Wahler in Deutschland: Sozialer und politischer Wandel, Gender und Wahlverhalten

Steffen Kühnel · Oskar Niedermayer Bettina Westle (Hrsg.) Wähler in Deutschland Sozialer und politischer Wandel, Gender...

Author: Steffen Kuhnel | Oskar Niedermayer | Bettina Westle

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Steffen Kühnel · Oskar Niedermayer Bettina Westle (Hrsg.)

Wähler in Deutschland Sozialer und politischer Wandel, Gender und Wahlverhalten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

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1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Frank Schindler VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16886-9

Inhalt

Inhalt

5

Vorwort

7

Sozialer und politischer Wandel Orientierungen gegenüber der Demokratie Bettina Westle und Oskar Niedermayer

11

Gesellschaftliche und parteipolitische Konfliktlinien Oskar Niedermayer

30

Beeinflusst Anomia politische Orientierungen? Steffen Kühnel, Anja Mays und Esther Ochoa Fernández

68

Der Wandel des parteipolitischen Engagements der Bürger Oskar Niedermayer

82

Gender und Politik Immer noch in der Steinzeit? Gesellschaftliche und politische Gender-Orientierungen Bettina Westle

137

Wahlkampf der Geschlechter? Inhaltsanalyse von Printmedien im Bundestagswahlkampf 2005 Bettina Westle und Ina Bieber

166

Macht – Mehrheit – Merkel? Wahrnehmung des Meinungsklimas zu Frauen in politischen Führungspositionen und zur Kanzler/in-Präferenz Bettina Westle und Thomas Schübel

198

Warum sollen wir Sie wählen, Frau Merkel? Analyse zum „feministischen Wahldilemma“ Bettina Westle

228

Rechtsextremismus, Sexismus und Gender Gap Richard Stöss

261

6

Inhalt

Wahlverhalten Das Michigan-Modell des Wahlverhaltens und die subjektive Sicht der Wähler. Zur Korrespondenz der Effekte von Parteineigung, Kandidatenbewertungen und Urteilen zu politischen Sachthemen mit der subjektiven Begründung von Wahlentscheidungen Steffen Kühnel und Anja Mays Die Spitzenkandidatin Angela Merkel (CDU/CSU) und der Spitzenkandidat Gerhard Schröder (SPD) in der Wahrnehmung der Bevölkerung bei der Bundestagswahl 2005 Bettina Westle

313

329

Politisches Wissen als Grundlage der Entscheidung bei der Bundestagswahl 2005 Bettina Westle

366

Charakteristika und Motive der Stimmensplitter bei der Bundestagswahl 2005 David Johann

399

Eine Betrachtung der Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2005 auf Basis von Rational-Choice- Konzepten David Johann Schicht, soziale Mobilität und Wahlverhalten Anja Mays und Jürgen Leibold

424

450

Vorwort

Der vorliegende Band umfasst Analysen zum sozialen und politischen Wandel, zu Genderorientierungen und zum Wahlverhalten im Umfeld der Bundestagswahl 2005. Grundlage und Ausgangspunkt der in diesem Band vorgestellten Analysen sind die Ergebnisse des von den drei Herausgebern geleiteten und von der DFG finanzierten Forschungsprojekts „Bürger und Parteien“, in dessen Rahmen u.a. kurz nach der Bundestagswahl 2005 eine allgemeine Bevölkerungsumfrage durchgeführt wurde. In dem Forschungsprojekt wurden klassische Fragestellungen der empirischen Wahlforschung, der allgemeinen Einstellungsforschung und der Parteienforschung wie Wahlbeteiligung und Wahlverhalten, Stimmensplitting, Kandidatenorientierungen, Konfliktlinien, parteipolitisches Engagement, gesellschaftliche und politische Orientierungen und Demokratieunterstützung thematisiert. Darüber hinaus wurde eine Reihe von empirisch bisher noch zu wenig untersuchten Themen aufgegriffen. So wurden u.a. sehr ausführlich Daten zum politischen Wissen der Befragten erhoben, da die Beschäftigung mit kognitiven Orientierungen der Bevölkerung in der Forschung noch ein Schattendasein fristet. Da bei der Bundestagswahl 2005 mit Angela Merkel zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik eine Kanzlerkandidatin aufgestellt wurde, die – da von einer der großen Parteien kommend – eine echte und dann ja auch realisierte Chance hatte, Kanzlerin der Bundesrepublik zu werden, wurde zudem sehr ausführlich die Bedeutung des Geschlechts von Politikerinnen und Politikern in den Augen der Befragten erfasst. Dies schuf auch die Gelegenheit, die Zusammenhänge zwischen Genderorientierungen und anderen Orientierungsmustern wie z.B. dem Rechtsextremismus zu untersuchen. Schließlich erhielten Fragen des sozialen und politischen Wandels und seiner Auswirkungen auf Orientierungen und Verhaltensweisen der Bürger ein besonderes Gewicht. Diesen Schwerpunkten des Forschungsprojekts folgend, sind die Beiträge in diesem Band in drei Bereiche gegliedert. Zunächst werden in vier Beiträgen Aspekte des sozialen und politischen Wandels und seiner Folgen diskutiert. Hier geht es um die Veränderungen der Orientierungen gegenüber der Demokratie, den Wandel der gesellschaftlichen und parteipolitischen Konfliktlinien, den Einfluss der Anomia auf politische Orientierungen und schließlich den Wandel des parteipolitischen Engagements der Bürger. Im zweiten Teil werden fünf Beiträge vorgestellt, die sich mit Gender und Politik beschäftigen. In diesen Beiträgen stellt sich aus verschiedenen Perspektiven die Frage, inwieweit das Geschlecht von Akteuren sowohl der Angebots- als auch der Nachfrageseite von Politik eine Rolle für die Wahrnehmung und Bewertung von Politik und für politisches Verhalten spielt. Schließlich werden im dritten Teil des Bandes die eher klassischen Themen der empirischen Wahlforschung, d.h. die Fragen nach den Determinanten der Wahlbeteiligung und der Parteienwahl, angesprochen, aber auch hier mit einem eigenen Akzent, wenn etwa die Korrespondenz der Wahlverhaltensdeterminanten des Michigan-Modells mit der subjektiven Begründung von Wahlentscheidungen analysiert oder die Bedeutung des politischen Wissens auf die Entscheidung bei der Bundestagswahl 2005 untersucht wird.

8

Vorwort

In der im Rahmen des Projekts „Bürger und Parteien“ durchgeführten Nachwahlbefragung zur Bundestagswahl 2005 wurden durch Infratest dimap, Berlin, bereits kurz nach der Wahl beginnend in der Zeit vom 23.9. bis zum 13.10.2005 insgesamt 2540 Personen befragt. Die im Mittel gut einstündigen computerunterstützten Interviews wurden in den Haushalten der Befragten geführt. Die Auswahl erfolgte auf der Basis einer geschichteten mehrstufigen Zufallsauswahl aus der deutschen Wohnbevölkerung ab 18 Jahren. Da es insbesondere beim Wahlverhalten deutliche Unterschiede zwischen den alten Bundesländern und den neuen Bundesländern auf dem Gebiet der ehemaligen DDR gibt, wurde für Ost-West-Vergleiche eine disproportionale Schichtung vorgenommen, so dass etwa 1/3 der Befragten aus den neuen Bundesländern kommt. Wird diese Überrepräsentativität berücksichtigt, erlaubt der Stichprobenplan repräsentative Aussagen für die gesamte Bundesrepublik. Ein Teil der Befragten wurde zudem im Herbst 2007 bzw. Frühjahr 2008 telefonisch wiederbefragt1. Steffen Kühnel, Oskar Niedermayer und Bettina Westle

1

Die Daten der Studie sind in der Kölner Abteilung „Datenarchiv und Datenanalyse“ (dem ehemaligen Zentralarchiv für empirische Sozialforschung) des GESIS Leibnitz-Institut für Sozialwissenschaften (http://www.gesis.org) archiviert und können von dort für Sekundäranalysen bezogen werden.

Sozialer und politischer Wandel

Orientierungen gegenüber der Demokratie Bettina Westle und Oskar Niedermayer

1.

Orientierungen gegenüber der Demokratie als Thema der empirischen Forschung

„Diebstahl an Demokratie“ titelte Spiegel-Online am 3. Nov. 2006 und in der Schlagzeile: „Über Jahre zollten die Machthaber der Demokratie wenig Respekt. Nun rächt sich der lieblose Umgang. Das Volk will von der wichtigsten gesellschaftlichen Errungenschaft der Neuzeit nichts mehr wissen“. Im Kommentar des Politikwissenschaftlers Franz Walter erfährt man zudem: „In jüngster Zeit aber hat sich die Einstellung vieler Deutschen fundamental gewandelt. Die Akzeptanz vieler demokratischer Institutionen, besonders aber der Parteien und Regenten, ist nahezu erdrutschartig zusammengestürzt. Seit dieser Woche wissen wir, dass über die Hälfte der Bundesbürger mit der Demokratie wenig bis gar nicht zufrieden ist.“ Die Unzufriedenheit mit Parteien und Regierung mag zwar groß sein. Aber als Datengrundlage dieses reißerisch aufgemachten Artikels wird eine Zeitreihe des Eurobarometer präsentiert, die im Vergleich zu den Vorjahren 2006 zwar ein anhaltend niedriges Niveau, jedoch keinen plötzlichen dramatischen Rückgang der Demokratiezufriedenheit zeigt (vgl. u.). Auch bestehen zwischen der Bewertung von Parteien, Regierung und Demokratie zwar bekanntermaßen Zusammenhänge, jedoch auch gravierende Unterschiede, insbesondere im Hinblick auf die normative und auf die stabilitätsbezogene Bedeutung, die diesen Objekten für das politische System zukommt. So bilden kompetitive Wahlen das zentrale Strukturelement, durch das sich Demokratien von anderen politischen Systemen unterscheiden. Dadurch, dass die politischen Akteure in regelmäßigem Abstand dem Votum der Bevölkerung ausgesetzt sind, soll ihre Responsivität gegenüber den Wählerwünschen gefördert und dauerhafte politische Unzufriedenheit reduziert werden. Die Möglichkeit, das Regierungsteam abzustrafen bzw. ein neues ins Amt zu befördern, soll insbesondere ein Übergreifen von Unzufriedenheit mit den politischen Akteuren und den Ergebnissen ihrer Arbeit auf die Strukturebene des politischen Systems, auf die Demokratie selbst, vermeiden. Die Funktion dieses Schutzmechanismus ist allerdings an bestimmte Voraussetzungen gebunden. Dazu gehört auf der gesellschaftlichen Seite vor allem das Fehlen dauerhafter, struktureller Minderheiten, für die keine Chance besteht, in Wahlen jemals zur regierungsunterstützenden Mehrheit zu gehören. Auf der Seite der politischen Akteure gehört dazu insbesondere, dass der Wählerschaft Angebote präsentiert werden, die von ihr als inhaltliche und prozessuale Alternativen (Positions- und Valenzissues), als der Politik überhaupt zugänglich und als realisierbar wahrgenommen werden. Dies betrifft nicht nur den alltagspolitischen Output, sondern auch tiefgreifendere Entscheidungen der politischen Eliten, die sich auf die Struktur- und Wertebene der Demokratie selbst richten, also bspw. auf alternative Interpretationen des Sozialstaatsprinzips oder alternative Haltungen zur Ergänzung der parlamentarischen Demokratie durch plebiszitäre Elemente. Sofern sich politische Unzufriedenheit auf diese Ebene richtet und

12

Bettina Westle und Oskar Niedermayer

hierzu dauerhaft keine Alternativen geboten werden, ist das Entstehen von Kritik nicht nur an den politischen Akteuren, sondern auch an der Funktionsweise der Demokratie zu erwarten. Grundsätzliche Gegnerschaft zur Demokratie können allerdings auch Wahlen nicht auffangen, da in ihnen die Demokratie selbst nicht zur Disposition gestellt wird (einen Graubereich stellen hier allenfalls Parteien der extremen Linken oder extremen Rechten dar, die sich Wählern mit antidemokratischen Überzeugungen, aber auch punktuellen Protestwählern als Alternative anbieten mögen). Anzeichen für Probleme gab es im Vorfeld der Bundestagswahl 2005 auf allen genannten Ebenen. So erschien das seit langem entgegen aller Wahlversprechen ungelöste Problem der hohen Arbeitslosenzahlen und die anhaltende Konjunkturflaute durchaus geeignet, die Fähigkeit der Politik zur Bearbeitung anstehender Probleme in Zweifel zu ziehen. Verweise auf die Einschränkung der Reichweite nationaler Politik durch die Europäische Union und durch Prozesse der Globalisierung dürften Skepsis und Ängste zusätzlich genährt haben. Bereits durchgeführte und angekündigte Reformen im Sozialstaatsbereich – Hartz IV, Gesundheitsreform, Rentenalter und Rentenzahlungen – präsentierten sich der Wählerschaft als wenig attraktive „Alternative“ zwischen Abbau und Rückbau. Der Aufbau Ost wurde nach wie vor in Ostdeutschland als zu langsam wahrgenommen und die Rede von der Nostalgie verwies auf entsprechende Protestreaktionen. Auch die Rede von der politischen Klasse und Kartellparteien indizierte mangelnde Responsivität, Abgehobenheit und Selbstbedienungsmentalität des politischen Personals. Schließlich dürfte die Vorgeschichte der vorgezogenen Bundestagswahl – die vorgeblich durch die hohen Verluste der SPD bei den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen ausgelöste Entscheidung des Bundeskanzlers Schröder, im Parlament die Vertrauensfrage zu stellen, mit dem Ziel sie zu verlieren und so Neuwahlen zu erzwingen, aus denen er – entgegen der deutlichen Signale der Landtagswahlen – als Sieger hervorzugehen und somit eine neue Legitimation für die Fortsetzung seiner Politik erhoffte – bei der Wählerschaft zumindest zeitweise zu Verwirrung über Schröders Motive und Ziele geführt haben und evtl. sogar Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Institution der Bundestagswahl geweckt haben. Unzufriedenheit mit und Kritik an der Demokratie ist allerdings keineswegs neu. Erinnert sei z.B. an die sog. Unregierbarkeits- und Legitimitätskrise der Demokratie als Schlagwort der 70er Jahre oder die Politik- und Demokratieverdrossenheit als Schlagworte der 90er Jahre (z.B. Habermas 1976, Hennis/Kielmansegg/Matz 1977, 1979, Kaase 1979, Offe 1979 sowie Friedrich 1992, Rudzio 1992, Schedler 1993, Ehrhart/Sandschneider 1994, Welzel 1995, Patzelt 1999, Wolling 1999, Maier 2000, Maurer 2003; zu Überblicken s. auch Westle 1989, Arzheimer 2002). Spätestens seit dieser Zeit hat sich auch die Politikwissenschaft intensiver mit der Bedeutung, der Konzeptualisierung und Messung von Unzufriedenheiten auf verschiedenen Ebenen des politischen Systems auseinandergesetzt. Die Grundlage dafür bildet in der empirischen Forschung zumeist das bereits in den 60er Jahren in der amerikanischen Forschung durch Easton eingeführte Konzept der politischen Unterstützung (1965, 1975). Dieses Konzept ist inzwischen unterschiedlichen Interpretationen, diversen Modifikationen und Weiterentwicklungen ausgesetzt gewesen (für einen Überblick hierzu s. Westle 2007). Dabei können zwei besonders wichtige Veränderungen als zentrale Trends benannt werden: So wurde Unzufriedenheit mit der Demokratie zunächst in der Forschung überwiegend mit der Ablehnung dieser Systemform gleichgesetzt und daher als gravierender Krisenindikator gewertet, als Anzeichen für eine Gefährdung der Systemstabilität (z.B. Dennis 1966, Gam-

Orientierungen gegenüber der Demokratie

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son 1968, Muller/Jukam 1977, Muller/Jukam/Seligson 1982, Fuchs 1989). Erst langsam setzte sich dann eine alternative Deutung durch, bei der zunächst die Bewertung der demokratischen Realität von der Einstellung zur Idee der Demokratie als Staatsform differenziert wurde. Dabei wurde beobachtet, dass die Demokratie als Staatsform breit unterstützt wurde, aber gleichzeitig eine durchaus weit verbreitete Unzufriedenheit mit ihrer Realisierung bestand. Dies legte die Interpretation nahe, dass diese Unzufriedenheit Ausdruck von hohen Ansprüchen, von Kritik an manchen Missständen sowie von teilweise alternativen, auf mehr direkte Beteiligungsmöglichkeiten gerichteten Vorstellungen ist, die jedoch durch grundsätzlich loyale Demokraten artikuliert sei (Westle 1989, 1992, 1994). Eine ähnliche Interpretation fand deutlich später auch international ihren Durchbruch, als zunehmend mit positivem Tenor von „kritischen Demokraten“ die Rede war (bes. Dalton 1999, Inglehart 1999, Klingemann 1999, Norris 1999, Linde/Ekman 2003, Geissel 2008). Damit entwickelte sich gleichzeitig allerdings auch eine Tendenz, solche Unzufriedenheit nur noch positiv zu deuten, sie nur noch als Folge einer kognitiv mobilisierten, sich emanzipierenden Bürgerschaft zu sehen und sie als Warnsignal zu ignorieren. Dies erscheint jedoch wenig angemessen, denn dauerhafte Unzufriedenheit mit der Realisierung der Demokratie als Staatsidee widerspricht dem Selbstverständnis der Demokratie als einer durch die Bürgerschaft legitimierten Staatsordnung. Zudem ist nicht auszuschließen, dass permanente Unzufriedenheit mit der Umsetzung der demokratischen Idee dazu führt, dass sie als nicht hinreichend umsetzbar wahrgenommen wird und so auch die grundsätzliche Unterstützung der Idee der Demokratie erodiert. In Anlehnung an frühere, konzeptionelle Arbeiten (z.B. Westle 1989, 1999, Niedermayer 2005) werden nachfolgend für die Analyse der Einstellungen zur Demokratie drei Objekt-Ebenen und ihnen entsprechende Unterstützungsarten differenziert: (a) die politische Philosophie als Grundlage politischer Ordnungen, hier also die Idee der Demokratie im allgemeinsten Sinn – gefragt wird nach ihrer grundsätzlichen Unterstützung; (b) ihre konkrete verfassungsrechtliche Interpretation, wie sie in der Bundesrepublik im Grundgesetz als repräsentative Demokratie niedergelegt ist und (c) ihre materiale Umsetzung im Alltag, also die Verfassungswirklichkeit – gefragt wird in beiden Fällen nach der Zufriedenheit mit dieser Demokratieversion (sog. diffus-spezifische Unterstützung) (vgl. für die entsprechenden Indikatoren dazu Übersicht 1 zur Studie Bürger und Parteien; die aus anderen Studien zusätzlich herangezogenen Indikatoren sind mit diesen vergleichbar). Diese Ebenen unterscheiden sich u.a. durch den Grad ihrer Konkretheit und durch ihre potenzielle Wandelbarkeit, mit der auch die Variabilität ihrer Unterstützung korrespondiert. Während Demokratie als Staatsform heutzutage insofern nahezu universelle Akzeptanz findet, als sich kaum eine Staatsführung leistet, sich nicht mit diesem Begriff zu schmücken, so kann sich dahinter doch sehr Unterschiedliches verbergen. Die allgemeine Idee der Demokratie kann verschieden ausgelegt werden und findet in verschiedenen Staaten differente Ausformungen, wie z.B. rein repräsentative oder gemischt direktdemokratische und repräsentative Demokratien, präsidiale oder parlamentarische Formen, Konkurrenz- oder Konkordanzdemokratien, liberale oder republikanische Formen etc. Für gewöhnlich sind in der Verfassung wesentliche Werte und Strukturprinzipien niedergelegt, die die jeweilige Demokratie prägen. Verfassungsnorm und Verfassungsrealität sind aber zumeist nicht deckungsgleich, denn für die realen Prozesse in jeder Demokratie spielen zum einen neben den formalen Regelungen auch informelle Faktoren wie z.B. Gewohnheiten und das staatsbürgerliche Selbstverständnis eine Rolle. Zum anderen können Verfassungsnorm und

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Bettina Westle und Oskar Niedermayer

-wirklichkeit sich unterscheiden, wenn Institutionen anders funktionieren als vorgesehen oder wenn politische Akteure sich nicht normkonform verhalten. Darüber hinaus wird die Verfassungswirklichkeit auch durch politische Entscheidungen und Outputs geformt, die zwar keinen Verfassungsrang haben, aber dennoch die demokratischen Prozesse und Funktionsweisen beeinflussen. Und schließlich können sich auch außerpolitische, z.B. ökonomische Faktoren auf die demokratische Realität auswirken. All dies kann auch in die Orientierungen der Bürger/innen gegenüber der Demokratie einfließen. Die drei angeführten Ebenen der politischen Ordnung sind daher als hierarchisch geordnet gedacht, wobei die Unterstützung der Idee der Demokratie als oberste Ebene für gewöhnlich am weitesten verbreitet und am stabilsten über die Zeit hinweg ausfallen sollte, während die Bewertung der realen Funktionsweise der Demokratie die meisten Kritikpunkte bietet. Darüber hinaus sollte die Unterstützung dieser drei Ebenen für gewöhnlich einen mit dem Abstraktionsgrad der Ebene abnehmenden Grad des Zusammenhangs mit der Unterstützung der amtierenden Regierung aufweisen, da die den demokratischen Alltag sehr viel deutlicher prägt als die Verfassung und die Idee der Demokratie von aktuellen Regierungen nahezu unabhängig ist1. Auf der Grundlage der drei angeführten Indikatoren zu den Objektebenen der politischen Ordnung lässt sich eine Typologie der Orientierungen gegenüber der Demokratie bilden, in der vier Typen unterschieden werden (vgl. Niedermayer 2005, 2009): (a) zufriedene Demokraten, die der Idee der Demokratie positiv gegenüberstehen und sowohl mit der im Grundgesetz festgelegten spezifischen Form der Demokratie als auch mit ihrem tatsächlichen Funktionieren zufrieden sind; (b) politikkritische Demokraten, die der Idee der Demokratie positiv gegenüberstehen und mit der im Grundgesetz festgelegten Form der Demokratie zufrieden, mit dem tatsächlichen Funktionieren der Demokratie jedoch unzufrieden sind; (c) systemkritische Demokraten, die der Idee der Demokratie positiv gegenüberstehen, aber sowohl mit der im Grundgesetz festgelegten spezifischen Form der Demokratie als auch mit ihrem tatsächlichen Funktionieren unzufrieden sind; (d) Nicht- bzw. AntiDemokraten, die sowohl mit dem tatsächlichen Funktionieren der Demokratie in Deutschland als auch mit der im Grundgesetz festgelegten spezifischen Form der Demokratie unzufrieden sind und auch die Demokratie als Idee grundsätzlich ablehnen. Diese Typologie lehnt sich an die Vorstellung wachsender Unterstützung der Demokratie mit zunehmender Entfernung der Objektebene von den aktuellen politischen Akteuren und ihren Policies an und unterstellt im Sinn einer Guttman-Skala, dass die Unterstützung einer niedrigeren Systemebene immer die Unterstützung der höheren Systemebenen voraussetzt, jedoch nicht umgekehrt. Empirisch sollten sich also möglichst keine bzw. nur wenige Fälle zeigen, die eine andere Rangordnung der Unterstützung aufweisen (z.B. mit der Verfassungswirklichkeit zufrieden sind, aber die Idee der Demokratie ablehnen).

1

Der Stimulus „Idee der Demokratie“ ist also bewusst sehr allgemein gehalten und für eine gehaltvolle Interpretation des Indikators ist es nicht unbedingt erforderlich, das hinter der Zustimmung oder Ablehnung stehende individuelle Demokratieverständnis en detail zu kennen. Ähnlich wird bei dem Stimulus zur „Demokratie des Grundgesetzes“ nicht davon ausgegangen, dass die Bürger/innen über eine umfangreiche Kenntnis verfassungsrechtlicher Bestimmungen des GG verfügen; vielmehr kann das GG als Symbol für Grundzüge der bundesdeutschen Demokratie stehen. Die Demokratiezufriedenheit schließlich kann als Resultat eines Vergleichs zwischen den Demokratieidealen eines Befragten und seiner Wahrnehmung der Realität der Demokratie verstanden werden. Zu Aspekten des Demokratieverständnisses vgl. aber z.B. Bauer 1991, Westle 1994, 1998, Fuchs 1997, Niedermayer 2009.

Orientierungen gegenüber der Demokratie

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Übersicht 1: Dimensionen und Indikatoren zu Orientierungen gegenüber der Demokratie und Bildung der Typologie diffuse Unterstützung der politischen Ordnungsform als Staatskonzept

Zunächst geht es nicht um tatsächlich bestehende Demokratien, sondern um die Idee der Demokratie. Was würden Sie, im Vergleich zu anderen Staatsideen, zur Idee der Demokratie sagen: Sind Sie sehr für die Idee der Demokratie, ziemlich für die Idee der Demokratie, etwas für die Idee der Demokratie, etwas gegen die Idee der Demokratie, ziemlich gegen die Idee der Demokratie, sehr gegen die Idee der Demokratie? Nun geht es um die Demokratie in der Bundesrepublik. Was würden Sie zur diffus-spezifische der Demokratie, so wie sie im Grundgesetz festgelegt ist, sagen: Sind Sie Unterstützung der damit sehr zufrieden, ziemlich zufrieden, etwas zufrieden, etwas unzufrieformalen politischen den, ziemlich unzufrieden, sehr unzufrieden? Ordnung in der BRD diffus-spezifische Und wie zufrieden oder unzufrieden sind Sie – alles in allem – mit der DeUnterstützung der mokratie, so wie sie in Deutschland funktioniert? Sind Sie damit sehr zumaterialen politischen frieden, ziemlich zufrieden, etwas zufrieden, etwas unzufrieden, ziemlich Ordnung in der BRD unzufrieden, sehr unzufrieden? Typologie

Idee der Demokratie Demokratie d. Grundgesetzes Realität der Demokratie

Nicht-/ SystemPolitikZufriedener Antikritischer kritischer Demokrat Demokrat Demokrat Demokrat + + + -

-

+ -

+ +

+=positives Urteil, -=negatives Urteil

Für die Bundesrepublik vor der Wiedervereinigung zeigen zahlreiche empirische Studien, dass sich nach und nach ein auf die Idee und Praxis der Demokratie bezogener demokratischer Grundkonsens entwickelt hatte der im Vergleich mit anderen Demokratien sogar überdurchschnittlich stark war (vgl. z.B. Conradt 1980, Baker/Dalton/Hildebrandt 1981, Gabriel 2008). Nach der Herstellung der deutschen Einheit stellte sich die Frage, inwieweit die Demokratie durch die Bürger im gesamten Deutschland legitimiert würde, ob die bisherige Zustimmung zur Idee der Demokratie auch von den Bürger/innen in den neuen Bundesländern getragen würde, inwieweit die Folgeprobleme der Einheit die Zufriedenheit mit der Demokratie und evtl. auch ihre grundsätzliche Akzeptanz beeinträchtigen würde und ob die Vorstellungen zur Demokratie in West und Ost einander ähneln oder sich unterscheiden würden. Die folgende Analyse richtet sich daher auf den Vergleich zwischen West- und Ostdeutschen. Dabei werden die Orientierungen gegenüber den drei Ebenen der Demokratie zunächst getrennt betrachtet und danach in der oben beschriebenen Typologie zusammengefügt.2 2

Die dabei verwendeten Daten von 2002 bis 2008 stammen aus Studien, deren Daten uns zur Verfügung stehen. Die repräsentativen Bevölkerungsumfragen dieser Forschungsprojekte weisen unterschiedliche Altersgrenzen auf. Für die Analysen wurden nur die Daten für Befragte ab 18 Jahren verwendet. Im Einzelnen handelt es sich um die folgenden Studien: 2002: „Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland“ (Projektleiter: Elmar Brähler, Finanzierung: Universität Leipzig, N = 2025); 2003: „Gewerkschaften und Rechtsextremismus“ (Projektleiter: Bodo Zeu-

16 2.

Bettina Westle und Oskar Niedermayer Orientierungen gegenüber der Demokratie als Staatsidee

Auch seit der Vereinigung bekundet die große Mehrheit der Deutschen ihre Zustimmung zur Idee der Demokratie als politischem Ordnungsmodell. In der Intensität der Befürwortung zeigen sich jedoch erhebliche Unterschiede zwischen Ost und West. So sprechen sich in Westdeutschland im gesamten Zeitraum regelmäßig mehr Befragte als in Ostdeutschland Tabelle 1: Diffuse Unterstützung der Idee der Demokratie in West- und Ostdeutschland 1985 bis 2008: Idee der Demokratie 1985

1989

1992

1993

1995 1996 1998 2002 2005 2008 West negativ 1 0.2 0.1 1.1 0.3 0.6 .07 0.2 0.3 0.2 1.1 2 0.4 0.3 0.9 0.4 0.6 2.1 0.5 0.7 1.4 0.9 3 1.5 0.9 2.4 2.8 4.1 9.2 2.8 3.6 1.4 3.3 4 9.5 7.9 9.5 7.9 16.8 19.3 11.8 17.0 6.9 11.1 5 29.5 34.1 32.9 32.3 28.6 27.8 22.3 30.6 25.5 24.9 positiv 6 59.0 56.8 53.4 56.2 49.7 40.9 58.5 47.7 64.5 58.6 Mittelwert 5.45 5.46 5.32 5.40 5.21 4.94 5.39 5.20 5.50 5.34 gültige N 1786 1877 1402 914 1008 1030 2151 2128 1651 4702 Ost negativ 1 0.6 0.2 1.6 1.4 0.1 0.9 0.5 2.1 2 1.9 0.7 0.9 3.2 2.4 3.1 1.0 2.1 3 4.7 3.3 8.0 10.0 7.8 12.4 2.1 3.4 4 16.7 13.6 27.2 28.5 25.2 31.2 11.9 17.7 5 31.3 34.2 29.6 27.8 34.7 33.8 35.7 31.1 positiv 6 44.7 48.0 32.7 29.2 29.9 18.6 48.7 43.7 Mittelwert 5.10 5.25 4.80 4.66 4.82 4.50 5.28 5.05 gültige N 990 911 1007 1063 1048 1012 859 1158 Fragetexte: 1985 bis 1993: Zunächst geht es nicht um tatsächlich bestehende Demokratien, sondern um die Idee der Demokratie. Bitte sagen Sie mir anhand der Liste x, wie sehr Sie grundsätzlich für oder grundsätzlich gegen die Idee der Demokratie sind. Liste: sehr für die Idee der Demokratie, ziemlich für die Idee der Demokratie, etwas für die Idee der Demokratie, etwas gegen die Idee der Demokratie, ziemlich gegen die Idee der Demokratie, sehr gegen die Idee der Demokratie. 1995 bis 2002: Was würden Sie, im Vergleich zu anderen Staatsideen, zur Idee der Demokratie sagen? Nehmen Sie dazu bitte die folgende Skala: Die Zahl 1 bedeutet, dass Demokratie die beste vorstellbare Staatsidee ist, die Zahl 6 bedeutet, dass Demokratie die schlechteste vorstellbare Staatsidee ist. Mit den Zahlen dazwischen können Sie Ihre Meinung abstufen. 2005 und 2008: s. Übersicht 1. Quellen: 1985 und 1989 Ansprüche der Bürger an den Staat (ZA-Nr. 1487), 1992 und 1993 Politische Kulturen im geeinten Deutschland (ZA-Nr. 2809, 3033), 1995 und 1996 Politische Resonanz (ZA-Nr. 2820, 2965), 1994, 1998, 2002 Politische Einstellungen, politische Partizipation und Wählerverhalten im vereinigten Deutschland (ZA-Nr. 3065, 3066, 3861), 2005 Bürger und Parteien (ZA-Nr.4332), 2008 Demokratische und rechtsextreme Bevölkerungseinstellungen; eigene Berechnungen.

„sehr“ für die Idee der Demokratie aus. Je nach Frageformulierung schwanken die Unterschiede hier zwischen rund 8 und 29 Prozent. Das hohe generelle Niveau an Zustimmung zur Demokratie als Ordnungsmodell in beiden Landesteilen und die Ost-West-Unterschiede in der Intensität der Befürwortung existierten bereits am Anfang des Beobachtungszeitner, Michael Fichter und Richard Stöss, Finanzierung: Hans-Böckler-Stiftung, N = 3928); 2005: „Bürger und Parteien“ (Projektleiter: Steffen Kühnel, Oskar Niedermayer und Bettina Westle, Finanzierung: DFG, N = 2540); 2008: „Demokratische und rechtsextreme Bevölkerungseinstellungen“ (Projektleiter: Oskar Niedermayer und Richard Stöss; Finanzierung: Deutsche Paul Lazarsfeld-Gesellschaft, N = 5681), Berlin-Brandenburg-Bus 2008 (Projektleiter: Oskar Niedermayer und Richard Stöss; Finanzierung: Deutsche Paul Lazarsfeld-Gesellschaft, N = 1940).

Orientierungen gegenüber der Demokratie

17

raums, wie Tabelle 1 und Abbildung 1 verdeutlichen3. Die Schwankungen der Werte im Zeitverlauf lassen vermuten, dass auch die diffuse, generalisierte Unterstützung der Demokratie nicht vollkommen frei von dem Einfluss politischer Ereignisse ist. Insgesamt zeigt sich hier, dass die zunehmenden eigenen Erfahrungen der Ostdeutschen mit der liberal-pluralistischen Demokratie der BRD somit bisher nicht zu einer Verstärkung ihrer generalisierten Systemunterstützung und einer Konvergenz der Orientierungen in Ost und West geführt haben. Abbildung 1:

Einstellungen zur Demokratie als Staatsidee: 1985-2008 (Mittelwerte; -1 = sehr gegen, +1 = sehr für die Idee der Demokratie)

1,0 0,9 0,8

0,78

0,8

0,78 0,73

0,76

0,74 0,68 0,69

0,7

0,71

0,7

0,6

0,64 0,6

0,5

0,63 0,58

0,4 0,3

West

Ost

0,2 0,1 0,0 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08 .

3.

Orientierungen gegenüber der Form der Demokratie in Deutschland

Deutliche Ost-West-Unterschiede in den Bevölkerungsorientierungen zeigen sich auch bei der zweiten Ebene der politischen Ordnung, der durch die Verfassung eines Staates definierten Form der Demokratie. Nach der durch das Grundgesetz festgelegten Demokratie

3

Zur Abbildung 1: Mittelwerte auf der Basis von 6 Antwortkategorien von -1 = sehr gegen die Idee der Demokratie“ bis +1 = „sehr für die Idee der Demokratie“; eigene Berechnungen, Daten 1985 bis 1993 s. a. Tab.1; 20022008 stammen die Daten aus den in Fn. 3 angegebenen Studien; in die Abbildung wurden nur die Indikatoren aufgenommen, bei denen die Frageformulierung als voll äquivalent bewertet wird, d.h. die Daten der Studien 1995 bis 2002 wurden hierbei nicht berücksichtigt, da deren Formulierung mittels der Qualifikatoren „beste“ und „schlechteste“ Staatsidee statt der Positionierungen mittels „für“ und „gegen“ vermutlich stärkere Assoziationen zu Realisierungsmöglichkeiten der Staatsidee hervorrufen, was die größere Diskrepanz zwischen West und Ost plausibilisieren würde.

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Bettina Westle und Oskar Niedermayer

gefragt, bekundeten regelmäßig mehr West- als Ostdeutsche Zufriedenheit, wobei die Unterschiede wiederum sehr stark auf die intensive Zustimmung zurückgehen (Tab.2). Noch deutlicher werden Ost-West-Unterschiede, wenn die spezifische Form der bundesrepublikanischen Demokratie im Vergleich mit anderen Staatsformen bewertet wird (Abb.2). Die Frageformulierung hierzu lautet: Glauben Sie, die Demokratie, die wir in der Bundesrepublik haben, ist die beste Staatsform, oder gibt es eine andere Staatsform, die besser ist?“ Somit differenziert die Frageformulierung nicht explizit zwischen der verfassungsrechtlichen und der gelebten Form, so dass die Antworten vermutlich stärker als bei der Frage nach dem Grundgesetz von Aspekten der materialen Umsetzung tangiert werden. Im Schnitt halten fast drei Viertel der Westdeutschen die Demokratieform in Deutschland für die beste Staatsform und nur etwa jeder Zehnte ist der Auffassung, es gäbe eine andere Staatsform, die besser sei. In Ostdeutschland dagegen sprechen sich zu keiner Zeit mehr als zwei Fünftel für die bundesrepublikanische Demokratie als beste Staatsform aus und seit Mitte der Neunzigerjahre wechseln die relativen Mehrheiten zwischen dieser Gruppierung und denjenigen, die eine andere Staatsform für besser halten, wobei mehr als ein Drittel der Bürger in der Beurteilung unentschlossen ist. Tabelle 2: Haltung zur Demokratieform des Grundgesetzes 1998 6.2

West 2005 2.5 4.5 7.3 17.8 44.3 23.5 4.67

2008 4.0

1998 9.9

Ost 2005 4.7 9.0 13.5 25.9 37.7 9.3 4.11

2008 sehr unzufrieden 1/1 8.1 ziemlich unzufrieden 2 etwas/eher unzufrieden 2/3 29.0 18.3 44.4 29.8 etwas/eher zufrieden 3/4 52.3 56.6 40.1 51.3 ziemlich zufrieden 5 sehr zufrieden 4/6 12.5 21.1 5.5 10.8 Mittelwert 1-6 Mittelwert 1-4 2.71 2.95 2.41 2.65 gültige N 1795 1612 4673 1228 855 1137 Fragetexte: 1998 und 2008: Was würden Sie allgemein zu der Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland, also zu unserem ganzen politischen System sagen, so wie es in der Verfassung festgelegt ist. Sind Sie damit sehr zufrieden, eher zufrieden, eher unzufrieden, sehr unzufrieden? 2005: Nun geht es um die Demokratie in der Bundesrepublik. Was würden Sie zu der Demokratie, so wie sie im Grundgesetz festgelegt ist, sagen? Sind Sie damit sehr zufrieden, ziemlich zufrieden, etwas zufrieden, etwas unzufrieden, ziemlich unzufrieden, sehr unzufrieden? Quellen: 1998: Rechtsextremismus in der Bundesrepublik, 2005 Bürger und Parteien, 2008 Demokratische und rechtsextreme Bevölkerungseinstellungen; eigene Berechnungen.

Orientierungen gegenüber der Demokratie Abbildung 2:

19

Einstellungen zur Staatsform in Deutschland: 1974-2008 (Angaben in Prozent)

90 80 70 60 50

beste Staatsform (West)

andere besser (West)

beste Staatsform (Ost)

andere besser (Ost)

40 30 20 10 0 74 75 76 77 78 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08

Quelle: Die Daten wurden dem Verfasser vom IfD Allensbach zur Verfügung gestellt.

4.

Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland

Die dritte Ebene der politischen Ordnung bezieht sich auf das Funktionieren der Demokratie in der Praxis, also auf die Verfassungswirklichkeit. Die Bewertung der Systemperformanz wird somit durch den alltäglichen politischen Prozess bestimmt, mit der Folge, dass die Urteile dazu für gewöhnlich in Abhängigkeit von z.B. konkreten Ereignissen und Policies auch stärker schwanken. So ist es vermutlich dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime im Osten und damit dem Wegfall der Systemkonkurrenz sowie der beginnenden Einigungseuphorie zuzuschreiben, dass sich die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie in Westdeutschland in der ersten Hälfte des Jahres 1990 mit 81 Prozent auf dem höchsten jemals gemessenen Niveau befand (Abb.3). Nach dem Abklingen dieser Euphorie und der Erfahrung erster Enttäuschungen sowie Folgelasten der Vereinigung ging das Niveau in den ersten Jahren deutlich zurück. Danach erholte sich die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie etwas, stürzte aber in der Phase vor dem Regierungswechsel 1998 noch tiefer ab. In der Folgezeit setzten sich die Schwankungen fort. Dabei folgt die Beurteilung des Funktionierens der Demokratie in West- und Ostdeutschland demselben Muster, fällt in Ostdeutschland jedoch durchgehend schlechter aus als im Westen. Im Schnitt waren in den letzten eineinhalb Jahrzehnten etwa drei Fünftel der Westdeutschen und nur etwa zwei Fünftel der Ostdeutschen mit dem Funktionieren der Demokratie zufrieden. Anzeichen für eine Verringerung des West-Ost-Gefälles über die Zeit hinweg sind nach wie vor nicht zu beobachten.

20

Bettina Westle und Oskar Niedermayer

Abbildung 3:

Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie: 1976-2007 (Mittelwerte; 0 = überhaupt nicht zufrieden, 3 = sehr zufrieden)

100 90

West

Ost

80 70 60 50 40 30 20 10 0 76/II 78/II 80/II 82/II 84/II 86/II 88/II 90/II 92/II 94/II 96/II 98/II 00/II 02/II 04/II 06/II Quelle: eigene Berechnungen mit Eurobarometerdaten der EU-Kommission.

Auch die differenziertere Datenreihe von 1985 bis 2005 (Tab.3) zeigt den Rückgang der Demokratiezufriedenheit in den 1990ern bis ins neue Jahrtausend mit leichten Schwankungen sowie den anhaltenden Ost-West-Unterschied. Zu der in Deutschland implementierten, mit dem westdeutschen Demokratiemodell vor der Vereinigung identischen Form der Demokratie und ihrem Funktionieren hält somit ein großer Teil der Ostdeutschen auch fast zwei Jahrzehnte nach der Vereinigung noch Distanz. Die letzte Bundestagswahl hat offenbar erneut zu einem Anstieg der Zufriedenheit beigetragen, der vermutlich die mit den Koalitionsverhandlungen verknüpften Hoffnungen reflektiert. Eine sehr starke Zufriedenheit bildet jedoch in beiden Landesteilen die Ausnahme.

Orientierungen gegenüber der Demokratie

21

Tabelle 3: Zufriedenheit mit der Demokratie in Deutschland 1985 bis 2005 85

89

90

91

92a

92b 93 98 00 02 05 West sehr unzufr. 1 1.4 0.9 1.4 1.8 3.2 1.8 2.6 3.0 1.5 2.9 2.5 2 4.4 4.1 3.1 4.5 10.6 4.0 7.0 7.1 5.6 9.1 4.5 3 10.7 7.6 8.7 11.5 18.2 9.9 13.0 15.9 14.4 17.4 7.3 4 22.6 20.6 20.6 16.5 20.1 25.2 23.6 25.0 23.9 23.9 17.8 5 48.1 52.1 52.1 52.5 40.2 48.6 46.5 41.6 47.1 40.6 44.3 sehr zufrieden 6 12.8 14.8 14.2 13.2 7.7 10.6 7.4 7.3 7.6 6.2 23.5 Mittelwert 4.50 4.63 4.61 4.53 4.07 4.47 4.26 4.17 4.32 4.09 4.67 gültige N 1816 1918 1293 1463 2273 1411 925 2043 1836 1807 1612 Ost sehr unzufr. 1 8.4 4.3 8.2 5.3 7.0 6.9 6.6 6.9 4.7 2 18.3 13.9 19.2 13.6 22.1 15.4 14.3 13.9 9.0 3 20.5 20.1 24.9 21.3 24.9 24.3 25.0 25.0 13.5 4 32.7 28.6 28.9 30.0 25.6 32.7 30.9 32.3 25.9 5 17.7 30.3 17.7 25.4 18.3 20.1 21.3 20.1 37.7 sehr zufrieden 6 2.5 2.8 1.8 4.4 2.1 0.6 1.9 1.8 9.3 Mittelwert 3.41 3.75 3.34 3.70 3.32 3.46 3.52 3.50 4.11 gültige N 679 1441 1103 1016 917 990 1062 872 855 Fragetexte: 1985 und 1989, 1990 – West: Kommen wir nun zu der Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland. Wie zufrieden oder unzufrieden sind Sie – alles in allem – mit der Demokratie, so wie sie in Deutschland besteht? Bitte benutzen Sie zur Antwort Liste x. Bin mit der Demokratie, so wie sie in Deutschland besteht: sehr zufrieden, ziemlich zufrieden, etwas zufrieden, etwas unzufrieden, ziemlich unzufrieden, sehr unzufrieden. 1990 Ost: Und wie ist es mit der Demokratie in der DDR seit Jahresbeginn. Wie zufrieden oder unzufrieden sind Sie – alles in allem – mit der Demokratie, so wie sie in der DDR seit Jahresbeginn bestanden hat? sehr zufrieden, ziemlich zufrieden, etwas zufrieden, etwas unzufrieden, ziemlich unzufrieden, sehr unzufrieden. 1992b und 1993: Kommen wir nun zu der Demokratie in Deutschland. Wie zufrieden oder unzufrieden sind Sie – alles in allem – mit der Demokratie, so wie sie in Deutschland besteht? Bitte benutzen Sie zur Antwort Liste x. Bin mit der Demokratie, so wie sie in Deutschland besteht: sehr zufrieden, ziemlich zufrieden, etwas zufrieden, etwas unzufrieden, ziemlich unzufrieden, sehr unzufrieden. 1991, 1992a, 1998, 2000, 2002: Wie zufrieden oder unzufrieden sind Sie – alles in allem – mit der Demokratie, so wie sie in Deutschland besteht? sehr zufrieden, ziemlich zufrieden, etwas zufrieden, etwas unzufrieden, ziemlich unzufrieden, sehr unzufrieden. 2005: Und wie zufrieden oder unzufrieden sind Sie – alles in allem – mit der Demokratie, so wie sie in Deutschland funktioniert? Sind Sie damit sehr zufrieden, ziemlich zufrieden, etwas zufrieden, etwas unzufrieden, ziemlich unzufrieden, sehr unzufrieden? Quellen: 1985 und 1989 A-7, 1990 Wahlumfrage, 1991, 1992a, 1998, 2000, 2002 Allbus, 1992b und 1993 Politischer Kulturen im geeinten Deutschland, 2005 Bürger und Parteien; eigene Berechnungen.

5.

Hierarchie und Zusammenhänge zwischen den Orientierungen gegenüber der Demokratie

Laut des oben skizzierten Ansatzes von Easton ist eine Bedingung von Systemunterstützung, die der Stabilität von Demokratien zuträglich ist, dass die Orientierungen gegenüber der politischen Ordnung eine Hierarchie bilden, bei der die Idee der Demokratie an oberster Position steht, während die Zufriedenheit mit ihrer Funktionsweise deutlich geringer sein kann, aber immer noch von breiteren Bevölkerungsteilen ausgehen sollte, als die Unterstützung der jeweils amtierenden Regierung. Ebenso sollten die Orientierungen gegenüber der politischen Ordnung von unten nach oben in der Hierarchie betrachtet in abnehmendem Ausmaß mit der Regierungszufriedenheit zusammenhängen, da die Regierung am ehesten Einfluss auf den demokratischen Alltag und am wenigsten auf die Philosophie der politischen Ordnung hat.

22

Bettina Westle und Oskar Niedermayer

Betrachtet man die hierzu vorliegenden Daten, so lässt sich bei den Westdeutschen die skizzierte Hierarchie eindeutig beobachten. Bei den Ostdeutschen trifft dies für die oberen Hierarchiestufen ebenfalls zu; im unteren Bereich fällt jedoch auf, dass die durchschnittlichen Unterstützungswerte für die amtierende Regierung und die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie viel enger beieinander liegen bzw. seit vielen Jahren nahezu identisch sind (Tab.4). Die Zusammenhangsmaße stützen die Annahme, dass die Ostdeutschen ihre Bewertung der Funktionsweise der Demokratie deutlich stärker als die Westdeutschen von ihren Urteilen zur Bundesregierung abhängig machen. Auch ihre Einstellungen zur Demokratie des Grundgesetzes sind stärker von ihrer Regierungszufriedenheit tangiert, wenn auch nicht in demselben Ausmaß wie die Demokratiezufriedenheit. Die Idee der Demokratie zeigt sich jedoch bei Ost- wie Westdeutschen weitgehend unabhängig von den Defizitwahrnehmungen des Alltags (Tab.5). Tabelle 4: Hierarchie politischer Unterstützung in West- und Ostdeutschland West Ost Idee der Demokratie FunktioBundesIdee der Demokratie FunktioBundesDemokratie des GG nieren der regierung Demokratie des GG nieren der regierung Demokratie Demokratie 1985+89 kum. .89 .72 .52 1992+93 kum. .87 .67 .48 .83 .50 .47 2005 .90 .74 .59 .42 .86 .62 .46 .40 Die ursprünglichen Skalenbreiten wurden bei allen Indikatoren symmetrisch auf die Skalenbreite 0 bis 1 rekodiert. Fragetexte zur spezifischen Unterstützung der Herrschaftsträger: 1985, 1989: Für wie gut oder schlecht halten Sie – insgesamt betrachtet – die gegenwärtigen Leistungen der gegenwärtigen Bundesregierung? sehr gut, ziemlich gut, etwas gut, etwas schlecht, ziemlich schlecht, sehr schlecht? 1992, 1993: Sagen Sie mir bitte anhand der Liste x, für wie gut oder schlecht Sie die momentanen Leistungen der gegenwärtigen Bundesregierung – insgesamt betrachtet – halten: sehr gut, ziemlich gut, etwas gut, etwas schlecht, ziemlich schlecht, sehr schlecht? BP 2005: Denken Sie jetzt bitte einmal zurück an die Jahre vor der Bundestagswahl am 18. September. Waren Sie mit den Leistungen der bisherigen Bundesregierung aus SPD und Bündnis90/Die Grünen sehr zufrieden, ziemlich zufrieden, eher zufrieden, eher unzufrieden, ziemlich unzufrieden, sehr unzufrieden? Quellen: 1985 und 1989 A-7, 1992 und 1993 Politische Kulturen im vereinten Deutschland, 2005 Bürger und Parteien; eigene Berechnungen.

Tabelle 5: Zusammenhänge zwischen den Orientierungen gegenüber der Demokratie mit der Zufriedenheit mit den Leistungen der amtierenden Bundesregierung (Pearsons r) West Ost Demokratie Funktionieren Idee der Demokratie Funktionieren des GG der Demokratie des GG der Demokratie Demokratie 1985+89 kum. .04 .43** 1992+93 kum. .07** .39** .14** .48** 2005 .13** .18** .24** .14** .29** .39** Quellen: 1985 und 1989 A-7, 1992 und 1993 Politische Kulturen im vereinten Deutschland, 2005 Bürger und Parteien; ** signifikant auf dem Niveau von p<.001, * auf dem Niveau von p<01; eigene Berechnungen. Idee der Demokratie

Orientierungen gegenüber der Demokratie 6.

23

Typologie der Orientierungen gegenüber der Demokratie und Profile der Typen

Nicht nur im Hinblick auf die gerade skizzierte Hierarchie der Unterstützung, sondern auch auf die aus den drei Dimensionen der Orientierungen gegenüber der politischen Ordnung gebildeten Typologie zeigt sich, dass die Befragten die drei Objektebenen durchaus getrennt bewerten und sich ihre Einstellungen in der theoretisch erwarteten, konsistenten Weise darstellen, wie der geringe Anteil von Nichtklassifizierbaren zeigt (Tab.6). Tabelle 6: Typologie der Orientierungen gegenüber der Demokratie Prozente

West 2005

Nicht-/Anti1.9 2.0 2.9 Demokraten Systemkritische 9.9 10.6 14.5 Demokraten Politikkritische 18.6 19.9 30.5 Demokraten Zufriedene 63.2 67.5 42.1 Demokraten nicht klassifizierbar 2.7 4.8 mind. 1 fehl. Angabe 3.7 5.2 gültiges N 1663 1556 4814 Quelle: eigene Berechnungen (Daten vgl. Fn. 2).

Ost 2008

2005

2008

3.3

2.9

3.1

5.5

6.3

16.1

20.0

21.5

25.7

29.1

33.8

24.8

26.7

29.0

32.8

46.8

45.2

48.7

28.1

31.8

4335

2.8 4.3 877

815

4.4 7.2 1193

1054

In beiden Landesteilen äußern sich nur sehr kleine Minderheiten gegenüber allen Ebenen der Demokratie negativ, im Osten allerdings etwas mehr als im Westen und zudem 2008 mehr als im Wahljahr 2005. Insbesondere aber ist der Anteil systemkritischer Demokraten im Osten der Republik in beiden Erhebungsjahren deutlich größer als im Westen. Der Anteil politikkritischer Demokraten, deren Kritik sich also nur auf die Verfassungswirklichkeit richtet, ist im Wahljahr in den neuen Bundesländern ebenfalls etwas größer, drei Jahre später zu Zeiten der großen Koalition jedoch in beiden Landesteilen vergleichbar. Dementsprechend gibt es in Ostdeutschland rund 15 bis 19 Prozent weniger zufriedene Demokraten als in Westdeutschland. Nachfolgend soll kein Versuch unternommen werden, die Haltungen zur Demokratie im Blick auf alternative Erklärungsansätze zu den Unterschieden zwischen West- und Ostdeutschen (wie bspw. Sozialisations- versus Performanz- oder Situationsansätze, zu untersuchen, da dies bereits vielfach an anderen Stellen geschehen ist (vgl. z.B. Westle 1994, 2004, Gabriel 1999, 2005, Niedermayer 2009). Vielmehr sollen die Typen durch Beschreibung ihrer sonstigen politischen Orientierungen und Prädispositionen etwas konkretisiert werden.4 Der politikkritische und teilweise auch auf Aspekte des Systems der Bundesrepublik bezogene Protest in den 1970er Jahren der BRD wurde deutlich von Jüngeren mit hoher formaler Bildung getragen, was u.a. auch als Ausdruck kognitiver Mobilisierung interpretiert werden konnte. Dieses Bild hat sich heute jedoch gewandelt. Die unterschiedenen Typen zeigen im Hinblick auf das Alter keine ausgeprägten Schwerpunkte und die Systemkritik ist in West und Ost unter Bürger/innen mit geringer Schulbildung etwas häufiger als 4

Für die Indikatoren der hier untersuchten Konzepte wie bspw. politisches Wissen, Rechtsextremismus oder Anomie s. die entsprechenden Kapitel in diesem Band.

24

Bettina Westle und Oskar Niedermayer

in höheren Bildungsstrata. Dies verschärft sich allerdings bei Indikatoren, die stärker für ökonomische Unzufriedenheit stehen: Bei geringem Einkommen, niedriger subjektiver Schicht und – insbesondere im Osten – bei Arbeitslosigkeit wird am häufigsten Unzufriedenheit nicht nur mit der Funktionsweise der Demokratie, sondern auch mit ihrer grundgesetzlichen Form geäußert. Dagegen zeigen die Bürger/innen mit steigender politischer Involvierung wie bspw. größerem Interesse an Politik und Wahlkampf sowie intensiverer politischer Mediennutzung in beiden Landesteilen zunehmend positive Haltungen gegenüber allen drei Ebenen der Demokratie (mit Korrelationen von Pearsons r zwischen .06 bis .30). Daraus resultiert, dass die politikkritischen und die zufriedenen Demokraten im Durchschnitt deutlich stärker an Politik interessiert sind als die systemkritischen und die Anti-Demokraten. Ebenso deutliche Zusammenhänge bestehen mit den politischen Faktenkenntnissen der Bürger/innen. Je umfangreicher ihr Wissen über Politik in Bezug auf das Wahlsystem, auf die Einordnung der Parteien auf dem Links-Rechts-Spektrum und auf die Issue-Positionen der Parteien, desto positiver ihre Orientierungen gegenüber der Demokratie auf allen drei Ebenen (mit Korrelationen von Pearsons r zwischen .06 und .25). Damit zeigen die Nicht-/Anti-Demokraten in beiden Landesteilen das geringste politische Wissen, die zufriedenen Demokraten dagegen das umfangreichste Wissen, während die system- und die politikkritischen Demokraten wechselnde Rangplätze besetzen. Ein gutes politisches Effektivitätsbewusstsein steht vor allem mit einer positiven Haltung gegenüber der Idee der Demokratie in Zusammenhang (Pearsons r .20 im Westen und .24 im Osten), geringfügig auch noch mit der Haltung gegenüber dem Grundgesetz (.10), erreicht aber keine Signifikanz bei der Beurteilung der Verfassungswirklichkeit. Damit zeigen in beiden Landesteilen die systemkritischen Demokraten das größte subjektive politische Effektivitätsbewusstsein (mit Mittelwerten von 2.93 im Westen und 3.13 im Osten auf einer Skala von 1 bis 6), gefolgt von den zufriedenen (2.86 und 3.04) sowie den politikkritischen Demokraten (2.84 und 2.86), während die Nicht- bzw. Antidemokraten nur ein geringes politisches Kompetenzbewusstsein haben (1.64 und 2.25). In dieses Bild passt ferner auch, dass die Orientierungen gegenüber der Demokratie mit zunehmenden allgemeinen, durch die Globalisierung bedingten und politischen Anomiegefühlen deutlich negativer ausfallen (mit Pearsons r zwischen -.17 bis -.24). Dementsprechend zeigen die zufriedenen Demokraten die geringsten Anomiegefühle (mit Mittelwerten von 3.59 im Westen und 3.70 im Osten auf einer Skala von 1 bis 6) und die Nicht-/Anti-Demokraten die größten (4.95 bzw. 4.50). Ein weiteres Kennzeichen der Kritik an der Demokratie in den 1970ern war, dass sie vor allem von links und postmaterialistisch orientierten Bevölkerungsteilen ausging. Auch dieses Bild trifft heute so nicht mehr zu. Auf der Grundlage von Daten verschiedener Studien5 zeigt sich, dass die bis in die 90er Jahre positive Korrelation zwischen Demokratiezufriedenheit und der Links-Rechts-Selbsteinstufung im Herbst 1998 verschwindet und danach um .00 oder negativ ausfällt. Ein vergleichbares Muster tritt beim Postmaterialismus auf, d.h. der in den 1980ern noch deutliche Zusammenhang mit der Demokratiezufriedenheit (Pearsons r um -.25) wird geringer und ist mit dem Beginn des zweiten Jahrtausends völlig verschwunden. Auch im Wahljahr 2005 finden sich dann tendenziell kurvilineare Zusammenhänge zwischen der Selbsteinordnung der Befragten auf dem ideologischen Spektrum und den Orientierungen gegenüber der Demokratie, allerdings mit einem leichten 5

Untersucht wurden hierzu die Studien des Sfb3 A-7 Projektes aus den Jahren 1985 und 1989, der Politische Kulturen im vereinten Deutschland der Jahre 1992 und 1993, des Allbus der Jahre 1988, 1991, 1992, 1998, 2000, 2002 und der Bundestagswahlstudien 1998 und 2002 sowie 2005.

Orientierungen gegenüber der Demokratie

25

Überhang der Distanz auf der rechten Seite. Daraus resultiert ein im Durchschnitt etwas überproportional rechtes Profil bei den als Anti-Demokraten und im Westen auch bei den als systemkritisch klassifizierten Befragten. Mit diesem Muster korrespondiert auch, dass zuvor eine rotgrüne Koalition regierte, da sich Unzufriedenheit mit der amtierenden Regierung für gewöhnlich auch auf die Demokratiezufriedenheit auswirkt (vgl. o.). Dem entspricht weiterhin, dass negative Bewertungen der Responsivität der Politik sich deutlich auch in Unzufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie zeigen (Pearsons r .25 im Westen und .35 im Osten) und sich auch noch auf die Haltungen gegenüber den höheren Ebenen der Demokratie auswirken (mit .17 und .14 in Bezug auf das Grundgesetz und mit .14 und .10 in Bezug auf die Idee der Demokratie). In umgekehrter Perspektive zeigen demgemäß die Nicht-/Anti-Demokraten die negativsten Bewertungen der politischen Responsivität (1.65 bzw. 1.32 auf einer Skala von 1 bis 6) und die zufriedenen Demokraten die positivsten (2.59 und 2.50), während die system- und politikkritischen dazwischen liegen. Schließlich wächst die Distanz zur Demokratie auf allen Ebenen in beiden Landesteilen auch bei zunehmender Zustimmung zu rechtsextremen Vorstellungen (mit Pearsons r zwischen .17 bis .32). Diese ist am geringsten bei den zufriedenen Demokraten (auf einer Skala von 1 bis 4 mit einem zulässigen fehlenden Wert bei sechs Items im Westen ein Mittelwert von 1.68 und im Osten von 1.76, bei den Politikkritischen 1.88 bzw. 1.96, bei den Systemkritischen 2.10 und 1.96 und bei den Nicht-/Anti-Demokraten 2.65 und 2.57).6 Abschließend soll gefragt werden, ob sich Unterschiede zwischen den Typen auch im Wahlverhalten niederschlagen. Der auffälligste Befund hierzu ist die mit zunehmend positiver Sicht der Demokratie steigende Wahlbeteiligung: Während zufriedene Demokraten zu 91 Prozent angeben, sich an der Bundestagswahl 2005 beteiligt zu haben, sind es bei den politik- und den systemkritischen zwischen 83 und 87 Prozent, und bei den Nicht-/AntiDemokraten im Osten nur 78 und im Westen lediglich 68 Prozent. Ebenso nimmt die Ab6

Die Anteile der Nicht-/Anti-Demokraten sind in West und Ost zu gering, um ein zuverlässiges Bild von ihnen zu zeichnen. Allerdings deutet – neben den unterschiedlichen Werten für Rechtsextremismus – noch einiges mehr darauf hin, dass sich Systemgegnerschaft in beiden Landesteilen aus teilweise unterschiedlichen Quellen speist bzw. Unterschiedliches bedeutet. So meinen bspw. die als Nicht- bzw. Anti-Demokraten klassifizierten Befragten im Westen mit ca. 58 Prozent deutlich häufiger als diejenigen im Osten mit etwa 29 Prozent, dass Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Interessengruppen schlecht für die Demokratie seien (insgesamt etwa 10 Prozent); auch meinen sie mit 34 Prozent im Westen (gegenüber 12 Prozent im Osten und insgesamt etwa 10 Prozent) deutlich überproportional, dass in Abstimmungen und Wahlen unterlegene Minderheiten sich anschließend ruhig verhalten sollen und nicht öffentlich ihre Meinung vertreten dürfen; ferner halten sie öffentliche Demonstrationen gegen die Politik der Regierung mit 20 Prozent (gegenüber 14 Prozent im Osten und 12 Prozent insgesamt) überdurchschnittlich oft für illegitim. Diese Befunde deuten darauf, dass die Systemgegnerschaft im Westen stärker als im Osten von einem tendenziell autoritär-repressiven Politikverständnis geprägt ist. In Ostdeutschland dürften dagegen ideologische Bindungen an das DDR-Regime für die Distanz gegenüber der bundesrepublikanischen Demokratie eine Rolle spielen, wie bereits aus früheren Studien hervorgegangen (vgl. z.B. Westle 1994, 2004, Neller 2005). Zu Bindungen an die DDR und/oder an den Sozialismus liegen zwar in den Studien, die die Konstruktion der Typologie erlauben, keine Indikatoren vor. Jedoch kann ersatzweise überprüft werden, ob die ideologische Selbsteinstufung der Befragten mit den Haltungen zur Demokratie korrespondiert. Insofern man davon ausgehen kann, dass Ostdeutsche mit starken ideologischen Bindungen an das frühere Regime sich als besonders weit links verstehen, findet sich in der Tat ein entsprechender Beleg: Während sich insgesamt nur 4 Prozent der Ostdeutschen auf den extrem linken Skalenstufen 1 bis 3 einordnen, sind es unter den Anti-Demokraten 39 Prozent (während im Westen kein äquivalenter Zusammenhang zu beobachten ist). Schließlich zeigen auch die Antworten auf eine offene Frage nach dem wichtigsten politischen Problem in Deutschland einen auffälligen Unterschied zwischen den Nicht-/Anti-Demokratien in West und Ost: Währen sie im Osten mit 91 Prozent noch häufiger als der Befragtendurchschnitt mit 81 Prozent die Arbeitslosigkeit anführen, nennen diese im Westen nur 57 Prozent (gegenüber 73 Prozent aller Befragten) und statt dessen führen sie mit 24 Prozent gegenüber im Durchschnitt 1 Prozent erheblich überproportional einen zu hohen Ausländeranteil als wichtigstes Problem an.

26

Bettina Westle und Oskar Niedermayer

neigung gegen beide Kanzlerkandidaten mit zunehmender Distanz zum System deutlich zu – von 19 auf 50 Prozent im Westen und von 22 auf 73 Prozent im Osten. Von denjenigen im Westen, die ihre Zweitstimme angeben, entscheiden sich die Nicht-/Anti-Demokraten, aber auch die system- und die politikkritischen Demokraten überproportional häufig für Parteien des rechten oder linken Randes, während die zufriedenen Demokraten leicht überproportional die bisherigen Koalitionsparteien bestätigen. In Ostdeutschland fällt die Wahl der Nicht-/Anti-Demokraten vor allem auf den rechten Rand, während system- und politikkritische Demokraten überproportional auf die zur Bundestagswahl in Linkspartei.PDS umbenannte, frühere PDS, setzen. Von den zufriedenen Demokraten profitieren die SPD, aber auch die Union etwas überdurchschnittlich.7 Tabelle 7: Kanzlerpräferenz, Wahlbeteiligung und Wahlentscheidung und Typen von Orientierungen gegenüber der Demokratie Spaltenprozente Nicht-/ AntiDem.

Systemkrit. Dem.

West Politikkrit. Dem.

Wahlbeteiligung gewählt 67.9 84.7 86.5 nicht gewählt 32.1 15.3 13.5 N 31 165 310 Kanzlerpräferenz Schröder 30.1 43.4 41.0 Merkel 20.4 26.8 30.8 keinen von beiden 49.6 29.8 28.2 N 31 162 304 Zweitstimme 2005 Linkspartei.PDS 25.0 5.4 7.1 B90/Grüne 0.0 3.9 7.3 SPD 32.7 40.0 36.1 FDP 1.9 14.1 9.4 CDU/CSU 32.9 28.0 34.2 NPD, REP, sonst. 7.5 8.6 6.1 N 17 128 242 Quelle: Bürger und Parteien; eigene Berechnungen.

Zufr. Ge- Nicht-/ Dem. samt AntiDem.

Systemkrit. Dem.

Ost Politikkrit. Dem.

Zufr. GeDem. samt

90.7 88.8 9.3 11.2 1046 1552

77.9 22.1 22

83.4 16.6 175

84.0 16.0 216

91.0 9.0 395

87.1 12.9 784

49.0 46.4 32.5 31.3 18.5 22.3 1026 1523

7.2 19.5 73.3 22

38.8 18.6 42.5 169

42.6 23.1 34.4 214

52.5 26.0 21.5 379

45.6 23.4 31.0 784

2.5 4.0 11.3 9.6 42.0 40.6 10.0 10.2 32.9 32.6 1.3 3.1 876 1263

11.7 0.0 11.4 25.0 5.3 46.5 14

37.9 6.2 27.3 6.0 19.1 3.5 126

34.0 6.2 26.9 4.9 24.5 3.7 168

18.0 4.8 41.3 7.0 27.7 1.2 326

26.0 5.4 34.0 6.6 24.6 3.3 635

Insgesamt indiziert die Typologie Unterschiede zwischen Nicht-/Antidemokraten, unzufriedenen und zufriedenen Demokraten sehr deutlich, die Unterschiede zwischen den als system- und den als politikkritisch bezeichneten Befragten jedoch nicht immer ganz plausibel. Möglicherweise liegt dies an dem Stimulus „Grundgesetz“, der vor allem bei Ostdeutschen nach wie vor Kolonialisierungsgefühle evozieren mag (vgl. Westle 1999) und daher mit einer Distanz behandelt wird, der nicht zwangsläufig eine tatsächlich auf das System bezogene Kritik entspricht. 7

Dreht man die Perspektive und fragt nach den Demokratietypen in Abhängigkeit der Wahlentscheidung, so verteilen sich die Wähler/innen der Linkspartei.PDS und der rechten Randparteien überproportional auf die system- und die politikkritischen Demokraten, im Westen findet sich der linke Rand und im Osten der rechte Rand auch stark überproportional bei den Nicht-/Antidemokraten; die Wähler/innen von Bündnis90/die Grünen finden sich im Westen vor allem bei den zufriedenen Demokraten, im Osten jedoch überdurchschnittlich bei den politikkritischen; Wähler/innen der SPD zeigen einen überdurchschnittlichen Anteil zufriedener Demokraten.

Orientierungen gegenüber der Demokratie 7.

27

Schlussbemerkung

Die Analysen haben gezeigt, dass auch fast zwei Jahrzehnte nach der deutschen Vereinigung noch deutliche Unterschiede in den Orientierungen von Ost- und Westdeutschen gegenüber der Demokratie bestehen und Unzufriedenheit in beiden Landesteilen, insbesondere aber im Osten weit verbreitet ist. Problematisch ist dabei aber nicht die Existenz von Kritik und Opposition. Diese zuzulassen und sie zudem in institutionalisierter Form in produktive Bahnen der politischen Kontrolle zu lenken, gehört vielmehr zu den originären Kennzeichen der Demokratie. Politische Wachsamkeit und Kritikbereitschaft, gepaart mit grundsätzlicher Loyalität gegenüber dem demokratischen Gedanken, sind die Pendants dazu auf Seiten der Bürgerschaft. Kritikbereitschaft und Kritik sind notwendig, um Defizite der politischen Ordnung und des Outputs der politischen Akteure aufzudecken und Verbesserungspotenziale zu nutzen. Kritikbereitschaft unterscheidet sich jedoch von tatsächlicher Kritik, vor allem wenn letztere auf lang andauernder Unzufriedenheit der Bürger/innen beruht und damit auf mangelnde Responsivität und Problembearbeitungsfähigkeiten des politischen Systems und seiner Herrschaftsträger verweist. Der Anstieg der Zufriedenheit in Wahlzeiten, also in Zeiten, in denen das Wahlvolk umworben wird und neue Hoffnungen erzeugt werden, zeigt, dass durchaus größere Responsivität möglich ist. Im Gegensatz zu der eingangs zitierten Behauptung lässt sich aber festhalten: Trotz aller Widrigkeiten und Kritik will das Volk durchaus nach wie vor Demokratie – wenn auch in manchen Teilen eine andere und in West und Ost teilweise mit unterschiedlichen Vorstellungen en detail verknüpfte Form. Permanente Enttäuschungen, ein Fehlen an begründeter Aussicht auf Verbesserung und ein Mangel an politischen Alternativangeboten durch die Parteien des demokratischen Spektrums bergen jedoch die Gefahr, dass die Unzufriedenheit nicht nur Legitimitätsprobleme des politischen Systems anzeigt, sondern dass die Unzufriedenen in die Arme von demokratie-inkompatiblen oder demokratie-feindlichen kollektiven Akteuren, Gruppen bzw. Parteien getrieben werden, die diese Unzufriedenheit gegen die Demokratie per se wenden. Daher bleibt es eine zentrale Aufgabe der demokratischen Parteien, dieser Gefahr zu begegnen, und zwar deutlicher als dies bisher gelungen ist.

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Orientierungen gegenüber der Demokratie

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Gesellschaftliche und parteipolitische Konfliktlinien Oskar Niedermayer

Die Analyse politischer Konfliktlinien ist in der deutschen wie auch der internationalen Sozialwissenschaft immer noch von einem zu wenig verbundenen Nebeneinander der Analyse gesellschaftlicher Konfliktlinien und ihrer Auswirkungen auf das Wahlverhalten durch die Wahlforschung einerseits und der Analyse parteipolitischer Konfliktlinien und der daraus resultierenden Polarisierung des Parteiensystems durch die Parteienforschung andererseits geprägt. Im Folgenden soll ein Beitrag zur stärkeren Integration der Forschungslandschaft in diesem Bereich geleistet werden, indem die verschiedenen Ansätze zur theoretischen Konzeptualisierung von gesellschaftlichen und parteipolitischen Konfliktlinien diskutiert und aufeinander bezogen werden.

1.

Zur theoretischen Konzeptualisierung gesellschaftlicher Konfliktlinien

Bei der Konfliktlinienanalyse beginnen die Probleme schon bei der Definition des Untersuchungsgegenstandes. Insbesondere für die gesellschaftlichen Spaltungslinien, die unter Bezugnahme auf die „Urväter“ der Konfliktlinienanalyse (Lipset/Rokkan 1967) als „Cleavages“ bezeichnet werden, gilt: „The substantial literature ... offers no single coherent definition of what cleavages actually are“ (Römmele 1999: 4). Mit dem Konzept werden unterschiedliche Anforderungen an die Relevanz, Persistenz, Konflikthaftigkeit, Institutionalisierung und sozialstrukturelle Verankerung der Spaltungslinien verbunden. Eine der umfassendsten Definitionen liefern Rae und Taylor (1970: 1): „Cleavages are the criteria which divide the members of a community or subcommunity into groups, and the relevant cleavages are those which divide groups with important political differences at specific times and places“. Mit dieser Definition werden keine großen Anforderungen an die Persistenz der Spaltungslinien gestellt und sie sieht weder eine sozialstrukturelle Verankerung und Institutionalisierung noch das Bestehen eines tatsächlichen Konflikts zwischen den Gruppen als konstitutives Merkmal eines cleavage an. Lane und Ersson (1999: 41) hingegen betonen zwar, dass das cleavage-Konzept nicht mit dem Konfliktkonzept identisch sei, eine soziale Spaltung jedoch nur dann ein Cleavage konstituiere, „if there is some probability of a conflict“. Die vorherrschende Meinung in der Literatur geht noch etwas weiter: Als Cleavages werden nur tief greifende, über eine längere Zeit stabile, konflikthafte und institutionalisierte gesellschaftliche Spaltungslinien angesehen. Keine Einigkeit besteht jedoch in der Frage, über welche der drei Grundformen der kollektiven politischen Interessenvermittlung im Rahmen des intermediären Systems – Verbände, Parteien und soziale Bewegungen (vgl.

Gesellschaftliche und parteipolitische Konfliktlinien

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z.B. Rucht 1993)1 – diese Institutionalisierung erfolgt sein muss, um von einem Cleavage zu sprechen. Gallagher, Laver und Mair (2001: 236) sind der Auffassung: „A cleavage must be expressed in organizational terms. This is typically achieved as a result of the activities of a trade union, a church, a political party, or some other organization that gives formal institutional expression to the interests of those on one side of the division“. Merkl (1988: 582) bezieht zusätzlich die nicht als formale Organisationen zu kennzeichnenden sozialen Bewegungen mit ein, während Pappi (1977: 195) erst dann von einem Cleavage sprechen will, wenn der politische Konflikt „im Parteiensystem seinen Ausdruck gefunden hat“2. Dies ist eine zu rigide Auslegung des ursprünglichen Konzepts von Lipset und Rokkan, die zwar Parteien als „the institutionalization of cleavages“ (Lipset 2001a: 3) ansehen, in ihrem Erklärungsmodell der Genese der westeuropäischen Parteiensysteme im 19. Jahrhundert aber schon von Cleavages sprechen (Lipset/Rokkan 1967: 9ff.), bevor diese in einem oft längere Zeit dauernden und nicht für alle cleavages gleichzeitig verlaufenden Prozess parteipolitisch organisiert werden. Somit weicht temporär die gesellschaftliche von der parteipolitischen Konfliktstruktur ab. Abweichungen in einem bestimmten Sinne können zudem auch permanent bestehen: „Cleavages do not translate themselves into party oppositions as a matter of course“ (Lipset/Rokkan 1967: 26), weil für die Parteipolitisierung eines cleavage eine Reihe von Schwellen zu überwinden ist und es daher für die eine Cleavage-Position vertretenden (Gegen-)Eliten sinnvoller sein kann, sich mit einer bereits bestehenden Partei zu verbünden statt eine eigene Partei zu gründen, insbesondere wenn wichtige Strukturierungsentscheidungen bei der Herausbildung der Parteiensysteme schon gefallen sind. Lipset und Rokkan vertreten somit keinen soziologischen Determinismus in dem Sinne, dass sich jedes einzelne gesellschaftliche Cleavage in zwei die beiden Seiten des Cleavage repräsentierende Parteien transformiert. Wohl aber gehen sie davon aus, dass die Parteiensysteme als Ganzes nach Abschluss ihrer Entstehungsphase die gesellschaftliche Cleavage-Struktur widerspiegeln. Nimmt man das Argument des Entscheidungsspielraums der Akteure jedoch ernst, so kann daraus gefolgert werden, dass die Vertreter gesellschaftlicher Cleavages unter gewissen Umständen auch entscheiden können, die Belange ihrer Gruppe nur durch eine Institutionalisierung in Form von Verbänden, sozialen Bewegungen oder sonstigen zivilgesellschaftlichen Organisationen zu vertreten und auf eine Politisierung in Parteienform zu verzichten3 bzw. eine bestehende Koalition mit einer Partei wieder aufzukündigen. Werden die Belange der Gruppe jedoch durch eine Partei vertreten bzw. perzipieren die Gruppenmitglieder eine solche Vertretung zumindest, dann ist es auch wahrscheinlich, dass die Gruppenmitglieder bei Wahlen für diese Partei votieren. Dies umso mehr, wenn die Individuen sich ihr Leben lang im eindimensionalen Sozialisationsumfeld geschlossener sozialmoralischer Milieus (Lepsius 1966) bewegen, die durch eine Reihe von anderen intermediären Institutionen wie z.B. Gewerkschaften oder Kirchen organisatorisch abgestützt sind.

1

Zur Konzeptualisierung von sozialen Bewegungen als politische Institutionen vgl. z.B. das Sonderheft des Forschungsjournals Neue Soziale Bewegungen 1989 (40 Jahre Soziale Bewegungen: von der verordneten zur erstrittenen Demokratie). 2 Vgl. auch Stinchcombe (1975), der cleavages als Koalitionen zwischen Parteieliten und sozialen Gruppen auffasst. 3 Man denke hier z.B. an die Antipathie vieler Vertreter sozialer Bewegungen gegenüber dem Parteiprinzip im Allgemeinen, d.h. also nicht nur gegenüber der Gründung einer eigenen, sondern auch gegenüber einer Koalition mit einer bereits bestehenden Partei.

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Oskar Niedermayer

Wird die erforderliche Art der Institutionalisierung von Cleavages in der Literatur kontrovers diskutiert, so ist man sich über ein zweites Element des cleavage-Konzepts heute weitgehend einig: den Werteaspekt4. Für ein Cleavage konstitutiv ist die Rechtfertigung der Position der Konfliktparteien „durch Bezugnahme auf übergeordnete gesellschaftliche Werte“ (Klein 2005: 427), die somit als „Sinnkomponenten eines Cleavage-Systems“ (Jagodzinski 1981: 170) gekennzeichnet werden können. Unterschiedliche Auffassungen bestehen jedoch in der Frage, ob das Cleavage-Konzept zwingend erfordert, dass die Spaltungslinie zudem eindeutig „in der Sozialstruktur verankert“ (Pappi 1977: 195) sein, d.h. zwischen objektiv anhand zentraler sozialstruktureller Positionskriterien wie beruflicher Status oder Religion klar identifizierbaren Gruppen bestehen muss5. Interpretiert man das Cleavage-Konzept in dieser Weise, dann werden der Sozialstruktur- und der Werteaspekt im Rahmen wahlsoziologischer Analysen der „politisierten Sozialstruktur“ (Pappi: 1986: 369) dadurch verbunden, dass „Wertorientierungen als Vermittlung von Sozialstruktur und politischem Verhalten“ (Pappi 1977: 206) angesehen werden. Die enge, auf die eindeutige Verankerung in der Sozialstruktur abstellende Cleavagedefinition stellt bei der Identifizierung von gesellschaftlichen Konfliktlinien so lange kein gravierendes Problem dar, wie davon ausgegangen werden kann, dass Wertorientierungen „aufgrund gruppenspezifischer Sozialisationsprozesse in hohem Maße ... von der Positionierung eines Individuums in der Sozialstruktur“ (Klein 2005: 427f.) abhängig sind, was bei der Genese der traditionellen Cleavages unbestreitbar der Fall war. Die traditionellen Konfliktlinien in Westeuropa bildeten sich im 19. Jahrhundert vor dem Hintergrund der durch die Industrielle Revolution und die Nationalstaatsbildung bewirkten Umbrüche und Verwerfungen heraus. Lipset und Rokkan (1967: 14ff.) unterscheiden vier zentrale cleavages: (1) der Klassenkonflikt zwischen Kapitaleignern und abhängig Beschäftigten, (2) der Stadt-Land-Konflikt zwischen dem städtischen Bürgertum in Industrie, Handel und Gewerbe und den durch den Landadel vertretenen Agrarinteressen, (3) der Kirche-Staat-Konflikt zwischen dem Machtanspruch des neuen Nationalstaats und den historisch gewachsenen Vorrechten der – katholischen – Kirche und (4) der Zentrum-Peripherie-Konflikt zwischen den zentralstaatlichen Eliten und den Vertretern ethnischer, sprachlicher oder religiöser Minderheiten. Bis heute besteht in theoretischen Erörterungen wie international vergleichenden empirischen Analysen weitestgehend Einigkeit darüber, dass damit die wesentlichen traditionellen gesellschaftlichen Konfliktlinien in Westeuropa benannt sind6. Der soziale Wandel in den westeuropäischen Gesellschaften hat allerdings dazu geführt, dass in neuerer Zeit zum einen „die traditionellen Wertorientierungen immer weniger an die Zugehörigkeit zu sozialen Klassen bzw. Schichten oder Milieus gebunden“ sind (Stöss 1997: 151, vgl. auch Klein 2005: 428) und zum anderen neue gesellschaftliche Spaltungslinien entstanden sind, bei denen die Trägergruppen von vorneherein nicht über ihre Position in der Sozialstruktur, sondern über konfligierende Wertorientierungen identifiziert

4

Vgl. hierzu international z.B. Bartolini/Mair 1990, Knutsen/Scarbrough 1995 und Mair 2006, für die deutsche Literatur vgl. exemplarisch Pappi 1977 und Schoen 2005. Werte werden hier als „conceptions of the desirable“ (van Deth/Scarbrough 1995: 28) angesehen. 5 Im Rahmen der international vergleichenden Forschung wird diese Auffassung u.a. von Bartolini/Mair 1990, Gallagher/Laver/Mair 2001 und Knutsen/Scarbrough 1995 vertreten, zur deutschen Literatur vgl. als neueste Referenz Schoen 2005. Anderer Auffassung in sind z.B. Eckstein 1966, Flanagan 1973, Lane/Ersson 1999, Rae/ Taylor 1970, Sjöblom 1968 und Römmele 1999. 6 Vgl. z.B. Flora 1999, Gallagher/Laver/Mair 2001, Lane/Ersson 1999, Mair 2006 und Ware 1996.

Gesellschaftliche und parteipolitische Konfliktlinien

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werden7. Damit hängt heute die Beantwortung der Frage, durch welche Konstellation von Konfliktlinien eine Gesellschaft gekennzeichnet ist, wesentlich davon ab, ob man eine enge, auf die eindeutige sozialstrukturelle Verankerung abstellende, oder eine breitere, auch diese Wertekonflikte einbeziehende Cleavage-Definition vertritt. Bei den traditionellen Spaltungslinien betrifft dies die Frage, ob man einen von den traditionellen sozialstrukturellen Trägergruppen weitgehend losgelösten Kirche-Staat-Konflikt in Form eines Wertekonflikts zwischen Gruppen mit religiösen und solchen mit säkularen Wertorientierungen noch als Cleavage ansieht und vor allem ob man die Verselbständigung und Veränderung des ideologischen Überbaus des traditionellen Klassen-Cleavage in Form des Sozialstaatskonflikts um die Rolle des Staates in der Ökonomie, der heute als Wertekonflikt zwischen marktliberalen und an sozialer Gerechtigkeit orientierten Konzeptionen ausgetragen wird, in das Cleavage-Konzept einbezieht8. Ausgetragen wird die Kontroverse zwischen den unterschiedlichen Cleavage-Konzeptionen jedoch vor allem anhand der Frage, ob die neuen Wertekonflikte, die in der Sozialwissenschaft seit den Arbeiten Ingleharts9 diskutiert werden, als Cleavages einzuordnen sind. Laut Inglehart hat nach dem Zweiten Weltkrieg in den westlichen Industriegesellschaften ein Wertewandel in der Form einer schleichenden Verdrängung materialistischer, durch das Streben nach materiellem Wohlstand und dessen Verteidigung gegen Bedrohungen dominierter Werte durch postmaterialistische, vor allem auf Selbstentfaltung und -verwirklichung zielende, nicht-materielle Werte stattgefunden. Er selbst bezeichnete den Gegensatz zwischen Materialisten und Postmaterialisten auch nach Jahren der Auseinandersetzung um die Einbeziehung dieses Wertekonflikts in das Cleavage-Konzept konsequent als neues „value cleavage“ (Inglehart 1990: 263, 300ff.). Für Vertreter der engen CleavageDefinition ist es jedoch trotz der parteipolitischen Organisierung des postmaterialistischen Pols durch die neue Parteifamilie der „Grünen“ bis heute wegen der mangelnden klaren sozialstrukturellen Verortung „höchst fragwürdig“, ob im Zusammenhang mit dem behaupteten Wertewandel „ein neues Cleavage entstehen kann“ (Schoen 2005: 150, vgl. auch Knutsen/Scarbrough 1995: 497). Einer der beiden Gründerväter des Cleavage-Konzepts spricht unter Bezug auf Inglehart jedoch durchaus von „new cleavages“ (Lipset 2001a: 7). Lipset kann hier in so weit zugestimmt werden, als eine „Enthistorisierung“ des Cleavages-Konzepts in der Form geboten ist, dass nicht nur die traditionellen, eindeutig in der Sozialstruktur verankerten, für die industriellen Gesellschaften typischen, sondern auch die neuen, primär auf Wertekonflikten basierenden, die post-industriellen Gesellschaften charakterisierenden Spaltungslinien in das Konzept einbezogen werden sollten. Die generelle Frage nach der Einbeziehung von Wertekonflikten in das Cleavage-Konzept muss allerdings von der Beurteilung des Inglehartschen Materialismus/Postmaterialismus-Konzepts getrennt werden. Das neue Wertecleavage in entwickelten Industriegesellschaften im Sinne 7

Dies bedeutet nicht, dass die Trägergruppen von Wertekonflikten nicht auch durch sozialstrukturelle Merkmale gekennzeichnet werden können. Diesen Merkmalen mangelt es jedoch an der Abgeschlossenheit, die die zentralen sozialstrukturellen Kategorien wie Klassen- oder Konfessionszugehörigkeit auszeichnen. Wesentlich ist jedoch, dass nach der engen cleavage-Definition die Spaltungslinien auf sozialstrukturell verankerten Gegensätzen basieren, die durch ideologische Aufladung mit entsprechenden Wertekonflikten verbunden werden, während bei den neuen Spaltungslinien konfligierende Wertorientierungen den Ausgangspunkt des Konflikts bilden (vgl.hierzu Knutsen/Scarbrough 1995: 495ff.). 8 Zum Sozialstaatskonflikt vgl. in Deutschland die unterschiedlichen Auffassungen von Eith/Mielke 2000 und Schoen 2005. 9 Vgl. z.B. Inglehart 1971, 1977, 1979, 1983, 1984 und 1990.

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Oskar Niedermayer

Ingleharts zu konzeptualisieren, erscheint nicht optimal, weil Ingleharts Ansatz zwei unterschiedliche Konfliktdimensionen vermischt: die ökonomische Dimension, d.h. Konflikte, die sich auf die Art der Produktion und Verteilung ökonomischer Güter und Dienstleistungen beziehen, und die politisch-kulturelle Dimension, bei der es um die Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens einschließlich der Gestaltung der politischen Ordnung geht. Ingleharts postmaterialistische Wertorientierungen sind auf der politisch-kulturellen Dimension angesiedelt, während materielle Wertorientierungen sowohl politisch-kulturelle als auch ökonomische Werte enthalten. Dies führt dazu, dass Materialismus und Postmaterialismus keinen eindimensionalen Wertekonflikt abbilden, da ein Individuum eine postmaterialistische politisch-kulturelle Wertorientierung durchaus mit einer materialistischen ökonomischen Wertorientierung kombinieren und beidem hohe Priorität zumessen kann. Flanagan10 stimmt mit Inglehart darin überein, dass der soziale Wandel neue Wertorientierungen im politisch-kulturellen Bereich hervorbringt, die er „libertarian“ statt „postmaterialist“ nennt, weil er der Ansicht ist, „that Inglehart’s term postmaterialism is a misnomer as a characterization of either the cause or nature of his value cluster“ (Flanagan 1987: 1304). Unter libertären Wertorientierungen versteht er „an emphasis on personal and political freedom, participation ..., equality, tolerance of minorities and those holding different opinions, openness to new ideas and life styles, environmental protection and concern over quality-of-live issues, self-indulgence and self-actualization“ (ebd.). Den Gegenpol differenziert er jedoch in materialistische, bei ihm ausschließlich auf „economic concerns“ bezogene, und autoritäre, die politisch-kulturelle Konfliktdimension betreffende Wertorientierungen, die er breit definiert als „cluster of values, which, along with concerns for security and order, includes respect for authority, discipline and dutifulness, patriotism and intolerance for minorities, conformity to customs, and support for traditional religious and moral values“ (ebd.: 1305). Das daraus entwickelte Modell der Konfliktstruktur enthält drei Konfliktlinien: Das erste Cleavage „taps the priority a respondent attaches to economic as opposed to non-economic, value issues“ (ebd.) und trennt somit Materialisten (Alte Politik) von Nichtmaterialisten (Neue Politik). Unter den primär eine ökonomische Sichtweise von Politik vertretenden Materialisten existiert ein zweites Cleavage, das dem traditionellen Klassenkonflikt zwischen Mittelklasse (Alte Rechte) und Arbeiterklasse (Alte Linke) – nun aber im Gewand eines Wertekonflikts – entspricht, während die Nichtmaterialisten entlang der politisch-kulturellen Konfliktlinie Libertäre (Neue Linke) versus Autoritäre (Neue Rechte) gespalten sind. Das Gegensatzpaar „Alte Politik“ versus „Neue Politik“ fand vor allem durch die Arbeiten Daltons Eingang in die Diskussion über die deutsche Konfliktlinienstruktur11. Dalton verwendet es jedoch im Sinne von Inglehart und nicht von Flanagan12. Auch wenn er betont, dass die vier Werte, mit denen Inglehart sein Materialismus-Postmaterialismus-Konzept operationalisiert, „sicher nur einen Teil der Anliegen der Neuen und der Alten Politik“ erschließen, sieht er „in Ingleharts Index einen akzeptablen Indikator für die weiter gefasste Dimension“ (Hildebrandt/Dalton 1977: 239). Die „Alte Politik“ umfasst somit sowohl den ökonomischen Bereich „der Versorgung der Gesellschaft mit ökonomischen Gütern“ (ebd.: 10

Vgl. Flanagan 1979, 1982a, 1982b und 1987 sowie Flanagan/Lee 1988 und Hellevik 1993, der mit anderen Indikatoren zu den selben konzeptionellen Ergebnissen kommt. 11 Vgl. z.B. Baker/Dalton/Hildebrandt 1981, Dalton 1984, 1988 und Hildebrandt/Dalton 1977. Zur Neuen Politik insbesondere in Bezug auf die Grünen vgl. z.B. Bürklin 1981 und 1984. 12 Auch Inglehart spricht von der „Entwicklung der neuen Politik in westlichen Gesellschaften“ (Inglehart 1983: 139).

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232) als auch politisch-kulturelle Wertprioritäten wie die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung bzw. Sitte und Moral sowie den Schutz und die Stärkung der Staatsautorität, die im Konzept Flanagans zu den autoritären Wertorientierungen gehören. Während sich die frühen Arbeiten auf die Dichotomie Alte versus Neue Politik konzentrieren, unterscheidet Dalton später im Rahmen der „Alten Politik“ unter Bezug auf Lipset/Rokkan (1967) und unter Betonung der sozialstrukturellen Verankerung das Klassencleavage und das religiöse Cleavage und fügt das „new politics cleavage“ (Dalton 1988: 170) hinzu , das er weiterhin durch Ingleharts Materialismus/Postmaterialismus-Index operationalisiert. Auch Knutsen (1988, 1989) bezieht sich auf die „new-politics“-These und geht davon aus, dass – im Vergleich zu den sozialstrukturell basierten Cleavages der klassischen (vor-) industriellen Gesellschaft im Modell von Lipset/Rokkan – „the value-based or ideological cleavages will increase in importance and in fact be dominant in post-industrial society“, kritisiert daran jedoch, dass „the increased importance of the value-based cleavages is ... identified with one specific dimension“ (Knutsen 1988: 325f.), nämlich der Materialismus/Postmaterialismus-Dimension13. Er formuliert ein erweitertes Modell von Wertekonflikten und kann in einer vergleichenden empirischen Analyse zeigen, dass unter den Wertekonflikten nicht das Materialismus/Postmaterialismus-Cleavage, sondern das „Left-Right Materialism“-Cleavage „appears to have most impact in the most advanced (post-industrial) West european countries“ (ebd.: 323). Dieses Cleavage definiert er als „value conflicts related to control and distribution in the production sphere“ (Knutsen 1989: 499)14 und engt „Materialism“ damit im Sinne Flanagans auf die ökonomische Dimension ein, ohne allerdings auf die weiteren Implikationen des Modells von Flanagan einzugehen. Auch in der deutschen Diskussion finden sich Beiträge, die die Eindimensionalität des Konzeptes von Inglehart verneinen. So kommt Elff (2005) in seiner empirischen Überprüfung des Inglehart-Idexes mittels Faktorenanalysen zu einer zweidimensionalen Lösung, wobei der erste Faktor die drei politisch-kulturellen Items repräsentiert, während der zweite Faktor „möglicherweise ... eine Unzufriedenheit der Befragten hinsichtlich der Berücksichtigung ihrer materiellen Interessen“ (ebd.: 318f.) wiedergibt, also die ökonomische Dimension repräsentiert. Diese Beispiele zeigen, dass über die theoretische Konzeptualisierung des oder der neuen Wertecleavages in der Literatur noch keine Einigkeit besteht. Aus Gründen der konzeptionellen Klarheit sollte jedoch einem Ansatz der Vorzug gegeben werden, der die verschiedenen Konfliktdimensionen nicht vermischt. Versucht man die hier diskutierten Argumentationslinien zusammenzufassen, so erscheint eine breite cleavage-Definition sinnvoll. Unter einem gesellschaftlichen Cleavage verstehen wir daher im Folgenden eine tief greifende, über eine längere Zeit stabile, konflikthafte und im Rahmen des intermediären Systems organisatorisch verfestigte Spaltungslinie zwischen Bevölkerungsgruppen, die über ihre sozialstrukturelle Positionierung und die hieraus abgeleiteten materiellen Interessen und Wertvorstellungen bzw. primär über ihre unterschiedlichen Wertvorstellungen definiert sind. Mit einer solchen breiteren Cleavage13

Anzumerken ist, dass Knutsen in einer Analyse für die nordischen Länder zwei Subdimensionen der Materialismus/Postmaterialismus-Dimension identifiziert, die Flangans Unterscheidung in Libertäre-Autoritäre und Materialisten-Nichtmaterialisten entspricht (Knutsen 1990) und daher in späteren vergleichenden Analysen die libertärautoritäre Dimension gesondert operationalisiert (Knutsen 1996). 14 Nachdem er allerdings in einer späteren Analyse zur engen, die klare sozialstrukturelle Verankerung als konstitutives Merkmal ansehenden Cleavage-Definition gewechselt ist (Knutsen/Scarbrough 1995), spricht er bei den Wertekonflikten nur noch von „value orientations“ und nicht mehr von Cleavages (Knutsen 1995a, 1995b, 1996).

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Definition wird es möglich, cleavage-basiertes Wahlverhalten nicht nur im Rahmen des (makro-)soziologischen Erklärungsmodells der Wahlforschung, sondern auch im Rahmen der anderen Modelle zu untersuchen. Vor dem Hintergrund der bis heute „eher unbefriedigenden Einbindung des Wertkonzepts in die empirische Wahlforschung“ (Klein 2005: 424), setzt dies allerdings konzeptionelle Ergänzungen der verschiedenen Ansätze voraus, die jedoch ohne Weiteres zu leisten sind, wie Klein (2005: 426ff.) gezeigt hat. Auf Kleins Überlegungen zur Einbeziehung von Wertorientierungen in die Wahlverhaltensmodelle aufbauend, gibt das folgende Schaubild ein integriertes heuristisches Modell zur Erklärung des cleavage-basierten Wahlverhaltens wieder. Schaubild 1: Ein integriertes Modell zur Erklärung des cleavage-basierten Wahlverhaltens Entw. auf der Makroebene

Parteiendifferential

Kandidatenorientierung Wertorientierungen Position in d. Soz.struktur

materielle Interessen

Parteiidentifikation

Wahlverhalten

Issueorientierung

Die Argumentationslinien zur Erklärung des cleavage-basierten Wahlverhaltens in den einzelnen Modellen lassen sich wie folgt zusammenfassen15: Im soziologischen Erklärungsmodell führen Veränderungen auf der Makroebene wie z.B. die Nationalstaatsbildung und die Industrielle Revolution zur Herausbildung von sozialstrukturell definierten Gruppen, die konfligierende materielle Interessen und – aufgrund gruppenspezifischer Sozialisationsprozesse – gesellschaftliche Wertorientierungen besitzen. Die Gruppenmitglieder entwickeln enge Bindungen an diejenigen Parteien, die ihre Interessen und Werte in der politischen Arena vertreten, und votieren bei Wahlen für ihre jeweilige Bündnispartei. Im sozialpsychologischen Erklärungsmodell beeinflussen auf Wertekonflikten basierende Cleavages das Wahlverhalten, weil die Wähler eine längerfristige affektive Bindung an diejenige Partei entwickeln, die ihre jeweiligen gesellschaftlichen Wertorientierungen in der politischen Arena vertritt. Darüber hinaus beeinflussen die Wertvorstellungen auch die beiden kurzfristigen Einflussfaktoren der Wahlentscheidung, die Kandidaten- und die Issueorientierung, wenn die Parteien und deren Spitzenkandidaten im Wahlkampf die dem

15

Eine detaillierte Erläuterung der verschiedenen Modelle zur Erklärung des Wahlverhaltens würde den Rahmen dieses Kapitels sprengen. Vgl. hierzu die Übersichtsartikel von Schoen 2005, Schoen/Weins 2005 und Arzheimer/ Schmitt 2005.

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Cleavage zugrunde liegenden Werte oder auch Themen mit erkennbarem Bezug zu diesen Werten in den Mittelpunkt stellen. Im klassischen ökonomischen Rational-Choice-Modell vergleichen die Wähler ihre eigenen politischen Präferenzen mit den Wahlversprechen der Parteien, bilden für jede Partei ein Parteiendifferential durch Kalkulation des Nutzengewinns, den sie von einem Sieg dieser Partei durch deren zukünftige Regierungstätigkeit voraussichtlich haben, und wählen die Partei, die in diesem Nutzenvergleich am besten abschneidet. Gesellschaftliche Wertorientierungen beeinflussen in diesem Modell die Wahlentscheidung dadurch, dass sie „dem Wähler überhaupt erst die Bildung von Präferenzen bezüglich der von den verschiedenen Parteien angebotenen politischen Maßnahmenbündeln und damit auch die Berechnung des Parteiendifferentials“ ermöglichen (Klein 2005: 432).

2.

Zur theoretischen Konzeptualisierung parteipolitischer Konfliktlinien

Analog zur Definition gesellschaftlicher cleavages, lassen sich parteipolitische Konfliktlinien definieren als tief greifende, über eine längere Zeit stabile, konflikthafte, auf der parteipolitischen Vertretung der Belange unterschiedlicher, durch ihre sozialstrukturelle Positionierung und die hieraus abgeleiteten materiellen Interessen und Wertvorstellungen bzw. primär über ihre unterschiedlichen Wertvorstellungen definierter Bevölkerungsgruppen beruhende Spaltungslinien im Parteiensystem. Wie die politische Orientierungs- und Wahlforschung bei der Analyse gesellschaftlicher Cleavages, so ist auch die Parteienforschung bei der Analyse parteipolitischer Konfliktlinien von der Diskussion um die Dimensionalität der Konfliktstruktur, also die Anzahl der grundlegenden Konfliktdimensionen, und um die Art der Konfliktlinien, die diese Dimensionen in bestimmten historischen Phasen repräsentieren, geprägt. Grundlegend für die Auseinandersetzungen um die Anzahl der grundlegenden Konfliktdimensionen waren dabei sowohl die Cleavage-Theorie von Lipset/Rokkan (1967) als auch das räumliche Modell des Parteienwettbewerbs im Rahmen der ökonomischen Theorie der Demokratie von Downs (1957). Relevant für die Analyse von Parteiensystemen wurden diese Fragen, als mit Sartoris (1966, 1976) Rekurs auf die inhaltliche Distanz der Parteien in Parteiensystemen als Kriterium ihrer Typologisierung die Polarisierung als inhaltlich bestimmte Parteiensystemeigenschaft zu den bisher analysierten strukturellen Systemeigenschaften hinzutrat16. Um die Polarisierung eines Parteiensystems quantitativ-empirisch erfassen zu können, müssen zunächst die grundlegenden Konfliktdimensionen und die konkreten Konfliktlinien des Parteienwettbewerbs bestimmt und die einzelnen Parteien darauf verortet werden, bevor das Ausmaß der Polarisierung des gesamten Parteiensystems berechnet werden kann. Downs (1957) Modell ging bei der inhaltlichen Verortung der Parteien von zwei zentralen Prämissen aus: (1) die Positionen der Parteien werden zwar als Punkte in einem Raum konzeptualisiert, dieser Wettbewerbsraum besitzt jedoch nur eine einzige Dimension: die Links-Rechts-Dimension, (2) konkretisiert wird diese Dimension anhand des Wertekonflikts über die Frage, „how much governmental intervention in the economy should there be“ (ebd.: 116). Im Folgenden sollen weder die sozialwissenschaftliche Diskussion um die Be-

16

Zu den verschiedenen Systemeigenschaften, mit deren Hilfe Parteiensysteme und ihre Entwicklung analysiert werden können, vgl. Niedermayer 2007a.

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griffe „Links“ und „Rechts“ nachgezeichnet17 noch die Weiterentwicklungen der räumlichen Modelle des Parteienwettbewerbs18 diskutiert werden. Hier interessiert nur die Frage, ob die parteipolitische Konfliktstruktur auch heute noch durch eine eindimensionale Links-RechtsPolarisierung konzeptualisiert werden sollte, wie es traditionellerweise in der quantitativempirischen Parteienforschung der Fall ist. Schon Sartori (1976: 135) stellt auf diese Dimension ab, und in der Folgezeit werden die Parteien in quantitativ-empirischen Analysen „überwiegend allein auf der Links-Rechts-Dimension“ (Niedermayer 1992: 148) verortet19. Schon sehr früh argumentierte jedoch Stokes (1963: 370), „that the conception of a single dimension of political conflict can hardly be sustained“, und eine Fülle von quantitativen empirischen Analysen der letzten Jahrzehnte mit sehr unterschiedlichen Operationalisierungen kommt zu dem Schluss, dass die Konfliktstruktur der westeuropäischen Parteiensysteme einschließlich der Bundesrepublik zwei- oder mehrdimensional ist20, wovon in der Regel auch die qualitativen Analysen der Konfliktstruktur in der Tradition der CleavageTheorie ausgehen21. Eine Auflösung des Widerspruchs lässt sich erreichen, wenn das Links-RechtsSchema als symbolisches Generalisierungsmedium angesehen wird, d.h. als „a means for citizens to orient themselves in a complex world“ (Fuchs/Klingemann 1989: 205), dessen inhaltliche Bedeutung in Raum und Zeit variiert22. Damit kann die Vereinbarkeit der LinksRechts-Dimension mit der Existenz mehrerer spezifischer Konfliktlinien hergestellt werden, denn: „The frequently advanced argument that the left-right dimension cannot do justice to the multifaceted nature of political conflict in differentiated political systems fails to see the specific character of the left-right schema. The reduction or simplification of political reality through symbolic generalization does not exclude the possibility of situationspecific respecification“ (ebd.: 233). Die Links-Rechts-Dimension als generalisierte „Superstruktur“ anzusehen, die die jeweilige spezifische Konstellation von Konfliktlinien in einem Parteiensystem eindimensional überwölbt, macht jedoch nur Sinn, wenn die situationsspezifische Respezifikation der symbolischen Links-Rechts-Generalisierung auf konsistente Weise erfolgt. Was dies heißt, sei am Beispiel zweier Konfliktlinien veranschaulicht: Kommt zu einer traditionellen, bis17

Vgl. hierzu z.B. Bauer-Kaase 2001. Vgl. z.B. Enelow/Hinich 1984 zur Verallgemeinerung der mathematischen Modellgrundlagen auf multiple Dimensionen. 19 Vgl. an international vergleichenden Analysen z.B. Bartolini/Mair 1990, Budge et al. 2001, 2006, Budge/McDonald 2006, Budge/Robertson/Hearl 1987, Castles/Mair 1984, Crepaz 1990, Franzmann/Kaiser 2006, Gross/Sigelman 1984, Hazan 1995, Huber 1989, Inglehart/Klingemann 1976, Klingemann 1995, Klingemann/Hofferbert/ Budge 1994, Knutsen 1998, Laver/Budge 1992, Laver/Shepsle 1996, McDonald/Mendes/Kim 2007, Pelizzo 2003, Pelizzo/Babones 2003, 2007, Sani/Sartori 1983, Sigelman/Yough 1978, Thomas 1979, 1980a und 1980b. Für Deutschland: Juhász 2000, Klingemann 1972, 1999, Klingemann/Volkens 2002, Pappi 1983, Volkens 1996 und 2000. 20 Vgl. z.B. Benoit/Laver 2006, Cole 2005, Hoff 1992, Jun 2007, Klingemann 1987, Klingemann/Pappi 1972, Knutsen 1988, 1989, Kriesi et al. 2006, Laver/Hunt 1992, Listhaug/Macdonald/ Rabinowitz 1990, Pappi/Shikano 2004, Puntsch 1994, Siaroff 2000 und Warwick 2002. 21 Vgl. die Literatur des vorherigen Abschnitts sowie z.B. Daalder 1990/1966, Dodd 1976, Lijphart 1984, Niedermayer/Stöss/Haas 2006 und Ware 1996. 22 Vgl. hierzu auch z.B. Bobbio 1996, Mavrogordatos 1987, Inglehart/Klingemann 1976, Knutsen 1998 und Franzmann/Kaiser 2006 sowie die Ergebnisse einer Anfang der Neunzigerjahre durchgeführten international-vergleichenden Befragung von Parteienforschern, die von Huber/Inglehart (1995: 83) wie folgt zusammengefasst wird: „Although the political world undoubtedly is multi-dimensional, the structure of party competition reduces the discussion of these issues to a single dimension“. 18

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her die inhaltliche Bedeutung des Links-Rechts-Schemas bestimmenden Konfliktlinie eine neue Konfliktlinie hinzu, so kann eine konsistente Respezifikation auf zwei Arten erfolgen: zum einen, indem die neue Konfliktlinie die traditionelle allmählich ablöst und das LinksRechts-Schema einen parallelen Bedeutungswandel erfährt, so dass nach einer Übergangszeit die inhaltliche Konkretisierung von „links“ und „rechts“ nur noch anhand der neuen Konfliktlinie erfolgt, zum anderen, indem das Links-Rechts-Schema eine Bedeutungserweiterung erfährt, so dass die Inhalte der neuen Konfliktlinie allmählich integriert werden. Im zweiten Fall verlangt die Konsistenzbedingung der Respezifikation im strengen Sinne, dass die Positionierung der einzelnen Parteien auf den beiden spezifischen Konfliktlinien zur gleichen Rangordnung der Parteien eines Parteiensystems führt. Zumindest müssen die einzelnen Parteien jedoch in beiden Konfliktlinien jeweils auf der selben Seite stehen, so dass sie auf beiden Konfliktlinien eine – jeweils durch konkrete politische Inhalte spezifizierte – „linke“ bzw. „rechte“ Position im Parteiensystem einnehmen. Ist dies nicht der Fall, so sind die beiden konkreten Konfliktlinien voneinander unabhängig und es kann daher nicht von einer eindimensionalen Konfliktstruktur ausgegangen werden, die den Parteienwettbewerb prägt. Die erste Variante der Respezifikation wird in der Literatur nur selten vertreten23. Die zweite Variante findet sich sowohl in der Diskussion um die traditionellen, eindeutig sozialstrukturell verankerten als auch in der Diskussion um die Einbeziehung der neuen, primär auf Wertekonflikten basierenden Konfliktlinien. So gehen viele Autoren davon aus, dass die Inhalte des Links-Rechts-Schemas in einer erweiterten Bedeutung sowohl den ökonomischen als auch den religiösen Konflikt umfassten: „In a typical industrial society, left and right have been associated with the line of class (labour market) and religious conflict. ... The placement of parties on the left-right scale reflected the position of the traditional party families on these central lines of conflict“ (Knutsen 1998: 65, vgl. auch Inglehart 1990, Kap. 9). Dalton (1988: 133f.) geht noch weiter: Für ihn schließt das traditionelle LinksRechts-Schema auch noch das Stadt-Land-Cleavage ein (das Zentrum-Peripherie-Cleavage wird nicht erwähnt). Zu diesem „Old Politics cleavage“ zwischen „Old Left“ und „Old Right“ tritt das „New Politics“ Cleavage zwischen „New Left“ und „New Right“. Interessanterweise operationalisiert Dalton das New Politics Cleavage in dem Cleavage-Kapitel durch Ingleharts Materialismus-Postmaterialismus-Index (Dalton 1988: 170ff., vgl. auch den vorherigen Abschnitt), während er in dem Kapitel über die Parteiensysteme die „New Right“ – den Gegenpart zu den postmaterialistischen, im Sinne Flanagans libertäre Wertvorstellungen vertretenden „New Left“ – nicht in den Materialisten Ingleharts, sondern in denjenigen sieht, die sich durch diese Wertvorstellungen bedroht sehen, also im autoritären Pol des Flanagan-Konzepts (ebd.: 134). Anders geht Cole (2005: 208f.) vor, die – ohne dies allzu deutlich zu machen – ihre Unterscheidung zwischen „old right“ und „new right“ Parteien an zwei der drei von Flanagan unterschiedenen Konfliktlinien festmacht: „Rechts“ sind bei ihr Parteien, die den autoritären Pol des Libertarismus-Autoritarismus-Konflikts bilden, während die Unterscheidung zwischen alter und neuer Rechter danach getroffen wird, ob sie in ihren Programmen ökonomischen oder nichtökonomischen Fragen Priorität 23

Beispiele lassen sich aber durchaus finden: So vertritt z.B. Lipset (2001b: 86) die These vom Bedeutungswandel, wenn er argumentiert, dass infolge der „Amerikanisierung“ der europäischen Linken „left and right will never again be defined by the contest between socialism and capitalism“ und dass „party systems float in search of a new grand line of cleavage“. Auch Ingleharts frühe These eines längerfristigen Wandels der Konfliktstruktur „von einer klassenorientierten zu einer wertorientierten politischen Polarisierung“ (Inglehart 1983: 141) legt eher diese Variante nahe.

