Lars Eric Kroll Sozialer Wandel, soziale Ungleichheit und Gesundheit
Gesundheit und Gesellschaft Herausgegeben von Ul...
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Lars Eric Kroll Sozialer Wandel, soziale Ungleichheit und Gesundheit
Gesundheit und Gesellschaft Herausgegeben von Ullrich Bauer Matthias Richter Uwe H. Bittlingmayer
Der Forschungsgegenstand Gesundheit ist trotz reichhaltiger Anknüpfungspunkte zu einer Vielzahl sozialwissenschaftlicher Forschungsfelder – z. B. Sozialstrukturanalyse, Lebensverlaufsforschung, Alterssoziologie, Sozialisationsforschung, politische Soziologie, Kindheitsund Jugendforschung – in den Referenzprofessionen bisher kaum präsent. Komplementär dazu schöpfen die Gesundheitswissenschaften und Public Health, die eher anwendungsbezogen arbeiten, die verfügbare sozialwissenschaftliche Expertise kaum ernsthaft ab. Die Reihe „Gesundheit und Gesellschaft“ setzt an diesem Vermittlungsdefizit an und systematisiert eine sozialwissenschaftliche Perspektive auf Gesundheit. Beiträge der Buchreihe umfassen theoretische und empirische Zugänge, die sich in der Schnittmenge sozial- und gesundheitswissenschaftlicher Forschung befinden. Inhaltliche Schwerpunkte sind die detaillierte Analyse u. a. von Gesundheitskonzepten, gesundheitlicher Ungleichheit und Gesundheitspolitik.
Lars Eric Kroll
Sozialer Wandel, soziale Ungleichheit und Gesundheit Die Entwicklung sozialer und gesundheitlicher Ungleichheiten in Deutschland zwischen 1984 und 2006
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Dissertation, Humboldt-Universität zu Berlin, Philosophische Fakultät III, 2010
. . 1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Umschlagfoto: Alper Çuğun – http://alper.nl Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16803-6
Inhalt
Vorwort
7
1 Einleitung
9
2 Theoretischer Hintergrund 2.1
18
Wandel der Theorie sozialer Ungleichheit................... 18 2.1.1 Klassische Theorien des 19. und 20. Jahrhunderts......................................................... 20 2.1.2 Ansätze der Nachkriegszeit ..................................... 25 2.1.3 Neuere Zugänge ...................................................... 29 2.1.4 Wandel sozialer Ungleichheiten.............................. 40
2.2
Wandel der Theorie gesundheitlicher Ungleichheit.... 51 2.2.1 Strukturelle Erklärungsansätze................................ 52 2.2.2 Individuelle Erklärungsansätze ............................... 59 2.2.3 Wandel gesundheitlicher Ungleichheit.................... 74
3 Soziale Ungleichheiten im Wandel 3.1
88
Wandel des Sozialstaats ................................................. 89 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4
Herausbildung moderner Wohlfahrtsstaaten ........... 89 Der Sozialstaat der alten Bundesrepublik................ 96 Das wohlfahrtsstaatliche Arrangement der DDR .. 102 Strukturelle Herausforderungen der deutschen Sozialpolitik....................................................... 103 3.1.5 Sozialpolitik zwischen 1982 und 2005.................. 112 3.2
Wandel der Sozialstruktur .......................................... 122 3.2.1 Datengrundlagen ................................................... 123
Inhaltsverzeichnis
3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.3
6
Allgemeine Wohlfahrtsentwicklung...................... 125 Bildungsbeteiligung............................................... 141 Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt................... 151 Veränderungen der Einkommensverteilung .......... 163
Zunahme und Verschärfung sozialer Ungleichheiten .............................................................. 172
4 Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel 4.1 4.2 4.3
179
Datengrundlagen .......................................................... 180 Gesundheitsbewusstsein............................................... 183 Gesundheitsverhalten................................................... 193 4.3.1 Tabakkonsum ........................................................ 194 4.3.2 Körperliche Aktivität............................................. 206
4.4
Gesundheitsrisiken und Gesundheitszustand ............ 216 4.4.1 Adipositas.............................................................. 218 4.4.2 Subjektive Gesundheit........................................... 228
4.5
Entwicklungen und Determinanten des Wandels gesundheitlicher Ungleichheiten ................................. 244 4.5.1 Zusammenfassung der Ergebnisse zum Wandel gesundheitlicher Ungleichheiten ....................... 244 4.5.2 Determinanten des Wandels gesundheitlicher Ungleichheiten................................................... 253
5 Fazit
259
Literaturverzeichnis
271
Vorwort
Die vorliegende Studie wurde im Rahmen eines Promotionsstipendiums des Robert Koch-Instituts in Berlin erstellt. Ich möchte mich bei den Gutachtern der Dissertation, Herrn Prof. Dr. Bernd Wegener (Humboldt-Universität zu Berlin) und Herrn Prof. Dr. Siegfried Geyer (Medizinische Hochschule Hannover) für die Betreuung der Arbeit bedanken. Am Robert Koch-Institut wurde das Projekt von der Leiterin der Abteilung „Epidemiologie und Gesundheitsberichterstattung“ Frau Prof. Dr. Bärbel-Maria Kurth sowie dem Leiter des Fachgebiets „Gesundheitsberichterstattung“ Herrn Dr. Thomas Ziese ermöglicht, wofür ich mich sehr herzlich bedanke. Mein besonderer Dank gilt Dr. Thomas Lampert mit dem ich seit vielen Jahren vertrauensvoll zusammenarbeite. Seiner Unterstützung – wie auch seiner Kritik – haben diese Studie und ihr Autor viel zu verdanken. Außerdem möchte ich auch den Kolleginnen und Kollegen in der Abteilung 2 für die gute und angenehme Zusammenarbeit danken. Stellvertretend für viele andere möchte ich an dieser Stelle Dr. Christine Hagen, Dr. Eckardt Bergmann, Dr. Cornelia Lange und Dr. Heribert Stolzenberg nennen. Ich möchte mich außerdem bei meinen Kolleginnen und Kollegen aus der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Soziologie e.V. für Ihre Hinweise und Anregungen bedanken. Insbesondere danke ich Prof. Dr. Matthias Richter für die Unterstützung bei der Veröffentlichung dieser Studie, Dr. Andreas Mielck für seine Anregungen und für sein Engagement für das Thema der gesundheitlichen Ungleichheiten sowie Dr. Nico Dragano und Dr. Simone Weyers für die gute Zusammenarbeit und ihr Engagement für den wissenschaftlichen Nachwuchs. Nicht zuletzt möchte ich mich bei meiner Lebensgefährtin, meinen Freunden und unserer Familie für ihre Unterstützung bedanken.
1 Einleitung
Alle modernen Wohlfahrtsstaaten haben historisch gewachsene Institutionen, die ihre Bürgerinnen und Bürger vor den Folgen existenzieller Lebensrisiken – wie Arbeitslosigkeit, Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Unfall oder Alter – absichern (Ullrich 20005, Kaufmann 2003, Alber 2001). Die unterschiedliche Ausgestaltung dieser Institutionen geht auch mit typischen Unterschieden in der Struktur sozialer Ungleichheiten einher (Esping-Andersen, 1990). Durch die demographische Alterung ihrer Bevölkerungen und die Folgen der wirtschaftlichen Globalisierung stehen die meisten Staaten heute allerdings vor Herausforderungen, die ihre etablierten wohlfahrtsstaatlichen Institutionen in Frage stellen (EspingAndersen 2002, Hemerijck 2002). Dies hat dazu geführt, dass viele Regierungen ihre sozialpolitischen Programme überprüft und auch reformiert haben. Die vorliegende Arbeit untersucht, welche Folgen der wohlfahrtsstaatliche Wandel für die Struktur sozialer und gesundheitlicher Ungleichheiten hatte. Die Ausführungen konzentrieren sich auf die Entwicklung in Deutschland seit Beginn der 1980er Jahre und stellen diese im europäischen Vergleich dar. Eine hohe Arbeitslosigkeit, steigende Sozialversicherungsbeiträge, die deutsche Wiedervereinigung und nicht zuletzt die demographische Alterung der Bevölkerung waren in Deutschland die zentralen Fixpunkte politischer Debatten seit Mitte der 1980er Jahre. Die Politik musste auf diese Herausforderungen reagieren, um den Wohlstand der Bevölkerung und den Sozialstaat zu erhalten und für die Zukunft zu stärken (Mayer 2001). Sie hat dies bis zum Jahr 2008 durch Reformen in vielen Bereichen der Sozial-, Wirtschafts- und Gesundheitspolitik getan (Fleckenstein 2008, Schmidt 2005, Leibfried und Wagschal 2000). Zentrale Neuorientierungen betrafen dabei insbesondere die Finanzierung der Alterssicherung und der pflegerischen Versorgung sowie die soziale Absicherung von Arbeitslosen. Einige Beobachter in Wissenschaft und Politik haben in den sozialpolitischen Reformen der verschiedenen Bundesregierungen eine Abkehr von den zentralen Prinzipien des deutschen Sozialstaats gesehen (Butterwegge 2006, Die Linke 2007). Inwieweit dem zuzustimmen ist, erscheint aber fraglich (Schmidt 2005, S.149ff). Angesichts des weitgehenden Zusammenbruchs der internationalen Finanzmärkte im Jahr 2008 und einer einsetzenden weltweiten Rezession im Jahr 2009 (SVR Wirtschaft 2008) ist die Frage, wie sich der Sozialstaat und mit ihm die sozialen Ungleichheiten in Deutschland
10
Einleitung
entwickeln, allerdings von Neuem hochaktuell geworden. Nachfolgend sollen die sozialen und gesundheitlichen Folgen der sozialpolitischen und wirtschaftlichen Veränderungen untersucht werden, die in der Öl- und Wirtschaftskrise der Jahre 1973 und 1974 ihren Ausgangs- und in der Rekordzahl von fast 5 Millionen Arbeitslosen im Jahr 2005 in Deutschland ihren vorläufigen Höhepunkt hatten. Ungeachtet einer schwierigen gesamtwirtschaftlichen Lage und einer anhaltend hohen Arbeitslosenquote gingen prominente Vertreter der deutschen Sozialstrukturanalyse in den 1980er und 1990er Jahren noch von einer abnehmenden Bedeutung und Sichtbarkeit vertikaler sozialer Ungleichheiten aus (Geißler 1996, Haller 2006). Viele Autoren haben dabei die Ansicht vertreten, dass durch die allgemeinen Wohlfahrtssteigerungen in der Gesellschaft ein ‚Fahrstuhleffekt’ eingesetzt habe, durch den soziale Unterschiede zwar auf einem höheren Niveau fortbestehen, aber für die Menschen an lebensweltlicher Bedeutung verloren haben und dadurch latent geworden sind (Schelsky 1965, Bolte 1966, Beck 1994). Wichtigster Vertreter dieser Argumentation ist Ulrich Beck (Beck 1984, 1994). Er beschreibt in seiner „Risikogesellschaft“ (Beck 1986) eindrucksvoll einen Prozess der Herauslösung der modernen Menschen aus traditionellen Bindungen an Fürst, Familie und Stand, der zu einer bisher ungekannten Individualisierung von Entscheidungsmöglichkeiten und Lebensrisiken geführt hat. Beck vertrat in den 1980er und 1990er Jahren die Ansicht, dass es durch den Prozess der Individualisierung zu einer Entstrukturierung sozialer Ungleichheiten kommt, was für die Menschen „jenseits von Klasse und Stand“ zu neuen riskanten Wahlfreiheiten führe (Beck 1994). Aufbauend auf dieser These geht Gerhard Schulze in seiner Diagnose der „Erlebnisgesellschaft“ davon aus, dass – infolge einer größeren Bedeutung der Freizeitgestaltung – die Erlebnisorientierung der Menschen zum wichtigsten sozialen Differenzierungsmerkmal wird (Schulze 1992). In neueren Arbeiten der Ungleichheitsforschung setzt sich diese Argumentationslinie fort (Hradil 2001, Schäfers 2004). Lebensstile oder auch komplexe Soziallagen werden hier jenseits von Stand, Klasse und der sozialen Schicht als die neuen zentralen Elemente der Ungleichheitsstruktur angesehen. Kann also angesichts dieser Thesen auf eine Verringerung sozialer Ungleichheiten gehofft werden, wenn sich doch Verhaltensweisen, Einstellungen und Lebenschancen zunehmend von der Klassenlage oder der sozialen Schicht lösen? Im Unterschied zu den Arbeiten aus der deutschen Sozialstrukturanalyse der späten 1980er und frühen 1990er Jahre gingen prominente soziologische Zeitdiagnosen1 in dieser Zeit bereits von einer Verschärfung sozialer Un1 Soziologische Zeitdiagnosen beschreiben allgemeine Entwicklungstrends von Gesellschaften (Schimank 2000). Sie sind dabei enger und konkreter gefasst als generelle soziologische
Einleitung
11
gleichheiten und einer sozialen Krise der westlichen Wohlfahrtsstaaten aus (Schimank und Volkmann 2000, Volkmann 2002). Einflussreiche Soziologen wie Anthony Giddens, Pierre Bourdieu und Richard Sennett stellen in ihren Werken zu den „Consequences of Modernity“ (Giddens 1990), zu „La misère du monde“ (Bourdieu 1993) und zu „The Corrosion of Character“ (Sennett 1998) seit Beginn der 1990er Jahre – jenseits der traditionellen Sozialstrukturanalyse – die soziale Nachhaltigkeit des gesellschaftlichen Wandels infrage. So geht Anthony Giddens davon aus, dass mit der wirtschaftlichen Globalisierung, als deren vorrangiges Kennzeichen er die Intensivierung und raumzeitliche Entgrenzung sozialer Beziehungen sieht, eine radikalisierte Moderne entstanden ist (Giddens 1990). In ihr werde die Lebenswirklichkeit der Menschen immer stärker durch ihre Umwelt und damit durch Ereignisse, die sich mitunter auf der anderen Seite der Welt abspielen, beeinflusst. Als zentrale sozialstrukturelle Folge der mit der ökonomischen Globalisierung einhergehenden Globalisierung sozialer Risiken sieht Giddens eine Ausweitung von Einkommensunterschieden und eine Zunahme von Ausgrenzungen auf dem Arbeitsmarkt (Giddens 1999). Auch Pierre Bourdieu beschreibt in seinem Essay zum „Elend der Welt“ die Risiken einer Moderne, in welcher er den Wohlfahrtsstaat durch den politischen Einfluss des Neoliberalismus bedroht sieht (Bourdieu 1993). Durch den Rückzug des Staates aus immer mehr gesellschaftlichen Funktionen würden wirtschaftliche und soziale Risiken zunehmend dem Einzelnen aufgebürdet. Der Rückzug des Staates verschärft dadurch letztlich soziale Ungleichheiten und gefährdet die soziale Integration der Gesellschaft. Richard Sennett sieht auch die Persönlichkeit des modernen Menschen durch die zunehmende Flexibilisierung des Arbeitsmarktes bedroht (Sennett 1998). Einerseits verringert sich die Verhandlungsmacht des Einzelnen gegenüber den immer größer und unübersichtlicher werdenden Organisationen, andererseits nimmt seine Abhängigkeit von der Erwerbsarbeit zu. Er wird dadurch zwangsläufig immer flexibler und mobiler. Das Leben des hochmobilen ‚flexiblen Menschen’ läuft dabei Gefahr, nicht nur aus überkommenen traditionellen Bindungen, sondern aus allen sozialen Zusammenhängen herausgelöst zu werden. Der moderne Mensch steckt in einem unauflösbaren Dilemma, er muss arbeiten um zu leben, wird aber durch die Arbeit selbst in seinem Innersten bedroht. Aus Perspektive der geschilderten Arbeiten scheint es, dass diejenigen, die sich nicht flexibel an die Erfordernisse der globalisierten Wirtschaft anpassen und sich angesichts schrumpfender Sozialstaaten nicht selbst helfen können – etwa weil ihre Qualifikationen nicht mehr den hohen Anforderungen der modernen Wirtschaft genügen – durchs Raster der flexiblen Gesellschaft fallen. Gesellschaftstheorien, haben aber einen Erklärungs- und Beschreibungsanspruch, der über Nationalgesellschaften hinausreicht.
12
Einleitung
In der deutschen Soziologie mehrten sich in den 1990er Jahren ebenfalls wieder Stimmen, die vor zunehmenden und sich verschärfenden sozialen Ungleichheiten und neuen gesellschaftlichen Spaltungen warnten. Ralf Dahrendorf vertrat etwa die These, dass angesichts einer allgegenwärtigen Massenarbeitslosigkeit in den westlichen Wohlfahrtsstaaten die zentrale Bedeutung der Erwerbstätigkeit für die Vermittlung von Lebenschancen erhalten bleibe und sich die Konflikte zwischen Insidern und Outsidern auf dem Arbeitsmarkt zunehmend verschärfen würden (Dahrendorf 1992). Arbeit werde durch die zunehmende Rationalisierung von Betrieben und Organisationen – aufgrund der weiteren Steigerung der internationalen wirtschaftlichen Konkurrenz – zunehmend zu einem knappen Gut. Dauerhafte Arbeitslosigkeit stelle damit individuell das wichtigste Risiko für den dauerhaften Ausschluss von Lebenschancen und kollektiv die bedeutendste Bedrohung für die soziale Integration der Gesellschaft dar. Der Systemtheoretiker Niklas Luhmann, der soziale Ungleichheiten lange Zeit als Kennzeichen einer vormodernen, hierarchisch differenzierten Gesellschaft angesehen hat, musste angesichts von Beobachtungen südamerikanischer Favèlas ebenfalls eingestehen, dass es auch in der funktional differenzierten Moderne beträchtliche Unterschiede in Lebensformen und Sozialchancen gibt (Luhmann 1997). In seinem Spätwerk betrachtete er soziale Ungleichheit als Nebenprodukt des rationalen Operierens von Erziehungs- und Wirtschaftssystem. Im Zuge der weiteren Steigerung der Komplexität funktional differenzierter Gesellschaften steigen die Risiken für sich selbst verstärkende soziale Ungleichheiten in der Gesellschaft, so Luhmann (1997, S. 776). Jürgen Habermas sieht in der Transformation der Wohlfahrtsstaaten im Zuge der neoliberalen politischen Programme eine Gefahr für die sozialen Integrationskräfte der Gesellschaften (Habermas 1998). Sie steigerten, so Habermas, die wirtschaftlichen Unsicherheiten in der Bevölkerung und verschärften Verteilungskonflikte zwischen der Bevölkerungsmehrheit und den vom Wohlstand ausgegrenzten Unterklassen. Auch Ulrich Beck (1999, 2007), der sich zuvor von der verblassenden Bedeutung vertikaler Ungleichheiten überzeugt gab, zeichnet in seinen aktuellen Arbeiten ein düstereres Bild der modernen Sozialstruktur und ihrer Ungleichheiten. Im Zuge der Globalisierung und des Finanzmarktkapitalismus werden demnach nicht nur die individuellen Entscheidungsmöglichkeiten, sondern auch soziale, wirtschaftliche und umweltbezogene Risiken zunehmend individualisiert. So entstehe im Zuge des sozialen Wandels keine Weltgesellschaft, sondern gar eine Weltrisikogesellschaft (Beck 2007). In vielen aktuellen Arbeiten werfen Soziologen die Frage auf, ob die soziale Ausgrenzung von nicht marktgängig qualifizierten Menschen nicht das zentrale Charakteristikum der heutigen globalisierten Gesellschaften ist (Kronauer 2002, Bude und Willisch 2007). Zusammengenommen zeichnen die Arbeiten der zeitgenössischen Soziologie in Deutschland
Einleitung
13
somit ein ebenso dunkles Bild von den sozialen Folgen des gesellschaftlichen Wandels wie die internationalen Zeitdiagnosen. Die strukturellen Veränderungen der Gesellschaft werden von der Soziologie anhand des Begriffs des ‚sozialen Wandels’ beschrieben (Scheuch 2003). Die Soziologie fragt danach, ob gesellschaftliche Veränderungen in eine spezifische Richtung weisen und welche Folgen sie für das Leben und Erleben der Menschen haben. Wie zutreffend ist also das soziologische Bild der sozialen Folgen des Wandels der Gesellschaft? Hat der soziale Wandel zu einer entstrukturierten Gesellschaft geführt, in der sich die Lebensrisiken der Akteure vollständig individualisiert haben, oder doch zu einer, in der ihre Lebenschancen wieder stärker sozial strukturiert werden? Während die mediale und wissenschaftliche Aufmerksamkeit gegenüber dem Themenfeld „Soziale Ungleichheit“ wieder stark zugenommen hat ist bisher weniger eindeutig herausgearbeitet worden, ob sich auch die Bedeutung der sozialen Lage für die Lebenswelt der Akteure vergrößert hat. In dieser Arbeit wird, orientiert am Modell der soziologischen Erklärung von Hartmut Esser (Esser 1999-2001, Esser 2004, Kroneberg 2007), ein theoretischer Maßstab zur Analyse des Wandels skizziert und empirisch umgesetzt. Das Modell der soziologischen Erklärung beschreibt die soziale Strukturiertheit Handelns von Akteuren und begründet Zusammenhänge auf der gesellschaftlichen Strukturebene durch den Bezug auf individuelle Wahrnehmungen und Handlungen (Esser 1993, 1999-2001, 2004).2 Aufbauend auf diesem Zugang wird in dieser Studie argumentiert, dass sich die lebensweltliche Bedeutung der Stellung im Gefüge sozialer Ungleichheit über ihre Strukturierung handlungsrelevanter Ressourcen bestimmen lässt. Neben sozialen Ungleichheiten im Allgemeinen werden auch gesundheitliche Ungleichheiten im Besonderen durch den sozialen Wandel beeinflusst. Gesundheitliche Ungleichheiten sind sozioökonomische Unterschiede in Krankheitsrisiken und Gesundungschancen, die zwischen Populationen oder Individuen bestehen können. Es wird in allen Gesellschaften bis zu einem gewissen Punkt akzeptiert und teilweise sogar als stabilisierendes Element der sozialen Ordnung verstanden, wenn hoch bewertete Güter und Ressourcen ungleich verteilt sind (Dahrendorf 1992). Drücken sich soziale Ungleichheiten aber auch darin aus, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen gesünder sind und länger leben als andere, wird soziale Gerechtigkeit also zu einer Frage von Leben und Tod (WHO 2008, S.3), dann steht dies im Widerspruch zum sozialstaatlichen Selbstverständnis und dem Gerechtigkeitsempfinden vieler Menschen. In den letzten Jahren werden gesundheitliche Ungleichheiten zunehmend als ein weltweites 2
Von sozialen Akteuren wird angenommen, dass sie durch ihre Handlungen durch ihre Ressourcen, ihre Erwartungen, ihre Ziele und ihre sozialen Beziehungen beeinflusst werden. Dies entspricht dem von Lindenberg konkretisierten Modell des Homo Sozio-Oeconomicus (Lindenberg 1990).
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Einleitung
Problem angesehen und auch ihre Verringerung auf nationaler und auch internationaler Ebene wird explizit eingefordert und politisch vorangetrieben (WHO 2008, KOM 2007). Den Folgen des Wandels sozialer Ungleichheiten wird damit auch in der Gesundheitspolitik eine große Aufmerksamkeit gewidmet. Die meisten westlichen Wohlfahrtsstaaten blicken zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf ein Jahrhundert zurück, in dem es im Anschluss an die Katastrophe zweier Weltkriege außerordentliche Wohlstandszuwächse und eine beispiellose Steigerung der Gesundheit und Lebenserwartung gab (Riley 2001, Oeppen und Vaupel 2002).3 Ein Großteil der Krankheiten und Gesundheitsstörungen wird heute früher erkannt und erfolgreicher behandelt. Die Menschen werden immer älter und können häufig sogar bis ins hohe Alter hinein ein erfülltes, gesundes und selbstständiges Leben führen. Viele Beobachter haben daher gehofft, dass die Zunahme der allgemeinen Wohlfahrt zu einer Auflösung oder Zumindest einer Verringerung von sozialen Unterschieden in der Gesundheit führen würde (Siegrist und Marmot 2006). Trotzdem bestehen weiterhin ausgeprägte Unterschiede in der Verteilung des Krankheits- und Sterberisikos (Marmot 2005, Mackenbach 2006). Menschen mit geringer Ausbildung, niedrigem Berufsstatus oder unterdurchschnittlichem Einkommen sind weiterhin deutlich häufiger von vielen Erkrankungen und Gesundheitsstörungen betroffen als solche die gut ausgebildet sind, verantwortungsvollen beruflichen Tätigkeiten nachgehen oder ein überdurchschnittliches Einkommen erzielen (Mielck 2000, Lampert et al. 2007, Richter und Hurrelmann 2006). Sozial benachteiligte Männer und Frauen verfügen zudem über geringere Kompetenzen und Ressourcen um ihre Gesundheit zu erhalten und können einmal aufgetretene Krankheiten und Gesundheitsstörungen und auch psychosoziale Belastungen weniger erfolgreich bewältigen (Badura et al. 1987, Borgetto und Gerhardt 1993). Heute bestehen in Deutschland folglich nicht nur ausgeprägte soziale, sondern auch ausgeprägte gesundheitliche Ungleichheiten. Sie drücken sich insbesondere darin aus, das zwischen der Lebenserwartung der einkommensarmen und einkommensreichen Bevölkerung ein Unterschied von 10 Jahren bei Männern und 8 Jahren bei Frauen besteht (Lampert et al. 2007, Kroll und Lampert 2008). Die Sozialepidemiologie beschreibt die soziale Strukturierung der Gesundheit letztlich in zwei verschiedenen Varianten (Berkman und Kawachi 2000): Einerseits über strukturelle Zusammenhänge zwischen kollektiven Merkmalen und der gesundheitlichen Lage von Populationen und andererseits individuell über vermittelnde Mechanismen zwischen individuellen Situationen, Einstellun3 Im Jahr 1908 betrug die Lebenserwartung im Deutschen Reich bei Männern und Frauen nur etwa 44 bzw. 48 Jahre und nur etwa 10% der 1908 Geborenen hätte ernsthaft erwarten können, ihren 80. Geburtstag zu erleben. Betrachtet man dagegen die heutigen Neugeborenen, so werden etwa 50% der Jungen und sogar 80% der Mädchen 80 Jahre oder älter (Destatis 2008).
Einleitung
15
gen, Verhaltensweisen und ihren gesundheitlichen Konsequenzen. Eine Veränderung gesundheitlicher Ungleichheiten wird dabei bisher aus der strukturellen, nicht aber aus der individuellen Argumentation abgeleitet. So wird strukturell häufig argumentiert, dass mehr soziale Ungleichheit und weniger soziale Absicherung zu mehr gesundheitlicher Ungleichheit führe, es wird aber nicht mit Bezug zur Individualebene erklärt, warum das so ist. Im Resultat scheitern Versuche, diesen Zusammenhang empirisch zu belegen, meist (Dahl et al. 2006). Diese Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit stellt die Gesundheitsforschung bislang vor ein Dilemma. Die vorliegende Arbeit verfolgt das Ziel, durch eine Integration der bestehenden sozialepidemiologischen Erklärungsansätze mit Konzepten der erklärenden Soziologie (Esser 1999) Auswege aus diesem sozialepidemiologischen Dilemma aufzuzeigen. So soll die Veränderung der lebensweltlichen Bedeutung der Stellung im Gefüge sozialer Ungleichheit als Erklärung für die Veränderung gesundheitlicher Ungleichheiten herangezogen werden. Aufbauend auf dieser konzeptionellen Grundlage wird nachfolgend der Wandel sozialer und gesundheitlicher Ungleichheiten in Deutschland untersucht. Der Fokus liegt dabei auf dem Zeitraum zwischen 1984 und 2006. In diesen kurzen Zeitraum fällt nicht nur die deutsche Wiedervereinigung, sondern auch die grundlegende Transformation des deutschen Sozialstaates. Die Wiedervereinigung hat insbesondere die Bevölkerung der neuen Bundesländer einem rapiden Wandel sozialer Strukturen ausgesetzt (Bertram und Kollmorgen 2001). Die, in den 1990er Jahren verstärkten, Bemühungen zur Transformation des deutschen Sozialstaats, können als ein zusätzliches, dynamisierendes Moment für den Wandel sozialer Ungleichheiten angesehen werden, dass die gesamte Bevölkerung betrifft (Schmidt 2005). Die Konzeption der vorliegenden Studie beruht auf der Annahme, dass zwischen dem Wandel gesellschaftlicher Strukturen und der Entwicklung sozialer und gesundheitlicher Ungleichheiten ein enger Zusammenhang besteht. Eine Erklärung von Veränderungen im Bereich der sozialen und gesundheitlichen Ungleichheiten muss daher die Integration der Akteure in soziale Systeme und die Veränderung dieser Systeme berücksichtigen. Die zu überprüfende empirische Hypothese zum Wandel sozialer und gesundheitlicher Ungleichheiten in Deutschland lautet: Der soziale Wandel der deutschen Gesellschaft hat zu einer Verschärfung sozialer Ungleichheiten geführt, die sich auch in einer Ausweitung gesundheitlicher Ungleichheit manifestiert hat. Aus dieser allgemeinen These lassen sich vier Ausgangsfragen ableiten:
16
Einleitung
1.
Inwiefern hat sich der deutsche Sozialstaat zwischen 1984 und 2006 gewandelt?
2.
Wie hat sich die Struktur sozialer Ungleichheit verändert?
3.
Wie hat sich Struktur gesundheitlicher Ungleichheiten verändert?
4.
Lassen sich die Veränderungen in der Struktur gesundheitlicher Ungleichheiten auf die Veränderung sozialer Ungleichheit zurückführen?
Der Zusammenhang zwischen gesellschaftlichem Wandel, sozialer Ungleichheit und Gesundheit wird dabei in einem theoretischen und zwei empirischen Teilen untersucht.4 Im ersten Teil der Studie werden die theoretischen Grundlagen zur Analyse des Wandels sozialer und gesundheitlicher Ungleichheiten herausgearbeitet. Dazu wird die Entwicklung der Theorie sozialer Ungleichheiten geschildert und ein analytischer Zugang zur Analyse des Wandels sozialer Ungleichheiten entwickelt. Es folgt ein Überblick über sozialepidemiologische Theorien und Modelle zur Entstehung und Reproduktion gesundheitlicher Ungleichheiten. Abschließend wird ein eigener Zugang zur Erklärung des Wandels gesundheitlicher Ungleichheiten skizziert, bei dem – in Anlehnung an die erklärende Soziologie (Esser 1999-2001) – die Verknüpfung zwischen der gesellschaftlichen Strukturebene und der Ebene individueller Akteure im Zentrum steht. Im zweiten Teil der Studie steht der Wandel sozialer Ungleichheiten im Vordergrund, der als Ursache für den Wandel gesundheitlicher Ungleichheiten angesehen wird. Ausgangspunkt ist eine Beschreibung der zentralen Merkmale des deutschen Sozialstaates im internationalen Vergleich und seines Wandels seit den frühen 1980er Jahren. Es folgt eine empirische Analyse des Wandels sozialer Ungleichheiten bei der die Veränderung der lebensweltlichen Relevanz sozialer Kategorien, wie Klassen, Schichten oder Milieus, im Zentrum steht. Die Analysen basieren auf den Daten des Soziooekonomischen Panels (Wagner et al. 2007). Im dritten Teil steht die Entwicklung gesundheitlicher Ungleichheiten in Deutschland im Zentrum der Analysen. Dabei wird auf die Entwicklung gesundheitlicher Ungleichheiten für fünf Gesundheitsindikatoren eingegangen, dargestellt werden Indikatoren für gesundheitsrelevante Einstellungen (Gesundheitsbewusstsein), Gesundheitsverhalten (Rauchverhalten, sportliche Aktivität) und die gesundheitliche Lage (schweres Übergewicht, selbstberichteter Gesundheitszustand) von 4
Die Analysen wurden umfassend für das Statistikprogramm Stata 10 (StataCorp 2008) dokumentiert. Die zugehörige Syntax – in Form einer PDF-Datei – kann beim Autor angefordert werden.
Einleitung
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Männern und Frauen in Deutschland. Dadurch soll ein umfassendes Bild des Wandels gesundheitlicher Ungleichheiten gezeichnet werden. Diese Analysen basieren vorrangig auf Daten von repräsentativen Gesundheitssurveys des Robert Koch-Instituts, die zwischen 1984 und 2005 in Deutschland erhoben worden sind. Im Schlusskapitel der Studie werden die empirischen Ergebnisse der Studie zusammengeführt und der Erkenntnisfortschritt des gewählten Vorgehens für die Analyse des Wandels sozialer und gesundheitlicher Ungleichheiten diskutiert.
2 Theoretischer Hintergrund
Die soziologische Theorie, die verschiedenen ungleichheitssoziologischen Ansätze und neuerdings auch die Medizinsoziologie mit ihrem Spezialfeld der Sozialepidemiologie haben je eine eigene Perspektive auf den Wandel sozialer und gesundheitlicher Ungleichheiten. Die Differenzen zwischen den Perspektiven sind vor allem durch den jeweiligen Verwertungszusammenhang geprägt. So suchen soziologische Gesellschaftstheorien wie die Systemtheorie Luhmanns und die erklärende Soziologie Essers, die Gesellschaft anhand allgemeingültiger Begriffe und Mechanismen zu beschreiben. Die Ungleichheitssoziologe ist aufgrund ihrer Orientierung an den konkreten Ungleichheiten ihrer jeweiligen Gegenwartsgesellschaft deutlich orts- und zeitabhängiger, sodass ihre Begriffe wie Stand, Klasse, Kaste, Schicht, Milieu jeweils eine spezifische, durch den engen sozialen Kontext begründete Bedeutung haben. Die Sozialepidemiologie beschreibt ähnlich wie die Medizin universell für alle Menschen geltende Mechanismen (etwa: Gratifikationskrisen machen krank) die zur Entstehung und Reproduktion gesundheitlicher Ungleichheiten führen, allerdings geht sie dabei doch meist von den spezifischen Ungleichheitsstrukturen ihrer Gegenwartsgesellschaft aus. In diesem Kapitel wird die Theorieentwicklung in der soziologischen Ungleichheitsforschung und der Soziologie gesundheitlicher Ungleichheiten beschrieben. Ziel ist, eine integrative Perspektive zu skizzieren, die zu einem vertiefenden Verständnis des Zusammenhangs zwischen sozialem Wandel, sozialer Ungleichheit und Gesundheit führt. 2.1 Wandel der Theorie sozialer Ungleichheit In den Theorien sozialer Ungleichheit wird diskutiert, inwiefern und warum die soziale Lage eines Menschen seine Lebenswelt strukturiert und damit relevant für sein soziales Handeln und seine Lebenschancen ist (Groß 2008). Die Theorien stellen dabei zumeist die Legitimität sozial strukturierter Ungleichheiten in Frage. Sie lassen sich aufgrund dieses Anspruches nur schwer losgelöst von den gesellschaftlichen Bedingungen betrachten, unter denen sie entstanden
Theoretischer Hintergrund
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sind.5 In der einschlägigen Literatur gibt es beträchtliche Unterschiede in den Definitionen von sozialer Ungleichheit sowie ihren Ursachen und Folgen (Burzan 2005, Kreckel 2004, Schäfers 2004, Hradil 2001). Aus Sicht der erklärenden Soziologie lässt sich der Begriff wie folgt definieren (Esser 2000, S. 113, Hervorhebungen im Original): Die soziale Ungleichheit bezeichnet, ganz allgemein, das Ausmaß und die Art der Unterschiedlichkeiten in typischen gesellschaftlichen Lagen der Akteure der Bevölkerung einer Gesellschaft – im Unterschied zur sozialen Differenzierung, die die Unterschiedlichkeit einer Gesellschaft im Hinblick auf ihre sozialen Systeme beschreibt […]. Soziale Ungleichheit liegt also in einer Gesellschaft vor, „[…] wenn Menschen aufgrund ihrer Stellung in sozialen Beziehungsgefügen von den »wertvollen Gütern« einer Gesellschaft regelmäßig mehr als andere bekommen.“ (Hradil 2001, S. 30). Wertvolle Güter werden auch als Dimensionen sozialer Ungleichheit bezeichnet (Hradil 2001, S. 31ff). Wichtige Dimensionen sozialer Ungleichheit sind in kapitalistischen Gesellschaften etwa Grundbesitz, Geld, Wissen, Macht oder Ansehen. Als Determinanten sozialer Ungleichheiten werden Faktoren betrachtet, die den Zugang zu den wertvollen Gütern fördern oder hemmen. Sie sollten aber nicht als Ursachen derselben missverstanden werden. Determinanten sozialer Ungleichheit bekommen erst durch das Handeln von sozialen Akteuren eine ungleichheitsrelevante Bedeutung. Die genannten Dimensionen sozialer Ungleichheiten können daher, je nach Interaktionszusammenhang, auch Determinanten sozialer Ungleichheiten sein. Weitere wichtige vertikale Determinanten der sozialen Lage sind etwa Bildungstitel, berufliche Stellungen oder auch die soziale Herkunft. Merkmale, deren Ausprägungen sich nicht hierarchisch sortieren lassen, wie Geschlecht, Nationalität oder kulturelle Praktiken, werden als horizontale Determinanten bezeichnet. Die verschiedenen soziologischen Konstruktionen von Strukturen sozialer Ungleichheiten, wie etwa Klassen, Schichten oder Lagen, werden nachfolgend allgemein als soziale Kategorien bezeichnet (Esser 2004). Ihnen sind empirisch konkrete soziale Akteure zugeordnet, die sich – zumindest nach Ansicht der Vertreter der jeweiligen Kategorien – in ähnlichen gesellschaftlichen Lagen befinden. Nachfolgend werden drei Entwicklungsphasen der soziologischen Diskussion über soziale Ungleichheiten dargestellt.6 Die erste Phase hat ihren Anfang im Aufkommen der sozialen Frage in den sich industrialisierenden Staaten Euro5 Der folgende Abschnitt orientiert sich an der Beschreibung soziologischer Modelle sozialer Ungleichheit des 19. und 20. Jahrhunderts ohne auf ihre Interdependenz genauer einzugehen. Für eine ausführliche Darstellung der Ideengeschichte der soziologischen Beschreibung sozialer Ungleichheit vgl. bspw. Nolte (2001). 6 Für eine ausführliche Beschreibung der Konzepte vgl. Groß (2008) oder auch Burzan (2005).
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pas seit dem späten 18. Jahrhundert und endet mit dem Zweiten Weltkrieg. In dieser Zeit wurde vor dem Hintergrund des beginnenden Zerfalls der ständischen Gesellschaftsordnung diskutiert, welche neuen Bestimmungsfaktoren die Stellung im gesellschaftlichen Gefüge hat. Nach der geschichtlichen Zäsur des Zweiten Weltkrieges folgte eine Phase des rapide steigenden Wohlstandes und des Ausbaus der modernen Wohlfahrtsstaaten, die mit der Ölkrise der späten 1970er Jahre und der danach aufkommenden neuen Massenarbeitslosigkeit der 1980er Jahre ebenso abrupt endete wie die vorige Phase. In diesem „goldenen Zeitalter der Wohlfahrtsstaaten“ (Esping-Andersen 1996) kamen Ansätze auf, die nach der sozialen Funktion von Ungleichheiten fragten und auf die Bedeutung immaterieller Ungleichheiten eingingen. In den 1980er Jahren zeichnete sich dann eine zunehmende Spaltung der Ungleichheitsforschung selbst ab (Groß 2008, S. 89ff). Während einige Autoren mit Blick auf Arbeitslosigkeit und Armut von der fortwährenden Bedeutung alter Ungleichheitsdimensionen ausgingen, beschrieben andere einen Prozess der Entstrukturierung sozialer Ungleichheiten angesichts der gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrtssteigerungen. 2.1.1 Klassische Theorien des 19. und 20. Jahrhunderts Hypothesen zur Entstehung und Struktur der „Ungleichheit zwischen den Menschen“ lassen sich bis Aristoteles zurückverfolgen, der in seiner Schrift 3ROLWLND (Politik) die gesellschaftliche Ordnung noch als natürlich und gottgewollt betrachtete (Aristoteles 1966). Mit der Aufklärung und den Schriften ihrer Wegbereiter hat sich unsere Sicht auf soziale Ungleichheit gewandelt, in den einflussreichen Abhandlungen von Thomas Hobbes (1651), John Locke (1690) und Jean-Jacques Rousseau (1755) deutete sich zunehmend ein Bewusstsein sozialer Bestimmungsfaktoren von Ungleichheit an (Hobbes 1998, Locke 2003, Rousseau 1998, Berger 2004). Die nachfolgend als klassisch bezeichneten Modelle sozialer Ungleichheit entstanden zur Beschreibung des Ungleichheitsgefüges der frühen und entwickelten industriellen Gesellschaft. Während die soziale Stellung in der vorindustriellen Gesellschaft noch stark durch die familiäre Herkunft und die damit verbundene ständische Lage bestimmt war, gewann im Zuge der Industrialisierung der eigene Besitz gegenüber der ständischen Lage zunehmend an Bedeutung. Unter dem Eindruck der Industrialisierung und der prekären Situation der Arbeiter in den Industriebetrieben wurde der Klassenbegriff Mitte des 19. Jahrhunderts populär.7 So kennzeichnen Sozialhistoriker die sozial7
Als Klassen werden in der Soziologie heute Gruppierungen im Gefüge sozialer Ungleichheit bezeichnet, die „aufgrund ihrer Stellung innerhalb der Wirtschaftsprozesses anderen Gruppierungen
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geschichtliche Entwicklung des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts als eine Bewegung vom Stand zur Klasse (Nolte 2001, S. 26). Im Verlauf des 20. Jahrhunderts nahmen die Anteile und die Professionalisierung der Arbeiter und Angestellten immer weiter zu, sodass auch die soziale Reproduktion der Menschen immer mehr von ihrem Beruf bestimmt wurde. Für Karl Marx (1818-1883) waren alle Gesellschaften als Klassengesellschaften zu begreifen, deren Entwicklung durch die Dynamik8 der Klassengegensätze bestimmt ist. Für ihn teilte sich die Zivilisationsgeschichte in mehrere Phasen (Altertum, Feudalismus, Kapitalismus), die er durch eine jeweils dominante Form von Produktionsverhältnissen und eine darauf aufbauende Klassenstruktur von herrschenden und beherrschten Klassen bestimmt sah (Bendix und Lipset 1966, S. 6). Marx verwendete in seinem Werk allerdings keine vorherrschende und ausgearbeitete Begriffsdefinition9 von ‚Klassen’ (Giddens 1979, S. 30ff). Der Klassenbegriff hat bei Marx, wie Giddens anmerkt (Giddens 1979, S. 120), primär die Funktion, seine materialistische Geschichtsphilosophie zu begründen. In der Forschung wird heute die Klassendefinition aus der Schrift „Der achtzehnte Brumaire des Louis Napoleon“ verwendet (Lepsius 1979, Burzan 2005): Insofern Millionen von Familien unter ökonomischen Existenzbedingungen leben, die ihre Lebensweise, ihre Interessen und ihre Bildung, von denen der andern Klassen trennen und ihnen feindlich gegenüberstellen, bilden sie eine Klasse. (Marx und Engels 1972b, S. 198)
Marx‘ Klassenbegriff ist vorrangig ökonomisch bestimmt, der Besitz von Produktionsmitteln entscheidet für Marx über Klassenzugehörigkeit, soziale Lage und die Machtverhältnisse in der Gesellschaft (Kreckel 2004, S. 54).10
über- oder unterlegen sind (z.B. wegen ihres Besitzes oder Nichtbesitzes von Produktionsmitteln oder wegen ihrer Machposition auf dem Arbeitsmarkt) […]“ (Hradil 2001, S. 38). 8 Das dynamische Moment der Klassengesellschaft sind die Klassenkämpfe, deren Geschichte Marx zu Beginn seines kommunistischen Manifestes (Marx und Engels 1995) wie folgt kennzeichnete: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen. […] Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedes Mal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.“ 9 In seinem Hauptwerk „Das Kapital“ ist das entsprechende Kapitel „Die Klassen“ unvollendet (Marx und Engels 1974). 10 Als Produktionsmittel werden von Marx alle Dinge (wie Energie, Grundstücke, Maschinen, Werkzeuge oder Grundstücke) bezeichnet, die (neben den Rohstoffen) in einem konkreten Arbeitsprozess benötigt werden, um Waren zu produzieren (vgl. Marx und Engels 1974).
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Empirisch sah Marx zu seiner Zeit zwei Klassen, die Bourgeoisie11 und das Proletariat12, deren Spaltung sich aus seiner Sicht historisch bis hin zur „modernen bürgerlichen Gesellschaft“ verschärft hat (Marx und Engels 1974, S. 23ff). Beide Klassen stehen sich „feindlich“ gegenüber. Sie haben aufgrund ihrer Stellung zu den Produktionsmitteln klassenspezifische Interessen und unterschiedliche Mentalitäten.13 Die konkrete Zustandsbeschreibung und die Prognose der sozialstrukturellen Entwicklung durch Marx sind heute kaum mehr anschlussfähig. Allerdings wird seine Perspektive, die Stellung zu den Produktionsmitteln als Ausgangspunkt für die Erklärung von Mentalitäten und Interessen zu verwenden, auch in modernen Ansätzen fruchtbar verwendet (Dahrendorf 1957, Müller 1998, Kohler 2002). Max Weber (1864-1920) wendete sich gegen die eindimensionale Bestimmungslogik zur Konstruktion sozialer Klassen, die bei Marx angelegt war (Kreckel 2004, S. 57). Er legte ein mehrdimensionales Modell sozialer Ungleichheit vor, das neben Klassen auch Stände und Parteien14 als relevante Gruppierungen in der Sozialstruktur der Gesellschaft identifizierte (Weber 1980, S. 177-180). Weber versteht unter Klasse eine Gruppe, die sich aufgrund ihres Besitzes („Besitzklasse“) oder der Verwertbarkeit ihrer Leistungen („Erwerbsklasse“) für die Erzielung von Einkommen oder Einkünften innerhalb einer gegebenen Wirtschaftsordnung jeweils in etwa der gleichen Klassenlage befindet.15 In „sozialen Klassen“16 bündeln sich verschiedene Klassenlagen, sie 11
Die Bourgeoisie ist die herrschende Klasse. Sie verfügt über den durch Arbeit produzierten Mehrwert. 12 Das Proletariat ist die Klasse der beherrschten und ausgebeuteten Arbeiter. 13 Marx und Engels unterscheiden bei den Klassen zwischen solchen, bei denen sich aus ihrem Klasseninteresse (Klasse an sich) gemeinsame Handlungen und Bewusstseinslagen entwickeln, und solchen, bei denen aus der Klassenzugehörigkeit auch ein gemeinsames Bewusstsein und organisierte Handlungen folgen (Klasse an und für sich) (Marx und Engels 1972a, S. 180f). Diese Argumentation schließt eine materialistische Dialektik der Geschichte ein, nach der sich die Klassengegensätze und mit ihnen das Klassenbewusstsein immer weiter verschärfen, bis es zum Klassenkampf und der Diktatur des Proletariats kommt (Vgl. auch: Lipset 1966, Dahrendorf 1957). 14 Parteien beschreiben die politische Dimension sozialer Ungleichheit. Sie stehen nach Kreckel und Giddens aber nicht eigenständig neben Klassen und Ständen. Macht ist ein Oberbegriff, der weder auf soziale noch auf ökonomische oder politische Aspekte beschränkt ist. Das Gemeinschaftshandeln von Personen in Parteien ist im Gegensatz zu Ständen oder Klassen immer vergesellschaftet, da Parteien (egal ob Klubs, Parteien oder Staaten) stets institutionalisierte Interessengruppen sind. 15 In „Wirtschaft und Gesellschaft“ (Weber 1980, S. 177) beschreibt Max Weber, dass die Klassenlage (Chance der Güterversorgung, der äußeren Lebensstellung oder des inneren Lebensschicksals) aus „Maß und Art der Verfügungsgewalt (oder des Fehlens solcher) über Güter oder Leistungsqualifikationen und aus der gegeben Art ihrer Verwertbarkeit für die Erzielung von Einkommen oder Einkünften innerhalb einer gegebenen Wirtschaftsordnung folgt.“ In einem späteren Kapitel, zur Machtverteilung innerhalb der Gemeinschaft, präzisiert er den Begriff (Weber 1980, S. 532): „Immer aber ist für den Klassenbegriff gemeinsam: dass die Art der Chance auf dem
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sind heterogen und zeichnen sich dadurch aus, dass ein Wechsel zwischen sozialen Klassen deutlich schwieriger ist als der Wechsel der Erwerbs- oder Besitzklassen. Er differenziert nicht nur zwei, sondern drei Klassen: je eine positiv bzw. negativ privilegierte Klasse und eine dazwischen stehende „Mittelklasse“.17 Stände beziehen sich stärker als Klassen auf die soziale Ordnung. Die ständische Lage wird durch die soziale Einschätzung der Ehre einer Gruppe bestimmt, die durch eine oder mehrere Eigenschaften verbunden ist (Weber 1980, S. 180). Der Stand drückt sich in einer ständischen Lebensführung und in Interaktionspartnern aus (Berufsstände, Geburtsstände, politische Stände etc.) und steht damit sozialen Klassen nahe, allerdings kommen Stände im Unterschied zu Klassen nicht am Markt zustande, sondern durch Abgrenzung. Die ständische Lage kann auf der Klassenlage beruhen, muss es aber nicht (Weber 1980, S. 180). Ferner steht das ständische Prinzip der Ehre dem ökonomischen Prinzip des Marktes entgegen.18 Weber ging von der Dominanz eines der beiden Gliederungsprinzipien aus und machte damit bereits auf den Zusammenhang zwischen sozialer Differenzierung und sozialer Ungleichheit aufmerksam (Weber 1980, S. 180): „Ständisch“ soll eine Gesellschaft heißen, wenn die soziale Gliederung vorzugsweise nach Ständen geschieht, „klassenmäßig“, wenn sie vorzugsweise nach Klassen geschieht.
Theodor Geiger (1891-1952) wird als Begründer der Tradition der Schichtungssoziologie angesehen (Geißler 1985). Geiger beschreibt als einer der ersten Autoren die Struktur sozialer Ungleichheit anhand des Schichtungsbegriffes aus der Geologie (Geiger 1987, 1949, 1963).19 Im Unterschied zu Marx und Weber Markt diejenige Instanz ist, welche gemeinsame Bedingung des Schicksals der Einzelnen darstellt. «Klassenlage» ist in diesem Sinn letztlich: «Marktlage»“. 16 Weber (ebenda S. 179) unterscheidet vier soziale Klassen: Die gesamte Arbeiterschaft, das Kleinbürgertum, die besitzlose Intelligenz (innerhalb derer weitere Grenzen möglich sind) und die Klasse der Besitzenden und Privilegierten. 17 Nach Weber (Weber 1980, S. 177-179) positiv privilegierte Besitzklassen sind Rentner (Menschen-, Boden-, Bergwerks-, Anlagen- oder Schiffsrentner) und Gläubiger (Vieh-, Getreide, Geldgläubiger), die Vorteile aus ihrer Monopollage (Verfügungsmonopol über den eigenen Besitz) ziehen. Negativ privilegiert sind dagegen Unfreie, Proletarier, Verschuldete und Arme. Positiv privilegierte Erwerbsklassen (Händler, Reeder, Unternehmer und „unter Umständen“ akademische freie Berufe und Arbeiter mit monopolistischen Qualitäten) haben die Möglichkeit, die Produktion zu beeinflussen („Leitung der Güterbeschaffung“) und Einfluss auf die Wirtschaftspolitik zu nehmen. Die restlichen Arbeiter sieht Weber als negativ privilegiert an. Selbstständige Bauern, Handwerker und die Beamten stehen als „Mittelklassen“ zwischen den beiden Erwerbsklassen. 18 Der Markt „weiß nichts von «Ehre».“ (Weber 1980, S. 538). 19 Zu Leben und Werk von Theodor Geiger vergleiche die Arbeiten von Rainer Geißler (Geißler 1985, 1995).
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verwendet er den Begriff der Schichtung als Oberbegriff zur Beschreibung sozialer Ungleichheiten und konstruiert ihn so, dass er auch die Marx‘schen Klassen und Webers Klassen, Stände und Parteien als historische Formen der sozialen Schichtung einschließt (Geißler 1985). Geigers Definition sozialer Schichten kommt dem heutigen Verständnis von sozialer Ungleichheit dabei bereits sehr nahe und lautet: Jede Schicht besteht aus vielen Personen (Familien), die irgendein erkennbares Merkmal gemeinsam haben und als Träger dieses Merkmals einen gewissen Status in der Gesellschaft und im Verhältnis zu anderen Schichten einnehmen. Der Begriff Status umfasst Lebensstandard, Chancen und Risiken, Glücksmöglichkeiten, aber auch Privilegien und Diskriminationen, Rang und öffentliches Ansehen. (Geiger 1955, S. 186)
Geigers Schichtungsbegriff hat drei Komponenten: Die Soziallage (Status) der Schichtangehörigen, ihre Mentalität und die Schichtdeterminanten (Geißler 1985). Neben dem Status, der die vertikale Dimension sozialer Ungleichheit abbildet, berücksichtigt Geiger mit seinem Konzept der Mentalitäten, dass sich die Soziallage auf das Bewusstsein auswirkt.20 Er sieht wie Weber und im Unterschied zu Marx keinen deterministischen Zusammenhang zwischen Soziallage und Mentalität, sondern lediglich eine mögliche typische Assoziation. Durch die Verknüpfung von Lagen und Mentalitäten wird die Schichtstruktur mehrdimensional, somit können Schichten auch nebeneinander existieren (Geißler 1985). Schichtdeterminanten sind bei Geiger die Faktoren, die den Status bestimmen (Geiger 1963). Er geht davon aus, dass unter den vielen Schichtungsdimensionen einige dominant sind und die gesellschaftliche Lage besonders stark beeinflussen. Sein Begriff der Schichtung ist zudem dynamisch angelegt, sodass er auch den Wandel der Schichtung in Folge des sozialen Wandels der Schichtungsdimensionen (der so genannten „Umschichtung“) explizit vorsieht (Geißler 1985). Die drei dargestellten Klassiker der Ungleichheitsforschung stellen jeweils noch keine ausgearbeiteten Ungleichheitstheorien dar, die von ihrer jeweiligen Gesellschaft abstrahieren und Aussagen zur Produktion und Reproduktion sozialer Ungleichheiten zulassen. Sie haben sich aber letztlich als prägend für die Ungleichheitsforschung des 20. Jahrhunderts erwiesen (Groß 2008, S. 40). Ansätze, die auf dem Schichtkonzept Geigers aufbauen, versuchen zuvorderst, die relevanten Strukturen sozialer Ungleichheiten und die mit ihnen verbundenen typischen Einstellungen zu identifizieren. Am Klassenbegriff orientierte Ansätze, 20
„Der soziologische Begriff der Gesellschaftsschicht […] schließt das Urteil in sich: sozialpsychologische Zuständlichkeiten, soziale Haltungen, Lebensstile und gesellschaftspolitische Antriebe stehen in positivem Bezug zu sozialen Lagen“ (Geiger 1933, S. 151 zitiert nach Geißler 1995, S. 393).
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die sich an der Marx‘schen Tradition orientieren, trachten danach, die Entstehung und den Wandel von Ungleichheiten durch den gesellschaftlichen Einfluss und die Interessen sozialer Gruppen zu erklären. Je enger die Orientierung neuerer Autoren an der marxistischen Tradition ist, desto stärker rückt dabei die Analyse von Ausbeutungsverhältnissen ins Zentrum. Dagegen bestehen zwischen neueren Klassen- und Schichtungsmodellen beträchtliche Ähnlichkeiten, sofern sich erstere am Weber‘schen Zugang orientieren. 2.1.2 Ansätze der Nachkriegszeit Die Ansätze der Nachkriegszeit beschreiben die Ungleichheitsstruktur nach der nationalsozialistischen Diktatur und dem Zweiten Weltkrieg. In Deutschland führte die durch das Kriegsende ausgelöste Zäsur zu einer „sozialen Revolution“ (Dahrendorf 1965, S. 431ff, Nolte 2001, S. 192ff). Alte, ständische Strukturen der Gesellschaft waren zerstört. Zudem hatten sich die Lebensbedingungen während der Kriegsjahre zwangsläufig deutlich angeglichen. Im Zuge der wirtschaftlichen Wachstumsphase der 1950er und 1960er Jahre bildete sich dann eine neue und moderne Ungleichheitsstruktur heraus. Angesichts allgemeiner Wohlfahrtszuwächse erlebte die neu gegründete Bundesrepublik in dieser Zeit vielfach eine Entschärfung alter sozialer Spaltungen und deren Institutionalisierung durch das Tarifrecht. In der soziologischen Ungleichheitsforschung rückten nun neben den Strukturen sozialer Ungleichheiten auch ihre Funktionen und ihre immateriellen Folgen stärker ins Blickfeld. In der funktionalistischen Perspektive von Davis und Moore (Davis und Moore 1945, 1973) wird ausgehend von der Rezeption des Strukturfunktionalismus von Talcott Parsons (Parsons 1961) nach der gesellschaftlichen Funktion sozialer Ungleichheiten zwischen den Menschen im entwickelten Kapitalismus gefragt. Ausgangspunkt dieser Richtung ist die Beobachtung, dass alle Gesellschaften Strukturen sozialer Ungleichheiten aufweisen. Die Autoren folgen in ihrer Suche nach der Funktion dieser Strukturen dem Parsons‘schen Paradigma, dass Strukturen immer auch spezifische Funktionen für das gesellschaftliche Ganze haben.21 Da diese Strukturen existieren, müssen sie aus dieser Perspektive folglich eine funktionale Notwendigkeit moderner Gesellschaften darstellen. So gehen die Autoren davon aus, dass in funktional differenzierten Gesellschaften 21
In der jüngeren Zeit wurde der Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Differenzierung aus der Perspektive der neueren Systemtheorie diskutiert (Schwinn 1998, Schimank 1998). Auch hier wird anerkannt, dass soziale Ungleichheit weniger eine Folge funktionaler Notwendigkeit als vielmehr eine Folge von Macht und Monopol ist, wie bereits Weber wusste (Weber 1980, S. 177179). Allerdings eröffnen sich hier interessante Anknüpfungspunkte zum theoretischen Zusammenhang von Sozial- und Systemintegration (Schimank 1998).
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eine Ungleichrangigkeit der Subsysteme der gesellschaftlichen Teilsysteme Wirtschaft und Politik besteht. Dadurch sind einige Positionen wichtiger als andere. Es muss sichergestellt werden, dass wichtige berufliche Positionen mit besonders fähigen Bewerbern besetzt werden. Dies erfolgt über Anreize, die sich primär aus der funktionellen Bedeutung einer Position und sekundär aus den Qualifikationsanforderungen an den Bewerber herleiten.22 Anreize, die zur effizienten Besetzung von Positionen führen, sind Geld oder nichtmonetäre Gratifikationen wie Prestige, Privilegien und Ähnliches. Sie machen die Struktur sozialer Ungleichheiten aus, begründen aber nicht die Entstehung sozialer Klassen oder anderer abgrenzbarer Gruppierungen im Gefüge sozialer Ungleichheiten. Die Ungleichheitsstruktur erscheint aus dieser Perspektive vielmehr als ein kontinuierliches Gefüge. Die berufliche Qualifikation ist aus dieser Perspektive die wichtigste Determinante und Legitimation des sozioökonomischen Status. Dadurch steht dieser Ansatz den Klassentheorien der Jahrhundertwende in direkter Opposition gegenüber. In den 1950er Jahren entstanden Ansätze, deren Vertreter die Bedeutung materieller Ungleichheiten in der Sozialstruktur weitgehend bezweifelten und auf Differenzen im sozialen Prestige als wichtigsten Aspekt der Ungleichheitsstruktur verwiesen. In Deutschland erlangte Helmut Schelsky mit der These von der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ eine besondere Bedeutung (Schelsky 1953). Er vertrat die Auffassung, dass durch die sozialen Umwälzungen der Nachkriegszeit umfangreiche soziale Auf- und Abstiegsprozesse bewirkt wurden, die „zu einem relativen Abbau der Klassengegensätze, einer Entdifferenzierung der alten ständisch geprägten Berufsgruppen und damit zu einer Nivellierung in einer verhältnismäßig einheitlichen Gesellschaftsschicht, die ebenso wenig proletarisch wie bürgerlich ist [...]” geführt haben (Schelsky 1953, S. 332). Schelsky bestritt dabei nicht, dass die alten, materiellen Ungleichheiten zwischen den sozialen Klassen weiterhin fortbestünden. Er ging aber davon aus, dass sich aus der Zugehörigkeit zu Klassen keine Interessen und Konflikte mehr ableiten lassen würden. Im Zuge dieser – in Analogie zu Geiger – als „Entschichtung“ bezeichneten Entwicklung (Schelsky 1953, S. 333) würden sich die Verhaltensweisen aller Schichten an einen bürgerlich-mittelständischen Lebensstil angleichen. Schelsky kann daher als einer der ersten deutschen Vertreter der Entstrukturierungsthese angesehen werden, die in der neueren ungleichheitssoziologischen Debatte eine große Bedeutung erlangt hat (Haller 2006, Groß 2008, S. 89ff). Für die deutsche Schichtungstheorie wurden in der Folge Prestigemodelle aus den USA zunehmend prägend (Hradil 1987, S. 80f). Richtungweisend waren 22
Diese Prämissen wurden vielfach kritisiert (Mayntz 1961).
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hier die Arbeiten von W. Lloyd Warner, der in den 1930er und 1940er Jahren Gemeinden in den USA auf ihre Ungleichheitsstrukturen hin untersuchte (Warner 1960). Warner fand dort Prestigegruppierungen – er bezeichnete sie als „Klassen“23 – vor, die sich anhand ihrer Interaktionsbeziehungen, ihrer Verhaltensmuster und ihres Schichtbewusstseins voneinander abgrenzen ließen. Aufbauend auf diesem empirischen Zugang wurden in Deutschland in den sechziger Jahren Analysen zum Prestigeaufbau der Bundesrepublik vorgelegt (Moore und Kleining 1960, Scheuch 1961, Bolte 1963). So beschrieben Moore und Kleining Gesellschaftsschichten anhand der Berufsstruktur (Moore und Kleining 1960). Sie ordneten diese dazu in neun Gruppen von ähnlichen Berufen ein, denen anhand der Ergebnisse aus den USA (Warner 1960) ein sozialer Status zugeordnet wurde. Die resultierende Verteilung wies große Ähnlichkeiten zu den Ergebnissen aus den USA auf. Karl Bolte legte ein einflussreiches Modell der Prestigeschichtung der Bevölkerung vor (Bolte 1963). Anhand von eigenen Gemeindestudien wurde das soziale Ansehen typischer Berufe ermittelt. Aufbauend auf der Verteilung der entsprechenden beruflichen Positionen in der Bevölkerung ergab sich ein Zwiebelmodell der Prestigeschichtung mit einer breiten gesellschaftlichen Mitte (Bolte 1963). Zwischen den „Ballungen“ im Statusgefüge zeigten sich keine klaren Grenzen mehr, abgrenzbare Schichten gab es nur am oberen und unteren Rand. In späteren Untersuchungen wurden die Ergebnisse und Methoden der 1960er aufgegriffen und in Untersuchungen zum Heiratsverhalten (Mayer 1977) und zur sozialen Mobilität verwendet (Wegener 1985, 1991). Aufbauend auf den Prestigemodellen legte Erwin K. Scheuch in den 1960er Jahren ein Modell zur sozialen Schichtung der Berufe in Deutschland vor (Scheuch 1961). Hier wurden, analog zu den Annahmen der funktionalen Schichtungstheorie, Berufe anhand eines mehrdimensionalen Index aus dem Einkommen und der Qualifikation der Stelleninhaber kategorisiert. Anschließend wurde ein zusammenfassender Index aus dem so ermittelten beruflichen Status, dem Einkommen und der Bildung der Erwerbstätigen gebildet. Die Indexwerte verteilten sich ähnlich wie die Werte, die auf Basis von Prestigeskalen gebildet wurden, und zeichneten das Bild einer Sozialstruktur mit kleinen Unter- und Oberschichten und einer breiten gesellschaftlichen Mitte. Das von Scheuch postulierte Vorgehen der additiven Indexbildung und der Hierarchisierung von beruflichen Positionen auf Basis von Bildung und Erwerbseinkommen findet noch heute in der sozialepidemiologischen Forschung Anwendung. Hier sind insbe-
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Seine Klassendefinition bezog sich nicht auf die Stellung zu den Produktionsmitteln, sondern auf Gruppen von Personen gleichen sozialen Ansehens. In der Terminologie Max Webers wären Warners Klassen daher eher als Stände zu bezeichnen.
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sondere die Indizes von Winkler und Stolzenberg (1999) und Helmert und Buitkamp (2008) zu nennen. Die Ungleichheitssoziologie von Ralf Dahrendorf verknüpft Elemente der Klassen- und Schichtungstheorie. Theoretisch begründete er die Entstehung sozialer Ungleichheiten mit einer modifizierten Form der Klassenanalyse, die er zwischen der marxistischen Klassentheorie und dem Parsons‘schen Strukturfunktionalismus verortete (Dahrendorf 1957, S. 234f). Im Gegensatz zur Mehrheit der deutschen Soziologen ging er nicht davon aus, dass in der Nachkriegszeit eine Nivellierung der Ungleichheitsstruktur stattgefunden habe. Der Klassenkonflikt habe sich im entwickelten Kapitalismus allerdings auf den Bereich der Industrie und die Tarifvertragsparteien verlagert und dadurch gewandelt (Dahrendorf 1957, S. 237f). So würde das Leben der Arbeiter durch die Erfordernisse der modernen industriellen Produktion rationalisiert und ihr Konsum durch standardisierte Industrieprodukte bestimmt. Die Institutionalisierung des Konfliktes zwischen Kapital und Arbeit und die funktionale Differenzierung führten aber auch dazu, dass industrielle und politische Probleme immer häufiger zusammenfielen. So beträfen gewerkschaftliche Streiks die gesamte Gesellschaft. Trotz der differenzierteren Gesellschaftsstruktur entsprächen sich die herrschenden Klassen in Industrie und Gesellschaft aber noch weitgehend. Die Herrschaftsstruktur der modernen Gesellschaft sei aber nicht mehr alleine durch den Besitz von Produktionsmitteln erklärbar.24 Seine empirischen Arbeiten sind dagegen nicht durch einen klassensoziologischen, sondern durch einen, an Theodor Geiger anschließenden, schichtungssoziologischen Zugang gekennzeichnet. Sie mündeten im plakativen Modell des „deutschen Hauses“ der 1960er Jahre, in dem sich die sozialen Schichten jeweils die Zimmer teilten (Dahrendorf 1965, S. 105). Zur Abgrenzung der Schichten wurden primär ihre Funktion im Wirtschafts- und Herrschaftssystem und sekundär die Mentalitäten der Menschen. Dahrendorf wandte sich mit dem Modell gegen die kontinuierlichen Ansätze der Prestigeforschung, die seiner Ansicht nach keine lebensweltliche Entsprechung hatten (Dahrendorf 1965, S. 93). Das Modell des Hauses beschreibt eine breite, in fünf Gruppen differenzierte gesellschaftliche Mitte, eine kleine Elite (<1%) und eine kleine gesellschaftliche Unterschicht (5%). In der noch heute prägenden Ungleichheitsforschung der 1950er und 1960er Jahre dominierten ungleichheitssoziologische Arbeiten, die sich auf den Beruf als zentralen Bestimmungsgrund der sozialen Lage konzentrierten. Nicht nur in den Lebensläufen der Menschen dominierte damit die institutionalisierte „Nor24
Normen sind für Dahrendorf der entscheidende Faktor bei der Genese von Herrschaftsverbänden. Die Macht Normen zu definieren und Sanktionen auszuüben macht für ihn die Ungleichheit zwischen Menschen und Gruppen innerhalb von Herrschaftsverbänden aus (Dahrendorf 1961, nach Hradil 2001, S. 71f).
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malbiographie“ (Kohli 1985), sondern auch in ihrer ungleichheitssoziologischen Beschreibung. Das Geschlecht und andere horizontale Determinanten sozialer Lagen spielten in der Ungleichheitssoziologie noch keine wesentliche Rolle. Dies findet etwa darin seinen Ausdruck, dass der soziale Status nichterwerbstätiger Hausfrauen über den Beruf ihrer Ehemänner oder Väter ermittelt wurde (Scheuch 1961). Das vergleichsweise homogene Bild, das die Autoren auf Basis unterschiedlicher Zugänge von der Ungleichheitsstruktur der bundesdeutschen Gesellschaft entwarfen, gründete sich damit nicht zuletzt auf den Gemeinsamkeiten ihrer empirischen Zugänge. 2.1.3 Neuere Zugänge In den frühen 1980er Jahren verschärften sich die Gegensätze zwischen den Vertretern neuerer Zugänge zur soziologischen Ungleichheitsforschung, kennzeichnend für die Debatten ist der Konflikt um die Entstrukturierungsthese (Haller 2006, Groß 2008, S. 89ff). Vertreter dieser These führten den allgemeinen Anstieg der Bildungsbeteiligung, die gestiegene soziale Mobilität und den deutlich erhöhten Lebensstandard als Argumente gegen die klassischen schichtungs- und klassensoziologischen Paradigmen ins Feld. Sie postulierten eine zunehmende Hinwendung zu vermeintlich „neuen“ horizontalen Ungleichheiten wie Geschlechterdifferenzen, Freizeitorientierungen oder Lebensstildifferenzen. Andere Forscher vertraten dagegen die These, dass soziale Ungleichheiten weiterhin vorrangig mit Klassen- und Schichtungsmodellen zu beschreiben seien. Als Begründung für das Festhalten an den klassischen Paradigmen führten diese Autoren die weiterhin bestehenden sozialen Chancenungleichheiten im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt sowie das Fortbestehen bzw. die Verschärfung der sozialen Unterschiede in den materiellen Lebensbedingungen an. Zudem wurde eine Art dritter Weg der Ungleichheitsforschung prominent, der die Ungleichheitsstruktur der Gesellschaft anhand des Kontinuums Integration– Exklusion zu beschreiben suchte. Ein wichtiger Ursprung der modernen Kritik an Klassen- und Schichtkonzepten sind einflussreiche kultursoziologische Thesen zur Individualisierung und zum Wertewandel der modernen Menschen. Der Münchener Soziologe Ulrich Beck formulierte Anfang der 1980er Jahre die so genannte „Individualisierungsthese“ (Beck 1983, 1986, 1994, 2001). Diese besagt grob umrissen, dass sich die Bezugspunkte sozialen Handelns in der Postmoderne als Folge eines historischen Transformationsprozesses tiefgreifend verändert haben. Menschen können nicht mehr traditional oder wertrational auf Basis der Normen ihrer Familie, ihres Standes oder ihrer Klasse oder auch ihres institutionalisierten Lebenslaufs handeln, sondern werden durch die gesellschaftliche Differenzierung
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aus diesen Bindungen herausgelöst. Sie haben die neue riskante Freiheit, zweckrational kalkulierend, ohne gruppen- oder standesbezogene Orientierung, sozial zu handeln. Beck konstatiert einen „Fahrstuhl-Effekt“, die Klassengesellschaft sei insgesamt eine „Etage höher gefahren“ (Beck 1986, S. 122). Ausgehend von der Individualisierungsthese sprachen sich viele Autoren gegen das klassische vertikale Paradigma sozialer Ungleichheit aus (Hradil 1992, 2001). Sie kritisieren die Eindimensionalität der Klassen- und Schichtkonzepte, die ihrer Ansicht nach der komplexen Sozialstruktur der Moderne nicht mehr gerecht werden konnten. Daneben verwiesen sie darauf, dass diese Konzepte die zunehmenden diskontinuierlichen Erwerbsbiographien der Menschen nur unzureichend berücksichtigen (Berger 1990, 1996, Berger und Konietzka 2001). Anhand von mehrdimensionalen und dynamischeren Begriffen wie soziale Lage, soziales Milieu oder Lebensstil sollen diese Nachteile der Klassen- und Schichtkonzepte überwunden werden. Die Lagekonzepte soziale Lage und Lebenslage beziehen sich weniger auf die gesamte Ungleichheitsstruktur der Gesellschaft oder auf deren typische Determinanten, sondern auf die konkreten Situationen der sozialen Akteure. Sie berücksichtigen weiterhin vertikale Determinanten sozialer Ungleichheit wie Einkommen, Bildung und Berufsstatus. Daneben werden aber auch horizontale Ungleichheiten nach Geschlecht, Migrationshintergrund, Alter oder Region herangezogen, welche die Ungleichheit sozialer Situationen bestimmen (Hradil 2001, S. 371ff, S. 422ff). Gruppierungen, die aufgrund der Lageansätze gebildet wurden, lassen sich daher nicht in eine einfache, streng hierarchische Ordnung bringen. Lebenslagenkonzepte setzen vor allem an den Ursachen von Situationen an, soziale Lagen beschreiben dagegen eher die Merkmale von Situationen. Lebensstile und Milieus rücken dagegen das Handeln und die Einstellungen der Akteure ins Zentrum. Der Begriff der Lebenslage wurde schon früh als Alternative zu den berufszentrierten Klassen- und Schichtkonzepten eingeführt (Clemens 1994, Voges et al. 2003). Als Lebenslage wird die Gesamtheit der ungleichen Lebensbedingungen eines Menschen bezeichnet (Voges et al. 2003, S. 43). Die Lebenslage ist multi-dimensional, sie wird sowohl durch materielle als auch durch immaterielle Ressourcen und Handlungsspielräume konstituiert (Voges et al. 2003, S. 48). Im Extremfall können Lebenslagen durch konkrete biographische Ereignisse ausgelöst werden, wie etwa bei Obdachlosen oder Bürgerkriegsflüchtlingen, die sich um politisches Asyl bewerben. Lebenslagen werden letztlich als Folge der gesellschaftlichen Verhältnisse angesehen und können ihrerseits Lebenssituationen mitbestimmen. In der Forschung werden Lebenslagen im Rahmen der Armutsund Reichtumsberichterstattung neu thematisiert (BMGS 2005a). So wurde im zweiten Armutsbericht der Bundesregierung auf die Lebenslagen von Familien
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und Kindern, die Lebenslagen behinderter Menschen und die Lebenslagen der Migrantinnen und Migranten eingegangen. Der Begriff der sozialen Lagen ist stärker als der Begriff der Lebenslage auf die Beschreibung und Typisierung der objektiven Lebensbedingungen ausgerichtet. Soziale Lagen sind Gruppen mit einer typischen Ausstattung an wertvollen Gütern, die sich kurzfristig nur schwer verändern lässt, sich aber mittel- und langfristig wandeln kann (Noll und Habich 1990, Habich und Noll 2006, Hradil 2001, Schwenk 1999). Soziale Lagen sind dadurch weniger bindend als Lebenslagen. Akteure innerhalb sozialer Lagen sind nicht zwingend durch gemeinsame Erfahrungen und biographische Ereignisse verbunden. Dafür sind ihre objektiven Lebensbedingungen deutlich homogener, als es in den vergleichsweise heterogenen sozialen Klassen der Fall ist. Das Konzept sozialer Lagen von Hradil (1987) zielt darauf ab, eine Struktur typischer Kontexte objektiver Lebensbedingungen zu beschreiben. Empirisch lassen sich dadurch, je nach einbezogenen Dimensionen, beliebig viele soziale Lagen unterscheiden. So kommt eine empirische Anwendung des Lagekonzeptes für das vereinigte Deutschland auf zehn westdeutsche und neun ostdeutsche Lagen (Schwenk 1999). Diese können zwar sehr dezidiert beschrieben werden, sind aber letztlich von sozialen Strukturen oder sozialen Prozessen losgelöst. Sie können daher nicht mehr mit einfachen, einprägsamen lebensweltlichen Begriffen bezeichnet werden. So steht der hohen deskriptiven Differenziertheit des Konzeptes sozialer Lagen letztlich eine geringe lebensweltliche Relevanz und Orientierungsfunktion der resultierenden Kategorien gegenüber. Im Unterschied zu den Lageansätzen stehen bei den Konzepten der Lebensstile und der sozialen Milieus nicht die objektive soziale Lage, sondern typische Muster von Vorlieben, Werthaltungen und Praktiken im Zentrum des Erkenntnisinteresses. Die Konzepte werden sowohl von Vertretern der Entstrukturierungs- als auch von Vertretern der Strukturierungsthese verwendet.25 Der Begriff Lebensstil bezeichnet ein relativ ganzheitliches, nach außen gerichtetes Muster der alltäglichen Lebensführung, das sich in bestimmten Verhaltensweisen, Konsumpräferenzen und Geschmacksurteilen äußert (Hradil 2001, S. 429). Der Begriff findet sowohl auf Individuen als auch auf Gruppen Anwendung. Die Begriffe soziales Milieu und Lebensstil sind eng miteinander verbunden. Nach Hradil sollte der Begriff des Milieus verwendet werden, wenn äußere Strukturen, subjektive Interpretation und ähnliche Lebensstile sich in typischer Weise entsprechen (Hradil 2001, S. 425ff). Die Konzepte des Milieus und des Lebensstils stimmen folglich mit dem Schichtkonzept von Geiger weitgehend 25
Die Konzeption von Bourdieu, als Beispiel für ein klassentheoretisch begründetes Milieukonzept, wird im Kontext der neueren Klassenansätze beschrieben.
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überein, das ebenfalls das Zusammentreffen von Strukturen und Mentalitäten beschreibt (Groß 2008, S. 104). Arbeiten zur neueren Schichtungs- und Klassenanalyse wenden sich gegen die in der Entstrukturierungsthese betonte Verringerung der Relevanz vertikaler sozialer Ungleichheiten. Ein wichtiger Vertreter dieser Argumentationsrichtung in Deutschland ist Rainer Geißler (Geißler 1996, S. 323): Mit der unkritischen Fokussierung auf die dynamische Vielfalt der Lagen, Milieus und Lebensstile wird der kritische Blick für weiterhin bestehende vertikale Ungleichheitsstrukturen wegdifferenziert, wegpluralisiert, wegindividualisiert und wegdynamisiert werden.
Für Geißler (2006, S. 362) ist nicht die Auflösung der Klassen und Schichten, sondern vielmehr die Herausbildung einer vielfältigeren Schichtstruktur das Ergebnis der fortschreitenden Differenzierung der modernen Gesellschaften. Die moderne Schichtstruktur26 sei zwar latenter als früher, sie sei aber auch weiterhin bei der Zuteilung von Lebenschancen relevant. Nach Geißler muss eine moderne Schichtungsforschung aber auch berücksichtigen, dass vertikale Strukturen nur noch eine Dimension im multidimensionalen Gefüge sozialer Ungleichheit sind. Trotzdem sind vertikale Strukturen auch weiterhin die dominanten Determinanten sozialer Lagen. So beeinflussen insbesondere Bildung und Beruf immer noch in hohem Maße die Lebenschancen. Allerdings sind soziale Schichten nicht mehr durch klare Grenzen getrennt. Dessen ungeachtet gibt es aber auch weiterhin typische Kombinationen zwischen beruflichem Status und schulisch-beruflicher Qualifikation. In seinem Schichtmodell beruft sich Geißler auf Dahrendorf, indem er ein modernisiertes deutsches Haus postuliert (Geißler 2006, S. 100ff). Wichtigste Elemente der differenzierteren Schichteinteilung sind weiterhin die Stellung im Beruf und die Branche der Tätigkeit. Als horizontales Merkmal wird nur der Migrationshintergrund berücksichtigt. Veränderungen im Vergleich zur Konzeption von Dahrendorf (1965) ergeben sich damit weniger in den Determinanten der sozialen Lagen als vielmehr in der Ausgestaltung und Pluralität derselben. In den meisten Schichten habe der Wohlstand seit den 1960er Jahren deutlich zugenommen. Anderseits sei auch die soziale Mobilität zwischen den Schichten größer geworden, sodass immer mehr Menschen zwischen den Zimmern und Stockwerken des Hauses wechseln. Im Gegensatz zu den 1960er Jahren gebe es nun eine breite gesellschaftliche Unterschicht, die sich vor allem aus gering qualifizierten Männern und Frauen mit und ohne Migrationshintergrund rekrutiere. Als Ursachen der veränderten Sozialstruktur verweist Geißler unter 26
Geißler verwendet den Schichtbegriff im Sinne von Theodor Geiger (Geißler 2006, S. 120, Anmerkung 3).
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anderem auf die Bildungsexpansion, die Wohlfahrtssteigerungen und den wirtschaftlichen Strukturwandel (Geißler 2006, S. 101). Auch in den neueren marxistischen und weberianischen Klassenansätzen ist die Orientierung am Arbeitsmarkt als zentralem Entstehungsort sozialer Ungleichheiten erhalten geblieben. Erik Olin Wright legte Ende der 1970er Jahre ein neomarxistisches Klassenmodell vor, das den Weg für eine deutlich differenziertere Klassenanalyse ebnete (Wright 1979). In seiner neomarxistischen Konzeption werden Machtverhältnisse in der Arbeitswelt als wichtigste Kriterien zur Klassenbildung herangezogen. Durch diese Konzeption ergaben sich allerdings im Nachhinein eine Reihe widersprüchlicher Klassenlagen in den Mittelklassen und auch Fragen der Generalisierbarkeit für verschiedene Gesellschaftstypen, sodass Wright sich zu einer späteren grundlegenden Überarbeitung des Konzepts veranlasst sah, die er auf einem spieltheoretischen Ausbeutungsbegriff aufbaute, den er sowohl auf die Verfügungsgewalt über Produktionsmittel als auch auf Organisationen im Allgemeinen anwendete (Groß 2008, S. 76ff, Wright 1985). Während aus Machtunterschieden keine spezifischen Interessen hervorgingen, gelte dies für Ausbeutungsverhältnisse sehr wohl (Wright 1985, S. 75). In diesem Ansatz führte er das Kleinbürgertum als Klasse ein und machte auf widersprüchliche Zwischenklassen aufmerksam (Manager, semi-autonome Arbeitnehmer). In Erweiterung der marxistischen Argumentation beschrieb er drei mögliche Ausbeutungsmittel in kapitalistischen Gesellschaften (Wright 1985, S. 88): den Besitz von Produktionsmitteln, den Besitz von Macht in Organisationen und den Besitz einer gesuchten Qualifikation. Die Klassenzugehörigkeit ergibt sich entweder durch den Besitz an Produktionsmitteln (3 Lagen) oder durch die Kombination aus der eigenen Autorität in Organisationen und der eigenen Qualifikation (3 x 3 Lagen). Dadurch entstehen insgesamt jeweils vier Klassen von Ausbeutern, Mittelklassen und Ausgebeuteten. Das Modell wurde für verschiedene Staaten operationalisiert und konnte dabei sowohl Einkommens- als auch Einstellungsunterschiede erklären (Wright 1997, Erbslöh et al. 1988). Das EGPKlassenschema von Erikson, Goldthorpe und Portocarero (Erikson et al. 1979, Erikson und Goldthorpe 1992) ist ein nichtmarxistisches Klassenmodell, das in der Tradition von Max Weber eine Unterscheidung von Besitz- und Erwerbsklassen vornimmt. Ziel der Analyse ist es allerdings nicht, typische Konfliktlinien, sondern typische Marktchancen auf dem Arbeitsmarkt zu bestimmen. Wie auch Wright sehen die drei Autoren die Organisationsmacht als zentralen Bestimmungspunkt von Klassenlagen in der Arbeitsgesellschaft an. Sie begründen dies mit dem Anwachsen von Organisationen in der modernen Gesellschaft und der zunehmenden Bedeutung von Expertenmacht. Die Klassenzugehörigkeit wird über die berufliche Tätigkeit operationalisiert, die Zuweisung zu den Klassenlagen erfolgt getrennt für abhängig Beschäftigte und Selbstständige. Das
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Schema liegt unterschiedlich differenziert vor, unterschieden werden maximal elf und minimal drei Klassenlagen (Erikson und Goldthorpe 1992, S. 35-47). Es hat eine starke Verbreitung in der empirischen Forschung gefunden, insbesondere bei der Analyse sozialer Mobilität und politischer Einstellungen. Dessen ungeachtet erscheint die theoretische Basis der Klassenbildung weniger theoretisch als vielmehr empirisch fundiert, hier scheint der Entwurf von Wright deutlich angemessener. Pierre Bourdieu leistete mit seiner klassentheoretischen Lebensstilkonzeption die Verknüpfung von Kultur, Herrschaft und sozialer Ungleichheit und führte damit die Klassenanalyse fort, während er gleichzeitig die Funktion der Lebensstile im Hinblick auf die Reproduktion sozialer Ungleichheit analysierte (Bourdieu 1983, 1985, 1987, Müller 1989). Seine Theorie hat drei Elemente, die Kapitaltheorie (Bourdieu 1983), die Klassentheorie (Bourdieu 1985) und die Distinktionstheorie (Bourdieu 1987). Die Unterscheidung von Kapitalformen leitet sich bei Bourdieu aus der Theorie des sozialen Raumes und der Felder ab.27 Felder sind Beziehungskonstellationen von Akteuren in gesellschaftlichen Teilbereichen, die nicht durch Intentionen zustande kommen, sondern auf Kräfteverhältnissen beruhen, die auf Kapitalbesitz begründet sind. Jedes Feld zeichnet sich durch spezifische Kapitalformen aus, die in ihm „im Kurs“ sind (Bourdieu 1985, S. 9f). Der Besitz dieser Kapitalformen bestimmt die Handlungsfähigkeit der Akteure und deren Position im Feld. Soziale Felder grenzen sich durch unterschiedliche Kapitallogiken voneinander ab. In seiner Kapitaltheorie unterscheidet Bourdieu drei primäre Kapitalformen, die sich unter bestimmten Kosten wechselseitig ineinander konvertieren lassen (Bourdieu 1983).28 Seine Klassentheorie beschreibt die übergeordnete Struktur sozialer Ungleichheit, dieses „Modell des sozialen Raums“ ist den einzelnen Feldern übergeordnet und wirkt sich tendenziell auch auf die Hierarchien innerhalb der sozialen Felder aus. Positionen innerhalb der Struktur werden nach Kapitalvolumen und Kapitalstruktur29 der Akteure zugewiesen (Bourdieu 1985, S. 11). Bourdieu
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Die Begriffe Felder und Räume werden bei Bourdieu nicht konsistent verwendet. Tendenziell wird der Begriff Raum eher für objektive Eigenschaften und Feld eher für eine symbolische Ebene der Praxis verwendet (Fuchs-Heinritz und König 2005, S. 139). 28 Ökonomisches Kapital beschreibt alle Formen des materiellen Besitzes, der durch das Eigentumsrecht institutionalisiert ist. Kulturelles Kapital hat drei Formen, kulturelle Objekte, die juristisch besessen werden können (Bilder, Bücher, Skulpturen usw.), kulturelle Fähigkeiten und Fertigkeiten (Manieren, Wissen um Kunstgeschichte usw.) und eine institutionalisierte Gestalt in Form von Bildungstiteln. Soziales Kapital ist das soziale Netzwerk der Akteure, das bewirkt, dass „nicht alles gleich möglich oder unmöglich ist“ (Bourdieu 1983, S. 183). 29 Die „Kapitalstruktur“ wird über das Verhältnis von kulturellem und ökonomischem Kapital operationalisiert.
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unterscheidet anhand des Kapitalvolumens drei Grundklassen30, die herrschende Klasse, die Mittelklasse und die beherrschte Klasse. Innerhalb der drei Grundklassen unterscheidet er anhand von Kapitalstruktur und Laufbahn mehrere Fraktionen.31 Die Distinktionstheorie beschreibt die Verknüpfung von Klassenstruktur und der Struktur der Lebensstile. Letztere spiegelt die Klassenstruktur zwar wider, ist aber nicht direkt, sondern allenfalls mittelbar eine Folge der sozialen Ordnung. Der Lebensstil einer Klasse wird durch ihren Habitus beeinflusst.32 Er wird im Sozialisationsprozess erworben und dabei durch die materiellen Möglichkeiten der Akteure begrenzt. Der Habitus kann sich daher nur schwer an neue objektive Situationen anpassen.33 Die Akteure trachten danach, die Legitimität ihres Habitus zu maximieren. Sie benutzen dazu ihr verfügbares symbolisches Kapital. Hier ist die herrschende Klasse im Vorteil, da sich ihr größeres ökonomisches Kapital unter gewissen Kosten in symbolisches Kapital konvertieren lässt. Der Habitus legitimiert so indirekt die Ordnung der Lebensstile, dadurch ist die Ordnung der Lebensstile für Bourdieu auch eine Herrschaftsordnung und reproduziert soziale Ungleichheiten (Bourdieu 1987, S. 27). Reinhard Kreckel hat mit seiner „Politischen Soziologie der sozialen Ungleichheit“ ein eigenes Modell der Entstehung von sozial strukturieren Ungleichheiten vorgelegt (Kreckel 2004). Er beschreibt soziale Ungleichheit räumlich anhand eines ungleichheitsbegründenden Kräftefeldes zwischen Staat, Kapital und Arbeit, des Zentrum-Peripherie-Modells (Kreckel 2004, S. 149ff).34 Er nimmt an, dass soziale Ungleichheit primär durch das Zusammenspiel von Staat und kollektiven Akteuren wie Parteien, Verbänden oder Gewerkschaften reproduziert wird, deren Kräftekonstellationen im abstrakten Modell des korporatistischen Dreiecks aus Staat, Kapital und Arbeit beschrieben werden können. Individuelle Akteure und die von ihnen gebildeten sozialen Klassen werden in der 30
Die Klassen im sozialen Raum sind „Ensembles von Akteuren mit ähnlichen Stellungen […] die […] aller Voraussicht nach ähnliche Dispositionen und Interessen aufweisen“ (Bourdieu 1985, S. 12). 31 Unternehmer (mit hohem ökonomischem Kapital) und Intellektuelle (mit hohem kulturellen) in der herrschenden Klasse und das aufsteigende, das neue und das exekutive Kleinbürgertum in der Mittelklasse. In der beherrschten Klasse werden keine Fraktionen unterschieden. 32 Im Habitus sind typische Einstellungen und Lebensweisen des Individuums systematisch verbunden. Er bestimmt das Handeln der Akteure, weil er eine „präformierte Denk- und Handlungsdisposition“ darstellt (Fuchs-Heinritz und König 2005, S. 114). Diese handlungstheoretische Annahme unterscheidet Bourdieu von alternativen Handlungstheorien wie dem Rational-Choice-Ansatz oder dem Strukturfunktionalismus. 33 Die Trägheit des Habitus wird von Bourdieu als Hysteresis-Effekt bezeichnet (Bourdieu 1999, S. 111). 34 Der zentrale Ort, an dem Konflikte ausgetragen und Lebenschancen verteilt werden, ist für Kreckel weiterhin der Arbeitsmarkt.
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Peripherie des Feldes verortet. Die soziale Lage eines Akteurs wird bei Kreckel über seine relative Position zum Machtzentrum der Gesellschaft definiert. Er unterscheidet periphere und zentrale Lagen im Kräftefeld und will damit auch neue Ungleichheiten einschließen.35 In der BRD befinden sich das korporatistische Dreieck aus Staat, Kapital und Arbeit im Zentrum und die sozial strukturierte Bevölkerung an der Peripherie des Kräftefeldes. Den in der Privatwirtschaft abhängig beschäftigten Teil der Bevölkerung analysiert Kreckel im Hinblick auf Machtasymmetrien auf dem Arbeitsmarkt (Kreckel 2004, S. 184ff).36 Empirisch sieht er neun Lagen, die sich konzentrisch zum Kräftefeld gruppieren. In der Peripherie befinden sich rechtlose Arbeitskräfte, deren Erwerbstätigkeit außerhalb des Arbeitsmarktes stattfindet, am nächsten zum Zentrum liegen abhängige Erwerbspositionen mit Managementfunktionen. Bereits seit Ende der 1960er Jahre etabliert sich jenseits von traditionellen Klassen- oder Schichtungsmodellen ein neuer Zugang zur Analyse gesellschaftlicher Ungleichheit, der mit Begriffen wie Ausgrenzung, Exklusion oder Underclass verknüpft ist. Die unter diesen Labels versammelten Konzepte stehen Ungleichheitsmodellen, die zwischen Zentrum und Peripherie unterscheiden, wie dem zuvor skizzierten Modell des Ungleichheitsbegründenden Kräftefeldes (Kreckel 2004) nahe, weil auch sie soziale Lagen entlang der Achse drinnen– draußen und nicht oben–unten unterscheiden (Kronauer 1997). Wichtige Impulse verdankt die Diskussion dem Beitrag „Challenge to Affluence“ von Gunnar Myrdal (Myrdal 1965, S. 40ff). Hiermit wurde zum ersten Mal auf die Situation einer modernen „Unterklasse“ aufmerksam gemacht. Die entscheidende soziale Spaltung, so argumentieren Myrdal und andere Vertreter dieser Ansätze, besteht zwischen denen, die am zunehmenden gesellschaftlichen Wohlstand teilhaben, und denen, die davon ausgeschlossen sind (Myrdal 1965, S. 40ff, Mollenkopf und Castells 1991, S. 16f). In Frankreich wird für diese Entwicklung der Begriff der sozialen Exklusion verwendet, der wie der Begriff sozialer Ungleichheit auf die gesellschaftliche Verursachung von Ausgrenzungen verweist (Wacquant 1997, Castel 2000). Er ist im Gegensatz zum Begriff der „Unterklasse“ weniger (negativ) stigmatisierend. Obgleich man mit Bezug auf Goffman (1977) anmerken kann, dass bei ihm die Gefahr einer positiven Stigmatisierung der Wohlmeinenden besteht, weil er die soziale Determination gegenüber der Handlungsfreiheit der Akteure überbetont. In Deutschland ist die Diskussion um soziale Exklu35 „Periphere Lagen sind strukturell verankerte Bedingungskonstellationen, aus denen sich für die Betroffenen Benachteiligungen hinsichtlich ihres Spielraums für autonomes Handeln ergeben. Periphere Lagen können in lokalen, regionalen, nationalen und weltweiten Strukturzusammenhängen auftreten, die einander überlagern können. Je nach gewähltem Abstraktionsgrad können deshalb einzelne Individuen, Gruppen oder ganze Staatsgesellschaften und Weltregionen als mehr oder weniger »peripher« (bzw. »zentral«) beschrieben werden.“ (Kreckel 2004, S. 42). 36 Dabei betrachtet er allerdings nur abhängig Beschäftigte (Kreckel 2004, S. 203).
