proteste, aber seltsamerweise wurden sie
ern, bis eine Streikwelle dem Regime den Todesstoß versetzte. In der
nicht geplündert. ( . . . ) Alles in allem kann man, abgesehen vom pro
Zwischenzeit spielten die Intellektuellen und die Geistlichen die
vozierenden Auftreten des SAVAK, nicht davon sprechen, dass es in
sichtbarste Rolle.
den vergangenen Wochen zu
Der kurz zuvor gegründete Schriftstellerverband veranstaltete im
gekommen ist», berichtete die niederländische Zeitung NRC Han
Oktober 1977 gemeinsam mit dem Goethe-Institut eine Reihe von
delsblad im April r978. '9 Obwohl der Schah die Demonstrationen mit
Lyrik-Abenden, an denen zahlreiche bekannte Intellektuelle die Dik
brutaler Gewalt niederschlagen ließ, verhielten sich die westlichen
tatur verspotteten. Am zehnten Abend führte die Polizei eine Razzia
Regierungen so, als sei nichts geschehen. Exemplarisch war der Be
durch. Die Besucher, es waren mehrere Tausend, rannten hinaus, und
schluss der niederländischen Regierung, die Lieferung von Kriegs
auf den Straßen waren zum ersten Mal seit Jahren Parolen gegen den
schiffen an den Schah zu genehmigen. Der Schah befinde sich schließ
Schah zu hören. Ein Student wurde getötet, und Dutzende wurden
lich ((mit niemandem im Kriegszustand», ließ die niederländische
verhaftet.
Regierung verlauten.20
Mit dem Erscheinen der Ulama auf dem Kampfschauplatz traten
Im Sommer 1978 schwächten sich die Proteste ab, unter anderem
die Proteste in eine neue Phase ein. Im Januar 1978 leistete sich der
weil der Schah die Repressionen gegen die säkularen Kräfte steigerte
Schah einen groben Fehler; er erteilte einer mit dem Regime liierten
und den Ulama und den Bazaris entgegenzutreten versuchte. Um die
Zeitung den Auftrag oder zumindest die Zustimmung, einen Artikel
Inflation einzudämmen, beschnitt die Regierung die Ausgaben der
zu veröftentlichen, der Chomeini in den Dreck zog. Er spioniere für
öffentlichen Hand drastisch und führte damit eine leichte Rezes
Großbritannien, und er verfasse außerdem erotische Gedichte. Zu
sion herbei. Die Regierung strich die Zulagen für alle Beamten, und
dem sei er nicht einmal iranischer Abstammung. Qom, sozusagen der
die Löhne sanken, im Bausektor sogar um 30 Prozent. Die Zahl der
Vatikan der iranischen Schiiten, reagierte mit äußerster Empörung.
Arbeitslosen in den Städten schoss von fast null auf 400 ooo, und der
Die Seminare und der Basar wurden geschlossen, und Tausende de
Schah verschärfte seine Ausfalle gegen die Arbeiter: «Die, die nicht
monstrierten mit Parolen wie <<Wir wollen unsere Verfassung» und
arbeiten, werden wir wie Mäuse bei den Schwänzen packen und
«Chomeini soll zurückkehren».
hinauswerfen.))2'
Während der Scharmützel mit den Sicherheitskräften kam es zu
In der ersten Hälfte des Jahres 1978 hatte die religiöse Opposition
Dutzenden Toten und Verletzten. Chomeini und andere bedeutende
das Netz der Moscheen und den Basar benutzt, um die Ulama, die
Ulama riefen die Bevölkerung dazu auf, der «Märtyrer» von Qom
Theologiestudenten und die Bazaris zu mobilisieren. Es kam zu Mas
nach der schiitischen Tradition am vierzigsten Tag ihres Todes zu
sendemonstrationen, doch sie bildeten keine ernsthafte Bedrohung
gedenken. Bei den Gedenkveranstaltungen gab es wieder viele Tote,
für das Regime. In der zweiten Jahreshälfte 1978 begannen sich die
sodass vierzig Tage später erneut Gedenkfeiern stattfanden. So ent
Kräfteverhältnisse gravierend zu verändern, denn die Arbeitneh
stand im Abstand von vierzig Tagen ein Zyklus von Protesten, die den
mer vor allem in der strategisch wichtigen Ölindustrie verstärkten
Ulama wegen des religiösen Charakters die Gelegenheit verschafften,
durch Streiks den Druck auf den Schah.
sich an die Spitze der aufkommenden Bewegung zu manövrieren.
Gegen Ende des Sommers, als die Straßenproteste wieder in Gang
86
Februar 1979: «Der Frühling der Freiheit»
s. Die unerwartete Revolution
87
kamen, geschahen zwei Katastrophen, die die Temperatur des Lan
Bevölkerung nicht mehr für ihn, sondern forderte schlicht seinen
des auf den Siedepunkt brachten. Im August kamen 400 Frauen und
Abgang.
Kinder durch Brandstiftung in einem Kino ums Leben. Man gab dem
Ende r978 erreichten die Proteste ihren Höhepunkt. Am n. De
Schah die Schuld; Tausende gingen mit dem Ruf ;
zember waren fast zwei Millionen Menschen auf den Straßen Tehe
Schah» auf die Straße. Um die Gemüter zu besch�ichtigen, ersetzte
rans und skandierten Parolen gegen den Schah und für Chomeini.
der Schah den Premierminister, doch das nützte nichts. Das zweite
Eine neue und noch größere Welle von Generalstreiks legte nun das
Blutbad fand statt, als am 8. September in Teheran Elitetruppen das
gesamte Land lahm. Die Guerillaorganisationen steigerten die Zahl
Feuer auf Tausende Demonstranten eröffneten. Wegen der großen
ihrer bewaffneten Aktionen, und Soldaten weigerten sich, noch län
Zahl der Opfer ging dieser Tag als «Schwarzer Freitag» in die Ge
ger auf Demonstranten zu schießen. Der Schah blickte auf die Ame
schichte ein. Zwischen dem Schah und der Bevölkerung floss nun ein
rikaner, wartete auf grünes Licht, alle Bremsen zu lösen, doch die
Strom aus Blut; kein Zugeständnis konnte die Ereignisse ungesche
wollten sich nicht die Finger verbrennen, zumal ein Massengemetzel
hen machen.
den Lauf der Dinge wahrscheinlich auch nicht mehr aufgehalten
Arbeitnehmer in der Ölindustrie reagierten mit einem ausgedehn
hätte.
ten Streik auf die abendliche Ausgangssperre, die nach dem Schwar zen Freitag eingeführt worden war, und forderten Lohnerhöhun gen. Wenn die Ölhähne geschlossen waren, hatte der Schah keinen
Februar 1979: «Der Frühling der Freiheit»
Handlungsspielraum mehr. Diesem Beispiel folgten andere Wirt
Anfang 1979 wurde dem Schah der Boden unter den Füßen zu heiß,
schaftszweige, sodass im Lauf des Monats Oktober eine Streikwelle
und er flog am 16. Januar nach Ägypten. Zwei Wochen später landete
fast das ganze Land lähmte. Die Streikenden stellten nicht nur wirt
Chomeini mit einem Flugzeug voller Journalisten in Teheran und er
schaftliche, sondern auch politische Forderungen wie die nach der
nannte Bazargan, den Führer der liberal-religiösen «
Freilassung politischer Gefangener.
heitsbewegung>>, zum Premierminister einer Übergangsregierung.
Weil die Ölproduktion zum Erliegen kam, geriet der Schah in
«Das Ungeheuer ist weg, der Engel ist gekommen», sangen ausgelas
Panik und schwankte zwischen Zugeständnissen und Repression.
sene Menschenmassen auf der Straße, und im ganzen Land herrschte
Einerseits ersetzte er ein weiteres Mal den Premierminister und ließ
Feierstimmung. Chomeinis Ansehen nahm mythische Formen an.
Hunderte politische Gefangene frei. Andererseits forderte er von der
Irgendwann beschworen Tausende von Menschen, das Gesicht des
irakiseben Regierung, Chomeini zu deportieren, der daraufhin nach
Ayatollahs sei auf dem Mond zu sehen. Er bekam den Titel Imam,
Paris emigrierte. Dass sich Chomeini weigerte, mit dem Schah und
den die Schiiten bis dahin nur für die zwölf heiligen Männer benutzt
den Befürwortern einer konstitutionellen Monarchie Kompromisse
hatten, die nach dem Tod des Propheten der schiitischen Gemein
zu schließen, steigerte seine Popularität noch mehr.
schaft gedient hatten. Doch auch wenn Chomeinis Macht überirdi
Während die Streiks weitergingen, kam es von neuem zu Mas
sche Dimensionen zu besitzen schien, so musste er zunächst doch ein
sendemonstrationen im Rhythmus von vierzig Tagen. Im Novem
weltliches Problem lösen. Die Regierung des Schahs saß nämlich
ber richtete sich der Schah über das Fernsehen an die Bevölkerung,
noch im Sattel, und die Armee hielt dem Monarchen die Treue.
um ihr mitzuteilen, dass er «die Botschaft ihrer Revolution gehört»
Dieses Problem wurde nicht von Chomeini selbst, sondern von
habe - eine Geste, die viel zu spät kam. Überdies interessierte sich die
den linken Guerillaorganisationen und der Tudeh-Partei gelöst - ein
88
5· Die unerwartete
1979-1983: Die Konterrevolution
Revolution
Zeichen, dass das Geschehen noch immer außerhalb seiner Kontrolle ablief. Die Fedajin und die Modschahedin-e Chalq kamen am 9. Feb ruar einer Gruppe meuternder Kadetten auf dem Luftstützpunkt
89
geführten Gewerkschaften durch die unabhängigen Arbeiterschuras zu er setzen � Schuras, die von den Arbeitern j edes Betriebes zur Verteidigung ihrer wirtschaftlichen und politischen Interessen gebildet wurden.2 2
Teheran zu Hilfe. Sie verteilten die erbeuteten Waffen an Studenten, die in der ganzen Stadt Barrikaden errichteten und Polizeistationen angriffen. Am n. Februar stürmten die Guerillaorganisationen, Mit
1979-1983: Die Konterrevolution
glieder der Tudeh und meuternde Soldaten die Kasernen der kaiserli
Während Stadtteilkomitees und Schuras im ganzen Land wie Pilze
chen Garde und das berüchtigte Evin-Gefangnis. Das Ende der Mon
aus dem Boden schossen, plante Chomeini bereits, wie er sie aus dem
archie und der Beginn einer neuen Ära wurde eingeläutet, als um
Weg räumen oder vollständig unter Kontrolle bringen könnte. Er
sechs Uhr abends der Nachrichtensprecher von Radio Teheran er
war nicht bereit, eine liberale Demokratie zu dulden, geschweige
klärte: «Dies ist die Stimme von Radio Teheran, die Stimme des wah
denn eine Gesellschaftsform, die der Bevölkerung direkte Kontrolle
ren Iran, die Stimme der Revolution.»
über die Wirtschaft und die Tagespolitik gestattete. Die Revolution
Mitten im Winter 1979 war der «Frühling der Freiheit» angebro
sah er als Resultat der Opfer, die die Ulama gebracht hatten, und
chen. Zeitungen und Bücher, die vorher nicht durch die Zensur des
ihnen dachte er nun die Aufgabe zu, einen islamischen Staat zu
SAVAK gekommen waren, wurden nun in großen Auflagen gedruckt.
gründen. In Wirklichkeit hatte natürlich eine breite Koalition aus
Universitäten, Betriebe und die Straße wurden zu Foren, wojeder mit
städtischen Armen, Bazaris, Geistlichen, Angehörigen der neuen
jedem diskutierte. Marginalisierte Gruppen wie Frauen und ethni
Mittelschicht, Guerrillaorganisationen, der Arbeiterbewegung und
sche Minderheiten organisierten sich und forderten gleiche Rechte.
der politischen Parteien den S chah gestürzt. Chomeini aber war es
An den Arbeitsstätten ging der Kampf um höhere Löhne und bessere
gelungen, sich an die Spitze dieser Koalition zu stellen. Wie war das
Arbeitsbedingungen weiter. Im ganzen Land entwickelten sich die
möglich gewesen?
Streikkomitees, die sich in den letzten Monaten des Jahres 1978 gebil
Seit dem Moment, als die Proteste 1977 ausbrachen, taktierte Cho
det hatten, zu Schuras (Räten). Die Schuras wurden von den Arbeitern
meini als charismatischer Führer mit großem Geschickzwischen den
selbst gewählt und sollten deren Interessen gegenüber dem Manage
verschiedenen Kräften und spielte sie gegeneinander aus, bis er sie
ment und dem Staat verteidigen. In einigen Betrieben, aus denen das
1983 alle kaltgestellt hatte. Dabei waren mehrere Faktoren im Spiel.
Management geflohen war, übernahmen die Beschäftigten die Lei
Erstens blieben die Chomeinisten bis Anfang 1979 bewusst vage mit
tung der Produktion. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten gründeten Ar
Aussagen über ihr politisches Programm. Chomeini erklärte, dass die
beitnehmer eine unabhängige Gewerkschaft, die am Tag der Arbeit
Ulama in einer islamischen Republik keine unmittelbare Rolle in der
folgende Erklärung veröffentlichte:
Politik erhalten würden und dass er selbst nach Qom gehen wolle, was er zu Anfang auch wahr machte. Zweitens gelang es ihm, mit sei
Wir, die Arbeiter des Iran, haben durch unsere Streiks, Besetzungen und De monstrationen das Regime des Schahs gestürzt und während dieser Zeit Ar beitslosigkeit, Armut und Hunger erduldet. Viele von uns wurden im Kampf
ner Rhetorik über «den Islam der Slumbewohner» die Unterschichten von der Linken fernzuhalten und hinter sich zu scharen. Drittens
getötet. Wir haben dies alles getan, um einen Iran frei von Unterdrückung und
konnten sich die Chomeinisten auf ein Netz von Moscheen und reli
Ausbeutung zu schaffen. Wir haben die Revolution gemacht, um der Arbeits
giösen Einrichtungen stützen, um die Massen zu mobilisieren, wäh
losigkeit und dem Wohnungsmangel ein Ende
rend die säkularen Kräfte nach den Jahrzehnten der Unterdrückung
zu
setzen, um die vom SAVAK
5 · Die
90
1979-1983: Die Konterrevolution
unerwartete Revolution
und auch aufgrund strategischer Fehler nur schwach organisiert waren.