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einräumen, also im Sinne Flanagans dem materialistischen oder nichtmaterialistischen Pol der ‚old vs. new politics’-Konfliktlinie zuzuordnen sind. In beiden Ansätzen werden damit zwei konkrete Konfliktlinien konzeptualisiert, die durch die eindimensionale Links-RechtsSuperstruktur überwölbt werden. Die umfassendste Links-Rechts-Superstruktur findet sich in den empirischen Analysen der Manifesto Research Group/Comparative Manifesto Project (vgl. vor allem Budge 2006, Budge/Robertson/Hearl 1987, Budge et al. 2001, 2006 und Klingemann/Hofferbert/Budge 1994), die die Wahlprogramme einer großen Zahl von Parteien in etwa fünfzig demokratischen Staaten mit Hilfe quantitativer Inhaltsanalyse untersucht hat und für alle Politikbereiche eine linke und eine rechte Position definiert. Versucht man allerdings in international vergleichenden Analysen die verschiedenen Parteien bzw. Parteifamilien in eine eindimensionale Links-Rechts-Ordnung zu bringen, so zeigen sich sehr schnell größere Probleme schon in Bezug auf die traditionellen Parteifamilien. Knutsen (1998: 72) platziert die Liberalen, Konservativen und Christdemokraten ‘rechts’, konstatiert allerdings: „It is difficult to have clear expectations about the relative left-right location of these party families“. Dies ist noch deutlich untertrieben, denn wenn man davon ausgeht, dass „religious values and interests in continental Europe have been strongly identified with the right“ (ebd.: 73), dann muss man die vielen eindeutig säkulare Werte vertretenden liberalen Parteien nicht mehr oder minder ‚rechts’, sondern eindeutig ‚links’ platzieren. Bezogen auf den Klassenkonflikt bzw. seine moderne Form, den Sozialstaatskonflikt, sind sie jedoch eindeutig ‚rechts’ einzuordnen. In Parteiensystemen, in denen neben dem Sozialstaatskonflikt noch der Religionskonflikt oder auch eine breiter definierte kulturelle Konfliktlinie eine Rolle spielt, ist eine konsistente Einordnung der Liberalen somit nicht möglich24. Größere Schwierigkeiten bestehen auch in der Verortung der ethnischen/regionalistischen Parteien, die den Zentrum-Peripherie-Konflikt repräsentieren. Gallagher/Laver/Mair (2001: 255f.) umgehen diese Probleme halbwegs, indem sie intern nicht differenzieren, d.h. die Parteifamilien nur grob in „left“ und „center and right“ einteilen, und die Regionalparteien nicht beachten. Die in den Siebziger-/Achtzigerjahren in Westeuropa neu hinzukommenden Parteifamilien der Grünen und der „new, post-industrial extreme right“ (Ignazi 1997) bzw. „rechtspopulistischen“25 Parteien werden im Sinne Flanagans zunächst einmal üblicherweise als libertäre und autoritäre Polparteien charakterisiert (vgl. z.B. Ignazi 1992, 1997). Dies trifft auf Letztere ohne Zweifel zu: Diese Parteien „share the fundamental core of ethnonationalist xenophobia (based on the so-called ‚ethnopluralistic doctrine’“ which „is mostly embedded in a general sociocultural authoritarianism)“ (Rydgren 2005: 433, vgl. auch Scharenberg 2006: 70). Bei den grünen Parteien ist jedoch in einigen Fällen Vorsicht angebracht. Umweltschutzorientierung aufgrund der „Einsicht in die ökologischen Grenzen der menschlichen Existenz“, die „die zentrale Aufgabe politischen Handelns“ darin sieht, „das materielle Wachstum zu begrenzen und die wissenschaftlich-technologischen Prozesse an den Notwendigkeiten der Ökologie auszurichten“ (Schultze 1983: 40) ist zunächst einmal 24

So kommen z.B. Pappi/Shikano (2004: 21) bei ihrer empirisch-quantitativen Analyse der programmatischen Positionen aller im deutschen Bundestag vertretenen Parteien zu dem Schluss, dass die Konfliktstruktur des deutschen Parteiensystems „nicht auf eine eindimensionale Links-Rechts-Skala gezwungen werden kann. Das liegt in erster Linie an der Position der FDP“. 25 Vgl. an international vergleichenden Analysen mit dieser Begrifflichkeit z.B. Betz 1994, 2002, Betz/Immerfall 1998, Decker 2004, 2006, Taggart 2000 und Pfahl-Traughber 1994.

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der Flanaganschen Materialisten-Nichtmaterialisten-Konfliktlinie zuzuordnen. Die Wertvorstellung vom Primat der Ökologie über die Ökonomie muss nicht notwendigerweise mit libertären Wertvorstellungen einhergehen26, so dass man zur Kennzeichnung der gemeinten Parteien eher von grün-libertären Parteien reden sollte. Den Zwischenschritt zur Verortung der beiden neuen Parteifamilien im Rahmen einer generalisierten, eindimensionalen Links-Rechts-Superstruktur liefern Arbeiten von Kitschelt (1991, 1995, 1997). Er ist zwar der Auffassung, dass die ökonomische Konfliktlinie zwischen „market allocation“ und „political redistribution of economic ressources“ (Kitschelt 1995: 1) – also der im Sinne des Sozialstaatskonflikts inhaltlich eng definierte LinksRechts-Konflikt – in den westeuropäischen Parteiensystemen durch den Gegensatz zwischen „libertarian“ und „authoritarian politics“ ergänzt wird, letztlich geht jedoch auch er von einer eindimensionalen Polarisierung des Parteienwettbewerbs aus: „postindustrial politics is characterized by a main ideological cleavage dividing left-libertarians from rightauthoritarians“ (ebd.: 2)27. Die beiden Pole dieser Hauptachse der Parteienkonkurrenz bilden die „New Left-“ und „New Radical Right“-Parteien: „New Left stands for ‚leftist’ income redistribution by way of encompassing social policies in the economic sphere , and ‚libertarian’ democratic participation and maximum individual autonomy in politics and the cultural sphere. The New Radical Right ..., on the other hand, advocates rightist free market economics and ‚authoritarian’ hierarchical arrangements in politics, together with a limitation of diversity and individual autonomy in cultural expression“ (ebd.). Knutsen (1998) führt diese Argumentation konsequent fort. Für ihn sind die beiden Parteifamilien als Polparteien in das generalisierte Links-Rechts-Schema einzuordnen und tragen somit zu einer „new left-right polarization“ (ebd.: 74) bei, denn sie betonen „both traditional economic left-right concerns and new non-economic issues that reflect the new meanings of left and right“ (ebd.). Dies mag bis Ende der Achtzigerjahre in vielen Fällen eine zutreffende Verortung gewesen sein. In neuerer Zeit sind jedoch bezüglich der Betonung von traditionellen ökonomischen „linken“ Positionen, d.h. ihrer Verortung als Sozialstaatsparteien, bei einigen grünlibertären Parteien Zweifel angebracht. So braucht man z.B. den deutschen Grünen nicht gleich einen „neo-liberal turn“ (Rüdig 2002: 13) zu unterstellen, um zu konstatieren, dass sie bezüglich dieser Konfliktlinie im deutschen Parteiensystem nicht (mehr) die „linke“ Polposition einnehmen28. Schwerer wiegt jedoch die Tatsache, dass für die Positionierung der „New Radical Right“ die Kombination aus „pro-market economics and authoritarian ... orientations“ (Kitschelt 1997: 142) nicht (mehr) zutrifft: „Heute gehören gerade rechtspo26

Dies wird nicht nur durch die große Bandbreite von Wertvorstellungen in der Gründungsphase der deutschen Grünen und die Gründung einer eigenen, wertkonservativen grünen Partei (ÖDP) nach der libertären Ausrichtung des Mainstreams verdeutlicht. O’Neill (1997: 55) betont in Bezug auf die westeuropäischen Grünen daher generell: „The Greens cover a wide spectrum of ideas and issues“. In einer gesamteuropäischen Betrachtung wird das Problem noch deutlicher: Die ostmitteleuropäischen Grünen sind in der Regel nicht eindeutig libertär orientiert (Rüdig 2004), die lettischen Grünen wurden Mitte der Neunzigerjahre von Beobachtern sogar zum autoritären Pol gerechnet (Matthes 1995). 27 Zur Diskussion und empirischen Analyse dieser These in Bezug auf das deutsche Parteiensystem vgl. Stöss (1997: 153ff.). 28 Vgl. z.B. die empirisch-quantitativen Programmanalysen von Pappi/Shikano 2000 und Volkens 1996, 2000. In ihrer Rolle als Regierungspartei von 1998 bis 2005 grenzten sie sich „mit zum Teil wirtschaftsliberaleren Positionen vom Koalitionspartner SPD“ ab (Haas 2006: 213). Auch hier trägt eine gesamteuropäische Betrachtung zu einer weiteren Relativierung bei: Die ostmitteleuropäischen Grünen zeichnen sich durch „ihre strikte Ablehnung von Staatsinterventionismus“ und „die Bejahung der Marktwirtschaft“ aus (Rüdig 2004: 158f.).

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pulistische Parteien oftmals zu den dezidiertesten Kritikern von Neoliberalismus, Globalisierung und Wohlfahrtsstaatsabbau und machen sich damit zumindest in einem gewissen Maße zu Nachlassvertretern des von der Linken aufgegebenen Besitzstandes der Sozialdemokratie“ (Betz 2002: 257)29. In neueren Arbeiten konzidiert Kitschelt daher: „there is no longer a natural affinity between economic ‚leftism’ and socio-cultural ‚libertarianism’ or economic ‚rightism’ and socio-cultural ‚autarianism’“ (Kitschelt 2004: 6, vgl. auch 2001). Ein weiterer Weg, die Konfliktstruktur von Parteiensystemen eindimensional über die Links-Rechts-Dimension abzubilden, besteht darin, sie inhaltlich eng zu definieren, d.h. sie mit der sozio-ökonomischen Konfliktlinie um die Rolle des Staates in der Ökonomie gleichzusetzen30, und als wichtigste Konfliktlinie im Parteiensystem anzusehen, auf die die Analyse konzentriert wird. So definieren z.B. Gross/Sigelman (1984: 464, vgl. auch Ware 1996: 172) die Links-Rechts-Dimension als „that of government intervention in the economy“ und konstatieren zwar, dass „there are systems in which the basic lines of political cleavage may be largely unrelated to the left-right dimension“, konzentrieren ihre Analyse aber auf diese Dimension, weil „this aspect is both theoretically important and amenable to cross-national comparison“. Für eine solche Vorgehensweise spricht, dass diese Konfliktlinie, wie mehrere Expertenbefragungen in den letzten Jahrzehnten zeigen31, nach Einschätzung der Parteienforschung die Konfliktstruktur der westeuropäischen Parteiensysteme traditionell dominiert und auch in neuester Zeit durch die politischen Reaktionen auf die ökonomischen Auswirkungen der Globalisierung und des demographischen Wandels von großer Relevanz ist, so dass „in den meisten Parteiensystemen eine sozio-ökonomische Links-Rechts-Achse als Hauptkonfliktlinie von großer Bedeutung“ ist (Saalfeld 2007: 177). Jedoch herrscht inzwischen auch weithin Einigkeit darüber, „dass die den einzelnen Parteiensystemen zugrunde liegenden Konfliktlinien zahlreicher und differenzierter sind als die Dualität zwischen linken und rechten ideologischen Positionen“ (Stöss/Haas/Niedermayer 2006: 15), was die Frage nach der Dimensionalität der Konfliktstruktur von Parteiensystemen erneut aufwirft. Bei der konkreten Bestimmung der möglichen Konfliktlinien in Parteiensystemen herrscht in der Literatur keine Einigkeit. Zur Illustration der Vielfalt und zeitlichen Entwicklung der Konzeptualisierungen seien die Positionen einiger Autoren international vergleichender Analysen hier kurz wiedergegeben:

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Für Daalder (1990/1966: 88) sind die wichtigsten Konfliktlinien westeuropäischer Parteiensysteme „class or sectional interest“, „religion“, „geographic conflict (town versus country, centre versus periphery)“, „nationality or nationalism“ und „regime“. Sartori (1976: 121ff.) sieht in den westeuropäischen Parteiensystemen vier „basic cleavage dimensions“: „left versus right“, „secular versus denominational“, „ethnicity versus integration“ und „democratic versus authoritarian“. Lijphart (1981: 28f.) unterscheidet in Westeuropas Parteiensystemen sieben Konfliktlinien: „socio-economic, religious, cultural-ethnic, urban-rural, regime support, foreign policy, post-materialism“, wobei er von den untersuchten 16 Parteiensystemen in den

Vgl. zur Kritik an Kitschelts Modell auch Eatwell 2003, Kaindl 2006, Mudde 1999 und für die deutsche NPD Wiegel 2006. 30 Vgl. z.B. Bauer-Kaase (2001: 213), die davon ausgeht, dass „im Laufe des 20. Jahrhunderts ... der sozioökonomische Konflikt zum zentralen Merkmal der Links-Rechts-Polarisierung“ geworden ist. 31 Vgl. Castles/Mair 1984, Huber/Inglehart 1995, Laver/Hunt 1992 und Benoit/Laver 2006.

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Siebzigerjahren nur eines, das britische, von einer einzigen – der sozio-ökonomischen – Dimension geprägt sieht. Knutsen (1988, 1989) unterscheidet in seinen Analysen der Konfliktlinien westeuropäischer Parteiensysteme vier Dimensionen: „left-right materialist“, „religious“, „materialist-postmaterialist“ und „commodity market“. Listhaug/Macdonald/Rabinowitz (1990: 227) kommen in ihrer Analyse international vergleichender Bevölkerungsumfragen zur Beurteilung der Parteien zu dem Schluss: „there is a strong left-right dimension combined with a more culturally defined and usually weaker second competitive dimension“, wobei die Links-Rechts-Dimension die sozio-ökonomische Konfliktlinie darstellt. Die Expertenbefragung von Laver/Hunt (1992) Ende der Achtzigerjahre mit acht vorgegebene Politikbereichen führt bei der empirischen Analyse der Antworten zu einer – nicht nur auf den sozio-ökonomischen Bereich begrenzten – Links-Rechts-Dimension und einer zweiten Dimension, die insbesondere durch den Zentrum-PeripherieKonflikt bestimmt wird. Siaroff (2000: 12ff.) unterscheidet in seiner Analyse der Konfliktstruktur west- und ostmitteleuropäischer Parteiensysteme sechs „key axes of competition“: In manchen Systemen findet er eine eindimensionale Wettbewerbsstruktur mit den Polen „socioeconomic left“ und „socio-economic right“, in den meisten Fällen wird die sozioökonomische Links-Rechts-Dimension jedoch durch eine zweite Wettbewerbsachse mit den Polen „religious versus secular“, „rural versus urban“, „growth versus environmentalism“ oder „nationalism/xenophobia versus cosmopolitanism/tolerance“ ergänzt. Warwick (2002: 101) findet in seiner Sekundäranalyse der Daten von Laver/Hunt und des Comparative Manifesto Projects „three common dimensions in West European democratic systems: left-right, ‚social control’, and post-materialism“. Niedermayer (2003a: 282ff.) geht davon aus, dass sich seit Ende der Siebzigerjahre in den meisten westeuropäischen Gesellschaften eine neue Konfliktlinie zwischen libertären und autoritären Wertesystemen etabliert hat, die von den politischen Eliten aufgegriffen und parteipolitisch in Form neuer Parteifamilien – den grün-libertären und den ethnozentristisch-autoritären Parteien – umgesetzt wurde, sodass die dominierende sozio-ökonomische Konfliktlinie in den westeuropäischen Parteiensystemen um eine quer dazu verlaufende, sozio-kulturelle Konfliktlinie ergänzt wurde und die heutigen westeuropäischen Parteiensysteme somit durch eine – mindestens – zweidimensionale Konfliktstruktur gekennzeichnet sind. Benoit/Laver (2006: Kap. 4) gaben in ihrer 2002/2003 durchgeführten Expertenumfrage den Experten in allen Ländern vier Politikbereiche vor (economic policy, social policy, decentralization of decosion making, environmental policy) und ergänzten diese Bereiche durch länderspezifisch relevante Bereiche, wobei die Parteipositionen auf allen Bereichen einzeln anhand einer Skala mit einem „linken“ und einem „rechten“ Pol bestimmt werde sollten. In ihrer empirischen Analyse der Positionierungen anhand von Faktorenanalysen fanden sie allerdings nur in 3 von 47 Ländern eine eindimensionale Konfliktstruktur. Kriesi et al. (2006) gehen in ihrer Analyse der Auswirkungen der Globalisierung auf die nationalen politischen Konfliktlinien in sechs westeuropäischen Ländern von einem Antagonismus zwischen Gewinnern und Verlierern der Globalisierung aus, den

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Oskar Niedermayer sie als „conflict between integration and demarcation“ kennzeichnen (ebd.: 922), der sich sowohl in einer sozio-ökonomischen als auch in einer kulturellen Dimension zeigt.

Keine dieser Positionen geht somit von einer eindimensionalen Konfliktstruktur der Parteiensysteme aus oder findet sie in der empirischen Analyse. Dies gilt auch für das deutsche Parteiensystem, wie die folgenden Beispiele zeigen:

Klingemann/Pappis (1972: 18ff.) Analyse der allgemeinen Bevölkerungsorientierungen gegenüber den Parteien 1970 (einschließlich der DKP und der NPD) ergab einen zweidimensionalen Bewertungsraum mit einer – inhaltlich weit gefassten – LinksRechts-Dimension und einem Gegensatz zwischen demokratischen und radikalen/ autoritären Parteien. Aus Pappis (1973, 1977) Analysen des Verhältnisses zwischen Sozialstruktur und Parteiensystem – wobei nur die relevanten Parteien betrachtet wurden – ergab sich bis in die Siebzigerjahre hinein eine zweidimensionale Konfliktstruktur mit einem sozioökonomischen Gegensatz zwischen einer mittelständisch-freiberuflichen Orientierung und einer Arbeitnehmer-/Gewerkschaftsorientierung und einem sozio-kulturellen Konflikt zwischen religiös-kirchlich-konfessioneller Bindung und Säkularisierung. Diese Konfliktstruktur war asymmetrisch, da die beiden Großparteien jeweils einen Pol der beiden Konfliktlinien besetzten. Die FDP war in Bezug auf die sozio-ökonomische Konfliktlinie an der Seite der Union, in Bezug auf den sozio-kulturellen Konflikt an der Seite der SPD zu finden. Schultze (1983: 40f.) unterschied Anfang der Achtzigerjahre eine wohlfahrtsstaatliche (wohlfahrtsstaatliche Umverteilung und Egalisierung versus marktwirtschaftliche Orientierung bei möglichst geringen staatlichen Eingriffen), eine konfessionelle (säkular/nicht-katholisch vs. klerikal/katholisch) und eine ökologische Konfliktlinie (ökologische Politik versus Politik ökonomisch-technologischen Wachstums). Volkens (1996, 2000, vgl. auch Klingemann/Volkens 2002) unterscheidet in ihren Analysen der deutschen Wahlprogramm-Daten der Manifesto Research Group vier für den Parteienwettbewerb relevante Politikfelder (Wirtschafts- und Sozialpolitik, Gesellschaftspolitik, Umweltpolitik und Außen- und Verteidigungspolitik), für die jeweils „linke“ und „rechte“ Positionen definiert werden. Ihre empirischen Analysen zeigen jedoch, dass die einzelnen Parteien keine über die Politikfelder hinweg konsistenten linken oder rechten Positionen vertreten. Niedermayer (2003b: 24ff.) sieht das deutsche Parteiensystem seit den Achtzigerjahren durch zwei Hauptkonfliktlinien gekennzeichnet: den Sozialstaatskonflikt im sozioökonomischen Bereich und den Libertarismus-Autoritarismus-Konflikt im sozio-kulturellen Bereich, eine Position, die mittlerweile – mit teilweise unterschiedlicher Benennung – von vielen Autoren geteilt wird (vgl. z.B. Geiling/Vester 2007, Haas 2006, Jesse 2006, Jun 2007, Korte 2008, Mielke 2007 und Pappi/Shikano 2004, 2005).

All dies spricht dafür, in Analysen der Konfliktstruktur von Parteiensystemen nicht a priori von einer eindimensionalen Links-Rechts-Superstruktur auszugehen, sondern zunächst die konkreten Konfliktlinien zu bestimmen und in einem zweiten Schritt die Dimensionalität empirisch zu klären.

Gesellschaftliche und parteipolitische Konfliktlinien 3.

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Zusammenführung der Angebots- und Nachfrageseite des politischen Wettbewerbs

Schaubild 2 gibt ein auf der Basis der bisherigen Argumentation entworfenes, einerseits alle relevanten Bereiche abdeckendes und andererseits möglichst sparsames Tableau potenzieller gesellschaftlicher und parteipolitischer Konfliktlinien wieder, die den politischen Wettbewerb in Europa prägen können. Schaubild 2: Potenzielle Konfliktlinien im politischen Wettbewerb Sozio-ökonomischer Bereich: Konflikte um die Rolle des Staates in der Ökonomie Sozialstaatskonflikt (soziale Gerechtigkeit vs. Marktfreiheit), Konflikt um die Rolle des Staates bei der Verteilung von Gütern und Dienstleistungen Eigentumskonflikt (Staatseigentum vs. Privateigentum an Produktionsmitteln), Konflikt um die Rolle des Staates bei der Produktion von Gütern und Dienstleistungen Stadt-Land-Konflikt (Konflikt zwischen sekundärem/terziärem und primärem Sektor)

Sozio-kultureller Bereich: Konflikte um die Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens Kirche-Staat-Konflikt (Konflikt zwischen katholischer Kirche und Staat)

Politisch-konstitutioneller Bereich: Konflikte um die Gestaltung der politischen Ordnung Systemkonflikt (Konflikt zwischen demokratischen und undemokratischen Wertorientierungen)

Religionskonflikt (Konflikt zwischen religiösen und säkularen Wertorientierungen)

Libertarismus-AutoritarismusKonflikt (Konflikt zwischen libertären und autoritären Wertorientierungen)

Ökonomie-Ökologie-Konflikt (Konflikt um die Ausrichtung der Politik an ökonomischen oder ökologischen Notwendigkeiten) Zentrum-Peripherie-Konflikt (Konflikt zwischen Mehrheit und ethnischen, sprachlichen, konfessionellen oder sonstigen kulturellen Minderheiten)

All diese Konflikte sind heutzutage primär Wertekonflikte mit unterschiedlich starker Verankerung in der Sozialstruktur32. Im sozio-ökonomischen Bereich drehen sich die Auseinandersetzungen um die Rolle des Staates in der Ökonomie. In Westeuropa steht dabei die Rolle des Staates bei der Verteilung von Gütern und Dienstleistungen im Mittelpunkt, d.h. der Konflikt wird als Sozialstaatskonflikt mit den Polen soziale Gerechtigkeit und Marktfreiheit ausgetragen. Dabei wird von beiden Seiten mit unterschiedlichen Konzeptionen des Grundwerts der Gerechtigkeit argumentiert und dabei auch auf die Grundwerte der Freiheit und Gleichheit Bezug genommen. Nach der traditionellen Marktgerechtigkeitskonzeption sind 32

Zum Folgenden vgl. auch die Analyse der Konfliktstrukturen in den europäischen Staaten bei Niedermayer (2008a: 373ff.).

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Oskar Niedermayer

Verteilungsergebnisse des Marktes, die nach bestimmten Grundregeln zustande kommen, auch gerecht. Der Staat hat demnach nur – durch Gewährleistung der Marktfreiheit – die Einhaltung der Grundregeln zu sichern. Damit wird auf den Grundwert der Freiheit rekurriert und Gerechtigkeit stellt sich als Leistungsgerechtigkeit dar. Im Rahmen der Gegenposition werden materiell ungleiche Marktergebnisse als sozial ungerecht angesehen, es wird auf den Grundwert der Gleichheit gesetzt und soziale Gerechtigkeit stellt sich als solidarische, durch staatliche Intervention zu ereichende Verteilungsgerechtigkeit dar. In den postkommunistischen Staaten Ostmitteleuropas stand im sozio-ökonomischen Bereich zunächst die Rolle des Staates bei der Produktion von Gütern und Dienstleistungen im Mittelpunkt, d.h. die Auseinandersetzungen drehten sich als Privatisierungskonflikt um das Staatseigentum versus Privateigentum an Produktionsmitteln. Nachdem über das ‚Ob’ der Privatisierung in den meisten Staaten Konsens erzielt wurde, verwandelt sich dieser Konflikt zunehmend in den Sozialstaatskonflikt um die Frage der Abfederung der sozialen Kosten der marktwirtschaftlichen Transformation durch verteilungspolitische staatliche Interventionen. Die dritte Konfliktlinie im sozio-ökonomischen Bereich, der Stadt-Land-Konflikt, ist in seiner modernen Form primär ein Gegensatz zwischen städtisch-(post-)industriellen und ländlich-agraischen Interessen, der aber erst durch die Rechtfertigung der Position der Konfliktparteien durch Bezugnahme auf übergeordnete gesellschaftliche Werte politisch relevant wird. In den meisten westeuropäischen Parteiensystemen ist diese Konfliktlinie heutzutage kaum noch relevant. Auch in Ostmitteleuropa hat sie an Bedeutung verloren, stellt aber in einigen Ländern noch eine relevante Konfliktlinie dar. Im sozio-kulturellen Bereich drehen sich die Auseinandersetzungen um die Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens. Dabei hat sich der traditionelle Kirche-Staat-Konflikt mit den Katholiken als sozialstruktureller Trägergruppe in vielen Staaten in einen Religionskonflikt zwischen religiösen und säkularen Wertesystemen transformiert, dessen Bedeutung in den letzten Jahrzehnten in den meisten Parteiensystemen Westeuropas durch die Säkularisierungsprozesse immer stärker zurückgegangen ist, in einigen ostmitteleuropäischen Staaten aber durchaus eine Rolle spielt. Bestimmte, mit religiösen Prägungen verbundene kulturell-moralische Werthaltungen wurden zudem in die neue Konfliktlinie zwischen libertären und autoritären Wertesystemen integriert. Ursache dieser neuen Konfliktlinie sind vor allem die mit der Globalisierung verbundenen kulturellen Entgrenzungsprozesse, die entweder als Bereicherung oder als Bedrohung empfunden werden und daher einerseits zur Herausbildung libertärer Werthaltungen wie Betonung von Selbstverwirklichung, Toleranz gegenüber Minderheiten, Bejahung von Multikulturalität und Unterstützung nonkonformistischer Lebensstile oder autoritärer Werte wie Unterordnung unter Autoritäten, Intoleranz gegenüber Minoritäten, kulturelle Abschottung, Fremdenfeindlichkeit und Unterstützung konformistischer Lebensstile führen. Der Ökonomie-Ökologie-Konflikt um die Ausrichtung der Politik an ökonomischen oder ökologischen Notwendigkeiten hat sowohl sozio-ökonomische als auch sozio-kulturelle Implikationen und kann prinzipiell mit unterschiedlichen Werthaltungen verbunden sein. Es ist somit eine empirische Frage, ob er in einem bestimmten politischen System

Gesellschaftliche und parteipolitische Konfliktlinien

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unter eine der anderen Konfliktlinien subsumiert werden kann oder einen eigenständigen Konflikt darstellt33. Im politisch-konstitutionellen Bereich steht die Auseinandersetzung um die Gestaltung der politischen Ordnung im Mittelpunkt. Der Systemkonflikt trennt hier im politischen Wettbewerb systembejahende Parteien und ihre Anhänger von Antisystemparteien. In Westeuropa trat dieser Konflikt in Gestalt der Trennungslinie zwischen demokratischen und antidemokratischen Parteien, in Ostmitteleuropa als Kommunismus-Antikommunismus-Konflikt auf. Da jedoch in Westeuropa einerseits die kommunistischen und sozialistischen Parteien an Bedeutung verloren und zudem ihre systemoppositionelle Haltung aufgaben oder abschwächten und andererseits eindeutig dem systemfeindlichen Typ zuzurechnende rechtsextreme Parteien in neuerer Zeit im politischen Wettbewerb zumeist nur eine Randexistenz zukommt, ist diese Konfliktlinie in den westeuropäischen Parteiensystemen meist nur noch von geringer Relevanz (vgl. die Beiträge in Niedermayer/Stöss/Haas 2006). In Ostmitteleuropa ist es „evident that the first dimension of conflict ... was the communistanti-communist cleavage. This cleavage dominated politics in the early years of the democratic regime“. Mittlerweile gilt aber für die meisten Länder, dass diese Konfliktlinie „has started to fade away“ (Jungerstam-Mulders 2006: 245). Primär im sozio-kulturellen Bereich verankert aber in die anderen Bereiche hineinreichend ist der Zentrum-Peripherie-Konflikt, der in der Regel zwischen den die Bevölkerungsmehrheit repräsentierenden gesamtstaatlichen Parteien und den politischen Vertretungen ethnischer, sprachlicher, religiöser oder sonstiger kultureller Minderheiten besteht, im Extremfall – wie in Belgien – jedoch auch zu einer Aufspaltung des gesamten Parteiensystems in Regionalparteien führen kann. Wird der politische Wettbewerb durch die gesellschaftlichen und parteipolitischen Konfliktlinien geprägt, so wollen wir von einem cleavage-basierten Wettbewerb sprechen. Die Beziehungen zwischen diesen drei Variablen lassen sich dabei unterschiedlich konzeptualisieren. Aus struktureller Sicht „bringen Parteiensysteme die institutionalisierten Konflikte eines Gemeinwesens zum Ausdruck“, sodass „vorpolitische Konfliktkonstellationen und soziale Wandlungsprozesse ... den politischen Wettbewerb bestimmen“ (Eith 2008: 25). Damit bilden die gesellschaftlichen Konfliktlinien die unabhängige Variable, von der die anderen beiden Variablen abhängen. Aus akteurszentrierter Sicht „handeln Parteien als unabhängige Akteure, die durch ihre politischen Konzepte und Deutungsangebote den politischen Wettbewerb strukturieren und dadurch einen nicht zu vernachlässigenden Einfluss auf den gesellschaftlichen Entwicklungsprozess ausüben“ (ebd.: 26), womit die parteipolitische Konfliktlinienkonstellation als unabhängige, die anderen beiden Faktoren beeinflussende Variable angesehen wird. Eine plausible theoretische Konzeptualisierung gelingt jedoch mit beiden einseitigen Ansätzen nicht, sodass letztlich auf die Wechselwirkung zwischen den gesellschaftlichen Strukturen und der Handlungslogik der politischen Akteure abgestellt werden muss. Lipset/Rokkan (1967) gehen davon aus, dass die sich in den westeuropäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts herausbildenden politischen Parteien „the institutionalization 33

Eine neuere Analyse von Parteipositionen zum Sozialstaatskonflikt (als traditioneller Links-Rechts-Konflikt angesehen) und dem Ökologie-Ökonomie-Konflikt anhand der Daten von Expertenbefragungen in entwickelten Industriestaaten kommt zu dem Ergebnis, dass es zwar eine „strong relationship between party positions on both dimensions“ gibt: „However, leftist parties still continue to diverge with respect to how they respond to the environmental cleavage“ (Dalton 2009: 161)

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Oskar Niedermayer

of cleavages“ (Lipset 2001a: 3) darstellten, sodass die Parteiensysteme als Ganzes mit ihren Konfliktlinien die jeweilige gesellschaftliche Konfliktlinienkonstellation widerspiegelten. In einem solchen Parteiensystem kann von einem cleavage-basierten Parteienwettbewerb gesprochen werden, der historisch mit den Parteitypen der bürgerlichen Repräsentationsparteien und proletarischen bzw. konfessionellen Massenintegrationsparteien verbunden ist. Folgt man jedoch der Argumentation Kirchheimers (1965: 27, 32), so hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Westeuropa „die Massenintegrationspartei ... zu einer Allerweltspartei (catch-all party), zu einer echten Volkspartei“ umgeformt, die u.a. durch ein „radikales Beiseiteschieben der ideologischen Komponenten“ und „Wahlpropaganda mit dem Ziel, die ganze Bevölkerung zu erfassen“ gekennzeichnet ist. Wird der Wettbewerb durch Parteien geprägt, die diesem Typus in seiner Reinform entsprechen, handelt es sich inhaltlich nicht um einen cleavage-, sondern um einen issue-basierten Parteienwettbewerb, bei dem sich die Parteien die jeweiligen von der Zieldimension her kontroversen Wettbewerbsinhalte (Positionsissues) von Wahl zu Wahl nur danach aussuchen, was ihnen momentan die größte Wählerschaft verspricht oder versuchen, in irgendeiner Form beide Seiten anzusprechen, bzw. den Wettbewerb nur an Valenzissues ausrichten, wo sich der Streit um unterschiedliche Mittel zur Erreichung unkontroverser Ziele dreht. Einige Autoren argumentieren, dass der Parteienwettbewerb in den ostmitteleuropäischen Staaten von Anfang an stark issuebasiert war und Lawson (1999: 33) sieht „the uncoupling ... of parties from cleavages“ sogar als gesamteuropäisches Phänomen an. Andere Akzentuierungen (vgl. z.B. Ost 1993) betonten anfangs, dass die kommunistische Herrschaft die soziale und ideologische Landschaft in diesen Staaten so weit eingeebnet habe, dass sich ein auf gesellschaftlichen cleavages basierender Parteienwettbewerb gar nicht oder erst nach einer langen sozialen Rekonstruktionsphase entwickeln würde. „In this context ... political competition for votes in post-communist states would be based on personalistic, demagogic, and populist appeals“ (Whitefield 2002: 185). Nach einem guten Jahrzehnt der wissenschaftlichen Beschäftigung mit diesem Bereich kommt jedoch die Analyse von Tucker (2002: 292) zu dem Schluss: „In general, the literature on elections and voting in post-communist countries offers a fairly consistent ‚yes’ as an answer to the question of whether societal cleavages exist“. Auch für die westeuropäischen Parteiensysteme wird einerseits die These vertreten, dass „social cleavages had (finally...) become irrelevant to partisanship“ (Franklin 1992: 404) und andererseits wird über den zunehmenden Trend zu einem personen-basierten Parteienwettbewerb diskutiert. Allerdings kommt Farrell (2002: 83) in seiner Analyse der Wahlkampagnen zu dem Schluss: „in their fundamentals they have remained party-coated“. Zudem muss bei personen-basierten Kampagnen untersucht werden, ob mit den Personen nicht auch kontroverse politische Inhalte, die die zentralen Konfliktlinien abbilden, transportiert werden. Selbst wenn es sich um einen cleavage-basierten Wettbewerb handelt, müssen die gesellschaftlichen jedoch nicht mit den parteipolitischen Konfliktlinien übereinstimmen, sodass die in der Literatur oft zu findende Operationalisierung der parteipolitischen Konfliktlinienkonstellation anhand der Untersuchung der gesellschaftlichen Spaltungslinien in die Irre führen kann. Wie im Abschnitt 1 ausgeführt, haben schon Lipset/Rokkan (1967: 26) selbst betont, dass „cleavages do not translate themselves into party oppositions as a matter of course“. Nimmt man das Argument des Entscheidungsspielraums der Akteure auf beiden Seiten ernst, so folgen daraus fünf durchaus realistische Varianten der Beziehung zwischen gesellschaftlichen und parteipolitischen Konfliktlinien: (1) eine gesellschaftliche Konflikt-

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linie wird durch neue Parteien politisch organisiert, (2) eine (neue) gesellschaftliche Konfliktlinie wird in das bestehende Parteiensystem integriert, (3) eine gesellschaftliche Konfliktlinie wird ausschließlich außerhalb von Parteien gesellschaftlich organisiert (z.B. in Verbandsform), (4) die Eliten der existierenden Parteien entscheiden, welche gesellschaftlichen Konfliktlinien sie in welcher Form zur Grundlage des Parteienwettbewerbs machen: „cleavages may either be channelled, deflected, and repressed, or, vice versa, activated and reinforced precisely by the operations and operators of the political system“ (Sartori 1968: 20). Im Hinblick auf die Anfangsphase der Herausbildung der Parteiensysteme Ostmitteleuropas argumentiert Zielinski (2002: 185), dass „the early rounds of electoral competition ... are the founding moments when political actors determine which cleavages to depoliticize and which to establish as the permanent axes of political competition“. Dies kann (5) so weit gehen, dass das strategische Kalkül der Parteiakteure in Abhängigkeit von den institutionellen Rahmenbedingungen des Wettbewerbs zu einer „mosaic cleavage party“ führt, die in ihrer Positionierung verschiedene gesellschaftliche Konfliktlinien kombiniert, um ihre Machtchancen zu optimieren: „If the various cleavages do have a common denominator and if the translation of votes into seats and seats into governmental power penalizes small parties, the outcome will be an amalgamation of minor cleavages into a more comprehensive divide“ (Enyedi 2005: 700f.). Auch für die etablierten westeuropäischen Systeme kann nicht ungeprüft davon ausgegangen werden, dass die organisatorische Kontinuität der Akteurskonstellation von Parteiensystemen, die historisch durch die Politisierung einer bestimmten gesellschaftlichen cleavage-Konstellation entstanden sind, noch Jahrzehnte später impliziert, dass die ursprünglichen parteipolitischen Konfliktlinien immer noch vorhanden sind und auch in Form eines cleavage-basierten Parteienwettbewerbs stets aktualisiert werden.

4.

Die Operationalisierung von gesellschaftlichen und parteipolitischen Konfliktlinien

Die gesellschaftlichen Konfliktlinien werden in der Wahlforschung in der Regel immer noch – wo dies überhaupt möglich ist – anhand ihrer sozialstrukturellen Trägergruppen operationalisiert. Ein ausgearbeitetes und allgemein akzeptiertes Instrument zur Messung der unterschiedlichen Wertesysteme, die den im vorherigen Abschnitt unterschiedenen gesellschaftlichen Konfliktlinien zugrunde liegen, existiert nicht. Nicht anders sieht es in der Parteienforschung aus. Die Positionen der einzelnen Parteien auf den jeweiligen Konfliktlinien können anhand von Indikatoren auf der Angebotsund Nachfrageseite des Parteienwettbewerbs bestimmt werden. Eine angebotsseitige Bestimmung kann auf der Basis von Dokumentenanalysen, Expertenurteilen oder Umfragen erfolgen. Bei den Dokumentenanalysen dominieren quantitative Inhaltsanalysen von Wahlprogrammen der Parteien34 auf der Basis von Daten des im Abschnitt 2 schon angesprochenen Comparative Manifesto Projekts (vgl. die dort genannte Literatur). Die Verortung der Parteipositionen aufgrund der Einschätzung von Experten, also in der Regel von Parteienforschern, erfolgt qualitativ immer dann, wenn im Rahmen der Analyse von Parteiensystemen anhand der Parteiprogrammatik oder -politik auf die inhaltlichen Unterschiede der 34

Eine Ausnahme bilden Kriesi et al (2006), die die Positionen der Parteien anhand einer Inhaltsanalyse von Printmedien zu Wahlkampfzeiten erheben.

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Oskar Niedermayer

Parteien eingegangen wird. Die Literatur über Parteien und Parteiensysteme kann aber auch dazu benutzt werden, die Positionen der Parteien als metrische Variable zu quantifizieren35 oder zumindest die einzelnen Parteien bzw. die verschiedenen Parteifamilien in eine ordinale Rangordnung zu bringen36. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, Experten im Rahmen von Befragungen um eine Positionsbestimmung der Parteien zu bitten37. Greift man zur Verortung der Parteien auf der Basis von Umfragen zurück, so kann dies über die Selbstpositionierung von Parteieliten (vgl. z.B. Schmitt/Wüst 2004) oder von Parteimitgliedern (vgl. z.B. Stöss 1997) geschehen. In der international vergleichenden Forschung wird oft auch die Selbstpositionierung von Parteianhängern verwendet38, was im Rahmen einer angebotsseitigen Bestimmung entweder durch eine weite, die ‚party in the electorate’ umfassende Parteiendefinition oder rein forschungspragmatisch durch die bessere Verfügbarkeit von Daten begründet werden kann. Verwendet man die engere, in Europa übliche Parteidefinition, die im außerparlamentarischen Bereich allein auf die Mitgliederorganisation und nicht auf die Anhängerschaft in der Bevölkerung abstellt, dann gehören die Parteianhänger jedoch zur Nachfrageseite des politischen Wettbewerbs. Eine nachfrageseitige Bestimmung der Parteipositionen wird allerdings sinnvollerweise nicht über die Selbstpositionierung, sondern über die Perzeption der Position der Parteien durch ihre Anhänger bzw. die Gesamtbevölkerung vorgenommen39, da zur Positionsbestimmung von Parteien die Parteien und nicht die sie wählenden Bürger das Orientierungsobjekt bilden müssen. Die Vor- und Nachteile der einzelnen Methoden zur Positionierung der Parteien und die Frage nach ihrer Validität sollen hier nicht im Einzelnen diskutiert werden40, da sich für unseren Analysezweck des direkten Vergleichs gesellschaftlicher und parteipolitischer Konfliktlinien nur eine Methode anbietet: der Vergleich der Selbsteinschätzung von Parteianhängern mit ihrer Einschätzung der Parteipositionen.

5.

Gesellschaftliche und parteipolitische Konfliktlinien im Umfeld der Bundestagswahl 2005

Die vorhergehenden theoretischen Überlegungen sollen nun durch eine empirische Analyse der gesellschaftlichen und parteipolitischen Konfliktlinien im Umfeld der Bundestagswahl 2005 ergänzt werden41.

35

Vgl. z.B. Dodd 1976 und Thomas 1979, 1980a und 1980b. Für die einzelnen Parteien vgl. z.B. Taylor/Herman 1971, für die Parteifamilien vgl. z.B. Gross/Sigelman 1984, Shamir 1984 und Sigelman/Yough 1978. 37 Vgl. Castles/Mair 1984, Huber/Inglehart 1995, Laver/Hunt 1992 und Benoit/Laver 2006. Zur vergleichenden Analyse der ersten beiden Expertenbefragungen vgl. Knutsen 1998, eine kritische Betrachtung dieser Methode liefert Budge 2000. Zum Vergleich der Expertenumfragen mit den Daten des Comparative Manifesto-Projekts vgl. z.B. Benoit/Laver 2007, McDonald/Mendes/Kim 2007, Volkens 2007 und Warwick 2002. 38 Vgl. z.B. Falter/Schumann 1992, Huber 1989, Inglehart/Klingemann 1976, Knutsen 1989, Niedermayer 1992, Powell 1987, Sani/Sartori 1983 und Weil 1989. Für einen Vergleich der Selbstpositionierung von Parteianhängern mit dem Ergebnis von Expertenbefragungen vgl. z.B. Gabel/Huber 2000. 39 Für Deutschland vgl. z.B. Gibowski 1977, Juhász 2000, Niedermayer 2000 und Pappi 1983, als internationalvergleichende Analyse vgl. z.B. Dalton 1988. 40 Vgl. hierzu die Beiträge im special issue der Zeitschrift Electoral Studies „Comparing Measures of Party Positioning: Expert, Manifesto, and Survey Data“ von 2007. 41 Vgl. zum Folgenden auch Niedermayer 2006, 2007b, 2008b und 2009a. 36

Gesellschaftliche und parteipolitische Konfliktlinien

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Der politische Wettbewerb in Deutschland ist seit den Achtzigerjahren durch zwei Hauptkonfliktlinien gekennzeichnet: den Sozialstaatskonflikt im sozio-ökonomischen Bereich und den Libertarismus-Autoritarismus-Konflikt im sozio-kulturellen Bereich (vgl. Abschnitt 2). Letzterer wurde im letzten Jahrzehnt, zum einen durch die Projekte der rotgrünen Bundesregierung nach 1998 (z.B. Atomausstieg, Staatsbürgerschaftsgesetz42, Zuwanderungsgesetz, Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern) und zum anderen durch die vom damaligen Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU, Friedrich Merz, im Herbst 2000 ausgelöste und kurz nach der Wahl 2005 vom frisch gewählten Bundestagspräsidenten Norbert Lammert (CDU) wieder ins Spiel gebrachte Debatte um eine deutsche ‚Leitkultur’ immer wieder aktualisiert, und die Nord-Süd-Differenz im Wahlergebnis der Union 2002 war durch diese Konfliktlinie, konkretisiert in der „Gestaltung individueller Lebensweise und zwischenmenschlichen Zusammenlebens“ (Wiesendahl 2003: 69), geprägt. Deutlich wichtiger war für die Bundestagswahl 2005 jedoch die sozio-ökonomische Konfliktlinie in Gestalt des Sozialstaatskonflikts. In den Neunzigerjahren hatten die Verstärkung der Globalisierungsprozesse, der demographische Wandel in Gestalt der zunehmenden Alterung der Gesellschaft und die vereinigungsbedingten finanziellen Lasten den deutschen Wohlfahrtsstaat zunehmend an die Grenzen seiner Finanzierbarkeit gelangen lassen, was zu einer deutlichen Zunahme der Relevanz des Sozialstaatskonflikts führte. SPD und Union haben auf diese Veränderungen der Realität lange Zeit nicht reagiert. Erst als sich die wirtschaftliche Situation deutlich verschlechterte und die steigende Arbeitslosigkeit einen weiteren Reformaufschub nicht mehr duldete, versuchten beide Parteivorsitzenden, die Positionierung ihrer Parteien im Rahmen des Sozialstaatskonflikts in Richtung des marktliberalen Pols zu verschieben, also den Akzent der Sozial- und Wirtschaftspolitik von der sozialstaatlichen Intervention hin zu mehr Eigenverantwortung und Marktfreiheit zu verlagern: Gerhard Schröder zunächst durch das Schröder-Blair-Papier und dann durch die Agenda 2010, Angela Merkel zunächst durch ihre Berliner Rede und dann durch den Leipziger Parteitag. Schröder gelang es nicht, die Neuausrichtung seiner konkreten Regierungspolitik durch eine weniger an Verteilungs- und stärker an Leistungsgerechtigkeit orientierte Konzeption des sozialdemokratischen Grundwerts der sozialen Gerechtigkeit wertemäßig zu unterfüttern und sowohl seine Partei als auch die Wähler von dieser Neupositionierung zu überzeugen. Sein Scheitern führte zu einer Reihe von verlorenen Landtagswahlen, zur Vorziehung der Bundestagswahl und zur Abspaltung von Teilen der Partei, die sich in der „Wahlalternative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ (WASG) neu formierten, ausgerechnet den früheren SPD-Vorsitzenden Lafontaine als Spitzenkandidaten gewinnen konnten und zur Wahl eine Liaison mit der PDS eingingen, die einige Zeit nach der Wahl in eine Fusion mündete. Das Wahlmanifest der SPD zeichnete sich im wirtschafts- und sozialpolitischen Bereich durch eine behutsame Neujustierung des politischen Kurses in Richtung der Parteiund Wählerpräferenzen aus. Im Wahlprogramm der Union wurde die von Angela Merkel betriebene Neuausrichtung konkret umgesetzt, allerdings verblieb man auf der instrumentellen Ebene: Man wollte den Bürger ehrlich sagen, wie die Lage ist und mit welchen konkreten – auch schmerzlichen – Mitteln eine Verbesserung erreicht werden sollte, vernachlässigte dabei aber die wertemäßige Unterfütterung der Argumentation. In der Schlussphase 42

Die Mobilisierung der konservativen Wählerschaft im Libertarismus-Autoritarismus-Konflikt durch eine Unterschriftensammlung gegen die doppelte Staatsbürgerschaft trug 1999 wesentlich zum Wahlgewinn der CDU bei den hessischen Landtagswahlen bei.

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Oskar Niedermayer

des Wahlkampfs positionierte sich die SPD immer stärker als Partei der sozialen Gerechtigkeit, trieb die Union durch eine geschickte negative-campaigning-Strategie vor allem gegen den im Unionsteam für Finanzen zuständigen Paul Kirchhof noch mehr in die marktliberale Ecke der „sozialen Kälte“ und konnte so den Abstand zur Union wesentlich verringern, da auch ein wesentlicher Teil des Wählerpotenzials der Union ihre stärker marktliberale Ausrichtung nicht mittrug. Schaubild 3: Parteipositionen auf der Basis von Analysen der Wahlprogramme zur Bundestagswahl 2005 Sozialstaatskonflikt

Libertarismus-AutoritarismusKonflikt

soziale Gerechtigkeit

Marktfreiheit

Libertarismus

Autoritarismus

Jun 2007: 504

LINKE SPD

GRÜNE CDU/CSU FDP

GRÜNE FDP SPD LINKE

CDU/CSU

Pappi/Shikano 2005: 515

LINKE GRÜNE

SPD CDU/CSU FDP

LINKE GRÜNE

SPD FDP CDU/CSU

Proksch/Slapin 2006: 558

LINKE

GRÜNE SPD CDU/CSU FDP

GRÜNE LINKE

SPD FDP CDU/CSU

Schaubild 3 gibt die angebotsorientierten, durch quantitative Inhaltsanalysen der Wahlprogramme gewonnenen Operationalisierungen der Parteipositionen auf den beiden Konfliktlinien durch verschiedene Autoren wieder. Neben der Einordnung auf der einen oder anderen Seite des jeweiligen Konflikts verdeutlicht das Schaubild – jeweils von links oben nach rechts unten gelesen – auch die relative Position der Parteien43, wobei die jeweiligen „Polparteien“ kursiv gedruckt sind44. Die verschiedenen Autoren kommen aufgrund unterschiedlicher Zuordnungen und Methoden zu unterschiedlichen Ergebnissen, und zwar nicht nur in der relativen Platzierung der Parteien, sondern auch in der Frage, auf welcher Seite des jeweiligen Konflikts sie stehen. Einig ist man sich immerhin in der Platzierung der LINKEN und der FDP als Polparteien im Sozialstaatskonflikt und der Grünen und der CDU/CSU als Polparteien im Libertarismus/Autoritarismus-Konflikt45. Deutlich wird auch, dass die beiden Konfliktlinien nicht durch eine gemeinsame Links-Rechts-Dimension 43

D.h. Jun z.B. verortet die Parteien im Sozialstaatskonflikt in der folgenden Reihenfolge: LINKE, SPD, GRÜNE, CDU/CSU, FDP. 44 Die Bezeichnung Polpartei ist relativ und nicht absolut zu verstehen, d.h. die jeweilige Partei wird in Bezug auf die jeweilige Konfliktlinie am weitesten in Richtung des jeweiligen Pols verortet, muss aber keine Extremposition am jeweiligen Pol einnehmen. 45 Die eigentliche autoritäre Polpartei im sozio-kulturellen Konflikt, die NPD, wurde in den Analysen nicht berücksichtigt. Bei Pappi/Shikano liegen die LINKE und die Grünen im sozio-kulturellen Konflikt sehr nahe beinander.

Gesellschaftliche und parteipolitische Konfliktlinien

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überwölbt werden können, selbst wenn man nur die schwache Konsistenzbedingung zugrunde legt, nachdem die einzelnen Parteien in beiden Konfliktlinien auf der selben Seite stehen müssen. Die nachfrageorientierte Operationalisierung der beiden parteipolitischen und gesellschaftlichen Konfliktlinien geben die beiden folgenden Schaubilder wieder. Wie die Wähler der jeweiligen Parteien nach der Bundestagswahl 2005 ihre Partei und sich selbst im Rahmen des Sozialstaatskonflikts verorten, zeigt Schaubild 446. Auch die Wähler sehen die LINKE am sozialstaatlichen und die FDP am marktliberalen Pol des Sozialstaatskonflikts, wobei der Terminus „Pol“ vor allem für die FDP als relative Größe zu verstehen ist, da sie ziemlich weit von der extremen Marktfreiheitsposition weg positioniert wird. Die Union wird ebenfalls noch im stärker marktliberalen Bereich verortet, alle anderen Parteien im stärker sozialstaatlichen Bereich. Bei der SPD ist dies wohl auch auf die „Resozialdemokratisierung“ der Partei im Wahlkampf zurückzuführen und die Grünen werden trotz ihrer von manchen Beobachtern nach der Regierungsbeteiligung konstatierten „neo-liberalen Wende“ (Rüdig 2002: 103) von ihren Wählern immer noch deutlich auf der sozialstaatlichen Seite verortet. Die sozialstaatliche Positionierung gilt auch für die NPD, was durchaus der neueren ideologisch-programmatischen Position dieser Partei (vgl. z.B. Jesse 2005: 38 und Wiegel 2006) und ihrer Präsentation im Wahlkampf entspricht. Insgesamt bestätigt die Einschätzung der Parteien durch ihre Wähler auch noch nach der Bundestagswahl von 2005 den Befund eines „welfare bias“ (Padgett 2004: 364ff.) des deutschen Parteiensystems, wie der mit dem Wahlergebnis der Parteien gewichtete Einschätzungs-Mittelwert aller Parteien (PS) zeigt. Ein Vergleich des von den Wählern perzipierten parteipolitischen Sozialstaatskonflikts mit der gesellschaftlichen Konfliktlinie anhand der Selbsteinschätzung der jeweiligen Parteiwählerschaften zeigt zwei wesentliche Unterschiede: Zum einen verorten sich die NPDWähler noch deutlich sozialstaatsaffiner als sie ihre Partei einschätzen, zum anderen sind die Wähler aller drei „bürgerlichen“ Parteien weniger marktliberal orientiert als sie das für ihre Parteien annehmen. Bei der CDU steht selbst die Wählerschaft, die ihrer Partei trotz der marktliberalen Positionsverschiebung die Treue gehalten hat, auf der anderen Seite des Sozialstaatskonflikts. Insgesamt ist die Variationsbreite der Positionierungen im gesellschaftlichen Bereich geringer als im parteipolitischen Bereich.

46

Die Daten des Schaubilds beruhen auf der Frage, ob nach Ansicht der Befragten die Partei eher dafür steht, dass der Staat stark in die Wirtschaft eingreifen solle, um eine umfassende soziale Absicherung der Bürger zu garantieren, oder dass er wenig in die Wirtschaft eingreifen und die soziale Absicherung der Eigenverantwortung der Bürger überlassen solle (7-Punkte-Skala).

54

Oskar Niedermayer

Schaubild 4: Sozialstaatskonflikt: parteipolitische und gesellschaftliche Ausprägung nach der Bundestagswahl 2005 (Mittelwerte)

Positionierung der Parteien durch ihre Wähler

LIN

SPD GRÜ NPD

CDU CSU FDP

PS

Positionierung der Wähler

LIN NPD SPD GRÜ CDU CSU FDP

soziale Ger. 1

Marktfreiheit 2

3

4

5

6

7

Quelle: DFG-Projekt "Bürger und Parteien" (N = 2540).

Schaubild 5 gibt die Positionierungen auf der Libertarismus-Autoritarismus-Konfliktlinie anhand der Frage nach der Präferenz für eine multikulturelle Gesellschaft oder eine deutsche Leitkultur wieder47. Die parteipolitische Konfliktlinie zeichnet sich hier dadurch aus, dass die beiden Polparteien – die Grünen und die NPD – inhaltlich als sehr viel weiter auseinander liegend wahrgenommen werden als die Polparteien der sozialstaatlichen Konfliktlinie. Während zudem die FDP im sozio-ökonomischen Sozialstaatskonflikt auf der Seite der Unionsparteien steht, ist sie im sozio-kulturellen Libertarismus-Autoritarismus-Konflikt auf der Seite der SPD zu finden. Hier zeigt sich also die „asymmetrische“ zweidimensionale Konfliktstruktur der Siebzigerjahre (vgl. Abschnitt 2) im neuen Gewand. Das gesamte Parteiensystem ist durch einen leichten ‚libertarian-bias’ gekennzeichnet. Stehen sich die Wähler der LINKEN und der NPD hinsichtlich ihrer Selbstpositionierung im Sozialstaatskonflikt sehr nahe, so gilt dies nicht für die sozio-kulturelle Konfliktlinie. Die NPD-Wähler, von denen fast drei Viertel der Auffassung sind, der deutschen Kultur müsse Vorrang eingeräumt werden, und nur jeder Zehnte für Multikulturalität plädiert, bilden in dieser Konfliktlinie mit großem Abstand zu den anderen Parteien den autoritären Pol. Der libertäre Pol der gesellschaftlichen Konfliktlinie wird durch die Wählerschaft der Grünen gebildet. Die Selbstverortung der Grünen-Wähler unterscheidet sich allerdings deutlich von ihrer Einschätzung der eigenen Partei: Die Wähler sind wesentlich weniger multikulturell orientiert. Dies ist ein Hinweis darauf, dass radikal-libertäre Positionen, wie sie von einem Teil der grünen Parteibasis vertreten werden, zur Optimierung der Wahl47

Es wurde die Frage gestellt, ob man der deutschen Kultur Vorrang einräumen oder kulturelle Vielfalt pflegen sollte.

Gesellschaftliche und parteipolitische Konfliktlinien

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chancen der Grünen nicht taugen. Auch die Wähler der anderen Parteien ordnen sich selbst im Vergleich zur Parteipositionierung etwas stärker zur Mitte ein, sodass – wie schon beim Sozialstaatskonflikt – die gesellschaftliche Polarisierung geringer ist als die parteipolitische Polarisierung. Schaubild 5: Libertarismus-Autoritarismus-Konflikt: parteipolitische und gesellschaftliche Ausprägung nach der Bundestagswahl 2005 (Mittelwerte)

Positionierung der Parteien GRÜ durch ihre Wähler

LIN SPD FDP

CDU

CSU

NPD

PS

Positionierung der Wähler

GRÜ LIN SPD FDP CDU CSU

NPD

Libertarismus 1

Autoritarismus 2

3

4

5

6

7

Quelle: DFG-Projekt "Bürger und Parteien" (N = 2540).

6.

Koalitionspolitische Schlussfolgerungen aus der gesellschaftlichen Konfliktstruktur

Zum Schluss soll noch gezeigt werden, dass die Analyse der zweidimensionalen gesellschaftlichen Konfliktstruktur auch einen Beitrag zum Verständnis des Koalitionsbildungsprozesses nach der Bundestagswahl 2005 leistet. Seit der Wiedervereinigung waren in der Bundesrepublik fünf Parteien parlamentarisch repräsentiert. Vor 2005 waren jedoch immer nur vier – 2002 sogar nur drei – davon koalitionsstrategisch relevant. Eine Partei ist koalitionsstrategisch relevant, wenn mit ihr rein rechnerisch minimale Gewinnkoalitionen gebildet werden können, also Zusammenschlüsse, die zum einen über eine Regierungsmehrheit verfügen (im Gegensatz zu einer Minderheitskoalition) und zum anderen eine minimale Größe in dem Sinne besitzen, dass jede Koalitionspartei zum Erreichen der Mehrheit benötigt wird (im Gegensatz zu einer übergroßen Koalition)48. In diesem Fall müssen alle für solche Koalitionen in Frage kommenden Parteien Koalitionsüberlegungen anstellen, die natürlich auch als Ergebnis haben 48

Seit den Sechzigerjahren waren die Regierungen ohne Ausnahme minimale Gewinnkoalitionen.

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Oskar Niedermayer

können, dass man aus den unterschiedlichsten Gründen keine Koalition miteinander eingehen will. Bei koalitionsstrategisch nicht relevanten Parteien müssen solche Überlegungen jedoch erst gar nicht angestellt werden. Erst mit der Bundestagswahl von 2005 stieg die Zahl der koalitionsstrategisch relevanten Bundestagsparteien auf fünf49. Die Bildung einer Regierungskoalition ist ein komplexer, durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusster Prozess50. Betrachtet man ihn aus der Sicht der Akteure, so ist er als bedingte Entscheidung der Führungsspitzen der beteiligten Parteien zu kennzeichnen51. Die Entscheidung der Parteiführung, eine bestimmte Koalitionsoption anzustreben, ist als Ergebnis einer Abwägung von Koalitionsanreizen, -hemmnissen und -alternativen anzusehen, d.h.: Die Führungsspitze einer Partei trifft die Entscheidung zur Aufnahme von Koalitionsverhandlungen dann, wenn die durch das Überwiegen von Koalitionsanreizen gegenüber Koalitionshemmnissen gegebene Motivation zur Bildung dieser Koalition stärker ist als die mit den möglichen Handlungsalternativen verbundenen Motivationen. Koalitionsanreize und -hemmnisse ergeben sich durch die verschiedenen Ausprägungen der folgenden Faktoren: (1) den rein rechnerischen Möglichkeiten zur Bildung von Koalitionen, (2) den Perzeptionen der Parteiführung hinsichtlich der inhaltlichen Nähe oder Distanz zu den in Frage kommenden Parteien in den wichtigen Politikfeldern, durch die die im Parteiensystem existierenden Konfliktlinien bei einer Wahl aktualisiert und konkretisiert werden, (3) den Orientierungen der Parteiführung gegenüber den Koalitionsoptionen52, (4) den Perzeptionen der Parteiführung über die Orientierungen der Akteure in den relevanten Parteigremien, (5) den Perzeptionen der Parteiführung über die koalitionspolitischen Grundorientierungen im Mediensystem bzw. bei anderen intermediären Organisationen und deren jeweilige Beeinflussbarkeit (5) den Perzeptionen der Parteiführung über die Orientierungen des Wählerpotenzials der eigenen Partei. Man konnte bei den beteiligten Parteiführungen davon ausgehen, dass die inhaltlichen Wählerorientierungen einer Koalitionsbildung nach dem traditionellen deutschen Koalitionsmodell einer Zweiparteienkoalition aus einer Groß- und einer Kleinpartei, d.h. konkret: einer rot-grünen oder schwarz-gelben Koalition – nicht entgegenstehen würden. Dass dies für die Wertorientierungen der einzelnen Wählerschaften im Rahmen der zweidimensionalen Konfliktstruktur galt, zeigt Schaubild 6.

49

CDU und CSU werden auf der parlamentarischen Ebene aufgrund ihrer Fraktionsgemeinschaft als politische Einheit angesehen. Die Frage einer Einbeziehung der NPD in Koalitionsüberlegungen stellt sich wegen der elektoralen Schwäche dieser Partei auf Bundesebene erfreulicherweise nicht. 50 Zum Folgenden vgl. ausführlicher Niedermayer 2009b. 51 Bedingt deshalb, weil oft schon die Entscheidung zur Aufnahme von Koalitionsverhandlungen, auf jeden Fall aber deren Ergebnisse der Legitimation durch die Zustimmung eines Parteitages bedürfen und weil die nachfolgende parlamentarische Wahl des Regierungschefs durch die Mitglieder der Koalitionsfraktionen erfolgen muss, sodass beide Gremien Vetomacht besitzen 52 Wobei hier explizit nicht die inhaltlichen Orientierungen gemeint sind, sondern strategische Kalküle hinsichtlich der Stellung der eigenen Partei im Parteienwettbewerb, individuelle Vorteils- bzw. Nachteilserwartungen, Erfahrungen mit dem Personal in vergangenen Koalitionen und Erwartungen hinsichtlich des zukünftigen Verhaltens der bisherigen bzw. möglichen neuen Koalitionspartner, wobei dies auch und gerade die ‚Chemie’ zwischen den beteiligten Personen einschließt.

Gesellschaftliche und parteipolitische Konfliktlinien

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Schaubild 6: Gesellschaftliche Konfliktstruktur nach der Bundestagswahl 2005 (Mittelwerte) Autoritarismus

CDU

CSU FDP

soziale Gerecht. LINKE

Marktfreiheit

SPD

GRÜNE

Libertarismus Quelle: DFG-Projekt "Bürger und Parteien" (N = 2540).

Die Wähler der CDU, CSU und FDP standen in ihren Wertorientierungen den Wählern von SPD und Grünen gegenüber. Diesmal besaß mit der LINKEN jedoch eine weitere Partei koalitionsstrategische Relevanz und die Größenverhältnisse der Fraktionen verhinderten zum ersten Mal seit einem halben Jahrhundert eine Koalitionsbildung nach dem traditionellen Muster. Da die SPD eine – den hier untersuchten Wertorientierungen der Wähler gemäß durchaus mögliche53 – Koalition mit der LINKEN kategorisch ausgeschlossen hatte54, 53

Es muss allerdings betont werden, dass trotz der zunehmenden bundesweiten Akzeptanz dieser Partei ein Teil der – vor allem westdeutschen – Wähler die LINKE aufgrund ihrer Vergangenheit und der ideologischen Position eines Teils ihrer Mitglieder und Führungsgruppen noch nicht als normale demokratische Partei ansieht, sodass hier eine weitere Konfliktlinie aufscheint: der Systemkonflikt zwischen demokratischen und nicht demokratischen Parteien.

58

Oskar Niedermayer

verblieben rein rechnerisch nur noch drei Koalitionsmöglichkeiten: die Ampel (SPDGrüne-FDP), eine „Jamaika-Koalition“ aus CDU/CSU-FDP-Grünen und die Große Koalition. Angesichts der großen Diskrepanz zwischen den Wertorientierungen der GrünenWähler auf der einen und den CSU- sowie FDP-Wählern auf der anderen Seite war die Perzeption der Wählerorientierungen durch die Parteiführungen mit ein Grund, keine der beiden Dreierkoalitionen zu realisieren und somit gezwungenermaßen eine Große Koalition einzugehen.

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Dass auch CDU, CSU und FDP eine Koalition mit der Linkapartei kategorisch ausschließen, muss nicht weiter erörtert werden.

Gesellschaftliche und parteipolitische Konfliktlinien

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Beeinflusst Anomia politische Orientierungen? Steffen Kühnel, Anja Mays und Esther Ochoa Fernández

1.

Einleitung

Das Phänomen Anomie und seine gesellschaftlichen wie politischen Folgen werden in den Sozialwissenschaften seit Ende des 19. Jahrhunderts diskutiert. Nach Durkheim kann Anomie als ein gesellschaftlicher Zustand der Desintegration oder Entfremdung verstanden werden (vgl. Durkheim 1977 [1893], 1995 [1897]). Anomie tritt auf, wenn die moralischnormative Entwicklung einer Gesellschaft mit ihrem raschen Wandel nicht Schritt halten kann. In der Folge werden Normen als nicht mehr verbindlich anerkannt und verlieren so ihre Orientierungs- und Regelungsfunktion für das individuelle Handeln. Merton definiert den Begriff Anomie etwas anders (vgl. Merton 1995 [1945]). Für ihn liegt Anomie dann vor, wenn es für bestimmte Bevölkerungsgruppen keine legitimen Mittel gibt, vorgegebene kulturelle Ziele (wie etwa Wohlstand) zu erreichen. Im Unterschied zu Anomie ist das Konstrukt Anomia ein auf der individuellen Einstellungsebene angesiedeltes sozialpsychologisches Konzept. Srole (1956), der den Begriff in die wissenschaftliche Diskussion einführte, versteht unter Anomia das individuelle Empfinden des Wegbrechens gesellschaftlicher Einbindung (Srole 1956: 712). Anomia kann somit als individuelle Folge des gesellschaftlichen Zustands der Anomie, die sich als Orientierungs- und Handlungsunsicherheit bzw. Bindungslosigkeit äußert, verstanden werden (Bohle 1997). Nach Srole lässt sich Anomia in fünf Dimensionen unterscheiden, die sich mit einer von ihm entwickelten und vielfach verwendeten Skala messen lassen: Politische Machtlosigkeit, soziale Machtlosigkeit, Zukunftspessimismus, Normverlust und Sinnlosigkeit sowie soziale Isolation (Srole 1956: 712). Unter politischer Machtlosigkeit versteht Srole die Wahrnehmung, dass die politischen und administrativen Repräsentanten den Bedürfnissen der Bevölkerung nicht Rechnung tragen. Mit sozialer Machtlosigkeit dagegen ist das Erfahren der sozialen Ordnung als unbeständig und unberechenbar gemeint. Die Vorstellung, dass zukünftige Entwicklungen zur Verschlechterung führen, nennt Srole Zukunftspessimismus während Normverlust und Sinnlosigkeit den Eindruck des Verfalls von vormals gültigen sozialen Normen und Werten bezeichnet. Soziale Isolation schließlich ist das Erleben persönlicher Beziehungen als unsicher und wenig unterstützend. Die gesellschaftlichen Folgen derartiger Desintegrationsprozesse wurden in der Vergangenheit in verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen untersucht. Als Beispiele lassen sich neben den frühen Studien von Durkheim und Merton zum abweichenden Verhalten (Selbstmord und Kriminalität), die Analysen von Parsons (1942) und Kornhauser (1959) zur Unterstützung faschistischer Bewegungen oder aber die vor allem aus jüngerer Zeit stammenden Untersuchungen der Vorurteils- und Extremismusforschung (Srole 1956, Heitmeyer 1987, Terwey 2000, Herrmann 2001, Kühnel/Schmidt 2002, Fuchs 2003, Hüpping 2006) nennen. Während sich in der Vorurteils- und Extremismusforschung die Erklärungskraft von Orientierungs- und Handlungsunsicherheit in einigen Feldern als sehr erfolgreich erwiesen

Beeinflusst Anomia politische Orientierungen?

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hat (vgl. etwa Hermann 2001: 211), ist in der deutschen empirischen Wahl- und Partizpationsforschung Anomia ein bislang nur wenig beachtetes Konstrukt. Allerdings werden hier Ansätze wie z.B. political efficacy verwendet, die Überschneidungen mit dem AnomiaKonzept, insbesondere mit der oben angesprochenen Dimension der politischen Machtlosigkeit, aufweisen (vgl. Campbell et al. 1954). Obwohl zu erwarten ist, dass Anomia auch auf politische Orientierungen und Wahlverhalten Einfluss hat, lassen sich in der Literatur kaum empirische Untersuchungen finden, die sich explizit mit den Auswirkungen von Anomia auseinandersetzen. Vielmehr finden sich Aussagen, wonach der Entfremdungsansatz „in seiner allgemeinen Form“ in der Wahlforschung nur von begrenztem Nutzen sei (Arzheimer 2008: 87, Winkler 1996). Um die Erklärungskraft des Entfremdungs- oder Anomia-Ansatzes für diesen Bereich der politischen Soziologie bzw. Politikwissenschaft zu untersuchen, befasst sich die folgende Analyse mit einigen typischen Untersuchungsgegenständen der politischen Wahl- und Einstellungsforschung.

2.

Empirische Befunde und theoretische Überlegungen

Die Studien, die Anomia zur Erklärung von Vorurteilen, Xenophobie, Ethnozentrismus oder allgemein sog. gruppenbezogenen Feindseligkeiten einsetzen, ermittelten durchweg einen positiven Zusammenhang zwischen dem Ausmaß von Anomia einerseits und den Untersuchungsobjekten andererseits (vgl. Srole 1956, Herrmann 2001; Kühnel/Schmidt 2002, Fuchs 2003, Hüpping 2006 u.a.). Zudem konnten einige dieser Untersuchungen zeigen, dass der Effekt der Anomia auch nach Berücksichtigung wichtiger Kontrollgrößen signifikant bleibt. Hermann beispielsweise konnte in ihrer Analyse belegen, dass Anomia einen erheblichen Anteil der Varianz von Ethnozentrismus (30%) erklärt (Herrmann 2001: 211). Ein anderes Beispiel für die Ergiebigkeit des Anomia-Ansatzes lässt sich bei Kühnel und Schmidt (Kühnel/Schmidt 2002) finden. Ihrer Analyse zufolge leistet (Orientierungs-) Anomia auch dann noch einen eigenständigen und signifikanten Beitrag zur Erklärung gruppenbezogenen Feindseligkeiten (insbesondere von Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus oder dem Einfordern von Etabliertenvorrechten), wenn Bildung und die ideologische Selbstpositionierung statistisch kontrolliert werden Die sozialen und politischen Auswirkungen von Anomia sollten sich jedoch nicht auf das aufgeführte Gebiet der gruppenbezogenen Feindseligkeiten beschränken, sondern auch auf andere Einstellungsfelder und politisches Handeln übertragbar sein. So ist zu erwarten, dass das als negativ empfundene Bild einer chaotischen, unsicheren und unberechenbaren Gesellschaft umfassende politische Enttäuschung auslöst. Das Gefühl politischer Machtlosigkeit, aber auch die anderen Facetten der Anomia, sollten daher zu verstärkter Unzufriedenheit mit politischen Institutionen sowie dem politischen System führen.1 Als ein weiteres Resultat von Anomia kann politischer Rückzug oder Apathie vermutet werden. Diese Annahme deckt sich mit der These von Merton, der als eine mögliche Reaktion auf anomische Spannungen Desinteresse und sozialen Rückzug nannte.2 Nimmt man politischen Autoritäten als ignorant gegenüber Bedürfnissen der Bevölkerung wahr 1

Die Bedeutung von Systemzufriedenheit bzw. Systemunterstützung für die Stabilität demokratischer Systeme wurde von Easton hervorgehoben (Easton 1975), auf Deutschland bezogen siehe Westle (1989) und Fuchs (1989). 2 Dieser Aspekt wird gelegentlich auch im Kontext der Debatte um die sog. Politikverdrossenheit thematisiert (vgl. Arzheimer 2002).

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Steffen Kühnel, Anja Mays und Esther Ochoa Fernández

oder erfährt man soziale Desintegration und Unsicherheit, dann kann eine Folge davon sinkende politische Involvierung bzw. abnehmendes Politikinteresse sein. Weitere Beispiele für politischen Rückzug wären der Verlust an Parteibindung sowie schwindende Wahlbeteiligung. Eine weitere Verarbeitungsstrategie von Anomia kann die Präferenz für vermeintlich einfache Erklärungsansätze und Lösungen sein. In einer als unübersichtlich und bedrohlich empfundenen sozialen Welt können radikale politische Konzepte oder populistische Forderungen (wie „mehr Markt – weniger Staat“ oder „Deutschland den Deutschen“) den Wunsch nach klaren Strukturen, Ordnung und Sicherheit befriedigen (vgl. die oben erwähnten Beispiele wie Ethnozentrismus oder Fremdenfeindlichkeit). Darüberhinaus ist zu erwarten, dass Anomia die individuelle Orientierung im politischen Raum erschwert, was instabile politische Einstellungen und Verhaltensweisen zur Folge haben kann. Konkret ist damit zu rechnen, dass politische Einstellungen stärkeren Schwankungen unterworfen sind – etwa in der Themen- oder Kandidatenorientierung – und es vermehrt zu wechselnden Wahlentscheidungen kommt. Folgt man den theoretischen Ausführungen der Anomieforschung, so können noch weitere Verarbeitungs- oder Bewältigungsstrategien vermutet werden,3 die jedoch nicht Gegenstand unserer Untersuchung sind. Die folgende empirische Analyse konzentriert sich auf die oben erläuterten vier Gegenstandsbereiche: politische Unzufriedenheit, politische Apathie, Vorliebe für einfache Lösungen sowie Instabilität im politischen Verhalten. Konkret werden folgende vier Hypothesen überprüft:

H1: Es kann erwartet werden, dass mit der Höhe der Anomia die Unzufriedenheit mit dem politischen System anwächst. H2: Es ist zu vermuten, dass mit einem Ansteigen der Anomia ein sinkendes Interesse an Politik verknüpft ist. H3: Die Präferenz für vereinfachende politische Konzepte ist umso größer, je stärker die Anomia ausgeprägt ist. H4: Wahlverhalten verliert mit dem Ausmaß an Anomia an Stabilität.

3.

Operationalisierung und methodisches Vorgehen

In der Nachwahlstudie zur Bundestagswahl 2005 „Bürger und Parteien“ findet sich ein Fragenblock der drei Aussagen enthält, die als Indikatoren für Anomia verstanden werden können:

Keine Regeln: „Heute hält sich im Grunde niemand mehr an die Regeln.“ Unübersichtlichkeit: „Die Welt ist so unübersichtlich geworden, dass man gar nicht mehr weiß, wie es weitergehen soll.“ Probleme: „Die heutigen Probleme sind so kompliziert, dass die Politik sie nicht mehr lösen kann.

Die Befragten konnten zu jeder Aussage auf einer siebenstufigen Antwortskala mit den Polen „trifft überhaupt nicht zu“ bis „trifft voll und ganz zu“ eine Bewertung abgeben. 3

Merton etwa erwähnt neben Konformität, Innovation und Ritualismus, den sozialen Rückzug und Rebellion.

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Die erste Aussage lässt sich im Sinne von Srole als Messung von Normverlust interpretieren, die zweite als Zukunftspessimismus und die dritte als politische Machtlosigkeit, wobei letzteres nicht eine mangelnder Reaktivität der politischen Eliten (externe Efficacy) anspricht, sondern die zu geringe Kompetenz und Durchsetzungskraft der Politik insgesamt. In unserer Untersuchung unterstellt das Analysemodell, dass die Antworten der Befragten auf die drei Indikatoren vom jeweiligen Ausmaß an Anomia abhängen. Wir vermuten, dass mit steigendem Ausmaß an Anomia die Unzufriedenheit mit dem politischen System steigt. In der Nachwahlstudie finden sich hierzu zwei Indikatoren:4

Verfassungszufriedenheit: „Was würden Sie zu der Demokratie, so wie sie im Grundgesetzt festgelegt ist, sagen: Sind Sie damit sehr zufrieden, ziemlich zufrieden, etwas zufrieden, etwas unzufrieden, ziemlich unzufrieden oder sehr unzufrieden?“ Demokratiezufriedenheit: „Und wie zufrieden oder unzufrieden sind Sie – alles in allem – mit der Demokratie, so wie sie in Deutschland funktioniert? Sind Sie damit sehr zufrieden, ziemlich zufrieden, etwas zufrieden, etwas unzufrieden, ziemlich unzufrieden oder sehr unzufrieden?“

Unsere zweite Hypothese bezieht sich auf das politische Interesse, das mit steigenden Anomia sinken sollte. Zur Erfassung des politischen Interesses verwenden wir ebenfalls zwei Indikatoren:

Generelles Politikinteresse: „Wie stark interessieren Sie sich für Politik? Sehr stark, ziemlich stark, mittel, wenig oder überhaupt nicht?“ Wahlkampfinteresse: „Am 18. September war ja Bundestagswahl. Wie stark haben Sie sich für diese Wahl interessiert? Sehr stark, ziemlich stark, mittel, wenig oder überhaupt nicht?“

Als weitere Folge von Anomia vermuten wir, dass mit steigender Anomia das Bedürfnis nach einfachen Erklärungen wie Lösungen für politische Probleme wächst. In der Nachwahlbefragung finden sich keine direkten Aussagen, die auf eine Vorliebe für einfache Erklärungen und Lösungen hinweisen. Es lässt sich aber argumentieren, dass insbesondere Parteien an den Rändern des politischen Spektrums tendenziell eher einfache Lösungen anbieten als Parteien in der Mitte, die auf unterschiedliche Wählergruppen Rücksicht nehmen müssen. Als Indikatoren für die Neigung zu einfachen Lösungsvorschlägen verwenden wir in unseren Analysen die Parteiskalometer der Linkspartei für den linken Rand und der NPD für den rechten Rand. Die Bewertung der Parteien wird mit der „Thermometer-Frage“ eingeleitet: „Stellen Sie sich einmal – wie auf diesem Blatt dargestellt – ein Thermometer vor, dass aber lediglich von plus 5 bis minus 5 geht, mit einem Nullpunkt dazwischen. Sagen Sie mir bitte mit diesem Thermometer, was Sie von den einzelnen Parteien halten. +5 bedeutet, dass Sie sehr viel von der Partei halten. −5, dass Sie überhaupt nichts von der Partei halten. Mit den Werten dazwischen können Sie Ihre Meinung abgestuft sagen.“ Linkspartei: „Und was halten Sie von der Linkspartei.PDS?“ NPD: „Und was halten Sie von der NPD?“ 4

Neben diesen beiden Fragen findet sich noch eine weitere Frage zur Bewertung der Idee der Demokratie, die eher eine Wertvorstellung als die Systemzufriedenheit erfasst.

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Unsere letzte Hypothese bezieht sich auf die Stabilität des Wahlverhaltens. Hierfür nutzen wir aus, dass eine Teilstichprobe der Befragten im November 2007 bzw. Frühjahr 2008 telefonisch ein zweites Mal befragt wurde. Wahlstabilität: In der Wiederholungsbefragung 2007/2008 wurde erfragt, welche Partei sie bei einer Wahl wählen würden, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre. Befragte, die hier die gleiche Partei nannten wie in der Nachwahlbefragung zur Bundestagswahl 2005 bei ihrer Zweitstimme sind in einer dichotomen Variable als stabil klassifiziert, Befragte, die eine andere Partei angaben, als instabil. Dabei wurden die Wähler der CDU und CSU sowie der rechten Parteien NPD und Republikaner jeweils zusammengefasst. Analysestrategie: Für die Prüfung unserer Hypothesen wird jeweils in getrennten Modellen der Effekt von Anomia auf die vier abhängigen Variablen berechnet. Da bei solchen Analysen das Problem besteht, dass selbst zufällige Messfehler zu Verzerrungen führen können, werden nicht die Zusammenhänge auf der Ebene der tatsächlich beobachteten Antworten geschätzt, sondern Beziehungen zwischen latenten Variablen (Faktoren). Diese können geschätzt werden, wenn für die Erfassung eines solchen latenten Faktors mindestens zwei Indikatoren zur Verfügung stehen. Dies ist mit Ausnahme der Wahlstabilität bei allen Konstrukten der Fall. Verzerrungen kann es zudem durch nichtberücksichtigte Drittvariablen geben, die sowohl die unabhängige Variable Anomia wie auch die abhängigen Konstrukte beeinflussen. Gänzlich ausschließen lässt sich dies bei Umfragedaten nicht. Wir werden aber zumindest mit der Bildung (gemessen über den erreichten höchsten Schulabschluss) der befragten Personen eine wichtige Kontrollvariable berücksichtigen. Da sich politische Einstellungen und das Wahlverhalten in den alten und neuen Ländern unterscheiden, werden die Analysemodelle zur Kontrolle auch getrennt für die alten und neuen Bundesländer berechnet. Mit Hilfe der Wiederholungsbefragung 2007/2008 lassen sich einige unserer Hypothesen strenger prüfen. Dazu werden die Zusammenhänge von Anomia auf die abhängigen Faktoren Systemzufriedenheit und politisches Interesse simultan in jeweils einem gemeinsamen Analysemodell (Panelmodell) für die Nachwahlbefragung im Herbst 2005 und die Wiederholungsbefragung im November 2007/Frühjahr 2008 geschätzt. In der Wiederholungsbefragung wird zusätzlich der autoregressive Effekt der abhängigen Größe zum ersten Messzeitpunkt auf das unabhängige Konstrukt zum zweiten Messzeitpunkt berücksichtigt. Dieser auch als Stabilität zu interpretierenden Effekt einer Variablen auf sich selbst zu einem früheren Zeitpunkt ist in der Regel sehr hoch.5 Durch autoregressive Effekte werden auch indirekte Effekte nicht gemessener Drittvariablen kontrolliert, soweit sie zeitlich invariant sind. Es ist daher damit zu rechnen, dass die Effekte von Anomia in der Wiederholungsbefragung geringer sind als in der Nachbefragung direkt nach der Bundestagswahl 2005. Die Antwortvorgaben erlauben bei allen betrachteten Indikatoren ein ordinales Messniveau. Obwohl es übliche Praxis ist, bei kategorialen Antwortskalen metrisches Messniveau und damit gleiche Abstände zwischen den Ausprägungen zu unterstellen, verwenden wir im Folgenden Analysemodelle, die auf der Beobachtungsebene nur ordinale Messungen voraussetzen. Dazu berechnen wir auf der Basis von Kreuztabellen sogenannte polychorische Korrelationen. Dabei wird davon ausgegangen, dass die vorgegebenen Antwortkatego5

Bei der Systemzufriedenheit ergibt sich im Panel ein standardisierter autoregressiver Effekt von 0.606., beim politischen Interesse sogar von 0.705.

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rien grobe Messungen der eigentlich interessierenden unbeobachteten metrischen Variablen ergeben. Aus den Antworthäufigkeiten in den Kreuztabellen werden dann die Korrelationen dieser metrischen Variablen geschätzt. Die Korrelationen und die ebenfalls geschätzten Varianzen und Kovarianzen ihrer Kennwerteverteilung werden dann in linearen Strukturgleichungsmodellen für die Zusammenhangsanalysen verwendet.

4.

Ergebnisse

4.1 Anomia und Systemzufriedenheit Unsere erste Hypothese behauptet, dass mit steigender Anomia die Unzufriedenheit mit dem politischen System zunimmt. Zur Prüfung dieser Hypothese haben wir lineare Strukturgleichungsmodelle auf der Basis polychorischer Korrelationen berechnet, in denen bei Kontrolle von Bildung der Effekt von Anomia auf die Systemzufriedenheit geschätzt wurde. Anomia ist dabei als Faktor mit drei Indikatoren spezifiziert, Systemzufriedenheit als Faktor mit zwei Indikatoren. Tabelle 1 zeigt die Ergebnisse für die Daten der Nachwahlbefragung zur Bundestagswahl 2005.6 In der zweiten Spalte sind zunächst die Ergebnisse aufgeführt, wenn nicht zwischen alten und neuen Ländern unterschieden wird. Das standardisierte partielle Regressionsgewicht des Faktors Anomia auf den Faktor Systemzufriedenheit beträgt -0.254 und ist im zweiseitigen Signifikanztest bei einer Irrtumswahrscheinlichkeit von 0.1% signifikant. Das Vorzeichen ist erwartungsgemäß negativ. In den letzten beiden Zeilen sind die standardisierten Effekte von Anomia auf die beiden Indikatoren aufgeführt. Der höhere Wert bei der Verfassungszufriedenheit ist Folge davon, dass dieser Indikator höher auf den Faktor Systemzufriedenheit lädt als der Indikator Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie. Tabelle 1: Effekt von Anomia auf Systemzufriedenheit Standardisierter Effekt auf

Bundesrepublik insgesamt nur alte Länder (n=2282) (n=1471) Systemzufriedenheit (Faktor) -0.254** -0.262** – Verfassungszufriedenheit -0.252** -0.254** – Demokratiezufriedenheit -0.150** -0.161** ** signifikant auf dem Niveau von p<.001, * signifikant auf dem Niveau von p<.01. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

nur neue Länder (n=791) -0.247** -0.233** -0.137*

In der Tabelle nicht aufgeführt sind die Effekte der Bildung. Bildung weist einen mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von 0.1% signifikanten negativen Effekt auf Anomia auf und zusätzlich einen bei 5% Irrtumswahrscheinlichkeit signifikanten positiven direkten Effekt auf die Systemzufriedenheit, der mit einem Wert von 0.059 aber deutlich geringer ist als der Effekt von Anomia. In den beiden letzten Spalten der Tabelle sind die Ergebnisse aufgeführt, die sich bei getrennter Berechnung in den alten und neuen Bundesländern ergeben. Die Effekte weichen 6

Das vollständige Strukturgleichungsmodell weist eine Vielzahl von Koeffizienten auf. In der Tabelle aufgeführt werden nur die direkt die Hypothese H1 betreffenden direkten bzw. totalen standardisierten Effekte. Sämtliche im Folgenden vorgestellten Modelle weisen einen hinreichenden Modellfit auf. Die genauen Modellspezifikationen und detaillierte Ergebnisse können bei den Verfassern dieses Beitrags erfragt werden.

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nur unwesentlich voneinander ab. Insgesamt bestätigen die Ergebnisse unsere erste Hypothese: Anomia weist auch bei Kontrolle von Bildung und Region einen deutlichen negativen Effekt auf die Systemzufriedenheit auf. Die insgesamt durch Anomia und Bildung erklärte Varianz der Systemzufriedenheit beträgt allerdings nur 8% im Modell für die Bundesrepublik insgesamt (im Westen 11%, im Osten 7.5%) und ist damit deutlich geringer als beispielweise der von Herrmann (2001:211) berichtete Effekt von Anomia auf Ethnozentrismus. Tabelle 2 zeigt die Ergebnisse der Panelanalyse. Die geschätzten standardisierten Effekte von Anomia auf die Systemzufriedenheit unterscheiden sich zum ersten Messzeitpunkt kaum von den in Tabelle 1 berichteten Effekten. Auch die totalen Effekte zum zweiten Messzeitpunkt sind kaum geringer.7 Wie erwartet merklich geringer sind dagegen die direkten Effekte von Anomia zum zweiten Messzeitpunkt auf die Systemzufriedenheit zum zweiten Messzeitpunkt. Die Effekte verschwinden allerdings nicht ganz und bleiben bei einer Irrtumswahrscheinlichkeit von 5% signifikant von Null verschieden. Damit weist auch die Panelanalyse darauf hin, dass es einen negativen Zusammenhang zwischen Anomia und der Zufriedenheit mit dem politischen System der Bundesrepublik gibt: Je größer das Ausmaß an Anomia bei einer Person ist, desto geringer ist im Mittel die Zufriedenheit mit dem politischen System der Bundesrepublik. Tabelle 2: Effekt von Anomia auf Systemzufriedenheit im Panel (n=493), Bundesrepublik gesamt Standardisierter Totaler Effekt auf Anomia (Herbst 2005) Anomia (2007/2008) (zum ersten Messzeitpunkt) Systemzufriedenheit (Faktor) -0.285** – Verfassungszufriedenheit -0.277** – Demokratiezufriedenheit -0.217** (zum zweiten Messzeitpunkt) Systemzufriedenheit (Faktor= -0.267** -0.172* – Demokratiezufriedenheit -0.204** -0.131* ** signifikant auf dem Niveau von p<.01, * signifikant auf dem Niveau von p<.05. Quelle: Paneldatensatz zur Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

4.2 Anomia und politisches Interesse Die Prüfung unserer zweiten Hypothese, nach der Anomia auch einen negativen Effekt auf das politische Interesse aufweist, erfolgt analog zur Vorgehensweise bei der Prüfung der ersten Hypothese. In Tabelle 3 sind die Ergebnisse der Analyse der Nachwahlbefragung im Herbst 2005 für Hypothese 2 zusammengefasst.

7

In der telefonischen Wiederholungsbefragung wurde nur nach der Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie gefragt. Da die Interviewdauer in Telefonbefragungen nicht so lang sein kann wie bei persönlichen Befragungen, wurde auf die Frage nach der Zufriedenheit mit der Demokratie nach dem Grundgesetz verzichtet. Durch Gleichsetzen der Messfehlervarianzen des Indikators Demokratiezufriedenheit bei beiden Messzeitpunkten ist es trotzdem möglich, auch im Einindikatorenmessmodell von Systemzufriedenheit zum zweiten Messzeitpunkt zufällige Messfehler (mangelnde Reliabilität) zu kontrollieren.

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Tabelle 3: Effekt von Anomia auf das politische Interesse

** signifikant auf dem Niveau von p<.001, * signifikant auf dem Niveau von p<.01. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Wie bereits bei der Zufriedenheit zeigen sich auch beim politischen Interesse negative Effekte, die sogar noch ein wenig höher sind als bei der Systemzufriedenheit. Bei Personen mit einem höheren Ausmaß an Anomia ist also wie von Hypothese 2 behauptet mit einem geringeren politischen Interesse zu rechnen als bei Personen mit einem geringeren Ausmaß an Anomia. Da sich die beiden Indikatoren des politischen Interesses sehr ähnlich sind, sind die Messungen recht zuverlässig, so dass auch die Effekte auf die beiden Indikatoren sehr hoch sind.8 Es gibt auch nur sehr geringe Unterschiede zwischen den Werten für West- und Ostdeutschland. Tabelle 4: Effekt von Anomia auf politisches Interesse im Panel (n=506), Bundesrepublik gesamt

** signifikant auf dem Niveau von p<.01, * signifikant auf dem Niveau von p<.05. Quelle: Paneldatensatz zur Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Bei Kontrolle des autoregressiven Effekts im Panelmodell halbiert sich der direkte Effekt von Anomia auf das politische Interesse (beide Konstrukte bezogen auf den zweiten Messzeitpunkt 2007/2008). Gleichwohl bleibt ein bei einer Irrtumswahrscheinlichkeit von 1% signifikanter negativer Effekt bestehen. Wie im Modell für die Systemzufriedenheit gibt es auch in den Modellen für das politische Interesse einen negativen Effekt der Bildung auf Anomia, weisen also Personen mit zunehmender Bildung eher ein geringeres Ausmaß an Anomia auf als Personen mit geringerer Bildung. Im Unterschied zur Systemzufriedenheit gibt es zudem auch im Panelmodell einen signifikanten positiven Bildungseffekt in Höhe von 0.209 auf das politische Interesse.9

8

Die polychorischen Korrelationen beträgen 0.768 bei allen Fällen und 0.787 in der Teilgruppe aus den alten bzw. 0.736 in der Teilgruppe aus den neuen Bundesländern. 9 Im Panelmodell zur Zufriedenheit mit dem politischen System ist der nicht sehr hohe partielle Effekt der Bildung auf die Systemzufriedenheit nicht (aufgrund der geringeren Fallzahl) signifikant und daher aus dem Modell für Tabelle 2 entfernt worden.

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Zusammenfassen lässt sich feststellen, dass bei Kontrolle von Bildung und Region im Panelmodell negative Zusammenhänge zwischen Anomia und politischem Interesse beobachtbar sind. Damit kann auch die zweite Hypothese als bestätigt gelten.

4.3 Anomia und die Bevorzugung vereinfachender politischer Konzepte Unsere dritte Hypothese postuliert, dass mit steigendem Ausmaß an Anomia das Bedürfnis wächst, nach einfachen Erklärungsmustern zu suchen und auch einfache Lösungen für politische Probleme zu bevorzugen.10 Je höher das Ausmaß an Anomia ist, desto eher ist also damit zu rechnen, dass Befragte populistischen politischen Versprechungen Gauben schenken. Da es kennzeichnend für politischen Extremismus ist, dass politische Probleme auf wenige als generell angenommene Ursachen wie etwa die Ausbeutung durch den „globalen Kapitalismus“ auf der linken Seite oder das Vorhandensein von Migranten auf der rechten Seite zurückgeführt werden, ist zu erwarten, dass es zwischen Anomia und extremen politischen Vorstellungen sowohl auf der linken wie auf der rechten Seite des politischen Spektrums positive Zusammenhänge gibt. Da insbesondere rechtsextreme Ideologien konkreten Personengruppen und nicht abstrakten Zuständen Schuld zuweisen, sollte Anomia zudem stärker mit rechtsextremen als mit linksextremen Positionen zusammenhängen. Um die Vermutung zu prüfen, dass Anomia mit rechsextremen aber auch mit linksextremen Vorstellungen positiv korreliert, verwenden wir die Parteiskalometer, mit denen die Haltung zu verschiedenen politischen Parteien erfasst werden.11 Da es bei diesen Fragen 11 Antwortvorgaben gibt, haben die Parteiskalometer auch den Vorteil, dass es in den Antworten der Befragten selbst dann noch Variation gibt, wenn eine große Mehrheit der Befragten eine Partei sehr negativ bewertet. Auf der rechtsextremen Position ist im Fragebogen die Bewertung der NPD enthalten. Dass diese Partei rechtsextreme Positionen vertritt, ist unumstritten. Schwieriger ist die Datenlage am linken Rand. In der Nachwahlbefragung zur Bundestragwahl 2005 ist die Linkspartei/PDS die am weitesten links positionierte Partei, zu der eine Bewertung erfragt wurde. Weiter links stehende Parteien spielen in der Bundesrepublik eine zu geringe Rolle und sind auch zu unbekannt, als dass zuverlässige Bewertungen in allgemeinen Bevölkerungsumfragen sinnvoll erscheinen. Da es insbesondere bei der Linkspartei/PDS erhebliche Unterschiede in den Bewertungen von Befragten aus dem Westen und dem Osten gibt, erscheint es uns wenig sinnvoll, eine gemeinsame Analyse über alle Fälle durchzuführen. Tatsächlich weisen die polychorischen Korrelationen zwischen der Bewertung der NPD und der Linkspartei/PDS in der Nachwahlbefragung in der Teilgruppe der alten Bundesländer einen überraschend hohen Wert von 0.429 auf,12 während der Wert in der Teilgruppe aus den neuen Bundesländern nur 0.1 beträgt. Nur für die alten Bundesländer ist es daher sinnvoll, die Skalometerfragen zur Linkspartei/PDS und zur NPD als Indikatoren eines gemeinsamen Faktors „positive 10

Dies ist vermutlich auch der Hintergrund des in vielen Untersuchungen gefundenen positiven Zusammenhangs zwischen Anomia und Ablehnung bzw. Diskriminierungsbereitschaft von Minderheiten (vgl. z.B. Kühnel/Schmidt, 2002). 11 Im Datensatz ist auch eine umfangreiche Itembatterie zu rechtsextrmistischen Orientierungen enthalten. Für unsere Argumentation ist es aber wichtig, sowohl Zusammenhänge mit rechten wie mit linken Extremen zu erfassen. Wir konzentrieren uns daher ausschließlich auf die Parteienskalometer. 12 Dieser hohe Wert ist in erster Linie darauf zurückzuführen, dass 69.3% der Befragten aus den alten Bundesländern sowohl zur PDS wie zur NPD eine stark negative Haltung angaben.

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Haltung zu extremen Parteien“ zu modellieren. In den neuen Ländern werden dagegen die Zusammenhänge zwischen Anomia und den beiden Parteienbewertungen als voneinander unabhängige Effekte modelliert. Tabelle 5: Effekt von Anomia auf die Bewertung von Parteien an den linken und rechten Rändern des Parteienspektrums Standardisierter Effekt auf

Alte Bundesländer (n=1481) Positive Haltung gegenüber extremen Parteien (Faktor) 0.353* – Linkspartei/PDS 0.172* – NPD 0.323** ** signifikant auf dem Niveau von p<.001, * signifikant auf dem Niveau von p<.01. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Neue Bundesländer (n=791) -0.130* 0.251**

Tabelle 5 zeigt die Ergebnisse der Modellschätzung. Werden – nur im Westen – die Antworten auf die Parteiskalometerfragen zu einem Faktor zusammengefasst, zeigt sich ein deutlicher positiver Effekt von Anomia in Höhe von 0.353 auf diesen Faktor. Nicht viel geringer ist der Effekt von Anomia auf den Indikator Haltung zur NPD, was darauf hinweist, dass vor allem die Haltung zur NPD diesen Faktor bestimmt.13 Nur etwa halb so groß ist dagegen der ebenfalls positive Effekt von Anomia auf die Haltung zur Linkspartei/PDS. Ein ähnliches Größenverhältnis zeigen auch die beiden Effekte von Anomia zur NPD bzw. Linkspartei/PDS in den neuen Bundesländern. Die Werte sind insgesamt geringer als in den alten Bundesländern. Ein gemeinsamer Effekt wird hier nicht geschätzt, da die beiden Parteien nur sehr gering miteinander korrelieren. Aber auch im Osten besteht immerhin eine geringe positive Korrelation zwischen den Bewertungen von Linkspartei/PDS und NPD. Wie in allen Modellen werden dabei mögliche Konfundierungen durch die Bildung der Befragten kontrolliert. Bei den Bildungseffekten gibt es ebenfalls Unterschiede in den beiden Teilgruppen. In Westen weist die Bildung einen nicht sehr hohen negativen standardisierten Effekt von −0.111 auf die Haltung zur NPD auf. Einen mit 0.095 fast gleich hohen, aber positiven Effekt hat Bildung im Westen auf die Haltung zur Linkspartei/PDS. Im Osten gibt es dagegen keinen Effekt der Bildung auf die Haltung zur Linkspartei/PDS. Zur NPD gibt es dagegen auch hier einen negativen Effekt, der mit einem Wert von −0.198 auch deutlich höher ist als im Westen. Inhaltlich weist dies darauf hin, dass in den neuen Ländern die bei der Bundestagswahl 2005 mit der WASG noch nicht fusionierte PDS bei Kontrolle von Anomia in allen Bildungsgruppen im Mittel gleich bewertet wurde, die NPD dagegen mit steigender Bildung eher negativer. In den alten Ländern gilt das gleiche – wenn auch schwächer – für die NPD. Die Linkspartei, die im Westen bei der Wahl 2005 noch WASG war, hatte dagegen bei höheren Bildungsabschlüssen eine etwas höhere Sympathie als bei niedrigeren Bildungsabschlüssen. Insgesamt gesehen bestätigt sich durch diese Analyse auch unsere dritte Hypothese. Im Westen wie im Osten und bei Kontrolle von Bildung steigt mit Anomia eine positivere (oder weniger negative) Haltung gegenüber den Parteien an den politischen Rändern. Dies gilt in deutlich stärkerem Maße für rechte Positionen als für linke Positionen. Mit zuneh13

Tatsächlich ist die standardisierte Faktorladung des NPD-Skalometers auf diesen Faktor mit 0.915 sehr hoch, während die entsprechende Ladung des Skalometers für die Linkspartei/PDS mit 0.486 relativ gering ist.

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mender Anomia scheint die Bevorzugung vereinfachender politischer Konzepte zuzunehmen.14

4.4 Anomia und Wahlstabilität Unsere letzte Hypothese bezieht sich auf den Zusammenhang zwischen Anomia und der Stabilität des Wahlverhaltens. Ähnlich wie bei den ersten beiden Hypothesen erwarten wir wieder negative Effekte, also eine geringere Stabilität im Wahlverhalten bei Personen mit höherem Ausmaß an Anomia relativ zu Personen mit geringerem Ausmaß an Anomia. Um diese Vermutung zu überprüfen, verwenden wir nur Befragte, die sowohl in der Nachwahlbefragung 2005 als auch in der telefonischen Wiederholungsbefragung sich zu ihrem Wahlverhalten äußerten. Nicht berücksichtig werden hierbei Nichtwähler, Befragte die angeben, ungültig zu wählen, sowie Befragte sehr kleiner Parteien, die unter die Restrubrik „andere Parteien“ fallen. Verglichen werden die Antworten zur berichteten Zweitstimmenabgabe bei der Bundestagswahl 2005 in der Nachwahlbefragung kurz nach der Wahl mit der Wahlabsicht zugunsten einer Partei bei einer vorzustellenden fiktiven Bundestagswahl am nächsten Sonntag nach der Wiederholungsbefragung 2007/2008. Von 506 Befragten nennen 52% bei der Wiederholungsbefragung die gleiche Partei wie in der Nachwahlbefragung gut 2 Jahre zuvor, während 48% eine andere Partei nannten. Tabelle 6: Effekt von Anomia auf die Stabilität der Parteienwahl (n=506) Standardisierter Totaler Effekt auf Anomia (Herbst 2005) Anomia (2007/2008) Stabilität der Parteienwahl -0.094* -0.173* ** signifikant auf dem Niveau von p<.01, * signifikant auf dem Niveau von p<.05. Quelle: Paneldatensatz zur Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Tabelle 6 ist zu entnehmen, dass es tatsächlich einen negativen Effekt von Anomia auf die Wahlstabilität gibt. Der Effekt von Anomia zum ersten Messzeitpunkt ist allerdings sehr gering, was daran liegt, dass der Effekt nur indirekt über Anomia zum zweiten Messzeitpunkt läuft.15 Aber auch zum zweiten Messzeitpunkt ist der Wert mit einem standardisierten Regressionsgewicht von −0.173 eher gering.16 Wie zuvor ist auch hier stets Bildung als Kontrollvariable berücksichtigt. Allerdings weist auch die Bildung nur einen vernachlässigbaren indirekten positiven Effekt in Höhe von 0.035 auf die Stabilität auf, der ausschließlich durch den deutlichen negativen Effekt von Bildung auf Anomia (zum ersten Messzeitpunkt) vermittelt wird. Trotz der geringen Höhe sind alle Effekte bei einer Irrtumswahrscheinlichkeit von 5% singifikant von Null verschieden. Da nur 506 Fälle im Paneldatensatz für die Analyse zur Verfügung stehen, ist es eigentlich nicht sinnvoll, getrennte Analysen für die alten und neuen Bundesländer zu berechnen. Aufgrund der dann vor allem im Osten sehr kleinen Fallzahl ergeben sich recht 14

Da nach Regionen getrennte Analysen für den Zusammenhang zwischen Anomia und der Haltung zu Parteien an den Rändern notwendig sind, ist es aufgrund zu geringer Fallzahlen nicht sinnvoll analog zu dem Vorgehen bei der Prüfung der ersten beiden Hypothesen abschließend ein Panelmodell zu schätzen. 15 Die Stabilität (standardisierter autoregressiver Effekt) von Anomia beträgt 0.547. 16 Dieser Wert kann unterschätzt werden, da es aufgrund des einzelnen Indikators nicht möglich ist, zufällige Messfehler bei der Wahlstabilität zu kontrollieren. Sie gehen in die Residualvarianz ein und führen so zu einem zu geringen standardisierten Effekt.

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hohe Standardfehler, die die Stabilität der Schätzungen in Frage stellen. Interessehalber haben wir gleichwohl auch nach Ost-West getrennte Analysen berechnet. Dabei zeigt sich, dass in den neuen Ländern die Stabilität von Anomia etwas höher ist als in den alten Ländern und auch der Effekt von Anomia zum zweiten Messzeitpunkt auf die Stabilität der Parteienwahl höher zu sein scheint. Formal kann somit auch unsere letzte Hypothese als bestätigt aufgefasst werden. Je höher das Ausmaß an Anomia ist, desto eher ist damit zu rechnen, dass bei der Parteienwahl die Parteien gewechselt werden. Dieser Effekt ist signifikant, allerdings nur so gering, dass dies keine wirkliche praktische Relevanz hat.

5.

Diskussion

Wir haben am Anfang dieses Beitrags die Vermutung geäußert, dass Anomia Effekte auf politische Orientierungen hat. Anomia wird dabei verstanden als die Einstellung, dass in der Vergangenheit gültige Normen und Regeln ihre Relevanz und Bindungskraft verlieren, dass der Zukunft eher mit Pessimismus als mit Optimismus entgegengesehen wird und dass auch die Politik keine Lösungen anbietet oder aber nicht realisiert. Konkret haben wir postuliert, dass mit Anomia die Zufriedenheit mit dem politischen System sinkt (H1), dass auch das politische Interesse mit Anomia sinkt (H2), dass auf der anderen Seite mit Anomia Parteien an den politischen Rändern und insbesondere am rechten Rand an Attraktivität gewinnen (H3) und dass schließlich das Wahlverhalten instabiler wird (H4). Zur Prüfung dieser Vermutungen wurden die Daten der Nachwahlbefragung zur Bundestagswahl 2005 „Bürger und Parteien“ sowie eine Wiederholungsbefragung eines Teils dieser Stichprobe gut zwei Jahre nach der Wahl herangezogen. Als Analysemodelle haben wir lineare Strukturgleichungsmodelle auf der Basis polychorischer Korrelationen berechnet, da diese Modellklasse ordinales Messniveau berücksichtigen und bei Vorhandensein multipler Indikatoren zufälligen Messfehlern kontrollieren kann. Als generelle Kontrollvariablen haben wir zudem Bildung und mögliche Unterschiede zwischen den alten und neuen Bundesländern berücksichtigt. Die Analysen bestätigen unsere Hypothesen. Die empirischen Daten sprechen tatsächlich dafür, dass Anomia negativ auf das politische Interesse und die Zufriedenheit mit dem politischen System der Bundesrepublik wirkt, dass das Wahlverhalten instabiler wird und extremere Parteien, vor allem rechtsgerichtete, an Wertschätzung gewinnen. Allerdings sind die Ergebnisse möglicherweise nicht ganz so sicher, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mögen. So beziehen sich alle geschätzten Effekte von Anomia auch in den Paneldaten auf synchrone (gleiche) Messzeitpunkte.17 Daher kann nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden, dass die Kausalordnung nicht umgekehrt ist, also etwa Unzufriedenheit mit dem politischen System oder eine Präferenz für extreme Parteien Anomia auslöst oder verstärkt.18 Auch ist es denkbar, dass es dritte nicht berücksichtigte Größen gibt, die sowohl Anomia als auch unsere abhängigen Variablen beeinflussen, so dass die geschätzten Effekte Scheinkausalitäten sein können. Durch die Kontrolle von Bildung und 17

In keinem unserer Panelmodelle gab es signifikante „cross lagged“-Effekte vom ersten auf den zweiten Erhebungszeitpunkt. 18 Wenig plausibel erscheint es aber, dass geringes politisches Interesses oder instabiles Wahlverhalten Anomia beeinflusst.

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Region und insbesondere durch die Berücksichtigung autoregressiver Effekte unter den abhängigen Variablen im Panelmodell kann diese Möglichkeit glücklicherweise reduziert werden. Da die Panelstichprobe mit gut 500 Fällen aber nur einen kleinen Anteil der Ausgangsstichprobe umfasst, könnte es aber auch sein, dass systematischer Panelausfall gerade die Aussagekraft der Panelanalyse beeinträchtigt. Dagegen spricht, dass sich die Schätzungen auf der Basis der repräsentativen Stichprobe der ersten Welle kurz nach der Bundestagswahl 2005 in den Panelmodellen für die erste Welle kaum von den korrespondierenden Ergebnissen der Panelstichprobe unterscheiden. Es ist zudem anzunehmen, dass an der Wiederholungsbefragung eher Personen teilnehmen, die weniger Anomia aufweisen. Dann würden unsere Ergebnisse aufgrund der Reduktion der Variation bei Anomia eher zu Unterschätzungen als zu Überschätzungen der Effekte führen. Der vielleicht wichtigste Einwand gegen unsere Ergebnisse liegt aber darin, dass viele der aufgefundenen Effekte eher mäßig bis gering sind.19 Der signifikante Effekt von Anomia auf die Wahlstabilität ist praktisch vernachlässigbar. Und auch die Effekte von Anomia auf die Systemzufriedenheit und das politische Interesse sind jedenfalls bei Kontrolle im Panel nicht hoch. Am relativ höchsten ist noch der positive Effekt auf das Parteiskalometer der NPD, was durchaus im Einklang mit anderen Untersuchungen steht, nach denen Anomia eine nicht zu vernachlässigende Determinante bei der Erklärung von Fremdenfeindlichkeit und rechtsextremen Einstellungen ist. Sind also die Aussagen von Arzheimer (2008) und Winkler (1996), dass Entfremdung und damit auch Anomia keine große Bedeutung für das Wahlverhalten hat, mit unseren Ergebnissen vereinbar? Die eher geringen Effekte von Anomia sprechen tatsächlich dafür. Allerdings ist es angesichts der augenblicklichen Wirtschaftskrise und deren Folgen wahrscheinlich, dass sich Gefühle von Anomia in der Gesellschaft weiter ausbreiten. Dass Anomia in einem engen Zusammenhang mit Globalisierungsfurcht steht zeigt die polychorische Korrelation von Anomia mit dem Ausmaß an Zustimmung oder Ablehnung zu der Aussage „Die großen Konzerne haben heutzutage mehr Macht als die Politik in einem einzelnen Land.“ In der Nachwahlbefragung ergibt sich eine positive Korrelation von 0,336. Wenn Globalisierungsfurcht und Furcht vor Veränderungen zunehmen, dann wird vermutlich auch Anomia zunehmen. Dass dies normativ gesehen nicht unproblematische Auswirkungen auf politische Orientierungen und politisches Verhalten haben kann, haben wir in diesem Beitrag gezeigt.

Literatur Arzheimer, Kai (2002): Politikverdrossenheit. Bedeutung, Verwendung und empirische Relevanz eines politikwissenschaftlichen Begriffes. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Arzheimer, Kai (2008): Die Wähler der extremen Rechten, 1980-2002. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Campbell, Angus/Gurin, Gerald/Miller, Warren E. (1954): The Voter Decides. Evanston, Row. Bohle, H.H., Heitmeyer, W., Kühnel, W., Sander, U. (1971): Anomie in der modernen Gesellschaft: Bestandsaufnahme und Kritik eines klassischen Ansatzes soziologischer Analyse. In: W. Heitmeyer (Hg.): Was treibt die Gesellschaft auseinander? Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 29-65. Durkheim, Emile (1977): Über die Teilung der sozialen Arbeit. Frankfurt a. M: Suhrkamp. (französische Erstausgabe 1893). 19

Allerdings ist dies nicht in der Umfrageforschung nicht ungewöhnlich.

Beeinflusst Anomia politische Orientierungen?

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Der Wandel des parteipolitischen Engagements der Bürger Oskar Niedermayer

1.

Einleitung

Das Engagement der Bürger in politischen Parteien ist – neben der Teilnahme an Wahlen – das im Grundgesetz verankerte, traditionelle Kernelement der politischen Mitwirkung in repräsentativen Parteiendemokratien wie der Bundesrepublik. Wie viele und welche Bürger diese Form der politischen Partizipation über die Zeit hinweg nutzen, wie sich also die Mitgliedschaften der politischen Parteien und ihre sozialstrukturelle Zusammensetzung im Zeitablauf verändern, soll im Folgenden untersucht werden. Hierzu wird zunächst ein einheitliches heuristisches Mehrebenenmodell zur Analyse beider Fragestellungen entwickelt, das die Veränderungen der Größe und Struktur des sozialen Gebildes ‚Mitgliedschaft einer Partei’ auf unterschiedliche Verhaltensweisen von Individuen zurückführt. Danach werden die zentralen Variablen des Modells näher beleuchtet. In einem dritten Schritt stehen die Beschreibung der zeitlichen Entwicklung der Mitgliedschaften aller relevanten politischen Parteien der Bundesrepublik und die Systematisierung der zu ihrer Erklärung herangezogenen Faktoren anhand des Modells im Vordergrund und abschließend beschäftigt sich das Kapitel mit der sozialstrukturellen Zusammensetzung der Mitgliedschaften und deren Veränderung.