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sion jüngeren Datums und kam mit der Massenarbeitslosigkeit in den 1980er Jahren auf (Kronauer 1997). Sie ist mit der Vorstellung einer Zweidrittelgesellschaft verbunden, die sich auch in der soziologischen Theorie als anschlussfähig erwiesen hat. Kennzeichnend waren hier Versuche, die Theorien sozialer Differenzierungen und sozialer Ungleichheiten zu verknüpfen (Schimank und Volkmann 1999, Leisering 2004, Stichweh 2004, Esser 2004). Leisering (2004) schlägt hierzu zwei verschiedene Exklusionsbegriffe vor: Den Begriff der „starken Exklusion“ für abgegrenzte Gruppen, die im Hinblick auf ihre soziale Teilhabe an multiplen gesellschaftliche Funktionssystemen abgekoppelt sind, und den der „schwachen Exklusion“, um graduelle Unterschiede in gesellschaftlichen Teilhabechancen zu beschreiben, die keine Dichotomien (Insider/Outsider) widerspiegeln.37 Ein einflussreiches Modell zur Analyse von sozialer Exklusion in den modernen Wohlfahrtsstaaten wurde von Robert Castel in einer umfangreichen historischen Studie erarbeitet (Castel 2000). Er zeichnet darin einen historischen Entwicklungsprozess nach, durch den die Bedeutung der Lohnarbeit, aufgrund ihrer zunehmenden sozialen Absicherung durch staatliche Sozialpolitik, für die Vergesellschaftung der Menschen im Verlauf des 19. und 20. sukzessive zugenommen hat. Der moderne Mensch ist vorrangig über die Arbeitswelt vergesellschaftet (Castel 2000, S. 402). Infolge der ökonomischen und sozialstaatlichen Krise der 1970er Jahre habe sich die soziale Absicherung der Erwerbsarbeit durch den Wohlfahrtsstaat aber kontinuierlich verringert. Dadurch seien am Rande der Arbeitswelt auch Zonen mangelhafter sozialer Integration entstanden. Castel (2000, S. 306f) unterscheidet mehrere Zonen der Integration in denen die Akteure jeweils unterschiedliche Lagen einnehmen. Anhand der Achse Integration–Exklusion werden sie als Zone der Integration, Zone der Verwundbarkeit, Zone der Fürsorge und Zone der Exklusion bzw. Entkopplung bezeichnet. Für empirische Studien hat sich das Konzept der schwachen Exklusion als besonders anschlussfähig erwiesen. Durch die Kombination der sozialen und arbeitsbezogenen Integration ergeben sich gesellschaftliche Zonen, in denen die Akteure unterschiedlich stark in soziale Zusammenhänge eingebunden sind. Die Lage der Akteure wird dabei vor allem durch ihre Anbindung an den Arbeitsmarkt bestimmt. Hier werden stabile und prekäre Beschäftigung sowie der Ausschluss aus 37
Neben der soziologischen Theorie gibt es auch zur Armutsforschung eine Verbindung. Diese vollzog bereits früh einen Perspektivwechsel von absoluter materieller Armut hin zu relativer sozialer Benachteiligung (Townsend 1993) und zu mangelnden Verwirklichungschancen (Sen 1983). Der Exklusionsbegriff wurde zudem auch in der europäischen Sozialberichterstattung einflussreich (Rat der Europäischen Union 2005). Erst in jüngerer Zeit wird das Problem der sozialen Ausgrenzung auch wieder verstärkt in der Öffentlichkeit aufgegriffen. Befördert wurde die öffentliche Diskussion durch Debatten über eine neue Unterschicht bzw. das „abgehängte Prekariat“ (Müller-Hilmer 2006). Zur aktuellen soziologischen Diskussion vgl. die Beiträge in Bude und Willisch (2008).
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der Arbeitswelt unterschieden. Daneben bestehen allerdings auch in privaten Beziehungsnetzwerken unterschiedliche Einbindungen der Akteure. Dabei sind stabile Beziehungen, brüchig werdende Beziehungen und soziale Isolation zu differenzieren. Aus der Kombination beider Integrationsformen ergeben sich folglich neun typische Zonen der Integration bzw. Exklusion. Sie lassen sich auch in Deutschland unterscheiden und sind mit typischen Werthaltungen assoziiert (FES 2008, S. 55-57). In eine ähnliche Richtung geht auch der Ansatz von Martin Groß und Bernd Wegener, die soziale „Schließung“ als analytisches Konzept zum Verständnis der Produktion von Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt vorschlagen (Groß und Wegener 2004, Groß 2008, S. 183ff). Anhand der Theorie geschlossener Positionen beschreiben sie theoretisch und empirisch, wie veränderte Schließungsregeln für den Arbeitsmarkt das Machtverhältnis zwischen Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Arbeitslosem beeinflussen und dadurch auch auf die Verteilung der Löhne und Einkommen Einfluss nehmen. Nach der Theorie offener und geschlossener Positionen sollten Arbeitnehmer im Hinblick auf die Schließung der durch sie besetzten Positionen differenziert werden (Groß und Wegener 2004, Sørensen 1983). Geschlossene Positionen (Stellen) sind zeitlich stabil und vom Positionsinhaber unabhängig vorhanden, offene Positionen werden dagegen je nach Bedarf geschaffen, sind befristet und bestehen nur, solange ihre Inhaber sie besetzen. Die Mobilität ist bei offenen Positionen höher, Unternehmen können Mitarbeiter leicht entlassen und Stelleninhaber sich leicht eine neue und bessere Beschäftigung suchen. Arbeitnehmer auf diesen Positionen werden dadurch eng an ihrer Produktivität orientiert entlohnt. Bei Arbeitnehmern in geschlossenen Positionen greifen andere Mechanismen, sie sind schwerer zu entlassen und ihre Entlohnung erfolgt weniger marktorientiert. Vielmehr besteht sogar die Möglichkeit, dass sich zwischen Belohnung und Produktivität ein zeitstabiles Ungleichgewicht herausbildet, weil Arbeitgeber gegenüber Arbeitnehmern in geschlossenen Positionen geringere Sanktionsmöglichkeiten haben. Seit den 1970er Jahren zeichnete sich eine zunehmende Spaltung der Ungleichheitssoziologie ab. Es stand und steht weiterhin infrage, ob und inwieweit vertikale Strukturen und Dimensionen sozialer Ungleichheit soziales Handeln in der Moderne immer noch strukturieren (Groß 2008, S. 114, Haller 2006). In diesem Abschnitt wurde eine Reihe von neueren Konzepten zur Analyse sozialer Ungleichheit dargestellt, die sich in drei Gruppen unterteilen lassen. Überarbeitete Schicht- und Klassensoziologien gehen weiterhin von der Dominanz und Relevanz vertikaler Strukturen sozialer Ungleichheit aus (Wright 1985, Bourdieu 1987, Erikson und Goldthorpe 1992, Geißler 2006). Sie versuchen, klassische ungleichheitssoziologische Zugänge an eine differenziertere Gesellschaft anzupassen. Demgegenüber stehen Autoren, die sich ganz oder teilweise gegen die
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Bedeutung der vertikalen Strukturierung sozialen Handelns aussprechen oder ausgesprochen haben (Beck 1984, Schulze 1992, Hradil 1987, Schäfers 2004). Sie postulieren teilweise neue komplexere Konzepte zur Analyse sozialer Ungleichheiten, in denen sie neue subjektive und/oder objektive Konstellationen (soziale Lagen, Lebensstile und soziale Milieus) als handlungsleitend darstellen oder handlungsleitende Strukturen vor dem Hintergrund der Individualisierungsthese als ganz und gar obsolet ansehen. In Deutschland speiste sich der Zulauf zu dieser These in den achtziger Jahren aus neuen politischen Konflikten, die immer weniger entlang von klassenbezogenen Spaltungen38 organisiert waren (Schnell und Kohler 1995). Mitte der 1990er Jahre wurden dann allerdings auch wieder die alten vertikalen Ungleichheiten, ausgehend von der Debatte um die „neue Armut“ unter Kindern und Jugendlichen, diskutiert (Barlösius 2001, BMAS 2001a, BMGS 2005a, BMAS 2008a). Angesichts einer wahrgenommenen Auseinanderentwicklung der Lebensverhältnisse wird der Blick zunehmend auf Probleme sozialer Ausgrenzung und neuer Differenzierungen zwischen sozialen Lagen im Zentrum oder in der Periphere der Gesellschaft gerichtet (Kronauer 2000, S. 75ff, Castel 2000, Groß und Wegener 2004). Dabei rücken insbesondere die Armen und Arbeitslosen der Gesellschaft in den Fokus der soziologischen Aufmerksamkeit (Bude und Willisch 2008). Neben der Differenzierung von mehr oder weniger vorteilhaften sozialen Positionen wird dadurch auch die soziale In- und Exklusion in bzw. aus gesellschaftliche(n) Funktionssysteme(n) wie dem Arbeitsmarkt als Phänomen sozialer Ungleichheit anerkannt. Ungeachtet der Vielfalt der soziologischen Beiträge zur Ungleichheitsforschung vermag keine der drei Argumentationsrichtungen eine überzeugende Antwort auf die Frage zu geben, welche Ungleichheitsstrukturen in der Moderne für soziales Handeln besonders relevant sind. Eine wichtige Ursache für diesen Eindruck ist, dass die meisten Autoren konzeptuelle und empirische Argumentationen vermischen (Groß 2008, S. 114f). Empirisch scheinen die neuen Lagekonzepte und Milieus die soziale Wirklichkeit differenzierter abzubilden, als es klassische und moderne Schichtungs- oder Klassenzugänge können. Allerdings verquickt insbesondere der Zugang über Lebensstile und Milieus Explanans und Explanandum soziologischer Analyse. So enthalten gerade Milieus mit Lebensstilen (soziales Handeln) ein Explanans, das die Soziologie seit Max Weber als Explanandum zu erklären trachtet. Der kritische, erklärende Anspruch der soziologischen Ungleichheitsforschung wird in den Ansätzen ebenfalls zurückgestellt (Groß 2008, S. 115). Soziale Lagen und Milieus zeichnen Ungleichheits-
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Zum Begriff sozialer Spaltungen (engl. „cleavages“) vgl. Lipset und Rokkan (1967).
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strukturen nur deskriptiv nach, und verweisen nicht auf ihren gesellschaftlichen Entstehungszusammenhang. 2.1.4 Wandel sozialer Ungleichheiten Aus soziologischer Perspektive ist das Wechselspiel zwischen Ursachen und Folgen des Wandels sozialer Ungleichheiten von besonderem Interesse (Esser 2004). Die Ursachen des sind dabei auf der gesellschaftlichen Strukturebene zu verorten. Die vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung liefert hier wichtige Erklärungsansätze zur Entstehung und Reproduktion verschiedener Varianten wohlfahrtsstaatlicher Strukturen. Sie macht etwa auf die Bedeutung der Interaktion zwischen den Akteuren im korporatistischen Dreieck von Arbeit, Wirtschaft und Politik aufmerksam. Zudem beschreibt sie, dass die aktuellen Varianten wohlfahrtsstaatlicher Arrangements vor allem durch Bezug auf ihren historischen Entstehungsprozess zugänglich werden (Kaufmann 2003, vgl. Abschnitt 3.1). Die Folgen des Wandels sozialer Ungleichheiten reichen dagegen bis hinab zur Individualebene und lassen sich etwa am Handeln, Erleben und letztlich auch an der Gesundheit konkreter Menschen festmachen. Durch die soziologische Theorie wurden Konzepte entwickelt, die erklären sollen, wie sich Veränderungen auf der gesellschaftlichen Strukturebene auf der Individualebene auswirken (Esser 2004, Esser 1999). In diesem Abschnitt zum Wandel sozialer Ungleichheiten steht die konzeptionelle bzw. theoretische Frage der Verknüpfung von Struktur- und Akteursebene im Zentrum, im Abschnitt 3.1 des nächsten Teils wird dann auf die strukturellen Ursachen des Wandels sozialer Ungleichheiten eingegangen. Die Übersicht über die Entwicklung von theoretischen Konzepten zur Analyse sozialer Ungleichheiten hat deutlich gemacht, dass sich heute drei alternative Thesen zu den dominanten Strukturen und Entwicklungen in der modernen Gesellschaft gegenüberstehen:
Vertikale Ungleichheiten, also Differenzen zwischen Klassen oder Schichten, sind weiterhin die dominanten Aspekte der Struktur sozialer Ungleichheit (Geißler 1996). Kulturelle Ungleichheiten, also Differenzierungen nach Lebensstilen oder Milieus, lösen vertikale Ungleichheiten als dominante Aspekte der Struktur sozialer Ungleichheit ab (Schulze 1992, Hradil 2001, Schäfers 2004) oder die sozialen Kategorien verlieren im Zuge des Prozesses der Individualisierung sogar vollständig an Relevanz (Beck 1994). Im Zuge der Globalisierung entstehen neue gesellschaftliche Spaltungen, die sich nicht mit den Begriffen des schichtungssoziologischen Paradigmas,
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sondern eher mit den Begriffen ‚Underclass’ und ‚soziale Exklusion’ fassen lassen (Castel 2000, Kronauer 2002, Groß 2005, Bude und Willisch 2007). Theoretisch lassen sich, wie Vertreter der soziologischen Theorie betonen, beliebig viele Eigenschaften zur Unterscheidung sozialer Kategorien heranziehen (Luhmann 1985, Esser 2004). Die unterschiedlichen Vorschläge der Ungleichheitssoziologie sollten daher eher als empirisch mehr oder weniger zutreffende Hypothesen zur Struktur sozialer Ungleichheiten in der Gesellschaft interpretiert werden. Um den Wandel sozialer Ungleichheiten losgelöst von der Orientierung an konkreten Hypothesen zu vergleichen und mithin auch die konkurrierenden ungleichheitssoziologischen Thesen und Diagnosen einer empirischen Prüfung zu unterziehen, ist ein übergreifender theoretischer Bezugsrahmen notwendig. Dieser muss es ermöglichen zu definieren, was die ‚Relevanz’ sozialer Kategorien in der Struktur sozialer Ungleichheiten ausmacht, und hat dadurch beträchtlichen Einfluss auf das methodische Vorgehen und damit auch auf die Ergebnisse der empirischen Analysen zur Relevanz der drei Thesen. Die soziologische Theorie liefert viele mögliche solcher Bezugsrahmen. Allerdings lassen sich viele der modernen Ansätze in zwei grundsätzliche Schulen einordnen, die soziologische Systemtheorie und den methodologischen Individualismus. In dieser Arbeit wird der Ansatz des methodologischen Individualismus favorisiert. Bevor darauf genauer eingegangen wird, sollen aber zunächst kurz die Grundlagen einer Analyse des Wandels sozialer Ungleichheiten skizziert werden, die sich an der soziologischen Systemtheorie orientiert. Die Systemtheorie stellt, getreu dem Durkheim‘schen Diktum „Soziales aus Sozialem zu erklären“, Kommunikationen ins Zentrum des Erkenntnisinteresses (Luhmann 2001). Der ursprüngliche Ansatz hatte als Strukturfunktionalismus durch die Arbeiten von Talcott Parsons großen Einfluss in der Soziologie und wurde in den 1960er Jahren durch Robert Merton und in den 1980er und 1990er Jahren durch Niklas Luhmann weiterentwickelt (Parsons 1951, 1961, Merton 1968, Luhmann 1997, 2001). Die moderne Systemtheorie nach Luhmann versucht, ohne Bezug zu sozialen Akteuren den Wandel sozialer Strukturen aus den Kommunikationen und Selektionen in diesen Systemen zu erklären. Soziale Klassen und Schichten erscheinen daher nicht als Ursache, sondern vielmehr als Folgen des Operierens sozialer Systeme (Luhmann 1985, S. 152). In der Theorie sozialer Systeme fehlte und fehlt allerdings eine theoretische Brücke zwischen den Systemen und den Akteuren (Esser 2004). Die Beobachtung, dass Systeme Ungleichheiten zwischen Akteuren produzieren, obwohl Akteure eigentlich als Umwelt und nicht als Teil von sozialen Systemen betrachtet werden, erscheint aber aus Sicht der Ungleichheitssoziologie als paradox. Durch die Berücksichtigung von Exklusion und Inklusion suchte Luhmann soziale Ungleichheiten zwischen Akteuren an-
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hand der Theorie sozialer Systeme zu beschreiben (Luhmann 1995). Er sah Exklusion als eine Schattenseite der im Zuge der fortschreitenden funktionalen Differenzierung der Gesellschaft gesteigerten und multiplen Inklusion von Akteuren in soziale Systeme. Soziale Ungleichheiten sind nach Luhmann (1997, S. 776) die Folgen des rationalen Operierens funktional differenzierter sozialer Systeme. Die zunehmende funktionale Spezialisierung der gesellschaftlichen Teilsysteme führt zur immer weiteren Effizienzsteigerung bei der Bearbeitung von Problemen. Zwangsläufig werden dabei Akteure mit geringer oder ohne funktionale Bedeutung für die Lösung der jeweiligen Probleme kommunikativ weniger berücksichtigt oder vollkommen aus den Systemen ausgeschlossen.39 Allerdings wird das Entstehen von sozialen Phänomenen wie denjenigen, die heute unter dem Stichwort der sozialen Exklusion diskutiert werden, erst mit systemtheoretischen Begriffen fassbar, wenn man sich von der These der Gleichrangigkeit sozialer Systeme löst (Esser 2004). Nur wenn die Selektionen mancher Systeme, wie etwa des Bildungssystems, die Selektionen anderer Systeme bestimmen, sind systemtheoretisch auch Phänomene multipler sozialer Exklusionen zu erfassen. Der Wandel von Strukturen sozialer Ungleichheiten kann folglich aus systemtheoretischer Perspektive untersucht werden, indem nach Gründen für den kommunikativen Ausschluss von Akteuren aus Systemen gesucht wird. Die Relevanz sozialer Kategorien erschließt sich hier also über die Bedeutung der Kategorien bei Selektionen von sozialen Systemen. Dieser Zugang zur Analyse des Wandels sozialer Ungleichheiten ist an die soziologische Ungleichheitsforschung und die sozialepidemiologische Forschung zu gesundheitlichen Ungleichheiten nur wenig anschlussfähig. In beiden Forschungstraditionen liegt der Schwerpunkt vielmehr auf der situativen Erklärung des Handelns und der Wahrnehmungen, Werte, Erwartungen und Bewertungen sozialer Akteure. Im methodologischen Individualismus wird die gesellschaftliche Strukturierung des Handelns, das so genannte ‚soziale Handeln’, untersucht. Den Ausgangspunkt dieses Ansatzes bildet die verstehende Soziologie von Max Weber (1984), der – im Unterschied zu Durkheim – nicht soziale Strukturen, sondern sozial strukturiertes Handeln als Kern des soziologischen Erkenntnisinteresses ansah. Der Begriff ‚methodologischer Individualismus’ wurde von Karl Popper eingeführt, und soll betonen „daß wir nie mit einer Erklärung auf Grund sogenannter ,Kollektive’ (Staaten, Nationen, Rassen, usf.) zufrieden sein dürfen“ (Popper 1977, S. 124 zit. nach Esser 1999, S. 27), sondern dass soziologische Erklärungen immer auf dem Handeln der individuellen Akteure beruhen müssen. Heute stehen sich verschiedene Entwürfe individualistischer Sozialtheorien der Gesellschaft gegenüber. Besondere Bedeutung haben in den 1980er Jahren die 39
Hier sind die theoretischen Bezüge zur strukturfunktionalen Schichtungstheorie (s.o.) auch in der modernen Systemtheorie noch deutlich zu erkennen.
Theoretischer Hintergrund
43
Rational-Choice-Theorie von Coleman und in den 1990er Jahren das Modell der soziologischen Erklärung von Hartmut Esser erlangt (Coleman 1990, Esser 1999). Das Modell der soziologischen Erklärung nach Esser (1999) postuliert, dass die Veränderung sozialer Strukturen nur durch den Bezug zu den Situationen, den Wahrnehmungen und dem Handeln der beteiligten sozialen Akteure zu erklären ist. Die Erklärung kollektiver Vorgänge erfolgt durch einen methodologischen Dreischritt (Esser 1999, S. 1ff): die Modellierung und Analyse der Logik der Situation des sozialen Akteurs, der Logik der Selektion und der Logik der Aggregation der individuellen Handlungen zu kollektiven Gebilden. Die Rekonstruktion der Logik der Situation beschreibt das deutende Verstehen der sozialen Umstände, in denen sich ein Akteur befindet. Zu den sozialen Umständen kann die Stellung in der Sozialstruktur ebenso gehören wie relevante Rollen in sozialen Systemen. Zur Analyse der Logik der Situation sind Brückenhypothesen notwendig, in denen Annahmen über die Verknüpfung zwischen der gesellschaftlichen Strukturebene und der Situation der sozialen Akteure konkretisiert werden (Lindenberg 1996). Die Brückenhypothesen konkretisieren auch, wie die objektiven Aspekte der Situation subjektiv wahrgenommen werden, hierzu wurde in späteren Erweiterungen der Theorie das Konzept des Framing eingeführt (Lindenberg 2000, Esser 2001, Kroneberg 2007). Handlungen der sozialen Akteure werden im Zuge der Rekonstruktion der Logik der Selektion erklärt. Esser favorisiert dazu mittlerweile das Modell Frame-Skript-Selektion (MFS) als Handlungstheorie, während er sich in früheren Arbeiten auf die Wert-Erwartungstheorie bezogen hat.40 Beides sind allgemeine, deduktiv-nomologische Handlungstheorien nach dem Hempel-Oppenheim-Schema41 (Kroneberg 2007). Die Ableitung kollektiver Folgen aus den individuellen Handlungen der Akteure geschieht über Transformationshypothesen im Zuge der Logik der Aggregation. Diese Hypothesen beschreiben, wie sich die zu erklärenden sozialen Situationen aufgrund des aggregierten Handelns der sozialen Akteure verändern. Entgegen der Systemtheorie lässt sich aber die Vermittlung zwischen System- und Akteursebene bzw. sozialer Differenzierung und sozialer Ungleichheit auch formal beschreiben. So ermöglichen Ansätze des methodologischen Individualismus nicht nur zu beschreiben warum (durch das Prozessieren sozialer Systeme), sondern auch wie (durch die soziale Strukturierung von Situationen der Akteure) 40
Das Konzept des Framing wurde von Lindenberg in die Handlungstheorie eingebracht (für einen Überblick vgl. Lindenberg 2000). 41 Nach dem Hempel-Oppenheim-Schema der Erklärung ist ein Explanandum (zu erklärendes Merkmal) nur durch ein Explanans (erklärendes Merkmal) zu erklären, wenn es logisch aus Randbedingungen und einem Gesetz abzuleiten ist (vgl. Esser 1999, S. 204ff). Etwa: Wenn X (Randbedingung) UND X führt zu Z (allgemeines Gesetz) DANN Z (Ableitung).
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Theoretischer Hintergrund
soziale Kategorien handlungs-, wahrnehmungs- oder auch gesundheitsrelevant werden. So lassen sich soziale Ungleichheiten zwischen Akteuren – wie auch in der späteren Systemtheorie – als Folge von Prozessen der Inklusion und Exklusion von sozialen Akteuren in soziale Systeme verstehen (Esser 2004). Ausgangspunkt einer auf dem Modell der soziologischen Erklärung aufbauenden Argumentation ist die Analyse der ‚Logik der Situation’, über die soziale Systeme auf das Handeln sozialer Akteure Einfluss nehmen (Esser 1999, S. 1ff). Als ‚soziale Systeme’ werden aneinander gebundene und möglicher-, aber nicht notwendigerweise durch Regeln, Normen und Sanktionen institutionalisierte soziale Handlungen bezeichnet. Handlungen sind sozial, wenn sie an Handlungen relevanter anderer Akteure anschließen und sich auf diese beziehen (Esser 2000, S. 31ff).42 Soziale Systeme sind um eigene Oberziele herum organisiert. Sie bilden den materiellen oder institutionellen Hintergrund für die Handlungen der Akteure (Esser 1996). Häufig stehen dabei primäre und indirekte Zwischengüter und kulturelle Ziele im Zentrum (Esser 2000, S. 119). Das soziale System Unternehmen ist beispielsweise häufig um das Ziel des Profits herum organisiert, politische Parteien dagegen wollen dagegen primär Macht und Einfluss erlangen. Die gesellschaftlich als wertvoll erachteten Güter bzw. Dimensionen sozialer Ungleichheit, deren Ungleichverteilung nach den gemeinhin akzeptierten Definitionen die sozialen Ungleichheiten ausmachen, erhalten ihren Wert durch soziale Systeme. Soziale Ungleichheit und soziale Differenzierung sind dadurch die wichtigsten Aspekte der Sozialstruktur einer Gesellschaft. Zwischen ihnen besteht eine „enge, wenngleich keine unmittelbare“ Beziehung (Esser 2004, S. 276). Sie lässt sich anhand des Modells der sozialen Produktion des Nutzens veranschaulichen (Esser 1999, S. 108ff). Das Modell beschreibt die objektive Definition der Situation sozialer Akteure, also die Rahmenbedingungen des Handelns der sozialen Akteure, die durch soziale Strukturen vorgegeben werden (Abbildung 1):
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Es lassen sich grundsätzlich nicht-soziale und soziale Handlungen unterscheiden (Esser 2000, S. 31f). Soziales Handeln bezieht sich auf das Handeln und die Einstellungen anderer sozialer Akteure und grenzt sich dadurch vom nicht-sozialen Handeln ab. Soziales Handeln ist sowohl materiell als auch symbolisch (kommunikativ) wirksam und verändert die soziale Situation. Es findet zwischen sozialen Akteuren unter der Bedingung doppelter Kontingenz statt (ego weiß nicht, wie alter handeln wird, und alter weiß nicht, wie ego handeln wird).
Theoretischer Hintergrund Abbildung 1:
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Die soziale Produktion des Nutzens
Quelle: Esser 1999, S. 108 Die Grundannahme des Modells der sozialen Nutzenproduktion lautet, dass soziale Akteure darauf bedacht sind, sich selbst möglichst zuträglich zu reproduzieren, sie handeln, um dies zu erreichen. Nutzen (U) ist für die Akteure letztlich eine Frage der Befriedigung eigener Bedürfnisse durch eigene Handlungen. Für menschliche Organismen lassen sich allgemein zwei Grundbedürfnisse benennen: Sie wollen von anderen wertgeschätzt werden (soziale Wertschätzung: SW) und ihre eigene materielle Existenz so zuträglich wie möglich erhalten (physisches Wohlbefinden: PW). Beide Bedürfnisse lassen sich nur (SW) bzw. leichter (PW) durch die Interaktion und Kooperation mit anderen Menschen befriedigen. Um andere Akteure zur Kooperation zu motivieren, müssen ihnen aber gegebenenfalls Zwischengüter überlassen werden. In kapitalistischen Gesellschaften ist Geld das wichtigste primäre Zwischengut. So ‚spenden’ Menschen Geld um für die eigene Wohltätigkeit wertgeschätzt zu werden oder bezahlen mit Geld, damit ihre Wohnung geputzt oder ihr Abfall entsorgt wird. Der Wert von primären Zwischengütern und der Zugriff auf sie werden gesellschaftlich geregelt, sodass es anerkannte und auch geächtete Handlungen gibt, die den Zugang zu primären Zwischengütern ermöglichen. Man kann Geld sowohl sozial akzeptiert durch die institutionalisierte ‚Arbeit’ als Putzfrau oder auch durch das sanktionierte ‚Verbrechen’ eines Bankraubes erlangen. Institutionalisierte Mittel für den Zugriff auf primäre Zwischengüter werden als indirekte Zwischengüter (X) bezeichnet. In der Moderne sind dies etwa der Erwerb von Bildungstiteln und die anschließende Erwerbsarbeit, aber auch die Verwendung des eigenen oder fremden Kapitals für Börsenspekulationen oder die Gründung eines Unternehmens. Der Zugriff auf indirekte Zwischengüter erfolgt über soziale Systeme auf verschiedenen Ebenen der Gesellschaft. Familien, Wohlfahrtsstaaten und Unternehmen sind Systeme der funktionalen Differenzierung43, die für die Reproduktion der Akteure und damit auch für die Entstehung und Reproduktion von sozialen Ungleichheiten von besonderer Bedeutung sind. Ungleichheiten im Zugriff 43
Funktionale Differenzierung beschreibt die arbeitsteilige Differenzierung der Gesellschaft in typisch unterschiedliche und in Austausch befindliche soziale Systeme (Esser 2000, S. 64).
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Theoretischer Hintergrund
auf die indirekten Zwischengüter entstehen also in sozialen Systemen. Sie werden durch systemspezifische Mechanismen der Inklusion und Exklusion von Akteuren bestimmt, die dadurch auch den Zugang zu primären und sekundären Zwischengütern regeln (Esser 2000, S. 109).44 So gibt es etwa in Unternehmen eine Fülle von Regeln (Arbeitszeiten, Dresscodes, Reisekostenabrechnungen etc.), die Arbeitnehmer einhalten müssen, wenn sie dort arbeiten wollen. Dadurch bestimmen diese Regeln nicht nur unmittelbar den Zugang zum indirekten Zwischengut ‚berufliche Stellung’, sondern mittelbar über die Stellung auch den Zugang zum primären Zwischengut ‚Geld’ über das institutionalisierte Gehalt. Der Wandel sozialer Ungleichheiten hat nach dem Modell der sozialen Produktionsfunktion zwei grundlegende Ursachen: eine Veränderung der Inklusion von Akteuren in soziale Systeme oder eine Veränderung der Bedeutung von Inklusionen in soziale Systeme für die Akteure. Verändert sich die soziale Produktionsfunktion (h), beeinflusst dies zuerst eine Veränderung des Wertes, den indirekte Zwischengüter (X) für den Zugang zu primären Zwischengütern (Z) haben. Es kann entweder eine größere oder geringere Menge indirekter Zwischengüter oder ein größerer oder geringerer Aufwand nötig sein, um in sozialen Systemen indirekte in primäre Zwischengüter umzuwandeln. In der Konsequenz bedeutet dies für das Kapital an indirekten Zwischengütern, über das Akteure verfügen, dass sich dessen Wert und damit die gesellschaftliche Lage der Akteure verändert (Esser 1996, S. 8). Ein häufiges Beispiel für diese Prozesse ist der veränderte Wert von Bildungsabschlüssen im Zuge der ‚Bildungsexpansion’. So bestanden in vielen Staaten lange Zeit vergleichsweise fest institutionalisierte Regeln, durch die bereits mittlere Bildungsabschlüsse in gut dotierte und sichere Arbeitsplätze umgesetzt werden konnten (Gebesmair 2004). Im Zuge der zunehmenden Verfügbarkeit von gut ausgebildeten Erwerbstätigen verändern sich diese Chancen, Bildung in Einkommen umzusetzen, sodass der Wert des indirekten Zwischengutes Bildung sinkt.45 Der Vorzug des Modells der sozialen Nutzenproduktion ist also, dass die kollektiven Ursachen und die individuellen Folgen sozialen Wandels in einem formalisierten Modell dargestellt werden können. Dadurch werden gesellschaftliche Strukturebene und Akteursebene miteinander verknüpft. Aus einer veränderten Relevanz sozialer Kategorien lässt sich auf Wandel sozialer Ungleichheiten schließen. Das Modell der sozialen Nutzenproduktion ermöglicht eine formale Darstellung und dadurch das Aufstellen von Hypothesen und Gesetzen zum Wandel sozialer Ungleichheiten. Es steht dabei infrage, ob die 44
Als Beispiel nennt Esser (2004) den Arbeitsmarkt, hier erfolgt die Zuweisung von Positionen etwa über reine Marktvorgänge und institutionelle Regeln (wie das Arbeitsrecht). 45 Diese Veränderung des Wertes von kulturellem Kapital gab etwa für Bourdieu den Anlass zu Überlegungen zur Konvertibilität verschiedener Kapitalformen (Bourdieu 1987).
Theoretischer Hintergrund
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jeweilige soziale Kategorisierung die Erwartungen und Bewertungen der sozialen Akteure in typischer Weise strukturieren (Esser 2000, S. 119ff). Die Bestimmungsgrößen sozialer Kategorien, etwa Bildung und/oder Berufsstatus für Schichten und Klassen, können mit Bezug zur sozialen Nutzenproduktion als indirekte Zwischengüter angesehen werden. Folglich lässt sich an ihrer veränderten Bedeutung für den Zugang zu primären Zwischengütern eine Veränderung in der objektiven Logik der Situation und der Relevanz der zugrunde liegenden Kategorien festmachen (Esser 2000, S. 119ff). Der individuelle Nutzen drückt sich allerdings erst in der subjektiven Bewertung der Situation aus. Hier rückt die Frage, ob die Zwischengüter das SW weiterhin in typischer Weise strukturieren, in den Mittelpunkt der Betrachtung. Formel 1:
Nutzen von Positionen in sozialen Kategorien
U(lk )
f ( SW (lk ), PW (lk ))
Aufbauend auf den Überlegungen zur veränderten Bedeutung sozialer Kategorien erfolgt die Untersuchung der Relevanz sozialer Kategorien also in zwei Schritten: Zuvorderst müssen die primären und indirekten Zwischengüter bzw. kulturellen Ziele identifiziert und operationalisiert werden. Danach kann empirisch überprüft werden, inwiefern sich der Zugang zu den Zwischengütern an sozialen Kategorien festmachen lässt und es kann der Frage nachgegangen werden, „ob die betreffenden Eigenschaften die Erwartungen und Bewertungen der Akteure systematisch und typischerweise strukturieren – oder nicht.“ (Esser 2000, S. 120, Hervorhebungen im Original). Folglich ergibt sich in konkreten Entscheidungssituationen der Nutzen von Positionen als Funktion der Strukturierung des physischen Wohlbefindens (PW) und der sozialen Wertschätzung (SW) (Formel 1). Die Relevanz ist also die Differenz (D) aus den Funktionen des Nutzens der Lagen l (0 l 1, 0: unterste Lage, 1: oberste Lage) der sozialen Akteure i in den Kategorien sozialer Ungleichheit (k). Je größer die Differenz, desto relevanter ist eine soziale Kategorie für die Lebenschancen sozialer Akteure. Nimmt die Differenz im Zeitverlauf zu, steigt folglich die Relevanz einer sozialen Kategorie, nimmt sie dagegen ab, sinkt ihre Relevanz (Formel 2).
48 Formel 2:
Theoretischer Hintergrund Relevanz sozialer Kategorien als Nutzendifferenz in sozialen Situationen
D(k)
0) U (lk
U (lk
1)
Dieser Zugang der Bindung der Relevanz sozialer Kategorien an ihren Nutzen für das soziale Handeln in konkreten Situationen ermöglicht eine empirische Überprüfung von Hypothesen zum Wandel sozialer Ungleichheiten. Hinsichtlich der drei Thesen zu den in der Moderne relevanten Kategorien sozialer Ungleichheit steht also infrage, ob und inwieweit sie die Erwartungen und Bewertungen der sozialen Akteure in typischer Weise strukturieren. Während in verschiedenen Situationen auch unterschiedliche Kategorien den jeweils größten Einfluss auf soziales Handeln haben können, wie Groß (2008, S. 115) zu Recht anmerkt, lässt sich doch anhand der primären Zwischengüter durchaus auch auf ihre generelle Bedeutung in der Gesellschaft schließen, gerade weil diese in der Gesellschaft allgemein akzeptiert sind und folglich einen Wert oder ein Kapital „an und für sich“ darstellen. Diese so spezifizierte allgemeine Relevanz (R) sozialer Kategorien stellt also nichts als die Summe ihrer Strukturierungen des Zugangs zu allen gesellschaftlich relevanten primären Zwischengütern (Zp) dar (Formel 3). Wenn sich diese Relevanz verändert, muss folglich für die jeweilige soziale Kategorie ein Wandel konstatiert werden. Formel 3:
Allgemeine Relevanz sozialer Kategorien als Funktion der Strukturierung primärer Zwischengüter
R(k)
¦Z
p
(lk
0) Z p (lk
1)
p
Um die allgemeine Relevanz zu ermitteln, müssen zuvorderst geeignete primäre Zwischengüter identifiziert werden. Materieller Wohlstand ist zweifelsohne das wichtigste primäre Zwischengut in kapitalistischen Gesellschaften. Folglich stellt die Vermeidung materieller Armut als Form des negativen Wohlstands ebenfalls ein primäres Zwischengut dar und sollte in den meisten Situationen einen Nutzen für die Erreichung hoch bewerteter Ziele haben. Diese Einschätzung der Bedeutung von materiellem Wohlstand ist auch in der Bevölkerung vorherrschend, so geben in Umfragen regelmäßig etwa 80% der Befragten an, dass es wichtig oder sehr wichtig ist, „sich etwas leisten zu können“ (Scheuer 2006). Die materielle Dimension der persönlichen Entwicklung wird dabei höher bewertet als immaterielle Dimensionen wie etwa „die Welt sehen,
Theoretischer Hintergrund
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viel reisen“ oder „Erfolg im Beruf haben“ (etwa 50% bzw. 70% der Befragten). Im Zuge eines in vielen westlichen Gesellschaften beobachteten Wertewandels werden aber immaterielle Zwischengüter immer wichtiger für die Menschen (Inglehart und Baker 2000, Klages 2001). So gibt ein steigender Anteil der Menschen an, dass es wichtig ist, „glücklich zu sein und viele Freunde zu haben“ bzw. das eigene Leben zu genießen (Noelle-Neumann und Petersen 2001). Darum müssen neben der materiellen auch immaterielle Zwischengüter bei der Bewertung der Relevanz sozialer Situationen berücksichtigt werden. Sowohl die objektive Dimensionen individueller Wohlfahrt (materieller Wohlstand) als auch die subjektive Dimension (Selbstverwirklichung, Sicherheit und Glück) lassen sich allerdings anhand gängiger Sozialindikatoren operationalisieren, wie sie seit langem in der Sozialstrukturanalyse verwendet werden (vgl. Abschnitt 3.2). Der wichtigste subjektive Indikator ist in diesem Zusammenhang die Frage nach der allgemeinen Lebenszufriedenheit der Menschen, die häufig am Ende von Umfragen gestellt wird. Die Lebenszufriedenheit wurde bereits von anderen Autoren als verknüpfendes Element zwischen der sozialen Nutzenproduktion und sozialepidemiologischen Erklärungsmodellen vorgeschlagen (Ormel et al. 1997). Aufbauend auf den von Esser postulierten Grundbedürfnissen nach physischem Wohlbefinden und sozialer Wertschätzung sollte sich der Grad der Befriedigung dieser beiden Bedürfnisse letztlich im Allgemeinen auch in den Antworten der Menschen auf diese Frage wiederfinden. Während Armut zweifelsohne die Negation von Wohlstand ist, lässt sich ein entsprechendes Zwischengut für Zufriedenheit, das mehr als die Abwesenheit von Zufriedenheit ist, nur schwer finden. Im empirischen Teil wird argumentiert, dass Unsicherheit und Sorgen solche Negationen sein können. Die drei Thesen zur Entwicklung sozialer Ungleichheiten sprechen unterschiedlichen Merkmalen bzw. Determinanten der sozialen Lage eine besondere Relevanz für die Situation der Akteure zu. Sie beziehen sich dabei vor allem die drei Dimensionen der ‚meritokratischen Triade’ aus Bildung, Beruf und Einkommen und rücken damit distributive und relationale Ungleichheiten zwischen Akteuren ins Blickfeld (vgl. Kreckel 2004 S.94ff). Schichtungs- und Klassenkonzepte machen die Stellung im Gefüge sozialer Ungleichheit an der Position auf dem Arbeitsmarkt bzw. der Stellung zu den Produktionsmitteln und damit letztlich am Berufsstatus fest (Dahrendorf 1965, Erikson und Goldthorpe 1992). Zusätzlich kommt allenfalls noch der Bildungsbeteiligung eine gewisse Relevanz zu, etwa in der funktionalen Schichtungstheorie oder auch – mit anderen Vorzeichen – in den Klassentheorien Bourdieus (1987) oder Wrights (1985). Sofern die Strukturierungsthese von der anhaltenden Bedeutung vertikaler Ungleichheitsdimensionen zutreffend ist, dürfte die Relevanz beider Determinanten im Zeitverlauf nicht zurückgehen. Alle Vertreter der Ent-
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Theoretischer Hintergrund
strukturierungsthese gehen vom Latentwerden oder sogar von der Auflösung der klassischen Ungleichheitsdimensionen aus, einige postulieren dabei eine zunehmende Bedeutung neuer multidimensionaler Kombinationen von horizontalen und vertikalen Ungleichheiten. Damit müsste also empirisch die Relevanz der beruflichen Stellung und der Bildung hinsichtlich der Strukturierung immaterieller Zwischengüter sinken, auch wenn sie weiterhin materielle Zwischengüter strukturieren. Soziale Ausgrenzung macht sich gerade nicht an der Bildung, sondern vielmehr an einer Ausgrenzungskarriere fest, die dazu führt, dass der Anschluss an die Integrierten in der Gesellschaft verloren geht. Ausgeschlossen ist nach Castel (2001), wer nicht in die Arbeitswelt eingebunden oder vom Verlust sozialer Einbettung bedroht ist. Neben der Erwerbsbeteiligung als zentraler Determinante sozialer Ausgrenzung ist auch relative Einkommensarmut ein Indikator dafür, den Anschluss an die Gesellschaft zu verlieren. Sie führt dazu, dass ein Mensch nicht mehr entsprechend der allgemein anerkannten Maßstäbe am Leben der Gesellschaft teilnehmen kann (Kronauer 2002, S. 71ff). Sollte die Exklusionsthese von der zunehmenden Bedeutung sozialer Ausgrenzung zutreffen, werden oder sind die eigene Erwerbsbeteiligung und die relative Einkommensposition in der Gesellschaft die relevantesten Kategorien für den Zugang zu primären Zwischengütern. Folglich müsste die Relevanz der Statusdeterminanten Erwerbsbeteiligung und Einkommensposition im Zeitverlauf zunehmen.46 Die dargestellten Implikationen der drei Thesen für die Relevanz verschiedener Determinanten des sozioökonomischen Status sind in Tabelle 1 noch einmal zusammengefasst.
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Es ist offensichtlich, dass die Determinante Einkommensposition und die materiellen primären Zwischengüter Einkommen und Armut eng miteinander verknüpft sind. Darum lässt sich die Entwicklung der Relevanz des Einkommens vor allem an der Strukturierung des Zugangs zu immateriellen Zwischengütern festmachen.
Theoretischer Hintergrund
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Tabelle 1: Implikationen von drei Thesen zum Wandel sozialer Ungleichheit für die Relevanz sozialer Indikatoren
Bildung
Strukturierungsthese
Entstrukturierungsthese
Relevanz mind. konstant
Relevanz sinkt subjektiv Relevanz steigt bzw. übertrifft andere Determinanten
Erwerbsbeteiligung Berufsstatus
Exklusionsthese
Relevanz mind. konstant
Relevanz sinkt subjektiv
Einkommensposition
Relevanz steigt und übertrifft andere Determinanten
Quelle: Eigene Darstellung Am Ende dieses ersten Abschnitts zum Wandel der Theorien sozialer Ungleichheit sollte deutlich geworden sein, dass sich die Begriffe zur Beschreibung sozialer Ungleichheiten gewandelt haben und dass zur Beschreibung der Struktur sozialer Ungleichheiten in der Moderne drei konkurrierende Thesen nebeneinander stehen. Viele Autoren bevorzugen heute komplexe und mehrdimensionale Konzepte zur Konstruktion sozialer Kategorien, diese werden aber als theoretisch unklar oder empirisch nicht angemessen kritisiert. Basierend auf dem Modell der soziologischen Erklärung im Allgemeinen und dem Modell der sozialen Nutzenproduktion im Speziellen wurde ein analytischer Zugang beschrieben, der die Entstrukturierungs-, Strukturierungs- und Exklusionsthese für eine empirische Überprüfung zugänglich macht. Wie nachfolgend zu zeigen sein wird, hat eine so beobachtete Veränderung der Relevanz sozialer Kategorien zudem direkte und vorhersagbare Folgen für die Veränderung sozialer Unterschiede in der Gesundheit und erklärt dadurch den Wandel gesundheitlicher Ungleichheiten. 2.2 Wandel der Theorie gesundheitlicher Ungleichheit Die Bedeutung der Begriffe ‚Gesundheit’ und ‚Krankheit’ hat sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts grundlegend gewandelt. Ausgangspunkt war eine Definition von Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit, die der Konzentration auf die Bekämpfung von Infektionskrankheiten geschuldet war (Omran 1971). So stellten diese bis hinein in die Mitte des 20. Jahrhunderts die dominierende Todesursache dar. Im Zuge einer insbesondere im Verlauf des 20. Jahrhunderts deutlich steigenden Lebenserwartung und eines Wandels im Krankheitspanorama, weg von Infektionskrankheiten als häufigster Todesursache hin zu chronisch-degene-
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Theoretischer Hintergrund
rativen Erkrankungen mit progredientem Verlauf, hat sich seit den 1970er Jahren – gefördert durch die Weltgesundheitsorganisation WHO – ein umfassenderes Verständnis von Gesundheit entwickelt (Olshansky und Ault 1986). Die heutige Sicht, die sowohl im Bereich von Medizinsoziologie und Public Health als auch in der Gesundheitspolitik und Gesundheitsförderung Anwendung findet, kommt in der WHO-Deklaration von Ottawa besonders prägnant zum Ausdruck (WHO 1986): To reach a state of complete physical, mental and social well-being, an individual or group must be able to identify and to realize aspirations, to satisfy needs, and to change or cope with the environment. Health is, therefore, seen as a resource for everyday life, not the objective of living. Health is a positive concept emphasizing social and personal resources, as well as physical capacities.
‚Gesundheit’ wird demnach als das Vorliegen eines völligen körperlichen, seelischen und geistigen Wohlbefindens verstanden. Die Gesundheitspolitik sieht sich daher vor die Herausforderung gestellt, dass medizinische Interventionen nicht mehr nur die körperliche Gesundheit der Menschen, sondern auch ihre Lebensqualität steigern sollen (Destatis 1998, S. 41). Ausgehend von diesem erweiterten Gesundheitsbegriff zeichnet sich in den nachfolgend geschilderten Modellen zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheiten eine Spaltung der Sozialepidemiologie in strukturell und individuell argumentierende Ansätze ab. Strukturelle Erklärungsansätze beschreiben ohne oder mit geringem Bezug zur Akteursebene, wie sich Aspekte der sozialen Differenzierung von Gesellschaften auf den Gesundheitszustand der Bevölkerung auswirken. Modelle auf der Individualebene befassen sich dagegen mit den Mechanismen, über die sich soziale Positionen von Akteuren auf die verschiedenen Dimensionen ihrer Gesundheit auswirken. Zwischen beiden Zugängen bestehen bisher nur wenige Verbindungen. Nachfolgend wird ein Überblick über relevante Ansätze gegeben, um anschließend aufbauend auf dem Modell der soziologischen Erklärung für eine Integration beider Zugänge zu argumentieren. 2.2.1 Strukturelle Erklärungsansätze Die Vertreter der strukturellen Analyse gesundheitlicher Einflussfaktoren vertreten die These, dass für ein Verständnis gesundheitlicher Ungleichheiten die Analyse gesellschaftlicher Strukturen notwendig ist (Siddiqi und Hertzman 2007). Morbidität und Mortalität variieren im internationalen und im zeitlichen Vergleich deutlich (Marmot und Wilkinson 2001). Einerseits konnten die entwickelten westlichen Wohlfahrtsstaaten beträchtliche Fortschritte bei der Steigerung der Lebenserwartung ihrer Bevölkerung erzielen, andererseits gibt es be-
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deutende zwischenstaatliche Unterschiede in den Gesundheitschancen. So gingen insbesondere Mediziner lange davon aus, dass die Gesundheit einer Bevölkerung alleine von der Leistungsfähigkeit und dem Wissen der Medizin abhängen (Evans und Stoddart 1990). Im Verlauf des 20. Jahrhunderts deutete sich allerdings an, dass es nicht die Medizin war, die für den beispiellosen Anstieg der Lebenserwartung im 20. Jahrhundert verantwortlich war (Riley 2001). Dadurch rückten die gesundheitlichen Folgen der wirtschaftlichen Entwicklung von Gesellschaften auch in der Medizin verstärkt ins Blickfeld (McKeown 1979). Wirtschaftlicher Fortschritt und Wohlstand wurden als wichtige Vorraussetzungen für weitere Verbesserungen in der gesundheitlichen Lage der Bevölkerungen gesehen. In den 1980er und 1990er Jahren wurde dann allerdings offensichtlich, dass sich gesamtgesellschaftliche Wohlstandssteigerungen nur in begrenztem Maße auf die Gesundheit von Gesellschaften auswirken (Wilkinson 1996, figure 3.1 S. 34). So lag die Annahme nahe, dass der Zusammenhang zwischen dem Reichtum und der Lebenserwartung und Gesundheit von Bevölkerungen umso schwächer ausfällt, je größer ihr volkswirtschaftlicher Wohlstand ist. Zwischen den entwickelten Wohlfahrtsstaaten zeichnete sich in einigen Studien vielmehr ein enger Zusammenhang zwischen dem Ausmaß von Einkommensungleichheiten in der Bevölkerung und wichtigen Gesundheitsindikatoren ab (Wilkinson 1996, S. 76f). Die Diskussion um gesellschaftliche Determinanten von Gesundheit ist durch diese empirischen Erkenntnisse bedeutend beeinflusst worden, dies hat zur Entwicklung von makrosoziologischen Erklärungsansätzen für die „gesellschaftliche Produktion von Gesundheit“ (Evans und Stoddard 1990) geführt. Gesucht werden dabei einerseits Determinanten der Gesundheit von Bevölkerungen und andererseits Determinanten des Ausmaßes gesundheitlicher Ungleichheiten.
54 Abbildung 2:
Theoretischer Hintergrund Modell der gesellschaftlichen Produktion von Gesundheit nach Evans und Stoddart
Quelle: Evans und Stoddart (2003, S. 372) Ein frühes und international häufig zitiertes Modell, das eine Verbindung zwischen Makroebene und Mikroebene herstellt, wurde von den Kanadiern Robert Evans und Greg Stoddart unter dem Titel „Producing Health, Consuming Health Care“ (Evans und Stoddart 1990, 2003, vgl. Abbildung 2) veröffentlicht. In ihrem Ansatz wendeten sie sich gegen einfache Erklärungsmodelle der Gesundheit von Bevölkerungen, die diese allein aus der Güte der Leistungen des Gesundheitssystems ableiten und ihrer Ansicht nach zu einer fehlgeleiteten und einseitigen Gesundheitspolitik geführt haben (Evans und Stoddart 1990, S. 1350 figure 1). Aufbauend auf Erkenntnissen der Stressforschung (Selye 1950, Antonovsky 1993) und den Analysen von McKeown (1979) zur Bedeutung des gestiegenen materiellen Wohlstandes bei der Bekämpfung von Infektionskrankheiten favorisierten sie ein erweitertes strukturelles Modell der gesellschaftlichen Produktion von Gesundheit. Im Modell werden Wohlbefinden, Morbidität, funktionale Gesundheit und Gesundheitsverhalten unterschieden. Der gesamtgesellschaftliche Wohlstand wirke sich einerseits direkt auf das Wohlbefinden in der Bevölkerung aus und fördere andererseits auch die Qualität der sozialen und physischen Umwelt. Dadurch sei er die bedeutendste Determinante der Gesundheit von Bevölkerungen. In einer späteren Neubewertung ihres Modells be-
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schreiben die Autoren dieses vor dem Hintergrund aktueller Ergebnisse als überarbeitungsbedürftig (Evans und Stoddart 2003). Als notwendige Erweiterungen sehen sie insbesondere die Berücksichtigung sozialer Ungleichheiten, des Zeitpunktes und der Dauer von Expositionen im Lebenslauf sowie Zusammenspiel zwischen genetischer Disposition und der sozialen bzw. physischen Umwelt. In späteren Arbeiten zu gesellschaftlichen Determinanten der Gesundheit bestehen in der Bewertung der Bedeutung von Wohlstand und sozialer Ungleichheit zwei gegensätzliche Positionen47, die üblicherweise als psychosozialer und neomaterialistischer Zugang bezeichnet werden. Richard G. Wilkinson (Wilkinson 1992, 1996, 2000, Wilkinson und Prickett 2006) ist ein prominenter Vertreter der Ansicht, dass soziale Ungleichheit in entwickelten Wohlfahrtsstaaten die wichtigste Determinante der Gesundheit von Bevölkerungen ist: It is now clear that the scale of income differences in a society is one of the most powerful determinants of health standards in different countries, and that it influences health through its impact on social cohesion. (Wilkinson 1996, S. ix)
Im Zentrum seiner Analysen stehen die gesundheitlichen Folgen sozialer Ungleichheiten in entwickelten Wohlfahrtsstaaten (Wilkinson 1996, S. 175). Einkommensungleichheiten verringern seiner Ansicht nach den sozialen Zusammenhalt von Gesellschaften und nehmen vor allem dadurch Einfluss auf die gesundheitliche Lage der Bevölkerungen. Psychosozialer Stress ist demnach der wichtigste Transformationsmechanismus zwischen sozialen Ungleichheiten und der physischen Gesundheit. Auslösende Faktoren sind etwa finanzielle Sorgen, die Angst um den Arbeitsplatz oder belastende Arbeitsbedingungen (Wilkinson 1996, S. 177ff). Neben den höheren Belastungen in ungleichen Gesellschaften wird dabei auch der geringeren Verfügbarkeit von Ressourcen zur Stressbewältigung, wie etwa Sozialkapital und sozialer Unterstützung, eine Bedeutung beigemessen (Wilkinson 1996, S. 182f). Das bedeute allerdings nicht, dass nicht auch Unterschieden in den materiellen Lebensbedingungen oder dem Gesundheitsverhalten eine gewisse Bedeutung für die Erklärung der schlechteren Gesundheit der Bevölkerung ungleicher Gesellschaften zukomme (Wilkinson 1996, S. 176f). Allerdings beeinflussen die materiellen Folgen sozialer Ungleichheiten die Gesundheit nicht allein direkt, sondern auch indirekt aufgrund von psychosozialem Stress, der durch materiellen Mangel ausgelöst werde. Aus den Analysen leitet Wilkinson verschiedene Implikationen für die Politik ab (Wilkinson 1996, S. 47
Einen aufschlussreichen Überblick über die Argumente der jeweiligen Thesen bietet die Kontroverse über die Bedeutung sozialen Kapitals bei der Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit im Journal of Epidemiology and Community Health und BMJ zwischen 1999 bis 2001 (Lynch et al. 2000a, Baum 1999, Wilkinson 2000, Baum 2000, Marmot und Wilkinson 2001).
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222). Nicht Wirtschaftswachstum sondern Lebensqualität und Gesundheit sollten demnach die höchste politische Priorität haben. Daher müssten Einkommensungleichheiten verringert und sozialer Zusammenhalt gestärkt werden. Eine neoliberale Politik, die soziale Ungleichheiten verstärkt und dadurch die soziale Integration einer Gesellschaft gefährdet, geht seiner Ansicht nach mit hohen gesundheitlichen Kosten einher (Wilkinson 1996, S. 225). John Lynch und Kollegen vertreten eine Argumentation, die zuweilen als neomaterialistisch angesehen wird (Lynch et al. 2000a, Lynch et al. 2000b, Muntaner et al. 2000, Pearce und Smith 2003). Sie gehen in Abgrenzung zu Wilkinson von einer stärkeren Bedeutung des materiellen Wohlstands der Bevölkerung für ihre Gesundheit aus. Sie stimmen ihm in der Diagnose zu, dass soziale Positionen über psychosoziale Mechanismen negative gesundheitliche Auswirkungen haben, halten aber Erklärungsmodelle, die einseitig psychosoziale Mechanismen in den Vordergrund stellen, für fragwürdig und irreführend (Lynch et al. 2000b, S. 1202). So kann die Konzentration auf psychosoziale Mechanismen dazu führen, dass die strukturelle Basis sozialer Ungleichheiten aus dem Blickfeld gerät. Diese bestehe insbesondere im Ausmaß der staatlich gewährten sozialen Absicherung, die nicht nur die Gesundheit, sondern auch den sozialen Zusammenhalt der Bevölkerung fördere und sich zudem auch begrenzend auf Einkommensungleichheiten auswirke. Die Förderung sozialer Kohäsion müsse sich dagegen nicht zwangsläufig positiv auf die Gesundheit von Bevölkerungen auswirken. Es sei daher eine differenziertere Sicht auf die gesundheitlichen Auswirkungen von Einkommensungleichheit und sozialer Kohäsion sowie auf deren strukturelle Basis nötig. Die Vertreter der neomaterialistischen Argumentation sprechen sich daher dafür aus, die strukturellen Determinanten von Gesundheit ins Zentrum der wissenschaftlichen Analyse und der politischen Anstrengungen zu stellen (Lynch et al. 2000b). Je weitreichender ein Wohlfahrtsstaat und seine sozialen Sicherungssysteme ausgebaut sind, desto besser ist dies für die Gesundheit der Bevölkerung. Aufbauend auf der neomarxistischen Klassenanalyse von Erik Olin Wright (Wright 1985) beschreiben einige materialistische Ansätze die Entstehung gesundheitlicher Ungleichheit aus einer stärker konflikttheoretisch orientierten Perspektive (Scambler 2002, Scambler und Higgs 1999, Higgs und Scambler 1998). Für sie sind Klassenverhältnisse ein reales und andauerndes Element der Sozialstruktur von modernen, globalisierten Gesellschaften. Mit Bezug zu Wright argumentieren sie, dass soziale Unterschiede in der Gesundheit durch die Machtverhältnisse zwischen den gesellschaftlichen Klassen bedingt seien. Die schlechtere Gesundheit der Arbeiterklasse („working class“) sei klassentheoretisch, als nicht intendierte Folge des sozialen Handelns der Machtelite („power elite“) zu interpretieren (Scambler und Higgs 1999). Somit muss auch die Dy-
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namik und Reproduktion sozialer Ungleichheit auf die Veränderung der Klassenverhältnisse zurückgeführt werden. Der Kanadier David Coburn (Coburn 2000, 2004) verknüpfte den neomaterialistischen Zugang mit neueren Analysen zur Wohlfahrtsstaatsforschung. Aufbauend auf der neomaterialistischen Kritik an der psychosozialen Argumentation Wilkinsons betrachtet er Einkommensungleichheit ebenfalls nicht als kausale Determinante der Gesundheit, sondern vielmehr als wichtigen Indikator für die mit ihr assoziierten sozialen Lebensbedingungen der Bevölkerung. Er sieht wie Scambler und Higgs (1999) Klassenkonflikte als wichtigste Ursache für Ungleichheiten in Lebensverhältnissen und darüber auch für das Ausmaß gesundheitlicher Ungleichheiten. Diese These wird allerdings in den breiteren Kontext der Diskussion um die Determinanten der Ausgestaltung staatlicher Sozialpolitik eingeordnet, sodass gesundheitliche Ungleichheiten hier auf Wohlfahrtsregime und nicht allein auf Klassenverhältnisse zurückgeführt werden (vgl. Abschnitt 3.1.1). Den in vielen Wohlfahrtsstaaten größer werdenden Einfluss neoliberaler Sozialpolitik und seine möglichen sozialen Folgen sieht er als größtes Risiko für eine Ausweitung gesundheitlicher Ungleichheiten an (Coburn 2004). Ein empirischer Nachweis, dass das Ausmaß von klassenbezogenen Spaltungen in Gesellschaften mit dem Ausmaß gesundheitlicher Ungleichheiten assoziiert ist steht dagegen noch aus. Abbildung 3:
Orientierungsmodell zu strukturellen Einflussfaktoren auf die Gesundheit von Bevölkerungen
Quelle: Starfield (2007, figure 2) In den letzten Jahren wurden integrierende strukturelle Ansätze zur Erklärung der Gesundheit von Bevölkerungen vorgeschlagen (Starfield 2007a). So
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bestehen zwischen psychosozialen und neomaterialistischen strukturellen Erklärungsansätzen insgesamt weniger Unterschiede als in den Darstellungen und Kontroversen der Autoren betont wird (Szreter und Woolcock 2004). Richard Wilkinson erkennt materiellen Wohlstand als Determinante der Gesundheit von Bevölkerungen explizit an und auch John Lynch und Kollegen gehen von einer gesundheitlichen Relevanz psychosozialer Lebensbedingungen aus. Eine aktuelle Zusammenfassung der verschiedenen strukturellen Argumente zur gesellschaftlichen Produktion von Gesundheit ist das Konzept von Barbara Starfield (Starfield 2007a, S. 1358 figure 2, Braveman 2007, Wilkinson 2007, Starfield 2007b, vgl. Abbildung 3). Es nimmt die Diskussion um die Bedeutung und Wirkung von Sozialpolitik und sozialen Ungleichheiten auf und versucht, zwischen verschiedenen Politikbereichen und gesundheitsrelevanten Aspekten der Sozialstruktur eine Verbindung herzustellen. Die in einen allgemeinen politischen Kontext wohlfahrtsstaatlicher Institutionen und historisch bedingter sozialer Konflikte eingeordnete Gesundheits-, Sozial- und Umweltpolitik wird darin als zentrale Determinante der Gesundheit von Bevölkerungen angesehen. Die strukturell argumentierenden Autoren nehmen an, dass die Ausgestaltung dieser Politikfelder einen beträchtlichen Einfluss auf gesundheitswirksame Bereiche der Lebenswelt hat. Hier werden neben dem Gesundheitssystem insbesondere der gesellschaftliche Zusammenhalt, die Verteilung von Ressourcen und auch kulturelle Einstellungen und Normen benannt. Konkrete Mechanismen, über die dieser Einfluss wirksam wird, werden allerdings nicht benannt. Der Überblick hat deutlich gemacht, dass sich in Medizin und Public Health die Einsicht durchzusetzen scheint, dass die „Produktion von Gesundheit“ (Evans und Stoddard 1990) nicht nur die Aufgabe des Gesundheitssystems, sondern eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft und insbesondere auch des Sozialstaates ist. So weisen immer mehr Autoren darauf hin, dass die Ausgestaltung vieler Politikbereiche sich direkt auf die Gesundheit von Bevölkerungen und das Ausmaß gesundheitlicher Ungleichheiten auswirke. Die Gesundheitsförderung betreffe daher alle gesellschaftlichen Ebenen von der Nachbarschaft und Gemeinde bis hin zu supranationalen Organisationen.48 Neben dieser zunehmenden Berücksichtigung des Einflusses sozialer Differenzierung hat die Übersicht aber auch die theoretischen Schwächen der strukturellen Argumentationen aufgezeigt. Die Begründungen zur Bedeutung der verschiedenen gesundheitsrelevanten gesellschaftlichen Sphären beruhen häufig allein auf der Vorstellung von Emergenz zwischen sozialen Systemen. So wird etwa davon ausgehen, dass eine Förderung des Umweltschutzes sich förderlich auf die Gesundheit der Bevölkerung 48
So wurde mittlerweile auch von Seiten der Weltbank ein Modell vorgeschlagen, das politische Einflussmöglichkeiten auf die Gesundheit jenseits der Gesundheitspolitik berücksichtigt (Wagstaff 2002).
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und die Verringerung des Ausmaßes gesundheitlicher Unterschiede auswirken wird, weil sie schon die materiellen oder psychosozialen Lebensbedingen der Menschen, ihr Verhalten, ihre Gesundheitsversorgung oder sonst irgendetwas anderes (Gesundheitsrelevantes) beeinflussen wird (Starfield 2007, S. 1357 figure 1). Damit kommen diese strukturellen ‚Modelle’ nicht über den Status von Orientierungsmodellen hinaus, die zwar empirische Zusammenhänge beschreiben, aber keine Mechanismen und Bedingungen der „Produktion von Gesundheit“ benennen können. Es mangelt ihnen insbesondere an einer handlungstheoretischen Fundierung. 2.2.2 Individuelle Erklärungsansätze Individuelle Erklärungsansätze für gesundheitliche Ungleichheiten konzentrieren sich auf die Beschreibung und Analyse vermittelnder Mechanismen zwischen der gesellschaftlichen Lage und den verschiedenen Dimensionen der Gesundheit von Individuen. Sie basieren auf den Ergebnissen einer langen Tradition sozialepidemiologischer Forschung und versuchen zu erklären, warum die Stellung im Gefüge sozialer Ungleichheit ‚krank’ macht. Im Zusammenhang mit den Befunden sozialepidemiologischer Forschungen werden dabei häufig Varianten von drei49 Thesen diskutiert, die so erstmals im ‚Black-Report’, dem ersten großen staatlichen Bericht zu sozialen Ungleichheiten in der Gesundheit, diskutiert wurden (Department of Health and Social Security 1980, Macintyre 1997, S. 727ff).50 Nach der Selektionshypothese ist die schlechtere Gesundheit unterer sozialer Statusgruppen durch gesundheitlich bedingte soziale Mobilität zu erklären: „The occupational class structure is seen as a filter or sorter of human beings and one of the major bases of selection is health […]“ (Townsend et al. 1990, S. 105). 49
Eine vierte These, die so genannte „Artefakthypothese“, besagt, dass der Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit eine Folge der mangelnden Validität der Messinstrumente für den sozialen Status und die gesundheitlichen Outcomes sein könnte (Townsend et al. 1990, S. 105). Als substantielle Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit wird dieser Ansatz aber heute im Allgemeinen abgelehnt, weil er aufgrund der Vielfalt von vorgefundenen Zusammenhängen auf Basis quer- und längsschnittlicher Studien und unterschiedlichster Instrumente als falsifiziert angesehen werden kann. 50 Der Black-Report ist der Abschlussbericht einer im Jahr 1977 vom britischen Gesundheitsminister eingesetzten Arbeitsgruppe. Die Arbeitsgruppe bestand aus: Sir Douglas Black (Chief Scientist at the Department of Health and Social Security), Professor Jerry Morris (Professor of Community Health), Dr Cyril Smith (Secretary of the Social Science Research Council) und Professor Peter Townsend (Professor of Sociology). Der Bericht wurde im April 1980 vorgelegt (Macintyre 1997). In ihm wurde ein Review der verfügbaren Informationen zur Situation und Entwicklung sozialer Ungleichheiten bei Gesundheit und Krankheit in Großbritannien sowie zu Erklärungsansätzen und politischen Handlungsmöglichkeiten zusammengestellt.
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Demnach bestimmt der aktuelle Gesundheitszustand die Wahrscheinlichkeit für soziale Auf- und Abstiege. Mit zunehmendem Lebensalter verfestigt sich so ein Muster sozialdifferenzieller Gesundheit, das nicht Folge, sondern (partielle) Ursache der sozialen Lage ist. Nach der Kausationshypothese haben die mit der Stellung im Gefüge sozialer Ungleichheit verbundenen materiellen Lebensbedingungen einen direkten oder indirekten Einfluss auf die Gesundheit. „Occupational class is multifaceted in “advanced” societies, and apart from the variables most readily associated with socio-economic position – income, savings, property and housing – there are many other dimensions which can be expected to exert an active causal influence on health.“ (Townsend et al. 1990, S. 109). In der Forschung wurde diese Hypothese häufig verkürzend als allein materiell (allein an den Bedingungen orientiert) wiedergeben (Macintyre 1997). Wie das Zitat deutlich macht, sollte sie vielmehr als strukturell und damit als am kausalen Einfluss der Strukturen orientiert verstanden werden, die diese Lebensbedingungen hervorbringen. Außerdem wurde vermutet, dass einstellungs- oder verhaltensbezogene Unterschiede zwischen den sozioökonomischen Statusgruppen in Teilen für die Entstehung gesundheitlicher Ungleichheiten verantwortlich sind, egal ob diese nun strukturell determiniert (schwache Variante der These) oder unabhängig von den Lebensbedingungen der Statusgruppen zustande gekommen sind (Townsend et al. 1990, S. 110). In den folgenden Ausführungen wird – im Einklang mit der Kausationshypothese – der Fokus auf die gesundheitlichen Folgen sozialer Ungleichheit gelegt. So wird zwar von großen Teilen der sozialepidemiologischen Forschung anerkannt, dass häufig alle drei Aspekte für die Entstehung und Reproduktion gesundheitlicher Ungleichheiten verantwortlich sind, viele Autoren gehen aber davon aus, das kausalen Prozessen die empirisch größte Bedeutung beizumessen ist (Mackenbach 2006, Macintyre 1996). Ausgehend vom Black-Report befasste sich seit Ende der 1980er Jahre ein immer größer werdender Teil der Forschung mit der Beschreibung und Erklärung gesundheitlicher Ungleichheiten (Marmot und Wilkinson 1999 bzw. Berkman und Kawachi 2000 sowie Bartley 2004).51 Aufbauend auf diesen Befunden wurden multifaktorielle Modelle zur Entstehung oder Reproduktion gesundheitlicher Ungleichheiten entwickelt, die nicht nur – wie der Black-Report – einzelne Mechanismen, sondern auch ihren Zusammenhang darstellen.
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Für einen Überblick über die Diskussion in Deutschland vergleiche Mielck (2000, S. 159ff).
Theoretischer Hintergrund Abbildung 4:
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Vermittlungsmechanismen zwischen sozialer und gesundheitlicher Lage Material factors
Socio-economic status
Behaviour
Health
Psychosocial factors
Quelle: Mackenbach (2006, S. 32) Die Arbeiten der Gruppe um Johann Mackenbach haben sich in der Forschung als besonders anschlussfähig erwiesen (Mackenbach et al. 1994, Mackenbach 2006, S. 31ff) Sie gehen davon aus, dass sowohl Selektions- als auch Kausationsmechanismen für die Entstehung gesundheitlicher Ungleichheit verantwortlich sind. Ausgangspunkt sind allerdings die kausalen Folgen der durch den sozioökonomischen Status beeinflussten Lebensbedingungen, Ziel ist es zu erklären, wie sich diese auf die Gesundheit auswirken (Abbildung 4). Als wichtigste Kategorien solcher Mechanismen werden materielle Ressourcen und Lebensbedingungen, gesundheitsrelevante Verhaltensweisen und psychosoziale Belastungen und Ressourcen angesehen, wobei zu Recht darauf verwiesen wird, dass dem direkten Einfluss der materiellen Unterschiede in entwickelten Gesellschaften eine vergleichsweise geringe Bedeutung zukommt (Mackenbach 2006, S. 31): „The ‘causal’ effect of socio-economic status on health is likely to be largely indirect: through a number of more specific health determinants which are differentially distributed across socio-economic groups […].“ Diese Einschätzung gründet sich auf die Ergebnisse von Studien zur relativen Bedeutung der verschiedenen Pfade (Stronks et al. 1996, Schrijvers et al. 1999, Van Lenthe et al. 2002, Laaksonen et al. 2005). Diese zeigen, dass Unterschiede in materiellen Lebensbedingungen die Differenzen im Gesundheitszustand vor allem indirekt, vermittelt über Gesundheitsverhalten, erklären. Daher werde der Einfluss gesundheitsriskanter Verhaltensweisen auf die Gesundheit überschätzt, wenn deren Strukturierung durch die materielle Lage der Befragten nicht beachtet wird. Soziale Unterschiede in der medizinischen Versorgung werden dagegen
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nicht explizit berücksichtigt, weil sie weniger einen Einfluss auf das Auftreten, sondern vor allem auf den Verlauf von Erkrankungen haben (Mackenbach et al. 1994). Gesundheitsbedingte soziale Selektionsprozesse werden in der dargestellten, vereinfachten Variante des Modells nicht aufgeführt, weil ihre empirische Bedeutung als zu gering erachtet wird (Mackenbach 2006). Beeinträchtigungen in der Kindheit erschweren aber beispielsweise die Zugangsmöglichkeiten zu höheren Bildungsabschlüssen und folglich auch zu höher bewerteten beruflichen Positionen. Gesundheitliche Probleme im Erwachsenenalter können dagegen den Verlust des Arbeitsplatzes bewirken, so legen Ergebnisse zum Verhältnis von Selektion und Kausation nahe, dass bei Erwachsenen primär der Einund Austritt aus der geregelten Erwerbstätigkeit durch den Gesundheitszustand beeinflusst wird (Elstad und Krokstad 2003). In Deutschland wurden bis heute vor allem zwei Modelle veröffentlicht, die sich für die weitere Diskussion und Theoriebildung als anschlussfähig erwiesen haben. Beiden Beiträgen ist gemeinsam, dass sie eine Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit anstreben und dazu ein Mehrebenenmodell vorschlagen, das zwischen einer ‚makro-’ ‚meso-’ und ‚mikrosoziologischen’ Ebene der Analyse gesundheitlicher Ungleichheit differenziert (Steinkamp 1993, Elkeles und Mielck 1997). Im Unterschied zum allgemeinen soziologischen Sprachgebrauch, in welchem soziale Systeme als ‚Makroebene’, soziale Kontexte in der näheren Umwelt (wie Nachbarschaft, Arbeitsplatz oder Familie) als ‚Mesoebene’ und die sozialen Akteure als ‚Mikroebene’ bezeichnet werden, wird in diesen Modellen die gesellschaftlichen Lage als ‚Makroebene’, vermittelnde Mechanismen und Konzepte als ‚Mesoebene’ und die Gesundheit des Individuums als ‚Mikroebene’ bezeichnet. In dem von Thomas Elkeles und Andreas Mielck (Elkeles und Mielck 1997) unterbreiteten Modellvorschlag wird das strukturelle Problem gesundheitlicher Ungleichheit untersucht, worunter Elkeles und Mielck als ungerecht empfundene sozioökonomische Unterschiede in der Morbidität und Mortalität verstehen (siehe auch Mielck 2000, 2005 sowie Sperrlich und Mielck 2000). Ausgangspunkt ist die ungleiche Verteilung von Wissen, Macht, Geld und Prestige sowie daraus resultierenden soziale Vor- und Nachteilsbedingungen. Es wird angenommen, dass vertikale Ungleichheitsdimensionen für Lebenschancen in modernen Gesellschaften ausschlaggebend sind. Hinsichtlich der Mechanismen, über die sich der sozioökonomische Status der Menschen auf ihre Gesundheit auswirkt, richtet sich der Blick vor allem auf gesundheitsrelevante Belastungen und Ressourcen, die in verschiedenen Lebenskontexten relevant sein können. Der Ressourcenbegriff wird dabei nicht nur auf den Prozess der Stressbewältigung bezogen, sondern in Richtung gesundheitsrelevanter Handlungskompetenzen und Kontrollmöglichkeiten erweitert. Neben der Bilanz aus Belastungen und Res-
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sourcen werden mit gesundheitsrelevantem Verhalten und der gesundheitlichen Versorgung zwei weitere zentrale Vermittlungsinstanzen sozialstruktureller Bedingungen gesehen. Während sozioökonomische Unterschiede (vor im Hinblick auf die Qualität von Prävention, Kuration und Rehabilitation) auf der gleichen Ebene wie Belastungen und Ressourcenkonstellationen angesiedelt werden, betrachten Elkeles und Mielck das Verhalten der Akteure als Folge ihrer sozialen Lage. Gesundheitsbezogene Wahrnehmungen und Einstellungen erscheinen nicht explizit, werden aber unter dem Begriff des Verhaltens subsumiert. Das Modell legt folglich nahe, dass soziale Ungleichheiten im Krankheits- und Sterbegeschehen der Bevölkerung bestehen, weil die Angehörigen der sozialen Statusgruppen unterschiedlichen gesundheitlichen Belastungen ausgesetzt sind, über verschiedene Bewältigungsressourcen verfügen, sich in unterschiedlichem Maß gesundheitsbewusst verhalten und auch unterschiedlich angemessen gesundheitlich versorgt werden. Abbildung 5:
Ordnungsmodell gesundheitlicher Ungleichheit nach Elkeles und Mielck
Quelle: Modifiziert nach (Elkeles und Mielck 1997, Mielck 2000) Ein erweitertes Modell, das stärker zwischen physischen und psychischen Auswirkungen der sozialen Lage unterscheidet, stammt von Günther Steinkamp (Steinkamp 1993, vgl. Abbildung 6). Im Modell wird die Lage im System der sozialen Ungleichheit (Makro-) mit den Handlungskontexten der Akteure
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(Meso-) und ihrem Organismus bzw. ihrer Persönlichkeit (Mikroebene) verknüpft. Auf der Makroebene siedelt Steinkamp die Ungleichheit objektiver Lebensbedingungen an, die den Rahmen für die Realisierung von Lebenszielen absteckt. Neben der vertikalen Lage im Gefüge sozialer Ungleichheiten wird hier auch auf die Bedeutung des Lebensstils und der Zugehörigkeit zu sozialen Milieus verwiesen. Auf der Mesoebene werden Ressourcen angesiedelt, auf die unabhängig von der sozialen Lage in sozialen Kontexten wie Familie, Freundeskreisen oder Arbeitsverhältnissen zugegriffen werden kann. Die konzeptionelle Ausgestaltung dieser Ebene erfolgt anhand des Belastungs-Ressourcen-Konzepts, wobei kritische Lebensereignisse, dauerhafter Stress und Arbeitsbelastungen sowie soziale Ressourcen, allen voran Netzwerkbeziehungen und daraus resultierende Unterstützungsleistungen, als wichtige Aspekte benannt werden. Auf der Mikroebene von Persönlichkeit und Organismus richtet sich der Blick auf personale Ressourcen sowie organische und psychische Prozesse, die bei der Konfrontation mit den situativen Bedingungen benötigt oder ausgelöst werden. Der kognitiven Bewertung und Einschätzung von potenziellen Belastungen sowie der Stressbewältigung wird dabei ein hoher Stellenwert eingeräumt. So wird davon ausgegangen, dass psychosozialer Stress („negative Emotionen“) und gesundheitsrelevantes Handeln zwischen der sozialen und gesundheitlichen Lage der Akteure vermitteln. Abbildung 6:
Mehrebenenmodell gesundheitlicher Ungleichheit nach Steinkamp
Quelle: Steinkamp (1997, S. 130)
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In den Erklärungsmodellen zur Entstehung gesundheitlicher Ungleichheiten gibt es neben den allgemeinen Lebensbedingungen drei Bereiche, denen eine besondere Bedeutung bei der Entstehung gesundheitlicher Ungleichheiten beigemessen wird: psychosozial wirksame Belastungs-Ressourcen-Konstellationen, Versorgungsungleichheiten und gesundheitsrelevantes Verhalten. Psychosozial wirksame Belastungs-Ressourcen-Konstellationen werden in allen Modellen als zentrale Brückenkonzepte eingeführt, um diejenigen Auswirkungen des sozioökonomischen Status auf die Gesundheit zu erklären, die sich nicht allein durch den unterschiedlichen Zugang zu materiellen Ressourcen erklären lassen (Mielck 2000, Steinkamp 1993). Einen wichtigen theoretischen Bezugspunkt bildet dabei die transaktionale Stresstheorie (Lazarus und Folkman 1984). Sie besagt, dass die Entstehung von Stress weder einseitig durch das objektive Vorhandensein von Stressoren noch aus der subjektiven Wahrnehmung von Belastungen, sondern vielmehr in Folge eines Wahrnehmungs- und Bewältigungsprozesses entsteht. Stress tritt demnach nur dann auf, wenn zwischen den wahrgenommenen Anforderungen der Umwelt und verfügbaren Mitteln zur Bewältigung dieser Anforderungen ein Ungleichgewicht besteht. Ansatzpunkte liefern hier Konzepten wie ‚belastende Lebensereignisse’, ‚Sense of Coherence’, ‚Locus of Control’, ‚effort-reward-imbalance’ oder das ‚Health Belief Model’, die aber erst seit kurzem in der sozialepidemiologischen Forschung berücksichtigt werden (Siegrist 1996a, Janßen 2001, Geyer 2001, Becker 1974, Rosenstock 2005). Belastende Lebensereignisse werden als ein Brückenkonzept angesehen, weil bereits Ergebnisse zum vermehrten Auftreten von belastenden Lebensereignissen und zur erhöhten Vulnerabilität in unteren sozialen Lagen vorliegen (Geyer 2001). Als ‚Lebensereignisse’ werden dabei insbesondere solche Veränderungen bezeichnet, die eine Aufrechterhaltung individueller Verhaltensroutinen unmöglich und eine erhebliche Anpassung und Bewältigungsanstrengungen erforderlich machen (Dohrenwend und Dohrenwend 1974, Cohen und Wills 1985, Geyer 2001). Insbesondere akute oder chronische negative Lebensereignisse, wie Tod des Partners, Scheidung oder länger andauernde Arbeitsplatzgefährdung, werden als akute psychosoziale Stressoren angesehen, die gesundheitliche Beeinträchtigungen nach sich ziehen. Die gesundheitlichen Auswirkungen von belastenden Lebensereignissen ergeben sich durch die Wechselwirkungen zwischen auslösenden Faktoren (Verlust, Bedrohung, Gefahr schwerwiegender Konsequenzen) und der individuellen biologischen oder psychosozialen Vulnerabilität (Geyer 2001). Sie zeigen sich dabei einerseits in einem erhöhten Risiko für die Entstehung von Krankheiten (bspw. Depression, Schizophrenie, Angststörungen aber auch malignes Mammakarzinom), andererseits aber auch hinsichtlich des Heilungsverlaufs (Herzinfarkt, Ausbruch von AIDS bei HIV-Infizierten).
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Der ‚Kohärenzsinn’ (‚Sense of Coherence’) ist ein Konzept, das zu erklären versucht, welche individuellen Eigenschaften die gesundheitlichen Folgen der Stressexposition beeinflussen (Antonovsky 1993). Als Kohärenzsinn wird eine stabile und integrierte Weltsicht bezeichnet, die Umwälzungen im Leben als erklärbar und vorhersagbar interpretiert. Personen mit hohem Kohärenzsinn gehen davon aus, dass sie selbst über genügend Ressourcen verfügen, um entsprechende Herausforderungen zu meistern, und dass sie dabei auch Anstrengungen in Kauf nehmen können, weil sich diese auf lange Sicht auszahlen. Der Kohärenzsinn stellt daher beim Umgang mit belastenden Ereignissen eine wichtige Bewältigungsressource dar. Personen entwickeln einen starken Kohärenzsinn, wenn sie im Laufe ihrer Sozialisation auf viele Widerstandsressourcen wie Selbstwertgefühl, soziale Unterstützung und eine vorteilhafte soziale Lage zurückgreifen konnten. Alternativen zum Konzept des Kohärenzsinns, die in der Gesundheitspsychologie häufig verwendet werden, sind der ‚optimistische Interpretationsstil’, das Konzept der ‚gesundheitsbezogenen Kontrollüberzeugungen’ (‚Health Locus of Control’) und die ‚Selbstwirksamkeitserwartung’ (Schwarzer 2004, S. 5ff). Alle vier Konzepte operationalisieren letztlich vergleichbare protektive Persönlichkeitsmerkmale, die Schutzfaktoren vor psychosozialen Stressoren darstellen. Dazu stehen für die gesundheitspsychologischen Konzepte umfangreiche, aber gut validierte und vielfach verwendete Skalen zur Verfügung. Diese Persönlichkeitsmerkmale zeigen auch auf, über welche Mechanismen sich ökonomische Vorteile auf Möglichkeiten zur Bewältigung psychosozialer Belastungen auswirken können. Sie stellen dadurch eine vom Verhalten und von biologischen Mechanismen unabhängige psychologische Erklärung für die Entstehung und Reproduktion gesundheitlicher Ungleichheiten dar. In der arbeitsplatzbezogenen Gesundheitsforschung werden zwei Konzepte verwendet, die psychosozialen Stress auf ein Ungleichgewicht zwischen Anforderungen und Kontrollmöglichkeiten im Beruf (Karasek und Theorell 1990) oder berufliche Gratifikationskrisen (Siegrist 1996) zurückführen. Aufgrund des Wandels der Arbeitswelt von überwiegend manuellen zu vorwiegend nichtmanuellen Tätigkeiten wird psychosozialer Stress als eines der wichtigsten arbeitsbedingten Gesundheitsrisiken angesehen (Dragano 2007, Marmot et al. 2006). Nach dem Anforderungs-Kontroll-Modell erzeugen Arbeitsplätze, die hohe psychische Anforderungen stellen, in denen aber nur geringe Möglichkeiten zur Kontrolle der Inhalte, der Belastung und der Organisation der Arbeit bestehen, in besonderem Maße gesundheitsriskanten Stress (Karasek und Theorell 1990). Das Modell beruflicher Gratifikationskrisen sieht dagegen das Wechselspiel zwischen der Verausgabung am Arbeitsplatz und den Gratifikationen, die für die geleistete Arbeit erhalten werden, als besonders bedeutsam an. Arbeitnehmer, die
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dauerhaft sehr viel leisten müssen und dafür subjektiv nicht angemessen entlohnt werden, erscheinen so als besonders gesundheitsgefährdet (Siegrist 1996). Beide Merkmale waren in einer Vielzahl von Studien mit körperlichen oder psychischen Erkrankungen und Gesundheitsstörungen assoziiert (für eine Übersicht siehe Siegrist und Dragano 2006, Dragano 2007). Zudem zeigt sich, dass Kontrollmöglichkeiten und Belohnungen mit zunehmendem Berufsstatus ansteigen, während hohe Arbeitsbelastungen vergleichsweise gleichmäßig in der Bevölkerung verteilt sind (Dragano 2007). Neben den psychosozialen Arbeitsbedingungen sollten allerdings körperliche und umgebungsbezogene Belastungen nicht vernachlässigt werden. So unterscheiden sich die ergonomischen und umgebungsbezogenen Arbeitsbelastungen zwischen Arbeiten und Angestellten auch weiterhin in beträchtlichem Maße (Parent-Thirion et al. 2007). Insgesamt scheint ein beträchtlicher Anteil der arbeitsplatzbezogenen gesundheitlichen Ungleichheiten über die Arbeitsbedingungen vermittelt zu werden. Soziale Unterschiede können auch als Folge von unterschiedlichen Zugangschancen zur medizinischen und pflegerischen Versorgung bestehen. In entwickelten Wohlfahrtsstaaten in denen, wie in Deutschland, ein weitgehend einkommensunabhängiger Zugang zu den Leistungen des Gesundheitssystems institutionalisiert ist, wird dies allerdings von vielen Autoren als nachrangige Ursache für gesundheitliche Ungleichheiten betrachtet (Janßen et al. 2006). In Entwicklungsländern mit schlecht ausgebauten oder unzureichend finanzierten Gesundheitssystemen wird der Zugang zur medizinischen Versorgung dagegen als eine der wichtigsten Ursachen für Krankheit und Tod gesehen (Wagstaff 2002). Diskutierte Möglichkeiten, wie auch in entwickelten Wohlfahrtsstaaten soziale Unterschiede in der gesundheitlichen Versorgung entstehen können, sind ein unzureichender oder gar nicht vorhandener Versicherungsschutz und Zugangsbarrieren zur oder qualitative Unterschiede in der medizinischen Versorgung (Janßen et al. 2006). Es ist unstrittig ein Aspekt gesundheitlicher Ungleichheiten, dass ein umgekehrter Zusammenhang zwischen dem medizinischen Behandlungsbedarf und der Verfügbarkeit materieller Ressourcen besteht. Auch wenn in Deutschland alle notwendigen Leistungen durch die Krankenkassen übernommen werden, müssen die Patienten doch häufig einen gewissen Eigenanteil leisten. Dies und die neu etablierte Praxisgebühr kann zur Folge haben, dass einkommensarme Bevölkerungsgruppen auf Behandlungen verzichten, weil sie etwaige Folgekosten fürchten (Janßen et al. 2006). Bisherige Forschungsergebnisse deuten allerdings nicht darauf hin, dass in Deutschland ausgeprägte soziale Unterschiede in der Inanspruchnahme des medizinischen Versorgungssystems bestehen (Gerlinger 2008, Kriwy und Mielck 2006, Janßen 2006, Grabka et al. 2005). Die bestehenden gesundheitlichen Ungleichheiten werden durch das Versorgungssystem bisher aber auch nicht abgebaut. Analysen zur
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Gesundheit von gesetzlich und privat Krankenversicherten zeigen insgesamt keine systematischen auf (Kriwy und Mielck 2006). Frauen und Männer aus der Armutsrisikogruppe gehen im Fall eines erhöhten Behandlungsbedarfes allerdings etwa seltener zum Arzt (Lampert et al. 2005). Daneben gab es in Deutschland lange Zeit das, mittlerweile weitgehend gelöste, Problem einer beträchtlichen Zahl von Nicht-Krankenversicherten.52 Zwischen 1991 und 2003 in Deutschland jährlich im Durchschnitt etwa 200.000 Bürger keine gesetzliche oder private Krankenversicherung und folglich auch – mit Ausnahme der Akutversorgung medizinischer Notfälle – keinen Zugang zum medizinischen Versorgungssystem (Greß et al. 2005). Bei den häufig einkommensarmen Nichtversicherten war und ist von einer beträchtlichen gesundheitlichen Benachteiligung auszugehen. Neben dem Zugang zur Versorgung können auch Unterschiede in der Versorgungsqualität bestehen. Eine mögliche Ursache für soziale Versorgungsungleichheiten sind etwa Kommunikationsbarrieren in der Arzt-PatientenBeziehung. So besteht insbesondere für bildungsferne Bevölkerungsgruppen oder Migranten mit schlechten Sprachkenntnissen die Gefahr, dass sie aufgrund von sprachlichen Barrieren nicht angemessen versorgt werden können (Bernstein 1972). Dies kann sich etwa in mangelhaftem Gesundheitswissen, schlechter Compliance bei Behandlungen oder auch in Behandlungsfehlern aufgrund nicht kommunizierter Gegenanzeigen für medizinische Behandlungen äußern (Bernstein 1972 zit. nach Janssen 2006, S. 142). Sozialen Ungleichheiten im Gesundheitsverhalten wird ebenfalls ein beträchtlicher Beitrag bei der Entstehung gesundheitlicher Ungleichheiten beigemessen. Bezugspunkte bilden dabei sowohl gesundheitspsychologische Theorien des Gesundheitsverhaltens als auch soziologische Ansätze zur Produktion und Reproduktion von Lebensstilen. Soziologisch orientierte Ansätze problematisieren dabei vor allem die Einbettung des Gesundheitsverhaltens in typische, habitualisierte gesundheitsbezogene Lebensstile und die strukturelle Einbettung des Gesundheitsverhaltens. In gesundheitspsychologischen Ansätzen wird dagegen dem dynamischen Prozess bzw. den typischen Stufen der Verhaltensänderung und möglichen Interventionsmöglichkeiten besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Ein wichtiger Beitrag zur soziologischen Erklärung gesundheitsrelevanter Verhaltensweisen stammt von William C. Cockerham (Cockerham 2005, Cockerham et al. 2006). Der Ansatz beschreibt ausgehend von Webers Hand52
Durch das zum 1.4.2007 verabschiedete „Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der Gesetzlichen Krankenversicherung“ wird sich das Problem der Nichtversicherten mittel- bis langfristig verringern, weil u.a. auch private Versicherungen einen Basistarif für Nichtversicherte, die weder einen Anspruch auf eine reguläre private Krankenversicherung haben noch in die gesetzliche Versicherung wechseln können anbieten müssen (Bundesgesetzblatt 2007).
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lungstypen (Weber 1980) und dem Konzept des Habitus (Bourdieu 1987) die Herausbildung und Reproduktion gesundheitsbezogener Lebensstile. Cockerham möchte durch das Modell die besondere Bedeutung der sozialen Strukturierung des Handelns beschreiben, ohne in einen sozialen Determinismus abzugleiten. Er beschreibt die Entstehung gesundheitlicher Lebensstile ausgehend von der Lage im sozialen Raum als einen sich selbst reproduzierenden Prozess. Der Habitus, der die Disposition für soziales Handeln steuert, wird als Resultat früherer Entscheidungen gesehen, die auf Basis der jeweils vorgegebenen materiellen Opportunitäten und der im Sozialisationsprozess angeeigneten Einstellungen und Präferenzen getroffen wurden. Sowohl die Opportunitäten als auch die sozialisationsbedingten Dispositionen werden durch die Klassenlage vorgegeben. Gesundheitsrelevante Lebensstile müssen als in einen klassenbezogenen Habitus eingebettet betrachtet werden und sind über diesen indirekt sozial strukturiert. Weil Gesundheitslebensstile durch den Habitus reproduziert werden, können sie also nur schwer geändert werden. So geht das Modell davon aus, dass nur eine Veränderung des veränderungsresistenten Habitus eine Beeinflussung von Gesundheitslebensstilen und des in sie eingebetteten Gesundheitsverhaltens ermöglicht. Derartige Veränderungen erscheinen somit in diesem Modell deutlich unwahrscheinlicher als etwa im gesundheitspsychologischen HAPA-Modell. Abbildung 7:
Modell gesundheitsbezogener Lebensstile von Cockerham
Quelle: Cockerham et al. (2006)
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Thomas Abel hat aufbauend auf der Kapitaltheorie53 von Pierre Bourdieu (Bourdieu 1983) eine Erweiterung des Erklärungsmodells von Cockerham vorgeschlagen, indem er auf die Bedeutung kulturellen Kapitals und die Distinktionsfunktion von Gesundheitslebensstilen einging (Abel et al. 2006). Ausgangspunkt des Ansatzes ist die These von der beträchtlichen Bedeutung kultureller Ressourcen bei der Entstehung, Reproduktion und Veränderung des Gesundheitsverhaltens. Abel nimmt an, dass nicht die Klassenlage, sondern vielmehr das kulturelle Kapital der Akteure die wichtigste Bestimmungsgröße für die Ausdifferenzierung eines gesundheitsbezogenen Habitus und Lebensstils ist. In seinem Modell beschreibt er gestützt auf Bourdieus Konzeption des kulturellen Kapitals, wie dieses im Zusammenspiel mit sozialem und ökonomischem Kapital in der sozialen Praxis zur Produktion und Reproduktion gesundheitlicher Ungleichheit führt. Kulturelles Kapital ist nicht nur im Bildungssystem bei der Reproduktion sozialer Ungleichheiten von Bedeutung, sondern trägt auch zur Reproduktion gesundheitlicher Ungleichheit bei. So vermitteln etwa das Gesundheitsverhalten, die Qualität der Arzt-Patienten-Beziehung oder die Zugriffschancen auf gesundheitsrelevantes Wissen zwischen dem kulturellen Kapital und der Gesundheit der Akteure. Damit lasse sich kulturelles Kapital nicht nur in ökonomisches, soziales oder symbolisches Kapital, sondern auch in Gesundheitskapital transformieren. Ein weiterer Aspekt, der zur Reproduktion gesundheitlicher Ungleichheiten beitrage, sei die Distinktionsfunktion von Gesundheitsverhalten. So beeinflusse das Gesundheitsverhalten nicht nur die Gesundheit, sondern trage als symbolisches Handeln auch zur Distinktion der herrschenden Klassen bei (Abel 2006). Im Unterschied zu Cockerham scheint bei Abel das Gesundheitsverhalten weniger fest gefügt, so sollte insbesondere die Investition in das kulturelle Kapital der Bevölkerung, wie sie seit den 1960er Jahren durch die Bildungsexpansion praktiziert wird, zur stärkeren Verbreitung gesundheitsförderlicher Lebensstile beitragen. Weitere soziologische Ansätze gehen im Einklang mit der ungleichheitssoziologischen Entstrukturierungsthese nicht mehr von einer vertikalen Strukturierung gesundheitsbezogener Lebensstile aus und versuchen nur, die empirisch vorkommenden, entstrukturierten Lebensstile zu unterscheiden (Lüschen und Niemann 1995, Lamprecht und Stamm 1999, Hradil 2005a). Sie vertreten die These, dass sich gesundheitsrelevante Handlungen nur unzureichend durch Merkmale der vertikalen sozialen Lage erklären lassen (Hradil 2006, JungbauerGans und Gross 2006). Vielmehr ergebe sich der subjektive Sinn gesundheitsbe53
Pierre Bourdieu unterscheidet in Abgrenzung vom Humankapital vier Arten von Kapital (kulturelles, ökonomisches, soziales und symbolisches Kapital), die er als Formen sozialer Energie auffasst. Aneignung von Kapital ist damit gleichzeitig die Aneignung sozialer Energie (Bourdieu 1983, vgl. auch Fuchs-Heinritz und König 2005, S. 157ff, vgl. Abschnitt 2.1.3).