91
rum bildeten, aufzulösen oder in ((islamische Räte)) umzuwandeln. Das war nicht besonders schwierig, denn es existierte kein politisches
Viertens hatten die beiden wichtigsten Oppositionsparteien, die
Netzwerk, das die Schuras landesweit koordinierte, um diesen An
Nationale Front und die Tudeh, keine Ambitionen, in der Frage der
griff abzuwehren. Ein solches Netzwerk hätten die linken Parteien
Richtung und Führung der Bewegung mit Chomeini in Konkurrenz
aufbauen können, doch die hatten sich in der Zeit zuvor hauptsäch
zu treten. Die liberale Nationale Front glaubte nicht, dass die Ulama
lich auf die «bewaffnete Propaganda)), die <<progressive Geistlichkeit»>
imstande seien, selbst Regierungsverantwortung zu übernehmen,
und die «liberale Bourgeoisie>) ausgerichtet.
und unterstützte Chomeini aus Angst vor radikalen sozialen Verän
Nachdem die Schuras und die Streikbewegung Ende 1979 zerschla
derungen, falls die Linke zu großen Einfluss bekommen sollte. Die
gen waren, konnte Chomeini die anderen Hindernisse nacheinander
stalinistische Tudeh-Partei glaubte nicht an die Möglichkeit einer
aus dem Weg räumen. Die Organisationen, die bewaffneten Wider
sozialistischen Veränderung im Iran und war der Ansicht, dass die
stand hätten leisten können, die Fedayin, die Modschahedin und die
Revolution nur zu einer liberal-demokratischen Republik führen
kurdischen Rebellen, wurden von den neu gegründeten Pasdaran, der
könne. Sie akzeptierte deshalb die führende Rolle Chomeinis als Re
Revolutionsgarde, mit harter Hand bekämpft. Vor allem Frauen lit
präsentant der «progressiven Bourgeoisie» gegen den reaktionären
ten schwer unter den Repressionen. Paradoxerweise hatten Frauen
Schah. Und schließlich spielte der erstaunliche Mangel an Koopera
noch nie zuvor in so großer Zahl am politischen und gesellschaftlichen
tionsbereitschaft der nicht-islamischen Opposition eine Rolle für die
Leben teilgenommen wie in der Zeit der Revolution. Unter Cho
letztendliche Niederlage.
meini aber wurden ihre Rechte wieder beschnitten. Im Sommer 1980
Die Chomeinisten waren somit gut aufgestellt, um ihre Pläne für
wurde das Tragen des Schleiers in staatlichen Gebäuden und später
einen islamischen Staat umzusetzen. Doch vorher mussten sie noch
auch in der Öffentlichkeit zur Pflicht. Nach der Frauenbewegung wa
alles, was außerhalb ihrer Kontrolle geschah, unter ihre H errschaft
ren die Bewegungen an der Reihe, die in den Provinzen Kurdistan,
bringen oder einfach aus dem Weg räumen. So begann eine Phase der
Aserbaidschan und Chusistan mehr Autonomie anstrebten.
Konterrevolution gegen die demokratischen Bewegungen und Orga
Während Chomeini mit seinen politischen Konkurrenten abrech
nisationen, die sich an der Basis der Gesellschaft gebildet hatten. Wie
nete, errichtete er in raschem Tempo eine eigene Machtbasis, indem
notwendig dieser Schritt war, hatte Chomeini erkannt, als auch nach
er immer mehr Bereiche des Staatsapparates unter seine Kontrolle
dem Sturz des Schahs die Proteste in den Armenvierteln und die
brachte. Am
Streiks in einigen Betrieben weitergingen. Am
r. Mai, dem Tag der
kerung konnte nur für oder gegen die Errichtung einer «Islamischen
Arbeit, demonstrierten eineinhalb Millionen Arbeiter und Arbeits
Republik» stimmen. Die übergroße Mehrheit stimmte dafür, da eine
lose in Teheran. Sie trugen Transparente, auf denen unter anderem
Ablehnung auf die Fortsetzung der Monarchie hinausgelaufen wäre.
stand: «Verstaatlichung aller Betriebe», «Es gibt keine netten Kapita
Außerdem beschrieben die Chomeinisten die Islamische Republik zu
listen>>, «Ein Hoch auf freie Gewerkschaften und echte Schuras» und
Anfang als ein weitgehend demokratisches System und zögerten den
«Gleicher Lohn für Männer und Frauen)) .23
Entwurf einer Verfassung hinaus.
Chomeini griff zu Repression und nutzte außerdem den Einfluss
30. März 1979 hielt er ein Referendum ab. Die Bevöl
Die Abfassung des Textes und das Referendum über die Verfassung
seiner Mitstreiter in den Betrieben, um die Streikbewegung zu bre
im Dezember
chen und die vielen hundert Schuras, die ein alternatives Machtzent-
Prinzip der
1979 verliefen dann sehr undemokratisch. So kam das
welayat-e faqih
zustande. Der faqih, der Oberste Führer,
92
5· Die unerwartete
Revolution
sollte als der höchste islamische Rechtsgelehrte an der Spitze des neuen politischen Systems stehen (siehe Anhang S. 206). Chomeini wurde zumfaqih auf Lebenszeit ernannt. Derfaqih wird nach der Ver fassung vom Expertenrat gewählt, dessen Mitglieder durch allge meine Wahlen bestimmt werden. Außerdem gibt es einen Wächter rat, der aus sechs geistlichen und sechs weltlichen Rechtsgelehrten besteht. Der faqih beruft die sechs Geistlichen, und das Parlament wählt sechsJuristen, deren Einsetzung der- vomfaqih ernannte- Lei ter derJustiz zustimmen muss. Der Wächterrat überprüft, ob die Ge setze des Parlaments mit islamischem Recht vereinbar sind. Neben diesen theokratischen Strukturen wurden auch demokratische Ele mente in die Verfassung aufgenommen. Eine der zentralen Parolen der Revolution lautete ja «Freiheit». Die Verfassung sprach von Pres sefreiheit und gleichen Bürgerrechten unabhängig von Rasse, Ethni zität und Geschlecht. Der Wille des Volkes wurde durch Wahlen für das Parlament (madschles), die Regierung und den Präsidenten an erkannt. Die Kandidaten mussten jedoch vom Wächterrat zugelas sen werden . Außer diesen politischen Elementen enthielt die neue Verfassung auch einige soziale und ökonomische Artikel, die den populistischen Charakter der Chomeinisten unterstrichen: Renten, Versorgung mit Wohnraum, soziale Sicherheit und Bildung, Bekämp fung von Armut und Arbeitslosigkeit; alle wichtigen Unternehmen müssen sich im Besitz des Staates befinden. Ende des Jahres I979 war es den Chomeinisten gelungen, die Macht größtenteils in ihren Händen zu konzentrieren. Nachdem sie zu nächst mit der Interimsregierung des religiös-liberalen Bazargan zu sammengearbeitet hatten, um die Schuras und die linke Opposition auszuschalten, wandten sie sich nun gegen ihn und erzwangen im November seinen Rücktritt. Seine gemäßigte Haltung war jetzt ein Hindernis für die Wendung, die Chomeini vollziehen wollte, um die Kräfteverhältnisse endgültig zu seinem Vorteil zu verändern. Eine ausgezeichnete Gelegenheit dazu ergab sich, als am 4. No vember I979 islamistische Studenten, die sich «Befolger der Linie des Imam Chomeini» nannten, die amerikanische Botschaft stürmten
1979-1983: Die Konterrevolution
93
und 66 Diplomaten als Geiseln nahmen. Sie forderten von den USA die Auslieferung des Schahs, damit er für seine Verbrechen vor Ge richt gestellt werden konnte, eine Entschuldigung für das dem Iran angetane Unrecht und eine Freigabe der gesperrten Bankkonten. Wundersamerweise gelang es den Studenten, die Dokumente, die das Botschaftspersonal in den Reißwolf geworfen hatte, zu rekons truieren und Spionageaktivitäten zu enthüllen. Die Botschaft galt fortan als «Spionagenest». Als die Verhandlungen mit der iranischen Regierung ergebnislos blieben, stimmte Präsident Carter einem Geheimplan zur Befreiung der Geiseln zu. Was die Umsetzung betraf, war dieser Plan in etwa so realistisch wie der Plot eines James-Bond-Films. Von einem Luftstütz punkt in Ägypten aus sollten Flugzeuge mit speziell trainierten ame rikanischen Kommandos in den Iran fliegen. In der Nähe Teherans sollten sich die Amerikaner ein paar hundert iranischen Informanten anschließen, die bereits mit Trucks bereitstanden, um von dort aus zur Botschaft zu fahren. Nach der Befreiung sollten die Geiseln von Helikoptern abgeholt werden. Die Rettungsoperation endete im Ap ril 1980 in einem Fiasko, als die amerikanischen Helikopter in einem Sandsturm havarierten. Die Geiselnahme dauerte schließlich 444 Tage. Nachdem der Schah im Juli 1980 an Krebs gestorben war, nahmen die Amerikaner erneut Verhandlungen auf und akzeptierten diesmal die meisten Bedingun gen der iranischen Regierung. Im Januar 1981 konnten die Geiseln in die USA ausreisen. Durch die Geiselnahme des amerikanischen Botschaftspersonals war es den Chomeinisten gelungen, mit ihrem Antiimperialismus die linken Kräfte zu übertrumpfen und die gemäßigte Übergangsregie rung aufs Abstellgleis zu schieben. Die Geiselnahme lenkte auch die Aufmerksamkeit von der umstrittenen Verfassung ab, die am r. De zember 1979 durch ein Referendum angenommen wurde. Außerdem enthüllte die misslungene militärische Rettungsaktion, dass die irani sche Armee von amerikanischen Agenten infiltriert war, und die Cho meinisten profitierten von der Angst vor einem von den USA gelenk-
94
S· Die unerwartete
Revolution
1979-1983: Die Konterrevolution
95
ten Putsch wie im jahr 1953. Sie nutzten diesen für sie günstigen Zeit
denen viele hingerichtet wurden. Die Krone des Schahs wurde gegen
raum, um gemäßigte Ulama zu isolieren und die Gegenkräfte, vor
den Turban des Ayatollahs eingetauscht, und auf den « Frühling der
allem die Fedayin und die Modschahedin-e Chalq, die während der
Freiheit)) folgte ein langer Winter von Krieg, wirtschaftlichem Nieder
Revolution stark gewachsen waren, gezielt auszuschalten.
gang und Repression. In den achtziger Jahren überlebte die Islami
Es gab noch eine Machtbastion, die Chomeini nicht in der Hand hatte. Im Januar 1980 gewann Bani Sadr, ein respektierter liberal-reli giöser Politiker, die Präsidentschaftswahlen. Die Chomeinisten hatten ein halbes Jahr zuvor ihre Kräfte in der Islamisch-Republikanischen Partei (IRP) gebündelt, doch ihr Kandidat erzielte ein beschämend niedriges Ergebnis. Mit vorausschauendem Blick hatte Chomeini nach der Revolution den Islamischen Revolutionsrat gegründet, der als Parallelregierung fungierte. Damit untergrub er die Position von Bani Sadr, um ihn schließlich zu stürzen. Zuvor aber hatte Bani Sadr sich noch durch die Unterstützung von Chomeinis «Kulturrevolu tion» verdient gemacht, die die linken Oppositionellen an den Univer sitäten aus dem Weg räumen sollte. Chomeini nutzte die Chance, mit Bani Sadr abzurechnen, als im September 1980 Saddam Husseirr den Iran angriff. Als Oberbefehls haber der Streitkräfte gab er ihm die Schuld an dem ungünstigen Ver lauf des Krieges, und als er auch noch Chomeini kritisierte, fiel er in Ungnade und floh im Juli 1981 aus dem Land. Die Modschahedin-e Chalq, die auch mit Chomeini in Konflikt geraten waren, stellten sich auf Bani Sadrs Seite und riefen zum bewaffueten Kampf auf. Sie ver übten 1981 zwei Bombenanschläge, bei denen Dutzende Führer der Islamisch-Republikanischen Partei umkamen. Sie waren jedoch kein ernstzunehmender Gegner für die Militärmacht der Islamischen Re publik und ließen sich später im Irak nieder, wo sie militärische und finanzielle Unterstützung von Saddam Husseirr erhielten und zu einer Sekte degenerierten. Vor allem durch diesen Schritt, den die übergroße Mehrheit der Iraner als Verrat ansah, verloren die Mo dschahedin-e Chalq das Ansehen, das sie sich erworben hatten. Die Tudeh-Partei und der größte Teil der Fedayin unterstützten Chomeini weiterhin, bis auch sie 1983 verboten wurden. Die Gefäng nisse füllten sich weiter mit Tausenden neuer linker Aktivisten, von
sche Republik nicht nur den Krieg mit dem Irak und die Wirtschafts krise, sondern konsolidierte auch ihre Macht.