2.

Ein heuristisches Mehrebenenmodell zur Erklärung der Entwicklung und sozialstrukturellen Zusammensetzung von Parteimitgliedschaften

2.1 Veränderung der Parteimitgliedschaften als Resultante individueller Verhaltensweisen Zunächst soll ein heuristisches Modell entwickelt werden, das dazu dient, die für die Analyse der Entwicklung und Sozialstruktur von Parteimitgliedschaften relevanten Variablen auf der Makro-, Meso- und Mikroebene und ihre Beziehungsstruktur zu verdeutlichen, um mit Hilfe dieses Analyserasters die empirisch vorfindbaren Strukturen und deren Veränderungen untersuchen zu können. Allerdings geht der Anspruch hier nicht soweit, das Modell auf der individuellen Ebene quantitativ-empirisch zu testen, da hierzu die notwendigen Daten fehlen1. Das Modell stellt die Weiterentwicklung eines früheren Modells des Verfassers dar (vgl. Niedermayer 1989: 63ff.) und basiert auf Erkenntnissen aus der allgemeinen und parteienbezogenen Partizipationsforschung2 und der Theorie gesellschaftlicher Kon1

Die Erhebung solcher Daten schon allein auf der Mikroebene mit Hilfe von Umfragen ist auch sehr aufwändig, da zur Miterfassung einer für statistische Analysen ausreichenden Zahl von Neumitgliedern der Parteien eine extrem hohe Gesamtzahl der Befragten angesetzt oder spezielle Neumitgliederbefragungen mit allgemeinen Bevölkerungsumfragen kombiniert werden müssten. 2 Vgl. als neueren Überblick zur allgemeinen Partizipationsforschung z.B. Gabriel/Völkl 2005, zur Übertragung auf die parteispezifische Forschung z.B. Biehl 2005: 57ff., Gabriel/Niedermayer 2002 und Wiesendahl 2006a und

Der Wandel des parteipolitischen Engagements der Bürger

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fliktlinien3, kombiniert mit allgemeinen Überlegungen zum Menschenmodell der Sozialwissenschaften und zur Grundstruktur soziologischer Erklärungen. Ausgegangen wird von Lindenbergs (1985: 100f.) RREEMM-Modell, das im Vergleich zum Menschenmodell des homo oeconomicus und der verschiedenen Varianten des homo sociologicus „noch am ehesten den Erfordernissen soziologischer Erklärungen und den Ergebnissen der biologischen Anthropologie entspricht“ (Esser 1999: 245). Es postuliert fünf grundlegende Eigenschaften eines Akteurs: Er ist ein resourceful, restricted, expecting, evaluating, maximazing man. Das Modell nimmt somit an, dass ein Akteur „sich Handlungsmöglichkeiten, Opportunitäten bzw. Restriktionen ausgesetzt sieht; dass er aus Alternativen seine Selektionen vornehmen kann; dass er dabei findig, kreativ, reflektiert und überlegt, also: resourceful, vorgehen kann; dass er immer eine ‚Wahl’ hat; dass diese Selektionen über Erwartungen (expectations) einerseits und Bewertungen (evaluations) andererseits gesteuert sind; und dass die Selektion des Handelns aus den Alternativen der Regel der Maximierung folgt. Diese Regel ist explizit und präzise – und anthropologisch gut begründet“ (Esser 1999: 238)4. Will man dieses Modell der Erklärung der zeitlichen Entwicklung des sozialen Gebildes ‚Mitgliedschaft einer Partei’ zugrunde legen, so muss die Veränderung der Größe und Sozialstruktur der Parteimitgliedschaft im Zeitablauf (hier: im Laufe eines Jahres) zunächst vollständig als Resultante der Aggregation individueller Verhaltensweisen der beteiligten Akteure rekonstruiert werden. Die einfache Regel zur aggregierenden Transformation des individuellen Handelns der relevanten Akteure zum kollektiven Explanandum lautet: Mitgliederbestand am Ende eines Jahres + Zugänge im Laufe des nächsten Jahres – Abgänge im Laufe des nächsten Jahres = Mitgliederbestand am Ende des nächsten Jahres, wobei die Gesamtzahlen aller Zu- und Abgangsarten durch Aggregation individueller Verhaltensweisen zustande kommen und sich nicht nur die Größe, sondern – durch die unterschiedliche sozialstrukturelle Zusammensetzung der Zu- und Abgänge – auch die Sozialstruktur des Mitgliederbestands ändert. Die Validität der von den Parteien5 berichteten Zu- und Abgangsdaten eines bestimmten Jahres wird in der Realität durch Verzögerungen in der Datenerfassung jedoch beeinträchtigt. Dies führt dazu, dass die Gleichung: (Bestand am Ende des Vorjahres – Bestand am Ende des laufenden Jahres) = (Zugänge des laufenden Jahres – Abgänge des laufenden Jahres) in der Realität nicht stimmt6. Dies sei am Beispiel der Jahre 2005 und 2006 erläutert: Die Zu- und Abgangsdaten werden von den einzelnen Parteigliederungen in das Reportsystem eingegeben. Alles, was bis zum 31.12.2005 eingegeben ist, taucht im vom Bundesvorstand der Partei berichteten Mitgliederstand zum 31.12.2005 auf. Zugänge, die 2005 erfolgt sind, von den Parteigliederungen aber – mit korrektem Zugangsdatum 2005 – erst 2006 in das System eingegeben werden, erhöhen nicht mehr den berichteten Bestand zum zur Übersicht über die für einzelne Parteien relevante Literatur bis zum Ende der Achtzigerjahre die Einleitungen bei Boyer/Kössler 2005, Franz 2005, Gnad 2005 und Gniss 2005. 3 Grundlegend dazu Lipset/Rokkan 1967; zur Übertragung auf die Analyse von Parteimitgliedschaften vgl. Gabriel/Niedermayer 2002. 4 Zu betonen ist, dass die Maximierungsregel, nach der ein Akteur „acts so as to achieve the highest level of ‚good’ as he perceives it“ (Meckling 1976: 545), nicht nur egoistische, sondern „auch altruistische und kooperative Handlungen einschließen kann – und sogar meistens wird“ (Esser 1999: 227). 5 SPD und CDU sind die einzigen Parteien, die die Zu- und Abgänge, nach verschiedenen Arten aufschlüsselt, in ihren Mitgliederstatistiken dokumentieren. 6 Die Abweichungen betragen in der Regel mehrere Tausend Personen.

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31.12.2005, weil dieser nicht nachträglich geändert wird. Da diese Zugänge im System nun aber für 2005 gespeichert sind, tauchen sie 2006 als Zugänge nicht auf, wurden aber auch 2005 nicht als Zugänge ausgewiesen, da sie zu dieser Zeit noch nicht eingegeben waren, sind aber im berichteten Mitgliederstand zum 31.12.2006 enthalten. Genauso verhält es sich mit verzögert eingegebenen Abgängen. Es gibt somit eine gewisse Zahl von Personen, die in den Zu- und Abgangsstatistiken nie auftauchen, wohl aber in den Bestandsstatistiken zum Ende der jeweiligen Jahre, d.h. die Brutto-Fluktuation in den Parteimitgliedschaften wird systematisch unterschätzt. Die ebenso problematische Alternative wäre, durch die sukzessive nachträgliche Berücksichtigung der verzögerten Erfassungen je nach Abfragedatum im Verlauf des Jahres 2006 immer wieder geänderte Endbestandsdaten des Jahres 2005 zu produzieren. Sind diese Verzögerungen in der Datenerfassung bei den Zu- und Abgängen auch noch extrem ungleich verteilt, so ergibt sich zusätzlich ein Problem bei den Bestandsstatistiken. Bei der SPD ist dies besonders gravierend: Die Mitgliederstatistik weist den absoluten Höchststand an Mitgliedern nach dem Zweiten Weltkrieg, der überall als Referenzgröße für die Berechnung der anschließenden Mitgliederverluste verwendet wird, für 1976 mit 1.022.191 Mitgliedern aus. „Mit großer Sicherheit lässt sich aber folgern, dass diese Zahl tatsächlich nie erreicht wurde. Sie ergab sich als statistischer Fehler während der Einführungsphase der ZMK, die in die Jahre eines massiven Neumitgliederzugangs fiel. ... Während Beitritte in der ZMK sofort registriert und zudem bisherige Altkarteien in die ZMK eingearbeitet wurden, unterblieb die zeitgleiche EDV-Verarbeitung von Austritten. Daraus resultierte ein fiktiver Mitgliederzuwachs, dann aber auch ein übertriebenes Bild vom Mitgliederrückgang in den Folgejahren“ (Boyer/Kössler 2005: 97). Bei der CDU ergibt sich ein zusätzliches Problem durch Doppeltzählungen: Mitglieder, die den Kreisverband wechseln (z.B. wegen Wohnortwechsels), werden doppelt erfasst: als Abgänge beim ursprünglichen und als Zugänge beim neuen Kreisverband, so dass die Zu- und Abgangszahlen im Vergleich zur tatsächlichen Mitgliederfluktuation überhöht sind, weil diese Gruppe ja weder aus der Partei aus- noch in sie eintritt. Die Abgangsstatistik weist diese Gruppe gesondert aus, die Zugangsstatistik jedoch nicht, da dies bei der Dateneingabe der Zugänge nicht erhoben wird. Für die Ermittlung der tatsächlichen aggregierten Fluktuationsgrößen spielt dies keine Rolle: Die Gesamtzahl der tatsächlichen (Neu)Eintritte in die Partei ergibt sich durch Subtraktion der in der Abgangsstatistik ausgewiesenen Kategorie ‚überwiesen in einen anderen Kreisverband’ von den Zugängen und die tatsächlichen Abgänge unterschiedlicher Art lassen sich durch die Subtraktion der gleichen Kategorie von der Gesamtzahl der statistisch ausgewiesenen Abgänge berechnen. Probleme ergeben sich jedoch, wenn Aussagen über die sozialstrukturelle Zusammensetzung der Neumitglieder der CDU gemacht werden sollen, da die in der Mitgliederstatistik nach sozialstrukturellen Kriterien ausgewerteten ‚Eintritte’ nicht nur Neumitglieder, sondern auch Altmitglieder in Gestalt von Kreisverbandswechslern enthalten7. Wenn solche Doppeltzählungen nicht erfolgen, bestehen alle Zugänge aus tatsächlichen Eintritten in die Partei. In den Mitgliederstatistiken der SPD tauchen unter der Rubrik ‚Zugänge’ noch weitere Kategorien auf, die jedoch einerseits auf – quantitativ geringfügige – Datenerfassungsfehler zurückzuführen sind und andererseits einige wenige Mitgliederwiederaufnahmen nach irrtümlicher Abmeldung dokumentieren, somit also den Mitgliederbestand insgesamt nicht tangieren. Die Eintritte werden differenziert in Erstaufnahmen, 7

In den letzten fünf Jahren betrug der Anteil dieser Altmitglieder zwischen 11,4 und 16,4 Prozent.

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Wiedereintritte und Gastmitglieder bzw. Nichtmitglieder mit Teilrechten, die Mitglied werden, wobei sich letztere Kategorie auf Personen bezieht, die bei den Jusos Mitglied waren, ohne SPD-Mitglied gewesen zu sein. Die CDU schlüsselt die Eintritte nicht weiter auf. Im Folgenden sollen die Eintritte und die verschiedenen Formen der Abgänge näher beleuchtet werden. Die Gesamtzahl der Eintritte in eine Partei ergibt sich aus der Aggregation der Entscheidungen beitrittsberechtigter Personen, in eine Partei einzutreten und der Beschlüsse der zuständigen Parteigremien, diese Personen aufzunehmen. Zur Frage, wer prinzipiell berechtigt ist, der Partei beizutreten, enthalten die Satzungen der Parteien8 unterschiedliche Bestimmungen (vgl. Tabelle 1). Prinzipiell kann zunächst einmal jeder Mitglied werden, der sich zu den Grundsätzen und Zielen der Partei bekennt. Alle Parteien außer den Grünen haben jedoch ein Mindestalter festgelegt, das ursprünglich bei 18 Jahren lag und bei CDU, CSU und FDP auf 16 Jahre herabgesetzt wurde. Die SPD setzte es 1998 weiter auf 14 Jahre herab und auch die 2007 aus der Vereinigung der PDS mit der WASG hervorgegangene LINKE legte in ihrer Satzung, abweichend von der früheren PDS-Satzung, zum 1.1.2008 das Mindestalter bei 14 Jahren fest. Die Grünen machen in ihrer Bundessatzung über ein erforderliches Mindestalter keine Aussage9, nach Einschätzung des Schatzmeisters gibt es jedoch nicht allzu viele sehr junge Mitglieder. Die Mitgliedschaft in einer anderen Partei ist grundsätzlich mit einer Mitgliedschaft in der jeweiligen Partei nicht vereinbar, wobei alle Parteien außer der CSU und den Grünen dies ausdrücklich auf konkurrierende Parteien beschränken. Damit wird vor allem eine Mitgliedschaft in einer der ausländischen Mitgliedsparteien der jeweiligen europäischen Parteiföderationen möglich. Deutsche Staatsangehörige können prinzipiell unabhängig vom Wohnsitz Parteimitglied werden, also auch, wenn sie im Ausland leben10. CDU, CSU und FDP verlangen jedoch, dass die jeweilige Person nicht durch Richterbeschluss die Wählbarkeit oder das Wahlrecht verloren hat. Auch in der Bundesrepublik lebende ausländische Staatsangehörige können Parteimitglied werden, CDU und CSU verlangen jedoch von Personen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines EU-Mitgliedslandes besitzen, den Nachweis eines deutschen Wohnsitzes seit mindestens drei Jahren, die FDP nimmt ausländische Staatsangehörige generell nur auf, wenn sie mindestens zwei Jahre in Deutschland gewohnt haben11.

8

Vgl. das Statut der CDU (Stand 1.1.2005), das Organisationsstatut der SPD (Stand 16.11.2005), die Satzung der CSU (Stand 13.10.2006), die Bundessatzung der FDP (Stand 15.6.2007), die Satzung der Grünen (Stand 3.12.2006) und die Bundessatzung der LINKEN (Stand 16.6.2007). 9 Der Landesverband Niedersachsen der Grünen hat eine Altersgrenze von 15 Jahren festgelegt. 10 Schließen sich im Ausland lebende Mitglieder zu Organisationseinheiten zusammen, was von den Parteien unterstützt wird, so sind diese jedoch keine Gliederungen der Partei und daher in der Regel organisatorisch an eine Inlandsgliederung angebunden. 11 Ende 2007 hatten bei der CDU 0,4 % der Gesamtmitgliedschaft und bei der SPD 1,2 % der Gesamtmitgliedschaft eine ausländische Staatsangehörigkeit.

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Tabelle 1: Mitgliedschaftsvoraussetzungen Partei CDU

Alter ab 16 J.

Sonst. wichtige Regelungen keine Mitgliedschaft in einer anderen Partei o. sonst. Gruppierung innerhalb des Tätigkeitsgebietes der CDU kein Verlust der Wählbarkeit oder des Wahlrechts durch Richterbeschluss SPD ab 14 J. keine Mitgliedschaft in einer anderen konkurrierenden Partei o. sonst. Grup. CSU ab 16 J. keine Mitgliedschaft in einer anderen Partei kein Verlust der Wählbarkeit oder des Wahlrechts durch Richterbeschluss FDP ab 16 J. keine Mitgliedschaft in einer anderen deutschen o. den FDP-Zielen widersprechenden ausländischen Partei kein Verlust der Wählbarkeit oder des Wahlrechts durch Richterbeschluss Grüne keine Mitgliedschaft in einer anderen Partei (Doppelmitgliedschaft mit dem Neuen Forum mögl.) LINKE ab 14 J. Keine Mitgliedschaft in einer anderen Partei im Sinne des Parteiengesetzes (gilt ab 1.1.2008) Quellen: Satzungen der Parteien (vgl. Anm. 8).

Ausländerregelungen Nicht-EU: mind. 3 Jahre Wohnsitz in D

Nicht-EU: mind. 3 Jahre Wohnsitz in D mind. 2 Jahre Wohnsitz in D

-

-

Die Abgänge innerhalb eines bestimmten Untersuchungszeitraums können differenziert werden in Todesfälle, Austritte, als Austritt gewertete bzw. zum Erlöschen der Mitgliedschaft führende sonstige Abgänge und Ausschlüsse. Auch die Abgänge gehen somit alle auf individuelle Verhaltensweisen zurück und bis auf die Todesfälle sind sie alle das Resultat bewusster Entscheidungen von Akteuren. Der Anteil ihrer Mitgliedschaften, den die Parteien jährlich durch Todesfälle verlieren, ist primär von der Altersstruktur der Mitgliedschaft abhängig. Daten hierzu liegen jedoch nur für die beiden Großparteien vor. Die Mitgliederstatistiken von CDU und SPD zeigen, dass sich bei den beiden Parteien in neuerer Zeit die Mitgliedschaft durch Todesfälle jährlich um 1,3 bis 1,4 Prozent verringert. Bei den expliziten Austritten geben die Parteimitglieder ihre Austrittsentscheidung der Partei bekannt12. Es gibt jedoch noch einige andere, in den Satzungen bzw. Beitragsordnungen der Parteien festgelegte Verhaltensweisen von Mitgliedern, die – entweder automatisch oder nach Ablauf bestimmter Verfahren unter Beteiligung von Parteigremien – von den meisten Parteien als Austrittsentscheidung gewertet werden bzw. zum Erlöschen der Mitgliedschaft führen. Bezahlt ein Mitglied über längere Zeit hinweg keinen Mitgliedsbeitrag und kann auch durch mehrmalige Interventionen der zuständigen Parteigremien nicht dazu bewogen werden bzw. ist unauffindbar weil z.B. verzogen, so wird dies von CDU, SPD, FDP und der LINKEN als Austrittsentscheidung angesehen13, die CSU spricht in diesem 12

Bei der CDU, die dies ausweist, geben in der Regel über die Hälfte der Mitglieder allerdings keine Gründe für ihren Austritt an. 13 Bei der CDU, die das ‚Ausscheiden wegen Beitragsrückstand’ als gesonderte Austrittskategorie ausweist, sind dies jährlich mehrere Tausend Personen, die SPD weist diese Gruppe nicht gesondert aus, d.h. sie ist zum einen in den ‚Austritten’ enthalten und bildet zum anderen, nach Auskunft der Bundesgeschäftsstelle, den allergrößten Teil der Rubrik ‚nicht mehr klärbarer Abgang’.

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Fall vom ‚Erlöschen’ der Mitgliedschaft, lediglich die Grünen sehen für diesen Fall in ihrer Satzung bzw. Beitragsordnung keine explizite Regelung vor. Bei CDU, CSU und FDP, die die Mitgliedschaft von ausländischen Staatsangehörigen an bestimmte Bedingungen knüpfen, erlischt die Mitgliedschaft durch den Wegfall dieser Bedingungen. Die CSU und die FDP legen zudem in ihren Satzungen fest, dass der Eintritt in eine andere Partei automatisch zum Erlöschen der Mitgliedschaft führt, bei den anderen Parteien müssen solche Mitglieder ausgeschlossen werden. Verstößt ein Mitglied durch sein Verhalten vorsätzlich gegen die Satzung der Partei oder erheblich gegen deren Grundsätze oder Ordnung und fügt ihr damit schweren Schaden zu, so kann es aus der Partei ausgeschlossen werden. Bei allen Parteien sind Parteiausschlüsse an formelle Verfahren mit Anhörungen des betroffenen Mitglieds gebunden und werden durch Beschlüsse von Schiedsgerichten oder Schiedskommissionen mit Einspruchsmöglichkeit des Mitglieds über mehrere Instanzen hinweg herbeigeführt. Daher sind sie auch relativ selten14. Abbildung 1 fasst die Rekonstruktion der Veränderung der Größe und sozialstrukturellen Zusammensetzung von Parteimitgliedschaften als aggregierte Resultante individueller Verhaltensweisen der beteiligten Akteure noch einmal zusammen, bevor der nächste Abschnitt sich der Erklärung dieser Verhaltensweisen widmet. Abbildung 1: Die Veränderung der Größe und sozialstrukturellen Zusammensetzung von Parteimitgliedschaften Beitrittsentscheidung v. Beitrittsberechtigten

Aufnahmeentscheidung v. Mitgl. lok. Parteigremien

Tod v. Parteimitgliedern

Größe u. Sozialstruktur zum Zeitpunkt T1

14

Austrittsentscheidung v. Parteimitgliedern

Größe u. Sozialstruktur zum Zeitpunkt T2

Sonstige Entscheidung v. Parteimitgliedern

Wertung als Austritt/Erl. durch Mit. v. Parteigremien

satz.widr./pschäd. Verhalten v. Parteimitgliedern

Ausschlussentscheidung durch Mit. v. Schiedsger.

Die CDU wies für die letzten fünf Jahre unter 20 Ausschlüsse pro Jahr aus, bei der SPD waren es deutlich mehr, was nach Auskunft der Bundesgeschäftsstelle aber darauf zurückzuführen ist, dass die Gliederungen bei Mitgliedern, die aufgrund der Nichtbezahlung ihrer Beiträge eigentlich unter der Abgangsart „Austritt“ verbucht werden sollten, häufig „Ausschluss“ eintragen. Man geht daher davon aus, dass sich die Ausschlüsse auch in etwa in der von der CDU ausgewiesenen Größenordnung bewegen.

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2.2 Ein Mehrebenenmodell zur Erklärung der Akteursentscheidungen Verbindet man das zugrunde gelegte Akteursmodell mit der Grundstruktur soziologischer Erklärungen15, so lassen sich die Entscheidungen der relevanten Akteure, die in ihrer Aggregation zu einer Veränderung der Größe und Zusammensetzung der Parteimitgliedschaften führen, in einem Mikro-Meso-Makro-Modell modellieren. Dies soll zunächst ausführlich für die Beitrittsentscheidung geschehen, die notwendigen Akzentuierungen für die anderen Entscheidungen folgen in einem zweiten Schritt. Das Modell ist durch folgende Grundstruktur gekennzeichnet (vgl. Abbildung 2):

Eine Reihe von Rahmenbedingungen auf der Makroebene beeinflusst auf der Mikroebene die Position des Akteurs in der Sozialstruktur. Diese beeinflusst ihrerseits wieder seine Ausstattung mit partizipationsrelevanten Ressourcen (Kompetenzen, Zeit, finanzielle Mittel) und Prädispositionen (affektivemotionale Bedürfnisse, Wertorientierungen, Normen, politische Einstellungen, in der Vergangenheit gemachte Erfahrungen, Betroffenheit von politischen Vorgängen). Diese beiden Variablengruppen beeinflussen die subjektiven Erwartungen und Bewertungen, die der Akteur mit einem möglichen Parteibeitritt verbindet. Positive Bewertungen der Folgen eines Parteibeitritts, verbunden mit Erwartungen darüber, mit welcher Wahrscheinlichkeit diese Folgen mit dem Beitritt auch eintreten, bilden Beitrittsanreize. Vom Akteur negativ bewertete, mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit erwartete Beitrittsfolgen bilden Beitrittshemmnisse. Die Beitrittsanreize und -hemmnisse werden zusätzlich von der Struktur und den Aktivitäten der in Frage kommenden Partei, also eines kollektiven Akteurs auf der Mesoebene der intermediären Institutionen, beeinflusst. Überwiegen die Beitrittsanreize die Beitrittshemmnisse, so ist der Akteur prinzipiell dazu motiviert, der Partei beizutreten. Die subjektive Konstruktion der Entscheidungssituation durch den Akteur umfasst jedoch nicht nur diese eine mögliche Handlung, sondern auch alle vom Akteur perzipierten Handlungsalternativen, an die auch bestimmte Erwartungen und Bewertungen geknüpft sind, die wiederum von den schon angesprochenen Variablengruppen auf der Mikro-, Meso- und Makroebene beeinflusst werden, u.a. in begrenztem Maße auch von der potenziellen Beitrittspartei. Der tatsächliche Entschluss, einer bestimmten Partei beizutreten, wird daher vom Akteur nur gefasst, wenn die Motivation zum Parteibeitritt größer ist als die mit den verschiedenen Handlungsalternativen verbundenen Motivationen.

Das hier zugrunde gelegte Erklärungsmodell der Beitrittsentscheidung erfordert dabei keine aufwändige numerische Kalkulation der verschiedenen Handlungsanreize und -hemmnisse durch den Akteur, aber zumindest abschätzende Überlegungen und Abwägungen der Handlungsalternativen16. Es geht daher nicht von Akteuren aus, deren Handeln gar keine Wahl

15

Vgl. hierzu generell Esser 1999: 83ff. u. 245ff.. Dass solche Überlegungen von den Bürgern vor einem Parteibeitritt in nicht geringem Maße angestellt werden, belegen die Ergebnisse einer Neumitgliederbefragung der SPD von 2004, wo über vier Fünftel der Befragten angaben, vor ihrem Parteibeitritt länger über diesen Schritt nachgedacht zu haben (Polis 2004).

16

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ist, sondern nur die automatische Ausübung von Normenkonformität oder die bloße Umsetzung von Einstellungen in sichtbares Verhalten. Abbildung 2: Erklärungsfaktoren des Parteibeitritts Beding. auf der Makroebene

Ressourcen Position in der Sozialstr. Prädispositionen

Beitrittshemmnisse

Beitrittsanreize

Beding. auf der Makroebene

Struktur u. Aktiv. d. Partei

Erkl.fakt. a.d. Mikro, Meso- u. Makroebene

Motivation z. Parteibeitritt

Motivation z. alternat. Hdlg.

Struktur u. Aktiv. d. Partei

>

Partei beitritt

Erkl.fakt. a.d. Mikro, Meso- u. Makroebene

2.3 Beitrittsanreize und Beitrittshemmnisse Die zentralen, der Entscheidung zum Parteibeitritt unmittelbar vorgelagerten Variablen des Modells sind die Beitrittsanreize und -hemmnisse. Auf sie soll daher zunächst näher eingegangen werden17. Da es zunächst um die Analyse der verschiedenen Arten von Beitrittsanreizen und nicht um die Bestimmung ihrer jeweiligen Stärke geht, wird in diesem Teil der Analyse angenommen, dass die positiv bewerteten Folgen eines Parteibeitritts mit Sicherheit eintreten, d.h. keine unsichere oder risikobehaftete Erwartungen des Akteurs existieren. Theoretische Ansätze zur Ableitung und Klassifizierung von Beitrittsanreizen lassen sich in den Arbeiten sozialwissenschaftlicher ‚Klassiker’, im eher psychologisch orientierten Bereich der Politikwissenschaft, im Rahmen der Parteiorganisationsforschung und in Teilbereichen der Organisationstheorie finden. Duverger (1959: 143f.) greift in seiner systematischen Analyse des Charakters von Parteibindungen in modifizierter Form Tönnies zentrale Kategorien der „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“18 auf, ergänzt sie – in Anlehnung an Schmalenbach (1922) – durch die Kategorie des ‚Bundes’ und entwickelt daraus eine Typologie traditionaler, interessengeleiteter und affektiv-emotionaler Beitrittsanreize: „Für Mitglieder, die durch Tradition, den 17

Die Überlegungen zu den Beitrittsanreizen stellen eine leicht modifizierte Version der früheren Klassifikation des Autors dar (vgl. Niedermayer 1989: 110ff, 2002: 301ff.), die in identischer oder leicht abgewandelter Form von anderen Analysen übernommen wurde (vgl. z.B. Boll 2001 und Müller/Traub 2004). 18 Für eine detaillierte Analyse und Kritik dieser beiden Grundbegriffe vgl. König 1955.

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Zwang der Klasse, die Gewohnheiten der Familie, des Ortes oder des Berufs bestimmt werden, ist die Partei eine Gemeinschaft. Für andere, die durch mögliche materielle Vorteile, den Geschmack an politischer Aktivität, durch einen moralischen oder idealistischen Impuls bewegt werden, ist die Partei eine Gesellschaft. Für andere wiederum, die die Begeisterung treibt, die Leidenschaft, der Wille zur Gemeinde, ist die Partei ein Bund.“ Eine mit Duvergers Überlegungen partiell vergleichbare Anreiztypologie lässt sich aus Webers (1956: 167) Parteienkonzept gewinnen, nach dem Parteien als „charismatische Gefolgschaften, traditionale Dienerschaften, rationale (zweck- oder wertrationale, ‚weltanschauungsmäßige’) Anhängerschaften entstehen“ können. Hier zeigen sich deutlich die Parallelen zu Webers allgemeiner Typologie der möglichen Orientierungen des sozialen Handelns, so dass sich hieraus eine Differenzierung in affektuelle, traditionale, zweckrationale und wertrationale Anreize ableiten lässt. Unter Verwendung der Weberschen Typologie des sozialen Handelns und Tönnies Kategorien der Gesellschaft und Gemeinschaft konstruiert schließlich Heberle (1951: 128ff.) drei Prototypen sozial-psychologischer Verbundenheit von Parteimitgliedern: die geistige Gemeinschaft, die Gefolgschaft eines charismatischen Führers und die utilitaristische Verbundenheit. Einen zweiten frühen Diskussionsstrang bilden die Arbeiten eher psychologisch orientierter Politikwissenschaftler wie z.B. Lane (1959: 102), der mit seiner „grammar of political motives“ eine umfassende Typologie von bewussten und unbewussten psychischen Bedürfnissen vorgelegt hat, zu deren Befriedigung politische Aktivitäten wie ein Parteibeitritt dienen können. Er unterscheidet sechs Bedürfnisarten: Streben nach materiellen Vorteilen, nach sozialer Angleichung/Bindung, nach sozialer Einsicht, nach dem Lösen interner psychischer Spannungen, nach Macht über andere und nach Verstärkung der Selbstachtung. Stehen bei psychologisch orientierten Autoren wie Lane individuelle Bedürfnisse im Vordergrund, so werden im Rahmen der amerikanischen Diskussion um unterschiedliche Parteiorganisationsmodelle (vgl. z.B. Eldersveld 1982: 165ff.) zwei Prototypen von Parteiaktivisten – die ‚professionals’ und die ‚amateurs’ – identifiziert (Wilson 1962), die sich – neben sozialstrukturellen Unterschieden – vor allem durch unterschiedliche Anreizkonstellationen des Beitritts und der Mitarbeit in Parteien unterscheiden. Der Typ des professional ist vor allem durch materielle und/oder auf Gruppenbindungen bzw. die eigene Verortung in der Gruppe bezogene Anreize, der Typ des amateur durch politisch-zielgerichtete bzw. auf allgemeine demokratische Beteiligungsnormen bezogene Anreize gekennzeichnet. Der in der Parteiorganisationsdebatte vorherrschenden amateur/professional-Dichotomie stellen Knoke und Wright-Isak (1982: 210) aus allgemein-organisationstheoretischer Sicht ein Motivationsmodell entgegen, das drei Komponenten aufweist: „rational choice, normative conformity and affective bonding processes“. Individuelle Entscheidungen, freiwilligen Organisationen wie z.B. Parteien Ressourcen zur Verfügung zu stellen, werden in diesem Modell als Ergebnis des gemeinsamen Wirkens der rationalen, normativen und affektiven Komponente sozialer Motivation angesehen. Die neueste angelsächsische Klassifikation von Beitrittsanreizen schließlich, das General-Incentives-Modell von Seyd und Whiteley19, unterscheidet selektive, kollektive politische, normative, altruistische, ideologische und expressive Anreize. Von den vorgestellten Ansätzen ausgehend, lässt sich eine systematische Klassifikation möglicher Beitrittsanreize entwickeln. Einen ersten Schritt im Rahmen dieser Klassifi19

Vgl. hierzu Seyd/Whiteley 1992, Whiteley et al. 1993, Whiteley/Seyd 1996, 2002. Für die deutsche Rezeption vgl. z.B. Biehl 2005, Bürklin/Neu/Veen 1997 und Klein 2006.

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zierung stellt die Unterscheidung in expressive und instrumentelle Anreize dar. Als expressiv sollen diejenigen Beitrittsanreize bezeichnet werden, bei denen die Parteizugehörigkeit an sich für das Individuum einen intrinsischen Belohnungscharakter, also einen positiven Eigenwert besitzt, die Klasse der instrumentellen Anreize fasst Anreizarten zusammen, die durch einen Mittelcharakter der Parteizugehörigkeit gekennzeichnet sind, bei denen der Parteibeitritt also das Mittel zur Erreichung positiv bewerteter Zwecke darstellt. Expressive Anreize deuten auf ein Parteiverständnis im Sinne der Tönniesschen ‚Gemeinschaft’ hin. Sie lassen sich nach der Quelle des Eigenwertes der Parteizugehörigkeit weiter differenzieren. Erhält die Parteizugehörigkeit für das Individuum ihren Eigenwert aufgrund der Befriedigung affektiv-emotionaler Bedürfnisse unterschiedlichster Art, so wollen wir von affektiven Anreizen sprechen. Diese Anreizart, die sich in Webers Terminologie der affektuellen Orientierung sozialen Handelns zurechnen lässt, basiert auf Gefühlszuständen des Individuums, die der Parteizugehörigkeit aus sich selbst heraus einen Belohnungscharakter verleihen. Solche Bindungsprozesse können sich auf Beziehungen des Individuums zu einem anderen Individuum bzw. einer Gruppe von Individuen im Rahmen der Partei, auf symbolische Repräsentationen des Kollektivs oder auf Aspekte des allgemeinen politischen Prozesses beziehen. Das wichtigste Beispiel für auf affektive Beziehungen zu einem anderen Individuum basierende Beitrittsanreize stellt die Bewunderung, Hingabe und Ergebenheit in Bezug auf eine überragende Führungspersönlichkeit dar. Im Extremfall, dem Typus der Gefolgschaft eines charismatischen Führers nach Heberle, sind alle ‚Gefolgsleute’ in dieser Weise an einen Führer gebunden, während eine affektive Bindung untereinander weitgehend fehlt. Affektive Anreize im Bereich der Beziehungen des Individuums zu einer innerparteilichen Gruppe stellen insbesondere gesellige, freundschaftliche und andere als positiv angesehene sozialintegrative Bindungen im Rahmen der lokalen Parteiorganisation oder anderer innerparteilicher Gruppierungen dar. Die Parteiorganisation wird so zum gesellschaftlichen und geselligen Lebensraum. In diese Kategorie gehört jedoch auch die Befriedigung von Status- und Prestigebedürfnissen. Zudem können symbolische Repräsentationen der Partei, also z.B. die Parteifahne, affektive Wirkungen entfalten. Relativ unabhängig von parteiinternen Beziehungsstrukturen, kann schließlich die parteigebundene Teilhabe am politischen Prozess die Möglichkeit des Auslebens positiver Gefühle wie Freude und Vergnügen am politischen Geschehen bieten. Die zweite Quelle des Eigenwertes der Parteizugehörigkeit bilden Normen. Normative Beitrittsanreize liegen somit vor, wenn vom Individuum internalisierte Verhaltenserwartungen der Umwelt den Beitritt zu einer Partei nahelegen. Der Parteibeitritt besitzt daher für das Individuum als Dokumentation normkonformen Verhaltens sich selbst und anderen gegenüber einen Eigenwert. Hierzu gehören (1) die auf der intergenerationalen Weitergabe von Normen basierende Tradierung von Parteibindungen im Rahmen der Familie, (2) die auf die Angehörigen sozial-moralischer Milieus (Lepsius 1966) im Rahmen der eindimensionalen Milieusozialisation einwirkenden parteispezifischen Beitrittsnormen, die über Sozialisationsprozesse zum einen im Gruppenmilieu selbst und zum anderen in den das Milieu organisatorisch abstützenden Vorfeldorganisationen herausgebildet werden, und (3) die Beitrittsanreize aufgrund allgemeiner demokratischer Beteiligungsnormen (‚Bürgerpflicht’). Im Gegensatz zu den verschiedenen Arten expressiver Anreize sind die instrumentellen Anreize dadurch gekennzeichnet, dass die Parteizugehörigkeit Mittelcharakter besitzt, d.h. vom Individuum als Instrument zur Erreichung individueller Zwecke unterschiedlichs-

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ter Art angesehen wird. Beitrittsanreize dieser Art deuten auf ein ‚gesellschaftliches’ Verständnis von Partei hin und lassen sich der Weberschen zweckrationalen Handlungsorientierung zuordnen. Nach der Art der mit Priorität versehenen Zwecke, lässt sich diese Klasse von Anreizen einteilen in wertbezogene, im engeren Sinne politische und in materielle Anreize. Wertbezogene Anreize sind gegeben, wenn die Parteimitgliedschaft als Mittel zur besseren Unterstützung bzw. Verwirklichung von Wertorientierungen, also den vom Individuum gewünschten Gestaltungsprinzipien der Gesellschaft und des politischen Systems, angesehen wird. Die politische Kategorie umfasst Begründungszusammenhänge von Parteibeitritten, die auf die Ziel- und Prozessaspekte des politischen Systems bezogen sind. Zielbezogene politische Anreize liegen dann vor, wenn die Parteizugehörigkeit als Instrument zur Unterstützung bzw. Durchsetzung von vom Individuum als wichtig erachteten politischen Anliegen, Interessen und Zielsetzungen – bzw. zur Unterstützung von diese Ziele vertretenden Führungspersönlichkeiten – angesehen wird. Prozessbezogene politische Anreize liegen vor, wenn die Parteibindung für das Individuum Mittelcharakter in Bezug auf das Bedürfnis nach kognitiver Verarbeitung und Durchdringung des politischen Prozesses besitzt. Hierzu gehören insbesondere das Streben nach Wissen, Information, Einsicht, Verstehen und Teilhabe am politischen Diskurs. Materielle Anreize sind dann gegeben, wenn die Parteizugehörigkeit vom Individuum als Instrument zur Erlangung von auf die eigene Person bezogenen materiellen Vorteilen angesehen wird. Diese Klasse von Anreizen kann wiederum in gratifikations- und positionsbezogene Anreize differenziert werden. Gratifikationsbezogene Anreize liegen vor, wenn die mit der Parteimitgliedschaft als Mittel verfolgten Zwecke auf die Erlangung von monetären Gratifikationen bzw. sonstigen in monetären Größen ausdrückbaren Gütern und Dienstleistungen gerichtet sind. Bei positionsbezogenen Anreizen stehen dagegen die über berufliche Positionsverbesserungen erreichbaren materiellen Vorteile im Vordergrund. Zu nennen sind hierbei insbesondere berufliche Kontakte und die verschiedenen parteipolitischen Patronageformen in Bezug auf Stellenvermittlung und Karriereförderung im ökonomischen wie politischen Bereich. Wenn im Rahmen der bisherigen Argumentation nicht explizit auf das gerade für die deutsche Parteienforschung so zentrale Machtstreben eingegangen wurde, so bedeutet dies keine Negierung dieses Anreizes zum Parteibeitritt. Allerdings ist anzumerken, dass das Machtmotiv in einigen Anreizklassifikationen tatsächlich nicht explizit berücksichtigt wird und machtorientierte Argumentationslinien sich, aus offensichtlichen Gründen, stärker auf die Ebene von Parteieliten als auf die Parteimitglieder an der Basis beziehen. In unserer Anreizklassifikation taucht das Streben nach politischer Macht jedoch deshalb nicht als eigene Klasse auf, weil es in seinen unterschiedlichen Ausformungen (Selbstzweck bzw. Instrumentalcharakter) durch die schon beschriebenen Anreizarten abgedeckt wird. Wird Macht von einem Individuum ausschließlich um ihrer selbst willen angestrebt, besitzt also die Machtausübung über andere einen intrinsischen Belohnungscharakter durch Sublimation des Machttriebs, so lässt sich das Machtstreben den affektiven Anreizen zuordnen. Wird Macht angestrebt, um spezifische politische Zielsetzungen durchsetzen zu können, so lässt sich dies unter die zielbezogenen politischen Anreize subsumieren. Stehen die über Machtpositionen erreichbaren materiellen Vorteile im Vordergrund, so sind damit materiell-

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positionsbezogene Anreize angesprochen. Abbildung 3 fasst die unterschiedenen Arten von Beitrittsanreizen noch einmal zusammen: Abbildung 3: Arten von Beitrittsanreizen affektive Anreize expressive Anreize

instrumentelle Anreize

normative Anreize wertbezogene Anreize

zielbezogene Anreize

politische Anreize

prozessbezogene Anreize

materielle Anreize

gratifik.bez. Anreize positionsbez. Anreize

Die Stärke dieser verschiedenen Beitrittsanreize ergibt sich aus der vom Akteur erwarteten Wahrscheinlichkeit, mit der die positiv bewerteten Folgen des Parteibeitritts eintreten. Dies impliziert insbesondere, dass ein und dieselbe Anreizart je nach betrachteter Partei zu unterschiedlich starken Beitrittsanreizen führen kann. Gelten z.B. für einen Akteur nur materielle Anreize, so könnte er die Wahrscheinlichkeit der Erlangung von materiellen Vorteilen durch Ämter oder Patronage bei Regierungsparteien höher einschätzen als bei Oppositionsparteien und daher einen größeren Anreiz haben, einer Regierungspartei beizutreten. Den Beitrittsanreizen stehen jedoch auch Beitrittshemmnisse, also vom Akteur negativ bewertete erwartete Folgen der Beitrittsentscheidung, gegenüber. Sie können in zwei Kategorien aufgeteilt werden, nämlich Beitritts-/Verbleibekosten sowie Partizipationskosten. Beitritts-/Verbleibekosten bilden die Erwartungen über den Aufwand, der für den Parteibeitritt und den Verbleib in der Partei – unabhängig vom innerparteilichen Aktivitätsniveau – getrieben werden muss. Die Beitrittskosten sind relativ hoch, wenn vom potenziellen Mitglied ein hohes Maß an Eigeninitiative verlangt bzw. ihn Hindernisse in den Weg gelegt werden, und relativ niedrig, wenn eine Ansprache durch andere erfolgt und ihm eigene Anstrengungen abgenommen werden. Die laufenden Kosten des Verbleibs richten sich nach der Höhe des Mitgliedsbeitrags, den jedes Parteimitglied zu entrichten hat. Die Finanz- und Beitragsordnungen der Parteien geben dazu Richtwerte je nach Einkommenshöhe vor (vgl. Tabelle 2). Der tatsächlich gezahlte Betrag wird jedoch der Selbsteinschätzung des Mitglieds überlassen und den Parteien stehen über Appelle hinaus keine Möglichkeiten offen, die Mitglieder zur ‚Beitragsehrlichkeit’ in Bezug auf ihre Einkommenshöhe zu bewegen.

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Tabelle 2: Beitragsregelungen (Richtwerte zur Selbsteinschätzung in Euro) CDU

SPD

CSU FDP

Grüne LINKE

Mögl. v. Sonderregelungen für Mitgl. ohne oder mit geringem Einkommen; Monatl. Beitrag bei monatl. Bruttoeinkommen bis 1000: 5; bis 1500: 5-10, bis 2000: 10-15; bis 2500: 15-20; bis 3500: 20-35; bis 5000: 35-50; über 5000: 50 und mehr Mitgl. ohne oder mit geringem Einkommen: monatl. Beitrag 2,50 Monatl. Beitrag bei monatl. Nettoeinkommen bis 1000: 5-8, bis 1500: 8-25, bis 2000: 25-55, bis 3000: 55-135, bis 4100: 135-245, über 4100: 245 und mehr Jährl. Beitrag bei jährl. Nettoeinkommen bis 20000: 50; je weitere 5000: 50 Mögl. v. Sonderregelungen für Mitgl. ohne oder mit geringem Einkommen; Monatl. Mindestbeitrag bei monatl. Bruttoeinkommen bis 2600: 8, bis 3600: 12, bis 4600: 18, über 4600: 24 Mögl. v. Sonderregelungen bei sozialen Härtefällen; Monatl. Beitrag von mindestens 1% des Nettoeinkommens Monatl. Mindestbeitrag bei monatl. Nettoeinkommen unter 400: 1,50; bis 500: 3, bis 600: 5, bis 700: 7, bis 800: 9, bis 900: 12, bis 1000: 15, bis 1100: 20, bis 1300: 25, bis 1500: 35, bis 1700: 45, bis 1900: 55, bis 2100: 65, bis 2300: 75, bis 2500: 85, über 2500: 4% des Nettoeinkommens; zusätzl. für alle über 400: mind. 6 Euro/Jahr für Europäische Linke

Quellen: Finanz- und Beitragsordnung der CDU (Stand 1.1.2005), Finanzordnung der SPD (Stand 16.11.2005), Beitragsordnung der CSU (Stand 20.11.2004), Finanz- und Beitragsordnung der FDP (Stand 5.5.2005), Beitragsund Kassenordnung der Grünen (Stand 3.12.2006) und Bundesfinanzordnung der LINKEN (Stand 24./25.3.2007).

Ist die Anreizstruktur des Individuums so geartet, dass die erwarteten positiven Folgen des Parteibeitritts nur eintreten, wenn der Akteur in mehr oder minder starkem Maße am innerparteilichen Geschehen aktiv teilnimmt, so kommen Partizipationskosten in Form erwarteter negativer Aspekte der Teilnahme hinzu. Diese können in Form der Probleme einer langfristigen Organisationsbindung, der Raum-Zeitgebundenheit innerparteilicher Partizipation, der zeitintensiven, thematisch breiten und oft inhaltlich wenig interessanten Partizipationserfordernisse und einer abschreckenden innerparteilichen Organisationskultur bestehen. Gemäß den Grundannahmen unseres Modells ist der Akteur grundsätzlich dazu motiviert, der Partei beizutreten, wenn die Beitrittsanreize die Beitrittshemmnisse übersteigen. Wir wollen uns nun den Faktoren zuwenden, die diese Beitrittsmotivation durch ihre Wirkung auf die Beitrittsanreize und/oder Beitrittshemmnisse beeinflussen.

2.4 Einflussfaktoren auf die Beitrittsanreize und -hemmnisse Die Parteibeitrittsmotivation wird zum einen von der Struktur und den Aktivitäten der in Frage kommenden Partei und zum anderen von den Eigenschaften des Akteurs beeinflusst. Strukturfaktoren wie die Größe der Partei, die Zusammensetzung ihrer Mitgliedschaft oder ihre Rolle als Regierungs- bzw. Oppositionspartei sowie die inhaltlichen und organisationspolitischen Aktivitäten der Partei beeinflussen die Erwartungen und Bewertungen des Akteurs. Daher können die Parteien auch gezielt versuchen, durch das Setzen von Beitrittsstimuli, d.h. von Aktivitäten, die Beitrittsanreize schaffen bzw. erhöhen und/oder Beitrittshemmnisse verringern bzw. abschaffen, und/oder – in begrenztem Maße – die mit den Handlungsalternativen verknüpften Erwartungen und Bewertungen verschlechtern, die Beitrittsmotivation von Akteuren zu ihren Gunsten zu verändern. Dies tun sie in der Reali-

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tät vor allem durch eine Reihe organisationspolitischer Maßnahmen wie z.B. die Schaffung bzw. Ausweitung von Kontaktgelegenheiten zu potenziellen Mitgliedern (Schaffung lokaler Organisationseinheiten, Erhöhung der Präsenz im vorpolitischen Raum, Ermöglichung des Beitritts über das Internet, Schaffung eines innerparteilichen Belohnungssystems für Mitgliederwerbung, Verstetigung und Personalisierung der Mitgliederwerbung), die Aussetzung der Mitgliedsbeiträge, Ortsvereinspatenschaften, die Schaffung einer beitritts- und mitwirkungsoffenen Organisationskultur, die Einführung einer temporären Mitgliedschaft, die Ermöglichung der Parteiarbeit über das Internet und die Zulassung projektbezogener Mitarbeit. Andererseits können sie durch ihr Handeln auch das Gegenteil bewirken, nämlich Beitrittsanreize vermindern bzw. abschaffen und Beitrittshemmnisse schaffen bzw. erhöhen. Kommen z.B. die Akteure zu der Auffassung, dass eine Partei ihre traditionellen Grundwerte verraten hat, vermindert sich drastisch die wertbezogenen Anreize zum Parteibeitritt. Die für die Konstruktion der Entscheidungssituation über Beitrittsanreize und -hemmnisse relevanten Eigenschaften des Akteurs lassen sich in zwei große Gruppen gliedern: Prädispositionen und Ressourcen20. Zu den Prädispositionen, die die Erwartungen und Bewertungen des Akteurs in Bezug auf einen Parteibeitritt beeinflussen, gehören affektivemotionale Bedürfnisse, im Sozialisationsprozess erworbene Wertorientierungen und Normen, politische Einstellungen, in der Vergangenheit gemachte Erfahrungen und das Ausmaß an Betroffenheit von politischen Vorgängen. Affektiv-emotionale Bedürfnisse, Wertorientierungen und Normen bilden, wie bei der Klassifikation der Anreizarten schon näher ausgeführt wurde, die Quellen des Eigenwerts einer Parteizugehörigkeit und beeinflussen daher positiv die expressiven Anreize. Die instrumentellen Anreize werden vor allem durch das allgemeine politische Interesse, die spezifischen inhaltlich-politischen und materiellen Interessen sowie die Betroffenheit des Akteurs von politischen Vorgängen positiv beeinflusst. Alle Anreizarten wiederum können prinzipiell von den Erfahrungen tangiert werden, die der Akteur in der Vergangenheit mit unterschiedlichen politischen und sozialen Partizipationsformen gemacht hat. Neben den Anreizen können auch die Beitrittshemmnisse durch die Prädispositionen beeinflusst werden. So reduzieren z.B. die früheren Erfahrungen mit organisationsbezogenen Partizipationsformen den erwarteten Aufwand für den Parteibeitritt, und wenn diese Erfahrungen sehr positiv waren, tragen sie möglicherweise dazu bei, auch in den Parteien keine allzu partizipationshemmende Organisationskultur zu erwarten, negative Erfahrungen wirken dagegen eher abschreckend. Neben den sich auf das ‚Wollen’ beziehenden Prädispositionen prägen auch Faktoren die subjektive Situationskonstruktion des Akteurs, die sich auf sein ‚Können’ in Form partizipationsnotwendiger bzw. -hilfreicher Ressourcen beziehen. Zur partizipationsrelevanten Ressourcenausstattung des Akteurs gehören (1) Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten im kognitiven und kommunikativen Bereich, die für die politische Partizipation notwendig bzw. hilfreich sind, wie z.B. die Fähigkeit zur Aufnahme und Verarbeitung komplexer Informationen und zur effektiven Artikulation der eigenen Interessen gegenüber Dritten21, (2) ein Budget an disponibler Zeit und (3) die Möglichkeit, den finanziellen Erfordernissen 20

Zum Forschungsstand über die einzelnen Faktoren, der hier auf das Erklärungsmodell bezogen zusammengefasst und durch eigene Überlegungen ergänzt wird, vgl. die in den Anmerkungen 2 und 3 genannten Überblicksdarstellungen und die dort diskutierte weiterführende Literatur. 21 Eine Möglichkeit zur Operationalisierung dieser Ressource über die Selbsteinschätzung des Individuums bildet das Konzept der internal political efficacy (politisches Kompetenzgefühl), vgl. hierzu Niedermayer 2005: 29ff.

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bestimmter Aktivitäten entsprechen zu können. Verfügt ein Individuum über ein hohes Ausmaß an partizipationsrelevanten Ressourcen, so vermindert dies die von ihm perzipierten Beitrittshemmnisse und erhöht insbesondere die politisch-instrumentellen Anreize, und zwar vor allem über deren Erwartungskomponente, da das Individuum die Wahrscheinlichkeit, die mit der Parteimitgliedschaft verbundenen Zielsetzungen zu erreichen, höher einschätzt. Zudem beeinflusst die Ressourcenausstattung neben ihrem direkten Effekt auf die Beitrittsanreize und -hemmnisse auch wiederum in vielfältiger Weise die Prädispositionen des Akteurs, etwa durch die positiven Auswirkungen von kognitiven Kompetenzen auf das politische Interesse. Insgesamt ist daher davon auszugehen, dass Individuen mit einer hohen Ressourcenausstattung unter sonst gleichen Bedingungen eher in eine Partei eintreten als Personen mit geringen Ressourcen. Um mit dem Analysemodell die Veränderungen in der Größe und Sozialstruktur von Parteimitgliedschaften erklären zu können, muss der bisherige Argumentationsgang noch in zwei Richtungen erweitert werden. Zum einen in Richtung der möglichen sozialstrukturellen Einflussfaktoren auf die Ressourcen und Prädispositionen des Akteurs und zum anderen in Richtung möglicher Handlungsalternativen zum Parteibeitritt. Sowohl die Ressourcen eines Akteurs als auch seine Prädispositionen werden von Merkmalen seiner Position in der Sozialstruktur beeinflusst. Bei der Ressourcenausstattung sind dies nach der Ressourcentheorie politischer Beteiligung im Wesentlichen seine Bildung, die Art seiner Berufstätigkeit und sein Einkommen. Eine hohe formale Bildung, eine Stellung im Erwerbsleben mit viel frei verfügbarer Zeit, ein Beruf, der kognitive und kommunikative Fähigkeiten erfordert bzw. vermittelt, und ein höheres Einkommen wirken sich positiv auf die für eine parteibezogene Partizipation relevante Ressourcenausstattung aus. Die Überlegungen zum Einfluss der Ressourcenausstattung und ihrer sozialstrukturellen Bedingungsfaktoren auf die Beitrittsentscheidungen der Akteure auf der Mikroebene können daher in vier Mesoebenen-Hypothesen zur Sozialstruktur der Parteimitgliedschaften transformiert werden:

In den Parteimitgliedschaften sind Personen mit hoher Bildung überrepräsentiert. In den Parteimitgliedschaften sind bestimmte Berufsgruppen unterrepräsentiert – vor allem Arbeiter – und andere überrepräsentiert – vor allem der Öffentliche Dienst22. In den Parteimitgliedschaften sind Personen mit höherem Einkommen überrepräsentiert. In den Parteimitgliedschaften sind Nichterwerbstätige überrepräsentiert.

Zur letzten These ist allerdings anzumerken, dass bei der Beurteilung der Überrepräsentation der Rentner als der größten Gruppe der Nichterwerbstätigen noch eine Reihe weiterer Faktoren berücksichtigt werden muss, vor allem die Tatsache, dass in jüngeren Jahren mit anderer Ressourcenausstattung beigetretene Mitglieder später zu Rentnern werden. Die Ressourcenausstattung eines Akteurs beeinflusst seine Entscheidung darüber, ob er einer Partei beitritt oder nicht und wie aktiv er sich in ihr betätigt, Diese Art von Einfluss besitzen auch bestimmte Prädispositionen, vor allem die demokratische Beteiligungsnorm und das politische Interesse. Beide Faktoren werden u. a. von im Sozialisationsprozess 22

„Eine Ursache hierfür ist, dass die im Öffentlichen Dienst Beschäftigten häufig in einem politiknahen Bereich tätig und mit öffentlichen Angelegenheiten betraut sind. Darüber hinaus können sie in der Regel ihre frei verfügbare Zeit gut kalkulieren“ (Biehl 2005: 102).

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erworbenen geschlechtsspezifischen Rollenorientierungen geprägt, nach denen Politik eher ‚Männersache’ ist. Zudem besteht immer noch eine geschlechtsspezifische Seggregation des Arbeitsmarktes mit systematischen Einkommensunterschieden und berufstätige Frauen verfügen durch die Doppelbelastung mit Haushalt und Kindererziehung über ein geringeres disponibles Zeitbudget, sodass Frauen auch von der Ressourcenausstattung her benachteiligt sind. Es lässt sich daher die Hypothese bilden:

In den Parteimitgliedschaften sind Frauen unterrepräsentiert.

Damit ist jedoch noch nicht die Frage beantwortet, zu Gunsten welcher Partei die Entscheidung ausfällt. Dies wird durch die übrigen Prädispositionen determiniert, die vor allem zu parteispezifisch unterschiedlichen Beitrittsanreizen führen. Die durch die von bestimmten sozialstrukturellen Merkmalen beeinflussten parteispezifischen Werte, Normen und materiellen Interessen geprägten Beitrittsanreize spielen eine große Rolle, wenn die Parteibeitrittsentscheidung mit Hilfe der Konfliktlinientheorie erklärt wird. Unter einer gesellschaftlichen Konfliktlinie (cleavage) soll hier eine tief greifende, über eine längere Zeit stabile, konflikthafte und im Rahmen des intermediären Systems institutionalisierte Spaltungslinie zwischen Bevölkerungsgruppen verstanden werden, die über ihre sozialstrukturelle Positionierung und die hieraus abgeleiteten materiellen Interessen und Wertvorstellungen bzw. primär über ihre unterschiedlichen Wertvorstellungen definiert sind23. Die traditionellen, eindeutig in der Sozialstruktur verankerten Konfliktlinien in Westeuropa bildeten sich im 19. Jahrhundert vor dem Hintergrund der durch die Industrielle Revolution und die Nationalstaatsbildung bewirkten Umbrüche und Verwerfungen heraus. Lipset und Rokkan (1967: 14ff.) unterscheiden vier zentrale cleavages: (1) der Klassenkonflikt zwischen Kapitaleignern und abhängig Beschäftigten, (2) der StadtLand-Konflikt zwischen dem städtischen Bürgertum in Industrie, Handel und Gewerbe und den durch den Landadel vertretenen Agrarinteressen, (3) der Kirche-Staat-Konflikt zwischen dem Machtanspruch des neuen Nationalstaats und den historisch gewachsenen Vorrechten der – katholischen – Kirche und (4) der Zentrum-Peripherie-Konflikt zwischen den zentralstaatlichen Eliten und den Vertretern ethnischer, sprachlicher oder religiöser Minderheiten. Für Deutschland waren hierbei vor allem zwei Konfliktlinien relevant: der Klassenkonflikt, in dem die SPD als politische Repräsentantin der Industriearbeiterschaft den bürgerlichen Parteien gegenüberstand, und eine spezifische Form des Kirche-Staat-Konflikts, nämlich die bereits seit der Reformation existierende und mit der Etablierung der politischen und kulturellen Hegemonie des Protestantismus durch die von Preußen dominierte Reichseinigung politisch aktualisierte konfessionelle Konfliktlinie zwischen Katholiken und Protestanten mit der Zentrumspartei als politische Vertretung der Katholiken. Beide Konfliktlinien wurden in der Folgezeit noch verstärkt durch die Herausbildung sozialmoralischer Milieus, also lebensweltlicher Gesinnungsgemeinschaften mit vielfältiger organisatorischer Abstützung (vgl. hierzu Lepsius 1966). Zu diesen traditionellen, für die (vor-)industriellen Gesellschaften typischen Konfliktlinien ist heutzutage eine neue, primär auf Wertekonflikten basierende, die post-industriellen Gesellschaften charakterisierende Spaltungslinie hinzugekommen: Der Konflikt zwischen libertären und autoritären Wertorientierungen. Dieser Konflikt ist zwar durch eine weitaus schwächere sozialstrukturelle 23

Vgl. den Beitrag des Verfassers über die gesellschaftlichen und parteipolitischen Konfliktlinien in diesem Band.

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Verankerung gekennzeichnet, libertäre Wertorientierungen werden jedoch eher durch Personen vertreten, die eine hohe Ressourcenausstattung aufweisen. Parteien repräsentieren aus der Sicht der Konfliktlinientheorie Koalitionen zwischen den die Konflikte repräsentierenden jeweiligen Bevölkerungsgruppen und politischen Teileliten, die deren Belange in der politischen Arena vertreten. Damit bestehen bei den Gruppenmitgliedern Interessen, Wertorientierungen und Normen, die die Beitrittsanreize beeinflussen. Wenn und insoweit die traditionellen deutschen Konfliktlinien heute noch Relevanz besitzen, können daher die folgenden Hypothesen zur sozialstrukturellen Zusammensetzung der Mitgliedschaften der einzelnen deutschen Parteien formuliert werden:

In der SPD-Mitgliedschaft sind die Arbeiter überproportional vertreten. In der Mitgliedschaft von CDU, CSU und FDP sind die Selbständigen überproportional vertreten. Wenn die CDU und die CSU, die nach dem Zweiten Weltkrieg als konfessionsübergreifende Parteien mit dem Anspruch gegründet wurden, die christlich orientierten Wähler beider Konfessionen anzusprechen, dennoch bis heute ihren bis in die Gründungsphase des Kaiserreichs zurückreichenden historischen Wurzeln (in Form der damaligen Zentrumspartei) verhaftet bleiben, dann sind die Katholiken in diesen beiden Parteien überproportional vertreten.

Aufgrund der Überlegungen zur Libertarismus-Autoritarismus-Konfliktlinie, wo die Grünen den Libertarismuspol parteiorganisatorisch vertreten, lässt sich zudem die Hypothese bilden:

In der Mitgliedschaft der Grünen sind ressourcenstarke Personen besonders überrepräsentiert.

Die sich aus der Konfliktlinientheorie ergebenden Überlegungen führen somit im Vergleich mit den aus der Ressourcentheorie abgeleiteten Sozialstrukturhypothesen zum Teil zu anderen Ergebnissen. Dies ist bedingt durch die Rolle, die bestimmten Parteien bei der politischen Einbindung ressourcenschwacher Bevölkerungsgruppen zukommt: „Parteien ... wurden auch mit dem Zweck gegründet, Bürger mit begrenzten Beteiligungsmöglichkeiten zusammenzuführen, um deren individuelles Partizipationsdefizit durch die Möglichkeiten, die sich aus der Zusammenführung einer großen Zahl Gleichgesinnter ergeben, auszugleichen. In den festen Strukturen einer Partei können deshalb auch ressourcenschwache Personen einen Beitrag zum Erreichen politischer Ziele leisten, zu dem sie auf sich alleine gestellt kaum in der Lage wären“ (Biehl 2005: 61). Diese Rolle kam historisch vor allem der SPD zu. Wenn sie sie heute noch ausfüllt, dann lassen sich – zusätzlich zur Hypothese über die Überrepräsentation der Arbeiterschaft – noch zwei weitere Hypothesen bilden:

In der SPD-Mitgliedschaft ist der Anteil an Personen mit geringer Bildung höher als in den anderen Parteien. In der SPD-Mitgliedschaft ist das Einkommensniveau geringer als in der Mitgliedschaft der anderen Parteien.

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Neben den bisher genannten Parteien wird das deutsche Parteiensystem durch die Partei DIE LINKE geprägt, die 2007 aus der Vereinigung der PDS mit der WASG entstanden ist. Hypothesen zur Sozialstruktur der Mitgliedschaft dieser Partei, die vor allem aus Wähleranalysen24 abgeleitet werden können, müssen zwischen zwei Zeiträumen differenzieren: Bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts bestand die Kernklientel der damaligen PDS aus den Angehörigen der ehemaligen ‚sozialistischen Dienstklasse’, also den Eliten, der ehemaligen DDR, und war daher weder die bevorzugte Partei der Arbeiter noch der nach Einkommen oder Bildung ressourcenschwachen Personen. In neuerer Zeit wurden jedoch gerade für diese Bevölkerungsgruppe starke wertbezogene und politische Beitrittsanreize gesetzt, indem die Partei sich in ihrer Außenkommunikation als Anwalt der ‚Modernisierungsverlierer’ und einzige Partei der sozialen Gerechtigkeit präsentierte, was auf der Wählerseite durchaus erfolgreich war. Daher lässt sich vermuten:

In der Mitgliedschaft der PDS waren Arbeiter unterrepräsentiert. In der Mitgliedschaft der PDS waren nach Bildung und Einkommen ressourcenstarke Personen überrepräsentiert. In der Mitgliedschaft der LINKEN haben sich diese Strukturcharakteristika in Richtung größerer Repräsentanz von nach Beruf, Einkommen und Bildung ressourcenschwachen Personen verschoben.

Letzteres würde auch bedeuten, dass die LINKE in Zukunft mit der SPD um die Einbindung ressourcenschwacher Bevölkerungsteile konkurriert oder diese Rolle sogar von der SPD übernimmt. Neben den Normen, Werten und Interessen wurde auch das Maß an Betroffenheit des Akteurs von politischen Vorgängen als Prädisposition des Akteurs angesehen. Da die Betroffenheit von politischen Vorgängen mit dem Grad sozialer Integration variiert und diese Variable ihrerseits mit dem Verlauf des Lebenszyklus in Verbindung zu bringen ist, der vor allem über das Alter erfasst wird, kann als letzte Hypothese zur Sozialstruktur formuliert werden:

In den Parteimitgliedschaften sind Personen mittleren Alters, d.h. die Altersgruppe mit der stärksten sozialen Integration, überrepräsentiert.

Mit der Diskussion der sozialstrukturellen Variabeln, die die Ressourcen und Prädispositionen des Akteurs beeinflussen, sind die verschiedenen Einflussfaktoren auf die Art und Stärke der subjektiven Motivation zum Parteibeitritt vollständig erfasst. Ob aus der Beitrittsmotivation ein tatsächlicher Parteibeitritt wird, hängt jedoch von den vom Akteur perzipierten Handlungsalternativen ab. Diese lassen sich in drei Kategorien differenzieren: (1) Eintritt in eine andere Partei, (2) andere Formen politischer Partizipation und (3) unpolitische Möglichkeiten zur Gestaltung des disponiblen Zeitbudgets. An alle vom Akteur wahrgenommenen Handlungsalternativen aus diesen drei Bereichen sind jeweils auch bestimmte Erwartungen und Bewertungen geknüpft, die wiederum von den schon angesprochenen Variablen auf der Mikro-, Meso- und Makroebene beeinflusst werden, u. a. in begrenztem Maße auch von der potenziellen Beitrittspartei. Somit bestehen auch für diese Alternativen bestimmte Handlungsanreize und -hemmnisse, die – 24

Vgl. zum Folgenden Niedermayer 2006a.

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beim Überwiegen der Anreize – den Akteur zu einer anderen Entscheidung motivieren können. Nach der im Modell angenommenen Regel der Selektion des Handelns aus den zur Verfügung stehenden Alternativen erfolgt der Beitritt zu einer bestimmten Partei daher nur, wenn er die mit der stärksten Motivation verbundene Alternative darstellt. Mit diesem Modell lassen sich nicht nur die Beitritts-, sondern auch die Austritts- und Ausschlussentscheidungen erklären25. Aus den ursprünglichen Beitrittsanreizen und -hemmnissen werden nach dem Treffen der Beitrittsentscheidung Anreize und Hemmnisse, die den Verbleib eines Akteurs in der Partei bzw. seinen Austritt oder Ausschluss erklären. Mit zunehmender Dauer der Parteimitgliedschaft erhöht sich prinzipiell die Wahrscheinlichkeit, dass Veränderungen in der sozialstrukturellen Position des Mitglieds und/oder Veränderungen seiner Ressourcenausstattung bzw. seiner Prädispositionen26 einerseits und/oder Entwicklungen in seiner Partei und/oder Veränderungen der perzipierten Handlungsalternativen andererseits die ursprüngliche Motivationsstruktur verändern. Beitrittsanreize und -hemmnisse dürfen daher nicht mit Bleibeanreizen oder -hemmnissen gleichgesetzt werden, aber letztere können mit dem gleichen Instrumentarium kategorisiert und analysiert werden. Für die explizite Austrittsentscheidung eines Mitglieds leuchtet dies unmittelbar ein. Das Mitglied wird eine solche Entscheidung dann treffen, wenn Veränderungen der oben beschriebenen Art die Anreize, in der Partei zu verbleiben, so weit herabsetzen und/oder die Bleibehemmnisse in Form der Verbleibe- und Partizipationskosten so weit steigern und/oder die Attraktivität der perzipierten Handlungsalternativen so weit ansteigen lassen, dass die Motivation zu alternativen Handlungen – also sich nicht mehr oder anderweitig politisch zu betätigen – größer wird als die Motivation zum Verbleib in der Partei. So kann z.B. eine den Werten und politischen Zielsetzungen des Parteimitglieds eklatant widersprechende Änderung der inhaltlichen Ausrichtung einer Partei dazu führen, dass sich die wertbezogenen und politischen Bleibeanreize dramatisch verringern, so dass die Motivation, in der Partei zu verbleiben, stark herabgesetzt wird. Besteht dann eine Handlungsalternative in Form des Beitritts zu einer anderen Partei, deren inhaltliche Ausrichtung zu der des Individuum kompatibel ist, so erhöht sich die Wahrscheinlichkeit eines Parteiaustritts noch zusätzlich. Auch den als Austritt behandelten Abgängen und den Parteiausschlüssen liegen von den beschriebenen Faktoren beeinflusste vorherige Entscheidungen des Mitglieds zugrunde, die eine Abwendung von der Partei signalisieren, z. B. der Entschluss, seine Beitragszahlungen einzustellen oder sich in einer Weise zu verhalten, die als parteischädigend gewertet werden kann. Mit dem vorgestellten Modell können daher alle Arten von individuellen Entscheidungen der verschiedenen relevanten Akteure analysiert werden, die – in der beschriebenen Weise aggregiert – die Gestalt, d.h. Größe und Sozialstruktur, und zeitliche Entwicklung der sozialen Gebilde ‚Mitgliedschaften von Parteien’ prägen. All diese Entscheidungen werden von drei Gruppen von Faktoren beeinflusst: den von den individuellen Eigenschaften der jeweiligen Akteure und den Strukturgegebenheiten und Aktivitäten der jeweiligen Partei beeinflussten Beitrittsanreizen und Beitrittshemmnissen sowie den zur Verfügung stehenden Handlungsalternativen. 25

Die Todesfälle als verbleibende Abgangskategorie natürlich nicht, da sie zwar individuelle Verhaltensweisen aber keine Entscheidung zwischen verschiedenen Handlungsalternativen darstellen. 26 Zu den Prädispositionen zählen nun an prominenter Stelle die vom Mitglied in der Partei gemachten Erfahrungen.

Der Wandel des parteipolitischen Engagements der Bürger 3.

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Die Entwicklung der Parteimitgliedschaften seit 1946

Bevor die in der Literatur zu findenden Erklärungsfaktoren für die zeitliche Entwicklung der Parteimitgliedschaften anhand des vorgestellten Modells systematisiert und analysiert werden, soll diese Entwicklung seit 1946 in groben Zügen dargestellt werden. Lückenlose Mitgliederzahlen (jeweils zum 31.12. eines jeden Jahres) für alle relevanten Parteien liegen allerdings erst ab Mitte der Sechzigerjahre vor. Lediglich die SPD-Mitgliedschaft ist seit 1946 vollständig dokumentiert, die CDU-Daten weisen vor den Sechzigerjahren große Lücken auf und beruhen zum Teil auf Schätzungen, für die CSU existieren von 1954 bis 1959 und 1962 keine Daten und die FDP-Mitgliederzahlen liegen – mit Ausnahme von 1951 und 1952 – erst ab 1967 vor. Generell nimmt die Validität der Daten mit der Einführung von EDV-basierten Zentralen Mitgliederkarteien seit Ende der Sechzigerjahre (Grüne erst in den Neunzigerjahren) deutlich zu27. Die Blütezeit der Mitgliederparteien scheint vorbei zu sein. Wie die Abbildungen 4 und 5 deutlich machen28, lag die Hochzeit der Mitgliederrekrutierung in der alten Bundesrepublik zum einen in den ersten Nachkriegsjahren und zum anderen in der Zeit von Ende der Sechziger- bis zur Mitte der Siebzigerjahre. In der unmittelbaren Nachkriegszeit stiegen die Mitgliedszahlen – soweit sie wenigstens für die SPD und CSU dokumentiert sind – zunächst stark an (von 1946 auf 1947 bei der SPD um fast ein Viertel), fielen danach jedoch deutlich ab: SPD und CDU verloren zwischen Ende der Vierziger- und Anfang/Mitte der Fünfzigerjahre etwa je ein Drittel ihrer Mitglieder, bei der CSU war der Rückgang noch weitaus deutlicher. Danach stiegen die Mitgliederzahlen bis Ende der Sechzigerjahre mehr oder minder kontinuierlich an. Ende der Sechziger- bis Mitte der Siebzigerjahre erlebten dann alle Parteien einen beispiellosen Mitgliederboom. Von Ende 1968 bis Ende 1976 konnte die CDU ihre Mitgliederzahl um rund 365.000 (128 %) steigern, die SPD gewann 290.000 (40 %), die CSU 71.000 (96 %), die FDP allerdings nur 20.000 (34 %) hinzu. Für die SPD markierte das Jahr 1976 den Wendepunkt in der Mitgliederentwicklung: Mit Ausnahme der Jahre 1980 und 1988/89 gingen die Mitgliederzahlen bis zur Wiedervereinigung jedes Jahr weiter zurück Für die anderen Parteien hielten die Mitgliederzuwächse – allerdings in sehr abgeschwächter Form – noch bis in die Achtzigerjahre hinein an, danach war jedoch auch hier ein – unterschiedlich starker – Rückgang zu verzeichnen. Die Grünen mussten in ihrer Frühphase von Ende 1980 bis Ende 1981 einen Mitgliederverlust von gut 11 Prozent hinnehmen, konnten ihre Mitgliedschaft danach aber bis 1987 mehr als verdoppeln, verloren Ende der Achtzigerjahre jedoch auch leicht an Mitgliedern. Insgesamt mussten, gemessen an ihrem jeweiligen Höchststand29, fast alle Parteien in der alten Bun27

Die Datenprobleme sind detailliert dokumentiert in Boyer/Kössler 2005, Franz 2005, Gnad 2005 und Gniss 2005. Für die Zeit vor 1990 liegen den folgenden Abbildungen die Daten aus diesen Veröffentlichungen zugrunde, ergänzt durch Daten, die dem Verfasser von den Bundesgeschäftsstellen der Parteien zur Verfügung gestellt wurden. Ab 1990 wurden die Daten aus der Datenbank des Verfassers verwendet, die von den Parteigeschäftsstellen autorisierte Daten zur Entwicklung, regionalen Verteilung und Sozialstruktur aller relevanten Parteien enthält. Die in dieser Datenbank enthaltenen Informationen werden jährlich zusammenfassend im Heft 2 der Zeitschrift für Parlamentsfragen (neuester Bericht: Niedermayer 2008) und in ausführlicher Form im Internet (neuester Bericht: Niedermayer 2009) publiziert. 28 Geprüfte Mitgliederzahlen zum Jahresende lagen bei Manuskriptabschluss für alle Parteien bis 2007, für die SPD und die CDU bis 2008 vor. 29 CDU 1983: 734.555, SPD 1976: 1.022.191 (vgl. aber die Ausführungen im Abschnitt 2.1), CSU 1983: 185.428, FDP 1981: 86.073 und Grüne 1987: 42.419.

102

Oskar Niedermayer

desrepublik bis zum Ende des Jahres 1989 Mitgliederverluste hinnehmen: CDU und SPD verloren jeweils etwa ein Zehntel, die FDP fast ein Viertel, die Grünen jedoch nur vier Prozent ihrer Mitglieder. Die CSU konnte den in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre eingetretenen leichten Mitgliederrückgang allerdings 1989 wieder kompensieren. Abbildung 4: Mitgliederentwicklung von SPD und CDU 1946-2008 1100000 1000000 900000 800000

SPD

700000 600000

CDU

500000 400000 300000 200000 100000 0 46 49 52 55 58 61 64 67 70 73 76 79 82 85 88 91 94 97 00 03 06 Quelle: Parteimitgliederdatenbank des Verfassers.

Abbildung 5: Mitgliederentwicklung der kleineren Parteien 1946-2007 300000

LINKE

250000

CSU

200000 150000 100000

FDP

50000

GRÜNE 0 46 49 52 55 58 61 64 67 70 73 76 79 82 85 88 91 94 97 00 03 06 Quelle: Parteimitgliederdatenbank des Verfassers.

Der Wandel des parteipolitischen Engagements der Bürger

103

Der Beitritt der DDR-Parteien bzw. ihrer Landesverbände zu ihren bundesdeutschen Schwesterparteien ab August 199030, wodurch die staatliche Vereinigung auf der Parteienebene vorweggenommen wurde, bescherte allen Parteien – mit Ausnahme der auf Bayern begrenzten CSU – Mitgliederzuwächse, allerdings in höchst unterschiedlichem Maße (vgl. die Abbildungen 4 und 5 und Tabelle 3). Die SPD gewann durch ihr im Rahmen der Wende in der DDR neu gegründetes Pendant weniger als 23.000 Mitglieder (2,5 Prozent) hinzu, die CDU und vor allem die FDP jedoch konnten durch die Übernahme der Mitglieder vor allem der gewandelten früheren DDR-Blockparteien aber auch einiger im Rahmen der Wende neugegründeter Parteien ihre Mitgliedschaft deutlich steigern. Tabelle 3: Entwicklung der Parteimitgliedschaften 1990-2007 (Stand jeweils 31.12.) 1

2

3

4

Jahr CDU SPD CSU FDP GRÜNE LINKE 1990 789.609 943.402 186.198 178.625 41.316 280.882 1991 751.163 919.871 184.513 137.853 38.873 172.579 1992 713.846 885.958 181.757 103.488 36.320 146.742 1993 685.343 861.480 177.289 94.197 39.761 131.406 1994 671.497 849.374 176.250 87.992 43.899 123.751 1995 657.643 817.650 179.647 80.431 46.410 114.940 1996 645.786 792.773 179.312 75.038 48.034 105.029 1997 631.700 776.183 178.457 69.621 48.980 98.624 1998 626.342 775.036 179.520 67.897 51.812 94.627 1999 638.056 755.066 181.873 64.407 49.488 88.594 2000 616.722 734.667 178.347 62.721 46.631 83.475 2001 604.135 717.513 177.036 64.063 44.053 77.845 2002 594.391 693.894 177.667 66.560 43.881 70.805 2003 587.244 650.798 176.950 65.192 44.052 65.753 2004 579.526 605.807 172.855 64.146 44.322 61.385 2005 571.881 590.485 170.084 65.022 45.105 61.270 2006 553.896 561.239 166.896 64.880 44.677 60.338 2007 536.668 539.861 166.364 64.078 44.320 71.711 1) Am 31.12.1990 waren erst wenige ostdeutsche Mitglieder in der Zentralen Mitgliederkartei der CDU erfasst, die Erfassung wurde im September 1991 abgeschlossen. Daher: Bestand West (einschl. Berlin) aus Mitgliederstatistik (655.200), Bestand Ost (134.409) aus: Bericht der Bundesgeschäftsstelle zum 2. Parteitag der CDU am 14.-17.12.1991 in Dresden, S. 24. 2) Durch EDV-Umstellung Anfang 1998 sind insges. 5240 Mitglieder verlorengegangen. 3) 1993: Vereinigung mit Bündnis 90. 4) 1990 bestanden noch keine westdeutschen Landesverbände; Schätzung der westdeutschen Mitgliederzahl (etwa 600) Quelle: Parteimitgliederdatenbank des Verfassers.

Bei der CDU lässt sich dies allerdings im Rahmen der Mitgliederstatistik der Zentralen Mitgliederkartei nicht exakt quantifizieren: Am 31.12.1990 waren erst wenige ostdeutsche Mitglieder erfasst, die Erfassung wurde im September 1991 abgeschlossen. Verlässliche Zahlen liegen daher erst zum 31.12.1991 vor. Die Zahl der CDU-Mitglieder zum Jahresende 1990 sowohl insgesamt als auch für Ostdeutschland (vgl. Tabelle 3) wurde daher dem Bericht der CDU-Bundesgeschäftsstelle zum 2. Parteitag der CDU vom 15.-17.12.1991 in Dresden entnommen, die für die gesamte CDU 789.609 Mitglieder und für die neuen Bun-

30

Zum Vereinigungsprozess auf der Parteienebene vgl. Niedermayer/Stöss 1994.

104

Oskar Niedermayer

desländer 134.409 Mitglieder ausweist31. Danach gewann die CDU durch die Vereinigung zu ihren 655.200 westdeutschen Mitgliedern (31.12.1990) gut 20 Prozent Mitglieder hinzu. Den mit Abstand größten relativen Mitgliederzuwachs konnte jedoch die FDP verzeichnen, deren Mitgliedschaft sich von gut 71.000 (westdeutsche Mitglieder Ende 1990) durch fast 107.000 ostdeutsche Mitglieder um 150 Prozent steigerte und die damit in den Mitgliederzahlen zur CSU aufschloss. Als einzige Partei blieben die westdeutschen Grünen von ihrem ostdeutschen Pendant, der Listenvereinigung Bündnis 90/Grüne-BürgerInnenbewegung, zunächst noch getrennt und vereinigten sich erst im Jahre 1993 mit dem zur Partei umgewandelten, mitgliederschwachen Bündnis 90. Die Mitgliederzuwächse waren jedoch sehr bald wieder aufgezehrt (vgl. die Tabellen 3 und 4): Gemessen am Höchststand nach der Vereinigung von 1990 verlor bis Ende 2007 die CDU fast ein Drittel, die SPD deutlich mehr als zwei Fünftel, die CSU über ein Zehntel und die FDP fast zwei Drittel ihrer Mitglieder (vgl. Tabelle 4). Am schlimmsten traf es die mit der Vereinigung hinzugekommene PDS. Ihre Vorläuferin, die SED der ehemaligen DDR, hatte 1989 noch ca. 2,3 Mio. Mitglieder, die PDS Ende 1990 noch etwa 281.000, von denen sie bis Ende 2006 fast vier Fünftel verlor. Durch die Vereinigung mit der westdeutsch geprägten WASG zur LINKEN stieg die Gesamtmitgliedschaft im Jahre 2007 jedoch um fast 19 Prozent an. Vergleicht man den Stand Ende 1990 mit Ende 2007, so haben die Grünen als einzige Partei seit der Vereinigung Mitglieder hinzugewonnen, gemessen an ihrem erst 1998 erreichten Höchststand verloren jedoch auch sie etwa ein Siebtel ihrer Mitglieder. Betrachtet man die Mitgliederentwicklung getrennt nach Bundesländern (vgl. Tabelle 4), so zeigt sich, dass CDU und FDP zwar überall Verluste hinnehmen mussten, besonders dramatisch verlief die Entwicklung jedoch in Ostdeutschland, d.h. in den fünf neuen Bundesländern, wo die CDU fast zwei Drittel, die FDP über neun Zehntel ihrer Mitglieder verlor. Die SPD-Mitgliederverluste hingegen sind fast ausschließlich auf die westdeutsche Entwicklung zurückzuführen. In Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Sachsen-Anhalt waren die Verluste deutlich geringer als in den westdeutschen Bundesländern und in Brandenburg und vor allem in Thüringen konnte sie deutlich Mitglieder hinzugewinnen, sodass der Saldo für Ostdeutschland insgesamt nur leicht negativ ist. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Partei mit Ende 2007 insgesamt nur gut 22.000 Mitgliedern – die CDU hat mehr als doppelt so viele – ihre Organisationsaufbauprobleme und Rekrutierungsschwächen in Ostdeutschland noch immer nicht überwunden hat. Dies trifft auch auf die Grünen zu, die trotz zum Teil hoher Steigerungsraten in den neuen Ländern zusammen erst knapp 3.000 Mitglieder haben32. Ähnlich ging es bis 2006 der ehemaligen PDS im Westen außerhalb Berlins, wo sie – trotz einer extremen Steigerungsrate – mit knapp 7.300 Mitgliedern organisatorisch immer noch eine marginale Partei war. Nach dem Zusammenschluss mit der WASG zählt die neue LINKE Ende 2007 im Westen (ohne Berlin) zwar fast 20.700 Mitglieder, bleibt aber unter den drei kleineren Parteien das Schlusslicht.

31

Diese Zahlen wurde auch den Berechungen für die Veränderungsraten 1990-2007 (vgl. Tabelle 4) und die Rekrutierungsfähigkeit (Abbildungen 6 und 7) zugrunde gelegt. 32 Die hohe gesamte Steigerungsrate zwischen 1990 und 2007 in Ostdeutschland von 130 Prozent ist wesentlich auf die Tatsache zurückzuführen, dass die sächsischen Grünen mit ihren etwa 1.000 Mitgliedern 1990 nicht mit gerechnet wurden, weil sie erst 1993 zu einem Landesverband der Grünen wurden.

Der Wandel des parteipolitischen Engagements der Bürger

105

Tabelle 4: Veränderung der Parteimitgliedschaften 1990-2007 (Angaben in Prozent) 1

2

3

Bundesland CDU SPD FDP GRÜNE LINKE Baden-Württemberg -18,0 -39,1 -2,6 6,9 1931,2 Bayern -10,7 -37,7 -20,2 2,8 4845,8 Berlin -19,2 -41,1 -56,3 24,4 -70,8 Brandenburg -51,5 14,7 -90,5 126,4 -78,2 Bremen -10,6 -57,5 -29,6 38,8 806,0 Hamburg -29,7 -51,2 -38,4 -37,5 876,5 Hessen -24,0 -44,1 -16,5 -14,3 2641,1 Mecklenburg-Vorpommern -58,1 -11,0 -92,1 20,1 -81,7 Niedersachsen -23,7 -38,1 -16,8 1,1 1031,6 Nordrhein-Westfalen -28,9 -49,4 -23,7 10,0 5925,5 Rheinland-Pfalz -29,5 -38,9 -6,5 7,5 6204,3 Saarland -20,3 -43,5 -49,2 73,5 9420,0 Sachsen -58,3 -21,7 -90,3 -3,8 -81,4 Sachsen-Anhalt -61,7 -14,7 -91,6 58,9 -86,0 Schleswig Holstein -24,3 -47,0 -26,6 -20,7 4189,5 Thüringen -55,3 31,5 -93,6 22,3 -81,9 4 Gesamt -32,0 -42,8 -64,1 7,3 -74,5 Ostdeutschland -65,2 -1,7 -91,7 130,5 -81,8 5 Westdeutschland -25,3 -43,8 -23,2 3,4 -6,3 1) Bayern: CSU. Neue Bundesländer: Veränderung seit 1991 (Verlässliche Zahlen nach Bundesländern liegen erst zum 31.12.1991 vor), Gesamt und West/Ost berechnet aus Daten der Mitgliederstatistik (655.200) für West und dem Bericht der Bundesgeschäftsstelle zum 2. Parteitag der CDU am 14.-17.12.1991 in Dresden, S. 24 für Ost. 2) Sachsen: Veränderung seit 1993 (vorher kein LV). 3) Westdeutsche Landesverbände (ohne Berlin): Veränderung seit 1991, da 1990 noch keine Landesverbände; Niedersachsen und Bremen seit 1994, da 1991 bis 1993 gemeinsamer LV. Veränderung West ohne Berlin seit 1991: +3511,5 %. 4) Einschließlich Ausland und bundesunmittelbare Mitglieder. 5) Einschließlich Berlin. Quelle: Parteimitgliederdatenbank des Verfassers.

Die Mitgliederrekrutierungsprobleme im Osten zeigen sich noch deutlicher, wenn man die Rekrutierungsfähigkeit der einzelnen Parteien, also den Anteil der Parteimitglieder an den Parteibeitrittsberechtigten, analysiert33 (vgl. Tabelle 5). Bei der SPD und den Grünen bilden auch noch Ende 2007 die fünf neuen Länder mit deutlichem Abstand zu allen alten Bundesländern das Schlusslicht und bei der CDU weisen nur die Stadtstaaten Berlin und Bremen eine ähnlich niedrige Rekrutierungsfähigkeit der Partei auf wie die neuen Bundesländer. Lediglich bei der im Westen traditionell mitgliederschwachen FDP ist das Ost-/Westverhältnis ausgeglichener, aber auch hier bilden sie – zusammen mit Bayern, Bremen und Hamburg – das Schlusslicht. Bei der LINKEN, die 2006 als Linkspartei.PDS noch eindeutiger eine ostdeutsche Regionalpartei war, bilden auch 2007 nach der Vereinigung mit der WASG die neuen Bundesländer und Berlin die Mitgliederhochburgen, wobei die LINKE nirgendwo auch nur annähernd den Rekrutierungsgrad erreicht, den die SPD, CDU und CSU in ihren westdeutschen Hochburgen aufweisen. Zudem wurde sie in Mecklenburg-Vorpommern von der CDU eingeholt, in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sogar überholt.

33

Zu den Beitrittsberechtigten bei den einzelnen Parteien vgl. Abschnitt 2.1.

106

Oskar Niedermayer

Tabelle 5: Rekrutierungsfähigkeit der Parteien 2007 (Stand 31.12.) (Parteimitglieder in Prozent der Parteibeitrittsberechtigten) 1

2

Bundesland CDU SPD FDP GRÜNE LINKE Baden-Württemberg 0,83 0,44 0,08 0,07 0,02 Bayern 0,67 0,05 0,06 0,02 Berlin 0,42 0,53 0,10 0,13 0,31 Brandenburg 0,30 0,29 0,07 0,03 0,42 Bremen 0,58 0,89 0,07 0,11 0,08 Hamburg 0,64 0,71 0,08 0,08 0,07 Hessen 0,95 1,28 0,13 0,07 0,04 Mecklenburg-Vorpommern 0,41 0,18 0,07 0,02 0,41 Niedersachsen 1,12 1,04 0,10 0,07 0,04 Nordrhein-Westfalen 1,09 0,93 0,10 0,06 0,04 Rheinland-Pfalz 1,48 1,26 0,15 0,06 0,04 Saarland 2,33 2,50 0,16 0,12 0,21 Sachsen 0,36 0,11 0,07 0,03 0,35 Sachsen-Anhalt 0,40 0,20 0,09 0,02 0,28 Schleswig Holstein 1,13 0,84 0,10 0,06 0,03 Thüringen 0,59 0,21 0,09 0,02 0,35 Gesamt 0,90 0,75 0,09 0,06 0,10 Ostdeutschland 0,40 0,19 0,08 0,02 0,36 3 Westdeutschland 1,02 0,86 0,09 0,07 0,05 1) Rekrutierungsfähigkeit der CSU in Bayern: 1,58 Prozent. Rekrutierungsfähigkeit der CDU/CSU in Gesamtdeutschland: 1,00 Prozent. 2) Westdeutschland ohne Berlin: 0,04. 3) Einschließlich Berlin. Quelle: Parteimitgliederdatenbank des Verfassers.

Im Vergleich mit der Entwicklung der absoluten Mitgliederzahlen verändert das Abstellen auf die Rekrutierungsfähigkeit bundesweit auch die Relationen zwischen den Parteien. Da die Grundgesamtheit, aus der die SPD ihre Mitglieder rekrutieren kann, die Bevölkerung im gesamten Deutschland ab 14 Jahren darstellt, bei der CDU und CSU die Altersgrenze jedoch bei 16 Jahren liegt und zudem die CDU nur außerhalb Bayerns und die CSU nur in Bayern Mitglieder gewinnen kann, ist deren Grundgesamtheit deutlich geringer und damit ihre Rekrutierungsfähigkeit bei gleicher absoluter Mitgliederzahl höher. Die SPD war bis Ende 2007 immer noch mit knappem Vorsprung vor der CDU die mitgliederstärkste Partei Deutschlands (vgl. Tabelle 3). Erst im Frühjahr 2008 wurde sie von der CDU überholt und Ende 2008 hatte die CDU 528.972, die SPD nur noch 520.969 Mitglieder. Dass „die alte Massenpartei, deren einstiger Stolz die kollektiven Großbataillone an anhänglichen Mitgliedern“ waren, „auf den Umfang der früheren christdemokratischen Honoratiorenorganisation geschrumpft“ ist, wird von vielen Kommentatoren als „historischer Wendepunkt in der Geschichte politischer Organisationskulturen“ angesehen (Walter 2008: 56). In Bezug auf die Fähigkeit zur Mitgliederrekrutierung wurde die SPD allerdings schon viel früher, nämlich 1999, von der CDU überholt, wobei beide Parteien wiederum weit hinter der CSU zurückliegen (vgl. Abbildung 6). In der CSU waren Ende 2007 knapp 1,6 Prozent der bayerischen Bevölkerung ab 16 Jahren organisiert, in der CDU 0,9 Prozent der nichtbayerischen Bevölkerung ab diesem Alter und in der SPD 0,75 Prozent der gesamtdeutschen Bevölkerung ab 14 Jahren. Betrachtet man das Parteiensystem insgesamt, so waren 1980, nach dem Hinzukommen der Grünen, in der Bundesrepublik insgesamt fast vier Prozent der beitrittsberechtigten

Der Wandel des parteipolitischen Engagements der Bürger

107

Bevölkerung in einer der fünf Parteien organisiert. Ende 1989 waren es in der alten Bundesrepublik noch 3,6 Prozent, nach der Vereinigung 1990 im gesamten Deutschland 3,7 Prozent (Westdeutschland noch 3,5 Prozent, Ostdeutschland 4,2 Prozent). Ende 2007 sind, nach einem beschleunigten Rückgang, in Westdeutschland nur noch 2,2, in Ostdeutschland gar nur noch knapp 1,1 Prozent und in Gesamtdeutschland 2 Prozent der beitrittsberechtigten Bürger in einer der sechs relevanten deutschen Parteien organisiert (vgl. Abbildung 7). Abbildung 6: Rekrutierungsfähigkeit: CDU, SPD und CSU 1990-2007 2,0

1,6

1,2

0,8

0,4

CSU

CDU

SPD

0,0 90 91 92 93 94 95 96 97 98 Quelle: Parteimitgliederdatenbank des Verfassers.

99

00

01

02

03

04

05

06

07

Abbildung 7: Rekrutierungsfähigkeit des gesamten Parteiensystems 1980-2007 4,5 4,0 3,5 3,0 2,5 2,0

West

1,5

Gesamt

1,0

Ost

0,5 0,0 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 00 01 02 03 04 05 06 07 Quelle: Parteimitgliederdatenbank des Verfassers.

108 4.

Oskar Niedermayer Erklärungsfaktoren für die Entwicklung der Parteimitgliedschaften

Im Folgenden soll die Fülle von Faktoren, die in der Literatur zur Erklärung der Veränderungen in den Parteimitgliedschaften herangezogen wurde, anhand des vorgestellten Modells systematisiert und auf ihre Plausibilität hin überprüft werden. Dabei wird der gesamte Untersuchungszeitraum in drei große Abschnitte eingeteilt: die unmittelbare Nachkriegszeit mit dem ersten Mitgliederanstieg und dem nachfolgenden Rückgang, der Mitgliederboom Ende der Sechziger- bis Mitte der Siebzigerjahre und die Zeit seit den Achtzigerjahren, in der die Rekrutierungsfähigkeit des gesamten Parteiensystems, bei durchaus unterschiedlicher Entwicklung der einzelnen Parteien, kontinuierlich – und seit der Vereinigung in beschleunigtem Maße – zurückging. Zum bemerkenswerten Mitgliederzuwachs der Parteien in den unmittelbaren Nachkriegsjahren finden sich in der Literatur erstaunlich wenig Erklärungsversuche. Wiesendahl (2006a: 28f.) macht ein „gesellschaftliches Politisierungshoch“, eine „Aufbruchstimung“ in Form einer „heftig ausgetragenen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Richtungsdebatte über das zukünftige demokratische Nachkriegsdeutschland“ und damit starke Beitrittsanreize zielbezogen-politischer und wertbezogener Art verantwortlich. Lösche/Walter (1992: 136) verweisen für die SPD auf das Vorliegen materieller Anreize, wenn sie konstatieren, dass die Partei „auch als Patronage- und Karrierevehikel gesehen und benutzt wurde“. Vor allem jedoch schien sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit der vom Parteivorsitzenden Kurt Schumacher vehement geforderte Neubeginn der milieuverengten Traditionskompanie durch „eine soziale Öffnung ... hin zu einer linken Volkspartei anzubahnen“ (ebd.: 135), sodass die Partei nun so unterschiedliche Gruppen wie ökonomisch benachteiligte Flüchtlinge und Teile der Jugend anzog. Auch Boyer/Kössler (2005: 69) gehen davon aus, „dass sich die SPD nun öffnete, Zulauf aus verschiedenen Bevölkerungssegmenten erhielt“. Das Argument der sozialen Öffnung lässt sich auch für die beiden christdemokratischen Parteien anführen: CDU und CSU legten mit ihrer Ausrichtung als interkonfessionell-christliche Sammlungsparteien des bürgerlichen Spektrums prinzipiell die Grundlage für die inhaltlich-politische Ansprache unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen von national-konservativer über bürgerlich-liberaler bis christlich-sozialer Ausrichtung und verbreiterten damit die wertbezogene, normative und politische Anreizstruktur gegenüber dem VorkriegsZentrum als katholischer Milieupartei. Dies hat sicherlich zur Attraktivität der beiden Parteien in der Gründungsphase beigetragen. Der nachfolgende deutliche Mitgliederrückgang lässt sich auf die Kombination von Faktoren aus allen drei im Erklärungsmodell unterschiedenen Gruppen zurückführen, d.h. auf steigende Beitritts- bzw. Bleibehemmnisse, sinkende Beitritts- bzw. Bleibeanreize und die Erweiterung von (partei-)politischen bzw. unpolitischen Handlungsalternativen. Sowohl in der Literatur34 als auch von den Parteien selbst35 wird als wichtiger Faktor die Währungsreform von 1948 angeführt, d.h. ein Ereignis auf der Makroebene, dessen negative Folgen für die finanzielle Ressourcenausstattung der Bürger ihre Bereitschaft, die Beitritts- (bzw. Verbleibe-)kosten einer Parteimitgliedschaft zu tragen deutlich reduzierten. 34

Vgl. z.B. Boyer/Kössler 2005: 69, Kaack 1971: 493, Kleinmann 1993: 136, Lösche/Walter 1992: 138 und Mintzel 1973: 362. 35 „Der Verlust an Mitgliedern ist ohne Zweifel auf die Auswirkungen der Währungsreform zurückzuführen. Mit dem Ansteigen der Arbeitslosigkeit und der Schrumpfung des Einkommens weitester Kreise der Mitgliedschaft ist es zu erklären, dass das Gros der Verluste Austritte sind, deren Motive finanzieller, nur in seltensten Fällen politischer Art sind“ (SPD-Jahrbuch 1948/49: 58f.).

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Daneben führte jedoch auch die Herausbildung einer spezifischen innerparteilichen Organisationskultur zur Steigerung der Beitritts- und Partizipationskosten potenzieller neuer Mitglieder, d.h. die Parteien selbst errichteten Beitrittsbarrieren: In der SPD „machte sich erneut der Stallgeruch der Weimarer Solidargemeinschaft breit“ (Lösche/Walter 1992: 137), der das Parteileben für neue, insbesondere jüngere Mitglieder wenig attraktiv erscheinen ließ (Heimann 1986: 2173). Bei der CDU wirkten zwei Faktoren in die gleiche Richtung: der Charakter als lokale Honoratiorenpartei und die Vorbehalte exponiert katholischer Kreise gegen das interkonfessionelle Öffnungskonzept: „Lokale Honoratioren zeigten häufig wenig Interesse, neue Mitglieder aufzunehmen, weil diese womöglich Ansprüche auf Kontrolle und Mitsprache angemeldet hätten“ (Schmidt 1986: 642). „Dort, wo sich die Partei vor allem über die katholischen Vorfeldorganisationen rekrutierte und diese das innerparteiliche Leben beherrschten, schottete sie sich auch aus ideologischen Gründen gegenüber Neumitgliedern ab, weil sie von diesen eine allzu starke ‚Liberalisierung’ und ‚Aufweichung’ der CDUPositionen in Grundsatzfragen befürchtete“ (Schönbohm 1985: 48). Auch das Parteileben der CSU nach der Aufbruchsphase der Gründungsjahre war nicht gerade attraktiv: Die beiden Kerngruppen der im Spannungsfeld zwischen Neuorientierung und Anknüpfung an die Tradition der ehemaligen Bayerischen Volkspartei gegründeten CSU, der liberal-konservative, christlich-interkonfessionell orientierte und der altbayerisch katholisch-etatistische Flügel, formierten sich schnell „in grundsätzlichen, die Partei als Ganzes und den politischen Kurs betreffenden Fragen zu zwei verfeindeten Cliquen, die sich mit aller Schärfe bekämpften“ (Mintzel 1986: 667, vgl. auch ders. 1972). Mit der Lizensierung der Bayernpartei im Frühjahr 1948, die sich rasch zur gefährlichsten CSUKonkurrentin entwickelte, verschärfte sich die paralysierende Parteikrise 1949/50 bis an den Rand des Zerfalls. Danach folgte „eine Periode der Stagnation und lähmenden Agonie auf denkbar niedrigem Niveau“ (Gnad 2005: 537), die erst nach dem überraschenden Verlust der Regierungsverantwortung Ende 1954 durch einen planmäßig gesteuerten Prozess der schrittweisen Parteireform und Modernisierung beendet wurde. Die FDP wurde 1945 mit dem Anspruch gegründet, die traditionelle Zersplitterung des politischen Liberalismus zu überwinden. Dennoch trat von Anfang die „Dichotomie zwischen Links- und Nationalliberalen“ (Gniss 2005: 45) deutlich zutage. Wie sich dies auf die Beitrittsmotivation potenzieller Mitglieder bzw. Austrittsmotivation von Parteimitgliedern ausgewirkt hat, kann schwer abgeschätzt werden, da bis Mitte der Sechzigerjahre nur für 1951 und 1952 Daten vorliegen Es ist jedoch zu vermuten, dass zumindest die Auseinandersetzungen zwischen der FDP und der CDU/CSU 1956, die in „eine Parteikrise mit der Folge regionaler Auflösungstendenzen“ (Dittberner 1986: 1325) und den Koalitionsbruch mündeten, deutliche Auswirkungen auf die Mitgliedschaft hatten. Wiesendahl (2006a: 28f.) stellt in seiner Erklärung des allgemeinen Mitgliederrückgangs Ende der Vierziger-/Anfang der Fünfzigerjahre auf sinkende instrumentelle Beitrittsbzw. Bleibeanreize zielbezogen-politischer und wertbezogener Art ab: Er konstatiert „Demobilisierungseffekte unter der Aktivbürgerschaft beider Parteilager“, nachdem der wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Richtungsdebatte durch die Bildung einer bürgerlichen Regierung unter Adenauer 1949 „der Boden entzogen war“. In die gleiche Richtung gehen Argumente, die die CDU der Fünfzigerjahre als reinen ‚Kanzlerwahlverein’ sehen, der wenig Anreize zur innerparteilichen Partizipation einfacher Mitglieder bot, da „die wesentlichen Sach- und Personalfragen ... in Parteiführungsgremien ohne Einbeziehung der Mitglieder entschieden“ wurden (Schönbohm 1985: 48, vgl. auch Schmidt 1986: 601). Auf

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geringe expressive Anreize verweist „die durch den Nationalsozialismus und die Entnazifizierung gestärkte, traditionell vorhandene Parteienaversion“ (Schönbohm 1985: 48) besonders in den bürgerlichen Schichten. Als drittes Faktorenbündel lassen sich schließlich Veränderungen bei den Handlungsalternativen anführen, und zwar sowohl bei den parteipolitischen als auch bei den unpolitischen Alternativen. Die Aufhebung des Lizensierungszwangs von politischen Parteien durch die Alliierten 1950 führte zum Entstehen einer Reihe von neuen Parteien, insbesondere der Vertriebenenpartei BHE, die in Mitgliederkonkurrenz zu den etablierten Parteien traten36. Die steigende Attraktivität unpolitischer Handlungsalternativen steht dagegen im Mittelpunkt, wenn man die politische Kultur der Fünfzigerjahre als durch die „Flucht ins Private“ (Lösche 1993: 107) geprägt sieht. Dies änderte sich jedoch in den Sechzigerjahren, deren zweiten Hälfte durch eine starke politische Mobilisierung geprägt war, die sich auch deutlich in den Parteimitgliedschaften niederschlug. Die „goldene Zeit der Mitgliederparteien“ (Gabriel/Niedermayer 2002: 274) Ende der Sechziger- bis Mitte der Siebzigerjahre wird daher auch primär durch eine wesentliche Steigerung instrumenteller Beitrittsanreize zielbezogen-politischer und wertbezogener Art im Rahmen der „stark polarisierenden Konkurrenzsituation zwischen dem sozialliberalen Regierungslager und dem oppositionellen Unionslager“ (Wiesendahl 2006a: 32) erklärt. „Der SPD gelang in dieser Zeit der Durchbruch zur Volkspartei, die sozialliberale Koalition von 1969 wurde als Aufbruchsignal in eine von Reformen geprägte Zukunft angesehen und die SPD konnte aus bis dahin nicht angesprochenen Schichten (Anhänger der APO, die den ‚Marsch durch die Institutionen‘ antraten, Vertreter der neuen Mittelschichten, welche die SPD als Partei der Modernisierung ansahen) neue Mitglieder gewinnen“ (Gabriel/Niedermayer 2002: 275). Die weitaus meisten Neuzugänge waren anlässlich der vorgezogenen Bundestagswahl von 1972 zu verzeichnen, bei der die SPD durch das angestrebte Vertrauensvotum für den Bundeskanzler Willy Brandt und die thematische Ausrichtung auf die neue Ostpolitik eine sehr starke Mobilisierung erreichen konnte und fast 156.000 neue Mitglieder hinzugewann (vgl. Abbildung 8). Bis Mitte der Sechzigerjahre und nach der Boomphase bis zum Ende der alten Bundesrepublik traten dagegen jährlich nur zwischen 25.000 und 50.000 neue Mitglieder in die Partei ein und seit Ende der Neunzigerjahre wurde die 20.000-Marke nur noch einmal knapp überschritten. Auch die CDU profitierte von dieser Mobilisierungsphase, da die bürgerlich-konservativen Kräfte das Feld nicht dem politischen Gegner überlassen wollten und somit starke politische und wertbezogene Beitrittsanreize in Form einer Gegenbewegung „zur sozialliberalen Politik und zu den linken politischen Strömungen“ (Schmidt 1986: 645) bestanden. Hinzu kam eine umfassende Modernisierung und Reform der Partei, die die Beitrittsanreize deutlich verstärkte und aus dem bisherigen Selbstverständnis resultierende Beitrittshemmnisse abbaute. Bisher hatte sich die Partei als ‚Kanzlerwahlverein‘ verstanden und ihren organisatorischen Aufbau vernachlässigt (vgl. Jesse 2002: 67). „Erst als die Verschleißeffekte der langen Regierungszeit spürbar wurden, sich auf Bundesebene der Gang in die Opposition abzeichnete und schließlich auch vollzog, entdeckten die Christdemokraten die Bedeutung einer starken, breiten und vor allem festen Mitgliedschaft“ (Franz 2005: 37). Damit „erhielt auch die Mitgliederwerbung einen neuen Stellenwert als Teil der Parteireform“ (Schönbohm 1985: 160). 36

Vgl. z.B. Heimann 1986: 2173, Kleinmann 1993: 135, Lösche/Walter 1992: 138.

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Abbildung 8: Eintritte in die SPD 1956-2008 180000 160000 140000 120000 100000 80000 60000 40000 20000 0 56 59 62 65 68 71 74 77 80 83 86 89 92 95 98 Quelle: Parteimitgliederdatenbank des Verfassers.

01 04 07

Eine Mischung aus externen und parteiinternen Faktoren ist auch für die in dieser Zeit erfolgende Fortentwicklung der CSU zu einer „Massen- und Apparatepartei modernen Typs“ (Mintzel 1973: 363) verantwortlich. Der bundesdeutsche, auch der CSU nützende Politisierungs- und Mobilisierungsschub wurde in Bayern durch den Verlust von politischen Alternativen ergänzt: Der endgültige Niedergang der Bayernpartei verschaffte der CSU die Möglichkeit, deren Mitgliederpotenzial zu absorbieren, und das Ende der besonders in Bayern unpopulären Großen Koalition entzog der Abwanderung eines Teils der konservativen Stammmitgliedschaft zur NPD den Boden. Ergänzt wurde dies durch eine Reihe von parteiinternen Reformen und Modernisierungsschritten mit dem Ziel, aus der CSU eine „starke Mitgliederpartei“ zu machen, in der die „Zeiten kleiner Honoratioren-Zirkel und selbstgewählter Partei-Ghettos“ vorbei sind37. Die FDP-Mitgliederentwicklung in diesem Zeitraum ist wohl primär durch die inhaltliche Umorientierung infolge des Erstarkens des linksliberalen Flügels geprägt, die ein Aufbrechen der Fixierung der Partei auf ein Bündnis mit der Union und eine sukzessive Annäherung an die Sozialdemokratie bewirkte (vgl. Gniss 2005: 49) und letztlich 1969 zu einer sozialliberalen Koalition führte. Für den Teil der Mitgliedschaft, die mit dieser inhaltlichen Umorientierung nicht einverstanden waren, verringerten sich durch die Koalitionsentscheidung die inhaltlichen und wertbezogenen Bleibeanreize drastisch, andererseits wurden aber hierdurch starke Beitrittsanreize für Befürworter der neuen Parteiorientierung gesetzt. Die Folge war ein – sich in der saldierten Mitgliederentwicklung nur unzureichend widerspiegelnder – „umfassender Austausch innerhalb der Mitgliederschaft“ (Dittberner 1986: 1374) mit dem „Verlust des nationalliberalen Flügels“ (Kaack 1978: 65) und einer

37

So der Generalsekretär Streibel in einem Rundschreiben vom Dezember 1969 an alle Parteigliederungen (zit. n. Gnaad 2005: 555).

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beträchtlichen Zahl von Eintritten sozialliberal gesinnter Bürger: „Zwei Drittel aller Mitglieder des Jahres 1977 waren der Partei nach 1969 beigetreten“ (Dittberner 1986: 1374). Spätestens seit den Achtzigerjahren geht die Rekrutierungsfähigkeit des gesamten Parteiensystems kontinuierlich zurück, auch wenn die Mitgliederentwicklung von Partei zu Partei unterschiedlich verläuft (vgl. Abschnitt 3). Als Gründe für diese Entwicklung38 lassen sich zunächst allgemeine Prozesse des sozio-ökonomischen und sozio-kulturellen Wandels und deren Auswirkungen auf die verschiedenen Arten von Beitrittsanreizen anführen. Den zentralen Faktor bildet hierbei die allgemeine Abnahme sozialer Integration – also die Individualisierung der Gesellschaft – und insbesondere die Erosion der schon angesprochenen, die soziale Basis des deutschen Parteiensystems von Anfang an prägenden sozialmoralischen Milieus. Mit der Reduktion des durch das eindimensionale Sozialisationsumfeld der Milieus aufgebauten politischen Konformitätsdrucks und der normativen Gruppenkontrolle, die nicht zuletzt auch über das familiäre Umfeld vermittelt wird, verringern sich wesentliche normative Anreize, einer Partei beizutreten. Auch wenn die Datenlage hinsichtlich des längerfristigen Wandels von Beitrittsanreizen noch unbefriedigend ist, existieren einige Hinweise für diesen Wandel. So zeigen Untersuchungen von SPD-Mitgliedern 1997 und CDU-Mitgliedern 1992/93, dass die Relevanz normativer Beitrittsanreize mit abnehmendem Alter und abnehmender Mitgliedschaftsdauer deutlich geringer wird: Die älteren und vor längerer Zeit eingetretenen Mitglieder gaben in viel höherem Maße an, dass die Parteimitgliedschaft Familientradition sei, als die jüngeren und vor kurzer Zeit eingetretenen Mitglieder (vgl. Niedermayer 2002: 310f.). Durch die Erosion der sozial-moralischen Milieus verlieren zudem die diese Milieus in der Vergangenheit stützenden Vorfeldorganisationen –z.B. die Gewerkschaften im sozialdemokratischen und die kirchlichen Organisationen im katholischen Milieu – als Rekrutierungsfelder für potenzielle Mitglieder der jeweiligen Milieupartei zunehmend an Bedeutung. Die Veränderung der Zusammensetzung der Parteimitgliedschaften durch diese Entwicklungen führt schließlich noch zu einem weiteren Problem: Eine geringere normative Einbindung der Mitglieder verringert die bei einem Parteiaustritt zu überwindende Hemmschwelle. Wenn man primär über instrumentelle Anreize wertbezogener und politischer Art39 zum Parteibeitritt bewegt wurde, wie es auch die Ergebnisse der jüngsten Neumitgliederstudie zeigen (vgl. Tabelle 6), sind die Anreize zum Parteiaustritt bei tatsächlichen oder vom Mitglied perzipierten Veränderungen der Wertprioritäten oder der politischen Zielsetzungen der Partei sehr stark. Die SPD musste dies nach Verkündigung der von Teilen der Parteimitglieder als Verrat am zentralen SPD-Grundwert der sozialen Gerechtigkeit empfundenen Agenda 2010 im März 2003 schmerzlich erfahren. Traten in den letzten zehn Jahren – außer 2003 und 2004 – im Schnitt jährlich etwa 23.000 Mitglieder aus der Partei aus, so gaben 2003 über 38.000 und 2004 fast 44.000 Mitglieder ihr Parteibuch zurück.