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zogener Handlungen nur im Kontext eines umfassenderen Lebensstils (Hradil 2005a). Die Autoren berufen sich dabei zwar auf das Habitus-Konzept von Bourdieu (1987), aber eben nicht auf die Vorstellung seiner klassengebundenen sozialen Strukturierung. Entgegen der von diesen Autoren vertretenen These, dass die entstrukturierten Gesundheitslebensstile im Vergleich zur vertikalen gesellschaftlichen Lage die bedeutendere Determinante der Gesundheit sind, finden sich empirisch deutlich geringere Verknüpfungen zwischen dem Lebensstil und der Gesundheit der Akteure (Hradil 2005a), sodass bisher wenig auf eine Entstrukturierung gesundheitlicher Lagen hindeutet. Gesundheitspsychologische Modelle der Verhaltensänderung betrachten die Voraussetzungen von Verhaltensänderungen und beschreiben, welchen Einfluss die individuelle Geschichte der Bearbeitung ähnlicher Probleme auf das jeweilige Verhalten hat (Schwarzer 2004, S. 39ff). Stadienmodelle gehen davon aus, dass die Änderung eines Gesundheitsverhaltens prozesshaft in verschiedenen Stadien verläuft. Von jedem Stadium aus sind sowohl Rück- als auch Fortschritte dynamisch möglich und können durch Interventionen Dritter beeinflusst werden. Ein in Deutschland häufig diskutiertes Modell ist der Health Action Process Approach (HAPA-Modell, Schwarzer 1992, 1999, 2001, 2004, S. 90ff). Das HAPA-Modell beschreibt, welcher Prozess nötig ist, damit Akteure ein gesundheitsriskantes Verhalten ändern. Dabei werden drei Stadien unterschieden: Die Motivationsphase, die Planungsphase und die Realisierungsphase. Das Modell geht davon aus, dass die Akteure in allen Phasen ihre verhaltensbezogenen Entscheidungen auf Basis von so genannten ‚Werterwartungen’54 treffen. Ausgangspunkt der Verhaltensänderung ist die Wahrnehmung von Gesundheitsrisiken, die mit dem Verhalten verbunden werden. Auf eine eingetretene Risikowahrnehmung folgt eine Planungsphase, in der der Nutzen von Verhaltensänderungen abgewogen und die Durchführung geplant wird. Bevor es dann zur eigentlichen Durchführung der Verhaltensänderung kommt, wird in einer präaktionalen Stufe (Planung und Initiative) zwischen verschiedenen Handlungsalternativen, die zum erwünschten Ziel führen können, gewählt. Nach einer entsprechenden Entscheidung wechseln die Akteure entweder direkt zur Realisierung oder warten bis zu einer günstigen Gelegenheit; dies hängt von der jeweiligen Situation und von Persönlichkeitsmerkmalen der Betroffenen ab. In der Realisierungsphase werden Handlungen ausgeführt und aufrechterhalten. Es findet eine kontinuierliche Handlungsausführungskontrolle statt, um Handlungen beizubehalten oder wieder 54
Die Werterwartungstheorie ist eine allgemeine Handlungstheorie die besagt, dass Akteure zwischen Handlungsalternativen auf Basis des Produktes aus dem wahrgenommenen Wert des erwarteten Handlungsergebnisses und der erwarteten Eintrittswahrscheinlichkeit desselben entscheiden. Sie versuchen also jeweils nicht das beste, sondern das bestmögliche Handlungsergebnis zu erzielen. Vgl. Esser 1999, S. 247ff.
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aufzunehmen. Diese bewusste Kontrolle ist solange nötig, bis das neue Verhalten habitualisiert ist. Personen mit geringer Selbstwirksamkeitserwartung55 geben dabei schneller auf, während eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung eine erfolgreiche Umsetzung begünstigt. In der postaktionalen Stufe der Realisierungsphase werden die Folgen der Handlung bewertet. Wird die Verhaltensänderung als erfolgreich bewertet, hängt es von der Zuschreibung (engl. „attribution“) des Erfolgs oder Misserfolgs durch die Person ab, ob die Selbstwirksamkeit gestärkt oder geschwächt wird. Das HAPA-Modell zeichnet so den Prozess der Verhaltensänderung sehr deutlich nach, geht allerdings – und das ist hinsichtlich der Anwendbarkeit auf das Problem gesundheitlicher Ungleichheiten von Bedeutung – selbst nicht auf die Verknüpfung zwischen sozialen Strukturen und individuellen Handlungen ein. Einer stärkeren Einbettung des HAPA-Modells und ähnlicher Konzepte in die sozialepidemiologische Diskussion steht meines Erachtens vorläufig noch ein Mangel an Befunden entgegen, die empirisch nachweisen können, dass psychologische Merkmale wie Selbstwirksamkeit oder Optimismus zwischen sozialen Kategorien ungleich verteilt sind und warum dies so ist. Eine neuere Forschungsrichtung, die in den meisten Erklärungsmodellen auf der Individualebene noch keine Berücksichtigung findet, bilden Ansätze, die auf die Herausbildung gesundheitlicher Ungleichheiten im Lebensverlauf eingehen (Blane 1999, Wadsworth 1997, Wadsworth und Bartley 2006, Hallqvist et al. 2004). Sie zeichnen sich durch explizite Berücksichtigung der Geschichte des früheren Erlebens, Erfahrens und Handelns der sozialen Akteure aus, die nicht nur ihr gegenwärtiges Verhalten, sondern auch ihre davon unabhängigen Gesundheitschancen beeinflusst. In der Lebenslaufperspektive werden allgemein zwei Möglichkeiten unterschieden, über die sich soziale Risiken nachhaltig auf die Gesundheitschancen auswirken: Spezifische Belastungen während kritischer und besonders vulnerabler biologischer Entwicklungsstadien oder eine langfristige Kumulation sozialer Risiken im Lebensverlauf. So besteht bereits in der biologisch kritischen pränatalen Phase ein beträchtlicher Einfluss der Lebensbedingungen und des Verhaltens der Mutter auf den Fötus und seine weiteren Gesundheitschancen. Als wichtige, sozial ungleich verteilte Einflussfaktoren gelten hier insbesondere der Tabak- und Alkoholkonsum der Mutter. Auch im Säuglings- und Kindesalter können die Gesundheitschancen nachhaltig beeinflusst werden. Hier sind zu kurzes Stillen durch die Mutter, die unzureichende Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen oder eine Belastung durch Passivrauchexposition wichtige, sozial ungleich verteilte Gesundheitsrisiken (Wadsworth und Bartley 2006, S. 137). Im Jugendalter löst sich dann das Kind vom 55
Als allgemeine Selbstwirksamkeit wird eine generalisierte und internalisierte subjektive Kompetenzüberzeugung bezeichnet, auch neue schwierige Aufgaben erfolgreich lösen zu können (Schwarzer 2004, S. 12).
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engen Bezug an die Herkunftsfamilie, sodass hier das Gesundheitsverhalten der Gleichaltrigengruppe wichtiger wird (Richter 2005). Neben der sozialen Lage der Eltern können auch periodenspezifische Faktoren wie Kriege, Umweltkatastrophen oder Pandemien die Gesundheitschancen ganzer Geburtskohorten prägen (Wadsworth und Bartley 2006). Eine weitere wichtige Perspektive kommt dabei aus der Analyse kumulativer Effekte sozialer Nachteile. So konnte gezeigt werden, dass auch die Kumulation sozialer Nachteile im Lebensverlauf einen eigenen, von kritischen Perioden unabhängigen Einfluss auf die Gesundheitschancen von Erwachsenen hat (Hallqvist et al. 2004). Zudem wird mit Bezug zu Konzepten wie Gratifikationskrisen oder kritischen Lebensereignissen diskutiert, dass auch soziale Mobilität selbst ein gesundheitsrelevanter psychosozialer Stressor sein kann. Insgesamt scheinen lebenslaufbezogene Prozesse allerdings nur einen vergleichsweise geringen Anteil des Ausmaßes gesundheitlicher Ungleichheiten zu erklären (Dragano und Siegrist 2006). Dessen ungeachtet sprechen die Ergebnisse der lebenslaufbezogenen Gesundheitsforschung aber dafür, dynamische Entwicklungsprozesse – und damit die Geschichte der Akteure – bei der Analyse gesundheitlicher Ungleichheiten nicht zu vernachlässigen. Zudem lässt sich diesen Ansätzen auch aus Perspektive der soziologischen Lebenslaufsforschung (Mayer 1990, Mayer 1995) ein Potential für die Analyse des Wandels gesundheitlicher Ungleichheiten beimessen. So hat die soziologische Lebensverlaufsforschung deutlich gemacht, dass sich der gesellschaftliche Wandel insbesondere an Ungleichheiten zwischen Kohorten und Lebensverläufen eindrucksvoll nachzeichnen lässt. Für eine Übertragung dieser soziologischen Analysen auf das Themenfeld der gesundheitlichen Ungleichheit fehlt es bisher zumeist an entsprechenden Datenquellen. Sie müssten es ermöglichen, den Wandel von Gesundheitslebensläufen und Ungleichheiten in Gesundheitslebenslebensläufen zu analysieren, um dem zuvor geschilderten, Prozess der Entstehung von Krankheiten und Gesundheitsstörungen im Lebenslauf berücksichtigen zu können. Die vorangegangene Übersicht hat deutlich gemacht, dass ein breiter evidenzbasierter Wissensbestand zu Wechselwirkungen zwischen der gesellschaftlichen und gesundheitlichen Lage von Akteuren besteht. Modelle auf der Individualebene zur Entstehung und Reproduktion gesundheitlicher Ungleichheiten verknüpfen die Forschungsbefunde und Erklärungsansätze sozialepidemiologischer Forschung in sinnvoller Weise. Sie eröffnen Einsichten in die Ätiologie von Erkrankungen und bieten dadurch Ansatzpunkte für Gesundheitsförderung und Prävention (Weyers 2007). Aufbauend auf den wichtigen Arbeiten zu vermittelnden Mechanismen wird zudem verstärkt die Einschätzung laut, dass sich die verschiedenen Dimensionen des sozioökonomischen Status unabhängig voneinander auf die Gesundheit auswirken (Winkleby et al. 1992, Stronks et al.
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1997, Geyer und Peter 2000, Geyer et al. 2006, Bammann und Helmert 2000, Lahelma et al. 2004, Laaksonen et al. 2005). So geht Bildung häufig mit bestimmten Einstellungen, Überzeugungen und Kompetenzen einher. Diesen kommt ein hoher Stellenwert für das gesundheitsrelevante Verhalten sowie für die Bewältigung von psychosozialem Stress zu. Im Zusammenhang mit dem Berufsstatus ist einerseits nach gesundheitlichen Belastungen und Risiken am Arbeitsplatz, gleichzeitig aber auch nach Entwicklungs- und Gratifikationsmöglichkeiten, die sich positiv auf die Gesundheit auswirken können, zu fragen. Wenn sich der Blick auf das Einkommen richtet, rücken hingegen der finanzielle Spielraum, der materielle Lebensstandard oder auch Sorgen über die eigene wirtschaftliche Lage in den Mittelpunkt der Betrachtung. Die vorliegenden Ansätze auf der Individualebene sind allerdings nur eingeschränkt als Mehrebenenansätze zu bewerten. Ihr Ausgangspunkt ist die sozialstrukturelle Lage der Akteure und nicht – wie in strukturellen Erklärungsmodellen – die Ausgestaltung von sozialen Systemen und Institutionen. Dadurch können die Modelle den Wandel gesundheitlicher Ungleichheit weniger erklären als vielmehr beschreiben. 2.2.3 Wandel gesundheitlicher Ungleichheit Ansätze zur Analyse des Wandels gesundheitlicher Ungleichheiten bauen auf den zuvor dargestellten Erklärungsansätzen zur Entstehung und Reproduktion gesundheitlicher Ungleichheiten auf. Zusammenfassend betrachtet zeichnen sich dabei fünf dominante Argumentationslinien ab (Bartley 2004, vgl. Tabelle 2): Auf der gesellschaftlichen Strukturebene führen Unterschiede und Entwicklungen von sozialen Systemen dazu, dass sich Bevölkerungen hinsichtlich ihrer materiellen und psychosozialen Lebensbedingen unterscheiden. Die Differenzen lassen sich etwa am Ausmaß von Einkommensungleichheiten festmachen und bestimmen das Ausmaß von zwischen- und innerstaatlichen Unterschieden in Morbidität und Mortalität (Wilkinson 1996, Smith et al. 1994, Lynch und Kaplan 1997, Starfield 2007a). Auf der Individualebene stellen materielle Unterschiede eine wichtige Bedingung für den gesundheitlichen Einfluss der Lage im Gefüge sozialer Ungleichheiten dar. Sie beeinflussen die Handlungsspielräume der sozialen Akteure und auch die Exposition gegenüber Umweltbelastungen, den Zugang und die Qualität zur bzw. der medizinischen Versorgung. Indirekt beeinflussen sie die Gesundheit über ihren Einfluss auf Gesundheitsverhalten und gesundheitsrelevante Einstellungen (Townsend et al. 1990, Macintyre 1997). Psychosoziale Erklärungsansätze beschreiben, dass Teile des Zusammenhangs zwischen der sozialen und gesundheitlichen Lage auf ungleiche, psychosozial wirksame Belastungs- und Ressourcenkonstellationen in den sozialen Status-
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gruppen zurückgehen (Karasek und Theorell 1990, Siegrist 1996). Dabei wird auf stress- oder stressbewältigungsrelevante Faktoren wie Einflussmöglichkeiten und Kontrollzwänge, Gratifikationskrisen am Arbeitsplatz und mangelnde soziale Unterstützung verwiesen. Kulturelle bzw. verhaltensbezogene Ansätze erklären gesundheitliche Ungleichheiten über Unterschiede in Einstellungen und Verhaltensweisen. Diese werden im Sozialisationsprozess geprägt, sind habituell verankert und können sich in Gesundheitslebensstilen bündeln (Cockerham et al. 2006, Abel 2007). Setzt man die drei Mechanismen auf der Individualebene zueinander in Beziehung, so erscheinen die gesundheitlichen Folgen materieller Belastungen allerdings häufig über psychosoziale und verhaltensbezogene Mechanismen vermittelt und damit kausal vorgelagert (Stronks et al. 1996, Giesecke und Müters 2006). Die Lebensverlaufsperspektive betrachtet Wechselwirkungen zwischen Gesundheit und gesellschaftlicher Lage im individuellen Lebensverlauf (Wadsworth 1997, Hales et al. 1991). Sie beschreibt, wie sich Nachteile in kritischen Phasen langfristig auswirken können und welche gesundheitliche Bedeutung im Lebenslauf akkumulierte Nachteile haben. Tabelle 2: Erklärungsansätze gesundheitlicher Ungleichheit Strukturell
Mechanismen
Materiell
Ausgestaltung Die soziale Lage des bestimmt Wohlfahrtsstaats Ernährung, beeinflusst die Qualität des Bereitstellung Wohnraums, sozialer Dienste Verschmutzung und dadurch die der nahen Qualität der Umwelt, materiellen und Arbeitsbedingung psychosozialen en und dadurch Lage der die Gesundheit Bevölkerung
Vertreter Wilkinson 1996, Smith et al. 1994, Lynch und Kaplan 1997, Starfield 2007a
Townsend et al. 1990
Psychosozial
Verhaltensbezogen
Lebenslauf
Die soziale Lage bestimmt Prestige, Kontrolle/Einfluss und soziale Unterstützung, die Balance zwischen Anstrengung/ Belohnung bzw. Anforderung/ Kontrollmöglichk eit und dadurch die Gesundheit
Die soziale Lage bestimmt Werte, Einstellungen, Normen habituell und dadurch das Gesundheitsverhalten und indirekt auch die Gesundheit
In unteren sozialen Lagen gibt es häufiger Risiken und kritische biologische Phasen oder soziale und gesundheitliche Nachteile kumulieren im Lebensverlauf. Dies führt zu zusätzlichen gesundheitlichen Nachteilen.
Karasek und Theorell 1990, Siegrist 1996, Elstad und Krokstad 2003
Cockerham 2000, Wadsworth 1997, 2005, Cockerham Hales et al. 1991 et al. 2006, Abel 2007
Quelle: Modifiziert nach Bartley (2004, Table 1.5, S. 16)
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Die Diskussion um strukturelle und individuelle Erklärungsansätze erscheint bisher nur unzureichend verknüpft. Dies wirkt sich insbesondere auf die Analyse des Wandels gesundheitlicher Ungleichheiten nachteilig aus. Die jeweiligen Ansätze beschreiben entweder warum sich gesundheitliche Ungleichheiten verändern (strukturelle Ansätze), oder aber sie erklären wie sich soziale und gesundheitliche Lage bedingen (individuelle Ansätze). Für ein Verständnis der Prozesse, die zu einem Wandel gesundheitlicher Ungleichheiten führen, sind aber beide Perspektiven unverzichtbar. Weder die alleinige Betrachtung der Struktur- noch der Individualebene reicht aus, um nachzuvollziehen, warum sich besser- und schlechter gestellte Bevölkerungsgruppen hinsichtlich ihrer Lebenserwartung immer weiter voneinander entfernen. Es muss vielmehr rekonstruiert werden, welche ungleichheitsrelevanten Aspekte sich auf der Strukturebene verändert haben und wie sich diese Veränderungen auf die Situationen der Akteure in den jeweiligen Gruppen ausgewirkt haben. Dieser Wandel sozialer Ungleichheiten erschließt sich über das Konzept der primären Zwischengüter ‚physisches Wohlbefinden’ und ‚soziale Wertschätzung’ aus der erklärenden Soziologie (Esser 1999-2001), wie im Abschnitt 2.1.4 dargelegt wurde. Die nachfolgende Argumentation soll aufzeigen, dass eine strukturell bedingte Veränderung der Relevanz sozialer Kategorien auch eine wichtige Bedingung für den Wandel gesundheitlicher Ungleichheiten ist. Ziel ist es, die Argumentationslinien der strukturellen und individuellen Erklärungsansätze zu integrieren und handlungstheoretisch einzubetten. Aus der genannten Perspektive erscheinen die Entstehung und der Wandel gesundheitlicher Ungleichheiten als mehrdimensionaler Prozess, der auf der gesellschaftlichen Strukturebene seinen Ausgangspunkt und in der Gesundheit von Individuen, die sich sozialen Gruppierungen zuordnen lassen, seinen Endpunkt hat. Dieser Prozess der ‚sozialen Produktion von Gesundheitlicher Ungleichheit’ soll durch das dargestellte, graphisch aufbereitete Orientierungsmodell verdeutlicht werden (Abbildung 8). Im Schaubild werden drei Ebenen unterschieden: die gesellschaftliche Strukturebene, eine Ebene mit intermediären sozialstrukturellen Aspekten und die Akteursebene.56 Die Darstellung soll das makrosoziologische Modell von Starfield (2007a) mit dem mikrosoziologischen Bezugsrahmen von Mackenbach (2006) verknüpfen. Bei der Ausarbeitung des Orientierungsmodells wurde davon ausgegangen, dass sich ein Wandel auf der Strukturebene nur insofern auf die Gesundheit einer spezifischen Bevölkerungsgruppe auswirkt, wie er deren materielle und psychosoziale Lage oder deren Einstellungen und Handeln beeinflusst. Gesundheitliche Ungleichheiten sind 56
Die Verbindungen zwischen den Ebenen werden durch gestrichelte Pfeile dargestellt, sofern sie in den empirischen Analysen nicht statistisch überprüft werden. Zusammenhänge die in den statistischen Analysen berücksichtigt werden, sind durch durchgezogene Linien kenntlich gemacht.
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dabei die typischen und möglicherweise regelmäßigen Differenzen in den gesundheitlichen Lagen der sozialen Gruppierungen. Es wird davon Ausgegangen, dass die Veränderung der gesellschaftlichen Lage sozialer Gruppierungen der bedeutendste Bestimmungsgrund zur Erklärung der Veränderung gesundheitlicher Ungleichheiten ist. Abbildung 8:
Wirtschaftlicher Kontext
Integriertes Orientierungsmodell zur sozialen Produktion von Gesundheit
Politische Steuerung
Gesellschaftliche Strukturebene
Macht –––––– Wohlstand –––––– Erwerbsarbeit –––––– Umwelt –––––– Gesundheitsversorgung –––––– Kulturelle Werte und Normen –––––– Soziale Netzwerke Intermediäre Ebenen
Materielle Lage
Werte
Handeln
Gesundheitliche Lage
Psychosoziale Lage
Gruppierungen im Gefüge sozialer Ungleichheit
Quelle: Eigene Darstellung Auf der Strukturebene wird im Modell, aufbauend auf den strukturellen Erklärungsansätzen (Starfield 2007, Wilkinson 2005, Lynch et al. 2000a, 2000b), auf die Bedeutung der Ausgestaltung von wohlfahrtsstaatlicher Politik verwiesen. Es wird dabei davon ausgegangen, dass eben nicht nur Gesundheits-, sondern auch Wirtschaft-, Sozial- und Umweltpolitik einen beträchtlichen Einfluss auf die Gesundheit der Bevölkerung haben. Die Herausbildung und der Wandel wohlfahrtsstaatlicher Institutionen ist allerdings ein voraussetzungsreicher Prozess und wohlfahrtsstaatliches Handeln ist auch von systemimmanenten und exogenen Opportunitäten bestimmt. Diese Makrokonstellationen werden von vielen Autoren häufig nicht beachtet. So muss auch eine soziologische Erklärung gesundheitlicher Ungleichheiten den wirtschaftlichen, demographischen und auch politischen Kontext sozialpolitischer Entscheidungen berücksichtigen, wenn sie Entwicklungen erklärt oder politische Empfehlungen zur Verringerung gesundheitlicher Chancenungleichheiten macht. Aufgrund des komplexen Beziehungsgeflechtes zwischen Politik, Wirtschaft, Sozialstaat und Arbeitsmarkt ist die Veränderung der Lagen sozialer Gruppierungen a priori daher nur schwer zu prognostizieren oder in allgemeinen Gesetzen zu beschreiben. Es können höchs-
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tens, wie dies die vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung versucht, typische Muster von Privilegierungen und Benachteiligungen identifiziert werden, die aber nicht zwangsläufig eine Prognose der Entwicklung sozialer Ungleichheiten ermöglichen, wie sich im dritten Kapital der Studie zeigen wird.57 So bleibt vielfach nur eine Beschreibung der Veränderungen a posteriori. Die Verknüpfung zwischen Struktur- und Akteursebene erfolgt über die Verteilung gesundheitsrelevanter Zwischengüter, deren Verteilung durch soziale Systeme auf der gesellschaftlichen Strukturebene unmittelbar beeinflusst wird. Akteure sind zur eigenen Reproduktion auf den Zugriff auf Zwischengüter angewiesen, die ihnen helfen, physisches Wohlbefinden oder soziale Wertschätzung zu erlangen (Esser 1999, S. 108). Ungleichheiten im Zugriff auf Zwischengüter entstehen durch Mechanismen der Inklusion und Exklusion von Akteuren in soziale Systeme (Esser 2000, S. 109). Soziale Gruppierungen stellen – insofern sie relevant sind – Determinanten dieser Inklusionen und Exklusionen dar. So ist die Verteilung der Zwischengüter nicht nur eine Folge von Angebot und Nachfrage, sondern, wie Kreckel (2004) und Esping-Andersen (1990) zu Recht betonen, auch die Folge von Koalitionen im korporatistischen Dreieck von Politik, Arbeit und Wirtschaft. Als Güter zu nennen sind hier etwa die Verteilung von umweltbezogenen Belastungen, Infrastruktur, Arbeitsplätzen, politischen Teilhabemöglichkeiten und Freiheiten, Leistungen des Gesundheitssystems. Hinzu kommt die gesellschaftliche Akzeptanz von gesundheitsrelevanten Werten und Normen, die als kulturelle Frames wichtige Bezugspunkte des Handelns der Akteure darstellen. Auf der Mikroebene der Akteure in den sozialen Gruppen und Kategorien werden – in Anlehnung an Mackenbach (2006, S. 32) – vier zentrale Vermittlungsmechanismen zwischen Zwischengütern und Frames sowie der gesundheitlichen Lage der Akteure benannt: materielle und psychosoziale Lage der Akteure, ihr Verhalten und ihre Werte und Einstellungen. Über diese Mechanismen werden die sozialen Unterschiede im Zugriff auf primäre oder indirekte Zwischengüter letztlich gesundheitswirksam. Das Handeln und die Entscheidungen der Akteure werden als Folgen ihrer materiellen und psychosozialen Lage angesehen. Direkte Bezüge zwischen der Lage der Akteure und ihrer Gesundheit entstehen insbesondere durch psychosozialen Stress, etwa in Folge von Unterschieden im Auftreten von kritischen Lebensereignissen oder beruflichen Beanspruchungen (Geyer 2001, Karasek und Theorell 1990, Siegrist 1996), aber auch durch physische Gesundheitsrisiken, etwa in Folge von Unterschieden bei Unfallrisiken, der Exposition gegenüber Umweltgiften und belastungen in der Wohnumwelt oder am Arbeitsplatz (Lynch et al. 2000b). 57
Vgl. Abschnitt 3.1.1 für einen Überblick.
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Neben diesen direkten Zusammenhängen zwischen der sozialen und der gesundheitlichen Lage der Akteure kommt indirekten, über gesundheitsrelevante Einstellungen und Handlungen vermittelten Wirkungen, eine große Bedeutung zu (Stronks et al. 1996). Der dargestellten Perspektive einer gesellschaftlichen Produktion von Gesundheit und gesundheitlicher Ungleichheit lassen sich viele der bestehenden, bisher aber getrennten Erklärungsansätze der Sozialepidemiologie zuordnen. So integriert das Orientierungsmodell die dominanten strukturellen Ansätze (Wilkinson 1996, Lynch et al. 2000b) und auch die wichtigsten Modelle und Mechanismen, die auf der Individualebene diskutiert werden (Mackenbach 2006, Mielck 2000, Steinkamp 1999). Das Modell beschreibt und verknüpft die Determinanten der Gesundheit dabei über verschiedene Analyseebenen hinweg. Keine explizite Berücksichtigung finden allerdings Versorgungsungleichheiten, lebenslaufsbezogene Ansätze und kulturelle Ansätze in der Tradition des Habituskonzeptes. Wie im vorigen Abschnitt erwähnt, liegt bisher nur wenig Evidenz für den Einfluss von Versorgungsungleichheiten vor. Sie werden daher im Modell auf der Mikroebene auch nicht explizit genannt, sondern als Teilaspekt der materiellen Lage der Akteure berücksichtigt. Im Modell fehlt auch der explizite Bezug zu lebenslaufbezogenen Erklärungsansätzen (Wadsworth 1997). Sie können allerdings, aus der skizzierten Perspektive heraus, als zeitverzögerte Auswirkungen der sozialen Lage in einer früheren Phase im Leben der Akteure interpretiert werden. Die Wechselwirkungen zwischen der sozialen und gesundheitlichen Lage im Lebenslauf (gesundheitsbedingte Selektionsprozesse) ließen sich stärker betonen, wenn zwischen der materiellen und der gesundheitlichen Lage der Akteure Doppelpfeile eingezogen würden. Allerdings ist auch hier die Evidenz bisher noch limitiert, sodass darauf verzichtet wurde (Dragano und Siegrist 2006). Auch das Konzept der Reproduktion von Gesundheitslebensstilen über den sozialisationsbedingten und sozial strukturierten Habitus und die jeweils spezifische Ausstattung mit kulturellem Kapital findet sich in der Abbildung nicht wieder (Abel 2007, Cockerham 2005). Die Reproduktion von Lebensstilen könnte durch Doppelpfeile zwischen der materiellen Lage der Akteure sowie ihren Einstellungen und Handlungen betont werden. In dieser Studie liegen Aspekte der Produktion dieser Ungleichheiten im Zentrum des Erkenntnisinteresses, auf eine besondere Berücksichtigung der Reproduktion wurde im Orientierungsmodell daher verzichtet. Eine auf dem Modell basierende Erklärung des Wandels gesundheitlicher Ungleichheiten kann auf verschiedenen Analyseebenen ansetzen. So könnte der Schwerpunkt auch auf der politischen Steuerung wirtschaftlicher Entwicklungen oder auf den vermittelnden Mechanismen zwischen Strukturebene und der Verteilung von Zwischengütern liegen. Nachfolgend soll aber das Zentrum der Ar-
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gumentation und damit der Bedeutungswandel sozialer Kategorien für die gesundheitliche Lage und gesundheitsrelevante Einstellungen und Handlungen der Akteure untersucht werden. Dazu werden die Zusammenhänge auf der Akteursebene durch Hypothesen spezifiziert. Eine Bezugnahme auf den politischen und volkswirtschaftlichen Kontext findet deskriptiv, wenn auch nicht Hypothesen testend statt. Sie erfolgt, um die Befunde zur Entwicklung der gesellschaftlichen Lagen, zu gesundheitsrelevanten Handlungen und Verhaltensweisen sowie zur gesundheitlichen Lage der sozialen Gruppierungen in strukturelle Entwicklungen einordnen zu können. Im Zentrum der Analysen steht die soziologische Erklärung des Wandels gesundheitlicher Ungleichheiten über die veränderte Relevanz sozialer Kategorien für gesundheitsrelevantes Handeln und Erleben. Dazu wird eine allgemeine Handlungstheorie als Bezugsrahmen gewählt, das Modell der Frame-Skript-Selektion (Esser 2001, S. 259ff). Es handelt sich dabei um eine allgemeine soziologische Handlungstheorie58, die auch für psychologische Verhaltensmodelle anschlussfähig ist, gleichzeitig aber die soziale Strukturierung der materiellen und ideellen Grundlagen des Handelns berücksichtigt. Die Basis des Modells bildet die Werterwartungstheorie, eine allgemeine Handlungstheorie, die beschreibt, dass zwischen alternativen Handlungen nicht anhand des größten Nutzens des Handlungsergebnisses, sondern anhand des größten Produktes aus Nutzen und erwarteter Eintrittswahrscheinlichkeit des Ergebnisses ausgewählt wird (Esser 1999, S. 247ff). Das Modell der Frame-Skript-Selektion bettet die Werterwartungstheorie kulturell und strukturell ein. Es beschreibt, dass nicht nur Handlungsalternativen (Skripte), sondern bereits Situationsdefinitionen (Frames) auf Basis der Werterwartungstheorie selektiert werden. Dabei werden aufbauend auf den Arbeiten von Lindenberg zwei Selektionsmodi unterschieden (Kroneberg 2007, Lindenberg 2000). So hängt es von der Passung (Match) zwischen Skript bzw. Frame und Situation ab, ob automatisch-spontan oder reflexiv-kalkulierend selektiert wird. Je geringer die Passung zwischen Situationen und den vorhandenen Frames und Skripten, desto wahrscheinlicher ist es, dass Akteure reflexiv-kalkulierend zwischen den Alternativen anhand von Werterwartungsgewichten abwägen. Sie selektieren dagegen mit hoher Wahrscheinlichkeit automatisch-spontan, also ohne darüber nachzudenken, wenn zwischen einem vorhandenen Frame bzw. 58
Besondere Bedeutung haben dabei die soziologische Variante der ökonomischen Theorie der rationalen Wahl (Coleman 1990) und die soziologische Interpretation der Werterwartungstheorie (Esser 1999) sowie deren spätere Erweiterung im Modell der Frame-Selektion (Esser 2003) erlangt. Der Rational-Choice-Ansatz sieht das Wahlhandeln von sozialen Akteuren als Resultat eines Prozesses der Nutzenmaximierung, sie wählen die Handlungsalternative, welche für sie subjektiv den größten Nutzen hat. Die Werterwartungstheorie ist eine Erweiterung der Theorie rationalen Handelns, neben der Bewertung des Nutzens von Handlungsergebnissen werden darin auch Erwartungen zur Eintrittswahrscheinlichkeit des Nutzens berücksichtigt.
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Skript und der jeweiligen Situation ein perfektes Match besteht. Aus Perspektive des Modells der Frame-Skript-Selektion ist soziales Handeln folglich das Resultat eines vierstufigen Selektionsprozesses durch den handelnden Akteur: Jede Situation wird daraufhin interpretiert, ob sie früheren Situationen ähnelt (FrameModus-Selektion). Sie bekommt darauf aufbauend entweder automatisch-spontan oder auch reflexiv-kalkulierend eine Bedeutung zugewiesen (Frame-Selektion). Aufbauend auf diesem Frame der Situation wird abgeglichen, ob bereits ein passendes Handlungsprogramm verfügbar ist (Skript-Modus-Selektion). Daraufhin fällt entweder automatisch-spontan oder reflexiv-kalkulierend die Entscheidung für ein Handlungsprogramm (Skript-Selektion). Erst am Ende des Prozesses steht die eigentliche Handlung, also die Umsetzung des Skriptes. Die Werterwartungsgewichte, die jeweils bestimmen welcher Modus, Frame oder welches Skript ausgewählt werden, orientieren sich an den Kriterien physisches Wohlbefinden und soziale Wertschätzung der sozialen Nutzenproduktion (vgl. Abschnitt 2.1.4). Es zeigt sich, dass das Modell der Frame-Skript-Selektion verschiedene Handlungstypen, wie rationales, sondern auch normatives, kommunikatives, kreatives, affektuelles, traditionales und wertrationales Handeln abbilden und erklären kann (Esser 2001, S. 307ff, Kroneberg 2007). Das Modell der Frame-Skript-Selektion ist sowohl an medizinsoziologische als auch an gesundheitspsychologische Verhaltensmodelle anschlussfähig. So kann der Aspekt der kulturellen Reproduktion des Gesundheitsverhaltens über einen klassenbezogenen Habitus und kulturelles Kapital als Folge von Frameund Skript-Selektionen interpretiert werden. Ein Habitus ist so letztlich ein Bündel von Frames und Skripten mit hohem Match. Er wird durch die Akteure automatisch selektiert und hat sich im Zuge ihres Sozialisationsprozesses als Folge der sozialen Nutzenproduktion herausgebildet. Dadurch besteht auch zwischen dem Habitus von Akteuren mit ähnlicher sozialer Herkunft eine gewisse Affinität. Die Reproduktion von Gesundheitslebensstilen beschreibt damit lediglich die Interaktionen zwischen materieller Lage, Werten, Handeln und Gesundheit im Lebensverlauf.59 Gesundheitspsychologische Modelle der Verhaltensänderung beschreiben dagegen einen von sozialen Determinanten unabhängigen Prozess, durch den die Motivation zur Verhaltensänderung entwickelt, umgesetzt und aufrechterhalten wird. Der Schwerpunkt der Modelle liegt auf der Suche nach Ansatzpunkten für Interventionsmaßnahmen, die den Verhaltensänderungsprozess unterstützen. Auch das verbreitete HAPA-Modell (Schwarzer 2004, S. 90ff) beschreibt den Prozess der Verhaltensänderung als Folge von Selektionen (Motivation, Planung, Durchführung) die in Abhängigkeit von verwendeten Situationsdefinitionen und Selbstkonzepten (etwa hohe und geringe Selbstwirksam59
Die Interaktion könnte im Orientierungsmodell durch Doppelpfeile zwischen dem Handeln, den Werten und der materiellen Lage der Akteure angedeutet werden.
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keit60) unterschiedlich verlaufen. Die theoretische Basis der Selektionen ist dabei ebenfalls die Werterwartungstheorie. So wird das Modell der Frame-Skript-Selektion in den drei Stadien des HAPA-Modells zu vergleichbaren Verhaltensprognosen kommen. Es macht die Selektionen der Akteure aber eben auch einer soziologischen Analyse zugänglich, weil es neben individuellen auch soziale Determinanten des Verhaltens berücksichtigt. Die über das allgemeine Orientierungsmodell der gesellschaftlichen Produktion gesundheitlicher Ungleichheiten und seine theoretische Fundierung anhand des Modells der Frame-Skript-Selektion aufgebaute mehrdimensionale Betrachtung soll es ermöglichen, den sozialen Wandel gesundheitlicher Ungleichheit integriert zu erklären. Mit Blick auf die veränderte Relevanz der sozialen Kategorien, soll sich nun nicht nur erschließen warum, sondern auch wie sich gesundheitliche Ungleichheiten wandeln. Das Modell soll es erlauben, den Wandel der gesundheitlichen Relevanz von sozialen Kategorien zu beschreiben und zu prognostizieren. Es wird davon ausgegangen, dass der Wandel gesundheitlicher Ungleichheiten die Folge des sozialen Wandels ist, wenn dieser zur Veränderung der Situationen von Akteuren in sozialen Kategorien führt. Die fortgesetzte gesellschaftliche Produktion gesundheitlicher Ungleichheiten basiert dabei theoretisch auf der Vorstellung der sozialen Nutzenproduktion.61 Aufbauend auf diesem Zugang einer integrierten Analyse gesundheitlicher Ungleichheiten und der Argumentation zum Wandel der Relevanz sozialer Kategorien sollen werden nun untersuchungsleitende Hypothesen zum Wandel gesundheitlicher Ungleichheiten aufgestellt. Ziel ist es zu erklären, wie sich Veränderungen in der materiellen und psychosozialen Lage der Akteure im Gefüge sozialer Ungleichheit auf ihr Gesundheitsverhalten und ihren Gesundheitszustand auswirken. Hinsichtlich des Bedeutungswandels sozialer Kategorien wurde die These aufgestellt, dass soziale Kategorien nur insofern relevant sind, als sie den Zugang zu primären Zwischengütern strukturieren.62 Materieller Wohlstand und das psychosoziale Wohlbefinden sind wichtige Zwischengüter. Aus Perspektive der Medizinsoziologie sind sie zudem gesundheitsrelevant, weil sie mit dem Handeln und der Gesundheit der Akteure assoziiert sind. Gesundheitsbezogene Einstellungen müssen ebenfalls bei der Erklärung des Wandels gesundheitlicher Ungleichheiten berücksichtigt werden. Sie stellen Frames mit hoher Passung auf 60
Das Konzept der Selbstwirksamkeit stellt einen Frame dar, den Akteure selektieren, wenn sie über eine Verhaltensänderung nachdenken. Eine hohe Selbstwirksamkeit beutetet, dass der Frame „Ich bin mir sicher, dass ich … schaffen kann“ in einer entsprechenden Situation ein hohes Match hat und daher automatisch-spontan selektiert wird. 61 Vgl. Abschnitt 2.1.4. 62 Vgl. Abschnitt 2.1.4.
Theoretischer Hintergrund
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Entscheidungssituationen mit Gesundheitsbezug dar und werden daher mit hoher Wahrscheinlichkeit selektiert, wenn Handlungen – zumindest der Wahrnehmung nach – einen Einfluss auf die Gesundheit haben. Kulturelle medizinsoziologische Ansätze betonen zudem, dass diese Frames, sofern sie sich in einem gesundheitsbezogenen Habitus bündeln, entscheidend zur Reproduktion von gesundheitlichen Ungleichheiten beitragen. Aufbauend auf den drei Determinanten, die in mikrosoziologischen Ansätzen als relevant erachtet werden, lässt sich die soziale Strukturierung der Gesundheit in einer einfachen Formel verdichten (Formel 4). Formel 4:
Determinanten der Veränderung von Gesundheitsverhalten und gesundheitlicher Lage
' Gi
'M * lm ,i * bm ,i 'P * l p ,i * b p ,i 'W * l w ,i * bw ,i ei
mit 'H i
'M * lm ,i * bm ,i 'P * l p ,i * b p ,i 'W * l w ,i * bw ,i ei
'Wi
'M * lm ,i * bm ,i 'P * l p ,i * b p ,i ei
Quelle: Eigene Darstellung In der Formel wird die Veränderung von Indikatoren des Gesundheitszustands (ǻG), gesundheitsrelevanter Handlungen (ǻH) und gesundheitsbezogener Werte (ǻW) innerhalb von Gruppierungen im Gefüge sozialer Ungleichheiten (i) über eine einfache lineare Gleichung spezifiziert. Die Hypothese ist, dass der Wandel der drei Indikatoren auf die Veränderung der materiellen und psychosozialen Lage (ǻM, ǻP) und ggf. der gesundheitsbezogenen Werte (ǻW) der Akteure in den Gruppierungen zurückgeführt werden kann. Es wird dabei berücksichtigt, dass sich die Folgen der Veränderungen in den Situationen und Einstellungen der Akteure jeweils mit einer zeitlichen Verzögerung einstellen können. So geht etwa nach dem HAPA-Modell (Schwarzer 2004, S. 90) der Veränderung des Gesundheitsverhaltens ein längerer motivationaler Prozess voraus. Zudem erfordert auch die Veränderung biologischer Parameter häufig eine gewisse Expositionsdosis und Expositionsdauer. So hängt etwa das Lungenkrebsrisiko von Rauchern stark von der Länge des Tabakkonsums ab (Godtfredsen et al. 2005). Die verzögerten Auswirkungen von Veränderungen des Explanans werden formal anhand eines Latenzgewichtes (0: maximale Latenz l 1: keine Latenz) berücksichtigt. Das maximal prognostizierte Ausmaß der Veränderungen in der gesundheitlichen Lage oder im Gesundheitsverhalten ergibt sich aus dem
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Theoretischer Hintergrund
Produkt der jeweiligen Veränderungen in den drei betrachteten erklärenden Dimensionen (¨M, ¨P, ¨W) und deren relativer Bedeutung (bm, bp, bw) für die jeweilige abhängige Variable, wenn ein Latenzgewicht von l=1 (keine Latenz) angenommen wird. Die Veränderung gesundheitlicher Ungleichheiten (V) lässt sich aufbauend auf den gruppenspezifischen Veränderungen als Differenz des Wandels in der unteren und oberen Gruppe (i) beschreiben: Formel 5:
Wandel von Ungleichheiten in der gesundheitlichen Lage, im Gesundheitsverhalten und in gesundheitsbezogenen Einstellungen
'VG , k
' Gik 1 ' Gi k
'VH , k
' H ik 1 ' H ik
0
'VW , k
'Wik 1 'Wik
0
0
Im empirischen Teil sollen fünf Dimensionen gesundheitlicher Ungleichheit untersucht werden: das selbstberichtete Achten auf die eigene Gesundheit als Indikator für gesundheitsbezogene Einstellungen und Frames, die Häufigkeit sportlicher Aktivitäten und der aktuelle Tabakkonsum als Indikatoren für das Gesundheitsverhalten und aktuelles schweres Übergewicht (Adipositas) und der selbstberichtete allgemeine Gesundheitszustand als Indikatoren für die gesundheitliche Lage der Akteure. Um die Veränderung gesundheitlicher Ungleichheiten für diese Dimensionen zu prognostizieren, muss die Relevanz der materiellen und psychosozialen Lage (und ggf. der gesundheitsrelevanten Einstellungen) für jede der Dimensionen gesondert ermittelt werden. Anhand der Daten des telefonischen Gesundheitssurveys 2006, der zwischen Oktober 2005 und März 2006 am Robert Koch-Institut mit 5542 Befragten durchgeführt wurde, werden diese Gewichte anhand von multivariaten linearen Regressionsmodellen geschätzt.63 Als Indikator der materiellen Lage wird das Äquivalenzeinkommen der Befragten, als Indikator der psychosozialen Lage ihre allgemeine Lebenszufriedenheit und als Indikator für gesundheitsbezogene Einstellungen das starke Achten auf 63
Weitere Erläuterungen zu den Indikatoren finden sich im Abschnitt 3.2. Aufbauend auf dem theoretischen Modell wurde zuerst der Einfluss der materiellen auf die psychosoziale Lage herauspartialisiert, indem die Lebenszufriedenheit in einem Regressionsmodell auf das logarithmierte Einkommen und die Interaktion zwischen Einkommen und Geschlecht zurückgeführt wurde. Dann wurden für die einzelnen Gesundheitsindikatoren geschlechtspezifische Regressionsmodelle berechnet, in denen die Gesundheitsindikatoren unter Kontrolle des Alters auf das Einkommen und die Residuen der Lebenszufriedenheit zurückgeführt wurden. Die standardisierten Koeffizienten beider Variablen wurden dann durch ihre gemeinsame Summe geteilt und das Ergebnis (0 br,x 1) als Maß der relativen Bedeutung verwendet.
Theoretischer Hintergrund
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die eigene Gesundheit verwendet. Dabei wurden der Einfluss der materiellen Lage auf die psychosoziale Lage der Befragten und der Einfluss der materiellen und psychosozialen Lage auf gesundheitsbezogene Einstellungen statistisch herausgerechnet. Die in den Formeln dargestellten, vereinfachten Koeffizienten (gerundet auf ±0.05) beschreiben den standardisierten linearen Einfluss der Merkmale auf die standardisierte Prävalenz des abhängigen Merkmals (Formel 6).64 Formel 6:
Prognose der Veränderung von fünf Gesundheitsindikatoren
(1) ǻWAchten auf e. G.
0.00 ǻM l m,achten 0.15 ǻP l p,achten
(2) ǻH Nicht rauchen
0.05 ǻM l m,rauchen 0.10 ǻP l p,rauchen
0.20 ǻW l w,rauchen e
(3) ǻH Sport
0.05 ǻM l m,Sport
0.10 ǻW l w,Sport
(4) ǻG Keine Adipositas
0.05 ǻM l m,Adipositas 0.05 ǻP l p,Adipositas 0.05 ǻW l w,Adipositas e
(5) ǻG Zustand
0.15 ǻM l m,Zustand 0.20 ǻP l p,Zustand
0.05 ǻP l p,Sport
e
e
0.00 ǻW l w,Zustand e
Datenbasis: GSTel 2006, standardisierte und gerundete lineare Effekte auf die Prävalenz Die Formeln machen deutlich, dass sowohl eine Ausweitung der sozialen Unterschiede in der materiellen Lage als auch eine Ausweitung hinsichtlich der psychosozialen Lage oder hinsichtlich gesundheitsrelevanter Einstellungen deutliche Auswirkungen auf die Struktur gesundheitlicher Ungleichheiten hat. Aufbauend auf den so spezifizierten Determinanten des Wandels gesundheitlicher Ungleichheiten lassen sich auch die Folgen der drei alternativen Szenarien zum Wandel sozialer Ungleichheiten spezifizieren.65 Nach der Strukturierungsthese von der anhaltenden Relevanz der vertikalen Dimensionen sozialer Ungleichheit sind Bildung und Berufsstatus auch weiterhin relevante Determinanten der materiellen Lage und der Lebenschancen der Akteure. Demnach müssten sie die materielle und auch die psychosoziale Lage – wenn auch nicht die Einstellungen – der Akteure anhaltend stark, aber nicht zwingend stärker strukturieren. Nach der Entstrukturierungsthese verringert sich dagegen die lebensweltliche Bedeutung 64
Geschlechtsspezifische Analysen ergaben, dass sich die relative Bedeutung der beiden Dimensionen im Vergleich von Männern und Frauen nicht signifikant unterscheidet, sodass die Formeln nicht geschlechtsdifferenziert aufgestellt werden mussten. 65 Vgl. Abschnitt 2.1.4.
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Theoretischer Hintergrund
dieser Determinanten. Folglich müssten sie die psychosoziale Lage und die Werte der Akteure weniger stark strukturieren, selbst wenn sich ihre materielle Bedeutung nicht verändert oder sogar verstärkt. Die Exklusionsthese beschreibt einen Wandel der dominanten Ungleichheitsdimensionen weg von Bildung und Berufsstatus hin zur Erwerbsbeteiligung (Ausschluss vom Arbeitsmarkt) und zu Armut (gemessen anhand von Einkommenspositionen). Demnach müssten hier die größten Differenzen in der materiellen und psychosozialen Lage bestehen. Es stünde außerdem zu befürchten, dass die Differenzen weiter zunehmen. Damit stehen für die drei Szenarien folgende Veränderungen gesundheitlicher Ungleichheiten zu erwarten:
Sollte die Strukturierungsthese zutreffen, die eine anhaltende Relevanz von Berufsposition und Bildung postuliert, wären für beide Determinanten konstante Unterschiede bei den fünf Gesundheitsindikatoren zu erwarten. So impliziert die These eine anhaltende Bedeutung für die materielle und psychosoziale Lage der Akteure. Eine Dynamik wäre hier allenfalls durch eine Veränderung gesundheitsbezogener Einstellungen zu erwarten. Die Entstrukturierungsthese geht von einer sinkenden Relevanz der Bildung und der beruflichen Position der Akteure für die Einstellungen und die psychosoziale Lage der Menschen, nicht aber von der Verringerung materieller Unterschiede aus. Weil die psychosoziale Lage und gesundheitsbezogene Einstellungen hinsichtlich aller Gesundheitsdimensionen eine vergleichsweise große Bedeutung haben, stünde nach der These eine Verringerung von Ungleichheiten hinsichtlich Bildung und Berufsstatus für alle Gesundheitsdimensionen zu erwarten. Die Exklusionsthese impliziert, dass Armut und Arbeitslosigkeit die wichtigsten Determinanten der materiellen und psychosozialen Lage sind. Kennzeichen einer Entwicklung in Richtung der Exklusionsthese ist eine fortschreitende soziale Ausgrenzung der Armutsrisikogruppe und der arbeitslosen Bevölkerung. Infolge dieser Ausweitung wäre auch eine Zunahme der Unterschiede für alle fünf Gesundheitsdimensionen zu befürchten.
Es wurde dargestellt, dass sich aufbauend auf den vorliegenden makro- und mikrosoziologischen Erklärungsansätzen der Sozialepidemiologie ein integriertes Modell der gesellschaftlichen Produktion gesundheitlicher Ungleichheiten entwickeln lässt, das den Wandel gesundheitlicher Ungleichheiten einer soziologischen Erklärung zugänglich macht. Die Veränderungen von sozialen Systemen, die Veränderungen der Strukturen sozialer Ungleichheiten und die Veränderung der physischen, psychischen und sozialen Gesundheit der Menschen
Theoretischer Hintergrund
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erscheinen so nicht mehr als getrennte soziale Sachverhalte, sondern vielmehr als sich gegenseitig bedingende Folgen des sozialen Wandels. Die hier entwickelte und nachfolgend empirisch zu falsifizierende These lautet folglich, dass sich durch die Veränderung der materiellen und psychosozialen Situation und der gesundheitsbezogenen Einstellungen der Akteure die Veränderung ihrer gesundheitlichen Lage und der Wandel gesundheitlicher Ungleichheiten zwischen Gruppierungen von Akteuren erklären lässt.
3 Soziale Ungleichheiten im Wandel
Im letzten Kapitel wurde argumentiert, dass der Wandel gesundheitlicher Ungleichheiten durch den Bezug auf strukturelle Veränderungen ursächlich erklärt werden sollte. Das Argument lautete, verkürzt dargestellt, dass die Stellung im Gefüge sozialer Ungleichheiten, die durch soziale Kategorien abgebildet wird, die Gesundheit der Menschen nur in dem Maße strukturieren, wie sie auch für ihr Handeln relevant sind. Der Wandel der Relevanz sozialer Kategorien ist also eine Bedingung für den Wandel gesundheitlicher Ungleichheiten. Er lässt sich an einer veränderten Prägungskraft von Determinanten gesellschaftlicher Lagen, wie Bildung, Berufs- und Erwerbsstatus oder Einkommen, für die Lebenswelt der Akteure festmachen. Dem Staat – und insbesondere dem Sozialstaat – kommt in diesem Zusammenhang eine wichtige Prägungskraft zu. Er beeinflusst ob und wie stark sich wirtschaftliche Entwicklungen und Krisen auf das Leben der Bürgerinnen und Bürger in sozialen Kategorien auswirken. Ausgangspunkt der folgenden Ausführungen ist eine Analyse der Entwicklung und Herausforderungen der deutschen Sozialpolitik zwischen 1984 und 2006. Es wird nachgezeichnet, wie sich der deutsche Sozialstaat in den letzten zwei Dekaden strukturell verändert hat. Aufbauend auf diesen Entwicklungen wird anschließend beschrieben, wie sich die Strukturen sozialer Ungleichheiten in Deutschland verändert haben. Dabei werden auch Bezüge zu anderen Wohlfahrtsstaaten hergestellt. Es wird herausgearbeitet, ob die gesellschaftliche Stellung seit 1984 eher wichtiger oder eher unwichtiger für die materielle und psychosoziale Lage der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland geworden ist. Aus der Ungleichheitsforschung lassen sich dazu drei verschiedene Thesen ableiten, die jeweils unterschiedliche folgen für die verschiedenen Determinanten gesellschaftlicher Lagen hätten.66 Sie können unter den Begriffen ‚Strukturierungsthese’, ‚Entstrukturierungsthese’ und ‚Exklusionsthese’ zusammengefasst werden. Nach der Strukturierungsthese wären im Hinblick auf Bildungs- und Berufsgruppen konstante oder ausweitende Ungleichheiten im Zugriff auf Zwischengüter zu erwarten. Nach der Entstrukturierungsthese stünden dagegen sinkende Differenzen für diese Determinanten zu erwarten. Die Exklusionsthese
66
Vgl. Abschnitt 2.1.4 auf Seite 51.
Soziale Ungleichheiten im Wandel
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postuliert demgegenüber, dass Lebenschancen dagegen zunehmend über die Erwerbsbeteiligung oder das Einkommen bestimmt werden. 3.1 Wandel des Sozialstaats Nationalstaaten, die ein Institutionengefüge zur sozialen Absicherung der Bevölkerungsmehrheit haben, werden auch als Wohlfahrtsstaaten bezeichnet (Ullrich 2005, S. 17, Kaufmann 2003, S. 39). Der Begriff bezeichnet dabei kein spezifisches, sondern ein prinzipiell offenes und wandelbares Ausmaß der Gewährleistung sozialer Rechte und sozialer Sicherheit. Zudem legt der Begriff nicht fest, wer die Sicherungssysteme finanziert und verwaltet. Wohlfahrtsstaaten sind zudem lediglich die aktuelle Ausprägung eines wandelbaren Arrangements, das sich immer wieder neu an Anforderungen der Bürger und Umwelt anpassen muss (Kaufmann 2003, S. 37). Der Ausdruck Sozialstaat wird im deutschsprachigen Raum verwendet, um die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland von den Systemen in anderen Wohlfahrtsstaaten abzugrenzen (Alber 2001). Als Sozialpolitik wird das Eingreifen des Staates in die sozialen Sicherungssysteme bezeichnet. In der Entwicklung der modernen Wohlfahrtsstaaten lassen sich dabei drei Bereiche unterscheiden, die für die Sozialpolitik von besonderer Bedeutung waren (Kaufmann 2003, S. 47ff). Die Regulierung der Arbeitsverhältnisse (Streik- und Tarifrecht, Arbeitsschutz, Beschäftigungspolitik usw.), die soziale Absicherung gegen typische Lebensrisiken (Alter, Arbeitslosigkeit, Krankheit usw.) und die Gewährung staatlich subventionierter Dienstleistungen (Bildungswesen, Gesundheitswesen, Wohnungsbau). 3.1.1 Herausbildung moderner Wohlfahrtsstaaten Der Zeitpunkt der „Erfindung der Sozialpolitik“ und des Sozialstaats ist umstritten (Ullrich 2005, S. 20). Je nachdem ob Sozialpolitik allgemein als eine kollektive Daseinsvorsorge oder speziell als die staatlich organisierte Daseinsvorsorge verstanden wird, lässt sich die Entstehung von Wohlfahrtsstaaten unterschiedlich früh ansetzen. So gab es bereits in der Antike und im Mittelalter eine kollektiv organisierte Absicherung der Bevölkerung (Ullrich 2005). Der wichtigste Unterschied zwischen diesen frühen Formen der Vorsorge und den späteren staatlichen Programmen ist die rechtliche Anerkennung einer staatlichen Verpflichtung zur Daseinsvorsorge (Alber 1982, S. 27, Marshall 1950). Im Sinne der engeren Definition des Begriffs sind drei Gesetzesinitiativen exemplarisch für den Beginn der modernen staatlich organisierten Sozialpolitik (Kaufmann 2003, S. 44f, S. 96f, S. 269f): Die englische Armengesetzgebung (1598/1601), die gesetzlich geregelte Veteranenfürsorge in den USA im Anschluss an den amerikanischen
90
Soziale Ungleichheiten im Wandel
Bürgerkrieg (1861/1865) und die Etablierung der staatlichen Sozialversicherungen gegen die Risiken Krankheit (1883), Berufsunfall (1884) und Alter (1889) im deutschen Kaiserreich67. Ausgehend von diesen frühen staatlichen Initiativen erlebte die staatliche Sozialpolitik zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihren Durchbruch. Innerhalb von nur vierzig Jahren wurde zwischen 1880 und 1920 in den meisten Marktwirtschaften Europas, Amerikas und Asiens Sozialversicherungen eingeführt, die Arbeiter vor Einkommensverlusten durch Invalidität, Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Verwitwung zu schützen (Skocpol und Amenta 1986, Flora und Alber 1981). Zu den Faktoren, die zur Entstehung moderner Wohlfahrtsstaaten geführt haben, gibt es konkurrierende Theorien, die auch als politische Ökonomien68 des Wohlfahrtsstaates bezeichnet werden (Ullrich 2005, S. 28ff, Esping-Andersen 1990, S. 12ff, Skocpol und Amenta 1986, Alber 1982, S. 72ff). In der Diskussion stehen dabei vor allem vier Ansätze (Ullrich 2005, S. 28ff): Funktionalistische Ansätze gehen, im Sinne des Strukturfunktionalismus nach Parsons (1951), von einer Unvermeidbarkeit der Herausbildung moderner Wohlfahrtsstaaten im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung aus. So habe die „Logik der Industrialisierung“ die Organisation sozialer Sicherung zur Bewältigung ihrer sozialen Begleiterscheinungen, wie Urbanisierung oder soziale Mobilisierung, notwendig gemacht (Wilensky 1975). Konflikttheoretische Ansätze liefern dagegen Hinweise auf die Bedeutung politischer Aushandlungsprozesse bei der Ausgestaltung und Entwicklung der sozialen Sicherungssysteme. So heben diese Ansätze insbesondere die Bedeutung von Koalitionen der Arbeiterklasse (Offe und Keane 1984), die Bedeutung der sozialdemokratischen und bürgerlichen Parteien oder auch den Einfluss der Mittelklassen (Goodin und Le Grand 1987) oder die Interessen der Versorgungsklassen des Wohlfahrtsstaates als hauptsächliche Profiteure von wohlfahrtsstaatlichen Leistungen selbst hervor (Lepsius 1979, Alber 1984). Kulturelle Ansätze verweisen auf die Bedeutung der dominanten Sozialethik für die Ausgestaltung ihres Wohlfahrtsstaates. Sie konnten zeigen, dass die Akzeptanz von liberalen oder sozialistischen politischen Ideologien (Rimlinger 1971) oder auch die konfessionelle Prägung der Bevölkerung durch den evange67
In Deutschland war der Einführung von Sozialversicherungen die Verarmung erheblicher Bevölkerungsgruppen durch Abschaffung feudaler Bindungen auf dem Land oder durch schlechte Wohn- und Arbeitsbedingungen in den Städten vorausgegangen. Als Reaktion bildeten sich in Deutschland in den Jahren 1863 und 1869 Arbeiterparteien, die mit ihrem Zusammenschluss 1875 an Macht gewannen und aus Sicht des Reichskanzlers Bismarck zur Bedrohung für die bestehende Ordnung wurden (Kaufmann 2003, S. 261). 68 Wie Esping-Andersen zu Recht anmerkt, beziehen sich die Erklärungsansätze auf die Vertreter der klassischen politischen liberalen, marxistischen oder konservativen Ökonomie – namentlich die Marx und Engels, die Liberalen Adam Smith, Nassau und J.S. Mill sowie die deutschen Konservativen F. List, A. Wagner und G. Schmoller (Esping-Andersen 1990, S. 9ff).
Soziale Ungleichheiten im Wandel
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lisch-lutherischen Protestantismus, den Calvinismus oder den Katholizismus (Manow 2002) einen bedeutenden Einfluss auf die Ausgestaltung der Sozialpolitik hatten. Zudem wird auf die Bedeutung von internationalen Diskursen und das Lernen am Beispiel anderer Staaten verwiesen (Bergesen 1980). Eine vierte Argumentationslinie zur Erklärung der Entstehung und Entwicklung wohlfahrtsstaatlicher Politik sind institutionalistische Ansätze. Sie gehen aus unterschiedlichen Perspektiven auf die Rolle des Staates sowie seiner Institutionen und Eliten bei der Gestaltung der Sozialpolitik ein. Staatszentrierte Argumentationen beschrieben die Bedeutung der Entwicklung der staatlichen Bürokratie (de Swaan 1988), andere die besondere Rolle der Eliten oder auch die Notwendigkeit der sozialen Sicherungssysteme zur Stärkung der wehrfähigen Bevölkerung (Flora und Alber 1981). Eine weitere Richtung der institutionellen Argumentation ist die These von der Pfadabhängigkeit sozialstaatlichen Handelns. So entwickelt sich in demokratisch verfassten Gesellschaften eine Eigendynamik, die weniger politisch gesteuert als vielmehr von den Ansprüchen der Bevölkerung getragen ist (Wilensky 1975, 1976, Esping-Andersen 1978, Orloff und Skocpol 1984). In der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung haben wir heute anerkannt, dass die Herausbildung der heutigen Sicherungssysteme nicht auf eine einzelne Ursache zurückgeführt werden kann, sondern eher als Folge eines komplexen Zusammenwirkens der verschiedenen Prozesse zu interpretieren ist (Ullrich 2005, S. 15ff, Esping-Andersen 1990, S. 18ff, Kaufmann 2003, S. 30ff). Moderne Wohlfahrtsstaaten haben nicht nur eine jeweils eigene Entstehungsgeschichte, sie zeichnen sich auch jenseits von Sozialleistungsquoten durch einen Variantenreichtum wohlfahrtsstaatlicher Systeme aus. Einer der ersten Autoren, die Wohlfahrtsstaaten nicht nur modernisierungstheoretisch über ihren häufig durch die Sozialleistungsquote gemessenen Entwicklungsstand, sondern qualitativ über ihre Institutionen und Ziele beschrieben hat, war Richard Titmuss (Titmuss 1958, S. 42f). Er unterschied die westlichen Wohlfahrtsstaaten hinsichtlich der Bedeutung des Marktes bei der Gewährleistung sozialer Sicherheit. Dabei traten drei Varianten ins Blickfeld (Titmuss et al. 1974): Residuale Wohlfahrtsstaaten, die lediglich die Grundversorgung für Bedürftige bereitstellen und eine weitergehende Absicherung dem Markt oder den Familien überlassen, Meritokratische Wohlfahrtsstaaten, die ihre Bevölkerung durch die Leistungen beitragspflichtiger Sozialversicherungen absichern und Institutionelle Wohlfahrtsstaaten, die umfangreiche soziale Rechte und Leistungen staatlich garantieren und finanzieren. Das mittlerweile klassischen Buch „The three worlds of welfare capitalism“ des Soziologen Gøsta Esping-Andersen verknüpfte die theoretischen und historischen Arbeiten zur Entstehung von Wohlfahrtsstaaten erstmals mit der empirischen Forschung zu den Varianten verschiedener Wohlfahrtsregime
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Soziale Ungleichheiten im Wandel
(Esping-Andersen 1990). Dabei wird die bereits bei Titmuss angelegte Vorstellung der drei Welten wohlfahrtsstaatlicher Arrangements aufgegriffen und anhand einer Typologie idealtypischer historischer Entwicklungen ergänzt. EspingAndersen geht davon aus, dass die Entstehung der modernen Wohlfahrtsstaaten vorrangig durch das Ausbrechen von Klassenkonflikten und die daran anschließenden politischen Prozesse zu erklären ist. Die Unterschiede zwischen den modernen Wohlfahrtsstaaten führt er dagegen auf die Geschichte ihrer wohlfahrtsstaatlichen Institutionen und den Wandel der Wahrnehmung und Bewertung dieser Institutionen durch die Bevölkerungen zurück. “The historical forces behind the regime differences are interactive. They involve, first the pattern of working-class political formation and, second, political coalitionbuilding in transition from a rural economic to a middle-class society. The question of political coalition is decisive. Third, past reforms have contributed decisively to the institutionalization of class preferences and political behaviour.” (Esping-Andersen 1990, S. 32)
Esping-Andersen unterscheidet aufbauend auf diesen Prozessen drei Typen von Wohlfahrtsregimen: Den liberalen, den konservativen und den sozialdemokratischen Typ (Tabelle 3). Jeden Typ sieht er durch eigene politische Kräftekonstellationen, typische Entwicklungsmuster, spezifische Konflikte beim Wandel von industriellen zu post-industriellen Gesellschaften gekennzeichnet (Esping-Andersen 1990, S. 9ff).69 Wichtige empirische Unterscheidungsmerkmale der Systeme sind der Anteil von Staat, Familie und Markt bei der sozialen Absicherung der Bevölkerung, das Ausmaß der sozialen Rechte der Bürgerinnen und Bürger und die Bedeutung sozialer Gleichheit in der sozialpolitischen Agenda (Esping-Andersen 1990). So unterscheiden sich die drei Regime vor allem im Grad der Dekommodifizierung, also der Abhängigkeit der sozialen Reproduktion der Akteure von ihrer eigenen Erwerbstätigkeit. Sozialdemokratische Staaten gewähren ihren Bürgern ein vergleichsweise universelles Niveau der Absicherung und Unabhängigkeit vom Markt, während liberale Staaten sich auf eine Grundsicherung beschränken, so dass ihre Bürger stark auf den Markt angewiesen sind. Konservative Staaten haben zwar umfangreiche Leistungen, koppeln diese aber an Beiträge, die durch eigene Erwerbstätigkeit geleistet werden müssen, so dass sich ein mittlerer Grad der Dekommodifizierung ergibt.
69
Auf die spezifischen Herausforderungen der verschiedenen Arrangements und die Weiterentwicklung des Modells durch Esping-Andersen wird im Abschnitt 3.1.1.2 eingegangen.
Soziale Ungleichheiten im Wandel
93
Tabelle 3: Eigenschaften wohlfahrtsstaatlicher Arrangements nach Gøsta Esping-Andersen Sozialdemokratisch Politische Ökonomie Wichtige Ziele
Leistungsformen Dekommodifizierung
Liberal
Konservativ
Sozialdemokratie
Liberalismus
Konservatismus
Gemeinschaft Gleichheit Sicherheit
Markfähigkeit Freiheit Chancengleichheit
Sicherheit Subsidiarität Statuserhalt
Universelle steuerfinanzierte Leistungen
Staatl. Grundsicherung Staatl. Grundsicherung Freiwillige private Private Pflichtversicherung Vorsorge
Hoch
gering
mittel
Egalitär
Dynamisch, groß
Stabil, mittel
Umverteilung
Hoch
gering
mittel
Wohlfahrtsproduktion
Staat
Markt
Familie
Schweden
USA
Deutschland
Struktur sozialer Ungleichheit
Prototypen
Quellen: Ullrich (2005, S. 47 Abb.2.4), Esping-Andersen (1990, 1999) Ausgehend von den klassischen drei Regimetypen von Gøsta Esping-Andersen (1990) gab es eine Reihe von Vorschlägen zur Kategorisierung von Wohlfahrtsstaaten, in denen die vorhandenen Unzulänglichkeiten und Inkonsistenzen des ursprünglichen Vorschlags überwunden werden sollen (Bambra 2007, Ullrich 2005). Gegenüber den Kriterien, die bereits bei Esping-Andersen (1990) herangezogen wurden, werden dazu zusätzliche Eigenschaften der Wohlfahrtsstaaten verwendet, etwa die Bedeutung der katholischen Soziallehre, protestantischer Sozialethiken und liberaler Traditionen, das Ausmaß von Korruption und die Effizienz der staatlichen Institutionen oder auch die Besonderheiten der postsozialistischen Staaten (Ferrera 1996. Deacon 2000, Manow 2002). Aufbauend auf diesen Kriterien werden in Europa häufig nicht nur mehr nur drei, sondern vielmehr fünf verschiedene Wohlfahrtsregime unterschieden. Nachfolgend wird bei der Einordnung der Befunde zum Ausmaß und zur Entwicklung sozialer und gesundheitlicher Ungleichheiten auf folgende fünf Varianten europäischer Wohlfahrtsregime zurückgegriffen: Sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten zeichnen sich durch eine Kombination von dekommodifizierenden und universellen Programmen aus, die durch eine traditionelle Stärke sozialdemokratischer Parteien gefördert werden (Esping-Andersen 1990, S. 27f). Ziel der Maßnahmen ist die Freisetzung der Bürger aus den Bindungen an Markt oder Familie und der Abbau sozialer Ungleichheit. Kennzeichnend für diesen Typ ist eine Mischung aus Sozialismus und Liberalismus. Die Programme gehen deutlich über das Niveau einer Grundsicherung hinaus und sind am Standard der mittleren sozialen Statusgruppen orien-
94
Soziale Ungleichheiten im Wandel
tiert. Der Staat erreicht dadurch ein erhebliches Maß an Umverteilung der Einkommen über Transferzahlungen und soziale Dienste. Allerdings hat sich der hohe Grad von Dekommodifizierung erst in der Folge des 2. Weltkrieges in diesen Ländern durchgesetzt und steht mit dem Machtgewinn sozialdemokratischer Parteien in der Nachkriegszeit in Verbindung (Esping-Andersen 1990, S. 53). In Europa entsprechen u.a. die Länder Schweden und Dänemark diesem Typus. Die liberalen Wohlfahrtsstaaten sind nicht darauf aus, in die Verteilung durch den Markt dekommodifizierend einzugreifen (Esping-Andersen 1990, S. 26f). Die staatliche Sozialpolitik beschränkt sich auf die Gewährung von Chancengleichheit, die sie durch strikte gesetzliche Maßnahmen zu garantieren versuchen. Die geringe Bedeutung des Staates in liberalen Wohlfahrtsstaaten geht auf den Einfluss des Calvinismus und protestantischer Freikirchen zurück. In liberalen Staaten kommt den Individuen traditionell eine hohe und dem Staat eine vergleichsweise geringe Verantwortung für die soziale Sicherung zu (Manow 2002, Kaufmann 1988). Die wirtschaftliche Lage wird auf das individuelle Verhalten zurückgeführt. Liberale Staaten leisten daher kaum eine vertikale Umverteilung von Ressourcen in nennenswertem Umfang.70 Die Bürger sollen in ihrer ökonomischen Freiheit so wenig wie möglich eingeschränkt werden, um so für alle das Bestmögliche zu erreichen. Die wohlfahrtsstaatlichen Programme liberaler Staaten gewähren nach einer Überprüfung der Bedürftigkeit den Zugang zu Leistungen auf einem niedrigen Niveau. Beispiele für liberale Staaten sind die USA, Kanada und auch Australien. In Europa kommen Großbritannien, die Niederlande und Irland den liberalen Idealen am nächsten. Die Gruppe der konservativen Wohlfahrtsstaaten, zu denen auch Deutschland gezählt wird, orientiert sich am Subsidiaritätsprinzip71 der katholischen Soziallehre (Manow 2002, Kaufmann 1988). Das Ziel staatlichen Handelns ist in diesen Staaten die Gewährung von Statussicherheit unter Beibehaltung der Verantwortung von Individuum und Familie (Esping-Andersen 1990, S. 27). Die Sozialversicherungen sind überwiegend status- und haushaltsbezogen. Dadurch 70
Eine temporäre Ausnahme bildet Großbritannien. Im Zuge der Stärke der Labour Partei konnten hier nach dem zweiten Weltkrieg im Zuge des Beveridge-Plans (1942) dekommodifizierende Reformen durchgesetzt werden (Kaufmann 2003, S. 144ff, Esping-Andersen 1990, S. 53). Die Wirkung der Reformen verblasste allerdings spätestens ab 1979 durch die rigide Sparpolitik der Regierung Thatcher. 71 Der Subsidiaritätsgedanke wurde mit der Enzyklika „Quadragesimo Anno“ offizieller Teil der katholischen Soziallehre. In der offiziellen englischen Übersetzung heißt es (Pius XI 1931): „80. The supreme authority of the State ought, therefore, to let subordinate groups handle matters and concerns of lesser importance […] Therefore, those in power should be sure that the more perfectly a graduated order is kept among the various associations, in observance of the principle of "subsidiary function, [sic!]” the stronger social authority and effectiveness will be the happier and more prosperous the condition of the State. “
Soziale Ungleichheiten im Wandel
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werden nicht arbeitende Frauen benachteiligt und die traditionelle Arbeitsteilung zwischen weiblicher Familien- und männlicher Erwerbsarbeit gefördert. Beispiele für konservative Wohlfahrtsstaaten sind, neben Deutschland, etwa die kontinentaleuropäischen Länder Österreich und Frankreich. Aufgrund der großen Heterogenität der konservativen Staaten werden innerhalb dieser Gruppe zumeist die korporatistischen Staaten Zentraleuropas mit starken staatlichen Institutionen und einem hohem Grad der Mitbestimmung und Beteiligung der Soziapartner aus Arbeit und Kapital von den südeuropäischen Staaten unterschieden (Ferrera 1996, Deacon 2000). Die südeuropäischen Staaten sind eine Untergruppe der konservativen Staaten (Ferrera 1996). Bei ihnen sind die staatlichen Institutionen im Gegensatz zu den zentraleuropäischen Wohlfahrtsstaaten deutlich weniger einflussreich. Die wohlfahrtsstaatlichen Leistungen (bspw. Arbeitslosenbeihilfen oder Renten) sind zugleich fragmentierter als in anderen konservativen Staaten. Für große Bevölkerungsteile steht dadurch keine Absicherung bereit, während andere überdurchschnittlich gut versorgt sind. Ihre sozialen Dienste – wie das Gesundheitswesen – sind dagegen ähnlich umfassend wie in den sozialdemokratischen Staaten. Diese Widersprüche erklären sich aus einer Orientierung der Parteien an partikularen Interessen und durch starke sozialistische Strömungen. So werden politische Loyalitäten in der Bevölkerung häufig mit sozialstaatlichen Zugeständnissen erkauft. Beispiele für südeuropäische Staaten sind Italien und Portugal. Die postkommunistischen Staaten Osteuropas haben ihre Wohlfahrtsregime im Zuge des Transformationsprozesses nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion grundlegend geändert (Deacon 2000). Einflussreich waren dabei die Vorgaben internationaler Kreditgeber, wie der Weltbank, die einen schlankeren Staat gefordert haben. Ausgehend von einer Staatszentrierung sozialer Dienste unter kommunistischer Herrschaft haben sie sich daher in den 1990er Jahren eher in Richtung der liberalen Wohlfahrtsregime entwickelt. Insgesamt gab es in vielen osteuropäischen Staaten die Tendenz des ‚Sozialdumpings’, um die öffentlichen Finanzen zu konsolidieren und Wachstum zu fördern. So wurden etwa staatliche Transferleistungen beschränkt, um mit niedrigen Lohnkosten Investitionen anzuziehen oder die Finanzierung sozialer Dienste in den Bereichen Bildung und Gesundheit verstärkt privatisiert. Beispiele für osteuropäische Staaten auf unterschiedlichen Stufen des Transformationsprozesses sind Bulgarien und Tschechien. Alle 27 aktuellen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union entsprechen mehr oder weniger den fünf geschilderten Typen von Wohlfahrtsregimen. In der Literatur finden sich allerdings divergierende Zuordnungen einzelner Staaten
96
Soziale Ungleichheiten im Wandel
(Ullrich 2005, Bambra 2007).72 Insbesondere die Niederlande und England stellen immer wieder Grenzfälle dar, weil sie Eigenschaften unterschiedlicher Regime haben (Manow 2002). Nachfolgend wurde, aufbauend auf der Typologie Esping-Andersens (1990) sowie den Arbeiten von Ferrera (1996) und Deacon (2000), folgende Einteilung vorgenommen:
Sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten Dänemark, Finnland, Schweden Konservative Wohlfahrtsstaaten Belgien, Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Niederlande, Österreich Südeuropäische Wohlfahrtsstaaten Griechenland, Portugal, Italien, Spanien, Malta, Zypern Osteuropäische Wohlfahrtsstaaten Bulgarien, Tschechien, Estland, Lettland, Litauen, Ungarn, Polen, Rumänien, Slowakei, Slowenien Liberale Wohlfahrtsstaaten Großbritannien, Irland
Der Wohlfahrtsstaat ist in der Moderne der wichtigste Mittler zwischen Markt und Individuum (Alber 2001). Seine Institutionen bestimmen, inwieweit sich die am Markt entstehenden ökonomischen Ungleichheiten auf die Lebenswelt und die Lebenschancen der Menschen auswirken. Die europäischen Wohlfahrtsstaaten haben heute gemeinsam, dass sie ihren Bürgern einen grundlegenden Schutz vor existenzieller materieller Not und Risiken wie Arbeitslosigkeit, Alter, Krankheit, Invalidität, Pflegebedürftigkeit oder Verlust des Ernährers bieten (Schmidt 2005, S. 273). Sie verringern dadurch soziale Konflikte und tragen zur politischen Stabilität und wirtschaftlichen Entwicklung bei. Die Differenzierung von Wohlfahrtsregimen hilft dabei, die verschiedenen Varianten wohlfahrtsstaatlicher Lösungen sozialer Probleme zu beschreiben und dadurch die Ursachen und Entwicklung sozialer Ungleichheiten in modernen Wohlfahrtsstaaten besser zu verstehen. 3.1.2 Der Sozialstaat der alten Bundesrepublik Die Entwicklung der deutschen Sozialpolitik seit Einführung der Bismarckschen Sozialversicherungen wurde von Niklas Luhmann durch die These von der ‚doppelten Inklusion’ durch den Wohlfahrtsstaat charakterisiert (Luhmann 1981). Der Begriff beschreibt, dass im Verlauf des 20. Jahrhunderts nicht nur immer mehr 72
Für eine Übersicht über alternative Zuordnungsmöglichkeiten vgl. Bambra (2007).
Soziale Ungleichheiten im Wandel
97
Adressatengruppen, sondern auch immer umfangreichere Leistungen in den Sozialstaat integriert bzw. durch ihn garantiert wurden (Alber 1989, Ullrich 2005, S. 25).73 Für die Herausbildung des deutschen Sozialstaates war das Bemühen der konservativen Eliten des Kaiserreichs entscheidend, die Loyalität der Bevölkerung und damit das Fortbestehen des autoritären Staates zu sichern. Bereits ab dem frühen 19. Jahrhundert gab es unter den Publizisten in Preußen ein Problembewusstsein für das Elend der ländlichen Bevölkerung.74 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde die Arbeiterfrage dann zum Problem für die herrschenden Eliten, weil die Arbeiterparteien zunehmend politisch an Einfluss gewannen (Kaufmann 2003, S. 260f). So stieg die Zahl der industriellen Arbeiter im Deutschen Reich von ca. 0,8 Mio. im Jahr 1850 auf 6 Mio. im Jahr 1882 (Alber 1989, S. 45). Die Regierung des Kaiserreichs unter Kanzler Bismarck beschloss daher die Einführung öffentlicher Sozialversicherungen75, die sich der sozialen Probleme der Arbeiter annahmen, diese ruhigzustellen versuchten und dadurch den Einfluss der Arbeiterparteien begrenzen sollten (Alber 1989, S. 45ff).76 Die Grundprinzipien dieser Gesetze sind dabei noch heute kennzeichnend für die sozialen Sicherungssysteme der Bundesrepublik: Die Sozialversicherungen waren obligatorisch und wurden von unabhängigen Trägern verwaltet. Die Leistungen waren an der Ursache des Einkommensausfalls (Unfall, Krankheit, Alter) und an der Höhe der zuvor für die jeweilige Versicherung entrichteten Beiträge und nicht am Bedarf der Empfänger orientiert. Die Versicherungen galten zunächst nur für Arbeiter, wurden aber im Jahr 1911 durch Versicherun-
73
Für Übersichten über die Entwicklung der Sozialpolitik in Deutschland vgl. (Alber 1982, 1989, Butterwege 2006, Kaufmann 2003, Schmidt 2005, Ullrich 2005). 74 Die schwierige Lage der Landbevölkerung war die Folge wurde, vor dem Hintergrund der englischen und französischen Erfahrungen mit der Industriellen Revolution, als ungelöste „soziale Frage“ diskutiert und zum Ausgangspunkt der staatlichen Sozialpolitik in Preußen (Kaufmann 2003, S. 260f). 75 Neben den Sozialversicherungen gab es im Kaiserreich bereits früher institutionalisierte staatliche Regelungen für Bildung und in der staatlichen Armenfürsorge (Alber 1989, S. 45f, S. 49). Diese waren dadurch kaum im Fokus der politischen Auseinandersetzungen zwischen 1870 und 1920. Die allgemeine Schulpflicht wurde in Preußen bereits bis 1825 durchgesetzt und die staatliche Aufsicht über das Bildungswesen 1872 in Auseinandersetzung mit den Kirchen durchgesetzt. Dadurch zeichnete sich das Deutsche Reich gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch die höchsten Bildungsraten in Europa aus. Das Kaiserreich verfügte bereits über ein entwickeltes System der kommunalen Armenfürsorge. Nach der Reichsgründung wurden die Gemeinden 1870 verpflichtet, ortsansässige Arme zu unterstützen. 76 Im Jahr 1883 wurde nach zähem politischem Ringen durch den Reichstag das Krankenversicherungsgesetz, 1884 das Unfallversicherungsgesetz und 1889 das Invalidengesetz verabschiedet. Alle drei Gesetze waren dabei „[…] weniger das Produkt einer gesellschaftspolitischen Konzeption aus einem Guß als das Resultat einer langen Reihe politischer Kompromisse“ (Alber 1989, S. 45)
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Soziale Ungleichheiten im Wandel
gen im Rahmen des großzügigeren Angestelltenversicherungsgesetzes und eine Erwerbslosenfürsorge ergänzt. Bis zum Ersten Weltkrieg wurden die Leistungen der Sozialversicherungen im Kaiserreich deutlich ausgeweitet (Schmidt 2005, S. 34ff). Den Schwerpunkt bildeten der Bereich der Krankenversicherung und Hinterbliebenenversorgung sowie später die Arbeitslosenversicherung. Als Teil der Kriegswirtschaft kamen im Zuge einer zunehmend „militärischen Sozialpolitik“ (ebd.) des Kaiserreiches Maßnahmen zur Absicherung der Soldaten und ihrer Hinterbliebenen hinzu. Die sozialen Sicherungssysteme wurden aber nach Kriegsende nicht angetastet, vielmehr weiteten die Regierungen der Weimarer Republik die sozialen Sicherungssysteme und Regelungen bis zum Ende der 1920er Jahre aus (Schmidt 2005, S. 45ff, Alber 1989, S. 50ff). Den Schwerpunkt der Maßnahmen bildeten die Arbeitslosenfürsorge und der Wohnungsbau. So wurde die gesetzliche Arbeitslosenversicherung für Arbeiter und Angestellte im Jahr 1927 eingeführt. Erst unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise, die es unmöglich machte einen umfassenden Sozialstaat weiterhin zu finanzieren, wurden sozialstaatliche Leistungen in den Jahren 1930 bis 1932 durch zahlreiche Notverordnungen beschränkt und Beitragserhöhungen beschlossen. In der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft hat die auf die männlichen Hauptverdiener zentrierte Familien- und Steuerpolitik der Bundesrepublik ihre Wurzeln. So gab es Steuererleichterungen für kinderreiche Familien, die Einführung eines Kindergeldes ab dem fünften Kind und staatliche Darlehen für Familien, in denen die Frauen ihren Arbeitsplatz aufgaben. Die nationalsozialistische Bildungspolitik vernachlässigte die höhere Bildung, so wurden Universitäten geschlossen und die Anzahl der Studenten deutlich verringert. Die in der Weimarer Republik beschlossenen Beitragserhöhungen und Leistungssenkungen der Sozialversicherungen wurden trotz einer verbesserten wirtschaftlichen Lage beibehalten. Dadurch erzielten die staatlichen Sozialkassen kontinuierlich Überschüsse, die zu einer wichtigen Finanzierungsquelle für staatliche Rüstungsausgaben wurden (Alber 1989, S. 55ff). Mit dem Untergang des Regimes waren die Ressourcen der Sozialversicherungen, die im Zuge der Kriegswirtschaft zu Kreditgebern umfunktioniert wurden, erschöpft. Zudem lag die – vormals überdurchschnittliche – Bildungsbeteiligung der deutschen Bevölkerung deutlich hinter dem Niveau anderer europäischer Staaten zurück. Die Struktur der staatlichen Sozialversicherungen hatte aber das Kriegsende überdauert und blieb in den westlichen Besatzungszonen erhalten. Die Entwicklung des Sozialstaats der Bundesrepublik Deutschland zwischen dem Ende des zweiten Weltkriegs und der deutschen Wiedervereinigung lässt sich grob in fünf Phasen unterteilen (Schmidt 2005, 73ff, Alber 1989, S.
Soziale Ungleichheiten im Wandel
99
232ff).77 In der ersten Phase (1949-1955) wurden die sozialen Sicherungssysteme der Weimarer Republik wiederaufgebaut. Dabei konzentrierten sich die Regierungen zwischen 1949 und 1955 vorrangig auf den Wiederaufbau der sozialen Sicherungssysteme und die Beseitigung der sozialen Folgen des Zusammenbruchs des NS-Regimes. Zwischen 1956 und 1966 wurden die restaurierten Sicherungssysteme dann massiv ausgebaut. So wuchs in der Bundesrepublik unter den CDU/CSU geführten Bundesregierungen ein durch das Sozialversicherungsprinzip geprägter Sozialstaat heran. Zwischen 1966 und 1974 gab es eine Phase des verlangsamten Wachstums, in der nur noch wenige Leistungserweiterungen beschlossen wurden. Zwischen 1951 bis 1973 lag das durchschnittliche Wirtschaftswachstum in der Bundesrepublik gemessen am preisbereinigten BIP nach Angaben des Statistischen Bundesamtes bei etwa 6%. Dadurch herrschte bis zur Ölkrise 1973 bei einer Arbeitslosenquote von etwa 1,3% nahezu Vollbeschäftigung. Entsprechend positiv sah die Lage der öffentlichen Finanzen aus. So wurden in allen Fünfjahresdurchschnitten der öffentlichen Haushalte zwischen 1950 und 1975 Überschüsse erzielt (Alber 1989, S. 284, Tabelle 49). Neben dem politischen Willen aller Parteien machte erst diese historisch beispiellose Wohlstandsentwicklung den Ausbau des deutschen Sozialstaates möglich.78 Die sozialstaatlichen Leistungen wurden deutlich ausgeweitet und richteten sich an immer mehr Adressaten. Ein wichtiges Beispiel für die Ausweitung sozialer Sicherungssysteme in dieser Zeit ist die Rentenreform von 1957, durch die erstmals die Beibehaltung des Lebensstandards im Ruhestand sichergestellt wurde. Sie verbesserte dadurch die Einkommenslage vieler Rentner und bekämpfte das Problem der Altersarmut, führte aber auch zu einer stärkeren Einkommensungleichheit unter den Rentnern und deutlichen Mehrausgaben. Eine neue Phase beginnt in den Jahren 1966-69, in denen die neu gebildete Große Koalition aus CDU und SPD, in der Folge der ersten Nachkriegsrezession, die Sozialpolitik grundlegend überarbeitete. Neben der Erhöhung der Abgaben für die Rentenversicherung, die alle Bürger traf und wurden durch die Umwandlung der ehemaligen Versicherungspflichtgrenze bei der Arbeitslosen- und Rentenversicherung in eine Beitragsbemessungsgrenze auch einkommensstarke Erwerbstätige an der Finanzierung der Risiken beteiligt. Insgesamt wurde durch diese Maßnahme und den etwas später eingeführten Finanzausgleich zwischen Arbeiter- und Angestelltenversicherungen sowie die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall die Lage der Arbeiter verbessert. Die erste 77
Auf zentrale Entwicklungslinien in der DDR wird im Abschnitt 3.1.1.2 eingegangen. Im Deutschen Reich betrug das mittlere Wachstum zwischen 1883 und 1913 1,7%, in der Weimarer Republik 1,3% und im NS-Staat 5,1%. In den Jahren nach dem Zusammenbruch des Regimes und der Kapitulation ging die Wirtschaftsleistung dann allerdings um 26% im Jahr 1945 und um 51% im Jahr 1946 zurück.
78
100
Soziale Ungleichheiten im Wandel
sozialliberale Koalition aus SPD und FDP (1969-1973) verbesserte die Finanzierung der sozialstaatlichen Leistungen durch eine deutliche Erhöhung der Sozialbeiträge. Der Anteil des Sozialbudgets79 am Sozialprodukt der Bundesrepublik stieg dadurch von 24,6% (1969) auf 31,4% (1975) (Schmidt 2005, S. 93). Allerdings wurden in dieser Periode auch weitere Leistungen eingeführt. So wurden mit der Rentenreform von 1972 eine gesetzliche Mindestrente und die Möglichkeit des vorzeitigen Renteneintritts durchgesetzt. Seit 1973 gab es dadurch eine wachsende Lücke bei der Finanzierung der sozialstaatlichen Ausgaben und der sozialpolitische Handlungsbedarf stieg massiv an. Im Zuge der Rezession nach der Ölkrise von 1973 wandelte sich die volkswirtschaftliche Lage der Bundesrepublik grundsätzlich. Zwischen 1975 und 1979 betrug das Wirtschaftswachstum nur noch 2,8%, die Arbeitslosenquote stieg auf 4,4% und die Kreditfinanzierungsquote der öffentlichen Haushalte lag bei 6,9%. Bis zum Jahr 1983 verbesserte sich diese Lage nicht wesentlich. Das Wirtschaftswachstum sank auf einen historischen Tiefststand von 0,5% und die Zahl der Arbeitslosen stieg auf 6,5% der Erwerbsbevölkerung. Die Politik reagierte auf die neuen Realitäten allerdings nur zögerlich. So fallen in das Jahr 1974 noch Ausweitungen sozialstaatlicher Leistungen wie die bereits länger geplante Einführung des Kindergeldes für das erste Kind. Erst die neue Regierung unter Kanzler Helmut Schmidt (Mai 1974 bis 1982) reagierte mit massiven Kürzungen, deren Beginn das „Haushaltsstrukturgesetzes“ im Dezember des Jahres 1975 markierte (Schmidt 2005, S. 96). Dadurch wurden die Ausbildungsförderung und das Arbeitslosengeld gekürzt, während gleichzeitig die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung erhöht wurden. Nach der Bundestagswahl 1976 wurde die Sparpolitik dann auf immer weitere Teile der sozialen Sicherung ausgedehnt (Alber 1989, S. 287, Tabelle 50). Neben einer verzögerten Anpassung der Rentenhöhe an Einkommenszuwächse in der Bevölkerung und einer veränderten Bemessungsgrundlage der sozialversicherungspflichtigen Einkommen wurden 1977 auch bei der gesetzlichen Krankenversicherung Zuzahlungen eingeführt und Leistungen gekürzt. Zudem wurde die maximale Bezugsdauer der Arbeitslosenhilfe auf ein Jahr gesenkt und die Kontrolle der Arbeitslosen nochmals verschärft um Leistungsmissbrauch zu bekämpfen. Im letzten Jahr der Regierung Schmidt (1981) wurden im Rahmen des 2. Haushaltsstrukturgesetzes die bis dahin massivsten Einschnitte in die sozialen Sicherungssystem vorge79
Als „Sozialbudget“ wird die Gesamtheit der öffentlichen und privaten Aufwendungen für die soziale Sicherung bezeichnet. Es enthält u.a. Aufwendungen für die Sozialversicherungen (Arbeitslosigkeit, Rente, Krankheit, Unfall) aber auch weitere (indirekte) Leistungen für Wohnungsbau, Vermögen, Ausbildung, Jugend, usw., Leistungen der Arbeitgeber und Beihilfen für Beamte (BMGS 2005b, zitiert nach Schmidt 2005, S. 93). Vgl. auch die Darstellung anhand verschiedener Operationalisierungen des Sozialbudgets von Alber (Alber 1989, S. 243).
Soziale Ungleichheiten im Wandel
101
nommen. So wurde der Bundeszuschuss für die Rentenversicherung um 3,5 Mrd. DM gekürzt und Einschränkungen bei Arbeitsförderung, Ausbildungsförderung, Kindergeld, Krankenversicherung, Sozialhilfe und Wohngeld beschlossen. Die tiefgreifenden Einschnitte in die sozialen Sicherungssysteme blieben nicht ohne Folgen für die Empfänger staatlicher Transferzahlungen (Alber 1989, S. 299ff). Arbeitnehmer, Rentner, Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger mussten infolge der Kürzungen von Transferzahlungen und Beitragserhöhungen zwischen 1975 und 1982 deutliche Einschnitte hinnehmen. Seit 1980 sanken in allen vier Gruppen die Realeinkommen (Alber 1989, S. 303). Vergleichsweise geringe Einschnitte hatten Rentner und Arbeitnehmer zu verzeichnen, ihre Einkommen lagen im Jahr 1983 noch über dem Ausgangsniveau von 1975. Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger, als Sozialstaatsklienten mit geringerem politischem Gewicht, mussten dagegen deutlich stärkere Einschränkungen hinnehmen, ihre Einkommen sanken um 4,6% (Arbeitslosengeld) bzw. 1,5% (Sozialhilfe Regelsätze) im Vergleich zu 1975. Die Regierung Schmidt hat eine sozialpolitische ‚Wende’ eingeleitet, indem sie Sozialleistungen kürzte und seine Sozialbeiträge erhöhte um die Finanzierbarkeit der sozialen Sicherungssysteme zu erhalten und den öffentlichen Haushalt zu konsolidieren (Alber 1989, S. 286). Diese Strategie wurde auch in der ersten Hälfte der 1980er von der Regierung Kohl fortgeführt (vgl. Abschnitt 3.1.5). Trotz der sozialpolitischen Kürzungen der späten 1970er und 1980er Jahre ist die Entwicklung der Sozialpolitik in der Nachkriegszeit durch eine große Stabilität gekennzeichnet (Alber 1989, S. 254). Wichtig war dafür nicht zuletzt ein breiter sozialpolitischer Konsens im politischen System (Alber 1989, S. 282f). So wurde der Ausbau des Sozialstaates, mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung80, sowohl von CDU/CSU- als auch SPD-geführten Bundesregierungen vorangetrieben. Das Wachstum des Wohlfahrtsstaates in der Nachkriegszeit sollte als das Resultat „[…] gemeinsamer Anstrengungen beider führenden Parteien verstanden werden […]“ (Alber 1989, S. 259). Auch der Einfluss der Interessenvertretungen von Kapital und Arbeit kann in der Nachkriegszeit nicht an der jeweiligen Regierungspartei festgemacht werden, sondern gestaltet sich von Reform zu Reform unterschiedlich (Alber 1989, S. 275). Ausgehend von den ‚goldenen Jahren der deutschen Sozialpolitik’ in den 1960er und frühen 1970er Jahren wird verständlich, warum Autoren wie Ulrich Beck in den 1980er Jahren von einer abnehmenden Bedeutung sozialer Ungleichheiten ausgingen und sich anderen Themenfeldern wie Lebensstil- und Milieuforschung zuwendeten. Allerdings zeigte sich bereits in den sozialpoliti80
Während der CDU/CSU Regierungen wuchs der Sozialaufwand vorrangig als Nebenprodukt der Wirtschaftsentwicklung, während er sich unter SPD in stärkerer Unabhängigkeit von dieser ausdehnte.