6. Chomeini: Unter dem Mantel des Ayatollahs
97
Kanarienvögel am Bratspieß
6. C homei n i : U nter dem Ma nte l des
Ayato l l a h s (1979-1 989)
Auf Feuer von Lilien und Jasmin. Es ist eine seltsame Zeit, du Liebliche.
Satan sitzt Siegestrunken Zum Festschmaus bei unserem TrauermahL Gott muß man im hintersten Zimmerdes Hauses verbergen.
IN DIESER SACKGASSE Dieses Gedicht von Ahmad Schamlu1 aus dem Juli I979 war ein Vor Sie schnüffeln an deinem Mund, Ob du - Gott bewahre! - etwa gesagt hast, ich liebe dich. Sie schnüffeln an deinem Herzen. Es ist eine seltsame Zeit, du Liebliche.
zeichen für das, was den Iranern in den achtziger Jahren bevorstand. Die Revolution hatte eine Tür zu unbegrenzten Möglichkeiten ge öffuet, doch dadurch, dass Chomeini an die Macht kam, wandelte
Und die Liebe
sich der Iran in eine Sackgasse. Aus dem Frühling der Freiheit wurde
Geißeln sie an Straßensperren
der Winter der Angst. Angst vor den Pasdaran, die an Straßensperren
Mit Peitschenhieben.
Autos stoppten, um nach Waffen, Musik und Alkohol zu suchen. Angst, seine Meinung zu äußern. Angst, zu erfahren, dass der Sohn
Die Liebe muß man im hintersten Zimmer des Hauses verbergen.
In dieser winklig-krummen Sackgasse der Kälte Verbrennen sie
oder die Tochter exekutiert worden war. Angst, wegen «unmora lischen> Kleidung verhaftet zu werden. Und dann war da auch noch der Krieg mit dem Irak, der zwischen r980 und r9 88 jeden Tag Tod und Verderben brachte. Ein Regime, das die Freiheit in Ketten gelegt
Im Feuer Lieder und Gedichte.
hatte, und ein Krieg, der nicht enden wollte - das waren für viele Ira ner die achtziger Jahre.
Bring dich nicht durch Denken in Gefahr. Es ist eine seltsame Zeit, du Liebliche. Jener, der an deine Tür klopft zur Nachtzeit, Ist gekommen, deine Lampe zu zerschlagen.
Das Licht muß man im hintersten Zimmer des Hauses verbergen.
Kennzeichnend für diesen Zeitraum waren auch die langen Schlan gen vor den Geschäften. Es mangelte an allem, doch die Regierung hatte ein Rationierungssystem für die notwendigsten Produkte ein geführt. Obwohl die Wirtschaft in Scherben lag, boten die sozialen Programme der Regierung den Armen einigen Schutz. Viele erwarteten, dass die Islamische Republik den Krieg und die
Die da sind Schlächter
Wirtschaftskrise nicht überleben würde; wenige glaubten, die Mul
An verrammelten Durchfahrten
lahs seien fähig, einen modernen Staat zu lenken. Doch der Staatskle
Mit blutigen Beilen und Blöcken. Es ist eine seltsame Zeit, du Liebliche.
Sie schneiden das Lächeln von den Lippen Und die Melodien aus dem Mund.
rus überlebte nicht nur die schwierigen achtziger Jahre, sondern kon solidierte auch seine Macht. Unter Chomeini entwickelte sich der Staatsapparat zu einer Machtstruktur, von der die Pahlavi nur hatten träumen können. Aber anders als in jener Zeit trieb der Staat seine
Die Leidenschaft muß man im hintersten Zimmer des Hauses verbergen.
Wurzeln viel tiefer in die Gesellschaft hinein. Die Islamische Republik
99
6. Chomeini: Unter dem Mantel des Ayatollahs
Fundamentalismus oder Populismus?
absorbierte in gewisser Weise einen großen Teil der Gesellschaft, in
krieg in vielen Entwicklungsländern aufkam. Populismus wird hier
ternalisierte damit jedoch auch deren Gegensätze. Gegensätze, die in
nicht in der gewöhnlichen Bedeutung von Demagogie verstanden,
den achtziger Jahren als Konflikt zwischen einer rechten und einer
sondern als politische Bewegung der Mittelschicht, die versucht, die
linken Fraktion innerhalb der Machtelite in Erscheinung traten.
Unterschichten mit Verbalattacken gegen die Machtelite und Ver
98
sprechungen sozialer Gerechtigkeit zu mobilisieren.4
Fundamentalismus oder Populismus?
Die Bazaris hatten Chomeini durch ihr Netzwerk und auch finan ziell unterstützt. Die Mullahs popularisierten seine Ideologie, um der
Die iranische Revolution führte zu einer weltweiten Flut von Publi
gesamten Bevölkerung die Richtung vorzugeben. Vertreter der mo
kationen und politischen Diskussionen über die Ideologie und die
dernen Mittelschicht wie Intellektuelle, Ingenieure, Anwälte, Ärzte,
Praxis Chomeinis und seiner Islamischen Republik. <
Journalisten, Schriftsteller, leitende Beamte und Manager bildeten die
tisch» war das Etikett, das Chomeinis Islam verpasst wurde. Dieser
Kader, die die Islamische Republik aufbauten. Wie in anderen Ent
Begriff suggeriert eine orthodoxe Haltung, eine buchstabengetreue
wicklungsländern hatten sich die Angehörigen dieser Gesellschafts
Auslegung des Koran, eine strikte Befolgung traditioneller Regeln,
schicht vor der Revolution maßlos über die Rückständigkeit ihres
eine Rückkehr zu den Traditionen aus der Zeit des Propheten und
Landes geärgert. Sie träumten von einer schnellen Entwicklung und
eine Ablehnung aller Erscheinungen der Moderne. Doch legt man
einer Teilhabe am globalen Fortschritt ohne wirtschaftliche oder
diese Kriterien zugrunde, kommen Chomeini und seine Anhänger
kulturelle Dominanz anderer Staaten. Zudem hatten sie ein direktes
nicht einmal in die Nähe des «Fundamentalismus)>. Chomeini war der
materielles Interesse an diesem Projekt. Vor der Revolution hatte der
Ansicht, dass Laien sich nicht auf den wortgetreuen Text des Koran
Ausbau des Bildungssystems eine große Gruppe von Universitäts
stützen könnten; nur die gelehrtesten Ulama seien in der Lage, den
absolventen hervorgebracht, die keine (angemessene) Arbeit finden
Koran zu interpretieren. Manche Regeln, die er einführte, wie die
konnten. Der Chorneinismus eröffnete vielen Mitgliedern der mo
Pflicht zum Tragen des Kopftuchs, stehen nirgendwo im Koran. Raf
dernen Mittelschicht die Möglichkeit, persönliches Vorwärtskommen
sandschani, einer seiner wichtigsten Anhänger, erklärte nach der
mit einer religiösen Haltung zu verbinden. Diesen Leuten bot sich die
Revolution: «Wo in der islamischen Geschichte findet man ein Par
Chance, auf der gesellschaftlichen Leiter aufzusteigen, als direkt nach
lament, einen Präsidenten, einen Premierminister und Minister? Fak
der Revolution
tisch hat es achtzig Prozent von dem, was wir nun tun, in der Ge
eine Position in der wachsenden Bürokratie, die von zwanzig Minis
schichte des Islam noch nie zuvor gegeben.))2 Auch Chomeini war
terien mit 304 ooo Beamten im Jahr 1979 auf sechsundzwanzig Minis
kein Traditionalist. Er befürwortete neue Technologien, Industrien
terien mit
und eine «moderne Kultur». Einem seiner Anhänger zufolge mussten
130 ooo Manager das Land verließen.s Andere fanden
850 ooo Beamten im Jahr r982 anwuchs.6
Auf ihrem Weg an die Macht hatten die Chomeinisten gegen so
Traditionalisten als reaktionär betrachtet werden, ((da sie uns in das
ziale Ungerechtigkeit und ((kapitalistische Blutsauger» gewettert, um
Zeitalter des Esels zurückbringen wollen. Was wir brauchen, ist nicht
die Unterschichten zu mobilisieren. Um die Islamische Republik nach
die Anbetung der Vergangenheit, sondern eine wirkliche Renais
der Revolution zu konsolidieren und zu legitimieren, versuchten sie,
sance.>:>-3
diese Gruppen mit einer populistischen Ökonomie an sich zu binden.
Viel mehr als mit «Fundamentalismus)) hat Chorneinismus mit
Eine der ersten Maßnahmen Chomeinis war die Gründung der Stif
Populismus gemeinsam, jener Politik, die nach dem Zweiten Welt-
tung der Unterdrückten (Bonyad-e Mostazafan), die einen Teil der kon-
101
6. Chomeini: Unter dem Mantel des Ayatollahs
Der längste Krieg
fiszierten Besitzungen des Schahs erhielt, um damit den Armen zu
Chaos, in dem sich der Iran nach der Revolution befand, als hervorra
helfen. Diese Stiftung erhielt außerdem eine große Zahl verstaatlich
gende Gelegenheit, den Grenzkonflikt zum Vorwand zu nehmen, um
ter Betriebe, die Schätzungen zufolge 700 ooo Menschen Arbeit bo
die Kräftebalance zwischen den beiden Staaten drastisch zu verän
ten.? Neben der Stiftung der Unterdrückten wurden weitere
bonyads
dern. Er befürchtete, dass die Umwälzung im Iran die Kurden und
gegründet, die wie ein Staat im Staat funktionierten. Ende der acht
Schiiten im Irak auf ähnliche Ideen bringen könnte, und er wollte die
100
ziger Jahre empfingen 12,4 Millionen Menschen in irgendeiner Form
Islamische Republik schwächen. Außerdem ging er davon aus, dass
Hilfe von solchen Stiftungen.8 Viele junge Leute, vor allem aus länd
kein anderer Staat dem Iran zu Hilfe kommen und dass er den Krieg
lichen Gegenden und den städtischen Armenvierteln, fanden ihren
in kurzer Zeit gewinnen würde. Der erste Teil seines Kalküls ging auf,
Weg nach oben in die Ränge der Pasdaran, der Revolutionsgarde. Die
der zweite Teil erwies sich als großer Irrtum. Der Irak erhielt aber
Unterschichten profitierten auch von den Subventionen für Grund
tatsächlich Hilfe von mehreren arabischen Ländern, darunter Saudi
bedürfnisse wie Brot, Reis, Zucker, Öl, Elektrizität und Wasser, die
Arabien und Kuwait, vor allem j edoch von den USA und in geringe
ein Viertel der Ausgaben der öffentlichen Hand ausmachten. Das
rem Umfang von der Sowjetunion, während der Iran mit der Unter
Ergebnis war eine reale Umverteilung des Wohlstandes, die in dem
stützung Syriens auskommen musste.
Jahrzehnt des Krieges und der wirtschaftlichen Misere Millionen
Die Reaktion des UN-Sicherheitsrats war schockierend, passte
Menschen das Leben erträglicher machte. Der Anteil der ärmsten
freilich zu seinem Ruf als politischem Instrument der Großmächte.
40 Prozent der Bevölkerung am Nationaleinkommen stieg von
Ohne einen Unterschied zwischen Angreifer und Opfer zu machen,
n,4 Prozent im Jahr 1977 auf 13,4 Prozent im Jahr 1991.
rief der Sicherheitsrat zu einem Waffenstillstand auf. Saddam Hussein
Obwohl die Islamische Republik für viele Iraner Unterdrückung
erklärte sich dazu bereit, wenn der Iran seinen Teil des Schatt al-Arab
und Leid bedeutete, brachte sie auch Millionen Menschen soziale
dem Irak übereignen würde. Der Iran weigerte sich und beharrte
und materielle Vorteile. Dass das neue Regime im Übrigen nicht vor
darauf, dass der Irak als «Aggressor» angesehen werden müsse.
Gewaltanwendung zurückschreckte, zeigt die Tatsache, dass zwi
Durch den Überrumpelungseffekt rückten die irakiseben Truppen
schen Juni 1981 und Juni 1985 mehr als 8ooo Mitglieder hauptsächlich
anfangs schnell auf iranisches Territorium vor, gerieten jedoch bald
linker Gruppierungen hingerichtet wurden. Durch Repression, aber
in eine Pattsituation. Der traumatischste Moment für die Iraner war
auch durch soziale Programme und den Druck des Krieges blieben
die Eroberung von Chorramschahr, «Stadt der Freude)), die nach dem
die politischen G egensätze in den achtziger Jahren größtenteils unter
Blutbad, das die irakiseben Truppen dort angerichtet hatten, in Chu
der Oberfläche.
ninschahr, «Stadt des Blutes;;, umbenannt wurde. Die Wiedererobe rung der Stadt im Mai r983 war ein wichtiger Markstein des Krieges:
Der längste Krieg
Der Iran drängte die irakiseben Truppen hinter die offiziellen Gren zen zurück.