38

Zum Folgenden vgl. auch Gabriel/Niedermayer 2002: 280ff. Die materiellen Anreize spielen bei den Parteimitgliedern – auch wenn man mögliche Antwortverzerrungen durch sozial erwünschtes Antwortverhalten in Rechnung stellt – eine relativ geringe Rolle (vgl. z.B. Biehl 2005, Boll 2001, Bürklin/Neu/Veen 1997, Neu 2007 und Niedermayer 2002).

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Tabelle 6: Beitrittsgründe von Neumitgliedern der SPD 2004 (Auswahl; Mehrfachnennungen; Angaben in Prozent) Politischer Anreiz: Wertbezogener Anreiz: Affektiver Anreiz: Normativer Anreiz: Materieller Anreiz:

Ich will politisch teilhaben und mitwirken können

70

Ich will dazu beitragen, dass die Werte, für die die SPD steht, weiterhin Gültigkeit haben

66

Ich will einen bestimmten Politiker/Politikerin unterstützen

16

Die Mitgliedschaft in der SPD ist in unserer Familie Tradition Die Mitgliedschaft gibt mir die Möglichkeit, mich beruflich weiterzuentwickeln

18 12

Quelle: Polis 2004.

Der gesellschaftliche Wandel wirkt sich jedoch nicht nur durch Veränderungen der Struktur der Beitrittsanreize auf die Mitgliedschaftsentwicklung aus, sondern auch durch Veränderungen der Beitritts- und Partizipationskosten sowie der verfügbaren Handlungsalternativen. Dies zeigt sich vor allem in den deutlichen Inkongruenzen zwischen den organisatorischen Rahmenbedingungen parteibezogenen Engagements und den gewandelten gesellschaftlichen Beteiligungsstrukturen. Das „Auseinanderdriften von allgemeinen gesellschaftlichen Partizipationsnormen und -formen und einer anachronistischen Organisationskultur“ (Mielke 1994: 241) in den Basiseinheiten der Parteien lässt viele potenzielle Mitglieder vor einem Parteibeitritt zurückschrecken. Die Bürger sind zudem in ihrem politischen Informations- und Einflussstreben seit geraumer Zeit nicht mehr allein auf die Parteien angewiesen, denn die Ausdifferenzierung des Repertoires politischer Beteiligung und der Wandel der Partizipationspräferenzen durch die „partizipatorische Revolution“ (Kaase 1982: 173) hat die politischen Parteien in eine zunehmende Konkurrenzsituation mit anderen Beteiligungsformen wie Bürgerinitiativen und neuen sozialen Bewegungen gebracht. Dies erschwert den Parteien die Mitgliederrekrutierung, da vielen Bürgern – insbesondere den Jüngeren – ein „befristetes, ungebundenes und punktuelles Kurzzeitengagement“ (Wiesendahl 2006b: 77) ermöglichende „low-intensity“-Partizipationsformen40 attraktiver erscheinen als die mit relativ hohen Anforderungen und Ansprüchen verbundene „high-intensity“-Partizipation in politischen Parteien41. Zudem bieten die vielfach immer noch verkrusteten, „zu großen erstarrten Apparaten degenerierten“ (Luthardt 1991: 128) Parteiorganisationen oft nicht genügend attraktive politische Beteiligungsmöglichkeiten für die anspruchsvoller gewordenen Mitglieder. Aus der Sicht einzelner Parteien kommt hinzu, dass die Gründung neuer Parteien die zwischenparteiliche Mitgliederkonkurrenz verschärft, wie es z.B. für die SPD nach der Gründung der Grünen und in neuerer Zeit der WASG und deren Zusammenschluss mit der PDS zur LINKEN der Fall ist. Zur Verbreiterung der für die Bürger verfügbaren Handlungsalternativen, die die Mitgliederrekrutierung der Parteien erschweren, gehören neben den politischen auch die unpolitischen Alternativen. Die Freizeitgestaltungsmöglichkeiten der Bürger haben sich in den 40

Zum Konzept der „low-intensity“ und „high-intensity participation“ vgl. Whiteley/Seyd 2002. Es kann daher von einer deutlichen, sich im Zeitablauf verschärfenden, die verschiedenen Parteien allerdings in unterschiedlichem Maße betreffenden Parteienabstinenz der Jugend gesprochen werden, nicht jedoch von einer weit verbreiteten und zunehmenden Parteienverdrossenheit (vgl. hierzu Niedermayer 2006b).

41

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letzten Jahrzehnten vervielfacht. Insbesondere hat „das Vordringen neuer Massenmedien wie Privatfernsehen und Internet zumindest in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen zu einer politischen Demobilisierung geführt, die sich auch im Blick auf die Parteimitglieder bemerkbar macht“ (Mielke 2007: 67). Last but not least sei noch darauf hingewiesen, dass der Rückgang der Parteimitgliedschaften selbst wiederum die Beitrittshemmnisse erhöht: Da die Beitrittskosten für potenzielle Mitglieder umso höher sind, je mehr Eigeninitiative von ihnen verlangt wird und je weniger Ansprache durch andere erfolgt, wirkt sich die immer geringere Zahl von Parteimitgliedern, die durch lokale Präsenz im politischen und vorpolitischen Raum Ansprechpartner für potenzielle Mitglieder bilden können, beitrittshemmend aus. Zur Erklärung der Mitgliederentwicklung in Ostdeutschland lässt sich eine Reihe zusätzlicher Faktoren anführen. Auch wenn man berücksichtigt, dass die Mitgliederdaten der neuen Bundesländer in der unmittelbaren Nachwendezeit von zuweilen fragwürdiger Qualität waren, sodass ein Teil des Mitgliederrückgangs in den ersten Jahren auf anfangs überhöhte Bestandsdaten und nachfolgende Karteibereinigungen zurückzuführen sein dürfte, lässt sich nicht bestreiten, dass der Mitgliederrückgang vor allem in den ersten Jahren nach der Vereinigung im Osten Deutschlands weit dramatischer ausfiel und die Mitgliedersituation der Parteien weit schlechter ist als im Westen. Dies liegt zunächst an den gesellschaftlichen Voraussetzungen: In der ehemaligen DDR konnte die traditionelle Milieubindung der Arbeiterschaft nicht überdauern, da eine klare Abgrenzung zu anderen Werktätigen fehlte und die freie Interessenartikulation und -repräsentation durch Gewerkschaften unterdrückt wurde, so dass die SPD in den neuen Bundesländern große Probleme hatte, die Arbeiterschaft für sich zu rekrutieren, was noch dadurch erschwert wurde, dass die Gründergeneration der Ost-SPD aus anderen gesellschaftlichen Schichten stammt. Für die CDU gilt, dass ihre Mitgliedschaft eine eher protestantisch geprägte konfessionelle Komponente aufweist, da in Ostdeutschland die Zugehörigkeit zu einer Konfession eher die Ausnahme darstellt, die Kirchenzugehörigkeit als solche schon eine starke religiöse Bindung anzeigt und der Katholikenanteil und damit die traditionelle Kerngruppe, für die normative, wertbezogene und politische Anreize zum CDU-Beitritt zu erwarten sind, sehr klein ist. Zudem bildeten sich die sozialen Gruppen der Selbstständigen, Beamten und Freiberufler, aus denen sich die Mitgliedschaft der CDU und auch der FDP traditionell zum Teil rekrutiert, in den neuen Bundesländern erst allmählich heraus. Weitere Faktoren lassen sich aus den spezifischen politischen Hinterlassenschaften des DDR-Systems und den Folgeproblemen des Transformationsprozesses ableiten42. Die verbreitet zu beobachtende Parteimüdigkeit bzw. -aversion der ostdeutschen Bürger und ihre Flucht ins Private wird erklärbar, wenn man sie vor allem als Reaktion auf die Entlastung von einer Art ‚Zwangspolitisierung’ versteht, die durch eine spezifische Kombination von durch das DDR-System gesetzten extrem starken Beitrittsanreizen normativer und materieller Art bewirkt wurde: Die DDR-Bürger sahen sich einer wirksamen sozialen Norm ausgesetzt, ihrer Loyalität zum Staat durch die Mitgliedschaft in der SED oder zumindest in einer der Blockparteien Ausdruck zu verleihen und eine solche Mitgliedschaft war in den unterschiedlichsten Lebensbereichen mit Vorteilen verbunden bzw. eine Nichtmitgliedschaft brachte Nachteile mit sich. Mit der Systemtransformation und der Wiedervereinigung fielen diese Anreize zum Beitritt bzw. zum Verbleib in den Parteien weg. Dies führte zu dramati42

Vgl. hierzu z.B. Niedermayer 1996 sowie Tiemann 1993 und Schmidt 1997.

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schen Mitgliederverlusten der SED-Nachfolgepartei PDS, betraf aber auch die anderen Parteien. Für Dittberner (2005: 198) z.B. geht der „starke Mitgliederverlust der FDP nach 1990 … besonders darauf zurück, dass für die übernommenen Mitglieder der Blockparteien die Motivation für eine Mitgliedschaft mit dem Zusammenbruch der DDR fortgefallen war. Die ehemaligen ‚Intelligenzler‘ und Selbstständigen brauchten das gesellschaftliche Engagement außerhalb aber dennoch im Dunstkreis der SED nicht mehr, um ihre Existenz abzusichern“. Hinzu kommt vor allem in den ersten Jahren nach der Vereinigung die Präokkupation der Bürger durch die persönlichen und beruflichen Folgen der ökonomischen und sozialen Umwälzungen, d.h. es bestanden unpolitische Handlungsalternativen zu einem Parteibeitritt, die mit deutlich größeren Handlungsanreizen verbunden waren. Mit anderen Worten: Man hatte Wichtigeres zu tun als sich parteipolitisch zu engagieren. Zudem waren auch die Parteien selbst am Bestehen von Beitritts- bzw. Bleibehemmnissen nicht unschuldig. Vor allem in den Anfangsjahren schufen bei CDU und FDP zuweilen heftige innerparteiliche Auseinandersetzungen zwischen ‚Blockflöten’ und ‚Erneuerern’ ein sowohl für die Mitgliederrekrutierung als auch für den Verbleib von Mitgliedern hinderliches Klima, während bei den von Blockparteien-Vergangenheitsproblemen unbelasteten Organisationseinheiten der SPD und der Grünen oftmals Vorbehalte der Gründergeneration gegenüber der Aufnahme neuer Mitglieder und ein viele potenzielle Mitglieder eher abschreckender moralischer Rigorismus herrschten. Die ostdeutsche SPD verfolgte vor allem einen strikten Abgrenzungskurs gegenüber ehemaligen SED-Mitgliedern, obwohl einige davon aus heutiger Sicht vieler führender Sozialdemokraten genauso gut auch bei der SPD aufgehoben gewesen wären43. Nicht zuletzt tragen auch die sich durch den dramatischen Mitgliederrückgang bei der PDS, der CDU und der FDP deutlich verschlechternden bzw. bei der SPD und den Grünen von Anfang an schlechten organisatorischen Bedingungen, vor allem in Form des Verschwindens bzw. Nichtbestehens lokaler Organisationseinheiten, zu den Rekrutierungsproblemen der Parteien im Osten Deutschlands bei, weil durch das Fehlen von lokalen Ansprechpartnern und das damit geforderte hohe Maß an Eigeninitiative der Beitrittsaufwand für potenzielle Mitglieder relativ hoch ist. Neben diesen allgemeinen Bedingungsfaktoren, die den Rückgang der Rekrutierungsfähigkeit des gesamten Parteiensystems erklären helfen, gibt es natürlich noch eine ganze Reihe von parteispezifischen Faktoren, die den allgemeinen Trend bei bestimmten Parteien verschärfen oder auch abmildern. Diese Gründe alle im Einzelnen zu erläutern, würde den Rahmen des Beitrags sprengen. Es sei daher nur exemplarisch auf einige wesentliche Erklärungsfaktoren eingegangen. Das Ende der polarisierenden, beitrittsmobilisierenden politischen „Überhitzungssituation“ (vgl. hierzu Wiesendahl 2002) kam für die SPD, als Mitte der Siebzigerjahre „die Enttäuschung über vertagte Reformen … die Mitgliederzahlen wieder absinken“ ließen (Heimann 1986: 2173). Drei Jahrzehnte später sorgte die durch die Agenda 2010 symbolisierte Positionsveränderung der SPD im Sozialstaatskonflikt für den stärksten Mitgliederrückgang seit dem Ende der Vierzigerjahre44. Bei der CDU/CSU, die Anfangs der Siebzigerjahre noch die verschreckte konservative Aktivbürgerschaft um sich scharen konnte, nahmen die politischen und wertbezogenen Beitrittsanreize ab als der Machtwechsel 1976 43

So betonte z.B. der kurzzeitige SPD-Vorsitzende Matthias Platzeck: „Ich hätte mir gewünscht, dass wir Anfang der 90er für genau diese Menschen offener gewesen wären“ (Berliner Morgenpost v. 22.9.2007). 44 Die SPD verlor 2003 über sechs und 2004 fast sieben Prozent ihrer Mitglieder.

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nicht erreicht wurde und reduzierten sich noch einmal deutlich, als die mit dem Regierungsantritt Helmut Kohls 1982/83 „erhoffte geistig-moralische Wende“ ausblieb (Wiesendahl 2006b: 85) und seither konnte sie, von dem Mitgliederzuwachs durch die Wiedervereinigung abgesehen, nur noch in einem einzigen Jahr – 1999 – einen Mitgliederzuwachs verbuchen. Die vergleichsweise moderaten Mitgliederverluste der CSU werden auf ihre tiefe politisch-kulturelle „Verwurzelung in der regionalen Identität“ Bayerns (Kießling 1999: 71), ihre engen „Vernetzungen mit dem vorpolitischen Raum“ durch „Netzwerke mit nahezu allen gesellschaftlich relevanten Gruppen“ und ihre Monopolstellung sowohl hinsichtlich politischer Karrierewege als auch hinsichtlich der Durchsetzung politischer Ziele zurückgeführt (Kießling 2004: 74f), sodass relativ starke Beitrittsanreize aller Anreizarten vorhanden sind. Auch hier deutet sich, mit dem Verlust der alleinigen Regierungsmacht bei der Landtagswahl 2008, jedoch ein Wandel an. Die FDP stürzte 1982 durch den Bruch der sozialliberalen Koalition und den erneuten Wechsel zur Koalition mit der CDU/CSU „in die bis dahin schwerste innerparteiliche Zerreißprobe“ (Vorländer 1992: 285), die die Partei allein in diesem Jahr ein Siebtel ihrer Mitgliedschaft kostete. Die Grünen kamen trotz phasenweiser positiver Entwicklung letztendlich „nie über den Status einer Partei mit schwacher Mitgliederbasis hinaus, weil sich das ihnen zugewandte Bewegungsumfeld nie für den Gedanken an ein festes grünes Parteibuch erwärmen konnte“ (Wiesendahl 2006b: 85). Die PDS wurde als Nachfolgerin der DDR-Staatspartei SED nach der Vereinigung von der genannten nachtotalitären Flucht aus dem parteipolitischen Engagement am stärksten getroffen – sie verlor in den ersten beiden Jahren schon fast die Hälfte ihrer Mitglieder – und konnte erst 2007 durch die Vereinigung mit der WASG wieder einen Mitgliederzuwachs verzeichnen.

5.

Die sozialstrukturelle Zusammensetzung der Parteimitgliedschaften

Die Veränderungen im Mitgliederbestand der Parteien über die Zeit hinweg gehen einher mit Veränderungen der sozialstrukturellen Zusammensetzung der Parteimitgliedschaften. Die interessanteste Frage, die sich bei dem Versuch der Erklärung dieses Wandels stellt, ist die Frage nach dem relativen Erklärungsgehalt der Ressourcen- und Konfliktlinientheorie, oder anders formuliert: Setzen sich die Parteimitgliedschaften im Zeitablauf zunehmend aus den gleichen ressourcenstarken Bevölkerungsgruppen zusammen, sodass zwischen den Parteien zum einen Nivellierungsprozesse stattfinden und zum anderen diese ressourcenstarken Bevölkerungsgruppen in allen Parteien überrepräsentiert sind, oder bleiben die Parteien in der Zusammensetzung ihrer Mitgliedschaften ihren traditionellen, durch die historischen Konfliktlinien bestimmten sozialen Trägergruppen verhaftet? Leider können die Veränderungen der sozialstrukturellen Zusammensetzung der Parteimitgliedschaften empirisch bei weitem nicht so gut nachvollzogen werden wie die Bestandsentwicklung, da die Datenlage in vielen Bereichen unbefriedigend ist. Die Mitgliederkarteien der Parteien als zentrale Quellen für längerfristige Entwicklungen liefern, neben ihren schon im Abschnitt 3 genannten Beschränkungen, einigermaßen verlässliche Daten nur für die wenigen sozialstrukturellen Variabeln, die sich im Zeitablauf nicht verändern, da die Daten beim Eintritt des Mitglieds erhoben und nicht mehr aktualisiert werden45. 45

Eine Aktualisierung durch regelmäßige Mitgliederbefragungen würde nur bei sehr hohem Ressourcenaufwand zu einigermaßen validen Daten führen und wird daher von den Parteien nicht durchgeführt.

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Sonstige Aufzeichnungen oder Sondererhebungen der Parteien, die in der Literatur dokumentiert sind, gibt es wenige. Daneben existieren an alle relevanten Parteien umfassenden wissenschaftlichen Untersuchungen nur eine Studie mit Parteimitgliederauswertungen aus allgemeinen Bevölkerungsumfragen und eine Mitgliederbefragung sowie einige wenige Studien, die sich auf jeweils eine einzige Partei konzentrieren. Bei der Erklärung der Sozialstruktur der Parteimitgliedschaften durch die Hypothesen zum Einfluss von sozialstrukturellen Merkmalen eines Akteurs auf seine Ressourcenausstattung und seine Prädispositionen ergibt sich zudem ein prinzipielles Problem: Ressourcen und Prädispositionen dienen – vermittelt über die Beitrittsanreize und Beitrittshemmnisse – zur Erklärung der Beitrittsentscheidung. Die Parteimitgliedschaft einer Partei zu einem bestimmten Zeitpunkt ist jedoch eine Aggregatgröße, die sozusagen das ‚geronnene’ Ergebnis von Beitrittsentscheidungen wiedergibt, die zu ganz verschiedenen, überwiegend weit zurückliegenden Zeitpunkten getroffen wurden. Da sich die meisten Hypothesen auf einen Vergleich von Parteimitgliedern und Gesamtbevölkerung beziehen, also die überbzw. unterproportionale Repräsentation bestimmter Bevölkerungsgruppen in den Parteimitgliedschaften thematisieren, müsste man die Merkmale zum jeweiligen Beitrittszeitpunkt miteinander in Beziehung setzen, also für alle gegebenen Beitrittsjahre einzeln die Repräsentation der Gruppen ermitteln und gewichtet zur Gesamtmitgliedschaft aggregieren, was mit einem unvertretbaren Aufwand verbunden wäre. Die Hypothesen zum Einfluss sozialstruktureller Merkmale der Akteure auf die Zusammensetzung der Aggregatgröße ‚Parteimitgliedschaft’ können daher nur näherungsweise überprüft werden46. Für die politischen Schlussfolgerungen, die aus der zu bestimmten Zeiten bestehenden Unter- oder Überrepräsentation sozialstruktureller Gruppen in den Parteimitgliedschaften gezogen werden können, ist das geschilderte Problem allerdings irrelevant. Will man die Thesen zur Über- bzw. Unterrepräsentation von Personen mit einer bestimmten beruflichen Stellung in den Parteimitgliedschaften zu einem bestimmten Zeitpunkt durch den Vergleich ihres Anteils in der Mitgliedschaft und der Bevölkerung empirisch überprüfen, so steht man vor dem Problem, dass sich zum einen die berufliche Stellung der Beigetretenen seit ihrem Parteibeitritt verändert haben kann und dass sich zum anderen die Berufsstruktur der Bevölkerung im Zeitablauf deutlich geändert hat. Verwendet man Mitgliederbefragungen und vergleicht die berufliche Stellung der Parteimitglieder zum Erhebungszeitpunkt der Umfrage mit dem Bevölkerungsanteil, dann lassen sich Aussagen über die Unter- bzw. Überrepräsentation bestimmter Berufsgruppen im Vergleich zur Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt treffen. Um abschätzen zu können, wie diese Berufsgruppen zum jeweiligen Beitrittszeitpunkt der Mitglieder repräsentiert waren, müssen aber zusätzliche Annahmen getroffen werden. Auch ein Vergleich der die berufliche Stellung der Mitglieder zum Zeitpunkt des Parteibeitritts wiedergebenden Daten aus den Mitgliederkarteien mit Bevölkerungsdaten zu einem bestimmten Zeitpunkt löst das Problem nicht, weil die Bevölkerungsdaten nicht mit dem Beitrittszeitpunkt synchronisiert werden können. Da die – wenigen – verfügbaren Daten aber eine relativ eindeutige Sprache sprechen, ist dieses Problem empirisch nicht wirklich gravierend. In der Frühphase der Bundesrepu46

Exakt überprüfbar sind nur Hypothesen, die sich auf Merkmale beziehen, die sich im Zeitablauf weder bei den Beitretenden noch in der Zusammensetzung der Gesamtbevölkerung ändern. Dies trifft nur für das Geschlecht annähernd zu. Auch die Zusammensetzung der Gesamtbevölkerung nach Geschlecht hat sich vor allem durch die Auswirkungen der Weltkriege im Vergleich der Nachkriegszeit mit heute jedoch leicht verändert: 1950 betrug der Frauenanteil über 53 Prozent, heute beträgt er 51 Prozent.

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blik waren die Parteien, wie Tabelle 7 zeigt, in der Sozialstruktur ihrer Mitgliedschaft gemäß der Konfliktlinientheorie noch eindeutig ihren traditionellen sozialen Trägergruppen verhaftet: So „war auch nach…1945 die gewerkschaftlich organisierte Industriearbeiterschaft die wesentliche soziale Basis der SPD“ (Heimann 1986: 2180). Die nachfolgende ideologisch-programmatische Öffnung der Partei gegenüber neuen Bevölkerungsschichten (vgl. Abschnitt 4) schlug sich auch in der Mitgliedschaft nieder: „Mehr als es die sozialstrukturellen Veränderungen in der erwerbstätigen Bevölkerung erwarten ließen, gewann die SPD seit Mitte der sechziger Jahre neue Mitglieder vor allem aus der Schicht der Angestellten und Beamten“ (ebd.). Schon Mitte der Siebzigerjahre waren die Arbeiter in der SPD im Vergleich zur Bevölkerung unterrepräsentiert, allerdings traf dies für die anderen Parteien in noch deutlich stärkerem Maße zu. In der Union wurde die Dominanz der Selbstständigen zugunsten der neuen Mittelschichten, insbesondere der Beamten, abgelöst, sie blieben aber – wie auch in der FDP – deutlich überrepräsentiert. Tabelle 7: Erwerbstätige nach beruflicher Stellung: Parteimitglieder und Bevölkerung 1956/57 – 1977 (Angaben in Prozent) Union 56/57 11

SPD 56/57 66

Bev. 1957 51

CDU CDU SPD FDP Bev. 1971 1977 1977 1977 1977 Arbeiter 14 12 33 7 43 Angestellte 29 35 41 44 35 44 23 25 Beamte 21 19 20 21 9 Selbstständ. 44 11 24 36 35 7 28 13 Quellen: eigene Berechnungen; Ausgangsdaten: 1956/57: Hartenstein/Liepelt 1962: 48; CDU 1971: Gluchowski/ Veen 1979: 329; CDU 1977: Falke 1982: 66; SPD 1977: Kommunikationsstudie der SPD 1977 (kumulierte Daten, Tabellenband 1: 26); FDP 1977: Buse 1977: 4, Bevölkerung 1977: Mikrozensusdaten, vom Statistischen Bundesamt zur Verfügung gestellt.

Zwei Jahrzehnte später zeigen sich einerseits zwischen den Parteien immer noch Unterschiede, die sich aus ihrer traditionellen Milieuherkunft erklären lassen, andererseits sind in allen Parteien ressourcenschwache Gruppen (Arbeiter) deutlich unterrepräsentiert und ressourcenstarke Gruppen (Beamte/Öffentlicher Dienst) deutlich überrepräsentiert (vgl. Tabelle 8). Dies gilt nicht nur für die traditionellen Parteien, sondern auch für die Grünen, bei denen der Öffentliche Dienst am stärksten dominiert, und für die PDS. Im Wandel der Berufsstruktur der Parteimitgliedschaften hat sich somit nicht einfach der allgemeine sozioökonomische Wandel nachvollzogen, der zu einem deutlichen Abschmelzen der traditionellen Trägergruppen geführt hat47. Die Prägung durch die traditionellen Allianzen lässt sich noch durchaus erkennen, sodass zwar von Nivellierungstendenzen zwischen den Parteien, nicht jedoch von einer Einebnung der Unterschiede gesprochen werden kann. Allerdings – und das ist das zentrale Ergebnis – haben sich im Einklang mit der Ressourcentheorie in allen Parteien ohne Ausnahme die ressourcenstarken Berufsgruppen durchgesetzt und die traditionell ressourcenschwache Gruppe der Arbeiter ist in allen Parteien mehr oder minder deutlich unterrepräsentiert.

47

Die Arbeiter auf der einen und die Selbstständigen auf der anderen Seite stellten 1957 drei Viertel der Erwerbstätigen, 2007 nur noch gut zwei Fünftel.

Der Wandel des parteipolitischen Engagements der Bürger

119

Tabelle 8: Erwerbstätige nach beruflicher Stellung: Parteimitglieder und Bevölkerung 1998 (Angaben in Prozent) CDU SPD CSU FDP Arbeiter 6 15 12 4 Angestellte (Wirtschaft) 28 29 25 27 Beamte/Öffentlicher Dienst 34 44 33 32 Selbstständige/freie Berufe/Landwirte 32 12 30 37 Quelle: eigene Berechnungen; Ausgangsdaten: Heinrich/Lübker/Biehl 2002: 12.

Grüne 5 23 50 22

PDS 19 33 29 19

Bev. 31 44 13 11

Die zweite aus der Konfliktlinientheorie abgeleitete Hypothese bezieht sich auf die Unionsparteien und geht von einer im 19. Jahrhundert durch den Konfessionskonflikt etablierten und bis heute nachwirkenden Verhaftung im katholischen Milieu aus, obwohl beide Parteien nach dem Zweiten Weltkrieg im Gegensatz zur katholischen Zentrumspartei des Kaiserreichs und der Weimarer Republik als konfessionsübergreifende Parteien mit dem Anspruch gegründet wurden, die christlich orientierten Wähler beider Konfessionen anzusprechen. Abbildung 9 zeigt die Entwicklung der Anteile der Katholiken und Protestanten an der Mitgliedschaft von CDU und CSU seit 1947. Unter den Mitgliedern der CSU ist der Anteil der Katholiken bis zur Wiedervereinigung im Zeitablauf gesunken und der Anteil der Protestanten gestiegen48, nach 1990 sind beide Anteile leicht gesunken. Unter den CDUMitgliedern ist vor der Vereinigung der Katholikenanteil deutlich stärker gesunken und auch hier hat sich der Anteil der Protestanten erhöht. Die Vereinigung mit den Schwesterparteien der ehemaligen DDR hat den Katholikenanteil nochmals sinken und den Protestantenanteil steigen lassen. Seither sind beide Anteile nochmals leicht gesunken. Abbildung 9: Mitglieder der CDU und CSU nach Konfession 1947-2007 (%) 100 90

CSU (Katholiken)

80 70

CDU (Katholiken)

60 50 40

CDU (Protestanten)

30 20

CSU (Protestanten)

10 0 47 49 51 53 55 57 59 61 63 65 67 69 71 73 75 77 79 81 83 85 87 89 91 93 95 97 99 01 03 05 07 Quelle: Parteimitgliederdatenbank des Verfassers.

48

Es muss allerdings gesagt werden, dass die Werte von 1947 (91,3% Katholiken, 8,4% Protestanten) auf einer Mitgliederumfrage mit knapp 40% Rücklauf beruht und die nächsten Daten von 1973 sind.

120

Oskar Niedermayer

Ende 2007 waren bei den CSU-Mitgliedern über drei Viertel Katholiken und ein Sechstel Protestanten. Dagegen ist unter den CDU-Mitgliedern nach den Angaben der Mitgliederkartei die Hälfte katholisch und ein knappes Drittel evangelisch. Im Westen der Republik dominieren eindeutig die Katholiken, in den fünf neuen Bundesländern dagegen die Protestanten (vgl. Tabelle 9). Ein immer größer werdendes Problem bei der Analyse der Konfessionsstruktur vor allem der CDU bilden allerdings die Mitglieder, die über ihre Konfession keine Angaben machen. Bei den Eintritten des Jahres 2008 war dies schon bei über zwei Fünfteln der Fall. Das Problem kann auch nicht durch eine Prozentuierung nur auf die Antwortenden gelöst werden, da man dann annimmt, die Konfessionsstruktur der Nicht-Antwortenden unterscheide sich nicht von der Struktur der Antwortenden. Dass diese Annahme falsch ist, zeigen Daten aus einer Mitgliederbefragung der CDU von 2006, die im Vergleich mit den Karteidaten deutlich darauf hinweisen, dass die Konfessionslosen unter den Nichtantwortenden stark überrepräsentiert sind (vgl. Tabelle 9). Tabelle 9: Konfessionsstruktur der Mitgliedschaften von CDU und CSU 2006 (Mitgliederumfrage) und 2007 (Mitgliederkartei, Stand 31.12.; Angaben in Prozent) CDU 2006 West Ost 57 23 35 57

CDU 2007 ges. West Katholisch 50 53 Evangelisch 33 31 Sonstige Konfession 1 1 9 19 Ohne Konfession 3 3 Ohne Angaben 0 1 14 12 Quelle: 2006: Neu 2007: 13, 2007: Parteimitgliederdatenbank des Verfassers.

Ost 18 48 1 7 26

CSU 2007 77 17 6

Aus den Entwicklungen im Zeitverlauf wurde geschlossen: Die CDU kann „mittlerweile als interkonfessionelle Integrationspartei gelten. Anders sieht dies bei der CSU aus. Hier bleibt die Dominanz der katholischen Mehrheit … erhalten. Die CSU weiß sich also weiterhin fest im katholischen Milieu verankert“ (Biehl 2005: 98). Betrachtet man nur die Entwicklung der Anteile an den Parteimitgliedschaften, dann drängt sich eine solche Argumentation auf. Berücksichtigt man jedoch, dass sich der Katholikenanteil an der Gesamtbevölkerung im Zeitverlauf stark verringert hat49 und dass der Katholikenanteil in Bayern mehr als doppelt so hoch ist wie im übrigen Deutschland50, und stellt auf die Frage ab, ob und wenn ja wie stark die Katholiken in den jeweiligen Parteimitgliedschaften überrepräsentiert sind, dann ändert sich das Bild vollkommen. Abbildung 10 gibt das Ausmaß wieder, in dem die Katholiken unter den Parteimitgliedern der CDU und CSU seit 1986 im Vergleich zur Bevölkerung überrepräsentiert sind. Die Abbildung zeigt zunächst, dass auch heute noch in beiden Parteien die traditionelle Trägergruppe der Katholiken unter der Parteimitgliedschaft im Vergleich zur Bevölkerung überproportional vertreten ist und dass die Überproportionalität in der Repräsentation im Zeit49

Der Katholikenanteil an der Bevölkerung sank von 1950 bis 2007 um ein Drittel (von 45,5 Prozent auf 31 Prozent; Daten des Sekretariats der Deutschen Bischofskonferenz). 50 Im Jahr 2007 betrug der Katholikenanteil in den fünf neuen Bundesländern 4,2 Prozent, in Westdeutschland ohne Bayern 31,6 Prozent, in Deutschland ohne Bayern 26,4 Prozent und in Bayern 56,3 Prozent (Parteimitgliederdatenbank des Verfassers).

Der Wandel des parteipolitischen Engagements der Bürger

121

ablauf nicht abnimmt, sondern eher noch etwas steigt51. Vor der Vereinigung waren in der CDU etwa eineinhalbmal so viele Katholiken vertreten wie in der Bevölkerung außerhalb Bayerns und auch in der CSU waren die Katholiken leicht überrepräsentiert. Abbildung 10: Überrepräsentation von Katholiken in der CDU und CSU 1986-2007 (Proportionalitätsquotienten) 4,5 4,0 3,5 3,0 2,5

CDU (Ost)

CDU (gesamt)

CDU (West)

CSU

2,0 1,5 1,0 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 00 01 02 03 04 05 06 07 Quelle: Parteimitgliederdatenbank des Verfassers.

Mit der Vereinigung kam dann ein Gebiet hinzu, das historisch als ‚katholische Diaspora’ galt und in dem 1990 nur 5 Prozent der Bevölkerung Katholiken waren (alte Bundesrepublik 42 Prozent). Die CDU kann über den gesamten Zeitraum seit 1990 hinweg sowohl im Westen (ohne Bayern) als auch im Osten der Republik die Katholiken unter der Bevölkerung noch deutlich besser rekrutieren als es der CSU in Bayern gelingt. In der CDU sind heute fast doppelt so viele Katholiken vertreten wie in der Gesamtbevölkerung, in der CSU weniger als eineinhalbmal so viele. Ganz stark ist die Rekrutierungsfähigkeit der CDU im Osten der Republik ausgeprägt, wo sie über viermal so viele Katholiken in ihren Reihen hat wie in der Bevölkerung vertreten sind52. Die Verankerung der beiden Parteien in der traditionellen religionsgemeinschaftlichen Trägergruppe ist also auch heute noch gegeben, die Verwurzelung im katholischen Milieu wirkt immer noch deutlich nach. Dies gilt umso mehr, als eine Einbeziehung derjenigen Katholiken, die beim Parteibeitritt über ihre Konfession keine Angaben machen, in die Berechnung des Proportionalitätskoeffizienten zu einer noch größeren Überrepräsentation 51

Die Abbildung gibt das Ausmaß an Überrepräsentation anhand der Werte eines Proportionalitätsquotienten (PQ) wieder, der berechnet wird, in dem der Anteil der Katholiken unter den Parteimitgliedern durch den Anteil der Katholiken unter der Bevölkerung geteilt wird. PQ-Werte unter 1 bedeuten demnach Unterrepräsentation, bei einem Wert von genau 1 sind die Katholiken unter den Parteimitgliedern exakt mit dem selben Prozentanteil vertreten wie in der Bevölkerung, und Werte über 1 bedeuten eine Überrepräsentation der Katholiken. 52 Der Sprung von 2002 auf 2003 bei der CDU-Ost ist durch verfeinerte Erhebungsmethoden bei der Katholikenanzahl in der Gesamtbevölkerung bedingt, die die Zahl der Katholiken in den neuen Bundesländer deutlich absinken ließen. Die Zahlen ab 2003 geben das realistischere Bild wieder.

122

Oskar Niedermayer

führen würde53. Zudem haben die beiden christdemokratischen Parteien nicht nur überproportional viele Katholiken in ihren Reihen: Die katholischen Mitglieder sind ihrer Kirche auch weitaus stärker verbunden als die Katholiken in der Gesamtbevölkerung (vgl. Biehl 2005: 99f.). Die fortdauernde Verankerung in der traditionellen sozialstrukturellen Trägergruppe widerspricht in diesem Fall nicht den Hypothesen der Ressourcentheorie, da diese über die Konfession als ein die Ressourcenausstattung des Individuums beeinflussendes sozialstrukturelles Merkmal nichts aussagt. In eindrucksvoller Weise bestätigt werden die Thesen der Ressourcentheorie durch die – wenigen – verfügbaren Daten zur Bildungs- und Einkommensstruktur der Parteimitglieder. Der prognostizierte Zusammenhang zwischen formaler Bildung und Parteimitgliedschaft zeigt sich schon sehr früh: Während die SPD-Mitgliedschaft in den Fünfzigerjahren noch zu über neun Zehnteln aus Personen mit niedriger Bildung bestand und die Höhergebildeten (mit Abitur oder Studium) kaum vertreten waren, zeigen sich in den Siebzigerjahren zwar immer noch deutliche Bildungsunterschiede in den Parteimitgliedschaften, in allen Parteien ist die Gruppe der Höhergebildeten aber überrepräsentiert (vgl. Tabelle 10). Ende der Neunzigerjahre hat sich die Dominanz der Höhergebildeten noch deutlich verschärft: In der CSU-Mitgliedschaft sind fast zweieinhalbmal, in der CDU- und SPD-Mitgliedschaft etwa dreimal, in der PDS-Mitgliedschaft viermal, in der FDP-Mitgliedschaft viereinhalbmal und in der Mitgliedschaft der Grünen sogar über fünfmal so viele Höhergebildete54 vertreten wie in der Gesamtbevölkerung (vgl. Tabelle 11). Personen mit niedriger Bildung sind demgegenüber in der Mitgliedschaft aller Parteien deutlich unterrepräsentiert, wobei die Unterrepräsentation bei der FDP und den Grünen mit Abstand am größten ist. Tabelle 10: Bildungsstruktur von Parteimitgliedern und Bevölkerung 1956/57 – 1977 (Angaben in Prozent) Union SPD CDU CDU SPD FDP Bev. 56/57 56/57 1971 1977 1977 1977 1977 Hauptschule/kein/anderer Abschl. 61 91 59 46 61 25 67 Realschule 23 6 23 26 23 26 21 Abitur/Studium 16 3 19 28 15 49 13 Quellen: 1956/57: Hartenstein/Liepelt 1962: 49; CDU 1971 und Bevölkerung 1977: Gluchowski/Veen 1979: 325; CDU 1977: Falke 1982: 91; SPD 1977: Kommunikationsstudie der SPD 1977 (kumulierte Daten, Tabellenband 1: 25); FDP 1977: Kaack 1978: 66.

Tabelle 11: Bildungsstruktur von Parteimitgliedern und Bevölkerung 1998 (Angaben in Prozent) Hauptschule/ohne Abschluss Realschule Abitur/Studium Quelle: Heinrich/Lübker/Biehl 2002: 17.

53

CDU 29 24 48

SPD 40 17 44

CSU 43 21 36

FDP 15 18 67

Grüne 7 14 80

PDS 31 10 58

Bev. 53 32 15

Andererseits sind in den Karteidaten die nach dem Parteibeitritt möglicherweise erfolgten Kirchenaustritte nicht berücksichtigt, was die Werte wieder etwas nach unten korrigieren würde. 54 Dass die Grünen den höchsten Anteil an Höhergebildeten aufweisen, verwundert angesichts ihrer traditionellen Hochburgen im studentischen Milieu und in den Universitätsstädten nicht.

Der Wandel des parteipolitischen Engagements der Bürger

123

Die Überrepräsentation ressourcenstarker Gruppen in den Parteien zeigt sich auch, wenn man die Einkommensstruktur betrachtet (vgl. Tabelle 12). Tabelle 12: Einkommensstruktur von Parteimitgliedern und Bevölkerung 1994 (monatl. Haushaltsnettoeinkommen, Angaben in Prozent) Union SPD FDP Bis unter 2500 DM 14 17 17 2500 bis < 5500 DM 51 55 43 5500 DM und mehr 35 28 40 Quelle: Stöss 1996: 8; Bevölkerungsdaten aus dem Datensatz der Studie.

Grüne 17 60 23

PDS 45 50 5

Bev. 29 55 17

Ende der Neunzigerjahre waren in allen Parteien außer der PDS55 Personen mit niedrigem Einkommen unter- und Personen mit hohem Einkommen überrepräsentiert, am stärksten in der FDP. Sowohl die individuelle Ausstattung mit Ressourcen – disponible Zeit, im Beruf vorausgesetzte oder erworbene Kenntnisse und Fähigkeiten sowie die Höhe des Einkommens – als auch die durch tradierte geschlechtsspezifische Rollenorientierungen beeinflussten Prädispositionen wie das politische Interesse lassen vermuten, dass auch die Frauen zu den in Bezug auf ‚anspruchsvolle’ politische Beteiligungsformen Benachteiligten gehören und somit in den Parteien unterrepräsentiert sein müssten. Dies ist auch für alle Parteien der Fall, wie die nächsten Tabellen und Abbildungen zeigen. Der Frauenanteil an den Mitgliedschaften betrug Ende 2007 zwischen einem und zwei Fünfteln mit dem höchsten Wert bei den Grünen und der Linkspartei (vgl. Tabelle 13). Bis 2006 lag der Frauenanteil bei der PDS noch deutlich höher, die Vereinigung mit der stärker männerdominierten WASG ließ ihn von 44,4 Prozent auf 39,1 Prozent absinken (vgl. Abbildung 11). Die Unterschiede zwischen den Parteien könnten auf die positionsbezogen-materiellen und zielbezogen-politischen Anreizen zurückzuführen sein, die die strikten Quotenregelungen zur Ämterbesetzung bei der Linken, den Grünen und der SPD geschaffen haben. Allerdings wurde diese Regelung z.B. bei der SPD erst 1988 eingeführt, während der Frauenanteil an der SPD-Mitgliedschaft schon seit Anfang der Siebzigerjahre ansteigt (vgl. Abbildung 11), sodass die Quotenregelung hierfür nicht ursächlich sein kann. Plausibler ist daher, dass die zwischenparteilichen Unterschiede eher auf die generellen Unterschiede in Bezug auf die Geschlechterrollenvorstellungen zurückzuführen sind und bei den Grünen ihre Verwurzelung auch in der Frauenbewegung hinzukommt, während der sehr hohe Frauenanteil bei der ehemaligen PDS auch „ein Erbe der besonderen politischen Organisiertheit der Frauen in der DDR“ (Biehl 2005: 126) darstellt. Tabelle 13: Frauen und Männer in den Parteimitgliedschaften 2007 (Stand 31.12.; Angaben in Prozent) CDU SPD Frauen 25 31 Männer 75 69 Quelle: Parteimitgliederdatenbank des Verfassers.

55

CSU 19 81

FDP 23 77

Grüne 37 63

LINKE 39 61

Bei der Interpretation der PDS-Daten muss beachtet werden, dass deren Mitglieder 1998 ganz überwiegend aus Ostdeutschland stammten, wo das Einkommensniveau deutlich geringer war.

124

Oskar Niedermayer

Abbildung 11: Anteil weiblicher Parteimitglieder 1946-2007 (%) 50 45

LINKE

40 35

GRÜNE

30 25

SPD FDP

20

CDU

15

CSU

10 5 0

46 49 52 55 58 61 64 67 70 73 76 79 82 85 88 91 94 97 00 03 06 Quelle: Parteimitgliederdatenbank des Verfassers.

Abbildung 12: Repräsentation weiblicher Parteimitglieder 1990-2007 (PQ) 1,0 0,9 0,8 0,7 0,6 0,5 0,4 0,3 0,2 0,1

LINKE CDU

GRÜNE FDP

SPD CSU

0,0 90 91 92 93 94 95 96 97 98 Quelle: Parteimitgliederdatenbank des Verfassers.

99

00

01

02

03

04

05

06

07

Trotz der positiven zeitlichen Entwicklung gilt jedoch nach wie vor, dass die Frauen in den Mitgliedschaften aller Parteien unterrepräsentiert sind, wie die Abbildung 12 anhand der –

Der Wandel des parteipolitischen Engagements der Bürger

125

bei allen Parteien mehr oder weniger deutlich unter 1 liegenden – Werte des Proportionalitätsquotienten zeigt56. Die letzte sozialstrukturelle Variable, über die sich Hypothesen bilden lassen, ist das Alter. Hier widersprechen sich allerdings die Argumente, die zum einen auf die Ressourcenausstattung und zum anderen auf die Prädispositionen des Individuums abstellen (vgl. Abschnitt 2.4). Nach der Ressourcentheorie müssten, wenn man auf das Ausmaß an disponibler Zeit abstellt, Nichterwerbstätige, also vor allem Rentner/Pensionäre aber auch Jüngere in Schul- oder Universitätsausbildung in den Parteien überrepräsentiert sein, wenn man auf die im Beruf vermittelten Skills abstellt, sollte dies für einen Teil der mittleren, erwerbstätigen Jahrgänge zutreffen. Stellt man auf das mit dem Grad an sozialer Integration variierende Ausmaß an Betroffenheit des Akteurs von politischen Vorgängen als Prädisposition zum Beitritt ab, dann müssten Personen mittleren Alters überrepräsentiert sein. Beim Alter tritt zudem das anfangs beschriebene Problem, dass die Mitgliedschaft einer Partei zu einem bestimmten Zeitpunkt das Resultat von überwiegend zu weit zurückliegenden Zeitpunkten getroffenen Beitrittsentscheidungen wiedergibt und sich zudem die Sozialstruktur der Bevölkerung im Zeitablauf ändert, in gravierender Form zutage. Betrachtet man zunächst die heutige Altersstruktur der Parteimitglieder im zwischenparteilichen Vergleich, dann zeigt sich, dass der Anteil an Jüngeren (bis 29/30 Jahre) in allen Parteien gering ist, wobei die Grünen und die FDP einen deutlich höheren Anteil aufweisen. Dominiert werden diese beiden Parteien – ganz gravierend die Grünen – und in abgeschwächter Form auch die CSU von den mittleren Jahrgängen, während sich bei den beiden Großparteien mittlere und ältere Jahrgänge die Waage halten und bei der Linkspartei die Älteren dominieren (vgl. Tabelle 14). Die Dominanz der über 60-Jährigen war bei der PDS 2006 mit 68 Prozent noch deutlich stärker ausgeprägt. Hier hat die Vereinigung mit der WASG die Partei deutlich verjüngt (vgl. Abbildung 13). Die zeitliche Entwicklung der Altersstruktur lässt sich für SPD, CDU und CSU seit Mitte der Siebzigerjahre verfolgen. Angaben über die SPD-Mitglieder aus der Mitgliederkartei existieren seit 1974. Wenn man diesen Zeitpunkt zum Ausgangspunkt der Analyse nimmt, kommt man zu der falschen Schlussfolgerung, dass der Anteil der Jüngeren unter der SPD-Mitgliedschaft bis zum Ende der Neunzigerjahre kontinuierlich geschrumpft und der Anteil der Älteren bis heute kontinuierlich gestiegen ist, sodass die anfangs recht ‚junge’ Mitgliedschaft mit der Zeit zunehmend überalterte (vgl. die Abbildungen 13 und 14). Daten von 1950 zeigen jedoch, dass sich zu dieser Zeit „die Altersstruktur der SPD so sehr von der Alterspyramide der Gesamtbevölkerung (unterschied), dass von einer ‚Überalterung’ der Partei gesprochen wurde“ (Heimann 1986: 2184; vgl. auch Lösche/Walter 1992: 141). Noch bis Anfang der Sechzigerjahre waren die 16-30-Jährigen unter den Eintritten unterproportional vertreten. Erst danach traten vermehrt Jüngere in die Partei ein und die Altersstruktur begann sich zugunsten einer ‚Verjüngung’ der Mitgliedschaft zu verändern. Im absoluten Boomjahr 1972 waren von den 155.992 Eintritten 78.282, d.h. 51 Prozent, zwischen 16 und 30 Jahren. Damit war der Anteil dieser Altersgruppe unter den SPDEintritten doppelt so hoch wie in der Bevölkerung ab 16 Jahren. 56

Im Vergleich zu den Konfessionsdaten (vgl. Abbildung 10) konnte bei der Berechnung der Proportionalitätsquotienten hier – wie auch bei den nachfolgenden Altersstrukturdaten – der Frauenanteil an der jeweils beitrittsberechtigten und nicht der gesamten Bevölkerung berücksichtigt werden (vgl. hierzu auch Abschnitt 2.1). Der Proportionalitätsquotient gibt somit z.B. für die CDU wieder, wie stark die Frauen in der CDU-Mitgliedschaft gegenüber ihrem Anteil an der Bevölkerung ab 16 Jahren außerhalb Bayerns unterrepräsentiert sind.

126

Oskar Niedermayer

Tabelle 14: Altersstruktur der Parteimitgliedschaften 2007 (Stand 31.12.; Angaben in Prozent) 1

CDU SPD CSU FDP Grüne LINKE Jüngere 5 6 6 11 13 6 Mittleres Alter 47 48 52 54 76 38 Ältere 48 47 43 35 12 54 Jüngere: CDU und FDP: 16-29 Jahre; SPD: 14-29 Jahre; Grüne: bis 29 Jahre; CSU und LINKE: 16-30 Jahre. Mittleres Alter: CDU, FDP, SPD, Grüne: 30-59 Jahre; CSU, LINKE: 31-60 Jahre. Ältere: CDU, FDP, SPD, Grüne: 60 Jahre und älter; CSU, LINKE: 61 Jahre und älter. 1) 31.12.2006: Jüngere 4%, mittleres Alter 28%, Ältere 68%. Quelle: Parteimitgliederdatenbank des Verfassers.

Da die Mitgliederstatistik der CDU die Mitglieder vor 1984 nicht nach Alter, sondern nach Geburtsjahrgangsgruppen zusammenfasste, können die Daten nur für 1970 und 1980 umgerechnet werden und zeigen, dass die CDU zu dieser Zeit einen deutlich geringeren Anteil an Jüngeren hatte. In der FDP wuchs der Anteil der Jüngeren in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre deutlich an, was möglicherweise auf den zu dieser Zeit gemachten Versuch zurückzuführen ist, der Partei ein jugendlicheres Image zu geben (Stichwort: „Spaßpartei“). Seither stagnieren die Werte jedoch. Abbildung 13: Anteil jüngerer Parteimitglieder (bis 29/30 J.) 1970-2007 (%) 22 20 18 16

SPD

14 12

GRÜNE

CDU FDP

10 8 6

CSU

4 2

LINKE

0 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 Quelle: Parteimitgliederdatenbank des Verfassers.

90 92

94 96

98 00

02 04

06

Der Wandel des parteipolitischen Engagements der Bürger

127

Abbildung 14: Anteil älterer Parteimitglieder (ab 60/61 Jahre) 1990-2007 (%) 75 70 65 60 55 50 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0

LINKE

CSU CDU FDP SPD GRÜNE

70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 00 02 04 06 Quelle: Parteimitgliederdatenbank des Verfassers.

Für die Grünen liegen Altersstrukturdaten der Gesamtpartei erst seit 2007 vor. Frühere Daten einzelner Landesverbände legen den Schluss nahe, dass das Alter der Mitglieder Mitte der Achtzigerjahre „zu mehr als der Hälfte, teilweise zu zwei Dritteln unter 30 Jahren“ (Raschke 1993: 213) lag, während heute nur noch ein Achtel der Mitgliedschaft dieser Altersgruppe angehört. Die Partei ist somit im Zeitablauf deutlich gealtert, ist aber immer noch die Partei mit der jüngsten Mitgliedschaft. Die Verlaufsdaten zur Über- oder Unterrepräsentation der verschiedenen Altersgruppen (vgl. die Abbildungen 15 bis 17) zeigen zunächst, dass die Jüngeren in allen Parteien unterrepräsentiert sind In der jeweils beitrittsberechtigten Bevölkerung finden sich etwa viermal so viele Jüngere als in der Mitgliedschaft von SPD, CDU, CSU und der Linken57, wobei die Unterrepräsentation bei der Linken in der Vergangenheit noch weitaus drastischer war. Selbst in der Mitgliedschaft der Grünen erreicht der Anteil der Jüngeren nur zwei Drittel des Anteils in der Bevölkerung ab 14 Jahren. Allerdings ist, außer bei der FDP, im letzten Jahrzehnt keine Verstärkung der Unterrepräsentation zu beobachten.

57

So waren z.B. 21,1 Prozent der Bevölkerung Bayerns ab 16 Jahren Ende 2007 zwischen 16 und 30 Jahre alt aber nur 5,5 Prozent der CSU-Mitglieder.

128

Oskar Niedermayer

Abbildung 15: Repräsentation jüngerer Parteimitglieder 1990-2007 (PQ) 1,0 0,9

FDP

SPD

CDU

0,8

CSU

LINKE

GRÜNE

0,7 0,6 0,5 0,4 0,3 0,2 0,1 0,0 90 91 92 93 94 95 96 97 98 Quelle: Parteimitgliederdatenbank des Verfassers.

99

00

01

02

03

04

05

06

07

Abbildung 16: Repräsentation: Parteimitglieder mittleren Alters 1990-2007 (PQ) 1,6 1,5 1,4 1,3 1,2 1,1 1,0 0,9 0,8 0,7

CSU CDU

SPD LINKE

FDP GRÜNE

0,6 0,5 0,4 90 91 92 93 94 95 96 97 98 Quelle: Parteimitgliederdatenbank des Verfassers.

99

00

01

02

03

04

05

06

07

Der Wandel des parteipolitischen Engagements der Bürger

129

Abbildung 17: Repräsentation älterer Parteimitglieder 1990-2007 (PQ) 2,8 2,6 2,4

LINKE

CDU

2,2

CSU

SPD

FDP

GRÜNE

2,0 1,8 1,6 1,4 1,2 1,0 0,8 0,6 0,4 0,2

90 91 92 93 94 95 96 97 98 Quelle: Parteimitgliederdatenbank des Verfassers.

99

00

01

02

03

04

05

06

07

Die mittleren Jahrgänge waren in der ersten Hälfte der Neunzigerjahre in der SPD-, CDU, CSU- und FDP-Mitgliedschaft noch überrepräsentiert, heutzutage sind sie in etwa ihrem Bevölkerungsanteil gemäß vertreten. Bei der Linken sind sie immer noch unterrepräsentiert, obwohl hier die Vereinigung mit der WASG zu einem deutlichen Anstieg geführt hat. Deutlich überrepräsentiert sind die mittleren Jahrgänge bei den Grünen. Die Älteren waren Anfangs der Neunzigerjahre leicht überrepräsentiert, heute sie es bei der SPD, der CDU und der CSU in stärkerem Maße. In deren Mitgliedschaft sind Personen ab 60/61 Jahren etwa eineinhalbmal so stark vertreten wie in der Bevölkerung, bei der Linken ist ihr Anteil immer noch doppelt so hoch. Unter den Grünen hingegen sind die Älteren deutlich unterrepräsentiert. Aus der generellen Unterrepräsentation der Jüngeren und der Überrepräsentation der Älteren unter den Parteimitgliedern kann jedoch nicht auf die empirische Gültigkeit bestimmter Hypothesen zum Zusammenhang zwischen Alter und Parteibeitritt geschlossen werden, da der Beitritt der allermeisten Mitglieder schon mehr oder minder lange zurückliegt, sodass sie in der Zwischenzeit gealtert sind und sich zusätzlich seit ihrem Beitritt die Altersstruktur der Bevölkerung verändert hat. Eine sinnvolle Überprüfung dieser Thesen ist daher nur durch eine Betrachtung der Neumitglieder möglich, also durch einen Vergleich der Parteibeitritte mit der beitrittsberechtigten Bevölkerung eines bestimmten Jahres. Tabelle 15 zeigt die Ergebnisse für das Jahr 2007. Die Eintritte wurden klar von den mittleren Jahrgängen dominiert. Da diese Jahrgänge aber auch etwa die Hälfte der beitrittsberechtigten Bevölkerung stellen, waren sie unter den Neumitgliedern von CDU und SPD kaum bzw. nicht überrepräsentiert, wohl aber die Jüngeren, deren Anteil unter den Neumitgliedern bei der CDU 1,4 mal und bei der SPD sogar 1,8 mal so hoch war wie in der Bevölkerung. Die Älteren waren hingegen in der Neumitgliedschaft beider Parteien nur halb so stark vertreten wie in der Bevölkerung, also stark unterrepräsentiert.

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Oskar Niedermayer

Tabelle 15: Altersstruktur der Neumitglieder von CDU und SPD 2007 (Stand 31.12.; Angaben in Prozent) CDU % PQ Jüngere 29 1,4 Mittleres Alter 57 1,1 Ältere 14 0,5 Jüngere: CDU: 16-30 Jahre; SPD: 14-29 Jahre Mittleres Alter: CDU: 31-60 Jahre, SPD: 30-59 Ältere: CDU: 61 Jahre und älter, SPD: 60 Jahre und älter Quelle: Parteimitgliederdatenbank des Verfassers.

SPD % 38 51 11

PQ 1,8 1,0 0,4

Keine der Thesen zum Zusammenhang zwischen Alter und Parteibeitritt hat sich somit empirisch bewährt. Die – wenigen – Bürger und Bürgerinnen, die sich heutzutage zum Parteibeitritt entschließen, tun dies vornehmlich in jüngeren Jahren und nicht erst, wenn das Rentenalter naht.

6.

Fazit

Gemessen an ihrem jeweiligen Höchststand, haben alle Parteien im Zeitverlauf Mitglieder verloren. Auch wenn es die einzelnen Parteien sehr unterschiedlich getroffen hat, ist der Anteil an Bürgerinnen und Bürgern, den die Parteien insgesamt rekrutieren konnten, ständig gefallen und heutzutage sind nur noch 2 Prozent der Beitrittsberechtigten in einer der sechs relevanten deutschen Parteien organisiert. Viele Beobachter haben aufgrund dieser Entwicklung vorgeschlagen, aus der Not eine Tugend zu machen und den Parteien geraten, die Anstrengungen zur Rekrutierung neuer Mitglieder aufzugeben und sich zu Fraktions-, Medien-, Netzwerk- oder sonstigen neuen Parteiformen zu entwickeln. Dagegen spricht eine Reihe von Gründen: Mitglieder sind für Parteien zunächst einmal wichtig als Seismographen gesellschaftlicher Prozesse, damit die Parteien nicht das Gespür für die Bedürfnisse, Wünsche und Ängste der von ihnen angesprochenen Bevölkerungsklientel verlieren. Sind bestimmte Bevölkerungsgruppen in den Parteimitgliedschaften aller Parteien überrepräsentiert, wie dies in der Sozialstrukturanalyse für die ressourcenstarken Gruppen festgestellt wurde, so bedeutet dies zwar nicht automatisch, dass die Interessen dieser Gruppen in der Parteipolitik dominieren, aber es besteht durchaus die Gefahr, dass sich diese soziale Exklusivität in einer innerparteilichen Realität niederschlägt, die sich zu nehmend von der gesellschaftlichen Realität abkoppelt. Über die Seismographenfunktion hinaus, sind Mitglieder für die Parteien relevant als Kommunikatoren zur Alltagsvermittlung der Parteipositionen an andere Bürger, als Legitimatoren politischer Entscheidungen der Partei nach außen, als Multiplikatoren in Wahlkämpfen, die trotz der großen Bedeutung der Medien unverzichtbar sind, und schließlich auch als Stammwähler. Zudem sind sie parteiintern wichtig als Ideengeber bei der Formulierung inhaltlicher Positionen, als Rekrutierungsbasis von Führungspersönlichkeiten, als Beitragszahler und schließlich als Werber neuer Mitglieder. Daher wird eine solide Mitgliederbasis auch von allen Parteien für unverzichtbar gehalten (vgl. Jun/Niedermayer/Wiesendahl 2009).

Der Wandel des parteipolitischen Engagements der Bürger

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Gender und Politik

Immer noch in der Steinzeit? Gesellschaftliche und politische Gender-Orientierungen Bettina Westle

1.

Gleichberechtigung und Gleichstellung – noch Thema?

Auf der gesamten Welt sind Frauen heutzutage in der Öffentlichkeit, im Beruf und in der politischen Sphäre unterrepräsentiert. Die annähernde Universalität dieser in langen historischen Zeiträumen erfolgte Zurückdrängung der Frauen aus wesentlichen Lebensräumen wurde gesellschaftlich und wissenschaftlich überwiegend als genetisch verursacht und damit gerechtfertigt und unveränderlich interpretiert. Nicht nur die Tatsache der Existenz biologisch differenter Geschlechter, sondern auch ihre Verknüpfung mit unterschiedlichen Eigenschaften, Fähigkeiten, Rollen und daher mit unterschiedlichen Lebensmöglichkeiten erschien daher selbstverständlich. Das Leben ist heute „gendered“: Geschlecht erscheint als unumgängliche Kategorie, als eines der grundlegenden Merkmale, die bei der Begegnung von zwei Menschen zuerst wahrgenommen werden und mit dem sich quasi instinkthaft und habituell eine ganze Reihe weiterer Wahrnehmungen, Assoziationen und Vermutungen verknüpfen. Selbst große Denker haben sich dieser sog. Grundtatsache des Lebens nicht entzogen und je nach Temperament „das Weib“ als geistig minderbemittelt, emotional, aber auch fürsorgend, als beschützens- und begehrenswert und – in jedem Fall, dem Mann unterlegen gekennzeichnet (z.B. Aristoteles 1971: 64, 71, 102, Macchiavelli 1999: 141, 199, Hegel 171: §166, Schopenhauer und Planck, zit. in Kirchhoff 1897). Die meisten Religionen haben Deutungen dieser Art vehement unterstützt und so an der Diskriminierung der Frauen grundlegend mitgewirkt (vgl. z.B. Klinger 1994, Liebsch 2003), die in Deutschland insbesondere noch in der katholischen Kirche explizit betrieben wird. Noch heute sind derartige Vorstellungen auch nicht völlig aus der sich als seriös verstehenden Wissenschaft verschwunden (z.B. Baron-Cohen 2004). In der westlichen Welt ist die Vorstellung, dass aus dem biologischen Unterschied nicht zwangsläufig eine festgeschriebene gesellschaftliche Rollendifferenzierung folgen muss und schon gar keine solche, die die Geschlechter in eine Machthierarchie ordnet, erst mit dem Beginn der Frauenbewegungen in die Köpfe (zurück-)gekehrt. Wie bei den meisten sozialen Bewegungen hat auch die Frauenbewegung verschiedene Phasen durchlebt, innere Kämpfe und Ausdifferenzierungen gesehen (Stichworte dazu sind bspw. die Debatte um Gleichheit versus Differenz, die Diskussion um die Folgen der Trennung von privater und öffentlicher/politischer Sphäre, die Verknüpfung von weiblichen Diskriminierungserfahrungen mit denen von Rasse und Schicht, die – trotz der strukturell identischen Problemlage und der gemeinsamen Erfahrung von gesellschaftlicher Diskriminierung auch die Heterogenität der Interessen von Frauen im feministischen Denken zu Bewusstsein brachte). Kampf der Geschlechter, Gleichberechtigung, Gleichstellung – Ziele und Schlagworte aus den 1960/70ern, die schon lange ihre gesellschaftliche Virulenz verloren haben? Fast scheint es so. Jedenfalls ist es eher ruhig geworden um die Thematik der Geschlechter als

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Politikum. Manche der Ziele der Frauenbewegung sind erreicht, manche wurden fallengelassen, einige sind in die Jahre gekommen und einige haben sich verändert. Innerhalb und zwischen den verschiedenen Wellen der Frauenbewegung sind Konflikte entstanden, feministische Vorstellungen haben sich ausdifferenziert (vgl. Holland-Cunz 1988, Stoehr 1994, Gerhard 1995a, Dackweiler 1997, Mae/Lenz 1999, Becker-Schmidt/Knapp 2003, Miethe/Roth 2003, Lenz 2008). Mit Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten hat Gleichberechtigung den Gang durch die Institutionen angetreten, Gleichstellung ist in Deutschland in den Rang eines Verfassungsziels getreten und Gender-mainstreaming spielt auch in der EU-Politik eine wichtige Rolle (vgl. Berghahn 1999, Wobbe 2001, Fuhrmann 2002, Ehmsen 2008, Doblhofer/Küng 2008, Riedel 2008 und die EU Richtlinien 2000/43/EG, 2000/78/EG, 2002/73/EG und 2004/113/EG). Also alles bestens? Wohl kaum, denn nach wie vor sind Frauen im öffentlichen Leben, in der Berufswelt – inzwischen trotz gleicher oder gar besserer Schulbildung – im Durchschnitt schlechter gestellt als Männer. Nach wie vor sind Frauen stärker als Männer für den häuslichen Reproduktionsbereich zuständig oder durch die Doppelrolle von Beruf und Haushalt belastet. Nach wie vor erreichen Frauen seltener Elitepositionen. Nach wie vor sind Frauen politikdistanter als Männer und in der Politik unterrepräsentiert (z.B. Gerhard 1995b, Schaefer-Hegel 1995, Hoecker 1998, van Deth 2000, Westle 2000, 2001a, 2001b, Burns et al. 2001, Klinger 2004, Cornelißen 2005, Dressel/Wanger 2008, Notz 2008). Vor diesem Hintergrund fragten 2005 nicht nur die Medien, ob denn die Zeit reif für die erste Kanzlerkandidatin bzw. Kanzlerin ist (z.B: Gaschke 2005, Schwarzer 2005, Boomgaarden/Semetko 2007, Scholz 2007, Wagner 2007, Holtz-Bacha 2008, Jansen/ Bente/Krämer 2009). Die folgenden vier Kapitel knüpfen an diese Frage an. Das vorliegende Kapitel legt die Grundlage und hat zum Ziel, gegenwärtige Orientierungen gegenüber der „Geschlechterfrage“ in der deutschen Gesellschaft zu untersuchen. Im Zentrum der Analyse sollen dabei Vorstellungen zu Geschlechterrollen einerseits im Alltag und andererseits in der Politik stehen. Gefragt wird nach den Ausprägungen dieser Orientierungen bei beiden Geschlechtern sowie danach, welche Zusammenhänge es zwischen den beiden Objekten der Orientierung gibt. Im anschließenden Kapitel geht es um die Darstellung der beiden Kanzlerkandidaten während des Wahlkampfes in ausgewählten Printmedien und um die Frage, welche Rolle das Geschlecht der Kandidaten dabei spielte. Im dritten Kapitel dieses Teils soll die Wahrnehmung des gesellschaftlichen Meinungsklimas zu der ersten Kanzlerkandidatur einer Frau untersucht werden und die Bedeutung dieser Wahrnehmung für die Wahlentscheidung. Im vierten Kapitel wird schließlich die Rolle von allgemeinen und politischen GenderOrientierungen für die Kanzlerpräferenz und das Wahlverhalten bei der Bundestagswahl 2005 analysiert. Die folgenden Analysen werden für Frauen und Männer getrennt durchgeführt, da unterschiedliche Auffassungen zu Geschlechtsrollen und zum Thema der Gleichstellung sich in erster Linie an der Betroffenheit durch das eigene Geschlecht verankern dürften. Inwieweit dies tatsächlich der Fall ist und/oder die vermutete Trennlinie zwischen den Geschlechtern durch andere Merkmale gekreuzt oder überlagert werden, wird in zusätzlichen Analysen untersucht.

Immer noch in der Steinzeit? Gesellschaftliche und politische Gender-Orientierungen 2.

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Konzeptualisierung, Operationalisierung, empirische Struktur und Antwortverteilungen von allgemeinen Gender-Orientierungen

Einstellungen gegenüber Rollen der Geschlechter, gegenüber Gleichberechtigung und Gleichstellung im Alltag können als lebensweltliche Grundlage für spezifischere Vorstellungen zur Rolle der Geschlechter in der Politik betrachtet werden. Erwartet wird, dass sich solche Alltagsvorstellungen im Politikbereich fortsetzen bzw. dass sie auf ihn übertragen werden. Umgekehrt kann das Bewusstsein, dass Politik auch gestaltend und prägend auf die Lebensverhältnisse der Geschlechter und ihr Verhältnis zueinander einwirkt, zu einer Verknüpfung der beiden Einstellungssphären beitragen. Wie lassen sich solche Einstellungen messen? Zwar gibt es durchaus eine große Zahl an empirischen Untersuchungen zu Geschlechtsrollenvorstellungen in der Bevölkerung verschiedener Länder (z.B. Rosenkrantz et al. 1968, Bem 1974, Ashmore/Del Boca 1979, Krampen 1983, Kurosch 1990, Braun/Alwin/Scott 1994, Gille 1995, Braun 1998, Eckes 2008), jedoch ist in der Bundesrepublik bislang kein Standardinstrument zu ihrer Erfassung entwickelt worden, das auch gegenwärtig einsatzfähig wäre. Einige Instrumente fragen direkt nach der Meinung zu Gleichberechtigung oder Gleichstellung, andere versuchen diese indirekt über die Ermittlung von Rollenvorstellungen in größeren Itembatterien zu erfassen. Bei letzterem fokussieren manche lediglich auf die Rolle der Frauen im Privatleben, andere schließen die Berufswelt mit ein, nur sehr wenige Untersuchungen thematisieren auch den Aspekt der Doppelbelastung bzw. den einer Rollenbildveränderung für Männer. Allerdings finden sich vor allem in der amerikanischen, ansatzweise aber auch in der deutschen Forschung einige Versuche zur Bestimmung und Differenzierung unterschiedlicher Dimensionen von Geschlechterorientierungen bzw. sog. Sexismus. Am häufigsten wird wohl traditioneller Sexismus, d.h. Einstellungen zu traditionellen Rollenbildern erfasst, welche die Frau auf ihre Funktion als Mutter und Ehefrau reduzieren und sie als dem Mann geistig unterlegen darstellen – zumeist ohne Begründung, sehr selten mit biologischen oder gesellschaftlichen Begründungen unterfüttert. Typische Items dieser Art sind bspw. „Frauen sind für gewöhnlich nicht so clever wie Männer“, „Frauen sollten lieber ihre Männer bei ihrer Karriere unterstützen als selbst zu arbeiten“, „Wenn beide Elternteile arbeiten und ein Kind in der Schule krank wird, sollte die Schule eher die Mutter als den Vater benachrichtigen“ (vgl. z.B. Swim/Aikin/Hall/Hunter 1995a). Davon wird die Dimension des modernen Sexismus oder Neosexismus unterschieden, die primär durch die Leugnung von noch bestehenden Benachteiligungen von Frauen gekennzeichnet ist; typische Items hierzu lauten etwa „Heutzutage haben Frauen und Männer in allem dieselben Chancen“, „die Beschwerden der Frauen über Benachteiligung sind einfach übertrieben“ (z.B. Swim/Aikin/Hall/Hunter 1995b, Touga/Brown, Beaton, Joly 1995). Noch weitergehend wird in psychologischen Studien der sog. ambivalente Sexismus untersucht, der einerseits Feindlichkeit gegenüber dem anderen Geschlecht und andererseits Benevolenz als komplementäre Rechtfertigungen für die Ungleichheit der Geschlechter nutzt; typische Items für den hostilen Sexismus unterstellen Frauen, ihre Benachteiligung zu übertreiben und/ oder Männer übervorteilen zu wollen, so bspw. mit Formulierungen wie „Viele Frauen versuchen unter dem Deckmantel der Gleichberechtigung besondere Vergünstigungen zu erlangen“, „Was Feministinnen wirklich wollen, ist, dass Frauen mehr Macht bekommen als Männer“. Zentrale Merkmale des benevolenten Sexismus sind dagegen, dass Frauen besondere und bessere Eigenschaften als Männern zugeschrieben werden (Differenz),

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Männern eine Verpflichtung gegenüber Frauen aufgetragen wird (protektiver Paternalismus) und Frauen als unverzichtbar für ein erfülltes Männerleben bezeichnet werden (heterosexuelle Intimität); typische Items sind „Verglichen mit Männern haben Frauen ein besseres moralisches Empfinden“, „Frauen sollten von Männern beschützt werden“ und „Männer sind ohne Frauen unvollkommen“. Da diese psychologischen Instrumente sehr umfangreich sind, können sie in der vorliegenden Form für gewöhnlich nicht im Rahmen politikwissenschaftlicher Studien eingesetzt werden. Daher mussten auch hier einige durchaus interessante Dimensionen entfallen und die Erhebung der verbleibenden konnte nur mittels weniger Indikatoren bzw. Items erfolgen (s. Übersicht 1). Übersicht 1: Indikatoren zu allgemeinen Gender-Orientierungen

Traditionelle Rollenorientierungen sollten mit dem Item zu biologisch begründeten Rollenunterschieden und dem Item zur größeren Leistungsfähigkeit der Männer erfasst werden, wobei das erste Item als besonders „harte“ Formulierung verstanden kann. Das Item zu gleichen Berufschancen und das Item zur Benachteiligung von Männern auf dem Arbeitsmarkt zielen auf die Leugnung der Diskriminierung von Frauen als neuer Form des Sexismus, wobei das letztere Item als das extremere zu betrachten ist. Das Item zum Frauenstereotyp der Einfühlsamkeit zielt auf den Aspekt der Rechtfertigung von Geschlechterdifferenzen im benevolenten Sexismus, das Item zum Machtstreben von Frauen auf den hostilen

Immer noch in der Steinzeit? Gesellschaftliche und politische Gender-Orientierungen

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Sexismus und das letzte Item zielt als Pendant dazu auf das Bestreben zum Machterhalt durch Männer, betrifft also ebenfalls hostilen Sexismus, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen, also ausgehend von Frauen gegenüber Männern – eine Dimension, die bei den vorliegenden Instrumenten bislang überhaupt nicht thematisiert wurde. Infolge der Kargheit des Instruments, aber auch eines anderen Kontextes als des amerikanischen bzw. kanadischen, aus dem die Unterscheidungen der Dimensionen stammen, ist es besonders wichtig zu überprüfen, inwieweit die angezielten Dimensionen damit abgebildet werden oder sich ggf. im deutschen Kontext andere Einstellungsstrukturierungen zeigen. Außer dieser Itembatterie wurden zwei direkte Fragen gestellt, und zwar eine nach der Meinung zur Umsetzung der Gleichberechtigung und eine weitere nach der Meinung zur Forderung nach weiterer Rollenangleichung. Tabelle 1: Allgemeine Gender-Orientierungen Frauen Männer Mittelwerte: Biologische Männer Gleiche Männer Frauen streben verweigern 0=trifft überh. Rollensind Berufsauf Arbeitssind chancen markt beeinfühlDominanz Machtnicht zu 6=trifft unterleistungsnachteiligt samer an abgabe voll und ganz zu schiede fähiger Männer 2.43 2.51 3.37 1.84 4.21 1.87 3.49 Frauen 2.00 1.67 2.79 1.25 4.48 1.59 4.09 1205 1189 1196 1180 1180 1191 1181 N Männer X 1300 1281 1296 1276 1290 1281 1284 N Frauen Cramers V .17** .22** .17** .20** .15** .10** .19** x fehlende Werte in % variieren bei Männern zwischen 1.1 und 3.1, bei Frauen zwischen 1.7 und 3.5.; ** signifikant auf dem Niveau von p<.001. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Betrachtet man zunächst die Antwortverteilungen auf die einzelnen Items (Tab.1), so wird in allen Fällen ein klarer Unterschied zwischen den Geschlechtern deutlich: Frauen stimmen dem Item zu biologisch fundierten Rollenunterschieden und ebenso dem Item zur größeren Leistungsfähigkeit der Männer weniger zu als Männer, wobei die Ablehnung und der Unterschied entgegen der Erwartung bei dem zweiten Item etwas stärker als bei dem ersten ausfällt. Insgesamt aber zeigen beide Items zu traditionellen Rollenunterschieden nur ein geringes Ausmaß an Zustimmung. Das erste Item zur Leugnung von Frauendiskriminierung evoziert dagegen ein deutlich höheres Zustimmungsniveau bei Frauen und noch stärker bei Männern. Die Behauptung, Männer würden inzwischen auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt, erfährt jedoch überwiegend klare Ablehnung. Erheblich stärker wird dem Stereotyp der einfühlsameren Frau zugestimmt, und zwar – als positiv assoziierte Eigenschaft – von Frauen selbst nochmals deutlicher als von Männern. Die beiden Items zum hostilen Sexismus zeigen erneut sehr unterschiedliche Ablehnungs- bzw. Zustimmungsniveaus. Die Behauptung, dass Frauen Dominanz anstreben, wird von beiden Geschlechtern relativ deutlich abgelehnt, von Frauen allerdings noch stärker als von Männern, während die komplementäre Behauptung, dass Männer eine Zustimmung zu Gleichberechtigung nur vortäuschen, in Wirklichkeit aber nichts von ihrer Macht abgeben wollen, von Frauen deutliche Zustimmung erfährt, aber auch von Männern konzediert wird. Allerdings fügen sich die Items nicht ganz in die angestrebte dimensionale Struktur (Tab.2). So bilden die beiden Items zum Machtstreben von Männern und Frauen keinen gemeinsamen Faktor. Vielmehr lädt das Item zum Machtstreben der Frauen eindeutig zu-

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sammen mit den beiden Items zur traditionellen Rollenverteilung auf einem Faktor. Auf demselben Faktor laden auch die beiden Items zum neuen Sexismus, allerdings deutlich schwächer als die anderen drei Items, und nur diese beiden Items zeigen darüber hinaus auf dem zweiten Faktor negative Ladungen. Sie werden daher nachfolgend als separate Teildimension behandelt. Ebenfalls bei beiden Geschlechtern identisch wird der zweite Faktor von dem Item zum benevolenten Sexismus gegenüber Frauen und zum hostilen gegenüber Männern gebildet. Da diesen beiden Items zudem von Frauen stärker zugestimmt wird als von Männern, wird diese Dimension nachfolgend als „positive Frauendiskriminierung/neue Männerdiskriminierung“ bezeichnet. Tabelle 2: Faktorenstruktur der allgemeinen Gender-Orientierungen Varimaxrotation

Männer Faktor 1 Faktor 2 Biologisch bedingte Rollenunterschiede .76 .15 Männer sind leistungsfähiger .76 .11 Frauen streben Dominanz an .71 .08 gleiche Berufschancen .41 -.13 Männer auf Arbeitsmarkt benachteiligt .56 -.20 Frauen sind einfühlsamer -.01 .74 Männer verweigern Machtabgabe .01 .74 Eigenwert 2.15 1.18 Prozentanteil erklärter Varianz 30.7 16.9 Prozentanteil erklärter Varianz kumuliert 47.7 Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Frauen Faktor 1 Faktor 2 .60 .04 .69 .05 .68 .13 .45 -.11 .63 -.08 .03 .81 -.03 .82 1.90 1.36 27.2 19.5 46.7

Tabelle 3 zeigt die Verteilungen auf Grundlage der mit den angeführten Items gebildeten Indizes und illustriert so erneut bei beiden Geschlechtern die relativ stärkste Zustimmung bei der Männerdiskriminierung, gefolgt von der neuen Frauendiskriminierung und die schwächste bei dem traditionellen Sexismus sowie die bereits angeführten Unterschiede zwischen den Geschlechtern im Sinn einer stärkeren Zustimmung zu sexistischen Vorstellungen, wenn das andere Geschlecht davon negativ betroffen ist. Der Befund, dass mit der Offensichtlichkeit „politisch unkorrekter“ Antworten die Zustimmungsrate bei beiden Geschlechtern erheblich sinkt bzw. umgekehrt größer ist, wenn sexistische Vorstellungen eher verdeckt formuliert werden, dürfte ferner darauf hindeuten, dass das Niveau auch traditionalistischer Gender-Überzeugungen in Befragungen dieser Art tendenziell unterschätzt wird. Erwartungsgemäß äußert zwar nur ein verschwindend geringer Teil der Frauen und auch nur ein recht kleiner Teil der Männer, dass für die Umsetzung des Ziels der Gleichberechtigung bereits zu viel getan worden sei. Aber immerhin knapp 62 Prozent der Männer meinen, es sei genug getan worden und nur knapp ein Drittel sieht hier noch Defizite, während über die Hälfte der Frauen die Gleichberechtigung als noch nicht hinreichend realisiert kritisiert (Tab.4).

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Tabelle 3: Indizes: Traditionelle Gender-Orientierung, neue Frauendiskriminierung und positive Frauen-/neue Männerdiskriminierung traditionelle Rollenorientieneue Frauendiskriminierung positive Frauen-/ Mittelwerte rung neue Männerdiskriminierung 1=gering bis Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen 7=stark 3.26 2.73 3.61 3.00 4.87 5.29 Cramers V .21** .24** .21** Recodiert: Prozente gering 1 29.1 39.1 16.9 34.7 3.1 3.9 2 27.4 31.6 33.4 34.3 15.7 9.1 3 21.8 20.0 20.4 15.2 12.8 8.7 4 14.8 7.5 23.5 11.8 42.1 35.8 stark 5 6.9 1.9 5.7 4.0 26.4 42.6 Recodierung bei traditioneller Frauendiskriminierung: 1-2=1, 2.33-3.33=2, 3.67-4.33=3, 4.67-5.67=4, 6-7=5; bei neuer und bei Männerdistanz: 1-2=1, 2.50-3.50=2, 4=3, 4.50-5.50=4, 6-7=5. ** signifikant auf dem Niveau von p<.001. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Tabelle 4: Haltungen zu Gleichberechtigung und Rollenangleichung xx

Umsetzung Prozente Prozente Rollenangleichung als Ziel x Gleichberechtigung Männer Frauen Männer Frauen zu viel getan 6.5 1.7 stimme nicht zu 41.4 37.2 genug getan 60.7 46.2 stimme zu 58.6 62.8 zu wenig getan 32.8 52.1 N 1169 1257 1116 1216 Cramers V .21** .04* x fehlende Werte in % bei Männern 4.1, bei Frauen 4.9 bzw. xx bei Männern 8.4, bei Frauen 8.1. ** signifikant auf dem Niveau von p<.001 bzw. * auf dem Niveau von p<.01. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Gleichberechtigung und Rollenangleichung sind zwar nicht per se identisch, mögen aber von einigen Bürgern und Bürgerinnen als dasselbe oder zumindest sehr ähnliches verstanden werden, während manche unter Rollenangleichung evtl. ein weitergehendes Ziel mutmaßen. Erwartungsgemäß ist auch hierbei die Zustimmung der Frauen größer als die der Männer. Vor dem Hintergrund der angeführten Vermutung ist es aber erstaunlich, dass mehr Männer und mehr Frauen dem Ziel der Rollenangleichung zustimmen als meinen, es sei noch nicht genug für Gleichberechtigung getan worden. Möglicherweise ist dies ein JaSage-Effekt der Formulierung (stimmen sie zu oder stimmen sie nicht zu statt lehnen Sie ab). Alternativ ist inhaltlich denkbar, dass bei dem Item zur Rollenangleichung stärker an die betroffenen Akteure und Akteurinnen selbst, bei dem Item zur Gleichberechtigung eher an Institutionen gedacht wird (Tab.4).

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Tabelle 5: Haltung zu Rollenangleichung in Abhängigkeit von der Bewertung der Umsetzung von Gleichberechtigung Prozentanteile „stimme zu“ RollenMänner angleichung als zu viel genug zu wenig getan zu viel Ziel getan getan getan stimme zu 35.8 48.6 80.2 76.6 tau c .31** ** signifikant auf dem Niveau von p<.001. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Frauen genug getan 42.9 .33**

zu wenig getan 78.9

Allerdings entsprechen die Zusammenhänge zwischen den beiden Variablen wiederum den Erwartungen. Insbesondere bei den Männern nimmt die Zustimmung zur Rollenangleichung massiv mit der Wahrnehmung von Defiziten bei der Gleichberechtigung zu. Interessant ist ferner die noch relativ große Ähnlichkeit in der Haltung zur Rollenorientierung bei den Auffassungen, es sei zu viel oder genug für die Gleichberechtigung getan worden, während bei der Auffassung, es sei zu wenig dafür getan worden, ein großer Sprung in der Befürwortung der Rollenangleichung besteht. Dies dürfte erneut darauf deuten, dass sich in der Kategorie „genug getan“ bei den Männern auch solche verbergen, die aus Gründen der sozialen Wünschbarkeit die Antwort „zu viel getan“ vermieden haben. Ein vergleichbar großer Sprung in der Haltung zur Rollenangleichung zwischen den beiden Kategorien ist auch bei den Frauen zu beobachten, während die große Zustimmung dazu bei denjenigen, die die Kategorie „zu viel getan“ gewählt haben, wenig plausibel ist. Allerdings handelt es sich dabei nur um 14 Befragte, die auch in den anderen Gender-Orientierungen relativ inkonsistente Auffassungen zeigen. Insgesamt weisen die Haltungen zur Gleichberechtigung und zur Rollenangleichung eine recht konsistente Einstellungsstruktur mit den verschiedenen Dimensionen des Sexismus auf (Tab.6 und 7). Je traditioneller die Rollenvorstellungen und je stärker die Leugnung von Frauendiskriminierung, desto häufiger sind Männer der Auffassung, es sei bereits zu viel für die Gleichberechtigung getan worden und desto seltener stimmen sie dem Ziel der Rollenangleichung zu. Dabei lassen sich erneut hohe Anteile für die Kategorie „zu viel getan“ erst bei den Extremen des Sexismus beobachten. Bei den Frauen bleibt die Kategorie „zu viel getan“ unabhängig von der Rollenorientierung und der Leugnung von Diskriminierung nur minimal besetzt; die Einstellungsunterschiede spielen sich bei ihnen zwischen der Auffassung, es sei genug getan worden und dem Wunsch nach mehr Gleichberechtigung ab, der erwartungsgemäß bei zunehmender Ablehnung traditioneller Rollenverteilung und steigender Wahrnehmung von Diskriminierung wächst. In der Frage der Gleichberechtigung bleiben dabei pro Einstellungskategorie auf den Sexismus-Dimensionen die Unterschiede zwischen Männern und Frauen weitgehend erhalten, d.h. bspw. Frauen mit stark nichttraditionellen Vorstellungen und ausgeprägter Anerkennung von Diskriminierung wünschen deutlich häufiger als Männer mit denselben Einstellungen, dass noch mehr für Gleichberechtigung getan wird. Erst in den Extremen durchkreuzen die SexismusEinstellungen die Geschlechtszugehörigkeit als Determinante der Einstellung zur Gleichberechtigung: Männer mit ausgeprägt moderner Rollenvorstellung und ohne Tendenzen zur Leugnung von Frauendiskriminierung fordern häufiger als Frauen mit den konträren, sexistischen Einstellungen, dass mehr für Gleichberechtigung getan werden solle. Anders sieht

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das bei der Variablen zur Rollenangleichung als Ziel aus, bei der Männer mit egalitären Rollenvorstellungen und klarer Wahrnehmung von Frauendiskriminierung die Forderung der Frauen nach Rollenangleichung ein- bzw. sogar überholen. Tabelle 6: Haltungen zu Gleichberechtigung in Abhängigkeit von den Dimensionen der allgemeinen Gender-Orientierungen Spaltenprozente

für Gleichberechtigung zu viel getan genug getan zu wenig getan tau c

1 gering 1.6 49.3 49.1

2

3.3 61.5 35.2

Männer 3

0.7 78.5 20.8 -.28**

4

5 1 2 stark gering traditionelle Rollenorientierung 12.3 38.8 0.6 1.5 62.6 54.8 37.5 44.4 25.1 6.4 61.9 54.2

Frauen 3

1.5 60.1 38.5 -.13**

neue Frauendiskriminierung 3.2 12.8 22.5 0.4 1.3 3.5 66.7 68.7 65.5 30.2 51.2 53.2 30.0 18.6 12.0 69.4 47.5 43.3 -.25** -.21** positive Frauen-/neue Männerdiskriminierung zu viel getan 5.3 8.1 3.7 5.0 7.7 2.1 2.2 2.6 genug getan 67.6 63.6 70.3 64.4 47.8 42.1 62.4 56.4 zu wenig getan 27.1 28.3 26.0 30.6 44.5 55.9 35.5 40.9 tau c .09** .12** ** signifikant auf dem Niveau von p<.001. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen. zu viel getan genug getan zu wenig getan tau c

1.5 43.4 55.1

3.3 59.4 37.3

4

5 stark

1.8 58.2 40.0

2.4 65.1 32.5

4.9 62.0 33.0

1.2 55.7 43.2

1.6 49.8 48.6

1.7 37.4 61.0

Tabelle 7: Haltungen zu Rollenangleichung in Abhängigkeit von den Dimensionen der allgemeinen Gender-Orientierungen Prozentanteile Rollenangleichung als Ziel stimme zu tau c

1 gering 73.8

2

63.4

Männer 3

60.5 -.29**

4

5 1 2 stark gering traditionelle Rollenorientierung 51.7 16.3 74.8 56.5

Frauen 3

51.5 -.23**

neue Frauendiskriminierung 60.4 42.2 36.4 71.6 59.2 60.4 -.27** -.12** positive Frauen-/neue Männerdiskriminierung stimme zu 33.1 54.3 52.0 58.8 64.6 55.7 57.3 53.9 tau c .14** .08** ** signifikant auf dem Niveau von p<.001. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen. stimme zu tau c

71.9

66.5

4

5 stark

53.3

44.4

53.7

61.0

63.1

66.3

Der Index zur Hostilität gegenüber Männern zeigt zu den klassischen, auf Frauen gerichteten Sexismus-Dimensionen spiegelbildliche Zusammenhänge mit den Auffassungen zur Gleichberechtigung und zur Rollenangleichung: Je stärker die Distanz gegenüber Männern, desto häufiger ist tendenziell die Kritik an mangelnder Umsetzung der Gleichberechtigung und desto häufiger die Zustimmung zum Ziel der Rollenangleichung, und zwar bei Frauen

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wie bei Männern (abgesehen von „Ausreißern“ in der äußerst gering besetzten Kategorie fehlender Männerdistanz bei den Frauen). Auch hierbei bleibt jedoch pro Einstellungskategorie der Unterschied zwischen den Geschlechtern erhalten und nur in den Extremen schwach durchkreuzt. Wenn Frauen und Männer dasselbe zu allgemeinen Geschlechterfragen sagen, meinen sie offenbar nicht notwendig auch dasselbe.

3.

Konzeptualisierung und Operationalisierung von politischen GenderOrientierungen sowie Antwortverteilungen

Unter politischen Gender-Orientierungen werden nachfolgend Einstellungen und Meinungen verstanden, die sich einerseits auf die Behandlung der Geschlechter durch die Politik richten, andererseits auf die Bedeutung der geschlechtergerechten demografischen Repräsentation und der damit verknüpften Leistungserwartungen in der Politik. Aus der vorliegenden Forschung ist bekannt, dass Frauen sich im Durchschnitt etwas weniger als Männer für Politik interessieren und auch weniger in der institutionalisierten Politik engagieren (z.B. Cornelißen 1993, Westle 2000, 2001a, 2001b, Hoecker 2005). Als ein wesentlicher Grund dafür wurde in der feministischen Forschung vermutet, dass Frauen ihre Interessen im Gegensatz zu denen der Männer durch die Politik marginalisiert sehen, sich unfair behandelt fühlen und daher besonders politikverdrossen seien (z.B. Sauer 1993). Diese Annahmen konnten jedoch in der empirischen Forschung nicht gestützt werden. Vielmehr zeigten Frauen und Männer ein vergleichbares Ausmaß an negativen Responsivitätsbewertungen und Politiker- und Parteienverdrossenheit (Westle/Schoen 2002). Übersicht 2: Indikatoren zu politischen Gender-Orientierungen: Responsivität Konzept/Kürzel Gender-Responsivität (external Efficacy)

allg. Aspekt Politiker allg. Aspekt Parteien genderspezifisch, Frauen genderspezifisch, Männer

Fragetext Bitte geben Sie zu jeder der folgenden Aussagen an, inwieweit sie zutrifft. Der Wert 0 bedeutet „trifft überhaupt nicht zu“, der Wert 6 bedeutet „trifft voll und ganz zu“. Mit den Werten dazwischen können Sie Ihre Meinung abstufen. (Items im Rahmen einer größeren Itembatterie erfasst, randomisiert) Die Politiker kümmern sich nicht darum, was einfache Leute denken. Die Parteien versuchen durchaus die Interessen der Wähler zu vertreten. Die Politik bei uns vernachlässigt die Interessen von Frauen zugunsten der Interessen von Männern. Die Politik zur Gleichberechtigung der Frauen ist schon viel zu weit getrieben worden; heute werden die Männer benachteiligt.

Die Erhebungsinstrumente, auf die sich diese Analysen stützen, waren geschlechterneutral formuliert, d.h. sie thematisierten die Responsivität der Politik im Allgemeinen und es wurde überprüft, ob Frauen kritischere Urteile als Männer fällten. Hier werden solche allgemeinen Responsivitätsurteile ergänzt durch Indikatoren, die explizit eine Benachteiligung von Frauen bzw. Männern durch die Politik thematisieren (s. Übersicht 2).

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Tabelle 8: Wahrnehmung allgemeiner und geschlechterspezifischer Responsivität der Politik Männer

Frauen

Cramers Männer Frauen Cramers V V Die Politiker kümmern sich nicht darum, was .09* Die Politik bei uns vernachlässigt die Interes.17** einfache Leute denken. sen von Frauen zugunsten der Interessen von Männern trifft überh. nicht zu 0 3.3 3.7 trifft überh. nicht zu 0 24.2 16.9 1 7.5 4.8 1 20.8 14.9 2 11.3 8.9 2 18.0 15.5 17.5 3 13.5 3 18.6 22.1 4 16.8 16.5 4 9.6 15.4 5 24.2 22.5 5 5.9 9.6 trifft voll u. ganz zu 6 23.4 26.4 trifft voll u. ganz zu 6 3.0 5.8 Mittelwert 3.99 4.10 Mittelwert 1.98 2.56 N 1196 1282 N 1162 1222 Die Parteien versuchen durchaus die Interes.04 Die Politik der Gleichberechtigung der Frauen .19** sen der Wähler zu vertreten. ist schon viel zu weit getrieben worden; heute werden Männer benachteiligt trifft überh. nicht zu 0 9.1 9.0 trifft überh. nicht zu 0 30.2 46.5 1 11.8 10.5 1 20.5 17.6 2 17.4 17.1 2 17.6 13.4 3 28.1 29.2 3 14.3 13.3 4 20.3 18.6 4 7.3 5.5 5 9.5 10.9 5 4.7 1.9 trifft voll u. ganz zu 6 3.8 4.7 trifft voll u. ganz zu 6 5.4 1.8 Mittelwert 2.83 2.89 Mittelwert 1.83 1.27 N 1183 1288 N 1174 1249 Allgemeiner Responsivitätsindex .08 Responsivitäts-Index: .26** Frauenbenachteiligung geringe Kritik 1 (0-1.5) 9.4 7.9 starke Abl. (0-1.5) 9.8 4.4 2 (2-3) 33.6 34.4 2 (2-3) 54.2 38.4 3 (3.5-4.5) 36.5 38.6 3 (3.5-4.5) 28.9 39.0 große Kritik 4 (5-6) 20.6 19.2 starke Zust. 4 (5-6) 7.0 18.2 Mittelwert 2.68 2.69 Mittelwert 2.33 2.71 N 1175 1270 N 1150 1192 ** signifikant auf dem Niveau von p<.001 bzw. * p<.01. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Auch 2005 wiederholt sich der Befund, dass Frauen und Männer die Responsivität von Politikern und Parteien gleichermaßen kritisch beurteilen (Tab.8). Der Behauptung, dass die Interessen von Frauen zugunsten der Interessen der Männer von der Politik vernachlässigt werden, stimmen jedoch Frauen signifikant häufiger zu als Männer und umgekehrt lehnen sie die konträre Behauptung, Männer würden inzwischen von der Politik benachteiligt, stärker ab. Im Vergleich zwischen dem Index zur allgemeinen Responsivität und dem zur Responsivität gegenüber Fraueninteressen schneidet die Politik bei den Frauen etwa gleichermaßen schlecht ab, während Männer der Politik eine etwas größere Geschlechterfairness als allgemeine Responsivität zusprechen. Sowohl bei Männern als auch bei Frauen hängen die Beurteilung der allgemeinen und die der geschlechterspezifischen Responsivität überhaupt nicht zusammen, worin sich andeutet, dass der Geschlechterfaktor offenbar keine

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Rolle für die allgemeine Politikbeurteilung spielt (Pearsons r zwischen beiden Dimensionen bei Männern und Frauen insignifikant). Übersicht 3: Indikatoren zu politischen Gender-Orientierungen: Geschlechtergerechte demografische Repräsentation und politische Leistungserwartungen Konzept/Kürzel Gewünschte Anzahl Frauen in pol. Führungspositionen Vertrauen in männliche oder weibliche Abgeordnete Würden Frauen bessere Politik machen Bereichsspezifische Leistungserwartungen

Fragetext Was meinen Sie: Sollte es in politischen Führungspositionen mehr Frauen, weniger Frauen oder genauso viele Frauen geben wie bisher? In wen würden Sie als Ihren politischen Vertreter im Bundestag ganz allgemein mehr Vertrauen setzen? In einen Mann, in eine Frau oder besteht da kein Unterschied? Wenn es im Bundestag deutlich mehr Frauen gäbe, würden dann die Dinge besser, schlechter oder genauso laufen? Würden Ihrer Meinung nach in den folgenden Bereichen Männer oder Frauen im Bundestag und in der Bundesregierung die bessere Politik machen, oder wäre da kein Unterschied? (randomisiert) Ankurbelung der Wirtschaft/Wirtschaftspolitik, Ausländer- und Einwanderungspolitik, Außenpolitik und diplomatische Beziehungen, Bildungspolitik, Familienpolitik, Gesundheitspolitik, Gleichstellung von Männern und Frauen, Kampf gegen Arbeitslosigkeit/Schaffung neuer Arbeitsplätze, Kampf gegen Kriminalität, Kampf gegen Terrorismus, Rentenpolitik, Sozialpolitik, Umweltpolitik/Umweltschutz, Verbraucherschutz, Verteidigungspolitik, Zusammenarbeit mit der Dritten Welt/Entwicklungshilfe

Zur Dimension der geschlechterfairen demografischen Repräsentation wurde allgemein nach der Meinung zu einer Erhöhung des Frauenanteils in politischen Führungspositionen gefragt. Auf eine etwas stärker affektiv gefärbte Einstellung zielt die Frage nach dem Vertrauen in weibliche oder männliche Abgeordnete und auf Leistungserwartungen die Frage nach einer Politikveränderung durch einen größeren Frauenanteil in der Politik. Diese allgemeine Leistungserwartung wird durch eine Fragebatterie nach politikbereichsspezifischen Erwartungen ergänzt (s. Übersicht 3). Erwartet werden auch in diesen Orientierungen klare Unterschiede zwischen Männern und Frauen, d.h. dass Frauen positivere Einstellungen gegenüber Frauen in der Politik haben als Männer. Darüber hinaus wird in Anlehnung vor allem an amerikanische Forschungsarbeiten angenommen, dass sowohl Frauen als auch Männer – sofern sie an die Geschlechter unterschiedliche Leistungserwartungen haben – noch in großem Ausmaß Geschlechterstereotype hegen, d.h. Frauen eher die sog. weichen, Männern die sog. harten Politikbereiche als Kompetenzen zugeschrieben werden (vgl. Huddy/Terkildsen 1993, Huddy 1994, Bendyna/Lake 1994, Hansen 1997, Koch 1997, Sapiro/Conover 1997, Sanbonmatsu 2002).

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Tabelle 9: Gewünschte Zahl von Frauen in der Politik, Vertrauen in männliche und weibliche Abgeordnete sowie Leistungserwartungen an Frauen in der Politik Männer Frauen Gewünschte Zahl von Frauen in pol. Führungspositionen weniger 8.0 3.3 wie bisher 62.1 51.9 mehr 29.9 44.7 N 1140 1246 Mehr Vertrauen in männlichen Abgeordneten 22.7 14.5 kein Unterschied 74.3 77.5 weiblichen Abgeordneten 3.0 8.0 N 1209 1294 Wenn im Bundestag mehr Frauen schlechtere Politik 13.2 5.4 kein Unterschied 70.1 63.8 bessere Politik 16.7 30.9 N 1052 1121 ** signifikant auf dem Niveau von p<.001. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Cramers V .17**

.15**

.20**

Die Antworten erfüllen diese Erwartungen nahezu durchgehend (Tab.9). Nur sehr geringe Anteile an Männern und noch weniger Frauen würden gerne noch weniger Frauen als bisher in politischen Führungspositionen wissen, aber mit 45 Prozent deutlich mehr Frauen als Männer mit 30 Prozent wünschen eine Verstärkung des Frauenanteils. Vor dem Hintergrund, dass Frauen bislang in politischen Führungsrollen massiv unterrepräsentiert sind, ist der Wunsch nach mehr Frauen allerdings bei weitem nicht so stark verbreitet, wie man erwarten müsste, wenn demografisch faire Repräsentation für die Bürger/innen ein bedeutsames politisches Ziel wäre. Möglicherweise wird der Frauenanteil in der Politik von der Wählerschaft auch überschätzt. Bei der relativ abstrakten Frage nach dem Vertrauen äußern rund drei Viertel unter den Wählerinnen und Wählern, es gäbe keinen Unterschied. Unter dem restlichen Viertel erhalten allerdings die männlichen Abgeordneten sowohl bei Frauen als auch noch deutlicher bei Männern einen Vertrauensvorschuss. Dieser auf eine affektive Bewertung zielender Indikator ruft damit bei Männern die vergleichsweise häufigste Bevorzugung des eigenen Geschlechts hervor. Bei Frauen sind dagegen die Erwartungen an eine Verbesserung der Politikleistungen durch mehr Frauen in der Politik mit 31 gegenüber 17 Prozent stärker ausgeprägt. Eine Verschlechterung erwarten dagegen nur rund 5 Prozent der Frauen gegenüber 13 Prozent der Männer. Dominant ist allerdings auch bei dieser Frage die Annahme, dass das Geschlecht der politischen Akteure nicht zu einem Unterschied in der Politikqualität beiträgt. Diese „Geschlechterneutralität“ ändert sich allerdings teilweise sehr deutlich, wenn man die generalisierte Ebene der Leistungserwartungen verlässt und auf konkrete Politikbereiche zu sprechen kommt (Tab.10). Hier werden zu großen Teilen traditionelle Stereotype artikuliert, und zwar von weiblichen wie von männlichen Befragten: Alles Martialische – wie z.B. Kampf gegen Terrorismus, Verteidigungspolitik und Kampf gegen Kriminalität – wird von rund der Hälfte der Befragten oder mehr den Männern als Leistungsdomäne zugeschrieben, während gleichermaßen eindeutig nur die Familienpolitik den Frauen als Leis-

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tungsbereich zuerkannt wird – eine Antwortverteilung, die an steinzeitliche Arbeitsteilung erinnert. Bei allen weiteren Bereichen sehen Mehrheiten der Wählerschaft zwar keinen Unterschied, dennoch finden sich auch dabei „weibliche“ und „männliche“ Domänen. Eher männlich konnotiert erscheinen Außenpolitik, Wirtschaft, Schaffung neuer Arbeitsplätze, Ausländer- und Einwanderungspolitik. Die Frauen erreichen dagegen einen Vorsprung in den Bereichen Gleichstellung, Gesundheitswesen, Bildungspolitik, Sozialpolitik, Entwicklungshilfe, Verbraucherschutz und Umweltpolitik. Bei fast allen diesen Bereichen (mit Ausnahme der Bildungspolitik und des Verbraucherschutzes) besteht allerdings insofern der „kleine Unterschied“, als weibliche Befragte etwas häufiger keinen Unterschied sehen oder Frauen positive Leistungserwartungen entgegenbringen als Männer dies tun, dies trifft besonders für die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik und die Gleichstellungspolitik zu. Lediglich die Rentenpolitik schreiben Männer und Frauen jeweils etwas überproportional dem eigenen Geschlecht zu.1 Tabelle 10: Politikbereichsspezifische Leistungserwartungen – einzelne Items Kampf gegen Terrorismus

Männer besser kein Unterschied Frauen besser N Verteidigungspolitik Männer besser kein Unterschied Frauen besser N Kampf gegen Kriminalität Männer besser kein Unterschied Frauen besser N Außenpolitik und Männer besser diplomatische Beziehungen kein Unterschied Frauen besser N Ankurbelung der Wirtschaft/ Männer besser Wirtschaftspolitik kein Unterschied Frauen besser N Kampf gegen Arbeitslosigkeit/ Männer besser Schaffung neuer Arbeitsplätze kein Unterschied Frauen besser N Ausländer- und Männer besser Einwanderungspolitik kein Unterschied Frauen besser N

1

Männer 60.7 37.0 2.4 1188 64.2 31.2 4.6 1194 52.7 42.8 4.5 1196 42.4 48.7 8.9 1190 49.4 47.1 3.5 1191 32.0 62.3 5.7 1191 27.4 60.5 12.1 1185

Frauen 51.4 45.1 3.6 1293 57.3 34.6 8.1 1290 44.4 50.5 5.1 1297 36.5 51.9 11.6 1292 35.8 58.4 5.8 1281 19.7 70.9 9.4 1281 20.3 67.0 12.7 1267

Cramers V .09**

.09**

.08**

.07**

.14**

.15**

.08**

Diese Antwortmuster spiegeln sich auch faktorenanalytisch recht deutlich wider (nicht tab. ausgewiesen). Die „harten“ Politikbereiche bilden den ersten Faktor, die „weichen“ Politikbereiche den zweiten Faktor und nur bei den Frauen wird ein dritter Faktor mit den Items zu Umwelt- und Verbraucherschutz sowie Rentenpolitik extrahiert. Gemeinsam erklären die Faktoren 41 bzw. 44 Prozent der Varianz.

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Fortsetzung Tab.10 Männer Männer besser 3.0 kein Unterschied 27.7 Frauen besser 69.3 N 1190 Gleichstellung von Männer besser 8.2 Männern und Frauen kein Unterschied 54.1 Frauen besser 37.8 N 1180 Gesundheitspolitik Männer besser 8.7 kein Unterschied 49.7 Frauen besser 41.6 N 1195 Bildungspolitik Männer besser 9.8 kein Unterschied 52.3 Frauen besser 37.9 N 1193 Sozialpolitik Männer besser 8.9 kein Unterschied 45.6 Frauen besser 45.5 N 1194 Zusammenarbeit mit der Männer besser 11.4 3. Welt/Entwicklungshilfe kein Unterschied 54.7 Frauen besser 33.9 N 1188 Umweltpolitik/Umweltschutz Männer besser 14.6 kein Unterschied 59.5 Frauen besser 25.9 N 1193 Verbraucherschutz Männer besser 9.0 kein Unterschied 52.0 Frauen besser 39.0 N 1185 Rentenpolitik Männer besser 23.0 kein Unterschied 63.9 Frauen besser 13.1 N 1189 ** signifikant auf dem Niveau von -.001 bzw. * -01. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen. Familienpolitik

Frauen 2.1 27.4 70.5 1300 5.2 47.7 47.8 1271 5.6 51.9 42.5 1296 5.3 57.9 36.8 1289 6.0 45.8 48.2 1288 6.3 57.0 36.7 1283 8.4 64.2 27.4 1296 7.0 54.6 38.4 1289 13.8 69.8 16.4 1286

Cramers V .03

.10**

.06*

.09**

.06*

.09**

.10**

.04

.12**

Betrachtet man die Antwortverteilungen über alle 16 Politikbereiche hinweg auf individueller Ebene (Tab.11), so zeigt sich, dass mit rund 10 Prozent nur ein sehr geringer Anteil der Bürger/innen vollständige Geschlechterneutralität wahrt, also keinen einzigen Bereich als weibliche oder männliche Domäne klassifiziert. Jeweils rund ein gutes Drittel nehmen dagegen Zuschreibungen in mittlerem (bei 6-10 Bereichen) bzw. in hohem Ausmaß (bei 1116 Bereichen) Zuschreibungen an Männer oder Frauen vor, die weiblichen Befragten geringfügig mehr als die männlichen. Dabei gestehen mit knapp einem Drittel etwas mehr Frauen als Männer mit einem Fünftel dem jeweils anderen Geschlecht in überhaupt keinem Bereich die Kompetenz zu, aber nur sehr wenige sehen nahezu alle Politikbereiche ausschließlich als Domänen des eigenen Geschlechts, Männer etwas häufiger als Frauen.

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Bettina Westle

Tabelle 11: Politikbereichsspezifische Leistungserwartungen – Zählindizes Prozente

Männer

Frauen

Alle 16 Bereiche kein Unterschied 0 11.0 1-5 27.7 6-10 30.0 11-15 15.4 16 15.9 Mittelwert unrecodiert 7.71 Alle 16 Bereiche: Männer besser 0 24.7 1-5 42.7 6-10 26.4 11-16 6.2 Mittelwert unrecodiert 4.16 Alle 16 Bereiche Frauen besser 0 21.8 1-5 49.6 6-10 26.9 11-16 1.7 Mittelwert unrecodiert 3.77 Alle 16 Bereiche Männer minus Frauen Frauen besser -16 bis -5 7.0 -4 bis .1 29.7 kein Unterschied 0 26.7 1 bis 4 24.8 Männer besser 5 bis 16 11.8 Mittelwert unrecodiert .39 ** signifikant auf dem Niveau von -.001 bzw. * -01. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Cramers V (unrec.) .11*

9.4 23.9 31.3 19.3 16.0 8.32 .16** 31.3 46.0 19.7 3.0 3.17 .09* 19.5 47.6 30.1 2.8 4.10 .21** 13.3 34.9 27.8 18.9 5.1 -.93

Bivariat hängen die bereichsspezifischen Erwartungen alle mit der allgemeinen Leistungserwartung positiv zusammen. In der multivariaten Analyse stellen sich jedoch nur einige als erklärungskräftig heraus, wobei dies bei Männern und Frauen teilweise verschiedene Bereiche sind, jedoch in beiden Fällen sowohl typische Männer- als auch Frauendomänen eine Rolle spielen. Bei den Männern sind dies vor allem Verteidigungs- und Außenpolitik, Wirtschaft, Ausländerpolitik, Bildungs- und Sozialpolitik sowie Rentenpolitik. Bei den Frauen sind es Wirtschafts- und Arbeitsplatzpolitik, Gleichstellungs-, Gesundheits-, Bildungs- und Sozialpolitik. Der begrenzte Anteil erklärter Varianz verweist darauf, dass die allgemeine Leistungserwartung an Frauen im Bundestag offenbar von weiteren als den hier erfassten Politikbereichen und evtl. auch noch von anderen Faktoren motiviert ist (Tab.12).

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Tabelle 12: Bivariate und multivariate Zusammenhänge zwischen den bereichsspezifischen und der allgemeinen politischen Leistungserwartung an Männer versus Frauen – Pearsons r und Multiple Regression bivariat Männer Frauen

multivariat Männer b beta -.04 -.04 .08 .08 .01 .02 .14 .16 .07 .07 .05 .05 .09 .10 -.02 -.02 .05 .06 .00 .00 .15 .18 .14 .16 -.01 -.01 .01 .01 .05 .06 .10 .11

Kampf gegen Terrorismus .15** .09* Verteidigungspolitik .18** .08* Kampf gegen Kriminalität .17** .12** Außenpolitik .30** .15** Ankurbelung der Wirtschaft .23** .24** Kampf gegen Arbeitslosigkeit .26** .28** Ausländer-/Einwanderungspolitik .23** .16** Familienpolitik .10** .16** Gleichstellung .22** .23** Gesundheitspolitik .16** .16** Bildungspolitik .30** .18** Sozialpolitik .29** .25** Zusammenarbeit mit 3.Welt .15** .16** Umweltpolitik/Umweltschutz .18** .13** Verbraucherschutz .16** .13** Rentenpolitik .30** .16** Index alle Items .47** .41** Konstante .36 2 adj.r .25 ** signifikant auf dem Niveau von p<.001 bzw. * p<.01. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

** ** * **

** **

**

b .01 -.00 .04 .03 .16 .16 .03 .05 .12 .08 .08 .10 .04 .00 .02 .03

Frauen beta .01 -.00 .04 .04 .16 .16 .03 .05 .13 .08 .08 .11 .04 .00 .03 .03

** **

** ** ** **

.21 .20

Während zwischen der allgemeinen Responsivitätsbeurteilung und den politischen GenderOrientierungen weder bei Männern noch bei Frauen ein systematischer Zusammenhang besteht, weist die geschlechterspezifische Responsivitätsbeurteilung deutliche, konsistente Zusammenhänge mit den anderen politischen Gender-Orientierungen auf (Tab.13): Je stärker die Befragten eine Benachteiligung von Fraueninteressen durch die gegenwärtige Politik wahrnehmen, desto häufiger hegen sie positive bereichsspezifische Leistungserwartungen an Frauen in der Politik, desto öfter erwarten sie eine bessere Politik, wenn mehr Frauen im Bundestag wären, desto seltener vertrauen sie einem Mann als Abgeordneten und desto stärker befürworten sie mehr Frauen in politischen Führungspositionen.