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Soziale Ungleichheiten im Wandel
schen Reaktionen auf die Ölkrise, dass in wirtschaftlichen Krisenzeiten auch soziale Kürzungen möglich sind und dass der Lebensstandard der Bevölkerung nicht zwangsläufig immer mehr zunehmen muss. So stand bereits vor dreißig Jahren in Deutschland ausgehend vom breiten politischen Konsens unter den Befürwortern des Sozialstaats die Frage im Raum, welche Form der sozialen Absicherung auch langfristig zu finanzieren ist. 3.1.3 Das wohlfahrtsstaatliche Arrangement der DDR Der „SED-Staat“ (Schroeder 1998) zeichnete sich durch ein hohes Maß an staatlicher Kontrolle der Gesellschaft aus. Die „sozialistische Sozialpolitik der DDR“ (Schmidt 2005, S. 126, Schroeder 1998, S. 512ff) wurde daher auch dazu genutzt, die politische Verbündete der SED zu fördern, ihre Gegner zu schwächen und so das politische System insgesamt zu stabilisieren.81 Der Wohlfahrtsstaat der DDR war eine Kombination aus sozialistisch-autoritärem Arbeits- und Wohlfahrtstaat (Schmidt 2005, S. 144). Die Sozialpolitik der DDR beruhte auf dem verfassungsmäßig verbrieften Recht auf Arbeit, das aber zugleich die Verpflichtung zu Arbeiten vorsah. Staatliche Politik sicherte dieses Recht, getreu der Formel von der „Einheit von Sozial- und Wirtschaftspolitik“, durch einen strikten Kündigungsschutz und die Steuerungsmöglichkeiten der Planwirtschaft (Schmidt 2005, S. 127ff). Durch staatlich subventionierte Güter (landwirtschaftliche Erzeugnisse, Wohnraum) wurde die Bevölkerung vor elementarer materieller Not und Wohnungslosigkeit wirksam geschützt (Schmidt 2005, S. 134). Die bedeutendsten Empfänger staatlicher Transferzahlungen und Beihilfen waren – aufgrund der staatlich verordneten Vollbeschäftigung – Familien und Rentner (Schmidt 2005, S. 135ff). Durch die Abwanderung bzw. Flucht von jüngeren Erwerbstätigen gab es in der DDR einen ausgeprägten Arbeitskräftemangel und die Gefahr des Bevölkerungsrückgangs. Dadurch war der Staat gleichzeitig auf die Erwerbstätigkeit von Frauen und auf eine hohe Geburtenrate angewiesen. Diese Gemengelage bewirkte, dass die Familienförderung schon früh ein zentraler Bereich der staatlichen Sozialpolitik wurde. Sie beruhte auf der effektiven Verzahnung von Familien- und Wohnungspolitik. Eine bevorzugte Wohnungsvergabe an Familien – aufgrund des Wohnungsmangels in der DDR – sollte ein hohes Fertilitätsniveau fördern. Die staatliche Förderung der Kinderbetreuung sorgte gleichzeitig dafür, dass Frauen bereits kurz nach der Schwangerschaft ihre Erwerbstätigkeit wieder aufnehmen konnten. Beide Maßnahmen führten letztlich wirksam dazu, dass die DDR eine hohe Fertilitätsrate und auch 81
So wurden in den 1950er Jahren ehemalige NS-Aktivisten von Leistungen der Sozialsysteme ausgenommen, Stipendien wurden an die Gesinnung der Empfänger geknüpft und die Zugehörigkeit zu Kampfgruppen der Arbeiterklasse mit Rentenzuschlägen belohnt (Lohmann 1996, S. 125).
Soziale Ungleichheiten im Wandel
103
eine hohe Erwerbsbeteiligung von Frauen erreichte. Die Alterssicherung genoss im Vergleich zur Familienförderung dagegen eine deutlich geringere Priorität. Sie basierte auf einer beitragsfinanzierten staatlichen Rentenversicherung, die erst Ende der 1950er eingeführt wurde. Die staatliche Rentenversicherung erbrachte allerdings nur geringe Leistungen, erst eine deutliche Rentenerhöhung im Jahr 1968 verbesserte diese Situation. Ein ausreichendes Versorgungsniveau wurde zumeist nur durch zusätzliche betriebliche Sozialleistungen erreicht. Im Verhältnis zur restlichen Bevölkerung waren Altersrentner, die keine Zusatzrente erhielten, besonders benachteiligt. Für politische Stützen des SED-Regime gab es zudem im Rahmen von so genannten ‚Ehrenpensionen’ und ‚Sonderversorgungsaufwendungen’ Zusatzleistungen zur Belohnung von Loyalität gegenüber Partei und Staat. Aufgrund der Bevorzugung der Familienförderung kam es zwischen den Empfängern von Altersrenten und den Empfängern von Familienförderung in den 1980er Jahren – im Rahmen der begrenzten Möglichkeiten zur Interessenartikulation in der DDR – zu erheblichen Spannungen. Finanziert wurden die Sozialleistungen der DDR seit 1971 in zunehmendem Maße über Auslandsschulden, vor allem in Westdeutschland. Zudem gab es gegenüber der Bundesrepublik deutliche Nachteile in der Arbeitsproduktivität.82 Im Jahr 1989 war die DDR sehr stark verschuldet, ohne dass eine Trendumkehr in Sicht war (Schmidt 2005, S. 138). Die SED-Führung ging im Oktober 1989 davon aus, dass die Zahlungsfähigkeit der DDR nur noch durch neue westdeutsche Kredite aufrechterhalten werden konnte (Schroeder 1998, S. 309). Daher zeichnete sich 1989 bereits ab, dass die mangelhafte Produktivität der ostdeutschen Wirtschaft und die unzureichende Finanzierung der Alterssicherung der Bevölkerung die größten sozialpolitischen Herausforderungen im Zuge der deutschen Einigung sein würden. 3.1.4 Strukturelle Herausforderungen der deutschen Sozialpolitik Die europäischen Staaten stehen heute vor einer Reihe von Herausforderungen, von denen die demographische Alterung, der wirtschaftliche Strukturwandel und die, im Zuge der Globalisierung zunehmende, internationale Konkurrenz zu den wichtigsten gehören (Esping-Andersen 2002, Hemerijck 2002). Es steht in Frage, inwieweit die sozialstaatliche Absicherung der Bevölkerungen noch finanzierbar ist und wie die soziale Integration der Gesellschaften in einer sich globalisierenden Welt gewährleistet werden kann. Durch den wirtschaftlichen Strukturwandel und die wirtschaftliche Globalisierung verändert sich die Beschäftigungsstruktur aller westlichen Wohlfahrtsstaaten. So werden einfache 82
Diese betrug im Jahr der Wiedervereinigung 1990 etwa ein Drittel der Produktivität in Westdeutschland (Schmidt 2005, S. 145).
104
Soziale Ungleichheiten im Wandel
Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe in Entwicklungs- und Schwellenländer verlagert oder durch Automatisierung ersetzt. In der Landwirtschaft sind heute vor allem Großbetriebe mit geringem Personalbedarf und hoher Produktivität wettbewerbsfähig, so dass viele der früher in der Landwirtschaft beschäftigten Erwerbspersonen neue Tätigkeiten suchen oder arbeitslos sind. Der Bedarf für gering qualifizierte persönliche und hochqualifizierte technische Tätigkeiten im Dienstleistungsbereich steigt dagegen. Durch den demographischen Wandel, also der kombinierten Effekte einer gestiegenen Lebenserwartung und gesunkenen Fertilität, sinkt das zukünftige Arbeitskräftepotential der Gesellschaft. Zugleich müssen aber durch die sozialen Sicherungssysteme immer mehr ältere Menschen versorgt werden. Dadurch sinken der finanzielle Gestaltungsspielraum der Sozialpolitik und auch die allgemeinen Einflussmöglichkeiten der Politik auf die Wohlfahrtsentwicklung. Durch die gestiegene Verflechtung von Märkten, Wirtschaftsräumen und Regionen ist eine Bewältigung sozialer Probleme auf nationaler Ebene alleine kaum noch möglich. Internationale Kooperationen gewinnen daher zunehmend an Bedeutung (Kaufmann 2003).
Soziale Ungleichheiten im Wandel
105
Tabelle 4: Herausforderungen wohlfahrtsstaatlicher Arrangements im 21. Jahrhundert Liberal und Osteuropäisch
Konservativ und südeuropäisch
Sozialdemokratisch
Globalisierung Verringerung des Wirtschaftswachstums. Wandel der Beschäftigungsstruktur (Verlagerung der Beschäftigung von Landwirtschaft und Industrie hin zu gering und hoch qualifizierten Dienstleistungen). Beschleunigung der Entwicklung durch Lohnkostennachteile in der Konkurrenz mit wenig entwickelten Wohlfahrtsstaaten, wie etwa China und Indien. Demographischer Zusammentreffen von gesteigerter Lebenserwartung und geringer werdender Wandel Fertilität in den nachwachsenden Generationen. Dies führt zu einem Ansteigen des Bevölkerungsanteils Älterer. Arbeitsmarkt Soziale Sicherung ist eng an Erwerbstätigkeit gebunden; Großes Ausmaß gering qualifizierter privater Beschäftigung; Gering regulierter, dynamischer Arbeitsmarkt; Hohe Erwerbsquoten;
Hohe Belastung der Arbeitskosten durch Sozialversicherungsbeiträge; Wenig gering qualifizierte Beschäftigung; Hoch regulierter, wenig dynamischer Arbeitsmarkt; Geringe Erwerbsquoten;
Steuersystem ist auf hohe Beschäftigungsquoten angewiesen; Großes Ausmaß gering qualifizierter öffentlicher Beschäftigung; Hoch regulierter, dynamischer Arbeitsmarkt; Hohe Erwerbsquoten;
Lebenslagen Hohe Armutsrisikoquoten; Geringer öffentlicher Einfluss auf spezifische Problemlagen;
Mittlere Armutsrisikoquoten, aber hohe Quoten bei Familien und Alleinerziehenden; Geringe Vereinbarkeit von Familie und Beruf; Schlechte Alterssicherung für Personen mit gebrochenen Erwerbskarrieren; Schlecht ausgebaute soziale Dienste für Kinder und Ältere
Geringe Armutsrisikoquoten; Hohe Vereinbarkeit von Familie und Beruf; Hohe Fertilität; Minimierung von Kinderund Altersarmut
Quelle: Eigene Darstellung nach Esping-Andersen (1996a, 2002b) Die Wohlfahrtsregime in Europa waren gegen Ende der 1980er Jahre für die Bewältigung ihrer strukturellen Herausforderungen unterschiedlich gut aufgestellt (Tabelle 4). Auf die wirtschaftliche Globalisierung und den wirtschaftlichen Strukturwandel schienen die liberalen, osteuropäischen und sozialdemokratischen Regime mit ihren flexibleren Arbeitsmärkten und geringeren Sozial-
106
Soziale Ungleichheiten im Wandel
abgaben für Unternehmen relativ gut vorbereitet zu sein (Alber 2000b), während die Beschäftigungsdynamik in den kontinentalen und südeuropäischen Staaten unter hoch regulierten Arbeitsmärkten und Produktivitätsnachteilen aufgrund höherer Sozialabgaben litt. Der Altersstrukturwandel schien in den konservativen und sozialdemokratischen Regimen vor allem die Finanzierung der sozialen Sicherung in Frage zu stellen, während sich die liberalen und osteuropäischen Staaten durch die wachsende Gefahr von Altersarmut bedroht sahen. Dabei stellten die niedrigen Fertilitätsraten und die vergleichsweise geringe Erwerbsbeteiligung die konservativen und südeuropäischen Staaten vor besondere Belastungen. In den liberalen und in den osteuropäischen Staaten war dagegen unklar, ob die private Vorsorge der Menschen ausreichen würde, um ihre Bürger wirksam für das Alter abzusichern. Die Entwicklung der deutschen Sozialpolitik bis zu den 1980er Jahren hat deutlich gemacht, dass strukturelle Herausforderungen, wie eine schlechte Konjunktur oder eine schwierige Lage der öffentlichen Haushalte, den Möglichkeiten der Sozialpolitik enge Grenzen auferlegen. Die Bundesrepublik Deutschland als ein Vertreter des konservativen, kontinentalen Wohlfahrtsstaatstypus ist zur Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme in besonderem Maße auf eine gute konjunkturelle Lage und eine geringe Arbeitslosigkeit angewiesen. Angesichts der beschäftigungshemmenden Wirkung einer Finanzierung der sozialen Sicherung durch Arbeitgeberbeiträge musste in Folge der Ölkrise eine überdurchschnittliche Wachstums- und Beschäftigungsschwäche befürchtet werden (Alber 2000a). Neben diesen strukturellen Problemen seiner Volkswirtschaft musste der deutsche Wohlfahrtsstaat in den 1990er Jahren den Beitritt der Bürger der Deutschen Demokratischen Republik bewältigen (Alber 2002). Dies stellte eine besondere Herausforderung dar, weil die Vereinigung politisch sehr spannungsgeladen war und folglich möglichst reibungslos durchgeführt werden musste. Darüber hinaus befanden sich die Volkswirtschaft und der Sozialstaat der DDR in einer desolaten Lage, so dass im Zuge der Übernahme der westdeutschen Sozialversicherungen ein beträchtliches Wohlstands- und Einnahmengefälle ausgeglichen werden musste.
Soziale Ungleichheiten im Wandel Wachstum des BIP (preisbereinigt) in der Bundesrepublik Deutschland seit 1963
3000
15
2000
10
1000
5
0
0
Prozent
Mrd. EUR
Abbildung 9:
107
-5
-10
-15 1960
1965
1970
1975
1980
BIP (in Preisen von 2000)
1985
1990
1995
2000
2005
Veränderung zum Vorjahr
Datenbasis: Destatis 1950-2006 In Abbildung 9 ist die Entwicklung und die prozentuale Veränderung des Bruttoinlandsproduktes der Bundesrepublik Deutschland83 (zu Preisen des Jahres 2000) seit Anfang der 1960er Jahre im jeweiligen Gebietsstand dargestellt. Betrachtet man die Entwicklung im Zeitraum 1985 bis 2005, so zeigen sich ausgeprägte Unterschiede in den Wachstumsquoten vor und nach der deutschen Wiedervereinigung. Insbesondere in den späten 1980er Jahren gab es noch einmal deutliche Zuwächse in der Wirtschaftsleistung Westdeutschlands. Durchschnittlich wuchs die Wirtschaftsleistung in den alten Bundesländern zwischen 1963 und 1989 nach Berücksichtigung von Preisunterschieden durchschnittlich um 31 Mrd. EUR jährlich. Nach der Wiedervereinigung gab es dagegen nur noch ein mäßiges Wachstum. Es betrug, trotz eines gewachsenen Staatsgebietes und einer gewachsenen Volkswirtschaft zwischen 1991 und 2005, durchschnittlich nur noch 16 Mrd. Euro pro Jahr.84 Die Ursachen dieser gesamtdeutschen Wachstumsschwäche werden in der geringeren Produktivität der ostdeutschen Wirtschaft, den Folgen des wirtschaftlichen Strukturwandels und in einem schwierigen gesamtwirtschaftlichen Umfeld vermutet (Kitschelt und Streeck 2003). Im 83
Das BIP ist der durch das Statistische Bundesamt ermittelte Wert aller im Inland produzierten Waren und Dienstleistungen im jeweiligen Jahr. 84 Eigene Berechnungen. Alle Angaben zu Preisen des Jahres 2000.
108
Soziale Ungleichheiten im Wandel
europäischen Vergleich blieb die Wirtschaftsleistung pro Einwohner in Deutschland auch nach der Einigung überdurchschnittlich. Die Wachstumsraten der deutschen Volkswirtschaft gehörten dagegen zu den geringsten der 25 EUMitgliedsstaaten (Destatis 2006a, S. 54f). Damit stellt sich insbesondere die Entwicklung der Volkswirtschaft zwischen 1985 und 2006 als problematisch dar. So hatte die deutsche Sozialpolitik nach 1990 nicht die Möglichkeit, wie im Verlauf der 1960er Jahre, Wohlstandszuwächse und Haushaltsüberschüsse sozialpolitisch an die Bevölkerung zu verteilen. Vielmehr mussten angesichts steigender Arbeitslosenquoten Leistungskürzungen und Abgabenerhöhungen sozial ausgewogen umgesetzt werden.
6
0,6
5
0,5
4
0,4
3
0,3
2
0,2
1
0,1
0
0,0 -0,1 -0,2 -0,3
Veränderung in Mio
Anzahl in Mio
Abbildung 10: Arbeitslosigkeit in der BRD
-0,4 -0,5 -0,6
1960
1965
1970
1975 Arbeitslose
1980
1985
1990
1995
2000
2005
Veränderung zum Vorjahr
Datenbasis: Destatis 1950-2004 Abbildung 10 beschreibt die Entwicklung der amtlich registrierten Arbeitslosen und ihre jährliche Veränderung seit Ende der 1950er Jahre. In Folge der anhaltend prekären Lage der deutschen Volkswirtschaft nach der ersten Ölkrise im Jahr 1973 stieg die Arbeitslosigkeit deutlich an, ohne in den späteren Wachstumsphasen wieder nachhaltig zu sinken. Dies bedeutet für die sozialen Sicherungssysteme einerseits Einnahmenverluste bei der Arbeitslosen-, Krankenund Rentenversicherung, andererseits aber auch beträchtliche Mehrausgaben für die Einkommenssicherung der arbeitslosen Bevölkerung. Dadurch wurde die Finanzierung der sozialen Sicherung zunehmend schwieriger. Erschwerend kam hinzu, dass die Dynamik des Arbeitsmarktes in Relation zum volkswirtschaftli-
Soziale Ungleichheiten im Wandel
109
chen Wachstum nach der Wende deutlich kleiner wurde. Zwischen 1964 und 1990 sank die Zahl der registrierten Arbeitslosen pro Prozentpunkt des preisbereinigten BIP-Wachstums signifikant um durchschnittlich 50.000 Personen. Zwischen 1991 und 2005 bestand dagegen zwischen Arbeitslosigkeit und Wirtschaftswachstum kein signifikanter Zusammenhang mehr. So stieg die Arbeitslosigkeit auch in Jahren mit mäßigem Wachstum weiter an. In der Folge erhöhte sich die mittlere Arbeitslosenquote zwischen 1990 und 1994 und zwischen 2000 und 2005 von 9% auf 11%.85 Aufgrund des schleppenden Beschäftigungswachstums in Deutschland stand die deutsche Sozialpolitik vor der schwierigen Aufgabe Reformen einzuleiten, die einerseits die Beschäftigungsintensität des Wirtschaftswachstums erhöhen sollten und andererseits die soziale Absicherung der Arbeitslosen nicht gefährden durften. Die Gestaltungsmöglichkeiten der Arbeitsmarktpolitik waren dabei angesichts der schwierigen Lage der öffentlichen Haushalte stark limitiert.
1500
15
1000
10
500
5
0
0
Prozent
Mrd. EUR
Abbildung 11: Schuldenstand (preisbereinigt) der öffentlichen Haushalte nach Jahr
-5
-10
-15 1960
1965
1970
1975
1980
1985
Schulden öffentl. Haushalte (in Preisen von 2000)
1990
1995
2000
2005
Veränderung zum Vorjahr
Datenbasis: Destatis 1950-2006 In Abbildung 11 wird die Entwicklung und Veränderung der Schulden aller öffentlichen Haushalte zu Preisen des Jahres 2000 dargestellt. In der Entwick85
Eigene Berechnungen. Ergebnisse eines linearen Regressionsmodells anhand der in Abbildung 3.1 und Abbildung 3.2 dargestellten Daten.
110
Soziale Ungleichheiten im Wandel
lung spiegeln sich die schwierige konjunkturelle Lage und die steigende Arbeitslosigkeit deutlich wider. So konnte keine Regierung seit der Ölkrise im Jahr 1973 – trotz erheblicher Anstrengungen – die öffentlichen Haushalte nachhaltig konsolidieren. Vielmehr stiegen die Verbindlichkeiten der öffentlichen Hand immer schneller an. So wuchsen die öffentlichen Schulden zwischen 1963 und 1975 um etwa 7 Mrd. Euro pro Jahr, zwischen 1975 und 1989 betrug das Wachstum bereits 25 Mrd. Euro pro Jahr und steigerte sich dann zwischen 1990 und 2005 weiter auf sogar 43 Mrd. Euro jährlich.86 Beim Schuldenstand und seinem Wachstum belegte Deutschland im Vergleich zu anderen Mitgliedern der EU-25 einen der oberen Plätze und verletzte so mehrfach die Maastricht-Kriterien, die für die fiskalische Stabilität der europäischen Gemeinschaftswährung Euro sorgen sollten (Destatis 2006a, S. 62). Neben der gesamtwirtschaftlichen Situation wurden die sozialpolitischen Entscheidungen zwischen 1984 und 2006 auch durch Bevölkerungsprognosen beeinflusst, die eine sukzessive demographische Alterung der Bevölkerung befürchten ließen (Destatis 2003). Die Bevölkerung der Bundesrepublik hat sich nach dem 2. Weltkrieg in mehreren Phasen entwickelt (Destatis 2006b, S. 24f). Aufgrund der Aufnahme von Vertriebenen aus den östlichen Gebieten des Deutschen Reichs und den deutschen Siedlungsgebieten im Ausland wuchs die Bevölkerung auf dem heutigen Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland bis hinein in die 1950er Jahre deutlich an. Bis zum Mauerbau am 13.6.1961 gab es zudem eine innerdeutsche Wanderung aus der DDR in die Bundesrepublik. Ab Mitte der 1950er Jahre folgte die Zuwanderung von angeworbenen Arbeitsmigranten bis zum Anwerbestopp in Folge der Öl- und Wirtschaftskrise des Jahres 1973. Seither werden jährlich weniger Menschen geboren als versterben, dies konnte allerdings in den meisten Jahren durch Zuwanderungen aus dem Ausland ausgeglichen werden. Nach der Wiedervereinigung stagnierte die Bevölkerung in Deutschland bei ca. 82,5 Mio. Einwohnern. Seit dem 31.12.2003 wird am Ende jeden Jahres ein geringerer Bevölkerungsstand als im Vorjahr festgestellt. Bis zum Jahr 2050 muss sogar, je nach Variante der 11. koordinierten Bevölkerungsprognose, ein Rückgang der Bevölkerung auf 74 bis sogar 68 Mio. befürchtet werden (Destatis 2007). Der zunehmend geringer werdende Bevölkerungsanstieg bzw. die einsetzende Verringerung der Bevölkerung sind mit einer ansteigenden Lebenserwartung in der Bevölkerung einhergegangen. Zwischen 1962 und 2002 ist die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt von Männern und Frauen im Mittel um 2,2 Jahre pro Dekade gestiegen (Destatis 2006). So hatten Männer und Frauen in Westdeutschland im Jahr 1957 bei ihrer Geburt eine Lebenserwartung von 66,3 bzw. 71,4 Jahren. Nach der Sterbetafel 86
Eigene Berechnungen. Alle Angaben zu Preisen des Jahres 2000.
Soziale Ungleichheiten im Wandel
111
für den Zeitraum 2004/2006 betrug die Lebenserwartung bei Geburt von Männern im Vergleich der alten und neuen Bundesländern 76,9 bzw. 75,5 Jahre, bei Frauen waren es 82,2 bzw. 81,8 Jahre. Prognosen zur weiteren Entwicklung der Lebenserwartung lassen sich heute bereits für das Jahr 2050 treffen (Destatis 2007). So wird die Lebenserwartung von Frauen je nach Berechnungsvariante auf 88,0 bis 89,8 Jahre steigen, die Lebenserwartung von Männern dagegen auf 83,5 bis 85,4 Jahre. Abbildung 12: Altersstrukturwandel der Bevölkerung Deutschlands 100 90
Bevölkerungsanteil in %
80 70 60 50 40 30 20 10 0 1950
1955
1960
Altersgruppen
1965 0-19 J.
1970
1975 20-39 J.
1980 40-59 J.
1985
1990 60-79 J.
1995
2000
2005
80 J. und älter
Datenbasis: Destatis 1950-2005 Durch das Zusammenspiel von geringer werdenden Geburtenraten und kontinuierlich steigenden Lebenserwartungen kam es in Deutschland zu einem nachhaltigen Altersstrukturwandel in der Bevölkerung. In Abbildung 12 ist die Entwicklung der Altersstruktur der deutschen Bevölkerung seit 1950 (für den jeweiligen Gebietsstand der Bundesrepublik) differenziert nach fünf Altersgruppen dargestellt. Seit den 1950er Jahren verschoben sich die Bevölkerungsanteile der Altersgruppen deutlich zuungunsten der Jüngeren. Die Bevölkerung ist dadurch im Durchschnitt immer älter geworden. Diese als demographische Alterung bezeichnete Entwicklung führt dazu, dass immer weniger jüngere Bürgerinnen und Bürger die soziale Absicherung von immer mehr Älteren finanzieren müssen. Jüngere Menschen sind nach Eintritt in die Arbeitswelt häufig Nettozahler staatlicher Transferzahlungen, während Ältere nach Austritt aus der Ar-
112
Soziale Ungleichheiten im Wandel
beitswelt häufig Nettoempfänger sind. Im europäischen Vergleich ist die Situation in der Bundesrepublik im Jahr 2005 besonders prekär (Destatis 2006a, S. 12ff). Lediglich Italien hat einen höheren Anteil von Personen über 65 Jahren und nur wenige Mitgliedsstaaten haben eine geringere Geburtenrate als Deutschland. Durch die demographische Alterung stand die deutsche Sozialpolitik – unabhängig von der problematischen volkswirtschaftlichen Lage – unter beträchtlichem Druck, Reformen der sozialen Sicherungssysteme umzusetzen. Zusammengenommen stand der deutsche Sozialstaat Anfang der 1980er Jahre infolge der Ölkrise von 1973 und der deutschen Wiedervereinigung im Jahr 1990 vor großen Herausforderungen. Die Wirtschaft und der Arbeitsmarkt entwickelten sich schlecht und die Schulden der öffentlichen Haushalte waren beträchtlich. Die demographische Alterung der Bevölkerung war bereits abzusehen, auch wenn ihre finanziellen und sozialen Folgen möglicherweise noch nicht in ihrem vollen Unfang öffentlich wahrgenommen wurden. Die deutsche Sozialpolitik stand somit unter außerordentlichem Druck. Es stand dabei nicht weniger in Frage als der Erhalt des Sozialstaats selbst. Hinzu kamen die Lasten, die sich in Folge der deutschen Einigung einstellten. Durch die europäische Integration forcierte sich der Druck auf die politisch Handelnden zusätzlich, weil im Zuge der Einführung des Euro der externe Zwang zur Haushaltskonsolidierung hinzukam. Es wurde daher sowohl in der Politik, als auch in der Wissenschaft diskutiert, ob die staatlich organisierte soziale Absicherung der Bevölkerung, die mit den Bismarckschen Sozialreformen in Deutschland gegen Ende des 19. Jahrhunderts ihren Anfang nahm, tatsächlich die „Beste aller Welten“ sei (Mayer 2001). 3.1.5 Sozialpolitik zwischen 1982 und 2005 Nicht nur die Regierungen Deutschlands, sondern auch die Regierungen in den meisten anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sahen sich in den 1980er und 1990er veranlasst die sozialen Sicherungssysteme grundlegend zu reformieren. Dabei haben sich zwei gegensätzliche Modelle für eine nachhaltige Ausgestaltung der europäischen Wohlfahrtsstaaten herausgebildet, die den Rahmen der möglichen Reformen vorgeben (Esping-Andersen 2002). Neoliberale Reformvorschläge orientieren sich an der Politik der Regierungen unter der Premierministerin Thatcher in Großbritannien oder dem Präsidenten Reagan in den USA. Beide Regierungen haben in den 1980er Jahren auf wirtschaftliche Krisen mit massiven Einschnitten in die sozialen Sicherungssysteme reagiert. Diese sollten die Kosten der sozialen Sicherungssysteme senken und so über verringerte Lohnkosten wirtschaftliches Wachstum fördern. Die Einschnitte wurden allerdings mit hohen sozialen Kosten erkauft, so stiegen die Armutsrisikoquoten und die sozialen Ungleichheiten in dieser Zeit deutlich an. Demgegenüber stehen
Soziale Ungleichheiten im Wandel
113
heute Entwürfe einer Politik des so genannten ‚Dritten Weges’ zwischen dem liberalen Nachtwächter- und dem sozialistischen Versorgungsstaat (Giddens 1999), die von den sozialdemokratischen Regierungen unter Premierminister Blair in England und Bundeskanzler Schröder in Deutschland verfolgt wurde (Schröder und Blair 1999). Hierbei sollten die Sicherungssysteme umgebaut werden, um sie zu erhalten und zukunftsfähig zu machen. Die Erwerbstätigkeit der erwerbsfähigen Bevölkerung sollte dabei einerseits gefördert und andererseits aber auch eingefordert werden, um die Einnahmen der Sicherungssysteme zu erhöhen und Ausgaben, etwa für Arbeitslosenhilfe, zu senken. Ausgehend von ihren skizzierten Herausforderungen haben sich aber letztlich alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zum Ziel aktivierender, den Wohlfahrtsstaat erhaltender Reformen bekannt. Dabei sollte wirtschaftliches Wachstum mit sozialem Zusammenhalt vereinbart werden. So heißt es in der Präambel der diesbezüglichen Erklärung des Europäischen Rates zur Konferenz von Lissabon im Jahr 2000: Es sei das Ziel die EU „[…] zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen – einem Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen.“ (Rat der Europäischen Union 2001, KOM 2005). Fraglich war jedoch, ob die aktivierende Sozialpolitik das Ziel Wachstum und Beschäftigung zu vereinbaren tatsächlich erreichen konnte. Auch in Deutschland wurde von den beiden großen Volksparteien (CDU und SPD) kontrovers über die Zukunft der sozialen Sicherung diskutiert. Die CDU betonte im Sozialbericht 1983 nach ihrer Regierungsübernahme, dass die soziale Sicherung ernsthaft in Gefahr sei und daher umstrukturiert werden müsse, wobei auch stärker auf die Initiative des Einzelnen gesetzt werden solle (Schmidt 2005, S. 99). Insgesamt vertrat die Führung der CDU in den 1980er Jahren eher neoliberale Positionen und wollte den Sozialstaat abbauen. Ihre Arbeitnehmerorganisation, die CDA, war dagegen der Ansicht, dass der Sozialstaat in seinen Grundzügen erhalten bleiben müsse, woraus sich ein lang andauernder, innerparteilicher Konflikt ergab (Butterwegge 2006, S. 120ff). Als die SPD im Jahr 1998 wieder in die Regierungsverantwortung kam, war sie hinsichtlich ihres sozialpolitischen Kurses mindestens ebenso zerstritten wie zuvor die CDU (Butterwegge 2006, S. 159ff). Hier bestand die Spaltung vor allem zwischen einem linken Flügel unter dem Wirtschaftsminister und SPD-Parteivorsitzenden Oskar Lafontaine, der den Sozialstaat nicht nur erhalten, sondern auch weiter ausbauen wollte, und einem liberalen Flügel unter Kanzler Gerhard Schröder, der eine wachstumsfördernde und wirtschaftsfreundliche Politik vertrat. Erst mit dem Schröder-Blair-Papier (Schröder und Blair 1999) und dem Regierungsaustritt von Lafontaine und der Übernahme des SPD-Vorsitzes durch
114
Soziale Ungleichheiten im Wandel
Schröder im Jahr 1999 schloss sich die Parteiführung mehrheitlich dem Kanzler und dessen Vorstellung von der Übernahme des ‚Dritten Weges’ an (Dingeldey 2006, S. 7, Butterwegge 2006, S. 167). Auch die Große Koalition, die im Jahr 2005 unter der CDU-Kanzlerin Merkel die Regierung übernommen hat, tendiert seither zu diesem Modell des aktivierenden Sozialstaates und nicht zum neoliberalen Entwurf. So lauten die Schwerpunkte der im Nationalen Strategiebericht des BMAS (2006, S. 10) skizzierten nationalen Sozialpolitik: „Die Bundesregierung wird die notwendigen Reformschritte unternehmen, um das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der Renten-, Unfall-, Kranken- und Pflegeversicherung zu stärken. Den Stellenwert der Bildung als entscheidendem Zukunftsfaktor für den Zusammenhalt und die soziale Entwicklung der Gesellschaft wird sie in Kooperation mit den Ländern erhöhen. Die Verbesserung der Arbeitsmarktchancen von Jugendlichen, älteren Menschen, Langzeitarbeitslosen, Menschen mit Behinderungen sowie Migrantinnen und Migranten bleibt politischer Schwerpunkt.“
Die deutsche Sozialpolitik zwischen 1985 und 2005 lässt sich anhand der jeweiligen Bundesregierungen und ihren politischen Programme in drei Phasen einteilen (Schmidt 2005, S. 99ff): 1. Die Regierung Kohl vor der Wiedervereinigung (1982-1989). 2. Die Regierung Kohl nach der Wiedervereinigung (19901998). 3. Die Regierung Schröder (1998-2005).87 Dabei haben weder den christdemokratisch, noch den sozialdemokratisch geführten Regierungen ein neoliberales Programm radikaler sozialer Einschnitte verfolgt. Vielmehr gab es sowohl unter Kanzler Kohl als auch unter Kanzler Schröder ein zyklisches Aufkommen von sozialpolitischen Kürzungen. 3.1.5.1 Regierung Kohl 1982-1989 Die neugebildete Regierung Kohl konnte in den ersten Jahren bei den Kürzungen im Bereich der sozialen Sicherungssysteme auf eine zunehmende Akzeptanz von Einschränkungen in der Bevölkerung aufbauen (Alber 1989, S. 304ff). Hatten sich angesichts der Wirtschaftskrise im Jahr 1978 noch 73% der Bürger in Umfragen gegen Kürzungen von Sozialleistungen ausgesprochen, lag dieser Anteil im Kontext der prekären Haushaltslage des Jahres 1983 nur noch bei 44%. Die Bürger fingen also zunehmend an, Maßnahmen zu unterstützen, die soziale Einschnitte nach sich ziehen konnten. Die Kürzungen der öffentlichen Sozialleistungen der Vorgängerregierung unter Kanzler Schmidt wurden daher nach der Regierungsübernahme durch die Koalition von CDU und FDP unter Kanzler 87
Auf die Sozialpolitik der großen Koalition aus CDU und SPD unter der Bundeskanzlerin Angela Merkel (Amtsantritt 22.11.2005) wird nicht eingegangen.
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115
Kohl fortgeführt (Schmidt 2005, S. 99).88 Die meisten Kürzungen und Einschnitte fallen dabei in die ersten Regierungsjahre (1983/4). Hier wurden Anspruchsbegrenzungen oder Beitragserhöhungen bei der Arbeitslosenversicherung, der Ausbildungsförderung, der Rentenversicherung und der Sozialhilfe durchgesetzt. Die Einschnitte bei der Arbeitslosenversicherung waren besonders drastisch, so dass 1983 nur noch 40% der registrierten Erwerbslosen Arbeitslosengeld und 26% Arbeitslosenhilfe erhielten (Schmidt 2005, S. 100). So sank der Sozialaufwand nicht deutlich unter das Mitte der 1970er Jahre erreichte Niveau, es wurde aber ein weiterer Ausgabenanstieg trotz der steigenden Arbeitslosigkeit verhindert. Sie hat damit die unter der SPD-Regierung Schmidt begonnene Phase der Konsolidierung fortgesetzt (Alber 1989, S. 295). Im Jahr 1984 wandelte sich nach einer fast zehnjährigen Phase der Leistungsbeschränkungen und Abgabeerhöhungen das politische Klima in der Bundesrepublik (Alber 1989, S. 309). Immer größere Teile der Bevölkerung waren aufgrund der steigenden Arbeitslosigkeit auf Sozialleistungen angewiesen und daher nicht an deren Kürzung interessiert. So sank die Bereitschaft der Bürger, einen weitergehenden Abbau des Sozialstaates zu akzeptieren, deutlich. Bereits im Jahr 1984 sprachen sich in Umfragen mehr als zwei Drittel der Wahlberechtigen dafür aus, Sozialleistungen zu bewahren oder auszubauen. So wurde einem von Teilen der CDU angestrebten, weitergehenden Abbau des Sozialstaates letztlich in nur einem Jahr die politische Grundlage entzogen. Die Bundesregierung reagierte auf diesen Stimmungswandel im Jahr 1984 mit einer Erhöhung der Arbeitslosenhilfe, des Kindergeldes und der Ausbildungsförderung. Trotzdem verschlechterte sich das politische Klima im Land zuungunsten der Regierung. Die Landtagswahlen 1985 in Berlin, im Saarland und in Nordrhein-Westfalen verloren die Regierungsparteien eindeutig.89 Damit fanden die Bestrebungen zum weiteren Abbau des Sozialstaates ein vorzeitiges Ende. Im Jahr 1985 wurden erstmalig seit 1975 keine Kürzungen von Sozialleistungen mehr vorgenommen (Schmidt 2005, S. 101). Vielmehr hob die Regierung die Regelsätze der Sozialhilfe an, erhöhte das Wohngeld sowie die Transferleistungen für Arbeitslose und rechnete Erziehungszeiten auf die Rente an. Das Ausmaß der Erhöhungen zwischen 1985 und 1990 wird an der Entwicklung der Sozialhilfe und Standardrente deutlich (Alber 2000a). Der Regelsatz der Sozialhilfe stieg zwischen 1984 und 1990 um 10% und die Standardrente nach 40 Beitragsjahren um 6,5%. So brachten die Reformen spürbare Einkommensverbesserungen für Rentner und 88
Für einen Überblick über die wichtigsten sozialpolitischen Reformen der Regierung Kohl vor der Wiedervereinigung siehe (Jochem 2001, Tabelle A-1). Allein im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen verlor die CDU fast 7% der Stimmen und erzielte mit 36,5% der Stimmen ihr bisher schlechtestes Ergebnis in der Nachkriegszeit (Landeswahlleiter NRW 2007).
89
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Bedürftige. Ein ambivalentes Gesetz aus dieser Zeit ist dagegen die Gesundheitsreform von 1988 (Alber 2000a). In ihr wurden sowohl Einsparungen als auch Leistungsausweitungen im Bereich sozialer Dienste beschlossen.90 Eines der letzten Gesetze dieser Zeit, die Rentenreform von 1989, trat erst 1992 in Kraft und sollte die Finanzierung der Rentenversicherung langfristig sicherstellen (Jochem 2001). Sie koppelte die Rentenentwicklung an das Beitragsaufkommen, um die Beitragszahler angesichts der demographischen Entwicklung zu entlasten. Insgesamt gab es in den ersten acht Jahren der Regierung Kohl zwar weitere soziale Einschnitte, aber keinen Abbau des Sozialstaates (Alber 2000a, Schmidt 2005, S. 102). So betrug der Anteil des BIP der für die Finanzierung der sozialen Sicherung aufgewendet wurde, die so genannte ‚Sozialleistungsquote’, im Jahr 1990 in der Bundesrepublik 27,6%. Die Quote lag damit höher als im Jahr vor der Ölkrise von 1973, war. allerdings gegenüber ihrem Höchststand im Krisenjahr 1975 (31,4%) wieder deutlich geschrumpft. Diese Verringerung wurde von der Regierung Kohl und ihrer SPD-geführten Vorgängerregierung durch beträchtliche Einschnitte in den Leistungen und Anspruchsvoraussetzungen erreicht und mit Stimmverlusten bei den Wahlen Landtagswahlen des Jahres 1985 erkauft. Trotzdem konnte die Regierung Kohl ihr Ziel, die Sozialabgaben zu senken, nicht einlösen (Schmidt 2005, S. 157). Der Anteil der Sozialabgaben am Bruttoeinkommen der Arbeitnehmer stieg vielmehr von 34% im Jahr 1982 auf 35,9% im Jahr 1990 und erreichte so bereits vor der deutschen Einheit einen historischen Höchststand. 3.1.5.2 Regierung Kohl nach der Wiedervereinigung 1990-1998 Die Sozialpolitik der Regierung Kohl zwischen 1990 und 1998 war durch zwei Abschnitte gekennzeichnet (Jochem 2001): Während bis Mitte der 1990er Jahre die Konzentration auf der Bewältigung der deutschen Einheit lag, rückte bis 1998 die nachhaltige Finanzierung und der Umbau des Sozialstaates wieder in den Blickpunkt.91 In Folge der deutschen Einheit mussten die sozialen Sicherungssysteme der beiden deutschen Staaten harmonisiert werden. Vor dem Hintergrund einer kritischen außen- und innenpolitischen Lage entschied sich die Regierung Kohl dazu, das westdeutsche Sozialrecht und die sich daraus ableitenden Ansprüche auf die Bürger der ehemaligen DDR zu übertragen (Czada 1994). 90
Das Gesetz steigerte den Wettbewerb zwischen den Krankenkassen und führte einen Finanzausgleich auf Landesebene ein. Daneben sah es aber auch Ausweitungen der Pflegeleistungen vor, für die 50% der Einsparungen verwendet werden sollten (Alber 2000a, Jochem 2001). 91 Für einen Überblick über die wichtigsten sozialpolitischen Reformen der Regierung Kohl in den 1990er Jahren siehe (Jochem 2001, Tabelle A-2).
Soziale Ungleichheiten im Wandel
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Dieser Transformationsprozess begann mit der Sozialunion zwischen BRD und DDR im Zuge des Staatsvertrages vom 18.5.1990 (Haus der Geschichte 1990). Im Vertrag wurde die schrittweise Übernahme der westdeutschen Strukturen der sozialen Sicherung durch die DDR beschlossen. Finanziert werden sollten die zu erwartenden Defizite in den Sozialkassen durch Steuermittel im Rahmen der so genannten ‚Anschubfinanzierung’ durch die BRD. Diese Übernahme der westdeutschen Sozialpolitik begründete eine in der Geschichte beispiellose Umverteilung von Wohlstand zwischen der Bevölkerung der Bundesrepublik und den Bürgern der neuen Bundesländer (Schmidt 2005, S. 105). Von dieser Umverteilung profitierten vor allem die Empfänger von Altersrenten in den neuen Ländern. Ihre Anspruchszeiten wurden wie die Zeiten der Westdeutschen bewertet, obwohl sie deutlich weniger in die Kassen eingezahlt hatten. In der Folge stiegen die Durchschnittsrenten in den neuen Ländern ausgehend von 50% des westdeutschen Niveaus im Jahr 1990 auf 110% im Jahr 1995 (Alber et al. 2001, S. 661). Damit wurden die Einsparungen der Rentenversicherungsträger aufgrund einer geringeren Grundrente der ostdeutschen Männer und Frauen durch deren längere Lebensarbeitszeit mehr als ausgeglichen. Auch die westdeutschen Krankenversicherungen und die Arbeitslosenversicherung wurden entsprechend übernommen. Zudem sollte der ostdeutsche Arbeitsmarkt durch die Förderung von Frühverrentungen zusätzlich auf Kosten der Rentenversicherung entlastetet werden. Insgesamt waren die resultierenden finanziellen Belastungen für die Sozialversicherungen immens. Von den Transferzahlungen aus den alten in die neuen Bundesländer, die sich bis 1997 auf geschätzte 1186 Mrd. DM beliefen, wurde ein Viertel über die Sozialversicherungen geleistet (Jochem 2001). Auch bei der Angleichung der Lohnpolitik einigten sich die Tarifparteien auf eine stufenweise Übernahme des westdeutschen Lohnniveaus in den neuen Bundesländern. Dies glich zwar die Lebensbedingungen der Erwerbstätigen analog zu den Empfängern staatlicher Transfers ebenfalls an, führte aber aufgrund der geringeren Produktivität in den neuen Ländern zu großen Problemen für den Arbeitsmarkt (Jochem 2001). Gegen Ende des Jahres 1993 war die institutionelle Vereinigung der beiden deutschen Staaten weitgehend abgeschlossen (Jochem 2001). Das durch die großen Investitionen in Infrastruktur und Kaufkraft der ostdeutschen Bevölkerung ausgelöste Wirtschaftswachstum endete allerdings ebenfalls. So setzte in Folge einer schlechten weltwirtschaftlichen Lage auch in Deutschland eine Rezession ein. Die Regierung Kohl war zudem bestrebt, die von ihr zuvor vorangetriebenen und im Rahmen der Wirtschafts- und Währungsunion innerhalb der EG beschlossenen und zum 1.11.1993 in Kraft getretenen Defizitkriterien92 92
Laut dem Zusatzprotokoll „über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit“ des Vertrages von Maastricht (EUV 1992) durfte das Verhältnis zwischen dem geplanten oder tatsächlichen
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einzuhalten (Jochem 2001). Sie leitete daher eine neue Phase der sozialpolitischen Kürzungen und Beitragssteigerungen ein. Als Auftakt für diese neue Phase kann – paradoxerweise – die Einführung der neuartigen Pflegeversicherung im Jahr 1994 gelten. Sie sollte die durch den demographischen Wandel rapide steigenden Betreuungs- und Pflegekosten finanzieren (Jochem 2001). Im Unterschied zu den anderen drei Sozialversicherungen war die Pflegeversicherung erstmals nach dem Budgetprinzip organisiert, d.h. Leistungen orientierten sich nicht am tatsächlichen Bedarf, sondern wurden durch die Einnahmen der Versicherung begrenzt. Zudem war sie nicht voll paritätisch durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber finanziert, weil die Arbeitgeber durch den Wegfall eines gesetzlichen Feiertages eine Kompensation für ihren Anteil erhielten. Dadurch wurden in erster Linie die Arbeitnehmer belastet. Im Jahr 1994 wurden weiterhin deutliche Einschnitte bei der Arbeitslosenversicherung vorgenommen, die in den Folgejahren durch Verschärfungen bei den Zumutbarkeitskriterien ergänzt wurden (Jochem 2001). Dabei wurden die Bezugsdauer der Arbeitslosenhilfe auf ein Jahr beschränkt, Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik zurückgefahren und auch die Lohnersatzquoten gesenkt. Insgesamt wurden durch diese Maßnahmen 12,5 Mrd. DM im Bereich der Arbeitslosenversicherung eingespart. Im Jahr 1996 wurden dann nicht mehr nur Leistungen gekürzt, sondern mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz – im Sinne der aktiven Arbeitsmarktpolitik – erstmals auch der Arbeitsmarkt dereguliert. So wurde der Kündigungsschutz für Arbeitnehmer gelockert und Erleichterungen für befristete Arbeitsverträge durchgesetzt. Außerdem erschwerte die Bundesregierung den vorzeitigen Übergang in den Ruhestand. In der gesetzlichen Krankenversicherung wurden in den Jahren 1996/97 Einschränkungen bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und erhöhte Zuzahlungen und Eigenbeteiligungen beschlossen. Im Jahr 1997 wurde dann noch eine, über die Reform von 1989 hinausgehende, Anpassung der Rentenentwicklung an die Veränderung der Altersstruktur – und somit de facto eine Kürzung der Renten – beschlossen. Die – möglicherweise alternativlose – Entscheidung, im Zuge der Einheit eine rapide Angleichung der Lebensverhältnisse anzustreben, war eine der folgenschwersten politischen Entscheidungen der jüngeren deutschen Geschichte. Sie führte zu beträchtlichen Defiziten in den Sozialkassen und stellte ein beträchtliches Hindernis für die wirtschaftliche Entwicklung der neuen Bundesländer dar. Die immensen Kosten dieser Entscheidung wurden einerseits durch eine gesteigerte Neuverschuldung und andererseits durch steigende Sozialversicherungsbeiträge finanziert. Dadurch verdoppelte sich zwischen 1989 und 2005 der Schuldenstand der öffentlichen Haushalte von 473 auf 1153 Mrd. öffentlichen Defizit und dem Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen 3 % und das Verhältnis zwischen dem öffentlichen Schuldenstand und dem Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen 60 % betragen.
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DM. Trotz nicht unerheblicher Leistungs- und Anspruchskürzungen mussten zugleich die Sozialversicherungsbeiträge deutlich angehoben werden. Sie stiegen von 35,9% im Jahr 1990 auf 42,1% im Jahr 1998 und wurden so zu einem beträchtlichen Hindernis für die Beschäftigungsentwicklung (Schmidt 2005, S. 157, Alber 2000a, Alber 2002). Diese Folgekosten der Einigung mussten vor allem von den abhängig Beschäftigten getragen werden. Selbstständige und Beamte waren von den Einschränkungen in den Leistungen der Sozialversicherungen und auch von den Beitragserhöhungen dagegen nicht betroffen und können somit, neben den Pensionären in den neuen Ländern, sozialpolitisch als Profiteure der Einheit angesehen werden. Das soziale Netz hatte am Ende der Regierung Kohl, insbesondere durch die Neuregelungen beim Arbeitslosengeld, beim Kündigungsschutz, bei Zuzahlungen und Lohnersatzleistungen durch die Krankenkassen sowie die verringerte Rentenanpassung, deutlich weitere Maschen als in den Jahrzehnten zuvor. Es hatte aber auch eine beträchtliche Leistung erbracht und innerhalb von wenigen Jahren die Lebensverhältnisse der 15 Millionen Bürger der ehemaligen DDR massiv verbessert. 3.1.5.3 Regierung Schröder 1998-2005 Die Sozialpolitik der Regierungen unter Bundeskanzler Schröder erscheint im Rückblick zweigeteilt. In die Anfangszeit des ‚Rot-Grünen-Projektes’ 1998-2000 fallen vorrangig Entscheidungen, die vorangegangene sozialpolitische Härten, die durch die Regierung Kohl beschlossen worden waren, rückgängig machten. Ab dem Jahr 2001 und spätestens nach der Wiederwahl der Regierung im Jahr 2002 verschärfte sie ihren sozialpolitischen Kurs vor dem Hintergrund einer angespannten Haushaltslage und einer anhaltend hohen Arbeitslosigkeit. Allerdings kann auch die Amtszeit der Regierung Schröder nicht als neoliberale Wende der deutschen Sozialpolitik gewertet werden. So vollzog sich innerhalb der Führung der SPD ein Paradigmenwechsel. Sie stellte dabei nicht den Sozialstaat selbst, aber dessen Ausrichtung und Ausgestaltung in Frage und favorisierte das Modell eines aktivierenden Sozialstaates. Nach der gewonnenen Wahl von 1998 war die SPD in Zugzwang, da sie im Wahlkampf angekündigt hatte, die sozialpolitischen Einschnitte der Vorgängerregierung zurückzunehmen. Mit dem Gesetz zu Korrekturen in der Sozialversicherung und zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte vom 25.11.1998 wurden viele dieser Wahlversprechen eingelöst (Schmidt 2005, S. 114f): Für die Rentner wurde der durch die letzte Rentenreform eingefügte demographische Faktor bei der Rentenanpassung für die Jahre 1999/00 ausgesetzt und weitere Sparmaßnahmen bei den Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten zurückgenommen. Für die Arbeitnehmer wurde der Kündigungsschutz, der mit dem Beschäftigungsför-
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derungsgesetz von 1996 gelockert worden war, wieder verschärft und die zuvor gesenkte Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wieder auf 100% erhöht. Im Bereich der Krankenversicherung wurden mit dem GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz vom 19.12.1998 und dem GKV-Gesundheitsreformgesetz 2000 vom 22.12.1999 ebenfalls viele Änderungen der Vorgängerregierung wieder zurückgenommen (BMAS 2001b, S. 325f).93 Allerdings wurden die Belastungen der Haushalte in den ersten Jahren der Regierung Schröder nicht nur gesenkt. So kam mit der in mehreren Stufen eingeführten Ökosteuer eine zusätzliche Verbrauchssteuer für die privaten Haushalte hinzu, die auf Strom aus nichtregenerativen Quellen und Mineralölprodukte erhoben wurde und so zu neuen Lasten führte. Das Gesetz zur Sanierung des Bundeshaushalts vom 22.12.1999 legte allerdings fest, dass diese neuen Einnahmen zu großen Teilen zur Finanzierung der Rentenversicherung verwendet werden sollten (BMAS 2001b, S. 321). Indirekt vergrößerte die Regierung damit das Ungleichgewicht zwischen Arbeitsnehmern und Arbeitgebern bei der Finanzierung der sozialen Sicherung weiter, das bei der Pflegeversicherung von der Vorgängerregierung durchgesetzt worden war. Nach der Jahrtausendwende wurden mit der Rentenreform 2000/2001 dann erstmals auch durch die Regierung Schröder tiefere Einschnitte in das soziale Netz vorgenommen. Wichtigste Neuerung war die erneute Anpassung der Rentenformel (Schmidt 2005, S. 118). Dabei wurde der 1998 gestrichene ‚demographische Faktor’ durch den ‚Nachhaltigkeitsfaktor’94 ersetzt, der den Rentenbeitrag der Arbeitnehmer auf 20% bis 2020 und auf 22% bis 2030 begrenzte und so das Prinzip der Budgetierung auch für die Rentenversicherung übernahm. Um die Auswirkungen dieser Entscheidung auf die zukünftigen Rentnergenerationen zu begrenzen, wurde dafür mit der so genannte ‚RiesterRente’ eine zweite, privat finanzierte und staatlich geförderte Säule der öffentlichen Alterssicherung eingeführt. Die gleichzeitige Verabschiedung einer allgemeinen Mindestrente in Höhe der Sozialhilfe nahm auch innerhalb der Rentenversicherung eine Umverteilung von Leistungen vor. Dadurch sollte den Rentnerinnen und Rentner mit niedrigen Renten der Gang zum Sozialamt erspart und Armut im Alter verhindert werden (BMAS 2001b, S. 323). Weitere Leistungskürzungen ergaben sich dagegen aus der Abschaffung der Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten, die durch eine deutlich niedrigere allgemeine Erwerbsminderungsrente ersetzt wurden. Während Renterinnen und Rentner höher belastet 93
Direkte Auswirkungen hatten die Aufhebung von Zuzahlungen bei Zahnersatz und Medikamenten indirekt wirkte vor allem der Risikostrukturausgleich zwischen GKV und PKV, der die Einnahmen der GKV etwas verbesserte. 94 Einer zusätzlichen Verminderung der Rentenanpassung bei Verschlechterung des Verhältnisses von Beitragszahlern und Zahlungsempfängern (Schmidt 2005, S. 118).
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wurden, beschloss die Regierung, Familien stärker zu fördern. So wurde das Kindergeld gleich mehrfach erhöht und Eltern ein zusätzlicher, steuerlich absetzbarer Einkommensfreibetrag gewährt (BMAS 2001b, S. 346f). Durch Verbesserungen bei der so genannte ‚Elternzeit’, dem staatlich geförderten Erziehungsurlaub und durch die Förderung von Ganztagsschulen95 wurde darüber hinaus die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert (Schmidt 2005, S. 119). Auch die Ausbildungsförderung wurde reformiert, wodurch die Zahl der BAföG Empfänger und die Leistungen, die diese erhielten, deutlich gesteigert wurde. Die stärksten Einschnitte in die sozialen Sicherungssysteme durch die Regierung Schröder wurden allerdings in ihrer zweiten Legislaturperiode auf dem Feld der Arbeitsmarktpolitik durchgesetzt. So nahmen die vier ‚HartzGesetze’ beträchtliche Kürzungen bei der Arbeitslosenhilfe sowie dem Arbeitslosengeld vor und förderten dafür Leiharbeit, geringfügige Beschäftigung, die Selbstständigkeit vormals Arbeitsloser mit Kleinunternehmen. Das im Januar 2005 in Kraft getretene, vierte und wichtigste Gesetz (‚Hartz IV’) erwirkte die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II. Dies bedeutete für die ehemaligen Bezieher der Arbeitslosenhilfe in der Regel deutliche Einbußen (Zimmermann 2005). So wurden nun die Einkommen der anderen Haushalts- oder Familienmitglieder, den so genannten ‚Bedarfsgemeinschaften’, auf die Höhe der Leistungen aus dem Arbeitslosengeld II angerechtet. Dadurch mussten insbesondere Paare, bei denen der andere Partner erwerbstätig war, finanzielle Einbußen hinnehmen, während Alleinerziehende und ehemals allein verdienende Arbeitslose mit geringem Einkommen bessergestellt wurden (Koch und Walwei 2005). Das Arbeitslosengeld wurde nur noch 12 bzw. 18 Monate (bei älteren Arbeitnehmern) statt bis zu 32 Monate ausgezahlt. Zugleich verschärften die Maßnahmen die Zumutbarkeitskriterien für Arbeitslose. Sie mussten nun auch Stellen annehmen, für die sie deutlich überqualifiziert waren, um Leistungskürzungen zu entgehen. Die verkürzten und verschärften Anspruchskriterien beim Arbeitslosengeld I haben das Risiko des sozialen Abstieges bei Arbeitslosigkeit für alle Erwerbstätigen deutlich erhöht (Giesecke und Groß 2005). Sie hatten nun nicht mehr drei Jahre, sondern häufig nur noch weniger als ein Jahr Zeit, bevor sie nach einer Kündigung zu Empfängern von ‚Hartz-IV’ und damit von Sozialhilfe wurden. Die eingesparten Mittel sollten allerdings zum Teil für eine verbesserte Vermittlung der Arbeitslosen durch die Arbeitsagenturen aufgewendet werden, um dies zu verhindern. Im Fall von gesamtwirtschaftlichen Konjunkturkrisen, die häufig länger als ein Jahr andauern, würden diese Anstrengungen allerdings nur wenig Erfolg versprechend sein. Insgesamt haben die Hartz-Gesetze die Lohnkosten der Arbeitgeber 95
Seit Mitte 2003 in Zusammenarbeit mit den Bundesländern.
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gesenkt, den Arbeitsmarkt flexibilisiert und die Finanzierung der Arbeitslosenversicherung langfristig gesichert. Dies wurde allerdings mit einer erheblichen Verringerung der sozialen Absicherung von Arbeitslosen erkauft. Insgesamt war die Sozialpolitik der Regierung Schröder durch erhebliche Gegensätze gekennzeichnet. Während sie zu Anfang ihrer ersten Legislaturperiode Wahlversprechen einlöste und sozialpolitische Härten der Regierung Kohl zurücknahm, fallen in den Zeitraum 2000 bis 2005 umfangreiche Kürzungen von Sozialleistungen, die in diesem Ausmaß zuvor von kaum einer anderen Bundesregierung beschlossen worden waren. Betroffen war davon vor allem die Bevölkerung im mittleren Lebensalter. Ihre durch die Arbeitslosenversicherung organisierte soziale Absicherung wurde erheblich eingeschränkt. Durch das Zusammenspiel zwischen diesen sozialpolitischen Kürzungen und einer weiterhin schlechten Lage auf dem Arbeitmarkt waren mehr Menschen dieser Altersgruppe in ihrer materiellen Existenz bedroht als wahrscheinlich jemals zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Allerdings haben die Maßnahmen nicht nur kurzfristig zu einer Entlastung der Sozialkassen beigetragen, sondern auch mittel- und langfristig die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme nachhaltiger gestaltet. So lagen die Beiträge zu den Sozialversicherungen 2005 zwar noch bei 40,9% der Bruttolöhne und damit nur unwesentlich unter denen des Jahres 1998, sie sind allerdings trotz einer höheren Arbeitslosigkeit nicht weiter angestiegen. Langfristig sollten die Gesetze das Beschäftigungswachstum und die Erwerbsbeteiligung der Bevölkerung fördern. Dadurch sollte die Finanzierung der sozialen Sicherung auf mehr Beitragszahler und weniger Leistungsempfänger verteilt werden. Im Sinne der Politik des ‚Dritten Weges’ wurde der deutsche Sozialstaat dadurch auch für die Zukunft erhalten, wenn auch unter beträchtlichen sozialen Kosten wie sich nachfolgend zeigen wird. 3.2 Wandel der Sozialstruktur Die Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme hat einen entscheidenden Einfluss auf die Struktur sozialer Ungleichheiten (Schmidt 2005, S. 273). Wohlfahrtsstaatliche Transfersysteme haben etwa einen beträchtlichen Einfluss auf das Ausmaß von Einkommensungleichheiten (Kohl 1999, Goodin et al. 1999, Birkel 2006), auf die Bildungschancen und Kompetenzen der Bevölkerung (Prenzel et al. 2005, Entorf und Minoiu 2005), auf die Gewährleistung von Beschäftigungschancen (Alber 2000b), auf die Möglichkeiten zu beruflicher Mobilität (DiPrete et al. 1997), auf die Integrationschancen von Migrantinnen und Migranten (Entorf und Minoiu 2005) und auch auf die Durchsetzung der Chancengleichheit für Frauen (Esping-Andersen 2002, Clement und Myles 1994). Unter dem Eindruck einer schwindenden Wirtschaftsdynamik, einer
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123
hohen Arbeitslosigkeit und einer fortgesetzten demographische Alterung wurde die Sozialpolitik der meisten europäischen Staaten seit den 1990er Jahren grundlegend reformiert. In Deutschland wurde dabei, im Einklang mit Bestrebungen auf europäischer Ebene im Zuge der Lissabon-Strategie des Europäischen Rates, vor allem auf sozialpolitische Kürzungen und Maßnahmen zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes gesetzt (Dingeldey 2006). Nachfolgend soll daher der Frage nachgegangen werden, welche Folgen die ökonomischen und sozialpolitischen Wandlungsprozesse auf die Struktur sozialer Ungleichheit in Deutschland und Europa hatten. Bei der Darstellung der Entwicklung in Deutschland wird vorrangig auf eigene Auswertungen zurückgegriffen. Die eigenen Analysen basieren auf den Daten des deutschen Sozio-oekonomischen Panels (SOEP, Wagner et al. 2007). Zur Einordnung der deutschen Befunde wird die Entwicklung der Indikatoren in anderen europäischen Wohlfahrtsstaaten skizziert. 3.2.1 Datengrundlagen Das SOEP ist eine repräsentative Längsschnittbefragung, die seit 1984 jährlich durchgeführt wird. Das Hauptanliegen der Studie ist die zeitnahe Erfassung des politischen und gesellschaftlichen Wandels in Deutschland. Dazu werden neben objektiven Lebensumständen auch subjektive Wahrnehmungen, wie sie in der individuellen Zufriedenheit und Bewertung der Lebenssituation zum Ausdruck kommen, erfragt. Das SOEP ist als Haushaltsbefragung konzipiert, die sich an alle im Haushalt lebenden Personen ab 16 Jahre richtet. Für die vorliegenden Analysen wurden alle Wellen des SOEP bis einschließlich des Jahres 2006 berücksichtigt. Für die erste Erhebung wurde 1984 eine für Westdeutschland repräsentative Stichprobe befragt, die insgesamt rund 12.000 Personen in 6.000 Haushalten umfasste. Personen mit türkischer, griechischer, jugoslawischer, spanischer oder italienischer Staatsangehörigkeit waren überrepräsentiert, um zumindest für die am stärksten in Deutschland vertretenen Migrantengruppen repräsentative Aussagen treffen zu können. Aufgrund von Verweigerungen der weiteren Teilnahme, Umzügen ins Ausland und Todesfällen kam es über die Jahre unweigerlich zu Stichprobenausfällen (Panelmortalität). Begegnet wird der abnehmenden Teilnehmerzahl durch die Ziehung von Ergänzungsstichproben, so zuletzt im Jahr 2006. Außerdem wurden in der Vergangenheit mehrere Zusatzstichproben gezogen, um aktuellen gesellschaftlichen Ereignissen und Entwicklungen wie z.B. der Wiedervereinigung Deutschlands und der zeitweilig verstärkten Zuwanderung aus dem Ausland gerecht werden zu können. Im Jahr 2000 wurde zudem eine umfangreiche Innovationsstichprobe erhoben, die neben der Stabilisierung
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der Fallzahl auch zur Erprobung neuer Erhebungskonzepte diente. Gegenwärtig umfasst das SOEP fast 28.000 Personen in 11.500 Haushalten. Die Befragungen im SOEP, die als persönliche Interviews konzipiert sind, basieren auf verschiedenen Erhebungsinstrumenten: Mit dem Haushaltsfragebogen werden vom Haushaltsvorstand aktuelle Eckdaten zur Wohnsituation, zum Einkommen und zur Haushaltskonstellation erfasst. Der Personenfragebogen wendet sich an alle Haushaltsmitglieder im Alter ab 18 Jahren und bezieht sich auf personenbezogene Angaben zur Lebenssituation. Zu im Haushalt lebenden Kindern und Jugendlichen werden Informationen von den Eltern erhoben. Zudem werden von allen Teilnehmern in einem Lebenslauffragebogen einmalig Angaben zum bisherigen Lebensverlauf, insbesondere zur Erwerbs- und Familienbiografie, erfragt. Fragen zur Gesundheit finden sich vor allem im Personenfragebogen. Die Gesundheit stellt zwar nach wie vor keinen Themenschwerpunkt des SOEP dar, die Zahl der Gesundheitsfragen hat in den letzten Jahren aber sukzessive zugenommen. So stellt dass SOEP mittlerweile Indikatoren zur subjektiven Gesundheit, zum Gesundheitsverhalten und zur Gesundheitsversorgung der Befragten bereit. Die Analysemöglichkeiten bleiben allerdings hinter denen von speziellen Gesundheitssurveys zurück. Dafür lassen sich Wechselwirkungen zwischen ungleichen Lebensbedingungen und der Gesundheit im Querund Längsschnitt differenziert beschreiben. Die folgenden Analysen zum Wandel der Sozialstruktur konzentrieren sich auf die Bevölkerung im mittleren Lebensalter, das in der Altersspanne von 25 bis 69 Jahren verortet wird. Das Leben dieser Altersgruppe ist um die Teilnahme an der Arbeitswelt strukturiert (Kohli 1990). An den Grenzen dieses Altersbereiches finden sich Menschen, die in den Arbeitsprozess eintreten (Altersgruppe 25-35 Jahre) oder gerade aus ihm ausscheiden bzw. ausgeschieden sind (55-69 Jahre). Männer und Frauen im mittleren Lebensalter sind durch die enge Anbindung ihrer sozialen Reproduktion an den Arbeitsmarkt direkt von den geschilderten Wandlungsprozessen betroffen. Dabei werden auf Basis des SOEP die Wellen 1984 bis 1989 für das frühere Bundesgebiet und 1990/1 bis 2006 für das vereinigte Deutschland betrachtet. Einbezogen wurden Befragte im Alter zwischen 25 und 69 Jahren. Insgesamt basieren die Ergebnisse auf den Angaben von 44.918 Personen (49,7% Männer, 50,3% Frauen; Altersdurchschnitt 44,2 Jahre), die zusammen 757.855 Mal (durchschnittlich 10,4 Mal pro Person) befragt wurden. Für die zum Vergleich herangezogenen, anderen europäischen Wohlfahrtsstaaten werden – soweit nicht anders gekennzeichnet – aggregierte Daten für die gesamten Bevölkerungen verwendet. Die Daten zur Entwicklung in der EU werden kontinuierlich durch das Statistische Amt der Europäischen Union (Eurostat) veröffentlicht. Die Wohlfahrtsstaaten in Europa werden anhand ihrer politischen
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und institutionellen Traditionen fünf Wohlfahrtsregimen zugeordnet.96 Anschließend werden für alle Staaten innerhalb eines Wohlfahrtsregimes die Mittelwerte der jeweiligen Indikatoren gebildet. In der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung werden zumeist Staaten und nicht ihre Bevölkerungen als Merkmalsträger betrachtet. Dies hat auch für die Datenanalysen Konsequenzen, so beziehen die für die Wohlfahrtsregime ausgewiesenen Mittelwerte die enthaltenen Staaten zu gleichen Teilen und nicht nach Bevölkerungsgröße gewichtet ein. 3.2.2 Allgemeine Wohlfahrtsentwicklung In Deutschland gibt es eine lange Tradition von Theorien und Analysen zur Wohlfahrtsentwicklung, die eng mit der so genannten ‚Sozialindikatorenbewegung’ verbunden ist (Zapf 1984, Habich 2002). Ausgehend von grundlegenden Arbeiten aus der skandinavischen Wohlfahrtsforschung wird dabei argumentiert, dass Wohlfahrt nicht nur durch staatliche Institutionen und den Markt materiell erzeugt werden kann, sondern sich auch in der sozialen Einbindung und den Verwirklichungschancen der Individuen niederschlagen sollte. Eine nachhaltige Wohlfahrtsentwicklung muss objektive und subjektive Aspekte der individuellen Wohlfahrt nach dem Diktum „having-loving-being“ vereinen (Allard 1995). Moderne Wohlfahrtsstaaten sollen ihre Bürger nicht nur materiell absichern (‚having’), sondern auch immateriell für ihr Wohlbefinden sorgen (‚loving’) und ihnen Entwicklungschancen und Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen (‚being’). Die gesamtgesellschaftliche Wirtschaftsentwicklung und die Entwicklung der individuellen Wohlfahrt in der Bevölkerung sind dabei untrennbar miteinander verbunden. Die Wirtschaftsentwicklung gibt den Rahmen dessen vor, was auf die Bürger bzw. unter den Bürgern verteilt werden kann. Sie stellt aber, wie Analysen zur Entwicklung der Lebensqualität immer wieder zeigen, weder eine notwendige, noch eine hinreichende Bedingung für eine Steigerung der Lebensqualität dar (Easterlin 1995, 2001).
96
Zur Einteilung der Wohlfahrtsregime vgl. Abschnitt 3.1.1, insbesondere Seite 93ff.
126
Soziale Ungleichheiten im Wandel
Tabelle 5: Indikatoren für den Wandel individueller Wohlfahrt und sozialer Lagen in Deutschland Objektive Dimension Wohlstand
Armut
Subjektive Dimension
Netto-Äquivalenzeinkommen (Euro zu Preisen des Jahres 2006)
Allgemeine Lebenszufriedenheit (Anteil von Zufriedenheit 8-10 auf einer elfstufigen Skala in %)
Verfügbarkeit: SOEP & RKI
Verfügbarkeit: SOEP & RKI
Armutsrisikoquote (Anteil von Personen, denen Äquivalenzeinkommen von weniger als 60% des gesamtgesellschaftlichen Medians zur Verfügung stehen, in %)
Sorgen um die eigene wirtschaftliche Lage (Anteil „großer Sorgen“ auf einer dreistufigen Skala in %)
Verfügbarkeit: SOEP & RKI
Verfügbarkeit: SOEP
Quelle: Eigene Darstellung Bei der Analyse zur Wohlfahrtsentwicklung sollen daher – analog zur Konzeption der Armuts- und Reichtumsberichterstattung – sowohl Reichtumsals auch Armutsindikatoren berichtet werden, die objektive und subjektive Wohlfahrtsdimensionen abdecken (Volkert 2003, Habich 1996). Aufbauend auf den vorliegenden Indikatorensätzen wurden vier Wohlfahrtsindikatoren ausgewählt, die vergleichsweise allgemeine Maße subjektiven bzw. objektiven Reichtums bzw. subjektiver und objektiver Armut darstellen (Tabelle 5). Als objektive und materielle Dimensionen der individuellen Wohlfahrt werden das Netto-Äquivalenzeinkommen und die Armutsrisikoquote untersucht. Als subjektive bzw. psychosoziale Dimensionen werden die allgemeine Lebenszufriedenheit und selbstberichtete Sorgen um die eigene wirtschaftliche Lage berücksichtigt. Die vier Indikatoren kommen dabei dem im theoretischen Teil erläuterten Konstrukt der primären Zwischengüter in der erklärenden Soziologie nahe.97 Primäre Zwischengüter sind geeignete Mittel, um menschliche Grundbedürfnisse, wie physisches Wohlbefinden oder Wertschätzung durch signifikante Andere, zu befriedigen. Gleichzeitig werden sie durch soziale Systeme bereitgestellt. Am unterschiedlichen Zugriff auf primäre Zwischengüter lässt sich zudem die Relevanz von sozialen Kategorien wie Stand, Klasse oder Schicht festmachen. Sie sind die Ursache dafür, dass aus der Integration von Akteuren in soziale Systeme auch soziale Ungleichheiten entstehen. Zudem sind beide Wohlfahrtsdimensionen für die medizinsoziologische Theoriebildung, die davon aus97
Vgl. dazu Abschnitt 2.1.4.
Soziale Ungleichheiten im Wandel
127
geht, dass materielle und psychosoziale Mechanismen die Gesundheit und das Gesundheitsverhalten der Akteure direkt beeinflussen, anschlussfähig.98 Zur Analyse des sozialstrukturellen Wandels muss auf den allgemeinen Wandel der Lebensbedingungen in der Bevölkerung eingegangen werden. Die zentralen Kenngrößen der Wirtschaftsentwicklung werden im Rahmen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung anhand der Indikatoren Bruttoinlandsprodukt, Bruttosozialprodukt und Volkseinkommen erfasst (Hauser 2001). Das Bruttoinlandsprodukt beschreibt den Wert der im Inland erzeugten Produkte und Dienstleistungen und stellt einen allgemeinen Indikator für die konjunkturelle Entwicklung dar. Das Bruttosozialprodukt (BSP), auch Bruttonationaleinkommen genannt, bereinigt das BIP um den Saldo der Einkommensströme zwischen In- und Ausland.99 Das Bruttosozialprodukt wird allerdings auch durch die Verluste der Unternehmen und durch Steuern und Subventionen vergrößert, obwohl diese nicht zur Steigerung des gesamtgesellschaftlichen Wohlstands beitragen. Das so genannte ‚Volkseinkommen’ berücksichtigt diese Störgrößen und setzt sich aus der Summe aller erzielten Einkommen aus Unternehmertätigkeit oder Vermögen und den Einkünften aus unselbstständiger Erwerbstätigkeit zusammen. Die drei Kenngrößen unterscheiden sich zwar in ihrem Niveau, entwickeln sich zumeist aber gleichförmig im Zeitverlauf. Um Unterschiede im Wohlstandsniveau abzubilden, ist daher weniger die Wahl der Kennzahl, sondern vielmehr der Bezug zur Bevölkerungsgröße (und damit die Darstellung des pro Kopf gewichteten BIP, BSP oder auch Volkseinkommens) wichtig.
98
Vgl. dazu Abschnitt 2.2.3. Sie entstehen durch Gewinne, die deutsche Unternehmen im Ausland erzielen und durch Kapitalabflüsse an ausländische Unternehmen, die in Deutschland erwirtschaftet wurden.
99
128
Soziale Ungleichheiten im Wandel
Abbildung 13: Wohlstandsentwicklung in Europa gemessen am BIP pro Kopf zu Preisen von 2005 nach Wohlfahrtsregimen 35
Tsd. Euro pro Einwohner
30
25
20
15
10
5
0
osteuropäisch
südeuropäisch 1995
konservativ 1998
liberal 2002
sozialdemokratisch
2006
Datenbasis: Eurostat (2008), Indikator: RGDPH In den meisten Wohlfahrtsstaaten Europas gab es in den 1990er Jahren nach der Wachstumsschwäche in den 1980er Jahren deutliche Wohlstandszuwächse (Eurostat 2008, Indikator: RGDPH). In Abbildung 13 ist die Entwicklung des BIP pro Kopf in Euro zu Preisen des Jahres 2005 für die fünf Wohlfahrtsregime dargestellt, denen sich die Mitgliedsstaaten der EU27 zuordnen lassen. Für die Darstellung wurden für die Wohlfahrtsregime100 Mittelwerte auf Basis der von Eurostat bereitgestellten Werte der Mitgliedsstaaten gebildet. Dabei zeigt sich, dass weiterhin ein beträchtliches Ausmaß an Unterschieden im gesamtgesellschaftlichen Wohlstand und dessen zeitlicher Entwicklung zwischen den Mitgliedsstaaten besteht. Das mittlere BIP pro Einwohner ist in den reicheren sozialdemokratischen Staaten gegenüber den ärmeren Mitgliedsstaaten Süd- und Osteuropas etwa zwei- bis sechsfach erhöht. In den 1990er Jahren gab es allerdings sowohl in den südeuropäischen als auch in den liberalen Wohlfahrtsstaaten ein sehr dynamisches Wirtschaftswachstum von zeitweise über 5% pro Jahr. Dadurch haben sich die Differenzen dieser Staaten zu den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten beträchtlich verringert. Gemessen am BIP pro Einwohner waren die dem liberalen Regime zugeordneten Staaten Großbritannien und Irland im Jahr 2006 sogar reicher als der Durchschnitt der konservativen Staaten Zent100
Zu den enthaltenen Staaten vgl. Abschnitt 3.1.1.
Soziale Ungleichheiten im Wandel
129
raleuropas. So war in den konservativen Staaten in den 1990er Jahren nur ein geringer Zuwachs an Wohlstand zu beobachten. Das Wachstum des BIP zwischen 1990 und 2002 betrug in Österreich, Frankreich, Belgien und Deutschland durchschnittlich nur etwa 2,0%. Allein die kleinen Staaten des konservativen Typus haben mit 2,7% (Niederlande) bzw. 4,5% (Luxemburg) höhere Wachstumsraten erzielt. Durch das absolut gesehen größere Wohlstandswachstum in den liberalen sozialdemokratischen und auch konservativen Wohlfahrtsregimen haben sich die Abstände zwischen diesen reichen Staaten und den ärmeren süd- und osteuropäischen Staaten weiter vergrößert. Abbildung 14: Wohlstandsentwicklung in Deutschland in Preisen von 2000 30000 28000
Euro pro Einwohner
26000 24000 22000 20000 18000 16000 14000 12000 10000 1970 1972 1974 1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 Volkseinkommen
BIP
BSP
Datenbasis: Destatis (2008) Die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland zeichnete sich im europäischen Vergleich in den 1990er Jahren durch ein stark unterdurchschnittliches Wachstum aus. In Abbildung 14 ist die Entwicklung des volkswirtschaftlichen Wohlstandes in Deutschland anhand der Daten des Statistischen Bundesamtes auf Basis der Indikatoren Volkseinkommen, Bruttoinlandsprodukt (BIP) und Bruttosozialprodukt (BSP) dargestellt. Die Indikatoren werden zum jeweiligen Bevölkerungsstand der BRD ins Verhältnis gesetzt und inflationsbereinigt für Verbraucherpreise des Jahres 2000 ausgewiesen. So wird im Unterschied zur Darstellung in Abschnitt 3.1.4 besonders deutlich, welchen nachhaltigen Einfluss die deutsche Einigung auf die gesamtdeutsche Wohlstandsentwicklung hatte. In den wirtschaftlich schwierigen 1980er Jahren gab es in Deutschland noch be-
130
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trächtliche Zuwächse in der Wirtschaftsleistung. Das BIP ist zwischen 1980 und 1990 jährlich nach Berücksichtigung von Preisunterschieden um durchschnittlich 521 Euro, das BSP sogar um 651 Euro und das Volkseinkommen um 514 Euro pro Einwohner gestiegen. Nach der Wiedervereinigung gab es dagegen deutlich geringere Wachstumsraten von BIP, BSP und Volkseinkommen, zwischen 1992 und 2006 betrug der durchschnittliche Anstieg nur noch 155, 167 bzw. 86 Euro pro Einwohner. Das Haushaltsnettoeinkommen101 ist ein Indikator, der die Entwicklung des finanziellen Handlungsspielraums der Bevölkerung auf der Individualebene beschreibt. Es eignet sich besser als das persönliche Einkommen, um Rückschlüsse auf die materielle Lebenssituation der Bevölkerung zu ziehen. So können Menschen auch ohne ein eigenes Einkommen über große finanzielle Ressourcen verfügen, wenn andere Haushaltsmitglieder hohe Einkommen beziehen. Abhängig von der Anzahl und der Lebenssituation der Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft kann ein vergleichbares Haushaltsnettoeinkommen zu unterschiedlichen sozialen Lagen führen. Aufbauend auf dem Haushaltsnettoeinkommen wurde daher das Maß des Äquivalenzeinkommens vorgeschlagen, um den höheren Bedarf von Mehrpersonenhaushalten oder auch Vorteile durch gemeinsames Wirtschaften besser berücksichtigen zu können (Hauser 1996). Es wird berechnet, indem das Haushaltsnettoeinkommen durch ein Bedarfsgewicht, das sich aus der Zahl und dem Alter der Haushaltsmitglieder ableitet, berechnet wird. Das Äquivalenzeinkommen ist daher ein guter Indikator für das verfügbare Einkommen der einzelnen Haushaltsmitglieder. In den folgenden Analysen wird das jährliche Äquivalenzeinkommen nach der so genannten ‚neuen OECD Formel’ zugrunde gelegt, die hohe Vorteile durch gemeinsames Wirtschaften unterstellt (Hauser 1996, vgl. auch Lampert und Kroll 2006b). Demnach ist dem Haushaltsvorstand ein Bedarfsgewicht von 100% einer allein lebenden Person, jedem weiteren Haushaltsmitglied ab 15 Jahren ein zusätzlicher Bedarf von 50% sowie Kindern und Jugendlichen unter 15 Jahren ein Bedarf von 30% zuzuweisen.102,103 101 Das Haushaltsnettoeinkommen ergibt sich aus der Summe der persönlichen Einkommen aller Mitglieder eines Haushaltes, nach Abzug von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen. Ein „Haushalt“ wird dabei nicht primär über gemeinsames Wohnen, sondern über gemeinsames Wirtschaften definiert. Alle Personen, die nicht in öffentlichen Einrichtungen leben und gemeinsam erwirtschaften, bilden einen Privathaushalt. 102 Beispielsweise ergibt sich für ein Paarhaushalt mit zwei Kindern unter 15 Jahren und einem Haushaltsnettoeinkommen von 4.200 Euro aus der Summe der Bedarfsgewichte (1+0,5+0,3+0,3) ein Einkommensbedarf vom 2,1-fachen eines Singlehaushaltes und ein Netto-Äquivalenzeinkommen von 2.000 Euro. 103 Für die Berechnung des Netto-Äquivalenzeinkommens sind demzufolge neben der Angabe zum Haushaltsnettoeinkommen (genauer Betrag) auch Informationen zur Haushaltsgröße und zum Alter der Haushaltsmitglieder erforderlich. Wenn die Altersstruktur der Haushaltsmitglieder nicht
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Abbildung 15: Einkommensentwicklung in Deutschland zwischen 1984 und 2006 Westdeutschland
Ostdeutschland
Gesamt
1800
Äquivalenzeinkommen in Euro*
1600 1400 1200 1000 800 600 400 200 0 1984-89
1990-94
1995-99
2000-06
1984-89
1990-94
Männer
1995-99
2000-06
1984-89
1990-94
1995-99
2000-06
Frauen
*inflationsbereinigt zu den Preisen des Jahres 2000
Datenbasis: SOEP (1984-2006), Alter 25 bis 69 Jahre In Abbildung 15 ist die Entwicklung des durchschnittlichen monatlichen Äquivalenzeinkommens zwischen 1984 und 2006 in Deutschland dargestellt. Die Werte wurden anhand des SOEP berechnet und inflationsbereinigt, die Einkommensbeträge entsprechen der Kaufkraft des Euro in Deutschland im Jahr 2000 (Destatis 2008). Es werden vier Zeiträume unterschieden, die von 1984 bis 2006 reichen. Die Darstellung weist für Männer und Frauen aus den alten und neuen Bundesländern einen deutlichen Einkommensanstieg im Untersuchungszeitraum aus. Zwischen 1984 und 2006 ist das Wohlstandsniveau in Deutschland bei Männern und Frauen im Alter zwischen 25 und 69 Jahren deutlich gestiegen. So konnten Männer zwischen 1990-94 und 2000-06 durchschnittliche Einkommenszuwächse von 8% verzeichnen, bei Frauen betrugen die Zuwächse etwa 7%. Männer und Frauen in den neuen Ländern hatten in Folge der Angleichung der Sozialleistungen und Löhne in den 1990er Jahren besonders hohe Zuwächse zu verzeichnen. Das durchschnittliche Einkommen von Männern stieg in den neuen Ländern zwischen den Zeiträumen 1990-94 und 2000-06 um 23%, die Einkommen von Frauen um 24%. Die Einkommenslücke zwischen den alten und neuen Bundesländern verringerte sich dadurch deutlich von 31% auf 19% bei Männern bekannt ist, kann eine behelfsmäßige Gewichtung anhand der Quadratwurzel der Haushaltsgröße vorgenommen werden (Hauser 1996).
132
Soziale Ungleichheiten im Wandel
und von 30% auf 18% bei Frauen. Somit haben sich die Einkommen zwar angeglichen, die Unterschiede haben sich aber trotz des immensen Ausmaßes der sozialpolitischen Umverteilung keineswegs aufgelöst. Soziale Vergleiche haben eine große Bedeutung bei der Bewertung des eigenen Einkommens (Townsend 1993). Je größer der Wohlstand einer Bevölkerung, desto mehr Geld benötigt ein Mensch auch, um am soziokulturellen Leben der Gesellschaft teilnehmen zu können. Die Armutsrisikoquote hat sich als wichtiger Indikator für die Grenzen der sozialen Teilhabe am Wohlstand den europäischen Gesellschaften etabliert (Hauser 1996, Lampert und Kroll 2006b). Sie beschreibt – nach einer in der EU vereinheitlichten Definition – Einkommenspositionen, die weniger als 60% des jeweils aktuellen gesellschaftlichen Durchschnitts entsprechen.104 Hervorgegangen ist dieses Kriterium aus der britischen Armutsforschung (Townsend 1985, 1993). So konnten diese Arbeiten zeigen, dass Menschen mit Einkommenspositionen unterhalb einer Grenze von 60% des Medianeinkommens den eigenen Lebensstandard deutlich einschränken müssen. In den letzten Jahren wurde die Anwendung des Maßes für komparative Zwecke in der EU allerdings kritisiert, da sich auch die Bevölkerungen in den ärmeren Mitgliedsstaaten zunehmend am Lebensstandard in den reichen Mitgliedsstaaten orientieren (Delhey und Kohler 2006, Fahey 2006). Dadurch ist der nationale Median in den ärmeren Mitgliedsstaaten wenig aussagekräftig für die Teilhabemöglichkeiten im europäischen Vergleich. Obwohl dieser Einwand sicherlich in gewissem Maße zutreffend ist, gibt es bisher keinen etablierten Indikator, der beide Aspekte berücksichtigt. So ist auch eine alternative Orientierung am Median der Äquivalenzeinkommen aller EU-Bürger bei der Abgrenzung der Armutsrisikogruppe wenig aussagekräftig. , weil dadurch die Ungleichheiten in den reicheren Mitgliedsstaaten der EU aus dem Blickfeld geraten würden.
104 Ein weiterer häufig geäußerter Einwand gegen den Indikator ist, dass es nicht möglich sei, relative Armut vollständig zu verhindern, weil das Kriterium zur Bestimmung des Armutsrisikos auf dem Mittelwert der Bevölkerung basiere. Dies trifft so nicht zu: Das Kriterium zur Bestimmung von Armut ist der relative Abstand zum Medianeinkommen. Könnte man der Armutspopulation einen Betrag zukommen lassen, der größer als die Differenz ihres Einkommens bis zur Armutsgrenze ist (diese Differenz wird als „Armutslücke“ bezeichnet), gäbe es keine relative Armut mehr. Würde man dagegen der gesamten Bevölkerung einen fixen Betrag (bspw. 1000 EUR) zukommen lassen, hätte dies zwar einen Anstieg des allgemeinen Lebensstandards, aber keine Verringerung der Armutsrisikoquote zu Folge. Daher sollten sowohl die Veränderung der Einkommensarmut als auch die Veränderung der Höhe des Einkommens bei der Analyse sozialstrukturellen Wandels berücksichtigt werden.
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Abbildung 16: Entwicklung der Armutsrisikoquote in Europa nach Wohlfahrtsregime 25
Armutsrisikoquote in %
20
15
10
5
0
sozialdemokratisch
konservativ
osteuropäisch 1995
2000
südeuropäisch
liberal
2006
Datenbasis: Eurostat (2008), Eigene Berechnungen, Indikator: tsisc030 In Abbildung 16 wird die Entwicklung der mittleren Armutsrisikoquoten in den europäischen Wohlfahrtsregimen beschrieben. Es zeigt sich, dass das Armutsrisiko – entgegen vieler Befürchtungen – in den europäischen Wohlfahrtsregimen zwischen 1995 und 2006 nicht umfassend zugenommen hat. In den alten Mitgliedsstaaten der EU, den so genannten ‚EU-15’, ist es leicht von 17% auf 16% gesunken. In den südeuropäischen Wohlfahrtsstaaten gab es einen deutlichen Rückgang der Armutsrisikoquote von 21% auf 18%. Hier zeigen sich erste Erfolge der gemeinsamen europäischen Struktur- und Agrarpolitik, von der die ärmeren Mitgliedsstaaten Süd- und Osteuropas besonders profitieren. In den liberalen Staaten verringerte sich die Armutsrisikoquote ungeachtet eines beträchtlichen wirtschaftlichen Wachstums nur unwesentlich. In den sozialdemokratischen Staaten gab es, trotz eines ebenfalls beträchtlichen Wohlstandszuwachses, eine Ausweitung des Armutsrisikos. Hier können sozialpolitische Reformen, die zu Kürzungen und Beschränkungen wohlfahrtsstaatlicher Leistungen geführt haben, als eine bedeutende Ursache angesehen werden (Marklund und Nordlund 1999). In den konservativen Staaten blieb das Armutsrisiko dagegen vergleichsweise konstant bei etwa 13%. Die aktivierende Sozialpolitik ist damit nur in den vergleichsweise egalitären sozialdemokratischen Staaten mit einer Ausweitung der Armutsrisikopopulation einhergegangen. Allerdings hat das fortgesetzte wirtschaftliche Wachstum – mit Ausnahme der
134
Soziale Ungleichheiten im Wandel
südeuropäischen Staaten – Armutsrisikoquoten geführt.
auch
nicht
zu
einer
Verringerung
der
Abbildung 17: Entwicklung des Armutsrisikos zwischen 1984 und 2006 Westdeutschland
Ostdeutschland
Gesamt
30
Armutsquote in %
25
20
15
10
5
0 1984-89
1990-94
1995-99
2000-06
1984-89
1990-94
Männer
1995-99
2000-06
1984-89
1990-94
1995-99
2000-06
Frauen
Datenbasis: SOEP (1984-2006), Alter 25 bis 69 Jahre In Abbildung 17 ist die Entwicklung des Armutsrisikos in Deutschland im Vergleich von vier Zeiträumen zwischen 1984 und 2006 für die 25- bis 69jährige Bevölkerung dargestellt. Es basiert auf Einkommenspositionen, die anhand des SOEP für die gesamte Bevölkerung berechnet worden sind. Nach den Ergebnissen gab es in Deutschland seit 1984 einen moderaten Anstieg des Armutsrisikos bei Männern und Frauen (Frick et al. 2005, DIW et al. 2007). Im Vergleich der alten und neuen Bundesländer haben sich die Armutsrisiken seit 1990 unterschiedlich entwickelt. In den alten Bundesländern gab es seit 1984 einen relativ kontinuierlichen Anstieg des Armutsrisikos, der vor allem in den Kürzungen von Leistungen der Arbeitslosenversicherung, den gestiegenen Sozialabgaben und der steigenden Arbeitslosigkeit eine strukturelle Ursache hat. Wäre nicht ab den 1990er Jahren ein gesamtdeutsches Medianeinkommen als Basis herangezogen worden, hätte sich das Armutsrisiko der westdeutschen Bevölkerung sogar noch stärker erhöht. Ungeachtet dieser Einschränkung konnte bei westdeutschen Männern zwischen 1984-89 und 2000-06 ein Anstieg um 32% und bei westdeutschen Frauen ein Anstieg um etwa 31% beobachtet werden. Bezogen auf den gesamtdeutschen Einkommensmedian lag ein großer Teil der
Soziale Ungleichheiten im Wandel
135
Einkommen der Bevölkerung der neuen Bundesländer zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung unterhalb der Armutsgrenze. Im Zuge der politisch induzierten Angleichung der Lebensbedingungen reduzierte sich die Armutsrisikoquote in den neuen Ländern zwischen 1990-94 und 1995-99 deutlich, nahm nach 1999 allerdings wieder leicht zu. Die Differenz im Armutsrisiko zwischen den alten und neuen Bundesländern hat sich dadurch seit den frühen 1990er Jahren deutlich verringert. Im Vergleich zu den alten Bundesländern war das Armutsrisiko in den neuen Ländern zwischen 2000-06 aber immer noch um 69% bei Männern und um 20% bei Frauen erhöht. Die sozialstaatliche und sozialstrukturelle Entwicklung ist spätestens seit der Wiedervereinigung durch zwei dominante Trends gekennzeichnet: Mit allgemeinen Wohlstandgewinnen gehen steigende Einkommensungleichheiten einher. Eine wichtige Ursache für die Auseinanderentwicklung der Einkommen in den 1990er Jahren ist dabei in der hohen und weiter zunehmenden Arbeitslosigkeit zu suchen. So sind arbeitslose Männer und Frauen besonders häufig von relativer Einkommensarmut betroffen (BMAS 2001a, BMGS 2005, BMAS 2008a). Es steht für den Untersuchungszeitraum zu erwarten, dass sich diese Veränderungen in der objektiven Lage der Bevölkerung auch in subjektiven Indikatoren wie der allgemeinen Lebenszufriedenheit und wirtschaftlichen Sorgen und Ängsten widerspiegeln. Insbesondere wirtschaftliche Sorgen könnten durch die kontroversen sozialpolitischen Debatten der späten 1990er Jahre zusätzlich verstärkt worden sein. Alles in allem war die sozialstrukturelle und volkswirtschaftliche Entwicklung der 1990er Jahre daher wenig dazu geeignet, das Vertrauen der Bürger auf die Sicherheit des eigenen Lebensstandards und in die eigene wirtschaftliche Zukunft zu stärken. Nachfolgend soll die subjektive Wahrnehmung der ökonomischen Entwicklungen durch zwei Indikatoren nachgezeichnet werden, die „allgemeine Lebenszufriedenheit“ und die „Sorgen um die eigene wirtschaftliche Situation“. Die allgemeine Lebenszufriedenheit ist sowohl in der Soziologie als auch in der Ökonomie ein häufig verwendeter Indikator, der auf Basis vieler Datensätze zur Verfügung steht (Diener und Seligman 2004). So dient sie in der Sozialberichterstattung als allgemeines Maß der Lebensqualität und der individuellen Wohlfahrt einer Bevölkerung (Zapf 1984, Habich 1996). Ziel ist es dabei, die Folgen des gesellschaftlichen Wandels auch über die subjektive Befindlichkeit der Bürger zu messen. In der Ökonomie wird der Indikator zur Quantifizierung und Evaluation der gesellschaftlichen Folgen volkswirtschaftlicher Entwicklungen verwendet (Diener und Seligman 2004, Kahneman 1999). So wird davon ausgegangen, dass sich der individuelle Nutzen der Lebensbedingungen von Akteuren an ihrer allgemeinen Lebenszufriedenheit festmachen lässt (Diener und Seligman 2004). Der Indikator hat sich auch in der Erforschung der psychosozi-
136
Soziale Ungleichheiten im Wandel
alen Auswirkungen von wichtigen Lebensereignissen bewährt (Stutzer und Frey 2006, Clark et al. 2008, Fujita und Diener 2005). Abbildung 18: Entwicklung der allgemeinen Lebenszufriedenheit in Europa
Mittelwert allgemeine Lebenszufriedenheit
8.5 8.0 7.5 7.0 6.5 6.0 5.5 5.0 4.5 4.0
Russland
südeuropäisch Jahr
konservativ 1990-94
liberal 1995-99
USA 2000-05
sozialdemokratisch
2006
Datenbasis: World Database of Happiness (Veenhoven 2008) Bisher liegen nicht für alle Staaten der Europäischen Union vergleichbare Indikatoren zur allgemeinen Lebenszufriedenheit der Bevölkerungen vor, auch in Zukunft wird sich diese Situation nicht deutlich verbessern. So wird im Rahmen des EU-SILC bisher nicht nach der allgemeinen Lebenszufriedenheit der Teilnehmer gefragt (Amtsblatt der Europäischen Union 2003). Auf Basis der World Database of Happiness, die an der Erasmus Universität Rotterdam geführt wird und unter anderem Ergebnisse von Eurobarometerbefragungen enthält, lässt sich allerdings die Entwicklung der Lebenszufriedenheit mit Einschränkungen nachzeichnen (Abbildung 18, Veenhoven 2008).105 Die unterschiedlichen Skalen aus den verschiedenen Befragungen wurden dazu in eine elfstufige Skala, die von 0 (niedrigste Zufriedenheit) bis 10 (höchste Zufriedenheit) reicht, transformiert.106 105 Voll abbilden lassen sich die konservativen und liberalen Wohlfahrtsstaaten. Als sozialdemokratischer Staat wird nur Dänemark erfasst, unter den südeuropäischen Staaten nur Spanien, Italien und Portugal. Leider stehen keine Informationen aus den osteuropäischen Staaten zur Verfügung, zum Vergleich wurden Informationen aus Russland zugespielt. 106 Aufgrund der problematischen Vergleichbarkeit von Indikatoren auf Basis unterschiedlicher Skalen und der bereits erwähnten selektiven Auswahl an Staaten sollten die Ergebnisse nur als grobe Hinweise auf allgemeine Unterschiede und Trends interpretiert werden.