Am 22 . September 1980 überrumpelte S addam Hussein die neuen
Die Unterstützung, die Saddam Hussein während des Krieges von
Machthaber im Iran mit einer militärischen Invasion.9 Schon in frü
den USA erhielt, spielte eine große Rolle. So bekam die irakisehe Ar
heren Zeiten war es zwischen den beiden Ländern zu Streitigkeiten
mee nicht nur Waffen, sondern auch Satellitenbilder der iranischen
wegen des Grenzverlaufs an dem Fluss gekommen, der im Irak Schatt
Truppenbewegungen
al-Arab und im Iran Arwandrud heißt. Saddam Hussein sah das
hatte. Außerdem waren die USA und Buropa bereit wegzuschauen,
ein Privileg, das bis dahin nur Israel genossen
102
103
6. Chomeini: Unter dem Mantel des Ayatollahs
Der längste Krieg
als Saddam Hussein Chemiewaffen einsetzte. Mehr noch, der Irak
gehörten Jungen ab 14 und Männer über so. Vor allem sie waren ein
erhielt das Know-how und das Material aus westlichen Ländern. Der
Teil der {(Menschenwellen;), die die Minenfelder unter Einsatz ihres
UN-Bericht von 1992 über die Chemiewaffen des Irak umfasst eine
Lebens räumen mussten. In den folgenden Jahren wuchs die Gesamt
Liste westlicher Unternehmen, die zu der Entwicklung dieser Waffen
zahl iranischer Soldaten auf 1,2 Millionen.
beigetragen haben. Mehr als die Hälfte der rund 150 dort erwähnten
Als Saddam Hussein erkannte, dass der Bodenkrieg nicht zu gewin
Firmen stammten aus Deutschland. Auch die USA waren mit 24 Un
nen war, setzte er seine überlegene Luftwaffe in maximaler Weise ein.
ternehmen gut vertreten. Die niederländischen Firmen Melchemie,
Die Folge waren der «Tankerkrieg» und der «Städtekrieg;). In den ers
KBS und van Anraat lieferten Schätzungen zufolge 45 Prozent der
ten Monaten des Jahres 1984 bombardierte der Irak Häfen und Tank
Rohstoffe für das irakisehe Chemiewaftenprogramm. 10 Zwischen
schiffe, die iranisches Öl transportierten, und der Iran zahlte dies mit
Dezember 1980 und März 1984 meldete der Iran 36 einzelne Giftgas
gleicher Münze heim. Als er auf diese Weise nicht weiterkam, ließ
angriffe, doch die USA sahen darin keinen Grund, ihre Unterstützung
Saddam Hussein zwischen M ärz und Juni 1985 iranische Städte bom
Saddam Husseins einzustellen.
bardieren; Tausende Bürger kamen dabei um, Zehntausende flohen.
Ende 1983 reiste Donald Rumsfeld, der zwanzig Jahre später als
Ein irakischer General erklärte die Logik dieser grausamen Strategie
Verteidigungsminister den Krieg gegen den Irak leiten sollte, nach
so: «Wir wollen die iranische Bevölkerung an die Kriegsfronten brin
Bagdad, wo er Saddam Hussein die Botschaft übermittelte, eine iraki
gen. Wir hoffen, dass sie dann gegen ihre Regierung revoltiert und
sehe Niederlage «schade den Interessen der USA». Das war eine diplo
den Krieg beendet.;)n Diese Strategie bewirkte jedoch das Gegenteil;
matische Erklärung, dass die USA den Irak voll unterstützen würden. Durch die ausländische Unterstützung konnte Saddam Hussein
Chomeini konnte nun auf die Barbarei Saddam Husseins verweisen, um den Zusammenhalt im Volk zu stärken.
den Krieg fortsetzen, doch die Machthaber in Teheran trugen ebenso
1986 verzeichnete der Iran einige militärische Erfolge, sodass die
viel Schuld. Nachdem die irakischeu Truppen im Mai 1982 von ira
Pattstellung allmählich durchbrachen wurde . Andererseits geriet das
nischem Territorium vertrieben worden waren, hätte sich Chomeini
Land wirtschaftlich in schweres Wetter. Die Ölpreise, und damit auch
um einen Friedensvertrag b emühen können. Doch er befürchtete,
die Einnahmen, sanken dramatisch. Dem Irak machte das weniger zu
dass nach dem Ende des Krieges die inneren Gegensätze auflodern
schaffen, da das Land jährlich 12 Milliarden Dollar von den USA, den
würden. Außerdem glaubte er, durch die Eroberung von irakisehern
Golfstaaten und der Sowjetunion erhielt. Das iranische Volk litt im
Gebiet könne der Iran seine Forderungen erzwingen: die Absetzung
mer mehr unter der Wirtschaftskrise und dem Krieg, doch das Sys
Saddam Husseins, die Einsetzung eines internationalen Tribunals,
tem der Rationierung über Bezugsscheine wirkte als Puffer. Die Re
um den Aggressor zu benennen, sowie Reparationszahlungen.
gierung benutzte dieses egalitäre System, um breiteren Rückhalt in
Aus dem Konflikt wurde schon bald ein Stellungskrieg, den der
der Bevölkerung zu gewinnen. Die <<Stiftung des Märtyrers» (Bonyad-e
Irak nicht gewinnen konnte. Saddam Husseins Armee war zwar bes
Schahid) sorgte außerdem dafür, dass die Familien gefallener Soldaten
ser bewaffuet, doch der Iran hatte 35 Millionen Einwohner, doppelt so
ein festes Einkommen erhielten.
viele wie der Irak. Durch die Mobilmachung der Bevölkerung wuchs
Inmitten all dieser Probleme kam es Ende 1986 zu einem Skandal,
die reguläre Armee auf über 400 ooo Soldaten, und die Revolutions
der die Regierungen sowohl in Washington \Vie auch in Teheran in
garde zählte 150 ooo Mann. Hinzu kamen noch 200 ooo Mitglieder der
große Verlegenheit brachte
Basidsch-e Mostaz'afin (Mobilmachung der Unterdrückten). Hierzu
durch, dass die USA dem Iran Waffen geliefert hatten, damit der Iran
die Iran-Contra-Affare. Es sickerte
104
6. Chomeini: Unter dem Mantel des Ayatollahs
Die Illusion des Totalitarismus
seinen Einfluss im Libanon dazu nutzte, auf die Befreiung amerikani
der Front und des zunehmenden Unmuts in der Bevölkerung er
105
scher Geiseln hinzuwirken. Zwei Faktoren machten diese Affare be
klärte sich Chomeini am 2o.juli mit einer UN-Resolution einverstan
sonders bemerkenswert. Erstens wurden die amerikanischen Waffen
den, die zum Waffenstillstand aufrief - eine Entscheidung, die er mit
durch die Vermittlung Israels an den Iran geliefert. Zweitens benutzte
dem «Leeren eines Giftbechers» verglich. Einen Monat später war der
die amerikanische Regierung das Geld aus diesem Waffengeschäft
Krieg offiziell beendet. Die Zahl der Toten auf iranischer Seite belief
heimlich, um in Nicaragua rechte Milizen (die «Contras») zu finanzie
sich nach offiziellen Angaben auf fast 200 ooo, während die Schätzun
ren, die einen blutigen Krieg gegen die Bevölkerung und die linksge
gen in Richtung 300 ooo gehen, und die Zahl der Verwundeten betrug
richtete Sandinistische Regierung führten.
700 ooo. Der Irak veröffentlichte keine Zahlen, doch die Schätzungen
Diese Affare hatte gravierende Folgen für die Beziehungen zwi
variieren zwischen 160 ooo und 240 ooo.'3 Zehntausende junger Män
schen dem Iran und den USA. Ein Teil der amerikanischen und irani
ner kehrten versehrt an Körper und Seele aus diesem längsten Krieg
schen Elite hatte den Deal dazu nutzen wollen, die Beziehungen zwi
des zwanzigsten Jahrhunderts nach Hause zurück - ein hoher Tribut,
schen den beiden Ländern zu verbessern, doch der Skandal flog ihnen
den Iraker und Iraner für die Kriegssucht Saddam Husseins, die
um die Ohren und führte zu noch größerer Entfremdung. Von 1987
Wahnideen Chomeinis und die Machtspiele der USA, Europas und
an intervenierten die USA und andere westliche Länder direkt, um
der Sowjetunion zahlten.
Saddam Hussein zu helfen. Zwischen Oktober 1987 und April 1988 zerstörte die amerikanische Marine mehrere iranische Schiffe und
Die Illusion des Totalitarismus
Ölplattformen. Im März 1988 ereignete sich eine Tragödie, die bis heute das Bild
Der Krieg mit dem Irak hatte eine große Nebenwirkung auf die In
dieses Krieges prägt. Die kurdische Stadt Halabdscha, die von irani
nenpolitik des Iran: Die Chomeinisten festigten ihre Macht. Die Bür
schen Truppen und ihren kurdischen Verbündeten eingenommen
ger verloren viele Freiheiten, die Medien wurden zensiert, und «isla
worden war, wurde von der irakiseben Luftwaffe mit Giftgas bombar
mische Gerichte)) und die Hizbollahi versuchten, der Bevölkerung ihre
diert. Die Bilder Tausender im Tod erstarrter Körper von Männern,
konservativen Werte und Normen aufzuzwingen. «Totalitär>> wurde
Frauen und Kindern, die das iranische Fernsehen ausstrahlte, scho
im Westen und unter den iranischen Emigranten eine populäre Be
ckierten die ganze Welt. Obwohl die USA bis ins Detail über den Ein
zeichnung für das neue Regime; man ging davon aus, dass es das Den
satz von Chemiewaffen durch den Irak informiert waren, betrieben
ken und das politische und soziale Leben der Bevölkerung vollkom
sie eine Desinformationskampagne, um den Druck auf den Irak zu
men beherrschte. Doch in den achtziger Jahren zeigte sich, dass das
verringern und dafür zu sorgen, dass der Iran den Krieg nicht gewin
Regime nicht einmal alle seine Mitstreiter auf eine gemeinsame ideo
nen konnte. 12 Indem sie Saddam Hussein nach Halabdscha weiterhin
logische Linie festlegen konnte, geschweige denn den Rest der Bevöl
unterstützten, gaben die USA ihm grünes Licht, die Unterdrückung
kerung.
der irakiseben Bevölkerung, insbesondere der Kurden und Schiiten,
Trotz entsetzlicher und einschüchternder Repressionen erlangte
zu intensivieren und die Chemieangriffe gegen den Iran fortzusetzen.
das Regime nicht die totale Kontrolle, auch wenn manche seiner Mit
In der ersten Hälfte des Jahres 1988 setzte Saddam Hussein bei ver
glieder sicherlich totalitäre Träume hatten. Oberflächlich betrachtet
schiedenen Offensiven chemische Waffen ein, und die USA versenk
gab es nur eine große Partei, die Islamisch-Republikanische Partei,
ten mehrere iranische Schiffe. Aufgrund dieser schweren Verluste an
faktisch aber war die gesamte politische Elite uneinig. Die unter-
106
6. Chomeini: Unter dem Mantel des Ayatollahs
Die Illusion des Totalitarismus
107
schiedlichen Auffassungen über die Wirtschafts- und Gesellschafts
und von Chomeini aufgelöst wurde. Bisher hatte Chomeini stets auf
form führten zu Bruchlinien innerhalb der Machtelite, sodass ver
einen Ausgleich zwischen beiden Fraktionen geachtet, entschied sich
schiedene Fraktionen im Parlament und auch außerhalb davon ent
jedoch am Ende seines Lebens immer häufiger für die Seite der Lin
standen, die in zunehmend heftigere Konflikte miteinander gerie
ken. Im Januar 1988 setzte er Freund und Feind in Erstaunen, als er der
ten. 1984 gaben sogar Rafsandschani (der Parlamentsvorsitzende)
linken Regierung von Ministerpräsident Mir Hoseyn Musawi freie
und Chamenei (der Präsident) zu, dass innerhalb der politischen Elite
Hand ließ und die große Rolle des Staates betonte. Er erklärte, die Re
zwei ideologische Positionen bestanden, eine konservative und eine
gierung sei «eines der wichtigsten Gebote des Islam)) und stehe «über
radikale. Die beiden Flügel galten auch als «rechts)) und (
den sekundären Geboten, sogar über dem Gebet, dem Fasten und
Konservativen glaubten an «die Unantastbarkeit des Privatbesitzes
dem Haddsch [der Pilgerfahrt nach Mekka]»
und wandten sich gegen Besteuerung im privaten Sektor, sie wollten
lamisieren wollen, doch nun schien der Islam politisiert zu sein. Die
eine strikte Umsetzung der Scharia im sozialen und kulturellen Leben
Staatsräson wurde so zu einem religiösen Gebot. Vor den Parlaments
und waren gegen den Export der Revolution in andere Länder. Diese
wahlen 1988 brachte er sogar seine Unterstützung für die Linke zum
Fraktion genoss die Unterstützung der traditionellen iranischen
Ausdruck: «Stimmt für die Kandidaten, die für die Menschen mit blo
Bourgeoisie, der Händler im Basar, der ultraorthodoxen Ulama und
ßen Füßen [die Armen] arbeiten, und nicht für die, die den kapitalisti
der sehr religiösen Teile der Gesellschaft.( . . . ) Der andere Flügel, die
schen Islam anbeten.»rs Der Grund für diese Hinwendung nach links
er hatte die Politik is
Radikalen oder Unken (auch als maktabi bezeichnet), setzte sich für
war wahrscheinlich die schlechte Wirtschaftslage und die aussichts
die Armen ein, glaubte an den Export der Revolution, war etwas
lose Kriegssituation; durch einen erneuerten Populismus hoffte er die
toleranter in kulturellen und sozialen Fragen und unterstützte die
Basis für die Islamische Republik zu verbreitern. Zugleich ergriff er
staatlichen Maßnahmen für eine gerechte Verteilung des Reichtums.»14
aber auch Maßnahmen, die dafür sorgen sollten, dass der Kurs der
Die Uneinigkeit des Regimes zeigte sich nicht nur in den unter
Republik in Zukunft stabil blieb und sich nicht zu weit nach links
schiedlichen Auffassungen der politischen Fraktionen, sondern mani
bewegte.