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Tabelle 13: Zusammenhänge zwischen der Beurteilung allgemeiner und geschlechterspezifischer Responsivität der Politik und der Leistungserwartung an sowie dem Vertrauen in Abgeordnete und der gewünschten Anzahl von Frauen in politischen Führungspositionen Männer Frauen Allgemeine Responsivität der Politik geringe große geringe Kritik Kritik Kritik 1 2 3 4 1 2 3 bereichsspezifische Leistungserwartungen Differenzindex Mittelwerte .31 .48 .16 .34 -1.01 -.72 -1.18 Leistungserwartung, wenn mehr Frauen in Bundestag – Spaltenprozente schlechter 8.6 10.8 15.5 15.2 0.0 4.7 6.9 kein Unterschied 75.2 74.8 67.6 60.0 59.4 65.9 63.7 besser 16.2 14.4 17.0 24.7 40.6 29.5 29.4 Vertrauen in Abgeordnete Mann 28.5 23.5 22.6 16.1 10.7 15.9 12.0 kein Unterschied 67.7 74.9 73.5 80.8 87.3 76.0 78.7 Frau 3.8 1.7 3.8 3.0 2.0 8.0 9.2 Gewünschte Anzahl Frauen in politischen Führungspositionen – Spaltenprozente weniger 3.7 7.7 7.1 12.7 0.0 3.9 3.3 wie bisher 62.1 66.1 61.1 50.3 49.2 51.3 51.9 mehr 34.1 26.1 31.9 37.0 50.8 44.8 44.8 Geschlechterspezifische Responsivität der Politik: Benachteiligung von Frauen AblehZustim- Ablehnung mung nung 1 2 3 4 1 2 3 bereichsspezifische Leistungserwartungen Differenzindex Mittelwerte 3.23 .46 -.30 -2.33 .54 -.13 -1.38 Leistungserwartung, wenn mehr Frauen in Bundestag – Spaltenprozente schlechter 35.3 13.0 7.1 6.0 13.4 10.5 1.8 kein Unterschied 61.8 74.2 70.8 53.2 83.6 69.3 64.5 besser 2.8 12.8 22.1 40.8 3.0 20.2 33.7 Vertrauen in Abgeordnete – Spaltenprozente Mann 42.4 22.6 16.5 7.2 21.8 18.4 9.8 kein Unterschied 56.1 75.1 79.5 87.5 77.4 75.2 82.3 Frau 1.5 2.3 4.0 5.3 0.9 6.4 7.9 Gewünschte Zahl Frauen in politischen Führungspositionen – Spaltenprozente weniger 30.1 5.8 3.3 0.7 7.8 3.2 2.4 wie bisher 63.7 68.9 55.2 35.6 85.6 63.1 47.9 mehr 6.1 25.3 41.5 63.7 6.3 33.6 49.7 Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

große Kritik 4 -1.11 6.2 56.6 37.2 18.4 75.2 6.4 3.9 49.6 46.5

Zustimmung 4 -2.71 1.4 41.8 56.8 11.9 73.7 14.5 1.4 24.1 74.6

Ebenso zeigen die generellen politischen Gender-Orientierungen untereinander deutliche positive Zusammenhänge (Tab.14). Mit einer positiven Leistungserwartung an mehr Frauen im Bundestag geht ein abnehmendes einseitiges Vertrauen in männliche Abgeordnete vor allem zugunsten eines geschlechterneutralen Vertrauens einher sowie ein deutlicher Wunsch nach mehr Frauen in politischen Führungspositionen; und mit geschlechterneutralem bzw. einseitigem Vertrauen in Frauen als Abgeordnete verknüpft sich ebenfalls ein

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Wunsch nach mehr Frauen in politischen Führungspositionen. Erneut bleibt dabei in allen Fällen pro Kategorie der als unabhängig gesetzten Variable eine Differenz zwischen Frauen und Männern erhalten. Tabelle 14: Zusammenhänge zwischen der Leistungserwartung an sowie dem Vertrauen in Abgeordnete und der gewünschten Anzahl von Frauen in politischen Führungspositionen Spaltenprozente schlechter

Männer Frauen Leistungserwartung, wenn mehr Frauen im Bundestag kein Unter- besser schlechter kein Unter- besser schied schied

Vertrauen in Abgeordnete Mann 65.7 17.1 6.5 35.3 kein Unterschied 34.3 80.8 83.8 60.0 Frau 0.0 2.2 9.7 4.8 Gewünschte Zahl Frauen in politischen Führungspositionen weniger 40.5 3.0 1.3 21.1 wie bisher 53.9 73.3 18.0 68.9 mehr 5.6 23.7 80.6 10.0 Vertrauen in Abgeordnete Mann kein UnterFrau Mann schied Gewünschte Zahl Frauen in politischen Führungspositionen weniger 27.3 2.1 0.0 14.1 wie bisher 62.8 63.0 39.5 65.0 mehr 9.9 34.9 60.5 20.9 Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

4.

16.0 80.0 4.0

6.2 76.8 17.1

2.2 67.1 30.7

1.5 15.5 83.0

kein Unterschied 1.5 52.1 46.4

Frau

1.3 23.5 75.3

Determinanten der Gender-Orientierungen

Bereits in frühen Untersuchungen kurz nach Herstellung der deutschen Einheit zeigte sich, dass egalitäre Einstellungen gegenüber Gleichberechtigung und Rollenangleichung in Ostdeutschland stärker als in Westdeutschland verbreitet waren, was zumeist auf die stärkere Integration der Frauen in das Erwerbsleben und ihre ideologische Untermauerung zurückgeführt werden konnte (z.B. Braun/Nowossadeck 1992, Nickel 1993, Trappe/Rosenfeld 2001, Westle 2001b). Diese Unterschiede halten nach wie vor an und modifizieren die Differenz zwischen den Geschlechtern. So ist die traditionelle und moderne Frauendiskriminierung am wenigsten bei Frauen im Osten, gefolgt von denen im Westen zu beobachten und am stärksten bei Männern im Westen ausgeprägt. Formen der neuen Männerdiskriminierung finden sich dagegen genau spiegelbildlich am stärksten bei Frauen im Osten, gefolgt von Frauen im Westen und werden durch Männer im Westen am stärksten abgelehnt. Zusammenhänge der Gender-Orientierungen mit dem Lebensalter sind relativ komplex. Traditionelle Frauendiskriminierung wird von Frauen und Männern in mittlerem Lebensalter (ca. 36-55) am deutlichsten abgelehnt und fällt in hohem Lebensalter (über 65) am stärksten aus, wobei allerdings durchgehend in allen Altersgruppen Männer deutlich stärker zu traditionellen Orientierungen neigen als Frauen. Bei der neuen Frauen- und der neuen Männerdiskriminierung sind für Männer keine Zusammenhänge mit dem Alter erkennbar, bei Frauen tritt erstere eher in hohem Alter auf, letztere in den mittleren Alters-

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gruppen. Für diese Muster sind sowohl Sozialisations- als auch Situationseffekte als Grund zu vermuten, denn bei mittleren Altersgruppen handelt es sich ja sowohl um die Generation, die in ihrer Jugend mit feministischen Forderungen aufgewachsen und teils selbst in der Frauenbewegung aktiv gewesen sein dürfte als auch um diejenigen, die heute am stärksten mit eventuellen Problemen der Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Familie bzw. auch mit Problemen aktiver Diskriminierung in beiden Lebenssphären konfrontiert sein dürfte. Bildung ist seit langem als Faktor bekannt, der zumeist zur Reduktion von Stereotypisierungen, Vorurteilen und dem Verharren in starren, traditionellen Vorstellungen beiträgt (z.B. Tajfel 1982, Schäfer 1988, Wagner/Zick 1995, Vogt 1997, Heyder 2003), wobei allerdings gelegentlich in Frage steht, ob es sich dabei tatsächlich immer um andere Orientierungen oder aber auch um größere Sensibilität gegenüber gesellschaftlich wünschenswerten Normvorstellungen handelt (z.B. Silver et al. 1986, Reuband 2002) oder um größere Toleranz infolge geringerer Betroffenheit (Schröder et al. 2000). Auch im vorliegenden Fall nehmen beide Formen der Frauendiskriminierung mit höherer Bildung ab, die Differenz zwischen den Geschlechtern nimmt jedoch in den höheren Bildungsstrata zu und die Zusammenhänge mit der positiven Frauendiskriminierung/neuen Männerdiskriminierung verhalten sich umgekehrt – was als Hinweis dafür interpretiert werden kann, dass auch political correctness bei der Beantwortung dieser Fragen eine Rolle gespielt haben könnte. Entgegen der Erwartung finden sich bei Katholiken nicht durchgehend die antiegalitärsten Orientierungen. Vielmehr fällt die traditionelle Frauendiskriminierung bei Konfessionslosen am geringsten aus, ist bei Protestanten und Katholiken auf vergleichbarem Niveau und am stärksten bei Angehörigen anderer Religionen, wobei die Unterschiede zwischen den Geschlechtern allerdings pro Religion wiederum erhalten bleiben. Dasselbe Muster trifft hinsichtlich der neuen Frauendiskriminierung für Männer zu, bei Frauen findet sich jedoch unter den Katholiken die stärkste Leugnung von Benachteiligungen des eigenen Geschlechts. Umgekehrt bestehen Männer diskriminierende Vorstellungen am wenigsten bei Katholiken beiden Geschlechts. Auch die Überprüfung einer Reihe weiterer demografischer Merkmale (wie Familienstand, Erwerbsstatus, Einkommen und soziale Schicht) zeigt diverse Modifikationen, jedoch ist durchgehend festzustellen, dass pro Vergleichsgruppe die unterschiedlichen Orientierungen zwischen Frauen und Männern erhalten bleiben. Die politischen Gender-Orientierungen korrespondieren deutlich und überwiegend in der erwartbaren Weise mit den allgemeinen, gesellschaftlichen Gender-Einstellungen. So fällt die Kritik an mangelnder geschlechterfairer Responsivität der Politik (Tab.15) umso stärker aus, je deutlicher die traditionelle und die neue Frauendiskriminierung abgelehnt wird und je klarer für weitere Gleichungsmaßnahmen und Rollenangleichung der Geschlechter plädiert wird, aber auch je stärker Männer diskriminierenden Vorstellungen zugestimmt wird. Diese Muster treffen für Frauen und Männer zu, jedoch bleibt pro Kategorie der allgemeinen Gender-Orientierungen der Befund erhalten, dass Frauen stärkere Kritik an der Responsivität der Politik gegenüber ihrem Geschlecht artikulieren.

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Tabelle 15: Allgemeine Gender-Orientierungen als Determinanten der Beurteilung politischer Gender-Responsivität Geschlechterunfaire politische Responsivität: Mittelwerte 1=gering bis 6=groß M F M F M F M F traditionelle neue positive Haltung zu RollenorienFrauenFrauen-/neue Gleichstellung tierung diskrimiMännerund Rollenannierung diskrimigleichung nierung gering 1 2.59 2.89 gering 1 2.68 3.03 gering 1 2.25 2.46 zu viel 1.70 2.12 2 2.47 2.70 2 2.44 2.72 2 2.22 2.73 genug + nein 2.07 2.38 3 2.33 2.66 3 2.32 2.51 3 2.45 2.67 genug +ja 2.27 2.42 groß 4 2.05 2.43 groß 4 2.06 2.33 groß 4 2.49 2.92 zu wenig + nein 2.45 2.77 zu wenig + ja 2.85 3.09 Verteilungsabhängige Recodierung der Indizes (ca. Viertelung) wie folgt: traditionelle Frauendiskriminierung: 16.7=1, 1.68-2=2, 2.01-4=3, 4.01-7=4; Leugnung von Frauendiskriminierung: 1-2=1, 2.1-3=2, 3.1-4=3, 4.1-7=4; Männerdiskriminierung: 1-4=1, 4.01-5=2, 5.1-6=3, 6.01-7=4. Bei der Kombination der Haltung zur Gleichstellung und der zur Rollenangleichung wurde wegen der geringen Häufigkeiten in der Kategorie „zu viel“ auf die Differenzierung der Haltung zur Rollenangleichung verzichtet. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Erwartungen an Leistungsveränderungen des Bundestags durch die Erhöhung des Frauenanteils im Parlament unterscheiden sich ebenfalls in Abhängigkeit von den allgemeinen, gesellschaftlichen Gender-Orientierungen (Tab.16). Zwar meinen nahezu durchgehend deutliche Mehrheiten, dass dies keinen Unterschied bewirke. Dennoch steigen bei Frauen und Männern die positiven Erwartungen mit zunehmender Ablehnung allgemeiner Frauendiskriminierung und Präferenzen für Gleichstellung und Rollenangleichung und umgekehrt sinken bei den Männern vor allem die negativen Erwartungen und bei den Frauen die Auffassung, dies bewirke keinen Unterschied. Vor allem in den Extremkategorien finden sich hier massive Abweichungen vom jeweiligen Durchschnitt der Männer bzw. Frauen. Auch wiederholt sich allerdings das Bild der Aufrechterhaltung der Niveauunterschiede zwischen den Geschlechtern pro Vergleichskategorie in den unabhängigen Variablen.

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Tabelle 16: Allgemeine Gender-Orientierungen als Determinanten der Leistungserwartung an Frauen im Bundestag Spaltenprozente Pol. Leistungen, wenn mehr Frauen im BT wären schlechter kein Unterschied besser

Männer

Frauen traditionelle Rollenorientierung gering groß gering groß (1) (2) (3) (4) (1) (2) (3) (4) 1.4 5.6 12.3 28.9 3.9 5.3 5.7 8.8 69.8 68.5 77.3 64.3 60.6 57.7 67.3 70.9 28.8 25.9 10.4 6.8 35.5 37.0 27.0 20.3 neue Frauendiskriminierung gering groß gering groß (1) (2) (3) (4) (1) (2) (3) (4) schlechter 8.9 7.1 8.8 25.3 6.1 2.5 6.3 5.6 kein Unterschied 68.0 73.6 72.4 67.0 54.7 62.6 70.3 76.6 besser 23.1 19.4 18.8 7.7 39.1 35.0 23.3 17.8 positive Frauen-/neue Männerdiskriminierung gering groß gering groß (1) (2) (3) (4) (1) (2) (3) (4) schlechter 13.1 15.6 14.7 2.3 12.2 4.3 3.9 3.0 kein Unterschied 76.1 69.7 65.8 68.8 70.5 66.1 65.2 54.0 besser 10.7 14.6 19.5 28.8 17.3 29.6 31.0 43.0 Haltung zu Gleichstellung und Rollenangleichung zu viel genug genug zu wenig zu wenig zu viel genug genug zu wenig zu wenig +nein +ja +nein +ja +nein +ja +nein +ja schlechter 43.8 17.6 11.2 8.4 4.0 3.9 9.6 5.2 5.6 3.7 kein Unterschied 49.4 75.9 72.4 67.9 64.1 80.3 80.1 69.0 61.6 47.9 besser 6.8 6.6 16.4 23.7 32.0 15.8 10.3 25.8 32.8 48.3 Recodierung der Indizes wie in Tab.15. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Auch bei dem geschlechtsspezifischen politischen Vertrauen in Abhängigkeit der allgemeinen Gender-Orientierungen (Tab. 17) bleiben durchgehend Mehrheiten für die Kategorie „kein Unterschied“ erhalten. Jedoch nehmen diese Mehrheiten deutlich zugunsten des einseitigen Vertrauens in männliche Politiker bei zunehmend frauendiskriminierenden Auffassungen ab, während einseitiges Vertrauen in weibliche Politiker jedoch nicht von der Abnahme frauendiskriminierender Vorstellungen profitiert und männerdiskriminierende Auffassungen zum Vertrauen keine eindeutigen Effekte zeigen.

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Tabelle 17: Allgemeine Gender-Orientierungen als Determinanten des Vertrauens in Politiker oder Politikerinnen Frauen traditionelle Rollenorientierung Vertrauen eher gering groß gering groß in (1) (2) (3) (4) (1) (2) (3) (4) Politiker 7.7 13.4 18.4 44.8 7.4 8.9 16.8 31.5 kein Unterschied 89.3 84.0 78.2 52.0 86.8 82.0 74.4 59.9 Politikerin 2.9 2.6 3.4 3.2 5.8 9.0 8.8 8.7 neue Frauendiskriminierung gering groß gering groß (1) (2) (3) (4) (1) (2) (3) (4) Politiker 14.1 11.2 21.5 37.6 10.8 9.7 16.4 22.0 kein Unterschied 82.3 85.9 76.3 58.6 82.9 78.6 77.7 68.4 Politikerin 3.6 2.9 2.2 3.8 6.3 11.7 5.9 9.6 positive Frauen- neue Männerdiskriminierung gering groß gering groß (1) (2) (3) (4) (1) (2) (3) (4) Politiker 22.2 23.7 21.3 20.6 17.6 11.6 13.5 14.2 kein Unterschied 75.9 74.6 74.0 74.4 79.3 81.1 76.5 76.2 Politikerin 1.9 1.7 4.7 5.0 3.2 7.4 9.9 9.7 Haltung zu Gleichstellung und Rollenangleichung zu viel genug genug zu wenig zu wenig zu viel genug genug zu wenig zu wenig +nein +ja +nein +ja +nein +ja +nein +ja Politiker 63.5 33.3 15.9 3.3 12.6 26.8 21.4 8.1 15.0 11.0 kein Unterschied 36.5 63.7 81.3 89.7 84.0 56.0 71.5 87.0 75.4 78.6 Politikerin 0.0 3.0 2.8 7.0 3.4 17.2 7.1 4.9 9.6 10.4 Recodierung der Indizes wie in Tab.15. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen. Spaltenprozente

Männer

Schließlich wird der Wunsch nach mehr Frauen in politischen Führungspositionen von Männern und Frauen umso häufiger artikuliert, je stärker die Ablehnung frauendiskriminierender Vorstellungen ist und je ausgeprägter die Präferenz für weitere Bemühungen um Gleichstellung und Rollenangleichung ausfällt, aber auch je stärker männerdiskriminierenden Statements zugestimmt wird. Die Unterschiede in Abhängigkeit von den allgemeinen Gender-Orientierungen fallen hier besonders im Vergleich der Extremkategorien erheblich aus, wenn bspw. 55% der Männer, die traditionelle Diskriminierung von Frauen ablehnen, sich für mehr Frauen in politischen Führungspositionen aussprechen, aber nur 12% derer mit frauendiskriminierenden Vorstellungen oder wenn 40% derjenigen Männer, die meinen, es bereits zuviel für Gleichberechtigung getan worden, noch weniger Frauen als bisher in politischen Führungsrollen sehen wollen, aber 59% derjenigen, die den Stand der Gleichberechtigung und Rollenangleichung für unbefriedigend halten, mehr Frauen in der Politik wünschen (Tab.18).

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Tabelle 18: Allgemeine Gender-Orientierungen als Determinanten des Wunschs nach mehr Frauen in politischen Führungsrollen Frauen traditionelle Rollenorientierung gering groß gering groß (1) (2) (3) (4) (1) (2) (3) (4) 1.8 1.5 5.8 18.1 1.5 2.6 3.9 8.2 43.4 53.2 72.9 70.3 38.4 46.4 57.2 67.0 54.8 45.3 21.2 11.7 60.1 50.9 38.9 24.8 neue Frauendiskriminierung gering groß gering groß (1) (2) (3) (4) (1) (2) (3) (4) weniger 5.8 1.2 7.1 14.8 1.8 1.5 4.3 5.4 wie bisher 48.4 58.5 65.2 68.9 41.8 47.9 60.2 64.2 mehr 45.9 40.3 27.7 16.3 56.4 50.6 35.5 30.4 positive Frauen-/neue Männerdiskriminierung gering groß gering groß (1) (2) (3) (4) (1) (2) (3) (4) weniger 8.2 10.2 7.4 1.9 3.5 2.7 2.2 4.7 wie bisher 66.9 64.4 58.4 57.8 60.8 49.6 50.2 46.5 mehr 24.9 25.4 34.2 40.3 35.6 47.7 47.6 48.8 Haltung zu Gleichstellung und Rollenangleichung zu viel genug genug zu wenig zu wenig zu viel genug genug zu wenig zu wenig +nein +ja +nein +ja +nein +ja +nein +ja weniger 40.3 9.6 6.1 6.0 0.6 8.2 2.8 5.0 3.1 2.2 wie bisher 50.1 77.3 63.1 56.6 40.4 49.1 71.3 58.9 56.9 31.7 mehr 9.6 13.0 30.8 37.5 59.0 42.7 25.9 36.1 40.0 66.1 Recodierung der Indizes wie in Tab.15. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen. Spaltenprozente Wunsch nach Frauen in pol. Führungsrollen weniger wie bisher mehr

5.

Männer

Schlussfolgerungen

Immer noch in der Steinzeit? Nicht mehr ganz, aber deutliche Restbestände zeigen Beharrungsvermögen. Zwar fällt die Zustimmung zu Vorstellungen traditioneller Frauendiskriminierung recht gering aus, die Leugnung von Frauendiskriminierung ist jedoch deutlich verbreiteter, und zwar unter Männern noch stärker als unter Frauen. Damit korrespondiert, dass große Teile der Bevölkerung – bei den Männern mehr als bei den Frauen – der Auffassung sind, es sei bereits genug für Gleichberechtigung getan worden und/oder eine weitere Rollenangleichung sei nicht wünschenswert. Bürgerinnen und Bürger, die frauendiskriminierende Vorstellungen ablehnen, sind aber nicht per se gegen stereotype Orientierungen gefeit. Vielmehr bestehen unter ihnen deutliche Tendenzen, den Spieß umzudrehen und nunmehr Vorstellungen zu vertreten, die besonders Frauen darstellen und damit zumindest implizit Männer diskriminieren. Diese Vorstellungen von Geschlechterdifferenzen nehmen – konträr zu den traditionellen Genderorientierungen – gerade bei steigender Schulbildung zu. Steinzeitlich muten auch die stereotypen Vorstellungen über typische Kompetenzbereiche von Frauen und Männern in der Politik an, wenn Frauen vor allem Familienpolitik und weitere Bereiche der „Hege und Pflege“ (wie Gesundheit, Jugend und Bildung, Soziales) und Männern die kämpferische Verteidigung aller Arten überproportional zugetraut werden. Gleichzeitig vertreten allerdings auch große Teile der Bevölkerung die Auffassung,

Immer noch in der Steinzeit? Gesellschaftliche und politische Gender-Orientierungen

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dass es keine relevanten Unterschiede in den Kompetenzen der Geschlechter in der Politik gebe. Damit, aber auch mit den traditionellen Gender-Orientierungen hängt zusammen, dass Mehrheiten keine Verstärkung des Anteils von Frauen in politischen Führungsrollen wünschen. Diese Konsequenz eines kritischen Blicks auf die Geschlechterverhältnisse wird nur von etwa 30% der Männer und 45% der Frauen gezogen. Unzufriedenheit mit der Responsivität der Politik gegenüber Interessen von Frauen steigert diesen Wunsch zwar erheblich, scheint aber im Vergleich zu anderen Themenfeldern der Politik eher unbedeutend und schlägt sich auch nicht wesentlich in den allgemeinen Responsivitätsbeurteilungen nieder. Die allgemeinen gesellschaftlichen Gender-Orientierungen bilden bei beiden Geschlechtern eine zentrale Grundlage für ihre Haltungen gegenüber Frauen in der Politik. Betroffenheit qua eigener Geschlechtszugehörigkeit bleibt aber bei den allgemeinen gesellschaftlichen Gender-Orientierungen sowie den politischen Gender-Orientierungen das wichtigste Differenzierungsmerkmal. Von einer zentralen politischen Konfliktlinie in diesen Fragen kann jedoch gegenwärtig nicht die Rede sein.

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Immer noch in der Steinzeit? Gesellschaftliche und politische Gender-Orientierungen

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Wahlkampf der Geschlechter? Inhaltsanalyse von Printmedien im Bundestagswahlkampf 2005 Wahlkampf der Geschlechter?

Bettina Westle und Ina Bieber

1.

Wer kann’s? Kan-di-dat oder kann’s der Kanz?

Im Wahlkampf 2005 formulierte der Werbetexter und Schröder-Sympathisant Manfred Bissinger den Slogan „Kan-di-dat?“ – „Der Kanz“.

Damit ist es gelungen kurz und knapp das auszudrücken, was in der Luft lag, sich aber nur wenige öffentlich zu sagen trauten: Kann eine Frau, kann Angela Merkel, das höchste exekutive Amt der Bundesrepublik ausfüllen? Das „di“ war auf Angela Merkel als Person und Vertreterin des weiblichen Geschlechts bezogen. So wurde in den Medien auch im Vorfeld der Wahlen diskutiert, ob Merkel eine andere Politik als Männer betreiben würde (Gaschke 2005), ob sie gewählt würde, weil bzw. obwohl sie eine Frau ist (Mayer 2005), wie der „Merkelfaktor“ bei den Frauen eigentlich so wirke (Roll 2005) und wie mit dem Dilemma der ersten weiblichen Kanzlerkandidatur von der „falschen“, nämlich konservativen Seite, aus feministischer Sicht umzugehen sei (Schwarzer 2005). Medien spielen für die Wahrnehmung von Politik generell und insbesondere im Vorfeld der Wahlen für die Wahlentscheidung eine wichtige Rolle, denn sie stellen den Wähler/innen wesentliche Informationen über die politischen Alternativen bereit. Infolge nachlassender Parteiidentifikation wurden in den letzten Jahrzehnten zudem kurzfristige Faktoren, wie die aktuelle Programmatik und die zur Wahl stehenden Personen, für die Wahlentscheidung, immer wichtiger (Schoen/Weins 2005, Roth/Wüst 2007). Mit Angela Merkel trat zum ersten Mal in der Bundesrepublik Deutschland eine Frau als Kanzlerkandidatin an.

Wahlkampf der Geschlechter?

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Zahlreiche Studien zeigen, dass Politikerinnen in den Medien ungünstiger dargestellt werden als Politiker (z.B. Fröhlich/Holtz-Bacha 1995, Velte 1995, Holtz-Bacha 2008). So stellt sich die Frage, ob auch die erste weibliche Kanzlerkandidatin in den Medien anders präsentiert wurde als ihr Konkurrent und welche Rolle das Geschlecht der Kandidierenden in der öffentlichen Diskussion des Wahlkampfes spielte. Einen Beitrag zur Beantwortung dieser Fragen will die vorliegende inhaltsanalytische Untersuchung von sechs Tages- und einer Wochenzeitung vom Tag nach der Nominierung Angela Merkels zur Unions-Kanzlerkandidatin bis zum 17. September 2005, dem Tag vor der Wahl, leisten. Nachfolgend werden zunächst gängige Formen der Analyse von Kandidaturen in der Politik skizziert, wobei eine Fokussierung auf den Faktor „Geschlecht“ und dessen Behandlung in Printmedien erfolgt. Nach der Darstellung der Datenbasis folgt die Analyse und Interpretation der empirischen Befunde.

2.

Politiker/innen im Fokus der Forschung

Personalisierung der Politik ist in den letzten Jahren ein zunehmend beachtetes Thema der empirischen Wahlkampf- und der Wahlverhaltensforschung geworden. Personalisierung bezeichnet dabei eine wachsende Bedeutung von Kandidaten und teilweise auch von deren politikfernen, privaten Merkmalen in Wahlkämpfen, in der medialen Berichterstattung und/oder bei der Wahlentscheidung (vgl. z.B. Wilke/Reinemann 2000, Pappi/Shikano 2001, Brettschneider 2002, Graner/Stern 2002, Rosar/Ohr 2005, Hoffmann/Raupp 2006). Nahezu allen Analysen vor der Bundestagswahl 2005 ist gemeinsam, dass männliche Kandidaten im Mittelpunkt stehen1. Ursache dafür ist die bekanntermaßen geringe Präsenz von Frauen in politischen Spitzenpositionen. Dies hat allerdings auch zu einem am männlichen Rollenbild orientierten Konzept der Analyse beigetragen. Doch in den letzten Jahrzehnten ist die Zahl der Frauen in führenden Ämtern in der Politik angestiegen (Hoecker 1998, Hoecker/Fuchs 2004, Ballington/Karam 2005) und es wird versucht dieser Veränderung auch bei den Analysekonzepten gerecht zu werden. Ausgehend von einem differenztheoretischen Ansatz, der Unterschiede zwischen den Geschlechtern anhand biologischer, psychologischer und sozialer Merkmale betont, wurde gezeigt, dass Frauen in den Medien im allgemeinen unterrepräsentiert sind und dass sie verzerrt dargestellt würden, nämlich idealtypisch als jung, schön, ledig und wohlhabend – insbesondere in der Werbung. Zudem würden sie seltener in gesellschaftlich relevanten Funktionen und öffentlichen Rollen präsentiert und schließlich nehme Politik bei der Konstruktion des Frauenbildes in den Medien nur eine äußerst marginale Rolle ein (Velte 1995). Auch zur Darstellung von Politikerinnen liegen inzwischen, vor allem aus den USA, einige Studien vor (vgl. z.B. Kahn 1994, Smith 1997, Heldman/Carroll/Olson 2005), denen erste deutsche Studien folgten (z.B. Studie zur Darstellung von Politikerinnen in der Tagespresse von Pfannes 2004; Analysen der Kandidatur Angela Merkels im Wahlkampf 2005: Boomgaarden/Semetko 2007, Koch/Holtz-Bacha 2008, Jansen/Bente/Krämer 2009, Analysen weiterer weiblicher Kandidaturen: Ohr/Klein 2001, Drinkmann/Caballero 2007). Diese Analysen widmen sich insbesondere den Fragen der Präsenz, der Beurteilung und der ge1

Eine Ausnahme stellt die Arbeit von Ohr/Klein (2001) dar, welche die Spitzenkandidaten Heide Simonis und Volker Rühe bei der Landtagswahl 2000 in Schleswig-Holstein betrachtet haben.

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Bettina Westle und Ina Bieber

schlechterspezifischen Darstellung von Politikerinnen und Politikern in den Medien. Außerdem wird häufig untersucht, ob die Weiblichkeit einer Kandidatin selbst zum Thema der Medienberichterstattung wird. Präsenz betrifft die Fragen, wie häufig die Kandidaten in den Medien thematisiert werden und wie viel Raum dies einnimmt. Sowohl zum Fernsehen als auch zur Presse wurde beobachtet, dass über Politikerinnen im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen für gewöhnlich seltener und kürzer berichtet wird. Dies gilt gleichermaßen für viele Länder (vgl. Kahn/Goldberg 1991, Norris 1997, Heldman 2005) und auch für Deutschland (Pfannes 2004). Zu relativierenden Ergebnissen kam Smith (1997) für die US-Wahlen 1994 und Schulz/Zeh (2006) sowie Boomgaarden/Semetko (2007) für die Bundestagswahl 2005 in Deutschland. Laut einer Analyse von sechs Tagszeitungen von Dezember 2001 bis Januar 2002, also der Zeit der Nominierung des Spitzenkandidaten der Union für die Bundestagswahl 2002, fand das Geschlecht in der Berichterstattung zwar Erwähnung, aber eine geschlechtsspezifische Berichterstattung wurde nicht identifiziert (Rail 2003, zit. nach Koch/Holtz-Bacha 2008). Außerdem wurde im Rahmen der Nominierung Stoibers bei einer Analyse von Fotos und Filmen in zwei Tageszeitungen und zwei Nachrichtenmagazinen festgestellt, dass Merkel häufiger abgebildet wurde als Stoiber (Fleissner 2003). Zur Bundestagswahl 2005 liegen ebenfalls bereits einige Medienanalysen mit teils unterschiedlichen Ansätzen sowie verschiedenen Analysezeiträumen und Medien vor. Alle Autoren kamen zu dem Schluss, dass Merkel entgegen den theoretischen Annahmen in Bezug auf das Geschlecht und entgegen dem sog. Kanzlerbonus in den Medien in ähnlichem Maße wie Schröder präsent war, wobei zum Teil sogar ein Vorteil Merkels in der BILD-Berichterstattung identifiziert wurde (z.B. Schulz/Zeh 2006, Wilke/Reinemann 2006, Boomgarden/Semetko 2007, Wagner 2007, Jansen/Bente/Krämer 2009).2 In der Dimension Beurteilung wird analysiert, inwieweit die Kandidaten in den Medien positiv oder negativ dargestellt werden. In einer Studie der Süddeutschen und der FAZ anlässlich der Wahl des CDU-Parteivorsitzes zeigt Wille, dass sich die Darstellung Merkels im Zeitverlauf der Berichterstattung verbessert hat (Wille 2001, zit. nach Holtz-Bacha 2008). Eine andere Studie kam bei der Betrachtung der Kandidatennominierung der Union 2002 dagegen zu dem Ergebnis, dass Merkel negativer als Stoiber dargestellt wurde (Fleissner 2004). Für die Wahl 2005 wurde in verschiedenen Studien von Printmedien und Fernsehen eine ausgewogene Beurteilung der Kandidaten Schröder und Merkel verzeichnet (Schulz/Zeh 2006, Wilke/Reinemann 2006, Boomgarden/Semetko 2007, Koch/HoltzBacha 2008). Allerdings wurden zwischen den Medien durchaus Unterschiede beobachtet: So sei die politische Kompetenz von Schröder in der FAZ und im Fokus deutlich negativer

2

So analysierten Schulz/Zeh (2006) die Hauptabendnachrichten von ARD, ZDF, RTL und Sat.1 1990, 1994, 1998, 2002 und 2005 jeweils in den vier Wochen vor der Wahl im Vergleich. Ebenso in den letzten vier Wochen vor der Wahl untersuchte Wagner (2007) insgesamt 2074 identifizierte Aussagen in wahlrelevanten Beiträgen der BildZeitung. Boomgarden/Semetko (2007) betrachteten alle Beiträge der Hauptnachrichtensendungen von ARD, ZDF, Sat.1 und RTL sowie Bild-Zeitungsartikel auf den ersten beiden Seiten in den sechs Wochen vor der Bundestagswahl. Jansen/Bente/Krämer 2009 untersuchten die Prime-Time-Nachrichten der Sender ARD und RTL vom 20.8 bis zum 17.09.05. Für die vier Wochen vor der Wahl analysierten Wilke/Reinemann (2006) die FR, SZ, die FAZ und die Welt. Einen etwas längeren Analysezeitraum, beginnend bereits am 1. Juli und endend einen Tag vor der Wahl, wählten Koch/Holtz-Bacha (2008) bei der Inhaltsanalyse von Süddeutscher, Zeit, FAZ, Bild, Focus, Spiegel, Stern, Neuer Revue und Bunter.

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bewertet worden als die Merkels (Koch/Holtz-Bacha 2008). Und auch Wagner (2007) stellte fest, dass Schröder in der BILD-Zeitung negativer und Merkel positiver beurteilt wurde. Zur Frage der geschlechterspezifischen Darstellung wird analysiert, inwieweit bestimmte Merkmale (z.B. demografische Merkmale, Eigenschaften, Themenschwerpunkte oder Verhaltensweisen) überproportional und stereotyp Frauen bzw. Männern zugeschrieben werden. Als typisch weibliche Eigenschaften werden häufig Emotionalität, Abhängigkeit, Nachgiebigkeit, Passivität und Fürsorglichkeit genannt. Als typisch männlich gelten eher sachlich-aktive Eigenschaften wie z.B. Durchsetzungsfähigkeit, Führungskompetenz, Risikobereitschaft oder Wettbewerbsorientierung (vgl. Rosenkantz et al. 1968, Bem 1974, Pfannes 2004, Bischof-Köhler 2006). Das Stereotype-fit Modell (Heilman 1983) besagt, dass Personen als angenehmer empfunden werden, wenn sie sich den stereotypen Vorstellungen gemäß verhalten. Dies führt in der Konsequenz dazu, dass Politikerinnen einen Spagat zwischen den typisch weiblichen Stereotypen und den in der Politik eher geltenden typischen männlichen Eigenschaften wagen müssen, um erfolgreich zu sein (vgl. z.B. Kinnebrock/Knieper 2008, Jansen/Bente/Krämer 2009). Vorliegende Befunde zeigen, dass Politiker/innen in der Medienberichterstattung häufig geschlechtstypisch präsentiert werden: Die Berichterstattung in den USA stellte Frauen als weniger wettbewerbsfähig dar (Kahn/Goldberg 1991 Auch in Deutschland wurden stereotype Darstellungen von Politikerinnen in den Medien beobachtet (Huhnke 1996, Pfannes 2004). Sie würden z.B. häufiger als irrational und gefühlsbetont beschrieben, wenn auch einige Ausnahmen von diesem Muster zu verzeichnen waren (Pfannes 2004). Ferner wird vermutet, dass eine eher männliche Charakterisierung von Politikerinnen ihnen ebenfalls schadet und dass ihnen damit die gesamte Weiblichkeit abgesprochen würde (Sterr 1997). Politikerinnen befänden sich – anders als Politiker – in einer sog. double-bind Lage: Weder typisch weibliches noch typisch männliches Auftreten sei für sie geeignet, beides verletze gängige Verhaltenserwartungen – daher müssten sie lernen, ihr Geschlecht quasi zu neutralisieren (vgl. Pantti 2007). Trotz weitgehend geschlechtsneutraler Berichterstattung seien stereotype weibliche Merkmale wie Familienstand und Kinder(losigkeit) bei Merkel stärker als bei Rühe diskutiert worden (Wille 2001). In der Konkurrenz zwischen Merkel und Stoiber seien dagegen beide Kandidaten primär mit männlichen Eigenschaften charakterisiert worden und Stoiber habe sogar mehr weibliche Eigenschaftszuschreibungen erfahren als Merkel (Rail 2003, zit. nach Koch/Holtz-Bacha 2008). Im Kontrast zu diesen Befunden steht die Analyse von Bildmaterial, das Merkel eher in typisch weiblichen und Stoiber eher in typisch männlichen Posen zeige (Fleissner 2004). Für die Bundestagswahl 2005 wurden dagegen keine typisch weiblichen Stereotypisierungen in der Darstellung Merkels beobachtet (Koch/Holtz-Bacha 2008). Allerdings sei Merkel häufiger im Kreis von Minister/innen und bei Gesprächen, Verhandlungen und ähnlichem in den Nachrichtensendungen von RTL und ARD dargestellt worden, was mit den typisch weiblichen Eigenschaften der Team- und Konsensorientierung assoziiert wird (Jansen/Bente/Krämer 2009). In engem Zusammenhang mit geschlechterstereotyper Darstellung steht die These, Frauen würden in den Medien auf ihr Äußeres reduziert (z.B. Huhnke 1996). Empirische Befunde hierzu sind widersprüchlich. Während sie für die USA mehrfach bestätigt wurde (z.B. Witt/Paget/Matthews 2005, Bystrom 2006) und teils auch für Deutschland bestätigt wurde (z.B. Huhnke 1996), wurde andererseits beobachtet, dass die Physis von Politikerinnen seltener öffentlich diskutiert werde als die ihrer männlichen Kollegen (Pfannes 2004).

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Allerdings seien die Äußerlichkeiten Angela Merkels doppelt so häufig wie die von Gerhard Schröder dargestellt worden und zudem häufiger negativ beurteilt worden (Koch/ Holtz-Bacha 2008). Geschlechterspezifische Darstellungen wurden in der Vergangenheit auch in Bezug auf Kompetenzen in politischen Ressorts beobachtet. Insbesondere wurden in den USA Frauen größere Fähigkeiten bei sog. weichen, sozialen Themen wie Gesundheits- und Bildungspolitik zugesprochen, Männern dagegen in den sog. harten Bereichen wie der Außen-, Sicherheits-, Wirtschafts- und Agrarpolitik (Kahn/Goldberg 1991). Auch Weiderer (1993) stellte bei einer inhaltsanalytischen Betrachtung des Frauen- und Männerbildes im deutschen Fernsehen geschlechterstereotype Themen von Männern und Frauen fest, nicht jedoch Smith (1997) und Heldman (2005) bei der geschlechtsspezifischen Betrachtung von politischen Kandidaturen in den USA. Zur Bundestagswahl 2005 wurden jedoch bislang keine derartigen Themenschwerpunkte identifiziert (vgl. Koch/Holtz-Bacha 2008, Jansen/Bente und Krämer 2009). Die historisch gewachsene Trennung zwischen dem weiblichen, privaten und dem männlichen, öffentlichen Raum ist ein häufig verwendeter Ansatz, um die Unterrepräsentation von Frauen im Berufsleben, der Öffentlichkeit und der Politik zu erklären. Bei der Analyse verschiedener Unterhaltungsmedien wie z.B. Film, Fernsehen und Radio werden beide Geschlechter auch heute noch in starkem Maße im Kontext der jeweiligen Sphären präsentiert (z.B. Velte 1995). Für die Darstellungen von Merkel und Schröder in den Medien im Kontext des Bundestagswahlkampfes 2005 wurde jedoch keine derartige Trennung identifiziert (Schulz/Zeh 2006, Koch/Holtz-Bacha 2008). Allerdings sei die Kinderlosigkeit Merkels etwas mehr als die Adoption eines Kindes durch Schröder thematisiert worden (Koch/Holtz-Bacha 2008). Im Mittelpunkt der Dimension des Gender Frame steht die Frage, inwieweit das Geschlecht von Kandidaten selbst zum Thema avanciert. Merkel selbst hat bereits bei ihrer Nominierungsrede zur Kanzlerkandidatin großen Wert darauf gelegt hat, dass das Geschlecht im Wahlkampf eine untergeordnete Rolle einnimmt (2005). Überwiegend zeigen vorliegende Inhaltsanalysen, dass Gender-Frames im Wahlkampf 2005 in der Tat nur marginal waren (Boomgaarden/Semetko 2007, Koch/Holtz-Bacha 2008, Jansen/Bente/Krämer 2009). Durch die erste Kandidatur einer Frau zum Amt der Bundeskanzlerin lagen für die nachfolgenden Untersuchungen die Fragen nahe, ob und inwiefern die Kandidaturen Gerhard Schröders und Angela Merkels in den Medien gleich oder aber unterschiedlich behandelt wurden und welche Rolle das Geschlecht dabei hatte. Die zentralen, vor dem Hintergrund früherer Forschungsbefunde vor allem zu den USA, aber auch zur Darstellung von Politikerinnen und Frauen in Deutschland formulierten Annahmen waren die einer geringeren Präsenz, einer schlechteren Beurteilung sowie geschlechtsspezifischer Darstellung entlang klassischer Gender-Stereotypen bspw. zu Kompetenzen in sog. harten und weichen Politikbereichen. Vor diesem Hintergrund erfolgte die Entwicklung des Codeschemas für die Printanalyse (vgl.u.). Wie oben berichtet, werden unter den inzwischen bereits publizierten Befunden zum Bundestagswahlkampf 2005 diese Hypothesen jedoch nur von qualitativen Analysen gestützt, nicht aber von quantitativen. Angesichts dessen erscheint es nicht angebracht, die genannten Hypothesen unhinterfragt aufrechtzuerhalten. Political correctness oder Irrelevanz der Geschlechterfrage stehen somit als Alternativhypothesen im Raum. In einem zent-

Wahlkampf der Geschlechter?

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ralen Punkt unterscheidet sich die vorliegende von den berichteten Untersuchungen in entscheidendem Maße. Die bisher publizierten Analysen beginnen mit der Datenerhebung frühestens im Juli 2005 (vgl. Koch/Holtz-Bacha 2008). Andere beschränken ihre Analyse auf die sogenannte „heiße Phase“ des Wahlkampfes, mit der gemeinhin vier bis sechs Wochen vor der Wahl gemeint sind (Schulz/Zeh 2006, Wilke/Reinemann 2006, Boomgarden/ Semetko 2007, Wagner 2007, Jansen/Bente/Krämer 2009). Daher ist in dieser Analyse auch zu untersuchen, ob zum Zeitpunkt der Nominierung Angela Merkels zur Kanzlerkandidatin (30.5.2005) bis zur Bestellung von Neuwahlen (1.7.2005 bzw. 21.7.2005) über das Novum einer weiblichen Kanzlerkandidatin in besonderem Maße berichtet wurde. Darüber hinaus sind auch zu Unterschieden zwischen Zeitungen konträre Annahmen zu formulieren. Einerseits liegt die Vermutung nahe, dass konservative Medien der Kandidatur einer Frau distanzierter gegenüberstehen als Medien mit einer liberalen oder links orientierten redaktionellen Linie. Andererseits steht dieser Annahme gegenüber, dass die Kandidatur Merkels aus dem konservativen Parteilager, die Schröders aus dem linksliberalen Parteienlager kam. Damit eröffnet sich die Frage, ob die Geschlechts- oder aber die Parteizugehörigkeit der wichtigere Faktor für evtl. unterschiedliche Darstellungen waren. Da zudem die bisher bekannten Analysen von Printmedien mit verschiedenen Codierungen sowie unterschiedlichen Datengrundlagen arbeiten, ist die nachfolgende Untersuchungen im Sinn konkurrierender wie kumulativer Forschung wichtig.

3.

Daten und Methoden

Für die hier vorgelegte Analyse von Printmedien wird die Darstellung von Angela Merkel und Gerhard Schröder in vier überregionalen Qualitäts-Tageszeitungen entlang des LinksRechts-Spektrums hinsichtlich ihrer redaktionellen Linie untersucht, nämlich der Frankfurter Rundschau (FR), der Süddeutschen (SZ), der Welt (WELT) und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ). Außerdem wird mit der Bild-Zeitung (BILD) eine eher konservative Boulevard-Tageszeitung und mit der Zeit (ZEIT) eine der eher links-liberale Wochenzeitschrift berücksichtigt. Der Untersuchungszeitraum umfasst die Phase vom 1.6.2005 (Tag nach der Nominierung Angela Merkels zur Kanzlerkandidatin) bis zum 17.9.2005 (Tag vor der Bundestagswahl 2005). Aufgrund der umfangreichen Berichterstattung zur Thematik basiert die Analyse für die Tageszeitungen auf einer Klumpenstichprobe. Hierbei ist zunächst eine systematische Auswahl einer „künstlichen Woche“ getroffen und anschließend Vollerhebungen der ausgewählten Ausgaben durchgeführt (vgl. Rössler 2005). D.h. über den gesamten Analysezeitraum hinweg sind jeweils versetzt andere Wochentage ausgewählt (Montag, Dienstag etc., wobei auch die Sonntage berücksichtigt sind, obwohl die SZ und die FR an Sonntagen nicht publizieren). Die Tage der Stichprobenziehung sind in Übersicht 1 fett gedruckt dargestellt. Bei der ZEIT wurden alle Ausgaben berücksichtigt.

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Übersicht 1: Stichprobenziehung Zeitungsausgaben Kalenderwoche 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37

Mo

Di

06.6. 13.6. 20.6. 27.6. 04.7. 11.7. 18.7. 25.7. 01.8. 08.8. 15.8. 22.8. 29.8. 05.9. 12.9.

07.6. 14.6. 21.6. 28.6. 05.7. 12.7. 19.7. 26.7. 02.8. 09.8. 16.8. 23.8. 30.8. 06.9. 13.9.

Mi 01.6. 08.6. 15.6. 22.6. 29.6. 06.7. 13.7. 20.7. 27.7. 03.8. 10.8. 17.8. 24.8. 31.8. 07.9. 14.9.

Do 02.6. 09.6. 16.6. 23.6. 30.6. 07.7. 14.7. 21.7. 28.7. 04.8. 11.8. 18.8. 25.8. 01.9. 08.9. 15.9.

Fr 03.6. 10.6. 17.6. 24.6. 01.7. 08.7. 15.7. 22.7. 29.7. 05.8. 12.8. 19.8. 26.8. 02.9. 09.9. 16.9.

Sa 04.6. 11.6. 18.6. 25.6. 02.7. 09.7. 16.7. 23.7. 30.7. 06.8. 13.8. 20.8. 27.8. 03.9. 10.9. 17.9.

So 05.6. 12.6. 19.6. 26.6. 03.7. 10.7. 17.7. 24.7. 31.7. 07.8. 14.8. 21.8. 28.8. 04.9. 11.9.

Innerhalb der in die Stichprobe gelangten Zeitungsausgaben sind nur die Artikel ausgewählt, die einen offensichtlichen, direkten Bezug zu Angela Merkel und/oder Gerhard Schröder aufweisen. Als Aufgreifkriterien wurden bestimmte Stichwörter und deren Begriffsumfeld genutzt. Die Hauptstichwörter sind: Bundestagswahl, Schröder, Merkel (zum Begriffsumfeld gehören dann bspw. Wahl 2005, Kanzler, Herausforderin, Angie). D.h. die vorliegende Auswahl unterscheidet sich von anderen Printmedienanalysen nicht nur durch den untersuchten Zeitraum, sondern auch durch die Kombination der ausgewählten Medien und die Aufgreifkriterien, die zudem nicht nur auf die ersten Seiten beschränkt wurden, sondern jeweils alle redaktionellen Beiträge der gesamten Zeitungsausgabe umfassen (ohne regionale Teile). Die Artikel sind mittels eines Kategorienschemas codiert (Übersicht 2). Es umfasst auf der Artikelebene formale Kategorien wie den Namen der Zeitung, das Erscheinungsdatum, die Platzierung des Artikels, seine Aufmachung und seinen Umfang sowie den Autor. Zudem ist auf Artikelebene auch der Tenor zu Merkel bzw. zu Schröder erfasst. Inhaltliche Kategorien sind auf Nennungsebene in den Variablen V06a bis V17a erhoben. Als Nennung gilt eine Äußerung im Sinn des Kategorienschemas. D.h. jede Nennung, die eine Aussage zu den Fähigkeiten und Leistungen, zu politischen Issuepositionen, zu Managerqualitäten, zum Verhältnis zur eigenen Partei, zum Politikstil, zur Integrität, zu Persönlichkeitsmerkmalen, zur Medienkompetenz, zum Geschlecht der Kandidaten oder ihrer Herkunft, ihrem Äußeren oder ihrem Privatleben beinhaltet, ist erfasst. Unmittelbar verknüpft damit sind über die Variablen V06b bis V17b Angaben, ob bzw. welche Wertung die entsprechenden Äußerungen enthalten. Außerdem findet sich in den Variablen V01 bis V05 neben der Nummerierung der Nennung eine Angabe zu deren Prominenz/Stellung im Text, dazu wer sich äußert bzw. zitiert wird, zur betroffenen Person und zum Fokus der personalen Darstellung. Ferner sind Identifikationsnummern der Codierer/innen, ihre Geschlechtszugehörigkeit und Parteipräferenz verzeichnet.

Wahlkampf der Geschlechter?

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Übersicht 2: Kategorienschema (teilweise gekürzt und zusammengefasst) Variable/Kategorienname Artikelebene A01 Zeitung A02 Datum A03 Platzierung A04 Aufmachung A05 Artikelumfang A06 Artikelnummer A07 Autor A08 Tenor zu Schröder A09 Tenor zu Merkel Nennungsebene V01 Prominenz V02 Nennung V03 Person V04 (zitierter) Urheber V05 Fokus der Darstellung V06a/b Fähigkeiten, Leistungen V07a/b IssuePositionen

V08a/b Manager/in

V09a/b Parteirepräsentant/in V10a/b Politikstil

V11a/b Integrität V12a/b Persönlichkeitsmerkmale

V13a/b Medienkompetenz V14a/b Geschlecht V15a/b Herkunft V16a/b Äußeres V17a/b Privatleben +b

zu allen a Variablen

Values/Kategorienausprägungen FR, SZ, WELT, FAZ, BILD, ZEIT Erscheinungsdatum Titelseite, erste Seite, … Hauptaufmacher, zweitgrößte Aufmachung, …. Zeichenzahl Nummerierung der Artikel männlich, weiblich, nicht zu erkennen negativ, neutral, positiv, negativ und positiv, nicht zu erkennen negativ, neutral, positiv, negativ und positiv, nicht zu erkennen Überschrift, Unterüberschrift, Abschnittsüberschrift, Text laufende Nummerierung der Nennungen pro Artikel Schröder, Merkel, beide Autor, Bürger, Umfrage, Kandidat, Experte (aus eigener / anderer Partei), Freunde, Gegner, Schröder über Merkel, Merkel über Schröder, andere KandidatIn als PolitikerIn allg., ParteipolitikerIn, WahlkämpferIn, Staatsperson/KanzlerIn, Privatperson Allgemeines, allg. Bilanz, allg. Aussicht, Wirtschaftspolitik, Arbeitsmarktpolitik, Haushaltspolitik, Außenpolitik, Europapolitik, Friedenssicherung, Sozialpolitik, Ostdeutschland/ Aufbau, GenderGleichstellung, Sonstiges allg. Position, für/gegen Türkeibeitritt, für/gegen Mehrwertssteuererhöhung, für/gegen Reduzierung der soz. Sicherung, für/gegen Bürgerversicherung, für/gegen Kopfpauschale, vertritt/vertritt nicht ostdeutsche Interessen, für/gegen Gender-Gleichstellung, macht/ macht keine emanzipierte Außenpolitik, macht/macht nicht nachfrageorientierte Wirtschaftpolitik, Sonstiges allg. Befähigung für Kanzleramt, Tatkraft/Entscheidungsstärke, Führungsstärke/Durchsetzungsvermögen/Standfestigkeit, Moderation, Staatsgeschäfte verantwortungsvoll leiten, sich den drängenden Problemen widmen, Verbesserungsfähigkeit/eigene Entwicklung, fundiertes Wissen, Sonstiges liegt auf einer Linie, stellt sich gegen die, führt an, folgt, Werdegang in der Partei, hat Unterstützung, hat Widerstreiter, agiert unabhängig, Sonstiges sachlich/inhaltsorientiert – dozierend, energisch/leidenschaftlich – unwirsch/rüde, flexibel/ u ndogmatisch/pragmatisch – wankelmütig/opportunistisch, volksnah – populistisch, charismatisch – inszeniert, souverän – unbeholfen, kumpelig – kühl/abweisend, optimistisch/siegesgewiss – pessimistisch, realistisch – realitätsfern, fleißig – übermotiviert, hart arbeitend – faul, selbstbewusst – überheblich, nicht eitel/bescheiden – schüchtern/ängstlich, Sonstiges Ehrlichkeit/Glaubwürdigkeit, Gewissenhaftigkeit, Verfehlungen/Affären/Skandale, Sonstiges souverän/ausgeglichen/nervenstark, emotional/leidenschaftlich/energisch, selbstsicher/optimistisch/mutig, humorvoll/lustig/charmant/fröhlich, diszipliniert/willensstark/ausdauernd/beharrlich, fleißig/hart arbeitend/leidensfähig/kraftstrotzend, intelligent/selbstkritisch/lernfähig, realistisch/bodenständig, zurückhaltend/reserviert, arrogant/kühl/unnahbar, autoritär/machtbewusst, kaltblütig/rücksichtslos, emphatisch/sensibel, zaghaft/ängstlich/scheu, langweilig/ uninteressant, Sonstiges Umgang mit Medien, Instrumentalisierung der Medien, Erscheinungsbild in den Medien, Sonstiges Mann als Kanzler, Frau als Kanzlerin Westdeutschland, Ostdeutschland, Elternhaus, beruflicher Werdegang Aussehen allg., Haare/Frisur, Figur, Kleidung/Schmuck, Mimik/Gestik, Sonstiges Ehe/n, Kinder, familiäre Rollenverteilung, Liebschaften, Freunde, Freizeit/Urlaub/Hobbies, Sonstiges positiv, neutral, negativ, beide negativ, beide neutral, beide positiv, Schröder positiver, Merkel positiver, nicht einzuordnen

Zur Datenerhebung wurden insgesamt 14 Studierende der Politikwissenschaft als Codierer/innen im Zeitraum vom 01.01.2006 bis 31.12.2008 eingesetzt (mit einer größeren Lücke vom 01.06.2007 bis 01.03.2008) wobei einige wenige Codierer/innen in beiden Codierpha-

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sen arbeiteten, der größere Anteil des Teams jedoch wechselte. Um die Reliabilität zwischen den Codierer/innen zu gewährleisten, wurden diese jeweils am Beginn ihrer Arbeit einer intensiven Schulung unterzogen, die auch mehrere Pretests und Nachschulungen umfasste. Auftretende Codierprobleme wurden in regelmäßigen Codierer/innen-Treffen, teilweise unter Beteiligung des Forscherinnenteams, diskutiert. In einem Fall wurde eine Person nach den Schulungen und Pretests nicht zum Team zugelassen, in einem anderen Fall musste eine Person wegen zu starker Abweichungen trotz Nachschulung aus dem Team ausgeschlossen werden und die Artikel wurden von anderen erneut codiert. Bei der Verteilung des Untersuchungsmaterials wurde darauf geachtet, dass der Zeitungstyp, das Erscheinungsdatum und die Länge des zu codierenden Artikels innerhalb des Codierer/innenTeams variierten. Die Codierer/innen wurden in zeitlichen Abständen je zwei Inter-Codierer-Reliabilitätstests pro Phase und insgesamt drei Intra-Codierer-Reliabilitätstests (je ein Test innerhalb der beiden Hauptcodierphasen und ein Test zwischen den beiden Phasen) unterzogen. Bei ersteren mussten alle Codierer/innen dieselben Artikel codieren und es wurde in paarweisen Vergleichen überprüft, inwieweit die Codierungen übereinstimmen, bei den Tests pro Codierer/in über Zeit hatten die Codierer früheres Testmaterial erneut zu codieren und es wurde die Übereinstimmung der beiden Tests pro Person überprüft. Die summarischen Ergebnisse der Reliabilitätstests sind differenziert nach den formalen Kategorien der Artikelebene, den Tenorvariablen und den Kategorien der Nennungsebene aufgeführt (Tab.1). Die formalen Kategorien der Artikelebene zeigen hohe Reliabilitäten. Gelegentliche Fehler beruhen dabei vor allem auf Zahlendrehern (z.B. beim Datum). Vergleichbare Fehler bei der endgültigen Codierung konnten jedoch bei der Datensatzüberprüfung bereinigt werden. Die Tenorvariablen zeigen jeweils beim ersten Test pro Phase deutlich geringere Übereinstimmungen zwischen den Codierer/innen als bei dem zweiten Test pro Phase. Dies ist vermutlich auf die Diskussionen problematischer Fälle im Codierteam und zunehmende Übung zurückzuführen, die auch bei diesen subjektiven Gesamtbewertungen zu einer Angleichung von Standards beigetragen haben. Die höchsten Fehleranteile weist die Nennungsebene auf. Hierfür waren primär Probleme bei der Identifikation einer Nennung als solche verantwortlich, d.h. ein unterschiedlicher Detaillierungsgrad der Codierung bei den verschiedenen Personen. Da nicht formal (bspw. durch Beginn und Ende eines grammatikalischen Satzes), sondern inhaltlich mittels Sinnbezügen bestimmt war, was als Nennung gelten soll, schlug sich darin eine unterschiedliche Textsensibilität nieder. Überwiegend betrifft dies die Mehrfachcodierung identischer Kategorien (z.B. bei Aufzählungen mehrerer ähnlicher Eigenschaften in einem Satz oder bei Benennung von Eigenschaften in aufeinanderfolgenden Sätzen, wenn diese Eigenschaft im Codierschema zu derselben Kategorie und demselben Value gehören), gelegentlich aber auch das Auffinden verschiedener Kategorien. Unter den Variablen traten diese Probleme jedoch fast ausschließlich bei Politikstil (v10), gelegentlich auch in Abgrenzung zu Persönlichkeitsmerkmalen (v12) auf. Sofern eine Nennung aber nur durch einige Codierer erfasst wurde, schlägt sich dies bei jedem paarweisen Vergleich mit einem weniger textsensiblen Codierer nicht nur in einem, sondern in mehreren Fehlern nieder, da automatisch auch die mit der Nennung verknüpften Variablen fehlen. Ein sekundäres Problem trat bei den Evaluationen auf. Hierbei schlug sich vor allem unterschiedlicher Mut der Codierer/innen nieder, d.h. konträre Codierungen (positiv vs. negativ) derselben Nennung kamen fast gar nicht vor (bspw. positiv-negativ; seltene Ausnahme bei Ironie), jedoch Unterschie-

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de darin, ob überhaupt eine aussagefähige Evaluation identifiziert wurde (z.B. positiv vs. neutral) und wenn dies nicht der Fall war, wie diese klassifiziert wurde (als neutral oder als nicht erkennbar). Tabelle 1: Summarische Ergebnisse der Reliabilitätstests alpha

Artikelebene (A1-A7) Artikelebene: Tenor (A8, A9) Nennungsebene (V6a/b-V17a/b eigene Berechnungen.

Phase 1: Test 1 .91

Inter-Codierer-Reliabilität Phase 1: Phase 2: Phase 2: Test 2 Test 1 Test 2 .98 .90 .96

Intra-Codierer-Reliabilität Phase 1 Phase 2 Phase 1-2 .93

.96

.92

.70

.90

.69

.91

.80

.96

.85

.69

.87

.84

.70

.76

.69

.68

Der Datensatz umfasst 1108 Artikel und 7198 Nennungen (Tab.2). Je nach Zeitung variiert die Anzahl der Artikel in starkem Maß: Während nur 60 Artikel der BILD und 99 Artikel der ZEIT entstammen, beläuft sich die Zahl bei der FR auf 135 Artikel, der FAZ auf 236 Artikel, der SZ auf 241 Artikel und schließlich der WELT auf 337 Artikel. Auch bei den Nennungen ist die Anzahl in den einzelnen Zeitungen unterschiedlich hoch. Insbesondere fällt die relativ hohe Zahl codierter Einheiten bei der ZEIT (1065) im Verhältnis zur Anzahl ihrer codierten Artikel (99) auf. Entgegengesetzt verhält es sich bei der SZ mit 1254 codierten Einheiten und 241 Artikeln. Bei den restlichen Blättern weichen die Werte nur in geringem Maße vom durchschnittlichen Wert ab. Die meisten Artikel stammen aus dem Juni, wobei dies in starkem Maß auf die hohe Ziffer der WELT und der ZEIT zurückzuführen ist.3 In der BILD sind in keinem Monat mehr als 20 Artikel in die Stichprobe gelangt. Betrachtet man nicht die Artikel-, sondern die Nennungsebene, so kann im September die höchste Zahl der Nennungen identifiziert werden und dies trotz des geringeren Stichprobenumfangs. Dies deutet darauf hin, dass unmittelbar vor der Wahl besonders intensiv über die beiden Kanzlerkandidaten berichtet wurde. Zudem spiegelt sich die hohe Anzahl der Artikel der WELT im Juni auf Nennungsebene nicht wider. Platziert sind die Artikel zu 14.4 Prozent auf der ersten, zu 16.0 Prozent auf der zweiten und zu 8.0 Prozent auf der dritten Seite. Die restlichen 60.5 Prozent der Artikel verteilen sich auf die anderen Seiten. Wie zu erwarten, besteht bei der BILD eine hohe Zahl an Platzierungen auf den ersten beiden Seiten (71.7 Prozent); in der ZEIT finden sich dagegen 68.5 Prozent der Artikel nicht auf den ersten drei Seiten. Zur Aufmachung ist zu erkennen, dass die Artikel in der ZEIT in hohem Maße „groß“ aufgemacht sind, während in der Süddeutschen Zeitung auch relativ viele „kleine“ Artikel mit Bezug zu Schröder oder Merkel zu finden sind. Die durchschnittliche Artikellänge beträgt 4269 Zeichen, wobei der Modus bei 2870 und der Median bei 3337 Zeichen lag. Wie zu erwarten war, fiel die durchschnittliche Arti3

Dies muss jedoch relativiert werden, da die Anzahl der codierten Tage in den verschiedenen Monaten variiert. In den Tageszeitungen wurden im Juni sieben, im Juli acht, im August sieben und im September fünf Tage codiert. Bei der Zeit belief sich die Anzahl im Juni auf fünf, im Juli auf vier, im August auf vier und im September auf drei Ausgaben.

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kellänge der ZEIT besonders hoch (9082 Zeichen) und die der BILD (2572 Zeichen) besonders niedrig aus, während die Länge bei den anderen Zeitungen zwischen 3458 und 4555 Zeichen variierte. 77.8 Prozent der Artikel in der ZEIT haben 5000 und mehr Zeichen; entgegengesetzt haben 95 Prozent der Artikel in der BILD weniger als 5000 Zeichen. Auch die durchschnittliche Artikellänge in der FAZ liegt relativ hoch. Mit der Länge der Artikel steigt auch durchgehend die Anzahl der codierten Nennungen. Zahlreiche Medienanalysen verweisen darauf, dass Frauen in journalistischen Berufen unterrepräsentiert sind (Holtz-Bacha 1995). Dies zeigt sich auch in der vorliegenden Untersuchung: 61.6 Prozent der Artikel wurden von einem Mann und 8.2 Prozent von einer Frau geschrieben. 30.2 Prozent konnten keinem Geschlecht zugeordnet werden. Betrachtet man nur die eindeutig von Männern oder Frauen geschriebenen Artikel, so fällt der Frauenanteil in der ZEIT überdurchschnittlich hoch und der BILD überdurchschnittlich niedrig aus. Tabelle 2: Überblick zum Datensatz: Artikel FR

SZ

FAZ

Welt

BILD

ZEIT

Gesamt

12.2 135

21.8 241

21.3 236

30.4 337

5.4 60

8.9 99

100.0 1108

29.6 14.1 30.4 25.9

28.6 17.4 27.4 26.6

25.4 28.8 23.3 22.5

34.1 22.6 22.6 20.8

28.3 26.7 26.7 18.3

41.4 21.2 18.2 19.2

30.9 21.8 24.5 22.7

16.3 9.6 20.7 51.9 1.5

14.1 10.4 5.4 70.1 0.0

16.1 7.6 4.7 71.6 0.0

14.8 21.7 8.6 54.9 0.0

10.0 61.7 3.3 20.0 5.0

9.1 11.1 6.1 65.7 8.1

14.4 16.0 8.0 60.5 1.2

33.3 28.1 37.8 0.7

29.0 24.1 46.9 0.0

38.6 27.5 33.9 0.0

33.5 26.1 38.6 1.8

36.7 25.0 35.0 3.3

72.7 18.2 5.1 4.0

37.3 25.5 36.1 1.2

9.6 23.0 51.1 14.1 2.2

9.5 21.6 49.0 16.2 3.7

5.9 20.3 41.5 27.5 4.7

11.2 27.3 39.5 19.6 2.4

23.3 36.7 35.0 1.7 3.3

2.0 20.2 40.4 37.4

9.2 22.3 41.4 20.8 6.3

62.2 8.9 28.9

57.7 6.6 35.7

64.0 8.9 27.1

59.1 7.7 33.2

55.0 1.7 43.3

76.8 15.2 8.1

61.6 8.2 30.2

11.7 845

17.4 1254

21.0 1514

28.5 2049

6.5 471

14.8 1065

100.0 7198

Artikel Zeilenprozente N Spaltenprozente Zeitraum Juni Juli August September Platzierung Titelseite 2. Seite 3. Seite anders patziert nicht erkennbar Aufmachung groß mittel klein kA Anzahl der Zeichen bis 999 1.000-2.499 2.500-4.999 5.000-9.999 10.000-60.000 Autor/in männlich weiblich nicht erkennbar Nennungen Zeilenprozente N (Nennungen) eigene Berechungen.

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Ferner wurde überprüft, ob das Geschlecht und die Parteipräferenz der Codierer/innen systematische Effekte auf ihre Codierung haben. Erfreulicherweise kann dies jedoch verneint werden. In den nachfolgenden Analysen wird sowohl die Ebene der Artikel als auch die der einzelnen Aussagen (Nennungsebene) genutzt, da beide durchaus zu unterschiedlichen Befunden führen können. Zudem ist im Hinblick auf eine Beurteilung des medialen Angebots und damit ermöglichter Wirkungen auf die Rezipienten nicht bekannt, welche der Ebenen relevanter ist.

4.

Empirische Befunde zur Präsenz

Für gewöhnlich werden bei Bundestagswahlkämpfen die Amtsinhaber häufiger dargestellt als die Herausforderer (sog. Kanzlerbonus). Dies könnte noch zusätzlich durch die Vorgeschichte dieser vorgezogenen Wahlen gefördert worden sein. Dem steht allerdings der Neuigkeitswert der ersten Kandidatur einer Frau zum Amt der Kanzlerin entgegen, der dieses Muster durchkreuzt haben könnte. Darüber hinaus sind, wie generell bei den nachfolgenden Analysen, Unterschiede in Abhängigkeit von der politischen Verortung der Medien zu erwarten, also tendenzielle Vorteile für Schröder bei den eher links orientierten und für Merkel bei den eher rechts orientierten Zeitungen. Tabelle 1a: Häufigkeit der Darstellung (Artikelebene) Spaltenprozente FR SZ Schröder 35.6 46.9 Merkel 28.1 27.4 beide 36.4 25.7 valides N 135 241 keine fehlenden Werte; eigene Berechnungen.

FAZ 47.0 26.7 26.3 236

WELT 43.3 24.6 32.0 337

BILD 31.7 33.3 35.0 60

ZEIT 28.3 19.2 52.5 99

GESAMT 42.0 26.1 31.9 1108

N 465 289 354 1108

BILD 54.6 39.7 5.7 471

ZEIT 45.8 51.3 2.9 1065

GESAMT 52.2 43.4 4.3 7198

N 3760 3133 305 7198

Tabelle 1b: Häufigkeit der Darstellung (Nennungsebene) Spaltenprozente FR SZ Schröder 45.7 57.3 Merkel 46.4 40.9 beide 7.9 1.8 valides N 845 1254 keine fehlenden Werte; eigene Berechnungen.

FAZ 57.9 39.0 3.2 1514

WELT 50.5 43.9 5.7 2049

Im hier untersuchten Datenmaterial zeigt sich zur Präsenz auf der Ebene der Artikel (Tab.1a) ein deutlicher Vorsprung von Schröder mit 465 Artikeln vor Merkel mit 289 Artikeln, wobei in 354 Artikeln beide thematisiert sind. Dieser Vorsprung findet sich, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, bei allen untersuchten Medien mit Ausnahme der BILD und zeigt kein Muster entlang der politischen Richtungsachse. Darüber hinaus fällt auf, dass nur in der ZEIT über die Hälfte der Artikel Aussagen zu beiden Kandidaten enthalten, während dies bei den anderen Medien etwa ein Drittel beträgt. Auf der Ebene der Nennungen (Tab.1b), also über alle Artikel hinweg betrachtet, verschiebt sich dieses Bild jedoch etwas. Zunächst wird deutlich, dass zwar viele Artikel, aber nur wenige Aussagen gleichzeitig beide Kandidaten betreffen. Dennoch bleibt in den meisten Fällen ein etwas

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reduzierter Vorsprung Schröders in der Präsenz enthalten. Lediglich bei der FR schwindet dieser völlig, bei der ZEIT erreicht Merkel mehr Nennungen, aber bei der BILD kehrt sich der kleine Vorsprung Merkels auf Artikelebene nunmehr in einen deutlichen Vorsprung Schröders bei den inhaltlichen Aussagen um. Erneut liegt damit kein klares Muster entlang parteipolitischer Linien vor, aber auch keine stärkere Benachteiligung von Merkel in den konservativen Medien, die auf den Faktor „Frau“ deuten würde. Im Hinblick auf die Präsenz ist insbesondere eine Platzierung der Artikel auf der Titelseite von Bedeutung, da diese für reguläre Leser wie für zufällige Passanten besonders ins Auge fallen dürfte (Tab.2a). Tabelle 2a: Platzierung, Aufmachung und Umfang (Artikelebene) FR SZ FAZ WELT BILD ZEIT GESAMT Titelseite Prozentanteile Schröder 18.8 18.6 10.8 13.0 10.5 10.7 14.2 Merkel 13.2 7.6 15.9 19.3 10.0 0.0 13.1 beide 16.3 12.9 25.8 13.9 9.5 11.5 15.5 valides N 22 34 38 50 6 9 159 Hauptaufmacher Prozentanteile Schröder 29.2 27.4 43.2 35.6 31.6 71.4 36.8 Merkel 23.7 25.8 28.6 26.5 35.0 52.6 28.7 beide 44.9 35.5 40.3 36.1 42.9 80.8 44.9 valides N 45 70 91 113 22 72 413 Zeichenanzahl Mittelwerte Schröder 3138 3511 5100 3894 2172 7990 4187 Merkel 3089 3428 3339 2726 2027 8978 3430 beide 4057 4367 4816 4130 3454 9709 5061 valides N 135 241 236 337 60 99 1108 keine fehlenden Werte; Lesehilfe: 14.2% aller Artikel zu Schröder, 13.1% aller Artikel zu Merkel und 15.5% aller Artikel zu beiden sind auf der Titelseite platziert; eigene Berechnungen.

Tabelle 2b: Prominenz der Darstellung (Nennungsebene) Prozentanteile FR SZ FAZ WELT BILD Überschrift 1. und 2.Ordnung Schröder 9.3 6.0 5.9 5.2 11.2 Merkel 6.2 7.3 7.9 7.3 13.9 beide 5.7 8.6 6.3 6.9 14.8 valides N 831* 1254 1514 2049 472 * nur bei der FR konnten 20.9% nicht zugeordnet werden, bei allen anderen Zeitungen eigene Berechnungen.

ZEIT

GESAMT

10.4 7.0 5.7 7.2 6.4 7.3 1065 7190 keine fehlenden Werte;

Hier findet sich über das untersuchte Zeitungsspektrum hinweg zwar kein relevanter Unterschied. Der Vergleich der Medien zeigt jedoch ein Muster entlang des ideologischen Spektrums, da die FR und die SZ sowie die ZEIT mehr Artikel mit Schröder, die FAZ und die WELT mehr Artikel mit Merkel auf der Titelseite platziert haben. Bei den Hauptaufmachern bei Berücksichtigung der gesamten Zeitung (Zeitungsteil bzw. Seite) zeigt sich dagegen durchgehend, wiederum mit Ausnahme der BILD, eine größere Präsenz der Artikel mit

Wahlkampf der Geschlechter?

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Schröder, besonders gravierend ausgeprägt bei der ZEIT und der FAZ. Auch bei dem Umfang der Artikel genießt Schröder überwiegend ein Plus, das allerdings bei den Zeitungen des linken Spektrums (FR, SZ) minimal ausfällt, während es bei denen des konservativen Spektrums (FAZ, WELT, BILD) sehr deutlich ist; nur bei der ZEIT sind die Artikel zu Merkel etwas umfangreicher als die zu Schröder. Auf der Ebene der Nennungen zeigt sich dagegen bei den meisten Zeitungen mit Ausnahme der FR und der ZEIT ein allerdings nur sehr kleiner Vorsprung Merkels bei der Thematisierung in Überschriften (Tab.2b). Damit deutet die Mehrzahl der untersuchten Indikatoren eine schwächere Präsenz Merkels an, die jedoch eher auf einen Kanzlerbonus Schröders als auf den Faktor „Frau“ zurückzuführen scheint. Allerdings könnte es sein, dass der zumeist untersuchte Zeitraum, die sog. heiße Wahlkampfphase, eventuell nicht optimal geeignet ist, um Genderfaktoren in den Medien zu identifizieren. Möglicherweise waren diese vor dem eigentlichen Wahlkampf von Bedeutung, sind dann aber hinter anderen Faktoren zurückgetreten. Sofern dies zutrifft, kann man daraus ableiten, dass zu Beginn des untersuchten Zeitraums der Genderfaktor bedeutsamer gewesen sein sollte als später. Im Hinblick auf die Präsenz heißt dies, gegen Anfang sollte der Vorsprung Schröders vor Merkel größer gewesen sein als kurz vor der Wahl. Tabelle 3a: Zeitraum der Darstellung (Artikelebene) Zeilenprozente

FR SZ FAZ WELT BILD ZEIT S M S M S M S M S M S M Juni 57.5 30.0 63.8 20.3 50.0 31.7 52.2 23.5 41.2 41.2 43.9 12.2 Juli 21.1 31.6 42.9 31.0 51.5 26.5 42.1 32.9 25.0 37.5 23.8 33.3 August 26.8 31.7 43.9 27.3 45.5 25.5 36.8 30.3 31.3 31.3 5.6 33.3 September 28.6 20.0 34.4 32.8 39.6 22.6 37.1 11.4 27.3 18.2 21.1 5.3 valides N 48 38 113 66 111 63 146 83 19 20 28 19 keine fehlenden Werte; Differenz zu 100% pro Zeitung in der Zeile=beide; eigene Berechnungen.

GESAMT S M 53.2 24.6 40.5 31.0 36.4 29.0 34.1 20.2 465 289

Dies trifft in der Tat überwiegend zu. So schrumpft der Anteil der Artikel zu Schröder in allen untersuchten Medien, während der Merkels auf etwa gleichem Niveau bleibt bzw. unsystematisch schwankt (FR, SZ, WELT, ZEIT) oder gleichfalls abnimmt (FAZ, BILD) zugunsten von Artikeln, die beide Akteure thematisieren (Tab.3a). Dieses Bild findet sich auf der Ebene der Nennungen so allerdings nicht wieder, sondern hier zeigt im Juni und Juli Schröder, im August Merkel und im September aber wiederum überwiegend Schröder einen Vorsprung (Tab.3b). Tabelle 3b: Zeitraum der Darstellung (Nennungsebene) Zeilenprozente

FR SZ FAZ WELT BILD ZEIT GESAMT S M S M S M S M S M S M S M Juni 64.8 31.8 59.9 37.7 60.5 37.9 52.9 45.1 32.0 63.1 62.6 36.0 57.7 40.1 Juli 40.6 58.5 44.7 50.0 66.8 32.3 54.7 44.1 77.6 17.6 46.8 50.4 57.5 40.4 August 35.2 57.4 47.1 51.7 40.4 53.7 44.2 50.2 47.5 46.5 11.7 83.7 39.3 55.8 September 40.5 44.3 67.0 32.1 62.6 32.1 50.6 33.7 47.1 45.1 48.4 48.0 54.4 38.2 valides N 386 392 718 513 876 590 1034 899 257 187 488 546 3759 3127 keine fehlenden Werte; Differenz zu 100% pro Zeitung in der Zeile=beide; eigene Berechnungen.

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Bettina Westle und Ina Bieber

Anhaltspunkte zu einem eventuellen Kanzlerbonus können vor allem dem Fokus der Darstellung entnommen werden. Dieser ist ausschließlich auf der Ebene von Nennungen codiert worden, da er sich im Verlauf eines Artikels häufig verändern kann (Tab.4). Tabelle 4: Fokus der Darstellung (Nennungsebene) Spaltenprozente

FR M B Politiker/in allg. 25.5 7.5 Parteipolitiker/in 17.1 0.0 Wahlkämpfer/in 27.0 82.1 Staatsperson/Kanzler/in 27.0 9.0 Privatperson 3.3 1.5 valides N 392 67 BILD S M B Politiker/in allg. 15.9 11.8 19.2 Parteipolitiker/in 7.8. 7.0 0.0 Wahlkämpfer/in 23.3 32.1 38.5 Staatsperson/Kanzler 41.9 23.5 19.2 Privatperson 11.2 25.7 23.1 valides N 257 187 27 keine fehlenden Werte; eigene Berechnungen. S 10.1 8.5 18.4 59.8 3.1 386

S 34.4 4.3 13.8 41.8 5.7 718 S 20.7 12.7 11.7 48.6 6.4 488

SZ M 46.6 7.8 18.5 14.6 12.5 513 ZEIT M 40.2 14.6 24.1 12.4 8.6 546

FAZ M 34.1 8.3 25.8 28.4 3.4 590

B 26.1 0.0 47.8 21.7 4.3 23

S 22.5 10.4 16.9 48.4 1.8 876

B 20.0 13.3 43.3 23.3 0.0 31

Schröder 22.2 7.8 17.0 49.1 3.9 3759

B S 17.4 20.5 2.2 5.3 34.8 19.6 39.1 52.7 6.5 1.8 46 1034 Gesamt Merkel 36.0 10.2 26.1 20.3 7.4 3127

WELT M 38.5 7.8 30.0 19.3 4.4 899

B 35.4 0.0 51.3 12.4 0.9 116

Beide 23.0 1.6 53.4 18.0 3.9 312

Dabei zeigt sich, dass bei Aussagen zu Schröder zwischen 40 und 60 Prozent auf ihn als Staatsperson entfallen, während dies bei Merkel nur zu 15 bis knapp 30 Prozent der Fall ist. Darin dokumentiert sich sehr deutlich der vermutete Kanzlerbonus für Schröder. Wenn es in den Aussagen um Merkel geht, liegt der Fokus dagegen häufiger als bei Schröder auf der Wahlkämpferin, der Parteipolitikerin oder der Politikerin allgemein und – nicht zuletzt auch häufiger auf der Privatperson, insbesondere bei der BILD und der SZ, was nunmehr als Hinweis auf eine stärkere Genderisierung der Darstellung Merkels bereits in der Präsenz der Darstellung gewertet werden kann.

5.

Empirische Befunde zur Beurteilung

Auch bei der Bewertung der Kandidaten ist zwischen der Artikel- und der Nennungsebene der einzelnen Aussagen zu differenzieren. Bspw. kann ein Artikel eine bestimmte Tendenz aufweisen, ohne dass jede einzelne Aussage innerhalb des Artikels dieser Tendenz entspricht. Daher wurden die Codierer/innen aufgefordert, nach einem ersten Durchlesen eines Artikels zunächst den Gesamteindruck (Tenor) zu codieren, der ihnen in dem Artikel zu Schröder, Merkel oder beiden vermittelt wurde. Anschließend erst wurde bei den differenzierten Themen der einzelnen Nennungen die Evaluation dieser Themen mitcodiert (bspw: Schröders Außenpolitik hat sich bewährt = Nennung zu Politikbereichen/-fähigkeiten, Bereich Außenpolitik, Evaluation positiv). Im vorliegenden Abschnitt werden Befunde zum Tenor zu den Kandidaten auf Artikelebene und zu ihren aus zwölf Variablen (v06b bis v17b) zusammengefassten Evaluationen auf Nennungsebene berichtet. In anschließenden Abschnitten wird dann differenzierter auf einzelne Thematiken eingegangen.

Wahlkampf der Geschlechter?

181

Der überwiegende Anteil der Artikel vermittelt eine weitgehende Neutralität der Berichterstattung. Dies trifft besonders für die SZ mit über 80% der Artikel zu und am wenigsten für die BILD mit rund 50% sowie die ZEIT mit etwa 50% bzw. 60%. Dabei gibt es mit Ausnahme der ZEIT, in der die Berichterstattung über Schröder etwas neutraler ist, als die über Merkel, keine bedeutsamen Unterschiede zwischen den Kandidaten. An zweiter Stelle steht in den meisten Zeitungen der negative Tenor. Er überwiegt den positiven Eindruck insbesondere auf der linken Seite des Medienspektrums (in der SZ mit rund 18 Prozentpunkten Differenz bei Schröder und 10 Prozentpunkten bei Merkel) und in der FR mit rund 12 Prozentpunkten bei Schröder und 14 Prozentpunkten bei Merkel – also zusammen betrachtet ohne eindeutige Bevorzugung einer der beiden Personen. Auf der konservativen Seite sind dagegen die Artikel mit negativem Tenor zu Schröder ebenfalls häufiger als die mit positivem Tenor, nämlich mit rund 12 bzw. 13 Prozentpunkten bei der FAZ und der WELT. Jedoch kann Merkel hier mit etwa 5 bzw. 1 Prozentpunkten etwas mehr positive als negative Eindrücke verzeichnen. Ähnlich, wenn auch weniger stark ausgeprägt, ist das Verhältnis bei der ZEIT, mit einem Überhang von rund 6 Prozentpunkten negativer Artikel für Schröder und 1 Prozentpunkt positiver für Merkel. Die BILD weicht hier von beiden Mustern ab, insofern als sie für Schröder einen Überhang positiver, für Merkel einen Überhang negativer Eindrücke vermittelt. Alles in allem besteht damit auf Artikelebene keine eindeutige Tendenz für Schröder oder aber Merkel entlang redaktioneller Linien. Wenn jedoch nur die Artikel der Titelseite berücksichtigt werden, wird eine stärkere Bevorzugung Schröders im linken und Merkels im rechten Spektrum deutlich; Ausnahmen bilden allerdings BILD und ZEIT. Tabelle 5a: Tenor Schröder und Tenor Merkel (Artikelebene) Spaltenprozente

FR SZ FAZ Welt BILD S M S M S M S M S M negativ 17.5 16.1 11.5 11.8 18.0 8.1 18.6 11.6 15.0 22.0 neutral 74.2 70.1 81.0 81.9 73.8 76.6 71.1 71.1 52.5 51.2 positiv 7.2 11.5 4.6 1.6 6.4 12.9 5.5 12.6 20.0 19.5 pos. und neg. 1.0 2.3 2.9 4.7 1.7 2.4 4.7 4.7 12.5 7.3 valides N 97 97 174 127 172 124 253 190 40 41 keine Aussage zu S. 28.1 35.6 27.8 47.3 27.1 47.5 24.9 43.6 33.3 31.7 bzw. M 38 48 67 114 64 112 84 147 20 19 N 135 241 236 337 60 Prozentpunktdiff. pos. minus neg. Tenor Titelseite 5.9 -15.4 10.3 -15.4 -7.2 -3.9 -23.6 9.7 0 0 eigene Berechnungen.

Zeit G S M S M 22.5 15.5 17.0 12.7 55.0 62.0 71.7 71.9 16.3 16.9 7.5 11.3 6.3 5.6 3.8 4.2 80 71 816 640 19.1 28.3 26.4 42.2 19 28 292 468 99 1108

0 -16.7 -4.9

-1.0

Auf Nennungsebene (Tab.5b) werden sehr viel häufiger Wertungen gefällt als im Tenor zu den Artikeln deutlich wird. So sind, alle Zeitungen zusammengenommen, nur rund die Hälfte der Äußerungen zu Schröder und Merkel neutral, und nur rund ein Fünftel, wenn beide thematisiert werden. Im Schnitt erfährt Schröder mit je rund 26 Prozent etwa gleichermaßen negative wie positive Beurteilungen, während Merkel knapp 7 Prozentpunkte mehr positive als negative Beurteilungen verzeichnet – solange jeweils nur einer der beiden Kandidaten thematisiert wird. Bei unmittelbaren Vergleichen schneidet Schröder dagegen mit knapp 46 Prozent gegenüber Merkel mit etwa 21 Prozent deutlich besser ab. Diese

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Unterschiede bei den direkten Vergleichen gehen wesentlich auf die FR und auf die WELT zurück. Insgesamt ist der Anteil solcher Vergleiche jedoch erheblich geringer als die separaten Aussagen zu Schröder und zu Merkel. Differenziert man die separaten Aussagen nach den einzelnen Medien, so kommt die redaktionelle Tendenz entlang des parteipolitischen Spektrums deutlicher zum Ausdruck als auf der Ebene der Artikel. Bei der FR erfahren zwar beide Kandidaten etwas mehr positive als negative Bewertungen, jedoch Merkel mit knapp 8 Prozentpunkten häufiger als Schröder mit 2 Prozentpunkten. Noch ausgeprägter ist der Unterschied bei der SZ mit 8 Prozentpunkten mehr positiven als negativen Urteilen zu Schröder, aber 6 Prozentpunkten mehr negativen als positiven Urteilen zu Merkel. Bei der FAZ und der WELT halten sich negative und positive Urteile zu Schröder dagegen die Waage, während Merkel mit 7 bzw. 14 Prozentpunkten häufiger positive als negativ bewertet wird. Die BILD enthält zu beiden mehr positive als negative Urteile, wobei dieses Plus aber bei Merkel mit 21 Prozentpunkten stärker ist als bei Schröder mit 7 Prozentpunkten. Schließlich öffnet sich nur bei der ZEIT entgegen gängiger Annahmen zur parteipolitischen Nähe eine deutliche Schere zwischen beiden Kandidaten auf der Grundlage eines 9 Prozentpunkte-Überhangs negativer Bewertungen Schröders gegenüber einem 13 Prozentpunkte-Überhang positiver Bewertungen Merkels. Tabelle 5b: Evaluation der Darstellung (Nennungsebene) Spaltenprozente negativ neutral positiv S positiver als M M positiver als S valides N nicht erkennbar N

negativ neutral positiv S positiver als M M positiver als S valides N nicht erkennbar N eigene Berechnungen.

S 22.5 57.1 20.4

FR M 24.8 58.1 17.1

382 1.0 4 386

B 4.5 23.9 4.5 50.7 16.4 67 0 0 67

256 0.4 1 257

B 7.4 33.3 11.1 22.2 25.9 27 0 0 27

387 1.3 5 392 BILD S M 25.0 14.5 43.0 50.0 32.0 35.5

186 0.5 1 187

S 25.7 48.9 25.4

FAZ M 19.6 54.0 26.4

699 2.6 19 718

B 4.3 30.4 8.7 34.8 21.7 23 0 0 23

865 1.3 11 876

583 1.2 7 590

Schröder 26.4 46.7 26.9

482 1.2 6 488

B 12.9 22.6 16.1 29.0 19.4 31 0 0 31

B S 4.3 28.2 31.9 44.2 2.1 27.7 36.2 25.5 47 1030 2.1 0.4 1 4 48 1034 GESAMT Merkel 20.1 53.0 26.9

3714 1.2 45 3759

3076 1.6 51 3127

S 21.2 49.4 29.5

SZ M 23.9 57.9 18.1

497 3.1 16 513 ZEIT S M 35.1 19.2 38.4 49.1 26.6 31.7

527 3.5 19 546

WELT M 18.1 50.1 31.8

896 0.3 3 899

B 12.1 5.2 2.6 58.6 21.6 116 0 0 116

Beide 8.4 19.3 5.5 45.7 21.2 311 0.3 1 312

Ferner zeigt sich auf Nennungsebene zum Fokus der Darstellung (nicht tab. ausgewiesen), dass Merkel als Privatperson häufiger negativ, Schröder als Privatperson dagegen häufiger positive Bewertungen erhält und Schröder zwar deutlich häufiger als Staatsperson dargestellt wird, dies jedoch auch häufiger mit einer negativen Beurteilung erfolgt.

Wahlkampf der Geschlechter?

183

Angesichts der öffentlichen Debatten um eine Solidarisierung von Frauen mit der ersten Frau als Herausforderin des Kanzlers, aber auch des feministischen Dilemmas um die konservative und damit „falsche“ Parteizugehörigkeit dieser Frau, stellte sich ferner die Frage, ob evtl. eine Solidarisierung von Journalistinnen mit Merkel erfolgte oder ob die Parteinähe der Journalistinnen bedeutsamer für die Äußerungen zu den Konkurrenten war. Der Vergleich des Tenors der Artikel zeigt durchaus Anzeichen für eine weibliche Solidarisierung, wenn auch nur auf geringem Niveau (nicht tab. ausgewiesen). Insgesamt erfährt Merkel von weiblichen und männlichen Autoren etwa gleich viele Artikel mit negativen Tenor (13 bzw. 11 Prozent), aber deutlich mehr mit positivem Tenor von Frauen (22 Prozent) als von Männern (11 Prozent), während Schröder ebenfalls von beiden Geschlechtern etwa gleich häufig Artikel mit einem negativen Gesamteindruck verzeichnet (21 Prozent bei Frauen, 20 Prozent bei Männern) und von Autoren geringfügig häufiger (8 Prozent) als von Autorinnen (5 Prozent) positiv beurteilt wird. Betrachtet man den Tenor zu Merkel zusätzlich bei den einzelnen Printmedien, so zeigt sich auf dem linken Medienspektrum, bei FR und SZ, dass negative Bewertungen Merkels durch Journalistinnen häufiger als durch Journalisten sind (22 bzw. 40 Prozent gegenüber 16 bzw. 10 Prozent), auf dem konservativen Spektrum und in der ZEIT aber häufiger durch männliche Autoren vorkommen (9 gegenüber 0 Prozent bei der FAZ, 13 gegenüber 8 Prozent bei der WELT und 15 gegenüber 9 Prozent bei der ZEIT). Artikel mit positivem Tenor zu Merkel finden sich häufiger von weiblichen als von männlichen Autoren bei der FR (33 gegenüber 10 Prozent), der FAZ (33 gegenüber 12 Prozent) und der ZEIT (18 gegenüber 13 Prozent), nicht aber der SZ (0 gegenüber 1 Prozent) und der WELT (15 gegenüber 17 Prozent). Alles in allem durchkreuzt das Motiv der Frauensolidarität damit zumindest teilweise die parteipolitische Verortung der Blätter.

6.

Empirische Befunde zu manifesten Thematisierungen von „Geschlecht“

Als manifeste Thematisierungen von „Geschlecht“ sind hier solche Aussagen definiert, in denen explizit auf das Faktum des Frau- oder Mann-Seins Bezug genommen wird, auf die Bedeutung des Geschlechts für das Amt des Kanzlers bzw. der Kanzlerin sowie auf Positionen und Leistungen von Schröder und Merkel in Fragen der Geschlechtergleichberechtigung und –gleichstellung. Insgesamt sind solche Äußerungen im untersuchten Sample mit 165 von 7198 Nennungen (2.3 Prozent) nur selten, kommen jedoch mit 140 Nennungen deutlich häufiger in Bezug auf Merkel als auf Schröder mit 19 Nennungen vor. Dabei ist der Zusammenhang der Thematisierung des Geschlechts mit dem höchsten Regierungsamt bei weitem am häufigsten, während die Leistungen und Positionen in der Geschlechterpolitik seltener benannt werden (Tab.6a). Bei beiden Kandidaten überwiegen im Hinblick auf die Kanzlerschaft neutrale Äußerungen, explizit negative Bewertungen finden sich in diesem Zusammenhang nur mit rund 6 Prozent, allerdings zu einer Frau als Kanzlerin. Zur Gleichstellung sind die Nennungen zu beiden Kandidaten dagegen häufiger kritisch (Tab.6b). Betrachtet man die Evaluationen dieser manifesten Thematisierungen des Geschlechts bei den verschiedenen Printmedien (Tab.6c), fällt vor allem die WELT mit 32 Prozent negativen und nur 26 Prozent positiven Aussagen zu Merkel auf, gefolgt von der FR mit 25 Prozent negativen und 20 Prozent posi-

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Bettina Westle und Ina Bieber

tiven und der SZ mit 14 Prozent negativen ohne positive Aussagen, während bei der ZEIT und der FAZ eine eher neutrale Haltung mit einem leichten bzw. deutlichem Überhang positiver über die negativen Aussagen artikuliert. Damit zeigt sich bei den manifesten Aussagen zum Geschlecht weder ein klares Muster nach parteipolitischen Nähen noch nach gendertypischen Haltungen entlang des linken bis konservativen Spektrums, vielmehr scheinen sich beide Faktoren zu überkreuzen. Tabelle 6a: Manifeste Thematisierungen von Geschlecht Schröder Merkel beide Leistung: Gleichstellung 15.8 11.4 0.0 Pos.: pro Gleichstellung 10.5 2.1 0.0 Pos,: nicht pro Gleichst. 5.3 5.7 0.0 G-F: Mann als Kanzler 52.6 1.4 0.0 G-F:Frau als Kanzlerin 15.8 79.3 0.0 G-F: Sonstiges 0.0 0.0 83.3 valides N 19 140 6 Hierfür wurden folgende Kategorien bzw. Subkategorien zusammengefasst: Fähigkeiten/Leistungen im Politikbereich Gender/Gleichstellung, Politikpositionen pro/nicht pro Gleichstellung, Gender-Frame: Mann als Kanzler, Frau als Kanzlerin; eigene Berechnungen.

Tabelle 6b: Manifeste Thematisierungen und Evaluation von Geschlecht Leistung: Pos: pro Pos. nicht pro G-F: Mann als G-F: Frau als Gleichstellung Gleichstellung Gleichstellung Kanzler Kanzlerin S M S M S M S M S M negativ 66.7 81.3 0.0 0.0 100.0 50.0 0.0 0.0 0.0 6.3 neutral 0.0 12.5 100.0 100.0 0.0 50.0 70.0 50.0 100.0 69.4 positiv 33.3 6.3 0.0 0.0 0.0 0.0 30.0 50.0 0.0 24.3 valides N 3 16 2 3 1 8 10 2 3 111 * Die nicht ausgewiesene Kategorie „beide“ umfasst 6 Nennungen, davon 5 neutral zu Frau als Kanzlerin und 1 zu neutral Gender-Frame Sonstiges; eigene Berechnungen.

Tabelle 6c: Manifeste Thematisierungen und Evaluation von Geschlecht Spaltenprozente

FR SZ FAZ WELT Schröder Merkel Schröder Merkel Schröder Merkel Schröder Merkel negativ 0.0 25.0 14.3 0.0 7.3 0.0 31.6 neutral 100.0 55.0 85.7 50.0 68.3 100.0 42.1 positiv 0.0 20.0 0.0 50.0 24.4 0.0 26.3 valides N 1 20 7 6 41 3 38 BILD ZEIT GESAMT Schröder Merkel Schröder Merkel Schröder Merkel negativ 20.0 22.2 50.0 4.0 15.8 17.1 neutral 60.0 55.6 50.0 84.0 63.2 62.1 positiv 20.0 22.2 0.0 12.0 21.1 20.7 valides N 5 9 4 25 19 140 * Die Kategorie „beide“ (6 Nennungen insgesamt) ist nicht ausgewiesen; eigene Berechnungen.

Entgegen der Annahme, manifeste Thematisierungen des Faktors Geschlecht würden sich vor allem in der frühen Phase der Untersuchung konzentrieren, sind diese relativ gleich auf alle vier Monate verteilt bzw. zeigen sogar im September den höchsten Anteil (24.2, 22.5, 20.6, 32.7 Prozent), wobei in jedem der Monate vereinzelte Thematisierungsspitzen zu

Wahlkampf der Geschlechter?

185

beobachten sind (so bspw. im Juni an einem Tag 12.7 Prozente aller Nennungen im Juni, im Juli an einem Tag 12.1 Prozent, im August an einem Tag 10.9 und im September 10.3 Prozent). Die nähere Untersuchung dieser Nennungsspitzen zeigt, dass sie jeweils wesentlich auf einen Zeitungsartikel mittleren Umfangs zurückgehen, und zwar im Juni und Juli auf die FAZ, im August auf die ZEIT und im September auf die WELT.

7.

Empirische Befunde zu latenten Thematisierungen von „Geschlecht“

Eine unterschiedliche Darstellung von Schröder und Merkel infolge ihres Geschlechts ist aber nicht nur in Form manifester Aussagen möglich, sondern auch eher latent bspw. durch unterschiedliche Schwerpunktsetzungen bei den Themen der Berichterstattung, indem etwa sog. originär politische Fragestellungen, Probleme oder Leistungen eher im Zusammenhang mit dem männlichen Kandidat, Boulevardthemen der sog. human interests eher bei der Berichterstattung zu der weiblichen Kandidatin in den Vordergrund gerückt werden. Selbst innerhalb politischer Themen sind ähnliche Differenzierungen denkbar, bspw. entlang der oben skizzierten sog. harten und weichen Politikbereiche. Betrachtet man zunächst die Häufigkeit der Themen der Darstellung (Tab.7a), so wird tatsächlich ein derartiger systematischer Unterschied deutlich, wenn auch überwiegend nur von kleinem Ausmaß. So treten zwar insgesamt bei beiden Kandidaten die originär politischen Themen erheblich häufiger auf als Boulevardthemen. Aber im Vergleich werden politische Leistungen und Positionen, Managerfähigkeiten und der Politikstil mit 2 bis 7 Prozentpunkten Differenz pro Thema eindeutig häufiger im Zusammenhang mit Schröder als mit Merkel thematisiert, bei der umgekehrt Aussagen zur Persönlichkeit, Herkunft, dem Geschlecht, dem Äußeren und dem Privatleben mit 1 bis 5 Prozentpunkten häufiger sind. Insgesamt ergibt sich damit eine Differenz von 12 Prozentpunkten mehr originär politischen Nennungen bei Schröder und umgekehrt 12 Prozentpunkten mehr privatistischen bei Merkel (die Themenbereiche Verhältnis zur Partei, Umgang mit Medien und Integrität sind weder eindeutig den politischen noch dem boulevardesken bzw. privaten Bereich zuzuordnen). Auch bei jedem einzelnen Printmedium ist dieses Muster aufzufinden, wobei zwar bei einzelnen Themen gelegentlich Ausnahmen bestehen, die jedoch keine Systematik aufweisen (solche Ausnahmen sind bspw. bei der FR die Managerfähigkeiten, bei der SZ das Äußere, bei der FAZ und der BILD die politischen Positionen, bei der ZEIT der Politikstil). In der Gesamtschau wiederholt sich jedoch in jedem Fall das Muster häufigerer originär politischer Aussagen bei Schröder und privatistischer bei Merkel. Die entsprechenden Differenzen eines Vorsprunges politischer Ausführungen zu Schröder betragen bei der FAZ nur 2, bei der FR, SZ und WELT jedoch 11-12 und bei der BILD und der ZEIT 19-20 Prozentpunkte. Umgekehrt sind privatisierende Ausführungen zu Merkel bei der FR, SZ, FAZ und WELT um 10-12 und bei der BILD und der ZEIT sogar um 15 bzw. 19 Prozentpunkte häufiger als zu Schröder. Diese Strukturunterschiede der Darstellung bleiben auch dann erhalten, wenn man die explizite Kategorie „Geschlecht“ ausschließt. Damit zeigen die BILD und die ZEIT in der Darstellung politischer versus privatisierender Darstellung von Schröder und Merkel die am weitesten auseinanderklaffende Schere entlang des Faktors Geschlecht. Erneut werden parteipolitische Nähen offenbar durch die Geschlechterfrage durchkreuzt, die zudem generell die Darstellungsunterschiede prägt.

186

Bettina Westle und Ina Bieber

Tabelle 7a: Thema der Darstellung (Nennungsebene) Spaltenprozente

FR M B Pol. Leistungen 16.1 34.3 Pol. Positionen 20.9 3.0 Managerfähigkeiten 10.7 14.9 Politikstil 10.7 13.4 Umgang m. Medien 4.6 20.9 Verhältnis z. Partei 17.9 0.0 Integrität 3.3 4.5 Persönlichkeit 1.5 3.0 Herkunft 1.8 0.0 Geschlecht 3.6 6.0 Äußeres 5.9 0.0 Privatleben 1.8 0.0 Sonstiges 1.3 0.0 valides N 392 67 BILD S M B Pol. Leistungen 21.4 7.5 11.1 Pol. Positionen 8.9 13.9 7.4 Managerfähigkeiten 13.6 8.6 14.8 Politikstil 19.8 14.4 22.2 Umgang m. Medien 4.3 4.8 11.1 Verhältnis z. Partei 10.1 5.3 0.0 Integrität 3.5 11.8 3.7 Persönlichkeit 3.5 7.5 7.4 Herkunft 4.7 8.6 7.4 Geschlecht 1.2 3.7 7.4 Äußeres 2.3 2.7 0.0 Privatleben 6.2 10.7 7.4 Sonstiges 0.4 0.5 0.0 valides N 257 187 27 * keine fehlenden Werte; eigene Berechnungen. S 21.5 23.3 9.1 17.6 4.7 11.9 6.0 2.1 0.0 0.3 0.8 1.8 1.0 386

S 21.3 26.6 8.8 19.4 1.9 7.2 3.8 3.3 0.3 0.0 2.8 1.9 2.6 718 S 15.4 18.4 20.5 20.9 1.6 11.1 3.1 3.9 1.0 0.4 1.6 1.0 1.0 488

SZ M 16.0 22.8 8.6 16.4 0.8 10.3 3.3 5.3 8.2 1.2 1.6 2.5 3.1 513 ZEIT M 5.7 13.9 12.6 22.7 2.6 11.4 3.3 5.9 10.3 3.5 4.0 0.7 3.5 546

FAZ M 17.8 29.8 9.8 12.7 1.5 6.6 4.2 1.2 3.2 5.9 2.7 3.2 1.2 590

B 13.0 13.0 60.9 8.7 0.0 0.0 0.0 4.3 0.0 0.0 0.0 0.0 0.0 23

S 22.6 25.2 9.6 14.4 2.3 14.6 5.5 0.9 1.4 0.6 0.7 1.0 1.3 876

B 6.5 9.7 22.6 25.8 6.5 9.7 9.7 3.2 0.0 0.0 3.2 3.2 0.0 31

Schröder 19.4 24.7 11.8 18.3 2.5 10.1 4.5 2.1 1.1 0.3 2.2 1.7 1.2 3759

B S 22.9 16.0 14.6 30.4 18.8 12.4 6.3 19.6 25.0 2.2 2.1 7.3 2.1 4.6 6.3 1.0 0.0 0.9 0.0 0.2 0.0 3.8 0.0 1.4 2.1 0.4 48 1034 GESAMT Merkel 12.8 23.0 9.8 16.6 2.0 10.7 4.0 3.5 5.5 3.6 4.3 2.5 1.6 3127

WELT M 11.8 27.0 8.6 18.7 1.0 11.2 3.4 2.7 3.6 3.6 6.6 1.7 0.2 899

B 14.7 5.2 29.3 19.8 18.1 0.9 3.4 3.4 0.0 0.0 5.2 0.0 0.0 116

Beide 18.9 7.4 25.0 16.3 16.7 1.6 3.8 4.2 0.6 1.9 2.2 1.0 0.3 312

Allerdings sagt die Thematisierung dieser Bereiche allein noch nichts über deren Bewertung aus. Um diese zu untersuchen und die Übersichtlichkeit zu wahren, werden die Themen nachfolgend in die drei Grobkategorien der originär politischen, Misch- und privaten Bereiche zusammengefasst, wobei die explizite Kategorie „Geschlecht“ ausgeschlossen wird, um verdeckte Doppelungen mit der manifesten Thematisierung zu vermeiden (Tab.7b). Im Gegensatz zu der reinen Häufigkeit der Thematisierung werden hier die parteipolitischen Nähen der Zeitungen deutlicher. So versehen die FR und die SZ die Äußerungen zu originär politischen Themen, wenn es um Schröder geht, häufiger mit positiven und seltener mit negativen Wertungen, als wenn es um Merkel geht, während dies bei der FAZ, der WELT und der BILD, ferner auch bei der ZEIT umgekehrt ist. Bei unmittelbaren Vergleichen der beiden Personen bekommt allerdings Schröder im Bereich der politischen Themen nahezu durchgehend, mit Ausnahme der BILD, bessere Beurteilungen als Merkel. Völlig anders gestaltet sich das Bild bei den nicht eindeutig dem Politischen oder Privaten zuzuordnenden Bereichen. Hier erfährt Merkel in allen Medien mit Ausnahme der FR häufiger als Schröder gute und seltener schlechte Bewertungen. Unmittelbare Vergleiche sind dabei selten, fallen jedoch insgesamt auch zugunsten von Merkel aus.

Wahlkampf der Geschlechter?

187

Tabelle 7b: Thema der Darstellung und Evaluation (Nennungsebene) Schröder Merkel beide Politisches Gemischt Privates Politisches Gemischt Privates Politisches Gemischt Privates FR negativ 22.6 29.0 0.0 26.2 63.2 2.7 5.2 0.0 neutral 56.2 51.6 100.0 56.2 15.8 91.9 20.7 0.0 positiv 21.2 19.4 0.0 17.7 21.1 5.4 5.2 0.0 S pos. 53.4 60.0 M pos. 15.5 40.0 val. N 340 31 10 317 19 37 58 5 SZ negativ 20.4 45.1 0.0 25.5 27.3 14.3 9.1 0.0 neutral 48.4 39.2 80.6 54.9 43.2 82.5 31.8 0.0 positiv 31.2 15.7 19.4 19.5 29.5 3.2 4.5 0.0 S pos. 31.8 100.0 M pos. 22.7 0.0 val. N 612 51 36 384 44 63 22 1 FAZ negativ 23.7 58.9 18.5 20.6 21.9 20.4 2.3 0.0 neutral 51.1 12.5 63.0 52.8 31.3 68.5 34.9 0.0 positiv 25.2 28.6 18.5 26.6 46.9 11.1 2.3 25.0 S pos. 39.5 0.0 M pos. 20.9 75.0 val. N 777 56 27 462 32 54 43 4 WELT negativ 27.9 50.0 12.9 17.8 30.9 13.3 2.9 0.0 0.0 neutral 43.6 25.9 67.7 49.4 29.1 65.7 4.9 0.0 16.7 positiv 28.5 24.1 19.4 32.8 40.0 21.0 11.8 0.0 33.3 S pos. 60.8 50.0 33.3 M pos. 19.6 50.0 16.7 val. N 908 58 62 704 55 105 102 8 6 BILD negativ 27.9 38.9 2.9 19.6 16.7 2.4 5.6 33.3 25.0 neutral 33.8 61.1 82.4 35.3 38.9 92.7 22.2 33.3 50.0 positiv 38.3 0.0 14.7 45.1 44.4 4.9 0.0 33.3 25.0 S pos. 33.3 M pos. 38.9 val. N 201 18 34 102 36 41 18 3 4 ZEIT negativ 36.0 41.2 5.6 23.4 10.0 9.8 20.0 0.0 0.0 neutral 37.6 29.4 66.7 42.8 38.0 75.6 24.0 0.0 50.0 positiv 26.4 29.4 27.8 33.8 52.0 14.6 12.0 25.0 0.0 S pos. 32.0 0.0 50.0 M pos. 12.0 75.0 0.0 val. N 428 34 18 376 50 82 25 4 2 GESAMT negativ 26.0 46.4 8.0 21.7 25.0 11.5 5.6 4.0 8.3 neutral 46.2 31.9 73.8 50.2 34.3 76.4 18.3 4.0 33.3 positiv 27.8 21.8 18.2 28.1 40.7 12.0 7.5 12.0 25.0 S pos. 48.9 32.0 25.0 M pos. 19.8 48.0 8.3 val. N 3266 248 187 2345 236 382 268 25 12 eigene Berechnungen.

188

Bettina Westle und Ina Bieber

Bei der Thematisierung von Privatem fällt zunächst auf, dass in allen Medien Wertungen deutlich seltener vorkommen als bei der des Politischen und des gemischten Bereichs, der am häufigsten Wertungen enthält. Sofern aber das Private beurteilt wird, fallen diese Urteile für Merkel deutlich ungünstiger als für Schröder aus. Insbesondere in der SZ, der ZEIT, der FAZ und auch der BILD wird zu Merkel häufiger als zu Schröder negativ und seltener positiv als zu Schröder geurteilt. D.h. also, Merkel erfährt nicht nur deutlich mehr Berichte zu Privatem, sondern diese sind auch kritischer als die Ausführungen zu Schröder. Wie oben angesprochen, können nicht nur die Themen herangezogen werden, um latente Diskriminierungen entlang des Faktors Geschlecht zu identifizieren, sondern auch deren einzelne Aspekte. Nachfolgend wird dieser Aspekt für den Bereich des Politischen sowie zusätzlich das Thema „Verhältnis zur Partei“ untersucht, indem die Subbereiche als „allgemein“, „stereotyp männlich“ und „stereotyp weiblich“ zugeordnet werden, wie unter Tab.8a erläutert. (Die anderen Themen des gemischten Bereichs, nämlich Stil, Integrität und Umgang mit Medien erlauben keine geschlechterstereotypen Zuordnungen). Im Hinblick auf die Thematisierung zeigt sich ein recht klares Muster: Generell sind die nicht stereotypen Nennungen am häufigsten, gefolgt von männlichen Stereotypen, währen die weiblichen Stereotypen das Schlusslicht bilden. In letzterem deutet sich die nach wie vor stärkere Prägung des Politischen durch Männer bzw. gesellschaftliche Vorstellungen zu Männlichkeit an. Von allen Medien werden im Zusammenhang mit Schröder häufiger als im Zusammenhang mit Merkel stereotypfreie Themen angesprochen. Dem folgen bei Schröder, wenig überraschend, männliche Stereotype, während ihm nur selten weibliche Stereotype zugeordnet sind. Anders sieht dies bei Merkel aus. Sie wird durchgehend häufiger als Schröder in Zusammenhang mit Stereotypen thematisiert und erwartungsgemäß sind dies deutlich häufiger als bei Schröder weibliche Stereotype. Aber sie wird von einigen Zeitungen (SZ, FAZ, WELT, BILD) auch häufiger als Schröder im Zusammenhang mit männlichen Stereotypisierungen dargestellt und die männlichen Stereotypisierungen sind bei ihr bei den genannten Zeitungen und der ZEIT sogar häufiger als die weiblichen Stereotype. Auch in diesen Strukturen dokumentiert sich somit der Faktor „Geschlecht“ sehr deutlich, indem er bei der Darstellung Merkels eine größere Rolle als bei der Schröders einnimmt. Zusätzlich deutet sich für Merkel der oben thematisierte Spagat zwischen Zuschreibungen und Erwartungen an Weiblichkeit und Männlichkeit an. Zwischen den verschiedenen Printmedien zeigt sich hier kein systematisches Muster.