Soziale Ungleichheiten im Wandel
137
In allen Wohlfahrtsregimen der EU gab es seit 1980 einen leichten Anstieg der allgemeinen Lebenszufriedenheit. Einen Rückgang der Lebenszufriedenheit musste dagegen im Zuge der Transformationsprozesse der 1990er Jahre in Russland beobachtet werden. Seit der Jahrtausendwende hat sich allerdings auch in Russland eine deutlich höhere Lebenszufriedenheit eingestellt. Eine aufgrund vergleichbarer wirtschaftlicher Veränderungen ähnliche Entwicklung ist auch für die nicht erfassten osteuropäischen Mitgliedsstaaten zu erwarten, wo die wirtschaftliche Transformation ebenfalls erste Erfolge zeigt. In den USA, die hier zum Vergleich dargestellt werden, gab es erst nach dem Jahr 2000, möglicherweise in Folge der Terroranschläge vom 11. Septembers 2001 und des zweiten Irakkrieges der USA im Jahr 2003, einen deutlichen Rückgang der allgemeinen Lebenszufriedenheit in der Bevölkerung. Nachfolgend wird die Entwicklung in Deutschland auf Basis der Daten des SOEP beschrieben. Die allgemeine Lebenszufriedenheit wird im SOEP seit 1984 anhand der Frage „Wie zufrieden sind Sie gegenwärtig, alles in allem, mit Ihrem Leben?“ erhoben und als letzte Frage des Fragebogens gestellt. Die Befragten antworten auf einer elfstufigen Skala, die von 0 „ganz und gar unzufrieden“ bis 10 „ganz und gar zufrieden“ reicht. Insgesamt zeigt sich an der Entwicklung des Mittelwertes der allgemeinen Lebenszufriedenheit für Deutschland eine weitgehende Konstanz. So erzielten Männer und Frauen in den alten Ländern zwischen 1990 und 2006 durchschnittlich 7,1 Punkte auf der elfstufigen Skala, während Männer und Frauen in den neuen Ländern nur einen Mittelwert von 6,3 Punkten auf der Zufriedenheitsskala hatten. Im Vergleich zu anderen konservativen Wohlfahrtsstaaten sind die westdeutschen Werte damit leicht überdurchschnittlich, während die ostdeutschen Werte etwas unter dem Mittlerwert der anderen Länder liegen. Das SOEP ermöglicht neben der Analyse der mittleren Lebenszufriedenheit auch die Analyse der Entwicklung der hohen Lebenszufriedenheit Werte zwischen 8 und 10 auf der elfstufigen Skala werden nachfolgend als Indikatoren für hohe Zufriedenheit herangezogen.
138
Soziale Ungleichheiten im Wandel
Abbildung 19: Entwicklung der allgemeinen Lebenszufriedenheit zwischen 1984 und 2006 Westdeutschland
Ostdeutschland
Gesamt
60
Anteil Lebenszufriedenheit>7 in %
55 50 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0 1984-89
1990-94
1995-99
2000-06
1984-89
1990-94
Männer
1995-99
2000-06
1984-89
1990-94
1995-99
2000-06
Frauen
Datenbasis: SOEP (1984-2006), Alter 25 bis 69 Jahre In Abbildung 19 ist die Entwicklung des Anteils von Männern und Frauen dargestellt, die jeweils mit ihrem gegenwärtigen Leben sehr zufrieden sind (Werte 8-10 auf einer elfstufigen Skala). Im Durchschnitt liegen Männer und Frauen auf der Skala eng zusammen, wobei der Anteil der Zufriedenen bei Frauen etwas höher ist als bei Männern. Im Vergleich der alten und neuen Bundesländer zeigen sich gegensätzliche Trends, die weitgehend mit den objektiven Veränderungen der Lebensbedingungen im Einklang stehen. So gab es einen leichten Anstieg der Lebenszufriedenheit in den neuen Bundesländern und einen deutlichen Rückgang in den alten Bundesländern (Christoph 2006). Auffällig ist, dass der beträchtliche Wohlstandszuwachs der ostdeutschen Bevölkerung nicht zu einer deutlichen Verbesserung der Lebenszufriedenheit geführt hat. Im Vergleich zum Zeitraum 1990-94 sank der Anteil der zufriedenen Männer und Frauen in Westdeutschland um 12% bzw. 11%, in Ostdeutschland stieg der Anteil dagegen um 5% bzw. 11%. Weitere Analysen zeigen für Ostdeutschland, dass die Verbesserungen insbesondere beim Waren- und Dienstleistungsangebot und hinsichtlich der Umwelt registriert wurden und zu höheren Bereichszufriedenheiten geführt haben, während die Menschen mit der eigenen materiellen Lage erstaunlicherweise nicht zufriedener als zu Beginn der 1990er Jahre sind (Christoph 2006). Hier spielen wohl auch Vergleichsprozesse mit der westdeutschen Bevölkerung eine Rolle. In den alten Bundesländern
Soziale Ungleichheiten im Wandel
139
scheinen sich dagegen die gestiegenen Unsicherheiten durch Arbeitslosigkeit, Armut und sozialpolitische Kürzungen auch in der Lebenszufriedenheit der Bürger niederzuschlagen. Die wirtschaftliche Globalisierung und auch der Strukturwandel und die Flexibilisierung der Arbeitswelt haben zu neuen ökonomischen Unsicherheiten für die Bevölkerung geführt (Szydlik 2008, Blossfeld et al. 2008a, 2008b). Lebensläufe individualisieren sich und ein sozialer Abstieg durch Arbeitslosigkeit wird wahrscheinlicher. Im Kontext zunehmender objektiver Unsicherheiten ist es wahrscheinlich, dass die Bürger auch subjektiv verunsichert werden. Als negative Maße des subjektiven Wohlbefindens und subjektiv empfundener Unsicherheiten bieten sich selbstberichtete Sorgen an (Habich 1996). Sorgen hinsichtlich verschiedener Aspekte der eigenen Lebenswelt und der gesellschaftlichen Institutionen werden bereits seit langem in Surveys erhoben. Sie sind allerdings deutlich schlechter erforscht als allgemeine oder bereichsspezifische Zufriedenheiten. Im SOEP werden die Teilnehmer regelmäßig befragt, ob sie sich um verschiedene Bereiche ihres Lebens Sorgen machen und wie groß diese Sorgen sind. Eine Frage lautet in diesem Zusammenhang: „Wie ist das mit den folgenden Gebieten – machen Sie sich da Sorgen? Um Ihre eigene wirtschaftliche Situation?“. Die Antwortmöglichkeiten lauten „große Sorgen“, „einige Sorgen“ und „keine Sorgen“. Sie wird seit 1984 jährlich erhoben. Nachfolgend wird die Entwicklung des Bevölkerungsanteils beschrieben, der sich „große“ Sorgen um die eigene wirtschaftliche Lage macht.
140
Soziale Ungleichheiten im Wandel
Abbildung 20: Entwicklung wirtschaftlicher Sorgen zwischen 1984 und 2006 Westdeutschland
Ostdeutschland
Gesamt
Große wirtschaftliche Sorgen in %
40
35
30
25
20
15
10
5
0 1984-89
1990-94
1995-99
2000-06
1984-89
1990-94
Männer
1995-99
2000-06
1984-89
1990-94
1995-99
2000-06
Frauen
Datenbasis: SOEP (1984-2006), Alter 25 bis 69 Jahre In Abbildung 20 ist der Anteil von Männern und Frauen im Alter von 25 bis 69 Jahren dargestellt, die sich große Sorgen um die eigene wirtschaftliche Situation machen. Bei den Sorgen um die eigene Lage zeigen sich – wie auch bereits beim Indikator allgemeine Lebenszufriedenheit – nur geringe Geschlechtsunterschiede. Im Zuge der ansteigenden Arbeitslosigkeit und einer zunehmenden Armutsrisikoquote unter den 25- bis 69-jährigen ist es nicht überraschend, dass sich immer mehr Männer und Frauen große Sorgen um die eigene wirtschaftliche Situation machen. In den Jahren 2000 bis 2006 haben sich fast jeder vierte Mann und jede vierte Frau in Deutschland große Sorgen um die eigene wirtschaftliche Situation gemacht. Zwischen 1990-94 und 2000-06 ist der Anteil von Männern mit großen wirtschaftlichen Sorgen in den alten Bundesländern um 46% und bei Frauen sogar um 61% angestiegen. In den neuen Bundesländern machte sich nach der Wiedervereinigung ein großer Bevölkerungsanteil Sorgen um die eigene wirtschaftliche Lage. Zwischen 1990-94 und 1995-99 ging der Anteil in Folge der fortgesetzten Einkommenszuwächse dann etwas zurück, stieg aber im Zeitraum 2000-06 wieder über das Ausgangsniveau an. Insgesamt stieg der Anteil zwischen 1990-94 und 2000-06 um 11% bei Männern und um 5% bei Frauen. Zwischen 1984 und 2006 gab es nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Mitgliedsstaaten der EU beträchtliche Wohlstandszuwächse. Die deut-
Soziale Ungleichheiten im Wandel
141
sche Entwicklung stellt sich für die Bevölkerung im mittleren Lebensalter als Dreiklang aus steigendem Wohlstand, zunehmenden Ungleichheiten und steigenden Unsicherheiten dar. Die Bundesbürger konnten zwar in den letzten Jahren deutliche Wohlstandsgewinne verzeichnen, sie mussten aber auch – in Folge der sozialpolitischen Einschnitte und der prekären Lage auf dem Arbeitsmarkt – mit zunehmenden wirtschaftlichen Unsicherheiten umgehen. Die beträchtlichen sozial- und tarifpolitischen Anstrengungen zur Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen den alten und neuen Bundesländern haben sich bereits in den 1990er Jahren in der Sozialstruktur niedergeschlagen. So haben sich die Differenzen in den Lebensbedingungen im Vergleich der alten und neuen Bundesländer zwischen 1990 und 2006 deutlich verringert. Die geringsten Differenzen bestehen heute im durchschnittlichen Einkommen (ca. 20% geringer), die größten bei Männern im Armutsrisiko und bei Frauen hinsichtlich wirtschaftlicher Sorgen (in den neuen Ländern 69% bzw. 81% erhöht). Ausgehend von den allgemeinen Befunden zur Wohlfahrtsentwicklung wird nun auf die Entwicklung der Struktur sozialer Ungleichheiten im Bereich der Bildungsbeteiligung, auf dem Arbeitsmarkt und anhand der Einkommensverteilung eingegangen. 3.2.3 Bildungsbeteiligung Bildung wird für die Akteure in der modernen Gesellschaft immer wichtiger, um die immer komplexer werdenden Anforderungen ihrer Umwelt zu bewältigen und zu verstehen. Soziologen haben versucht, diese Entwicklung unter anderem mit dem Begriff der „Wissensgesellschaft“ zu fassen (Bell 1973). Ökonomen haben im Zuge dieser Diskussion darauf verwiesen, dass Bildung und Wissen zentrale Komponenten des Humankapitals sind und im Wettbewerb zwischen Akteuren, Unternehmen und auch Staaten an Bedeutung gewinnen (Becker 1993). Pierre Bourdieu hat in diesem Zusammenhang den Begriff des kulturellen Kapitals geprägt und zu Recht darauf verwiesen das formale Bildung und kulturelles Wissen auch für die Produktion und Reproduktion sozialer Ungleichheiten immer wichtiger werden (Bourdieu 1983, 1987). Die europäischen Staaten unterscheiden sich dabei nicht nur darin, wie weit sie auf dem Weg zur Wissensgesellschaft bereits vorangekommen sind, sondern auch darin, wie sehr Bildung über die Verteilung von Lebenschancen entscheidet (Eurostat 2007).
142
Soziale Ungleichheiten im Wandel
Abbildung 21: Entwicklung der Bildungsbeteiligung in den europäischen Wohlfahrtsstaaten 90
Anteil post-sekundäre Bildung in %
80 70 60 50 40 30 20 10 0
südeuropäisch
liberal
konservativ 1997
2002
sozialdemokratisch
osteuropäisch
2007
Datenbasis: Eurostat (2008), Indikator: TPS00065 In vielen europäischen Wohlfahrtsstaaten konnte die Bildungsbeteiligung in der Bevölkerung in den 1980er und 1990er Jahren deutlich gesteigert werden. In Abbildung 21 ist die Entwicklung des Bevölkerungsanteils mit post-sekundären Bildungstiteln in der 24- bis 65-jährigen Bevölkerung für die Staaten in den fünf unterschiedenen europäischen Wohlfahrtsregimen seit 1997 dargestellt. In Deutschland trifft dies auf alle Männer und Frauen zu, die mindestens die Fachhochschulreife erreicht haben. Hinsichtlich der Bildungsbeteiligung der Bevölkerung bestehen beträchtliche Disparitäten zwischen den Wohlfahrtsregimen. Die osteuropäischen und sozialdemokratischen Staaten zeichneten sich zwischen 1997 und 2007 durch ein relativ hohes Bildungsniveau und die liberalen und südeuropäischen Staaten durch ein relativ geringes Niveau aus. In allen Wohlfahrtsregimen ist der Anteil hoher Bildungsabschlüsse in den letzten zehn Jahren allerdings deutlich angestiegen. Besonders groß waren die Zuwächse dabei in den liberalen und südeuropäischen sowie, trotz des Transformationsprozesses und des bereits hohen Ausgangsniveaus, in den osteuropäischen Staaten. Somit scheint sich die Europäische Union im Einklang mit ihren Zielen in der Tat zu einem wissensbasierten Wirtschaftsraum zu entwickeln. In Deutschland ist die formale Ausbildung in einem dualen System aus schulischer und beruflicher Bildung organisiert (BMBF 2006, Schäfers 1998, S.
Soziale Ungleichheiten im Wandel
143
142ff). Sie baut auf dem dreigliedrigen Schulsystem auf. Die Zuweisung von schulischen Bildungstiteln erfolgt zumeist als Resultat der Zuweisung zu drei hierarchischen Schulformen, die ihre Absolventen für eine manuelle bzw. nichtmanuelle Lehre (Haupt- bzw. Realschule) oder für eine akademische Ausbildung (Gymnasium) qualifizieren sollen. Es besteht auch die Möglichkeit diese Bildungstitel an einer Einheitsschule, der Gesamtschule, zu erlangen. Die anschließende Berufsbildung wird in einem dualen Ausbildungssystem aus betrieblicher und berufsschulischer Ausbildung organisiert und ist ebenfalls hoch standardisiert. So gab es in Deutschland im Jahr 2008 349 staatlich anerkannte Lehrberufe (Stand: 1.10.2008).107 Diese hohe Zahl ist im internationalen Vergleich ungewöhnlich hoch und wird gelegentlich als unflexibel kritisiert (Schäfers 1998, S. 142). In anderen Staaten ist häufig lediglich die schulische und universitäre Ausbildung, nicht aber die betriebliche Ausbildung staatlich reguliert. Die tertiäre Ausbildung an Universitäten und Fachhochschulen wurde in Deutschland – im Zuge des so genannten ‚Bologna-Prozesses’ – nach einheitlichen europäischen Standards umgestaltet. Zuvor konnten nach einer Regelstudienzeit von etwa 4,5 Jahren drei verschiedene Abschlüsse erzielt werden (Diplom Uni/FH, Magister Artium, 1. Staatsexamen). Im Zuge des BolognaProzesses wurde dagegen eine zweistufige Ausbildung in Bachelor- und Masterstudiengängen beschlossen und seither vielerorts auch umgesetzt. Ein BachelorAbschluss kann nach drei Jahren an Universitäten und Fachhochschulen erlangt werden und dient der allgemeinen beruflichen Qualifikation. Für Absolventen, die eine weitere wissenschaftliche Karriere mit Promotion anstreben, sind die Masterstudiengänge konzipiert, sie können nach ein bis zwei weiteren Jahren abgeschlossen werden. Problematisch ist allerdings, dass Bachelor-Abschlüsse angesichts von steigender Studienanfängerzahlen auf dem Arbeitsmarkt de facto entwertet werden. Die Bildungsbeteiligung der deutschen Bevölkerung hat sich im 20. Jahrhundert grundlegend verändert. Mit der Expansion des Sozialstaates in den 1960er Jahren setzte auch eine Reform- und Expansionsphase des Bildungssystems ein, deren Ausgangspunkt eine wahrgenommene „deutsche Bildungskatastrophe“ in Folge der bildungspolitischen Rückschritte unter dem NS-Regime war (Kaufmann 2003, S. 296ff). Bemängelt wurden vor allem die Chancenungleichheiten im Bildungssystem und die im internationalen Vergleich geringe Bildungsbeteiligung der Bevölkerung. Im Zuge der Reformanstrengungen wurde etwa die Einrichtung eines ‚Bundesministeriums für Bildung’, die finanzielle Förderung des Hochschulbaus und eine gemeinsame bildungspolitische Rahmenplanung von Bund und Ländern beschlossen (alles 1969). Ziel dieser 107
Quelle: Bundesinstitut für Berufsbildung. Aktueller Stand im Internet unter der URL: http://www2.bibb.de/tools/aab/aabberufeliste.php/
144
Soziale Ungleichheiten im Wandel
Anstrengungen war es, die „Begabungsreserven“ der Bevölkerung auszuschöpfen und dadurch die Gesellschaft zu modernisieren (Schäfers 1998, S. 142ff).108 Im Zuge dieser Maßnahmen und aufgrund der prosperierenden Wirtschaft und altersstarker Geburtsjahrgänge konnte die Bildungsbeteiligung der Bevölkerung deutlich gesteigert werden. Während im Jahr 1960 in Westdeutschland nur 6% eines Jahrgangs das Abitur absolvierten, waren es im Jahr 1970 11%, 1980 bereits 17% und 1989 sogar 24% (Geißler 2006, S. 276). Im Jahr 2004 hatten sogar 27,7% und 30,1% der Absolventen in den alten bzw. neuen Bundesländern das Abitur erfolgreich absolviert (BMBF 2006). Trotz der beachtlichen Vergrößerung der Bildungsbeteiligung befindet sich Deutschland hinsichtlich der Bildungsbeteiligung seiner Bevölkerung und der Aufwendungen für das Bildungssystem im europäischen Vergleich aber weiterhin auf den hinteren Plätzen (Destatis 2006a). Während im erweiterten Europa (EU-25) 76,9% der 20- bis 24-jährigen einen Abschluss der Sekundarstufe II haben, sind es in Deutschland nur 71,0%. Deutschland investiert nur etwa 4,0% seines BIP in das Bildungswesen, die Mehrzahl der anderen EU Mitgliedsstaaten dagegen mehr als 5% und Dänemark sogar 8,3%. Außerdem existieren in Deutschland in der Organisation des Bildungssystems große Hemmnisse, die einer höheren Bildungsbeteiligung der Bevölkerung im Wege stehen. So bestehen auch weiterhin große und in Teilen sogar zunehmende soziale Ungleichheiten in den Zugangschancen zu Gymnasien oder universitärer Bildung. Vergleicht man die Studienanfängerquoten der Kinder von Arbeitern und Beamten, so zeigt sich etwa in Westdeutschland zwischen 1969 und 2000 auch im Zuge der Bildungsexpansion eine beträchtliche Ausweitung der Chancenunterschiede (Geißler 2006, S. 282ff). Im Jahr 1969 nahmen 13% der Kinder von Arbeitern, aber 27% der Kinder von Beamten ein Universitätsstudium auf. Bis zum Jahr 2000 stiegen die entsprechenden Anteile auf 24% bzw. 53%. Auch wenn sich die Chancen von Arbeiterkindern auf den Zugang zu höherer Bildung deutlich verbessert haben, hat sich ihre relative Benachteiligung gegenüber den Kindern der Beamten sogar noch verstärkt, bezogen auf das Chancenverhältnis vom 3,3fachen auf das 6,4-fache. Studien, wie die PISA 2000, 2003 und 2006 haben zudem gezeigt, dass die soziale Herkunft nicht nur auf die Zugangsmöglichkeiten, sondern auch auf das Ausmaß der in der Schule erworbenen Kompetenzen einen deutlichen Einfluss hat. So waren in Deutschland auch die sozialen Unter-
108 Zentrale strukturelle Reformen waren u.a. die Verlängerung der allgemeinen Schulpflicht, die Verstärkung der Durchlässigkeit zwischen den Schulformen, die Trennung von Grund- und Hauptschule, die Reform der gymnasialen Oberstufe, die Einrichtung von Fachhochschulen und die Integration der Lehrerfortbildung in die Universitäten (Gukenbiehl 2001).
Soziale Ungleichheiten im Wandel
145
schiede in den schulisch erworbenen Kompetenzen109 – im Vergleich zu den anderen teilnehmenden Staaten der OECD – in allen drei Studien besonders stark ausgeprägt (Artelt et al. 2001, Prenzel et al. 2005, Prenzel et al. 2007). Nachfolgend wird die Entwicklung der Bildungsbeteiligung sowie die soziale Lage der Bildungsgruppen für die 25- bis 69-jährige Bevölkerung Deutschlands beschrieben. Aufgrund des Zusammenspiels von schulischer- und beruflicher Bildung bei der Positionierung auf dem Arbeitsmarkt wird mit dem international vergleichbaren CASMIN Index („Comparative Analysis of Social Mobility in Industrial Nations“) ein Bildungsindikator verwendet, der beide Aspekte der Qualifikation zusammenfasst. Der in den 1980er Jahren entwickelte Indikator ist neben der ISCED-Klassifikation der UNESCO einer der am weitesten verbreiteten Bildungsindikatoren (Brauns 2003, Lampert und Kroll 2006b). Auf Basis des differenzierten Indikators lassen sich neun hierarchische Qualifikationsstufen unterscheiden. In dieser Studie wird eine abgekürzte Version des Indikators verwendet, die nur drei Kategorien unterscheidet. Sie stehen für primäre, sekundäre und tertiäre Bildungsabschlüsse und werden nachfolgen als „niedrige“ (CASMIN-1) „mittlere“ (CASMIN-2) und „hohe“ Bildung (CASMIN-3) bezeichnet.
109 Schwerpunkte: Lesekompetenz 2000, mathematische Kompetenz 2003 und naturwissenschaftliche Kompetenz 2006.
146
Soziale Ungleichheiten im Wandel
Abbildung 22: Bildungsgruppen nach Jahr und Geschlecht Männer
Frauen
100 90
7 12
15 19
80
Anteil in %
70
20
17
26
21
60
14
22
30
26
34
30
50
35
41
40 30 20 10 0
63
55
50
43
67
58
51
42
1984-89*
1990-94
1995-99
2000-06
1984-89*
1990-94
1995-99
2000-06
Bildung
niedrig
mittel
hoch
*Früheres Bundesgebiet
Datenbasis: SOEP (1984-2006), Alter 25 bis 69 Jahre In Abbildung 22 ist die Entwicklung der schulisch-beruflichen Qualifikation anhand des CASMIN-Indikators für den Zeitraum 1984 bis 2006 dargestellt. Für die Analysen wurde das Sozio-oekonomische Panel verwendet. Es ermöglicht die Analyse der Entwicklung der Bildungsbeteiligung seit 1984. Die Bildungsbeteiligung der Bevölkerung ist seit Ende der 1980er Jahre kontinuierlich gestiegen. Immer mehr Geburtsjahrgänge mit hoher Bildungsbeteiligung stoßen in die Altersgruppe der 25- bis 69-Jährigen vor, während ältere Jahrgänge mit geringerer Bildungsbeteiligung aus ihr herausfallen. Der Anteil von Männern mit Fachhochschul- oder Hochschulabschlüssen ist allein zwischen 1990-94 und 2000-06 von 19,1% auf 22,1% angestiegen. Bei Frauen betrugen die entsprechenden Anteile 12,2% und 16,8%. Im gleichen Zeitraum ist der Anteil von Männern und Frauen, die maximal einen Hauptschulabschluss mit abgeschlossener Lehre erreicht haben von 54,5% auf 43,1% bzw. von 58,1% auf 42,2% gesunken. Im Vergleich der alten und neuen Länder entwickelt sich die Bildungsbeteiligung allerdings gegensätzlich. Während in Westdeutschland der Anteil tertiärer Abschlüsse kontinuierlich steigt, muss bei Männern in Ostdeutschland ein deutlicher Rückgang und bei Frauen eine Stagnation beobachtet werden. So nahm der Anteil bei Männern und Frauen in den alten Bundesländern von 16,8% bzw. 8,7% auf 21,8% bzw. 14,5% zu, in den neuen Ländern betrugen die Anteile dagegen 1990-94 27,4% bzw. 25,7% und 2000-06 23,4% bzw. 25,5%. Am
Soziale Ungleichheiten im Wandel
147
Rückgang der Bildungsbeteiligung in den neuen Ländern lassen sich die sozialstrukturellen Folgen der Abwanderung von Hochqualifizierten festmachen, die vor allem durch die weiterhin angespannte Lage auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt zu erklären ist. Abbildung 23: Arbeitslosigkeit nach Bildung, Jahr und Geschlecht Männer
Frauen
20 18 16
Anteil in %
14 12 10 8 6 4 2 0 1984-89*
1990-94
1995-99
Bildung
2000-06
niedrig
1984-89*
mittel
1990-94
1995-99
2000-06
hoch
*Früheres Bundesgebiet
Datenbasis: SOEP (1984-2006), Alter 25 bis 69 Jahre Im Zuge des wirtschaftlichen Strukturwandels haben sich die Marktchancen der Inhaber von hohen und niedrigen Bildungsabschlüssen in den letzten Dekaden dramatisch geändert. In der globalisierten Wirtschaft sind gering qualifizierte Erwerbspersonen in Hochlohnländern eine schwer vermittelbare Gruppe auf dem Arbeitsmarkt. Ihnen bleibt – neben dem Verbleib in der Arbeitslosigkeit – oft nur die Aufnahme geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse. Gleichzeitig ändert sich aber auch die Marktlage von Männern und Frauen mit mittleren Bildungsabschlüssen. Abbildung 23 beschreibt die Entwicklung der Arbeitslosigkeit nach schulisch-beruflicher Qualifikation für Männer und Frauen im Alter zwischen 25 und 69 Jahren. Es zeigt sich, dass der allgemeine Anstieg der Arbeitslosigkeit im Untersuchungszeitraum zwischen den drei Bildungsgruppen deutlich unterschiedlich verteilt war. So hat sich die Arbeitslosenquote bei Männern und Frauen mit niedriger schulisch-beruflicher Bildung zwischen 1990-94 und 200006 etwa verdoppelt, obwohl ihr Anteil unter den 25- bis 69-jährigen bei Männern und Frauen um mehr als 10 Prozentpunkte gesunken ist. Zwischen 1990 und 1994 betrug die Quote bei Männern und Frauen mit niedriger Bildung etwa 4,8%
148
Soziale Ungleichheiten im Wandel
bzw. 6,0% im Zeitraum 2000-06 dagegen 9,6% bzw. 12,2%. Bei Männern und Frauen mit mittlerer Qualifikation war dagegen nur ein leichter Anstieg der Arbeitslosigkeit zu verzeichnen, obwohl sich ihr Anteil an den Erwerbspersonen seit 1990-94 erhöht hat. Die Arbeitslosenquote stieg hier bei Männern von 1,8% auf 4,3% und bei Frauen von 4,4% auf 7,1%. Die Anteile lagen damit weiterhin deutlich unter den Quoten der Geringqualifizierten. Hochqualifizierte Männer und Frauen mit tertiären Bildungsabschlüssen waren vom Zuwachs des Arbeitslosigkeitsrisikos nicht signifikant betroffen, obwohl sich auch ihr Bevölkerungsanteil deutlich vergrößert hat. Die Quoten lagen bei Männern mit tertiären Abschlüssen durchschnittlich bei 2,3% und sind bei hochqualifizierten Frauen leicht von 2,8% auf 3,5% gestiegen. Die Marktlage der Hochqualifizierten hat sich damit bisher trotz der fortgesetzten Bildungsexpansion kaum verschlechtert, weil im Zuge der wirtschaftlichen Strukturwandels im Bereich der modernen qualifizierten Dienstleistungen ein steigender Bedarf an hochqualifizierten Beschäftigten besteht (Brenke und Zimmermann 2005). So besteht im Zuge des demographischen Wandels vielmehr die Befürchtung, dass sich in Zukunft in Deutschland und anderen Staaten ein anhaltender Mangel an hochqualifizierten Erwerbstätigen einstellen wird. In Tabelle 6 wird die Veränderung von verschiedenen Aspekten der sozioökonomischen Lage für die drei nach der CASMIN-Klassifikation unterschiedenen Bildungsgruppen zwischen 1984-89 und 2000-06 dargestellt. Die Ergebnisse wurden anhand des SOEP für die Bevölkerung im Alter von 25 bis 69 Jahren berechnet. Hinsichtlich der Einkommen in den Bildungsgruppen ist eine Ausweitung der Unterschiede zwischen den drei Kategorien festzustellen.
Soziale Ungleichheiten im Wandel
149
Tabelle 6: Veränderung sozialer Lagen nach Geschlecht und Bildung Objektive Dimensionen
Subjektive Dimensionen
Äquivalenzeinkommen in EUR
Hohe Lebenszufriedenheit in %
1984-89
1990-94
1995-99
2000-06
1984-89
1990-94
1995-99
2000-06
Niedrige Bildung
1128
1278
1273
1328
48,6
46,7
39,9
39,1
Mittlere Bildung
1465
1526
1481
1567
53,6
44,9
42,5
40,0
Hohe Bildung
1804
1971
1969
2097
58,5
45,7
45,5
49,9
Niedrige Bildung
1103
1231
1210
1269
50,7
47,2
40,9
41,6
Mittlere Bildung
1391
1506
1521
1532
54,0
49,0
44,7
43,9
Hohe Bildung
1690
1713
1760
1849
57,7
42,6
42,7
47,4
Männer
Frauen
Armutsrisikoquote in %
Große wirtschaftliche Sorgen in %
Männer Niedrige Bildung
10,6
11,8
12,3
15,4
21,4
21,0
24,8
30,1
Mittlere Bildung
5,2
6,7
7,4
9,8
11,9
16,8
18,3
23,1
Hohe Bildung
3,2
4,2
3,1
4,4
8,4
12,4
13,9
14,7
Niedrige Bildung
13,9
16,8
18,6
20,9
18,9
19,0
23,0
26,8
Mittlere Bildung
7,0
9,1
9,7
13,4
11,3
15,5
18,3
24,9
Hohe Bildung
6,9
7,4
5,9
9,3
10,9
17,4
15,0
17,2
Frauen
Legende: Alle Werte sind altersstandardisiert gewichtete Anteils- bzw. Mittelwerte für die drei Statusgruppen. Bildungsindikator: Schulisch-berufliche Bildung nach CASMIN Klassifikation; niedrig: CASMIN-1; mittel: CASMIN-2; hoch: CASMIN-3; Äquivalenzeinkommen: Arithmetisches Mittel des preisbereinigten Äquivalenzeinkommens der Gruppe zu Preisen des Jahres 2000; Hohe Lebenszufriedenheit: Anteil allgemeine Zufriedenheit mit dem eigenen Leben >7 auf einer Skala von 0 (völlig unzufrieden) bis 10 (sehr zufrieden); Armutsrisikoquote: Anteil mit Einkommenspositionen von weniger als 60% des jeweiligen gesamtgesellschaftlichen Median des Äquivalenzeinkommens; Große wirtschaftliche Sorgen: Anteil von Befragten, die sich auf einer dreistufigen Skala von (1) „keinen“ bis (3) „große“ Sorgen um die eigene wirtschaftliche Lage machen.
Datenbasis: SOEP (1984-2006), Alter 25 bis 69 Jahre (standardisiert für Altersstruktur der BRD am 31.12.2004) So gab es – nach Berücksichtigung der allgemeinen Preissteigerungen – zwar einen Anstieg der bedarfsgewichteten HH-Nettoeinkommen, dieser war in den oberen Bildungsgruppen aber deutlich größer als in den unteren. Dadurch hat sich die Einkommensschere zwischen der bildungsarmen und -reichen Bevölkerung in den 1990er Jahren weiter geöffnet. Während sich die Geschlechterdifferenzen in Realeinkommen seit Anfang der 1990er Jahre in den unteren und mittleren Bildungsgruppen weiter ausgeweitet haben, gab es in der
150
Soziale Ungleichheiten im Wandel
oberen Bildungsgruppe eine leichte Angleichung der Einkommen von Männern und Frauen. So sind die Einkommen seit 1990-95 bei Männern und Frauen in der oberen Bildungsgruppe um 6% bzw. 8% gestiegen, in der unteren dagegen nur um 4% bzw. 3%. Ungeachtet der insgesamt positiven Einkommensentwicklung in allen Bildungsgruppen sind in der unteren und mittleren Bildungsgruppe immer mehr Menschen von relativer Einkommensarmut bedroht. Die Armutsrisikoquote ist in der unteren Bildungsgruppe bei Männern und Frauen um etwa vier Prozentpunkte gestiegen, während sie in der oberen Bildungsgruppe annähernd konstant geblieben ist. Hohe Bildung scheint damit ein zunehmend wichtigerer Schutz vor Armut zu sein. Trotz gestiegener Einkommen und einer nur geringen Zunahme der Armutsrisikoquote machen sich allerdings immer mehr Menschen in allen Bildungsgruppen große Sorgen um ihre wirtschaftliche Lage. Bei Männern betrug der Anstieg in der oberen Bildungsgruppe 2%, in der unteren dagegen 9%. Bei Frauen stagnierte der Wert in der oberen Bildungsgruppe auf einem hohen Niveau, während er in der unteren um 8% angestiegen ist. Auch die mittlere Lebenszufriedenheit ist in der mittleren und unteren Bildungsgruppe bei Männern und Frauen gesunken. Einzig in der oberen Bildungsgruppe sind steigende Einkommen auch mit höheren Zufriedenheitswerten einhergegangen. So ist der Anteil von Männern und Frauen, die mit ihrem eigenen Leben gegenwärtig sehr zufrieden sind (Skalenwerte 8-10), um 9% bzw. 11% angestiegen. Somit besteht im Vergleich der Bildungsgruppen insgesamt ein Widerspruch zwischen der Entwicklung der objektiven Lebensverhältnisse und ihrer subjektiven Wahrnehmung. Bildung ist eine zunehmend wichtige Determinante der Lebenschancen von Männern und Frauen in Deutschland. So hat sich die Selektionsfunktion der Bildungsabschlüsse für den Zugang zum Arbeitsmarkt in Folge der Bildungsexpansion sogar noch deutlich verschärft. Männer und Frauen mit geringer schulischer Bildung werden zunehmend aus gesellschaftlichen Funktionszusammenhängen ausgeschlossen. Obwohl oder gerade weil ihr Anteil in Folge der Bildungsexpansion kontinuierlich sinkt, ist ihr Arbeitslosigkeitsrisiko seit 1984 kontinuierlich gestiegen. In Folge ihrer prekären Arbeitsmarktsituation und ihrer geringen Verdienstmöglichkeiten sind sie zunehmend von Armut bedroht. Die Ausweglosigkeit ihrer Lage drückt sich auch in der Entwicklung psychosozialer Indikatoren aus – sie machen sich zunehmend Sorgen um die eigene Lage und sind auch mit ihrem eigenen Leben längst nicht mehr zufrieden. Auch Männer und Frauen mit mittleren Bildungsabschlüssen müssen zu den Verlierern der Bildungsexpansion gezählt werden. Durch die Höherqualifizierung der Bevölkerung in den letzten 20 Jahren können immer mehr Erwerbstätige mittlere schulische und berufliche Qualifikationen vorweisen. Das Arbeitslosigkeitsrisiko von Männern und Frauen mit mittlerer Qualifikation hat daher – trotz einer steigen-
Soziale Ungleichheiten im Wandel
151
den Nachfrage aufgrund des wirtschaftlichen Strukturwandels – deutlich zugenommen. Sie sind dadurch von steigenden Armutsrisiken und stagnierenden Realeinkommen betroffen und schätzten ihre eigene Lage auch subjektiv zunehmend als kritisch ein. In einer vergleichsweise komfortablen Lage befinden sich nur die Absolventen von Fachhochschulen und Universitäten. Sie sind auch weiterhin nur selten von Arbeitslosigkeits- und Armutsrisiken bedroht und schätzen dies auch subjektiv so ein. Die Befunde verdeutlichen damit eindrucksvoll, dass sich die Schere zwischen den Bildungsgruppen seit der deutschen Einigung weiter geöffnet hat. Es ist daher zu erwarten, dass sich diese Ausweitung der materiellen und psychosozialen Unterschiede in den Lagen der Bildungsgruppen in einer Ausweitung von gesundheitlichen Ungleichheiten niedergeschlagen hat bzw. in Zukunft niederschlagen wird. 3.2.4 Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt Der Arbeitsmarkt kann in modernen Gesellschaften als wichtigster Entstehungsort sozialer Ungleichheit angesehen werden. Auf ihm werden Bildungstitel in Einkommensvorteile umgesetzt und durch ihn wird der gesellschaftliche Wohlstand für den überwiegenden Teil der Bevölkerung verteilt. So leben im Jahr 2004 immer noch etwa 40% hauptsächlich vom Einkommen aus ihrer eigenen Erwerbstätigkeit und weitere 30% von den Einkommen ihrer Angehörigen (Destatis 2008). Erwerbsarbeit stellt damit die wichtigste Quelle zur Verteilung von Lebenschancen in der Gesellschaft dar. Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt bestehen einerseits hinsichtlich des Zugangs zur Erwerbsarbeit und andererseits hinsichtlich des Status der ausgeübten Tätigkeiten. Wer nicht in den Arbeitmarkt integriert ist, sei es weil die eigene Qualifikation als zu gering erachtet wird, weil das eigene Alter nicht mehr zum Ideal des jungen und dynamischen ‚high performer’ passt oder weil der wirtschaftliche Strukturwandel den eigenen Arbeitsplatz überflüssig gemacht hat, ist massiv vom Risiko sozialer Ausgrenzung betroffen. Ein wichtiger Aspekt, der die Ungleichheiten zwischen den Insidern und Outsidern am Arbeitsmarkt bestimmt, ist die Ausgestaltung des Arbeitsschutzes und der Arbeitslosenversicherung (Groß und Wegener 2004, Giesecke und Groß 2005, Groß 2008). Diese gesellschaftlichen Institutionen können entweder zur Verfestigung der ökonomischen und sozialen Exklusion von Outsidern beitragen oder das Ungleichheitsgefüge in der Erwerbsbevölkerung dynamisieren. Weiterhin bestehen aber auch Ungleichheiten zwischen den Erwerbstätigen, die sich unter anderem am Prestige ihrer Berufe, an den dafür notwendigen Fähigkeiten und Fertigkeiten, an der Verantwortung für Personal und Material oder auch der funktionellen Bedeutung der Tätigkeiten für den Betrieb festmachen lassen. Wie bereits dargestellt wurde, haben sich in der So-
152
Soziale Ungleichheiten im Wandel
ziologie verschiedene Konzepte etabliert – unter ihnen gehören Stand, Klasse, Berufsstatus und Berufsprestige zu den wichtigsten – um soziale Ungleichheiten zwischen Erwerbstätigen zu beschreiben. Es ist dabei kein Zufall, sondern leitet sich vielmehr aus diesen Kapitalformen ab, dass Berufsgruppen wie Piloten, Ärzte oder Investmentbanker regelmäßig höhere Einkommen und Gratifikationen erhalten als andere Berufsgruppen wie das Bodenpersonal der Flughäfen, die Krankenschwestern oder auch die Sekretärinnen von Investmentbankern. Tabelle 7: Veränderung der Erwerbsbeteiligung und der Arbeitslosenquote in den europäischen Wohlfahrtsregimen Erwerbsbeteiligung
Arbeitslosenquote
Wohlfahrtsregime
1996
2007
1996
2007
Sozialdemokratisch
68,8%
73,9%
10,2%
5,6%
Konservativ
60,7%
66,4%
7,5%
6,2%
Liberal
62,2%
70,2%
9,8%
4,9%
Südeuropäisch
54,5%
63,4%
11,4%
6,9%
Osteuropäisch
61,6%
63,9%
6,9%
6,6%
Durchschnitt der EU-15
60,3%
66,9%
10,1%
7,0%
Datenbasis: Eurostat (2008), Eigene Berechnungen, Indikatoren: tsiem010 (Erwerbsquote in %) tsiem110 (Arbeitslosenquote in %) In den 1990er Jahren wurden in den meisten europäischen Wohlfahrtsstaaten im Kontext einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik Maßnahmen etabliert, die zu einer Steigerung der Erwerbsbeteiligung und zu einer Verringerung der Arbeitslosenquoten beitragen sollten. Daten, die vom Statistischen Amt der Europäischen Union bereitgestellt wurden, zeigen dass diese Maßnahmen sehr erfolgreich waren (Tabelle 7). Zwischen 1996 und 2007 konnte die Erwerbsbeteiligung in der EU-15 von 60% auf 67% gesteigert und die Arbeitslosenquote von 10,1% auf 7,0% gesenkt werden.110 Besonders ausgeprägt waren die Veränderungen in den liberalen und südeuropäischen Staaten, hier ist die Erwerbsquote jeweils um etwa acht Prozentpunkte auf 70% bzw. 63% gestiegen. Die Arbeitslosenquote ist in den sozialdemokratischen, liberalen und südeuropäischen Staaten besonders stark gesunken, während die konservativen Staaten hier nur geringe Fortschritte erzielen konnten. In den osteuropäischen Staaten gab es im Vergleich zum Jahr 1996 dagegen nur geringe Fortschritte – so erhöhte sich die Erwerbsbeteiligung 110 Daten für die neuen Mitgliedsstaaten werden durch Eurostat erst ab Mitte der 1990er Jahre berichtet. Daher beschränkt sich die Darstellung auf den Zeitraum 1995/6 bis 2007.
Soziale Ungleichheiten im Wandel
153
der Bevölkerungen nur geringfügig um etwa 2,6%. Die Arbeitslosenquote verdoppelte sich dagegen zwischen 1996 und 2000, sank dann aber bis zum Jahr 2007 wieder auf das Ausgangsniveau ab. Die Probleme auf dem deutschen Arbeitsmarkt unterscheiden sich von denen in anderen konservativen Wohlfahrtsstaaten, weil der deutsche Sozialstaat durch die deutsche Einigung und den daraus resultierenden Strukturproblemen stärker von den Strukturproblemen der konservativen Wohlfahrtsstaaten betroffen war (Alber 2002, Gangl 2005). Dies begünstigte, dass der deutschen Wohlfahrtsstaat, der international lange Zeit als reformresistente „frozen landscape“ galt, seit der Bundestagwahl des Jahres 2002 grundlegend neu ausgerichtet wurde (Fleckenstein 2008). Ab 2004 setzte nach einer mehrjährigen Schwächeperiode eine wirtschaftliche Konjunkturphase ein, die – gefördert durch die neue aktivierende Arbeitsmarktpolitik – erstmals auch wieder auf dem Arbeitsmarkt beschäftigungswirksam wurde. Die Folgen der konjunkturellen Erholung werden in den nachfolgenden Analysen nicht mehr abgebildet, sie beschreiben vielmehr das sozialstrukturelle Spiegelbild der „frozen landscape“ zwischen 1984 und 2005. Es zeigt sich dabei, dass die neue deutsche Arbeitsmarktpolitik den Arbeitsmarkt flexibilisierte und dynamisierte, aber auch mit beträchtlichen sozialen Härten einherging (Giesecke und Groß 2005). So hat sich insbesondere das Risiko des sozialen Abstieges durch Arbeitslosigkeit deutlich erhöht. Abbildung 24: Entwicklung der Erwerbsquoten in der 25- bis 69-jährigen Bevölkerung Deutschlands Männer
Frauen
100 90 80
23
25
28
28
Anteil in %
70 60
46
50
43 47
54
40 30 20 10 0
77
75
72
72
46
54
53
57
1984-89
1990-94
1995-99
2000-06
1984-89
1990-94
1995-99
2000-06
Erwerbstätig
Erwerbslos
Datenbasis: SOEP (1984-2006), Alter 25 bis 69 Jahre
154
Soziale Ungleichheiten im Wandel
In Abbildung 24 ist die Entwicklung der Erwerbsbeteiligung in der 25- bis 69-jährigen Bevölkerung dargestellt.111 Im Zuge der schwierigen konjunkturellen Lage und der verstärkten Anstrengungen zur Frühverrentung in den frühen 1990er Jahren ist die Erwerbsquote von Männern dieser Altersgruppe um etwa 2,9 Prozentpunkte zwischen 1990-94 und 1995-99 gesunken, bei Frauen ist sie bis 2000-06 um 3,5 Prozentpunkte gestiegen. Im Vergleich der alten und neuen Bundesländer haben sich die Erwerbsquoten gegensätzlich entwickelt. Während bei Männern in den alten Ländern nur ein leichter Rückgang zu beobachten war, gab es in den neuen Ländern einen deutlichen Einbruch der Erwerbsbeteiligung von 72% auf 65%. Bei westdeutschen Frauen ist die Erwerbsquote seit Anfang der 1990er Jahre deutlich gestiegen, während es in Ostdeutschland erst seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre wieder einen Anstieg gab. Somit haben sich auch die Differenzen in den Erwerbsquoten zwischen den alten und neuen Ländern seit Anfang der 1990er ausgeweitet. Ostdeutsche Frauen, die zu Anfang der 1990er Jahre noch deutlich häufiger als westdeutsche Frauen erwerbstätig waren, haben diesen Vorsprung mittlerweile eingebüßt. Anhand der Daten des Sozio-oekonomischen Panels und der Gesundheitssurveys des RKI können Erwerbspersonen auch nach dem Ausmaß ihrer Erwerbsbeteiligung unterschieden werden. Nachfolgend werden drei Gruppen verglichen: Vollzeiterwerbstätige, Geringfügig- oder Teilzeitbeschäftigte und Arbeitslose. Die Grundlage zur Abgrenzung von Voll- und Teilzeitbeschäftigten ergibt sich nach dem Teilzeit- und Befristungsgesetz über den Vergleich der durchschnittlichen Wochenarbeitszeit der Beschäftigten mit der tarifvertraglich festgelegten oder der normalen Wochenarbeitszeit (TzBfG §2 Abs. 1). Als Basis der Einteilung dient daher im Sozio-oekonomischen Panel die Selbsteinstufung der Befragten im Anschluss an die Frage „Üben Sie derzeit eine Erwerbstätigkeit aus? Was trifft für Sie zu?“. Die möglichen Antworten lauten „Vollzeiterwerbstätig“, „Teilzeiterwerbstätig“ und „geringfügig oder unregelmäßig erwerbstätig“. Um Arbeitslose von Erwerbstätigen abzugrenzen, lässt sich einerseits die Definition der ILO oder die der amtlichen Statistik heranziehen. Nachfolgend werden auf Basis der amtlichen Definition Arbeitslose und ihrer Meldung beim Arbeitsamt bzw. der Arbeitsagentur abgegrenzt. Hier wird die Antwort auf die Frage „Sind sie zur Zeit beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet?“ als Indikator
111 Im Untersuchungszeitraum waren nach eigenen Analysen des SOEP ca. 5% Bevölkerung im Alter von 66-69 noch erwerbstätig. Sie werden in den nachfolgenden Analysen zur Erwerbsbeteiligung und zu den Effekten des Berufsstatus zusätzlich zu den regulären Erwerbspersonen im Alter zwischen 25 und 65 Jahren ebenfalls berücksichtigt, um konsistent mit den restlichen Analysen zu bleiben.
Soziale Ungleichheiten im Wandel
155
genutzt. Nur Befragte, die bei Arbeitsamt als arbeitslos gemeldet sind, werden als arbeitslos angesehen.112 Abbildung 25: Erwerbspersonen nach Erwerbsstatus, Jahr und Geschlecht Männer
Frauen
100 90 80
Anteil in %
70 60 92
90
86
53
56
40
35
52
47
84
50 40 30
35
41
20 10 0
6
3 7
4
2 6
10
10
1984-89*
1990-94
1995-99
2000-06
Arbeitslos
Teilzeit
7
9
1984-89*
1990-94
12
12
1995-99
2000-06
Vollzeit
*Früheres Bundesgebiet
Datenbasis: SOEP (1984-2006), Alter 25 bis 69 Jahre In Abbildung 25 ist die Entwicklung der Erwerbsbeteiligung für Erwerbspersonen113 im Alter von 25 bis 69 Jahren dargestellt. Insgesamt zeigt sich dabei, dass die überwiegende Mehrheit der männlichen und etwa 50% der weiblichen Erwerbspersonen im mittleren Lebensalter Vollzeit erwerbstätig sind. Allerdings hat sich der Anteil der Vollzeiterwerbstätigen seit 1990 deutlich verringert. So ist der Anteil bis zum Zeitraum 2000-06 bei Männern von 90,3% auf 83,7% und bei Frauen von 55,8% auf 47,4% gesunken. Geringfügige oder Teilzeitbeschäftigung nimmt dagegen bei Männern und Frauen zu. Sie stellt zwar bei Männern auch weiterhin nur die Ausnahme dar, besteht bei Frauen aber gleichberechtigt mit der Vollzeitbeschäftigung. Der Anteil der geringfügig oder Teilzeitbeschäftigten verdoppelte sich bei Männern seit 1990-94 von 3% auf 6%, bei Frauen stieg er 112 In den Gesundheitssurveys des RKI wird abweichend nach der subjektiven Einschätzung der Befragten gefragt: „...und was trifft auf Ihre derzeitige Situation am ehesten zu? Sind Sie ... „arbeitslos“ [Intervieweranweisung aus dem Telefonischen Gesundheitssurveys: Meldung beim Arbeitsamt ist für die Zuordnung als „arbeitslos“ ist nicht notwendig] 113 Das ist der Teil der Bevölkerung, der nach eigenen Angaben für den Arbeitsmarkt zur Verfügung steht und sich nicht noch in der Ausbildung oder bereits im Ruhestand befindet.
156
Soziale Ungleichheiten im Wandel
von 36% auf 41%. Der Anstieg der Erwerbsbeteiligung bei Frauen lässt sich dabei beinahe zu großen Teilen auf die Zunahme von Teilzeitbeschäftigung zurückführen (Bach et al. 2007).114 Das Arbeitslosigkeitsrisiko ist zwischen 199094 und 1995-99 weiter angestiegen und danach konstant hoch geblieben. Aufgrund der besonderen strukturellen Nachteile der neuen Bundesländer, die sich an einer weiterhin geringeren wirtschaftlichen Produktivität festmachen lassen, gab es dort im Zuge des wirtschaftlichen Transformationsprozesses eine besonders nachteilige Entwicklung der Arbeitslosigkeit. Sie stieg im Vergleich der beiden Zeiträume von 11,5% auf 18,6% bei Männern bzw. von 17,0% auf 21,2% bi Frauen. Dabei ist analog zur Erwerbsquote auch hinsichtlich der Arbeitslosigkeit bei Männern eine Ausweitung der Ost-/Westunterschiede zu beobachten, während sich die Quoten bei Frauen etwas angenähert haben. Insgesamt zeigt sich damit im Zuge der allgemeinen Steigerung der Erwerbsbeteiligung, dass vormals atypische Beschäftigungsmuster häufiger werden und die Vollzeitbeschäftigung bei Männern und Frauen sinkt. Wie sich die veränderte Arbeitsmarktbeteiligung der Bevölkerung ausgewirkt hat erschließt sich über einen Blick auf Haupteinkommensquellen der Bevölkerung. Sie wird durch das Statistische Bundesamt regelmäßig anhand des Mikrozensus ermittelt (Destatis 2008). Insgesamt zeigt sich dabei, dass etwa 40% der Bevölkerung hauptsächlich von der eigenen Erwerbstätigkeit leben, während jeweils etwa 30% den eigenen Unterhalt durch finanzielle Unterstützung von Angehörigen oder durch staatliche Transferzahlungen und das eigene Vermögen bestreiten.115 Seit 1990 ist die Bedeutung der Erwerbsarbeit als hauptsächlicher Einkommensquelle kontinuierlich gesunken. Hier zeigen sich die Folgen der Entlastung des Arbeitsmarktes durch die Förderung der Frühverrentung und die Auswirkungen der steigenden Arbeitslosigkeit. Erst nach der Umsetzung der beschäftigungsfördernden Arbeitsmarktreformen der Regierung Schröder und dem Einsetzen einer konjunkturellen Erholung in den Jahren 2006 und 2007 gab es hier eine Trendwende. So stieg der Anteil der Bürger, die hauptsächlich vom eigenen Erwerbseinkommen leben, zwischen 2004 und 2007 wieder von 39% auf 42% an.
114 Eigene, nicht dargestellte Analysen auf Basis des SOEP 1984-2006 für die 25- bis 69-jährige Bevölkerung. 115 Leider werden in der amtlichen Statistik die Einkommen aus Vermögen und Transferzahlungen nicht unterschieden.
Soziale Ungleichheiten im Wandel
157
Tabelle 8: Veränderung der sozialen Lage nach Geschlecht und Erwerbsbeteiligung Objektive Dimensionen
Subjektive Dimensionen
Äquivalenzeinkommen in EUR
Hohe Lebenszufriedenheit in %
1984-89 1990-94 1995-99 2000-06 1984-89 1990-94 1995-99 2000-06 Männer Arbeitslos
860
957
1032
995
23,3
24,0
18,9
15,9
Teilzeit
1265
1278
1315
1332
45,7
41,3
37,1
37,6
Vollzeit
1387
1593
1615
1752
53,3
48,0
44,6
45,7
Arbeitslos
992
1032
1017
1004
35,5
25,7
23,6
20,2
Teilzeit
1296
1485
1514
1480
50,9
51,2
46,7
45,5
Vollzeit
1485
1620
1628
1739
51,5
45,1
43,5
46,1
Frauen
Armutsrisikoquote in %
Große wirtschaftliche Sorgen in %
Männer Arbeitslos
41,1
35,2
30,5
41,3
59,2
50,8
53,4
63,6
Teilzeit
16,5
18,3
23,0
26,1
20,1
20,9
19,8
26,3
Vollzeit
3,7
4,0
3,6
4,1
15,3
16,1
18,2
20,5
Arbeitslos
29,6
30,1
33,1
43,6
42,9
45,2
46,0
58,7
Teilzeit
7,3
8,9
9,1
14,6
14,5
14,2
16,9
23,2
Vollzeit
4,0
5,3
5,4
6,2
16,6
18,7
18,9
22,2
Frauen
Legende: Alle Werte sind altersstandardisiert gewichtete Anteils- bzw. Mittelwerte für die drei Statusgruppen. Erwerbsbeteiligung: Erwerbsstatus von Erwerbspersonen im Alter von 25-69 Jahren; Arbeitslos: Arbeitslos; Teilzeit: Teilzeit oder geringfügig beschäftigt; Vollzeit: Vollzeit beschäftigt; Äquivalenzeinkommen: Arithmetisches Mittel des preisbereinigten Äquivalenzeinkommens der Gruppe zu Preisen des Jahres 2000; Hohe Lebenszufriedenheit: Anteil allgemeine Zufriedenheit mit dem eigenen Leben >7 auf einer Skala von 0 (völlig unzufrieden) bis 10 (sehr zufrieden); Armutsrisikoquote: Anteil mit Einkommenspositionen von weniger als 60% des jeweiligen gesamtgesellschaftlichen Median des Äquivalenzeinkommens; Große wirtschaftliche Sorgen: Anteil von Befragten, die sich auf einer dreistufigen Skala von (1) „keinen“ bis (3) „große“ Sorgen um die eigene wirtschaftliche Lage machen.
Datenbasis: SOEP (1984-2006), Alter 25 bis 69 Jahre In Tabelle 8 ist die Entwicklung der objektiver und subjektiver Wohlfahrtsdimensionen differenziert nach Erwerbsbeteiligung dargestellt. Es deutet sich dabei eine zunehmende soziale Spaltung der Erwerbsbevölkerung in gut versorgte und zufriedene Vollzeiterwerbstätige und materiell ausgegrenzte Arbeitslose mit großen psychosozialen Problemen an. In den konjunkturell schwierigen 1990er Jahren konnte keine Gruppe deutliche Einkommenszuwächse erzielen. Zwischen 1995-99 und 2000-05 gab es dann allerdings wieder
158
Soziale Ungleichheiten im Wandel
Zuwächse in den Realeinkommen, von denen die Voll- und Teilzeitbeschäftigten deutlich, die Arbeitslosen gar nicht profitierten. Insgesamt stiegen die preisbereinigten Äquivalenzeinkommen von vollzeiterwerbstätigen Männern und Frauen zwischen 1990-94 und 2000-06 um 156 Euro bzw. 118 Euro, während arbeitslose Männer lediglich 43 Euro dazu gewannen und Frauen Verluste von 29 Euro hinnehmen mussten. Im Vergleich erzielten Frauen unabhängig von ihrer Erwerbsbeteiligung etwas höhere Haushaltseinkommen als Männer, was vor allem auf die höhere Wahrscheinlichkeit eines ebenfalls erwerbstätigen Partners im Haushalt der erwerbstätigen Frauen zurückzuführen ist. Eine der bedeutendsten sozialstrukturellen Entwicklungen der 1990er Jahre ist die massive Zunahme der Einkommensarmut unter arbeitslosen Männern und Frauen. Seit 1990 ist das Armutsrisiko arbeitsloser Männern und Frauen um weitere sechs bzw. 13 Prozentpunkte gestiegen, sodass zwischen 2000 und 2006 mehr als 40% der arbeitslosen Männer und Frauen von relativer Einkommensarmut und damit vom Risiko sozialer Ausgrenzung betroffen waren. Hier wird eine deutliche Senkung der sozialstaatlichen Absicherung gegen Arbeitslosigkeit als Folge der Arbeitsmarktreformen deutlich. Eine weitere Entwicklung der 1990er Jahre ist, dass auch eigene Erwerbstätigkeit immer weniger vor relativer Einkommensarmut schützt.116 So stieg das Armutsrisiko insbesondere unter teilzeitbeschäftigten Männern und Frauen seit 1990-94 um 35% bzw. 63% an. Nicht nur die objektiv messbare sozialen Lage, sondern auch ihre subjektive Wahrnehmung durch die Akteure hat sich im Verlauf der 1990er Jahre in der Erwerbsbevölkerung verschlechtert. So hat sich sowohl bei arbeitslosen, als auch bei teil- oder vollzeitbeschäftigten Männern und bei arbeitslosen und teilzeitbeschäftigten Frauen, die allgemeine Lebenszufriedenheit deutlich verringert. Nur vollzeiterwerbstätige Frauen waren im Zeitraum 2000-06 zufriedener als zu Beginn der 1990er Jahre. Die bereits bekannte Abhängigkeit der Lebenszufriedenheit von der Arbeitsmarktanbindung (Clark et al. 2008) hat sich dabei unter den 25- bis 69jährigen weiter verstärkt. So ist die Differenz zwischen Arbeitslosen und Vollzeiterwerbstätigen bei Männern um 5,7 und bei Frauen um 6,4 Prozentpunkte angestiegen. Unabhängig von ihrer Erwerbsbeteiligung machen sich auch immer mehr Männer und Frauen große Sorgen um ihre eigene wirtschaftliche Lage. Besonders große Zuwächse gab es allerdings auch hier bei Arbeitslosen. So nahm der Anteil von Arbeitslosen mit großen wirtschaftlichen Sorgen bei Männern und Frauen um 12,8 bzw. 13,5 Prozentpunkte zu. Bei Vollzeiterwerbstätigen betrug die Zunahme dagegen bei Männern nur 4,4 und bei Frauen lediglich 3,5 Punkte Prozentpunkte. 116 Die Zunahme kann als Folge der Arbeitsmarktreformen und des durch sie ausgeweiteten Niedriglohnsektors angesehen werden (DIW et al. 2007).
Soziale Ungleichheiten im Wandel
159
Der wirtschaftliche Strukturwandel hatte nicht nur beträchtliche Auswirkungen auf die Struktur der Erwerbsbeteiligung, sondern auch auf die Struktur der Erwerbstätigen. So sind immer weniger Menschen in den Branchen Landwirtschaft und Industrie beschäftigt. Innerhalb aller Branchen ist dabei eine zunehmende Professionalisierung von einfachen hin zu komplexen und verantwortungsvollen Tätigkeiten zu beobachten. Um diese Veränderungen zu beschreiben und die Unterschiede zwischen den Erwerbstätigen abzubilden, wird ein fünfstufiger Index zur Autonomie beruflichen Handelns herangezogen (Hoffmeyer-Zlotnik 2003). Die Skala basiert auf der Operationalisierung der Erfassung von Berufen im Mikrozensus seit 1971. Sie basiert auf Plausibilitätsannahmen und ist nicht gleichermaßen theoretisch fundiert wie Skalen zum beruflichen Prestige (Treimann 1977, Wegener 1985) oder zur Berufsklasse (Wright 1978, Erikson et al. 1979). Ihr Vorteil ist, dass sie sich auf Basis von Angaben bilden lässt, die in den meisten repräsentativen Studien in Deutschland kontinuierlich erhoben werden. Zudem ist sie mit differenzierteren Maßen zu Status- oder Prestigeunterschieden zwischen Erwerbstätigen statistisch eng assoziiert (Wolf 1995, Hoffmeyer-Zlotnik 2003). Anhand der ursprünglich fünfstufigen Skala werden im Folgenden drei Gruppen unterschieden: Erwerbstätige, die auf dieser Skala Werte von eins oder zwei erzielen, üben eher einfache Tätigkeiten mit geringen Entscheidungsbefugnissen aus (bspw. einfache Arbeiter, Beamte im unteren Dienst); Erwerbstätige, die Werte von vier oder fünf Punkten erzielen, üben dagegen verantwortungsvolle Tätigkeiten mit hohen Entscheidungsbefugnissen aus (bspw. leitender Angestellter, Richter). Erwerbstätige, die einen Wert von drei erzielen, decken das breite Spektrum durchschnittlich qualifizierter manueller und nicht-manueller Tätigkeiten ab (bspw. qualifizierter Angestellter, angestellter Handwerksmeister). In den folgenden Analysen werden nur die Vollzeitbeschäftigten betrachtet, um Verzerrungen aufgrund des Ausmaßes der Erwerbsbeteiligung auszuschließen.
160
Soziale Ungleichheiten im Wandel
Abbildung 26: Autonomie des beruflichen Handelns von Vollzeiterwerbstätigen nach Erhebungsjahr und Geschlecht Männer
Frauen
100 90 80
15 27
29
Anteil in %
70
31
17
20
23
32
60 50 40
35
31
30
45
48
32
47
30
48
20 10 0
38
41
39
36
37
38
33
29
1984-89*
1990-94
1995-99
2000-06
1984-89*
1990-94
1995-99
2000-06
Autonomie im Beruf
niedrig
mittel
hoch
*Früheres Bundesgebiet
Datenbasis: SOEP (1984-2006), Alter 25 bis 69 Jahre (Vollzeiterwerbstätige) In Abbildung 26 werden Vollzeiterwerbstätige, aufbauend auf dem zuvor beschriebenen Index zur Autonomie des beruflichen Handelns, nach ihrer Stellung im Beruf unterschieden. Die Ergebnisse zeigen, dass sich die Struktur der Vollzeiterwerbstätigen im Zuge des wirtschaftlichen Strukturwandels nur langsam verändert. Bereits vor der Wende waren die westdeutschen vollzeiterwerbstätigen Männer in drei ähnlich große Lager gespalten, die sich an der Autonomie und den Entscheidungsbefugnissen festmachen ließen. Bei westdeutschen Frauen dominierten dagegen einfache und mittlere Tätigkeiten. Die Dreiteilung der vollzeitbeschäftigten Männer ist auch im vereinigten Deutschland erhalten geblieben, während sich die Tätigkeiten der Frauen allmählich an die der Männer angleichen. Insgesamt hat die Autonomie des beruflichen Handelns der Vollzeiterwerbstätigen seit den 1990er Jahren bei Männern und Frauen zugenommen. So ist der Anteil von einfachen Tätigkeiten bei Männern und Frauen um fünf bzw. neun Prozentpunkte gesunken, während hoch qualifizierte Tätigkeiten um drei bzw. sechs Prozentpunkte zugenommen haben. Die Geschlechterunterschiede im Anteil von Tätigkeiten mit hoher Autonomie gingen von zwölf auf neun Prozentpunkte zurück, während sich die Differenz im Anteil von gering qualifizierten Tätigkeiten zuungunsten der Männer um vier Prozentpunkte erhöhte. Im Vergleich der alten und neuen Bundesländer hat sich die Tätigkeitsstruktur auseinanderentwickelt. In den ersten Jahren nach der Wie-
Soziale Ungleichheiten im Wandel
161
dervereinigung (1990-94) übten in den alten Bundesländern 29,6% bzw. 16,1% der Männer und Frauen und in den neuen Bundesländern 25,2% bzw. 19,8% Tätigkeiten mit hoher Autonomie aus, in den Jahren 2000 bis 2006 waren es dagegen 33,5% bzw. 23,5% und 23,5% bzw. 20,3%. Auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt wurde die Chance einer zunehmenden und beschäftigungssichernden Professionalisierung verpasst, die für die westdeutsche Entwicklung zwischen 1984 und 2006 kennzeichnend war. In Tabelle 9 wird die Veränderung von objektiven und subjektiven Merkmalen der Situation von Vollzeiterwerbstätigen für drei Gruppen nach beruflicher Autonomie dargestellt. Im Zuge der Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt haben auch soziale Unterschiede zwischen den Vollzeiterwerbstätigen in Deutschland zugenommen. Bei vollzeiterwerbstätigen Männern war hinsichtlich der Unterschiede im preisbereinigten Einkommen und im Armutsrisiko eine Ausweitung der Differenzen zwischen der oberen und unteren Berufsgruppe zu beobachten. Bei Frauen haben sich dagegen die mittleren Einkommen der unteren Berufsgruppen an die oberste angenähert. Das Armutsrisiko von Frauen mit niedrigem Berufsstatus hat dagegen deutlich auf fast 12% im Zeitraum 2000 bis 2006 zugenommen. Die zunehmenden Risiken auf dem Arbeitsmarkt haben sich in allen Berufsstatusgruppen vor allem auf die psychosoziale Lage der unteren Berufsstatusgruppen nachteilig ausgewirkt. So ist der Anteil von Männern und Frauen, die mit ihrem Leben sehr zufrieden sind, in der unteren Statusgruppe zwischen 1990-94 und 2000-06 um 3,7 bzw. 2,0 Prozentpunkte gesunken, während er in der oberen um 2,1 bzw. 0,2 Prozentpunkte zugenommen hat. Wirtschaftliche Sorgen haben in der unteren und mittleren Statusgruppe ebenfalls stark zugenommen. Der Anteil von Vollzeiterwerbstätigen, die sich große Sorgen um die eigene wirtschaftliche Lage machen, ist bei Männern und Frauen in der unteren Statusgruppe um 6,8 bzw. 7,0 und in der mittleren um 5,9 bzw. 5,2 Prozentpunkte gestiegen. Insgesamt kam es also auch innerhalb der Gruppe der Vollzeiterwerbstätigen zu einer leichten Ausweitung der sozialen Unterschiede bei Männern und Frauen.
162
Soziale Ungleichheiten im Wandel
Tabelle 9: Veränderung sozialer Lagen nach Autonomie beruflichen Handelns und Geschlecht Objektive Dimensionen
Subjektive Dimensionen
Äquivalenzeinkommen in EUR
Hohe Lebenszufriedenheit in %
1984-89 1990-94 1995-99 2000-06 1984-89 1990-94 1995-99 2000-06 Männer Niedrige Autonomie
1108
1244
1246
1314
49,7
43,5
41,0
39,8
Mittlere Autonomie
1382
1580
1632
1739
51,7
49,8
42,5
43,3
Hohe Autonomie
1794
2079
2064
2268
60,7
52,6
51,3
54,7
Niedrige Autonomie
1209
1311
1301
1356
46,9
40,0
37,1
38,0
Mittlere Autonomie
1539
1641
1656
1759
51,8
46,1
46,4
47,2
Hohe Autonomie
2002
2249
2090
2201
61,9
53,8
47,1
54,0
Frauen
Armutsrisikoquote in %
Große wirtschaftliche Sorgen in %
Männer Niedrige Autonomie
6,2
6,8
6,5
7,4
18,8
21,8
25,6
28,8
Mittlere Autonomie
3,2
2,5
2,6
3,1
17,1
14,7
16,8
20,6
Hohe Autonomie
0,8
1,8
0,9
1,6
7,8
9,4
10,3
11,1
Niedrige Autonomie
6,3
7,9
9,1
11,9
21,4
24,5
28,6
31,6
Mittlere Autonomie
2,5
4,5
4,0
4,2
15,3
16,6
16,0
21,8
Hohe Autonomie
2,9
1,6
2,6
3,2
8,8
11,3
10,3
11,2
Frauen
Legende: Alle Werte sind altersstandardisiert gewichtete Anteils- bzw. Mittelwerte für die drei Statusgruppen. Autonomie beruflichen Handelns: Fünfstufige Skala zur Autonomie beruflichen Handelns für Vollzeitbeschäftigte im Alter von 25-69 Jahren; niedrig: Autonomiewerte 1 bis 2; Mittel: Autonomiewert 3; Hoch: Autonomiewerte 4 bis 5; Äquivalenzeinkommen: Arithmetisches Mittel des preisbereinigten Äquivalenzeinkommens der Gruppe zu Preisen des Jahres 2000; Hohe Lebenszufriedenheit: Anteil allgemeine Zufriedenheit mit dem eigenen Leben >7 auf einer Skala von 0 (völlig unzufrieden) bis 10 (sehr zufrieden); Armutsrisikoquote: Anteil mit Einkommenspositionen von weniger als 60% des jeweiligen gesamtgesellschaftlichen Median des Äquivalenzeinkommens; Große wirtschaftliche Sorgen: Anteil von Befragten, die sich auf einer dreistufigen Skala von (1) „keinen“ bis (3) „große“ Sorgen um die eigene wirtschaftliche Lage machen.
Datenbasis: SOEP (1984-2006), Alter 25 bis 69 Jahre Zwischen 1990 und 2005 wurde durch eine Reihe von Gesetzen und Verordnungen auf nationaler Ebene versucht, den deutschen Arbeitsmarkt zu flexibilisieren (Zimmermann 2005). Arbeitsmarktpolitisch müssen diese Maßnahmen letztlich als erfolgreich bewertet werden (Fleckenstein 2008). So konnte die Erwerbsbeteiligung gesteigert und die Arbeitslosenquote gesenkt werden. Sozialpolitisch müssen die Reformen dagegen als ein Rückschritt betrachtet werden, weil die wohlfahrtsstaatliche Absicherung gegenüber den Folgen von
Soziale Ungleichheiten im Wandel
163
Arbeitslosigkeit verringert wurde (Giesecke und Groß 2005). Es wurde gezeigt, dass die neuen Regelungen mit einer deutlichen Verschlechterung der materiellen und psychosozialen Lage der Arbeitslosen einhergegangen sind. So hat die Einkommensarmut unter Arbeitslosen mittlerweile ein besorgniserregendes Niveau erreicht. Auch die psychosoziale Lage der Arbeitslosen hat sich im gesamten Untersuchungszeitraum zunehmend verschlechtert. Damit erscheinen die heutigen Arbeitslosen zunehmend vom Risiko sozialer Ausgrenzung und von einer Abkopplung von den allgemeinen Wohlstandszuwächsen bedroht. Vollzeitund Teilzeiterwerbstätige mussten zwar ebenfalls neue Unsicherheiten hinnehmen, allerdings nicht annähernd im gleichen Maße wie die Arbeitslosen. So übt ein immer größerer Teil der Vollzeiterwerbstätigen qualifizierte oder sogar hoch qualifizierte Tätigkeiten aus. Die Familien der hochqualifizierten Arbeitnehmer erfreuen sich eines kontinuierlich steigenden Wohlstandes und sie selbst sind kaum durch materielle Armut bedroht. Dass ihre wirtschaftlichen Sorgen ebenfalls stark zugenommen haben, lässt sich vor allem durch die Zunahme geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse erklären (vgl. Bach et al. 2007). Arbeitslosigkeit bedeutet heute nicht mehr nur sozialen Abstieg, sondern immer häufiger auch sozialen Ausschluss. So scheint es letztlich unter dem Eindruck der vorliegenden sozialstrukturellen Entwicklungen in der Erwerbsbevölkerung nur rational, wenn sich auch die gut verdienenden und hoch qualifizierten Vollzeiterwerbstätigen in Zeiten eines flexibilisierten Arbeitsmarktes und einer verringerten sozialen Absicherung gegen Arbeitslosigkeit machen. So tragen die Erwerbstätigen in Deutschland nicht nur bei der Finanzierung der sozialen Sicherung die Hauptlasten, sondern bei der Neuordnung dieser Systeme die größten Risiken. 3.2.5 Veränderungen der Einkommensverteilung Einkommen ist die wichtigste Determinante der gesellschaftlichen Lage eines Menschen in modernen Gesellschaften. Je größer das verfügbare Einkommen ist, desto größer sind die Möglichkeiten, Produkte oder Dienstleistungen zu erwerben oder Vermögen zu bilden und so die individuellen Verwirklichungschancen zu steigern (Volkert et al. 2003). Je nach Preisniveau ermöglicht ein konkretes Einkommen in unterschiedlichem Maße den Zugang zu anderen wertvollen Gütern und hat damit einen unterschiedlichen Nutzen bzw. eröffnet Verwirklichungschancen in unterschiedlichem Ausmaß (Sen 1995). Ein allgemein akzeptierter und häufig verwendeter Indikator für das verfügbare Einkommen ist das Netto-Äquivalenzeinkommen.117 Auch soziale Vergleichsprozesse beeinflus117 Dabei wird für jedes Haushaltsmitglied ein Bedarfsgewicht angesetzt, das sich am Alter festmacht und den angenommenen Einkommensbedarf in Relation zum Haushaltsvorstand wiedergibt. In den
164
Soziale Ungleichheiten im Wandel
sen den individuellen Wert des Einkommens (Townsend 1985, 1993). Anhand der relativen Wohlfahrtsposition, also der Lage des eigenen Einkommens im Verhältnis zu den Einkommen aller anderen Bürger, lassen sich anhand des Einkommens Zonen relativer Armut und relativen Reichtums identifizieren, die unabhängig vom absoluten Wohlstandsniveau einen eigenen Wert für die sozialen Akteure haben können. Neben dem Einkommen hat das Vermögen, als akkumulierte Form des Einkommens, einen zusätzlichen Wert für die sozialen Akteure (DIW et al. 2007, S. 135). Vermögen führt durch Zinserträge zu einem von der Erwerbsbeteiligung unabhängigem Einkommen, während Schulden durch die Notwendigkeit von Zinszahlungen das laufende Einkommen schmälern. Vermögen kann bei Bedarf aufgebraucht werden und sichert so den sozialen Status. Sachvermögen kann zudem genutzt werden und schafft so Handlungsspielräume oder führt – wie im Fall des selbstgenutzten Wohneigentums – zu zusätzlichen Einsparungen. Größere Vermögen verleihen wirtschaftlichen und politischen Einfluss und reproduzieren den sozialen Status einer Familie – durch Vererbung – über Generationen hinweg. Vermögen ist somit ein wichtiger Einflussfaktor auf die Bedeutung des Einkommens für den Zugang zu Lebenschancen. In Deutschland verfügt allerdings nur ein kleiner Teil der erwachsenen Bevölkerung über nennenswertes Vermögen, ein Viertel hat sogar gar kein eigenes Vermögen und etwa 5% haben mehr Schulden als Besitz (Grabka und Frick 2007). Bei der Analyse der Einkommensentwicklung und der Einkommensverteilung wird zwischen der primären und sekundären Verteilung unterschieden (Becker und Hauser 2003). Die primäre Verteilung ergibt sich auf Basis der am Markt erzielten Einkommen aus selbständiger und unselbstständiger Tätigkeit oder aus Vermögen. Dabei werden die Markteinkommen nicht nur durch den Wettbewerb der Unternehmen um geeignete und qualifizierte Arbeitnehmer bestimmt (Becker und Hauser 2003). Wichtige Einflussfaktoren auf die Markteinkommen sind auch der Einfluss der Arbeitnehmervertreter, die Preispolitik, die Verhandlungsmacht und das Verhandlungsgeschick der Unternehmen – und ihrer Verbände – sowie der Einfluss von korporativen Akteuren auf arbeitsmarktbezogene staatliche Verordnungen und Gesetze. Der Erfolg der partikularistischen Interessenpolitiken ist zudem von konjunkturellen Zyklen und längerfristigen sozialstrukturellen Entwicklungen abhängig (wie demographischer letzten Jahren wurden verschiedene Skalen zur Bedarfsgewichtung entwickelt, von denen sich die neue OECD-Skala inzwischen als Standard durchgesetzt hat (BMAS 2008a). Demnach ist dem Haushaltsvorstand ein Bedarfsgewicht von 1,0, jeder weiteren Personen ab 15 Jahren ein Bedarfsgewicht von 0,5 sowie Kindern und Jugendlichen unter 15 Jahren ein Bedarfsgewicht von 0,3 zuzuweisen. Das Haushaltsnettoeinkommen, also die Summe der Einkommen aller Haushaltsmitglieder nach Abzug der Aufwendungen für Steuern und Sozialversicherungsbeiträge, wird anschließend durch die Summe der Bedarfsgewichte aller Haushaltsmitglieder dividiert.
Soziale Ungleichheiten im Wandel
165
Wandel, wirtschaftliche Transformationsprozesse). Die Markteinkommen werden allerdings über das Steuersystem und die Sozialkassen umverteilt, dadurch ergibt sich nach der Berücksichtigung von Steuern, Beiträgen für Sozialversicherungen und Einkommen aus Transferzahlungen eine sekundäre Einkommensverteilung. Ungleichheitsmindernd wirkt dabei in Deutschland vor allem der progressiv ansteigende Einkommenssteuersatz und der progressive Anstieg der Sozialversicherungsbeiträge. Wichtige Quellen von Transferzahlungen sind die beitragsfinanzierten Leistungen der Arbeitslosen- und Krankenversicherung und die steuerfinanzierten Leistungen Arbeitslosengeld II (vor 2005 Arbeitslosen- bzw. Sozialhilfe), Elterngeld, Kindergeld oder auch Wohngeld. Abbildung 27: Primäre und sekundäre Einkommensverteilung in europäischen Wohlfahrtsregimen Mitte der 2000er Jahre 0.50 0.45
0.47
0.47
0.47
0.44 0.42
0.40
Gini Koeffizient
0.35
0.33
0.30 0.25
0.34
0.28
0.27
0.25 0.20 0.15 0.10 0.05 0.00
sozialdemokratisch
osteuropäisch
konservativ
Primäre Verteilung
liberal
südeuropäisch
Sekundäre Verteilung
Datenbasis: OECD (2008b), eigene Berechnungen Daten der OECD ermöglichen, den Einfluss wohlfahrtsstaatlicher Umverteilung auf die Einkommensverteilung zu veranschaulichen, allerdings enthalten sie nicht alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union.118 In Abbildung 27 ist der Gini-Koeffizient, ein zusammenfassendes Maß der Ein118
So sind die meisten Mitgliedsstaaten der EU-15 auch OECD-Mitglieder, während insbesondere die neuen osteuropäischen Staaten unzureichend in der OECD repräsentiert sind. Hier stehen lediglich Daten aus Tschechien und der Slowakei zur Verfügung.
166
Soziale Ungleichheiten im Wandel
kommensungleichheit119, für die primäre und die sekundäre Einkommensverteilung in den fünf europäischen Wohlfahrtsregimen dargestellt. Die Daten der OECD zeigen, dass alle Wohlfahrtsregime die Markteinkommen in beträchtlichem Ausmaß umverteilen. Besonders groß ist das Ausmaß der Umverteilung durch den Staat in den skandinavischen, osteuropäischen und konservativen Staaten. In ihnen wird die Ungleichheit der Einkommensverteilung durch den Staat um durchschnittlich 40% reduziert. In den liberalen und südeuropäischen Regimen ist das Ausmaß dagegen deutlich geringer und beträgt lediglich 25%, dadurch bestehen auch nach der staatlichen Umverteilung ausgeprägte Ungleichheiten. Abbildung 28: Entwicklung der Einkommensungleichheiten zwischen den unteren und oberen 20% der Einkommensverteilung nach Wohlfahrtsregime 6.5 6.0
Einkommensverhältnis
5.5 5.0 4.5 4.0 3.5 3.0 2.5 2.0 1.5 1.0
sozialdemokratisch
konservativ
osteuropäisch 1995
2000
liberal
südeuropäisch
2006
Datenbasis: Eurostat (2008), Eigene Berechnungen, Indikator: tsisc010 Auskunft über die Entwicklung von Einkommensunterschieden in der EU geben dagegen die von Eurostat bereitgestellten Daten des europäischen Haushaltspanels ECHP (bis 2003) und der europäischen Statistik zu Einkommen und Lebensbedingungen in Europa EU-SILC (ab 2005). Abbildung 28 beschreibt das Einkommensverhältnis – gemessen am bedarfsgewichteten Haushaltsnetto119 Ein Wert von Gini=0 bedeutet, dass alle Bevölkerungsmitglieder das gleiche Einkommen erzielen, ein Wert von Gini=1, dass eine Person das gesamte Einkommen der Bevölkerung erzielt.
Soziale Ungleichheiten im Wandel
167
einkommen – zwischen den reichsten 20% und den ärmsten 20% der Bevölkerung. Zwischen den europäischen Wohlfahrtsstaaten bestehen demnach beträchtliche Differenzen im Ausmaß der Einkommensungleichheiten. So weisen sozialdemokratische Staaten vergleichsweise geringe Unterschiede aus, liberale und südeuropäische Staaten dagegen besonders große. Im Verlauf der 1990er Jahre haben sich die Einkommensungleichheiten zwischen den Regimen allerdings angenähert. So gab es in den egalitären sozialdemokratischen Staaten eine Ausweitung der Differenzen vom 2,9-fachen auf das 3,7-fache. In den liberalen und südeuropäischen Staaten waren die Unterschiede zwischen den Einkommensgruppen dagegen konstant oder sogar rückläufig. So waren die Einkommen der oberen 20% im Jahr 2006 5,1- bzw. 5,4-fach erhöht. Die Durchsetzung der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik ist folglich mit einer stärkeren Angleichung von Ungleichheiten in Europa einhergegangen. Im Unterschied zu anderen konservativen Wohlfahrtsstaaten, in denen ein leichter Rückgang der Einkommensungleichheiten zu beobachten war, gab es in Deutschland – nach Daten des SOEP – seit Mitte der 1990er Jahre eine beträchtliche Ausweitung der Einkommensunterschiede (eigene Analysen, vgl. auch OECD 2008a, DIW et al. 2007). Bei der Analyse der gesamten Bevölkerung zeigen die Einkommensunterschiede der Einkommensgruppen und der GiniKoeffizient eine deutliche Ausweitung der Differenzen an. Besonders ausgeprägt war die Ausweitung vor allem zwischen 2000 und 2006. So hat das Einkommensverhältnis im Vergleich des oberen und unteren Einkommensquintils vom 4,0-fachen im Jahr 1992 auf das 4,2-fache im Jahr 2000 und das 5,0-fache im Jahr 2006 zugenommen. Der Gini-Koeffizient ist ebenfalls von 0,27 im Jahr 1992 auf 0,28 im Jahr 2000 und 0,31 im Jahr 2006 angestiegen. Dieser beträchtliche Anstieg der Einkommensungleichheiten in nur 14 Jahren ist insofern bemerkenswert, als dass Deutschland seit 1973 durch eine beträchtliche Stabilität bei den Einkommensungleichheiten gekennzeichnet war. Trotz Ölkrise, Massenarbeitslosigkeit und verschiedener Kürzungen im Bereich der sozialen Sicherung bewegte sich die Einkommensungleichheit in den alten Bundesländern seit 1972 annähernd konstant auf einem Niveau des Gini-Koeffizienten von 0,25 (Hauser 2001, S. 167). Auch die Äquivalenzeinkommen des oberen Quintils der Einkommensverteilung waren gegenüber dem unteren Quintil annähernd konstant 3,5-fach erhöht. Nachfolgend wird die Entwicklung von Einkommensungleichheiten im mittleren Lebensalter anhand des SOEP auf Basis des mittleren monatlichen Haushaltsnettoeinkommens des Vorjahres beschrieben. Fehlende Werte wurden durch das DIW längsschnittlich imputiert (Grabka und Frick 2003). Um die Ergebnisse mit den gesundheitsbezogenen Analysen vergleichen zu können, wurden Einkommensvorteile aus selbst genutztem Wohneigentum oder verbilligt
168
Soziale Ungleichheiten im Wandel
überlassenem Mietwohnraum nicht berücksichtigt.120 Das Haushaltsnettoeinkommen wurde anhand der neuen OECD Skala für unterschiedliche Haushaltsgrößen adjustiert. Die Skala geht von Vorteilen durch gemeinsames Wirtschaften aus und setzt auch den Einkommensbedarf von Kindern niedriger als den Bedarf von Erwachsenen an.121 Aufbauend auf den relativen Einkommenspositionen122 der Befragten werden drei Einkommenslagen, die unterschiedliche gesellschaftliche Teilhabechancen repräsentieren, unterschieden: Sie umfassen die Einkommensbereiche 0 bis unter 60%, 60 bis 150%, sowie über 150% und können als ‚Armutsrisikogruppe’, als erweiterter mittlerer Einkommensbereich und als Bereich ‚relativen Wohlstands’ bezeichnet werden (Hübinger 1996).
120 Die Analysen zur Entwicklung gesundheitlicher Ungleichheit basieren auf den Gesundheitssurveys des Robert Koch-Instituts, der aktuell umfassendsten repräsentativen Datenbasis zur Gesundheit der Bevölkerung. Auf Basis der Gesundheitssurveys ist es nicht möglich, Einkommensvorteile aufgrund des selbst genutzten, eigenen oder verbilligten Wohnraums zu berechnen. Sie werden daher auch in den Analysen auf Basis des SOEP nicht berücksichtigt. 121 Nach ihr bekommt das erste erwachsene Haushaltsmitglied ein Bedarfsgewicht von 1, jeder weitere Erwachsene ein Gewicht von 0,5 und Kinder unter 14 Jahren ein Gewicht von 0,3. Das Äquivalenzeinkommen ergibt sich, indem das Haushaltsnettoeinkommen durch die Summe der Bedarfsgewichte aller Haushaltsmitglieder geteilt wird. In den Gesundheitssurveys lässt sich der Einkommensbedarf eines Haushalts nur näherungsweise bestimmen, weil für im Haushalt lebende Kinder keine genauen Altersangaben zur Verfügung stehen. Die Gewichtung erfolgt hier anhand der Quadratwurzel aus der Anzahl der Kinder im Haushalt. 122 Die Einkommensposition der Befragten wird auf Basis ihrer Äquivalenzeinkommen ermittelt, indem die Äquivalenzeinkommen durch den Median des Äquivalenzeinkommens in der gesamten deutschen Bevölkerung (berechnet anhand des SOEP) dividiert werden.
Soziale Ungleichheiten im Wandel
169
Abbildung 29: Einkommensgruppen nach Jahr und Geschlecht Männer
Frauen
100 90 80
22
23
22
70
68
69
19
19
19
67
67
20
24
Anteil in %
70 60 50 40 30 20 10 0
65
70
64
8
9
9
11
12
13
14
16
1984-89*
1990-94
1995-99
2000-06
1984-89*
1990-94
1995-99
2000-06
Einkommen
<60%
60-150%
>150%
*Früheres Bundesgebiet
Datenbasis: SOEP (1984-2006), Alter 25 bis 69 Jahre In Abbildung 29 wird die Entwicklung der Verteilung der 25- bis 69jährigen Bevölkerung auf drei Einkommensgruppen im Zeitverlauf dargestellt. Im Zuge der allgemeinen Ausweitung der Einkommensungleichheiten seit 1990 haben sich die Einkommenspositionen in der 25- bis 69-jährigen Bevölkerung auseinanderentwickelt. So lebte etwa ein Viertel der Männer und ein Fünftel der Frauen mit komfortablen Einkommen im Bereich des relativen Wohlstands, während ein Zehntel der Männer und ein Sechstel der Frauen in der Armutsrisikogruppe zu finden waren. Im Verlauf der 1990er Jahre gab es aber einen sukzessiven Rückgang mittlerer Einkommenspositionen, während der Anteil von Männern und Frauen mit relativ hohen oder relativ niedrigen Einkommen zugenommen hat. Der Rückgang betrug bei Männern und Frauen jeweils etwa drei Prozentpunkte. Im Vergleich der alten und neuen Bundesländer haben sich die Einkommen seit 1990 dagegen angeglichen. So nahm die Differenz in der Armutsrisikoquote aufgrund eines deutlichen Rückgangs des Risikos in den neuen Ländern um 43% bei Männern und um 67% bei Frauen ab. Trotzdem bestehen weiterhin beträchtliche Differenzen. Im Zeitraum 2000 bis 2006 betrug der Anteil der von Männern mit Einkommen im Bereich des relativen Wohlstandes in den alten Bundesländern durchschnittlich 27% und in den neuen Ländern 11%, die Armutsrisikoquoten liegen dagegen bei 7% bzw. 17%. Frauen erzielten in beiden Teilen der Bundesrepublik seltener hohe Einkommen und waren auch
170
Soziale Ungleichheiten im Wandel
häufiger in der Armutsrisikogruppe. Die entsprechenden Anteile in den alten bzw. neuen Ländern betragen 23% bzw. 10% und 15% bzw. 19%. Tabelle 10: Veränderung der sozialen Lage nach Geschlecht und Einkommensposition Objektive Dimensionen Äquivalenzeinkommen in %
Subjektive Dimensionen Hohe Lebenszufriedenheit in %
Große wirtschaftliche Sorgen in %
1984-89 1990-94 1995-99 2000-06 1984-89 1990-94 1995-99 2000-06 1984-89 1990-94 1995-99 2000-06 Männer <60%
501
570
555
579
32,9
31,6
27,6
22,9
36,3
34,8
38,8
47,2
60-150%
1104
1232
1253
1331
50,9
46,6
40,2
40,1
17,6
17,3
22,0
25,3
>150%
2243
2502
2546
2729
58,9
55,6
52,4
54,3
9,6
9,1
9,3
11,7
Frauen <60%
475
509
506
538
35,0
33,7
29,7
28,9
34,7
30,5
36,4
44,2
60-150%
1080
1209
1233
1306
52,1
47,8
41,8
43,1
15,5
16,1
20,6
24,4
>150%
2203
2525
2593
2712
62,4
62,5
55,0
56,0
8,5
6,5
7,5
10,3
Legende: Alle Werte sind altersstandardisiert gewichtete Anteils- bzw. Mittelwerte für die drei Statusgruppen. Einkommensposition: Gruppen nach Anteilen des eigenen Äquivalenzeinkommens am jeweiligen gesamtgesellschaftlichen Median; <60%: Armutsrisikogruppe mit weniger als 60% des Medianeinkommens; 60-150%: Mittlere Positionen mit 60% bis 150% des Median; >150%: Positionen im Bereich des relativen Wohlstandes mit mehr als 150% des Median; Äquivalenzeinkommen: Arithmetisches Mittel des preisbereinigten Äquivalenzeinkommens der Gruppe zu Preisen des Jahres 2000; Hohe Lebenszufriedenheit: Anteil allgemeine Zufriedenheit mit dem eigenen Leben >7 auf einer Skala von 0 (völlig unzufrieden) bis 10 (sehr zufrieden); Große wirtschaftliche Sorgen: Anteil von Befragten, die sich auf einer dreistufigen Skala von (1) „keine“ bis (3) „große“ Sorgen um die eigene wirtschaftliche Lage machen.
Datenbasis: SOEP (1984-2006), Alter 25 bis 69 Jahre Im Zuge der allgemeinen Zunahme von Einkommensarmut und -ungleichheiten haben sich die gesellschaftlichen Lagen der Einkommensgruppen auseinanderentwickelt. In Tabelle 10 wird die Veränderung der materiellen und psychosozialen Lage in den drei Einkommensgruppen beschrieben. Im Durchschnitt erzielten Männer im relativen Wohlstand 4,5-fach höhere Einkommen als Männer in der Armutsrisikogruppe, bei Frauen waren die Einkommen sogar 5-fach höher. Entgegen vielfach geäußerter Befürchtungen haben sich die Einkommen der drei Gruppen in den 1990er Jahren auseinander- aber nicht gegenläufig entwickelt (Göbel et al. 2005, Alber und Fliegner 2007).123 Während die Durchschnittseinkommen in der Armutsrisikogruppe zwischen 1990-94 und 2000-06 123
Nur im Vergleich des Boom-Jahres 1998 mit dem Krisenjahr 2006 ergibt sich ein leichter Rückgang des preisbereinigten Äquivalenzeinkommens in der unteren Einkommensgruppe (vgl. auch OECD 2008a).