festierte sich auch in den verschiedenen Machtzentren des Staates. So
Kurz bevor der Krieg am 20. August 1988 endete, befahl Chomeini
befanden sich Parlament und Regierung in den Händen der radikalen
die Hinrichtung von 28oo politischen Gefangenen, überwiegend
Fraktion, während der Wächterrat aus Konservativen bestand. Die
Modschahedin-e Chalq und Aktivisten linker Organisationen. Damit
Richtung der Wirtschaft war in den achtziger Jahren der wichtigste
wollte er nicht nur die Opposition schwächen und einschüchtern,
Streitpunkt zwischen den beiden Fraktionen. Die linke Fraktion im
sondern auch die Kluft zwischen der säkularen linken Opposition und
Parlament beschloss stets neue Gesetze, die dem Staat mehr Einfluss
seiner eigenen islamistischen linken Fraktion vertiefen. Zudem war
in der Wirtschaft einräumten und die sozialen Programme erwei
es ein Test, um zu sehen, wer ihm gegenüber loyal war. Mit dem Mas
terten. Die Rechte versuchte diese Gesetze anschließend durch den
senmord an den politischen Häftlingen gelang ihm zumindest Letz
konservativen Wächterrat zu blockieren. Chamenei, der Präsident,
teres. Ayatollah Montazeri, der Chomeini als der Oberste Führer
stand auf der Seite der Rechten, während Rafsandschani als Parla
nachfolgen sollte, kritisierte die Hinrichtungen; daraufhin musste er
mentsvorsitzender zwischen ihnen und der linken Fraktion lavierte.
zurücktreten und wurde unter Hausarrest gestellt. Bis zu seinem Tod
Die Rivalität zwischen beiden Fraktionen spitzte sich derart zu,
2009 war Montazeri der wichtigste Dissident unter jenen Ayatollahs,
dass die Islamisch-Republikanische Partei 1987 handlungsunHihig war
die das Prinzip der welayat-efaqih in der heutigen Form ablehnen. Um
108
6. Chomeini: Unter dem Mantel des Ayatollahs
die rechte Fraktion, die eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Westen anstrebte, zu disziplinieren, sprach Chomeini die be
1· Rafsa ndsch a n i : Vo m Popu l i s m u s z u m
rüchtigte Fatwa gegen Salman Rushdie aus, was zu einem explosiven
Neo l i bera l i smus (1989-1997)
Verhältnis zwischen dem Iran und dem Westen führte. Chomeini war vor allem ein Staatsmann, der sein politisches Ver mächtnis gesichert wissen wollte. Bezeichnend dafür war seine Be reitschaft, alle religiösen Grundsätze einem neuen Prinzip unterzu
Mit dem Ende des Krieges und dem Tod von Ayatollah Chomeini
ordnen, das er selbst ins Leben rief
maslahat-e nezam, «das Interesse
Ende der achtziger Jahre fielen zwei wichtige Stützpfeiler der Islami
des Systems», also das Wohl der Regierung. Er schuf eine neue Insti
schen Republik weg. Anders als von vielen erwartet brach das System
tution, die als Schiedsrichter zwischen Parlament und Wächterrat
nicht zusammen, unter anderem aufgrund der repressiven Politik der
fungieren und eine Vermittlerrolle einnehmen sollte, wenn wieder
Machthaber in Teheran (wie die Massenhinrichtung politischer Ge
einmal eine Pattsituation entstanden war: den Rat zur Feststellung,
fangener 1988 zeigte). In den neunziger Jahren wuchsen jedoch die
was das Beste für die Regierung ist (Schura-ye Taschchis-e Maslahat-e
inneren Gegensätze in der Islamischen Republik. Sie äußerten sich in
Nezam). Chomeini ließ die Verfassung ändern, um diesen neuen
vier verschiedenen Bereichen und führten zu einer Legitimitätskrise .
Schlichtungsrat auf eine gesetzliche Grundlage zu stellen. Das Amt
Die politischen Fraktionen im Staat und die Kräfte in der Gesellschaft
des Premierministers wurde abgeschafft und stattdessen der Präsi
versuchten, jeweils eigene Antworten darauf zu formulieren .
dent mit mehr Kompetenzen ausgestattet; die Macht des Obersten
Der erste Bereich war der ideologische. «Der>> Islam hatte nach der
Führers wurde erweitert und gerrauer definiert. Der Schwerpunkt lag
Revolution verschiedene Gruppen zusammengebracht und inspi
nun mehr auf dessen politischen statt religiösen Qualitäten. Der
riert, einen neuen Staat und eine neue Gesellschaft aufzubauen. Doch
Grund dafür war, dass nach der Entmachtung von Ayatollah Monta
was genau unter Islam zu verstehen war, ließ sich nicht eindeutig in
zen kein anderer bedeutender Geistlicher als Nachfolger Chomeinis
terpretieren. Anfang der neunziger Jahre erkannten die Kleriker, dass
in Frage kam. Der einzige, den Chomeini für akzeptabel hielt, war
ihre Bemühungen, den ((Kindern der Revolution» - also jenen Ira
Chamenei, und der war kein Ayatollah. Nach der Verfassungsände
nern, die kurz vor oder nach 1979 geboren waren
rung war das kein Problem mehr. Chomeini starb am 3. Juni 1989 in
I slam nahezubringen, nicht besonders erfolgreich gewesen waren.
den «wahren))
der Annahme, dass seine Islamische Republik einer viel stabileren Zu
Zudem herrschte unter ihnen und den Islamisten der ersten Stunde
kunft entgegensah.
große Uneinigkeit; es gab alte und neue Differenzen. Der zweite Bereich war die Unabhängigkeit. Die Islamische Repu blik hatte zwar in vielerlei Hinsicht versagt, doch ein Versprechen er füllt: Unabhängigkeit von ausländischen Mächten. Sobald innenpoli tische Probleme überhand nahmen, griff die Regierung deshalb zu antiimperialistischer Rhetorik. Doch auch hier entstand, wenngleich in viel geringerem Umfang, ein Gegensatz: Die Islamische Republik wollte politisch unabhängig bleiben, war aber gleichzeitig gezwun gen, die wirtschaftlichen Beziehungen zum Westen zu intensivieren.
110
J. Rajsandschani: Vom Populismus zum Neoliberalismus
«Führer des Aufbaus»
111
Der dritte Bereich war die Politik: Die Legitimität der Islamischen
Theokratie versus Demokratie, Kapitalismus versus Populismus,
Republik basierte auch auf dem Versprechen, dass die Bevölkerung
Antiimperialismus versus Beziehungen mit dem Westen. Kein Wun
selbst über ihr Schicksal bestimmen dürfe. Durch die Wahlen für das
der, dass ein Blick auf den Iran bestürzend und verwirrend ist, doch
Parlament und den Staatspräsidenten spielte die Bevölkerung nach der
die vielen Widersprüche, die das Land kennzeichnen, haben nichts
Revolution eine größere Rolle als zuvor. Andererseits wurde diese Be
Geheimnisvolles. Sie resultieren daraus, dass die Revolution von ver
teiligung an der Politik stark beschränkt durch die Führungsrolle der
schiedenen Gruppen mit verschiedenen Interessen und Ideen ge
hohen Geistlichen, die vor allem in der Macht des Obersten Führers,
macht wurde: den Arbeitern, den städtischen Armen, der modernen
des Wächterrats und des Expertenrats zum Ausdruck kam. Es entstand
Mittelschicht, den Bazaris und den Geistlichen.
ein Widerspruch: Die Souveränität kann nicht zugleich bei den «Ver
Die inneren Gegensätze der Islamischen Republik, die nach dem
tretern>> Gottes und beim Volk liegen, Theokratie und Demokratie
Ende des Krieges und dem Tod von Ayatollah Chomeini ständig zu
sind nicht miteinander vereinbar. Nach Chomeinis Tod spitzte sich der
nahmen, schufen einen Raum, in dem gesellschaftliche Gruppen wie
Gegensatz zwischen den theokratischen und demokratischen Elemen
Frauen, junge Menschen, Intellektuelle und Gewerkschaften ihre
ten in der Islamischen Republik zu und erreichte, wie wir in diesem
Position dem Staat gegenüber stärkten und aktiv wurden. Die sozia
Kapitel sehen werden, zwischen 1997 und 2005 einen Höhepunkt.
len und ökonomischen Veränderungen beschleunigten diesen Pro
Ökonomischer Populismus schließlich war die wichtigste Säule,
zess noch und führten zu einem Konflikt zwischen Gesellschaft und
auf der die Islamische Republik ruhte. Mit dieser Politik gelang es ihr,
Staat. Haschemi Rafsandschani, der 1989 Präsident wurde, und seine
einen großen Teil der Unterschichten, vor allem in den ländlichen Ge
Nachfolger rangen seitdem mit dem gleichen Problem: Wie lässt sich
genden, an sich zu binden (siehe das vorhergehende Kapitel). Im Iran
eine neue gesellschaftliche Basis für die Islamische Republik schaffen,
sollte, mit Chomeinis Worten, «der Islam der Slumbewohner, nicht
um diesen Konflikt zu vermeiden?
der der Palastbewohner>> regieren. Die Islamische Republik sollte einen «dritten Weg)) zwischen Kapitalismus und Sozialismus verwirk lichen, indem der Staat sowohl ein soziales Netz für Schwächere ga
«Führer des Aufbaus»
rantierte wie auch das Wirtschaftswachstum förderte. Doch seit den
Im Juli 1989 gingen die Iraner zur Urne, um den Staatspräsidenten zu
neunziger Jahren lag der Schwerpunkt auf der zweiten Funktion, da
wählen und über mehrere Verfassungsänderungen abzustimmen. Raf
wirtschaftlich mächtige Gruppen wie die Bazaris und die Direktoren
sandschani, der bisherige Parlamentsvorsitzende, wurde mit 94 Pro
von Staatsbetrieben und
bonyads den Staat dazu benutzten, ihre eige
zent der Stimmen gewählt, und die Verfassungsänderungen wurden
nen wirtschaftlichen Interessen zu verfolgen. Der islamische «dritte
mit 97 Prozent angenommen. Die beiden wichtigsten waren die Ab
Weg>> führte in die gleiche Richtung wie seine säkularen Varianten im
schaffung des Amtes des Ministerpräsidenten und die Übertragung
Westen und entpuppte sich als eine eher kapitalistische Wirtschafts
von dessen Befugnissen auf den Staatspräsidenten sowie die Hinzu
form.
fügung des Wortes ((absolut» an den Begriff welayat-e faqih. Die erste
Diese inneren Gegensätze wurden seit den neunziger Jahren grö
Änderung hatte den Zweck, die Machtstruktur rationaler zu machen,
ßer, nicht zur gleichen Zeit und im gleichen Tempo, aber mit der glei
und die zweite sollte die Position des neuen Obersten Führers Cha
chen Wirkung. Sie drängten die Islamische Republik in verschiedene
menei, der nicht über das Charisma seines Vorgängers verfügte, in
Richtungen: traditioneller Islam versus reformorientierter Islam,
nerhalb des politischen Systems stärken.
«Führer des Aufbaus»
-,. Raftandschani: Vom Populismus zum Neoliberalismus
112
Die Wahlbeteiligung war mit 55 Prozent deutlich niedriger als beim ersten Referendum 1979
ein Zeichen, dass die Begeisterung für
113
Wirtschaft aus der Talsohle führen würde. Seine PR-Maschinerie gab ihm den Spitznamen
sardar-e sazandegi, «Führer des Aufbaus». Im kuseh, wörtlich «Hai», wegen
die Islamische Republik in der Bevölkerung nachzulassen begann.
Volksmund war er besser bekannt als
Die Hauptursache war das Chaos infolge der acht Kriegsjahre. Einige
seines bartlosen Gesichts; ebenso gut konnte es aber auch eine An
Städte bestanden nur noch aus Ruinen, die Infrastruktur war zerstört
spielung auf die gewieften Tricks sein, mit denen er seine politischen
und das Herz der Wirtschaft, die Ölindustrie, klopfte nur schwach.
Gegner ausschaltete und sich und seine Verbündeten in wichtige Äm·
An der Grenze zum Irak waren durch den Krieg 1,6 Millionen Men
ter manövrierte.
schen obdachlos geworden, und 2 Millionen Flüchtlinge waren aus
Rafsandschanis Plan zur Rettung der Wirtschaft basierte auf Prin
dem Irak und aus Afghanistan ins Land geströmt.' Außerdem war die
zipien des Neoliberalismus, die vom Internationalen Währungsfonds,
Bevölkerung von fast 40 Millionen 1980 auf ungefähr 55 Millionen
der Weltbank und westlichen Regierungen bereits seit den achtziger
1990 angewachsen. Aufgrund der stockenden Wirtschaft bedeutete
Jahren in anderen Entwicklungsländern propagiert wurden. Es han
das die Fortdauer der Mängel, die im Krieg geherrscht hatten. Das
delte sich um ein Paket von M aßnahmen zum Ausbau des freien
Nationaleinkommen pro Kopf der Bevölkerung war seit der Revo
Markts, u. a. durch Privatisierung, Streichung von Subventionen und
lution um fast 40 Prozent gesunken.2
Aufhebung von Handelsbarrieren. An die Stelle des Prinzips der Aut
Nicht nur die Wirtschaft war erschöpft, auch das Volk. Fast jede Fa
arkie (chod kafa'i) trat das der wirtschaftlichen Entwicklung (towseeh).
milie hatte im Krieg einen Angehörigen verloren. In der Gesellschaft
Rafsandschani nahm Abstand vom Ethos der achtziger Jahre, in dem
entstand eine offene Wunde, als viele Soldaten nicht von der Front zu
Kapitalisten als «Blutsauger)) bezeichnet wurden, und plädierte für
rückkehrten; ein Teil von ihnen war in Gefangenschaft geraten, und
einen Islam, in dem Konsumieren keine Schande war: «Warum sollte
Gefallene hatten nicht geborgen werden können. Die Rückkehret
man sich Dinge versagen, die Gott möglich gemacht hat? Gottes Seg
waren an Leib und Seele versehrt. Die Jugendlichen, die in den achtzi
nungen sind für die Menschen und die Gläubigen. Askese und Ver
ger Jahren aufwuchsen, sahen sich selbst als «verlorene Generation».
zicht führen zu Armut und wirken als Bremse für Produktion, Arbeit
Die gesamte Gesellschaft war vor allem müde von der grauen Stim
und Entwicklung.»
mung der achtziger Jahre, die sie an Tod und Elend erinnerte - von
Rafsandschani wollte auch eine offenere Außenpolitik und schloss
den Kriegsfilmen im Fernsehen bis zu den Fotos der Märtyrer in den
Beziehungen zu den USA nicht aus: «Unser Ziel war es nie, die Revo
Straßen. Viele Menschen wollten nur noch eines: der erstickenden
lution mit Gewalt zu verbreiten ( . . . ). Wenn Leute glauben, dass wir
Atmosphäre entrinnen. Kurzum, der Rückhalt in der Bevölkerung,
hinter verschlossenen Türen leben können, irren sie sich. Obwohl wir
den der Krieg dem Regime verschafft hatte, fiel teilweise weg, nach
unsere Unabhängigkeit bewahren müssen, brauchen wir auch
dem der Krieg vorbei war.