Wahlkampf der Geschlechter?

189

Tabelle 8a: Stereotypisierungen* Spaltenprozente allgemeines männliche Stereotype weibliche Stereotype valides N

FR Schröder Merkel 61.0 47.5 31.5 25.3 7.5 254

27.2

257 BILD Schröder Merkel 58.9 43.9 34.8 37.9

SZ Schröder Merkel 78.0 71.7 17.2 20.3 4.8 460

8.0

300 ZEIT Schröder Merkel 57.3 48.3 33.6 29.3

FAZ Schröder Merkel 71.3 68.2 19.5 22.9 9.2

8.9

WELT Schröder Merkel 76.6 69.1 16.3 22.3 7.2

8.5

631

380 683 528 GESAMT Schröder Merkel 70.4 62.4 22.1 24.1

allgemeines männliche Stereotype weibliche 6.4 18.2 9.0 22.3 7.5 13.5 Stereotype valides N 141 66 321 242 2490 1773 * Der vorliegende Index ist aus den mehreren Kategorien gebildet, indem deren Subkategorien jeweils einem stereotypen männlichen oder weiblichen Bereich zugeordnet wurden bzw. keine geschlechtsspezifische Zuordnung erhielten, und zwar wie folgt: Fähigkeiten/Leistungen in verschiedenen Politikbereichen sind definiert als harte und damit stereotype männliche Bereiche Wirtschaftspolitik, Arbeitsmarkt, Haushaltspolitik, Außenpolitik, Friedenssicherung und Aufbau Ostdeutschland, als stereotype weibliche Bereiche Sozialpolitik und Geschlechtergleichstellung, als allgemeine Bereiche die restlichen Kategorien wie Politik ohne Bereich, Bilanz, Aussicht, sonstiges; in der Kategorie der Politikpositionen sind die Subkategorien pro/contra EU-Beitritt der Türkei, pro/contra Erhöhung der Mehrwertsteuer, vertritt/nicht ostdeutsche Interessen, emanzipierte/nicht e. Außenpolitik, angebots-/nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik den harten Bereichen zugeordnet, reduziert/nicht die sozialen Sicherungssysteme, pro/contra Bürgerversicherung und pro/contra Kopfpauschalen den weichen Bereichen, die restlichen Subkategorien dem allgemeinen zugeordnet; bei den Managerfähigkeiten sind die Subkategorien Tatkraft/Entscheidungsstärke, Führungsstärke/Durchsetzungskraft und eigene Weiterentwicklung den männlichen, die Subkategorien Moderations-/Kooperationsfähigkeit und fundiertes (geheimes) Wissen den weiblichen Stereotypen zugeordnet, alle anderen Kategorien den sonstigen allgemeinen Bereichen; bei dem Verhältnis zur Partei sind die Subkategorien führt die Partei an, hat Unterstützung aus der Partei und agiert unabhängig von der Partei den männlichen, die Subkategorien folgt der Partei und hat Widerstreiter in der Partei den weiblichen Stereotypen, der Rest den allgemeinen Bereichen zugeordnet. Die Kreuztabellierung weist nur die Werte für Schröder und Merkel aus, da die Werte für „beide“ hier wenig aussagefähig wären und nur wenige Nennungen umfassen; eigene Berechnungen.

In den vorliegenden Daten kommt nur ansatzweise zum Ausdruck, dass die Verbindung von „passenden, geschlechtshomogenen“ Geschlechterstereotypen positiver wahrgenommen wird als die von „unpassenden“. Vielmehr sind sowohl bei Schröder als auch bei Merkel männliche Stereotype häufiger als weibliche mit einer positiven Wertung und seltener mit einer negativen verknüpft, wenn auch bei Schröder stärker ausgeprägt als bei Merkel (Tab.8b).

190

Bettina Westle und Ina Bieber

Tabelle 8b: Stereotypisierungen und Evaluation Schröder FR allg. männl. weibl. allg. negativ 26.5 12.5 15.8 15.6 neutral 59.4 68.8 84.2 63.2 positiv 14.2 18.8 0.0 21.2 valides N 155 80 19 359 FAZ allg. männl. weibl. allg. negativ 22.2 22.0 15.5 28.5 neutral 57.8 49.6 75.9 53.0 positiv 20.0 28.4 8.6 18.5 valides N 450 123 58 523 BILD allg. männl. weibl. allg. negativ 30.1 20.4 55.6 38.8 neutral 42.2 28.6 44.4 42.1 positiv 27.7 51.0 0.0 19.1 valides N 83 49 9 183 GESAMT allgemeines männliche St. negativ 25.2 20.2 neutral 55.2 48.9 positiv 19.6 30.0 valides N 1753 559 eigene Berechnungen.

8.

Merkel SZ FR männl. weibl. allg. männl. weibl allg. 15.2 36.4 21.3 29.2 12.9 17.7 50.6 50.0 58.2 64.6 75.7 67.4 34.2 13.6 20.5 6.2 11.4 14.9 79 22 122 65 70 215 WELT FAZ männl. weibl. allg. männl. weibl allg. 16.2 30.6 17.8 25.3 5.9 14.0 45.0 55.1 59.8 54.0 73.5 62.7 38.7 14.3 22.4 22.7 20.6 23.3 111 49 259 87 34 365 ZEIT BILD männl. weibl. allg. männl. weibl allg. 31.5 17.2 20.7 8.0 50.0 17.1 45.4 65.5 37.9 52.0 25.0 49.6 23.1 17.2 41.4 40.0 25.0 33.3 108 29 29 25 12 117 GESAMT weibliche St. allgemeines männliche St. 24.2 16.9 20.1 65.1 60.4 53.9 10.8 22.7 26.0 177 1107 455

SZ männl. weibl 13.1 12.5 62.3 83.3 24.6 4.2 61 24 WELT männl. weibl 22.0 11.1 47.5 62.2 30.5 26.7 118 45 ZEIT männl. weibl 17.7 24.1 47.9 70.4 39.4 5.6 71 54 weibliche St. 15.9 69.9 14.2 211

Differenzierungen der Darstellung des Privaten

Ähnlich wie bei anderen Studien ist auch im hier untersuchten Material das Private eher randständig. Fasst man Nennungen zur Herkunft, zum Äußeren und zum Privatleben in engerem Sinn zusammen, sind dies nur 5 Prozent der 3759 Aussagen zu Schröder, aber immerhin 12.3 Prozent der 3127 Aussagen zu Merkel und 3.8 Prozent der 312 vergleichenden Aussagen zu beiden. Dabei ist die Herkunft Merkels mit 5.5 Prozent deutlich häufiger thematisiert als die Schröders mit nur 1.1 Prozent. Ihr Äußeres findet mit 4.3 gegenüber 2.2 Prozent ebenfalls mehr Aufmerksamkeit wie auch ihr Privatleben mit 2.5 gegenüber 1.7 Prozent der Aussagen zu Schröders Privatleben (vgl. Tab.7a und 9c). Tabelle 9a: Thematisierungen von Herkunft, Äußerem und Privatleben Spaltenprozente West/Ost

Herkunft S M B 17.5 48.6 0.0 Allgemein

Eltern, Aus72.5 bildung Sonstiges 10.0 valides N 40 eigene Berechnungen.

44.5 100.0 Haare, Figur, Kleidung 6.9 0.0 Mimik,Gestik 173 2 valides N

Äußeres S M B 24.4 21.8 14.3 Ehe/n,Kinder, fam. Rollen 29.3 48.9 42.9 Freunde, Freizeit, 46.3 29.3 42.9 Sonst. 82 133 7 valides N

Privatleben S M B 49.2 64.1 0.0 50.8

65

35.9 100.0

78

3

Wahlkampf der Geschlechter?

191

Tabelle 9b: Thematisierung und Evaluation von Herkunft, Äußerem und Privatleben

negativ neutral positiv S pos. M pos. val. N

Schröder West/Ost Eltern, Ausbildung 0.0 10.3 100.0 72.4 0.0 17.2

7

Allgemein

negativ neutral positiv S pos. M pos. val. N

10.0 50.0 40.0

20

29 Schröder Haare, Figur, Kleidung 4.2 70.8 25.0

24

Sonst.

0.0 100.0 0.0

4

77 Äußeres Merkel Mimik, Allge-mein Haare, Gestik Figur, Kleidung 18.4 20.7 14.1 65.8 65.5 64.1 15.8 13.8 21.9

38

Schröder Ehe/n, Kinder, Freunde, familiäre Rollen Freizeit, Sonstiges 0.0 6.1 90.6 75.8 9.4 18.2

negativ neutral positiv S pos. M pos. val. N 32 eigene Berechnungen.

Herkunft Merkel West/Ost Eltern, Ausbildung 3.6 3.9 88.0 84.4 8.4 11.7

33

83

Sonst.

16.7 75.0 8.3

12

Mimik, Gestik 23.1 59.0 17.9

29

64 39 Privatleben Merkel Ehe/n, Kinder, Freunde, familiäre Rollen Freizeit, Sonstiges 22.0 3.6 76.0 85.7 2.0 10.7

50

West/Ost

28

-

Allgemein

0.0 0.0 0.0 100.0 0.0 1

Beide Eltern, Ausbildung 50.0 0.0 50.0 0.0 0.0 2 Beide Haare, Figur, Kleidung 0.0 33.3 66.7 0.0 0.0 3

Sonst.

-

Mimik, Gestik 0.0 33.3 0.0 33.3 33.3 3

Beide Ehe/n, Kinder, Freunde, familiäre Rollen Freizeit, Sonstiges 0.0 66.7 0.0 33.3 0.0 3

Bei der Herkunft Schröders steht überwiegend seine Kindheit in einem nicht sehr wohlhabenden Elternhaus im Mittelpunkt, während bei Merkel die Herkunft aus Ostdeutschland häufiger erwähnt wird als der religiöse Hintergrund ihres Elternhauses (Tab.9a). Bei beiden handelt es sich hierbei überwiegend um neutrale Hintergrundinformationen, insgesamt erfährt Merkel jedoch zu ihrer Herkunft etwas mehr negative Wertungen als Schröder (Tab.9b). Unter Gender-Perspektive besonders auffällig ist, dass sich Aussagen zu optischen Attributen wie die Figur, Frisur und Kleidung sehr viel häufiger in Bezug auf Merkel finden, während den Medien bei Schröder Mimik und Gestik vergleichweise erwähnenswerter sind. Der größte Teil der Aussagen zum Äußeren ist zwar neutral, aber es finden sich auch deutliche Anteile mit negativer und mit positiver Wertung, und zwar bei Merkel häufiger als bei Schröder (Tab.9a,b). Auch in Bezug auf das Privatleben in engerem Sinn findet sich ein Unterschied in der Behandlung der beiden Kandidaten, insofern als Merkels familiäre Verhältnisse etwas häu-

192

Bettina Westle und Ina Bieber

figer als die Schröders Thema in den Medien sind, und auch deutlich häufiger mit abwertender Sicht (Tab.9a,b). Tabelle 9c: Thematisierungen von Herkunft, Äußerem und Privatleben – zusammengefasst in den verschiedenen Medien Prozentanteile aller Nennungen (fehl. Werte zu 100% =anderes)

FR

SZ

FAZ

Privates valides N

2.6 386

5.0 718

3.1 876

Privates valides N

9.4 392

12.3 513

9.2 590

Privates valides N

0.0 67

0.0 23

0.0 48

WELT

Schröder 6.0 1034 Merkel 11.9 899 Beide 5.2 116

BILD

ZEIT

GESAMT

13.2 257

3.7 488

5.0 3759

22.0 187

15.0 546

12.2 3127

14.8 27

6.5 31

3.8 312

Zur Untersuchung von Unterschieden zwischen den Medien werden die Kategorien Herkunft, Äußeres und Privatleben zur Kategorie „Privates“ zusammengefasst. Wie erwartet kommt dieser Themenbereich am häufigsten in der BILD vor, geht aber keineswegs auf das Boulevardblatt alleine zurück, denn auch in der ZEIT, der WELT und des der SZ finden sich nennenswerte Anteile dieses Themas, insbesondere in Bezug auf Merkel (Tab.9c). Entgegen gängiger Vermutungen hält sich die BILD aber mit Wertungen dieser Themen stark zurück – im Gegensatz zur WELT, ZEIT und FAZ. Dabei betreffen negative Wertungen Merkel häufiger als Schröder, der mehr positive Urteile erhält. Einen besonderen Kontrast zeigt die SZ, die neben den neutralen Aussagen für Schröder nur positive und für Merkel dominant negative Aussagen zum Privaten trifft (Tab.9d). Tabelle 9d: Thematisierungen und Evaluation des Privaten – zusammengefasst in den verschiedenen Medien FR

SZ

FAZ

negativ neutral positiv valides N

0.0 100.0 0.0 10

0.0 80.6 19.4 36

18.5 63.0 18.,5 27

negativ neutral positiv valides N

2.7 91.9 5.4 37

14.3 82.5 3.2 63

20.4 69.5 11.1 54

negativ neutral positiv S positiver als M M positiver als S valides N

-

-

-

WELT Schröder 12.9 67.7 19.4 62 Merkel 13.3 65.7 21.0 105 Beide 0.0 16.7 33.3 33.3 16.7 6

BILD

ZEIT

GESAMT

2.9 82.4 14.7 34

5.6 66.7 27.8 18

8.0 73.8 18.2 187

2.4 92.7 4.9 41

9.8 75.6 14.6 82

11.5 76.4 12.0 382

25.0 50.0 25.0 0.0 0.0 4

0.0 50.0 0.0 50.0 0.0 2

8.3 33.3 25.0 25.0 8.3 12

Wahlkampf der Geschlechter? 9.

193

Schlussbemerkungen

Die vorliegende Analyse der Berichterstattung im Rahmen des Bundestagswahlkampfs 2005 in ausgewählten Printmedien konzentrierte sich auf die Frage, inwieweit die zum Kanzleramt Kandidierenden im Hinblick auf Präsenz, Beurteilung und manifester sowie latenter Thematisierung des Faktors „Geschlecht“ gleich oder aber unterschiedlich behandelt wurden. Darüber hinaus wurde gefragt, ob sich in den Darstellungen eine Korrespondenz zu der Verortung der Medien entlang des parteipolitischen Spektrums oder aber entlang eines gendertypischen Spektrums zeigt. Ersteres müsste in einer Bevorzugung Schröders durch eher linke bzw. linksliberale und einer Bevorzugung Merkels durch eher rechte bzw. konservative Blätter Ausdruck finden, während die zweite Alternative umgekehrt eine Benachteiligung Merkels bei konservativer und Schröders bei liberaler bzw. linker redaktioneller Linie nach sich ziehen müsste. Die Befunde der Analysen stützen und ergänzen teilweise andere Studien, stehen zum Teil aber auch in Gegensatz zu diesen. In bisherigen Untersuchungen der Präsenz wurde meist festgestellt, dass Gerhard Schröder und Angela Merkel in der Zeitungsberichterstattung des Bundestagswahlkampfes 2005 nahezu gleichermaßen präsent sind und ein Kanzlerbonus nicht zu identifizieren sei (vgl.o.). In der hier vorgelegten Analyse konnte jedoch ein deutlicher Kanzlerbonus auf der Artikelebene (mit Ausnahme der BILD), in reduzierter Form auch auf der Nennungsebene identifiziert werden (mit Ausnahme der FR). Dieser Kanzlerbonus spiegelt sich auch bei den Hauptaufmachern wider und zeigt sich inhaltlich deutlich durch den großen Anteil von Aussagen zu Schröder als Staatsperson, während Aussagen zu Merkel diese eher als Politikerin und Wahlkämpferin thematisieren. Der Vorsprung Schröders in der Präsenz schmilzt allerdings im Zeitablauf. Ab August gleicht sich die Präsenz Merkels an die Schröders an. Dies plausibilisiert möglicherweise, warum bisherige Studien den Kanzlerbonus nicht feststellen konnten, da diese einen kürzeren Zeitraum als die vorliegende Studie umfassen. Zur Beurteilung der Kandidaten in den Medien stellten bisherige Analysen eine nahezu ausgewogene Berichterstattung fest (vgl.o.). Dieser Befund wird hier für die Artikelebene weitgehend gestützt, da überwiegend ein neutraler Tenor zu verzeichnen ist. Daneben findet sich jedoch ein Überwiegen des negativen Tenors, wobei dieser Merkel etwas häufiger als Schröder trifft. Insbesondere auf den Titelseiten zeigt sich eine Bevorzugung Schröders vom linken und Merkels vom rechten Spektrum. Besonders interessant und etwas abweichend zu anderen Studien ist jedoch der Unterschied zwischen Artikel- und Nennungsebene. Die Artikel enthalten nämlich auf der Ebene der einzelnen Aussagen sehr viel mehr Wertungen als der Tenor vermuten lässt. Und auf dieser Ebene wird über Merkel häufiger positiv, über Schröder ausgeglichen berichtet, wobei hier klare Unterschiede zwischen den Zeitungen entlang der parteipolitischen Verortung zu verbuchen sind. Da mit Angela Merkel zum ersten Mal eine Frau als Kanzlerkandidatin antrat, stellte sich die Frage, welche Rolle das Geschlecht in der Medienberichterstattung bei der Bundestagswahl 2005 spielt. Eine Solidarisierung durch Journalistinnen konnte hier nur auf geringem Niveau beobachtet werden, allerdings durchkreuzt sie teilweise die parteipolitische Richtung der Blätter. Ähnlich wie in bisherigen Untersuchungen (vgl.o.) sind manifeste Aussagen, die das Geschlecht der Kandidaten explizit thematisieren, insgesamt selten, kommen aber zu Merkel häufiger vor als zu Schröder. Die eingangs formulierte Annahme, dass die manifeste Thematisierung des Geschlechts vor allem direkt nach der Nominierung Angela Merkels zur Kanz-

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Bettina Westle und Ina Bieber

lerkandidatin eine bedeutendere Rolle gespielt haben könnte und im Laufe des Wahlkampfes eher abnimmt, kann mit den vorliegenden Daten jedoch nicht gestützt werden. „Geschlecht“ kann in der Medienberichterstattung auch auf subtilere Art eine Rolle spielen, bspw. wenn Kandidat/innen im Kontext von stereotyp weiblichen oder männlichen Themenbereichen, Eigenschaften oder Verhaltensweisen präsentiert werden. Entgegen den Befunden anderer Studien (bes. Koch/Holtz-Bacha 2008, Jansen/Bente/Krämer 2009) zeigt sich hier durchaus, dass Schröder häufiger im Kontext originär politischer und Merkel häufiger im Kontext privatistischer Themen behandelt wird. Dies betrifft bei Schröder stereotyp männliche Bereiche wie politische Leistungen und Issue-Positionen und Managerfähigkeiten, bei Merkel die Herkunft, Äußerlichkeiten und das Privatlebens in der Berichterstattung auftrat. Während bei den politischen Themen ein Überhang positiver Wertungen zu Schröder in den linken und zu Merkel in den konservativen Blättern zu beobachten ist, sind Wertungen zu den unpolitischen Bereichen seltener, aber deutlich ungünstiger für Merkel als für Schröder. Wenn man die Nennungen inhaltlich differenziert betrachtet, sind zwar stereotypfreie Aussagen am häufigsten, diesen folgen jedoch männliche Geschlechterstereotype mit deutlichem Abstand vor weiblichen Geschlechterstereotypen. Darin dokumentiert sich die nach wie vor männliche Prägung des Politischen. Auch wird Merkel deutlich häufiger als Schröder im Zusammenhang mit Geschlechterstereotypen thematisiert, wobei sich in der gleichzeitigen Zuschreibung von weiblichen und noch mehr männlichen Stereotypen der Spagat zwischen Erwartungen an Weiblichkeit und Männlichkeit andeutet, während Schröder dominant nur mit männlichen Stereotypen assoziiert wird. Sowohl bei den manifesten als auch bei den latenten Thematisierungen des Faktors „Geschlecht“ kann kein klares Muster zwischen den Medien entlang des parteipolitischen Spektrums identifiziert werden; vermutet wird, dass sich hierbei die Positionen zu den Parteien mit denen zur Rolle der Geschlechter kreuzen. Somit konnte im Rahmen dieser Untersuchung nachgewiesen werden, dass das Geschlecht in der Berichterstattung der Printmedien im Vorfeld der Bundestagswahl 2005 zwar keine zentrale, aber dennoch eine bemerkenswerte Rolle sowohl hinsichtlich Präsenz, Beurteilung und geschlechtsspezifischer Darstellung gespielt hat. Dies scheint sich mit der Beobachtung der Kanzlerkandidatin Angela Merkel zu decken, die zu Beginn des Wahlkampfes noch darauf hinwies, dass das Geschlecht im Wahlkampf keine Rolle spielen soll (Merkel 2005), jedoch in einem Interview mit Alice Schwarzer (2005) sechs Wochen vor der Wahl äußerte: „…bin ich noch nie in meiner politischen Laufbahn so stark als Frau wahrgenommen worden wie in den letzten Monaten. Im Gegenzug habe ich mich in einem für mich ungewohnten Maße auch öffentlich zu meinem Frausein bekannt. Und damit meine ich jetzt nicht nur das Schminken …“.

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Macht – Mehrheit – Merkel? Wahrnehmung des Meinungsklimas zu Frauen in politischen Führungspositionen und zur Kanzler/in-Präferenz Macht – Mehrheit – Merkel?

Bettina Westle und Thomas Schübel

1.

Schwankende Mehrheiten

Während die Union in den meisten Umfragen vor der Bundestagswahl über 40 Prozent der Stimmen erhielt, rutschte sie am Wahltag im September 2005 auf 35.2 Prozent der Zweitstimmen ab.1 Dieser Einbruch wurde verschiedentlich mit Ressentiments gegenüber einer Frau an der Spitze der deutschen Regierung erklärt (z.B. Gellner 2005, Köcher 2005). Diese Erklärung ließ jedoch offen, warum sich solche Skepsis gegenüber einer Frau an der Staatsspitze in den Umfragen vor der Wahl nicht gezeigt hat. Als Ursache dafür thematisierte Manfred Güllner, Geschäftsführer des Umfrageinstituts forsa, Effekte sozialer Erwünschtheit: Vielen Wählerinnen und Wählern sei bewusst gewesen, dass Vorbehalte gegenüber einer Frau nicht der gesellschaftlichen Norm der Chancengleichheit der Geschlechter entsprechen. Aus Furcht davor, als diskriminierend zu gelten, hätten sie in Umfragen angegeben, Angela Merkel bzw. die Union wählen zu wollen, dies aber dann nicht getan (2005a).2 Insbesondere unter dem konservativen Wählerpotenzial der Union seien solche Ressentiments vermutlich besonders stark gewesen (2005b).3 Ähnlich vermutete auch Alice Schwarzer, Feministin und Herausgeberin der Zeitschrift EMMA, in einem Interview zum Wahlergebnis (2005): „...unter den zwei Millionen abgewanderten CDU/CSU-Wählern war sicherlich so mancher Macho, der auch der Kandidatin eine Absage erteilen wollte“. Und bereits vor der Wahl schrieb die Journalistin Evelyn Roll (2005) in der Süddeutschen Zeitung: „Zum Beispiel scheint die einfache Aussage: Ich traue einer Frau die Kanzlerschaft nicht zu, tabuisiert zu sein. Weswegen viele Menschen, auch Leitartikler und grüne Feministinnen zur Harmonisierung ihrer kognitiven Dissonanzen sagen müssen: Ich traue das einer Frau selbstverständlich zu. Aber nicht dieser.“ Alle diese Vermutungen thematisieren also (a) die Annahme eines Meinungsklimas in der Bundesrepublik, das Frauen in der Politik diskriminiert, wobei diese Haltung (b) in Umfragen jedoch verborgen würde, da die Befragten sich ihrer sozialen Unerwünschtheit bewusst seien. Zum expliziten Forschungsthema ist diese Problematik bislang jedoch kaum gemacht worden. Vor dem Hintergrund dieser Vermutungen soll im vorliegenden Abschnitt den Fragen nachgegangen werden, (a) inwieweit sich Anhaltspunkte für oder gegen ein 1

Quelle: http://www.wahlrecht.de/umfragen/archiv/ 2005.htm. Ein ähnliches Problem ist aus der amerikanischen Forschung bereits länger bekannt (Citrin et al. 1990; Finkel et al. 1991; Traugott/Price 1991). Dort ist von einem „Bradley“-Effekt die Rede, wenn afroamerikanische Kandidat/innen in Wahlumfragen deutlich mehr Unterstützung erfahren als bei der eigentlichen Wahlentscheidung. 3 Als weitere Erklärungen sind Vorbehalte gegenüber einer Protestantin oder einer Person aus Ostdeutschland an der Regierungsspitze angeführt worden, zumal letztere durch entsprechende Äußerungen Edmund Stoibers öffentlich thematisiert worden waren (vgl. Güllner 2005b). 2

Macht – Mehrheit – Merkel?

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solches Meinungsklima finden lassen und (b) inwieweit diesbezügliche political correctness in Wahlumfragen eine Rolle spielt. Eine grundsätzliche Schwierigkeit dabei besteht darin, dass diese Fragestellungen wiederum auf der Grundlage von Umfragedaten bearbeitet werden müssen, die zudem nicht explizit auf dieses Forschungsproblem zugeschnitten wurden. Dennoch wird hier nicht die Auffassung geteilt, dass dies ein völlig aussichtsloses Unterfangen ist und nur Experimentaldesigns hierfür in Frage kommen.4 Vielmehr erscheint es zwar durchaus schwierig, aber dennoch sinnvoll, der Frage nach dem Problem sozialer Erwünschtheit in Umfragen bei dem „Faktor Geschlecht“ mit unterschiedlichen Ansätzen, darunter auch Befragungen selbst, näherzukommen. Im vorliegenden Fall soll dies vor allem über den Vergleich von manifestiertem und vermuteten/wahrgenommenen Meinungsklimata erfolgen. Dazu wird nachfolgend zunächst das Begriffsfeld von Meinung, Meinungsklima und wahrgenommenem/vermutetem Meinungsklima erläutert, um darauf aufbauend Fragen und Hypothesen zu entwickeln.

2.

Meinungen, Meinungsklimata und Meinungen über Meinungsklimata

Politische Meinungen und Präferenzen entstehen nicht als exklusiver individueller Prozess, vielmehr ist ihre Genese immer in einen gesellschaftlichen Kontext eingebettet. Dabei nehmen der Gedankenaustausch im engeren Umfeld, bspw. mit Freunden, mit Gleichgesinnten sowie der hitzige Streit mit politisch anders Denkenden ebenso wie Informationen aus Nachrichtensendungen oder politischen Reportagen in den Massenmedien wichtige Rollen ein. Darüber hinaus kann auch die Beobachtung des weiteren Umfelds Funktionen für die eigene Meinungsbildung übernehmen, zumeist wiederum über Massenmedien transportiert, so etwa Diskussionen unter Prominenten in Polittalkshows oder Berichte über die Meinungsverteilung bei der Wahlbevölkerung anhand von Umfragedaten. Insbesondere dann, wenn man sich seiner Meinung zu einer Sachlage noch unsicher ist, dürfte die Suche 4

U.W. befassen sich nur Klein/Rosar mit der Thematik, ob „Deutschland reif für eine Kanzlerin“ sei. Dabei gehen sie davon aus, dass Befragungen ungeeignet für die Untersuchung des Problems sind und bearbeiten das Thema auf experimenteller Grundlage, bei der das Geschlecht und die physische Erscheinung fiktiver Kandidaten variiert wird. Sie kommen zu dem Befund, dass nicht das Geschlecht, sondern die Attraktivität der Kandidaten die entscheidende Rolle spielt. Ihre Schlussfolgerung besagt: „Wenn selbst in einer experimentellen Situation, in der den Probanden nur das Geschlecht und die Attraktivität des Herausforderers bekannt sind, das Geschlecht keine Bedeutung für die Urteilsbildung hat, warum sollte es dann im wirklichen Leben von Bedeutung sein?“ (2007:288). Die Antwort darauf ist schon fast trivial: Weil ein Experiment nicht das wirkliche Leben ist! Der Experimentalaufbau hat zwar, anders als Befragungen, die Stärke, systematische Variationen und damit kausale Folgerungen zu ermöglichen, aber die Teilnehmer wissen schließlich um die Tatsache, dass es sich nicht um das wirkliche Leben handelt und könnten daher durchaus andere Reaktionen zeigen als außerhalb der Experimentalsituation im Alltag. Auch einige Vorgehensweisen des Designs betonen die Künstlichkeit der Situation, so z.B. Wahlplakate mit Merkel und Schröder, in denen beiden jeweils einmal die Unions- und einmal die SPD-Mitgliedschaft zugeschrieben wird, denn die tatsächliche Parteimitgliedschaft beider Kandidaten dürfte in der Bevölkerung hinreichend bekannt gewesen sein. Fraglich ist auch, ob für die Probanden der Untersuchungszweck nicht relativ leicht durchschaubar war und daher durchaus ebenfalls Effekte sozialer Wünschbarkeit aufgetreten sein könnten. Ferner kann auch die nachträgliche Kontrolle verschiedener demografischer Merkmale der Probanden nicht alle mit einer Online-Erhebung verbundenen Repräsentativitätsprobleme ausblenden. Schließlich können mit diesem Design zwar möglicherweise Anhaltspunkte für die Bedeutsamkeit des Faktors Geschlecht bei Wahlentscheidungen gefunden werden, jedoch ist fraglich, inwieweit damit Aussagen über das Verbergen sozial unerwünschter Meinungen in Umfragen möglich sind. Diese Kritik soll jedoch keinesfalls die interessanten Befunde zur Bedeutung physischer Attraktivität schmälern.

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Bettina Westle und Thomas Schübel

nach weiteren Informationen und der Meinung anderer Menschen naheliegen, aber auch dann, wenn bspw. zur eigenen Meinung konträre Positionen zu Verunsicherungen führen. Mit der ersten Kandidatur einer Frau zum Amt der Bundeskanzlerin war im Jahr 2005 eine Situation eingetreten, die durchaus zu Unsicherheiten beitrug, welche einer solchen Informationssuche und Orientierung an anderen förderlich sein konnten. So wurde bereits am Tag der Ankündigung von Neuwahlen in einem Medienbeitrag gefragt: „Ist dieses Land reif für eine Kanzlerin?“ (ZDF-spezial). Der Neuigkeitswert der weiblichen Kanzlerkandidatur dürfte nicht nur in den Medien, sondern auch in der Wählerschaft Unsicherheiten erzeugt haben, allerdings auch auf durchaus bereits vorgeprägte Einstellungen zur Rolle von Frauen in der Politik getroffen sein und trug damit nicht nur Unsicherheits-, sondern auch Verunsicherungspotenziale. Irritationen konnten außerdem dadurch entstanden sein, dass diese Kandidatur aus einer konservativen Partei kam, die bis zu diesem Zeitpunkt nicht für feministische Politik bekannt war, sondern in Fragen zur gesellschaftlichen und politischen Rolle der Frau traditionelle Positionen einnahm. Während damit plausibilisiert ist, dass Meinungsunsicherheiten zentrale Gründe für eine Hinwendung zum Meinungsklima darstellen können, ist weiter zu fragen, wie Bürgerinnen und Bürger überhaupt zu ihren Annahmen über das gesellschaftliche Meinungsklima gelangen und welche Effekte diese wiederum auf die eigene Meinung haben können.5 Für zutreffende und für Fehlwahrnehmungen der sozialen Realität existieren innerhalb der Wissenschaft je nach Forschungsdisziplin unterschiedliche Erklärungsansätze: So wurde bei Erhebungen mehrfach festgestellt, dass von Befragten die eigene Meinung überzufällig oft gleichzeitig als die in der Gesellschaft vorherrschende Position genannt wird (Fields/Schumann 1976, Taylor 1982). Warum dies so ist, wird in der Sozialpsychologie mit dem Konzept der „looking glass perception“ begründet. Demnach neigen Menschen insbesondere bei spärlicher Verfügbarkeit von Umweltinformationen dazu, die Mehrheit der Gesellschaft als Spiegelbild ihrer eigenen Meinungen zu betrachten; sie übertragen also die eigene Meinung auf ihre Vermutung über die vorherrschende gesamtgesellschaftliche Meinung. Dies führt zu einer systematischen Überschätzung des Lagers der eigenen Position. Eine Bedeutung der – solchermaßen psychologisch verzerrt – vermuteten Mehrheitsmeinung auf die eigene Meinung besteht in diesem Fall dann vor allem in der Verstärkung der schon eingenommenen Position. Zu Abweichungen zwischen tatsächlichem und wahrgenommenem Meinungsklima kommt es aus Sicht der Sozialpsychologie zweitens auch dann, wenn Personen primär auf der Grundlage von Alltagsbeobachtungen ihres direkten sozialen Umfelds auf die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse schließen. Eine wichtige Rolle wird dabei der interpersonalen Kommunikation zugeschrieben (Fields/Schumann 1976, O’Gorman 1986). Demnach ist die Gefahr von Fehleinschätzungen am größten, wenn das lokale Meinungsklima für die Gesellschaft nicht repräsentativ ist und sich die Menschen dieser Tatsache jedoch nicht bewusst sind. Daher wird in diesen Ansätzen der „pluralistischen Ignoranz“ die milieugebundene Prägung öffentlichkeitsbezogener Wahrnehmungen betont. Damit lassen sich allerdings umfangreiche Abweichungen zwischen tatsächlichem und vermutetem Meinungsklima im Aggregat nicht plausibilisieren. 5

Die pauschale Vermutung der Existenz eines „quasistatistischen Sinns“ (Noelle-Neumann 1975), welcher Menschen dazu befähigt, die öffentliche Meinung kontinuierlich (auch unbewusst) wahrzunehmen, ist dadurch widerlegt, dass das wahrgenommene nicht selten beträchtlich vom tatsächlichen Meinungsklima abweicht (Taylor 1982, Marcinkowski 2006).

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In der Kommunikationswissenschaft stehen dagegen zur Erklärung von Zusammenhängen zwischen Meinung bzw. Meinungsklima und seiner Wahrnehmung die Massenmedien im Mittelpunkt. An die Stelle zwischenmenschlicher Kommunikation in primären Bezugsgruppen komme heutzutage in modernen Flächenstaaten vorwiegend der öffentlichen Kommunikation die zentrale Rolle bei der Wahrnehmung der öffentlichen Meinung zu. Zwar wird die Wahrnehmung der Mehrheitsmeinung nicht als exaktes Abbild der Medienberichterstattung verstanden (zumal diese nicht notwendig homogen ist), jedoch wird durchaus von Effekten ausgegangen, da kaum andere Möglichkeiten bestünden, sich ein Bild von der Mehrheitsmeinung zu machen. Insbesondere konsonante und kumulative Berichterstattung sollten demnach Auswirkungen auf die Vorstellungen zur Mehrheitsmeinung und darüber vermittelt ggf. auch auf die tatsächliche Mehrheitsmeinung zeitigen (vgl. z.B. Kepplinger 2002). In diesem Zusammenhang hat vor allem die Theorie der „Schweigespirale“ Bekanntheit erlangt (Noelle-Neumann 1974, 1989). Danach kommt es zu verzerrten Wahrnehmungen des Meinungsklimas besonders dann, wenn die Medien andere Mehrheitsverhältnisse vorspiegeln als sie tatsächlich in der Bevölkerung existieren („doppeltes Meinungsklima“). In der Folge wird dann allerdings ein Einfluss solcher Wahrnehmungen auf die individuellen Positionen postuliert, der mittelfristig – durch zunehmendes Verstummen der Bürger/innen, die sich in einer Minderheitenposition glauben – wiederum zu einer Annäherung von wahrgenommenem und gemessenem (aber gegenüber zuvor verändertem) Meinungsklima führen sollte. Aus der Sozialpsychologie ist zudem bekannt, dass, warum und unter welchen Umständen die Einschätzung der „öffentlichen Meinung“ für die eigene Position in politischen Fragen – über den Faktor der Unsicherheit/Verunsicherung hinaus – Bedeutung gewinnen kann. Wiederholt wurde gezeigt, dass Menschen dazu neigen, ihre eigenen Einstellungen und Verhaltensweisen daran anzupassen, was sie für die mehrheitlich geteilten Anschauungen, Werte und Präferenzen ihrer sozialen Umwelt halten, um die Erwartungen ihrer Mitmenschen nicht zu enttäuschen bzw. um sich selbst sicher zu fühlen. Als Gründe für diese Anpassung gelten daher neben der Meinungsunsicherheit die Furcht vor gesellschaftlicher Isolation und das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung. Diese können sowohl dazu beitragen, die eigene Meinung tatsächlich zu verändern, als auch dazu führen, eine bereits vorhandene, abweichende Meinung in Befragungen lediglich zu verbergen und entsprechend der vermuteten sozialen Wünschbarkeit zu antworten (vgl. Asch 1951, 1956, Jahoda 1959, Milgram 1961). Auf letzteres deuten empirische Befunde, wonach vor allem solche Respondenten, die ihre Meinung für eine Minderheitenposition halten, dazu tendieren, diese Meinung hinter „weiß nicht“ Antworten oder unzutreffenden Antworten zu verbergen (Noelle-Neumann 1974, Gerhards 1996, Glynn et al. 1997, Neuwirth 2000). Besonders anfällig für Effekte sozialer Wünschbarkeit sind Themen, welche stark von gesellschaftlichen Normen tangiert werden (Collins 1980, Renzetti/Lee 1993). Hierbei entsteht also für die Forschung das Problem, dass nicht oder nur sehr schwer unterscheidbar ist, inwieweit Befragte ihre Positionen real an die von ihnen wahrgenommenen sozialen Normen bzw. an die vermutete Mehrheitsmeinung anpassen oder nur im Rahmen der Erhebungssituation dementsprechend verzerrte Aussagen treffen. Darüber hinaus wird angenommen, dass Verzerrungen umso wahrscheinlicher sind, je weniger anonym die Erhebungsmethode ist. So kann eine positive Selbstpräsentation insbesondere in einer Face-to-Face-Interviewsituation Bedeutung erlangen, da ein fassbares Gegenüber existiert. In solchen Fällen würden Interviewte versuchen aufgrund äußerer Merkmale des Interviewers auf dessen Einstellungen zu

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schließen und ihre Antworten den vermuteten Auffassungen des Interviewers anzupassen, um so eine spannungsfreie Interviewsituation zu gewährleisten (z.B. de Leeuw/van der Zouwen 1988; Reinecke 1993, Tourangeau et al. 2000, Haunberger 2006). Insgesamt ist vor dem Hintergrund dieser Ansätze und Befunde davon auszugehen, dass zwischen der eigenen Meinung zu einer Thematik und der Wahrnehmung des Meinungsklimas zu derselben Thematik kein einseitiges Kausalverhältnis besteht, sondern komplexe Wechselprozesse ablaufen. So kann die eigene Meinung davon mitgeprägt werden, was man als Meinungsklima wahrnimmt. Umgekehrt besteht die Tendenz bei Mangel an Informationen die eigene Einstellung auf das gesellschaftliche Meinungsklima zu projizieren. Hinzu kommt in Umfragen die Schwierigkeit, dass soziale Wünschbarkeit die Ehrlichkeit von Antworten tangiert. In der Forschung zum Meinungsklima bislang nicht berücksichtigt wurde die Ebene zwischen dem unmittelbaren, lokalen sozialen Kontext und den (nationalen) Massenmedien als potenziellen Orientierungsgrößen. Gesellschaftliche Wertvorstellungen, Meinungen und Präferenzen sind jedoch nicht notwendig nur entlang dieser Größen organisiert, sondern auch entlang der Zugehörigkeit zu sozialen Gruppierungen, denen spezifische Interessenlagen zugeschrieben werden und die daher auch zu normativen Bezugsgruppen werden können (vgl. z.B. Hyman/Singer 1968, Singer 1981, Becker 2005). So können sich bspw. die gesellschaftlichen Normvorstellungen von Christen von denen anderer Religionen unterscheiden; die Vorbilder und Meinungen von Jugendlichen können mit denen der Älteren kontrastieren; die Interessen und Präferenzen von Angehörigen der Arbeiterschaft können mit denen der Mittel- oder Oberschicht konfligieren etc. oder wie im vorliegenden Fall die Geschlechter als relevante soziale Kategorien. Denkbar ist nun, dass die Zugehörigkeit zu und die Orientierung an solchen Gruppierungen bei politischen Themen, die für die jeweiligen sozialen Kategorien relevant sind, ebenso wichtig oder sogar bedeutsamer sind als die Orientierung am lokalen sozialen Umfeld oder an einer medial vermittelten, vorgestellten nationalen Mehrheitsmeinung. Zu den Angehörigen der jeweiligen kontrastierenden Gruppierungen können zudem mehr oder weniger stereotype Vorstellungen über deren Meinungen darüber hinaus als Informationsheuristiken dienen. Insbesondere hierbei wird deutlich, dass die Entstehung von Auffassungen über Meinungsklimata kein ausschließlich passiv-rezeptiver Prozess sein muss, sondern dabei auch aktive Komponenten der Selektion von erhaltenen Informationen, der selektiven Hinwendung zu Informationsträgern, der Orientierung an ausgewählten Heuristiken bis hin zur Stereotypisierung eine Rolle spielen können. Im Verhältnis zwischen Meinung und Meinungsklimata von Eigen- und Kontrastgruppe sind mithin beide angeführten Prozesse möglich – also Beeinflussung der eigenen Meinung durch wahrgenommene Meinungsklimata sowie Übertragung der eigenen Position auf die Eigengruppe und evtl. Entgegensetzung zu der Kontrastgruppe. In jedem Fall aber geben Vorstellungen zu Meinungsklimata konkurrierender Gruppierungen Auskunft darüber, was die Bevölkerung als gesellschaftliche relevante Strömungen vermutet – und: Diese Vorstellungen sollten erheblich weniger von dem Problem sozialer Wünschbarkeit tangiert sein als Angaben zu der eigenen Meinung, denn bei den Vorstellungen zur Meinung anderer dürfte die Furcht vor sozialer Isolation bzw. Peinlichkeiten in der Interviewsituation durch mangelnde political correctness weniger virulent sein. Dieses Argument bezieht sich grundsätzlich sowohl auf die Angaben zur Eigen- als auch zur Kontrastgruppe. Allerdings sind Situationen vorstellbar, in denen die Identifikation mit der Eigengruppe so groß ist, dass auch Angaben zu deren Mehrheitsmei-

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nung von dem Problem sozialer Wünschbarkeit beeinträchtigt werden, bspw. um „Nestbeschmutzung“ zu vermeiden. Für die Angaben zur Mehrheitsmeinung der Kontrastgruppe sollte jedoch auch dieses Motiv sozialer Wünschbarkeit keine Rolle spielen. Für die vorliegende Thematik des Meinungsklimas zur Rolle von Frauen in der Politik bzw. einer Frau an der Spitze der Regierung kann die Zugehörigkeit zum weiblichen oder aber zum männlichen Geschlecht als einschlägige soziale Kategorie gelten, die sowohl von zentraler Bedeutung für die Interessenlagen und Präferenzen als auch für die Orientierung an entsprechenden Bezugsgruppen bzw. im Verhältnis zu Kontrastgruppen sein dürfte. Alle nachfolgenden Ausführungen zur individuellen Position von Befragten und zum gemessenen sowie zum vermuteten Meinungsklima werden daher nach Geschlecht differenziert. Dies trägt also vor allem den Annahmen Rechnung, dass zum einen die Einstellungen von Frauen gegenüber Frauen in der Politik im Durchschnitt positiver als die von Männern sein dürften, und zum anderen, dass die eigene Geschlechtsgruppe die jeweils relevante Bezugsgruppe darstellt und demgemäß auch ein positiveres Meinungsklima zu Frauen in der Politik unter Frauen als unter Männern von den Bürgerinnen und Bürgern wahrgenommen werden sollte.

3.

Fragen und Hypothesen

Der Artikel verfolgt zwei Ziele: (A) Erstens sollen neben dem Meinungsklima zu Frauen in politischen Spitzenpositionen und zur Kanzler/in-Präferenz die wahrgenommenen Meinungsklimata unter Männern und Frauen sowie das Beziehungsgefüge zwischen diesen drei Komplexen beschrieben werden, da es hierzu bislang u.W. überhaupt keine Informationen gibt. Auf die sozialpsychologischen Fragen der Genese dieser Wahrnehmungen und ihrer gegenseitigen Beeinflussungen kann dabei allerdings nicht eingegangen werden. (B) Zweitens sollen Anhaltspunkte zu der Frage nach einer Beeinträchtigung der Antworten durch Effekte sozialer Wünschbarkeit gesucht werden. Dazu lassen sich folgende Fragen und Hypothesen aus dem bisher Gesagten ableiten: (1) Das Problem einer Beeinträchtigung von Antworten in Befragungen durch soziale Wünschbarkeit tritt nur dann auf, wenn eine entsprechende gesellschaftliche Norm existiert, von der die „wahren“ Einstellungen abweichen können. Im vorliegenden Fall kann als gesamtgesellschaftliche soziale Norm das Gebot der Chancengleichheit für die Geschlechter, oder weitergehend, das Gleichstellungsgebot, benannt werden. Konflikte bestanden in der Gesellschaft in der Vergangenheit vor allem darüber, ob zur Erreichung von Gleichstellung Maßnahmen der positiven Diskriminierung von Frauen (wie z.B. Bevorzugung bei identischer Qualifikation, Quotenregelungen) eingesetzt werden sollen oder ob dies wiederum eine unzulässige Benachteiligung von Männern darstellt (vgl. z.B. Benda 1993, Boshammer 1999, Höyng/Schwerma 2002). Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass die Norm der Chancengleichheit als gesellschaftlich weitgehend verbindlich akzeptiert wird, während die Norm der Gleichstellung umstritten ist. Daher wird (a) erwartet, dass im Meinungsklima beider Geschlechter die Norm der Chancengleichheit (etwa in Form einer Befürwortung von Gleichbehandlung, Neutralität in Geschlechterfragen) dominiert. Eine Befürwortung der Zurückdrängung von Frauen aus der Politik und die Ablehnung einer Frau als Kanzlerin aus der Politik dürften (b) infolge der potenziell als konträr empfundenen

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Interessenlagen zwischen den Geschlechtern eher von Männern als von Frauen eingenommene Minderheitenpositionen darstellen und eine offen bekannte patriarchalische Position anzeigen. Umgekehrt sollten (c) Präferenzen für eine größere Rolle von Frauen in der Politik und Maßnahmen zur Gleichstellung häufiger bei Frauen als bei Männern bestehen und eine offen bekannte feministische Haltung anzeigen. (2) Eine erste Möglichkeit zu identifizieren, ob das Problem sozialer Wünschbarkeit bei der vorliegenden Thematik überhaupt eine Rolle spielen kann, ist der Vergleich zwischen gemessenem Meinungsklima und den Wahrnehmungen der Befragten zu den Meinungsklimata unter Männern und unter Frauen in der Bundesrepublik. Diese Wahrnehmungen sagen zwar nicht direkt etwas darüber aus, ob der bzw. die individuelle Befragte Vorbehalte gegenüber Frauen in der Politik oder als Regierungschefin hegt, aber sie geben eine Auskunft über relevante Strömungen im gesellschaftlichen Diskurs, also im Aggregat. Die Befragten werden hierbei gewissermaßen als Experten gesellschaftlicher Abläufe konsultiert. (a) Dies betrifft insbesondere die Wahrnehmung der Einstellungen der jeweiligen Kontrastgruppe, da es keinen Grund gibt anzunehmen, auch diese würde durch das Problem sozialer Wünschbarkeit tangiert. Wenn also Frauen ganz oder fast ausschließlich vermuten, dass Männer mehrheitlich gegen Frauen in Spitzenpositionen der Politik oder als Kanzlerin sind, wäre dies als Hinweis auf die Existenz solcher Ressentiments bei Männern zu werten.6 Sofern diese Vermutung nicht dominant, sondern nur von Teilen der Frauen geäußert wird, besteht die Möglichkeit, dass diese infolge von Informationsmangel und einem konservativen Männerumfeld zu einer entsprechenden Wahrnehmung gelangen. Ferner besteht die Möglichkeit, dass in den Massenmedien Ressentiments von Männern behauptet werden, die jedoch nicht den tatsächlichen Einstellungen entsprechen. Dies kann hier im Rahmen von Umfragedaten jedoch nicht überprüft werden. (b) Vergleichbares gilt auch für die Vermutungen über die Eigengruppe, wobei hier allerdings wie oben erläutert Effekte sozialer Wünschbarkeit nicht ganz auszuschließen sind, allerdings weniger virulent sein sollten als bei der Artikulation der eigenen Position. (c) Darüber hinaus kann die Konstellation der Vermutungen über die Meinungsklimata der Eigen- und der Kontrastgruppe über das Ausmaß des wahrgenommenen Konflikts über den „Gender-Faktor“ in der Gesellschaft und seine Symmetrie oder Asymmetrie informieren. (3) Eventuelle Effekte sozialer Wünschbarkeit auf traditionelle Positionen sollten ebenfalls primär von der Norm der Chancengleichheit ausgehen. Wie aber lassen sich verdeckte Ressentiments auf Individualebene identifizieren? Hier bestehen mehrere Möglichkeiten. (a) Sofern bei Befragungen nur eine „anti-Frauen“ und eine „pro-Frauen“ Antwortmöglichkeit vorgesehen ist, besteht für Befragte, die ihre wahre „anti-Frauen“ Haltung verbergen möchten, entweder die Option der Antwortverweigerung (z.B. weiß nicht, keine Angabe) oder der fälschlichen Angabe einer „pro-Frauen“ Haltung. Die Methodenliteratur verweist überwiegend darauf, dass ein Ausweichen auf die Nichtbeantwortung in solchen Situationen häufiger auftritt als die Wahl der zur eigenen Einstellung konträren Antwortoption (vgl. Berinsky 1999). Falls Effekte sozialer Wünschbarkeit vorliegen, sollten also bei den betref6

Streb et al. (2008: 80) verweisen in diesem Zusammenhang beispielsweise auf die Ergebnisse einer jüngeren Gallup-Umfrage, wonach zwar 86% der Amerikaner/innen die Meinung äußerten, dass sie genauso auch für eine Frau im Präsidentenamt stimmen würden, demgegenüber jedoch gleichzeitig 34% angaben, dass die meisten Leute aus ihrer Nachbarschaft dies nicht tun würden.

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fenden Fragen überproportional häufig fehlende Angaben auftreten – im vorliegenden Fall vor allem bei Männern und unter ihnen insbesondere bei solchen mit Unions-Affinität. (b) Sofern neben einer „anti-Frauen“ und einer „pro Frauen“ noch eine dritte, mittlere Antwortmöglichkeit z.B. der Neutralität, Gleichbehandlung der Geschlechter oder Indifferenz vorgesehen ist, dürften Befragte, die Ressentiments gegenüber Frauen in der Politik nicht offenbaren wollen, neben „weiß nicht“ Antworten vor allem auf die mittlere Antwortoption ausweichen. Anhand der Antwortverteilungen können Ausweichmanöver jedoch nicht von den tatsächlich im Sinn der Chancengleichheit/Neutralität gemeinten Aussagen differenziert werden. Vielmehr ist es hier im Rahmen der Befragungsdaten nur durch externe Validierung mit anderen relevanten Einstellungen zu Genderfragen möglich zu identifizieren, ob Inkonsistenzen auf verborgene Ressentiments verweisen. Allerdings kann dabei nicht zweifelsfrei ausgeschlossen werden, dass auch die zur externen Validierung herangezogenen Indikatoren durch soziale Wünschbarkeit tangiert sind und so eine hohe Einstellungskonsistenz vortäuschen oder dass umgekehrt geringe Antwortkonsistenz durch andere Faktoren als soziale Wünschbarkeit bedingt ist (bspw. non-attitudes). (4) Des weiteren kann der Zusammenhang zwischen bekundeter Position des Befragten und vermutetem Meinungsklima der Eigengruppe herangezogen werden, um sich Potenzialen der Effekte sozialer Wünschbarkeit zumindest anzunähern. Als möglicher Kandidat für verborgene Ressentiments erscheint hier vor allem der Befragtentypus, der seine eigentliche antifeministische Position der Mehrheit der Eigengruppe zuschreibt, selbst aber hinter einer neutralen Position verbirgt, sich also als fortschrittlicher als die Mehrheit darstellt. Einschränkend zu betonen ist hierbei allerdings, dass keineswegs allen Befragten dieser Konstellation Unaufrichtigkeit unterstellt werden kann. Vielmehr müssen auch hier externe Validierungen zur Potenzialbestimmung herangezogen werden. (5) Die verfügbare Datengrundlage bietet zwar keine Instrumente, um eine generalisierte psychologische Tendenz zu sozial wünschbaren Antworten zu erfassen (z.B. Krebs 1991). Allerdings handelt es sich bei der Nachwahlbefragung um eine Face-to-Face-Erhebung, so dass Informationen über die Interviewer als (wenn auch spärliche) Hilfsmittel für die Identifikation eventueller Effekte sozialer Wünschbarkeit herangezogen werden können (vgl. z.B. Reinecke 1993). Auf der Grundlage von Alltagsstereotypen sowie der im ersten Kapitel dieses Buchabschnitts identifizierten soziodemografischen Determinanten von Genderorientierungen ist zu vermuten, dass (a) weiblichen und (b) höher gebildeten Interviewern eher feministische sowie (c) deutlich älteren Interviewern eher traditionelle Orientierungen zugeschrieben werden (für andere Altersgruppen werden hierzu keine Erwartungen formuliert, da offen ist, ob die Befragten feministische Positionen eher bei der jüngsten Generation oder aber eher bei der mittleren Generation als Trägerin der letzten Frauenbewegung vermuten). Sollte beobachtbar sein, dass sich das Antwortverhalten an diese Interviewermerkmale anpasst, lässt dies auf Effekte sozialer Wünschbarkeit schließen. Generell gilt das Gesagte vor allem für Ressentiments gegenüber Frauen in politischen Spitzenpositionen. In Bezug auf die Kanzler/in-Präferenz entsteht das Problem, dass diese durch eine Vielzahl anderer Faktoren außerhalb der Genderorientierungen geprägt wird, insbesondere von der Parteinähe. Dies lässt erwarten, dass entsprechende Zusammenhänge davon durchkreuzt werden, sich also weniger deutlich zeigen. Für den Fall, dass es bei der

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Bundestagswahl 2005 Ressentiments gegenüber einer Frau an der Spitze der Regierung gab, die in Befragungen aus Gründen der political correctness nicht offenbart wurden und zu dem überraschend schwachen Wahlergebnis der Union geführt haben, sollten solche Vorbehalte und ihr Verbergen gleichermaßen vor wie nach der Wahl die Antworten in Umfragen beeinträchtigen. Denn das Prinzip der Chancengleichheit und das Ziel der Gleichstellung galten gleichermaßen vor wie nach der Wahl und bei derartigen Ressentiments handelt es sich für gewöhnlich um längerfristig stabile Einstellungen.

4.

Datengrundlage und Operationalisierung

Für die Untersuchung der Meinungen und wahrgenommenen Mehrheitsmeinungen bei der Bundestagswahl 2005 werden primär zwei Indikatorenbündel aus der Nachwahlstudie „Bürger und Parteien“ herangezogen (Übersicht 1): Dies sind (1) die gewünschte Anzahl von Frauen in politischen Führungspositionen und (2) die Präferenz für Schröder oder Merkel als Kanzler/in. In beiden Fällen wurde die Meinung der Befragten erhoben sowie ihre Wahrnehmung der Mehrheitsmeinung unter Frauen und unter Männern.7 Damit sind Indikatoren zur Befragtenposition und zum Meinungsklima in Referenzgruppen vorhanden, nicht aber zum lokalen Meinungsklima. Die Formulierungen der ersten Indikatorengruppe zum gewünschten Anteil von Frauen in politischen Spitzenpositionen erlauben allerdings leider keine unmittelbaren Aussagen über Haltungen zu Gleichstellung und zu positiver Diskriminierung. So ist zwar die Option, der Frauenanteil solle verringert werden, ohne Zweifel als traditionell antifeministisch zu klassifizieren, während die Option, der Frauenanteil solle größer werden, eindeutig als feministisch gewertet werden kann. Die Option der Frauenanteil solle so bleiben wie bisher, ist jedoch mehrdeutig, da keine Information darüber vorliegt, ob die Befragten sich der Unterrepräsentation von Frauen in politischen Spitzenpositionen bewusst sind. Denn sofern dies nicht der Fall ist, stünde diese Position für eine am Prinzip der Chancengleichheit orientierte Haltung. Sofern sich Befragte aber der Unterrepräsentation bewusst sind, wäre diese Option als konservativ zu interpretieren. Zudem kann diese Option im oben angeführten Sinn als wahrscheinlichste Ausweichkategorie für die Verdeckung von Ressentiments gelten. Daneben werden einige Indikatoren aus Vorwahlerhebungen bei infratest-dimap sowie aus Einschaltungen in diese herangezogen.

7

Ein weiteres, vergleichbares Indikatorenbündel in der Nachwahlstudie betrifft die Erststimmenvergabe bei der Bundestagswahl 2005. Allerdings traten bei der Rückerinnerungsfrage nach der eigenen Erststimme viele fehlende Werte auf. So gaben 193 männliche und 237 weibliche Befragte an, sich nicht an das Geschlecht des gewählten Kandidaten zu erinnern. Diese Befragten weisen zudem einige Merkmale auf, die systematische Verzerrungen bei der hier vorliegende Fragestellung zeitigen könnten. So handelt es sich um einen im Durchschnitt etwas jüngeren Personenkreis mit geringerer Schulbildung, unterproportionalem Interesse an Politik und der Wahl sowie traditionellen gesellschaftlichen und politischen Genderorientierungen. Dies trifft noch stärker für die Befragten zu, an die diese Frage gar nicht gestellt wurde, da sie angaben, gar nicht gewählt oder keine Erstimme vergeben zu haben. Zusammen mit denjenigen, die sich nicht an das Geschlecht des gewählten Kandidaten erinnern können, ergibt dies bei den Männern 346 fehlende Fälle (28 Prozent der Befragten) und bei den Frauen 408 Fälle (31 Prozent der Befragten), während bei den anderen Fragen zur eigenen Position und zum Meinungsklima erheblich geringere Anteile fehlender Werte bestehen. Deshalb wird das Indikatorenbündel zu Wahlkreiskandidaten hier nicht verwendet.

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Übersicht 1: Zentrale Indikatoren zu eigenen Präferenzen und zur Wahrnehmung der Mehrheitsmeinung unter Männern und unter Frauen

5.

Meinungen zum Frauenanteil in politischen Führungspositionen und KanzlerInpräferenzen – Antwortverteilungen im Aggregat

Bereits im ersten Kapitel dieses Buchabschnitts war berichtet worden, dass die Mehrheit der deutschen wahlberechtigten Frauen und Männer die Auffassung äußern, der Anteil von Frauen in politischen Führungsrollen solle so bleiben wie bisher. Erwartungsgemäß sprechen sich bei beiden Geschlechtern nur kleine Minderheiten für eine Verringerung des Frauenanteils in der Politik aus, bei Männern kommt dies jedoch etwas häufiger als bei Frauen vor. Umgekehrt plädieren Frauen mit knapp 45 Prozent deutlich häufiger als Männer mit ca. 30 Prozent dafür, politische Führungspositionen in Zukunft mehr mit weiblichem Personal zu besetzen (Tab.1). Mehrheitlich aber wird wie erwartet eine „Status Quo“Orientierung geäußert, also die mittlere Position gewählt. Vermutet wird, dass zumindest ein Teil der Befragten die Unterrepräsentation der Frauen unterschätzt und daher mit dieser Option die Norm der Chancengleichheit/Gleichberechtigung zum Ausdruck bringen will. 8

8

Darauf deuten Befunde aus amerikanischen Studien, in denen bspw. die Zahl weiblicher Abgeordneter und die Erwerbstätigenquote der Frauen überschätzt wird, vgl. Sanbonmatsu 2003.

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Tabelle 1: Gewünschter Anteil von Frauen in Führungspositionen und Kanzler/inPräferenz: bekundete Meinung Prozente

Führungspositionen Männer Frauen Cramers V 8.0 3.4 62.1 51.9 .17** 29.9 44.7 1140 1246 78 76 (6.4) (5.8)

Prozente

Kanzler/in-Präferenz Männer Frauen Cramers V 47.2 43.5 26.6 24.0 .03 26.2 32.6 1194 1277 24 45 (1.9) (3.4)

weniger Schröder wie bisher keinen von beiden mehr Merkel N N fehl.Werte N fehlende Werte N (in Prozent aller (in Prozent aller Befragten) Befragten) ** signifikant auf dem Niveau von p<.001, * auf dem Niveau von p<01. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Zur Kanzler/in-Präferenz sowie zur Wahlabsicht stehen zusätzlich auch einige Informationen aus Vorwahlbefragungen zur Verfügung (Tab.2). Diese zeigen für die Vorwahlzeit keineswegs stabile Kanzler/in-Präferenzen, sondern durchaus deutliche Fluktuationen, ebenso wie bei der Wahlabsicht für die Unionsparteien. Darüber hinaus werden aber noch einige interessante Fakten deutlich: Erstens gibt es kaum Unsicherheit bei der Kanzler/inPräferenz, da fehlende Angaben äußerst gering sind und auch die Mittelposition (keiner von beiden) nur schwach besetzt ist, während im Vergleich dazu erhebliche Anteile fehlender Werte bei der Wahlabsicht bestehen. Zweitens plädieren Frauen regelmäßig etwas häufiger als Männer für Merkel, die öfter Schröder vorziehen oder beide Kandidaten ablehnen. Beides spricht gegen eine große Bedeutung des Verbergens von Ressentiments gegen Merkel, schließt diese aber nicht völlig aus. Drittens fallen die Unterschiede in der Unterstützung Merkels und der Union nur sehr gering aus, zeigen aber bei den Frauen wechselnde Verhältnisse, also sowohl größere als auch geringere Beliebtheit Merkels als der Union, während bei den Männern durchgehend ein Defizit Merkels zu verzeichnen ist, was vor allem für eine offen bekundete Ablehnung Merkels spricht. Tabelle 2: Wahlabsicht/Recall und Kanzler/in-Präferenz Feldzeit

Vorwahl 1 29.-30.08.05 Männer Frauen

Vorwahl 2 06.-07.09.05 Männer Frauen

Wahlabsicht/Recall: Prozentanteil Union 45.4 43.1 33.5 40.2 N 426 423 396 384 fehlende Werte N 111 158 83 137 (in Prozent aller Befragten) (20.7) (27.2) (17.3) (26.3) Kanzler/in-Präferenz Schröder 47.9 49.4 61.7 50.1 keinen von beiden 9.9 8.0 9.2 8.6 Merkel 42.2 42.7 29.2 41.4 N 531 571 471 509 fehlende Werte N 6 11 8 12 (in Prozent aller Befragten) (1.1) (1.9) (1.6) (2.4) Differenz Merkel-Union -3.2 -0.4 -3.7 +1.2 Quellen: Infratest-dmap Vorwahlumfragen, eigene Berechnungen.

Vorwahl 3 12.-13.09.05 Männer Frauen

Nachwahl 23.09-12.10.05 Männer Frauen

39.5 615 103 (14.4)

43.2 638 145 (18.5)

27.4 968 250 (20.6)

35.1 1045 277 (20.9)

54.6 8.0 37.5 703 16 (2.2) -2.0

49.6 3.9 46.5 760 23 (3.0) +3.3

47.2 26.6 26.2 1194 24 (1.9) -1.2

43.5 24.0 32.6 1277 45 (3.4) -2.5

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Die Daten der Nachwahlstudie zur Kanzler/in-Präferenz (Tab.1 und 2) bergen insofern eine Überraschung, als es zu den Vorwahlbefragungen große Unterschiede gibt. 9 Insbesondere sind in der Nachwahlstudie diejenigen Gruppierungen, die beide Kandidaten ablehnen, mit rund einem Viertel bei Männern und Frauen erheblich größer. Davon sind die Präferenzen für beide Kandidaten bei beiden Geschlechtern betroffen, wobei je nach Vergleichsstudie variiert, ob Schröder oder Merkel größere Verluste zu verzeichnen hat. Aus dieser Veränderung lassen sich folglich keine Schlüsse zu einem unterschiedlichen Antwortverhalten im Fall von Ressentiments vor und nach der Wahl ziehen. Wie erwartet spiegelt sich der Unterschied zwischen den Geschlechtern in der Kanzler/in-Frage aber weniger deutlich als in der Frage nach dem gewünschten Frauenanteil in politischen Spitzenpositionen. Tabelle 3: Frau als Kanzlerkandidatin und Wahlabsichtsänderung im Fall eines männlichen Kandidaten der Union Prozente Männer Begrüßen Sie es, dass mit Angela Merkel erstmals eine Frau als Kanzlerkandidatin bei einer Bundestagswahl antritt?

Frauen Prozente Männer Frauen Glauben Sie, dass Ihre Wahlentscheidung anders ausfallen würde, wenn die Union mit einem Mann als Kanzlerkandidaten antreten würde? ja 80.3 86.3 nein 89.2 88.8 nein 14.5 9.8 ja 8.5 9.0 weiß nicht, keine Angabe 5.2 3.9 weiß nicht, keine Angabe 2.3 2.1 N 718 784 N 718 784 Quelle: Infratest-dimap Vorwahlbefragung (12.09.-13.09.05), eigene Berechnungen.

Eine vor der Wahl gestellte direkte Frage nach einer Frau als Kanzlerkandidatin (Tab.3) zeigt zudem wie erwartet nur geringe Anteile an offenen Vorbehalten, unter Männern aller9

Für die Unterschiede bei den Meinungen der Befragten zwischen Vor- und Nachwahl kommen primär zwei Ursachenbündel in Frage: unterschiedliche Zusammensetzungen der Samples bei den Parteipräferenzen oder Unzufriedenheit mit den wechselnden Optionen bei den Koalitionsverhandlungen. Von beiden Annahmen wird die erste deutlich von Daten gestützt, die zweite nur bedingt. So besteht in der Vorwahlstudie in der Sonntagsfrage mit knapp 37 Prozent ein Übergewicht des rechten (Union und FDP) über das linke Lager (SPD und Bündnis90/Die Grünen) mit knapp 30 Prozent, während in der Nachwahlstudie die Anhänger des linken Lagers knapp 39 Prozent gegenüber 33 Prozent laut Recallfrage ausmachen. In der Vorwahlstudie befürworten ca. 92 Prozent des rechten Lagers Schröder und 81 Prozent des linken Lagers Merkel; ferner betragen die spontanen Ablehnungen beider Kandidaten bei den Anhängern von PDS/Linksbündnis fast 30 Prozent, bei den noch Unentschlossenen fast 15 Prozent. In der Nachwahlstudie hat sich der Konnex zwischen linker Parteipräferenz und Schröder mit ca. 72 Prozent als gewünschtem Kanzler etwas gelockert und der zwischen rechter Parteipräferenz und Merkel als gewünschter Kanzlerin mit 85 Prozent verstärkt. Jedoch ist diese Verschiebung nicht in der Lage die zugrunde liegenden Kräfteverhältnisse der Parteilager zu überwinden, zumal in beiden Lagern auch die Ablehnung beider Kandidaten deutlich zugenommen hat – auf der linken Seite auf 18 Prozent und auf der rechten Seite auf rund 26 Prozent. Auf geringerem Zusammenhangsniveau wiederholen sich diese Unterschiede auch bei den Wahrnehmungen der Mehrheitsmeinung. Insgesamt zeigen sich damit deutliche Abhängigkeiten der Kanzler/in-Präferenz sowie „Einfärbungen“ der vermuteten Mehrheitsmeinungen in der Kanzlerfrage von den Parteipräferenzen der Befragten, die infolge der unterschiedlichen Zusammensetzung der Befragten in Vorwahl- und Nachwahlstudie zu Verteilungsunterschieden in den Fragen zur Kanzler/in-Präferenz führen. Demgegenüber scheint der veränderte Kontext in der Nachwahlzeit eine untergeordnete Rolle einzunehmen. Eine Inspektion der Kanzler/in-Präferenz in Abhängigkeit des Befragungsdatums zeigt zwar Einbrüche in der Dominanz der Präferenz für Schröder nach seinem Vorschlag für eine Teilung der Regierungszeit, bei Frauen auch nach der Wahl in Dresden. Jedoch sind diese nicht anhaltend; ferner beruhen diese tagesaktuellen Veränderungen auf geringen Befragtenzahlen und sind daher mit Vorsicht zu sehen.

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dings etwas mehr als unter Frauen.10 Die fehlenden Angaben als Indikator für evtl. versteckte Vorbehalte zu dieser dichotomen Frage sind nicht sehr groß, jedoch unter Männern etwas häufiger als unter Frauen. Noch weniger ausgeprägt sind die Unterschiede zwischen den Geschlechtern bei einer Frage danach, ob ihre Wahlentscheidung anders ausfallen würde, wenn die Union mit einem Mann als Kanzlerkandidat antreten würde.11 Damit sind für beide Indikatoren die unter Punkt 1a,b,c formulierten Verteilungserwartungen erfüllt. Darüber hinaus finden sich im Aggregat Hinweise auf nur geringe Potenziale sozialer Wünschbarkeit, auszuschließen sind solche Effekte jedoch auf dieser Grundlage nicht.

6.

Wahrgenommene Mehrheitsklimata zum Frauenanteil in politischen Führungspositionen und Kanzler/in-Präferenzen – Antwortverteilungen im Aggregat

Ein deutlich anderes Bild vermitteln die Wahrnehmungen beider Geschlechter zum Meinungsklima unter ihren Mitbürger/innen. Das vermutete Meinungsklima zum Anteil von Frauen in politischen Führungspositionen unter Männern kommt dem tatsächlich gemessenen in der dominanten Mittelkategorie zwar sehr nahe, fällt aber insgesamt deutlich antifeministischer aus, während das vermutete Meinungsklima unter Frauen deutlich feministischer als das gemessene ist (Tab.4). So glauben mit rund 60 Prozent jeweils Mehrheiten der Frauen und der Männer, dass ihre männlichen Mitbürger mehrheitlich gegen eine Veränderung des Frauenanteils in der Politik sind. Jeweils rund ein Drittel (unter Frauen etwas mehr als unter Männern) vermutet, Männer würden für eine Verringerung des Frauenanteils in politischen Führungspositionen plädieren. Nur unter 10 Prozent trauen der mehrheitlichen Männermeinung eine die feministische Position unterstützende Haltung zu. Dagegen denken mit jeweils fast zwei Dritteln stattliche Mehrheiten der befragten Männer und Frauen, dass Frauen sich mehr weibliche Spitzenpolitiker wünschen, während rund ein Drittel bei Frauen eine „Status Quo“-Orientierung vermutet und nur verschwindend geringe Minderheiten glauben, Frauen wollten den Rückzug aus der Politik (Tab.4). Bei der Einschätzung dieser Meinungsklimata spielt das Geschlecht der Einzuschätzenden wie erwartet also offenbar eine wichtige Rolle als Cue. Beiden Geschlechtern werden von den Befragten bei ihren Vermutungen über das Meinungsklima geschlechterspezifische Repräsentationsinteressen unterstellt, die im Aggregat recht deutlich von den artikulierten Positionen der Be10

Allerdings sind beide Fragen aufgrund der Anführung des Namens und der Parteizugehörigkeit der Kanzlerkandidatin durch die Parteipräferenzen kontaminiert, geben also keine hinreichende Auskunft über eine grundsätzliche, von der Parteizugehörigkeit unabhängige Befürwortung einer Frau an der Spitze der Regierung. Jedoch erscheint diese Frageform angesichts der realen Situation durchaus sinnvoll, zumal keine „parteifreien“ Kandidaten für das Amt denkbar sind. 11 Offene sowie potenziell verdeckte Vorbehalte gegenüber einer Kandidatin aus Ostdeutschland sind deutlich häufiger (Vorwahl). So geben 27.5 Prozent der Männer und 23.3 Prozent der Frauen an, dass sie die Kandidatur aus dem Osten nicht begrüßen und 9.0 Prozent der Männer sowie 11.5 Prozent der Frauen äußern sich zu dieser Frage nicht. Nicht überraschend fällt die offene Abneigung im Westen größer als im Osten aus (27.3 gegenüber 17.5 Prozent), ebenso sind hier die „weiß nicht“-Antworten häufiger (11.6 gegenüber 5.0). Allerdings kommt dieses Potenzial unterproportional von Personen mit CDU/CSU-Wahlabsicht (8.2 Prozent) und ist zudem (mit 6.3 Prozent) nicht auf Männer aus dem Westen konzentriert, sondern bei Frauen aus dem Westen (mit 10.6 Prozent) am größten. Solchermaßen verdeckte Vorbehalte könnten also zu dem überraschend geringen Wahlerfolg der Union beigetragen haben, sind jedoch kaum primär im männlichen Wählerpotenzial von CDU/CSU zu verankern.

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fragten abweichen. Dabei spielt der Unterschied in den Einschätzungen der Eigen- und der Kontrastgruppe eher eine untergeordnete Rolle. Die Häufigkeit, mit der von männlichen wie weiblichen Befragten die feministische Frauensolidarität im Vergleich zu der gemessenen überschätzt wird (fast 20 Prozentpunkte), und ebenso die Häufigkeit, mit der bei Männern frauenfeindliche Haltungen vermutet werden (22 bzw. 28 Prozentpunkte Überschätzung), zeigt deutliche Tendenzen der Polarisierung im wahrgenommenen Geschlechterverhältnis. Tabelle 4: Gewünschter Anteil von Frauen in Führungspositionen: vermutete Mehrheitsmeinungen vermutete Männermehrheit Prozente Männer Frauen weniger 30.5 36.4 wie bisher 61.0 57.6 mehr 8.5 6.0 Cramers V .07* N 1137 1191 fehl. Werte N 81 131 (in Prozent aller Befragten) (6.7) (9.9) ** signifikant auf dem Niveau von p<.001, * auf dem Niveau von p<.01. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

vermutete Frauenmehrheit Männer Frauen 3.3 2.0 32.5 35.5 64.2 62.5 .05 1123 1183 95 139 (7.8) (10.5)

Der Vergleich der gemessenen Positionen mit den wahrgenommenen Meinungsklimata im Aggregat lässt somit bei den Männern ein erhebliches Potenzial nicht artikulierter Vorbehalte gegenüber Frauen in politischen Führungspositionen vermuten. Zu der nahezu spiegelbildlichen Überschätzung der feministischen Position im vermuteten Meinungsklima der Frauen könnte man vermuten, dass sich in der deutlich öfter genannten „Status Quo“Orientierung der weiblichen Befragten ebenfalls Antworten verbergen, die von sozialer Wünschbarkeit tangiert sind wie z.B. dem Motiv, nicht als „männerfeindliche Emanze“ zu erscheinen. Ob diese ebenfalls etwas zur Erklärung des überraschend niedrigen Wahlergebnisses der Union beitragen können, ist angesichts des „feministischen Dilemmas“ jedoch fraglich (vgl. das Kap. in diesem Band). Wie sieht dies nun bei den Kanzler/in-Präferenzen aus? Hierbei sind nicht nur bei der Position der Befragten, sondern auch bei den von ihnen wahrgenommenen Meinungsklimata zwischen Vorwahl- und Nachwahlbefragung erhebliche Verschiebungen zu beobachten (Tab.5). So fällt erstens auf, dass sich vor der Wahl mit unter 10 Prozent nur relativ wenige Befragte nicht in der Lage sehen, die mehrheitlichen Präferenzen der Wähler und Wählerinnen einzuschätzen. In der Nachwahlbefragung ist diese Unsicherheit jedoch gravierend angewachsen und beträgt bei Männern rund 22 Prozent in Bezug auf das Meinungsklima ihrer Geschlechtsgenossen und 25 Prozent auf das Meinungsklima der Frauen, bei weiblichen Befragten 29 Prozent bzw. 31 Prozent. Berücksichtigt man nur die Befragten, die eine Einschätzung der Meinungsklimata abgeben, so fällt dies in der Vorwahlbefragung bei beiden Geschlechtern im Hinblick auf die Mehrheitsmeinung der Männer deutlich zugunsten von Schröder aus (65 bzw. 69 Prozent), während es im Hinblick auf die Mehrheitsmeinung der Frauen nahezu ein Patt zwischen den beiden Kandidaten gibt. In der Nachwahlbefragung finden sich jedoch erneut andere Verteilungen, nämlich in allen Fällen Verschie-

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Bettina Westle und Thomas Schübel

bungen (zwischen 15 und 20 Prozentpunkten) zugunsten von Schröder, wobei die Einschätzungsunterschiede zwischen den befragten Männern und Frauen nur minimal sind. Tabelle 5: Kanzler/in-Präferenzen: vermutete Mehrheitsmeinungen Vorwahl vermutete vermutete Männermehrheit Frauenmehrheit Männer Frauen Männer Frauen 64.8 69.4 49.0 49.1 35.2 30.6 51.0 50.9 .05 .00 485 525 502 529 53 56 35 52 (9.8) (6.5) (9.7) (9.0)

Nachwahl vermutete vermutete Männermehrheit Frauenmehrheit Männer Frauen Männer Frauen 82.9 88.9 64.6 64.0 17.1 11.1 35.4 36.0 .09** .06 944 943 914 919 273 380 304 403 (22.5) (25.0) (28.7) (30.5)

Schröder Merkel Cramers V N fehl. Werte N (in Prozent aller Befragten) ** signifikant auf dem Niveau von p<.001, * auf dem Niveau von p<.01. Quelle: Einschaltung in Infratest-dimap Vorwahlbefragung 29.-30.08.05 und Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Der Vergleich zwischen gemessenem und wahrgenommenen Meinungsklima zeigt (selbst bei Berücksichtigung der Abweichung in den Antwortvorgaben, d.h. dem Fehlen der Kategorie „keinen von beiden“ bei den Meinungsklima-Fragen) erhebliche Unterschiede: So wird sowohl in der Vorwahl- als auch in der Nachwahlbefragung von Männern und Frauen das Meinungsklima unter Männern erheblich höher zugunsten von Schröder und zuungunsten von Merkel geschätzt, was erneut als Hinweis darauf gewertet werden kann, dass die tatsächlich bei Männern gemessenen Verteilungen ein Potenzial verborgener Ressentiments gegen Merkel enthalten könnten – zumindest aus Sicht der Befragten. Im Hinblick auf das Meinungsklima unter Frauen kommen die Einschätzungen zugunsten von Schröder in der Vorwahlerhebung den tatsächlichen Werten für ihn recht nahe, während die Werte für Merkel leicht überhöht sind. In der Nachwahlstudie hat sich dieses Verhältnis jedoch umgekehrt, d.h. hier schätzen Männer und Frauen die Frauenpräferenzen für Merkel recht zutreffend ein, während die für Schröder überhöht sind, was nunmehr aber gegen verborgene Ressentiments gegen Merkel, jedoch für solche gegen Schröder sprechen könnte. Ebenso wie bei der Frage zum Anteil von Frauen in Führungspositionen gleichen sich die Einschätzungen von Männern und Frauen zu den Meinungsklimata sehr und artikulieren – wenn auch weniger ausgeprägt – eine Konfliktlinie im gesellschaftlichen Diskurs der Geschlechter zur ersten Kanzlerkandidatin, der sich so nicht in den gemessenen Kanzler/inPräferenzen offenbart. Insgesamt deutet der Vergleich zwischen bekundeter eigener Meinung und vermuteten Meinungsklimata somit recht deutlich auf eventuell verborgene Ressentiments gegenüber einer Frau an der Regierungsspitze.12 12

Angesichts der oben referierten sozialpsychologischen Befunde können aber als alternative Erklärung Wahrnehmungsverzerrungen der Meinungsklimata infolge lokaler Abweichungen oder einer Kluft zwischen veröffentlichten und tatsächlichen Meinungen nicht völlig ausgeschlossen werden. Die Möglichkeiten dies mittels der verfügbaren Daten zu überprüfen sind eng begrenzt, aber einige Anhaltspunkte können Analysen zu Trägermerkmalen dieser Wahrnehmungen bilden. Sofern es sich bei den Männern, die Frauen die feministische Haltung als Mehrheitsposition zuschreiben, und umgekehrt bei den Frauen, die Männern die konservative Haltung als Mehrheitsposition zuschreiben, überproportional um Personen handelt, die an Politik und an Gender-Fragen nur gering interessiert sind und sich wenig informieren, dürfte dies auf Wahrnehmungsverzerrungen z.B. durch lokale Mei-

Macht – Mehrheit – Merkel? 7.

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Meinungen zu einer Frau an der Regierungsspitze und KanzlerIn-Präferenzen – das konservtive Wählerpotenzial vor der Wahl

Als Hinweis auf Verzerrungen durch soziale Wünschbarkeit ist oben unter Punkt 3 für dichotome Antwortmöglichkeiten primär das Ausweichen auf die Nichtbeantwortung der Fragen genannt worden. Laut den eingangs angeführten Hypothesen müsste ein solches Ausweichen vor allem bei Männern und unter ihnen insbesondere im konservativen Wählerpotenzial der Union auftreten. Bei der oben in Tabelle 3 angeführten Frage zu einer Frau als Kanzlerkandidatin war eine Nichtbeantwortung für Männer zwar mit 5.3 Prozent nur wenig häufiger als für Frauen mit 3.9 Prozent zu beobachten. Allerdings tendieren Frauen im Durchschnitt bei Fragen zu Politik für gewöhnlich stärker als Männer dazu, mit „weiß nicht“ zu antworten, so dass der hier beobachtete geringe Unterschied das Verdachtsmoment vermutlich sogar unterschätzt. Um das Wählerpotenzial zu definieren, liegen zwei Indikatoren nahe – die Parteiidentifikation und die Wahlabsicht. Hier steht nur die Wahlabsicht zur Verfügung. Diese ist aber insofern geeignet, als die Annahme ja besagt, dass die Abwanderung von der Union nahe stehenden Wählern nicht in den Vorwahlumfragen, sondern erst bei der Wahl selbst erfolgte, weswegen die Umfragen die Unionswählerschaft überschätzt hätten. Um auf verdeckte Ressentiments im männlichen Unions-Potenzial zu deuten, müsste sich demnach unter den Befragten, die vor der Wahl angaben, Union wählen zu wollen, ein im Vergleich zu Befragten mit anderer Wahlabsicht und im Vergleich zu Frauen mit Wahlabsicht für die Union größerer Anteil von ausweichenden Antworten bei der Frage nach einer Frau als Kanzlerkandidatin und bei der Frage nach der Kanzler/in-Präferenz finden. Als ausweichend kann neben „weiß nicht/keine Angabe“ bei der Kanzler/in-Präferenz auch die Option „keinen von beiden“ gelten.13 Tatsächlich finden sich einige entsprechende Hinweise, aber auch unklare Fälle bzw. Gegenhinweise. So sind auf die Frage nach einer Frau als Kanzlerkandidatin (Tab.6, oben) die „weiß nicht“-Antworten bei Männern mit Wahlabsicht für FDP und die Union sowie bei Männern, die auch auf die Frage nach der Wahlabsicht keine substanzielle Antwort geben, deutlich höher als bei den anderen. Lediglich diejenigen mit Wahlabsicht für Parteien des linken Rands zeigen noch höhere Anteile an „weiß nicht“ Antworten. Allerdings zeigen alle mit Wahlabsicht für das linke Spektrum auch hohe Anteile an offener Abneigung gegen Merkel als erste Kanzlerkandidatin (was wohl primär als Folge der Kontamination durch die Parteizugehörigkeit Merkels gewertet werden kann). Dies trifft auch für nungsklimata deuten. Sofern es sich umgekehrt um Personen handelt, die eher stark an den genannten Themen interessiert sind und sich informieren, können Verzerrungen durch die medial veröffentlichte Meinung in Frage kommen. Die empirische Evidenz dazu ist schwach, spricht aber eher für mediale Ursachen. So zeigen sich keine systematischen Zusammenhänge zum politischen Interesse oder dem Anteil fehlender Werte bei anderen Genderfragen, aber bei Männern und Frauen eine deutlich stärkere Nutzung des Fernsehens für politische Informationen und etwas schwächere von Tageszeitungen. Dies stützt den Eindruck, dass Fernsehnutzung eine Ursache für überzogene Konfliktwahrnehmung zwischen den Mehrheitsmeinungen der Geschlechter darstellen könnte. 13 Ferner ist es möglich, dass ein Teil der Wähler, der eigentlich Union wählen wollte, davon aber wegen der weiblichen Kandidatin absah, bereits bei der Wahlabsicht eine andere Partei angab. Dies hätte zwar nicht die Wahlprognose tangiert, jedoch würde es die Verwendbarkeit des Indikators für die Untersuchung sozialer Wünschbarkeit etwas beeinträchtigen. Daher wird hier die Hilfsannahme formuliert, dass das interessierende Unions-Potenzial, sofern es teilweise schon vor der Wahl „abgewandert“ ist oder sich mit diesem Gedanken trug, infolge der Koalitionsnähe am ehesten bei der FDP zu finden ist oder aber unter den Befragten, die auch auf die Wahlabsicht keine Antwort geben.

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diejenigen zu, die angeben ungültig oder nicht wählen zu wollen oder noch keine konkrete Partei benennen, während offene Ablehnung bei den Wählern des rechten Spektrums deutlich unterproportional auftritt. Darüber hinaus zeigt sich, dass nur bei Interviewten mit Wahlabsicht für die Union, die FDP oder ohne Wahlabsichtsangabe unter den Männern deutlich mehr als unter den Frauen „weiß nicht“ geantwortet wird. Diese Befunde stützen somit die Hypothese verdeckter Ressentiments gegen eine Frau an der Regierungsspitze unter dem männlichen Wählerpotenzial der CDU/CSU. Tabelle 6: Frau als Kanzlerkandidatin und Kanzler/in-Präferenz in Abhängigkeit von der Wahlabsicht Spaltenprozente

Frau als Kanzlerkandidatin ja nein weiß nicht N ja nein weiß nicht N Kanzler/in-Präferenz

PDS, B90/ WASG, Die GrüLinke Liste nen

SPD

69.6 16.2 14.2 58

81.6 17.3 1.1 36

79.6 18.1 2.4 214

91.5 6.8 1.6 39

94.3 4.1 1.6 34

76.6 16.7 6.7 243

Wahlabsicht FDP CDU/ CSU

Männer 83.3 87.6 6.8 8.0 9.8 4.5 49 243 Frauen 98.7 94.7 0.0 4.4 1.3 0.9 36 276

REPS, DVU, NPD, sonst.

ungültig, nicht wählen

weiß nicht, kA

94.7 5.3 0.0 16

77.6 21.4 1.0 21

63.7 26.7 9.6 83

37.2 44.0 18.8 11

90.3 9.7 0.0 18

83.0 10.3 6.7 127

50.6 36.4 10.4 2.6 21

56.5 19.7 9.6 14.2 83

12.8 36.7 44.7 5.8 18

40.7 38.5 6.5 14.4 127

Männer 18.4 17.6 51.9 61.3 76.8 21.0 16.1 5.3 27.1 4.2 0.3 0.0 49 243 16 Frauen Schröder 68.5 84.4 95.0 17.0 10.3 23.5 Merkel 13.8 14.0 2.9 82.6 88.7 57.7 keinen von beiden 13.8 1.6 1.7 0.4 0.5 18.8 weiß nicht 3.9 0.0 0.4 0.0 0.5 0.0 N 39 34 243 36 276 11 Quelle: Infratest-dimap Vorwahlbefragung (12.09.-13.09.05), eigene Berechnungen. Schröder Merkel keinen von beiden weiß nicht N

57.1 12.1 30.1 0.6 58

75.7 17.6 6.7 0.0 36

96.5 3.0 0.5 0.0 214

Weniger eindeutig sind dagegen die Befunde bei dem Indikator zur Kanzler/in-Präferenz (Tab.6, unten). Berücksichtigt man nur die „weiß nicht“-Antworten, so sind diese lediglich bei den Befragten überhöht, die auch auf die Wahlabsicht keine Partei nennen, wobei dies bei Männern wie bei Frauen gleichermaßen der Fall ist – was eher auf Unsicherheiten als auf Ressentiments deuten dürfte. Betrachtet man zusätzlich auch die Option „keinen von beiden“, so ist diese bei beiden Geschlechtern am linken wie am rechten Rand besonders stark ausgeprägt, was primär daran liegen dürfte, dass die präferierte Partei über keinen aussichtsreichen Kanzlerkandidaten verfügt. Bei denjenigen, die eine Wahlabsicht für eine Partei des koalitionsfähigen Spektrums äußern, finden sich dagegen überhöhte Werte bei

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männlichen FDP- und Unions-Sympathisanten, aber auch bei denen von Bündnis90/Grünen, während dies bei Frauen, gleichgültig welcher Parteinähe, nicht zu beobachten ist. Da die Frage nach der Kanzler/in-Präferenz noch stärker als die nach Merkel als erste weibliche Kanzlerkandidatin durch die Person Merkel und ihre Parteizugehörigkeit kontaminiert ist, dürften diese Befunde teilweise Verunsicherungen zum Ausdruck bringen, aber insgesamt doch auch auf versteckte Ressentiments von Männern gegenüber einer Frau im allgemeinen und speziell gegenüber Merkel deuten – Ressentiments, die allerdings über das Unionspotenzial hinausgehen. Dabei ist deren Zuordnung zu Parteinähen insbesondere bei den kleineren Parteien infolge der geringen Fallzahlen jedoch mit Vorsicht zu sehen.

8.

Frauenanteil in politischen Führungspositionen und Kanzler/in-Präferenzen – das konservative Wählerpotenzial nach der Wahl

In der Momentaufnahme einer Nachwahlstudie gestaltet sich die Identifikation von zwischen Vorwahl und Wahl „abtrünnigem Unionspotenzial“ schwierig. Am ehesten dafür geeignet erscheint die Kombination einer Unions-Parteiidentifikation mit der Angabe, nicht Union gewählt zu haben (Tab.7).14 Die Befunde sind jedoch nicht eindeutig. Der Vergleich zwischen Männern und Frauen bei den „weiß nicht“-Antworten auf die Frage nach dem gewünschten Frauenanteil in politischen Führungspositionen zeigt, dass diese durchgehend bei Männern, die die Union gewählt haben und/oder sich mit ihr identifizieren, etwas häufiger als bei den entsprechenden Gruppierungen der Frauen vorkommt, während dies bei Identifikateuren und Wählern anderer Parteien umgekehrt ist. Dies deutet auf einen geringen Anteil verborgener Ressentiments. Auch zeigen sich bei den männlichen Unions-Abwanderern leicht überproportionale Anteile offen bekannter Abneigung gegen Frauen in der Politik, aber geringere Anteile von „weiß nicht“-Antworten als bei den anderen Kombinationen mit der CDU/CSU und mittlere Anteile in der Kategorie „wie bisher“, nicht aber wie als Indiz für soziale Wünschbarkeit definiert, überhöhte Anteile in der mittleren Kategorie. Bei der Kanzler/in-Präferenz sind entgegen den Annahmen zu verborgenen Ressentiments unter dem männlichen Unionspotenzial bei Frauen größere Anteile von „weiß nicht“Antworten zu beobachten. Die potenzielle Ausweichkategorie „keinen von beiden“ ist dagegen bei dem männlichen Unionspotenzial stärker besetzt und insbesondere bei den männlichen Unions-Abwanderern, die ferner auch häufiger als die Unionswähler eine Präferenz für Schröder angeben.

14

Für die Zeit nach der Wahl stellt sich die Frage mittels welcher Indikatoren zu Parteipräferenzen die Vermutung überproportionaler Ressentiments gegenüber Frauen in der Politik bzw. der weiblichen Kanzlerkandidatin innerhalb des männlichen, konservativen Unionspotenzials untersucht werden kann. Nutzt man die Wahlrückerinnerungsfrage, ist davon auszugehen, dass Anpassungen an die tatsächlichen Mehrheitsverhältnisse des Wahlergebnisses erfolgt sind. Sofern Befragte dabei über eine Wahlentscheidung zugunsten der Union berichten, sind dies vermutlich tatsächliche Unionswähler, aber möglicherweise sind damit nicht alle erfasst, denn Anpassungen dürften hier nicht dem „go with the winner“-Effekt gefolgt sein, sondern eher ein „leave the loser“-Muster aufweisen. Die Zielgruppe ist damit aber nicht erfassbar, denn es sind weder die tatsächlichen Unionswähler noch die Wähler anderer Parteien, da diese ja nicht notwendig von der Union abgewandert sind. Die Parteiidentifikation erscheint eine Alternative, jedoch unterschätzt sie das Unionspotenzial dadurch, dass Befragte ohne Parteiidentifikation, aber mit einer Präferenz für die Union (mit oder ohne Merkel) bei der betreffenden Wahl damit nicht erfasst sind.

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Tabelle 7: Gewünschter Frauenanteil in politischen Führungspositionen und Kanzler/inPräferenz in Abhängigkeit von Parteiidentifikation und Wahlentscheidung für/gegen die Union Spaltenprozente

Gewünschter Frauenanteil in pol. Führungspositionen weniger wie bisher mehr weiß nicht N

PI und Wahl: CDU/CSU

PI: CDU/CSU Wahl: and. Partei od. wn, kA

PI: nicht CDU/CSU PI und Wahl: nicht Wahl: CDU/CSU CDU/CSU

Männer 7.0 64.2 22.9 5.9 210

8.6 61.3 24.6 5.6 73

weniger wie bisher mehr weiß nicht N Kanzler/in-Präferenz

2.8 54.2 39.5 3.5 278

6.0 56.9 35.9 1.2 102

Schröder Merkel keinen von beiden weiß nicht N

3.2 73.2 21.1 2.5 210

12.5 58.9 28.6 0.0 73

3.1 58.4 31.1 7.4 55

7.6 56.7 29.2 6.5 874

2.1 56.2 38.6 3.2 88

3.1 45.6 44.4 7.0 848

21.3 19.9 57.8 1.0 55

60.9 27.3 9.7 2.0 874

9.1 19.5 68.3 3.1 88

61.3 27.1 7.5 4.2 848

Frauen

Männer

Frauen Schröder 3.7 16.6 Merkel 80.0 68.4 keinen von beiden 15.0 12.3 weiß nicht 1.2 2.7 N 278 102 Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

9.

Frauenanteil in politischen Führungspositionen und Kanzler/in-Präferenz: Zusammenhänge zwischen bekundeten Positionen und Einschätzungen der Meinungsklimata – Individualebene

Der Aggregat-Vergleich zwischen gemessenem und vermutetem Meinungsklima deutet zwar nicht konsistent, aber doch überwiegend auf die Existenz verborgener Ressentiments bei Männern gegenüber Frauen in der Politik. Inwieweit lässt sich dieser Befund nun auch auf Individualebene stützen? Als Indikatoren dafür sollen (wie in Punkt 4 oben ausgeführt) die Zusammenhänge zwischen beiden dienen. Besondere Beachtung soll dabei der Befragtentypus erfahren, der der Eigengruppe eine konservativere Position als sich selbst zuschreibt. Zunächst zeigt sich hierzu bei den weiblichen Interviewten ein deutlicher Zusammenhang zwischen ihrer eigenen Position und dem vermuteten Meinungsklima unter Frauen (Cramers V = .41), aber ein verschwindend geringer zu dem der Männer (.09), während bei Männern etwas schwächere, aber vergleichbare Zusammenhänge zwischen der eigenen

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Auffassung und beiden vermuteten Meinungsklimata bestehen (.27 bzw. .28). Darin deutet sich an, dass für Frauen ihre Geschlechtsgruppe eher als normative Bezugsgruppe dient, die der Männer jedoch eine Kontrastgruppe darstellt, während bei Männern keine so deutliche Differenz besteht (nicht tab. ausgewiesen). Genaueren Aufschluss bietet aber erst die Kombination der Befragtenposition mit ihren Vermutungen über die Meinungsklimata (Tab.8). Diese stützt zunächst die Befunde früherer Forschungen insofern, als die Übereinstimmung von wahrgenommener Mehrheitsmeinung der eigenen Bezugsgruppe mit der eigenen Position häufiger vorkommt als Abweichungen – bei Männern mit insgesamt 56 Prozent und bei Frauen mit 72 Prozent (wobei hier nicht untersucht wird, inwieweit dies durch Anpassungen der eigenen Meinung an das wahrgenommene Meinungsklima oder umgekehrt durch Übertragung der eigenen Meinung auf die Vermutungen über das Meinungsklima zustande kommt). Wie bereits im Aggregat lässt sich dabei bei Männern eine dominante Kategorie beobachten, nämlich die „Status Quo“-Orientierung mit 45 Prozent, während bei Frauen zwei Kategorien sehr stark besetzt sind, nämlich die Übereinstimmung in der feministischen Position mit 41 Prozent und die in der „Status Quo“-Haltung mit 31 Prozent. Tabelle 8: Anteil von Frauen in politischen Führungspositionen: Kombination der eigenen Position mit je einem der vermuteten Meinungsklimata Männer Frauen Vergleich eigene Position und Vergleich eigene Position und vermutete vermutete MännerFrauenMännerFrauenmehrheit mehrheit mehrheit mehrheit 1 beide „weniger“ 5.8 0.8 2.0 0.7 2 Ego „weniger“, Mehrheit „wie bisher“ 1.2 2.1 1.1 1.0 3 Ego „weniger“, Mehrheit „mehr“ 1.1 5.0 0.2 1.3 4 Ego „wie bisher“, Mehrheit „mehr“ 2.5 31.1 2.1 19.7 5 beide „wie bisher“ 45.3 28.7 30.9 30.6 6 Ego „wie bisher“, Mehrheit „weniger“ 13.9 1.9 17.9 0.9 7 Ego „mehr“, Mehrheit „wie bisher“ 15.1 2.3 26.2 4.6 8 Ego „mehr“, Mehrheit „weniger“ 10.6 0.6 15.8 0.4 9 beide „mehr“ 4.5 27.5 3.8 40.8 recodiert beide „weniger“ 5.8 0.8 2.0 0.7 Ego konservativer 4.8 38.2 3.4 22.0 beide „wie bisher“ 45.3 28.7 30.9 30.6 Ego progressiver 39.6 4.8 59.9 6.0 beide „mehr“ 4.5 27.5 3.8 40.8 N 1083 1075 1135 1147 fehlende Werte N 135 143 187 175 Rekodierung der Kategorien 2, 3 und 4 zu „Ego konservativer“ und der Kategorien 6, 7 und 8 zu „Ego progressiver. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Bei der Kombination der Befragtenposition mit der wahrgenommenen Mehrheitsmeinung des jeweils anderen Geschlechts zeigt sich bei den weiblichen Befragten mit insgesamt 37 Prozent die erwartete geringere Übereinstimmung, wobei diese ganz überwiegend auf die „Status Quo“-Orientierung entfällt. Bei Männern ist dagegen die Übereinstimmung mit der vermuteten Mehrheitsmeinung der Frauen ebenso groß wie mit der der Männer. Dabei

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spaltet sich die Übereinstimmung mit der vermuteten Frauenmehrheit allerdings anders als die mit der Männermehrheit in zwei Kategorien auf, nämlich in die „Status Quo“- und in die feministische Haltung. Das heißt, für diese Teile der Männer bildet die vermutete Frauenposition ebenso einen normativen Bezug wie die des eigenen Geschlechts oder sie übertragen ihre eigene Position gleichermaßen auf Frauen wie auf Männer. Von größerem Interesse für die vorliegende Fragestellung sind aber die Abweichungen zwischen eigener Position und vermuteten Meinungsklimata. Die Abweichungen zur eigenen Geschlechtsgruppe konzentrieren sich bei den Männern mit 40 Prozent in hohem Maß auf diejenigen, die sich selbst als progressiver im feministischen Sinn ansehen als die Mehrheit der anderen Männer. Dies ist die hier relevante Gruppe, von der vermutet werden kann, dass sie unter anderem einen relevanten Anteil von Befragten enthält, die ihre eigene Position durch eine Anpassung an die sozial gewünschte Haltung verdecken, aber für ihre Geschlechtskollegen die eigene, „wahre“ Haltung „zugeben“. Im Vergleich zur vermuteten Frauenmeinung betrachten sich mit 38 Prozent die meisten Männer jedoch als konservativer. Bei den Frauen konzentrieren sich Abweichungen zur eigenen Geschlechtsgruppe mit 22 Prozent auf eine konservativere Eigenposition, aber im Vergleich zu den Männern mit 60 Prozent auf die progressivere Position. In diesen nahezu spiegelbildlichen Verteilungen der Abweichungen deuten sich somit Anpassungen an die vermuteten Positionen des jeweils anderen Geschlechts an, die allerdings nicht die „Trennlinie“ zwischen den Geschlechtern nivellieren. Tabelle 9: Anteil von Frauen in politischen Führungspositionen: vermutete Mehrheitsmeinung unter Frauen und Männern Prozente Männer „mehr“ und Frauen „weniger“ Männer „mehr“ und Frauen „wie bisher“ Männer „wie bisher“ und Frauen „weniger“ Männer „weniger“ und Frauen „weniger“ Männer „wie bisher“ und Frauen „wie bisher“ Männer „mehr“ und Frauen „mehr“ Männer „weniger“ und Frauen „wie bisher“ Männer „wie bisher“ und Frauen „mehr“ Männer „weniger“ und Frauen „mehr“ N fehlende Werte N Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Männer 0.6 1.4 1.2 1.3 25.5 6.1 5.3 34.6 24.0 1094 124

Frauen 0.1 0.9 0.8 1.2 26.4 4.6 8.0 31.3 26.7 1125 197

Kombiniert man die Vermutungen über die beiden Meinungsklimata auf Individualebene miteinander (Tab.9), zeigen sich bei beiden Geschlechtern bemerkenswert ähnliche Verteilungen, die die Befunde auf der Aggregatebene stützen. Sie zeigen mit rund je einem Drittel der männlichen und der weiblichen Befragten als größte Gruppe diejenige, die Männern die Status Quo und Frauen die feministische Orientierung zuschreibt und damit einen gemäßigten Konflikt zwischen den Geschlechtern in dieser Frage vermutet. Ein gemäßigter Konflikt wird ebenfalls von unter 10 Prozent derjenigen artikuliert, die bei den Männern eine frauenfeindliche und bei den Frauen eine „Status Quo“-Orientierung vermuten. Eine starke Polarisierung wird dagegen von je etwa einem Viertel wahrgenommen, die den Männern die frauenfeindliche und den Frauen die feministische Position zuschreiben. Ebenfalls je rund

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ein Viertel vermutet eine unter Männern und Frauen konsensuale „Status Quo“-Position und nur etwa 5 Prozent nehmen für beide Geschlechter an, sie würden für mehr Frauen in politischen Führungspositionen plädieren. Andere konsensuale Kombinationen und Kombinationen, die Männern mehrheitlich eine feministischere Haltung als Frauen zuschreiben, kommen wie zu erwarten kaum vor. Die Kombination aller drei Indikatoren (nicht tab. ausgewiesen) zeigt demnach einige geschlechtstypische Konstellationen im Überzeugungssystem: Am häufigsten ist bei Frauen mit 37 Prozent die feministische Übereinstimmung mit der Eigengruppe und der Kontrast zu einem als konservativer angenommenen Meinungsklima unter Männern. Dem folgt knapp ein Viertel Frauen, die sich in der Status Quo orientierten Mehrheitsmeinung beider Geschlechter aufgehoben fühlen. Erwähnenswert sind noch 11 Prozent der Frauen, die selbst eine „Status Quo“-Haltung äußern, aber gleichzeitig eine polarisierte Position der Geschlechter vermuten. Knapp 8 Prozent fühlen sich mit ihrer „Status Quo“-Haltung eher mit Männern als mit den feministischer vermuteten Frauen einig. Etwa 6 Prozent glauben sich dagegen in der „Status Quo“-Orientierung mit dem Meinungsklima unter Frauen einig, aber nehmen bei Männern eine konservativere Position an. Schließlich schreiben 5 Prozent nur sich selbst eine feministische Einstellung zu. Alle anderen Konstellationen sind äußerst selten. Bei den Männern umfasst die Gruppe mit „Status Quo“-Position und der Vermutung konsensualer Meinungsklimata unter den Geschlechtern ebenfalls knapp ein Viertel. Fast ein Viertel umfasst auch die Gruppe, die sich selbst und den Frauen eine feministische Position zuschreibt, den anderen Männern jedoch eine traditionellere Haltung. Ein Fünftel der Männer sieht sich in der „Status Quo“-Position der Eigengruppe aufgehoben, kontrastierend zu feministisch vermuteten Frauen. Schließlich äußern 10 Prozent bei eigener „Status Quo“-Haltung die Vermutung eines polarisierten Meinungsklimas zwischen traditionellen Männern und feministischen Frauen und 5 Prozent fühlen sich in einer konservativen Haltung der Eigengruppe aufgehoben sowie im Gegensatz zur Mehrheitsposition der Frauen. Damit ist die Wahrnehmung der Meinungsklimata zum Anteil von Frauen in politischen Führungspositionen bei beiden Geschlechtern deutlich polarisierter als die gemessenen Meinungsklimata und insbesondere die Frauen fühlen sich öfter in der vermuteten Mehrheitsmeinung der Eigengruppe aufgehoben als in der der Kontrastgruppe. Bei nicht wenigen Männern spielt dagegen auch der Bezug zur vermuteten feministischen Frauenposition eine Rolle, womit sie sich selbst als progressiver als ihre Geschlechtsgenossen darstellen. Die Verteilungen der Kombinationen der eigenen Meinung mit den Einschätzungen der Meinungsklimata in der Kanzler/in-Präferenz sehen zwar infolge des starken Vorsprungs von Schröder in der Nachwahlstudie sowie des hohen Anteils der Antwort „keinen von beiden“ anders aus als die gerade berichteten zu der Frage nach Frauen in politischen Spitzenpositionen, zeigen jedoch ebenfalls durchaus erhebliche Potenziale für Antworten, die durch Effekte sozialer Wünschbarkeit tangiert sein könnten (Tab.10).

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Tabelle 10: Kanzler/in-Präferenz: Kombination der eigenen Position mit je einem der vermuteten Meinungsklimata Männer Frauen Vergleich eigene Position und Vergleich eigene Position und vermutete vermutete MännerFrauenMännerFrauenmehrheit mehrheit mehrheit mehrheit 1 beide Schröder 40.3 31.7 32.8 26.6 2 Ego Schröder, Mehrheit kvb,wn 5.4 8.0 7.8 10.0 3 Ego kvb, wn, Mehrheit Merkel 3.0 7.8 1.0 4.8 4 Ego Schröder, Mehrheit Merkel 0.6 6.6 1.4 5.3 5 beide kvb, wn 10.9 11.5 10.5 10.9 6 Ego kvb,wn, Mehrheit Schröder 14.1 8.7 15.0 10.9 7 Ego Merkel, Mehrheit kvb, wn 6.2 5.5 10.4 9.6 8 Ego Merkel, Mehrheit Schröder 9.8 8.1 15.5 6.9 9 beide Merkel 9.7 12.1 5.6 15.0 recodiert beide anti-Merkel 40.3 31.7 32.8 26.6 Ego mehr-anti-Merkel 9.0 22.4 10.2 20.1 beide kvb,wn 10.9 11.5 10.5 10.9 Ego mehr pro-Merkel 30.1 22.3 40.9 27.4 beide pro Merkel 9.7 12.1 5.6 15.0 N 1218 1218 1322 1322 keine fehlenden Werte, da „weiß nicht/kA“ bei „keinen von beiden“ (kvb) integriert; Rekodierung der Kategorien 2,3,4 zu „Ego mehr anti-Merkel“ und 6,7 und 8 zu „Ego mehr pro-Merkel“; Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

So folgen der bei Männern häufigsten Kombination, dass man selbst sowie die Eigen- bzw. auch die Kontrastgruppe Schröder präferiere, bei Männern im Vergleich zur Eigengruppe diejenigen, die angeben, selbst eher für Merkel zu sein als die Mehrheit der Männer und sogar auch als die Mehrheit der Frauen (in letzterem Fall an gleicher Position mit denjenigen, die sich als stärker gegen Merkel wahrnehmen). Bei den Frauen bilden diejenigen, die sich selbst stärker als die Frauenmehrheit als Merkel-orientiert sehen, sogar die stärkste Gruppierung, knapp gefolgt von denjenigen, die sich und die Frauenmehrheit auf Seiten Schröders sehen; im Vergleich mit der Männermehrheit genießt bei den Frauen Merkel aber einen noch deutlicheren Vorsprung auf der Individualebene. Die Kombination der Vermutungen über die Meinungsklimata (Tab.11) weist die Annahme, dass beide Geschlechter Schröder-Sympathisanten seien, als am häufigsten aus, gefolgt von der Unsicherheit über die Meinungsklimata. Aber bereits an dritter Stelle folgt die Annahme, dass beide Geschlechter jeweils den bzw. die Kandidat/in des eigenen Geschlechts bevorzugen würden, also erneut eine Konfliktlage, wenn auch deutlich weniger ausgeprägt als in der Frage zu Frauen in politischen Führungspositionen.

Macht – Mehrheit – Merkel?