Soziale Ungleichheiten im Wandel
171
weitgehend stagnierten, konzentrierten sich Einkommenszuwächse vorrangig auf den mittleren und oberen Bereich der Einkommensverteilung. Hier stiegen die Einkommen bei Männern um 8% bzw. 9% und bei Frauen um 7% bzw. 8%. Der Einkommensunterschied zwischen beiden Gruppen erhöhte sich dadurch seit 1990-94 bei Männern vom auf 4,4- das 4,7-fache und bei Frauen vom 5,1- auf das 5,2–fache. Obwohl sich die verfügbaren Einkommen – auch nach Berücksichtigung von Kaufkraftunterschieden – in keiner Einkommensgruppe verringert haben, ist die allgemeine Lebenszufriedenheit seit 1990 in allen Einkommensgruppen gesunken. Männer und Frauen waren also unabhängig von ihrem Einkommen zwischen 2000 und 2006 deutlich unzufriedener als zwischen 1990 und 1994. Bei Männern in der Armutsrisikogruppe ist die Lebenszufriedenheit besonders stark gesunken, so dass sich die Differenz zwischen ihnen und Männern im relativen Wohlstand um mehr als sieben Prozentpunkte ausgeweitet hat. Bei Frauen sind die Differenzen zwischen den Einkommensgruppen dagegen weitgehend konstant geblieben. Stärker noch als die allgemeine Lebenszufriedenheit hängen wirtschaftliche Sorgen und Ängste vom eigenen Einkommen ab. Zwischen 2000 und 2006 betrug der Anteil von Männern und Frauen, die sich „große“ Sorgen um ihre eigene wirtschaftliche Lage machten, in der Armutsrisikogruppe 47% bzw. 42% und bei der Gruppe im relativen Wohlstand nur 12% bzw. 10%. Zwischen 1990-94 und 2000-06 hat sich die Differenz zwischen beiden Gruppen deutlich um etwa zehn Prozentpunkte ausgeweitet. Wer mehr Geld hat ist somit mit seinem Leben zufriedener, wer wenig Geld hat macht sich dagegen immer häufiger große Sorgen um die eigene wirtschaftliche Existenz. Im Gegensatz zu anderen konservativen Wohlfahrtsstaaten musste in Deutschland seit Beginn der 1990er Jahre eine kontinuierliche Zunahme von Einkommensungleichheiten und Einkommensarmut beobachtet werden. Unter den 25- bis 69-Jährigen schrumpft der Anteil mittlerer Einkommen, während Einkommensreichtum und Einkommensarmut immer weiter zunehmen, die Einkommensschere geht also weiter auseinander. Vor allem die Bezieher hoher Einkommen haben vom Anstieg des gesamtgesellschaftlichen Wohlstands profitiert, während die Armutsrisikogruppe zunehmend von der Teilhabe an weiteren Zuwächsen abgekoppelt wurde. Als wichtige Ursache der Zunahme von Einkommensungleichheiten in Deutschland werden die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt gesehen (OECD 2008a). Der Einfluss des deutschen Sozialstaats auf die Verringerung der Einkommensungleichheit hat in den letzten fünf Jahren deutlich abgenommen (OECD 2008a). Das Ausmaß der sozialstaatlichen Reduktion der Einkommensungleichheiten hat im Jahr 2000 43% betragen, ist aber bis zum Jahr 2005 leicht um 2 Prozentpunkte abgesunken. Die zunehmenden Ungleichheiten gehen mit einer steigenden lebensweltlichen Relevanz des Einkommens einher. So werden nicht nur wirtschaftliche Unsicherheiten und Sor-
172
Soziale Ungleichheiten im Wandel
gen, sondern auch die allgemeine Lebenszufriedenheit immer stärker durch die Einkommenslage bestimmt. Männer und Frauen in der Armutsrisikogruppe leiden subjektiv immer stärker unter ihrer nachteiligen Einkommenslage, obwohl sie – auch nach Berücksichtigung von Einkommensunterschieden – nicht über weniger, sondern sogar über mehr Einkommen als in den 1980er Jahren verfügen können. 3.3 Zunahme und Verschärfung sozialer Ungleichheiten In den meisten Mitgliedsstaaten der EU wurden im Verlauf der 1980er und 1990er Jahre sozialpolitische Reformprozesse initiiert. Die Staaten verfolgten dabei das Ziel, die Finanzierung ihrer sozialen Sicherungssysteme gegenüber den Herausforderungen des wirtschaftlichen Strukturwandels und der demographischen Alterung nachhaltig abzusichern (Esping-Andersen 2002, Hemerijck 2002). Im Zuge des wirtschaftlichen Strukturwandels ändert sich die Beschäftigungsstruktur der europäischen Gesellschaften grundlegend. Gering qualifizierte Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe und in der Landwirtschaft werden in Entwicklungsländer verlagert oder durch Automatisierung überflüssig, während der Bedarf für hochqualifizierte Beschäftigte im Dienstleistungsbereich steigt. Die demographische Alterung der Bevölkerungen führt gleichzeitig zu einer fortgesetzten Verknappung des Angebots an qualifizierten Arbeitskräften und zu einem Zuwachs der Bevölkerung im höheren Lebensalter, die auf sozialstaatliche Transfers angewiesen ist. Folglich verschiebt sich in den Sozialkassen das Verhältnis von Beitragszahlern und Leistungsempfängern dauerhaft und stellt so die Nachhaltigkeit ihrer Finanzierung in Frage. Für die überwiegende Mehrheit der Mitgliedstaaten muss in Zukunft von einer deutlichen Steigerung der sozialstaatlichen Aufwendungen ausgegangen werden, sofern das heutige Niveau der sozialen Absicherung erhalten werden soll (GD ECFIN 2006). Ein Ausweg, um die Finanzierung wohlfahrtsstaatlicher Leistungen nachhaltig sicherzustellen, besteht darin, das Verhältnis von Beitragszahlern und Leistungsempfängern zu stabilisieren (Hemerijck 2002). Dazu müssen vorhandene Beschäftigungs- und Produktivitätsreserven in der Bevölkerung genutzt werden, also mehr Menschen im erwerbsfähigen Alter in den Arbeitsmarkt integriert werden. Die Mitgliedsstaaten der EU haben sich in der sozialpolitischen Agenda daher darauf verständigt, die Erwerbstätigkeit ihrer Bürger zu fördern (Dingeldey 2006, Annesley 2007). Zuvorderst soll die Erwerbsquote auf 70% gesteigert werden, indem ökonomisch weniger aktive Bevölkerungsgruppen, wie ältere Erwerbspersonen und insbesondere nichterwerbstätige Frauen, für den Arbeitsmarkt zurückgewonnen werden können. Dazu werden nach dem Prinzip
Soziale Ungleichheiten im Wandel
173
des ‚Förderns und Forderns’ einerseits Maßnahmen zur Weiterqualifizierung oder familiären Unterstützung etabliert, andererseits aber auch der Druck zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit durch sozialpolitische Sanktionen verstärkt (Fleckenstein 2008). Die aktivierende Sozialpolitik hat dabei nicht die Privatisierung der Daseinsvorsorge zum Ziel, sondern vielmehr einen nachhaltig finanzierten Sozialstaat. Um dieses Ziel zu erreichen, werden aktivierende arbeitsmarktpolitische Maßnahmen durch neue soziale Dienste und Leistungen unterstützend begleitet, die die Bürger zur (Wieder-) Aufnahme einer Erwerbstätigkeit befähigen sollen. In Deutschland wurden etwa nicht nur die Zumutbarkeitsregeln bei der Annahme von Arbeitsplätzen für Arbeitslose verschärft, sondern auch die Transferleistungen für Familien und die Dienste zur Kinderbetreuung ausgebaut. Seit Mitte der 1990er Jahre haben alle europäischen Wohlfahrtsstaaten in der Arbeitsmarktpolitik beträchtliche Erfolge vorzuweisen. So konnte die Beschäftigungsquote in vielen Staaten deutlich gesteigert und die Arbeitslosigkeit gesenkt werden. Dabei hat die aktivierende Sozialpolitik jedoch auch zu neuen sozialen Härten und Risiken geführt. So musste in den vormals egalitären sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten eine deutliche Ausweitung der Einkommensungleichheiten beobachtet werden. Ungeachtet der beträchtlichen Verringerung der Arbeitslosigkeit und der Steigerung der Erwerbsbeteiligung gab es keine bedeutende Verringerung der Armutsrisiken in Europa. Vielmehr haben sie sich in den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten sogar noch beträchtlich vergrößert. So steht in Frage, ob das neue europäische Sozialmodell auch im Hinblick auf soziale Ungleichheiten als nachhaltig anzusehen ist. Die bisherigen Ergebnisse deuten dabei auf neue soziale Spaltungen hin, die sich vor allem an der Art der Integration in den Arbeitsmarkt festmachen lassen. Eine gut qualifizierte Bevölkerungsmehrheit profitiert vom demographischen und wirtschaftlichen Strukturwandel. Sie steht einer gering qualifizierten Minderheit gegenüber, die durch ihre zumeist gering qualifizierte Erwerbstätigkeit nicht mehr wirksam gegen Armut abgesichert ist (Bude 2008). Kurzfristig können also nur die europäischen Wohlfahrtsstaaten, nicht aber ihre Bürger, als Gewinner der neuen europäischen Sozialpolitik angesehen werden. Die Doppelstrategie des ‚Förderns und Forderns’ hat allerdings bisher nicht zu einer neoliberalen Wende und einem Ende der europäischen Wohlfahrtsstaaten geführt (Annesley 2007). Sollte sie tatsächlich alternativlos sein, hat sie zumindest dazu beigetragen, das erreichte Niveau der sozialen Sicherung für zukünftige Generationen zu erhalten. Die deutsche Sozialpolitik hat sich seit Beginn der 1990er Jahre stärker verändert als die Sozialpolitik vieler anderer Wohlfahrtsstaaten (Fleckenstein 2008). Auch wenn der Sozialstaat nicht abgeschafft wurde, wie viele Kritiker der HartzGesetze behaupten, mussten die Bürger zwischen 1990 und 2005 mit deutlichen Kürzungen von Sozialleistungen zurechtkommen. Ausgehend von einem neuen
174
Soziale Ungleichheiten im Wandel
sozialpolitischen Konsens, dem des ‚aktivierenden’ Wohlfahrtsstaates, kennzeichneten zwei grundsätzlich neue Elemente die deutschen Reformen. Einerseits wurden Erwerbslose durch eine Mischung aus Anreizen, Sanktionen und Fördermaßnahmen staatlich dazu gedrängt, erwerbstätig zu werden und die sozialen Sicherungssysteme zu entlasten. Andererseits wurden auch die Erwerbstätigen stärker mit der Finanzierung der sozialen Sicherung belastet und ihre Arbeitgeber gleichzeitig entlastet, dies sollte die Arbeitskosten verringern und Beschäftigungswachstum generieren. In Folge der Reformen gab es im Zuge der Konjunkturphase zwischen 2006 und 2008 eine deutliche Dynamisierung und Belebung des deutschen Arbeitsmarktes. So konnten die Erwerbschancen von Arbeitslosen verbessert und eine nachhaltigere Grundlage zur Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme geschaffen werden. Es ist dabei gelungen, die Beschäftigungsquote deutlich zu erhöhen und die Zahl der Arbeitslosen im Oktober 2008 erstmals seit 20 Jahren wieder unter die Marke von drei Millionen zu senken. Neben arbeitsmarktpolitischen Erfolgen müssen der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik in Deutschland aber auch beträchtliche soziale Kosten zugesprochen werden. Seit der Wiedervereinigung gab es in Deutschland – insbesondere in den neuen Bundesländern – eine geringe wirtschaftliche Dynamik, die im Zusammenspiel mit den sozialpolitischen Kürzungen der 1990er Jahre der Bevölkerung nur geringe Wohlstandsgewinne ermöglichte. Außerdem musste auch als Reaktion auf die Arbeitsmarktreformen ein massives Anwachsen wirtschaftlicher Unsicherheiten und eine sinkende Lebensqualität beobachtet werden. Wohlstandsgewinne und Unsicherheiten haben sich dabei höchst ungleich in der Bevölkerung verteilt, so dass es seit 1990 insgesamt zu einer weiteren Ausweitung und Verschärfung sozialer Ungleichheiten gekommen ist. Insbesondere auf dem Arbeitsmarkt kam es, durch die gesteigerte Bildungsbeteiligung der Erwerbsbevölkerung und den Rückgang des Bedarfs an gering qualifizierten Beschäftigten im Zuge des wirtschaftlichen Strukturwandels, zu einer deutlichen Verschärfung der sozialen Ungleichheiten. Als Verlierer dieser Entwicklung können gering qualifizierte Männer und Frauen angesehen werden, die immer stärker aus dem regulären Arbeitsmarkt in teilzeit- oder geringfügige und befristete Beschäftigungsverhältnisse gedrängt werden oder gar keine Anstellung mehr finden. Die Kürzungen der Transferleistungen für Arbeitslose und insbesondere Langzeitarbeitslose haben seit Mitte der 1990er Jahre das Armutsrisiko der Arbeitslosen deutlich erhöht. Ihre immer prekäreren Beschäftigungs- und Verdienstmöglichkeiten haben sich auch in den subjektiven Befindlichkeiten der Menschen niedergeschlagen. So entfernen sich insbesondere die Lebenswelten ‚der Arbeitslosen’ und ‚der Armen’ von denen ‚der Erwerbstätigen’ und ‚der Reichen’ immer mehr, während gleichzeitig für alle Bevölkerungsgruppen eine
Soziale Ungleichheiten im Wandel
175
Zunahme der Armuts- und Arbeitslosigkeitsrisiken zu konstatieren ist.124 Insgesamt muss daher festgestellt werden, dass die aktivierende Transformation des deutschen Sozialstaates zu einer beträchtlichen Verschärfung sozialer Ungleichheiten beigetragen hat. Noch nie seit dem Ende des sukzessiven Ausbaus der sozialen Sicherungssysteme in der Nachkriegszeit, das in Deutschland durch die Ölkrise des Jahres 1973 eingeläutet wurde, war die Gefahr des sozialen Abstiegs für Erwerbspersonen aller Statusgruppen so groß wie heute. Es hat sich gezeigt, dass die Unterschiede in den Lebenslagen im Vergleich der 25- bis 69-jährigen Bevölkerung der alten und neuen Länder ungeachtet der angespannten wirtschaftlichen Lage und der weiterhin bestehenden Schwierigkeiten in den neuen Ländern deutlich zurückgegangen sind. Alle vier Wohlfahrtsindikatoren haben sich in den neuen Bundesländern bei Männern und Frauen positiver als in den alten Ländern entwickelt. Im Vergleich haben Frauen in den neuen Ländern noch stärker als ostdeutsche Männer vom allgemeinen Wohlstandszuwachs im Zuge der wirtschaftlichen und insbesondere sozialstaatlichen Transformation profitiert. Die sozialstrukturelle Entwicklung spiegelt damit deutlich die positiven Folgen wider, die von der Übernahme der westdeutschen Sozialversicherungssysteme auf die materielle und psychosoziale Lage der ostdeutschen Bevölkerung ausgingen.
124 Die Anführungszeichen sollen auf die große Heterogenität dieser Gruppierungen im Gefüge sozialer Ungleichheiten verweisen.
176
Soziale Ungleichheiten im Wandel
Tabelle 11: Wohlstandsentwicklung in den alten und neuen Ländern zwischen 1990-94 und 2000-06 West
Wohlstand
Ost
Gesamt
Männer
Frauen
Männer
Frauen
Männer
Frauen
8%
7%
24%
24%
8%
7%
Armut
29%
29%
-15%
-18%
22%
20%
Wohlbefinden
-12%
-11%
5%
11%
-10%
-8%
Sorgen
46%
61%
11%
5%
33%
39%
Legende: Relative Veränderungen. Wohlstand: Reales Äquivalenzeinkommen in Euro zu Preisen des Jahres 2000; Armut: Armutsrisikoquote (Anteil relative Einkommensposition <60%); Wohlbefinden (Anteil allgemeine Lebenszufriedenheit >7 auf einer Likert-Skala von 0-10); Sorgen (Anteil mit großen Sorgen um die eigene wirtschaftliche Lage).
Datenbasis: SOEP (1990-2006), Alter 25 bis 69 Jahre Im Hinblick auf die Entwicklung sozialer Ungleichheiten in Deutschland wurden aufbauend auf der Diskussion in den soziologischen Zeitdiagnosen und den Diskussionszusammenhängen der Ungleichheitssoziologie drei – sich mehr oder weniger ausschließende – Szenarien beschrieben: Die Strukturierungsthese beschreibt eine anhaltende Bedeutung vertikaler Ungleichheitsdimensionen und impliziert eine weiterhin starke Strukturierung der Lebenschancen durch Bildung und die berufliche Stellung. Die Entstrukturierungsthese beschreibt einen Rückgang der lebensweltlichen Relevanz vertikaler Ungleichheitsdimensionen und eine zunehmende Bedeutung horizontaler und kultureller Ungleichheiten. Sie impliziert eine sinkende subjektive Relevanz von klassischen vertikalen Determinanten der sozialen Lage wie beruflicher Stellung und Bildung. Die Exklusionsthese beschreibt einen zunehmenden sozialen Ausschluss von Randgruppen auf dem Arbeitsmarkt und impliziert eine stärkere Strukturierung von Lebenschancen durch Erwerbsbeteiligung und auch Einkommenspositionen. Die Zusammenfassung der Entwicklungen im Ausmaß und in der subjektiven und objektiven Relevanz der vier Determinanten sozialer Lagen macht deutlich, dass vieles für eine Entwicklung in Richtung der Exklusionsthese, einiges für die These der anhaltenden Bedeutung klassischer Merkmale, aber nichts für eine Entstrukturierung sozialer Ungleichheiten in den 1990er Jahren spricht.
Soziale Ungleichheiten im Wandel
177
Tabelle 12: Zusammenfassung der Veränderungen nach Dimension der sozialen Lage, Sozialindikator und Geschlecht Einkommen
Armutsrisiko
'
'
Rel. R 90-06
Rel. R 90-06
Lebenszufriedenheit '
Sorgen
Rel. R90-94 R00-06
'
Rel.
R 90-06
Männer Bildung
+76€ +11% (3.)
Erwerbs+122€ +19% (4.) beteiligung Autonomie +118€ +14% (2.) im Beruf
+3 Pkt. +44% (2.) +12 Pkt.
n.a. 4.
4.
+7 Pkt.
+80%
4.
+6 Pkt. +19% (1.)
+6 Pkt. +24% 1.
2.
+8 Pkt.
+24%
1.
+1 Pkt. +14% (3.)
+6 Pkt. +63% 3.
3.
+5 Pkt.
+42%
3.
+7 Pkt. +31% 2.
1.
+10 Pkt.
+38%
2.
+8 Pkt. +481%
4.
Einkommen +218€ +11% (1.) Frauen
n.a. 4.
4.
Erwerbs+147€ +25% (3.) +13 Pkt. +51% (1.) beteiligung
Bildung
+98€ +20% (4.)
+6 Pkt. +33% 2.
2.
+10 Pkt.
+38%
1.
Autonomie im Beruf
+2 Pkt. +17% 3.
3.
+7 Pkt.
+55%
3.
-2 Pkt.
1.
+10 Pkt.
+42%
2.
-94€ -10% (2.)
Einkommen +158€
+2 Pkt. +22% (2.) +10 Pkt.
+2 Pkt. +36% (3.)
+8% (1.)
-6% 1.
Legende: n.a: Nicht auszuwerten wg. Überschneidung mit der Determinante (Einkommensposition & Armutsrisiko) oder Umkehrung des relativen Risikos in der unteren Statusgruppe. ǻ: Absolute Veränderung der Einkommensdifferenz bzw. der Differenz im Anteil zwischen 1990-94 und 2000-06; Rel.: Relative Veränderung der Differenz bezogen auf den Vergleich zwischen 1990-94 und 2000-06; R**-**: Mittlerer Rang im Vergleich des Ausmaßes der Differenzen hinsichtlich der vier Dimensionen zwischen ** und ** (Veränderungen des Rangs im Untersuchungszeitraum nur bei der Lebenszufriedenheit, daher wird nur dort ein Rang für zwei verschiedene Zeiträume dargestellt). Wandel Anteil niedrig/hoch: Veränderung des Bevölkerungsanteils der unteren und oberen Statusgruppe im Vergleich beider Zeiträume. Wandel objektiv/subjektiv: Mittlere Veränderung der Unterschiede in den beiden jeweils erfassten subjektiven und objektiven Dimensionen (beim Einkommen wurden die rel.-Werte, bei den anderen Dimensionen die abs.-Werte herangezogen).
Datenbasis: SOEP (1990-2006) In Tabelle 12 wird die Relevanz der vier Determinanten des sozioökonomischen Status für die materiellen und psychosozialen Wohlstandsindikatoren im Zeitraum 1990 bis 2006 beschrieben und auf ihre absolute und relative Veränderung eingegangen. Aufbauend auf den dargestellten Befunden muss festgestellt werden, dass es in Deutschland keine Entstrukturierung bzw. abnehmende Relevanz der vier Sozialindikatoren gegeben hat, sondern dass die Situation der Menschen sogar immer stärker durch die vier betrachteten Merkmale strukturiert wird. Im Vergleich der jeweils unteren und oberen Gruppe nach Bildung, Erwerbsbeteiligung, Berufsautonomie und Einkomme haben die Differenzen in der materiellen und psychosozialen Lage seit 1990 deutlich zugenommen.125 Die 125 Die einzigen Ausnahmen bildeten der geringe Rückgang der Unterschiede nach Realeinkommen bzw. allgemeiner Lebenszufriedenheit bei Frauen hinsichtlich Erwerbsbeteiligung bzw.
178
Soziale Ungleichheiten im Wandel
gemessen an ihrer Bedeutung für die Strukturierung des Zugangs zu primären Zwischengütern relevantesten sozialen Kategorien waren Einkommen und Erwerbsbeteiligung. Im gesamten Untersuchungszeitraum haben sie die materielle und psychosoziale Lage der Akteure deutlich stärker als die klassischen Ungleichheitsdimensionen Bildung und Berufsstatus geprägt. Die Relevanz beider Determinanten hat zudem besonders deutlich zugenommen. Damit spiegelt die empirische Entwicklung sozialer Ungleichheiten in Deutschland die Prognosen vieler Zeitdiagnostiker wider, die eine Zunahme sozialer Exklusion als dominante Entwicklungslinie der Ungleichheitsstruktur in der Moderne ansehen. Die Entwicklung erscheint dabei einigermaßen paradox: Was den materiellen Wohlstand anbelangt, sind die heutigen ‚Armen’ die reichsten, die es wahrscheinlich jemals in Deutschland gegeben hat. Dessen ungeachtet leiden sie subjektiv mehr denn je unter ihrer sozialen Lage. Das Gefühl vom Wohlstand der Wohlstandsgesellschaft ausgeschlossen zu sein und der Verlust an materieller Sicherheit wiegt demnach schwerer als die leichte Steigerung der materiellen Möglichkeiten und der Verwirklichungschancen der Menschen.126 Die Angst vor dem sozialen Ausschluss hat dabei nicht nur die unteren, sondern auch die mittleren und oberen Soziallagen erreicht.
Einkommensposition. Diese Verringerungen wurden aber durch die in beiden Fällen deutliche Ausweitung der Unterschiede in der jeweils anderen betrachteten subjektiven bzw. objektiven Dimension mehr als aufgewogen. 126 Diese Hypothese gründet sich auf neueren Forschungen zu den Determinanten der psychosozialen Gesundheit. Sie zeigen, dass sich Verluste deutlich schwerwiegender als Gewinne auf die Lebenszufriedenheit und ähnliche Outcomes auswirken (Wells 1999, Baumeister et al. 2001).
4 Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
Im folgenden Abschnitt wird der Wandel gesundheitlicher Ungleichheiten in Deutschland analysiert. Berücksichtigt werden fünf Gesundheitsindikatoren: Das allgemeine Gesundheitsbewusstsein, der Tabakkonsum, die sportliche Aktivität, das Übergewicht und die subjektive Gesundheit. Dadurch spannt die Argumentation einen empirischen Bogen von den Einstellungen und Handlungen der Akteure bis hin zu deren gesundheitlichen Konsequenzen. Aufbauend auf den Ergebnissen des vorangegangen Abschnittes zum Wandel sozialer Ungleichheiten in Deutschland stellt sich die Frage, wie sich gesundheitliche Ungleichheiten zwischen den sozioökonomischen Gruppen in Deutschland entwickelt haben. Zudem wird – soweit die Ergebnisse entsprechender Studien verfügbar sind – darauf eingegangen, wie sich die Entwicklung in Deutschland in den internationalen Kontext einordnet. Auf Grundlage der im Abschnitt 2.2.3 geschilderten theoretischen Überlegungen zur sozialen Produktion von gesundheitlicher Ungleichheit und der empirischen Ergebnisse des vorangegangenen Kapitels steht dabei für Deutschland insgesamt eine Ausweitung gesundheitlicher Ungleichheiten zwischen den Jahren 1990 und 2006 zu erwarten.127 In den alten Bundesländern hat das verfügbare Einkommen der Bevölkerung zwar auch nach 1990 weiter zugenommen, das psychosoziale Wohlbefinden der Menschen hat sich allerdings verschlechtert. In den neuen Bundesländern ist das psychosoziale Wohlbefinden vergleichsweise konstant geblieben, während im Vergleich zum Zeitraum 199094 – unabhängig von der hohen Arbeitslosigkeit – beträchtliche Zuwächse im materiellen Wohlstand erzielt werden konnten. Dadurch spricht in den alten Bundesländern aufgrund der strukturellen Vorgaben vieles für eine Stagnation der Entwicklung der Gesundheitsindikatoren, während für die neuen Bundesländer eine Verbesserung und Angleichung an das westdeutsche Niveau zu erwarten 127 Die Prognosen basieren auf der Bedeutung materieller, psychosozialer und einstellungsbezogener Aspekte für die fünf betrachteten Gesundheitsindikatoren (vgl. Abschnitt 2.2.3, Formel 6) sowie auf der empirischen Entwicklung dieser Aspekte in den verglichenen sozioökonomischen Gruppen (vgl. Abschnitt 3.3). Es wird argumentiert, dass sich ein Wandel bzw. eine Auseinanderentwicklung hinsichtlich der Lebensbedingungen und Wahrnehmungen von Gruppierungen im Gefüge sozialer Ungleichheiten auch in ihren Handlungen und damit letztlich auch in ihrer Gesundheit widerspiegeln muss.
180
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
steht. Aufgrund der beobachteten Verschärfung sozialer Ungleichheiten, also der deutlich angewachsenen materiellen und psychosozialen Unterschiede zwischen den Gruppierungen im Gefüge sozialer Ungleichheit, ist für den Zeitraum 1990 bis 2006 in Deutschland insgesamt von einer Ausweitung gesundheitlicher Ungleichheiten auszugehen. Eine besonders deutliche Ausweitung muss bei Männern und Frauen für die selbsteingeschätzte Gesundheit befürchtet werden. Sie reagiert als zusammenfassender Gesundheitsindikator gleichermaßen deutlich auf Veränderungen von Differenzen in der materiellen und psychosozialen Lage der Gruppierungen. Bei Männern muss auf Basis der sozialstrukturellen Entwicklungen für alle Sozialindikatoren hinsichtlich des allgemeinen Gesundheitszustandes eine Ausweitung der Differenzen prognostiziert werden. Bei Frauen steht insbesondere eine Ausweitung nach Bildung und Erwerbsbeteiligung zu befürchten. Weitere Ausweitungen müssen bei Männern und Frauen vor allem noch hinsichtlich der Bildungsunterschiede im Gesundheitsbewusstsein erwartet werden. Zudem muss bei Frauen auch für das Rauchverhalten, sportliche Aktivitäten und das Risiko von schwerem Übergewicht (Adipositas) eine Ausweitung gesundheitlicher Ungleichheiten nach Bildung und Erwerbsbeteiligung befürchtet werden. Auf europäischer Ebene stehen dagegen bisher keine ausreichenden Daten zur Verfügung, die das Aufstellen entsprechender Prognosen auf Basis des skizzierten Erklärungsmodells ermöglichen würden. Somit kann die Entwicklung gesundheitlicher Ungleichheiten für die fünf europäischen Wohlfahrtsregime nicht gleichermaßen differenziert prognostiziert werden. Im ersten Abschnitt des Kapitels wird kurz auf die verwendeten Datengrundlagen eingegangen. Die Abschnitte zu den fünf Gesundheitsindikatoren führen in die Public Health Relevanz des jeweiligen Indikators ein und beinhalten ein kurzes Review des bisherigen Forschungsstands. Sie enden jeweils mit eigenen Analysen zur Entwicklung des Indikators in Deutschland. Im letzten Abschnitt des Kapitels sollen die Ergebnisse zur Entwicklung sozialer und gesundheitlicher Ungleichheiten zusammengeführt und das skizzierte Erklärungsmodell des Wandels gesundheitlicher Ungleichheiten auf der Mikroebene empirisch überprüft werden. Es wird dabei insbesondere untersucht, ob und inwieweit sich der Wandel gesundheitlicher Ungleichheiten auf die Veränderung der materiellen und psychosozialen Lage der Akteure sowie ihrer Einstellungen zurückführen lässt. 4.1 Datengrundlagen Als Datengrundlage für die Analysen zum Wandel gesundheitlicher Ungleichheiten wird ein neu erstellter Datensatz für Zeitreihenanalysen genutzt (nachfolgend als ‚RKI-Trend’ bezeichnet). In ihm werden für die Altersgruppe der 25-
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
181
bis 69-jährigen die Daten aus allen vorliegenden bevölkerungsrepräsentativen Gesundheitssurveys, die zwischen 1984 und 2005 unter Beteiligung des Robert Koch-Instituts durchgeführt wurden, zusammengefasst. Das Robert Koch-Institut beteiligt sich bereits seit dem Jahr 1984 regelmäßig an bevölkerungsrepräsentativen Gesundheitssurveys und erhebt diese seit 1997 auch eigenverantwortlich. Bei Erwachsenen und auch bei Kindern werden dabei sowohl Gesundheitssurveys mit medizinischem Untersuchungsteil als auch ergänzende telefonische Befragungen durchgeführt. Für die vorliegende Untersuchung konnten nur Studien berücksichtigt werden, die bis zum Jahr 2005 abgeschlossen waren und Erwachsene im Alter von 25 bis 69 Jahren berücksichtigt haben. Abbildung 30: Bevölkerungsrepräsentative Gesundheitssurveys des Robert Koch-Instituts bis zum Jahr 2005
Quelle: Robert Koch-Institut Den Ausgangspunkt der vorliegenden Studie bilden die drei nationalen Untersuchungssurveys, die im Rahmen der deutschen Herz-Kreislauf Präventionsstudie (DHP) zwischen Juni 1984 und Mai 1991 entstanden (GCP Study Group 1988). Die DHP war eine gemeindeorientierte, multizentrische Interventionsstudie mit dem Ziel der Reduktion der kardiovaskulären Risikofaktoren und der
182
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
Herz-Kreislauf-Mortalität in den Studienzentren über einen Zeitraum von 8 Jahren. Die Evaluation des Erfolges der Interventionsprogramme wurde an der deutschen Wohnbevölkerung im Alter zwischen 25 und 69 Jahren mit Hilfe von drei nationalen Referenzerhebungen vorgenommen. Diese Nationalen Untersuchungssurveys (NUS) fanden als Querschnittserhebungen zu Beginn 1984-86 (NUS t0), zur Mitte 1987-88 (NUS t1) und zum Ende der Studie 1990-91 (NUS t2) statt. In allen Surveys enthielt das Erhebungsprogramm einen Fragebogen zu Gesundheitsverhalten, Lebensbedingungen, Krankheitsanamnese und bekannten kardiovaskulären Risikofaktoren. Dieser war als Selbstausfüllbogen konzipiert, d.h. er sollte selbständig und vollständig im Untersuchungszentrum ausgefüllt werden. Zusätzlich wurden biometrische Parameter der Teilnehmer ermittelt und eine Blut- und Urinuntersuchung durchgeführt. Die Studien basierten auf einer Stichprobengröße von jeweils ca. 5000 Probanden und erzielten Responseraten von 67% im NUS t0, 71% im NUS t1 und 69% im NUS t2 (Hoffmeister et al. 1994). Insgesamt konnten 15.436 Untersuchungen bei 7.689 Männern und 7.747 Frauen realisiert werden. Beinahe zeitgleich mit dem dritten Nationalen Untersuchungssurvey (NUS t2) wurde der Gesundheitssurvey Ost in den Jahren 1991 und 1992 durchgeführt. Dieser Gesundheitssurvey, dessen Erhebungsprogramm mit dem NUS t2 nahezu identisch war, ermöglichte erstmals den direkten Vergleich von Gesundheitsindikatoren zwischen den Bevölkerungen der alten und neuen Bundesländer. Die Untersuchung und Befragung wurde an einer repräsentativen Stichprobe der ostdeutschen Bevölkerung im Alter von 18 bis 79 Jahren durchgeführt. Geplant war nach einem zweistufigen Auswahlverfahren eine nach Bundesland, Gemeindegrößenklasse, Alter und Geschlecht stratifizierte Stichprobe von 4.000 Personen. Die erzielte Netto-Stichprobe von 2617 untersuchten Probanden entspricht einer Responserate von ca. 70% (Stolzenberg 1995). Zwischen Oktober 1997 und März 1999 wurde der erste gesamtdeutsche Gesundheitssurvey (BGS98) durchgeführt (Bellach 1999, Thefeld et al. 1999). Im Rahmen dieses Projektes, das vom Robert Koch-Institut im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit durchgeführt wurde, konnten 7.124 Personen im Alter von 18 bis 79 Jahren zu gesundheitsrelevanten Themen befragt und einer medizinischen Untersuchung unterzogen werden. Da mit Ost-West-Unterschieden im Gesundheitszustand und im Gesundheitsverhalten zu rechnen war, wurde aus statistischen Gründen ein disproportionaler Ansatz der Stichprobe zugunsten der neuen Bundesländer gewählt. Danach wurden in den alten Bundesländern 4.705 Probanden in 80 Sample Points und 2.419 Probanden in 40 Sample Points in den neuen Bundesländern untersucht. Die Stichprobe wurde aus den Einwohnermelderegistern gezogen. Die Responserate lag bei 61%, weitere 16% haben zumindest einen Kurzfragebogen ausgefüllt.
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
183
Um die Lücke zwischen dem letzten Untersuchungssurvey im Jahr 1998 und dem nächsten im Dezember des Jahres 2008 begonnen Untersuchungssurveys zu schließen, wurden seit 2002 jährlich im Fachgebiet Gesundheitsberichterstattung des Robert Koch-Instituts mit Unterstützung des Bundesministeriums für Gesundheit telefonische Gesundheitssurveys durchgeführt. Die Durchführung der Interviews erfolgt computergestützt in einem eigens am Robert Koch-Institut eingerichteten CATI-Labor (CATI: Computer-Assisted Telephone Interview). Von September 2002 bis März 2003 wurden erstmals 8.313 Personen aus der deutschsprachigen Wohnbevölkerung ab 18 Jahren unter anderem zu Krankheiten, zu ihrem Gesundheitsverhalten und zur Inanspruchnahme von Leistungen des Gesundheitswesens befragt (GSTel03). In einer Folgeerhebung (September 2003 bis März 2004) sind weitere 7.341 Telefoninterviews realisiert worden (GSTel04). Im Rahmen der dritten Erhebung (Oktober 2004 bis April 2005) fand erstmalig eine Wiederbefragung von Teilnehmern des ersten telefonischen Gesundheitssurveys statt. Insgesamt konnten 4.401 Befragte, die sich damals bereit erklärt hatten an weiteren Interviews teilzunehmen, erneut befragt werden (GSTel05). Die Responseraten der drei telefonischen Gesundheitssurveys lagen bei 59%, 64% und 70% (vgl. Ziese und Neuhauser 2005). Für die Analysen wurden die Teildatensätze der verschiedenen Gesundheitssurveys in einem gemeinsamen Datensatz zusammengeführt. Der Datensatz enthält eine zusätzliche Identifikationsvariable der Datenquelle und eine neugenerierte eindeutige Personenkennziffer. Die Kodierung der erklärenden und abhängigen Merkmale wurde vereinheitlicht. Um Einflüsse der seit 1984 deutlich veränderten Bevölkerungsstruktur auf die allgemeine Prävalenzentwicklung auszuschließen, wurden die Anpassungsgewichte aus den ursprünglichen Datensätzen für eine gemeinsame Grundgesamtheit standardisiert. Die Hochrechnung erfolgt für jeden Untersuchungszeitraum auf den Bevölkerungsstand der Bundesrepublik Deutschland am 31.12.2004. Insgesamt stehen zwischen 1984 und 2005 auf Basis der Gesundheitssurveys Angaben von 42.693 Befragten im Alter zwischen 25 und 69 Jahren zur Verfügung; 48% der Befragten sind Männer und sind 52% Frauen. 4.2 Gesundheitsbewusstsein Der Begriff ‚Gesundheitsbewusstsein’ wird in der sozialepidemiologischen Forschung, im Gegensatz zu gesundheitspsychologischen Konzepten, wie gesundheitsbezogene Selbstwirksamkeit oder gesundheitsbezogene Kontrollüberzeugungen für die klar definierte Skalen vorliegen, nicht einheitlich verwendet oder operationalisiert. Nachfolgend wird Gesundheitsbewusstsein aus Perspektive des soziologischen Modells der Frame-Skript-Selektion thematisiert. Es wird als eine
184
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
generalisierte, gesundheitsbezogene Intention angesehen, die auf die Bewertung von Handlungsfolgen im Kontext gesundheitsbezogener Handlungen Einfluss nimmt. So lässt sich die Hypothese aufstellen, dass Akteure, die um die gesundheitlichen Risiken einer Handlung wissen, diese umso weniger ausführen werden, je größer ihr Gesundheitsbewusstsein ist (Wardle und Steptoe 2003). Aufbauend auf dem Modell der Frame-Skript-Selektion ist selbstberichtetes Gesundheitsbewusstsein ein Indikator für die, von den Akteuren angewendeten, gesundheitsbezogenen Frames. Diese Frames beeinflussen die Situationsdefinitionen von Akteuren in gesundheitsbezogenen Situation. Ihre Entscheidungen zugunsten oder auch zuungunsten gesundheitsförderlicher Verhaltensweisen lassen sich dabei anhand der Wert-Erwartungstheorie beschreiben. Durch die Berücksichtigung des allgemeinen Gesundheitsbewusstseins verlässt eine soziologische Analyse des Gesundheitsverhaltens den engen Bezugsrahmen der Theorie rationalen Wahlhandelns und öffnet sich so für Einflussfaktoren, die Kostenund Nutzenabwägungen theoretisch vorangehen. Das Gesundheitsbewusstsein ist in dieser soziologischen Perspektive damit keine ‚Störgröße’, sondern eine wichtige Determinante des Wandels der gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen von sozialen Akteuren. Aus vielen europäischen Staaten liegen Befunde zum Zusammenhang von gesundheitsbezogenen Einstellungen und gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen vor. Allgemein zeigt sich, dass der Glaube an die gesundheitliche Relevanz eines konkreten Gesundheitsverhaltens im zwischenstaatlichen Vergleich Unterschiede in der Prävalenz besser erklärt als das alleinige Wissen um die Gesundheitsrisiken des Verhaltens (Steptoe und Wardle 1992). Im europäischen Vergleich zeigten sich außerdem, zumindest unter Studenten, beträchtliche Unterschiede im Gesundheitswissen und in gesundheitsbezogenen Einstellungen (Steptoe und Wardle 1992, 2001). So waren zwischen 1989 und 1992 lebensstilbezogene Gesundheitsrisiken in Osteuropa deutlich weniger bekannt als in Westeuropa (Steptoe und Wardle 2001). Der Anteil von Studenten, die wussten, dass hoher Alkohol- und Salzkonsum sowie Bewegungsmangel zu Bluthochdruck führen können oder dass Rauchen, Bewegungsmangel und fettreiche Ernährung wichtige Risikofaktoren für das Auftreten koronarer Herz-Kreislauferkrankungen sind, war in Osteuropa deutlich geringer als in Westeuropa. Vielmehr gingen die Befragten in Osteuropa häufiger davon aus, dass ihre Gesundheit vom Zufall bestimmt wird. In einer Nachfolgestudie wurde festgestellt, dass zwischen 1990 und 2000 in den meisten Staaten das Wissen um die gesundheitlichen Folgen des eigenen Lebensstils gesunken ist (Steptoe et al. 2002). In West- und Osteuropa wurde ein signifikanter Rückgang beim Wissen um die gesundheitlichen Konsequenzen des Tabakkonsums, mangelnder sportlicher Aktivität und fettreicher Ernährung beobachtet. Mit dem Rückgang des Gesundheitswissens war zudem
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
185
auch ein Anstieg der Prävalenz dieser Risikoverhaltensweisen in den untersuchten Populationen verknüpft. Angesichts einer vergleichsweise seltenen Thematisierung gesundheitsbezogener Einstellungen stellt sich insbesondere die Frage, inwiefern diese Ursache oder Folge von gesundheitsförderlichem Verhalten sind. In den Gesundheitssurveys des RKI wurden nicht nur eine umfangreiche Liste von gesundheits- und verhaltensbezogenen Indikatoren erfasst, sondern auch die gesundheitsbezogenen Einstellungen und Überzeugungen der Befragten. So wurden die Teilnehmer seit 1984 mehrfach danach gefragt, wie sehr auf ihre eigene Gesundheit achten („Wie sehr achten sie im Allgemeinen auf ihre Gesundheit?“).128 Sie konnten sich die in fünf Kategorien „sehr stark“, „stark“, „mittelmäßig“, „weniger stark“ und „gar nicht“ einordnen. In Tabelle 13 werden auf Basis des Telefonischen Gesundheitssurveys 2004 Männer und Frauen mit hohem und niedrigem Gesundheitsbewusstsein hinsichtlich der Prävalenz von verschiedenen Gesundheitsindikatoren verglichen. Dargestellt wird der Anteil von Männern und Frauen bei denen die jeweiligen Merkmale vorliegen im Vergleich der Gruppen die „stark“ und „sehr stark“ bzw. „mittelmäßig“, „weniger stark“ oder „gar nicht“ auf die eigene Gesundheit achten. Zusätzlich wird das Chancenverhältnis (OR: Odds Ratio) für die jeweiligen Merkmale im Vergleich beider Gruppen nach Kontrolle für Altersdifferenzen dargestellt. Die Ergebnisse sprechen auch nach Berücksichtigung von Altersund Geschlechtsunterschieden für einen Zusammenhang zwischen dem Gesundheitsbewusstsein und dem Gesundheitsverhalten der Befragten. Männer und Frauen, die angeben, „stark“ oder „sehr stark“ auf ihre Gesundheit zu achten, rauchen seltener, treiben häufiger Sport, ernähren sich gesundheitsbewusster und sind seltener adipös. Männer, die stark auf ihre Gesundheit achten, haben zudem seltener Hypertonie, bei Frauen zeigen sich hinsichtlich des Risikos von Adipositas dagegen keine signifikanten Unterschiede. Frauen, die stark auf ihre Gesundheit achten, glauben eher, dass sie diese auch selbst beeinflussen können (interne Kontrollüberzeugung), und seltener, dass ihre Gesundheit nur vom Glück und vom Zufall abhängt. Bei Männern sind gesundheitsbezogene Kontrollüberzeugungen dagegen nicht mit dem Gesundheitsbewusstsein assoziiert. Es deutet sich zudem an, dass Männer und Frauen mit chronischen Erkrankungen, wie Diabetes, Herz-Kreislaufkrankheiten oder Krebs stärker stark auf ihre eigene Gesundheit achten.
128 Die Frage wurde in allen nationalen Untersuchungssurveys (NUS t0-t2) und in den telefonischen Gesundheitssurveys 2004 erhoben.
186
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
Tabelle 13: Prävalenzen ausgewählter Gesundheitsindikatoren nach Ausmaß des Gesundheitsbewusstseins und Geschlecht Männer
Frauen
wenig stark achten achten
OR
sign.
wenig stark achten achten
OR
sign.
Gesundheitsverhalten Tgl. frisches Obst oder Gemüse Aktuelle Raucher Sportlich aktiv Gesundheitsrisiken Übergewicht Adipositas Hypertonie
40,6%
61,5%
2,2
0,000
62,8%
78,2%
2,1
0,000
45,3% 50,6%
25,9% 69,1%
0,5 2,7
0,000 0,000
35,4% 45,4%
18,5% 67,4%
0,4 2,8
0,000 0,000
49,4% 19,2% 28,1%
52,5% 14,3% 28,8%
1,0 0,6 0,8
0,584 0,000 0,048
34,7% 22,7% 28,6%
36,6% 15,6% 27,8%
1,0 0,6 0,9
0,556 0,000 0,082
88,7% 22,1% 21,4%
90,4% 27,0% 21,7%
1,2 1,1 0,9
0,082 0,183 0,268
84,7% 22,0% 23,5%
88,6% 22,8% 21,7%
1,4 1,0 0,8
0,001 0,746 0,036
77,9% 22,4%
74,1% 24,6%
1,0 1,0
0,838 0,722
70,5% 24,7%
71,1% 29,6%
1,1 1,2
0,163 0,011
20,3% 10,0% 21,5% 5,2% 8,7% 3,0%
21,5% 10,0% 24,9% 9,5% 15,0% 5,7%
1,2 1,0 1,1 1,5 1,5 1,5
0,076 0,778 0,330 0,012 0,006 0,053
22,0% 18,7% 28,9% 6,5% 9,0% 6,1%
26,1% 18,7% 33,8% 6,8% 11,7% 9,0%
1,3 1,1 1,2 1,0 1,3 1,4
0,001 0,562 0,018 0,857 0,105 0,017
Gesundheitsbezogene Kontrollüberzeugung interne Kontrolle externe Kontrolle Glück Wahrgenommene Gesundheit Subj. Gesundheit gut Stark eingeschränkt Krankheiten und Beschwerden Allergien Kopfschmerzen Rückenschmerzen Diabetes KHK-Erkrankung Krebs
Legende: Weniger achten: „Mittelmäßig“, „weniger stark“ oder „gar nicht“ auf die eigene Gesundheit achten; stark achten: „stark“ oder „sehr stark“ auf die eigene Gesundheit achten; OR: Odds Ratio kontrolliert für Alter; sign.: Signifikanz P(|z|>0). Tgl. frisches Obst oder Gemüse: Anteil täglicher Verzehr von frischem Obst oder Gemüse; Raucher: Aktuelles Rauchen; Sportlich Aktiv: Mindestens eine Stunde pro Woche sportlich aktiv; Übergewicht: Body-Mass-Index (BMI)>25; Adipositas: BMI>30; Hypertonie: Angabe zu ärztlich diagnostizierter Hypertonie; Interne Kontrolle: Health Locus of Control (HLC) im Mittel Zustimmung („stimme voll und ganz zu“; „stimme zu“) zu drei Items für interne Kontrollüberzeugung; Externe Kontrolle: (HLC) im Mittel Zustimmung zu drei Items für externe Kontrollüberzeugung; Glück: (HLC) im Mittel Zustimmung zu drei Items für keine Kontrolle über Gesundheit. Subj. Gesundheit (gut): Selbsteinschätzung der eigenen Gesundheit „gut“ oder „sehr gut“; Stark eingeschränkt: Starke Einschränkungen durch den eigenen Gesundheitszustand; Allergien: Vorliegen einer ärztlich diagnostizierten Neurodermitis oder eines diagnostizierten allergischen Schnupfen. Kopfschmerzen: Regelmäßig starke Kopfschmerzen; Rückenschmerzen: Regelmäßig starke Rückenschmerzen; Diabetes: Jemals ärztlich diagnostizierter Diabetes; KHK-Erkrankung: Jemals eine Herz-Kreislauferkrankung oder ein Schlaganfall; Krebs: Jemals eine ärztlich diagnostizierte Form von Krebs.
Datenbasis: Telefonischer Gesundheitssurvey 2004 (Alter 18 Jahre und älter)
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
187
Insgesamt betrachtet sprechen die querschnittlichen Befunde dafür, dass ein gesteigertes Gesundheitsbewusstsein einerseits zwar eine mögliche Motivation für gesundheitsförderliches Verhalten darstellt, andererseits aber auch die Folge von bereits eingetretenen Krankheiten und Gesundheitsstörungen sein kann. Die relative Bedeutung der beiden möglichen Ursachen für ein ausgeprägtes Gesundheitsbewusstsein können nur auf Basis repräsentativer längsschnittlicher Daten untersucht werden. Ein möglicher Anstieg des Gesundheitsbewusstseins in der Bevölkerung kann damit auch Ausdruck einer zunehmenden Verbreitung chronisch-degenerativer Erkrankungen sein. Allerdings könnte er dann auch dazu beitragen, den progredienten Verlauf dieser Erkrankungen zu verlangsamen. So ist etwa für den Typ 2-Diabetes bekannt, das sich diese Erkrankung häufig durch regelmäßige körperlich-sportliche Aktivität und eine ausgewogene Ernährung therapieren lässt (Icks et al. 2005, S. 20). Ein gestiegenes Gesundheitsbewusstsein der Betroffenen stellt dabei eine notwendige, wenn auch keine hinreichende Vorraussetzung für gesundheitsförderliche Verhaltensänderungen dar. Aufgrund der Verknüpfung zwischen Gesundheitsbewusstsein und Gesundheitsverhalten kann argumentiert werden, dass soziale Unterschiede im Gesundheitsbewusstsein ein möglicher vermittelnder Mechanismus zwischen dem sozioökonomischen Status und dem Gesundheitsverhalten der Akteure angesehen. An diesem Punkt setzen etwa auch die Arbeiten zu Gesundheitslebensstilen an (Hradil 2005, 2006). Es gibt allerdings nur wenige Studien zu sozialen Unterschieden in gesundheitsbezogenen Einstellungen und zu ihrer zeitlichen Entwicklung. So sind gesundheitsbezogene Kontrollüberzeugungen, die in der Gesundheitspsychologie als wichtige personale Ressource angesehen werden, in unteren sozioökonomischen Statusgruppen deutlich geringer als in oberen, Hindernisse bei der Umsetzung eines gesundheitsförderlicheren Lebensstils werden dagegen zumeist als größer empfunden (Lachmann und Weaver 1998). Ergebnisse einer britischen Studie legen ebenfalls nahe, dass die gesundheitsbezogenen Einstellungen den Zusammenhang zwischen dem Gesundheitsverhalten und der sozioökonomischen Lage von Erwachsenen in Teilen erklären (Steptoe und Wardle 2002). Auch nach Kontrolle für Alters- und Geschlechtsunterschiede und die selbsteingeschätzte Gesundheit achteten Befragte mit niedrigem sozioökonomischem Status signifikant weniger auf die eigene Gesundheit und gingen seltener davon aus, diese selbst beeinflussen zu können. Weitere Befunde liegen für den Vergleich zwischen den USA und der Schweiz vor (Girois 2001). In beiden Staaten gab es deutliche Bildungsunterschiede im Hinblick auf das Wissen um die gesundheitlichen Risiken von Übergewicht oder einer einseitigen Ernährung. Die Differenzen zwischen den Bildungsgruppen waren dabei in den USA etwas stärker als in der Schweiz ausgeprägt.
188
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
Nachfolgend wird anhand von Daten der Gesundheitssurveys des Robert Koch-Institut auf die allgemeine Entwicklung des Gesundheitsbewusstseins in Deutschland und auf die Veränderung von sozialen Unterschieden im Gesundheitsbewusstsein eingegangen. Dazu wird auf die bereits zuvor ausgewertete Frage („Wie stark achten Sie im Allgemeinen auf ihre Gesundheit?“) zurückgegriffen, die sich als guter Prädiktor des Gesundheitsverhaltens erwiesen hat. Die Frage wurde den Probanden bereits in den nationalen Untersuchungssurveys im Rahmen der DHP gestellt und in den telefonischen Gesundheitssurveys unverändert übernommen. Leider stehen aber für den Zeitraum 1995 bis 1999 keine Informationen zur Verfügung, weil der Indikator im Gesundheitssurvey 98 nicht erhoben wurde. Abbildung 31: Anteil von Personen, die stark oder sehr stark auf die eigene Gesundheit achten, nach Jahr, Geschlecht und Region West
Ost
Gesamt
Starkes Gesundheitsbewusstsein in %
60 55 50 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0 1984-89
1990-94
1995-99
2000-04
1984-89
1990-94
Männer
1995-99
2000-04
1984-89
1990-94
1995-99
2000-04
Frauen
Datenbasis: RKI-Trend (1984-2004), Alter 25 bis 69 Jahre In Abbildung 31 wird die Entwicklung des Anteils von Männern und Frauen zwischen 25 und 69 Jahren dargestellt, die „stark“ oder „sehr stark“ auf die eigene Gesundheit achten. Verglichen werden die Zeiträume 1984-89 bis 2000-04. Die Gesundheitssurveys zeigen, dass das Gesundheitsbewusstsein der Bevölkerung seit 1984 deutlich zugenommen hat. In den alten und neuen Bundesländern achten immer mehr Männer und Frauen im mittleren Lebensalter stark auf die eigene Gesundheit. So ist der Anteil in den alten Bundesländern
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
189
zwischen 1990-94 und 2000-2004 signifikant um durchschnittlich 0,5 Prozentpunkte pro Jahr bei Männern und um 0,9 Prozentpunkte bei Frauen gestiegen.129 In den neuen Bundesländern war der Anstieg nur bei Frauen signifikant und betrug durchschnittlich etwa 0,4 Prozentpunkte pro Jahr. Bei Männern deuten die Ergebnisse aus den neuen Ländern zwar ebenfalls auf einen Anstieg von jährlich etwa 0,2 Prozentpunkten hin, dieser erreichte allerdings keine statistische Signifikanz zum 95%-igen Konfidenzniveau. Damit deutet sich insgesamt ein ansteigendes Gesundheitsbewusstsein in Deutschland an. Insgesamt achten zwischen 2000 und 2006 fast 50% der Frauen und 45% der Männer stark oder sehr stark auf ihre Gesundheit. Tabelle 14: Entwicklung sozialer Unterschiede im Risiko, nicht stark oder sehr stark auf die eigene Gesundheit zu achten, nach Sozialindikator, Geschlecht und Jahr Erwerbsbeteiligung
Bildung OR
%-diff
Sign.
OR
1984-89°
0,77
-9%
**
1990-94
0,97
-5%
2000-04
1,13
1%
Veränderung
2%
1984-89°
%-diff
Beruf
Einkommen
Sign.
OR
%-diff
Sign.
OR
%-diff
Sign.
1,21 5%
ns
0,72
-7%
**
0,88 -4%
ns
ns
0,89 0%
ns
0,81
-4%
*
0,57 -12%
***
ns
0,75 -5%
ns
1,44
9%
**
0,83 -4%
ns
7%
ns
-1%
ns
4%
13%
**
3%
ns
0,96
-4%
ns
1,01 3%
ns
0,98
-2%
ns
0,96 -1%
ns
1990-94
0,80
-10%
ns
0,97 1%
ns
0,74
-9%
ns
1,10 -2%
ns
2000-04
1,43
7%
**
1,08 1%
ns
0,94
-1%
ns
1,61 12%
**
Veränderung
5%
17%
***
1%
ns
2%
8%
ns
4%
*
Männer
-5%
8%
Frauen
0%
15%
Legende: Bildung (CASMIN 1 vs. CASMIN 3); Erwerbsstatus (arbeitslos vs. Vollzeitbeschäftigte); Beruf (nur Vollzeitbeschäftigte: niedrige Autonomie vs. hohe Autonomie); Einkommen (Armutsrisikogruppe <60% vs. relativer Wohlstand >150%); °Früheres Bundesgebiet; OR = Odds Ratio; %-diff = Prozentsatzdifferenz; Sign.= Signifikant zum Niveau ***p<0.001, **p<0.01, *p<0.05 nach Kontrolle von Alter- und Ost/West-Unterschieden; Ref. = Referenzkategorie; Veränderung = Durchschnittliche jährliche Veränderung des Unterschieds (OR oder %-diff) zwischen 1990 und 2006.
Datenbasis: RKI-Trend (1984-2004), Alter 25 bis 69 Jahre 129 Die Aussagen zur durchschnittlichen jährlichen Veränderung der Prävalenzen sind das Ergebnis weiterführender, nicht dargestellter Analysen. Sie sind in der Syntax zu den nachfolgenden Abschnitten (kann beim Autor als PDF-Datei angefordert werden) jeweils mit der Überschrift „Berechnung der allgemeinen Trends“ gekennzeichnet.
190
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
In Tabelle 14 wird die Entwicklung sozialer Unterschiede in der Chance, stark auf die eigene Gesundheit zu achten, im Vergleich von drei Zeiträumen von 1984-89 bis 2000-04 dargestellt. Verglichen wird jeweils die obere mit der unteren von drei Gruppen nach Bildung, Erwerbsbeteiligung, beruflicher Autonomie und Einkommensposition.130 Die Ergebnisse deuten bei Männern und Frauen auf einen Wandel der sozioökonomischen Unterschiede im Gesundheitsbewusstsein hin. Während in den 1980er Jahren die Chance, „stark“ oder „sehr stark“ auf die eigene Gesundheit zu achten, in den unteren sozioökonomischen Statusgruppen teilweise sogar erhöht war, ist sie im Jahr 2004 deutlich geringer als in der oberen Statusgruppe gewesen. Zwischen 1990 bis 1994 war die Chance bei Männer mit hohen Bildungsabschlüssen und hoher beruflicher Autonomie noch 0,8-fach bzw. 0,7-fach gegenüber Geringqualifizierten bzw. gegenüber Männern mit wenig autonomen Tätigkeiten verringert, während es bei Frauen noch keine signifikanten sozioökonomischen Unterschiede gab. Im Jahr 2004 war die Chance, „stark“ oder „sehr stark“ auf die eigene Gesundheit zu achten, bei Männern mit hohem Berufsstatus dagegen 1,4-fach gegenüber der unteren Berufsstatusgruppe erhöht. Bei Frauen war im Jahr 2004 die Chance im Vergleich der oberen und unteren Bildungsgruppe 1,4-fach und zwischen der Armutsrisikogruppe und der Gruppe mit Einkommen im relativen Wohlstand 1,6-fach erhöht. Die Ausweitung der sozioökonomischen Unterschiede war dabei für Männer hinsichtlich des Erwerbsstatus und für Frauen hinsichtlich der Bildung und des Einkommens mit einer relativen jährlichen Veränderung von etwa 4% statistisch signifikant.
130
Zur Operationalisierung der vier Indikatoren des sozioökonomischen Status vgl. den Abschnitt 3.2 auf den Seiten 145 (Bildung), 154 (Erwerbsbeteiligung), 159 (berufliche Autonomie) und 167 (Einkommen).
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
191
Abbildung 32: Veränderung des Anteils von Männern, die stark oder sehr stark auf die eigene Gesundheit achten, nach sozioökonomischem Status Bildung
Erwerbsbeteiligung
Beruf
Einkommen
Veränderung der Prävalenz in % pro Jahr
2.5 2.0 1.5 1.0 0.5 0.0 -0.5 -1.0 -1.5 -2.0 -2.5 niedrig
hoch
niedrig
hoch
niedrig
hoch
niedrig
hoch
Datenbasis: RKI-Trend (1990-2004), Alter 25 bis 69 Jahre Neben der Veränderung der relativen Unterschiede ist die Richtung der Entwicklung des Gesundheitsbewusstseins innerhalb der sozioökonomischen Gruppen von besonderer Public Health Relevanz, weil sie erste Hinweise auf die Entwicklung des Gesundheitsverhaltens der Gruppen liefert. So ist ein zunehmendes Gesundheitsbewusstsein eine notwendige, wenn auch keine hinreichende Vorraussetzung für Verhaltensänderungen (Schwarzer 2004, S. 90ff). Abbildung 32 zeigt die mittlere jährliche Veränderung des Anteils von Männern, die „stark“ oder „sehr stark“ auf die eigene Gesundheit achten, zwischen 1990 und 2004 für die obere und untere Gruppe auf Basis von vier Dimensionen des sozioökonomischen Status. Bei Männern nahm vor allem in den oberen sozioökonomischen Statusgruppen das Gesundheitsbewusstsein zu. Besonders stark war die Zunahme des Gesundheitsbewusstseins bei Männern mit akademischen Bildungsabschlüssen, bei hochqualifizierten Vollzeiterwerbstätigen und bei Männern mit Äquivalenzeinkommen im Bereich des relativen Wohlstands. Bei Männern mit geringer Bildung, bei männlichen Arbeitslosen sowie bei Vollzeiterwerbstätigen in Berufen mit geringer Autonomie und bei Männern in der Armutsrisikogruppe gab es keinen signifikanten Anstieg des Gesundheitsbewusstseins. Die Ausweitung der sozialen Unterschiede im Gesundheitsbewusstsein von Männern ist
192
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
somit auf eine überproportionale Zunahme in den oberen Statusgruppen zurückzuführen. Abbildung 33: Veränderung des Anteils von Frauen, die stark oder sehr stark auf die eigene Gesundheit achten, nach sozioökonomischem Status Bildung
Erwerbsbeteiligung
Beruf
Einkommen
Veränderung der Prävalenz in % pro Jahr
2.5 2.0 1.5 1.0 0.5 0.0 -0.5 -1.0 -1.5 -2.0 -2.5 niedrig
hoch
niedrig
hoch
niedrig
hoch
niedrig
hoch
Datenbasis: RKI-Trend (1990-2004), Alter 25 bis 69 Jahre In Abbildung 33 wird die jährliche Veränderung des Gesundheitsbewusstseins innerhalb der sozioökonomischen Statusgruppen bei Frauen im Vergleich der Merkmale Bildung, Erwerbsbeteiligung, Autonomie beruflichen Handelns und Einkommen dargestellt. Bei Frauen ist, im Gegensatz zu Männern, nicht nur in der jeweils oberen, sondern auch in der unteren Statusgruppe eine Zunahme des Gesundheitsbewusstseins zu verzeichnen. Allerdings ist der Anteil in der jeweils oberen Gruppe deutlich schneller gestiegen. Eine besonders ausgeprägte Zunahme gab es bei weiblichen Hochqualifizierten, der Anteil von Frauen, die „stark“ auch oder „sehr stark“ auf ihre eigene Gesundheit achten, ist hier durchschnittlich jedes Jahr um fast 2 Prozentpunkte gestiegen, auch bei weiblichen Vollzeiterwerbstätigen und bei Frauen mit hohen Äquivalenzeinkommen konnte eine starke Zunahme von fast einem Prozentpunkt pro Jahr beobachtet werden. Nur bei arbeitslosen und von Einkommensarmut bedrohten Frauen gab es keine signifikante Zunahme des Gesundheitsbewusstseins. Die Intention, sich gesund zu verhalten, stellt vielfach den Ausgangspunkt für eine Verbesserung des Gesundheitsverhaltens dar. Die gesundheitspsycholo-
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
193
gische Forschung zeigt, dass kognitive Prozesse sowohl für die Aufnahme als auch für die Aufrechterhaltung gesundheitsförderlicher Handlungen von Bedeutung sind (vgl. Schwarzer 2004, S. 90ff). Auf Basis der Daten des telefonischen Gesundheitssurveys 2004 konnte dargestellt werden, dass Männer und Frauen, die „stark“ oder „sehr stark“ auf ihre Gesundheit achten, seltener adipös sind, häufiger Sport treiben, seltener rauchen und häufiger Obst und Gemüse essen. So überrascht es nicht, dass nach internationalen Befunden ein größeres Gesundheitsbewusstsein in der Bevölkerung mit schneller sinkenden oder langsamer steigenden Prävalenzen von gesundheitsriskanten Verhaltensweisen einhergeht (vgl. Steptoe und Wardle 2002). In Deutschland bestehen mittlerweile ausgeprägte Differenzen im Gesundheitsbewusstsein der Bevölkerung, die sich so allerdings erst seit den 1990er Jahren herausgebildet haben. Während Männer und Frauen aus den unteren Statusgruppen zu Beginn der 1990er Jahre noch stärker auf ihre Gesundheit achteten als sozial besser gestellte Personen, gab es hier in den letzen 15 Jahren eine Umkehrung der Unterschiede. Diese ist auf eine beträchtliche Zunahme im Gesundheitsbewusstsein der oberen Statusgruppen und nicht auf einen Rückgang in den unteren Statusgruppen zurückzuführen. Eine mögliche Erklärung ist, dass höher gebildete und besser verdienende Bürger durch die Anstrengungen im Bereich der Primärprävention chronischer Erkrankungen besser erreicht wurden (vgl. etwa Kühn 1993). 4.3 Gesundheitsverhalten Der Oberbegriff Gesundheitsverhalten beinhaltet sowohl die Ausübung gesundheitsförderlicher als auch die Vermeidung gesundheitsriskanter Verhaltensweisen (Schwarzer 2004, S.3). Zu gesundheitsförderlichen Verhaltensweisen werden unter anderem regelmäßige sportliche Aktivität, eine gesunde Ernährung, die Teilnahme an den empfohlenen ärztlichen Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen gezählt. Gesundheitsriskante Verhaltensweisen sind unter anderem Drogenund Substanzkonsum, riskantes Sexualverhalten oder auch risikoreiches Autofahren. Das Auftreten vieler Krankheiten und Gesundheitsprobleme ist mit dem Gesundheitsverhalten assoziiert, auch für das Sterbegeschehen der Bevölkerung ist das Gesundheitsverhalten der Bevölkerung von besonderer Bedeutung. Ein Großteil der vorzeitigen Sterbefälle steht in Deutschland mit verhaltensassoziierten Gesundheitsstörungen und Erkrankungen in Beziehung. Koronare HerzKreislauferkrankungen (47%-iger Anteil an den Todesursachen im Jahr 2002) und bösartige Neubildungen (25% im Jahr 2002) sind häufige Todesursachen, die eng mit dem Verhalten assoziiert sind (Destatis 1998, RKI 2006, Shultz et al. 1991, Peto et al. 1992, Bronnum-Hansen und Juel 2000). Gesundheitsriskantes Verhalten ist somit nicht nur ein individuelles Risiko, sondern zieht auch hohe
194
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
gesellschaftliche Folgekosten nach sich. Es verursacht etwa eine erhöhte Inanspruchnahme medizinischer Leistungen im ambulanten, stationären und rehabilitativen Bereich und führt so zu Mehrausgaben im System der gesundheitlichen Versorgung. Zudem ist gesundheitsriskantes Verhalten auch im Bereich der Wirtschaft für hohe indirekte Kosten verantwortlich, weil Männer und Frauen, die sich gesundheitsriskant verhalten, häufiger krank und dadurch weniger produktiv sind (Welte et al. 2000). Die Förderung eines gesundheitsförderlichen Lebensstils stellt daher ein wichtiges Ziel gesundheitspolitischen Handelns dar. Tabakkonsum und ein Mangel an körperlich-sportlicher Aktivität, der eng mit dem Risiko von Adipositas assoziiert ist, sind in westlichen Gesellschaften – neben übermäßigem Alkoholkonsum – die am meisten verbreiteten Formen von gesundheitsriskanten Verhaltensweisen (Ezzati et al. 2003). 4.3.1 Tabakkonsum Der Konsum von Zigaretten und anderen Tabakprodukten erhöht das Risiko einer Vielzahl von Krankheiten und Gesundheitsstörungen (Schulze und Lampert 2006). Die gesundheitlichen Folgen des Tabakkonsums sind mittlerweile durch epidemiologische und toxikologische Studien belegt worden. So wurden allein etwa 40 kanzerogene Stoffe im Tabakrauch nachgewiesen. Zu den wichtigsten mit der Aufnahme von Tabakrauch assoziierten Krankheiten gehören insbesondere (Schulze und Lampert 2006, S.10ff):
Atemwegserkrankungen (Chronische Bronchitis, Lungenentzündung, reduzierte Lungenfunktionswerte) Entwicklungsstörungen (Unfruchtbarkeit, Schwangerschaftskomplikationen) Herz- und Gefäßerkrankungen (Bauchaortenaneurysma, Arteriosklerose, zerebrovaskuläre Erkrankungen, koronare Herz-Kreislauferkrankungen) Krebserkrankungen (Harnleiterkrebs, Blasenkrebs, Gebärmutterhalskrebs, Speiseröhrenkrebs, Nierenkrebs, Kehlkopfkrebs, Leukämie, Lungenkrebs, Mundhöhlenkrebs, Bauchspeicheldrüsenkrebs, Magenkrebs) Sonstige Erkrankungen (Grauer Star, niedrige Knochendichte, Magen- und Zwölffingerdarmgeschwür)
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
195
Im Jahr 2000 waren nach Schätzungen weltweit 19% der Todesfälle bei den Männern im Alter zwischen 30 und 69 Jahren und 5% der Todesfälle bei den Frauen auf die Folgen des Rauchens zurückzuführen (Ezzati und Lopez 2003). In den entwickelten Ländern ist der Anteil dabei deutlich höher, bei Todesfällen von Personen im Alter über 70 Jahre dagegen geringer. Insgesamt starben nach dieser Schätzung allein im Jahr 2000 mehr als 4,8 Mio. Menschen an den Folgen des Tabakkonsums. Auch in Deutschland gehen nach Schätzungen jedes Jahr ca. 17% der Todesfälle bei Personen ab 35 Jahren (9% bei den Frauen und 26% bei Männern) auf Tabakrauchexposition durch aktives oder passives Rauchen zurück (John und Hanke 2001). Rauchen ist damit die wichtigste verhaltensbedingte Todesursache in Deutschland. Die gesundheitlichen Folgen des Rauchens verursachen hohe volkswirtschaftliche Kosten (Sturm 2002). Anhand von Daten eines telefonischen Gesundheitssurveys aus den USA (1997/8) wurden die direkten Auswirkungen des Rauchverhaltens auf die Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen und die Ausgaben für Medikamente bei Erwachsen untersucht. Aktuelle oder frühere Raucher haben danach im Vergleich zu Nichtrauchern medizinische Dienstleistungen 21% häufiger in Anspruch genommen und etwa 28% bis 30% höhere Ausgaben für Medikamente verursacht. Schätzungen zu direkten und indirekten Kosten des Tabakkonsums liegen auch aus Deutschland vor. Es wird davon ausgegangen, dass 1% der Lohnsumme in Deutschland für die Finanzierung der Folgen des Tabakkonsums der Beschäftigten aufgewendet werden muss (Adams 2002). Arbeitsbezogene Abwesenheitsraten von Rauchern sind gegenüber Nichtrauchern um 33% bis 73% erhöht, außerdem wird für das Rauchen bis zu 8% der Arbeitszeit pro Arbeitstag aufgewendet (Lesmes 1992). Zu diesen indirekten Kosten kommen Ausgaben für rauchbedingte Gesundheitsleistungen, die sich bereits im Jahr 1993 auf umgerechnet 17,3 Milliarden Euro summierten (Welte et al. 2000). Werden zusätzlich Geldwerte für unbezahlte Arbeit, z.B. Haushalt oder Betreuung von Angehörigen einberechnet, erhöhen sich die volkswirtschaftlichen Kosten des Rauchens – je nach Bewertung der unbezahlten Arbeit – auf 29,6 bis 43,7 Milliarden Euro bzw. 1,7% bis 2,6% des BIP im Jahr 1993 (Welte et al. 2000). Dazu kommen zudem noch Folgekosten des Rauchens während der Schwangerschaft, Kosten für die Behandlung von passivrauchbedingten Krankheiten und Ausgaben für Prävention, Beratung und Forschung sowie private Ausgaben für Entwöhnung und Rückfallprophylaxe. Auch wenn Kostenanalysen für das Rauchen sehr komplex sind und zu sehr variablen Ergebnissen führen, scheint doch sehr sicher, dass eine Verringerung der Rauchprävalenz in
196
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
Deutschland langfristig zu bedeutenden Einsparungen im Gesundheitssystem und bei den Unternehmen führen würde.131 Mittlerweile stehen in Europa und den USA Zeitreihen zur Verfügung, die ein umfassendes Bild der Entwicklung des Tabakkonsums zeichnen. Danach musste in den USA bis Anfang der 1970er Jahre und in Europa bis Anfang der 1990er Jahre ein Anstieg der Prävalenz des Tabakrauchens beobachtet werden. In den USA erreichte die Epidemie des Tabakkonsums nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Höhepunkt, so rauchten im Jahr 1965 schätzungsweise 50% der Männer und 32% der Frauen (vgl. Lopez et al. 1994, Garfinkel 1997). Unter dem Eindruck der gesundheitlichen Risiken des Tabakkonsums und erster Präventionsmaßnahmen (Werbeverbot im TV, Anti-Tabak-Werbung) sank die Prävalenz bis zum Jahr 1978 bei Männern auf etwa 39% und bei Frauen sank auf 29,6%. In den 1980er und 1990er wurden die Präventionsanstrengungen in den USA weiter forciert und die Prävalenz ging deutlich zurück. Im Jahr 2006 betrug die Prävalenz nur noch etwa 24% bei Männern und 18% bei Frauen (CDC 2008). In Folge der sinkenden Prävalenz des Tabakkonsums bei Männern in den USA ist auch die Inzidenz von Lungenkrebs bei Männern seit 1990 leicht rückläufig (DHHS 2003). In den europäischen Staaten, für die entsprechende Daten vorliegen, zeigt sich bei Männern eine ähnliche Entwicklung wie in den USA. Auch in Europa sind die Prävalenzen des aktuellen Tabakkonsums bei Männern seit den späten 1950er Jahren rückläufig (Graham 1996). Für Männer werden ausgehend von einer Prävalenz von etwa 80% aktueller Raucher im Jahr 1950 aus Dänemark, den Niederlanden, Frankreich, Belgien, Großbritannien, Irland, Italien und Westdeutschland absolute Reduktionen um mehr als 30 Prozentpunkte bis zum Jahr 1990 berichtet (Graham 1996). Im Unterschied zur Entwicklung bei Männern mussten bei Frauen bis in die 1980er Jahre hinein konstante oder sogar steigende Prävalenzen beobachtet werden. Mitte der 1950er Jahre rauchten in Europa etwa 20% bis 40% der erwachsenen Frauen, bis zum Jahr 1990 hat sich dieser Anteil nicht wesentlich reduziert. In Belgien, Dänemark, Großbritannien, Irland und den Niederlanden stieg die Prävalenz sogar leicht. In Deutschland und Italien musste bis in die 1990er Jahre ein Anstieg von ca. 20% auf 30% bzw. von 10% auf 20% beobachtet werden.
131 Eine Aufrechnung der dargestellten Einsparungseffekte mit Ausgabensteigerungen in den Rentenkassen oder Einnahmeverlusten bei der Tabaksteuer erscheint angesichts der mit dem Tabakkonsum assoziierten Krankheitslast ethisch fragwürdig und soll hier nicht diskutiert werden (vgl. Laffert 1998).
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
197
Abbildung 34: Anteil aktueller Raucher in der Europäischen Union im Jahr 2004 nach Geschlecht
Anteil aktuelle Raucher in %
60
50
40
30
20
10
Sc Irla hw nd e Fi den nn la G nd ro ßb Isla rit nd an ni en D eu Ma ts lta ch la B nd Fr elg an ien Ts kre ch ic e h N chi o e N rwe n ie de ge rla n Po nde rtu ga Ita l l Eu ien r Sc opa hw Sp eiz an U ien R nga um rn D äni än e e n Ö ma st er rk re i Zy ch pe Li rn ta ue G rie Po n ch le en n Sl la ow nd e Bu nie lg n ar Es ien tl Le and ttl an d
0
Männer
Frauen
Quelle: Eurostat 2008, Alter 25-64 Jahre, Indikator: smke In der erweiterten EU bestehen beträchtliche zwischenstaatliche Unterschiede im Tabakkonsum (Eurostat 2008). In Abbildung 34 wird der Anteil aktueller Raucher an der Bevölkerung der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU-27) auf Basis der Daten von Eurostat für das Jahr 2004 und die Bevölkerung im mittleren Lebensalter dargestellt. Demnach rauchen immer noch zwischen 20% und 50% der Bevölkerung in den Mitgliedsstaaten. Männer rauchen vor allem in den skandinavischen Staaten Schweden und Finnland sowie in Irland relativ selten, während sie in den neuen osteuropäischen Mitgliedsstaaten sowie in Österreich und Griechenland noch vergleichsweise häufig zur Zigarette greifen. Umgekehrte Unterschiede zeigen sich im Ländervergleich bei den Anteilen von aktuell rauchenden Frauen. So rauchen Frauen in den wirtschaftlich und sozial hoch entwickelten alten Mitgliedsstaaten der EU-15 besonders häufig. In Ost- und Südeuropa besteht dagegen noch eine deutliche Lücke zwischen dem Rauchverhalten von Männern und Frauen. Nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der Staaten Europas und innerhalb der USA bestehen heute ausgeprägte soziale Unterschiede im Rauchverhalten, die im Vergleich der Bildungsgruppen besonders stark ausgeprägt sind. In den meisten Staaten rauchen gering qualifizierte Männer und Frauen heute deutlich häufiger als Hochqualifizierte (Cavelaars 2000, CDC 2008). So zeigen aktuelle Daten für die USA, dass im Jahr 2006 etwa 29% der Männern und Frauen,
198
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
die keinen High School Abschluss hatten, rauchten, aber lediglich 15% unter den Absolventen eines Colleges (CDC 2008). Die von Eurostat bereitgestellten Daten zur Prävalenz des Tabakkonsums in Europa ermöglichen auch einen ersten Vergleich des Ausmaßes von Bildungsunterschieden innerhalb der EU. Ausgewiesen werden Odds Ratios für aktuelles Rauchen im Vergleich der ISCEDBildungsgruppen 0 bis 2 (maximal Hauptschule) und 4 bis 6 (ab Fachhochschulreife und beruflicher Abschluss). Auch in den meisten Staaten Europas rauchen Männer und Frauen in den unteren Bildungsgruppen deutlich häufiger als in den oberen. Bei Männern ist das Risiko im Vergleich der unteren und oberen Bildungsgruppe durchschnittlich 3-fach und bei Frauen durchschnittlich 2-fach erhöht. In Staaten mit geringen Raucherquoten sind dabei besonders große (Schweden, Finnland) und in den Staaten Süd- und Mitteleuropas mit ihren hohen Raucherquoten (Rumänien, Bulgarien) vergleichsweise geringe Differenzen zu beobachten. Wie weitere Analysen auf Basis der von Eurostat bereitgestellten Daten zeigen, ist das Risiko bei Männern und Frauen in der unteren Bildungsgruppe in den sozialdemokratischen Staaten durchschnittlich 3,9-fach, in den konservativen und liberalen Staaten dagegen 2,1- bzw. 2,5-fach und in den südund osteuropäischen Staaten durchschnittlich 1,5- bzw. 2,4-fach erhöht. Abbildung 35: Bildungsunterschiede im Risiko aktuellen Rauchens in der Europäischen Union im Jahr 2004 nach Geschlecht Portugal Rumänien Frankreich Bulgarien Spanien Österreich Schweiz Italien Litauen Zypern Griechenland Malta Niederlande Belgien Deutschland Großbritannien Estland Europa Dänemark Finnland Ungarn Polen Lettland Schweden Tschechien Norwegen Island 1/6
1/4
1/2
1
2
OR aktuelles Rauchen Männer
Frauen
Datenbasis: Eurostat 2008, Alter 25-64 Jahre, Indikator: smke
4
6
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
199
Im Verlauf der 1980er und 1990er Jahre musste in vielen Staaten Europas und in den USA eine Ausweitung der Bildungsunterschiede im Tabakkonsum beobachtet werden. So machen Ergebnisse aus den USA bereits für den Zeitraum 1965 bis 1993 auf eine deutliche Zunahme der Bildungsunterschiede aufmerksam (Garfinkel 1997, vgl. auch Pierce et al. 1989). Während der Anteil aktueller Raucher unter erwachsenen Männern und Frauen ohne High School Abschluss zwischen 1968 konstant bei etwa durchschnittlich 35% lag, verringerte sich die Prävalenz bis 1993 bei High School Absolventen um 10 Prozentpunkte und bei College Absolventen sogar um fast 19 Prozentpunkte. Seit Ende der 1990er Jahre sind die Bildungsunterschiede und Prävalenzen dann weitgehend konstant geblieben (vgl. CDC 2008). Auch in Europa wurde vor allem bei Frauen, in einigen Staaten aber auch bei Männern, eine deutliche Ausweitung der Bildungsunterschiede beobachtet (Giskes et al. 2005). So ist die Prävalenz des aktuellen Rauchens, im Durchschnitt aller acht verglichenen Mitgliedsstaaten der EU-15, bei Männern in allen vier unterschiedenen Bildungsgruppen132 um 2 bis 4 Prozentpunkte gesunken. Nur in Dänemark und Schweden waren dabei Anzeichen für einen stärkeren Rückgang in der oberen Bildungsgruppe vorhanden. Bei Frauen zeigte sich dagegen eine gegensätzliche Entwicklung der Prävalenzen in den beiden oberen und unteren Bildungsgruppen. So hat der aktuelle Tabakkonsum bei Frauen mit primären oder unteren sekundären Bildungsabschlüssen zwischen 1985 und 2000 noch um durchschnittlich einen Prozentpunkt zugenommen, während er in den beiden oberen Bildungsgruppen jährlich um durchschnittlich ein bis zwei Prozentpunkte gesunken ist. So gab es zwischen 1985 und 2000 nur noch in Finnland und Spanien bei Frauen mit hoher schulisch-beruflicher Qualifikation eine Zunahme des Tabakkonsums (vgl. auch Borrell et al. 2000 und Federico et al. 2004). Auf Basis verschiedener Datenquellen zeigt sich in Deutschland in den letzten Jahren ein allgemeiner Rückgang des Tabakkonsums unter Erwachsenen (Lampert und Thamm 2008). Der Tabakkonsum von Jugendlichen hatte bereits zwischen 1979 und 1993 deutlich abgenommen, war dann aber in den 1990er Jahren noch einmal deutlich angestiegen und ist erst wieder seit 2001 wieder rückläufig (BZgA 2007). Die Prävalenz aktueller Raucher ist unter den 12- bis 17-jährigen Jugendlichen in Deutschland von 30% im Jahr 1968 auf 18% im Jahr 2007 gesunken. Mittlerweile geben mehr als 57% der Jugendlichen an, noch nie geraucht zu haben. Bei Erwachsenen zwischen 18 und 59 Jahren zeigt sich auf Basis des Epidemiologischen Suchtsurveys zwischen 1980 und 2006 eine Verringerung des Tabakkonsums bei Männern im Alter von 18 bis 24 Jahren und eine konstante Raucherquote bei Frauen (Baumeister et al. 2008). Beim Tabak132 Verglichen wurden auf Basis der ISCED-Klassifikation primäre, untere und obere sekundäre sowie tertiäre Abschlüsse.
200
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
konsum von Frauen war dagegen erst in den letzten fünf bis zehn Jahren ein Rückgang der Prävalenz zu verzeichnen (Lampert und Thamm 2008). So zeigen sowohl die Daten der aktuellen Wellen der telefonischen Gesundheitssurveys des RKI und der Epidemiologische Suchtsurvey einen Rückgang der Prävalenz bei Frauen (Lampert und Thamm 2008). Zur Entwicklung von sozialen Unterschieden im Rauchverhalten gibt es bisher nur wenige Studien in Deutschland. Für das frühere Bundesgebiet hat eine Studie auf Basis der ersten drei nationalen Untersuchungssurveys der DHP (NUS t0-t2) auf eine Ausweitung der Unterschiede aufmerksam gemacht (Hoffmeister und Hüttner 1995). Verglichen wurden dabei drei sozioökonomische Gruppen, die anhand eines mehrdimensionalen Index, auf Basis von Bildung, Stellung im Beruf und Einkommen, unterschieden wurden. Die bereits genannte Studie zur Entwicklung in Europa (Giskes et al. 2005) hat die Entwicklung der Bildungsunterschiede für das frühere Bundesgebiet zwischen 1985 und 1998 nachgezeichnet (Giskes et al. 2005).133 Während sich die Bildungsunterschiede bei Männern in den alten Bundesländern demnach kaum verändert haben, wurde eine deutliche Ausweitung der Differenzen bei Frauen beobachtet. Eine weitere Studie hat, ohne Differenzierung zwischen alten und neuen Ländern, die Entwicklung von Unterschieden zwischen 1985 und 2003 auf Basis eines anderen mehrdimensionalen Index des sozioökonomischen Status beschrieben (Helmert und Buitkamp 2004). Dabei wurde eine Ausweitung der Differenzen bei Männern und Frauen beobachtet. Während Männer in der oberen der fünf Gruppen seltener rauchten, ist der Konsum in der untersten Gruppe konstant geblieben. Bei Frauen nahm der Tabakkonsum in der unteren Gruppe weiter zu, während er in der oberen Gruppe leicht gesunken ist. Die Ergebnisse wurden allerdings nicht auf statistische Signifikanz überprüft. Auf Basis der Gesundheitssurveys des Robert Koch-Instituts kann die Entwicklung der Prävalenz des aktuellen Rauchens seit Mitte der 1980er Jahre für die 25- bis 69-jährige Bevölkerung nachgezeichnet werden. Die Analysen basieren auf einer Frage nach dem Rauchstatus des Befragten. Sie wurde seit den Nationalen Untersuchungssurveys in unterschiedlichen Varianten gestellt. In den drei nationalen Untersuchungssurveys lautete die Frage „Haben Sie früher geraucht oder rauchen Sie zur Zeit?“. Die drei möglichen Antworten waren „Habe früher geraucht, rauche jetzt nicht mehr“, „Rauche zur Zeit“ und „Habe noch nie geraucht“. Im Bundesgesundheitssurvey 1998 wurde die gleiche Frage verwendet, es wurden insgesamt neun Antwortkategorien verwendet, um neben dem Rauchstatus (aktuelle, ehemalige oder nie Raucher) zusätzliche Aspekte des Raucherverhaltens (insb. Rauchmenge) der Rauchbiographie (Menge des frühe133 Als Datenbasis wurde zusätzlich zu den Nationalen Untersuchungssurveys auch der Bundesgesundheitssurvey 1998 herangezogen.
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
201
ren Rauchens, Zeitpunkt des Aufhörens) in einem Block zu erfassen. In den telefonischen Gesundheitssurveys wurde die Anzahl der Antwortmöglichkeiten verringert und die Frageformulierung leicht geändert. Sie lautet „Rauchen Sie zur Zeit - wenn auch nur gelegentlich?“, die möglichen Antworten sind: „ja, täglich“, „ja, gelegentlich“, „nein, nicht mehr“ und „habe noch nie geraucht“. Bei aktuellen und ehemaligen Rauchern (Antworten 1 und 2) wird zusätzlich noch einmal explizit nachgefragt, ob sie „früher einmal täglich geraucht“ haben. Dadurch können ehemalige Raucher und Gelegenheitsreicher besser abgegrenzt werden. Nachfolgend wird nur die Entwicklung des aktuellen Rauchverhaltens beschrieben, weil der Einfluss des sozialen Wandels auf die Situation, die Einstellungen und das Verhalten der Akteure im Zentrum des Erkenntnisinteresses steht.134 Daher können die Unterschiede in den Operationalisierungen des Rauchstatus zwischen den verschiedenen Surveys des Robert Koch-Instituts vernachlässigt werden. Abbildung 36: Anteil von aktuellen Rauchern nach Jahr, Geschlecht und Region West
Ost
Gesamt
60 55
Aktuelle Raucher in %
50 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0 1984-89
1990-94
1995-99
2000-05
1984-89
1990-94
Männer
1995-99
2000-05
1984-89
1990-94
1995-99
2000-05
Frauen
Datenbasis: RKI-Trend (1984-2005), Alter 25 bis 69 Jahre 134 Zusätzlich wäre es möglich gewesen, wie Giskes et al. (2005) auch die Veränderung der Rauchmenge im Zeitverlauf zu untersuchen. Allerdings geht von der Dauer der Tabakrauchexposition ein größeres Gesundheitsrisiko als von der Menge des Konsums aus. Je früher ehemalige Raucher mit dem Rauchen aufgehört haben, desto geringer ist ihr Mortalitätsrisiko gegenüber Niemals-Rauchern erhöht (Godtfredsen et al. 2005, Peto et al. 2000). Die Ergebnisdarstellung zur Entwicklung gesundheitlicher Ungleichheiten zielt zudem darauf ab, ein möglichst umfassendes Bild zu vermitteln, auch wenn dabei einzelne Themen nicht erschöpfend behandelt werden können.
202
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
Abbildung 36 beschreibt die Entwicklung der Prävalenz des aktuellen Rauchens für die 25- bis 69-jährige Bevölkerung in Deutschland differenziert nach Geschlecht und im Vergleich der alten und neuen Bundesländer. In den letzen 20 Jahren hat sich nach den Daten der Gesundheitssurveys des RKI die Prävalenz des Tabakkonsums in Deutschland – analog zu anderen europäischen Staaten – stark geschlechtsspezifisch entwickelt. Sowohl in den alten als auch in den neuen Bundesländern gab es bei Männern einen deutlichen Rückgang der Prävalenz, während sie bei Frauen weiter angestiegen ist. In Westdeutschland ist der altersstandardisierte Anteil aktueller Raucher zwischen den Zeiträumen 1984-89 und 2000-05 bei Männern von 42% auf 36% gesunken, während er bei Frauen von 27% auf fast 31% signifikant angestiegen ist. Dies entspricht in den alten Ländern einer signifikanten jährlichen Verringerung der Prävalenz um 0,2 Prozentpunkte bei Männern und einer signifikanten Vergrößerung um 0,2 Prozentpunkte bei Frauen. In den neuen Ländern ging der Anteil zwischen 1990-94 und 200005 bei Männern nur leicht von 38% auf 37% zurück und stieg bei Frauen von 19% auf 24% deutlich signifikant an. Dies entspricht in den neuen Ländern zwischen 1990-94 und 2000-05 einer stagnierenden Prävalenz bei Männern und einem signifikanten Anstieg bei Frauen um jährlich 0,4 Prozentpunkte.
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
203
Tabelle 15: Entwicklung sozialer Unterschiede im Risiko aktuellen Rauchens nach Sozialindikator, Geschlecht und Jahr Bildung
Erwerbsstatus
Beruf
OR
%-diff
Sign.
OR
%-diff
Sign.
OR
1984-89
1,89
12%
***
2,65
24%
***
1990-94
2,04
11%
***
2,23
21%
1995-99
1,78
9%
***
2,18
16%
2000-05
2,22
15%
***
2,08
Veränderung
1%
4%
ns
1984-89
1,43
0%
1990-94
1,74
1995-99
2,15
2000-05 Veränderung
%-diff
Einkommen Sign.
OR
%-diff
Sign.
1,85 15%
***
1,78 13%
***
***
1,99 16%
***
1,51 5%
**
***
1,54 13%
**
2,22 20%
***
16%
***
1,96 17%
***
1,54 12%
***
0%
-5%
ns
0%
2%
ns
1%
7%
ns
*
2,92
30%
***
1,30 3%
ns
1,20 3%
ns
1%
**
1,57
9%
*
1,29 2%
ns
1,53 -3%
**
5%
***
1,32
3%
ns
1,68 13%
*
1,52 10%
*
2,38
12%
***
1,40
5%
**
2,11 16%
***
1,60 10%
***
4%
11%
**
0%
-4%
ns
4%
*
2%
ns
Männer
Frauen
15%
13%
Legende: Bildung (niedrig/hoch), Beruf (niedrig/hoch), Einkommen (niedrig/hoch), Arbeitslosigkeit (arbeitslos/Vollzeit) Bildung (CASMIN 1 vs. CASMIN 3); Erwerbsstatus (arbeitslos vs. Vollzeit beschäftigt); Beruf (nur Vollzeitbeschäftigte: niedrige Autonomie vs. hohe Autonomie); Einkommen (Armutsrisikogruppe <60% vs. relativer Wohlstand >150%); °Früheres Bundesgebiet; OR = Odds Ratio; %-diff = Prozentsatzdifferenz; Sign.= Signifikant zum Niveau ***p<0.001, **p<0.01, *p<0.05 nach Kontrolle von Alter- und Ost/West-Unterschieden; Ref. = Referenzkategorie; Veränderung = Durchschnittliche jährliche Veränderung des Unterschieds (OR oder %-diff) zwischen 1990 und 2006.
Datenbasis: RKI-Trend (1984-2005), Alter 25 bis 69 Jahre In Tabelle 15 wird die geschlechtsspezifische Entwicklung von sozialen Unterschieden im aktuellen Tabakkonsum zwischen 1984 und 2006 dargestellt. Verglichen werden vier Indikatoren des sozioökonomischen Status.135 Dargestellt ist das altersstandardisierte relative Risikoverhältnis aktuell zu rauchen (OR: Odds Ratio) und die absolute Differenz in der Rauchprävalenz im Vergleich der unteren und oberen von jeweils drei Gruppen. Bereits Mitte der 1980er Jahre bestanden soziale Unterschiede im Rauchverhalten der 25- bis 69jährigen im früheren Bundesgebiet. Gering qualifizierte oder arbeitslose Männer und Frauen sowie Männer mit geringem Berufsstatus oder Äquivalenzeinkommen im Bereich der Armutsrisikogruppe hatten ein signifikant erhöhtes, alters135
Zur Operationalisierung der vier Indikatoren des sozioökonomischen Status vgl. den Abschnitt 3.2 auf den Seiten 145 (Bildung), 154 (Erwerbsbeteiligung), 159 (berufliche Autonomie) und 167 (Einkommen).