Freunde und Verbündete in der Welt. ( . . . ) Solange die USA sich nicht
Rafsandschani begriff besser als jeder andere in der politischen
benehmen, können sie keine Beziehungen zu uns haben.))> Aufgrund
business as usual in dieser Situation nicht angezeigt war. Er
dieser Haltung und wegen seines Wirtschaftsliberalismus erschien
war auch derjenige gewesen, der aus Sorge über die Folgen des Krie
Rafsandschani manchem westlichen Beobachter als der «Gorbat
ges Chomeini davon überzeugt hatte, einem Waffenstillstand mit
schow des Iran>),
Elite, dass
dem Irak zuzustimmen. Er bildete ein Tandem mit dem konservati
Diese vorsichtige Annäherung brachte nur vorübergehend Tau
ven Chamenei und warb für sich selbst als Retter in der Not, der die
wetter in die Beziehungen zwischen dem Iran und dem Westen. Die
114
7· Rafsandschani: Vom Populismus zum Neoliberalismus
«Führer des Aufbaus»
Islamische Republik strebte nach einer Vormachtstellung in der Re
ten durch Wirtschaftssanktionen geschwächt werden. Unter dem
gion, während die USA nicht bereit waren, ihre Dominanz im Mitt
Druck der Konservativen im Kongress und der Israel-Lobby wurde
leren Osten aufzugeben. Das war auch der wichtigste Grund für den
I995 ein umfassendes Handelsembargo verhängt. Als 1996 in Saudi
Krieg, den die USA 1991 unter dem Namen
den
Arabien ein Anschlag auf Unterkünfte von Angehörigen der US
Irak führten, als Saddam Hussein in Kuwait einfiel. Die National
Armee verübt wurde, behauptete die amerikanische Seite ohne je
Security Directive, die die Regierung von George H. W. Bush am Vor
den Beweis, dass der Iran daran beteiligt gewesen sei. Das bereitete
abend dieses Krieges ausfertigte, begann mit den Worten: «Der Zu
den Weg für den Iran-Lybia Sanctions Act, der das Embargo ab August
gang zum Öl des Persischen Golfs und die Sicherheit befreundeter
1996 auf nicht-amerikanische Firmen ausweitete, die bedeutende
Schlüsselstaaten in der Region sind entscheidend für die nationale
Investitionen im iranischen Energiesektor tätigten. Im selben Jahr
Sicherheit der USA. ( . . . ) Die Vereinigten Staaten halten daran fest,
sickerte durch, dass die Regierung Clinton 1 8 Millionen Dollar für
ihre grundlegenden Interessen in der Region zu verteidigen, notfalls
Geheimoperationen bereitgestellt hatte, um die Regierung Rafsan
mit militärischer Gewalt, gegen jede Macht, deren Interessen den un
dschani zu unterminieren. Unter Präsident Clinton (I993-2oor) wurde
seren schaden.»4 Diese Botschaft war natürlich nicht nur an den Irak
faktisch die Grundlage für die neokonservative Außenpolitik ge
gerichtet, sondern auch an den Iran. Durch den Sturz des Schahs hat
schaffen, die George W. Bush später verfolgen sollte (200I-2009).6 So
ten die USA 1979 einen wichtigen Stützpfeiler verloren. Die neuen
formulierte die Clinton-Regierung die drei Anschuldigungen an die
Machthaber im Iran waren sicherlich nicht schlimmer als die in den
Adresse des Iran, die später bei j eder passenden und unpassenden
Desert Storm gegen
115
mit den USA befreundeten Staaten Saudi-Arabien oder Ägypten,
Gelegenheit in verschiedenen Kombinationen eingesetzt wurden:
wenn es um Menschenrechte und Demokratie ging, doch sie verfolg
Unterstützung des internationalen Terrorismus, Streben nach Atom
ten einen politisch unabhängigen Kurs. Für die USA bedeutete dies,
waffen und Blockieren des israelisch-palästinensischen Friedenspro
dass sie den Ölstrom aus dem Persischen Golf nicht voll unter Kon
zesses.
trolle hatten, und das betrachteten sie als einen Nachteil für ihre
Die internationalen Sanktionen führten nicht nur zu einer Ver
«grundlegenden Interessen». Außerdem war und ist der Iran mit den
schlechterung der Beziehungen zwischen den USA und dem Iran,
zweitgrößten Öl- und Gasreserven der Welt von großer wirtschaft
sondern wirkten sich auch im Land selbst aus. Sie verstärkten das
licher Bedeutung.
Misstrauen in der Bevölkerung gegenüber den USA und trugen dazu
Während des Krieges gegen den Irak versetzten die USA dem mili
bei, dass die Liberalisierung der Wirtschaft scheiterte. Was Letzteres
tärischen und politischen Apparat Saddam Husseins einen schweren
betrifft, war der Einfluss inländischer Faktoren noch viel größer. Die
Schlag. Die amerikanische Regierung und ihre Bündnispartner in der
Freigabe des Wechselkurses der iranischen Währung, die Streichung
Region befürchteten, dass die Islamische Republik von der Schwäche
von Subventionen, die Aufhebung von Preiskontrollen und die Öff
des Irak profitieren und ihre Macht ausdehnen würde. Der Aufstand
nung der Grenzen für den Import führten zu großem sozialen Unfrie
der Schiiten im Südirak, die als potenzielle Verbündete des Iran gal
den, sodass die Liberalisierung teilweise zurückgenommen wurde.
ten, war für die USA eine Warnung, und die US-Armee ließ zu, dass
Die Inflation stieg auf so Prozent, und die Auslandsschulden des Iran
Saddam Hussein den AufStand blutig niederschlug.'
gerieten außer Kontrolle. Die Privatisierungspläne stießen auf den
1993 kündigte der neue amerikanische Präsident Clinton die Stra tegie des Dual Containment an: Sowohl der Irak als auch der Iran soll-
Widerstand der Leiter von Staatsbetrieben und
bonyads,
die eigene
wirtschaftliche Interessen entwickelt hatten und sich darüber im Kla-
116
7·
Rafsandschani: Vom Populismus zum Neoliberalismus
Mullah-Millionäre und die mostazafiin
117
ren waren, dass ihre Betriebe ohne staatliche Hilfe keine Chance ge
Wirtschaftsmagazin Forbes schrieb 2003 nach einer ausführlichen Ana
genüber ausländischer Konkurrenz haben würden.
lyse: «Die Revolution von 1979 machte aus dem Rafsandschani-Clan
Das bedeutete nicht, dass sich überhaupt nichts änderte. Die
Paschas des Wirtschaftslebens. Einer seiner Brüder stand an der Spitze
Schicht der Bürokraten, die die Betriebe und bonyad.s kontrollierte,
einer der größten Kupferminen des Landes, ein anderer war der Chef
öffuete die Wirtschaft nur da, wo es ihr zupass kam, und benutzte den
des staatlichen Fernsehens, ein Schwager wurde Gouverneur der Pro
Staat weiter als Motor der Industrialisierung. Staatsintervention blieb,
vinz Kerman, während ein Cousin von ihm ein Unternehmen leitet,
aber ihre Zielsetzungen änderten sich. Die Islamische Republik hatte
das den Pistazienexport im Wert von 400 Millionen Dollar kontrol
die Staatsbetriebe und die bonyads einerseits zur sozialen Unterstüt
liert. Ein Nefle und einer von Rafsandschanis Söhnen erhielten hohe
zung der Unterschichten und andererseits zur wirtschaftlichen Ent
Ämter im Ölministerium, ein anderer Sohn leitet das Bauprojekt der
wicklung benutzt. Als die Stiftung für die Unterdrückten (Bonyad-e
Teheraner Metro ( . . . ). Über verschiedene Stiftungen und Scheinfir
Mostazafan) zwischen März 1995 und März I996 einen Gewinn von
men kontrolliert die Familie angeblich eines der größten Öl-Unter
170 Millionen Dollar verbuchte, rechtfertigte ihr Direktor das mit der
nehmen im Iran, die Fabrik, die die Daewoo-Autos montiert, und die
Behauptung, die Stiftung «verdiene Geld im Bereich der Wirtschaft,
beste private Fluggesellschaft des Iran.)) 8 Aufgrund dieser Verflech
um es im Bereich des Sozialen zu verwendem.7 Das war tatsächlich
tung zwischen politischer und wirtschaftlicher Macht identifizieren
einst der Zweck gewesen, doch das Geld floss immer weniger in so
viele Iraner Rafsandschani mit Korruption und Selbstbereicherung.
ziale Programme und immer mehr in die Taschen der Topmanager
1995 stand das Land kopf, als bekannt wurde, dass der Bruder von Raf
und deren Freunde. Mit dem Gewinn wurden auch Anteile an priva
sandschanis Schwager Rafiqdoust, der an der Spitze der Stiftung für
tisierten Firmen gekauft, oder es wurde anderweitig investiert.
die Unterdrückten stand, 400 Millionen Dollar unterschlagen hatte.
Die Wirtschaft wurde ein wenig liberalisiert, änderte jedoch stark
Rafsandschanis Aufstieg wird oft als ein Beweis dafür gesehen, dass
die Orientierung; sie richtete sich nun weniger auf Um verteilung und
die reichen Bazaris die mächtigste gesellschaftliche Gruppe im Iran bil
mehr auf Kapitalbildung durch private und staatliche Unternehmen.
den. In Wirklichkeit ist etwas Komplexeres geschehen. Die Bürokra
Was sich auf jeden Fall nicht änderte, war die große Abhängigkeit der
ten an der Spitze der Staatsbetriebe und bonyads haben ihre eigenen
Ökonomie von den Öleinnahmen, über die der Staat verfügte. Dieser
wirtschaftlichen Interessen entwickelt, und ein Teil der traditionellen
letztgenannte Faktor ist zugleich der wichtigste Grund, warum die
Händler fand über sie die Möglichkeiten, Investitionen zu tätigen.
verschiedenen Machtgruppen ihre Kontrolle über den Staat nicht ver
Aus dieser Kooperation ging eine neue Schicht moderner Kapitalis
lieren wollten.
ten hervor: die Mullah-Millionäre. Der Zusammenschluss vollzog sich an wichtigen Orten wie der
Mullah-Millionäre und die mostazafan
iranischen Handelskammer und den bonyads. Hohe Beamte, Bazaris und Industrielle konnten sich hier gegenseitig helfen und bereichern.
Es war unvermeidlich, dass sich die ökonomischen Veränderungen
Diese Gruppe von Neureichen wird von Iranern auch scherzhaft die
auf die gesellschaftliche Basis der Islamischen Republik auswirkten.
aghazadehha genannt, «die Kinder der hohen Herren)). Laut einem
Rafsandschani verkörperte den Aufstieg einer neuen Gruppe von Mil
Buch, das im Iran mittlerweile verboten ist, entstand in den neunziger
lionären. Er war nicht nur ein Mullah, sondern auch einer der reichs
Jahren ein wirtschaftliches Netzwerk von n ooo Familien und deren
ten M änner des Landes mit Tentakeln in die gesamte Wirtschaft. Das
Freunden und Klientel. Der Name verweist auf die Tatsache, dass
7. Rafsandschani: Vom Populismus zum Neoliberalismus
Pragmatiker gegen Konservative
viele Kinder der «hohen Herren)) die gesellschaftliche Stellung ihrer
dem sie ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen zu stark verfolgen
Familie nutzten, um ein Finanz- oder Industrieimperium aufzubauen.
und so zu noch mehr Unmut in der Gesellschaft beitragen würden.
So wurden die neunziger Jahre im Iran, wie im Westen, das neolibe
Die Zufriedenheit der Bevölkerung durch Importwaren zu erhalten,
rale Jahrzehnt der S elbstbereicherung in den oberen Etagen der Ge
gelang Rafsandschani ebenso wenig. Ein Teil der Mittelschicht pro
sellschaft. Die Kehrseite der Medaille war, wie im Rest der Welt, eine
fitierte von seiner Wirtschaftspolitik, doch die hohe Inflation und die
relative Verarmung und die Zunahme sozialer Unsicherheit an der
Arbeitslosigkeit waren ein gigantisches Problem für die städtischen
Basis.
Arbeiter.