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Tabelle 11: Kanzler/in-Präferenz: vermutete Mehrheitsmeinung unter Frauen und Männern Prozente Männer Merkel und Frauen Schröder Männer Merkel und Frauen „weiß nicht“ Männer „weiß nicht“ und Frauen Schröder Männer Schröder und Frauen Schröder Männer „weiß nicht“ und Frauen „weiß nicht“ Männer Merkel und Frauen Merkel Männer Schröder und Frauen „weiß nicht“ Männer „weiß nicht“ und Frauen Merkel Männer Schröder und Frauen Merkel N Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Männer 2.5 1.5 2.6 43.4 15.9 9.4 7.6 4.0 13.2 1218

Frauen 2.3 0.7 4.0 38.2 19.6 5.0 10.2 5.1 15.0 1322

Die Kombination der eigenen Meinung mit den vermuteten Mehrheitsmeinungen beider Geschlechter zeigt lediglich die in allen drei Fällen übereinstimmende Präferenz für Schröder als sehr häufig an (bei Männern 30.8, bei Frauen 23.4 Prozent), gefolgt von denen, die selbst keine Kanzler/in-Präferenz äußern, aber Männern und Frauen die Präferenz für Schröder zuschreiben (7 bzw. 9 Prozent) oder auch keine Einschätzung der Mehrheitsmeinungen abgeben (je 8 Prozent) (nicht tab. ausgewiesen). Damit stellt sich noch die Frage, ob sich Hinweise darauf finden lassen, dass in der genannten „Verdachtsgruppe“ der Männer – also jener, die der Männermehrheit eine konservativere Position als sich selbst zuschreibt – solche mit verborgenen Ressentiments gegenüber Frauen in der Politik befinden. Ein extrem starker Hinweis darauf wäre die Beobachtung, dass sich diese Befragtengruppe bei anderen Genderorientierungen ebenso antifeministisch äußert wie Befragte, die ihre Ressentiments offen artikulieren. Allerdings ist dies nicht erwartbar, denn es wird ja keineswegs von der gesamten Gruppe angenommen, verdeckte Ressentiments zu hegen. Vielmehr wird vermutet, dass sich innerhalb dieser progressiven Gruppe Befragte mit Vorbehalten verbergen. Ferner könnten auch die Antworten auf diese anderen Genderfragen von political correctness tangiert sein. Wenn die fragliche Gruppierung aber tatsächlich durchgehend pro-feministische Orientierungen hat, dürften sich diese nicht von der Gruppierung unterscheiden, die auch der eigenen Geschlechtsgruppe diese Orientierungen zuschreibt. Sollten die Haltungen ersterer dagegen konservativer ausfallen, wäre dies als Hinweis auf verborgene Vorbehalte zu werten. Genau diese Erwartung wird durch die Daten durchgehend gestützt (Tab.12): Die Gruppierung, welche die Mehrheit der eigenen Geschlechtsgruppe als konservativer als sich selbst darstellt, zeigt sowohl bei den allgemeinen Genderhaltungen als auch bei anderen Indikatoren zu politischen Genderorientierungen durchgehend im Durchschnitt häufiger als die offen konservativen oder „Status Quo“-Orientierten eine pro-feministische Haltung, aber seltener als diejenigen, die auch die eigene Geschlechtsgruppe als pro-feministisch vermutet. Dieses Muster trifft allerdings nicht nur für die männliche „Verdachtsgruppe“ zu, sondern ebenso für ihr weibliches Pendant. Allerdings wiederholt sich dieses Muster nicht bei den entsprechenden Gruppierungen der Kanzler/in-Präferenz, das in Bezug auf die Genderorientierungen keinerlei erkennbare Regelmäßigkeiten aufweist (nicht tab. ausgewiesen). Darüber hinaus ist festzustellen, dass die Gruppierungen, die sich selbst in der Frauenoder in der Kanzler/in-Frage für frauenfreundlicher als ihre Geschlechtsgenossen halten,

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Bettina Westle und Thomas Schübel

nicht überproportional häufig bei der Union auftreten, sondern in allen Wählerpotenzialen vorhanden sind, am häufigsten bei der FDP und Bündnis90/Die Grünen und der FDP. Tabelle 12: Allgemeine und politische Genderorientierungen in Abhängigkeit der kombinierten Befragtenposition und Positionseinschätzung der GeschlechtsEigengruppe zum Anteil von Frauen in politischen Spitzenpositionen beide weniger

Umsetzung Gleichberechtigung: Prozentanteil „zuwenig getan“ (vs. „zuviel“ und „genug“) Forderung nach mehr Gleichberechtigung: Prozentanteil „ja“ (vs. „nein“) Index Traditionelle Frauendiskriminierung Mittelwerte (1=gering bis 6=stark) Index Neue Frauendiskriminierung Mittelwerte (1=gering bis 6=stark) Vertrauen in Politiker/innen: Prozentanteile „kein Unterschied“ „in Frau“ (vs. in Mann) Pol.Leistungen, wenn mehr Frauen im Bundestag: Prozentanteil „besser“ (vs. „gleich“, „schlechter)

Ego konservativer

beide wie bisher

Ego progressiver

beide mehr

6.9

31.4

Männer 23.3

45.5

60.1

23.1

44.9

50.5

69.9

83.7

5.01

3.98

3.48

2.85

2.47

4.63

4.02

3.69

3.34

3.20

17.8 0.0 3.3

37.9 0.0 2.9

78.1 1.9 6.0

78.9 4.7 29.7

87.7 6.5 51.8

58.4

69.9

56.8

77.1

2.57

2.37

3.15

2.63

70.5 21.3 40.7

80.5 12.0 58.9

Frauen Umsetzung Gleichberechtigung: Prozentanteil „zuwenig (54.5) 40.8 39.5 getan“ (vs. „zuviel“ und „genug“) Forderung nach mehr Gleichberechtigung: Prozentan(22.2) 59.5 48.0 teil „ja“ (vs. „nein“) Index Traditionelle Frauendiskriminierung Mittelwerte 3.76 2.92 3.08 (1=gering bis 6=stark) Index Neue Frauendiskriminierung Mittelwerte (3.11) 3.12 3.27 (1=gering bis 6=stark) Vertrauen in Politiker/innen: Prozentanteile „kein Unterschied“ (17.6) 75.0 76.9 „in Frau“ (vs. in Mann) (0.0) 3.9 4.1 Pol.Leistungen, wenn mehr Frauen im Bundestag: (0.0) 12.8 7.9 Prozentanteil „besser“ (vs. „gleich“, „schlechter) ( ) n<30. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

10. Interviewereffekte? Als letzter Anhaltspunkt für evtl. Effekte sozialer Wünschbarkeit soll überprüft werden, ob die Antworten systematisch mit der Befragten-Interviewerkonstellation variieren. Vermutet wird hierbei, dass Männer sich eher als konservativ oder „Status Quo“-orientiert outen bzw. gegen Merkel aussprechen, wenn sie es mit einem männlichen Interviewer zu tun haben, mit einem Interviewer geringerer Schulbildung und deutlich höheren Lebensalters. Bei Frauen dürfte in dieser Konstellation eher die explizit feministische Haltung verdeckt werden.

Macht – Mehrheit – Merkel?

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Tabelle 13: Gewünschter Anteil von Frauen in politischen Führungspositionen in Abhängigkeit von Interviewermerkmalen Interviewermerkmale Schulabschluss gering mittel hoch Männer weniger 8.2 7.8 13.1 7.1 6.1 wie bisher 66.4 55.9 61.3 62.4 62.3 mehr 25.4 36.3 25.6 30.5 31.6 N 671 469 244 476 420 Frauen weniger 3.5 3.2 6.8 3.2 1.3 wie bisher 50.8 53.0 56.0 52.8 48.0 mehr 45.7 43.7 37.2 44.0 50.7 N 618 627 269 574 402 Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen. Geschlecht Mann Frau

18-45

Altersgruppe 46-65

66+

6.9 66.2 26.9 247

7.4 60.6 32.0 729

12.5 62.6 24.8 164

0.8 58.6 40.7 290

3.8 48.7 47.5 615

5.5 55.1 39.4 190

Die empirischen Befunde hierzu bieten tatsächlich einige Anhaltspunkte für einige Effekte dieser Art (Tab.13). So wird von Männern die traditionelle Haltung minimal und die „Status Quo“-Orientierung mit knapp 11 Prozentpunkten deutlich häufiger offenbart, wenn sie es mit einem männlichen Interviewer zu tun haben, während sie bei einer Interviewerin entsprechend häufiger eine feministische Position bekunden. Bei Frauen findet sich dagegen keine systematische Antwortvariation in Abhängigkeit des Interviewergeschlechts. Ferner zeigen sowohl männliche Befragte mit 6-7 Prozentpunkten Differenz als auch weibliche Befragte mit 6 bis 14 Prozentpunkten Differenz die Tendenz, bei geringer Schulbildung des Interviewers häufiger die traditionelle bzw. bei Frauen auch die „Status Quo“Haltung, bei höherer Schulbildung des Interviewers dagegen häufiger die feministische Position zu äußern. Schließlich finden sich ebenfalls leicht steigende bzw. überproportionale Angaben der traditionellen Position bei älteren Interviewern, allerdings keine entsprechende lineare Zunahme der feministischen Position bei jüngerem Alter der Interviewer, sondern diese wird von Männern wie Frauen etwas überproportional dann genannt, wenn die Interviewer mittleren Alters sind.15 Auch bei der artikulierten Kanzler/in-Präferenz sind bei den Frauen keine systematischen Effekte der Interview-Befragtenkonstellation zu erkennen, bei den Männern aber sehr deutliche des Interviewergeschlechts und noch erkennbare der Interviewerbildung, nicht aber des Intervieweralters. So nennen Männer, die von einem Mann interviewt werden, um 15

Eine multivariate Betrachtung des Einflusses dieser Interviewermerkmale zeigt ferner, dass die Bedeutung des Interviewergeschlechts bei der Frage nach dem gewünschten Frauenanteil in politischen Führungspositionen größer ist als die der anderen Merkmale. Aber auch der Bildungseffekt bleibt bestehen. Bei weiblichen Respondenten geht von diesem Merkmal als einzigem ein signifikanter Effekt bei der Beantwortung der Frage aus. Aber auch bei den befragten Männern ist der Einfluss dieser Variable nur geringfügig kleiner als der des Interviewergeschlechts. Die Alterseffekte verschwinden hingegen bei gleichzeitiger Berücksichtung der beiden anderen Interviewercharakteristika. Der Alterseffekt verschwindet nicht nur infolge des nicht-monotonen Zusammenhangs, sondern auch bei Einführung des Faktors Alter in die Gleichung in Form von drei Dummy-Variablen entsprechend den Altersgruppen. Die gesamte Erklärungsleistung der Interviewermerkmale ist mit zwei Prozent Varianzerklärung bei Männern und einem Prozent bei Frauen zwar minimal – jedoch wären große Varianzerklärungen ja auch nur dann zu erwarten gewesen, wenn man davon ausgegangen wäre, dass die Antworten primär durch soziale Wünschbarkeit bestimmt würden und nicht lediglich in kleinen Teilen davon tangiert sein könnten (nicht tab. ausgewiesen).

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Bettina Westle und Thomas Schübel

12 Prozentpunkte häufiger Schröder als Männer, die von einer Frau interviewt werden. Letztere nennen stattdessen um rund 6 Prozentpunkte häufiger Merkel oder weichen um knapp 7 Prozentpunkte auf die Antworten „keinen von beiden“ und „weiß nicht“ aus. Bei hoher Bildung des Interviewers nennen die männlichen Befragten um 6 Prozentpunkte häufiger Schröder als bei niedriger Bildung des Interviewers (Tab.14).16 Tabelle 14: Kanzler/in-Präferenz in Abhängigkeit von Interviewermerkmalen Interviewermerkmale Schulabschluss gering mittel hoch Männer Schröder 51.4 39.3 41.6 47.2 48.0 Merkel 23.4 28.9 26.7 24.8 26.2 keinen von beiden 23.4 29.7 27.7 26.1 25.0 weiß nicht 1.8 2.1 4.1 1.8 0.8 N 699 519 266 511 440 Frauen Schröder 40.9 43.0 41.3 38.1 48.0 Merkel 33.1 29.8 32.7 33.3 27.9 keinen von beiden 23.4 22.9 22.4 24.9 21.1 weiß nicht 2.6 4.3 3.6 3.6 3.0 N 657 665 286 613 424 Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen. Geschlecht Mann Frau

18-45

Altersgruppe 46-65

66+

52.7 19.8 23.8 3.7 103

45.1 25.3 28.0 1.5 744

46.8 28.2 22.9 2.2 371

42.1 31.5 24.5 1.9 115

42.6 30.6 22.8 4.0 792

40.8 33.1 23.4 2.8 415

Der Effekt, dass männliche Befragte bei einer weiblichen Interviewerin dazu tendieren, überproportional häufig eine pro-feministische Position einzunehmen, findet sich allerdings nicht nur bei den Wählern bzw. dem Wählerpotenzial der Union, sondern auch weit darüber hinausgehend. So geben bspw. in der Nachwahlstudie durch Frauen befragte Wähler der Union um 12 Prozentpunkte häufiger an, es solle mehr Frauen in politischen Führungspositionen geben, im Fall einer Abwanderung von einer Unions-Parteiidentifikation sind es 19 Prozentpunkte, bei Wählern der FDP sind es sogar 34 Prozentpunkte, bei den Grünen 21 Prozentpunkte und bei der SPD 10 Prozentpunkte. Bei der Kanzler/in-Präferenz werden diese Unterschiede jedoch deutlich geringer oder kehren sich teilweise sogar um (nicht tab. ausgewiesen).

11. Resümee und Ausblick Die vorangegangenen Analysen zeigen zunächst, dass eine Mehrheit der deutschen Frauen und Männer der Auffassung zuneigt, der Frauenanteil in politischen Führungspositionen möge so bleiben wie bisher. Erwartungsgemäß sprechen sich aber deutlich mehr Frauen als Männer für eine Steigerung dieses Anteils aus. Lediglich kleine Minderheiten der Interviewten plädieren für eine Verringerung dieses Anteils. Dennoch meinen je etwa ein Drittel der befragten Frauen und Männer, die deutschen Männer würden sich mehrheitlich eine Verringerung des Anteils weiblicher Spitzenpoliti16

Multivariat erweist sich lediglich das Interviewergeschlecht bei männlichen Befragten als bedeutsam (nicht tab. ausgewiesen).

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ker wünschen. Interpretiert man die Einschätzungen der Mehrheitsmeinung als indirekten Indikator für das tatsächliche Meinungsklima unter Männern, liegt die Vermutung nahe, dass Vorbehalte gegenüber weiblichem Spitzenpersonal in Wirklichkeit weit verbreiteter sind als sich dies bei direkter Messung entsprechender politischer Genderorientierungen in Umfragen manifestiert. Es ist daher plausibel zu vermuten, dass Effekte sozialer Wünschbarkeit das Antwortverhalten insbesondere der befragten Männer bei Abfrage der eigenen Position in politischen Genderfragen beeinträchtigen. Vor dem Hintergrund dieser Vermutung wurde daher anschließend untersucht, ob sich hierzu weitere empirische Indizien finden. Angenommen wurde, dass insbesondere männliche Befragte mit einem traditionalistischen Rollenverständnis aus dem Unions-Wählerpotenzial ihre Ressentiments gegenüber Politikerinnen kaschieren. Eine Möglichkeit dazu ist die Nichtbeantwortung entsprechender Fragen. Empirisch ließ sich jedoch nicht feststellen, dass fehlende Werte systematisch und durchgehend häufiger bei männlichen Befragten auftreten. Sofern dieser Effekt auftritt, ist er nicht nur auf Sympathisanten der CDU/CSU begrenzt. Die Daten boten ferner die Möglichkeit durch Kombination der Variablen (eigene Position, wahrgenommenes Meinungsklima unter Frauen und unter Männern) die Befragten zu typisieren. Insbesondere bei der Frage nach dem präferierten weiblichen Spitzenpolitikeranteil stuften sich auffällig viele Männer selbst als progressiver als die Mehrheit ihrer männlichen Mitbürger ein. Berücksichtigt man für diese Befragten zusätzlich deren Antwortverhalten in allgemeinen sowie in anderen politischen Genderfragen, deutet einiges darauf hin, dass ein nicht geringer Anteil gerade dieser Gruppierung sich im Interview in dieser Frage progressiver gab, als er tatsächlich ist. Abschließend wurden zusätzlich Interviewermerkmale berücksichtigt. Dabei zeigt sich tatsächlich, dass sich männliche Befragte im Mittel deutlich weniger progressiv gegenüber männlichen Fragenstellern äußern als gegenüber Interviewerinnen. Für weibliche Befragte sind hierbei hingegen keine systematischen Unterschiede im Antwortverhalten auszumachen. Nimmt man alle Befunde zusammen, gibt es in der Tat einige Anhaltspunkte dafür, dass im konservativen Wählerpotenzial, aber auch teilweise darüber hinausgehend, verborgene Ressentiments gegenüber Frauen in Spitzenpositionen der Politik bestehen. Diese zeigten sich aber nur ansatzweise und auf sehr geringem Niveau in der Kanzler/inPräferenz. Die Frage nach der Größenordnung solcher Ressentiments und ihrer Folgen für das Wahlverhalten lässt sich allerdings auf Grundlage der vorliegenden Daten nicht beurteilen. Hierfür wäre eine längere Beobachtung von Befragten auf Individualebene vor und nach der Wahlentscheidung erforderlich. Ein mehrwelliges Panel mit entsprechenden Indikatoren würde darüber hinaus die Möglichkeit bieten, gegenseitige Beeinflussungsprozesse zwischen eigener Position und wahrgenommenen Mehrheitsmeinungen relevanter Bezugsgruppen zu beobachten und sich auf diese Weise Schritt für Schritt der Genese des öffentlichen Meinungsklimas zu nähern.

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Warum sollen wir Sie wählen, Frau Merkel? Analyse zum „feministischen Wahldilemma“ Warum sollen wir Sie wählen, Frau Merkel?

Bettina Westle

1.

Das feministische Wahldilemma bei der Bundestagswahl 2005

In einem Interview mit Angela Merkel etwa sechs Wochen vor der Wahl fragte Alice Schwarzer (2005a): „Warum sollten wir – die nicht-traditionellen CDU-Wählerinnen – Sie wählen, Frau Merkel?“ Dazu verwies Merkel sowohl auf ihre politischen Positionen als auch auf ihr Geschlecht: „Wenn Sie mich wählen, sollten Sie mich natürlich auch wegen meiner Überzeugung und Konzepte wählen und nicht nur wegen meines Geschlechts. Doch ist die Tatsache, dass eine Frau zur Wahl steht, natürlich auch die Frage wert: Was bedeutet das für andere Frauen? Allen voran für die, die seit Jahren in der Frauenpolitik engagiert sind. Und da meine ich, dass die Tatsache, dass ich als Frau an dieser Stelle stehe, auch eine gute Botschaft für andere Frauen sein könnte.“ Dies ersparte ihr aber nicht den Vorwurf einer starken Zurückhaltung in frauenpolitischen Themen durch Schwarzer: „Gerade den bewussten Frauen ist aber nicht verborgen geblieben, dass Sie, seit Sie Parteivorsitzende sind, das Thema Frauen meiden wie der Teufel das Weihwasser.“ Weder der Verweis Merkels auf frühere Leistungen als Frauenministerin (1991-1994) kann überzeugen (eine arbeitspolitische Maßnahme und der Einsatz für einen Rechtsanspruch auf Kindergartenplätze) noch ihre Reaktion auf den Vorwurf der Abstinenz von Frauenthemen im CDURegierungsprogramm, auf den sie lediglich die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und die Bestrafung der Freier von Zwangsprostituierten anführt. Jedoch formuliert Merkel treffend ihr eigenes Dilemma: „Wenn ich Kanzlerin werden möchte, muss ich selbstverständlich alle politischen Felder abdecken. Hinzu kommt, dass ich die Erfahrung mache, dass die Bedürfnisse und Erwartungen von Frauen sehr unterschiedlich sein können. Die einen wollen, dass ich mich für die Frauen einsetze. Die anderen aber haben so viele Vorurteile gegen Frauen in der Politik wie manche der Männer.“ Dennoch: „Wenn ich eines Tages auf mein politisches Leben zurück blicke, möchte ich da nicht lesen: Selber Karriere gemacht, aber für andere Frauen nichts getan.“ So manche Wählerin mag sich daraufhin gedacht haben „Dann wird’s aber Zeit!“, denn diese Äußerung bezog sich lediglich auf die Frage nach einem Einzug des sog. Girlscamp in das Kanzleramt (http://www.emma.de/index.php?id= 433type=1). In diesem Sinn brachte dann auch eine Journalistin das feministische Wahldilemma in einem Interview mit Alice Schwarzer auf den Punkt: „’Sozialdemokraten und Grüne engagieren sich traditionell für die Rechte der Frauen, was sich auch im Wahlprogramm ausdrückt. Andererseits ist Angela Merkel alles andere als eine Frauenrechtlerin. Wie entscheiden Sie sich bei dieser Wahl?’ Schwarzer: ‚Genau das ist die Frage, die es zu entscheiden gilt. Was wiegt schwerer: die Frauenpolitik von Rotgrün – oder das Geschlecht der Kanzlerkandidatin der Konservativen? (…) Es gilt für die WählerInnen also abzuwägen. Was wiegt schwerer: der bedauerlich geringe Unterschied in der Frauenpolitik der

Warum sollen wir Sie wählen, Frau Merkel?

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beiden Volksparteien – oder das Geschlecht der Kanzlerkandidatin?’“ (Schwarzer 2005b, Schweizer Zeitung Bund 7.9.2005). Deutschlands wohl bekannteste Feministin, Alice Schwarzer, hat das Dilemma für sich offenbar zugunsten der Kandidatin Angela Merkel aufgelöst, indem sie die Unterschiede zwischen den Parteien für gering und irrelevant im Vergleich zu dem emanzipatorischen Potenzial für die Frauen, das das symbolische Signal einer ersten weiblichen Kanzlerin bergen könnte, erklärte. Dieses Dilemma dokumentierte sich auch in öffentlichen Debatten unter Frauen zu der ersten weiblichen Kanzlerkandidatin, die eine Vielzahl an widersprüchlichen Momenten der Argumentation enthüllten. So prangert die Schriftstellerin Maron in einem FAZ-Artikel (2005) geschlechtsspezifische Stereotypisierungen Merkels unter sich selbst als Intellektuellen verstehenden öffentlichen Diskutanten an. Die Journalistin Roll beschreibt den „Merkel-Faktor“ als Problem kognitiver Disharmonie insbesondere für feministisch orientierte Frauen (2005). Ein weiteres Beispiel dafür findet sich in einer großen Spezialbeilage der Zeit (2005). Hier klagt die Journalistin Mayer zunächst die Frauenpolitik der CDU und ihr aktuelles Wahlprogramm als konservativ an und spricht Angela Merkel (ähnlich wie Doris Schröder-Köpf, die Ehefrau des damals noch amtierenden Kanzlers) wegen ihrer Kinderlosigkeit ab, für ein modernes Frauenbild zu stehen. Aber im selben Atemzug propagiert sie, Merkel (bzw. die Union) zu wählen, „weil sie eine Frau ist“, als „Symbol dafür, dass fähige Frauen auch hierzulande alles können“. (Diese Formulierung legt zusätzlich nahe, dass die anderen Frauen nur aufgrund eigener Unfähigkeit nicht alles erreichen können, dass die ungleichen Geschlechterverhältnisse also nicht historisch und strukturell bedingt sind, sondern durch mangelnde Kompetenz der Frauen selbst verursacht sind). Jedoch wird die Entscheidung für Merkel als „unsere einzige Gelegenheit voranzukommen“ gepriesen. Nicht weniger irritierend fallen Begründungen in derselben Zeit-Spezial-Beilage für die ContraPosition bei der Journalistin Gaschke aus, die zunächst für die Linken die richtige Frauenpolitik in Anspruch nimmt und dann aber als Vertreterin der linken Seite angesichts der Kandidatur Merkels plötzlich von jeglicher Kritik an den Geschlechterverhältnissen in Deutschland absieht und diese geradezu als vorbildlich zeichnet: „Für Menschen mit linken Überzeugungen ist die Tatsache irritierend, dass ausgerechnet die CDU mit einer Kanzlerkandidatin antritt: Waren nicht immer wir es, die frauenpolitisch bewusste Fortschrittlichkeit für uns reklamierten?“ aber „Es könnten ja nur zwei Gründe dafür sprechen, eine Frau ausdrücklich um ihres Geschlechtes und nicht um ihrer Politik willen zur Kanzlerin zu wählen. Der erste wäre der symbolische Wert, den eine solche Wahl hätte, wenn Frauen in der Gesellschaft politisch benachteiligt wären. Wenn sie von Bildungs- und Karrierechancen abgeschnitten wären und Männerpolitik sie in diesem Abseits zu halten suchte. Davon kann in unserem Land keine Rede sein.“ Ebenso irritierend ist der Rückfall des weiteren Argumentationsgangs in klassische Geschlechterstereotype: „Der zweite Grund … wäre die Unterstellung, dass Frauen andere, vielleicht sogar bessere Politik machten als Männer: dass sie weicher seien, einfühlsamer, sachorientierter, weniger wichtigtuerisch. Ganz abgesehen von dem kruden Biologismus, der diesem Motiv innewohnt, deutet jedenfalls an der CDU-Chefin rein gar nichts auf seine Richtigkeit hin: Was für Angela Merkel typisch ist, ist ihre Unbeirrtheit, ihre Rücksichtslosigkeit, ihr Machtwille, mit dem sie ihre Ziele verfolgt. Eine Härte, die im politischen Geschäft üblich und sicher bisweilen nötig ist – aber weder besonders ‚weiblich’ noch besonders sympathisch.“ Nachdem sich diese Argumentation zunächst als fortschrittlich zu präsentieren sucht, indem sie Geschlechterstereotype als Biologismus disqualifiziert (obwohl diese für gewöhnlich kollektiv geteilte, sozialisatorisch

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und situativ bedingte, teils realistische Erfahrungsgrundlagen haben, vgl. z.B. Eckes 1997), tappt sie anschließend in die eigene Falle, indem Merkel die Weiblichkeit abgesprochen und dies mit einer negativen Bewertung verknüpft wird – eine Hürde, die nicht selten weiblichen Führungskräften außerhalb und innerhalb der Politik begegnet und zum Phänomen des Catch22, der Zwickmühle zwischen zuviel und zuwenig Weiblichkeit in der Wahrnehmung anderer, beiträgt (vgl. Mueller 1983, Huddy/Terkildsen 1993; Kahn 1996, Iyengar et al. 1997, Rosenwasser/Dean 1998, Steffens/Mehl 2003).

2.

Fragestellungen, Hypothesen, Datengrundlage und Operationalisierung

Vor diesem Hintergrund widmet sich die vorliegende Analyse den Fragen, wie die Wählerinnen (auch im Vergleich zu den Wählern) mit der skizzierten Lage, insbesondere mit dem feministischen Dilemma, umgegangen sind. Spielte das Motiv der symbolischen Politik demografischer Repräsentation eine Rolle für Wählerinnen bei ihrer Haltung zu Politiker/innen und insbesondere für ihre Haltung zu der Kanzlerkandidatin? Welche Position Merkels in Geschlechterfragen vermuteten sie? Welche Partei bevorzugten sie in der Geschlechterpolitik und welche Partei präferierten sie generell? Haben sie überhaupt ein Dilemma wahrgenommen? Gab es darin Unterschiede zwischen Frauen, die in Geschlechterfragen eher konventionell und solchen, die feministisch orientiert sind? Und schließlich: welche Effekte hatte dies für ihre Kanzler/in-Präferenz und welche für ihre Wahlentscheidung? Zur Untersuchung dieser Fragen werden neben der Nachwahlstudie „Bürger und Parteien“ einige Fragen aus einer Vorwahlstudie von Infratest dimap sowie aus den Politbarometern der Jahre 2001 bis 2005 genutzt (Übersicht 1 zeigt die zentralen Indikatoren). Fragen zu Eigenschafts-, Kompetenz- und allgemeinen Beurteilungen von Politikerinnen und Politikern werden herangezogen, um zu überprüfen, ob überhaupt ein Potenzial für das Motiv der symbolischen Politik demografischer Repräsentation bei den Bürgerinnen vorhanden ist. Sofern Frauen Politikerinnen, (nicht aber Politiker gleichermaßen) positiver beurteilen als Männer, wird dies als entsprechender Hinweis gewertet. Da davon ausgegangen wird, dass die vergleichende Beurteilung von Politiker/innen aber nicht primär vom Geschlecht der Urteilenden, sondern von ihrer parteipolitischen Ausrichtung geprägt wird, erfolgt der Vergleich der Urteile zum politischen Personal nur jeweils innerhalb derselben Parteizugehörigkeit und wird zusätzlich nach der Parteiidentifikation der Befragten kontrolliert. Sofern hier entsprechende Unterschiede gefunden werden und dies auch für die Beurteilung Angela Merkels im Vergleich zu anderen Unions-Politikern zutrifft, wird dies als Grundlage für die mögliche Existenz des feministischen Wahldilemmas gewertet. Anhaltspunkte für konfligierende Erwägungen zur Wahlentscheidung ergeben sich außerdem, wenn ein Unterschied zwischen der Partei, die in Geschlechterfragen präferiert wird, und der Partei, der die Befragten generell nahe stehen, besteht. Als spezifisch feministisches Wahldilemma ist allerdings vor allem die Situation zu kennzeichnen, in der Befragte einerseits eine Frau im Amt der Kanzlerin befürworten, jedoch von ihr eine dezidierte Politik der Geschlechtergleichstellung fordern, dies aber nicht von Angela Merkel vermuten. In dieser Situation stellt sich dann in besonderem Maß die Frage nach der Auflösung des Dilemmas. Hierfür werden die Fragen nach der gewünschten Politik einer Kanzlerin und der vermuteten Politik Merkels herangezogen.

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Zur Überprüfung, inwieweit das feministische Dilemma primär im linken Lager bestand, werden die entsprechenden Analysen außer nach Geschlecht auch nach parteipolitischen Nähen der Befragten durchgeführt. Zusätzlich wird gefragt, ob die Wahrnehmung des Dilemmas mit allgemeinen und politischen Genderorientierungen korrespondiert. Übersicht 1: Indikatoren zum „feministischen Dilemma“ Eigenschaftsund Kompetenzzuschreibungen

UnionsKanzlerkandidatenpräferenz Allgemeine Bewertung

präferierte Partei in Genderpolitik

Politbarometer 2001: Und nun zu den möglichen Kanzlerkandidaten der Union. Wer ist Ihrer Meinung nach am glaubwürdigsten? Und wer ist am tatkräftigsten? Und wer ist am sympathischsten? Und wer ist am ehesten ein Siegertyp? Und wer hat den meisten Sachverstand? Und wer kann am besten die wirtschaftlichen Probleme in Deutschland lösen? Angela Merkel, Wolfgang Schäuble oder Edmund Stoiber, oder sehen Sie da keinen großen Unterschied? (keiner, alle gleich, kenne Merkel nicht, kenne Schäuble nicht, kenne Stoiber nicht, kA). Politbarometer 2005: Und wer ist Ihrer Meinung nach glaubwürdiger? Und wer ist tatkräftiger? Und wer ist sympathischer? Und wer hat mehr Sachverstand? Und wer ist eher ein Siegertyp? Und wer ist durchsetzungsfähiger? Und wer kann besser neue Arbeitsplätze in Deutschland schaffen? Und wer kann besser eine Regierung führen? Und wer kann besser die zukünftigen Probleme Deutschlands lösen? Und wer hat die bessere Regierungsmannschaft? Gerhard Schröder, Angela Merkel oder sehen Sie da keinen großen Unterschied? (kenne Schröder nicht, kenne Merkel nicht, kenne beide nicht, kA). Bürger und Parteien 2005: Nun geht es ٛoch mal um Politiker und Politikerinnen. Sagen Sie mir bitte auf der Skala von 0 bis 6 zu jeder Aussage, inwieweit diese auf die vorgelesene Person zutrifft. 0 bedeutet, sie trifft überhaupt nicht zu, 6 bedeutet, sie trifft voll und ganz zu. Mit den Werten dazwischen können Sie Ihre Meinung abstufen. Inwieweit trifft die Aussage auf Gerhard Schröder zu? … Und wie ist das bei Angela Merkel? …etc. (Vorname, Nachname) Er/Sie hat die richtigen Konzepte, um die Zukunftsprobleme zu lösen. Er/Sie ist sympathisch. Er/Sie ist glaubwürdig. Er/Sie ist eine starke Führungspersönlichkeit. … Stoiber, … Künast, … Fischer. Politbarometer 2001: Und wer soll Ihrer Meinung nach Kanzlerkandidatin bzw. Kanzlerkandidat der CDU/CSU werden? in den Monaten 01, 03-10, 12: Angela Merkel, Edmund Stoiber oder jemand anderer? im Monat 02: Angela Merkel, Friedrich Merz, Edmund Stoiber oder jemand anderer? im Monat 11: Angela Merkel, Wolfgang Schäuble, Edmund Stoiber oder jemand anderer? Politbarometer 2001 bis 2005: Bitte sagen Sie mir wieder mit dem Thermometer von plus 5 bis minus 5, was Sie von einigen führenden Politikern halten? +5 bedeutet, dass Sie sehr viel von dem Politiker halten; -5 bedeutet, dass Sie überhaupt nichts von ihm halten. Wenn Ihnen einer der Politiker unbekannt ist, brauchen Sie ihn natürlich nicht einzustufen. (-5 überhaupt nichts bis +5 sehr viel). Was halten Sie von … (Vorname, Nachname). Bürger und Parteien 2005: Und was halten Sie – ganz allgemein – von den folgenden Politikerinnen bzw. Politikern? Sagen Sie es mir bitte wieder mit Hilfe des Thermometers. (-5 überhaupt nichts bis +5 sehr viel). Was halten Sie von … (Vorname, Nachname) Bürger und Parteien 2005: Welche Partei vertritt zum Thema „Gleichberechtigung von Mann und Frau“ am ehesten eine Politik, die in Ihrem Sinn ist? (INT: Parteien nicht vorlesen, sondern nur zuordnen. Nur eine Antwort möglich).

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Fortsetzung Übersicht 1: Vertretung von Interessen von Frauen durch Merkel Haltung zur ersten Kanzlerin/ gewünschte KanzlerinPosition in Familienpolitik bzw. in Genderpolitik

Politbarometer 2005: Und wenn Angela Merkel Bundeskanzlerin wird: Glauben Sie, dass Angela Merkel dann die Interessen der Frauen besonders gut vertreten wird oder glauben Sie das nicht? (Woche 29, 2005)

Infratest dimap Vorwahl: Ich habe hier drei Aussagen zum Thema „Frau als Bundeskanzlerin“. Bitte sagen Sie mir, welche davon Ihrer Meinung am nächsten kommt: 1) Es ist nicht gut, dass eine Frau Bundeskanzlerin wird. Dieses Amt soll ein Mann ausüben. 2) Es ist gut, wenn endlich eine Frau Bundeskanzlerin wird, egal wer sie ist und was für eine Politik sie vertritt. 3) Es reicht nicht aus, wenn eine Frau Bundeskanzler wird. Sie muss auch eine familienfreundliche Politik machen. Bürger und Parteien 2005: Ich habe hier drei Aussagen zum Thema „Frau als Bundeskanzlerin“. Bitte sagen Sie mir, welche davon Ihrer Meinung am nächsten kommt: (1) Es ist nicht gut, wenn eine Frau Bundeskanzlerin wird. Dieses Amt soll ein Mann ausüben. (2) Es ist gut, wenn endlich eine Frau Bundeskanzlerin wird, egal was für eine Politik sie in Fragen der Gleichstellung der Geschlechter vertritt. (3) Es reicht nicht aus, wenn eine Frau Bundeskanzlerin wird. Sie muss auch eine Politik der Gleichstellung der Geschlechter vertreten. Vermutete Bürger und Parteien 2005: Wird Frau Merkel als Bundeskanzlerin Ihrer Ansicht Position Mer- nach (1) die Interessen von Frauen stärker berücksichtigen als die Interessen von kels in Gender- Männern, (2) die Interessen von Männern stärker berücksichtigen als die Interespolitik sen von Frauen oder (3) die Interessen von Männern und Frauen gleichermaßen berücksichtigen? Kanzler/inBürger und Parteien 2005: Wen hätten Sie lieber als Bundeskanzler, Gerhard Präferenz Schröder oder Angela Merkel? (spontan: keinen von beiden)

3.

Politikerinnen und Politiker im Urteil der Bürgerinnen und Bürger – Potenziale für symbolische Politik demografischer Repräsentation?

Kann demografische Repräsentation überhaupt eine Rolle für Wählerinnen bei ihrer Haltung zu Politiker/innen und insbesondere für ihre Haltung zu der Kanzlerkandidatin als Wahlmotiv spielen? Die wenigen bislang vorliegenden Analysen dazu, ob das Geschlecht des politischen Personals für die Bürgerinnen und Bürger bei ihrer Wahlentscheidung eine Rolle spielt, deuten eher gegen die Relevanz eines solchen Motivs (z.B. Westle/Kühnel 2006 auf der Basis der Repräsentativen Wahlstatistik, Kaspar/Falter 2007 auf der Grundlage von Befragungsdaten sowie die Analysen des Kapitels zu allgemeinen und politischen Genderorientierungen in diesem Band). Allerdings mögen direkte Fragen nach der Bedeutung des Geschlechts für die Wahlentscheidung diesen Faktor unterschätzen, wenn sich die Befragten entweder dessen Bedeutung gar nicht bewusst sind oder seine Bedeutung infolge von Erwägungen der political correctness negieren. Daher scheint es sinnvoll, auch aus einem anderen Blickwinkel einen Blick auf die Fragestellung zu werfen, indem mögliche Effekte des Faktors Geschlecht nicht offensichtlich thematisiert werden, aber indirekt zum Ausdruck kommen können. Dies ist durch den Vergleich der Bewertungen von Politikerinnen und Politikern durch wahlberechtigte Frauen und Männer möglich. Sofern Frauen ihre politisch tätigen Geschlechtsgenossinnen (a) besser bewerten als Männer dies tun und (b) eine solche Besserbewertung durch Frauen nicht auch bei männli-

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chen Politikern vorliegt (was auf unterschiedliche Antwortstile bei Frauen und Männern deuten würde), kann dies als Hinweis auf eine mögliche Bedeutung demografischer Repräsentation bei der Urteilsbildung betrachtet werden. Dabei sind die absoluten Niveaus der Beurteilung eher unerheblich, denn diese dürften primär durch die Hauptkonfliktlinien in der deutschen Gesellschaft geprägt sein, wie sie sich dann auch vor allem in der Parteiidentifkation der Bürger/innen niederschlagen. Um die Frage nach evtl. unterschiedlichen Tendenzen der Bewertung von Polikerinnen und Politikern durch die jeweiligen Geschlechts-Eigengruppen zu beantworten, wurden aus den Politbarometern 2001 bis 2005 sämtliche verfügbaren Beurteilungen von Eigenschaften bzw. Kompetenzen von Politiker/innen sowie allgemeine Beurteilungen herangezogen, sofern (als unabdingbare Voraussetzung für den Vergleich) bei dem zu beurteilenden politischen Personal pro Partei mindestens eine Frau miterfragt wurde. Dies ist für den gesamten Zeitraum immer für Angela Merkel der Fall; daneben gibt es bei der Union einmal eine Frage nach Annette Schavan, bei der SPD mehrmals Fragen nach Ulla Schmidt und bei Bündnis90/Die Grünen nach Renate Künast. Zum Vergleich sind sämtliche jeweils parallel erfragten Beurteilungen aller männlichen Kollegen berücksichtigt. Für das Jahr 2001 zeigt sich zu den Eigenschaften und Kompetenzen, dass Merkel im unmittelbaren Vergleich zu ihren Parteikollegen Merz, Schäuble und Stoiber von Frauen durchgehend besser als von Männern bewertet wird und auch mit 17 Prozentpunkten häufiger als Unions-Kanzlerkandidatin präferiert wird. Im Jahr 2005 trifft dies im unmittelbaren Vergleich zu ihrem SPDKonkurrenten Gerhard Schröder, also bei vermutbarer Störung des erwarteten Zusammenhangs durch Parteipräferenzen, immerhin für sieben von 10 Merkmalen zu (Tab.1, fett gedruckte Werte). Darüber hinaus ist festzustellen, dass die positivere Bewertung Merkels im Vergleich zu ihren männlichen Konkurrenten in der Union im Jahr 2001 unabhängig von der Parteiidentifikation der Bürger/innen zutrifft. Gleichgültig, ob die Urteilenden sich mit der Union oder mit anderen Parteien identifizieren oder aber als unabhängig verstehen, beurteilen die Frauen Merkel positiver als die entsprechende Vergleichsgruppe der Männer. Selbst im Jahr 2005 bei dem Vergleich zwischen Merkel und Schröder schneidet die Kanzlerkandidatin bei Frauen in 19 Vergleichskategorien besser, in 11 gleich oder schlechter ab. Den größten Vorsprung innerhalb des weiblichen Wählerpotenzials erzielt sie unter den Ungebundenen. Aber auch bei denjenigen, die sich nicht mit der Union, sondern mit einer anderen Partei identifizieren, sind die positiven Bewertungen Merkels unter Frauen in fünf Fällen häufiger als unter Männern (Tab.1).

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Tabelle 1: Eigenschafts- und Kompetenz-Zuschreibungen an Merkel im unmittelbaren Vergleich zu männlichen Politikern in Abhängigkeit von Geschlecht und Parteiidentifikation Prozentanteile „Merkel“ 2001: im Vergleich zu Männer Frauen Schäuble und Stoiber GLAUBWÜRDIGSTEN 41.5 54.2 PI: Union 25.1 39.6 PI: keine 40.9 55.1 PI: andere 53.0 63.4 TATKRÄFTIGSTEN 19.7 40.9 PI: Union 10.0 32.4 PI: keine 25.1 45.0 PI: andere 21.1 43.6 SYMPATHISCHSTEN 35.1 50.9 PI: Union 22.6 41.8 PI: keine 37.1 50.7 PI: andere 42.4 58.8 SIEGERTYP 10.3 18.4 PI: Union 6.7 14.1 PI: keine 12.3 20.7 PI: andere 10.3 19.0 SACHVERSTAND 13.5 24.3 PI: Union 8.6 18.5 PI: keine 16.5 31.2 PI: andere 14.4 22.4 PRÄFERIERTER UNIONS-KANZLERKANDIDAT 19.8 37.1 (IM VERGLEICH ZU SCHÄUBLE, STOIBER UND MERZ)

PI: Union PI: keine PI: andere

15.2 19.7 23.3

30.9 39.0 39.2

Diff. F-M 12.7 14.5 14.2 10.4 21.2 22.4 19.9 22.5 15.8 19.2 13.6 16.4 8.1 7.4 8.4 8.7 10.8 9.9 14.7 8.0

17.3

15.7 19.3 15.9

Quellen: Politbarometer Jahreskumulationen; West und Ost zusammengefasst, repräsentativ gewichtet; eigene Berechnungen.

Prozentanteile „Merkel“ 2005: im Vergleich zu Schröder GLAUBWÜRDIGER PI: Union PI: keine PI: andere TATKRÄFTIGER PI: Union PI: keine PI: andere SYMPATHISCHER PI: Union PI: keine PI: andere EHER SIEGERTYP PI: Union PI: keine PI: andere SACHVERSTAND PI: Union PI: keine PI: andere DURCHSETZUNGSF. PI: Union PI: keine PI: andere ZUKUNFTSPROBL. PI: Union PI: keine PI: andere REG.MANNSCHAFT PI: Union PI: keine PI: andere ARBEITSPL.SCHAFFEN PI: Union PI: keine PI: andere REGIERUNG FÜHREN PI: Union PI: keine PI: andere

Männer Frauen 57.5 95.2 44.6 20.2 51.1 77.4 57.1 25.1 29.8 65.4 27.3 9.4 20.1 31.2 21.2 11.0 41.0 77.5 38.7 16.5 45.1 69.3 46.9 27.6 68.5 97.1 71.6 30.7 60.3 95.3 61.9 24.9 84.5 99.1 88.4 54.8 38.2 77.1 37.8 12.0

58.4 95.9 35.4 18.0 61.7 81.8 73.4 32.1 39.5 80.3 42.8 10.5 24.0 31.6 27.9 15.9 50.0 88.3 52.6 21.5 53.3 76.5 58.8 33.4 66.3 96.6 76.4 22.4 54.9 94.5 56.1 21.9 78.8 98.7 82.9 38.2 43.9 84.4 48.6 11.7

Diff. F-M 0.9 0.7 -9.2 -2.2 10.6 4.4 16.3 7.0 9.7 14.9 15.5 1.1 3.9 0.4 6.7 4.9 9.0 10.8 13.9 5.0 8.2 7.2 11.9 5.8 -2.2 -0.5 4.8 -8.3 -5.4 -0.8 -5.8 -3.0 -5.7 -0.4 -5.5 -16.6 5.7 7.3 10.8 -0.3

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Tabelle 2: Beurteilung von Politikerinnen und Politikern in Abhängigkeit von Geschlecht und Parteiidentifikation 0=trifft überh. nicht zu bis 6=trifft voll und ganz zu MERKEL richtige Konzepte sympathisch glaubwürdig Führungsperson STOIBER richtige Konzepte sympathisch glaubwürdig Führungsperson

EIGENSCHAFTEN Summenindex MERKEL Union keine andere STOIBER Union keine andere

Männer

Frauen

Diff. F-M

2.91 2.68 3.08 3.12

3.12 2.94 3.26 3.34

.21 .26 18 22

2.57 2.00 2.41 3.35

2.51 1.96 2.39 3.18

-.06 -.04 -.02 -.17

11.77 15.96 10.26 10.56 10.33 14.48 9.36 8.92

12.67 17.34 10.96 10.14 10.00 14.40 9.13 7.35

.90 1.38 .70 -.42 -.33 -.08 -.23 -1.57

KÜNAST richtige Konzepte sympathisch glaubwürdig Führungsperson FISCHER richtige Konzepte sympathisch glaubwürdig Führungsperson SCHRÖDER richtige Konzepte sympathisch glaubwürdig Führungsperson EIGENSCHAFTEN Summenindex KÜNAST B90/Grüne keine andere FISCHER B90/Grüne keine andere SCHRÖDER SPD keine andere

Männer

Frauen

Diff. F-M

2.40 2.51 2.80 2.46

2.61 2.78 3.01 2.75

.21 .27 .21 .29

2.87 3.35 3.21 3.71

2.94 3.43 3.36 3.69

.07 .07 .15 -.03

2.97 3.53 2.86 4.36

2.94 3.34 2.84 4.34

-.03 -.19 -.02 -.02

10.14 17.60 8.60 10.08 13.10 19.05 11.13 13.33 13.72 17.95 11.96 11.06

11.09 16.51 10.74 10.94 13.46 18.70 12.39 13.61 13.53 18.49 12.73 10.57

.95 -1.09 2.14 .86 .36 -.35 1.26 .28 -.19 .54 .77 -.49

Quelle: Bürger und Parteien, eigene Berechnungen

Während die gerade erläuterten Indikatoren von den Befragten einen unmittelbaren Vergleich zwischen Merkel und den männlichen Politikern verlangen, beruhen die folgenden Werte auf unabhängig voneinander erhobenen Merkmalsbeurteilungen. Doch auch hierbei zeigen sich durchgehende Vorsprünge von Angela Merkel und Renate Künast bei den Frauen und umgekehrt von Koch, Wulff und Stoiber bei den Männern. Joschka Fischer wird von den Frauen zwar teilweise auch positiver als von den Männern beurteilt, jedoch ist die Differenz deutlich geringer als bei Künast. Berücksichtigt man zusätzlich die Urteile zu Gerhard Schröder (obwohl für diesen keine Urteile zu einer weibliche Kollegin aus der SPD verfügbar sind), so wird deutlich, dass Frauen ihn vor allem hinsichtlich der Sympathie negativer beurteilen als Männer (Tab.2, fett gedruckte Werte). Der Vorsprung Merkels bei den Frauen geht hierbei wesentlich auf die UnionsAnhängerinnen zurück, findet sich aber auch bei den Ungebundenen, während Merkel bei den Anhänger/innen der anderen Parteien nicht überproportional bei den Frauen punktet. Das Defizit Schröders bei den Frauen konzentriert sich auf solche mit anderer als SPD-

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Identifikation, während er unter den SPD-Anhänger/innen ebenfalls bei den Frauen ein Plus verzeichnet (Tab.2). Die allgemeine Beurteilung von Politiker/innen anhand der Skalometerfragen zeigt überwiegend dasselbe Muster einer vergleichsweise positiveren Bewertung des politischen Personals entlang der eigenen Geschlechtsgruppe, insbesondere in Bezug auf Angela Merkel (Tab.3a). In allen fünf Befragungsjahren wird Angela Merkel von Frauen positiver beurteilt als von Männern; vergleichbares trifft für Annette Schavan und Renate Künast sowie in zwei von drei Jahren für Ulla Schmidt zu. Bei der Beurteilung der männlichen Politiker variiert der Unterschied zwischen den Geschlechtern dagegen personenspezifisch, d.h. manche männlichen Politiker werden von Frauen, andere von Männern vergleichsweise besser beurteilt. Nur in einer Ausnahme (Schäuble 2004) besteht ein größerer Vorsprung eines männlichen Unions-Politikers bei Frauen (im Vergleich zu Männern) als der Vorsprung, den Angela Merkel bei den Frauen genießt. Dagegen kann bei der SPD Ulla Schmidt zwar Vorsprünge bei den Frauen gewinnen, diese sind aber geringer als die geschlechtsspezifischen Vorsprünge von einigen männlichen Kollegen (Rau und Schröder 2003, Müntefering, Eichel und Schröder 2004, Schröder, Müntefering, Platzeck und Clement 2005). Schließlich zeigt der Vergleich zwischen Merkel und Schröder im Jahr 2005 ein relatives Plus von Merkel und ein kleineres bzw. ein Minus von Schröder bei den Frauen im Vergleich zu den Männern. (Absolut liegt Merkel im Politbarometer ebenfalls vor Schröder, in der Nachwahlstudie jedoch bei Männern und Frauen hinter Schröder). Die positivere Bewertung Merkels durch Frauen als durch Männer trifft über alle fünf Jahre hinweg unabhängig von der Parteiidentifikation zu, wobei der Vorsprung zumeist unter den Ungebundenen, gefolgt von den Unionsanhängerinnen am deutlichsten ist, aber dennoch auch bei den Anhängerinnen der anderen Parteien besteht. Ausschließlich in der Nachwahlstudie äußern die Anhängerinnen der anderen Parteien vergleichsweise zu den Männern eine schlechtere Beurteilung Merkels (Tab.3b, links). Die Urteile zu Schröder fallen bei den Frauen ebenfalls etwas positiver aus als bei den Männern (Tab.3b, rechts). Jedoch sind die Differenzen zwischen Frauen und Männern bei Schröder nahezu durchgehend geringer als die Differenrenzen bei Merkel, d.h. diese behält einen relativen Vorsprung vor Schröder unter den Frauen jeglicher parteipolitischer Provenienz. Ausnahmen bilden lediglich die Anhänger/innen anderer Parteien als der SPD im Jahr 2003 und 2005 vor der Wahl mit Vorteil für Schröder und 2005 nach der Wahl mit Nachteilen unter Frauen für beide Kandidaten, für Schröder aber noch stärker als für Merkel (Tab.3b). Insgesamt kann somit auf dieser Grundlage davon ausgegangen werden, dass die wahlberechtigten Frauen in Deutschland durchaus eine Präferenz für Frauen in der Politik zu ihren parteipolitisch männlichen Kollegen haben und dies auch – wenn nicht gar in besonderem Maß – für Angela Merkel zutrifft. Ein Potenzial für das Motiv demografischer Repräsentation ist somit vorhanden, allerdings innerhalb der Parteien, besonders der Union, deutlich stärker ausgeprägt als in der Konkurrenz zwischen den Parteien.

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Tabelle 3a: Allgemeine Beurteilung von Politikerinnen und Politikern 2001 bis 2005 in Abhängigkeit von Geschlecht 1 = überhaupt Politiker/innen der Union Politiker/innen von SPD und nichts Bündnis90/Die Grünene 11=sehr viel Männer Frauen Diff. F-M Männer Frauen Diff. F-M 2001 Merkel 6.20 7.04 .84 Künast 6.63 7.28 .65 Merz 5.54 5.72 .18 Fischer 7.64 7.74 .10 Schäuble 6.74 6.96 .22 Trittin 4.85 5.49 .64 Stoiber 7.01 6.77 -.24 2002 Merkel 6.69 7.37 .68 Künast 6.14 6.85 .71 Schäuble 6.65 6.96 .31 Fischer 7.60 7.80 .20 Späth 7.43 7.36 -.07 Trittin 5.22 5.71 .49 Stoiber 6.39 6.14 -.25 2003 Merkel 6.16 6.60 .44 Schmidt 5.16 5.34 .18 Merz 6.25 6.13 -.12 Schröder 5.67 5.99 .32 Koch 5.88 5.69 -.19 Schily 6.50 6.63 .13 Stoiber 6.46 6.19 -.27 Rau 7.68 8.13 .45 Seehofer 6.69 6.45 -.24 2004 Merkel 6.02 6.38 .36 Schmidt 4.71 4.78 .07 Schavan 6.35 6.72 .37 Schröder 5.79 5.95 .16 Merz 6.40 6.17 -.23 Schily 6.59 6.48 -.11 Schäuble 6.26 6.71 .45 Müntefering 5.81 6.06 .25 Koch 5.61 5.52 -.09 Eichel 5.07 5.22 .15 Töpfer 6.90 6.83 -.07 Köhler 8.08 8.17 .09 Künast 5.55 6.31 .76 Stoiber 6.24 5.94 -.30 Fischer 7.51 7.70 .20 2005a Merkel 6.65 6.94 .29 Schmidt 5.15 5.14 -.01 Merz 7.31 7.12 -.19 Schröder 6.60 6.65 .05 Wulff 7.50 7.60 .10 Schily 6.61 6.46 -.15 Koch 5.95 5.93 -.02 Müntefering 6.24 6.35 .11 Köhler 8.40 8.66 .26 Steinbrück 7.57 7.46 -.11 Stoiber 5.77 5.50 -.27 Platzeck 8.17 8.40 .23 Seehofer 7.26 6.97 -.29 Clement 6.02 6.25 .23 2005b Merkel 6.04 6.44 .40 Künast 6.01 6.39 .38 Stoiber 5.14 4.97 -.17 Fischer 6.95 7.03 .08 Koch 5.78 5.54 -.24 Wulff 7.07 7.01 -.06 Schröder 7.04 6.77 -.27 Quellen 2001 bis 2005a: Politbarometer Jahreskumulationen; West und Ost zusammengefasst, repräsentativ gewichtet; 2005b: Bürger und Parteien, eigene Berechnungen

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Bettina Westle

Tabelle 3b: Allgemeine Beurteilung von Merkel und Schröder in Abhängigkeit von Geschlecht und Parteiidentifikation MERKEL Männer Frauen Diff. F-M SCHRÖDER Männer Frauen Diff. F-M 2001 2001 PI: Union 7.47 8.31 .84 PI: SPD 9.24 9.26 .02 PI: keine 6.05 7.04 .99 PI: keine 7.51 7.63 .12 PI: andere 5.44 6.18 .74 PI: andere 6.93 7.08 .15 2002 2002 PI: Union 8.17 8.84 .67 PI: SPD 9.05 9.19 .14 PI: keine 6.55 7.42 .87 PI: keine 6.86 7.10 .24 PI: andere 5.85 6.45 .60 PI: andere 6.14 6.48 .34 2003 2003 PI: Union 7.83 8.48 .65 PI: SPD 7.68 8.05 .37 PI: keine 5.77 6.34 .57 PI: keine 5.49 5.66 .17 PI: andere 4.99 5.26 .27 PI: andere 4.74 5.05 .31 2004 2004 PI: Union 7.66 8.21 .55 PI: SPD 7.68 8.02 .34 PI: keine 5.56 6.11 .55 PI: keine 5.42 5.51 .09 PI: andere 4.99 5.22 .23 PI: andere 5.12 5.13 .01 2005a 2005a PI: Union 8.40 8.96 .56 PI: SPD 8.52 8.75 .23 PI: keine 6.31 6.72 .41 PI: keine 6.28 5.55 -.65 PI: andere 5.58 5.65 .07 PI: andere 5.68 6.38 .70 2005b 2005b Union 8.32 8.72 .40 SPD 9.29 9.41 .12 keine 5.20 5.76 .56 keine 6.09 6.20 .11 andere 5.38 5.24 -.14 andere 5.64 5.39 -.25 Quellen 2001 bis 2005a: Politbarometer Jahreskumulationen; West und Ost zusammengefasst, repräsentativ gewichtet; 2005b: Bürger und Parteien, eigene Berechnungen

4.

Politik zur Gleichberechtigung der Geschlechter – präferierte Partei

Nur dann, wenn in Fragen der Geschlechterpolitik Schwerpunkte im linksliberalen Spektrum der Parteien liegen, ist eine weitere Voraussetzung für das Vorliegen eines feministischen Dilemmas der Wahlentscheidung im engeren Sinn erfüllt. Dafür wird nachfolgend untersucht, welche Partei die Bürger/innen in Fragen der Genderpolitik bevorzugen und inwieweit dies mit der von ihnen für gewöhnlich bevorzugten Partei übereinstimmt. Jeweils rund ein Fünftel der befragten Frauen und Männer bevorzugen in diesem Issuebereich die SPD oder Bündnis90/Die Grünen, während nur jeweils etwa 16 Prozent die Unionsparteien und 3 bzw. 6 Prozent die FDP nennen. Mit jeweils 12 Prozent lehnen auch relativ große Anteile der Befragten die Politik aller Parteien zu dieser Thematik ab und 18 Prozent der Frauen sowie 15 Prozent der Männer äußern dazu keine Meinung (Tab.4, erste Spalte). Damit sind die Antwortverteilungen bei Männern und Frauen äußerst ähnlich und mit über 40 Prozent Präferenzen für die bisherige rot-grüne Koalition in der Geschlechterpolitik ist ein beachtliches Potenzial gegeben, das bei der Wahlentscheidung CrossPressures zwischen der präferierten Partei und dem Faktum einer weiblichen Kanzlerkandidatin aus der Union empfinden könnte.

Warum sollen wir Sie wählen, Frau Merkel?

239

Tabelle 4: Präferierte Partei in Gender-Politik in Abhängigkeit von Geschlecht und Parteiidentifikation Spaltenprozente

alle Union

In Geschlechterfragen präferierte Partei MÄNNER Union 15.8 50.2 FDP 6.0 6.6 SPD 20.4 4.1 B90/Grüne 22.5 13.6 PDS, LL 6.9 1.9 andere Partei 1.3 0.8 keine 12.0 9.3 weiß nicht, kein Angabe 15.1 13.4 N 1218 282 FRAUEN Union 16.3 46.0 FDP 3.4 5.4 SPD 23.3 7.3 B90/Grüne 20.9 12.1 PDS, LL 5.4 1.2 andere Partei 0.6 0.0 keine 12.0 8.9 weiß nicht, kein Angabe 18.1 19.0 N 1322 380 Quelle: Bürger und Parteien, eigene Berechnungen

Parteiidentifikation B90/ Die and. Grüne Linke. Partei PDS

FDP

SPD

7.2 44.4 1.8 25.2 1.6 0.0 6.5 13.2 56

4.3 1.2 42.0 27.4 4.4 0.0 8.3 12.4 427

0.0 0.0 7.1 78.6 5.1 0.0 0.8 8.4 51

0.6 0.0 11.8 17.7 58.9 0.0 6.6 4.5 65

3.8 46.4 0.8 18.4 4.2 0.0 13.9 12.4 31

1.4 0.1 56.6 24.0 1.8 0.9 6.6 8.6 379

0.0 4.5 0.0 80.2 3.5 0.0 5.9 5.8 62

1.0 0.0 7.9 12.0 61.6 0.0 11.9 5.6 52

keine

weiß nicht, kA

5.7 11.2 3.5 7.6 2.9 24.5 39.7 4.9 35

8.4 6.7 15.9 18.1 5.6 1.6 22.7 21.0 254

8.3 6.9 8.1 10.0 6.6 1.2 9.5 49.5 47

8.1 5.3 56.8 0.0 0.0 21.0 8.8 0.0 9

7.4 1.5 15.0 20.6 7.0 0.6 19.8 28.1 344

12.0 2.0 8.0 10.5 0.9 0.0 24.1 42.4 65

Betrachtet man zusätzlich die Zusammenhänge zwischen der Parteiidentifikation der Befragten und der von ihnen in Geschlechterfragen bevorzugten Partei wird deutlich, dass bei den Grünen die bei weitem größte Konsistenz vorliegt, wenn rund vier Fünftel derjenigen, die sich mit den Grünen identifizieren, auch deren Geschlechterpolitik am stärksten befürworten. Die SPD-Anhänger/innen bevorzugen ihre Partei in Geschlechterfragen mit rund 40 bzw. 60 Prozent schon deutlich weniger und neigen mit rund einem Viertel ebenfalls den Grünen zu. Bündnis90/Die Grünen können in der Geschlechterpolitik auch bei den Anhänger/innen der FDP mit etwa 20-25 Prozent und selbst bei den Anhängern der Union mit rund 12 bzw. 13 Prozent punkten. Umgekehrt ist eine Bevorzugung der Unionspolitik in Geschlechterfragen bei abweichender Parteiidentifikation ein äußerst marginales Phänomen, das bei den Anhänger/innen der Grünen überhaupt nicht vorkommt und nur bei den männlichen Anhängern der FDP über 5 Prozent erreicht. Alles in allem sind dies zwar klare Voraussetzungen für die Entstehung eines feministischen Wahldilemmas, gleichzeitig aber harte Bedingungen für seine Auflösung zugunsten der Kanzlerkandidatin.

5.

Haltungen zur ersten Kanzlerin – gewünschte und vermutete Genderpolitik

Laut verschiedenen Befragungen begrüßt im Jahr 2005 die große Mehrheit der deutschen Frauen und Männer die Nominierung einer Frau bzw. Angela Merkels zur Kanzlerkandidatin bzw. dass eine Frau erstmals Kanzlerin wird. So äußern bspw. auf eine Frage der FGW 90 Prozent der Männer und 92 Prozent der Frauen, dass sie es gut finden, wenn eine Frau

240

Bettina Westle

Kanzlerin wird. Auch in Vorwahlumfragen von Infratest dimap lehnen nur unter 7 Prozent der Männer und unter 5 Prozent der Frauen eine Frau als Bundeskanzlerin explizit ab, wobei allerdings immerhin 11 Prozent der Männer und 7 Prozent der Frauen sich zu dieser Frage nicht äußern. Unmittelbar vor der Wahl begrüßen nur noch 80 Prozent der Männer und 86 Prozent der Frauen eine Frau als Kanzlerkandidatin (bei 5 bzw. 4 Prozent ohne Angabe). Als besonders wichtig sehen die meisten Wähler/innen dies für ihre Wahlentscheidung jedoch nicht an, wobei Frauen diese Kandidatur aber erwartungsgemäß für wichtiger halten als Männer. So äußern in FGW-Befragungen nur 14 Prozent der Männer, aber 22 Prozent der Frauen mit eventueller Unions-Wahlabsicht, dass sie sich vorstellen können, wegen der weiblichen Kandidatur die Union zu wählen. Und in einer Vorwahlumfrage von Infratest dimap meinen nur rund 10 Prozent der Männer und 26 Prozent der Frauen, die weibliche Kandidatur spiele eine große oder sehr große Rolle für ihre Wahlentscheidung. Angesichts der großen Zustimmung finden sich nur schwache Zusammenhänge mit der Parteiidentifikation bzw. der Parteipräferenz (Sonntagsfrage) der Befragten (Tab.5). Auffällig ist allerdings, dass sowohl bei den SPD-nahen Befragten als auch bei denen ohne Parteiidentifikation bzw. der Absicht nicht zu wählen, die relativ häufigste Ablehnung der weiblichen Kandidatur anzutreffen ist, nicht aber bei Bündnis90/Die Grünen, denen ja in der öffentlichen Diskussion ebenso, wenn nicht gar stärker, eine frauenpolitisch moderne Haltung zugeschrieben wird. Zu vermuten ist, dass die SPD-Klientel sich stärker als die der Grünen bei der generellen Frage nach einer Frau als Kanzlerin hat beeinflussen lassen, dass also ein größerer Teil der SPD-nahen Bürger/innen nicht zwischen der generellen Frage nach einer Frau im Amt der Kanzlerin und Angela Merkel als Unionskandidatin differenziert. Tabelle 5: Haltungen zu einer Frau als Kanzlerkandidatin in Abhängigkeit von Geschlecht und Parteiidentifikation Prozentanteile

alle Union

FDP

Parteiidentifikation SPD B90/ Die Grüne Linke. PDS

and. keine/ PB: Parteiidentifikation Partei nicht ID: Parteipräferenz wählen MÄNNER PB: finde es gut, wenn eine Frau 89.5 92.8 96.2 87.8 89.3 (58.7) (61.1) 87.3 Bundeskanzlerin wird ID: Frau als Kanzlerkandidatin be80.3 87.6 83.3 79.6 81.6 69.6 (94.7) (77.6) grüßt: ja FRAUEN PB: finde es gut, wenn eine Frau 91.7 96.6 (100) 86.0 95.0 (100) 91.3 92.4 Bundeskanzlerin wird ID: Frau als Kanzlerkandidatin be86.3 94.7 98.7 76.6 94.3 91.5 (37.2) (90.3) grüßt: ja Quellen: Politbarometer 2005, West und Ost zusammengefasst, Woche 35+41; Infratest dimap, Vorwahlumfrage September 2005, 1 und 3; Prozentangaben auf Basis aller Angaben (weiß nicht, kA als gültige Werte beibehalten); repräsentative gewichtet; ( ) n<30; eigene Berechnungen.

Zu einem möglichen Dilemma der Wahlentscheidung sagen diese Daten jedoch noch nicht genügend aus. Hierfür soll der Zusammenhang zwischen dem Wunsch nach einer Kanzlerin und deren Politik mit der Einschätzung Angela Merkels näher betrachtet werden. Auch

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241

wenn Merkel, wie eingangs zitiert, zutreffend feststellte, dass es kein einheitliches Interesse aller Frauen gibt, so betrifft dies wohl doch primär konkrete Policies, weniger aber das generalisierte Interesse an einer geschlechterfairen Repräsentation in der Politik. Dies wurde auch wiederholt durch Fragen, was Angela Merkel denn für Frauen tun könne und würde, in die öffentliche Debatte gebracht. Der Zwist reichte dabei von Zweifeln an ihrer Kompetenz in der Familienpolitik bzw. Fragen zur Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, wie sie bspw. Doris Schröder-Köpf säte (Oesterreich 2005, Interview in DIE ZEIT, 1.09.2005, Bunte 8.9.2005, Krupa 2005) über Kritik an dem Willen einer Konservativen zu einer antipatriarchalen Gleichstellungspolitik, wenn bspw. ironisiert wurde, Merkel wolle nicht Kanzlerin, sondern Kanzler werden (Kurz-Scherf 2005) bis hin zu ihrer Qualifizierung als Einzelkämpferin und Kanzlerin des neoliberalen Postfeminismus – mal mit negativem Tenor (Oesterreich 2005), mal mit positivem (z.B. Casati 2005) (vgl. zum sog. Postfeminismus auch z.B. Villa 2003, Dölling 2008). Eine „Politik von einer Frau für Frauen?“ war somit das relevante Stichwort. Ebenso relevant war im öffentlichen Diskurs, dass Merkel sich nicht zu einer Parteinahme für Frauen bekannte. Insbesondere die Gegner der Union konnten dies zudem nutzen, um den Wert einer ersten weiblichen Kandidatur zu desavouieren. Das Bekenntnis Merkels zur gesamten Wählerschaft konnte somit erwartbar bei der Wählerschaft und insbesondere bei den Frauen auf sehr konträre Reaktionen stoßen. So glaubten denn auch im Vorfeld der Wahl nur rund 27 bzw. 28 Prozent der Bürger/innen Merkel würde im Fall einer Kanzlerschaft die Interessen von Frauen ‚besonders gut vertreten’. Unions-nahe Wählerinnen und solche ohne Parteiidentifikation waren hierbei allerdings mit 43 bzw. 32 Prozent deutlich optimistischer als ihre männlichen Pendants (mit 35 bzw. 28 Prozent), während Anhängerinnen anderer Parteien dies häufiger genau umgekehrt mit 13 Prozent seltener als die männliche Vergleichsgruppe (mit 21 Prozent) und die anderen Frauen erwarteten (Politbarometer 2005, eigene Berechnungen). Neben diesem sehr allgemeinen Indikator stehen noch zwei weitere Indikatoren zur Verfügung, die Themen der öffentlichen Diskussion um Geschlechterfragen aufgreifen, nämlich Familienpolitik und Gleichberechtigung. Beide Indikatoren sind insofern nicht ganz zufriedenstellend, als sie mehrere Probleme in sich bergen: Erstens zielen sie mit der ersten Antwortkategorie auf die grundsätzliche Einstellung zu einer Frau im Amt der Regierungschefin (es ist nicht gut, dass eine Frau Bundeskanzlerin wird; dieses Amt soll ein Mann ausüben), vermischen dies aber durch die beiden anderen Antwortkategorien mit der gewünschten Politik einer Kanzlerin in Familien- bzw. Gleichstellungsfragen (Vorwahl: es ist gut, wenn endlich eine Frau Bundeskanzlerin wird, egal wer sie ist und was für eine Politik sie vertritt; und: es reicht nicht aus, wenn eine Frau Bundeskanzler wird; sie muss auch eine familienfreundliche Politik machen. Nachwahl: es ist gut, wenn endlich eine Frau Bundeskanzlerin wird, egal was für eine Politik sie in Fragen der Gleichstellung der Geschlechter vertritt; und: es reicht nicht aus, wenn eine Frau Bundeskanzlerin wird; sie muss auch eine Politik der Gleichstellung der Geschlechter vertreten). Zweitens ist anzunehmen, dass die Befragten bei der Beantwortung bereits die Kandidatin Angela Merkel und deren vermutete Politik assoziieren und der Indikator daher nicht nur die manifest thematisierte Kanzlerin per se, sondern die spezifische Kandidatin der Union assoziieren, d.h. die Indikatoren vermischen möglicherweise die „Soll-Dimension“ mit der „Ist-Dimension“. Drittens birgt die Gegenüberstellung der zweiten Antwortoption zur symbolischen Politik mit der dritten zu Ansprüchen an die Politik ein suggestives Element, denn für viele Bürger/innen dürfte es nahe liegen, auch Ansprüche an die Politik zu formulieren (fraglich bleibt dabei,

242

Bettina Westle

welche Relevanz die Familien- und die Gleichstellungspolitik in den Augen der Urteilenden hat). Trotz dieser Probleme werden beide Indikatoren hier genutzt. Ein Grund dafür ist pragmatischer Natur: Es mangelt an anderen Indikatoren zur Thematik. Ein zweiter Grund, der nunmehr für diese Indikatoren spricht, ist, dass ihre Formulierung einen wesentlichen Bereich der in der Tat mehrdimensionalen öffentlichen Diskussion um diese Kandidatur relativ gut einfängt und sie daher vermutlich die Einstellungen bzw. Meinungen der Befragten durchaus realitätsnah abbilden. Im Fall des Indikators zur Gleichstellungspolitik besteht darüber hinaus die Möglichkeit einer Zusammenhangsanalyse mit einem Indikator, der explizit nach der erwarteten Politik Merkels fragt. Aus den Antwortverteilungen auf den ersten Indikator (Tab.6) geht hervor, dass eine absolute Mehrheit der Männer und eine noch größere Mehrheit der Frauen den Anspruch erhebt, eine Kanzlerin müsse auch familienfreundliche Politik betreiben (dabei bleibt aber ferner auch offen, ob ein solcher Anspruch nicht auch an einen Kanzler erhoben würde). Ein knappes Drittel der Männer und ein Viertel der Frauen befürworten das Motiv der symbolischen Bedeutung einer ersten weiblichen Kanzlerschaft. Etwas mehr Männer als Frauen lehnen eine weibliche Kanzlerin ganz ab und auch etwas mehr Männer verweigern hier die Antwort, was angesichts dessen, dass für gewöhnlich bei Fragen zur Politik unter Frauen mehr fehlende Angaben vorkommen, auf Unsicherheiten oder Ressentiments unter Männern bei dem Thema „Frau als Kanzlerin“ deuten dürfte. Leider steht in dieser Vorwahlumfrage der Indikator zur Parteiidentifikation, also zu einer längerfristigen Parteiloyalität, nicht zur Verfügung, so dass für die weitere Differenzierung auf die aktuelle Parteipräferenz (Sonntagsfrage) zurückgegriffen werden muss. Dabei handelt es sich allerdings um einen Indikator, der kurz vor der Wahl fast identisch mit der Wahlabsicht sein kann, so dass ein evtl. Dilemma in den gezeigten Verteilungen schon zugunsten einer Entscheidung aufgelöst wäre. Demgemäß zeigt sich auch, dass der Anspruch an eine familienfreundliche Politik durch eine Kanzlerin von den Befragten mit einer Präferenz für die Grünen oder die SPD deutlich häufiger artikuliert wird, während er bei denen mit einer Präferenz für die Union zwar auch die Mehrheit hat, bei ihnen jedoch durchaus auch das Motiv der symbolischen Repräsentation unterstützt wird, unter Männern sogar noch stärker als unter Frauen. Familienpolitik stellt aber nur einen Teil der Problematik dar, die dem feministischen Dilemma zugrunde liegt. Feministische Vorstellungen zur Genderpolitik umfassen erheblich mehr und meinen Gleichstellung in allen Lebensbereichen. Die äquivalente Frage nach der Gleichstellungspolitik einer Kanzlerin (Tab.7) zeigt eine gegenüber der nach der Familienpolitik etwas veränderte Antwortverteilung. Vor allem fällt auf, dass bei männlichen Befragten die Befürwortung einer weiblichen Kanzlerin sowohl auf der Grundlage des symbolischen als auch des instrumentellen Motivs deutlich zugunsten eines Anstiegs der generellen Ablehnung um 12 auf fast 19 Prozent gewichen ist. Dies legt die Vermutung nahe, dass der Stimulus der Gleichstellungspolitik hier anders als der der Familienpolitik (die auch extrem konservativ ausgelegt werden kann) Ängste und Abwehr evoziert. Insgesamt stimmen Frauen dem instrumentellen Anspruch auf Gleichstellungspolitik etwas häufiger zu als Männer, wenn auch etwas weniger als dem auf familienfreundliche Politik, wobei ihre Befürwortung des symbolischen Motivs stabil ist.

Warum sollen wir Sie wählen, Frau Merkel?

243

Tabelle 6: Normative Haltungen zu einer Frau als Bundeskanzlerin und ihrer Familienpolitik in Abhängigkeit von Geschlecht und Parteipräferenz Spaltenprozente

alle Union

FDP

SPD

Parteipräferenz B90/ Die and. Grüne Linke. Partei PDS

MÄNNER Bk soll ein Mann sein 7.0 5.2 20.0 6.5 2.4 Frau als BK gut, egal welche Pol. 30.9 41.5 39.0 26.9 22.9 muss familienfreundl. Politik 51.0 44.3 24.7 58.4 54.4 weiß nicht 11.1 9.0 15.4 8.2 20.3 N 537 193 21 117 32 FRAUEN Bk soll ein Mann sein 4.5 3.0 0.0 6.7 0.0 Frau als BK gut, egal welche Pol. 25.3 30.6 9.5 22.6 6.2 muss familienfreundl. Politik 63.1 60.2 87.0 63.4 89.9 weiß nicht 7.1 6.2 3.5 7.3 3.9 N 582 183 16 157 27 Quelle: Infratest Vorwahlumfrage September 2005, 1; eigene Berechnungen.

weiß noch nicht

nicht wählen

16.7 19.1 53.8 10.4 49

9.5 10.1 77.9 2.5 14

4.0 23.4 56.6 16.1 91

7.6 33.1 43.9 15.4 20

0.0 32.4 65.9 1.8 35

0.0 43.2 56.8 0.0 6

5.5 26.0 58.5 10.0 137

13.2 15.7 60.1 10.9 22

Die Differenzierung nach der Parteiidentifikation der Befragten zeigt erneut eine fast durchgehende Dominanz der instrumentellen Ansprüche bei allen Befragten mit Ausnahme der männlichen Unions-Anhänger, von denen sich eine Mehrheit offenbar mittels des symbolischen Motivs mit der Frau als Kanzlerin arrangiert. Erneut wird das instrumentelle Motiv bei allen Parteianhängerschaften durch Frauen häufiger als durch Männer befürwortet, am stärksten bei den Grünen, gefolgt von Anhängerinnen der Linken und solchen der FDP. Die stärkste Befürwortung des symbolischen Motivs findet sich erwartungsgemäß bei den Anhängerinnen der Union, aber auch bei denen der FDP. Überraschend hoch ist dagegen die grundsätzliche Ablehnung einer Frau als Bundeskanzlerin durch Anhänger und auch Anhängerinnen der SPD. Hier wäre vor dem Hintergrund der medialen Diskussion eher ein stärkerer Schwerpunkt auf der Befürwortung des instrumentellen Motivs der Gleichstellungspolitik zu erwarten gewesen, die implizit oder explizit Merkel abgesprochen würde, nicht jedoch eine grundsätzlich Gegnerschaft zu einer Frau im Amt der Regierungschefin. Weiter unten wird somit zu überprüfen sein, ob dies eine in Geschlechterfragen besonders konservative Anhängerschaft ist, oder ob diese Befragten nicht in der Lage waren die Differenzierung zwischen der grundsätzlichen Haltung und der personenspezifischen Haltung zu dem Konkurrentenpaar Merkel-Schröder zu vollziehen. Zuvor ist ein Blick auf die Einschätzungen von Merkels künftiger Politik in Geschlechterfragen im Fall einer Kanzlerschaft zu werfen (Tab.8). Dabei zeigt sich, dass sowohl insgesamt als auch bei allen Parteianhängerschaften große Mehrheiten unter Männern und Frauen annehmen, Merkel werde die Interessen beider Geschlechter gleichermaßen berücksichtigen. Nur unter den Grünen, besonders unter ihrer weiblichen Anhängerschaft, wird deutlich überproportional die Annahme geäußert, Merkel neige zur Bevorzugung der Interessen von Männern. Etwas überproportional findet sich diese Auffassung auch bei den weiblichen Anhängern der Linken und geringfügig auch bei denen der SPD, wobei deren männliche Anhänger jedoch leicht überproportional zur gegenteiligen Auffassung neigen, Merkel würde die Interessen von Frauen bevorzugen. Konträr fällt das Bild bei der Union aus, hier glauben die männlichen Anhänger äußerst selten, die weiblichen dagegen leicht

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Bettina Westle

überproportional Merkel würde die Interessen von Frauen stärker berücksichtigen. Das Bild, das sich damit in den Überzeugungssystemen der Wähler/innen bietet, ist also erheblich komplexer als es die mediale Frontstellung zwischen primär linker Gleichstellungsbefürwortung/Merkel-Gegnerschaft und rechter Gleichstellungsgleichgültigkeit/MerkelBefürwortung erwarten ließ. Tabelle 7: Normative Haltungen zu einer Frau als Bundeskanzlerin und ihrer Geschlechterpolitik in Abhängigkeit von Geschlecht und Parteiidentifikation Spaltenprozente

alle Union

Parteiidentifikation B90/ Die and. Grüne Linke. Partei PDS

FDP

SPD

11.3 23.8 40.8 24.1 56

27.1 15.3 45.5 12.0 427

7.4 23.2 57.9 11.5 51

16.4 20.4 53.9 9.2 65

4.2 36.4 58.0 1.4 31

22.5 18.0 49.3 10.1 379

6.4 17.1 67.2 9.3 62

8.2 23.4 59.1 9.2 52

MÄNNER Bk soll ein Mann sein 18.8 8.7 Frau als BK gut, egal welche Pol. 24.8 41.5 muss Gleichstellungspolitik 43.4 37.2 weiß nicht, keine Angabe 12.9 12.7 N 1218 282 FRAUEN Bk soll ein Mann sein 11.4 6.7 Frau als BK gut, egal welche Pol. 24.2 34.1 muss Gleichstellungspolitik 51.3 49.4 weiß nicht, keine Angabe 13.0 9.8 N 1322 380 Quelle: Bürger und Parteien; eigene Berechnungen.

keine PI

weiß nicht, kA

26.8 21.4 46.7 5.5 35

19.3 25.3 42.3 13.1 254

20.9 19.7 38.3 21.1 47

25.4 18.5 56.1 0.0 9

7.1 19.9 53.0 20.0 344

5.6 28.3 40.2 25.9 65

Tabelle 8: Vermutete Geschlechterpolitik der Bundeskanzlerin Merkel in Abhängigkeit von Geschlecht und Parteiidentifikation Spaltenprozente

alle Union

MÄNNER Interessen von Männern 6.4 5.1 beide gleich 69.5 86.1 Interessen von Frauen 11.8 4.4 weiß nicht, keine Angabe 12.2 4.4 N 1218 282 FRAUEN Interessen von Männern 7.5 1.6 beide gleich 72.1 81.8 Interessen von Frauen 7.4 10.2 weiß nicht, keine Angabe 12.9 6.5 N 1322 380 Quelle: Bürger und Parteien; eigene Berechnungen.

Parteiidentifikation B90/ Die and. Grüne Linke. Partei PDS

FDP

SPD

14.0 77.0 5.2 3.8 56

6.7 65.6 16.0 11.7 427

14.3 74.1 1.9 9.7 51

11.5 58.9 17.5 12.1 65

3.7 86.5 4.0 5.8 31

11.4 66.1 6.4 16.1 379

30.6 55.0 3.4 11.1 62

18.1 61.1 7.6 13.2 52

keine PI

weiß nicht, kA

4.9 58.6 23.8 12.7 35

3.8 60.2 13.5 22.6 254

2.9 65.0 11.4 20.7 47

0.0 84.5 15.5 0.0 9

6.1 69.8 7.2 16.9 344

0.0 80.0 1.4 18.6 65

Optimalerweise würden die Frage nach der normativen Haltung gegenüber einer Frau als Kanzlerin und die nach der erwarteten Politik Merkels unabhängig voneinander beantwortet, die Auffassungen dazu dürften sich also nicht gegenseitig beeinflussen. Dies ist aber offenbar in der konkreten Situation der anstehenden Besetzung des Amtes nicht der Fall

Warum sollen wir Sie wählen, Frau Merkel?

245

gewesen. Vielmehr zeigen sich durchaus Zusammenhänge in den Anwortstrukturen. So erwarten Männer, die eine Frau als Kanzlerin ablehnen, außergewöhnlich häufig, dass Merkel Frauen bevorzugen würde, und unter der entsprechenden Gruppierung der Frauen besteht überproportional Erwartungsunsicherheit gegenüber Merkels Politik (Tab.9a). Die umgekehrte Betrachtung einer unterstellten Beeinflussung der Antworten auf die normative Frage durch die Zukunftserwartungen zu Merkels Politik (Tab.9b) zeigt vor allem eine starke Zunahme des instrumentellen Anspruchs an Gleichstellungspolitik, wenn genau diese Merkel nicht zugetraut wird, also ein Auseinanderklaffen von Anspruch und Erwartung. Tabelle 9a: Vermutete Geschlechterpolitik Merkels in Abhängigkeit der normativen Haltungen zu einer Frau als Bundeskanzlerin und ihrer Geschlechterpolitik Spaltenprozente

Männer Bk soll ein Frau als BK muss Mann sein gut, egal GleichInteressen von: welche Pol. stellungspolitik Männern 8.1 3.9 8.8 beide gleich 38.4 84.5 74.1 Frauen 28.5 7.2 8.5 weiß nicht,kA 24.9 4.4 8.6 N 229 302 529 Quelle: Bürger und Parteien; eigene Berechnungen.

weiß nicht kA 0.9 70.6 7.6 20.9 158

Frauen Bk soll ein Frau als BK muss Mann sein gut, egal Gleichwelche Pol. stellungspolitik 9.3 3.9 9.6 51.7 77.9 76.3 10.7 11.2 5.0 28.2 7.0 9.0 151 321 679

weiß nicht kA 4.4 62.7 6.6 26.3 172

Tabelle 9b: Normative Haltungen zu einer Frau als Bundeskanzlerin und ihrer Geschlechterpolitik in Abhängigkeit der vermuteten Geschlechterpolitik Merkels Männer Interes- beide Interessen von gleich sen von MänFrauen nern Bk soll ein Mann sein 23.9 10.4 45.4 Frau als BK gut, egal welche Politik 15.1 30.1 15.1 muss Gleichstellungspolitik 59.2 46.3 31.3 weiß nicht,kA 1.9 13.2 8.3 N 78 847 144 Quelle: Bürger und Parteien; eigene Berechnungen.

weiß nicht kA 38.4 8.9 30.6 22.1 149

Interessen von Männern 14.2 12.6 65.7 7.5 100

Frauen beide Interesgleich sen von Frauen 8.2 26.2 54.3 11.3 954

16.5 36.8 35.0 11.7 98

weiß nicht kA 24.9 13.1 35.6 26.4 171

Die Kombination der beiden Orientierungen auf Individualebene (Tab.10) weist aber nur drei der möglichen zehn Kategorien als häufig vorkommend aus. Dies ist erstens bei Frauen und Männern der Anspruch auf eine Kanzlerin, die Gleichstellungspolitik betreibt, mit der Erwartung, dass Merkel beide Geschlechter gleich behandeln wird. An zweiter Stelle steht inhaltlich die Kombination des symbolischen Motivs mit der Erwartung der Gleichbehandlung. Daneben finden sich noch relativ viele Fälle, die mindestens eine der beiden Fragen nicht beantworten. Die für das feministische Dilemma in Frage kommenden Kategorien – also die Befürwortung einer Frau als Bundeskanzlerin nur, wenn sie Gleichstellungspolitik betreibt, mit der Erwartung, dass Merkels Politik zugunsten von Männern ausfallen werde oder sie eine Gleichbehandlung der Geschlechter, nicht aber eine Bevorzugung der Frauen

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Bettina Westle

betreiben werde, zeigen somit durchaus nennenswerte Besetzungen mit 4 bzw. 5 Prozent in der erstgenannten und 32 bzw. 39 Prozent in der zweigenannten Kategorie. Allerdings wird dieses Bild etwas dadurch in Frage gestellt, dass die Bedeutung der Antwort „Merkel wird die Interessen von Frauen und Männern gleich berücksichtigen“ nicht ganz eindeutig ist. Aus feministischer Perspektive erfordert die existente Benachteilung die künftige Bevorzugung der Interessen von Frauen. Jedoch wird dieses Argument der positiven Diskriminierung von vielen Bürger/innen nicht geteilt und stattdessen in Gleichbehandlung die faire Option gesehen (vgl. auch weiter unten und das Kapitel zu den allgemeinen und politischen Genderorientierungen). Das Argument der symbolischen Politik, einhergehend mit der Erwartung einer Gleichberücksichtigung der Interessen von Frauen und Männern, wird deutlich überproportional von Anhänger/innen der Union vertreten, aber auch unter dem weiblichen Wählerpotenzial der FDP. Den Kontrast hierzu bildet die Anhängerschaft der SPD sowie die weibliche von Bündnis90/Grünen, für die symbolische Politik und Gleichbehandlung der Interessen mehrheitlich offenbar weniger wünschenswert ist. Aber selbst unter diesen ist sie in Teilen doch nicht ganz ausgeschlossen. Letztere Befragte könnten das feministische Dilemma somit bereits für sich durch das Argument der symbolischen Politik aufgelöst haben. Tabelle 10: Index: Normative Haltungen zu einer Frau als Bundeskanzlerin und ihrer Geschlechterpolitik sowie Erwartungen an Merkel - in Abhängigkeit von Geschlecht und Parteiidentifikation Spaltenprozente

alle

Union

MÄNNER Ablehnung Frau, Int. Männer 1.5 1.0 Ablehnung Frau, Int. beide 7.2 3.3 Ablehnung Frau, Int. Frauen 5.4 1.5 pro Frau symb., Int. Männer 1.0 2.6 pro Frau symb., Int. beide 21.0 37.6 pro Frau symb., Int. Frauen 1.8 0.6 pro Frau wenn Gl., Int. Männer 3.8 1.4 pro Frau wenn Gl., Int. beide 32.2 32.9 pro Frau wenn Gl., Int. Frauen 3.7 2.3 1 oder 2 fehlende Angaben 22.5 16.8 N 1218 282 FRAUEN Ablehnung Frau, Int. Männer 1.1 0.2 Ablehnung Frau, Int. beide 5.9 3.5 Ablehnung Frau, Int. Frauen 1.2 1.4 pro Frau symb., Int. Männer 1.0 0.0 pro Frau symb., Int. beide 18.9 28.5 pro Frau symb., Int. Frauen 2.7 5.2 pro Frau wenn Gl., Int. Männer 5.0 1.3 pro Frau wenn Gl., Int. beide 39.2 41.9 pro Frau wenn Gl. Int. Frauen 2.6 3.2 1 oder 2 fehlende Angaben 22.5 14.9 N 1322 380 Quelle: Bürger und Parteien; eigene Berechnungen.

FDP

SPD

B90/ Grüne

Die and. Linke. Partei PDS

1.2 3.9 3.7 0.0 23.4 0.4 12.8 26.9 1.1 26.6 56

2.7 10.7 7.7 0.3 11.7 3.1 3.7 34.4 4.0 21.9 427

0.0 4.7 1.9 0.0 23.2 0.0 14.3 39.8 0.0 16.1 51

2.9 5.4 1.5 1.6 13.8 3.9 7.0 34.0 11.4 18.5 65

0.0 4.2 0.0 2.9 30.3 3.2 0.8 50.6 0.9 7.2 31

3.2 11.2 1.9 1.5 12.9 1.3 6.1 36.7 2.5 22.7 379

0.0 3.8 0.0 3.0 10.7 3.4 24.8 36.0 0.0 18.2 62

0.0 5.5 1.9 0.8 20.7 1.7 17.3 31.3 4.1 16.8 52

keine PI

weiß nicht, kA

0.0 3.9 19.2 0.0 13.5 4.6 4.9 41.2 0.0 12.7 35

0.8 7.1 6.3 0.7 20.3 0.9 2.2 25.8 5.1 30.7 254

0.0 12.3 3.6 1.1 18.3 0.2 0.0 31.8 0.9 31.7 47

0.0 9.9 15.5 0.0 18.5 0.0 0.0 56.1 0.0 0.0 9

0.4 3.5 0.3 1.1 15.0 1.9 3.6 39.8 3.0 31.3 344

0.0 4.8 0.5 0.0 19.1 0.9 0.0 35.9 0.0 38.8 65

Warum sollen wir Sie wählen, Frau Merkel?

247

Auch nach der Wahl noch als dissonant artikulieren die Situation dagegen mit 61 bzw. 54 Prozent am häufigsten die weiblichen und die männlichen Anhänger/innen der Grünen sowie mit 51 Prozent die Anhängerinnen der FDP. Auch bei denen der SPD (mit 38 bzw. 43 Prozent) und der Linken (mit 34 bzw. 43 Prozent) sowie denen der Union selbst ist diese Entscheidungssituation mit (34 bzw. 43 Prozent) durchaus noch deutlich vertreten. Daneben ist noch auffällig, dass unter der SPD-Klientel erneut relativ viele gegen eine Frau im Amt der Kanzlerin plädieren und dabei aber überwiegend eine Gleichberücksichtigung der Geschlechter durch Merkel erwarten. Ebenfalls auffällig ist, dass Befragte, die über keine Parteiidentifikation verfügen, bei den Frauen deutlich mehr als bei den Männern die Entscheidungssituation des feministischen Dilemmas äußern (43 Prozent im Vergleich zu 28 Prozent) und dass Befragte ohne Parteiidentifikation sowie solche, die die Angabe dazu verweigern, stark überdurchschnittlich auch keine Meinung zu den Fragen nach der Kanzlerin und der Geschlechterpolitik artikulieren.

6.

Genderorientierungen und Haltungen gegenüber einer Kanzlerin

Die normativen Orientierungen gegenüber einer Frau im Amt der Kanzlerin basieren wie zu erwarten im Hinblick auf die generelle Ablehnung einer Frau und auf die instrumentellen Ansprüche an deren Gleichstellungspolitik deutlich auf den allgemeinen und den politischen Genderüberzeugungen der Bürger/innen. Je stärker Bürger/innen traditionellen Geschlechtsrollenvorstellungen anhängen, je mehr sie eine Benachteiligung von Frauen in der Gesellschaft leugnen und je distanzierter sie gegenüber Frauen in der Politik eingestellt sind, desto eher lehnen sie auch eine Frau im Amt der Regierungschefin ab und umgekehrt stellen sie bei gegenteiligen Genderüberzeugungen verstärkt den Anspruch, das eine Kanzlerin Gleichstellungspoltik betreiben müssen. Die Befürwortung der symbolischen Funktion einer Kanzlerin weist jedoch kein klares Profil bei den allgemeinen Genderüberzeugungen auf, d.h. das symbolische Motiv findet Unterstützung unabhängig davon, ob die Bürger/innen eher konservative, moderne oder explizit feministische Einstellungen bei den allgemeinen Genderorientierungen aufweisen. Bei zunehmend feministischen politischen Genderorientierunten wächst dagegen auch die Zustimmung zu der Unterstützung einer Kanzlerin aus symbolischen Grünen. Ferner zeigen die Vermutungen über die künftige Genderpolitik Merkels nur sehr wenige systematische Zusammenhänge mit den Genderorientierungen, was ihrem Charakter als Wahrnehmungsvariablen ja durchaus entspricht. Eine Auswahl der entsprechenden Zusammenhänge soll dies illustrieren (nicht tab. ausgewiesen; für die Variablen und Indizes s. das Kapitel zu Genderorientierungen). So nimmt die Ablehnung einer Frau im Amt der Kanzlerin ganz erheblich bei steigender Zustimmung zu traditionellen Geschlechtsrollenvorstellungen zu (von rund 7 Prozent auf ca. 60 Prozent bei Männern und 45 Prozent bei Frauen), während der instrumentelle Anspruch an deren Gleichstellungspolitik sinkt (von rund 70 Prozent auf 20 Prozent bei Männern und 34 Prozent bei Frauen). Das symbolische Motiv wird dagegen besonders bei mittleren Positionen zu den traditionellen Geschlechtsrollen unterstützt (zu ca. 35 Prozent im Vergleich zu insgesamt 28 Prozent). Ähnlich verhalten sich die Zusammenhänge mit dem modernen Sexismus, der Leugnung von Benachteiligung der Frauen. Auch Befragte, die meinen, für die Gleichberechtigung sei schon zu viel getan worden, lehnen eine Frau als Kanzlerin überproportional ab (57 Prozent bei den Männern und 50 Prozent bei den Frau-

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Bettina Westle

en), während jene, die hier Defizite kritisieren, eine Kanzlerin, die Gleichstellungspolitik betreiben soll, häufiger befürworten (60 bzw. 64 Prozent). Erneut wird die symbolische Unterstützung einer Kanzlerin von denen mit mittlerer Position am häufigsten unterstützt (je 30 Prozent im Vergleich zu insgesamt etwa 27 Prozent). Ähnliche Muster treffen für die Zusammenhänge mit politischen Genderorientierungen zu, wobei hier jedoch auch die Zustimmung zu dem symbolischen Motiv der Befürwortung einer Kanzlerin mit positiven Haltungen zu Frauen in der Politik wächst. So ist die Ablehnung einer Kanzlerin (mit 59 Prozent bei Männern und rund 20 Prozent bei Frauen) am größten bei Befragten, die meinen Frauen würden durch die Politik bereits bevorzugt. Umgekehrt fällt die Befürwortung einer Kanzlerin der Gleichstellungspolitik (mit 7073 Prozent) am größten bei denen aus, die Frauen durch die Politik benachteiligt sehen. Das symbolische Motiv zeigt hier keine Zusammenhänge. Bei der Erwartung auf bessere Politik, wenn mehr Frauen im Bundestag wären, wächst vor allem die Zustimmung zur instrumentellen Unterstützung einer Frau als Kanzlerin. So befürworten 64 Prozent der Männer und 69 Prozent der Frauen, die weiblichen Abgeordneten eine bessere Politik zutrauen, eine Kanzlerin der Gleichstellungspolitik, im Gegensatz zu nur 24 bzw. 23 Prozent derjenigen, die von ihnen eine schlechtere Politik befürchten und 50 bzw. 60 Prozent derjenigen, die keine Unterschiede in der Politikqualität erwarten. Dieser Anstieg geht allerdings bei den Männern primär auf Kosten der grundsätzlichen Ablehnung einer Frau in diesem Amt (die von 60 auf 10 Prozent sinkt), bei den Frauen jedoch gleichzeitig auf Kosten der symbolischen Unterstützung (die von 48 auf 27 Prozent sinkt, wobei die Ablehnung von 29 auf 5 Prozent abnimmt). Etwas anders verhält es sich bei den Zusammenhängen mit den Orientierungen zum Anteil von Frauen in politischen Führungsrollen. Hier nimmt sowohl die instrumentelle als auch die symbolische Unterstützung einer Kanzlerin mit dem Wunsch nach einem größeren Frauenanteil deutlich zu. So befürworten Männer, die in der Politik weniger Frauen sehen wollen, nur zu 14 Prozent das symbolische Motiv und zu 29 Prozent das instrumentelle, während diejenigen, die den bisherigen Frauenanteil befürworten, diese Motive zu 29 bzw. 46 Prozent unterstützen, und diejenigen, die mehr Frauen in der Politik wünschen, zu 31 Prozent eine Frau als Kanzlerin aus symbolischen Gründen und zu 61 Prozent aus instrumentellen Gründen befürworten. Bei den Frauen sinkt die generelle Ablehnung einer weiblichen Kanzlerin dementsprechend von 47 über 18 auf 5 Prozent. Die Befürwortung unabhängig von deren Geschlechterpolitik steigt von 20 auf 29 Prozent. Und die Befürwortung im Fall einer Gleichstellungspolitik betreibenden Kanzlerin steigt von 33 Prozent bei den wenigen, die eigentlich nicht mehr Frauen in politischen Führungsrollen sehen wollen, auf 53 Prozent bei denen, die mit dem aktuellen Frauenanteil zufrieden sind, auf 67 Prozent bei denjenigen, die einen höheren Frauenanteil in der Politik wünschen. Bei den Vermutungen zur künftigen Genderpolitik Merkels zeigen sich keine Variablen übergreifenden, systematischen und starken Zusammenhänge mit den Genderorientierungen. Lediglich einige schwache Tendenzen sind beobachtbar, und zwar vor allem unter den männlichen Befragten. So neigen Befragte mit traditionellen Geschlechtsrolleorientierungen, mit der Auffassung, für die Gleichberechtigung sei bereits zu viel getan worden, Frauen würden durch die Politik bereits bevorzugt, die Politik würde sich durch mehr weibliche Abgeordnete verschlechtern und es solle weniger Frauen als bisher in politischen Führungsrollen geben, überproportional dazu, von Merkel eine Bevorzugung weiblicher Interessen zu vermuten bzw. zu befürchten. Spiegelbildlich, wenn auch weniger stark ausgeprägt, neigen vor allem Frauen mit modernen Geschlechtsrollenorientierungen und deut-

Warum sollen wir Sie wählen, Frau Merkel?

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licher Kritik an den bisherigen Geschlechterverhältnissen in Gesellschaft und Politik etwas überproportional dazu, von Merkel eine männerorientierte Politik zu erwarten bzw. zu befürchten. Für die nachfolgende Betrachtung wird die Perspektive gedreht und nach dem Profil der Genderorientierungen in Abhängigkeit der Haltungen zu der Kanzlerin gefragt, wobei die Erwartungen an Merkel bei der generellen Ablehnung und bei der symbolischen Unterstützung nicht weiter berücksichtigt werden, sondern nur bei dem instrumentellen Anspruch an eine Gleichstellungspolitik, da nur diese das feministische Dilemma konstituieren. Dabei ergibt sich über alle Genderorientierungen hinweg ein nahezu identisches Muster: Diejenigen, die generell gegen eine Frau im Amt der Regierungschefin sind, äußern im Durchschnitt auch die traditionellsten gesellschaftlichen und politischen Genderorientierungen, mit einigem Abstand gefolgt von denjenigen, die sich für eine symbolische Unterstützung aussprechen. Die egalitärsten bzw. kritischsten Genderorientierungen werden von den relativ kleinen Gruppierungen geäußert, die eine Gleichstellungspolitik der Kanzlerin fordern, aber Merkel die Bevorzugung männlicher Interessen zuschreiben. Zwischen denjenigen, die ebenfalls eine Gleichstellungspolitik fordern und Merkel eine Bevorzugung weiblicher Interessen zuschreiben oder aber von ihr eine gleiche Berücksichtigung von Männer- und Fraueninteressen vermuten, wechseln die Rangplätze von Indikator zu Indikator (was erneut auf das vermutlich unter den Befragten unterschiedliche Verständnis der Gleichbehandlung als ausreichend fairer oder aber unzureichender Genderpolitik deutet). Vor diesem Hintergrund ist zu vermuten, dass Befragte mit der besonders kritischen Variante des feministischen Dilemmas dieses nicht zugunsten von Merkel auflösen, während bei den anderen eher eine solche Chance bestehen könnte. Ergänzend ist hier noch auf die Anhängerschaft der SPD einzugehen, denn oben wurde unter ihr eine erstaunlich starke grundsätzliche Ablehnung einer Frau als Bundeskanzlerin beobachtet. Dies warf die Frage auf, ob es sich dabei um eine in Geschlechterfragen besonders konservative Anhängerschaft handelt, oder ob diese Befragten nicht zwischen der grundsätzlichen und der personenspezifischen Haltung zu dem Konkurrentenpaar MerkelSchröder differenzieren. Die Antwort ist ein „sowohl als auch“, da diese Gruppierung einerseits deutlich traditionellere, antifeministische Haltungen aufweist als der Durchschnitt der Bevölkerung, jedoch nicht gleichermaßen wie die anderen Befragten, die gegen eine Frau im Amt der Regierungschefin plädieren.

7.

Kanzler/in-Präferenz

Die normativen Orientierungen an und die Vermutungen über die Kanzlerin sollten sich deutlich in der Präferenz für Merkel versus Schröder niederschlagen. In der Vorwahlumfrage ist dies auch weitgehend der Fall (Tab.11). Hier besteht ein nahezu identischer Vorsprung Schröders vor Merkel bei Männern wie Frauen von 6 Prozent, wobei das Motiv der symbolischen Repräsentation bei beiden Geschlechtern erheblich zu einer Präferenz für Merkel beiträgt, das der familienfreundlichen Politik dagegen zu einer Präferenz für Schröder, der erwartungsgemäß noch deutlicher bei der generellen Ablehnung einer Frau als Kanzlerin bevorzugt wird. Zwischen Männern und Frauen wird lediglich bei den in der Frage der Kanzler/in und ihrer Familienpolitik Unentschlossenen ein Strukturunterschied sichtbar, insofern als diese Männer überproportional zur Ablehnung beider Kandidaten

250

Bettina Westle

neigen, während die betreffenden Frauen stattdessen stärker als die Männer für Merkel plädieren. Tabelle 11: Kanzler/in-Präferenz in Abhängigkeit von der Haltung zu einer Frau als Bundeskanzlerin und ihrer Familienpolitik Spalten-prozente

alle

Bk soll ein Mann sein

Frau als BK gut, muss familiegal welche Pol. enfreundl. Politik

weiß nicht kA

MÄNNER Schröder 47.9 64.8 36.4 51.3 53.5 Merkel 42.2 27.4 54.3 39.0 32.7 keinen v.beiden 9.9 7.7 9.3 9.6 13.8 N 531 37 163 271 59 FRAUEN Schröder 49.4 59.3 39.3 52.1 54.9 Merkel 42.7 35.6 53.4 38.8 42.7 keinen v.beiden 8.0 5.0 7.3 9.1 2.4 N 571 25 146 358 41 Quelle: Infratest Vorwahlumfrage September 2005, 1; weiß nicht, keine Angabe Kanzler/in-Präferenz < 2 Prozent, als fehlende Werte definiert; eigene Berechnungen.

Tabelle 12: Kanzler/in-Präferenz in Abhängigkeit von der Haltung zu einer Frau als Bundeskanzlerin und ihrer Gleichstellungspolitik von den Vermutungen über Merkels Gleichstellungspolitik Spalten-prozente

alle

normative Haltung Bk soll Frau als BK muss ein gut, egal GleichMann welche stelsein Politik lungsPolitik

weiß Interesnicht, sen von kA Männern

Vermutung zu Merkel beide Interesgleich sen von Frauen

MÄNNER Schröder 47.2 65.0 26.7 49.9 51.0 56.1 Merkel 26.2 4.4 49.9 22.9 24.2 15.8 keinen v. beiden 26.6 30.6 23.4 27.2 24.7 28.1 N 1194 227 295 518 154 77 FRAUEN Schröder 43.5 72.6 22.2 43.9 56.2 68.7 Merkel 32.6 8.0 57.4 29.5 19.2 4.7 keinen v. beiden 24.0 19.4 20.4 26.5 24.7 26.5 N 1277 150 313 657 157 99 Quelle: Bürger und Parteien; weiß nicht, keine Angabe bei Kanzler/in-Präferenz < definiert; eigene Berechnungen.

43.8 33.8 22.4 828 38.6 38.9 22.5 925 4 Prozent,

59.0 7.7 33.2 143

weiß nicht, kA

50.0 6.8 43.2 146

34.8 61.3 40.3 8.3 24.9 30.4 94 159 als fehlende Werte

Infolge der starken Zunahme der spontanen Antworten „keinen von beiden“ sind die Zusammenhänge zwischen der normativen Haltung zu einer Kanzlerin im Kontext der Gleichstellungspolitik in der Nachwahlumfrage etwas weniger scharf ausgeprägt, zeigen jedoch grundsätzlich dasselbe Muster. Nur bei Befürwortung der symbolischen Bedeutung einer erstmals weiblich besetzen Kanzlerin hat Merkel einen deutlichen Vorsprung vor Schröder, während dieser bei Ablehnung einer Frau im Amt der Kanzlerin weit vorne liegt. Die Befragten, die sich eine pro Gleichstellungspolitik agierende Kanzlerin wünschen, liegen dazwischen, d.h. sie votieren deutlich häufiger für Schröder als für Merkel, aber seltener als

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die Gegner einer weiblichen Kanzlerin für Schröder und seltener als die Befürworter der symbolischen Bedeutung für Merkel (Tab.12). Die Vermutungen zu Merkels Politik kovariieren dagegen weniger mit der Kanzlerpräferenz. Unter den Männern gewinnt Merkel hierbei, wenn diese eine Gleichbehandlung der Geschlechter von Merkel erwarten, unter Frauen, wenn diese eine Gleichbehandlung oder eine stärkere Berücksichtigung der Interessen von Frauen vermuten (Tab.12). In den Zusammenhängen zwischen dem Index der Haltungen zu der Kanzlerin und der Kanzler/in-Präferenz schlägt sich diese Struktur dementsprechend deutlich nieder (Tab.13). Bei allen, die eine Frau in diesem Amt grundsätzlich ablehnen, dominiert die Präferenz für Schröder, gefolgt von der Ablehnung beider Kandidaten. Letzteres ist bei Männern und Frauen besonders stark ausgeprägt, wenn sie vermuten, Merkel würde die Interessen von Frauen bevorzugen. Diejenigen, die den symbolischen Wert der ersten Frau im Amt der Kanzlerin schätzen, Merkel aber als „männernah“ sehen, präferieren ebenfalls überwiegend Schröder (Frauen) oder lehnen beide Kandidaten ab (Männer), während bei der Annahme, sie würde die Interessen beider Geschlechter gleichermaßen vertreten, die Präferenz für Merkel dominiert. Letzteres trifft bei den Frauen auch dann zu, wenn sie von Merkel eine stärkere Nähe zu den Interessen der Frauen vermuten, während dies auf Männer eher abschreckend wirkt und sie daher offenbar trotz der Symbolik in diesem Fall Schröder vorziehen. Die Befragten, die an eine Kanzlerin den Anspruch auf Gleichstellungspolitik stellen, liegen mit ihrer Kanzler/in-Präferenz zwischen den generellen Ablehnern einer Frau und den Befürwortern des Symbolwerts. Dabei dominiert bei Frauen erneut die Präferenz für Schröder oder keinen von beiden, wenn Merkel eine Nähe zu männlichen Interessen zugeschrieben wird, und bei Männern, wenn Merkel als Vertreterin von weiblichen Interessen wahrgenommen wird (was wiederum darauf hindeutet, dass unter „Gleichstellung“ von diesem Befragten offenbar nicht „positive Diskriminierung“ verstanden wird). Jedoch finden sich bei Männern und Frauen, wenn von Merkel die Gleichberücksichtigung beider Geschlechter vermutet wird, und bei Frauen auch, wenn diese von Merkel eine stärkere Berücksichtigung weiblicher Interessen erwarten, deutlich überproportionale Anteile der Präferenz für Merkel, wenn auch nicht in vergleichbarer Höhe wie bei Vorliegen des symbolischen Motivs. Mit anderen Worten: Die Auflösung des feministischen Dilemmas zugunsten einer Präferenz von Merkel ist besonders dann wahrscheinlich, wenn ihr keine Bevorzugung männlicher Interessen unterstellt wird, sondern eine Neutralität in Geschlechterfragen (oder bei wenigen weiblichen Befragten eine Bevorzugung weiblicher Interessen). Diese Voraussetzung besteht, wie weiter oben gezeigt wurde, durchaus auch im linken parteipolitischen Spektrum, nämlich bei rund 30 bis 40 Prozent dieser Anhängerschaften. Für die Analyse, wie sich diese Orientierungskombinationen gegenüber einer Kanzlerin entlang der parteipolitischen Loyalitäten der Befragten auf die Kanzler/in-Präferenz auswirken, sind angesichts der ansonsten zu geringen Fallzahlen stärkere Zusammenfassungen erforderlich. Daher werden bei dem Index alle Befragten, die eine Kanzlerin grundsätzlich ablehnen, zusammengefasst, und ebenso alle Befragten, die eine Kanzlerin aus symbolischen Grünen befürworten. Bei der Parteiidentifikation werden SPD, Bündnis90/Grüne und Die Linke.PDS einerseits, die Union und die FDP andererseits zusammengefasst, auch wenn dies im Einzelnen Informationsverluste bedeutet (Tab.14).

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Bettina Westle

Tabelle 13: Kanzler/in-Präferenz in Abhängigkeit des Indexes zur Haltung zu einer Frau als Bundeskanzlerin und ihrer Gleichstellungspolitik und den Vermutungen über Merkels Gleichstellungspolitik Spaltenprozente

Ablehnung einer Frau Pro Frau symbolisch Pro Frau, wenn Gleichstelund Merkel: und Merkel: lungspolitik und Merkel Int. der beide Int. der Int. der beide Int. der Int. der beide Int. der Männer gleich Frauen Männer gleich Frauen Männer gleich Frauen

MÄNNER Schröder 76.9 67.1 66.8 18.9 Merkel 0.0 9.0 0.0 35.2 keinen v. beiden 23.1 23.9 33.2 45.9 N 18 87 65 12 FRAUEN Schröder 85.3 74.5 49.5 68.3 Merkel 0.0 4.6 16.1 8.9 keinen v. beiden 14.7 20.9 34.4 22.8 N 14 78 16 13 Quelle: Bürger und Parteien; eigene Berechnungen.

1-2 wn, kA

24.8 54.8 20.4 248

54.3 19.7 26.0 22

57.9 17.5 24.6 46

48.8 26.5 24.8 382

50.5 15.2 34.2 45

50.7 16.7 32.7 269

18.9 62.7 18.4 245

11.0 67.6 21.4 36

62.9 5.5 31.6 65

39.8 35.1 25.1 502

55.6 28.9 15.5 33

57.7 15.2 27.1 276

Bei den Bürger/innen, die angeben, eine Frau im Amt der Kanzlerin grundsätzlich abzulehnen, werden massive Unterschiede der tatsächlichen Kanzler/in-Präferenz in Abhängigkeit der Parteiidentifikation deutlich: Die links Orientierten votieren zu über 90 Prozent für Schröder, die rechts Orientierten flüchten dagegen aus der Cross-Pressure Situation mit absoluter Mehrheit in die Ablehnung beider Kandidaten, wobei sich unter den Männern noch etwas mehr als unter den Frauen dennoch zu Merkel durchringen (ein Befund, der angesichts der geringen Häufigkeiten jedoch unter Vorbehalt steht). Die anderen Befragten zeigen hier Präferenzen, die bei den Männern eher dem rechten Parteienspektrum ähneln, während bei den Frauen die Präferenzen für Schröder häufiger sind. Befragte, die sich für den Symbolwert einer ersten weiblichen Kanzlerin aussprechen, befinden sich im Fall einer Parteiidentifikation mit der Union oder der FDP in einer konsonanten Entscheidungssituation und präferieren dementsprechend auch stark überproportional Merkel als Kanzlerin, wobei diese Präferenz unter Frauen nochmals etwas deutlicher ist als unter Männern. Besteht jedoch die dissonante Situation einer Identifikation mit einer der Parteien des linken Spektrums, wird diese überwiegend zugunsten von Schröder aufgelöst, d.h. die Parteiidentifikation zeigt hier stärkere Effekte als die Haltungen in der Geschlechterfrage. Allerdings wirkt das eigene Geschlecht der Befragten hier erneut nochmals differenzierend, d.h. nur bei Männern zugunsten von Schröder, während Frauen in dieser Lage deutlich häufiger zur Ablehnung beider Kandidaten neigen. Immerhin 11 bzw. 16 Prozent der (jedoch insgesamt wenigen Befragten des linken Spektrums), die das symbolische Motiv befürworten, sprechen sich entgegen ihrer Parteiidentifikation für Merkel aus. Diese Befragten dürften somit das feministische Dilemma der Linken für sich bereits zugunsten des Symbolwertes einer weiblichen Kanzlerin aufgelöst haben.