204
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
standardisiertes Risiko zu rauchen. Bei Männern sind diese sozialen Unterschiede im Rauchverhalten im Zeitverlauf vergleichsweise stabil geblieben. Bei Frauen haben die Unterschiede dagegen insbesondere seit den frühen 1990er Jahren deutlich zugenommen. Im letzten Beobachtungszeitraum gab es bei Frauen hinsichtlich aller Sozialindikatoren signifikante soziale Unterschiede. Wie auch in anderen Staaten musste insbesondere für die Unterschiede zwischen den Bildungsgruppen, aber auch bei Unterschieden zwischen den Berufsstatusgruppen der Vollzeiterwerbstätigen eine signifikante Ausweitung seit Beginn der 1990er Jahre konstatiert werden. So haben sich die relativen Differenzen im Risiko, aktuell zu rauchen, um etwa 4% auseinander entwickelt. Abbildung 37: Veränderung des Anteils aktueller Raucher unter Männern nach sozioökonomischem Status Bildung
Erwerbsbeteiligung
Beruf
Einkommen
Veränderung der Prävalenz in % pro Jahr
2.0
1.5
1.0
0.5
0.0
-0.5
-1.0
-1.5
-2.0 niedrig
hoch
niedrig
hoch
niedrig
hoch
niedrig
hoch
Datenbasis: RKI-Trend (1990-2005), Alter 25 bis 69 Jahre Neben der Entwicklung sozialer Differenzen im Tabakkonsum zwischen den sozioökonomischen Statusgruppen ist die Entwicklung der Prävalenzen innerhalb der Gruppen von besonderer gesundheitspolitischer Bedeutung. In Abbildung 37 ist die durchschnittliche jährliche Veränderung der Prävalenz bei Männern im Vergleich von vier Sozialindikatoren dargestellt. Verglichen werden die obere und untere von drei Gruppen für jeden Sozialindikator, dargestellt sind der Punktschätzer für die durchschnittliche jährliche Veränderung der Prävalenz und das zugehörige 95%-Konfidenzintervall. Die Analyse der Veränderung der
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
205
sozioökonomischen Unterschiede im Tabakkonsum hat bereits deutlich gemacht, dass sich die Prävalenzen hinsichtlich der fünf Sozialindikatoren nicht signifikant auseinander entwickelt haben. Die Entwicklung der Prävalenzen bestätigt nun dieses Ergebnis. In allen Gruppen zeigen sich dabei nach Kontrolle für Altersunterschiede nur geringe Veränderungen in der Prävalenz seit 1990. So ist Prävalenz des aktuellen Rauchens nur unter Vollzeiterwerbstätigen signifikant gesunken, während bei Männern in der Armutsrisikogruppe ein deutlicher, wenn auch nicht signifikanter Anstieg des Tabakkonsums zu beobachten war. Abbildung 38: Veränderung des Anteils aktueller Raucherinnen nach sozioökonomischem Status Bildung
Erwerbsbeteiligung
Beruf
Einkommen
Veränderung der Prävalenz in % pro Jahr
2.0
1.5
1.0
0.5
0.0
-0.5
-1.0
-1.5
-2.0 niedrig
hoch
niedrig
hoch
niedrig
hoch
niedrig
hoch
Datenbasis: RKI-Trend (1990-2005), Alter 25 bis 69 Jahre Im Unterschied zur Entwicklung seit 1990 bei Männern, gab es bei Frauen seit 1990 eine umfassende Ausweitung der Unterschiede im Rauchverhalten zwischen den sozioökonomischen Statusgruppen (Abbildung 38). So ist der Tabakkonsum bei Frauen, die gering qualifiziert oder arbeitslos sind, einfache Berufe vollzeiterwerbstätig ausüben oder Äquivalenzeinkommen im Bereich der Armutsrisikogruppe erzielen, im Jahr 2005 deutlich verbreiteter gewesen als noch im Jahr 1990. Im Unterschied zu diesen Frauen mit niedrigem sozioökonomischem Status rauchen Frauen mit hohen Bildungsabschlüssen sogar deutlich – wenn auch nicht signifikant – weniger als 1990. Zudem konzentriert sich der signifikante Anstieg des Tabakkonsums bei Vollzeiterwerbstätigen vorrangig auf die unteren Berufsstatusgruppen, deren Tabakkonsum jährlich sogar um fast
206
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
einen Prozentpunkt gestiegen ist. Dies erklärt, warum die relativen sozioökonomischen Differenzen im Tabakkonsum von Frauen heute sogar stärker als bei Männern ausgeprägt sind. Insgesamt zeigt sich ein relativ homogenes Schema der Veränderungen des Tabakkonsums in den entwickelten europäischen Ländern (Cavelaars et al. 2000). Die Dynamik der Entwicklung scheint dabei in Europa vor allem durch Veränderungen im Rauchverhalten von Frauen bestimmt zu werden. So ist der Tabakkonsum bei hoch qualifizierten Frauen in vielen Staaten Europas zurück, während er bei gering qualifizierten Frauen bis Ende der 1990er Jahre noch angestiegen ist. In der Folge haben sich insbesondere im Vergleich der 1980er und 1990er Jahre die Bildungsunterschiede bei Frauen beträchtlich ausgeweitet. Bei Männern gab es im Verlauf der 1980er und 1990er Jahre dagegen keine Ausweitung von sozioökonomischen Unterschieden im Tabakkonsum, sondern vielmehr einen gleichförmigen Rückgang in allen Statusgruppen. Auch aus den USA wird eine Ausweitung der bildungsbezogenen Unterschiede im Tabakkonsum seit den 1970er Jahren berichtet, die dort allerdings Frauen und Männer gleichermaßen betrifft. Die Entwicklung des Tabakkonsums in Deutschland fügt sich gut in das Bild der anderen europäischen Staaten. In Deutschland gab es zwischen den Zeiträumen 1984-89 und 2000-05 einen allgemeinen Rückgang des Tabakkonsums bei Männern und eine sozial unterschiedliche Entwicklung bei Frauen. So ist der Anteil von Raucherinnen in den oberen Bildungsgruppen bereits gesunken, während er bei Frauen in den unteren Bildungsgruppen noch weiter angestiegen ist. Anstrengungen zur Prävention des Tabakkonsums stehen so auch weiterhin vor der Herausforderung, eine Verringerung des Konsums in allen gesellschaftlichen Gruppen zu erreichen. 4.3.2 Körperliche Aktivität Der Begriff „körperliche Aktivität“ ist ein allgemeiner Oberbegriff für jede körperliche Bewegung, durch die Skelettmuskulatur produziert wird und der Energieverbrauch über den Grundumsatz angehoben wird (Rütten et al. 2005). Unter Public Health Gesichtspunkten sollten verschiedene Formen körperlicher Aktivitäten unterschieden werden. Eine wichtige Unterscheidung betrifft den Kontext der körperlichen Aktivität. So werden Aktivitäten bei der Haus- oder Erwerbsarbeit und sportliche Aktivität in der Freizeit unterschieden. Während eindeutig positive gesundheitliche Konsequenzen für sportliche Aktivitäten in der Freizeit festgestellt werden können, sind anstrengende Aktivitäten am Arbeitsplatz oder im Haushalt nicht mit einer verbesserten Gesundheit assoziiert (Predel und Tokarski 2005, Rütten et al. 2005). Zu den positiven gesundheitlichen Auswirkun-
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
207
gen einer regelmäßigen, strukturierten und ausdauerorientierten sportlichen Betätigung liegen gesicherte Erkenntnisse vor; sie verbessert insbesondere:
Funktion des Herz-Kreislauf-Systems Stoffwechsel Hormonellen Regelkreis Immunsystem Skelettsystems und Muskulatur Subjektives Wohlbefinden Resilienz gegenüber psychosozialen Belastungen
Diese Wirkungen regelmäßiger sportlicher Aktivitäten spiegeln sich auch im altersadjustierten Mortalitätsrisiko wider. In Studien zum Zusammenhang von körperlicher Aktivität und Mortalität zeigt sich, dass sportlich inaktive Männer und Frauen ein deutlich höheres Mortalitäts- und Krankheitsrisiko als sportlich Aktive haben (Katzmarzyk et al. 2003, Helmert 2003). Ein mangelhaftes Niveau sportlicher Aktivität in der Bevölkerung führt daher durch die erhöhte Inanspruchnahme medizinischer Leistungen und durch Arbeits- und Produktivitätsausfälle zu enormen direkten und indirekten volkswirtschaftlichen Kosten. So konnte eine Studie aus den USA zeigen, dass die direkten Kosten von älteren Krankenversicherten (Medicare) die regelmäßig eine moderate Aktivität ausübten, gegenüber den übrigen Versicherten deutlich verringert waren. Sie lagen um bis zu 1.700 US-Dollar unter den Kosten von Männern und Frauen, die nicht körperlich aktiv waren (Wang et al. 2005). Im Zuge des wirtschaftlichen Strukturwandels, der verstärkten Anstrengungen beim Arbeitsschutz und der zunehmenden Technisierung der häuslichen Arbeit ist die Belastung durch körperliche Anstrengungen bei der Haus- oder Erwerbsarbeit im Verlauf des 20. Jahrhunderts gesunken. Heute steht daher vor allem die Entwicklung der sportlichen Aktivität im Zentrum der Forschungen. Eine Reihe von Studien hierzu liegt aus den USA vor (CDC 2001, Caspersen und Merrit 1995). In der ersten Hälfte der 1980er Jahre (1980-1986) wurde dabei ein leichter Anstieg der sportlich aktiven Bevölkerung beobachtet, die Prävalenz nahm um etwa 2% zu (Caspersen und Merrit 1995). So ist der Anteil regelmäßiger sportlicher Aktivität in den 1980er Jahren und im Verlauf der 1990er Jahre (1990-1998) gestiegen. Der Anstieg betrug etwa 2% und verteilte sich zu gleichen Teilen auf regelmäßige und unregelmäßige sportliche Aktivitäten (CDC 2001). Insbesondere unter Frauen im mittleren Lebensalter sowie älteren Männern und Frauen waren überproportionale Zuwächse zu verzeichnen. Ohne die erfolgte Zunahme sportlicher Aktivitäten hätten sich die veränderten Ernährungsgewohnheiten von Erwachsenen und Kindern in den USA noch deutlich
208
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
stärker in einer Zunahme von Übergewicht und Adipositas niedergeschlagen (Stephen und Wald 1990, Cavadini et al. 2000, vgl. Abschnitt 4.4.1). In Europa bewegt sich die sportliche Aktivität der Bevölkerungen in etwa auf dem Niveau der USA (Martinez-Gonzalez et al. 2001, Varo et al. 2003). Es besteht dabei allerdings ein ausgeprägtes Nord-Süd-Gefälle, so war Schweden im Jahr 1997 das Land mit dem geringsten Anteil der sportlich inaktiven Bevölkerung (43%), während Portugal mit 88% den höchsten Anteil hatte. Die inaktive Bevölkerung war in Finnland, Irland und Österreich ebenfalls sehr klein. Die kontinentalen Länder Deutschland, Frankreich und die Niederlande hatten mit 60% bis 70% mittlere Anteile der inaktiven Bevölkerung. Daten zur Entwicklung des Anteils der sportlich aktiven Bevölkerung liegen nur aus wenigen europäischen Staaten vor. Für Finnland gibt es für den Zeitraum 1972 bis 2002 Daten, die auf einen Anstieg der körperlich sportlichen Aktivität hindeuten (Borodulin 2008). So ist der Anteil sportlich aktiver Männer seit 1972 von 66% auf 77% gestiegen. Der Anteil von aktiven Frauen ist sogar von 49% auf 76% gestiegen, dadurch hatten sich die bestehenden Geschlechtsunterschiede im Anteil sportlicher Aktivität bis zum Jahr 2002 weitgehend aufgelöst. Auch in Großbritannien gab es zwischen 1991 bis 2004 eine Zunahme des Niveaus der körperlichen Aktivitäten (Stamatakis 2007). So ist der Anteil von Männern und Frauen, die in ihrer Freizeit regelmäßig sportlich aktiv waren, kontinuierlich angestiegen. Besonders ausgeprägt war der Anstieg bei Männern und Frauen im Alter zwischen 35 und 49 Jahren, die Anteile betrugen hier im Jahr 1991/2 26% bzw. 25% und im Jahr 2004 43% bzw. 35%. Aus den südeuropäischen Staaten, die einen – im europäischen Vergleich – besonders geringen Anteil der sportlich aktiven Bevölkerung haben, wird ebenfalls eine Zunahme sportlicher Aktivitäten berichtet (Roman-Vinas et al. 2007). In Spanien (Katalonien) hat der Anteil der regelmäßig sportlich aktiven Bevölkerung zwischen 1992 und 2003 bei Männern von 39% auf 46% und bei Frauen von 26% auf 32% zugenommen. Insgesamt deutet sich damit in Europa eine Zunahme in der körperlichen Aktivität der Bevölkerung bei Erwachsenen an. Im Unterschied zur Entwicklung bei Erwachsenen zeigen Ergebnisse einer vergleichenden europäischen Studie unter Jugendlichen, dass sich deren sportliche Aktivität zwischen 1986 und 2002 in vielen europäischen Staaten nicht verändert hat (Samdal et al. 2007). Soziale Unterschiede in der Häufigkeit sportlicher Aktivitäten sind bereits mehrfach dokumentiert worden. Aus den USA liegen Befunde zu deutlichen Bildungsunterschieden im Risiko sportlicher Inaktivität bei Männern und Frauen vor (Mensah 2005). Für die EU sind sozioökonomische Unterschiede in der sportlichen Aktivität bisher noch nicht umfassend dokumentiert (Dowler 2001). Nach den Daten des britischen National Health Service gibt es demnach in England ausgeprägte Einkommensunterschiede in der Chance sportlich aktiv zu
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
209
sein (NHS 2008). Erwachsene Männer und Frauen mit hohen Einkommen sind deutlich häufiger aktiv als Männer und Frauen in den unteren Einkommensgruppen. Eine vergleichende europäische Studie unter Männern und Frauen im Alter von 18 bis 30 Jahren spricht zudem dafür, dass in der EU-15 ausgeprägte Bildungsunterschiede in der Chance auf sportliche Aktivität in der Freizeit bestehen (Martinez-Gonzales et al. 2001). In der EU-15 waren Befragte mit primären Bildungsabschlüssen demnach zu 64% in ihrer Freizeit sportlich aktiv, Befragte mit tertiären Abschlüssen dagegen zu 81%. Die mittlere Dauer der Aktivitäten variierte ebenfalls im Vergleich der beiden Gruppen. Zwischenstaatliche Differenzen in den berichteten Bildungsunterschieden in der körperlichsportlichen Aktivität wurden dagegen nicht untersucht. Zur Entwicklung von sozialen Unterschieden hinsichtlich sportlicher Aktivität liegen bisher nur wenige Informationen vor. Die meisten Studien unterscheiden zudem leider nicht zwischen sportlicher Aktivität in der Freizeit und sonstigen körperlichen Aktivitäten am Arbeitsplatz oder im Haushalt. Aus den Vereinigten Staaten stammen Befunde, die zwischen 1986 und 1996 auf eine leichte Ausweitung von Bildungsunterschieden hindeuten (Caspersen und Merrit 1995). Aktuelle Daten verweisen dagegen auf einen leichten Rückgang der Unterschiede seit 1996 (Wright 2008). Während der Anteil sportlich aktiver Männer und Frauen in der oberen und unteren von fünf Bildungsgruppen im Jahr 1996 noch 42% bzw. 12% betrug, ist er bis zum Jahr 2006 auf 43% bzw. 15% gestiegen. Aus Nordeuropa liegen Befunde vor, die im Verlauf der 1980er Jahre auf eine Ausweitung sozialer Unterschiede hindeuten (Osler et al. 2000). So wurde in Dänemark für körperliche Aktivität in der Freizeit zwischen 1982 und 1992 eine beträchtliche Ausweitung der Bildungsunterschiede bei Frauen und ein leichter Rückgang bei Männern beobachtet. Während der Anteil sportlich inaktiver Männer und Frauen in der oberen von drei Bildungsgruppen um 2 bzw. 9 Prozentpunkte gesunken ist, gab es in der unteren Bildungsgruppe bei Männern einen Rückgang von 5 Prozentpunkten und bei Frauen einen weiteren Anstieg von 9 Punkten. Daten aus Schweden sprechen im Vergleich der Jahre 1986 und 1994 ebenfalls für eine Zunahme von Bildungsunterschieden (Lindstrom et al. 2003). Nach Kontrolle für Alter und BMI hatten Männer und Frauen mit hoher Bildung im Jahr 1986 eine 1,8-fach erhöhte Chance sportlich aktiv zu sein. Im Zuge eines weiteren Anstiegs des Aktivitätsniveaus unter den höher Gebildeten hat sich dieser Unterschied bis zum Jahr 1994 sogar auf das 2,3-Fache erhöht. Aus Großbritannien liegen auf Basis der Whitehall Studie Ergebnisse für die berufsspezifische Entwicklung sportlicher Aktivitäten bei erwachsenen Männern zwischen 1984 und 1993 vor (Bartley et al. 2000). Es zeigen sich hier annähernd konstante soziale Unterschiede. Im Vergleich der unteren und oberen von fünf Berufsklassen ist der Anteil sportlich inaktiver Männer seit 1984 um 17% bzw.
210
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
15% zurückgegangen. Insgesamt deuten die wenigen vorliegenden Befunde aus Europa und den USA auf eine Ausweitung der Bildungsunterschiede in der körperlich-sportlichen Aktivität, die sich vor allem auf Frauen zu konzentrieren scheint. Die deutschen Befunde ordnen sich in den internationalen Forschungsstand zur Entwicklung der sportlichen Aktivitäten ein (RKI 2005). Allgemein sinkt der Anteil der sportlich-aktiven Bevölkerung mit zunehmendem Lebensalter bei Männern und Frauen (Lampert et al. 2005). In allen Altersgruppen sind Frauen dabei etwas seltener sportlich aktiv als Männer. Zur Entwicklung der sportlichen Aktivität in Deutschland liegen bisher kaum Studien vor. Erste Analysen auf Basis der Gesundheitssurveys des Robert Koch-Instituts sprechen für eine leichte Zunahme der sportlichen Aktivität im mittleren und höheren Lebensalter im vereinigten Deutschland seit 1990 (Lampert et al. 2005). Bei Männern verringerte sich der Anteil der sportlich Aktiven unter den 25- bis 39-Jährigen, während unter den 50- bis 69-jährigen Befragten ein deutlicher Anstieg zu beobachten war. Bei Frauen gab es in den alten Altersgruppen einen deutlichen Anstieg der sportlichen Aktivität, der ebenfalls in den höheren Altersgruppen stärker ausgeprägt war. Analysen auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels sprechen ebenfalls für eine Zunahme der sportlichen Aktivität im Zeitverlauf seit 1992 (Becker et al. 2006). Der Anteil von wöchentlich sportlich Aktiven hat in den alten und neuen Bundesländern und bei Männern und Frauen demnach deutlich zugenommen. Auch in Deutschland bestehen soziale Unterschiede in der Häufigkeit und im Ausmaß sportlicher Aktivität. Gemessen an einem Sozialstatus-Index, der Angaben zu Bildung, Beruf und Einkommen enthält, ist der Anteil von sportlich Aktiven in der unteren Statusgruppe bei Männern und Frauen deutlich verringert.136 Männer aus der unteren Statusgruppe sind zu 54,2% sportlich aktiv, während in der mittleren Statusgruppe 60,6% und in der oberen Statusgruppe sogar 69,1% aktiv sind. Bei Frauen betragen die entsprechenden Anteile 53,2% in der unteren, 61,5% in der mittleren und 69,8% in der oberen Statusgruppe. Die Unterschiede in Deutschland werden dabei vorrangig auf Bildungsunterschiede bei gesundheitsbezogenen Einstellungen und im Gesundheitswissen sowie auf Formen der sozialen Integration zurückgeführt (Lampert et al. 2005). Ein ursächlicher Einfluss des Einkommens wird dagegen nur für ausgewählte kostenintensive Sportarten, wie Tennis, Skifahren oder Segeln, angenommen. Befunde zur Entwicklung sozialer Unterschiede liegen aus West-Deutschland für den Zeitraum 1985-1991 vor (Hoffmeister und Hüttner 1995). Bei Männern haben die Unterschiede demnach im Zeitverlauf leicht zu- und bei Frauen leicht 136 Für die aktuelle Konstruktion des so genannten „Winkler-Index“ vgl. u.a. Lampert und Kroll 2006.
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
211
abgenommen. So nahm die Chance auf sportliche Aktivität in der oberen im Vergleich zur unteren Gruppe nach Sozialstatus (vgl. oben) bei Männern vom 5,2-Fachen im Jahr 1985 auf das 6,1-Fache im Jahr 1991 zu, während die Differenzen bei Frauen vom 5,7- auf das 5,2-Fache zurückgingen. Nachfolgend wird auf Basis der Daten der Gesundheitssurveys des Robert Koch-Instituts die Entwicklung des Anteils der sportlich aktiven Bevölkerung beschrieben und im Hinblick auf die Veränderung von sozioökonomischen Unterschieden vertiefend analysiert. Als Indikator für das Ausmaß der sportlichen Aktivität wird die Antwort auf die Frage „Wie oft treiben Sie Sport?“ verwendet. Die Skalierung der Antwortvorgaben hat sich in den Gesundheitssurveys des RKI mehrfach geändert, sie weißt aber immer einen konkreten Zeitbezug auf. In den Nationalen Untersuchungssurveys und im Gesundheitssurvey Ost (1984 bis 1992) lauteten die Kategorien: „Regelmäßig mehr als 2 Stunden in der Woche“, „Regelmäßig 1 bis 2 Stunden in der Woche“, „Weniger als 1 Stunde in der Woche“ und „Keine sportliche Betätigung“. Im Bundesgesundheitssurvey 98 (1998) wurde die obere Kategorie in „Regelmäßig, mehr als 4 Stunden in der Woche“ und „Regelmäßig, 2 bis 4 Stunden in der Woche“ unterteilt und die anderen Kategorien beibehalten. In den telefonischen Gesundheitssurveys 2003, 2004 und 2005 lauteten die Kategorien mit Bezug zu den letzten drei Monaten vor der Befragung: „Kein Sport in den letzten 3 Monaten“, „bis zu 1 Stunde“, „bis zu 2 Stunden“, „bis zu 4 Stunden“ und „mehr als 4 Stunden“. Aufgrund der eingeschränkten Vergleichbarkeit der Zeitskalen werden nachfolgend nur sportlich aktive und sportlich inaktive Befragte unterschieden.
212
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
Abbildung 39: Anteil sportlich aktiver Männer und Frauen nach Jahr und Region West
Ost
Gesamt
90
Anteil sportlich aktiv in %
80 70 60 50 40 30 20 10 0 1984-89
1990-94
1995-99
2000-05
1984-89
1990-94
Männer
1995-99
2000-05
1984-89
1990-94
1995-99
2000-05
Frauen
Datenbasis: RKI-Trend (1984-2005), Alter 25 bis 69 Jahre In Abbildung 39 wird die Entwicklung des Anteils sportlich aktiver Männer und Frauen im Vergleich von vier Zeiträumen in den alten und neuen Bundesländern für die 25- bis 69-jährige Bevölkerung dargestellt. Die Anteile wurden altersstandardisiert und spiegeln die demographische Struktur (Alter, Geschlecht, Region) der deutschen Bevölkerung im Jahr 2004 wider. Die Entwicklung macht insgesamt auf eine Stagnation des Anteils sportlich aktiver Männer und eine Zunahme der Aktivitäten bei Frauen aufmerksam. Zwischen 1990 und 2005 ist der Anteil von sportlich aktiven Männern nur in den neuen Bundesländern leicht gestiegen, er liegt aber weiterhin deutlich unter dem Niveau der alten Bundesländer. Weiterführende Trendanalysen weisen für Männer weder in den alten noch in den neuen Bundesländern einen signifikanten Anstieg der sportlichen Aktivität aus. Bei Frauen stellt sich die Situation in beiden Teilen der Bundesrepublik positiver dar, so sind immer mehr Frauen in den alten und neuen Ländern sportlich aktiv. Weiterführende Trendanalysen verdeutlichen, dass dieser Anstieg seit 1990 zum 95%-Konfidenzniveau statistisch signifikant ist. Durchschnittlich ist der Anteil sportlich aktiver Frauen in den alten und neuen Bundesländern jährlich um 4 bzw. sogar um 5 Prozentpunkte angestiegen. Dieser deutliche Anstieg der sportlichen Aktivität hat auch dazu geführt, dass zwischen 2000 und 2005 erstmals mehr Frauen als Männer sportlich aktiv waren.
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
213
Tabelle 16: Entwicklung sozialer Unterschiede im Risiko nicht sportlich aktiv zu sein nach Sozialindikator, Geschlecht und Jahr Bildung OR
%-diff
Erwerbsstatus Sign. OR
%-diff
Beruf
Sign.
OR
%-diff
Einkommen Sign. OR
%-diff
Sign.
Männer 1984-89
2,86 27%
***
2,15 17%
**
2,22 18%
***
3,29 27%
***
1990-94
3,21 28%
***
1,47 9%
ns
3,44 27%
***
4,16 34%
***
1995-99
4,45 32%
***
1,71 16%
**
3,47 27%
***
3,24 29%
***
2000-05
2,71 23%
***
1,61 14%
***
2,51 21%
***
3,03 26%
***
Veränderung -1% -6%
ns
0%
ns
-2%
-6%
ns
-1%
-8%
ns
5%
Frauen 1984-89
3,88 35%
***
0,93 -7%
ns
4,55 36%
***
2,67 23%
***
1990-94
3,04 30%
***
0,86 -4%
ns
2,79 26%
***
2,88 30%
***
1995-99
3,75 32%
***
1,46 11%
*
5,01 35%
***
5,69 40%
***
2000-05
2,64 21%
***
1,36 9%
**
2,43 20%
***
2,48 21%
***
*
3%
ns
0%
ns
-1%
ns
Veränderung -2% -10%
13%
-6%
-9%
Legende: Bildung (niedrig/hoch), Beruf (niedrig/hoch), Einkommen (niedrig/hoch), Arbeitslosigkeit (arbeitslos/Vollzeit) Bildung (CASMIN 1 vs. CASMIN 3); Erwerbsstatus (arbeitslos vs. Vollzeit beschäftigt); Beruf (nur Vollzeitbeschäftigte: niedrige Autonomie vs. hohe Autonomie); Einkommen (Armutsrisikogruppe <60% vs. relativer Wohlstand >150%); °Früheres Bundesgebiet; OR = Odds Ratio; %-diff = Prozentsatzdifferenz; Sign.= Signifikant zum Niveau ***p<0.001, **p<0.01, *p<0.05 nach Kontrolle von Alter- und Ost/West-Unterschieden; Ref. = Referenzkategorie; Veränderung = Durchschnittliche jährliche Veränderung des Unterschieds (OR oder %-diff) zwischen 1990 und 2006.
Datenbasis: RKI-Trend (1984-2005), Alter 25 bis 69 Jahre In Tabelle 16 wird die Entwicklung sozialer Unterschiede in der Chance sportlich aktiv zu sein im Vergleich von vier Zeiträumen dargestellt.137 Bei Männern bestanden zu fast allen Zeitpunkten deutliche sozioökonomische Unterschiede.138 Die Chance aktiv zu sein, war bei hochqualifizierten gegenüber gering qualifizierten Männern zwischen 1990 und 2005 etwa 2,7-fach verringert, im Vergleich der unteren und oberen Erwerbs-, Berufs- und Einkommensgruppe 137 Um die Darstellung zu vereinfachen wird in der Tabelle das Risiko nicht aktiv zu sein dargestellt, die relativen Unterschiede können dadurch als Ausmaß der relativen Verringerung in der Chance auf Aktivität interpretiert werden. Bsp.: Ein Wert von x bedeutet, dass das Risiko von Inaktivität um das x-fache erhöht, bzw. die Chance auf Aktivität dagegen um das x-fache (und damit auf das 1/x-fache) verringert ist. Eine entsprechende Darstellung wurde in allen Tabellen mit positivem Outcome (vgl. selbstberichteter Gesundheitszustand, Gesundheitsbewusstsein) gewählt. 138 Zur Operationalisierung der vier Indikatoren des sozioökonomischen Status vgl. den Abschnitt 3.2 auf den Seiten 145 (Bildung), 154 (Erwerbsbeteiligung), 159 (berufliche Autonomie) und 167 (Einkommen).
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Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
betrugen die Unterschiede das 1,5-, 3,0- bzw. 3,5-Fache. Im Zeitverlauf haben sich die Unterschiede bei Männern insgesamt nicht signifikant verändert, allerdings deutet sich, zumindest bei den Unterschieden zwischen den Berufsstatusund Einkommensgruppen, eine gewisse Verringerung an. Bei Frauen gab es im letzten Untersuchungszeitraum ebenfalls hinsichtlich aller Determinanten des sozioökonomischen Status ausgeprägte Unterschiede zwischen der oberen und der unteren Statusgruppe. Die Differenzen waren allerdings, mit einer – nach Kontrolle für Altersunterschiede – 1,4- bis 2,6-fach erhöhten Chance, insgesamt etwas geringer ausgeprägt als bei Männern. Im Zeitverlauf sind die sozioökonomischen Unterschiede auch bei Frauen zumeist stabil geblieben. Nur im Vergleich von Frauen mit geringer und hoher schulischer und beruflicher Qualifikation haben sich die Unterschiede signifikant verringert. Im Zeitraum 1990 bis 1994 war das Risiko in der unteren Bildungsgruppe ca. 3,0-fach erhöht, zwischen den Jahren 2000 und 2005 betrug die Differenz dagegen nur noch das 2,6Fache. Dies entspricht einer signifikanten jährlichen Verringerung um etwa 2%. Abbildung 40: Veränderung des Anteils der sportlich aktiven Männer nach Sozialindikator Bildung
Erwerbsbeteiligung
Beruf
Einkommen
Veränderung der Prävalenz in % pro Jahr
2.5 2.0 1.5 1.0 0.5 0.0 -0.5 -1.0 -1.5 -2.0 -2.5 niedrig
hoch
niedrig
hoch
niedrig
hoch
niedrig
hoch
Datenbasis: RKI-Trend (1990-2005), Alter 25 bis 69 Jahre Die Darstellung zeigt die mittlere jährliche Veränderung des Anteils sportlich aktiver Männern zwischen 1990 und 2005 (Abbildung 40; zur Konstruktion der Gruppen vgl. Abschnitt B). Es wird jeweils die untere und obere von drei Gruppen auf Basis von vier Determinanten des sozioökonomischen Status be-
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
215
trachtet. Insgesamt gab es nur in einer der dargestellten Gruppen, bei männlichen Vollzeiterwerbstätigen mit hohem beruflichem Status („Beruf hoch“), eine signifikante Veränderung des Anteils von sportlich Aktiven. So ist der Anteil bei diesen Männern jährlich um etwa 0,5 Prozentpunkte gesunken. Auch bei Vollzeiterwerbstätigen mit niedrigem Status war ein leichter, aber nicht signifikanter Rückgang zu beobachten. Die gesunkene sportliche Aktivität ist möglicherweise der Ausdruck einer stärkeren Fokussierung der Männer auf ihren Beruf. So ist auch die Zahl der Überstunden bei Männern in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen (Anger 2006). Die prekäre Arbeitsmarktlage und die hohen und gestiegenen sozialen Unsicherheiten, die mit Arbeitslosigkeit verbunden sind, bilden die Folie, vor der dieser Bedeutungswandel der Erwerbsarbeit verständlich wird. So wollen offenbar gerade die privilegierten männlichen Vollzeiterwerbstätigen in hohen Positionen, aber auch die von Arbeitslosigkeit stärker bedrohten Erwerbstätigen in niedrigen Positionen, die eigene berufliche Stellung mit allen Mitteln – auch auf Kosten der eigenen Gesundheit – absichern. Abbildung 41: Veränderung des Anteils der sportlich aktiven Frauen nach Sozialindikator Bildung
Erwerbsbeteiligung
Beruf
Einkommen
Veränderung der Prävalenz in % pro Jahr
2.5 2.0 1.5 1.0 0.5 0.0 -0.5 -1.0 -1.5 -2.0 -2.5 niedrig
hoch
niedrig
hoch
niedrig
hoch
niedrig
hoch
Datenbasis: RKI-Trend (1990-2005), Alter 25 bis 69 Jahre Bei Frauen gab es in den meisten sozioökonomischen Gruppen zwischen 1990 und 2005 eine deutliche Zunahme der sportlichen Aktivität um 0,5 bis 1,0 Prozentpunkte pro Jahr (Abbildung 41). Einzig bei Frauen mit hoher schulisch beruflicher Qualifikation und bei weiblichen Arbeitslosen war keine Zunahme
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Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
der Aktivität zu verzeichnen. Die signifikante Verringerung der Bildungsunterschiede in der sportlichen Aktivität von Frauen geht demnach auf einen beträchtlichen Anstieg in der unteren und nicht auf einen Rückgang in der oberen Bildungsgruppe zurück. Bei weiblichen Vollzeiterwerbstätigen zeigt sich im Unterschied zu männlichen kein Rückgang der sportlichen Aktivität. Für weibliche Arbeitslose war zwar kein Rückgang der Aktivität, aber die insgesamt nachteiligste Entwicklung seit 1990 zu verzeichnen. Sie haben nicht an der beträchtlichen Steigerung des Aktivitätsniveaus partizipiert. Jährlich ist ihr Abstand zu den Vollzeiterwerbstätigen um durchschnittlich 0,7 Prozentpunkte gewachsen. Insgesamt ist die Entwicklung des Anteils der sportlich aktiven Bevölkerung in Deutschland zwischen 1990 und 2005 mit der Entwicklung in anderen europäischen Staaten gut vergleichbar. In Deutschland wie in anderen europäischen Staaten und auch den USA ist der Anteil der sportlich aktiven Bevölkerung in den letzten Jahren angestiegen. Dabei haben sich die bestehenden Geschlechtsdifferenzen in der sportlichen Aktivität weitgehend aufgelöst, weil der Anteil der sportlich aktiven Frauen besonders schnell angewachsen ist. Hinsichtlich der sportlichen Aktivität zeichnet sich in Deutschland damit kein Trend zu einem sinkenden Aktivitätsniveau in der Bevölkerung ab. Soziale Unterschiede in der Häufigkeit und im ausmaß sportlicher Aktivität haben sich in den meisten Staaten Europas zumindest im Vergleich der 1980er und 1990er Jahre ausgeweitet. Im Unterschied zu anderen Staaten Europas gab es bei Frauen in Deutschland insgesamt keine Ausweitung, sondern eine beträchtliche Verringerung der bestehenden Bildungsunterschiede. Auch bei Männern deutet sich teilweise eine leichte Verringerung, nicht aber eine Ausweitung der bestehenden Unterschiede zwischen den sozioökonomischen Statusgruppen an. Aus Public Health Perspektive ist aber auch festzustellen, dass immer noch ein Drittel der Männer und Frauen in Deutschland überhaupt nicht sportlich aktiv sind. 4.4 Gesundheitsrisiken und Gesundheitszustand Im Verlauf der letzten 150 Jahre hat sich das Krankheitspanorama in allen Staaten Europas grundlegend verändert. Waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch Infektionskrankheiten die dominierende Todesursache, sind es heute chronischdegenerative Erkrankungen mit progredientem Verlauf, an denen die Menschen leiden und sterben (Omran 1971, McKeown 1979, Olshansky und Ault 1986). Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat in ihren Erklärungen von Alma-Ata und Ottawa im Rahmen der „Global Conferences on Health Promotion“ dem veränderten Krankheitspanorama Rechnung getragen und einen erweiterten Gesundheitsbegriff eingeführt, der nicht nur das physische, sondern auch das psy-
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
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chische und soziale Wohlbefinden der Menschen ins Zentrum gesundheitspolitischer Anstrengungen rückt (WHO 1978, 1986). Das Ziel gesundheitspolitischen Handelns wird dabei häufig und zutreffend mit dem einfachen Diktum „Add life to years, not only years to life“ beschrieben. Es stellt sich allerdings die Frage, inwieweit dieses Ziel zu erreichen ist. Viele Forscher gehen davon aus, dass langfristig zwar die vorzeitige Sterblichkeit an chronisch-degenerativen Erkrankungen, nicht aber das Auftreten der Krankheiten selbst zu vermeiden ist. Gerade die immer frühzeitigere Krankheitserkennung und -behandlung würden dazu beitragen, dass die hinzugewonnenen Lebensjahre größtenteils mit Krankheiten und Funktionseinschränkungen verbunden sind (Gruenberg 1977). Es gibt allerdings auch Stimmen, die von der Möglichkeit eines gesunden Lebens bis zu einem biologisch determinierten Ende ausgehen. Ein solches optimistisches Szenario wird von dem amerikanischen Arzt James F. Fries vertreten (Fries 1983, 1988, 2003). Nach seiner Auffassung lässt sich die Entstehung der meisten chronisch-degenerativen Krankheiten verzögern oder sogar verhindern, indem Maßnahmen der Primärprävention forciert betrieben werden. Letztlich lasse sich dadurch die mit gesundheitlichen Einschränkungen verbrachte Lebenszeit immer weiter verkürzen („compression of morbidity“). Die gesundheitliche Lage der Menschen im mittleren Lebensalter wird durch das Auftreten vieler verschiedener Krankheiten und Gesundheitsstörungen beeinträchtigt. Die Krankheitslast wird dabei insbesondere durch Muskel- und Skeletterkrankungen, Stoffwechselkrankheiten, Herz-Kreislauf-Krankheiten und Krebs bestimmt (RKI 2006, S.19). Individuell beinträchtigen diese Erkrankungen die Lebensqualität der Betroffenen und können in schweren Fällen sogar zu ihrem vorzeitigen Tod führen, gesellschaftlich verursachen sie zudem auch hohe Behandlungs- und Folgekosten. In diesen Abschnitt wird mit der Adipositas ein – für die Entstehung vieler Erkrankungen – bedeutender Risikofaktor für die Gesundheit139 analysiert, der bereits vielfach in Zusammenhang mit gesundheitlichen Ungleichheiten diskutiert worden ist (Benecke und Vogel 2003). Anschließend wird auf die Entwicklung sozioökonomischer Unterschiede im selbsteingeschätzten Gesundheitszustand eingegangen. Dieser Indikator hat sich als wichtiges zusammenfassendes Maß des Gesundheitszustandes etabliert. Er spiegelt die subjektiv empfundenen Einschränkungen durch latente oder manifeste Erkrankungen wider und hat sich außerdem auch als guter Prädiktor der Inanspruchnahme des medizinischen Versorgungssystems und sogar des Mortalitätsrisikos erwiesen (vgl. Idler und Benyamini 1997).
139
Weitere wichtige Gesundheitsstörungen, die das Auftreten schwerwiegender Krankheiten im mittleren Lebensalter begünstigen können, sind Bluthochdruck oder krankhaft erhöhte Blutfettwerte (die so genannte ‚Hypercholesterinämie’; vgl. RKI 2006, S. 113ff).
218
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
4.4.1 Adipositas Übergewicht ist „eine Erhöhung des Körpergewichts durch eine über das Normalmaß hinausgehende Vermehrung des Körperfettanteils“ (Bennecke und Vogel 2005). Es werden verschiedene Möglichkeiten zur Diagnose und Abgrenzung von Übergewicht und Adipositas angewendet (vgl. Wirth 2000, S. 3ff). Als ‚Goldstandard’ gilt die Bestimmung des Körperfettanteils durch vollständiges Wiegen unter Wasser (Densiometrie) oder Computer- und Kernspintomographie. Diese beiden kostenintensiven Verfahren gehen allerdings mit hohen Belastungen für die Probanden einher und werden in gesundheitswissenschaftlichen Datenerhebungen darum kaum angewendet. Der Body-Mass-Index (BMI) ist dagegen ein in Wissenschaft und medizinischer Praxis häufig verwendetes und einfach anzuwendendes Instrument zur Diagnose von Übergewicht.140 Er ist der Quotient aus Körpergewicht (in Kilogramm) und der quadrierten Körpergröße (in Metern) einer Untersuchungsperson und korreliert stark mit dem tatsächlichen Körperfettanteil (Bennecke und Vogel 2005). Es konnte auf Basis verschiedener Datenquellen gezeigt werden, dass Selbstangaben von Befragten relativ gut mit Messdaten für Körpergröße und -gewicht übereinstimmen (Gorber 2007). Im Vergleich zu den Messwerten wurde in den Selbstangaben der BMI um durchschnittlich 1 kg/m² unterschätzt. Tabelle 17: Klassifikation des BMI von Erwachsenen Bezeichnung
BMI
Untergewicht Normalgewicht Übergewicht (auch Präadipositas)
<18,50 18,50-24,99 25,00-29,99
Adipositas Grad I
30,00-34,99
Adipositas Grad II Adipositas Grad III
35,00-39,99 40,00
Quelle: Richtlinien der WHO (WHO 2000) Nach Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation WHO werden bei Erwachsenen anhand ihres BMI insgesamt sechs Bereiche von Unter-, Normal- und 140
Weitere gebräuchliche Maße sind etwa der Broca-Index, das Waiste-to-Hip-Ratio und der über Hautfaltendicke oder bioelektrische Impedanzanalyse bestimmte Körperfettanteil (Bennecke und Vogel 2005).
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
219
Übergewicht unterschieden (Tabelle 17). Übergewicht, also ein BMI zwischen 25 und unter 30 kg/m², wird dabei noch nicht als ein besonderes Gesundheitsrisiko eingestuft. Vielmehr haben aktuelle Studien ergeben, dass Personen mit leichtem Übergewicht eine gegenüber Normal- und Untergewichtigen erhöhte Lebenserwartung haben (Flegal et al. 2005). Sehr hohes Übergewicht, die so genannte ‚Adipositas’, wird dagegen als ein beträchtliches Gesundheitsrisiko eingestuft und ist mit vielen Krankheitsbildern und Beschwerden assoziiert (Bennecke und Vogel 2005). Hinsichtlich ihrer Ätiologie werden zwei Formen von Adipositas unterschieden (Bennecke und Vogel 2005, S. 7): Primäre Adipositas ist die häufigere Form, sie wird durch eine zu hohe Energiezufuhr verursacht. Sekundäre Adipositas ist sehr selten und lässt sich auf angeborene Hormondefekte zurückführen, die einen veränderten Fettstoffwechsel zur Folge haben. Ein wichtiger Einflussfaktor auf eventuelle Folge- und Begleiterkrankungen des Übergewichts ist auch die Verteilung des Körperfetts im Organismus, die überwiegend genetisch bestimmt ist. Bei übergewichtigen Männern finden sich größere Teile des Fettgewebes an Bauch und Körperstamm (‚Apfelform’), dies wird als androides Fettverteilungsmuster bezeichnet. Bei Frauen befindet sich das Körperfett dagegen vermehrt an Hüften und Oberschenkeln (‚Birnenform’), dies wird als gynoides Muster bezeichnet. Es konnte gezeigt werden, dass eine androide Fettverteilung mit einem höheren Erkrankungsrisiko verbunden ist (Wirth 2000, S. 6ff). Zu den Gesundheitsstörungen und Krankheiten, die mit schwerem Übergewicht assoziiert werden, zählen vor allem (ebd., S. 15ff):
Bluthochdruck Koronare Herzkrankheiten Schlaganfall Typ 2-Diabetes Fettstoffwechselstörungen Hyperurikämie und Gicht Krebs
Aufgrund ihrer höheren Krankheitslast haben adipöse Männer und Frauen einen deutlich erhöhten medizinischen Versorgungsbedarf (Sturm 2002, Andreyeva et al. 2004). Die direkten Kosten für ihre Versorgung sind im Vergleich zu Normalgewichtigen gleichen Alters bei der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen um 30% erhöht, die Ausgaben für Medikamente bei Adipösen betragen in den USA sogar 200% der Ausgaben für Normalgewichtige (Sturm 2002). Hinzu kommen noch weitere – zumeist indirekte – Kosten durch Arbeitsausfallzeiten. Zusammengenommen betrugen die geschätzten Mehrausgaben für die Versorgung adipöser Männer und Frauen in den USA im Jahr 1998 78,5 Mrd.
220
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
US-$ und stiegen bis zum Jahr 2002 auf 92,6 Mrd. US-$ (Finkelstein et al. 2003). Ähnliche Analysen gibt es auch für Deutschland (John et al. 2005). Die geschätzte jährliche Differenz bei den direkten Kosten beträgt hier 527 € für Adipositas Klasse 1 bzw. 3383 € für Klasse 2+3 (von Lengerke et al. 2006). Setzt man die gesamten Kosten mit der geschätzten Anzahl von Adipösen ab 18 Jahren in der BRD in Beziehung (Destatis 2004), so bedeuten die 8,7 Mio. Adipösen allein im Jahr 2003 geschätzte Mehrkosten für das Gesundheitssystem und die Arbeitsgeber von ca. 4,6 Mrd. €.141 Ältere Schätzungen anhand von Daten aus dem Jahr 1996 gehen (je nach Modell) von jährlichen Mehrkosten in Höhe von umgerechnet 7,75 bis 13,55 Mrd. € aus (Schneider 1996). In vielen westlichen Staaten stellt sich Adipositas heute als ein weit verbreitetes Gesundheitsrisiko dar. Die Prävalenz von Adipositas in der Bevölkerung bewegt sich in den meisten europäischen Staaten im Bereich von 10% bis 20% (Elmadfa und Weichselbaum 2005). Besonders hohe Anteile von adipösen Männern und Frauen (>20%) finden sich in England, Griechenland und Ungarn. Die zeitliche Entwicklung der Adipositas war, insbesondere in den USA, in den 1990er Jahren durch eine dramatische Zunahme der Prävalenz in der Bevölkerung gekennzeichnet. Die Ausbreitung der Adipositas glich in den USA der Ausbreitung von Infektionskrankheiten zu Beginn des letzten Jahrhunderts, so dass häufig auch von einer ‚Adipositas-Epidemie’ gesprochen wurde (Flegal et al. 1998, Ezzati et al. 2006). Nach Ergebnissen der Nationalen Gesundheitssurveys der USA stieg der Anteil von adipösen Personen in der erwachsenen Bevölkerung zwischen 1988 und 2002 von 16% auf 29% bei Männern und von 21,5% auf 34,5% bei Frauen (Flegal et al. 1998, Ezzati et al. 2006). Aktuelle Daten der CDC aus dem Zeitraum 2005-06 für die 20-jährige und ältere Bevölkerung der USA waren etwa 33,3% der Männer und sogar 35,3% der Frauen adipös (Ogden et al. 2007). Damit scheint sich zwar in den USA der dramatische Anstieg der 1990er Jahre nicht weiter fortzusetzen, ein Rückgang der Adipositas, im Sinne der Healthy People 2010 Initiative – die die Prävalenz auf maximal 15% senken möchte – deutet sich allerdings nicht an. Im Verlauf der 1990er Jahre gab es auch in einigen Staaten Europas eine deutliche Zunahme des Anteils von Adipositas in der Bevölkerung. Ein Anstieg wird etwa aus England, Schweden, Finnland und Spanien bei erwachsenen Männern und Frauen berichtet (Seidell 1995). Vor allem in England stellt sich die Entwicklung dabei ähnlich deutlich wie in den USA dar. So hat sich die Prävalenz von Adipositas allein zwi-
141 Diese Schätzung ist vergleichsweise konservativ. Sie beruht auf der Annahme, dass alle Adipösen lediglich den Versorgungsbedarf von Adipositas des Typs 1 (BMI 30-35) haben. Die realen Kosten sind daher wahrscheinlich höher. Zudem wurden Kosten zur Versorgung von Kindern und Jugendlichen nicht betrachtet.
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
221
schen 1980 und 1994 bei 16- bis 64-jährigen Männern und Frauen von 6% auf 15% bzw. 8% auf 16% mehr als verdoppelt. Deutschland gehört zu den europäischen Staaten mit einem relativ hohen Anteil adipöser Männer und Frauen (Seidell 1995). Messwerte auf Basis des Bundesgesundheitssurvey 1998 weisen für 18- bis 79-jährige aus, dass in den alten Bundesländern 18% bzw. 21% der Männer und Frauen adipös sind, in den neuen Bundesländern betrugen die entsprechenden Anteile 21% bzw. 24% (Bergmann und Mensink 1999). In einer weiteren Studie wurden die Nationalen Untersuchungssurveys, der Bundesgesundheitssurvey 98 und drei telefonische Befragungen der Bertelsmannstiftung im Hinblick auf die Entwicklung des Adipositasrisikos in der Bundesrepublik zwischen 1985 und 2002 ausgewertet (Helmert und Strube 2004). Die Ergebnisse sprachen für eine Ausweitung der Prävalenz von Adipositas seit 1985. Ergebnisse der 2. Nationalen Verzehrstudie sprechen für den Zeitraum 1998 bis 2006 dagegen nicht für eine weitere Zunahme des Adipositasrisikos (NVS2, vgl. Brombach et al. 2006, Krems et al. 2006, BMLV 2008). Aus dieser repräsentativen Studie liegen für etwa 20.000 Männer und Frauen im Alter zwischen 14 und 80 Jahren standardisierte Messwerte zu Körpergröße und Körpergewicht vor. Für das Risiko von Adipositas sind bereits häufig ausgeprägte sozioökonomische Unterschiede dokumentiert worden. So liegen aus den USA für den Zeitraum 1992 bis 1996 Befunde vor, nach denen das Risiko von Adipositas in den unteren Bildungsgruppen signifikant erhöht war (Paeratakul et al. 2002). Die Prävalenz von Adipositas betrug in der unteren von drei Bildungsgruppen etwa 23%, in den Vergleichsgruppen mit hoher Bildung dagegen nur etwa 17%. Unterschiede im Risiko von Adipositas sind in den USA bestehen vor allem bei Männern und Frauen im mittleren Alter (Zhang und Wang 2004). Allerdings variieren nicht nur das Risiko, sondern auch die gesundheitlichen Folgen der Adipositas zwischen den sozioökonomischen Gruppen. Adipöse Befragte mit niedrigem sozioökonomischem Status hatten häufiger Diabetes mellitus, Hypertonie oder einen Herzinfarkt. Auch in Europa bestehen ausgeprägte sozioökonomische Unterschiede in der Prävalenz von Adipositas. In einer aktuellen vergleichenden Studie unter 19 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union war das Risiko von Männern mit geringer Bildung gegenüber Männern mit hoher Bildung durchschnittlich 2-fach erhöht (Mackenbach et al. 2008). In Norwegen und Frankreich waren die Bildungsunterschiede besonders stark ausgeprägt, während die Unterschiede in England und den neuen Mitgliedsstaaten der EU besonders gering waren. Bei Frauen waren die Bildungsunterschiede sogar noch stärker ausgeprägt und in der unteren Bildungsgruppe etwa 3-fach erhöht. Die Unterschiede waren in Frankreich und den südeuropäischen Staaten besonders groß
222
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
und in England sowie den neuen osteuropäischen Mitgliedsstaaten vergleichsweise gering. Im Zuge der allgemeinen Zunahme des Risikos in den USA sind die sozioökonomischen Unterschiede im Risiko von Adipositas seit den späten 1970er Jahren vergleichsweise konstant geblieben und teilweise sogar gesunken. Eine Studie hat dies für den Zeitraum 1979 bis 1999 im Vergleich von reichen und armen Regionen beschrieben (Lorant und Tonglet 2000). Eine weitere Studie konnte eine entsprechende Entwicklung auch auf der Individualebene für den Vergleich von Einkommensgruppen nachzeichnen (Chang und Lauderdale 2005). Aktuelle und differenzierte Ergebnisse zur Entwicklung in den Bundesstaaten der USA zwischen 1990 und 2004 beschreiben einen Rückgang der Bildungsunterschiede bei Männern und Frauen (Harper et al. 2007). In 36 der 50 US-Bundesstaaten wurde eine signifikante Reduktion der Bildungsunterschiede im Risiko von Adipositas beobachtet. Im Unterschied dazu haben sich die sozioökonomischen Unterschiede im Risiko von Adipositas in Europa im Verlauf der 1980er und 1990er Jahre eher ausgeweitet. So ist die Prävalenz von Adipositas in vielen Staaten in den unteren Statusgruppen deutlich schneller als in den oberen gestiegen. Eine Langzeitstudie aus Schweden beschreibt etwa für den Zeitraum 1970-2000 eine Ausweitung sozialer Unterschiede im Adipositasrisiko bei 18jährigen Jungen (Kark und Rasmussen 2005). Demnach ist die Prävalenz bei Söhnen von Müttern mit niedrigen Bildungsabschlüssen deutlich schneller als bei Söhnen von Müttern mit hohen Abschlüssen gestiegen. Auch für Erwachsene verweist eine finnische Studie für den Zeitraum 1972 bis 1992 auf gestiegene Bildungsungleichheiten (Pietinen et al. 1996). So ist das Risiko von Adipositas in den unteren Bildungsgruppen deutlich schneller als in den oberen gestiegen. Für Dänemark liegen für die Entwicklung zwischen 1982 und 1992 Befunde vor, die ebenfalls auf eine Ausweitung der Bildungsunterschiede bei Männern und Frauen hinweisen (Heitmann 2000). Damit deutet sich in Nordeuropa eine allgemeine Ausweitung der Bildungsunterschiede im Verlauf der 1980er und 1990er Jahre an. Die Ergebnisse einer spanischen Studie sprechen ebenfalls für eine Ausweitung von Bildungsunterschiede im Risiko von Adipositas zwischen den Jahren 1987 und 1995-97 (Gutierrez-Fisac et al. 2000). So ist die Prävalenz der Adipositas bei Männern und Frauen in der unteren Bildungsgruppe mit 4,6 bzw. 4,9 Prozentpunkten deutlich schneller gestiegen als in der oberen Bildungsgruppe (4,0 bzw. 0,7 Punkte). Aus den Niederlanden wird dagegen eine Abnahme der Differenzen bei Männern und Frauen zwischen 1981 und 2004 beschrieben (Schokker et al. 2007, vgl. auch Visscher et al. 2002). Die Daten sprechen ab Mitte der 1990er Jahre für eine Abnahme der relativen Unterschiede zwischen den Bildungsgruppen bei einer deutlichen Zunahme des Adipositasri-
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
223
sikos. Auch Analysen aus Italien sprechen beim mittleren BMI gegen eine Zunahme von Bildungsunterschieden (Kirchengast et al. 2004). Für Deutschland liegen bisher nur wenige Analysen zur Entwicklung von sozialen Unterschieden im Risiko von Adipositas bei Erwachsenen vor. Die Daten der drei Nationalen Untersuchungssurveys im Rahmen der DHP-Studie weisen für den Zeitraum 1985 bis 1991 in den alten Bundesländern auf einen Anstieg der Prävalenz von Adipositas hin, der mit sinkenden Unterschieden im Adipositasrisiko nach Sozialstatus einhergegangen ist (Hoffmeister und Hüttner 1995). In einer weiteren Studie wurden die Nationalen Untersuchungssurveys, der Bundesgesundheitssurvey 98 und drei telefonische Befragungen der Bertelsmannstiftung im Hinblick auf die Entwicklung des Adipositasrisikos in der Bundesrepublik zwischen 1985 und 2002 ausgewertet (Helmert und Strube 2004). Die Ergebnisse sprachen nicht für eine Ausweitung sozioökonomischer Unterschiede im Risiko von Adipositas. Verglichen wurden fünf Gruppen auf Basis eines mehrdimensionalen Indexes des sozialen Risikos. In weiterführenden Analysen wurde die letzte Welle der Nationalen Untersuchungssurveys (NUS t2) mit dem Bundesgesundheitssurvey 1998 im Hinblick auf die Veränderung sozialer Unterschiede untersucht (Icks et al. 2007). Es zeigte sich dabei – nach Kontrolle für Alter und Geschlecht – eine leichte, allerdings nicht statistisch signifikante Verringerung der Bildungsunterschiede. Auf Basis der verwendeten Gesundheitssurveys des Robert Koch-Instituts kann die Entwicklung der Prävalenz von Adipositas bis zum Jahr 2005 verfolgt werden. Für die Zeit bis 1998 stehen dabei Ergebnisse standardisierter Messungen von Körpergewicht und Körpergröße zur Verfügung, die von speziell geschultem Personal durchgeführt wurden. Für die Telefonischen Gesundheitssurveys 2003, 2004 und 2005 kann dagegen lediglich auf Selbstangaben der Befragten zurückgegriffen werden (vgl. Mensink et al. 2005). Wie die Ergebnisse des Reviews von Gorber et al. (2007) gezeigt haben, wird der BMI auf Basis von Selbstangaben leicht unterschätzt. In den nachfolgenden Analysen wurde versucht, diesem Problem durch die Anwendung von Korrekturfaktoren zu begegnen (Mensink et al. 2005). Sie wurden auf Basis des ersten Nationalen Untersuchungssurveys (NUSt0) berechnet, bei dem sowohl Selbstangaben als auch biometrische Messungen für die beiden Parameter zur Verfügung standen.
224
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
Abbildung 42: Anteil von Adipositas nach Jahr, Geschlecht und Region West
Ost
Gesamt
30
Adipositas in %
25
20
15
10
5
0 1984-89
1990-94
1995-99
2000-05
1984-89
1990-94
Männer
1995-99
2000-05
1984-89
1990-94
1995-99
2000-05
Frauen
Hinweis: Bis 1998 Messwerte für Körpergröße und Körpergewicht, nach 1998 korrigierte Selbstangaben.
Datenbasis: RKI-Trend (1984-2005), Alter 25 bis 69 Jahre Abbildung 42 beschreibt die Entwicklung der Prävalenz von Adipositas (BMI>=30) für die 25- bis 69-jährige Bevölkerung differenziert nach Geschlecht und Wohnregion. Insgesamt deuten die Daten nicht auf einen fortgesetzten Anstieg des Risikos von Adipositas in der 25- bis 69-jährigen Bevölkerung hin. Die Entwicklung in der westdeutschen Bevölkerung spricht zwischen 1984 und 1998 für eine moderate Zunahme von Adipositas bei Männern und Frauen. Nach 1998 ist die Prävalenz von Adipositas in Westdeutschland dagegen nach den Daten der Gesundheitssurveys des RKI nicht weiter gestiegen. In den neuen Bundesländern gab es seit 1992 bei Frauen einen leichten Rückgang und bei Männern eine leichte Zunahme der Prävalenz. Aufbauend auf diesen Entwicklungen ergibt sich für das vereinigte Deutschland seit 1990 bei Männern ein nichtsignifikanter Anstieg von jährlich durchschnittlich 0,06 Prozentpunkten und bei Frauen ein signifikanter Rückgang um jährlich durchschnittlich 0,16 Prozentpunkte.
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
225
Tabelle 18: Entwicklung sozialer Unterschiede im Risiko von Adipositas nach Sozialindikator, Geschlecht und Jahr Bildung
Erwerbsstatus
Beruf
Einkommen
OR
%-diff Sign.
OR
%-diff Sign.
OR
%-diff Sign.
OR
%-diff Sign.
1984-89
2,13
10%
***
1,08
0%
ns
1,48
5%
*
1,66
7%
**
1990-94
2,52
14%
***
0,78
-4%
ns
1,41
5%
**
1,47
8%
*
1995-99
1,79
10%
***
1,04
3%
ns
1,29
2%
ns
1,95
10%
**
2000-05
1,91
11%
***
1,31
7%
*
1,64
6%
***
1,83
9%
***
Veränderung -2%
-3%
ns
4%
11%
*
1%
0%
ns
2%
2%
ns
Männer
Frauen 1984-89
6,19
18%
***
0,54
-10% ns
3,43
15%
***
3,60
16%
***
1990-94
4,24
22%
***
1,10
-2%
ns
2,06
14%
***
2,39
19%
***
1995-99
4,65
23%
***
1,32
6%
ns
3,92
18%
***
2,51
14%
***
2000-05
2,88
19%
***
1,43
10%
**
2,05
10%
***
2,92
15%
***
Veränderung -4%
-3%
*
2%
11%
ns
1%
-4%
ns
2%
-3%
ns
Legende: Bildung (CASMIN 1 vs. CASMIN 3); Erwerbsstatus (arbeitslos vs. Vollzeit beschäftigt); Beruf (nur Vollzeitbeschäftigte: niedrige Autonomie vs. hohe Autonomie); Einkommen (Armutsrisikogruppe <60% vs. relativer Wohlstand >150%); °Früheres Bundesgebiet; OR = Odds Ratio; %-diff = Prozentsatzdifferenz; Sign.= Signifikant zum Niveau ***p<0.001, **p<0.01, *p<0.05 nach Kontrolle von Alter- und Ost/West-Unterschieden; Ref. = Referenzkategorie; Veränderung = Durchschnittliche jährliche Veränderung des Unterschieds (OR oder %-diff) zwischen 1990 und 2006. Hinweis: Bis 1998 Messwerte für Körpergröße und Körpergewicht, nach 1998 Selbstangaben auf Basis telefonischer Befragungen.
Datenbasis: RKI-Trend (1984-2005), Alter 25 bis 69 Jahre In Tabelle 18 wird das Ausmaß gesundheitlicher Ungleichheiten im Vergleich der jeweils oberen und unteren Statusgruppe von vier Determinanten des sozioökonomischen Status für Männer und Frauen in vier Zeiträumen verglichen.142 Bei Männern und Frauen sind bildungsbezogene Unterschiede im Risiko von Adipositas besonders stark ausgeprägt, bei Frauen zeigen sich zudem auch ausgeprägte berufsstatusbezogene Unterschiede und deutliche Differenzen zwischen den Einkommensgruppen. Insgesamt sind die sozioökonomischen Unterschiede im Risiko von Adipositas in allen Untersuchungszeiträumen bei Frauen größer als bei Männern. Im Zeitverlauf lässt sich bei Männern ein leichter und bei Frauen ein deutlicher Rückgang der Unterschiede im Vergleich der Bildungsgruppen ausmachen. Die Differenzen im Adipositasrisiko zwischen ar142
Zur Operationalisierung der vier Indikatoren des sozioökonomischen Status vgl. den Abschnitt 3.2 auf den Seiten 145 (Bildung), 154 (Erwerbsbeteiligung), 159 (berufliche Autonomie) und 167 (Einkommen).
226
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
beitslosen und vollzeiterwerbstätigen Männern und Frauen haben sich sukzessive vergrößert. Während arbeitslose Männer und Frauen zu Beginn der 1990er Jahre gegenüber Vollzeiterwerbstätigen noch kein signifikant erhöhtes Risiko von Adipositas aufwiesen, war ihr Risiko im Zeitraum 2000-5 bereits signifikant um 31% bzw. 43% erhöht. Überprüft man die Entwicklung der sozioökonomischen Unterschiede im Adipositasrisiko auf ihre statistische Bedeutsamkeit, erweisen sich nur der Anstieg der Unterschiede zwischen Arbeitslosen und Vollzeitbeschäftigten um jährlich 4% bei Männern und der Rückgang der Bildungsunterschiede bei Frauen um jährlich ebenfalls 4% als statistisch bedeutsam. Abbildung 43: Veränderung der Prävalenz von Adipositas bei Männern nach sozioökonomischem Status Bildung
Erwerbsbeteiligung
Beruf
Einkommen
Veränderung der Prävalenz in % pro Jahr
2.5 2.0 1.5 1.0 0.5 0.0 -0.5 -1.0 -1.5 -2.0 -2.5 niedrig
hoch
niedrig
hoch
niedrig
hoch
niedrig
hoch
Hinweis: Bis 1998 Messwerte für Körpergröße und Körpergewicht, nach 1998 Selbstangaben
Datenbasis: RKI-Trend (1990-2005), Alter 25 bis 69 Jahre In Abbildung 43 wird die durchschnittliche Veränderung der Prävalenz von Adipositas im Vergleich der oberen und unteren Gruppe hinsichtlich vier Dimensionen des sozioökonomischen Status zwischen 1990 und 2005 bei Männern dargestellt. Insgesamt zeigt sich dabei insbesondere bei arbeitslosen Männern und bei Männern in der Armutsrisikogruppe eine deutliche Zunahme der Prävalenz von Adipositas um jährlich durchschnittlich 0,7 bzw. 0,6 Prozentpunkte. Bei Männern mit universitären Bildungsabschlüssen wurde ebenfalls eine signifikante, aber eher geringe Zunahme des Risikos von jährlich 0,3 Prozentpunkten
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
227
beobachtet. Eine signifikante Verringerung des Adipositasrisikos gab es dagegen in keiner der verglichenen sozioökonomischen Gruppen. Besonders deutlich unterscheidet sich die Entwicklung der Adipositas im Vergleich von arbeitslosen und vollzeiterwerbstätigen Männern. Abbildung 44: Veränderung der Prävalenz von Adipositas bei Frauen nach sozioökonomischem Status Bildung
Erwerbsbeteiligung
Beruf
Einkommen
Veränderung der Prävalenz in % pro Jahr
2.5 2.0 1.5 1.0 0.5 0.0 -0.5 -1.0 -1.5 -2.0 -2.5 niedrig
hoch
niedrig
hoch
niedrig
hoch
niedrig
hoch
Hinweis: Bis 1998 Messwerte für Körpergröße und Körpergewicht, nach 1998 Selbstangaben.
Datenbasis: RKI-Trend (1990-2005), Alter 25 bis 69 Jahre Bei Frauen haben sich die bildungsbezogenen Unterschiede im Adipositasrisiko seit 1990 verringert, während sich die Differenzen zwischen weiblichen Arbeitslosen und Vollzeitbeschäftigten ausgeweitet haben. Aus Abbildung 44, in der die durchschnittliche Entwicklung der Prävalenz von Adipositas in den verglichenen sozioökonomischen Gruppen differenziert dargestellt wird, geht hervor, dass diese veränderten Ungleichheiten auf verschiedene Prozesse zurückzuführen sind. Die Angleichung der Bildungsunterschiede im Adipositasrisiko bei Frauen ist nicht durch eine Verringerung der Prävalenz in der unteren Bildungsgruppe, sondern durch einen signifikanten Anstieg der Prävalenz von jährlich 0,3 Prozentpunkten in der oberen Bildungsgruppe bedingt. Im Vergleich von arbeitslosen und vollzeiterwerbstätigen Frauen haben sich die Unterschiede dagegen ausgeweitet, weil die Prävalenz bei den arbeitslosen Frauen leicht und nicht signifikant um jährlich 0,1 Prozentpunkte gestiegen und bei Vollzeiterwerbstätigen um -0,2 Punkte gesunken ist. Im Zuge der Veränderungen auf dem Arbeits-
228
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
markt könnte dieses Ergebnis auf eine verstärkte Selektion zwischen ‚Normal’und Übergewichtigen und damit auf eine Diskriminierung von Adipösen zurückzuführen sein. Insgesamt ist dem internationalen Forschungsstand eine besondere Dynamik der Entwicklung beim Risiko von Adipositas zu entnehmen. In vielen Staaten ist nicht nur das allgemeine Risiko des starken Übergewichts, sondern auch das Ausmaß der sozialen Unterschiede deutlich gestiegen. In Deutschland deutet sich, im Unterschied zu anderen europäischen Staaten und zu den USA, keine fortgesetzte Zunahme der adipösen Bevölkerung an. Während Daten für Kinder und Jugendliche auf einen Anstieg der Prävalenz hindeuten (vgl. Kurth und Schaffrath-Rosario 2007), spiegeln die vorliegenden Daten für Erwachsene bisher keine entsprechende Entwicklung wider. Weder auf Basis der telefonischen Gesundheitssurveys des Robert Koch-Instituts noch auf Basis der 2. Nationalen Verzehrstudie deutet sich eine fortgesetzte Adipositas-Epidemie in Deutschland an. Im Vergleich der sozioökonomischen Statusgruppen weisen die Befunde bei Männern und Frauen – analog zur Entwicklung in den USA und den südeuropäischen Staaten Italien und Spanien – auf eine Verringerung der Bildungsunterschiede im Adipositasrisiko hin. Zugleich haben allerdings die Differenzen in der Prävalenz im Vergleich von arbeitslosen und vollzeitbeschäftigten Männern deutlich zugenommen, weil das Risiko unter männlichen Arbeitslosen beträchtlich angestiegen ist, während es bei vollzeiterwerbstätigen Männern stagnierte. 4.4.2 Subjektive Gesundheit Angesichts einer erweiterten Definition von ‚Gesundheit’ durch die Weltgesundheitsorganisation WHO, die neben der körperlichen auch die psychische und die soziale Dimension von Gesundheit berücksichtigt (vgl. WHO 1978, 1986), wird der subjektiv empfundene Gesundheitszustand der Bevölkerung, als Ergänzung zu Gesundheitsindikatoren wie Morbidität und Mortalität, die sich auf objektive medizinische Befunde und epidemiologische Daten stützen, zu einer wichtigen Bezugsgröße bei der Beurteilung des Erfolgs gesundheitspolitischen Handelns. Die Wahrnehmung des eigenen Körpers und das subjektive Wohlbefinden sind wesentliche Bedingungen dafür, ob sich jemand als gesund oder krank erlebt (Brähler et al. 2009). Dabei kann das, was als ‚normales’ Befinden zu betrachten wird, von Person zu Person stark variieren. Zur Operationalisierung des subjektiven Erlebens von Gesundheit bzw. Krankheit werden daher verschiedene Konzepte mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung verfolgt: Befragte sollen ihren allgemeinen Gesundheitszustand bewerten, wahrgenommene Einschränkungen bei der Ausführung von alltäglichen oder außergewöhnlich anstrengenden Tätigkeiten beschreiben oder ihre allgemeine Zufriedenheit mit der eigenen Gesund-
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
229
heit angeben. Ein besonders häufig verwendetes und einfach zu erhebendes Maß der subjektiv erlebten Gesundheit ist die Selbsteinschätzung des allgemeinen Gesundheitszustandes (engl. „self-rated health“). Der Indikator wird zumeist über Varianten der Frage „Wie ist Ihr Gesundheitszustand im Allgemeinen?“ operationalisiert. Dabei werden fünf Antwortmöglichkeiten, die häufig von „sehr gut“ bis „sehr schlecht“ reichen, vorgegeben. Der selbsteingeschätzte allgemeine Gesundheitszustand hat sich dabei als guter und verlässlicher Prädiktor von Gesundheitsstörungen und Mortalität sowie der Inanspruchnahme des medizinischen und pflegerischen Versorgungssystems herausgestellt (Lundberg und Manderbacka 1996). Befragungspersonen legen sehr verschiedene Bewertungskriterien an, wenn sie auf die Frage nach ihrer Einschätzung des eigenen Gesundheitszustands antworten (Krause und Jay 1994, Sing-Manoux et al. 2007). Allerdings spricht vieles dafür, dass vor allem die Wahrnehmung der psychischen und physischen Gesundheit für die Bewertung des eigenen Gesundheitszustandes ausschlaggebend ist. Daneben werden aber auch aktuelle Gesundheitsprobleme, der Fitnesszustand oder das aktuelle bzw. geplante Gesundheitsverhalten berücksichtigt. So zeigen Ergebnisse auf Basis von zwei großen Kohortenstudien aus England (Whitehall II) und Frankreich (GAZEL) übereinstimmend, dass etwa 20% der Variation in der Selbsteinschätzung der eigenen Gesundheit auf die physische Gesundheit und etwa 10% auf die psychosoziale Gesundheit der Probanden zurückgeführt werden können (Sing-Manoux et al. 2007). Das Alter, der familiäre Hintergrund und das Gesundheitsverhalten der Befragten konnten dagegen zusammengenommen weniger als 5% der Variation des selbstberichteten Gesundheitszustandes erklären. Ähnliche Ergebnisse liegen auch auf Basis einer Panelstudie aus Kanada vor (Bailis et al. 2003). Innerhalb von nur zwei Jahren änderte sich die selbstberichtete Gesundheit bei etwa 50% der Studienteilnehmer. Die Veränderungen hingen ebenfalls vor allem von der Veränderung und dem Ausmaß physischer oder psychischer Krankheitssymptome ab. Die selbsteingeschätzte Gesundheit hat sich zudem in vielen Studien als starker Prädiktor der Mortalität erwiesen (Mossey und Shapiro 1982, Idler und Benyamini 1997, Benyamini et al. 2003, Burström und Fredlund 2001, Müters et al. 2005, Huismann et al. 2007). In einem großen Review zeigte sich, dass der selbsteingeschätzte Gesundheitszustand unabhängig davon, ob weitere medizinisch-objektivierbare Gesundheitsindikatoren einbezogen wurden, ein aussagekräftiger Prädiktor des Mortalitätsrisikos von Probanden ist. Dies trifft in besonderem Maße für die kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit zu (Benyamini et al. 2003, Müters et al. 2005). Ob die prädiktive Kraft des Indikators vom sozioökonomischen Status der Befragten abhängt, ist bisher allerdings umstritten. Einige Ergebnisse deuten darauf hin, dass der Zusammenhang zwischen selbstberichte-
230
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
ter Gesundheit und Mortalitätsrisiko durch den sozioökonomischen Status der Befragten beeinflusst wird (Huismann et al. 2007, Dowd und Zajacova 2007): Mit zunehmender Bildung und steigendem Einkommen wird der Zusammenhang zwischen selbstberichtetem Gesundheitszustand und Mortalitätsrisiko enger. Andere Studien konnten dagegen keinen entsprechenden Zusammenhang nachweisen (Burström und Fredlund 2001). Insgesamt betrachtet hat sich der Indikator empirisch in unterschiedlichen kulturellen Kontexten und auf Basis verschiedener quer- und längsschnittlicher Datenerhebungen empirisch bewährt. So sprechen Studien zur Validierung der selbsteingeschätzten Gesundheit dafür, dass dieser Indikator als ein ganzheitliches Maß der Gesundheit angesehen werden kann, das die physische und psychosoziale Gesundheit eines Menschen gut widerspiegelt (Benyamini et al. 2003, Müters et al. 2005). Die Selbsteinschätzung der eigenen Gesundheit ist aber nicht nur ein aussagekräftiger Gesundheitsindikator, sondern auch eine wichtige Ursache für die Inanspruchnahme des medizinischen Versorgungssystems. So zeigt sich, dass Männer und Frauen, die ihre Gesundheit subjektiv als schlecht einstufen, medizinische Versorgungsleistungen deutlich häufiger in Anspruch nehmen (Schwartz et al. 2003, S. 43). Dabei besteht je nach dem Symptombewusstsein der Akteure sowohl das Problem einer unnötig hohen als auch die Gefahr einer zu seltenen Inanspruchnahme des Versorgungssystems. Letztere betrifft insbesondere chronisch-degenerative Erkrankungen wie Gefäßerkrankungen und Karzinome, deren Symptome erst spät manifest werden. Ergebnisse einer finnischen Kohortenstudie sprechen dafür, dass Männer und Frauen innerhalb eines Jahres umso häufiger einen Arzt aufsuchen, je schlechter sie ihren eigenen Gesundheitszustand zu Beginn des Jahres bewerten (Miilunpalo et al. 1997). Auch eine schwedische Längsschnittstudie mit einem dreimonatigen follow-up der Arztkontakte zeigt einen vergleichbaren Zusammenhang (Al-Windi et al. 2002). So hatten Männer und Frauen, die ihren eigenen Gesundheitszustand selbst als „schlecht“ bewerteten, auch nach Kontrolle für soziodemographische Merkmale und das Vorliegen chronischer Erkrankungen, das mehr als 2-fach erhöhte Risiko, einen Arzt aufzusuchen, und ein fast 3-fach erhöhtes Risiko, dabei hohe Kosten zu verursachen. Aus Deutschland liegen auf Basis des Bundesgesundheitssurvey 1998 und des Telefonischen Gesundheitssurveys 2003 ebenfalls Befunde vor, die für Erwachsene auf einen Zusammenhang zwischen subjektiver Gesundheit und der Kontakthäufigkeit mit Ärzten hindeuten (Brähler et al. 2009). Während 80% der Befragten, die ihren Gesundheitszustand als „schlecht“ bewerteten, in den letzten vier Wochen einen Arzt aufgesucht hatten, traf dies nur auf 20% der Befragten zu, die den eigenen Gesundheitszustand als „ausgezeichnet“ bewertet haben. Bei Kindern wurde ein vergleichbarer Zusammenhang beobachtet (Kamtsiuris et al. 2007). So hatten Kinder deutlich häufiger Arzt-
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
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kontakte, wenn sie oder ihre Eltern ihren Gesundheitszustand als weniger gut oder schlecht bewerteten. Die vorliegenden Ergebnisse zeigen, dass die Selbsteinschätzung des eigenen Gesundheitszustandes, unabhängig von objektiven Gesundheitsindikatoren, ein wichtiger Prädiktor der Inanspruchnahme des Gesundheitssystems ist. Zur Entwicklung der selbsteingeschätzten Gesundheit in den USA liegen seit 1993 Daten auf Basis des Behavioral Risk Factor Surveillance System (BRFSS) der Centers of Disease Control and Prevention vor (Zack et al. 2003, CDC 2008). In dieser telefonischen Befragung werden jährlich 100.000 bis 200.000 Männer und Frauen im Alter ab 18 Jahren untersucht. Insgesamt zeigt sich dabei ein geringer, aber kontinuierlicher Rückgang des Anteils von Männern und Frauen in den USA, die ihren eigenen Gesundheitszustand als „excellent“, „very good“ oder „good“ einschätzten. So betrug der Anteil im Jahr 1993 bei Männern 88% und bei Frauen 85,4%. Im Jahr 2007 gaben dagegen nur noch 84,2% und 82,8% der Männer und Frauen in den USA an, einen mindestens guten Gesundheitszustand zu haben. Zwischen den europäischen Staaten gibt es deutliche Unterschiede hinsichtlich der selbstberichteten Gesundheit ihrer Bevölkerungen. Aktuelle Daten werden durch die Statistik zum Leben in Europa (EU-SILC) für das Jahr 2006 bereitgestellt (Eurostat 2008). In Abbildung 45 sind die mittleren Anteile von Männern und Frauen, die ihre eigene Gesundheit auf einer fünfstufigen Skala als „sehr gut“ oder „gut“ bewerten, für verschiedene europäische Staaten im Jahr 2006 dargestellt. So ist der Anteil in den osteuropäischen Wohlfahrtsstaaten und in Portugal besonders gering, in diesen Staaten gibt nur jeder zweite Erwachsene an, bei guter oder besserer Gesundheit zu sein. In den liberalen und sozialdemokratischen Staaten ist der Anteil dagegen besonders hoch, hier geben mehr als drei Viertel der Bürger an, dass ihr allgemeiner Gesundheitszustand „gut“ oder „sehr gut“ ist. Deutschland bewegt sich auf Basis dieser Statistik mit einem Anteil von 65% im europäischen Mittelfeld, allerdings liegt der Wert etwas unterhalb des Durchschnittswertes der erweiterten Europäischen Union von 68%.
232
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
Abbildung 45: Anteil der Bevölkerung europäischer Wohlfahrtsstaaten, der die eigene Gesundheit im Jahr 2006 als „gut“ oder „sehr gut“ einschätzt sozialdemokratisch
Finnland Dänemark Schweden
konservativ
Deutschland Frankreich Luxemburg Österreich Belgien Niederlande
liberal Großbritannien Irland südeuropäisch
Portugal Italien Spanien Malta Zypern Griechenland
osteuropäisch
Lettland Slowakei Ungarn Polen Estland Slowenien Tschechien 0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
Anteil gut oder sehr gut in %
Datenbasis: EU-SILC 2006, Indikator: hlth_silc_10, Alter 18 Jahre und älter Für die Entwicklung des selbsteingeschätzten Gesundheitszustands in den Bevölkerungen der europäischen Mitgliedsstaaten können bisher noch keine aussagekräftigen Zeitreihen gebildet werden. Erst seit 2005 können alle Mitgliedsstaaten der EU verglichen werden, weil keine früheren europaweit vergleichbaren Daten erhoben worden sind (Kroll et al. 2008). Zur Entwicklung des selbsteingeschätzten Gesundheitszustands liegen allerdings bereits Ergebnisse wissenschaftlicher Studien für einzelne Mitgliedsstaaten vor. In einer vergleichenden Studie wurde die Entwicklung des selbsteingeschätzten Gesundheitszustands für die Bevölkerungen von 10 Staaten in Europa beschrieben (Kunst et al. 2005).143 In den meisten untersuchten Staaten war im Vergleich der 1980er und 1990er Jahre ein Anstieg des Anteils von Männern und Frauen zu beobachten, die ihren eigenen Gesundheitszustand als „gut“ oder „sehr gut“ einschätzten. Die Zunahme des Anteils betrug bei Männern durchschnittlich 1,2 Prozentpunkte und bei Frauen 1,7 Punkte. Besonders positiv war die Entwicklung in Finnland und England, hier nahmen die Anteile bei Männern und Frauen um 4,7 bzw. 6,1 und 5,7 bzw. 4,1 Prozentpunkte zu, in den Niederlanden und in Italien sind die 143 Verglichen wurden Finnland, Schweden, Norwegen, Dänemark, England, Niederlande, Deutschland (früheres Bundesgebiet), Österreich, Italien und Spanien.
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
233
Anteile dagegen deutlich um -0,6 bzw. -2,8 und um -6,3 bzw. -6,6 Prozentpunkte gesunken. Bisher ist noch nicht abzusehen, wie sich die subjektive Gesundheit und mit ihr die gesunde Lebenserwartung in Europa zukünftig entwickeln (Kroll et al. 2008). Auf Basis der vorliegenden Daten scheint es möglich, dass sich die selbstberichtete und damit auch die physische Gesundheit der europäischen Bevölkerungen – ungeachtet der fortschreitenden demographischen Alterung – in Zukunft weiter verbessert. Zur Entwicklung der selbsteingeschätzten Gesundheit in Deutschland liegen bisher nur wenige Studien vor. Für den Zeitraum von 1992 bis 1997 beschreibt eine Studie auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels für die alten und neuen Bundesländer einen Rückgang des Anteils von Männern und Frauen, die bei sehr guter oder guter selbsteingeschätzter Gesundheit sind (Nolte und McKee 2004). Allerdings muss angemerkt werden, dass die Ergebnisse zur subjektiven Gesundheit aus dem SOEP im Jahr 1992 deutlich positivere Einschätzungen als in den anderen Wellen des SOEP aufweisen (Frick 2007). So zeichnet sich ein Verschlechterung im subjektiven Gesundheitszustand der Bevölkerung auf Basis der anderen Befragungswellen des SOEP nicht ab (Frick 2007, Brähler et al. 2009). So zeigt sich im Vergleich der Jahre 1994, 2000 und 2006 weder bei Männern und Frauen im Ater von 18 bis 29 Jahren noch in der Altersgruppe der über 64-Jährigen ein Rückgang des Anteils von Personen, die ihre eigene Gesundheit als „gut“ oder „sehr gut“ bewerten. In Europa bestehen ausgeprägte soziale Unterschiede in der Chance auf eine gute oder sehr gute Gesundheit, die sich anhand der Daten des EU-SILC aus dem Jahr 2006 für verschiedene Sozialindikatoren abbilden lassen. Die Grafik zeigt die zusammengefassten Odds Ratios im Vergleich des oberen und unteren Einkommensquintils in der Chance auf eine sehr gute oder gute selbsteingeschätzte Gesundheit. Sie basiert auf den von Eurostat berichteten alters- und einkommensspezifischen Anteilen von Männern und Frauen, die ihre Gesundheit als „sehr gut“ oder „gut“ beurteilen. Die Anteile werden für fünf Altersgruppen jeweils differenziert nach Einkommensquintilen ausgewertet. In Abbildung 46 wurden die Prävalenzen innerhalb der Einkommensquintile nach der WHOStandardbevölkerung altersstandardisiert (Waterhouse et al. 1997). Aufbauend auf den standardisierten Prävalenzen wurden anschließend Odds Ratios im Vergleich des unteren und oberen Einkommensquintils gebildet. Die Grafik zeigt, dass heute in allen europäischen Wohlfahrtsregimen beträchtliche Einkommensunterschiede im selbsteingeschätzten Gesundheitszustand bestehen. So ist die Chance in fast allen Staaten im Vergleich des oberen mit dem unteren Einkommensquintil mindestens 1,5-fach erhöht. Besonders relevant sind die Einkommensunterschiede in Estland, Schweden und Slowenien, während in der Slowakei, auf Malta und in Spanien und Italien vergleichsweise geringe Differenzen
234
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
beobachtet werden. Insgesamt zeigt sich, dass die Differenzen nicht systematisch zwischen den europäischen Wohlfahrtsregimen variieren. Sie sind in den südeuropäischen Wohlfahrtsstaaten durchschnittlich 1,8- und in den liberalen Staaten durchschnittlich 2,5-fach erhöht. Einzig hinsichtlich der hier nicht gesondert aufgeführten Differenzen bei Männern heben sich die beiden liberalen Wohlfahrtsstaaten deutlich von den anderen Regimen ab; die Chance des oberen Quintils ist hier durchschnittlich 3-fach erhöht, während sie in den anderen Regimen nur etwa 2-fach erhöht ist. Abbildung 46: Einkommensunterschiede in der Chance auf eine „gute“ oder „sehr gute“ selbsteingeschätzte Gesundheit im europäischen Vergleich sozialdemokratisch
Finnland Dänemark Schweden
konservativ
Niederlande Deutschland Frankreich Luxemburg Österreich Belgien
Irland liberal Großbritannien
südeuropäisch
Malta Spanien Italien Portugal Griechenland Zypern
osteuropäisch
Slowakei Polen Ungarn Tschechien Lettland Slowenien Estland 1.0
1.5
2.0
2.5
3.0
3.5
4.0
Odds Ratio
Datenbasis: EU-SILC 2006, WHO-Standardbevölkerung, Indikator: hlth_silc_10 Auch Analysen auf Basis von Daten des European Social Surveys konnten keine ausgeprägten Unterschiede im Ausmaß gesundheitlicher Ungleichheiten zwischen den europäischen Wohlfahrtsregimen feststellen (Eikemo et al. 2008a, 2008c). Untersucht wurden Einkommens- und Bildungsunterschiede in der selbstberichteten Gesundheit, dabei wurden in den südeuropäischen Wohlfahrtsstaaten die größten und in den konservativen Staaten die kleinsten Unterschiede festgestellt. Insgesamt geben die vorliegenden Ergebnisse damit bisher noch kein konsistentes Bild von der Variation sozialer Unterschiede im Zusammenhang mit
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
235
dem Wohlfahrtsregime. Es zeigt sich allerdings, dass gesundheitliche Ungleichheiten auch in den immer noch vergleichsweise egalitären sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten nicht geringer ausgeprägt sind. Allerdings gibt es in den Bevölkerungen der liberalen und der sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten deutlich höhere Anteile von Männern und Frauen, die ihren eigenen Gesundheitszustand als „gut“ bewerten. Dieser Befund wird von einigen Autoren auf die besser ausgebauten sozialen Sicherungssysteme zurückgeführt (Eikemo et al. 2008b, Bambra 2007). Sozioökonomische Unterschiede in der Selbsteinschätzung des eigenen Gesundheitszustandes wurden für Deutschland bereits mehrfach dokumentiert (Lampert et al. 2005). So konnten Analysen auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels bereits mehrfach verdeutlichen, dass in Deutschland beträchtliche Einkommensunterschiede in der Chance auf einen als „gut“ oder „sehr gut“ bewerteten Gesundheitszustand bestehen (Lampert und Kroll 2006a). Im Vergleich der unteren und oberen von fünf Einkommensgruppen war im Jahr 2003 der Anteil von Männern und Frauen, die die eigene Gesundheit als „zufriedenstellend“ oder besser bewerteten, in der oberen Gruppe um 10 bzw. 9 Prozentpunkte erhöht. Die Differenzen zeigten sich dabei nicht nur im jüngeren Lebensalter, sondern blieben auch im höheren Alter erhalten. Analysen auf Basis des Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) und auf Basis des Telefonischen Gesundheitssurvey 2003 des Robert Koch-Instituts verdeutlichen, dass sozioökonomische Unterschiede in der subjektiven Gesundheit bereits im Kindes- und Jugendalter bestehen und sich bis ins mittlere und hohe Alter fortsetzen (vgl. Lampert und Kurth 2007, Lampert et al. 2005). Hinsichtlich der Entwicklung sozioökonomischer Unterschiede im selbstberichteten Gesundheitszustand ist festzustellen, dass sich die bestehenden sozioökonomischen Ungleichheiten in den letzten Jahrzehnten in Europa und in den USA zumeist nicht verringert und teilweise sogar ausgeweitet haben. So liegen aus den USA Ergebnisse vor, die zwischen 1993 und 2001 eine deutliche Ausweitung sozioökonomischer Unterschiede im selbstberichteten Gesundheitszustand der Bevölkerung beschreiben (Zack et al. 2004. Schoeni et al. 2005). Insgesamt hat sich die selbstberichtete Gesundheit der US-Bevölkerung seit 1993 deutlich verschlechtert. Dabei ist der Anteil in der oberen bzw. unteren von vier Einkommensgruppen zwischen 1993 und 2001 jährlich um 3,2% bzw. 4,6% und in der oberen und unteren von vier Bildungsgruppen um 1,0% bzw. 2,8% gesunken. Hiermit haben sich auch die bestehenden Bildungs- und Einkommensunterschiede in der selbstberichteten Gesundheit weiter vergrößert. Auch in einigen europäischen Wohlfahrtsstaaten musste in den letzten Jahren eine Ausweitung der Unterschiede festgestellt werden. Ungeachtet der ungünstigen wirtschaftlichen Lage und den daraus resultierenden Beschränkungen sozialstaatlicher
236
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
Leistungen in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren gab es in den skandinavischen Staaten keine Ausweitung sozioökonomischer Unterschiede in der subjektiven Gesundheit. So sprechen die Ergebnisse einer europaweit vergleichenden Studie dafür, dass sich die bildungsbezogenen Unterschiede in Dänemark, Norwegen und Schweden bei Männern und Frauen leicht, aber nicht statistisch signifikant, verringert haben (Kunst et al. 2005, vgl. auch Lahelma et al. 2002). Für die südeuropäischen Wohlfahrtsstaaten Italien und Spanien wird dagegen eine Ausweitung der sozioökonomischen Unterschiede dokumentiert (Kunst et al. 2005, vgl. auch Anitua und Esnaola 2000): Die relativen Differenzen zwischen den Bildungsgruppen haben sich bei Männern und Frauen statistisch signifikant um etwa 50% ausgeweitet. In Spanien gab es zudem eine gegensätzliche Entwicklung des selbstberichteten Gesundheitszustandes zwischen den Bildungsgruppen. Während der Anteil von Männern und Frauen, die ihren Gesundheitszustand als gut bewerten, in der obersten Bildungsgruppe um 1 bzw. 7 Prozentpunkte angestiegen ist, ging er in der unteren Bildungsgruppe um 4 bzw. 2 Punkte zurück. Auch für den liberalen Wohlfahrtsstaat England wird im Vergleich der 1980er und 1990er Jahre eine Ausweitung von sozioökonomischen Unterschieden im selbstberichteten Gesundheitszustand beschrieben (Kunst et al. 2005, vgl. auch Bartley 1999). Danach sind die Bildungsunterschiede im Gesundheitszustand weitgehend konstant geblieben, während sich gleichzeitig die Einkommensdifferenzen bei Männern und Frauen deutlich ausgeweitet haben. Der Anteil von Männern und Frauen, die den eigenen Gesundheitszustand als „gut“ oder „sehr gut“ bewerteten, hat sich demnach zwischen 1985 und 1995 im untersten Fünftel der Einkommensverteilung um 10 bzw. 8 Prozentpunkte verringert, während im obersten Fünftel nur ein Rückgang von 5 bzw. 1 Punkte erfolgte. Für die konservativen Wohlfahrtsstaaten werden dagegen zumeist stabile sozioökonomische Unterschiede in der selbsteingeschätzten Gesundheit der Bevölkerung berichtet (Kunst et al. 2005, vgl. auch Dalstra et al. 2002, Monden et al. 2003, Nolte und McKee 2004). So sind die Bildungsungleichheiten im selbstberichteten Gesundheitszustand im Vergleich der 1980er und 1990er Jahre in den Niederlanden und in Österreich relativ konstant geblieben. Allein in den Niederlanden wird zwischen 1977 und 1998 eine Ausweitung von Bildungsunterschieden im selbstberichteten Gesundheitszustand der Bevölkerung berichtet. Demnach ist die Chance auf einen als „zufriedenstellend“ bewerteten Gesundheitszustand seit Ende der 1970er Jahre vor allem bei Männern und Frauen in der oberen Bildungsgruppe gestiegen, während sie sich in den unteren Bildungsgruppen nicht erhöht hat. Insgesamt scheint sich die Ausweitung sozioökonomischer Ungleichheiten im selbstberichteten Gesundheitszustand im Verlauf der 1980er und 1990er Jahre vorrangig auf die liberalen, konservativen und südeuropäischen Regime konzentriert zu haben. Weil sich soziale Ungleichheiten in den
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
237
sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten allerdings im Verlauf der 1990er Jahre deutlich ausgeweitet haben, muss in diesen Staaten für die Zukunft ebenfalls eine Ausweitung der Differenzen im selbstberichteten Gesundheitszustand befürchtet werden. Für Deutschland ist die Entwicklung sozioökonomischer Unterschiede in der selbstberichteten Gesundheit bisher nur unzureichend beschrieben worden. Auf Basis der Nationalen Untersuchungssurveys der DHP wurde die Entwicklung von Bildungs- und Einkommensunterschieden im Vergleich der Jahre 1985 und 1990 in den alten Bundesländern untersucht (vgl. Kunst et al. 2005). Dabei zeigte sich insgesamt keine Ausweitung der Differenzen nach Bildungsbeteiligung in der Bevölkerung. Im Vergleich des oberen und unteren Einkommensquintils wurde dabei bei Männern und Frauen zudem nur eine leichte, aber keine signifikante Ausweitung der Unterschiede um etwa 15% bzw. 14% beobachtet. Während der Anteil von Männern, die ihre Gesundheit als gut bewerten, im oberen Einkommensquintil konstant geblieben ist, musste im unteren Quintil ein deutlicher Rückgang des Anteils verzeichnet werden. Bei Frauen haben sich die Differenzen ebenfalls leicht ausgeweitet. Hier ist allerdings lediglich der Anteil von Frauen, die ihre eigene Gesundheit mindestens als „gut“ bewerten, im oberen Fünftel der Einkommensverteilung schneller als im unteren Fünftel gestiegen. Eine Studie auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels beschreibt für den Vergleich der Jahre 1992 und 1997 weitgehend konstante Unterschiede im selbstberichteten Gesundheitszustand (Nolte und McKee 2004). Während sich die Unterschiede zwischen der Armutsrisikogruppe mit weniger als 60% des Medianeinkommens und der Gruppe im relativen Wohlstand mit mehr als 150% des Medians in den alten Bundesländern etwas ausgeweitet haben, wurde in den neuen Ländern ein leichter Rückgang beobachtet. In der Studie wurde die relative Veränderung der Unterschiede allerdings nicht quantifiziert oder auf statistische Signifikanz überprüft. Zudem wurde mit der Welle des Jahres 1992 die erste Erhebungswelle des Indikators selbstberichtete Gesundheit gewählt, deren Ergebnisse von den anderen Wellen des SOEP deutlich abweichen. Aufgrund dieser methodischen Limitationen lassen sich die Ergebnisse der Studie nur schwer bewerten. Eine aktuelle Studie beschreibt für den Zeitraum 1998 bis 2006 auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels in der erwachsenen Bevölkerung eine Ausweitung der Einkommensunterschiede in der Chance auf einen subjektiv als „gut“ bewerteten Gesundheitszustand (Lampert und Kroll 2008). Verglichen wurden ebenfalls die Armutsrisikogruppe und Personen mit Äquivalenzeinkommen im Bereich des relativen Wohlstands. Die Ergebnisse zeigen, dass die Differenzen zwischen 1998 und 2006 bei Männern vom 1,9- auf das 2,8Fache und bei Frauen vom 1,7- auf das 1,9-Fache zugenommen haben.