118
119
Da die Regierung unter Rafsandschani mehr zu den Bazaris und
Rafsandschanis neoliberale Politik versagte nicht nur bei dem Ver
Mullah-Millionären tendierte, verlor sie ihren Rückhalt bei den Un
such, eine neue gesellschaftliche Grundlage zu schaffen, sie unter
terschichten. Erste Anzeichen von Unmut ließen nicht lange auf sich
höhlte zudem einen der wichtigsten Stützpfeiler der Islamischen Re
warten. Zwischen 1991 und 1992 kam es in den Armenvierteln Tehe
publik: den Populismus. Die politische Elite hatte nach wie vor ein
rans und einiger anderer Städte zu Krawallen, als die Regierung ille
Problem : Sie steckte in einer Legitimitätskrise.
gal errichtete Häuser abreißen wollte. Die Proteste nahmen 1995 eine dramatische Wendung, als eine wütende Menge von Demonstranten
Pragmatiker gegen Konservative
in Eslamschahr bei Teheran Häuser, Fahrzeuge und eine Tankstelle in Brand steckte und von Helikoptern aus beschossen wurde . Unmittel
Rafsandschani stand nicht nur vor ökonomischen, sondern auch vor
barer Anlass der Protestaktionen waren die Sparmaßnahmen unter
politischen Problemen. 1993 gewann er erneut die Präsidentschafts
Rafsandschani, der Mangel an Trinkwasser und die hohen Brennstoff
wahlen, unter anderem, weil es keinen glaubwürdigen Gegenkandi
preise.9 Sogar
Chaneh-ye Kargar, die von der Regierung kontrollierte
daten gab, jedoch mit einem schwächeren Mandat als 1989. In seiner
Gewerkschaft, ging auf eine gewisse Distanz zu Rafsandschani. Nicht
zweiten Amtszeit nahmen die politischen Spannungen noch zu. Seit
zuletzt durch diese Proteste dämmerte es der politischen Elite, dass
Anfang der neunziger Jahre bildete sich um Rafsandschani eine neue
die Regierung das Land nicht allein durch Repressionen unter Kon
politische Fraktion von Technokraten, die den Namen ({Pragmatiker»
trolle halten konnte.
(oder auch Moderne Rechte) bekam. Wie die Konservativen (die
Rafsandschani versuchte deshalb, die Macht der Islamischen Re
Traditionalistische Rechte), die mit dem Obersten Führer Chamenei
publik auf eine neue gesellschaftliche Grundlage zu stellen. Auf der
liiert waren, strebten sie eine freie Marktwirtschaft an. Rafsandschani
einen Seite war er bestrebt, das Netzwerk der reichen Bazaris und der
arbeitete deshalb auch anfangs mit den Konservativen im Parlament
Mullah-Millionäre mit dem bürokratischen Netzwerk des politischen
zusammen, um die linke Fraktion, die bis 1992 die Mehrheit inne
Establishments zu verknüpfen, um so die Basis des Regimes zu ver
hatte, zu isolieren und die Wirtschaft zu liberalisieren. Es gab j edoch
breitern. Auf der anderen Seite versuchte er, die Masse der Bevöl
auch wichtige Unterschiede. Während die Pragmatiker vor allem die
kerung zufriedenzustellen, indem er sie mit Konsumgütern aus dem
Industrie forderten und für eine etwas freiere gesellschaftliche und
Westen überhäufte. Beide Strategien zeigten freilich nicht die er
kulturelle Praxis eintraten, setzten sich die Konservativen für das Ba
wünschte Wirkung. Die staatliche Machtelite war zwar bereit, den
sarwesen ein und bestanden auf einer strikten Befolgung der islami
Neureichen einen größeren Einfluss zuzugestehen, fürchtete jedoch
schen Regeln.
gleichzeitig, dass diese das gesamte Regime untergraben würden, in-
Von 1993 an führten die unterschiedlichen Auffassungen der Kon-
1 20
7· Rafsandschani: Vom
Populismus zum Neoliberalismus
servativen und der Pragmatiker unter dem Druck der wirtschaft lichen Probleme immer häufiger zu Konflikten. Ein Teil von Rafsan dschanis Wirtschaftspoliti.l<. wie die Stärkung der Banken und ein effi zienteres Steuersystem, schadete den Interessen der Bazaris. Der konservative Parlamentsvorsitzende Nateq Nuri trat als ihr Vertei diger auf: «Der Basar wurde in der islamischen Kultur immer a1s Kno tenpunkt kultureller, sozialer und wirtschaftlicher Aktivitäten be trachtet. ( . . . ) Zufriedenheit, Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit sind das Wichtigste im Basar, und das Aufkommen von islamischen Bewegun gen aus dem Basar ist der Beweis dafür.»ro Die Konservativen befürch teten zudem, dass Rafsandschanis wirtschaftliche Liberalisierung das System zu sehr destabilisieren würde, und traten auf die Bremse. Mitte der neunziger Jahre eskalierte der Konflikt zwischen den Pragmatikern und den Konservativen in einem Machtkampf zwi schen Präsident Rafsandschani und dem Obersten Führer Chamenei. Die Konservativen obstruierten nicht nur das Parlament, sie setzten auch in großem Umfang die islamistischen Streitkräfte ein, Pasdaran und Basidsch, die islamische Verhaltensregeln in der Öffendichkeit strenger durchsetzen und auf diese Weise deutlich machen sollten, dass nicht Rafsandschani, sondern sie das Sagen hatten. Die Konser vativen erhielten auch die Unterstützung informeller Netzwerke von Islamisten wie der Ansar-e Hizbollah (der Partei Gottes), die Zusam menkünfte von Andersdenkenden angriffen. Je mehr die Konservativen Rafsandschani in die Quere kamen, umso mehr bewegte er sich auf die linke Fraktion im Parlament zu, um seine Position zu stärken. Die linke Fraktion war für diese An näherungsversuche aufgeschlossen, da sie selbst in den Jahren davor von den Konservativen unentwegt behindert worden war. So hatte der konservative Wächterrat viele ihrer Kandidaten für die Parla mentswahlen 1992 abgelehnt. Die politischen Unterschiede zwischen Rafsandschani und der linken Fraktion waren kleiner geworden, da Letztere die freie Marktwirtschaft nicht mehr ablehnte und ihr Anti amerikanismus ein ganzes Stück moderater geworden war. Außerdem war die linke Fraktion zu der Einsicht gelangt, das Parlament und das
Pragmatiker gegen Konservative
121
Amt des Staatspräsidenten als vom Volk gewählte Institutionen müss ten künftig mehr Einfluss haben. Dahinter standen anfangs vor a1lem taktische Erwägungen. In den achtziger Jahren stand Chomeini als Oberster Führer ihren sozialökonomischen Auffassungen näher, Chamenei aber repräsentierte viel eher die konservativen Basaris. Die Koalition zwischen den Pragmatikern und der linken Fraktion, die gegen Ende von Rafsandschanis Präsidentschaft 1997 Gestalt an nahm, schuf faktisch die Grundlage für das Auftreten der Reformer um Chatami, der in jenem Jahr zum Präsidenten gewählt wurde. Raf sandschanis Erbe war vor allem der wirtschaftliche Wiederaufuau und die vorsichtige Liberalisierung, doch an den politischen Machtstruktu ren hatte er- ungeachtet seines Images als «iranischer Gorbatschow» kaum etwas geändert. Als Präsident war er dazu auch nicht in der Lage, aber er hatte nicht einmal die Absicht. «Als der Schah uns Freiheit gab, haben wir ihn aus dem Land gejagt. So einen Fehler begehen wir nicht noch einma1», erklärte er 1995 gegenüber einem Journalisten." Das bedeutet nicht, dass sich unter Rafsandschani in politischer Hinsicht nichts veränderte. Aus der puren Notwendigkeit heraus, ein großes Land mit einer modernen Wirtschaft steuern zu müssen, ver ringerte er die ideologische Rolle des Islam im Staat. So wurden zum Beispiel Beamte nicht mehr allein nach dem Kriterium ihrer religiö sen Loyalität, sondern auch aufgrund ihres Fachwissens ernannt. Im Allgemeinen wurde das politische Klima offener. Rafsandschanis Bru der lockerte als Chef von Fernsehen und Rundfunk die ideologischen Beschränkungen und ermöglichte so ein abwechslungsreicheres Pro grammangebot. Unterhaltung war nicht mehr tabu, zumindest in nerhalb bestimmter Grenzen. Chatami, der Minister für Kultur, er klärte, dass «Freiheit des Denkens und Respekt vor intellektueller Ehre zu den primären Zielen der Revolution» gehörten, und wandte eine weniger strenge Zensur an. Die Zahl der Zeitungen und Zeit schriften stieg von 102 im Jahr 1988 auf 369 im Jahr 1992. Er betonte, dass unter ihm fast 8ooo Bücher erschienen seien, dreimal mehr a1s vor der Revolution. 12 1992 wurde Chatami zum Rücktritt gezwungen, da er den Konservativen mit seiner Politik zu weit ging.
122
7-
Veränderungen in Kultur und Gesellschaft
Rafsandschani: Vom Populismus zum Neoliberalismus
Veränderungen in Kultur und Gesellschaft
123
öffendichen Leben sichtbar. In Teheran zum Beispiel, wo Rafsan dschanis wichtigster Verbündeter Bürgermeister war, wichen die re
Während in der ersten Hälfte der neunziger Jahre die Blicke der Staa
volutionären Slogans an den Hauswänden Reklameschildern und
tenlenker auf Rafsandschani gerichtet waren, weil sich jeder fragte,
Neonlichtern. Die Stadt platzierte selbst einige Slogans und Märty
ob er eine iranische <
rer-Porträts. Innerhalb von vier Jahren errichtete sie 138 Kulturzent
Innenpolitik vom Machtkampf zwischen Konservativen und Prag
ren und 27 Sportkomplexe und legte 6oo neue Parks an.14 Diese Stadt
matikern dominiert wurde, vollzogen sich unter der Oberfläche
erneuerung schuf vor allem für j unge Menschen Möglichkeiten der
Veränderungen, die viel größere Folgen haben sollten. Die sozialen,
Begegnung und stimulierte die Entwicklung neuer kultureller Aus
kulturellen und intellektuellen Entwicklungen fielen nicht direkt auf;
drucksformen. Der so entstehende öffentliche Raum war viel freier
manche hatten kleine und andere wiederum große Auswirkungen,
als in den achtziger Jahren.
doch alles in allem machten sie die iranische G esellschaft zu einer der
Die Verbreitung von Parabolantennen war ein Zeichen für die kul
dynamischsten in der Region. Diese Dynamik führte in eine Rich
turellen Veränderungen auch in der Privatsphäre. Für die Konserva
tung, die keine der politischen Fraktionen vorhergesehen oder ge
tiven waren die Satellitenschüsseln, die wie Pilze auf den Dächern
wünscht hatte.
wuchsen, die Tore, durch die die westliche <<MTV-Kultur» in die
Die Veränderungen gingen aus den Nachbeben der Revolution
Wohnzimmer eindrang. Natürlich saugten die Iraner die kulturellen
hervor oder waren unbeabsichtigte Nebenwirkungen der wirtschaft
Einflüsse von außen nicht wie Schwämme auf; sie wählten aus und
lichen und politischen Entwicklungen. Vor allem aber wurden sie
vermischten sie mit ihren eigenen kulturellen Praktiken. Dennoch
von den sozialen Kräften bewirkt, die die Revolution in der Gesell
reagierten die Konservativen hysterisch und verabschiedeten 1995 ein
schaft freigesetzt hatte und die die neuen Machthaber nicht unter
Gesetz, das Parabolantennen verbot. Die Behörden kamen aber nicht
Kontrolle bringen konnten.
gegen die trotzige Beharrlichkeit an, mit der konfiszierte Satelliten
In kultureller Hinsicht wurde in den neunziger Jahren die zuvor
schüsseln schnell ersetzt wurden, und duldeten sie irgendwann. Das
aggressive Durchsetzung islamischer Verhaltensregeln im öffentli
Gleiche geschah mit illegalen Videofilmen. Als die Regierung merkte,
chen Leben moderater. Es war zum Beispiel nicht mehr so verpönt,
dass sie den privaten Austausch solcher Filme nicht unterbinden
wenn Frauen sich schminkten. Das war übrigens voll und ganz den
konnte, versuchte sie, diese durch Konkurrenz zu verdrängen, und
Frauen selbst zu verdanken, die ständig die Grenzen des Erlaubten
vergab Konzessionen für Videotheken, in denen vom Staat geneh
ausreizten. Sie spielten ein permanentes Katz-und-Maus-Spiel mit
migte Filme ausgeliehen werden konnten. Ihre Kontrolle über das,
den Monkerat, der Sittenpolizei. 1990 wurden innerhalb von vier Mo
was unter dem Ladentisch weitergereicht wurde, war allerdings nicht
naten allein in Teheran 607 Frauen verhaftet, weil sie gegen die Klei
besonders groß.
dungsvorschriften verstießen, 6589 mussten eine Erklärung unter
Das Wiederaufleben der Kunst, vor allem des Films, war ein frühes
schreiben, dass sie sich künftig an das Gesetz halten würden, und
Indiz für die soziokulturellen und intellektuellen Unterströmungen
46 ooo erhielten eine Verwarnung. r3 Viele Frauen ließen sich davon je
in der Gesellschaft. Das iranische Kino kämpfte sich frei von der Ob
doch nicht einschüchtern, setzten sich weiterhin über die Regeln hin
session für Islam und Krieg und schlug einen neuen Weg ein. Einige
weg und eroberten immer mehr Bewegungsfreiheit.
erfolgreiche Filmemacher, die auf die internationalen Festivals vor
Die kulturellen Veränderungen wurden auch auf andere Weise im
drangen, produzierten ein unabhängiges Kino, das sich sowohl von
124
7· Rajsandschani:
Veränderungen in Kultur und Gesellschaft
Vom Populismus zum Neoliberalismus
125
Hollywood als auch von der politischen Zensur zu befreien versuchte.
plötzlich zum Mikrofon greift und die reichen Freunde seines Schwie
Ihre Filme schufen eine Arena für Reflexion, Diskussion und Debatte
gervaters begrülk «Willkommen die, die mit verschiedenen Socken
darüber, was und wie der Iran war oder sein sollte, nachdem er nun
gekommen sind [ein Zeichen der Armut]; auch willkommen die, die
seine Unabhängigkeit gewonnen hatte. Das Dilemma, in dem viele
mit verschiedenen Autos gekommen sind.» Haddschi verkörperte die
Künstler und Intellektuelle steckten, hatte schon 1990 der Philosoph
Zehntausende Iraner aus hauptsächlich armen Familien, die ihr Land
Sorusch formuliert (siehe folgendes Kapitel), der zu Anfang seiner
verteidigt hatten und es bei der Rückkehr in den Händen der Mullah
Karriere selbst Islamist gewesen war:
Millionäre unter der Führung ihres Oberhauptes Rafsandschani wie derfanden.
Wir iranischen Muslime sind die Erben und Träger dreier Kulturen zugleich.
Ein Teil der echten Haddschis bewahrte einen nostalgischen Hang
Solange wir unsere Bindung an Elemente aus diesem dreifachen kulturellen
zu den achtziger Jahren als einer Zeit, in der egalitäre Ideale an erster
Erbe und unsere kulturelle Geographie ignorieren, werden wir keine kon
Stelle standen, und identifizierte diese Ideale mit dem «reinen» Islam.
struktive soziale und kulturelle Praxis entwickeln ( . . . ). Die drei Kulturen, die unser gemeinsames Erbe bilden, sind von ihrem Ursprung her national, reli giös und westlich. Während wir tief verankert sind in einer alten nationalen
Sie schufen die Grundlage für den Erfolg des Neokonservatismus von Ahmadinedschad. Ein anderer Teil brach jedoch in die entgegenge
Kultur, sind wir auch von unserer religiösen Kultur umgeben, und zugleich
setzte Richtung auf, wie Mahmalbaf selbst. In seinem semi-autobio
werden wir immer wieder mit Wellen von westlichen Küsten überflutet. Wel
graphischen Film A Moment of Innocence (1996) nahm er Abschied von
che Lösung wir auch für unsere Probleme ersinnen, sie werden aus der Mi
seiner islamistischen Vergangenheit. I n diesem Film sucht er den
schung dieses kulturellen Erbes hervorgehen.r;
Polizisten auf, den er in seiner Jugend niedergestochen hatte, um das tragische Ereignis von zwei jungen Akteuren nachspielen zu lassen
Die Metamorphose des bekannten Cineasten Mohsen Mahmalbaf
und zu verfilmen, doch die Wiederholung bekommt ein Happy End. '6
von einem leidenschaftlichen Chomeinisten zu einem freisinnigen
In diesem Zeitraum fanden auch einige soziale Entwicklungen
Kritiker ist bezeichnend für die intellektuellen Umbrüche. Nachdem
statt, die das Gesicht der Gesellschaft drastisch veränderten. Als Erstes
er 1978 aus dem Gef
ist hier das explosive Wachstum der Bevölkerung und die sich daraus
sich rückhaltlos für die Islamische Republik eingesetzt mit Filmen,
ergebende Änderung ihrer Zusammensetzung zu nennen, was pa
die die islamische Utopie verherrlichten und den linken und säku
radoxerweise vom Regime selbst stimuliert worden war. Chomeini
laren «Materialismus)) anprangerten. Ende der achtziger Jahre drehte
hatte die Benutzung von Antikonzeptiva abgelehnt, wodurch das Be
er jedoch einige Filme, in denen seine Enttäuschung anklingt. In
Die
völkerungswachstum in den achtziger Jahren 3,9 Prozent erreichte.
(Arusi-ye Chuban, 1989) zeigt er zum Bei
Von den 6o Millionen Iranern im Jahr 1995 waren zwei Drittel jünger
spiel, wie Haddschi, ein junger Soldat, dessen Psyche die Spuren des
als dreißig. Die Hälfte der Bevölkerung hatte die Revolution nicht
Krieges trägt, von der Front zurückkehrt und sich nicht an die neue
miterlebt, und sechzig Prozent lebten in Städten.'? Besonders die bei
Hochzeit der Gesegneten
Situation anpassen kann. In den ersten Szenen blickt j emand durch
den letztgenannten Aspekte hatten weitreichende politische Folgen.
ein Mercedes-Logo auf die Parolen an den Hauswänden - es ist sein
Die Islamische Republik konnte sich immer weniger auf die schlim
zukünftiger Schwiegervater, ein Mullah. Diese kritische Anspielung
men Verhältnisse unter dem Schah berufen, sondern musste einer
auf die Selbstbereicherung an der Spitze und den Verrat «seiner)} Re
jungen, urbanen Bevölkerung selbst etwas zu bieten haben.
volution wird expliziter, als er während seiner Hochzeitszeremonie
Als an die Stelle der ideologischen Motive allmählich eine pragma-
126
]. Rafsandschani: Vom Populismus zum Neoliberalismus
Veränderungen in Kultur und Gesellschaft
127
tischere Haltung trat, startete die Regierung mehrere Kampagnen
Das Resultat all dieser Veränderungen war, dass eine dynamische,
zur Familienplanung, die von den Vereinten Nationen zu den erfolg
selbstbewusste Bevölkerung gegen die Mauern eines rigiden politi
reichsten der Welt gezählt "WUrden. Das Bevölkerungswachstum sank
schen Systems mit konservativen Normen und Werten prallte. Das
auf 1,8 Prozent um
führte unweigerlich zu wachsenden sozialen und politischen Span
1995. Es erfolgte eine breit angelegte Öffentlich
keitsarbeit, und es wurden Kondome zur Verfügung gestellt. Paare mit Heiratsplänen waren zur Teilnahme an einem Familienplanungs
nungen. Im Oktober
1994 unterzeichneten 124 Schriftsteller, Journalisten
kursus verpflichtet. Diese Art Entwicklungen beeinflussten die Auf
und Künstler einen Brief, in dem sie die Verletzung der Menschen
fassungen über die Ehe und die Rolle der Ehefrau. Aufgrund verschie
rechte verurteilten. Sofort wurden einige von ihnen unter Druck ge
dener Paktoren begann die Kernfamilie an die Stelle der Großfamilie
setzt, ihre Unterschrift zurückzunehmen. Einen Monat später starb
zu treten. Als wichtige Folge davon verlor die traditionelle Position
Ali-Akbar Sa'idi Sirdschani, ein bekannter Schriftsteller und Dissident,
(risch-sefid, «weißer Bart») allmählich an Ge
der seit Beginn des Jahres im Gefangnis saß, unter suspekten Umstän
wicht, während junge Menschen eine wichtigere Rolle bekamen. Die
des Familienältesten
den. Immer mehr Intellektuelle, Studenten und Gewerkschaftler er
schwächere Bindung an autoritäre Familienstrukturen wirkte sich
hoben ihre Stimme und veranstalteten auch Demonstrationen.
zweifellos darauf aus, wie Menschen die politischen Verhältnisse wahrnahmen. Die Stellung der Prauen veränderte sich auch durch Entwicklun
Im Allgemeinen nahm der Widerstand in dieser Zeit j edoch eine andere Form an Indem sie die Grenzen des Erlaubten ständig neu .
ausloteten, indem sie im Alltagsleben an ihren Entscheidungen fest
gen außerhalb der Familie. Frauen, die arbeiten gehen wollten, wur
hielten, setzten sie die politischen Beschränkungen einem Prozess
den nach der Revolution entmutigt und auf ihre Mutterrolle verwie
stetiger Abnutzung aus. Eine andere Strategie war es, Regeln zu igno
sen; der Krieg aber zwang die Geistlichen und die politischen Führer,
rieren, indem man alles Verbotene im Privatleben erst recht tat. Das
die Teilnahme von Frauen in der Wirtschaft und im sozialen Leben zu
illustriert ein Witz über den Konsum von Alkohol: «Hat die Revolu
fördern. Der Platz der Männer, die an der Front kämpften, musste ja
tion viel verändert?», fragt ein Journalist einen Iraner, worauf dieser
ausgefüllt werden. Auch nach dem Krieg verstärkte sich dieser Trend,
antwortet: «Eigentlich nicht viel. Bis zur Revolution haben wir zu
1996 eine von acht Prauen berufstätig war, wie in der Zeit vor der
Hause gebetet und draußen getrunken. Seit der Revolution trinken
bis
Revolution.18 Ein weiterer wichtiger Faktor war die wachsende Teil
wir zu Hause und beten draußen.)) Die strikte Trennung zwischen pri
habe der Frauen im Bildungssystem. Mitte der neunzigerJahre waren
vatem und öffentlichem Leben ist eines der großen Ärgernisse vieler
40 Prozent aller Studierenden an den Hochschulen weiblich, gegen
Iraner, zugleich aber auch ein Mechanismus zum überleben.
über
12 Prozent vor der Revolution.
Der Ausbau des Bildungssystems war einer der bemerkenswertes ten Erfolge. Durch ein intensives Programm, in dem sich Tausende Freiwillige engagierten, wurde der Analphabetismus zurückgedrängt.
1996 konnten vier von fünf Iranern lesen und schreiben, während vor der Revolution die Hälfte der Bevölkerung Analphabeten waren. Die Zahl der Schüler an weiterführenden Schulen stieg von I Million 1987 auf 3,5 Millionen 1997.
8. Chatami: Von der Euphorie zur Enttäuschung
8. Chata mi: Von
der E u phorie zur E nttä usch ung (1997-2005)
Die Euphorie, die am 23 . Mai 1997 über den Iran hereinbrach, lässt sich kaum beschreiben. In den Straßen Teherans spielten sich Szenen ab, die man bis dahin nur bei einem großen Sieg der Fußball-Natio nalelf gesehen hatte: Autos fuhren hupend hin und her, Jugendliche schwenkten die iranische Fahne, und hier und da \\-'urde sogar ge tanzt. «Ein historischer Sieg», «Hoffuung» und «Mandat für einen Wandel» lauteten die Schlagzeilen in den Zeitungen, die am folgen den Tag den Sieg des reformorientierten Chatami bei den Präsident schaftswahlen bekanntgaben. Chatami, der erst 44 Jahre alt war, als er Präsident wurde, verkör perte für viele einen frischen Wind im Land der greisen Mullahs. Die Wahlbeteiligung war sehr hoch: 8o Prozent der Wahlberechtigten waren zur Urne gegangen, und 70 Prozent (fast 30 Millionen Iraner) hatten für ihn gestimmt. Dieser Sieg war umso bemerkenswerter, als der Gegenkandidat, der erzkonservative Parlamentsvorsitzende Na teq Nuri, vom Obersten Führer Chamenei unterstützt wurde und den gesamten Propagandaapparat zur Verfügung hatte. Er erhielt je doch nicht mehr als 7 Millionen Stimmen, eine blamable Niederlage. Chatami stand .für die Hoffuung auf einen Wandel oder, genauer gesagt, auf politische Reformen. Seine Regierung und seine politi schen Verbündeten im Parlament erhielten deshalb die Bezeichnung «die Reformer». Der Begriff «Reformbewegung>) schloss alle Kräfte ein, die Reformen anstrebten, sowohl Politiker als auch gesellschaft liche Organisationen und soziale Bewegungen. Ironischerweise hat ten die Konservativen selbst zu Chatamis Wahlsieg erheblich beige tragen. In den zwei Jahren vor seiner Wahl hatten sie ihre Offensive gegen «unislamische)) Werte und Normen verstärkt. Auf der Straße wurden Frauen und Jugendliche von Ordnungskräften schikaniert,
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Andersdenkende wurden von Mitgliedern der Ansar-e Hizbollah ein geschüchtert. Die Angst vor Rechtlosigkeit und Willkür nahm da durch enorm zu. Vor diesem Hintergrund konnte Chatamis Botschaft über die Be deutung von Freiheit und die Beachtung von Bürgerrechten auf viel Unterstützung zählen. Zwei Langzeittrends brachten Reformen an die Spitze der politischen Agenda. Erstens wurde deutlich, dass die sozialen und kulturellen Veränderungen mit den politischen Macht strukturen in Konflikt gerieten. Zweitens hatten die Fraktionen sehr unterschiedliche Ansichten zu der Frage, wie dieser Konflikt gemeis tert werden sollte. Freiheiten einschränken oder Freiheiten erweitern waren die beiden Antworten. Nach dem Scheitern Rafsandschanis zwischen 1989 und I997 unternahm Chatami einen neuen Versuch, der Islamischen Republik gesellschaftlichen Rückhalt zu verschaffen. Rafsandschanis ökonomische Liberalisierung hatte die Gegensätze zwischen großen Teilen der Gesellschaft und dem Staat nur verschärft. Vor allem durch die Krawalle I995 war ein Teil der politischen Elite zu der Erkenntnis gelangt, dass zur Erhaltung des sozialen Friedens mehr nötig war als Repression. Diese Gruppierung unter der Führung von Chatami plädierte für politische Reformen, um die Gegensätze zwi schen Staat und Gesellschaft zu verringern und eine politische Grund lage für die Legitimität der Islamischen Republik herzustellen. Die Millionen Wähler, die für Chatami stimmten, hatten äußerst hohe Erwartungen und glaubten fest daran, dass seine Regierung Reformen durchführen würde. Er trug zwar wie die anderen Mullahs ein Gewand und einen Turban, doch im Gegensatz zu ihren abge nutzten Predigten härte man von ihm Begriffe wie <