238
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
Nachfolgend wird die Entwicklung sozioökonomischer Unterschiede in der selbsteingeschätzten Gesundheit für die Bundesrepublik auf Basis eines kombinierten Datensatzes aus den Gesundheitssurveys des Robert Koch-Institutes und dem Sozio-oekonomischen Panel für den Zeitraum 1984 bis 2006 beschrieben. Dieses Vorgehen wurde gewählt, weil sich die Operationalisierung der selbsteingeschätzten Gesundheit in den Gesundheitssurveys des RKI seit 1984 stark geändert hat. So wurde nicht nur die Erhebungsmethode (schriftliche und telefonische Interviews) variiert, sondern auch die Frageformulierung. Subjektive Indikatoren sind besonders sensitiv gegenüber Veränderungen der Operationalisierung. Ergebnisse aus Deutschland zur Sensitivität der Frage zur selbsteingeschätzten Gesundheit zeigen etwa, dass nicht nur die Auswahl der Frageformulierung und Antwortkategorien, sondern auch der Erhebungsmodus des Interviews einen deutlichen Einfluss auf das Antwortverhalten hat (Kroll et al. 2008, Häfelinger et al. 2007). Befragte geben in telefonischen Interviews, wie sie in den Telefonischen Gesundheitssurveys des RKI durchgeführt werden, häufig positivere Antworten zu ihrem Gesundheitszustand als in schriftlichen Befragungen. In den Nationalen Untersuchungssurveys und im Gesundheitssurvey Ost wurde eine einheitliche Fragestellung und Antwortskalierung verwendet. Die zugehörige Frage lautete: „Wie würden Sie Ihren gegenwärtigen Gesundheitszustand beschreiben?“. Mögliche Antwortkategorien waren: „sehr gut“, „gut“, „zufriedenstellend“, „weniger gut“ und „schlecht“. Auch im Sozio-oekonomischen Panel wird seit 1994 ein identischer Indikator jährlich eingesetzt. Im Gesundheitssurvey 1998 wurden dagegen im allgemeinen Fragebogen die Kategorien „ausgezeichnet“, „sehr gut“, „gut“, „weniger gut“ und „schlecht“ verwendet. In den Telefonischen Gesundheitssurveys wurden die Antwortkategorien dagegen an das EU-SILC angepasst, sie lauten „sehr gut“, „gut“, „mittelmäßig“, „schlecht“ und „sehr schlecht“. Aufgrund der geschilderten Probleme mit der Welle des Jahres 1992 beim SOEP und den Veränderungen des Indikators in den späteren Gesundheitssurveys werden nachfolgend bis zum Jahr 1992 die Daten des RKI (NUS t0-t2 und BGS Ost) und ab dem Jahr 1994 die Daten des Soziooekonomischen Panels verwendet. Dadurch sollen methodische Effekte so weit wie möglich ausgeschlossen werden. Beschrieben wird die Entwicklung des Anteils von Männern und Frauen, die ihren eigenen Gesundheitszustand als „sehr gut“ oder „gut“ einschätzen.
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
239
Abbildung 47: Anteil von Männern und Frauen, die ihre eigene Gesundheit als „gut“ oder „sehr gut“ beurteilen, nach Jahr, Geschlecht und Region West
Ost
Gesamt
60 55
Anteil gut oder sehr gut in %
50 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0 1984-89
1990-94
1995-99
2000-06
1984-89
1990-94
Männer
1995-99
2000-06
1984-89
1990-94
1995-99
2000-06
Frauen
Datenbasis: RKI-Trend (1984-1992) und SOEP (1994-2006); Alter 25 bis 69 Jahre In Abbildung 47 ist die Entwicklung des altersstandardisierten Anteils von 25- bis 69-jährigen Männern und Frauen in den alten und neuen Bundesländern dargestellt, die ihre eigene Gesundheit als „sehr gut“ oder „gut“ bewerten. Allgemein ist der alterstandardisierte Anteil von Männern und Frauen, die ihre Gesundheit als „gut“ oder „sehr gut“ bewerten, seit Anfang der 1990er Jahre in den alten und neuen Ländern sukzessive gestiegen. In den alten Bundesländern ist der Anteil zwischen den Zeiträumen 1984-89 und 2000-06 bei Männern von 44,7% auf 51,9% angestiegen. Bei Frauen aus den alten Bundesländern war die Zunahme noch größer, hier ist der Anteil von 41,1% im Zeitraum 1984-89 auf 48,2% im Zeitraum 2000-06 gestiegen. Seit 1990 ist der Anteil von Männern und Frauen in den alten Bundesländern, die ihren Gesundheitszustand als „gut“ oder „sehr gut“ einschätzen, jährlich signifikant um durchschnittlich 3,0 bzw. 3,3 Prozentpunkte gestiegen. In den neuen Bundesländern ist seit 1990, trotz des deutlich gestiegenen Lebensstandards, vor allem bei Männern nur ein geringerer Anstieg der subjektiven Gesundheit zu verzeichnen. So ist der Anteil bei Männern lediglich leicht von 46,6% auf 48,1% gestiegen. Bei Frauen war der Anstieg deutlicher, so betrug der Anteil zwischen 1990 und 1994 noch 40,6%, ist aller-
240
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
dings bis 2000-06 auf 45,7% angestiegen. Diese Werte entsprechen einem jährlichen Zuwachs von 1,1 Prozentpunkten bei Männern und 4,9 Punkten bei Frauen. Allerdings war der Zuwachs im selbsteingeschätzten Gesundheitszustand nur bei Frauen, nicht aber bei Männern statistisch zum 95%-Konfidenzniveau signifikant. Tabelle 19: Entwicklung sozialer Unterschiede in der Chance auf einen subjektiv als „gut“ oder „sehr gut“ bewerteten Gesundheitszustand nach Sozialindikator, Geschlecht und Jahr Bildung
Erwerbsbeteiligung
OR %-diff Sign. OR
%-diff
Berufstatus
Einkommen
Sign.
OR %-diff Sign. OR %-diff Sign.
Männer 1984-89°
1,68 -16% ***
1,68 -11%
*
1,88 -14% ***
2,51 -22% ***
1990-94
1,74 -17% ***
1,70 -13%
***
1,71 -11% ***
2,16 -18% ***
1995-99
1,99 -18% ***
1,74 -18%
***
1,67 -8%
***
2,04 -16% ***
2000-06
1,94 -17% ***
2,19 -21%
***
1,64 -8%
***
2,32 -16% ***
3%
+8%
**
-1% -3%
ns
2% -3%
Veränderung 0% 0%
ns
*
Frauen 1984-89°
2,55 -29% ***
0,85 11%
ns
1,92 -18% **
2,49 -21% ***
1990-94
1,66 -20% ***
1,34 -4%
*
1,79 -17% ***
2,05 -19% ***
1995-99
1,55 -17% ***
1,74 -17%
***
1,98 -16% ***
1,92 -15% ***
2000-06
1,62 -17% ***
1,95 -18%
***
1,89 -16% ***
1,99 -13% ***
3%
**
0% -1%
0% -6%
Veränderung 0% -3%
ns
+14%
ns
ns
Legende: Bildung (niedrig/hoch), Beruf (niedrig/hoch), Einkommen (niedrig/hoch), Arbeitslosigkeit (arbeitslos/Vollzeit) Bildung (CASMIN 1 vs. CASMIN 3); Erwerbsstatus (arbeitslos vs. Vollzeit beschäftigt); Beruf (nur Vollzeitbeschäftigte: niedrige Autonomie vs. hohe Autonomie); Einkommen (Armutsrisikogruppe <60% vs. relativer Wohlstand >150%); °Früheres Bundesgebiet; OR = Odds Ratio; %-diff = Prozentsatzdifferenz; Sign.= Signifikant zum Niveau ***p<0.001, **p<0.01, *p<0.05 nach Kontrolle von Alter- und Ost/West-Unterschieden; Ref. = Referenzkategorie; Veränderung = Durchschnittliche jährliche Veränderung des Unterschieds (OR oder %-diff) zwischen 1990 und 2006.
Datenbasis: RKI-Trend (1984-1992) und SOEP (1994-2006), Alter 25 bis 69 Jahre Tabelle 19 zeigt die geschlechtsspezifische Entwicklung sozialer Unterschiede in der Chance auf einen subjektiv als „gut“ oder „sehr gut“ bewerteten Gesundheitszustand zwischen 1984 und 2006. Verglichen werden vier Indikato-
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
241
ren des sozioökonomischen Status.144 Dargestellt ist jeweils das altersstandardisierte Chancenverhältnis auf einen subjektiv als „gut“ oder „sehr gut“ bewerteten Gesundheitszustand und die absolute Differenz im alterstandardisierten Anteil bei guter oder besserer subjektiver Gesundheit im Vergleich der oberen mit der unteren von jeweils drei Gruppen. Bereits Mitte der 1980er Jahre bestanden bei Männern und Frauen hinsichtlich der meisten Determinanten des sozioökonomischen Status ausgeprägte Unterschiede in der Chance auf eine gute selbsteingeschätzte Gesundheit. So war die Chance bei Männern und Frauen mit hohen Bildungsabschlüssen, einem hohen beruflichen Status oder mit hohen Einkommenspositionen 1,7- bis 2,5-fach gegenüber der jeweiligen Vergleichsgruppe mit niedrigem Status erhöht. Im vereinten Deutschland hatten Männer mit hohem Status zwischen 1990 und 1994 eine 1,7- bis 2,1-fach erhöhte Chance, ihre Gesundheit subjektiv als „gut“ oder „sehr gut“ zu bewerten. Bei Frauen mit hohem Status war die Chance ebenfalls signifikant 1,6- bis 2,0-fach erhöht. Bis zum Zeitraum 2000 bis 2006 haben sich diese ausgeprägten Unterschiede in den Gesundheitschancen bei Männern und Frauen nicht deutlich verringert. Vielmehr musste bei Männern im Vergleich von Arbeitslosen und Vollzeiterwerbstätigen sowie im Vergleich von Männern der Armutsrisikogruppe und Männern mit Äquivalenzeinkommen im Bereich des relativen Einkommenswohlstands eine weitere Ausweitung der Unterschiede im selbstberichteten Gesundheitszustand beobachtet werden. So haben sich die Differenzen bei Männern nach Erwerbsbeteiligung jährlich signifikant um 3% und die Differenzen zwischen den Einkommensgruppen signifikant um 2% ausgeweitet. Bei Frauen musste hinsichtlich der Erwerbsbeteiligung ebenfalls eine signifikante Ausweitung der Unterschiede um 3% beobachtet werden.
144
Zur Operationalisierung der vier Indikatoren des sozioökonomischen Status vgl. den Abschnitt 3.2 auf den Seiten 145 (Bildung), 154 (Erwerbsbeteiligung), 159 (berufliche Autonomie) und 167 (Einkommen).
242
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
Abbildung 48: Veränderung des Anteils von Männern, die ihre eigene Gesundheit als „gut“ oder „sehr gut“ bewerten, nach Determinanten des sozioökonomischen Status Bildung
Erwerbsbeteiligung
Beruf
Einkommen
Veränderung der Prävalenz in % pro Jahr
1.5
1.0
0.5
0.0
-0.5
-1.0
-1.5 niedrig
hoch
niedrig
hoch
niedrig
hoch
niedrig
hoch
Datenbasis: RKI-Trend (1990-1992) und SOEP (1994-2006), Alter 25 bis 69 Jahre Die Entwicklung innerhalb der verschiedenen Statusgruppen gibt Aufschluss darüber, ob die beobachtete Ausweitung sozioökonomischer Unterschiede in der selbsteingeschätzten Gesundheit auf eine gesundheitspolitisch besonders problematische Verschlechterung des selbstberichteten Gesundheitszustands in den unteren Statusgruppen zurückgeführt werden muss. In Abbildung 48 ist die jährliche Veränderung des alterstandardisierten Anteils von Männern dargestellt, die ihren eigenen Gesundheitszustand als „gut“ oder „sehr gut“ einschätzen. Im Vergleich von vier Sozialindikatoren wird dabei jeweils die Entwicklung seit 1990 in der unteren und oberen Statusgruppe verglichen. Dargestellt ist der Punktschätzer der jährlichen Veränderung des Anteils in der jeweiligen Gruppe und das zugehörige 95%-Konfidenzintervall. Allgemein gab es bei Männern in der Mehrzahl der beschriebenen Gruppen einen signifikanten Anstieg der Chance auf einen subjektiv guten Gesundheitszustand. Nur bei arbeitslosen und einkommensarmen Männern ist die Chance auf einen guten oder sehr guten Gesundheitszustand nicht signifikant gestiegen. Sie haben ihren Gesundheitszustand vielmehr seit 1990 jedes Jahr schlechter eingeschätzt. Die Verringerung betrug bei Arbeitslosen jährlich 0,13 Prozentpunkte und bei einkommensarmen Männern 0,06 Punkte, sie war allerdings nicht statistisch signifikant.
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
243
Insgesamt muss damit bei Männern eine deutliche Ausweitung der sozioökonomischen Differenzen festgestellt werden, die auf eine ausbleibende Verbesserung der gesundheitlichen Lage von Arbeitslosen und von Männern in der Armutsrisikogruppe zurückzuführen ist. Abbildung 49: Veränderung des Anteils von Frauen, die ihre eigene Gesundheit als „gut“ oder „sehr gut“ bewerten, nach Determinanten des sozioökonomischen Status Bildung
Erwerbsbeteiligung
Beruf
Einkommen
Veränderung der Prävalenz in % pro Jahr
1.5
1.0
0.5
0.0
-0.5
-1.0
-1.5 niedrig
hoch
niedrig
hoch
niedrig
hoch
niedrig
hoch
Datenbasis: RKI-Trend (1990-1992) und SOEP (1994-2006), Alter 25 bis 69 Jahre Bei Frauen zeigten sich im Zeitverlauf weitgehend stabile sozioökonomische Unterschiede, einzige Ausnahme war die beobachtete Ausweitung der Differenzen zwischen weiblichen Vollzeiterwerbstätigen und Arbeitslosen (vgl. Abbildung 49). Die Entwicklung der Prävalenzen in den verschiedenen sozioökonomischen Statusgruppen stellt sich seit 1990 vergleichsweise einheitlich und positiv dar. Mit Ausnahme der weiblichen Arbeitslosen hat sich der altersstandardisierte Anteil von Frauen mit einer guten oder besseren selbsteingeschätzten Gesundheit in allen verglichenen Gruppen deutlich erhöht. Besonders stark war der Anstieg mit jährlich durchschnittlich 0,54 Prozentpunkten unter den weiblichen Vollzeiterwerbstätigen. Die Unterscheidung der weiblichen Vollzeitbeschäftigten nach ihrer Autonomie im Beruf wies zudem daraufhin, dass sich bei Frauen der Gesundheitszustand alle Berufsstatusgruppen verbessert hat.
244
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
Im Kontext der gestiegenen Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt, wird damit auch eine steigende Abhängigkeit der Frauen von ihrer Arbeitsmarktanbindung deutlich. Insgesamt ordnen sich die Befunde aus Deutschland gut in den internationalen Forschungsstand zur subjektiven Gesundheit ein. In Deutschland, wie auch in anderen europäischen Staaten, hat sich die subjektive Gesundheit der Bevölkerung in den 1980er und 1990er Jahren weiter verbessert. Allerdings haben weder in Deutschland noch in den meisten anderen europäischen Wohlfahrtsstaaten alle sozioökonomischen Gruppen gleichermaßen an dieser Verbesserung teilgehabt. So bestehen in Deutschland und in den meisten anderen europäischen Staaten, wie auch in den USA, weiterhin persistente und sich in Teilen auch ausweitende sozioökonomische Unterschiede in der subjektiven Gesundheit. In vielen Ländern wird dabei eine Ausweitung der Differenzen zwischen den Einkommensund Bildungsgruppen beschrieben. In Deutschland konzentriert sich die Ausweitung gesundheitlicher Ungleichheiten dagegen vor allem auf die Erwerbsbeteiligung. 4.5 Entwicklungen und Determinanten des Wandels gesundheitlicher Ungleichheiten Vor der Zusammenfassung der deutschen Befunde sollen die zentralen Entwicklungslinien der betrachteten Gesundheitsindikatoren für die anderen Staaten Europas und für die USA kurz umrissen werden. Zusammenfassend zeichnet sich in Europa und den USA eine zweigeteilte Entwicklung von Gesundheit und gesundheitlichen Ungleichheiten ab: Einerseits verbessern sich zwar einige Aspekte des Gesundheitsverhaltens und des Gesundheitszustandes der Bevölkerungen, andererseits finden wir in vielen Bereichen auch eine Ausweitung sozioökonomischer Unterschiede in den Gesundheitschancen. Darüber hinaus scheinen einige Staaten deutlich besser als andere für die demographische Alterung der Gesellschaft aufgestellt zu sein. So stellt sich die Entwicklung der Gesundheitsindikatoren in den USA oder in den südeuropäischen Wohlfahrtsstaaten deutlich weniger vorteilhaft dar als in West- und oder in Nordeuropa. 4.5.1 Zusammenfassung der Ergebnisse zum Wandel gesundheitlicher Ungleichheiten Ein ausgeprägtes Gesundheitsbewusstsein verringert die Wahrscheinlichkeit, zu rauchen oder zu wenig Sport zu treiben. Hinsichtlich des Gesundheitsbewusstseins erscheint das vereinigte Europa weiterhin geteilt, so sind junge Osteuropäer
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
245
im Vergleich zu ihren Altersgenossen in Westeuropa deutlich weniger davon überzeugt, ihre Gesundheit selbst beeinflussen zu können. Auch das Wissen um gesundheitliche Risiken, die mit Verhaltensweisen wie Rauchen, Bewegungsmangel oder fettreicher Ernährung verbundenen sind, ist in Osteuropa bisher weniger verbreitet. Zudem scheint das Gesundheitsbewusstsein, zumindest bei jungen Erwachsenen in Europa, in den letzten Jahren gesunken zu sein. Im Vergleich von Bildungsgruppen zeigen sich zudem deutliche sozioökonomische Unterschiede; wer in Europa höher gebildet ist, achtet zumeist auch stärker auf die eigene Gesundheit. Gesundheitsriskante Verhaltensweisen, wie Tabakkonsum, Bewegungsmangel, Alkoholkonsum und fettreiche Ernährung, gehören zu den wichtigsten und am Besten untersuchten Risikofaktoren für das Auftreten vieler Gesundheitsstörungen und chronischen Krankheiten. In dieser Studie wurden die Entwicklung und die Determinanten des Sportverhaltens und des Tabakkonsums untersucht. Seit Anfang der 1980er Jahre hat der Anteil der sportlich aktiven Bevölkerung in den USA und in vielen europäischen Staaten zugenommen. Der Anteil ist heute in Nordeuropa besonders groß und in Südeuropa vergleichsweise gering. Die zentraleuropäischen Staaten und die USA weisen mittlere Anteile von sportlich aktiven Männern und Frauen auf. Der Tabakkonsum, der von vielen Forschern als das schwerwiegendste vermeidbare Gesundheitsrisiko angesehen wird, ist seit Ende der 1980er bei Männern in vielen Staaten rückläufig, während bis Ende der 1990er Jahre noch ansteigende Raucherquoten unter Frauen beobachtet wurden. Zudem bestehen zwischen den europäischen Staaten nach wie vor beträchtliche Unterschiede im Rauchverhalten. Männer rauchen heute in den Staaten Süd- und Osteuropas besonders häufig und in Nord- und Zentraleuropa bereits vergleichsweise selten. Bei Frauen drehen sich diese regionalen Differenzen um, sie rauchen in Nordeuropa häufig und in Süd- und Osteuropa vergleichsweise selten. Ungeachtet der insgesamt positiv zu bewertenden Entwicklung des Gesundheitsverhaltens, bestehen sowohl in der Häufigkeit sportlicher Aktivitäten als auch im Tabakkonsum weiterhin ausgeprägte sozioökonomische Unterschiede. So sind Männer und Frauen mit geringer Bildung oder geringem Einkommen deutlich seltener sportlich aktiv und rauchen deutlich häufiger. Die vorliegenden Studien deuten darauf hin, dass sich die Bildungsund Einkommensunterschiede im Gesundheitsverhalten seit Anfang der 1980er Jahre weiter vergrößert haben. Gesundheitsrisiken und Gesundheitsstörungen sind nicht nur verhaltensbedingt, sondern auch abhängig von umweltbezogenen Belastungen, Fortschritten in der medizinischen Diagnostik und Therapie und Veränderungen in der materiellen und psychosozialen Lage der Menschen. Wichtige Gesundheitsrisiken sind schweres Übergewicht, Bluthochdruck und Hypercholesterinämie. Sie füh-
246
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
ren zu chronisch degenerativen Erkrankungen wie Diabetes mellitus, HerzKreislauferkrankungen oder Krebs. In dieser Arbeit wurde mit der Adipositas, eines der in westlichen Gesellschaften am weitesten verbreiteten Gesundheitsrisiken, und mit dem selbsteingeschätzte Gesundheitszustand ein wichtiges zusammenfassendes Maß der Gesundheit untersucht. Aufgrund der weltweiten Verbreitung körperlich inaktiver Lebensstile und kalorienreicher Ernährungsgewohnheiten, wird vielfach auf die Gefahr einer weltweiten „Adipositas-Epidemie“ hingewiesen. Während im Jahr 1988 nur etwa jeder sechste US-Bürger adipös war, ist mittlerweile mehr als jeder dritte US-Bürger schwer übergewichtig. Auch aus europäischen Staaten wie England, Schweden, Finnland und Spanien wird ein Anstieg berichtet, allerdings ist weiterhin nur etwa jeder sechste Europäer stark übergewichtig. Besonders hohe Anteile von Adipositas werden aus Großbritannien, Griechenland und Ungarn berichtet, allerdings stehen bis zur Etablierung eines europäischen Untersuchungssurveys keine europaweit vergleichbaren Daten zu Prävalenzen zur Verfügung (Lampert 2007). Auch hinsichtlich des Risikos für Adipositas sind ausgeprägte sozioökonomische Unterschiede in Europa und den USA dokumentiert, die im Vergleich der Bildungsgruppen besonders stark ausgeprägt sind. Es zeigt sich, dass sich diese Unterschiede in Europa im Zuge des allgemeinen Anstiegs der Prävalenz von starkem Übergewicht ebenfalls ausgeweitet haben, weil der Anstieg in den unteren sozioökonomischen Gruppen stärker als in den oberen ausgeprägt war. Die sozioökonomischen Unterschiede im Gesundheitsverhalten und in wichtigen Gesundheitsrisiken kumulieren letztlich auch in ausgeprägten Differenzen der subjektiven Befindlichkeiten der Bürgerinnen und Bürger. Ein wichtiger subjektiver Gesundheitsindikator ist der selbstberichtete Gesundheitszustand. Der Indikator hat sich als guter und von medizinisch-objektivierbaren Befunden unabhängiger Prädiktor der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen und des Mortalitätsrisikos erwiesen. Während der Anteil von Männern und Frauen, die ihren Gesundheitszustand als „gut“ oder „sehr gut“ bewerten, in den USA seit den 1990er Jahren rückläufig ist, verbessert sich die Befindlichkeit der Bürgerinnen und Bürger vieler europäischer Wohlfahrtsstaaten weiterhin kontinuierlich. Etwa zwei Drittel der Bevölkerung von Skandinavien und den britischen Inseln bewerten die eigene Gesundheit als „gut“ oder „sehr gut“, während nur etwa 40% der Bevölkerung in den neuen osteuropäischen Mitgliedsstaaten zu dieser Einschätzung kommen. Sowohl in den USA als auch in fast allen europäischen Staaten bestehen ausgeprägte sozioökonomische Unterschiede in der Chance auf einen subjektiv gut bewerteten Gesundheitszustand. Die Differenzen sind in Europa bei Männern in den osteuropäischen und liberalen Wohlfahrtsstaaten besonders stark ausgeprägt, während sich bei Frauen keine ausgeprägten Unterschiede zwischen den Wohlfahrtsregimen zeigen. Die Chance auf einen
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
247
subjektiv als „gut“ oder „sehr gut“ bewerteten Gesundheitszustand ist dabei bei Männern und Frauen im oberen Fünftel durchschnittlich 2-fach bzw. 1,5-fach höher als im unteren Fünftel der Einkommensverteilung. In Südeuropa und in den liberalen Wohlfahrtsstaaten ist die Chance bei Männern sogar 3-fach erhöht. Die Unterschiede haben dabei in den 1980er und 1990er Jahren eher zu- als abgenommen. So wurde etwa in England, Spanien und Italien eine Ausweitung der Differenzen zwischen den Einkommens- oder Bildungsgruppen beobachtet. Aufbauend auf der sozialstrukturellen Entwicklung stand seit den 1990er Jahren für Deutschland keine allgemeine Verbesserung des Gesundheitsverhaltens oder der gesundheitlichen Lage der Bevölkerung zu erwarten. Allenfalls konnte angesichts der beträchtlichen Wohlstandssteigerungen in den neuen Bundesländern eine Verbesserung erhofft werden, während für die alten Bundesländern eine Verschlechterung zu befürchten stand. So hat der gesamtgesellschaftliche Wohlstand auch in den 1990er Jahren, ungeachtet steigender Arbeitslosigkeits- und Armutsrisikoquoten, im Bevölkerungsdurchschnitt weiter zugenommen. Gleichzeitig hat sich aber das psychosoziale Wohlbefinden insbesondere in den alten Bundesländern deutlich verringert.
248
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
Tabelle 20: Durchschnittliche jährliche Veränderung der Prävalenz verschiedener Gesundheitsindikatoren nach Geschlecht und Region zwischen 1990 und 2006 Männer West
Ost
Frauen Gesamt
West
Ost
Gesamt
ǻp ǻp ǻp ǻp ǻp ǻp (95%-Konf.) (95%-Konf.) (95%-Konf.) (95%-Konf.) (95%-Konf.) (95%-Konf.) Gesundheits0,5% 0,2% 0,5% bewusstsein (sehr stark/stark) (0,30;0,75) (-0,20;0,70) (0,26;0,66) Rauchen (aktuell) Aktiver Sport (mind. 1 Std. pro Woche) Adipositas (BMI>30) Subjektive Gesundheit (sehr gut/ gut)
-0,2%
-0,1%
-0,2%
0,9%
0,4%
0,8%
(0,72;1,14) (0,02;0,87) (0,64;1,02) 0,2%
0,4%
0,2%
(-0,35;-0,01) (-0,47;0,17) (-0,32;-0,03) (0,02;0,32) (0,11;0,60) (0,08;0,34) 0,0%
0,3%
0,0%
0,9%
1,3%
0,9%
(-0,19;0,15) (-0,05;0,62) (-0,10;0,20) (0,69;1,02) (0,96;1,56) (0,79;1,08) 0,1%
0,1%
0,1%
-0,2%
-0,1%
-0,2%
(-0,08;0,19) (-0,20;0,35) (-0,07;0,18) (-0,29;-0,03) (-0,41;0,12) (-0,28;-0,04) 0,3%
0,1%
0,3%
(0,18;0,43) (-0,09;0,32) (0,16;0,37)
0,3%
0,5%
0,4%
(0,21;0,45) (0,31;0,68) (0,26;0,47)
Legende: ¨p (95%-Konf.): jährliche Veränderung der Prävalenz mit 95%- Konfidenzintervall; Achten auf Gesundheit: Stark/sehr stark auf die eigene Gesundheit achten; Aktiver Sport; Mindestens 1 Std. pro Woche Sport treiben; Adipositas: BMI>=30; Rauchen: Aktuelles Rauchen; Subjektive Gesundheit: Sehr guter/guter selbsteingeschätzter Gesundheitszustand; Mortalität: Mortalitätsrisiko im Alter zwischen 18 und 69 Jahren; n.s.: Veränderung zwischen 1990 und 2006 ist nicht signifikant zum 5% Niveau; +: Sign. Anstieg der sozialen Unterschiede zwischen 1990 und 2006; -: Sign. Rückgang der sozialen Unterschiede zwischen 1990 und 2006. °Hier wurden Männer und Frauen im Alter zwischen 18 und 69 Jahre betrachtet.
Datenbasis: Gesundheitssurveys des RKI und SOEP (1990-2006) In Tabelle 20 werden die Befunde zur Entwicklung der Prävalenzen der fünf betrachteten Gesundheitsindikatoren für Männer und Frauen in den alten und neuen Bundesländern zusammengefasst. Dargestellt ist die durchschnittliche jährliche Veränderung der Prävalenz im Zeitraum 1990 bis 2005/2006. Die empirischen Befunde auf Basis der repräsentativen Gesundheitssurveys des RKI und des Sozio-oekonomischen Panels deuteten entgegen der ehr negativen Prognose eine insgesamt als positiv zu bewertende Entwicklung der gesundheitlichen Lage der deutschen Bevölkerung an. Diese ordnet sich gut in den Trend der anderen europäischen Wohlfahrtsstaaten ein. In Deutschland haben sich der Gesundheitszustand und das Gesundheitsverhalten von Männern und Frauen im mittleren Lebensalter seit der deutschen Einigung deutlich verbessert. Die Bürgerinnen und Bürger sind gesundheitsbewusster und verhalten sich zumeist
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
249
gesundheitsförderlicher als zu Beginn der 1990er Jahre. Einzig beim Rauchverhalten musste ein weiterer Anstieg der Raucherquoten bei Frauen beobachtet werden. In den neuen Bundesländern war bei Männern zudem eine deutlich nachteiligere Entwicklung als in den alten Ländern zu beobachten. So haben sich die verschiedenen Parameter in den neuen Ländern nur leicht und nicht signifikant verbessert. Bei Frauen gab es dagegen im Durchschnitt des Zeitraums 1990 bis 2005/2006 keine eindeutigen Unterschiede zwischen beiden Teilen der BRD: Während sich das Gesundheitsverhalten, das Adipositasrisiko und der Tabakkonsum in den alten Ländern positiver entwickelt haben, gab es in den neuen Ländern eine stärkere Zunahme sportlicher Aktivitäten und des Anteil von Frauen, die ihre Gesundheit als „gut“ oder „sehr gut“ beurteilen. Aufbauend auf dem Modell der soziologischen Erklärung wurde im einleitenden theoretischen Teil argumentiert, dass der Wandel gesundheitlicher Ungleichheiten nur über den Bezug zu den Wechselwirkungen zwischen dem Wandel sozialer Systeme und den sozialen Ungleichheiten, also durch eine Verknüpfung zwischen der gesellschaftlichen Struktur- und Akteursebene, erklärt werden kann. Dieser Bezug wurde in den bisherigen sozialepidemiologischen Erklärungsmodellen nur unzureichend hergestellt. Daher wurde ein integriertes Orientierungsmodell vorgeschlagen, dass von der sozialen Produktion gesundheitlicher Ungleichheiten ausgeht. Sie lässt sich an sozial strukturierten Verteilungsungleichheiten hinsichtlich primärer Zwischengüter festmachen. Basierend auf diesem allgemeinen analytischen Zugang wurden Hypothesen zum Zusammenhang zwischen der Veränderung sozialer Situationen und der gesundheitlichen Lage sowie dem Gesundheitsverhalten der Akteure spezifiziert (vgl. Abschnitt 2.2.3, Formel 6). In den Analysen zum Wandel sozialer Ungleichheiten rückten dadurch die strukturell bedingten Veränderungen der sozialen Situationen und der Lebensbedingungen der Akteure ins Zentrum der Analysen. Das zentrale Ergebnis der Analysen war, dass sich die gesellschaftlichen Lagen in Deutschland, trotz des weiterhin gewachsenen gesamtgesellschaftlichen Wohlstands, seit 1990 deutlich auseinanderentwickelt haben. Dies musste sowohl im Vergleich der Bildungsgruppen als auch für Gruppen nach Erwerbsbeteiligung, Berufsstatus und Einkommen beobachtet werden. Eine Verschärfung sozialer Ungleichheiten wurde für materielle wie auch für psychosoziale Indikatoren festgestellt. Aufbauend auf den Hypothesen zu den Determinanten des Ausmaßes gesundheitlicher Ungleichheiten stand bei Männern und Frauen folglich auch eine Ausweitung gesundheitlicher Ungleichheiten zu befürchten.
250
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
Tabelle 21: Relative Veränderung gesundheitlicher Ungleichheiten nach Sozialindikatoren und Geschlecht Bildung ¨p (95%-Konf.)
Erwerbs-beteiligung
Berufstatus
Einkommen
¨p (95%-Konf.)
¨p (95%-Konf.)
¨p (95%-Konf.)
Männer Gesundheitsbewusstsein
1,7%
-0,6%
3,8%
2,6%
(sehr stark/stark) (-0,66;4,03)
(-4,61;3,40)
(1,32;6,29)
(-0,76;6,09)
-1,4%
0,2%
-1,6%
-1,1%
(mind. 1 Std. pro Woche) (-3,31;0,54)
Aktiver Sport
(-3,02;3,46)
(-3,49;0,24)
(-3,53;1,22)
Rauchen
0,7%
-0,4%
-0,2%
0,8%
(aktuell) (-1,11;2,61)
(-3,57;2,75)
(-2,01;1,56)
(-1,57;3,17)
Adipositas
-1,8%
4,1%
0,7%
2,0%
(BMI>30) (-4,22;0,65)
(0,05;8,36)
(-1,54;2,94)
(-0,88;5,03)
Subjektive Gesundheit
0,1%
3,2%
-0,9%
2,9%
(sehr gut/ gut) (-1,20;1,47)
(0,72;5,66)
(-2,24;0,46)
(1,04;4,71)
Frauen Gesundheitsbewusstsein
5,1%
1,1%
2,0%
3,6%
(sehr stark/stark)
(2,23;8,01)
(-2,28;4,64)
(-1,95;6,06)
(0,62;6,75)
Aktiver Sport
-2,4%
2,8%
-0,3%
-1,3%
(mind. 1 Std. pro Woche) (-4,73;-0,14)
(0,00;5,67)
(-3,29;2,59)
(-3,61;0,94)
Rauchen
3,7%
0,2%
4,2%
1,7%
(aktuell)
(1,23;6,29)
(-2,64;3,10)
(0,99;7,55)
(-0,63;4,15)
Adipositas
-3,8%
1,8%
0,8%
2,0%
(BMI>30) (-7,64;-0,17)
(-1,55;5,17)
(-2,97;4,57)
(-0,84;4,90)
Subjektive Gesundheit
-0,4%
3,6%
0,1%
0,3%
(sehr gut/ gut) (-1,91;1,04)
(1,38;5,94)
(-2,31;2,49)
(-1,31;1,97)
Legende: ¨p (95%-Konf.): jährliche Veränderung der Prävalenz mit 95-% Konfidenzintervall; Bildung (niedrig/hoch), Beruf (niedrig/hoch), Einkommen (niedrig/hoch), Arbeitslosigkeit (arbeitslos/Vollzeit) Bildung (CASMIN 1 vs. CASMIN 3); Erwerbsstatus (arbeitslos vs. Vollzeit beschäftigt); Beruf (nur Vollzeitbeschäftigte: niedrige Autonomie vs. hohe Autonomie); Einkommen (Armutsrisikogruppe <60% vs. relativer Wohlstand >150%);
Datenbasis: Gesundheitssurveys des RKI und SOEP (1990-2006) In Tabelle 21 werden die vorgefundenen Veränderungen des Ausmaßes gesundheitlicher Ungleichheiten in Deutschland zusammengefasst. Beschrieben wird für vier Determinanten des sozioökonomischen Status die jährliche Veränderung der Differenzen zwischen der jeweils oberen und unteren Statusgruppe. Insgesamt konnten die Analysen zeigen, dass die gesundheitlichen Ungleichheiten in Deutschland seit Beginn der 1990er Jahre weitgehend konstant
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
251
geblieben sind. Bei Männern wurde in den vorangegangenen Analysen für das Gesundheitsbewusstsein, den selbsteingeschätzten Gesundheitszustand und das Risiko von Adipositas eine Ausweitung der Differenzen beobachtet. Beim Gesundheitsbewusstsein haben vor allem die Differenzen zwischen den Berufsstatusgruppen unter männlichen Vollzeitbeschäftigten deutlich zugenommen. So hat insbesondere unter Männern mit hohen beruflichen Positionen das Gesundheitsbewusstsein deutlich zugenommen. Zudem haben sich die Unterschiede im selbstberichteten Gesundheitszustand im Vergleich von männlichen Arbeitslosen und Vollzeitbeschäftigten und von Männern in der Armutsrisikogruppe und im relativen Wohlstand deutlich vergrößert. Hier sind die Chancen auf einen als „gut“ oder „sehr gut“ bewerteten Gesundheitszustand jährlich um 3% gestiegen. Nicht zu erwarten stand die beobachtete Zunahme der Unterschiede im Adipositasrisiko nach Erwerbsbeteiligung, weil sie nicht mit einer gleichzeitigen Ausweitung der Differenzen im Gesundheitsbewusstsein oder in der Häufigkeit sportlicher Aktivitäten einhergegangen ist. Daher stellt sich die Frage, ob die Zunahme der Adipositas unter Arbeitslosen auf ein gestiegenes Adipositasrisiko von Arbeitslosen oder auf ein gestiegenes Arbeitslosigkeitsrisiko von Adipösen zurückzuführen ist. Eine Hypothese wäre, dass, im Kontext einer prekären Lage auf dem Arbeitsmarkt (vgl. S.108ff) und eines stark gestiegenen Gesundheitsbewusstseins unter Vollzeiterwerbstätigen mit hohem beruflichem Status (vgl. S.191ff), die Körperfülle von Bewerbern und Arbeitnehmern immer stärker über ihre Beschäftigungschancen entscheidet. Zur Überprüfung dieser Hypothese wären Daten von Längsschnittstudien für den Zeitraum 1990 bis 2006 notwendig, die zu diesem speziellen Thema in Deutschland nicht zur Verfügung stehen.145 Bei Frauen im mittleren Lebensalter musste ebenfalls eine Ausweitung von sozioökonomischen Differenzen im Gesundheitsbewusstsein, im Rauchverhalten und in der subjektiven Gesundheit beobachtet werden, während sich die Unterschiede bei sportlichen Aktivitäten und beim Adipositasrisiko verringert haben. Hinsichtlich des Gesundheitsbewusstseins von Frauen haben sich die Differenzen für alle Determinanten des sozioökonomischen Status deutlich ausgeweitet. Besonders ausgeprägt und statistisch signifikant war die Ausweitung der Differenzen beim Vergleich der Bildungs- und Einkommensgruppen. Hier nahmen die Unterschiede jährlich um ca. 5% bzw. fast 4% zu. Auch der Tabakkonsum konzentriert sich bei Frauen zunehmend in den unteren Bildungs- und Berufsstatusgruppen. So geht er unter hochqualifizierten Frauen mit verantwortungsvollen beruflichen Tätigkeiten zurück, während geringqualifizierte Frauen mit einfa145
Im Sozio-oekonomischen Panel werden die Körpergröße und das Körpergewicht der Teilnehmer erst seit der Welle des Jahres 2002 erfasst. Daher kann diese Hypothese auf Basis des SOEP nicht überprüft werden.
252
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
chen Tätigkeiten seit 1990 verstärkt rauchen. Die beobachtete Verschärfung der sozialen Unterschiede zwischen Arbeitslosen und Vollzeiterwerbstätigen hat sich auch im Gesundheitszustand von Frauen niedergeschlagen. Während sich der Gesundheitszustand von weiblichen Vollzeiterwerbstätigen deutlich verbessert hat, hat er sich bei arbeitslosen Frauen sogar leicht verschlechtert. Im Unterschied zu den zuvor genannten Indikatoren haben sich bei Frauen die sozioökonomischen Differenzen hinsichtlich sportlicher Aktivitäten und beim Adipositasrisiko verringert, obwohl angesichts der Verschärfung sozialer Ungleichheiten und einer Ausweitung von Differenzen im Gesundheitsbewusstsein eher eine Ausweitung der Unterschiede zu befürchten stand. Eine mögliche Erklärung für diese Entwicklung wäre nach Esser (2001) ein geändertes Framing des Körpergewichts in den unteren Bildungsgruppen. So wurde in einer Metaanalyse für die USA insbesondere bei Frauen eine verringerte Zufriedenheit mit dem eigenen Körper zwischen den 1970er und 1990er Jahren festgestellt (Feingold und Mazzella 1998). Neuere Ergebnisse aus Experimenten sprechen dafür, dass dabei Schönheitsideale, die über die Medien vermitteltet wurden von besonderer Bedeutung sind (Stice et al. 2003). So führt die Exposition mit der Darstellung von sehr schlanken Frauen in Frauenmagazinen zu einer sinkenden Körperzufriedenheit bei übergewichtigen Frauen. Ergebnisse der KORA-Studie sprechen dafür, dass auch in Deutschland ausgeprägte Zusammenhänge zwischen Körpergewicht und Körperzufriedenheit bestehen (Mönnichs und von Lengerke 2004). Die enge des Zusammenhangs hängt bei Frauen – im Unterschied zu Männern – zudem nicht vom sozioökonomischen Status ab. Somit besteht die Möglichkeit, dass Rückgang von Bildungsunterschieden im Adipositasrisiko und bei sportlichen Aktivitäten von Frauen auch auf eine stärkere Durchsetzung von Schlankheitsidealen in den unteren Bildungsgruppen zurückzuführen ist. Diese Hypothese lässt sich anhand der vorliegenden Daten allerdings nicht empirisch überprüfen. Insgesamt deutet sich nicht nur eine Verschärfung der sozialen Ungleichheiten im Allgemeinen, sondern auch eine tendenzielle Zunahme der gesundheitlichen Ungleichheiten in Deutschland an. So haben eben nicht alle gesellschaftlichen Gruppen in Deutschland an der allgemeinen Verbesserung der gesundheitlichen Lage der Bevölkerung partizipiert. Insbesondere haben sich die Gesundheitschancen von Arbeitslosen und Einkommensarmen nicht verbessert, obwohl sie sich auch nicht deutlich verschlechtert haben, wie angesichts der sozialstrukturellen Entwicklung zu befürchten stand. Weil sich aber die Gesundheit der Menschen in mittleren und oberen gesellschaftlichen Lagen immer weiter verbessert hat, bleiben die unteren sozioökonomischen Statusgruppen nicht nur ökonomisch, sondern auch hinsichtlich ihrer Gesundheit bei dieser Entwicklung außen vor.
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
253
Die aktivierende Arbeitsmarktpolitik, die in Deutschland seit Mitte der 1990er verstärkt etabliert wurde, hat weitere gesamtgesellschaftlichen Wohlstandszuwächse und eine größere finanzielle Absicherung der sozialen Sicherungssysteme ermöglicht. Dies wurde allerdings auf Kosten von gesteigerten und verschärften sozialen Ungleichheiten und vergrößerten wirtschaftlichen Unsicherheiten erreicht. Angesichts dieser ambivalenten Bilanz musste in Deutschland eine Ausweitung der gesundheitlichen Ungleichheiten und eine allgemein verschlechterte gesundheitliche Lage der Bevölkerung befürchtet werden. Dies ist allerdings nicht in vollem Umfang eingetreten, so lässt sich die Entwicklung in der 25- bis 69-jährigen Bevölkerung als allgemeine Verbesserung vieler Gesundheitsindikatoren bei gleichzeitigem Fortbestehen oder Zunehmen gesundheitlicher Ungleichheiten beschreiben. 4.5.2 Determinanten des Wandels gesundheitlicher Ungleichheiten Im theoretischen Teil zur sozialen Produktion von Gesundheit und gesundheitlichen Ungleichheiten (vgl. Abschnitt 2.2.3) wurde argumentiert, dass die Entwicklung der materiellen und psychosozialen Lage sowie der Einstellungen von Gruppierungen im Gefüge sozialer Ungleichheiten einen wichtigen Beitrag zur Erklärung der Entwicklung gesundheitlicher Ungleichheiten leisten kann. Dazu wurde eine differenzierte Erfassung der materiellen und psychosozialen Lage der Akteure über die „primären Zwischengüter“ (Esser 2000, S. 119) absoluter Wohlstand (Indikator: Einkommen), relativer Wohlstand (Indikator: Armutsrisiko), Wohlbefinden (Indikator: Lebenszufriedenheit) und materielle Sicherheit (Indikator: wirtschaftliche Sorgen) vorgeschlagen. Es wurde zudem argumentiert, dass neben den Zwischengütern – als strukturell geprägten Handlungsrahmungen – auch die kulturell beeinflussten Kognitionen und Frames der Akteure nicht vernachlässigt werden sollten. Dazu wurde der Blick auf das Gesundheitsbewusstsein als generalisiertem gesundheitsbezogenem Frame gelegt. Nachfolgend soll die empirische Relevanz der Dimensionen materielle Lage, psychosoziale Lage und gesundheitsbezogene Einstellungen für den Wandel der fünf Gesundheitsindikatoren rekonstruiert und zur Überarbeitung der zuvor aufgestellten Hypothesen genutzt werden.146 Dazu werden logistische Regressionsmodelle verwendet, die den Wandel der fünf Gesundheitsindikatoren stufenweise auf allgemeine sozialstrukturelle Veränderungen und auf Veränderungen in der Verteilung primärer Zwischengüter zurückführen. Weil die erklärenden Indikatoren überhaupt nicht oder nicht zu allen Zeitpunkten in den Gesundheitssurveys des RKI erhoben worden sind, wurden sie anhand des 146
Vgl. Abschnitt 2.2.3, Formel 6, S. 85.
254
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
SOEP (Lebenszufriedenheit, wirtschaftliche Sorgen) bzw. anhand der anderen Erhebungswellen der Gesundheitssurveys des RKI (Gesundheitsbewusstsein), imputiert.147 Berechnet werden jeweils zwei Modelle: Im ersten Modell „(1)“ wird der Einfluss soziodemographischer Hintergrundmerkmale und die Veränderung der Prävalenz bei Männer und Frauen in den alten und neuen Bundesländern bestimmt. Im zweiten Modell „(2)“ werden zusätzlich die betrachteten Indikatoren der materiellen und psychosozialen Lage und gesundheitsbezogene Einstellungen berücksichtigt. Dadurch kann auch die relative Veränderung der Modellparameter zwischen dem ersten und zweiten Modell „ǻ(1Æ2)“ beschrieben werden. Die Entwicklung der Prävalenz ergibt sich dabei jeweils durch die Kombination von zwei Haupt- und zwei Interaktionseffekten. Die kombinierten Effekte wurden unter „Veränderung in den Teilpopulationen“ noch einmal gesondert dargestellt.
147 Die imputierten Werte für das Gesundheitsbewusstsein wurden nur verwendet, wenn der Indikator als erklärende Variable verwendet wurde. Beim Gesundheitsbewusstsein und bei wirtschaftlichen Sorgen wurden logistische Regressionen, bei der allgemeinen Lebenszufriedenheit wurden lineare Regressionen verwendet. Grundsätzlich wurden bei der Imputation folgende Merkmale verwendet: Alter, Geschlecht, Jahr, Erbwerbsbeteiligung, Lebensform, Bildung, Erwerbsbeteiligung und Einkommen (Ausnahme: Imputation des Einkommens).
Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
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Tabelle 22: Determinanten der Veränderung gesundheitlicher Lagen
Legende: Abhängige Variablen: „Gesundheitsbewusstsein“= Achten auf die eigene Gesundheit (stark/sehr stark vs. mittel/weniger stark/gar nicht); „Rauchen“= Aktuelles Rauchen (ja vs. nein); „Sportliche Aktivität“= Aktuell mind. 1 Std. pro Woche sportlich aktiv (ja vs. nein); „Adipositas“= BMI>30 (ja vs. nein); „Subjektive Gesundheit“= Selbsteinschätzung des eigenen allgemeinen Gesundheitszustandes (gut/sehr gut vs. zufriedenstellend/weniger gut/schlecht). Erklärende Variablen: Altersspanne (25 Jahre=0,…, 69 Jahre=1), Zeitraum (Untersuchungszeitraum 1990=0,…,2006=1), Äquivalenzeinkommen (Euro zu Preisen des Jahres 2000, z-standardisiert), Lebenszufriedenheit>7 (Skala 0-10, z-standardisiert); Statistik: N= Anzahl der Beobachtungen; Pseudo-R² in % = Pseudo-R² nach McFadden in %; LL= Log Likelihood des Modells ohne (0) bzw. mit Kovariaten (1). Veränderungen: '(1ĺ2)=Relative Veränderung der Parameter nach Aufnahme der Merkmale Einkommen, Armutsrisiko, eigene wirtschaftliche Sorgen und eigens Gesundheitsbewusstsein (nicht wenn Gesundheitsbewusstsein abhängige Variable); na= Relative Veränderung aufgrund eines Vorzeichenwechsels oder eines Parameters nahe 0 bzw. exp(0) nicht darstellbar; Zeitraum= Veränderung des Risikos/der Chance auf das jeweilige Outcome nach Kombination der Interaktionseffekte mit dem Haupteffekt des Zeitraums für die jeweilige Subgruppe x.
Datenbasis: RKI-Trend (1990-2005), SOEP (1990-2006), Alter 25 bis 69 Jahre Für das veränderte Gesundheitsbewusstsein der Bevölkerung hat sich in den Analysen vor allem die Entwicklung des materiellen Wohlstandes als zentrale Determinante erwiesen (vgl. Tabelle 22, Spalte 1). Das z-standardisierte sowie für Preisunterschiede bereinigte und bedarfsgewichtete Haushaltsnettoeinkommen hatte als einzige erklärende Variable zwischen 1990 und 2005 einen statistisch signifikanten Effekt auf das Gesundheitsbewusstsein. So war die Chance darauf, dass ein Befragter gesundheitsbewusst ist unabhängig vom Befragungsjahr um etwa 6% erhöht, wenn sein Äquivalenzeinkommen eine Standardabweichung148 über dem Durchschnitt der Jahre 1990 bis 2005 lag. Die stufenweise Analyse hat gezeigt, dass seit 1990 zwischen 7% (bei Frauen aus den neuen Bundesländern) und 90% (bei Männern aus den neuen Bundesländern) der Zunahme im Gesundheitsbewusstsein auf den Anstieg der Äquivalenzeinkommen zurückzuführen sind. Nach Kontrolle für das Äquivalenzeinkommen hatten weder das Armutsrisiko, noch die psychosozialen Indikatoren einen signifikanten 148 Eine Standardabweichung entspricht einer Veränderung des Äquivalenzeinkommens um ca. 1250 Euro in Preisen des Jahres 2000.
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Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
Einfluss auf das Gesundheitsbewusstsein der Befragten und der Anstieg des Gesundheitsbewusstseins bei Männern war nicht mehr statistisch signifikant. Bei der Analyse der Determinanten der gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen Tabakkonsum und sportliche Aktivität wurde, zusätzlich zur materiellen und psychosozialen Lage der Akteure, auch ihr Gesundheitsbewusstsein berücksichtigt (Tabelle 22, Spalten 2 und 3). Die Ergebnisse zeigen, dass insbesondere das gestiegene Gesundheitsbewusstsein eine wichtige Determinante des allgemein verbesserten Gesundheitsverhaltens war: Die Chance, aktuell zu rauchen, war zu allen Zeitpunkten unter gesundheitsbewussten Männern und Frauen 1,7fach verringert und die Chance sportlich aktiv zu sein 1,6-fach erhöht. Als zweite bedeutende Determinante der Entwicklung des Gesundheitsverhaltens haben sich erwartungsgemäß psychosoziale und materielle Belastungen erwiesen. Machten sich Akteure große Sorgen um die eigene wirtschaftliche Lage und waren sie gleichzeitig von relativer Einkommensarmut betroffen, war ihre Chance zu rauchen zu allen Zeitpunkten 1,7-fach erhöht und ihre Chance sportlich aktiv zu sein 1,3-fach verringert. Die Zunahme von Einkommensarmut und wirtschaftlichen Sorgen in der Bevölkerung hat sich folglich sehr nachteilig auf das Gesundheitsverhalten ausgewirkt. Beim Tabakkonsum wäre bei Konstanthaltung der materiellen und psychosozialen Lage sowie des Gesundheitsbewusstseins der Akteure der Rückgang bei Männern in den alten Bundesländern 1,5-mal stärker ausgefallen. Bei Männern in den neuen Bundesländern und bei Frauen in den alten Ländern war ebenfalls ein um etwa 30% geringerer Anstieg zu beobachten. Nur bei Frauen aus den neuen Ländern hat sich seit 1990 das Armutsrisiko verringert und der materielle Wohlstand deutlich erhöht. Gleichzeitig war bei ihnen nur eine geringe Zunahme psychosozialer Belastungen zu erkennen. Ohne diese insgesamt positive Entwicklung ihrer gesellschaftlichen Lage, wäre der Anstieg des Tabakkonsums von Frauen in den neuen Ländern daher sogar noch stärker als ohnehin schon ausgefallen. Für die Chance darauf, dass Männer und Frauen sportlich aktiv sind, haben sich vor allem ihr Gesundheitsbewusstsein und ihre materiellen Ressourcen als bedeutsame Determinanten erwiesen. Die allgemeine Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen in der Bevölkerung hat somit direkt und vermittelt über das Gesundheitsbewusstsein zum Anstieg sportlicher Aktivität beigetragen. Ohne die Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen und die Zunahme des Gesundheitsverhaltens wäre der Rückgang sportlicher Aktivitäten bei Männern in den alten Ländern doppelt so stark ausgefallen. Der allgemeine Anstieg sportlicher Aktivitäten bei Frauen und der Anstieg bei Männern in den neuen Ländern wären ebenfalls deutlich geringer oder sogar überhaupt nicht zu beobachten gewesen. Die Verbesserungen des Gesundheitsbewusstseins und des Gesundheitsverhaltens in der Bevölkerung haben zur allgemeinen Verbesserung der gesundheit-
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lichen Lage der Menschen beigetragen, die sich an sinkenden Adipositasprävalenzen und steigenden Anteilen von Männern und Frauen, die ihren Gesundheitszustand als „gut“ oder „sehr gut“ bewerten, festmachen lässt (Tabelle 22, Spalten 4 und 5). Für die Entwicklung der Prävalenz von Adipositas haben sich vor allem die materiellen Lebensbedingungen und das durch sie stark beeinflusste Gesundheitsbewusstsein als einflussreich erwiesen. Die Veränderung psychosozialer Belastungen und Ressourcen waren dagegen weitgehend ohne Bedeutung für die Entwicklung des Adipositasrisikos. Ohne die materiellen Wohlstandszuwächse und das gestiegene Gesundheitsbewusstsein wäre das Adipositasrisiko bei Männern deutlich gestiegen und das Risiko bei Frauen nicht wesentlich gesunken. Für die Entwicklung des selbsteingeschätzten Gesundheitszustandes der Bevölkerung haben sich im Zeitverlauf vor allem die psychosozialen Ressourcen und Belastungen der Akteure und ihr materieller Wohlstand als einflussreiche Determinanten erwiesen. Sowohl der Anteil von Männern und Frauen, die mit ihrem Leben im Allgemeinen weitgehend zufrieden sind, als auch der Anteil derjenigen, die sich keine großen oder sehr großen Sorgen um die eigene wirtschaftliche Lage machen mussten, ist seit Beginn der 1990er Jahre in den alten und neuen Ländern deutlich gesunken. Diese Verschlechterung der psychosozialen Lage hat dazu geführt, dass der selbstberichtete Gesundheitszustand sich deutlich langsamer verbessert hat, als es ohne diese Entwicklung möglich gewesen wäre. So wäre die Zunahme des selbstberichteten Gesundheitszustandes in den alten Ländern mehr als doppelt so schnell und in den neuen Ländern immerhin noch 1,2- bzw. 1,4-mal so schnell ausgefallen. Allein der gestiegene materielle Wohlstand hat dazu geführt, dass sich die Verschlechterung der psychosozialen Lebensbedingungen nicht noch negativer auf die subjektive Gesundheit der Bevölkerung ausgewirkt hat. Zusammengenommen hat die zweistufige Analyse der Determinanten des Wandels gesundheitlicher Ungleichheiten für die Dimensionen gesundheitlicher Ungleichheit empirisch bestätigt, dass die Dynamik der fünf Gesundheitsindikatoren zu großen Teilen durch die Veränderung der materiellen und psychosozialen Lage und der gesundheitsbezogenen Einstellungen in der Bevölkerung bestimmt wird (Tabelle 22). So war der Einfluss der soziodemographischen Hintergrundmerkmale auf das Risiko (Geschlecht, Wohnregion und Alter) nach Aufnahme der drei Dimensionen (materiell, psychosozial, wertebezogen) gemessen an den jeweiligen Odds Ratios deutlich verringert. Die Erklärungsleistung der Modelle, gemessen am Pseudo-R² nach McFadden, wurde dagegen durch die Aufnahme der vier bzw. fünf erklärenden Mechanismen deutlich erhöht. Zudem scheint es, dass sich auch die Veränderung der Indikatoren im Vergleich von Männern und Frauen aus den alten und neuen Bundesländern zu großen Teilen auf die drei Dimensionen zurückführen lässt. Der Ansatz, die Entwicklung ge-
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Gesundheitliche Ungleichheiten im Wandel
sundheitlicher Ungleichheiten auf die Ausstattung der sozialen Akteure mit Zwischengütern und auf ihre gesundheitsbezogenen Frames zurückzuführen hat sich damit als fruchtbar erwiesen. Die Ergebnisse der Analysen bestätigen die Notwendigkeit einer Erklärung von Veränderungen durch die Situation und Einstellungen bzw. Frames der Akteure, wie sie im Modell der Frame-Skript-Selektion angelegt ist (vgl. Esser 2004). Einseitige makrostrukturelle Betrachtungen – wie sie in Teilen der sozialepidemiologischen Forschung dominieren – können letztlich keine hinreichenden Erklärungen für den Wandel gesundheitlicher Ungleichheiten liefern. Demgegenüber stellen die Veränderung materieller und psychosozialer Ressourcen auf der Individualebene sowie die veränderten gesundheitsbezogenen Einstellungen der Akteure wichtige Determinanten der Dynamik des Gesundheitsverhaltens und des Gesundheitszustands dar.
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Der deutsche Sozialstaat hat sich zwischen 1985 und 2006 von einem keynesianisch geprägten Versorgungsstaat zu einem aktivierenden Wohlfahrtsstaat entwickelt, der seine monetären Leistungen kürzt und seinen Bürgern dadurch immer mehr wirtschaftliche Unsicherheiten aufbürdet. Die entscheidende Triebfeder dieses einschneidenden Wandels war eine schwierige Lage auf dem Arbeitsmarkt, die sich in Folge der deutschen Einheit in den 1990er Jahren immer weiter verschlechterte. Der Ausgangspunkt der vorliegenden Studie bildete die These, dass sozialer Wandel, soziale Ungleichheit und soziale Unterschiede im Gesundheitsverhalten und Gesundheitszustand sich gegenseitig bedingen, so dass sich ein Umbau des Sozialstaates letztlich auch in der gesundheitlichen Lage der Bevölkerung widerspiegeln muss. Die durchgeführten Analysen haben anschließend verdeutlicht, dass sich die sozialen und gesundheitlichen Ungleichheiten in der Bevölkerung im Zuge des grundlegenden Wandels der sozialen Sicherungssysteme und der wirtschaftlichen Strukturen in Deutschland teilweise deutlich verschärft oder aber nicht verringert haben. Arbeitslose Männer und Frauen sowie Bürgerinnen und Bürger mit niedrigen Bildungsabschlüssen und Einkommen im Bereich des Armutsrisikos, sind in den 1990er Jahren nicht immer glücklicher, wohlhabender, sorgenfreier und gesünder geworden, sondern auf dem Weg zur modernen Wissen- und ‚Gesundheitsgesellschaft’149 weitgehend auf der Strecke geblieben. In Folge der sozialpolitischen und ökonomischen Veränderungen in Deutschland gab es nicht nur in der sozialwissenschaftlichen, sondern auch in der öffentlichen und medialen Wahrnehmung ein zunehmendes Interesse am Thema ‚soziale Ungleichheit’. Ausgangspunkt waren die Erkenntnisse von Forschungsprojekten verschiedener Wohlfahrtsverbände, die Armut bei Erwachsenen und insbesondere bei Kindern und Jugendlichen thematisierten und so eine neue Debatte um Armut und Reichtum in Deutschland angeregt haben (Hauser und Hübinger 1993, Hübinger und Neumann 1998, AWO 2000). Die Veröffentlichung des am 27.1.2000 durch den Deutschen Bundestag beauftragten ersten 149
Der Begriff Wissensgesellschaft wurde – wie bereits erwähnt – u.a. von Daniel Bell (1973) etabliert. Der Begriff Gesundheitsgesellschaft wird von Ilona Kickbusch zur Beschreibung der zunehmenden Bedeutung der Gesundheit in der Moderne verwendet (Kickbusch 2006).
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Armuts- und Reichtumsberichtes der Bundesregierung im Jahr 2001 stellte den ersten Kulminationspunkt dieser öffentlichen Debatte dar (BMAS 2001a). Der Bericht leistete erstmalig eine umfassende und regierungsamtliche Bestandsaufnahme der sozialen Verhältnisse in Deutschland. Die Diskussion um diesen ersten und die – im Zuge der Verstetigung der Armuts- und Reichtumsberichterstattung – weiteren Armutsberichte hat den sozialen Ungleichheiten in Deutschland in den letzten Jahren einen dauerhaften Platz in der Berichterstattung gesichert. Die Notwendigkeit der vorliegenden Studie wurde aus der Feststellung von drei grundlegenden Defiziten in der aktuellen ungleichheits- und medizinsoziologischen Diskussion abgeleitet. Das erste Defizit betrifft die sozialepidemiologische Theoriebildung im Bereich des Wandels gesundheitlicher Ungleichheiten. Hier fehlt bisher ein geeigneter integrierter Bezugsrahmen, der es ermöglicht, die Determinanten der Entwicklung gesundheitlicher Ungleichheiten zu beschreiben und zukünftige Entwicklungen zu prognostizieren. So gibt es keine überzeugenden Vorschläge, wie strukturell argumentierende (bspw. Wilkinson 1996, Starfield 2007) mit individuell argumentierenden Erklärungsansätzen (vgl. etwa die Beiträge in Siegrist und Marmot 2006, Mackenbach 2006) zusammengeführt werden können oder welche Bezugspunkte zwischen medizinsoziologischer bzw. sozialepidemiologischer und allgemeiner soziologischer Theoriebildung bestehen. Ein zweites Defizit betrifft den gegenwärtigen Forschungsstand zur Entwicklung sozialer Ungleichheiten in Deutschland. In der erweiterten ungleichheitssoziologischen Diskussion besteht bislang ein ausgeprägter, offen ausgetragener Dissens darüber, wie sich soziale Ungleichheiten tatsächlich entwickelt haben. Dies liegt auch am Fehlen von theoretisch begründeten Kriterien, die es ermöglichen würden, die Relevanz sozialer Kategorien zu analysieren. So stellen sich auf Basis der Ergebnisse der deutschen Sozialstrukturanalyse die ‚klassischen’ vertikalen sozialen Ungleichheiten einerseits als in Auflösung begriffen dar (Schulze 1992, Beck 1994, Hradil 2001), während sie andererseits als weiterhin prägend für die Lebenschancen der Menschen angesehen werden (Geißler 2006). Einige soziologische Zeitdiagnostiker vertreten sogar die These, dass die soziale Integration der modernen Gesellschaft durch soziale Ungleichheiten zunehmend gefährdet sei, weil das „Elend der Welt“ überhand nehme oder die Lebenslagen der Bevölkerung wirtschaftlich und sozial immer prekärer würden (Bourdieu 1993, Sennet 1998, Castel 2000). Alles in allem scheinen sich die verschiedenen Diskurse zunehmend voneinander zu entfernen (Volkmann 2002, Haller 2006). Ein drittes Defizit liegt nicht im Bereich der Theoriebildung, sondern in der vorliegenden Evidenz. So liegen bisher nur wenige Informationen zum Wandel der Relevanz der verschiedenen Determinanten des sozioökonomischen Status und ihrer Prägungskraft für die gesundheitliche Lage der Menschen
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vor. Daher ist zwar die Veränderung des Ausmaßes sozialer Ungleichheiten für Deutschland gut dokumentiert, die veränderte Prägungskraft der gesellschaftlichen Lage für die Lebenschancen und die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger ist aber bisher nur unzureichend beschrieben worden. Das Ziel dieser Studie war es, den festgestellten Defiziten durch die Integration vorhandener Theorien und die umfassende Analyse vorhandener Daten zu begegnen. Theoretisch sollte ein einheitlicher Bezugsrahmen für die Analyse sozialer und gesundheitlicher Ungleichheiten entwickelt werden, der sich am Modell der soziologischen Erklärung nach Hartmut Esser (1999, 2001) orientiert. Empirisch wurde der Weg einer differenzierten Analyse von zwei zentralen Datenquellen zur gesundheitlichen und sozioökonomischen Lage der deutschen Bevölkerung gewählt, um gleichzeitig verschiedene Aspekte des Wandels sozialer und gesundheitlicher Ungleichheiten beschreiben zu können. Als Datengrundlage für die Analysen zum Wandel sozialer Ungleichheiten wurde das Sozio-oekonomische Panel herangezogen, das seit 1984 jährlich unter mittlerweile mehr als 20.000 Befragten erhoben wird (Wagner et al. 2007). Zur Analyse des Wandels gesundheitlicher Ungleichheiten konnten die bundesweit repräsentativen Gesundheitssurveys des Robert Koch-Instituts verwendet werden, für die seit 1984 mehr als 40.000 Männer und Frauen medizinisch untersucht und befragt wurden. Im Fokus der Analysen stand die Bevölkerung im mittleren Lebensalter zwischen 25 und 69 Jahren. Ihre soziale und gesundheitliche Lage lässt sich anhand der beiden Datenquellen seit Mitte der 1980er Jahre kontinuierlich, detailliert und differenziert beschreiben. Zudem wurde von dieser Bevölkerungsgruppe, die stark von der eigenen Erwerbstätigkeit abhängig ist, angenommen, dass sie am unmittelbarsten von den Folgen des Wandels sozialer Ungleichheiten betroffen ist. In der Soziologie besteht ein weitgehender Konsens darüber, dass die gesellschaftliche Lage eines Menschen durch viele verschiedene Determinanten bestimmt wird (Hradil 2001, Esser 2000). Als besonders prägende vertikale Determinanten werden die Bildung, der Erwerbs- und Berufsstatus sowie das verfügbares Einkommen angesehen. Eine ungleichheitsrelevante Bedeutung haben diese Determinanten, weil sie die Chancen der Akteure für die Inklusion in wichtige soziale Systeme und damit ihren Zugriff auf wertvolle Güter und Ressourcen beeinflussen (Esser 2004). Hinsichtlich der empirischen Entwicklung sozialer Ungleichheiten stehen seit den 1980er Jahren in Deutschland – vereinfacht dargestellt – drei verschiedene Thesen im Raum: Die erste These (‚Strukturierungsthese’) geht vom Fortbestehen der klassischen vertikalen Ungleichheiten in den Lebenschancen der Menschen aus. Ihr lassen sich Vertreter der modernen Schichtungs- oder Klassentheorie zuordnen (Geißler 2006, Wright 1997). Die zweite These (‚Entstrukturierungsthese’) nimmt an, dass neue
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horizontale Ungleichheiten in Werthaltungen und Lebensstilen wichtiger werden und alte Ungleichheiten aufgrund des allgemein gestiegenen Wohlstands an Bedeutung verlieren. Ihr lassen sich die Vertreter der Individualisierungstheorie und der Milieuforschung zuordnen (Beck 1994, Hradil 2001). Die dritte These (‚Exklusionsthese’) geht nicht von einem latent werden sozialer Ungleichheiten aus, sondern beschreibt, dass in der Moderne die Teilnahme und der Ausschluss vom Arbeitsmarkt die wichtigsten Bestimmungsgründe für die Lebenschancen der Menschen werden. Ihr lassen sich neuere Ansätze zur Theorie sozialer Exklusion in der Gesellschaft und auf dem Arbeitsmarkt zuordnen (Castel 2000, Kronauer 2002, Groß und Wegener 2004). In dieser Arbeit wurde das Konzept der primären und indirekten Zwischengüter herangezogen, um Kriterien zur Analyse der veränderten Relevanz sozialer Kategorien zu entwickeln (Esser 1999, S. 97ff). Die erklärende Soziologie geht paradigmatisch davon aus, dass Akteure handeln, um ihr physisches Wohlbefinden zu steigern und um soziale Wertschätzung zu erlangen. Primäre Zwischengüter – wie Geld oder Macht – sind Mittel um diese beiden Zielen zu erreichen. Indirekte Zwischengüter – wie Bildungstitel oder berufliche Stellungen – sind gesellschaftlich institutionalisierte Mittel, um Zugriff auf primäre – das Wohlbefinden oder das Ansehen steigernde – Zwischengüter zu erlangen. Es wurde herausgearbeitet, dass sich die Relevanz, die soziale Kategorien und indirekte Zwischengüter für das Erleben und Handeln der Akteure haben, anhand ihrer Bedeutung für den Zugriff auf primäre Zwischengüter messen lässt. Die Entstrukturierungsthese impliziert, dass die Bedeutung der Determinanten Bildung und Berufsstatus für die Strukturierung des Zugriffs der Akteure auf wertvolle Zwischengüter im Zeitverlauf sinkt, während die Strukturierungsthese impliziert, dass sie steigt oder zumindest gleich bleibt. Die Exklusionsthese impliziert demgegenüber, dass die Relevanz der Integration in den Arbeitsmarkt für die Akteure steigt oder ihren Zugriff auf Zwischengüter zumindest stärker strukturiert als andere Determinanten. Das Zusammenspiel zwischen Wohlfahrtsstaat und Wirtschaftsystem kann als besonders wichtige Determinante für das Ausmaß sozialer Ungleichheiten und den Bedeutungswandel sozialer Kategorien angesehen werden (vgl. EspingAndersen 1990, S. 12ff). Wohlfahrtsstaaten ‚produzieren’ insofern soziale Ungleichheiten, als dass sie die Verteilung von Ressourcen, Kapital und Lebenschancen, die ihren Ausgangspunkt im Wirtschaftssystem hat, je nach nationalem Arrangement der Organisation von staatlicher und privater sozialer Sicherung, mehr oder weniger stark beeinflussen. Aufbauend auf den Besonderheiten der verschiedenen europäischen Wohlfahrtsregime wurde im empirischen Teil nachgezeichnet, welche Herausforderungen der deutsche und andere europäische Wohlfahrtsstaaten in den 1980er und 1990er Jahren zu bewältigen hatten und
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welche sozialen und gesundheitlichen Folgen dies zeitigte. Die meisten Staaten der heutigen EU haben auf die verschärfte wirtschaftliche Konkurrenz und die, durch eine hohe Arbeitslosigkeit und den Altersstrukturwandel ihrer Bevölkerungen bedrohte, Finanzierbarkeit ihrer sozialen Sicherungssysteme mit sozialstaatlichen Einschnitten reagiert. So wurden Transferzahlungen und soziale Dienste weniger großzügig gewährt und ihre Inanspruchnahme zunehmend mit dem Zwang zur Aufnahme oder Suche einer Erwerbsarbeit verbunden. Diese Neuausrichtung der Sozialpolitik war insofern erfolgreich, als dass sie das Ziel der stärkeren arbeitsmarktbezogenen Aktivierung der Erwerbsbevölkerung erreicht hat. Gleichzeitig wurden durch die Reformen aber auch neue Risiken geschaffen und in vormals egalitären Staaten bestehende soziale Ungleichheiten verschärft. So kam es etwa in den skandinavischen Wohlfahrtsstaaten mit ihren vormals gut ausgebauten Sicherungssystemen zu einer deutlichen Ausweitung der Armutsrisiken und Einkommensungleichheiten. Für die meisten Staaten ist wenig darüber bekannt, ob sich im Zuge der Zunahme sozialer Ungleichheit auch die Differenzen zwischen den Statusgruppen verschärft haben und ob die Relevanz sozialer Kategorien, wie Einkommen, Bildung oder Berufsstatus, zugenommen hat. Die Transformation des – als unflexibel bewerteten – deutschen Sozialstaates wird in der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung als besonders erfolgreiches Beispiel für aktivierende Arbeitsmarktreformen angesehen (Fleckenstein 2008). Im Zuge der Reformen des Sozialstaates in den letzten 20 Jahren gab es allerdings nicht nur allgemeine Wohlstandszuwächse, sondern auch eine beträchtliche Ausweitung sozialer Ungleichheiten eine Ausweitung der Unterschiede zwischen den Gruppierungen im Ungleichheitsgefüge. Soziale Kategorien strukturieren nicht nur die materiellen Möglichkeiten sondern auch das psychosoziale Wohlbefinden der Menschen immer stärker. Die Struktur sozialer Ungleichheiten in Deutschland hat sich folglich keineswegs entstrukturiert. Menschen mit geringer Bildung, Arbeitslose, Beschäftigte die einfache Tätigkeiten ausüben und solche die Einkommen unter der Armutsrisikogrenze erzielen, geraten gegenüber gut ausgebildeten und gut verdienenden Vollzeitbeschäftigen zunehmend ins Hintertreffen. Subjektiv nehmen sie die zunehmende Prekarität ihrer gesellschaftlichen Lage ebenfalls immer stärker wahr. Sie sind seltener mit ihrem Leben zufrieden und machen sich immer häufiger große Sorgen um die eigene wirtschaftliche Situation. Eingangs wurde die Frage aufgeworfen, wie sich die Struktur sozialer Ungleichheiten in Deutschland verändert hat. Aufbauend auf den Analysen des dritten Kapitels lautet das Ergebnis dieser Studie: In der 25- bis 69-jährigen Bevölkerung haben sich soziale Unterschiede seit dem Jahr 1990 umfassend verschärft. Insbesondere Geringqualifizierte, Arbeitslose, Beschäftigte in schlechten Jobs und durch Einkommensarmut bedrohte Männer
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und Frauen wurden zwischen 1990 und 2006 zunehmend von weiteren Wohlfahrtssteigerungen ausgeschlossen. Als theoretische Grundlage der Analysen zum Wandel gesundheitlicher Ungleichheiten in Deutschland wurde auf verschiedene sozialepidemiologische Erklärungsansätze Bezug genommen. Dabei wurden insbesondere strukturell und individuell argumentierende Ansätze unterscheiden. Strukturellen Erklärungsansätze beschreiben, dass Gesundheit und gesundheitliche Ungleichheiten durch die Ausgestaltung von wohlfahrtsstaatlichen Strukturen bedingt werden (Wilkinson 1996, Lynch et al. 2000, Coburn 2004, Starfield 2007). Vertreter dieses Ansatzes nehmen an, dass Staaten sich systematisch im Ausmaß der sozialen Ungleichheiten unterscheiden und dass diese Unterschiede über psychosoziale oder materielle Mechanismen einen Einfluss auf die Gesundheit der Bevölkerungen haben. Studien, die aufbauend auf dieser Argumentationslinie nach systematischen Unterschieden zwischen den verschiedenen ungleichheitsrelevanten Wohlfahrtsregimen gesucht haben, konnten allerdings nur in eingeschränktem Maße empirische Zusammenhänge nachweisen (Dahl et al. 2006, Huismann et al. 2007). Erklärungsansätze auf der Individualebene analysieren stattdessen, losgelöst vom strukturellen Kontext, über welche Mechanismen sich die gesellschaftliche Lage von Akteuren auf deren Gesundheit auswirkt. Die Forschung in diesem Bereich hat seit ihren Anfängen in den 1980er Jahren beträchtliche Fortschritte erzielt. So wurden mittlerweile eine Vielzahl von materiellen, psychosozialen und einstellungsbezogenen Mechanismen beschrieben, über die sich erklären lässt, warum sich Menschen in sozial benachteiligten Lebenssituationen zumeist weniger gesundheitsbewusst Verhalten, manchmal schlechter medizinisch versorgt werden, deutlich häufiger und früher von gesundheitlichen Beeinträchtigungen betroffen sind und folglich eine geringere allgemeine und gesunde Lebenserwartung haben (Bartley 2004). Der Wandel gesundheitlicher Ungleichheiten ist aus der individuellen Perspektive heraus allerdings keiner ursächlichen Erklärung zugänglich. Es wurde die These aufgestellt, dass die unzureichende Erklärungsleistung in Bezug auf den Wandel gesundheitlicher Ungleichheiten auf die fehlende Verknüpfung zwischen Struktur- und Akteursebene zurückzuführen ist. So leisten strukturelle Erklärungsansätze zumeist keine differenzierte Analyse der Vermittlungsmechanismen zwischen der gesellschaftlichen Strukturebene und der individuellen Gesundheit der Akteure, während die individuellen Ansätze nicht auf strukturelle Determinanten des Zusammenhangs zwischen dem sozioökonomischen Status und der Gesundheit der Akteure eingehen. Aufbauend auf dem Modell der soziologischen Erklärung (Esser 1999) wurde eine integrierte Analyse gesundheitlicher Ungleichheiten angeregt, die Struktur- und Akteursebene miteinander verbindet. Kernpunkt der Argumenta-
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tion ist, dass soziale Differenzen in der materiellen und psychosozialen Lage sowie in gesundheitsbezogenen Werten und Einstellungen über die gesundheitliche Lage von sozialen Gruppierungen entscheiden. Das Ausmaß gesundheitlicher Ungleichheiten wurde dabei auf die Qualität bzw. das Ausmaß dieser Differenzen in individuellen Situationen und Werthaltungen zurückgeführt und durch den Wandel des Sozialstaats erklärt. Diese Perspektive geht über die bisherigen theoretischen Ansätze hinaus, weil sie weder die soziale Lage der Akteure als gegeben und zeitlich konstant spezifiziert (wie individuelle Ansätze) noch die Mechanismen auf der Akteursebene, die zwischen sozialen Situationen und der Gesundheit vermitteln, ausblendet (wie strukturelle Ansätze). Es ist gerade nicht das Ausmaß von sozialen Ungleichheiten in einer Gesellschaft, welches entscheidend für das Ausmaß gesundheitlicher Ungleichheiten ist, sondern vielmehr das Ausmaß der Differenzen zwischen den Lagen und Einstellungen der Gruppierungen im Gefüge sozialer Ungleichheit, welches über das Ausmaß der gesundheitlichen Ungleichheiten bestimmt. Der Vorteil einer die Relevanz sozialer Kategorien berücksichtigenden, dynamischen Perspektive bei der Analyse sozialer Ungleichheit ist, dass sie es in gewissem Maße erlaubt, das Ausmaß der Veränderung gesundheitlicher Parameter und damit das Ausmaß gesundheitlicher Ungleichheiten aufbauend auf der Entwicklung der materiellen und psychosozialen Lage sozialer Gruppierungen zu prognostizieren. Der geschilderte Zugang ließ – angesichts gestiegener psychosozialer Belastungen in der Bevölkerung und einer Verschärfung sozialer Ungleichheiten – für den Zeitraum von 1990 bis 2006 in Deutschland keine positive Entwicklung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung erwarten. Zudem stand eine deutliche Ausweitung gesundheitlicher Ungleichheiten insbesondere im Vergleich von Bildungsgruppen sowie von Vollzeitbeschäftigten und Arbeitslosen zu befürchten. Wie die Analysen von fünf verschiedenen Gesundheitsindikatoren auf Basis der Daten der repräsentativen Gesundheitssurveys des Robert Koch-Instituts aufzeigen konnten hat sich allerdings die gesundheitliche Lage der Bevölkerung, ungeachtet der schwierigen sozialstrukturellen Ausgangsbedingungen, positiver entwickelt, als prognostiziert wurde. So ist für Deutschland ein beinahe umfassender Trend zur Verbesserung der gesundheitlichen Lage der Bevölkerung zu verzeichnen. Das Gesundheitsbewusstsein der Bevölkerung hat deutlich zugenommen, was zu positiven Entwicklungen im Bereich gesundheitsrelevanter Verhaltensweisen wie Rauchen und sportlicher Aktivität geführt hat. Einzig beim Tabakkonsum von Frauen musste für den Zeitraum 1990-94 bis 2000-05, entgegen des allgemeinen Trends, noch eine Zunahme beobachtet werden. Erst aktuellere Ergebnisse sprechen auch hier für eine einsetzende Verringerung der Prävalenz (Lampert und Thamm 2008). Der allgemeine Gesundheitszustand der Bürger hat sich seit 1990 ebenfalls weiter verbessert.
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Verschiedene Indikatoren zeigen, dass Männer und Frauen in Deutschland immer länger leben und gesund bleiben (Kroll et al. 2008). Eine Epidemie von schwerem Übergewicht zeichnet sich in Deutschland unter Erwachsenen, im Unterschied zu den USA und einigen europäischen Staaten, nicht ab. Dies geht nicht nur aus den Daten der Gesundheitssurveys des Robert Koch-Instituts, sondern auch aus den Untersuchungsdaten der Nationalen Verzehrstudie hervor (BMLV 2008). Die gesundheitspolitischen Anstrengungen zur Primärprävention gesundheitsriskanten Verhaltens haben damit in Deutschland wichtige Erfolge zu verzeichnen. Der Wandel gesundheitlicher Ungleichheiten steht im Zentrum dieser Studie. Angesichts einer fortgesetzten Auseinanderentwicklung der Lebensverhältnisse in Deutschland und einer Ausweitung von gesundheitlichen Ungleichheiten in anderen europäischen Staaten und in den USA, war auch in Deutschland eine deutliche Zunahme gesundheitlicher Ungleichheiten zu erwarten. Empirisch sind aber zumindest die befürchtete gegensätzliche Entwicklung der Gesundheitschancen und auch eine Verschlechterung der gesundheitlichen Lage der unteren Statusgruppen ausgeblieben. Allerdings haben die sozial benachteiligten Teile der Gesellschaft an der Verbesserung der gesundheitlichen Lage und des Gesundheitsverhaltens der Bevölkerung im mittleren Lebensalter deutlich weniger als die besser gestellten Teile partizipiert. Eine Ausweitung gesundheitlicher Ungleichheiten wurde bei Männern hinsichtlich des Gesundheitsbewusstseins, des Adipositasrisikos und des allgemeinen Gesundheitszustandes beobachtet. Eine Verringerung wurde hinsichtlich keines Indikators festgestellt. Bei Frauen gab es ebenfalls zunehmende soziale Differenzen im Gesundheitsbewusstsein, im Tabakkonsum und hinsichtlich des allgemeinen Gesundheitszustandes. Eine Angleichung der Gesundheitschancen wurde einzig hinsichtlich der bildungsbezogenen Differenzen in der Häufigkeit sportlicher Aktivitäten und im Risiko von Adipositas beobachtet. Diese Verringerung der Unterschiede lässt sich nicht aufgrund der Entwicklung der materiellen oder psychosozialen Lebensbedingungen der Bildungsgruppen erklären. So musste aufgrund Entwicklung sogar eine besonders deutliche Ausweitung der Bildungsunterschiede in der Gesundheit erwartet werden. Als mögliche Ursachen der gegenläufigen Trends wurden kulturell bedingte Einstellungsänderungen vermutet. Zusammengenommen hat sich damit die Gesundheit und das Gesundheitsverhalten der Menschen in mittleren und oberen gesellschaftlichen Lagen seit dem Jahr 1990 sukzessive verbessert, während die sozial benachteiligten Teile der Bevölkerung auch hinsichtlich ihrer Gesundheit immer weiter zurückgefallen sind. Die Antwort auf die eingangs gestellte Frage nach der Entwicklung gesundheitlicher Ungleichheiten in Deutschland kann damit nur lauten: Gesundheitliche Ungleichheiten haben sich im Untersuchungszeitraum in Deutschland insgesamt
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nicht verringert, sie haben sich aber auch weniger stark ausgeweitet, als aufgrund der beobachteten Verschärfung sozialer Ungleichheiten zu befürchten stand. Auf Basis des integrierten Erklärungsansatzes konnte die Entwicklung der fünf Gesundheitsindikatoren zu einem beträchtlichen Anteil auf Veränderungen in der materiellen und psychosozialen Lage und den gesundheitsrelevanten Einstellungen der Akteure zurückgeführt werden. Zusammengenommen haben die drei Mechanismen eine vergleichsweise gute Prognose der Entwicklung gesundheitlicher Ungleichheiten ermöglicht. Während der subjektiv bewertete Gesundheitszustand besonders gut auf die Veränderung der materiellen und psychosozialen Lage und der gesundheitsbezogenen Einstellungen der Akteure zurückzuführen war, erwies sich die Veränderung des Gesundheitsbewusstseins aber als weitgehend unabhängig von der Entwicklung der materiellen und psychosozialen Lage der Akteure. Für die Veränderung gesundheitsbezogener Einstellungen haben offenbar kulturelle Prozesse eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Materielle und psychosoziale Ressourcen und Belastungen sowie gesundheitsbezogene Einstellungen hatten für die Veränderung der betrachteten Gesundheitsindikatoren eine jeweils spezifische Bedeutung. Folglich verbietet es sich, von der allgemeinen Entwicklung dieser Indikatoren auf die Veränderung aller Gesundheitsindikatoren zu schließen. Insgesamt hat sich in den im vierten Kapitel durchgeführten Analysen gezeigt, dass der Wandel individueller Situationen und Bewertungen eine wichtige Bedingung für die Veränderung gesundheitlicher Ungleichheiten ist. Das integrierte Modell des Wandels gesundheitlicher Ungleichheiten und der Bezug zum Modell der soziologischen Erklärung haben sich bei der Analyse des Zusammenhangs zwischen sozialem Wandel, sozialen Ungleichheiten und gesundheitlichen Ungleichheiten bewährt. Die darin angelegte Strategie hat eine Verknüpfung der bisher getrennten sozialepidemiologischen Erklärungsmodelle auf der Akteurs- und Strukturebene vorangetrieben. Die Ergebnisse zeigen, dass das Diktum von der Verringerung gesundheitlicher Ungleichheiten als gesamtgesellschaftlicher Aufgabe zutrifft („Together for Health“, KOM 2007). So lassen sich weder psychosoziale noch materielle Lebensbedingungen und auch nicht gesundheitsbezogenen Einstellungen und Kognitionen alleine durch Gesundheitspolitik und den Sozialstaat beeinflussen. Vielmehr sind alle Bereiche der Politik und Gesellschaft gefordert, zur Verringerung gesundheitlicher Ungleichheiten und zur Gesundheitsförderung beizutragen. Somit lautet die Antwort auf die Frage nach den Determinanten der Entwicklung gesundheitlicher Ungleichheiten: Die Entwicklung der gesundheitlichen Lage der Bevölkerung und die Entwicklung gesundheitlicher Ungleichheiten lässt sich auf Veränderungen der materiellen und psychosozialen Lage und der gesundheitsrelevanten Einstellungen der sozialen Akteure zurückführen.
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Fazit
Limitationen hinsichtlich der Aussagekraft der vorliegenden Studie ergeben sich aufgrund der Begrenzungen der verwendeten Datenquellen und der Komplexität des Untersuchungsgegenstands ‚Wandel gesundheitlicher Ungleichheiten’. So muss bei der Interpretation der Ergebnisse einschränkend berücksichtigt werden, dass die Studie vorrangig auf querschnittlichen Daten basiert. Anhand solcher Daten kann nicht zwischen Ursache und Wirkung und dadurch auch nicht zwischen statistischer Assoziation und Kausalität unterschieden werden.150 Darum besteht die Möglichkeit, dass die vorgefundenen Zusammenhänge zwischen der Entwicklung der sozialen und gesundheitlichen Lage nur statistisch assoziativ, nicht aber kausal bestehen. Zudem lässt sich nicht klären, ob die vorgefundene Verschärfung gesundheitlicher Ungleichheiten auf eine verstärkte gesundheitsbedingte soziale Selektion oder auf Veränderungen in den kausalen Auswirkungen der materiellen und psychosozialen Lebensbedingungen zurückzuführen ist. Befunde anderer Studien sprechen allerdings dafür, dass die Zusammenhänge weitgehend auf kausalen Zusammenhängen zwischen sozialer und gesundheitlicher Lage beruhen (vgl. Mielck 2000, Lampert et al. 2005, 2008). Letztlich ist aber ein längsschnittliches Monitoring gesundheitlicher Ungleichheiten notwendig, um zu klären, inwieweit jeweils gesundheitsbedingte soziale Selektion oder kausal wirksame Veränderungen in sozialen Lagen von Bedeutung sind. Das neu etablierte Gesundheitsmonitoring auf Bundesebene am Robert Koch-Institut (vgl. Kurth et al. 2005) und die längsschnittlichen Studien DEGS (Erwachsenenpanel) und KIGGS (Kinderkohorte) können in diesem Zusammenhang als besonders wertvoll angesehen werden. Auch die stetige Erweiterung des SOEP um Gesundheitsindikatoren ist positiv zu bewerten. So lässt sich hinsichtlich der datenbezogenen Einschränkungen folgern, dass die vorgenommene Verknüpfung der aussagekräftigsten verfügbaren Datenquellen zur sozialen und gesundheitlichen Lage (Sozio-oekonomisches Panel und Gesundheitssurveys des RKI) und deren umfassende Analyse anhand von vier Determinanten der sozialen Lage, vier Indikatoren für die soziale Lage sowie fünf Indikatoren der gesundheitlichen Lage, ein gangbarer und auch – nach Auffassung des Autors – der bestmögliche Weg ist, um der bislang noch limitierten Verfügbarkeit umfassender längsschnittlicher Daten zu Sozial- und Gesundheitsindikatoren in Deutschland zu begegnen. Die zweite wichtige Limitation betrifft die Möglichkeit einer theoretischen Modellierung des komplexen 150 In empirischen Untersuchungen wird von Kausalität im Verhältnis zwischen zwei Zuständen ausgegangen, wenn vier Bedingungen erfüllt sind (Schnell 1999, S.59): 1. Es besteht ein statistischer Zusammenhang zwischen ihnen. 2. Es besteht eine zeitliche des Eintretens der Zustände, wobei die Ursache regelmäßig vor der Wirkung eintritt. 3. Der Einfluss von Störfaktoren auf beide Zustände kann ausgeschlossen werden. 4. Systematische Messfehler können für beide Zustände ebenfalls ausgeschlossen werden.
Fazit
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Wechselspiels zwischen Wohlfahrtsstaat, Sozialstruktur und Gesundheit. So stellt sich bereits die Ätiologie einzelner, vermeintlich klar abgegrenzter Krankheitsbilder wie Diabetes mellitus oder koronarer Herz-Kreislauferkrankungen als überaus komplex dar. Die Komplexität nimmt noch weiter zu, wenn die Prägekraft der Zugehörigkeit zu sozialen Gruppierungen für die Gesundheit im Allgemeinen untersucht werden soll und dann noch danach gefragt wird, welche strukturellen sozialen Determinanten den Wandel dieser Prägekraft bestimmen. Es ist daher offensichtlich, dass die in dieser Studie ausgearbeiteten theoretischen Überlegungen zur ‚sozialen Produktion von Gesundheit’ (S.77ff) die soziale Realität nur stark vereinfachend abbilden können. Zwangsläufig sind daher in der Anwendung der theoretischen Überlegungen auf die empirischen Ergebnisse Interpretationen gemacht worden, die über die Aussagekraft der Daten hinausgehen. In entsprechenden Fällen, wie etwa der Frage der Erklärung des Rückgangs der Bildungsunterschiede im Adipositasrisiko von Frauen oder der Ausweitung derselben bei Männern nach Erwerbsstatus, hat sich der Autor bemüht, die eigenen Thesen durch den Verweis auf andere Studien zu bekräftigen und auf die mangelnde empirische Absicherung der Aussagen hinzuweisen. So soll die vorliegende Studie nicht zuletzt auch dazu beitragen Forschungsfragen anzuregen, damit die eingeschlagene Richtung der strukturellen Analyse des Wandels gesundheitlicher Ungleichheiten weiterentwickelt wird. Eine dritte Limitation betrifft die intendierte Verknüpfung von Struktur- und Handlungsebene. So ist auf Basis der Befunde dieser Studie zwar einerseits plausibel, dass das gestiegene Armutsrisiko von Arbeitslosen oder die die allgemeine Zunahme wirtschaftlicher Sorgen in der Bevölkerung die Folgen des strukturellen Wandels des deutschen Sozialstaats sind, andererseits konnte dieser kausale Zusammenhang im Rahmen der Studie nicht empirisch überprüft werden. Die verwendeten Daten des Europäischen Amtes für Statistik (Eurostat) stellen– wie eingangs bereits erwähnt – keine ausreichenden Informationen zum Bedeutungswandel sozialer Kategorien bereit. Für eine Überprüfung wäre eine komparative Studie auf Basis von europäisch vergleichbaren Mikrodaten notwendig, in welcher anhand von Zeitreihen die sozialstrukturellen Folgen vergleichbarer Reformen in unterschiedlichen Wohlfahrtsstaaten verglichen werden müssten. Eine solche, zusätzliche Analyse war in der vorliegenden Studie nicht zu bewältigen, sie stellt vielmehr den Entwurf eines eigenen Forschungsprogramms im Rahmen einer weiterentwickelten europäisch vergleichenden Ungleichheitssoziologie dar. Ungeachtet der genannten Limitationen sprechen die Befunde dieser Studie nach Ansicht des Autors aber letztlich für die eingangs aufgeworfene These: „Der soziale Wandel der deutschen Gesellschaft hat zu einer Verschärfung sozialer Ungleichheiten geführt, die sich auch in einer Ausweitung gesundheitlicher Ungleichheit manifestiert hat.“
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Fazit
Abschließend stellt sich damit nur noch die Frage nach der Bewertung des vorgefundenen Wandels sozialer und gesundheitlicher Ungleichheiten. Ist die aktivierende Sozialpolitik der 1990er und 2000er Jahre tatsächlich ein „gesellschaftliches Verlustgeschäft“ (Lessenich 2008, S. 138) und damit gescheitert, wie einige Autoren behaupten? Und hat dieses mögliche Verlustgeschäft zu hohe gesundheitliche Folgekosten, weil es Gesundheitschancen verringert und Unterschiede in der Gesundheit vergrößert? Kurzfristig betrachtet erscheinen nur der Staat und die Wirtschaft als Gewinner der Transformation der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland. Der Wohlfahrtsstaat hat sich eine nachhaltigere finanzielle Grundlage geschaffen und so die eigene Handlungsfähigkeit erhalten. Die Wirtschaft geht – ungeachtet der Folgen der aktuellen Wirtschaftskrise des Jahres 2009 – aufgrund gesunkener finanzieller Belastungen, wahrscheinlich gestärkt für die internationale Konkurrenz aus den Reformen hervor. Die Bürgerinnen und Bürger erscheinen demgegenüber als eigentliche Verlierer der Reformen. Sie haben umfassend an sozialer Sicherheit verloren und materiell nur wenig gewonnen. Diese Verluste haben die Erwerbstätigen im mittleren Lebensalter besonders hart getroffen. Ihnen wurden – insbesondere im Vergleich zu den heutigen Beziehern von Altersrenten und Pensionen – deutlich höhere Einschnitte zugemutet. Sie müssen sich heute zunehmend vor dem sozialen Abstieg durch Arbeitslosigkeit fürchten und mit gebrochenen Erwerbsbiographien umgehen, während sie in Zukunft gleichzeitig eine Rente erwarten müssen, die hinter derjenigen früherer Generationen zurückbleiben wird (BMAS 2008b). Gleichzeitig sind sie es, die für die soziale Absicherung der heutigen Rentner verantwortlich sind und in Folge der aktuellen Wirtschaftskrise zu Hunderttausenden um ihren Job bangen müssen. So stellt sich auch die Frage nach der Generationengerechtigkeit der Reformen des Sozialstaats (vgl. Schokkaert und Van Parijs 2003). Andererseits zeigt sich angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrise des Jahres 2009, dass langfristig nur der Wohlfahrtsstaat und eben nicht der Markt ein verlässlicher Garant für soziale Sicherheit ist. Ohne den Wohlfahrtsstaat sind die Bürgerinnen und Bürger einer wirtschaftlichen Rezession hilf- und schutzlos ausgeliefert. Die nachhaltige Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme liegt also im fundamentalen Interesse jedes Bürgers. Es bleibt nur zu hoffen, dass die sozialpolitischen Anstrengungen, die unternommen wurden, um den Sozialstaat zu bewahren, auch langfristig erfolgreich bleiben. Ohne einen gut ausgebauten und nachhaltig finanzierten Wohlfahrtsstaat ist eine Gesundheitsgesellschaft schlechterdings nicht vorstellbar.
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