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Tabelle 14: Kanzler/in-Präferenz in Abhängigkeit des Indexes zur Haltung zu einer Frau als Bundeskanzlerin und ihrer Gleichstellungspolitik und den Vermutungen über Merkels Gleichstellungspolitik nach Parteiidentifikation Spaltenprozente

MÄNNER Schröder Merkel keinen v. beiden N FRAUEN Schröder Merkel keinen v. beiden N MÄNNER Schröder Merkel keinen v. beiden N FRAUEN Schröder Merkel keinen v. beiden N

Ablehnung einer Frau

Pro Frau symbolisch

19.6 26.6 53.8 20

1.3 80.2 18.4 126

28.2 21.8 50.1 20

93.7 1.1 5.3 100

Pro Frau, wenn Gleichstellungspolitik und Merkel wird vertreten: Interessen der beide gleich Interessen der Männer Frauen UNION und FDP 5.8 74.4 19.8 106

8.3 53.7 38.1 7

9.7 59.8 30.5 61

5.2 35.1 6.8 89.4 48.1 76.7 5.4 16.7 16.5 139 5 174 SPD, BÜNDNIS/DIE GRÜNEN/DIE LINKE.PDS

24.6 63.5 11.9 12

16.0 63.4 20.6 54

84.1 2.1 13.8 24

81.9 0.0 18.1 113

90.3 0.0 9.7 11

88.6 1.7 9.7 105

65.5 15.6 18.9 89

25.8 58.4 15.9 11

1-2 wn, kA

79.2 1.9 18.9 27

84.2 3.1 12.7 186

91.6 53.6 73.7 75.2 0.0 11.0 2.2 4.8 8.4 35.3 24.1 20.0 68 82 48 176 ANDERE PARTEIEN, KEINE PI, WEISS NICHT/KEINE ANGABE

MÄNNER Schröder 37.0 23.7 Merkel 2.7 43.7 keinen v. beiden 60.3 32.6 N 50 67 FRAUEN Schröder 51.5 10.7 Merkel 8.7 62.6 keinen v. beiden 39.8 26.7 N 20 72 Quelle: Bürger und Parteien; eigene Berechnungen.

28.4 13.5 58.1 8

26.0 18.5 55.5 90

11.2 18.7 70.2 13

39.6 9.0 51.4 95

31.4 0.0 68.6 12

36.4 22.7 40.9 152

54.4 17.4 28.2 9

49.2 5.1 45.8 117

Relativ eindeutig ist die Entscheidungslage auch für diejenigen Bürger/innen des linken ideologischen Spektrums, die von einer Kanzlerin Gleichstellungspolitik erwarten, aber Merkel im Gegenteil die Bevorzugung männlicher Interessen unterstellen: Merkel kommt für sie nicht in Frage und im Vergleich zu allen Befragten präferieren sie deutlich überproportional Schröder oder lehnen beide Kandidaten ab. Dies trifft für die linke Klientel mit Gleichstellungsanspruch an eine Kanzlerin allerdings auch dann zu, wenn sie von Merkel die Gleichbehandlung beider Geschlechter vermutet oder sogar (in wenigen Fällen) eine Bevorzugung weiblicher Interessen. D.h. obwohl diese Bürger/innen glauben, dass Merkel in diesem Punkt ihren Ansprüchen genügen wird, fällt ihre Entscheidung zugunsten von

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Schröder aus. Die Parteiidentifikation setzt sich hier klar gegenüber den Genderorientierungen als Determinante der Kanzlerpräferenz durch. Bei den Anhängern von Union und FDP, die den Gleichstellungsanspruch unterstützen, wirkt dagegen die Vorstellung, Merkel werde beide Geschlechter gleich behandeln, förderlich auf die Präferenz für sie – wenn auch nicht in demselben Ausmaß wie die symbolische Unterstützung, während die unter ihnen äußerst seltenen Vorstellungen einer Bevorzugung von weiblichen oder auch männlichen Interessen durch Merkel diese Präferenz reduzieren. Die restlichen Befragten zeigen vor allem überproportionale Anteile der Ablehnung von Schröder und Merkel, insbesondere wenn sie eine Frau im Amt der Kanzlerin grundsätzlich ablehnen, und etwas stärkere Tendenzen zu Merkel als zu Schröder, wenn sie eine Frau in diesem Amt unabhängig von deren Politik grundsätzlich befürworten.

8.

Wahlentscheidung

Die Kanzler/in-Präferenz muss sich aber nicht unmittelbar in die Wahlentscheidung umsetzen, denn für diese sind bekanntermaßen weitere Faktoren bedeutsam, so besonders neben der Parteiidentifikation die Wahrnehmung und Bewertung der Issuekompetenzen der Parteien, wie bereits in dem klassischen sozialpsychologischen Modell der Wahlentscheidung dargelegt (Campbell et al. 1960) und vielfach empirisch nachgewiesen. Die Frage der Gleichberechtigung/Gleichstellung der Geschlechter ist nur eines unter vielen dieser Issues und für die meisten Bürger/innen nicht zentral, wie aus offenen Fragen zu den wichtigsten Problemen in Deutschland hervorgeht. Vielmehr sind für sie seit vielen Jahren Probleme des Arbeitsmarktes mit weitem Abstand zu allen anderen Issues dominant (vgl. a. das Kap. von Mays/Kühnel in diesem Band). Hinzu kommt im vorliegenden Fall für die Union das schon oben thematisierte Problem, dass sie von der Mehrheit der Befragten bei der Geschlechterpolitik keineswegs präferiert wird und selbst bei der eigenen Klientel in dieser Frage durchaus Präferenzen für andere Parteien, besonders für die Grünen, bestehen. Daher soll abschließend im Kontext des sozialpsychologischen Modells der Wahlentscheidung untersucht werden, ob bzw. inwieweit sich die genderbezogenen Orientierungen gegenüber einer Kanzlerin in einer Entscheidung für die Union oder FDP niedergeschlagen haben, da nur von einer Wahlentscheidung für eine dieser Parteien eine unmittelbare Unterstützung Merkels zu erwarten war. Betrachtet man zunächst nur die bivariaten Zusammenhänge, so wird bei Männern und Frauen mit 85 bzw. 84 Prozent zwischen der Parteiidentifikation mit der Union oder FDP und der Wahlentscheidung für einer dieser Parteien eine hohe Übereinstimmung deutlich. Ebenso besteht eine starke Übereinstimmung zur Kanzler/in-Präferenz, die bei Frauen mit 82 Prozent noch etwas höher ausfällt als bei Männern mit 79 Prozent. Berücksichtigt man beide Merkmale gleichzeitig, so fällt die Wahlentscheidung bei der konsonanten Merkmalskombination „PI: Union, FDP und Präferenz für Merkel“ mit 89 Prozent ganz dominant für die konservative Seite aus. Dem folgt mit rund 80 bzw. 82 Prozent die Entscheidungssituation mit konservativer Parteiidentifikation, aber ohne Präferenz in der Kanzlerfrage. Deutlich reduziert wird die Entscheidung zugunsten der Union oder FDP auf 60 Prozent bei Männern und 50 Prozent bei Frauen, wenn trotz Identifikation mit diesen Parteien eine Präferenz für Schröder vorliegt. Auch im umgekehrten Fall wird deutlich, dass die Parteiidentifikation den stärksten Effekt ausübt, der durch eine konsonante Kanzlerprä-

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ferenz noch verstärkt und durch eine dissonante geschwächt wird. So geben nur 2 bzw. 1 Prozent der Männer und Frauen, die sich mit einer anderen Partei als der Union bzw. FDP identifizieren und Schröder präferieren, an die Union bzw. die FDP gewählt zu haben, aber 18 Prozent der Frauen und 26 Prozent der Männer, die trotz links orientierter Parteiidentifikation Merkel vorziehen. Unter den Befragten ohne Parteiidentifikation wirkt sich dementsprechend die Kanzler/in-Präferenz deutlicher aus, im Fall einer Präferenz für Merkel bei Frauen mit 72 Prozent noch stärker als bei Männern mit 56 Prozent zugunsten der Union oder FDP. Der bivariate Zusammenhang mit den normativen Haltungen an eine Kanzlerin und ihrer Verhaltenseinschätzung entspricht in der Struktur den Zusammenhängen mit der Kanzler/in-Präferenz, d.h. die höchsten Anteile der Wahlentscheidung für die Union oder FDP liegen bei Unterstützung des symbolischen Werts einer Frau im Amt der Kanzlerin vor – bei Frauen zu 54 und bei Männern zu 49 Prozent. Sehr gering sind diese Anteile dagegen, wenn eine Frau in diesem Amt grundsätzlich abgelehnt wird (17 Prozent bei Frauen, 13 bei Männern) sowie wenn ein Anspruch auf Gleichstellungspolitik formuliert wird, aber von Merkel die Bevorzugung des jeweils anderen Geschlechts vermutet wird – in diesem Fall entscheiden sich Männer nur noch zu 12 Prozent und Frauen zu 6 Prozent für die Union oder die FDP. Dagegen unterscheidet sich die Wahl für diese Parteien kaum danach, ob von Merkel eine gleiche Berücksichtigung der Geschlechter oder die Bevorzugung des jeweils eigenen Geschlechts vermutet wird – sie fällt dann bei Männern wie Frauen ähnlich wie im jeweiligen Gesamtdurchschnitt aus. Bei Männern ist in diesen Fällen gar kein Zugewinn festzustellen, bei Frauen nur ein minimaler Zugewinn von etwa 3 Prozent, wenn sie eine Gleichbehandlung der Geschlechter erwarten. Die Genderorientierungen können einerseits – wie weiter oben konzeptualisiert, bereits in der Kanzler/in-Präferenz aufgegangen sein, und so indirekt auf die Wahlentscheidung gewirkt haben. Dementsprechend finden sich auch die größten Anteile der Unionsbzw. FDP Wähler/innen unter denen mit entsprechender Parteiidentifikation, einer Präferenz für Merkel und der Unterstützung der symbolischen Werts einer ersten weiblichen Kanzlerin oder der Annahme einer Gleichbehandlung der Geschlechter durch Merkel.

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Tabelle 15: Wahlentscheidung für die Union oder FDP in Abhängigkeit von Parteiidentifikation, Kanzler/in-Präferenz und genderbezogenen Kanzlerinorientierungen (Index) Wahlentscheidung (Zweitstimme Recall): Prozentanteile Union oder FDP (n gesamt) MÄNNER (1212)/FRAUEN (1322) 29.8/35.3 bivariat Parteiidentifikation (1212/1322) SPD, B90/Grüne, Linke.PDS Union, FDP Sonstige 3.1/2.5 85.2/84.3 16.9/25.6 Kanzler/in-Präferenz (1212/1322) Schröder Merkel keinen von beiden, wn, kA 5.8/5.4 78.7/81.9 24.4/27.2 Kanzlerin-Orientierung (1212/1322) Ablehnung Pro Frau Pro Frau, wenn Gleichstellungspolitik und 1-2 weiss nicht, einer Frau symbolisch Merkel vertritt: keine Angabe Interessen der beide Interessen der Männer gleich Frauen 13.1/17.0 49.4/53.6 26.5/5.6 29.2/39.6 12.1/35.0 23.9/22.4 Parteiidentifikation und Kanzler/in-Präferenz Parteiidentifikation: Union oder FDP und Kanzler/in-Präferenz und Schröder (21/38) Merkel (232/307) keinen von beiden, wn, kA (85/66) 60.3/49.9 89.4/89.1 79.8/82.2 Parteiidentifikation: andere Parteien und Kanzler/in-Präferenz und Schröder (440/377) Merkel (22/20) keinen von beiden, wn, kA (77/96) 1.9/1.0 26.2/17.8 3.1/4.9 Parteiidentifikation: keine, weiß nicht, kA und Kanzler/in-Präferenz und Schröder (99/140) Merkel (59/89) keinen von beiden, wn, kA (177/184) 11.1/4.7 55.7/71.8 7.1/19.2 Parteiidentifikation, Kanzler/in-Präferenz und Kanzlerinorientierung Parteiidentifikation: Union oder FDP und Kanzler/in-Präferenz: Schröder und Ablehnung Pro Frau Pro Frau, wenn Gleichstellungspolitik und Merkel vertritt: 1-2 einer Frau symbolisch Int. d. Männer beide gleich Int. d. Frauen wn, kA (4/6) (2/7) (3/2) (6/12) (1/3) (6/9) 33.1/22.8 100.0/11.6 100.0/13.3 13.9/88.2 100.0/0.0 91.9/73.1 Parteiidentifikation: Union oder FDP und Kanzler/in-Präferenz: Merkel und Ablehnung Pro Frau Pro Frau, wenn Gleichstellungspolitik und Merkel vertritt: 1-2 einer Frau symbolisch Int. d. Männer beide gleich Int. d. Frauen wn, kA (5/4) (101/124) (7/2) (79/133) (4/8) (36/34) 100.0/100.0 88.9/91.9 100.0/23.0 91.7/89.2 0.0/100.0 92.0/79.1 Parteiidentifikation: Union oder FDP und Kanzler/in-Präferenz: keinen von beiden, wn, kA und Ablehnung Pro Frau Pro Frau, wenn Gleichstellungspolitik und Merkel vertritt: 1-2 einer Frau symbolisch Int. d. Männer beide gleich Int. d. Frauen wn, kA (12/10) (26/8) (2/1) (23/30) (3/1) (20/16) 64.7/60.6 87.8/90.6 0.0/100.0 85.5/91.1 45.5/100.0 83.5/72.8 Parteiidentifikation: andere Partei und Kanzler/in-Präferenz: Schröder und Ablehnung Pro Frau Pro Frau, wenn Gleichstellungspolitik und Merkel vertritt: 1-2 einer Frau symbolisch Int. d. Männer beide gleich Int. d. Frauen wn, kA (93/62) (58/44) (22/35) (157/133) (21/10) (90/93) 1.1/2.2 3.0/3.9 5.9/0.0 1.7/1.0 2.3/0.0 1.6/0.0

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Fortsetzung Tab.15 Parteiidentifikation: andere Partei und Kanzler/in-Präferenz: Merkel und Ablehnung Pro Frau Pro Frau, wenn Gleichstellungspolitik und Merkel vertritt: 1-2 einer Frau symbolisch Int. d. Männer beide gleich Int. d. Frauen wn, kA (1/0) (14/9) (1/1) (6/8) (1/0) (0/2) 0.0/34.2/18.5 100.0/0.0 7.5/23.1 0.0/-/0.0 Parteiidentifikation: andere Partei und Kanzler/in-Präferenz: keinen von beiden, wn, kA und Ablehnung Pro Frau Pro Frau, wenn Gleichstellungspolitik und Merkel vertritt: 1-2 einer Frau symbolisch Int. d. Männer beide gleich Int. d. Frauen wn, kA (5/6) (17/29) (5/12) (27/37) (3/1) (20/11) 0.0/36.3 14.1/5.3 0.0/0.0 0.0/0.0 0.0/100.0 0.0/0.0 Parteiidentifikation: keine, wn, kA und Kanzler/in-Präferenz: Schröder und Ablehnung Pro Frau Pro Frau, wenn Gleichstellungspolitik und Merkel vertritt: 1-2 einer Frau symbolisch Int. d. Männer beide gleich Int. d. Frauen wn, kA (19/10) (16/8) (2/4) (23/55) (1/5) (37/58) 6.1/12.7 16.6/0.0 0.0/0.0 24.3/3.1 100.0/0.0 0.0/6.2 Parteiidentifikation: keine, wn, kA und Kanzler/in-Präferenz: Merkel und Ablehnung Pro Frau Pro Frau, wenn Gleichstellungspolitik und Merkel vertritt: 1-2 einer Frau symbolisch Int. d. Männer beide gleich Int. d. Frauen wn, kA (1/2) (29/45) (1/0) (17/34) (2/2) (9/6) 0.0/100.0 52.3/65.5 100.0/55.6/72.6 69.1/100.0 63.9/100 Parteiidentifikation: keine, wn, kA und Kanzler/in-Präferenz: keinen von beiden, wn, kA und Ablehnung Pro Frau Pro Frau, wenn Gleichstellungspolitik und Merkel vertritt: 1-2 einer Frau symbolisch Int. d. Männer beide gleich Int. d. Frauen wn, kA (32/8) (26/24) (4/9) (55/74) (10/4) (50/65) 18.1/0.0 5.8/13.5 0.0/22.9 6.8/25.1 0.0/0.0 3.1/17.7 Quelle: Bürger und Parteien; eigene Berechnungen.

Denkbar ist aber auch, dass die Genderorientierungen darüber hinaus noch einen eigenständigen Effekt ausüben, wenn auch der verbleibende Spielraum dafür gering ist. Die Analyse muss sich hier auf die wenigen Kategorien beschränken, die noch genügend Häufigkeiten aufweisen; dafür wird nachfolgend n=25 als Mindestkriterium definiert und ab einer Differenz von mindestens 3 Prozent zum Durchschnitt der jeweiligen Kategorie von einem zusätzlichen Effekt gesprochen. Darunter fallen bei den Befragten mit einer Nähe zur Union oder FDP, aber ohne Kanzler/in-Präferenz, diejenigen, die das symbolische Motiv schätzen mit 8 Prozent überdurchschnittlicher Wahl von Union oder FDP bei Männern und Frauen, und mit 9 Prozent Frauen, die die Erwartung der Gleichbehandlung der Geschlechter durch Merkel hegen. Sofern die Befragten eine andere Parteiidentifikation haben, fällt die Wahlentscheidung unabhängig von den auf die Kanzlerin bezogenen Genderorientierungen kaum zugunsten der Union bzw. FDP aus. Zwar scheint auch hier das symbolische Motiv eine der Union förderliche Rolle zu spielen, allerdings in einer minimalen Größenordnung, die die genannten Kriterien nicht erfüllt. Unter die Kriterien fallen nur die wenigen Befragten, die beide Kandidaten ablehnen und bei diesen wirkt sich die Erwartung einer Gleichbehandlung der Geschlechter durch Merkel mindernd auf die Wahl der Union bzw. FDP aus. Ähnlich zeigt das symbolische Motiv bei Befragten ohne Parteiidentifikation keine zusätzlichen, den konservativen Parteien förderlichen Effekte. Dies ist aber bei Frauen ohne Parteiidentifikation und ohne Kanzlerpräferenz im Fall der Erwartung einer Gleichbehandlung der Geschlechter durch Merkel der Fall, während sich unter den Männern dieser Gruppierung diejenigen, die ein Frau in Amt der Kanzlerin eigentlich ablehnen, dennoch etwas überproportional zur Wahl der Union bzw. FDP entschlossen haben (Tab.15).

258 9.

Bettina Westle Schluss: Merkel oder nicht Merkel – ist das hier die Frage?

Fragen der Geschlechterpolitik stellen im Rahmen der Vielfalt politischer Themen-, Problem- und Arbeitsfelder nur einen kleinen Ausschnitt dar, jedoch ist von diesem Ausschnitt jede Bürgerin und jeder Bürger betroffen. Politische Konflikte zwischen den Geschlechtern sind immer wieder aufgeflammt, auch wenn sie infolge der Überkreuzung durch andere Konflikte ebenso wie der gemeinsamen Interessen von Frauen und Männern nie den Status eines cleavages, also einer Parteien begründenden sozialstrukturellen Konfliktlinie erreicht haben. Doch erkämpften Frauen im Rahmen der alten Frauenbewegung ihr Wahlrecht – ein Recht, das legitimer Weise erst seither als „allgemeines“ gelten darf. Die neue Frauenbewegung der 1960er-80er Jahre musste sich weniger mit legalisierter Benachteiligung von Frauen auseinandersetzen, aber an allen Fronten mit dem Widerspruch formaler Gleichberechtigung und realer Benachteiligung kämpfen. Auf diesem Weg hat sie einiges erreicht, jedoch bei weitem noch nicht die „Zielgerade“. Ein Ausdruck der immer noch vorhandenen Schieflagen unter vielen ist die unterschiedliche Beschäftigungsstruktur von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt und in der reproduktiven Arbeit. Ein anderer Ausdruck ist die Unterrepräsentation von Frauen an der Spitze und im Mittelfeld der Politik, in Führungsrollen, Ministerien und Parteien. Auch hier gilt zwar einerseits, dass eine „Schwalbe noch keinen Sommer macht“. Aber andererseits: „ohne erste Schwalbe kommt der Sommer sicher noch nicht“. Aus dieser Perspektive ist es auf jeden Fall zu begrüßen, dass es einer Frau in Deutschland gelungen ist, erstmals das Amt der Kanzlerin zu erringen. Diese Perspektive ist auch das Anliegen derer, die eine solche Kanzlerin aus symbolischen Gründen unterstützt haben. Das Motiv der symbolischen Politik demografischer Repräsentation spielt für Wählerinnen (und Wähler) durchaus eine etwas größere Rolle als man auf der Grundlage früherer Forschung annehmen konnte. Dies zeigt sich u.a. darin, dass Frauen ihre als Politikerinnen aktiven Geschlechtsgenossinnen relativ besser bewerten als Männer dies tun. Diese „weibliche Solidarität“ überwindet zwar kaum die Grenzen parteipolitischer cleavages und Bindungen, wirkt sich aber durchaus in der Konkurrenz zwischen männlichen und weiblichen Politiker/innen derselben Partei aus. Dies trifft auch für die Haltungen gegenüber Angela Merkel als Kanzlerkandidatin im Vergleich zu ihren männlichen Konkurrenten innerhalb der Union zu. Für die Konkurrenz zu einem SPD-Kanzlerkandidaten ist zwar die Parteiidentifikation der Wählerinnen und Wähler bedeutsamer, jedoch hat in kleinen Teilen auch dieser Wählerschaft das symbolische Motiv durchaus zu einer Unterstützung Merkels an der Wahlurne geführt. Das Thema „Geschlecht“ ist im Bundestagswahlkampf 2005 zwar nicht extrem häufig explizit thematisiert worden, schwang jedoch durch die erste Kandidatur einer Frau für das Amt der Regierungschefin implizit immer mit. Die Tatsache einer gegenwärtigen „Flaute“ der Frauenbewegung, dass Geschlechterfragen in den letzten Jahren öffentlich weniger heiß debattiert wurden als noch in den 80ern, mag mit dazu beigetragen haben, dass manche der Orientierungen der Bevölkerung in Genderfragen wenig konsistent wirken. So geben zwar relativ viele Bürger/innen an in Fragen der Geschlechterpolitik – abweichend zu ihrer generellen Parteiidentifikation – Bündnis90/die Grünen zu präferieren. Gleichzeitig scheint aber die Mehrheit unter „Gleichstellung“ nicht die (zeitweise) positive Diskriminierung von Frauen, sondern die Gleichbehandlung der Geschlechter zu verstehen.

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Angela Merkel wurde von der Bevölkerung nun nicht gerade als Exponentin und Vorkämpferin feministischer Anliegen wahrgenommen, doch die Mehrheit schrieb ihr auch keine Politik zu, die Männer bevorzugen würde. Vielmehr wurde in der Wahlbevölkerung überwiegend vermutet, sie würde künftig die Interessen beider Geschlechter gleichermaßen berücksichtigen – also die mehrheitlich gewünschte Genderpolitik betreiben. Für diese Mehrheiten stellte sich damit kein feministisches Dilemma. Für die anderen stellte sich eher das Dilemma zwischen eigener Parteiloyalität und Kanzlerkandidatin aus dem anderen Lager. Hier konnte Merkel aber kaum durch den Eindruck einer „richtigen“ Geschlechterpolitik Vorteile einsammeln. Insgesamt hat sich damit das Motiv der Unterstützung einer „Frau, weil sie Frau ist“ für Angela Merkel als am tragfähigsten erwiesen, gefolgt von der Unterstützung aufgrund der Hoffnung auf eine Gleichbehandlung der Geschlechter. Die Erwartung auf eine positive Diskriminierung der Frauen hätte ihr bzw. der Union zwar in kleinen Teilen der weiblichen, feministisch orientierten Wählerschaft Pluspunkte einbringen können, gleichzeitig jedoch auf der Seite der männlichen und konservativen Wählerschaft Minuspunkte. Damit bleibt den Wähler/innen die Hoffnung, dass sich Angela Merkel nicht als postfeministische Galionsfigur rein individualistischen Interessenkalküls erweisen wird, sondern den Vertrauensvorschuss, der ihr mit der Unterstützung als Symbolfigur des Kollektivs der Frauen gewährt wurde, künftig nicht nur durch ihre Person, sondern auch durch ihre Politik rechtfertigt.

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Bettina Westle

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Rechtsextremismus, Sexismus und Gender Gap1 Richard Stöss

1.

Problemstellung.

Das Thema „Frauen und Rechtsextremismus“ hat seinen Zenith als Untersuchungsgegenstand längst überschritten2. Dem umfangreichen, hauptsächlich aus den neunziger Jahren stammenden Schrifttum3 ist zu entnehmen, dass sich Männer und Frauen mit Blick auf rechtsextreme Einstellungen nicht grundsätzlich unterscheiden. Von den OMGUS- und HICOG-Surveys seit 1945 (Merritt/Merritt 1970, 1980) über die SINUS-Studie (SINUS 1981: 115) bis hin zu zeitgenössischen Untersuchungen (Stöss/Fichter/Kreis/Zeuner 2004: Anhang 43, Tab. 61; Decker/Brähler 2006: 48; Stöss 2007: 92) hat sich immer wieder gezeigt, dass mal das eine und mal das andere Geschlecht bei der Beantwortung von einzelnen Statements zu Autoritarismus, Nationalismus, Ethnozentrismus und zur Verharmlosung des Nationalsozialismus (zumeist leicht, gelegentlich aber auch deutlich) überdurchschnittlich vertreten ist, dass sich insgesamt aber keine besondere geschlechtsspezifische Resistenz gegenüber rechtsextremen Einstellungen zeigt (Ottens 1997a). Hinsichtlich des Wahlverhaltens von Frauen zugunsten der NSDAP konnte Falter (1991: 136 ff.) nachweisen, dass diese der Hitler-Partei nur unwesentlich schwächer zuneigten als die Männer. Die Differenz betrug zwischen 1924 und 1932 maximal zwei Prozentpunkte. Erst 1933 war die NSDAP bei den Frauen etwas erfolgreicher als bei den Männern. Nach 1945 entschieden sich bei Wahlen deutlich weniger Frauen für rechtsextreme Parteien als Männer. Beispielsweise konnte die Deutsche Reichspartei (DRP) 1961 1,1 Prozent der Männer und 0,7 Prozent der Frauen mobilisieren (Sänger/Liepelt 1965: Nr. 3.35). Dieses Verhältnis setzte sich grosso modo bei der NPD (Kühnl u.a. 1969: 237 ff.) und bei den Republikanern fort (Roth 1989: 10 ff., 1990: 30 ff.; Hofmann-Göttig 1989a, 1989b; Däubler-Gmelin/Kießler 1990; Falter 1994: 99), und auch gegenwärtig ist die Anhängerschaft rechtsextremer Parteien – wie später noch zu zeigen sein wird, im Schnitt etwa zu zwei Dritteln männlich und zu einem Drittel weiblich4. Noch stärker äußert sich der Geschlechterunterschied darin, dass Frauen in rechtsextremen Gruppierungen nur eine randständige, in neuerer Zeit wohl aber wachsende Rolle 1

Bei diesem Beitrag handelt es sich um die gekürzte Fassung einer im April 2008 abgeschlossenen Studie, die im Internet als Nr. 16 der „Arbeitshefte aus dem Otto-Stammer-Zentrum“ abrufbar ist (http://www.polsoz.fu-berlin. de/polwiss/forschung/systeme/empsoz/schriften/arbeitshefte/ahosz16.pdf). Dort finden sich ausführliche Angaben über die Datenbasis, die Analyseinstrumente und Itemstatistiken sowie die Tabellen mit den hier berichteten Zahlen und Prozentangaben. 2 Bei den wenigen Arbeiten aus neuerer Zeit handelt es sich zumeist um international vergleichende Studien (woran aber immer noch großer Bedarf besteht), z.B. Amesberger/Halbmayr 2002a; Brück 2005; Geden 2006. 3 Einen Überblick über den Forschungsstand geben Siller 1994; Birsl 1996; Ottens 1997c; Rommelspacher 2000; Amesberger/Halbmayr 2002a; Bitzan 2002. Vgl. auch den Diskussionsbeitrag von Kötting 2005. 4 Eine international vergleichende Fünf-Länder-Studie konstatiert allerdings teilweise „beträchtliche Annäherungen“ und empfiehlt einen „differenzierten Blick“ (Amesberger/Halbmayr 2002c: 410) auf das geschlechtsspezifische Wahlverhalten zugunsten von rechtsextremen Parteien.

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Richard Stöss

spielen. Über die soziale Zusammensetzung der Mitgliedschaften von rechtsextremen Parteien und Organisationen liegen nur wenige Informationen vor (Sturhan 1997)5. Etwa sechs Prozent der Neumitglieder der NSDAP waren Frauen (Falter 1993, S. 2066). Der Anteil der Frauen in der Sozialistischen Reichspartei (SRP) betrug rund acht Prozent (Gnad 2005a: 464), und bei der NPD waren es Anfang 1967 11 Prozent, 1968 dann neun Prozent (Kühnl u.a. 1969: 224). 2001 meldeten die Republikaner einen Frauenanteil von 20 Prozent und die NPD von 18 Prozent (Bitzan 2002: 88). Als Hinweis auf die marginale innerparteiliche Bedeutung des weiblichen Geschlechts mag der Frauenanteil an den Bundestagskandidaten rechtsextremer Parteien dienen: Er betrug zischen 1949 und 1990 rund neun Prozent7, bei der Bundestagswahl 2005 waren auf den Landeslisten der Republikaner insgesamt 15 Frauen vertreten (15%), auf denen der NPD 24 (11%)8. Unter den 61 Landtagsabgeordneten der NPD in den sechziger Jahren befanden sich drei Frauen (Gnad 2005b: 690), und von den 18 für die NPD 2004 bzw. 2006 in die Landtage von Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern gewählten Personen war nur eine einzige weiblichen Geschlechts. Die sechsköpfige brandenburgische DVU-Fraktion zählt gegenwärtig zwei Frauen, wobei allerdings eine den Fraktionsvorsitz innehat. Dem 21 Personen umfassenden Bundesvorstand der Republikaner gehören derzeit sechs Frauen an (29%), im zwanzigköpfigen Bundesvorstand der NPD sitzen gerade einmal zwei Frauen9. Der Frauenanteil am kriminellen Rechtsextremismus ist noch geringer. Im Zeitraum von September 1978 bis Dezember 1982 befanden sich unter den knapp 800 wegen rechtsextremer Aktivitäten abgeurteilten Personen nur zwei Prozent Frauen (Kalinowsky u.a. 1985: 93). Der Anteil der Frauen unter den zwischen Januar 1991 und April 1992 ermittelten rund 1400 Tatverdächtigen im Zusammenhang mit fremdenfeindlichen Straftaten betrug vier Prozent (Willems u.a. 1993: 112), und das Bundesinnenministerium bezifferte den Frauenanteil an Gewalttaten mit erwiesener oder zu vermutender rechtsextremistischer Motivation für 1996 ebenfalls mit vier Prozent (Verfassungsschutzbericht des Bundesinnenministeriums 1996, S. 97). Nach Peucker/Gaßebner/Wahl (2001: 27) ist der Anteil von weiblichen fremdenfeindlichen Tatverdächtigen in den neunziger Jahren jedoch von fünf Prozent (1992/93) auf neun Prozent (1997) angewachsen. Männer und Frauen reagieren also – wenigstens teilweise – verschieden auf rechtsextreme Politikangebote. Wenn Rechtsextremismus auf der individuellen Ebene eine spezifische Form der Bewältigung von problematischen sozialen Erfahrungen und sozialen Lagen bedeutet (Stöss/Fichter/Kreis/Zeuner 2004: 46 ff; Stöss 2007: 55 ff.), dann besteht – jedenfalls nach vorherrschender Meinung – kein relevanter geschlechtsspezifischer Unterschied bei der Deutung und mentalen Verarbeitung derartiger Erfahrungen und Lagen im Sinne des Rechtsextremismus, wohl aber bei den praktischen Konsequenzen, die daraus gezogen 5 Über die Situation, die Motive und das Selbstbild von Frauen in rechtsextremen Strukturen liegen viele, zumeist Interview-gestützte, Berichte vor: Balbach 1994; Bitzan 2000; Brück 2005; Döhring/Feldmann 2005; Dörr 1995; Fantifa 1996; Fichte 1997; Hewicker 2001; Hofmann 2003; Jansen 1989; Köttig 1997; Orde 1991; Renz 1995; Ritter 1997; Schnurbein 1996; Schwarzmeier/Wunderlich 1996; Skrzydlo/Wohllaib 1996; Skrzydlo u.a. 1992; Tenner 1996. 6 Falter (206 f.) zitiert in diesem Zusammenhang den Reichsorganisationsleiter der NSDAP Robert Ley: „Diese niedrige Zahl der weiblichen Mitglieder erklärt sich ohne weiteres dadurch, dass die Partei kämpferischen und politischen Charakter trägt und damit naturnotwendigerweise im wesentlichen Männer zur tätigen Mitarbeit an sich zog.“ 7 Berechnet nach Angaben des Bundeswahlleiters. 8 Angaben des Bundeswahlleiters. 9 Die aktuellen Angaben wurden im Internet recherchiert (Dezember 2007).

Rechtsextremismus, Sexismus und Gender Gap

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werden (Wahlverhalten, politisches Engagement, Gewalt). Dieser Gender Gap war zentraler Gegenstand einer vor allem von Frauen10 seit Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre betriebenen Rechtsextremismusforschung. Obwohl die Thematik mittlerweile offenbar als weithin „abgeforscht“ gilt, bedürfen einige Aspekte aus der Perspektive der empirischen Einstellungsforschung durchaus noch einer genaueren Betrachtung. Das gilt zunächst für die Frage, ob sich Frauen dem Rechtsextremismus trotz oder gerade wegen seines reaktionären, sexistischen Weiblichkeitsideals zuwenden (Amesberger/Halbmayr 2002b: 42). Wenn das rechtsextreme Frauenbild – was zu vermuten ist – wenigstens für Teile des weiblichen Geschlechts attraktiv sein sollte, wäre zu untersuchen, in welchem Zusammenhang die Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft und die aufgrund des Geschlechts stehen. Über die Beziehungen von Rassismus und Sexismus ist in der Frauenforschung in den neunziger Jahren intensiv diskutiert worden. Während einige Autorinnen die Unterschiede zwischen beiden Diskriminierungsformen hervorhoben, wurden auch gute Argumente vorgetragen, dass es sich dabei um „zwei Seiten einer Medaille“ (Tillner 1994: 8) handelt. Sollte sich Sexismus als Bestandteil des rechtsextremen Weltbilds herausstellen, dann müsste Sexismus bei der Definition von Rechtsextremismus und folglich auch bei der Konstruktion von Rechtsextremismus-Skalen Berücksichtigung finden. Da das in der Regel nicht der Fall ist, wären alle bisherigen Messergebnisse, gerade auch geschlechtsspezifische Potenzialbestimmungen, mit einem Fehler behaftet. Und dieser Fehler dürfte sich einseitig zum Nachteil von Frauen auswirken, da sie vermutlich weniger zu sexistischen Einstellungen neigen als Männer. Sollten sich jedoch größere Unterschiede zwischen Sexismus und Rassismus offenbaren, wäre zu untersuchen, ob Sexismus als Prädiktor für Rechtsextremismus in Betracht kommt und über welche Erklärungskraft er – gerade auch für geschlechtsspezifische Differenzen – verfügt. Dies verweist auf die generelle Problematik des Gender Gap: Worauf bezieht sich die Geschlechterdifferenz? Nur auf Verhalten oder auch auf Einstellungen? Bei früheren Untersuchungen habe ich festgestellt, dass bei rechtsextremen Einstellungen oft durchaus erhebliche Unterschiede zwischen Frauen und Männern bestehen, und zwar eher im Westen als im Osten. Schließlich ist mir aufgefallen, dass sich Vergleiche immer nur auf Männer und Frauen beziehen, niemals auf rechtsextreme Männer und rechtsextreme Frauen. So kann zwar als gesichert gelten, dass Männer häufiger als Frauen rechtsextreme Parteien wählen. Allerdings ist noch nie untersucht worden, ob dies auch für rechtsextreme Männer und für rechtsextreme Frauen gilt. Damit stellt sich auch die Frage, ob ein Geschlechterunterschied innerhalb des Rechtsextremismus besteht, ob es womöglich sogar – wie viele Autorinnen vermuten – einen geschlechtsspezifischen Rechtsextremismus gibt. Kurz und gut: Der Gender Gap bedarf einer genaueren empirischen Analyse auf der Einstellungs- und Verhaltensebene. Diese Analyse muss sich zudem auf Daten stützen, die repräsentativ für die deutsche Bevölkerung sind. Wenn überhaupt Survey-Studien vorliegen, dann basieren die Befunde hauptsächlich auf Befragungen von speziellen Bevölkerungsgruppen (zumeist von – oft sogar willkürlich ausgewählten – Jugendlichen), werden aber sorglos verallgemeinert. Ich werde zunächst den Forschungs- und Diskussionsstand zum Verhältnis von Sexismus und Rassismus (Abschn. 2) sowie zum Gender Gap (Abschn. 3) ausführlich darstellen und dabei auch kurz auf den Hintergrund der Debatten eingehen, die vor allem in den neunziger Jahren innerhalb der Frauenforschung geführt worden sind. Am Ende des 3. 10

Auf große Resonanz stießen aber auch die Beiträge von Kurt Möller (z.B. 1991a, 1991b).

264

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Abschnitts werde ich das Programm für die empirischen Analysen (Abschn. 5 u. 6) skizzieren. Im 4. Abschnitt erfolgen einige Hinweise zur Datenbasis und zu den Analyseinstrumenten.

2.

Sexismus und Rassismus

Das Interesse von Wissenschaftlerinnen für den Rechtsextremismus setzte 1989/90 ein, kurz nachdem die Republikaner ihre ersten Wahlerfolge in (West-) Berlin und bei der Europawahl erzielt hatten – und zwar mehr bei Männern als bei Frauen. Dieses Interesse war allerdings weniger tagespolitischen Entwicklungen geschuldet, sondern beruhte wohl in erster Linie darauf, dass Frauenforschung damals allenthalben quantitativ und qualitativ expandierte und der männlich geprägten Wissenschaft nachhaltig – und zwar personell und inhaltlich – zu Leibe rückte. Die seinerzeit nicht ohne weiteres von der Hand zu weisende Kritik reichte von „Geschlechterblindheit“ (Meyer 1993: 212; Brück 2005: 139) oder „Entsexualisierung“ (Rommelspacher 1991: 76) bis zum Vorwurf, dass bei Einstellungsuntersuchungen „immer noch männerspezifische Orientierungsmuster abgefragt“ (Birsl u.a. 1993; s. auch Birsl 1996: 41) und verallgemeinert würden11. „Die Verdrängung der Geschlechtsspezifik in der Analyse rechtsextremer Programmatik, in der Analyse des Wahlverhaltens sowie in der Analyse rechtsextremer Orientierungsmuster kann nur Ausdruck einer männlichen Wissenschaft sein, die in ihrer Dominanz sich eine solche Ignoranz leisten kann.“ (Rommelspacher 1991: 83)

Möller (1991a: 35) brachte das Problem damals kurz und prägnant auf die Formel: „Wer vom (weiblichen) Rechtsextremismus redet, darf vom Patriarchat nicht schweigen.“ Zuvor, in den siebziger und achtziger Jahren, war der bundesdeutsche Feminismus „von der Vorstellung eines weltumspannenden homogenen Patriarchats geprägt, das alle Frauen gleichermaßen betreffe und zu universellen Opfern der Männergewalt mache“ (Eichhorn 1992: 95). Die Stärke des feministischen Ansatzes bestand darin, dass er sich auf eine griffige Gesellschaftstheorie berufen konnte, während sich die „patriarchale Argumentationskunst“ (Rommelspacher 1991: 76) der empirischen Einstellungsforschung auf messbare Konzepte beschränkte, die gesellschaftstheoretisch zumeist nicht oder nur schwach fundiert waren. Die mit dem Rechtsextremismus befassten Wissenschaftlerinnen betrachteten das „Geschlecht [als] eine zentrale Kategorie bei der Erforschung der Ursachen“ des Rechtsextremismus (Birsl u.a. 1993) und diesen wiederum als Konsequenz gesellschaftlicher Herrschafts- bzw. Gewaltverhältnisse. In der empirischen Sozialforschung bilde das Geschlecht dagegen nur eine von vielen Variablen, der auch nur in seltenen Ausnahmefällen besondere Beachtung zuteil werde (vgl. auch Ottens 1997b). „Dabei ist das Geschlechterverhältnis notwendiger Teil des Herrschaftszusammenhangs dieser unserer Dominanzkultur.“ (Holzkamp 1994: 40) Die Theorie vom Geschlecht als „Hauptwiderspruch“ wurde allerdings schon Anfang der siebziger Jahre (insbesondere von afro-amerikanischen Frauen in den USA) als „reduk11

In diesem Zusammenhang wurde auch bezweifelt, dass das Verständnis der Statements zur Messung von Rechtsextremismus bzw. Rassismus bei Männern und Frauen identisch ist. Rippl/Seipel (1999) konnten jedoch nachweisen, dass Geschlechterunterschiede auch bei Kontrolle mit der Gleichwertigkeit der Bedeutung der Messinstrumente bestehen bleiben.

Rechtsextremismus, Sexismus und Gender Gap

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tionistisch“ kritisiert. Denn deren Erfahrungen mit Diskriminierung bezogen sich nicht nur auf ihr Geschlecht, sondern auch und vor allem auf ihre ethnische Herkunft und auf ihre soziale Lage (gender, race, class; vgl. auch Anthias/Yuval-Davis 1993; Ludvig 1999). „Die gemeinsame soziale Erfahrung von Sklaverei und Lynchjustiz für Schwarze, des Völkermordes an der Urbevölkerung Amerikas und den zahllosen Eroberungskriegen gegen USamerikanische MexikanerInnen oder Puerto RicanerInnen ist substantiell nicht mit den physischen Leiden, sozialen Diskriminierungen und der kulturellen Missachtung, die Frauen erlitten haben, vergleichbar.“ (King 1992: 5 f.)

So gingen farbige Frauen davon aus, „dass Rassismus, Sexismus und Klassismus drei eng miteinander verwobene Systeme der sozialen Kontrolle und Herrschaft darstellen“ (King 1992: 6). Da farbige Männer ebenfalls und weithin gleichermaßen von Rassismus und Klassismus betroffen waren12, gehörte es zum Alltag farbiger Frauen, dass sie unterschiedlichen und bisweilen auch widersprüchlichen Rollenerwartungen und Solidaritätsanforderungen ausgesetzt waren, wobei wohl die antirassistische Orientierung überwog. Denn die Erfahrungen mit „weißen“ Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern waren häufig ebenso durch Benachteiligung und Ablehnung gekennzeichnet (Scharenberg 1992), wie die mit der („weißen“) Frauenbewegung in den USA13, an der afro-amerikanische Frauen kaum beteiligt waren (ausführlich Davis 1982). Mit der Zunahme von Fremdenfeindlichkeit in (West-) Europa seit Anfang der achtziger Jahre wurde unübersehbar, dass Rassismus keineswegs nur auf den Nationalsozialismus, auf Südafrika oder die USA beschränkt ist und dass er auch nicht nur im Kontext kolonialer oder imperialer Politik auftritt (Pinn 1990: 149; Eichhorn 1992: 96), sondern auch unsere eigene politische Kultur prägt. Die Erkenntnis griff Platz, dass nicht nur die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht „über den Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen, Reichtum, Macht“ (Hentges 1993: 45) entscheidet, sondern auch die Ethnizität und der soziale Status. Damit war auch der Verabsolutierung der Geschlechtskategorie bei der Beschreibung hiesiger gesellschaftlicher Verhältnisse eine klare Grenze gesetzt14, und die feministische Wissenschaft stand vor dem Problem, Sexismus und Rassismus15 (und die Klassenzugehörigkeit) in Beziehung zu setzen. Hier setzten die Untersuchungen über Frauen und Rechtsextremismus ein. Eine Initialwirkung hatte der Aufsatz von Christine Holzkamp und Birgit Rommelspacher (1991a bzw. 1991b), die einen herrschaftstheoretischen Ansatz verfolgen. Einleitend heißt es: „Die Verdrängung der Hierarchie zwischen Frauen und damit auch der Hierarchie zwischen Frauen und ethnischen Minderheiten überhaupt hat so auch den Blick für die Beteiligung von Frauen am Rechtsextremismus verstellt.“ (1991a: 17)

Um den Zusammenhang von Sexismus und Rassismus theoretisch zu fassen, prägten die Autorinnen den (mittlerweile in diesem Kontext häufig verwendeten) Begriff der Dominanzkultur, die der Sicherung von Privilegien (patriarchaler, ethnischer, nationaler oder 12

Dass auch afro-amerikanische Männer über ein reaktionäres Frauenbild verfügten, zeigt Collins 1993/94. Zu den entsprechenden Erfahrungen farbiger Frauen in Kanada: Ng 1992. 14 „Der Hinweis, dass weiße Frauen in dieser Gesellschaft Macht über Männer ethnischer Minderheiten haben, ruft [in der Frauenbewegung] meist Proteste hervor.“ (Schultz 1990: 55) 15 Zum Verhältnis von Sexismus und Antisemitismus Heß 2005. 13

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sozialer Art) diene und in der Probleme und Widersprüche durch Dominanzverhalten, „durch einseitige Verfügung über andere und deren Existenzrechte“ (Rommelspacher 1991: 84) sowie durch Hierarchisierung und Unterwerfung gelöst würden. Kern der Dominanzkultur sei das Geschlechterverhältnis, denn die geschlechtsspezifische Sozialisation erzeuge Dominanzverhalten, Hierarchisierung und Unterwerfung. Da die Ausgrenzungsmechanismen gegenüber Frauen und ethnischen Minderheiten aufgrund von biologischen Merkmalen „kulturgeschichtlich in vielen Dimensionen nahezu identisch“ seien, bestehe ein „enger Zusammenhang zwischen Rassismus und Sexismus“ (Rommelspacher 1993b: 205). Aus der Unterdrückung der Frauen durch das Patriarchat folge allerdings nicht notwendigerweise Widerstand oder gar Rebellion. Frauen seien keineswegs weniger rassistisch als Männer, sie könnten sich anpassen oder sogar unterwerfen, womit sie zur Reproduktion von Sexismus und Rassismus beitrügen. Damit gerieten jene Frauen ins Blickfeld, „die die Werte und Normen der männlichen Dominanzkultur ... internalisiert haben und daran mitwirken, sie aufrecht zu erhalten. Frauen projizieren eigene, nicht-erlaubte Machtbedürfnisse und nicht-gelebte Gewaltphantasien auf das 'starke' Geschlecht: sie lassen kämpfen, sie lassen (sich) dominieren und erhalten dafür männlichen Schutz und Teilhabe an der symbolischen (und oft auch materiellen) Macht des Stärkeren.“ (Meyer 1993: 215)

Gerade die Unterdrückung durch die patriarchale Herrschaft, so Rommelspacher (1993a: 48), könne für die Frau Grund genug sein, „sich nun ihrerseits wiederum an den Schwächeren schadlos zu halten“. Aber: „Die subtile Machtausübung von Frauen gegenüber Schwächeren – Kindern, ethnischen Minderheiten, sozial niedriger Stehenden – sind die Kehrseite unbegriffener Selbstunterwerfung und unbegriffener gesellschaftlicher Zustände.“ (Holzkamp/Rommelspacher 1991b: 38) Frauen seien mithin weder das „friedfertige“ Geschlecht (so Mitscherlich 1987) noch notwendigerweise besonders sensibel gegenüber Benachteiligung und Ungleichbehandlung. Sie könnten auch von dem tief in den patriarchalen Strukturen verankerten Dominanzstreben profitieren: „Frauen der hoch industrialisierten Länder partizipieren an der Ausbeutung der Dritten Welt, können somit für eine Politik der Privilegiensicherung der Ersten gegenüber der Dritten Welt durchaus gewonnen werden. Innenpolitisch bedeutet dies, dass einer 'Dritten Welt' im eigenen Land eine Absage erteilt wird, eine Politik der Ausgrenzung und Stigmatisierung auch von Frauen geteilt und reproduziert wird.“ (Hentges 1993: 45)

Rommelspacher (1993b: 205) unterscheidet zwei Formen von weiblichem Rechtsextremismus (s. auch Meyer 1993: 213):

Passive Akzeptanz der Dominanzkultur durch Frauen. Sie schlagen sich gewissermaßen als Zuschauerinnen oder Mitläuferinnen auf die Seite der Herrschenden. Frauenspezifischer Rassismus. Dabei handelt es sich um Aktivitäten im Sinne einer Mittäterschaft, zum Beispiel wenn sich Tagesmütter weigerten, ausländische Kinder zu betreuen. Frauen gingen nur dann auf Distanz, „wenn rassistisches Verhalten mit männlich-chauvinistischem Gebaren amalgiert“.

Folgt man Rommelspacher, dann besteht zwar ein enger Zusammenhang zwischen Rassismus und Sexismus, es sei jedoch nicht „hilfreich“, beides gleichzusetzen, weil Rassismus

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bei Frauen auf sehr unterschiedliche Weise in Erscheinung träte und für Frauen eine andere Funktion habe als für Männer (Rommelspacher 1993a: 48; ähnlich Ottens 1997b: 173 f.). Von Identität mag auch Wippermann (1990) nicht sprechen. Er bezeichnet nur den „antifeministischen Rassismus“ als sexistisch, den er gegenüber dem „anthropologischen“ und dem „sozialbiologischen“ Rassismus abgrenzt. Noch differenzierter argumentiert Lenz (1994: 62): „Die Individuen sind also nicht einfach durch sex, race, class als geschlossene Größen determiniert. Zu beachten sind vielmehr einerseits gesellschaftliche Hierarchien und Ungleichheiten und andererseits 'konfiguratives Handeln' als Balanceakt der einzelnen im Spannungsfeld von Geschlecht, Klasse und Ethnie.“

Gewissermaßen in Klammern sei angemerkt, dass sich die neuere Forschung immer mehr von der Rechtsextremismus- bzw. Rassismusproblematik entfernt, Geschlecht und Ethnie (und Klasse) als „Dimensionen sozialer Ungleichheit“ betrachtet und nach der „gegenseitigen Überschneidung, Verstärkung, Schwächung und Beeinflussung“ (Müller 2003: 7) fragt16. Eine theoretische Systematisierung der „zahlreichen Möglichkeiten der Verknüpfung zwischen Ethnie, Geschlecht, Klasse etc.“ liege allerdings noch nicht vor. Insbesondere sei unklar, welche relative Bedeutung den einzelnen Ungleichheitsdimensionen zukomme und welche Wechselwirkungen zwischen ihnen bestünden: Sie könnten sich gegenseitig beeinflussen, überlagern, verstärken oder gar summieren (Müller 2003: 178 ff.). Hier geht es jedoch nicht um soziale Ungleichheit im Allgemeinen sondern um Diskriminierung und Unterordnung. Das Weiblichkeitsideal des Rechtsextremismus entspringt schließlich völkisch-nationalistischen Vorstellungen und richtet sich diametral gegen demokratische Emanzipationsbestrebungen. Was zumeist in kritischer Absicht als Sexismus bezeichnet wird, stellt in der Perspektive des Rechtsextremismus eine naturgegebene Rollenzuweisung dar, die angeblich bedroht ist und daher bewahrt bzw. gestärkt werden müsse. Auf der Angebotsseite bilden Sexismus und Rassismus daher zwei Seiten derselben Medaille. Folgt man dem herrschaftstheoretischen Ansatz, dann besteht auch im Bewusstsein der Frauen eine enge Verbindung zwischen Sexismus und Rassismus und daher neigten Frauen keineswegs seltener zum Rassismus als Männer. Frauen seien nicht nur Opfer von Diskriminierung, sie seien auch Täter. So gesehen entspricht die Nachfrage durchaus dem Angebot. Zum Gender Gap heißt es: Frauen gingen zu Männern „offensichtlich nur dann auf Distanz, wenn rassistisches Verhalten mit männlich-chauvinistischem Gebaren amalgiert. Ebenso haben sie wenig Interesse an einer Partei, die vornehmlich Männerinteressen vertritt“ (Rommelspacher 1993b: 205). Schließlich wird darauf hingewiesen, dass beim Rassismus ein Geschlechterunterschied hinsichtlich der Motive und Funktionen bestehe.

3.

Der Gender Gap und seine Ursachen

Neben dem und teilweise auch in Konkurrenz zum herrschaftstheoretischen Ansatz17 wurde Anfang der neunziger Jahre in der Frauenforschung ein modernisierungstheoretischer An-

16 17

Siehe dazu auch die Beiträge aus konstruktivistischer Sicht in Rademacher/Wiechens 2001. Heftige Kritik am Ansatz von Holzkamp/Rommelspacher übt Mansfeld 1998: 80 ff.

268

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satz entwickelt18, der sich eingehender mit dem Geschlechterunterschied im Rechtsextremismus befasste. Er wird von Kötting (2005: 59) kurz und prägnant wie folgt charakterisiert: „Vertreterinnen, die an diesen Erklärungsansatz anknüpfen (zu nennen sind hier u.a. Ursula Birsl, Birgit Meyer und Gertrud Siller) gehen mit unterschiedlichen Nuancierungen und Schwerpunktsetzungen davon aus, dass gesellschaftliche Bedingungen und geschlechtsspezifische Sozialisationserfahrungen von Mädchen und Jungen dafür ausschlaggebend seien, in welchem Maß und in welcher Ausprägung sie extrem rechten Ideologien zustimmen.“

Dieser Ansatz orientierte sich ursprünglich an Ulrich Beck und Wilhelm Heitmeyer19, die wiederum von Holzkamp und Rommelspacher sehr kritisch rezipiert wurden20. Nach Beck werden die Menschen mit dem Wandel von der klassischen Industriegesellschaft zur industriellen Risikogesellschaft aus den bewährten sozialen Beziehungen der sich verabschiedenden Industriegesellschaft entlassen. Biete diese Freisetzung auch die Chance für mehr Unabhängigkeit und Gestaltungsfreiheit, so bürde sie den Einzelnen doch die alleinige Last ihrer Lebensplanung und Existenzsicherung auf und versetze sie damit in vermehrte Abhängigkeit vom Arbeitsmarkt und damit von Bildung, Konsum, sozialer Versorgung, Verkehrsplanungen, von „Möglichkeiten und Methoden der medizinischen, psychologischen und pädagogischen Beratung und Betreuung“ (Beck 1986: 210). Mit der Lösung aus den traditionellen industriegesellschaftlichen Sozialbeziehungen vollziehe sich die umfassende Vergesellschaftung des Individuums. Einerseits vermehrten sich mit fortschreitender Modernisierung Entscheidungsmöglichkeiten und -zwänge, andererseits werde „die individualisierte Privatexistenz immer nachdrücklicher und offensichtlicher von Verhältnissen und Bedingungen abhängig, die sich ihrem Zugriff vollständig entziehen. Parallel entstehen Konflikt-, Risiko- und Problemlagen, die sich ihrem Ursprung und Zuschnitt nach gegen jede individuelle Bearbeitung sperren“ (ebda: 211). Da der Mensch in der Risikogesellschaft nicht in soziale Beziehungssysteme eingebunden sei, finde eine „Individualisierung sozialer Risiken“ statt: „In der Konsequenz schlagen gesellschaftliche Probleme unmittelbar um in psychische Dispositionen: in persönliches Ungenügen, Schuldgefühle, Ängste, Konflikte und Neurosen. Es entsteht – paradox genug – eine neue Unmittelbarkeit von Individuum und Gesellschaft, die Unmittelbarkeit von Krise und Krankheit in dem Sinne, dass gesellschaftliche Krisen als individuelle erscheinen und nicht mehr oder nur noch sehr vermittelt in ihrer Gesellschaftlichkeit wahrgenommen werden.“ (Ebda: 158 f.)

18

Eine differenzierte Darstellung findet sich bei Birsl 1996. Heitmeyer bezieht sich seinerseits auf Beck. 20 Dabei handele es sich um „patriarchale Argumentationskunst, indem die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern nicht wahrgenommen und die Privilegierung und Vorteilnahme von Männern geleugnet wird. Die Ursachen männlicher Dominanz und Gewalt werden immer in den bedauernswerten sozialen Verhältnissen oder der persönlichen Biographie gesucht. Männer werden so gleichermaßen wie Frauen zu Opfern, wenn sie nicht gar die eigentlichen Opfer sind. (...) Das Bedürfnis zur Täterentlastung versteigt sich gar so weit, rechtsextreme Gewalttäter oder Gewaltbefürworter nicht nur zu Opfern widriger Umstände und bedauerlicher Verhältnisse zu machen, sondern sogar ihr Gewalthandeln gegenüber Schwächeren zum Widerstand gegen soziale Ungerechtigkeit hochzustilisieren.“ (Rommelspacher 1991: 76, 77) 19

Rechtsextremismus, Sexismus und Gender Gap

269

Hier setzten die Thesen von Heitmeyer über die Ursachen des (jugendlichen) Rechtsextremismus ein. Er beschäftigte sich mit der Sozialisation von Jugendlichen im Rahmen des sozialen Wandels moderner Industriegesellschaften und hob dabei besonders die Individualisierungstendenzen hervor: Mit dem Bedeutungsverlust sozialer Milieus, die ehedem eine kollektive Identitätsbildung ermöglichten, seien die Jugendlichen heute auf sich selbst zurückgeworfen. Sie müssten allein mit Ambivalenzkonflikten und Widerspruchskonstellationen fertig werden und folglich höheren Belastungen bei ihrer Identitätsbildung, bei der Ausprägung autonomer Handlungsfähigkeit standhalten. Das Fehlen sozialer Beziehungen könne dazu führen, dass Jugendliche auf „surrogathafte kollektive Identitäten“ (Heitmeyer 1987: 101) setzen, bei denen sie Stärke, Schutz oder Geborgenheit vermuten. Rechtsextreme Orientierungen deuteten auf einen „niedrigen Entwicklungsstand autonomie-orientierter Handlungsfähigkeit und auf einen hohen Anteil von Abhängigkeit“ (ebda: 104) hin. Unterschiede zwischen Männern und Frauen wurden von Heitmeyer nicht herausgearbeitet. Nach der Logik des Ansatzes sind beide jedoch gleichermaßen anfällig für Rechtsextremismus. In dem von Beck entwickelten Modell der postindustriellen Gesellschaft hätten sich durchaus geschlechtsspezifische Anknüpfungspunkte finden lassen: Dauerhafte Konfliktlinien entstünden in der individualisierten Gesellschaft mehr und mehr entlang „zugewiesener“, „quasi-naturvermittelter“ Merkmale, die nach wie vor mit Benachteiligungen verbunden seien. Beck hob insbesondere Rasse, Hautfarbe, Geschlecht und ethnische Zugehörigkeit hervor (Beck 1986: 159) und beschäftigte sich ausführlich mit der Lage und Beziehung der Geschlechter in der Risikogesellschaft (ebda: 161 ff.). Die der Industriegesellschaft immanente Ungleichheit der Geschlechter stehe „im Widerspruch zu den Prinzipien der Moderne“ (ebda: 174) und werde durch fortschreitende Gleichstellung abgelöst21, womit die Grundlagen der Familie ins Wanken gerieten. Während bei Männern „selbständige ökonomische Existenzsicherung und alte Rollenidentität“ (ebda: 185) zusammenfielen, ergäbe sich für Frauen eine widersprüchliche Situation: „Unter den Bedingungen der Massenarbeitslosigkeit und der Verdrängung aus dem Arbeitsmarkt sind Frauen zwar freigesetzt von der Eheversorgung, aber nicht frei zu einer eigenständigen Sicherung durch Erwerbsarbeit. Dies bedeutet aber auch: Sie sind nach wie vor zu einem großen Teil auf die ökonomische Sicherung durch den Mann angewiesen, die keine mehr ist. Dieses Zwischenstadium ... wird durch die Rückbindung an Mutterschaft zusätzlich bestärkt... So werden die Frauen durch den Widerspruch zwischen Freisetzung und Rückbindung an die alten Zuweisungen in den weiblichen Lebenszusammenhang hin- und her gerissen.“ (Ebda: 184)

Diese geschlechtsspezifische Asymmetrie bildete häufig den Ausgangspunkt für die Ursachenanalyse von Rechtsextremismus in der Frauenforschung. Vor allem Gertrud Siller hat sich damals ausführlich mit dieser Thematik beschäftigt und gelangte (ähnlich wie Beck) zu dem Ergebnis, dass die „Diskrepanz zwischen eigenen Lebensplänen und deren Verwirklichungschancen“ bei Frauen besonders groß seien, woraus sich auch ihr vergleichsweise hohes anomisches Einstellungspotential erkläre (Siller 1991: 25). Zwar sei eine „Liberalisierung von Weiblichkeitsbildern“ zu konstatieren (Siller 1993: 222) und die Frauen hätten auch mehr Selbstverwirklichungsansprüche und höhere Gleichheitserwartungen entwickelt, aber die geschlechtsspezifische Diskriminierung sei faktisch keineswegs geringer gewor-

21

Diese These fand in der feministischen Frauenforschung keine Zustimmung (z.B. Siller 1991: 26 u. 1993: 222).

270

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den. Mithin sei die Lage von Frauen durch einen „größeren historisch-sozialen Kontinuitätsbruch“ (Siller 1991: 27) gekennzeichnet als die von Männern. Auch Birsl ging auf ihrer Suche nach „gravierenden geschlechtsspezifischen Unterschiede(n) in der Verbreitung rechtsextremistischer Orientierungen“ davon aus, dass Frauen andere Motivationen für Rechtsextremismus hätten als Männer. Sie seien „das Resultat politischer Umformungsprozesse frauenspezifischer Lebenslagen“ (Birsl 1992: 22). Sozialer Wandel, Modernisierung und Individualisierung brächten für Frauen eine wesentlich konfliktreichere Lebenssituation mit sich, als für Männer. Frauen unterlägen „wesentlich stärker sozialen und historischen Kontinuitätsbrüchen und individuellen Konflikten. Einerseits entsprechen die Sozialisationsnormen und die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung der frauenspezifischen Normalbiographie, andererseits haben sich neue Handlungsperspektiven für Frauen geöffnet, die auf ein familienunabhängiges Leben zielen“ (ebda: 28).

Sowohl durch den Versuch, Familie und Beruf unter diesen Bedingungen zu vereinbaren (was nach Siller [1991: 29] zu besonders starken Rollenkonflikten führt), als auch der Rückzug in den familiären Bereich könnten ein „Identitätsvakuum“ (ebda: 29) verursachen, in das der Rechtsextremismus mit seinen Vorstellungen von der Aufwertung traditioneller Geschlechtsrollen hinein stößt. In einer umfangreichen Studie gelangte Siller später zu der Erkenntnis, dass rechtsextreme Neigungen von Frauen weniger auf erfahrenen Belastungen ihrer doppelten Vergesellschaftung beruhen, sondern vor allem davon abhängen, wie sie diese Erfahrungen deuten und welche Handlungsorientierungen sie daraus entwickeln (Siller 1997: 244). Birgit Meyer bemühte sich um eine Zusammenschau der Befunde des herrschaftstheoretischen und des modernisierungstheoretischen Ansatzes und arbeitete drei Gesichtspunkte heraus, die Frauen in Dominanzkulturen für Rechtsextremismus zugänglich machten:

Das Bedürfnis nach Anpassung, Unterwerfung und Selbstaufgabe komme dem Rechtsextremismus bei seiner Anziehungskraft auf Frauen22 zugute: „Das in rechtskonservativen Kreisen wieder belebte und in unserer Gesellschaft mit ihrem Eheund Mutterkult nie ganz verschwundene traditionelle Frauenleitbild von aufopfernder Weiblichkeit oder Mütterlichkeit könnte – zur weiblichen Urkraft hochstilisiert – unzweifelhaft wieder Anreiz auf Frauen ausüben. Ein ideologisch propagierter Zwang zur Anerkennung der Sphäre der Mütterlichkeit ist immer, verglichen mit der üblichen Nichtbeachtung, ein perverser Fortschritt. Das kulturell bereitliegende Repertoire der Unterordnung von Frauen unter Männer, die Flucht in einen neuen Privatismus und Familialismus sind in ihrer Anziehungskraft für (junge) Frauen nicht zu unterschätzen.“ (Meyer 1993: 215)

22

Die Bestätigung und Bestärkung dominanter Männlichkeit bedeute für Frauen nicht nur Selbstentwertung, sondern eben auch „Anerkennung, Liebe und Aufwertung“ ihrer „quasi natürlichen Eigenschaften“ (ebda).

Möller (1991b: 40): „Die Identifikation mit den alten Bewusstseins- und Verhaltensmustern schafft einen Grundbestand von Orientierungssicherheit, der erlittenen oder antizipierten Modernisierungsverlusten entgegengesetzt werden kann.“ Ähnlich auch Hentges (1993: 45).

Rechtsextremismus, Sexismus und Gender Gap

271

Da Angst und Selbsthass als zentrale Ursachen für Rechtsextremismus anzusehen seien, wäre es durchaus denkbar, dass Frauen anfälliger für „projektives Ausagieren“ seien als Männer: „Die unbewusste Verachtung für die eigene Person, die auf andere, eben auf die 'Fremden', umgeleitet werden kann, ist in unserer patriarchalen Kultur aufs engste verbunden mit einer Frauenmissachtung, mit einer Verachtung von so genannten weiblichen Werten und Eigenschaften, und somit kulturell auch bei Frauen selbst tief verwurzelt.“ (Ebda: 216)

Rechtsextreme Ideologien könnten also, so bilanzierte Hentges, für Frauen „funktional“ sein, „weiblicher Rechtsextremismus“ sei „eine Ideologie der Überlegenheit der Unterlegenen“ (Hentges 1993: 45, 46). In diesem Zusammenhang steht auch die Kontroverse um die Bedeutung des althergebrachten Frauen- und Familienbilds rechtsextremer Parteien und Gruppierungen für die Hinwendung von Frauen zum Rechtsextremismus. Mehrheitsmeinung war wohl, dass bei allen Unterschieden im Detail die patriarchale Familie im völkisch-nationalistischen Denken als Keimzelle des Volkes und des Staates gilt (Rommelspacher 2000: 207 ff.). Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern würden nicht als historische und soziale Konstrukte (Müller 2005: 87 ff.), sondern als naturgegeben angesehen, die Rolle der Frau als Hausfrau und Mutter werde nicht in Frage gestellt, auch nicht für berufstätige Frauen. Die familienpolitischen Vorstellungen des Rechtsextremismus verbänden sich oft mit bevölkerungspolitischen Zielen (Jäger 1992) und richteten sich ausschließlich an Frauen, Reformvorschläge zielten auf die Verbesserung ihrer Lage als Hausfrauen und Mütter (Vereinbarkeit von Familie und Beruf, soziale Absicherung) (Amesberger/Halbmayr 2002c: 415 ff.). Zwar wendeten sich rechtsextreme Frauen teilweise gegen eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und forderten Gleichberechtigung in Beruf und Politik (für deutsche Frauen), das „naturalistisch und biologistisch begründete Verständnis von der Ungleichheit der Menschen“ (Birsl 1992: 22) werde aber nicht in Zweifel gezogen. Diese Sichtweise, die (explizit oder implizit) einen Zusammenhang von Sexismus und Rassismus unterstellte, wurde von einigen Wissenschaftlerinnen in Frage gestellt, die ausführliche Interviews mit rechtsextremen Frauen (vor allem allerdings mit Aktivistinnen) geführt hatten (v.a. Bitzan 2005) und zu dem Ergebnis gelangt waren, dass ihre Interviewpartnerinnen teilweise über ein recht modernes, auf Gleichberechtigung pochendes Frauenbild verfügten. Dies löste eine Debatte darüber aus, ob unter rechtsextremen Frauen eine „Modernisierung“ ihres Selbstbildes oder sogar „Antisexismus“ zu beobachten sei, ob es einen „rechten Feminismus“ gäbe23 und ob der Feminismus Anknüpfungspunkte für rechtsextreme Frauen bietet (zusammenfassend Rommelspacher 2000: 214 ff.). Dieses Problem kann hier vernachlässigt werden, da auf einer hoch aggregierten Ebene geforscht und argumentiert wird. Entscheidend ist, dass daraus die Schlussfolgerung gezogen wurde, dass die Hinwendung von Frauen zum Rechtsextremismus nicht auf dem von ihm propagierten Frauenbild beruht, sie erfolge vielmehr wegen der Ideologie im Allgemeinen und wegen der Zielvorstellungen in der Ausländerpolitik, in der Wirtschafts- und Sozialpolitik und in der inneren Sicherheit oder wegen des Geschichtsrevisionismus (Amesberger/Halbmayr 2002b: 45, 2002c: 419 ff.; Dettling/Goltz 1995: 43; Ottens 1997a: 186; Schwarzmeier/ Wunderlich 1996: 71).

23

Zum Verhältnis von Feminismus und Rechtsextremismus Bitzan 1997; Jung 1997.

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Richard Stöss

Dass Rechtsextremismus gerade auch für Männer „funktional“ sein kann, wurde mit anderen Motiven und Zielen dieses Geschlechts begründet. Nach Siller (1991: 28 f.) wird das Selbstverständnis des für den Schutz und die Ernährung der Familie allein zuständigen Mannes angesichts von Massenarbeitslosigkeit und Frauenemanzipation ausgehöhlt, was zu Verunsicherung und Identitätskrisen führen könne. Der Rechtsextremismus kitte mit seinem reaktionären Frauenbild das angeschlagene männliche Selbstwertgefühl, indem er den starken Mann, die Höherwertigkeit des deutschen Mannes propagiert. Möller wähnte nicht die Frauen sondern die Männer infolge des sozialen Wandels als besonders bedroht und sah im neuerlichen Aufschwung des Rechtsextremismus „eines der letzten Gefechte braun behemdeter Männerbataillone im verzweifelten Abwehrkampf gegen den allmählichen Untergang des Patriarchats“ (Möller 1991b: 40). Nach Ogrzall (1990: 22 f.) sind es vor allem Resignation, fehlendes Selbstwertgefühl, Verunsicherungen und Brüche in der eigenen Identitätsbildung der männlichen Jugendlichen, ihre Angst, kein richtiger Mann zu sein, die das männliche Selbstbildnis ins Wanken bringen. Daraus erwachse das Bestreben, Männlichkeit zu beweisen, die Suche nach starken Männergemeinschaften. Es seien gerade Jungen aus den unteren sozialen Schichten, die auf derartige Verunsicherungen mit einer „extremen Überbetonung männlicher Eigenschaften reagieren“. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangten auch Rippl u.a. (1998) mit ihrer streng empirisch ausgerichteten, auf einer übersichtlichen Variablenstruktur basierenden Studie. Sie führten den Geschlechterunterschied bei rechtsextremen Einstellungen auf unterschiedliche Wertorientierungen zurück: Individualisierungstendenzen verstärkten besonders bei Männern Leistungsorientierung, Konkurrenzdenken und Durchsetzungsfähigkeit, während Frauen humanistische und prosoziale Orientierungen höher bewerteten. Das männliche Bedürfnis nach Dominanz, Macht und Erfolg weise eine stärkere Affinität zum Rechtsextremismus auf als weibliche Attribute wie Fürsorglichkeit, Rücksichtnahme und Anpassungsfähigkeit (ebda: 762 f.). Diese Ausgangsthesen konnten im Großen und Ganzen auch empirisch bestätigt werden. Entscheidend für den Geschlechterunterschied beim Rechtsextremismus sind offenbar nicht – wie schon Siller konstatierte – soziale Erfahrungen sondern ihre subjektive Verarbeitung zu spezifischen Überzeugungen. In der Quersumme aller Diskussionsbeiträge bleibt offen, ob Männer oder Frauen vom sozialen Wandel, von den Individualisierungs- und Desintegrationsvorgängen besonders betroffen sind und welches der beiden Geschlechter mehr Anlass hat, seine problematische soziale Lage mit Hilfe von rechtsextremen Angeboten im Sinne einer patriarchalen Dominanzkultur zu verarbeiten. Diese Unklarheit wurde vermutlich deshalb nicht als besonders dramatisch empfunden, weil alle Beteiligten davon ausgegangen sind, dass Frauen genauso häufig rechtsextreme Einstellungen entwickeln wie Männer und dass die Aufgabe vor allem darin bestanden habe, die rechtsextremen Neigungen von Frauen zu erklären, seien sie nun genauso oder weniger sexistisch eingestellt wie Männer. Die Unklarheit bezüglich der geschlechtsspezifischen Betroffenheit vom sozialen Wandel hatte zur Folge, dass weder der herrschaftstheoretische noch der modernisierungstheoretische Ansatz überzeugend erklären konnte, warum beide Geschlechter beim Wahlverhalten zugunsten rechtsextremer Parteien (damals der Republikaner) so unterschiedlich reagieren. Die vergleichsweise geringe Gewaltbereitschaft von Frauen beruht nach Siller darauf, dass die weiblichen Lebenserfahrungen durch Gewalt von Männern gegenüber Frauen

Rechtsextremismus, Sexismus und Gender Gap

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geprägt seien24. Frauen erlebten Gewalt als Opfer. „Sowohl öffentliche als auch private Gewaltausübung bleibt fast ausschließlich den Männern vorbehalten“ (Siller 1991: 29). Der Frauenrolle werde nach wie vor Emotionalität, Fürsorglichkeit, Nachgiebigkeit und Anpassungsfähigkeit zugeschrieben. Frauen verfügten deshalb aber nicht notwendigerweise über weniger Aggressionspotential als Männer, ihnen stünden allerdings weniger Möglichkeiten zur Verfügung, Konflikte und Probleme durch aggressives oder gewalttätiges Handeln zu bearbeiten. Sie äußerten Aggressivität „eher auf Umwegen, in indirekter Form“ (ebda: 30)25, beispielsweise durch die Delegation von Gewalt gegen Ausländer an Männer, oder, so Birsl (1992: 26), durch die Befürwortung staatlicher Repressionsmaßnahmen. Überhaupt vermittele die frauenspezifische Sozialisation einen anderen Umgang mit Konflikten. Frauen kämpften nicht selbst, sie „lassen kämpfen“ (Meyer 1993: 215). Mehr noch: „Wer die Benachteiligungen durch Ungleichbehandlungen als deren Konsequenz zu tragen hat, wird stärker für eine Wertschätzung von Gleichheit und Gleichbehandlung sensibilisiert sein.“ (Möller 1991b: 37) Welche Schlussfolgerungen ergeben sich nun für die Entwicklung von operationalisierbaren Konzepten für Survey-Studien aus dem heterogenen, weithin widersprüchlichen Diskussions- und Forschungsstand? Im Wesentlichen geht es um zwei offene Fragen: Zunächst ist strittig, ob Männer wegen ihres ins Wanken geratenen Selbstbildnisses oder Frauen wegen der Belastungen aus ihrer doppelten Vergesellschaftung anfälliger für Rechtsextremismus sind. Angenommen, beide Geschlechter entwickelten – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – in demselben Umfang rechtsextreme Einstellungen, dann ist immer noch ungeklärt, ob sich Frauen dem Rechtsextremismus trotz oder gerade wegen seines sexistischen Frauenbildes zuwenden. Diese Frage wird allerdings nicht für Männer gestellt. Dass diese sich von Rechtsextremismus auch die Bewahrung des Patriarchats versprechen, gilt offenbar als ausgemacht. Daraus folgt, dass im Bewusstsein der Männer eine enge Beziehung zwischen Sexismus und Rassismus bestehen muss. Während der herrschaftstheoretische Ansatz eine derartige Verbindung auch für Frauen nahe legt, hebt der modernisierungstheoretische Ansatz den qualitativen Unterschied zwischen sexistischer und rassistischer Diskriminierung hervor und bescheinigt auch rechtsextremen Frauen in einem gewissen Umfang Emanzipationsbestrebungen. Daher folgten sie rechtsextremen Verheißungen trotz des traditionalistischen Frauenbildes. In der Konsequenz bedeutete dies, dass zwischen einem männlichen, sexistischen Rechtsextremismus und einem weiblichen, nicht-sexistischen Rechtsextremismus zu unterscheiden wäre. Wenn Frauen aber Rechtsextremismus wegen seiner rassistischen, nationalistischen und autoritären Vorstellungen gutheißen, warum sind sie dann so zurückhaltend bei der Wahl rechtsextremer Parteien? Als Erklärung kann der modernisierungstheoretische Ansatz nicht gut deren Frauenprogramme ins Feld führen. Das gilt erst recht für den herrschaftskritischen Ansatz: Wenn die patriarchale Dominanzkultur für Frauen funktional sein kann, dann haben diese Frauen keinen Grund, sich den rechtsextremen Parteien wegen ihres 24

Zur Verbindung von Sexismus, Rassismus und Gewalt vgl. Wobbe 1994; zum Forschungsstand über Gewalt gegen Frauen: Dobash/Dobash 2001; Hagemann-White 2001. 25 „Offensichtlich drückt sich Fremdenfeindlichkeit von Frauen weniger in aggressiven Parolen gegen ausländische Arbeitnehmer aus. Vielmehr könnte sie sich zeigen in der alltäglichen Sorge um ihre Familie, z.B. bei Schulklassen mit hohem Ausländeranteil, in der Angst vor Überfremdung, wenn es um die eigenen Kinder geht. Oder sie drückt sich aus in Angst vor Fremden bzw. in einem Gefühl physischer Bedrohung durch ausländische Männer. (...) In der Aggressionsforschung wird angenommen, dass Frauen eher in indirekter Form aggressiv sind, z.B. durch Ignorieren, Vermeiden, Ausschließen, Zurückweisen, Anstacheln etc.“ (Siller 1992: 63 f.)

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Frauenbildes zu verweigern. Auch hinsichtlich der Gewaltbereitschaft von Frauen bestehen widersprüchliche Positionen: Während der herrschaftstheoretische Ansatz behauptet, Freuen seien keineswegs das friedfertige Geschlecht, sie lehnten lediglich „männlich-chauvinistisches Gebaren“ ab, betont der modernisierungstheoretische Ansatz wegen der Diskriminierungserfahrungen der Frauen eher ihre sanften, humanen, fürsorglichen und rücksichtsvollen Eigenschaften. Welchem Ansatz man auch immer folgt, irgendwann landet man in einer Sackgasse! Als Schlussfolgerung für die Analysestrategie ergibt sich ein exploratives Vorgehen, wobei es die zur Verfügung stehenden Daten nicht gestatten, alle angesprochenen Probleme und Forschungsdefizite zu bearbeiten. Im 5. Abschnitt werde ich mich mit dem latenten Rechtsextremismus befassen, vor allem mit der Geschlechterdifferenz bei rechtsextremen Einstellungen und mit den Beziehungen zwischen Rechtsextremismus und Sexismus. Im 6. Abschnitt geht es um den manifesten Rechtsextremismus, also um Verhalten bzw. Verhaltensdispositionen bei Männern und Frauen. Untersuchungsgegenstand sind zunächst die NPD-Wähler bei der Bundestagswahl 2005, sodann die Ursachen für eine positive Beurteilung der NPD und schließlich die Gewaltbereitschaft von Rechtsextremisten. Dabei werde ich mich bei der Analyse und Interpretation auf zwei Probleme konzentrieren: auf den Gender Gap im Rechtsextremismus und auf die Bedeutung des Sexismus für Rechtsextremismus. Dahinter verbirgt sich die Leitfrage, ob ein Zusammenhang zwischen Sexismus und dem Gender Gap besteht. Die präsentierten Daten weisen gelegentlich über diesen (engen) Rahmen hinaus, ohne dass ich diese zusätzlichen Informationen immer in meine Betrachtungen einbeziehe. Für eilige Leserinnen und Leser werden die empirischen Analysen jeweils zu einem Fazit verdichtet, und der 7. Abschnitt enthält eine Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse.

4.

Datenbasis und Analyseinstrumente REX und SEX

Die folgenden Analysen beruhen zumeist auf den Daten der Deutschen Bundestagswahlstudie 2005 („Bürger und Parteien in einer veränderten Welt“). Hilfsweise werden aber auch andere Erhebungen herangezogen. Da ich mich bezüglich der Definition von Rechtsextremismus und der Messung von rechtsextremen Einstellungen anderweitig hinreichend geäußert habe (Stöss/Fichter/Kreis/ Zeuner 2004: Kap. A u. B; Stöss 2007: Kap. 1 u. 4), teile ich hier nur das Nötigste mit: Beim Rechtsextremismus handelt es sich um völkischen Nationalismus. In der Regel wird zwischen Einstellungen (auch latenter Rechtsextremismus) und Verhalten (auch manifester Rechtsextremismus) unterschieden. Zu den Verhaltensweisen zählen Wahlverhalten, Organisationsmitgliedschaft, politische Aktivität und Gewalt. Rechtsextreme Einstellungen bilden ein mehrdimensionales Syndrom, das sich aus folgenden Bestandteilen zusammensetzt: Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur, Chauvinismus (i.e. übersteigerter Nationalismus), Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus, Sozialdarwinismus und Verharmlosung des Nationalsozialismus. Dieser Katalog wurde von einer Expertenkonferenz entwickelt (Kreis 2007: 9 ff., 17 ff.), die zudem für jede der sechs Dimensionen fünf Statements ausarbeitete. In der Langfassung besteht die Rechtsextremismus-Skala also aus 30 Items. Weiterhin wurde eine Kurzskala mit je einem Statement pro Dimension vorgeschlagen (Kreis

Rechtsextremismus, Sexismus und Gender Gap

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2007: 25), die auch in der Deutschen Bundestagswahlstudie 2005 abgefragt wurden26. Statistisch wurde die Skala REX nach dem Likert-Verfahren (Technik der summierten Einschätzungen) konstruiert: Jede Befragungsperson entscheidet selbst über das Ausmaß an Zustimmung zu den einzelnen Skalensätzen. Pro Statement erhält jeder Befragte also einen Wert zwischen 1 und 4. Die sechs Werte werden für jede Person summiert. Maximal können 24 Punkte erreicht werden, mindestens jedoch sechs. Die Skalenwerte reichen mithin von 6 bis 24. Der Schwellenwert für die Bestimmung des rechtsextremen Einstellungspotenzials (REXPOT), für die Identifizierung der Befragten also, die als Rechtsextremisten zu bezeichnen sind, wurde auf das arithmetische Mittel (15) festgesetzt. Personen mit mehr als 15 Punkten (also mit Werten zwischen 16 und 24) gelten mithin als rechtsextrem eingestellte Personen (oder auch als Rechtsextremisten). Nach der Bundestagswahlstudie betrug der Anteil der Rechtsextremisten 2005 12 Prozent (Männer 15%, Frauen 9%). Bei kumulierten Skalen (REXKUM) wird die Anzahl der Statements gezählt, die die Befragten positiv beantwortet haben. Bei sechs Skalensätzen reichen die Skalenwerte von null (keinem Statement zugestimmt) bis sechs (allen sechs Statements zugestimmt). Bezüglich der Definition von Sexismus orientiere ich mich am „Lexikon zur Soziologie“. Danach ist Sexismus „ein analog zum Terminus Rassismus gebildeter Begriff zur Bezeichnung von Vorurteilen und Diskriminierungen aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit. Wegen der in den meisten Gesellschaften vorherrschenden patriarchalischen Strukturen wird S. fast ausschließlich zur Kennzeichnung von diskriminierenden Einstellungen und Handlungen gegenüber Frauen verwendet, bzw. zur Kennzeichnung von Bevorzugung und Verherrlichung des männlichen Geschlechts.“ (Fuchs-Heinritz u.a. 1994: 599)

Bei der Messung von sexistischen Einstellungen greife ich im Prinzip auf das Konzept der Geschlechtsrollenorientierung (Krampen 2007) zurück: „Geschlechtsrollenorientierungen werden als die normativen Konzeptionen eines Individuums über angemessenes Verhalten von Frauen und Männern definiert. Mit Geschlechtsrollenorientierung werden also normative Einstellungsaspekte bezeichnet, die moralische Wertungen darüber beinhalten, wie sich Männer und Frauen verhalten sollten und wie sie sein sollten.“ (GlöcknerRist 2007)

Die in der Bundestagswahlstudie 2005 zur Verfügung stehenden Statements27 entstammen zwar nicht der Batterie von Krampen, entsprechen aber in etwa dem Konzept der Geschlechtsrollenorientierung. Die Bildung des Index Sexismus (SEX) erfolgte analog zur 26

„Andere Völker mögen wichtiges vollbracht haben, an deutsche Leistungen reicht das aber nicht heran“; „Es gibt wertvolles und unwertes Leben“; „Auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu groß“; „Wenn Arbeitsplätze knapp werden, sollte man die Ausländer wieder in ihre Heimat zurückschicken“; „Wir sollten einen Führer haben, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert“; „Der Nationalsozialismus hatte auch seine guten Seiten“. Die Antwortvorgaben lauten: 1 „lehne völlig ab“, 2 „lehne eher ab“, 3 „stimme eher zu“, 4 „stimme völlig zu“. 27 „Männer und Frauen haben von Natur aus unterschiedliche Fähigkeiten, so dass Männer vor allem für den Beruf und Frauen für den Haushalt und Kinder da sein sollten“; „Heutzutage werden Männer auf dem Arbeitsmarkt gegenüber Frauen oft benachteiligt“; „Männer sind leistungsfähiger als Frauen“; „Bei der Gleichberechtigung geht es eigentlich darum, dass Frauen mehr Macht bekommen als Männer“; „Die meisten Frauen sind von politischen Fragen überfordert“; „Die Politik zur Gleichberechtigung der Frauen ist schon viel zu weit getrieben worden, heute werden die Männer benachteiligt“.

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Konstruktion der Rechtsextremismus-Skala. Der Anteil der sexistisch eingestellten Personen (SEXPOT) betrug 2005 16 Prozent (Männer 21%, Frauen 11%).

5.

Latenter Rechtsextremismus

a) Geschlechtsspezifische Aspekte der Potenzialbestimmung In der Literatur wird ein enger Zusammenhang hergestellt zwischen der Verbreitung von rechtsextremen Einstellungen und der Sozialisation, der Lage und der Beziehung der Geschlechter in der durch raschen sozialen Wandel gekennzeichneten postindustriellen Gesellschaft. Dass von dieser Entwicklung beide Geschlechter betroffen sind und Anlass haben, ihre (wen auch unterschiedlichen) sozialen Erfahrungen und problematischen Lagen im Sinne des Rechtsextremismus zu deuten und zu verarbeiten, ist unstrittig. Diskutiert wird die Frage, ob die mit dem Kontinuitätsbruch verbundenen Belastungen und Herausforderungen asymmetrisch verteilt sind, ob Männer oder Frauen besonders bedroht, benachteiligt oder verunsichert und daher besonders empfänglich für rechtsextreme Angebote sind. Die geschlechtsspezifische Verbreitung von rechtsextremen Einstellungen ist daher in diesem Kontext von großer Bedeutung. Zunächst einmal ist festzustellen, dass die empirische Forschung hinsichtlich der Anfälligkeit von Frauen und Männern für rechtsextreme Einstellungen zu sehr unterschiedlichen Befunden gelangt. Mal sind die Männer anfälliger, mal die Frauen. Tabelle 1 vergleicht die Messergebnisse von neun verschiedenen Skalen aus drei Studien, die ihre Statements aus demselben Fundus beziehen. Selbst die „Norm“-Kurzskalen mit sechs identischen Statements (Nrn. e, f, h in Tab. 1) differieren bei der Bestimmung der geschlechtsspezifischen Potenziale (auch für West und Ost)28. Die genauen Ursachen lassen sich empirisch nicht exakt ermitteln, weil wir es mit drei verschiedenen Datensätzen zu tun haben. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hängen die widersprüchlichen Resultate nicht zuletzt davon ab, ob die Antwortvorgaben über eine Mitte verfügen. Die auch hier zugrunde liegende Skala Nr. f, die Männer beträchtlich rechtsextremer erscheinen lässt als Frauen, unterscheidet nur nach starker und schwacher Zustimmung bzw. Ablehnung, eine neutrale Antwortmöglichkeit (teils-teils o.ä.) fehlt. Das führt dazu, dass diese Skala den bei weitem größten Teil an Ausfällen aufweist (22,6%). Diese fehlenden Antworten verteilen sich geschlechtsspezifisch asymmetrisch: Frauen verweigern die Antwort häufiger als Männer. Der Verzicht auf eine Mitte hat auch den Effekt, dass die mit der summierten und mit der kumulierten Skala (Nrn. f u. g) gemessenen Potenziale übereinstimmen. Die Skala Nr. h verfügt mit dem Wert 3 über einen explizit benannten Mittelpunkt („stimme teils zu, teils nicht zu“), was allerdings bewirkt, dass der Anteil der Befragten, der sich bei den einzelnen Statements für die Mitte entscheidet, sehr groß ist, wobei davon mehr Frauen als Männer Gebrauch machen. Dafür ist der Anteil der Ausfälle mit 2,1 Prozent verschwindend gering.

28

Dies zeigt sich auch, wenn der Vergleich mit den arithmetischen Mitteln durchgeführt wird. Aus Platzgründen wird auf den Nachweis verzichtet.

Rechtsextremismus, Sexismus und Gender Gap

277

Tabelle 1: Rechtsextremismus in den Gebieten nach Geschlecht (%) - Messungen mit verschiedenen Skalen BRD

Skalen Stö

Küh Bräh

a)

REXL b) REXKUM c) REXH d) REXW e) REXN f) REX g) REXKUM h) REX i) REXKUM

Männer 17 13 7 27 15 15 15 19 7

West Frauen 23 16 10 33 17 9 9 14 5

Männer 15 11 6 25 13 14 14 19 8

Ost Frauen 21 14 9 32 15 9 9 13 5

Männer 26 19 12 36 21 18 17 17 5

Frauen 28 20 15 36 27 10 9 14 4

a) Stöss u.a. 2003; Langfassung, 30 Statements, summiert, Antwortvorgaben: 7er Skalen von 1 („stimme überhaupt nicht zu“) bis 7 („stimme voll und ganz zu“); nicht im Block, sondern mit anderen Statements gemischt abgefragt. [Stöss/Fichter/Kreis/Zeuner 2004] b) Stöss u.a. 2003; Langfassung, 30 Statements, kumuliert, Antwortvorgaben: 7er Skalen von 1 („stimme überhaupt nicht zu“) bis 7 („stimme voll und ganz zu“); Zustimmung: Werte 5 bis 7; nicht im Block, sondern mit anderen Statements gemischt abgefragt. [Ebda.] c) Stöss u.a. 2003; „harte“ Version, 12 Statements der Langfassung (besonders schwierig, also mit geringem Mittelwert bzw. geringer Zustimmung und ggf. mit vielen fehlenden Antworten), summiert, Antwortvorgaben: 7er Skalen von 1 („stimme überhaupt nicht zu“) bis 7 („stimme voll und ganz zu“); nicht im Block, sondern mit anderen Statements gemischt abgefragt. [Ebda.] d) Stöss u.a. 2003; „weiche“ Version, 12 Statements der Langfassung (mittlere Schwierigkeit), summiert, Antwortvorgaben: 7er Skalen von 1 („stimme überhaupt nicht zu“) bis 7 („stimme voll und ganz zu“); nicht im Block, sondern mit anderen Statements gemischt abgefragt. [Ebda.] e) Stöss u.a. 2003; „Norm“-Kurzskala, 6 ausgewählte Statements der Langfassung (Kreis 2007; hier Anm. 26), summiert, Antwortvorgaben: 7er Skalen von 1 („stimme überhaupt nicht zu“) bis 7 („stimme voll und ganz zu“); nicht im Block, sondern mit anderen Statements gemischt abgefragt. [Ebda.] f) Kühnel u.a. 2005; „Norm“-Kurzskala, 6 Statements (s.o. Nr. e) summiert, Antwortvorgaben: 1 („lehne völlig ab“), 2 („lehne eher ab“), 3 („stimme eher zu“), 4 („stimme völlig zu“); im Block abgefragt. [Deutsche Bundestagswahlstudie 2005] g) Kühnel u.a. 2005; „Norm“-Kurzskala, 6 Statements (s.o. Nr. e) kumuliert, Antwortvorgaben: 1 („lehne völlig ab“), 2 („lehne eher ab“), 3 („stimme eher zu“), 4 („stimme völlig zu“); Zustimmung: Werte 4 bis 6; im Block abgefragt. [Ebda.] h) Brähler u.a. 2006; „Norm“-Kurzskala, 6 Statements (s.o. Nr. e) summiert, Antwortvorgaben: 1 („lehne völlig ab“), 2 („lehne überwiegend ab“), 3 („stimme teils zu, teils nicht zu“), 4 („stimme überwiegend zu“), 5 („stimme voll und ganz zu“); im Block abgefragt. [Decker/Brähler 2006] i) Brähler u.a. 2006; „Norm“-Kurzskala, 6 Statements (s.o. Nr. e) kumuliert, Antwortvorgaben: 1 („lehne völlig ab“), 2 („lehne überwiegend ab“), 3 („stimme teils zu, teils nicht zu“), 4 („stimme überwiegend zu“), 5 („stimme voll und ganz zu“); Zustimmung: Werte 4 bis 6; im Block abgefragt. [Ebda.]

Auffällig ist, dass alle Skalen mit einer siebenstufigen Antwortvorgabe (Nrn. a bis e) mehr rechtsextreme Frauen als Männer identifizieren, während es sich bei den Skalen mit vieroder fünfstufigen Antwortvorgaben (Nrn. f bis i) umgekehrt verhält. Bei den siebenstufigen Antwortvorgaben werden nur die Extrempositionen mit einem Label versehen: 1 „stimme überhaupt nicht zu“ und 7 „stimme voll und ganz zu“. Sie haben zwar auch eine Mitte (4), aber sie wird nicht explizit benannt. Die Befragten mit mittiger Tendenz schwanken daher zwischen den Werten 3, 4 und 5, wobei der Wert 5 über dem arithmetischen Mittel liegt und damit zum Potenzialbereich zählt. Bei siebenstufigen Antwortvorgaben verteilen sich die Befragten mithin gleichmäßiger über den gesamten Wertebereich als bei vier- oder

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fünfstufigen Antwortvorgaben. Die Ausfälle bei der „Norm“-Skala Nr. e machen 7,4 Prozent aus (4,2% bei den Männern und 10,5% bei den Frauen). Da sich die genannten messtechnischen Ursachen für einen möglichen Gender Gap im Bereich des latenten Rechtsextremismus nicht direkt miteinander in Beziehung setzen lassen, kann die Frage also nicht zuverlässig beantwortet werden, ob Männer oder Frauen stärker zu rechtsextremen Einstellungen neigen. Allerdings lassen die bisherigen Analysen vermuten, dass die Ausprägung derartiger Einstellungen durchaus auch von geschlechtsspezifischen Merkmalen im Antwortverhalten gesteuert wird. Darüber sollen nun am Beispiel der hier zugrunde liegenden Rechtsextremismus-Skala REX (Nr. f) einige Vermutungen angestellt werden, die allerdings nicht auf andere Skalen bzw. Untersuchungen übertragbar sind. So verfügen Frauen in unserer Studie häufiger als Männer über ein geringes politisches Selbstbewusstsein (60% zu 42%) und sind stärker politisch desinteressiert als diese (25% zu 13%). Das dürfte eine Ursache dafür sein, dass sich Frauen öfter als Männer mit der Bewertung der Rechtsextremismus-Statements schwer tun und dass folglich wesentlich mehr weibliche als männliche Antwortverweigerer bei der Potenzialbestimmung unberücksichtigt bleiben. Zudem ist das Weltbild der rechtsextremen Männer konsistenter als das der rechtsextremen Frauen. Dies könnte eine weitere Ursache dafür sein, dass Männer häufiger Werte über dem „cutting point“ erreichen als Frauen. Auffällig ist, dass Männer den einzelnen Statements nur wenig stärker zustimmen als Frauen, die Unterschiede sind bis auf das NS-Item gering. Würde man die geschlechtsspezifische Ausprägung von rechtsextremen Einstellungen nur anhand der Zustimmung zu den Statements beurteilen, käme man zu dem Ergebnis, dass Männer und Frauen nur unwesentlich voneinander abweichen. Erst bei der Potenzialbestimmung mittels der Skala REX offenbart sich der beträchtliche Unterschied. Es lassen sich also einige Gründe dafür anführen, dass wir in der Bundestagswahlstudie deutlich mehr rechtsextreme Männer als Frauen vorfinden, mehr noch als in der Untersuchung von Brähler u.a. Das „forced choice“-Konzept (der Verzicht auf eine neutrale Mitte bei den Antwortvorgaben) verdrängt augenscheinlich rechtsextreme Frauen stärker als rechtsextreme Männer entweder in die Gruppe der „Nonrespondents“ oder in den Wertebereich unterhalb des arithmetischen Mittels. Fazit: Selbst bei identischen Frageformulierungen haben die Antwortvorgaben geschlechtsspezifische Auswirkungen auf die Bewertung der Statements. Um Ausfälle (insbesondere bei Frauen) gering zu halten, sollten Antwortskalen über eine neutrale Mitte verfügen. In dem hier verwendeten Datensatz wird das Ausmaß von rechtsextremen Einstellungen bei Frauen offenbar unterschätzt. Beim gegenwärtigen Forschungsstand lässt sich die Frage jedenfalls nicht eindeutig beantworten, ob Frauen oder Männer stärker zur Entwicklung von rechtsextremen Orientierungen neigen. Vermutlich besteht kein gravierender Unterschied.

b) Der Index Rechtsextremismus-Sexismus Anders als Wahlverhalten, Organisationsmitgliedschaft, politische Aktivität und Gewalt lassen sich rechtsextreme Einstellungen nicht unmittelbar beobachten. Ihre Messung erfolgt durch entsprechende Indikatoren. Das Messergebnis hängt mithin auch von der Auswahl der Indikatoren ab. Bei den bisherigen Messungen könnte es sich um eine systematische

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Fehleinschätzung des weiblichen Einstellungspotenzials handeln, weil die Indikatorenbildung in der Regel geschlechtsspezifische Faktoren außer Acht lässt. Bei der Erforschung von rechtsextremen Einstellungen spielten geschlechtsspezifische Aspekte bislang kaum eine tragende Rolle. Ausnahmen bilden einige Jugendstudien, die allerdings keine Verallgemeinerungen für die Bevölkerung insgesamt (oft nicht einmal für Jugendliche bzw. junge Erwachsene) zulassen (z.B. Birsl 1994; Held u.a. 1996; HornMetzger/Riegel 1995; Utzmann-Krombholz 1994). Und die geläufigen RechtsextremismusSkalen enthalten in der Regel auch keine geschlechtsspezifische Dimension. Allerdings sind zwei Sonderfälle zu erwähnen: Das Konzept „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ (GMF) von Heitmeyer (2006) enthält neben Fremdenfeindlichkeit, Etabliertenvorrechte, Islamophobie, Heterophobie, Antisemitismus und Rassismus auch eine Dimension „klassischer Sexismus“29. GMF kommt dem hier zugrunde liegenden Rechtsextremismusbegriff sehr nahe und zeigt, dass es sich beim Sexismus um einen integralen Bestandteil von Ungleichwertigkeitsvorstellungen handelt. Birsl (1994: 178 ff.) arbeitete mit zwei geschlechtsspezifischen Rechtsextremismus-Skalen, eine für weibliche und eine für männliche Jugendliche. Die Skalen wurden für jedes Geschlecht auf der Grundlage der vorhandenen Indikatoren nach statistischen Gesichtspunkten konstruiert, also auf die männlichen und weiblichen Befragten zugeschnitten. Als Begründung für dieses unkonventionelle Vorgehen30 führt die Verfasserin an, dass sich das Geschlecht „als die entscheidende unabhängige Variable“ (S. 178) erwiesen habe. Damit wird gegen das Gebot der Inhaltsvalidität verstoßen. Denn bei der durchaus plausiblen theoretischen Herleitung der Dimensionalität des Messinstruments wurde beispielsweise das Merkmal „natürlicher Wesensunterschied zwischen den Geschlechtern“ als Bestandteil des rechtsextremen Einstellungsmusters festgelegt und auch mit sieben Statements erhoben. Bei der Konstruktion der beiden Rechtsextremismus-Skalen wurde dann aber keines dieser Statements berücksichtigt, um „eine etwas höhere Eindimensionalität“ (S. 185) zu erreichen. In diesem Abschnitt geht es um die Beziehung zwischen Sexismus und Rassismus. Da in der einschlägigen Literatur nicht exakt zwischen Rassismus und Rechtsextremismus unterschieden wird und weil völkisches Denken mit ganz seltenen Ausnahmen übersteigerten Nationalismus und hierarchische Ordnungsvorstellungen impliziert, wird im Folgenden das Verhältnis von Sexismus und Rechtsextremismus untersucht. Zunächst ist zu fragen, ob es sich überhaupt um zwei Dimensionen von Diskriminierung und Unterordnung handelt, ob eine inhaltliche Verbindung zwischen beiden Orientierungen besteht. Das Ergebnis der Prüfung fällt positiv aus: Alle sechs Rechtsextremismus-Statements korrelieren gleichsinnig mit dem Sexismus-Index, die Zusammenhänge mit Antisemitismus, Ausländerfeindlichkeit und Chauvinismus fallen ziemlich stark aus, die mit Darwinismus, Verharmlosung des Nationalsozialismus und Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur sind schwach ausgeprägt. Sexismus korrespondiert also nicht nur mit rassistischen Orientierungen sondern mit allen Dimensionen des rechtsextremen Einstellungsmusters. Die Intensität der Verbindungen variiert nur geringfügig und sollte daher nicht überinterpretiert werden. Entscheidend ist, dass dies für beide Geschlechter gilt, wenn auch die Zu29

Diese Dimension wird mit zwei Statements gemessen: „Frauen sollten sich wieder mehr auf die Rolle der Ehefrau und Mutter besinnen“ und „Für eine Frau sollte es wichtiger sein, ihrem Mann bei seiner Karriere zu helfen, als selbst Karriere zu machen“ (Heitmeyer 2006: 29). 30 In diesem Fall sind Vergleiche allenfalls zulässig, wenn die funktionale Äquivalenz beider Messinstrumente nachgewiesen wird.

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sammenhänge bei Männern stärker ausfallen als bei Frauen. Ebenso sind die sechs Statements des Sexismus-Index SEX (schwach) positiv mit der Rechtsextremismus-Skala REX assoziiert. Tabelle 2: Korrelate (r) der Rechtsextremismus-Skala (REX) und des Index Sexismus (SEX) für ausgewählte Untersuchungsgruppen 2005 Alle Befragten West Ost Männer Frauen Altersgruppen

18-24 25-34 35-44 45-59 60Bildung niedrig mittel hoch Schicht Unterschicht Mittelschicht Oberschicht Alle Korrelationen sind auf dem Niveau von 0,01 signifikant.

,424 ,452 ,341 ,457 ,354 ,276 ,453 ,418 ,419 ,401 ,325 ,439 ,412 ,343 ,478 ,365

Die Skala REX und der Index SEX korrelieren stark positiv miteinander. Gleichgerichtete, allerdings unterschiedlich enge Zusammenhänge finden sich bei allen Untersuchungsgruppen (Auswahl in Tab. 2). Sie fallen im Westen dichter aus als im Osten und sind bei Männern intensiver als bei Frauen. Es existiert also ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis zwischen Rechtsextremismus und Sexismus, und wir können mit gutem Grund Diskriminierung und Unterordnung als gemeinsame Hintergrundvariable annehmen. Die These, dass es sich bei Sexismus und Rassismus/Rechtsextremismus um zwei Seiten einer Medaille handelt, wird – mit unseren Daten – bestätigt. Damit steht die Behauptung, es könne „als relativ gesichert gelten ... dass das traditionelle Frauenbild des Rechtsextremismus kein zentrales Attraktionsmoment für Frauen darstellt“ (Amesberger/Halbmayr 2002b: 46), auf schwachen Füßen – jedenfalls mit Blick auf rechtsextreme Einstellungen. Ob es sich um ein „zentrales“ Attraktionsmoment handelt, wird im folgenden Abschnitt untersucht. Hier ist zunächst nur festzuhalten, dass die Annahmen des herrschaftstheoretischen Ansatzes – anders als Amesberger und Halbmayr vermuten (ebda: 45) – sehr wohl „nachweisbar“ sind. Richtig ist allerdings auch, dass der statistische Zusammenhang zwischen Rechtsextremismus und Sexismus bei Frauen geringer ist als bei Männern. Das können sich die Vertreterinnen des modernisierungstheoretischen Ansatzes zugute halten. Da Rechtsextremismus und Sexismus stark positiv miteinander variieren, bietet sich die Bildung eines Instruments an, das beide Orientierungen miteinander verbindet. Damit wird keine Identität unterstellt sondern lediglich getestet, ob beide Orientierungen im Bewusstsein der Befragten zu einem homogenen Syndrom verschmelzen und welche Wechselwirkungen dabei stattfinden. In die gewählte Konstruktion gehen Rechtsextremismus und Sexismus gleichgewichtig ein, damit der Effekt von Sexismus besonders deutlich zutage treten kann. Denn letztlich geht es um die Frage, ob sich die gängigen Rechtsextremis-

Rechtsextremismus, Sexismus und Gender Gap

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mus-Skalen um die Dimension Sexismus erweitern lassen. Selbst wenn statistisch nichts dagegen spräche und sich auf diese Weise Erkenntnisfortschritte erzielen ließen, müsste immer auch noch theoretisch entschieden werden, ob die Bildung eines derartigen Index notwendig und sinnvoll ist. Die Prüfstatistik des Index Rechtsextremismus-Sexismus (REXSEX) fällt nur mäßig aus, die Koeffizienten sind zwar gerade noch tolerierbar, die interne Konsistenz ist aber unbefriedigend. Im Vergleich zum nach herkömmlicher Art gemessenen Rechtsextremismus verändert sich beim neuartigen Index REXSEX die Geschlechterdifferenz deutlich zugunsten der Frauen. Auf nationaler Ebene übersteigt die Anfälligkeit der Männer die der Frauen um das 2,3-fache, im Osten sogar um das dreifache. Wenn aus grundsätzlichen Erwägungen das rechtsextreme Einstellungsmuster um die Dimension Sexismus erweitert würde, vergrößerte sich der Abstand zwischen den Geschlechtern also erheblich, und die Wissenschaft wäre um eine Erklärung für den Gender Gap beim manifesten Rechtsextremismus reicher. Hinsichtlich der Wechselwirkungen zwischen Rechtsextremismus und Sexismus im Rahmen des Konstrukts REXSEX findet offenbar keine gegenseitige Verstärkung sondern eine Überlagerung, genauer: eine gegenseitige Begrenzung, statt. Da REXSEX durch Summierung der Messwerte der Rechtsextremismus-Skala und des Sexismus-Index gebildet wurde und da die Verteilung der Messwerte der Rechtsextremismus-Skala extrem rechtsschief ist, beträgt der Überschneidungsbereich beider Potenziale, also der Anteil der Befragten, die den Schwellenwert für die Potenzialbestimmung sowohl bei der Rechtsextremismus-Skala als auch beim Sexismus-Index überwinden, bundesweit ganze vier Prozent, also weniger als die Hälfte des REXSEX-Potenzials von zehn Prozent. Um herauszufinden, welche zusätzlichen Einsichten mit dem Index Rechtsextremismus-Sexismus möglich sind, wurden die drei Instrumente REX, SEX und REXSEX vergleichend mit einigen Erklärungsfaktoren in Beziehung gesetzt. Dies soll hier nicht weiter vertieft werden. Jedenfalls sind diese Variablen – wie zu erwarten war – durchweg gleichsinnig mit Rechtsextremismus und Sexismus assoziiert, denn beide stehen auch untereinander in enger Beziehung. Allerdings variieren sie zumeist (wesentlich) stärker mit Rechtsextremismus als mit Sexismus. Derselbe Effekt zeigt sich, wenn mit den Erklärungsfaktoren lineare Regressionen auf die Rechtsextremismus-Skala und auf den Index Sexismus gerechnet werden: Für Sexismus wird eine Varianzaufklärung von mageren 18 Prozent erreicht, für Rechtsextremismus immerhin von 34 Prozent. Das bedeutet, dass Sexismus – jedenfalls teilweise – durch andere Variablen erklärt wird als Rechtsextremismus. Auch wenn die Bundestagswahlstudie keine Variablen mit hoher Erklärungskraft für Sexismus (vermutlich aus dem Bereich der geschlechtsspezifischen Sozialisation) bereithält, steht für mich außer Zweifel, dass trotz der starken statistischen Beziehung zwischen Rechtsextremismus und Sexismus erhebliche Unterschiede hinsichtlich der Ursachen beider Orientierungen bestehen. Fazit: Erstens bewegt sich die Verbreitung von sexistischen Einstellungen in der Bevölkerung in engen Grenzen (16%). Männer sind zwar doppelt so häufig sexistisch eingestellt wie Frauen (21% zu 11%), aber das Bedrohungsgefühl angesichts des (vermeintlichen) allmählichen Untergangs des Patriarchats ist bei ihnen eher gering ausgeprägt. Vermutlich erwarten viele Männer diesen Untergang überhaupt nicht. Zweitens widersprechen sich die Befunde des herrschaftstheoretischen und des modernisierungstheoretischen Ansatzes nicht, sie ergänzen sich eher: Es besteht zwar eine starke Korrelation zwischen

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Rechtsextremismus und Sexismus. Daraus folgt, dass Sexismus bei der Entwicklung von rechtsextremen Einstellungen durchaus von Bedeutung ist. Das betrifft allerdings Männer wesentlich stärker als Frauen. Dennoch gilt: Frauen wenden sich dem Rechtsextremismus also nicht trotz, sondern wegen seines althergebrachten Frauen- und Familienbilds zu. Drittens erscheint mir die Bildung eines Messinstruments, das Rechtsextremismus und Sexismus miteinander kombiniert, trotz der starken Korrelation beider Orientierungen nicht empfehlenswert. Dagegen spricht zunächst die mäßige interne Konsistenz dieses Konstrukts, woraus die Schlussfolgerung zu ziehen ist, dass sich Rechtsextremismus und Sexismus nicht zu einem homogenen Einstellungssyndrom verbinden. Ferner verfügen beide Orientierungen über teilweise sehr verschiedene Ursachen. Und schließlich kommt dem vor allem von afro-amerikanischen Frauen vorgetragenen Einwand erhebliches Gewicht zu, dass es sich bei Sexismus und Rassismus/Rechtsextremismus um zwei unterschiedliche Qualitäten von Diskriminierung handelt. Die Parole „Ausländer raus!“ findet im Sexismus keine Entsprechung. Bei den folgenden Analysen verwende ich Sexismus daher als Prädiktor für Rechtsextremismus.

c) Sexismus als Erklärungsfaktor für Rechtsextremismus Nachdem der Nachweis erbracht wurde, dass sexistische Einstellungen sehr wohl die Hinwendung zum Rechtsextremismus begünstigen, soll nun ermittelt werden, über welche Erklärungskraft Sexismus im Kontext weiterer Prädiktoren für die geschlechtsspezifische Ausprägung von rechtsextremen Einstellungen verfügt, ob es sich bei dem reaktionären Frauenbild des Rechtsextremismus um ein „zentrales Attraktionsmoment“ für Frauen und/ oder Männer handelt. Tabelle 3 berichtet, dass die fünf Variablen, die am stärksten mit Rechtsextremismus korrelieren, bei Männern und Frauen identisch sind, dass sogar die Reihenfolge übereinstimmt. Mit einer Ausnahme allerdings: Die Plätze 1 und 2 sind spiegelbildlich angeordnet. Während bei Männern Sexismus am intensivsten (positiv) mit Rechtsextremismus variiert, stehen bei Frauen die politischen Ordnungsvorstellungen „Autoritarismus vs. Libertarismus“ (negativ) an erster Stelle. Es folgen auf Platz 3 für beide Geschlechter Anomie (positiv), sodann Demokratiezufriedenheit (negativ) und schließlich Bildung (negativ). Die Zusammenhänge fallen in diesen fünf Fällen bei Männern enger aus als bei Frauen, vor allem Sexismus beeinflusst den männlichen Rechtsextremismus stark, den weiblichen nur ziemlich stark. Die Koeffizienten für folgende Variablen sind bei den Frauen größer als bei den Männern: Alter (positiv), politisches Selbstbewusstsein (negativ), politisches Interesse (negativ) und politische Unzufriedenheit (positiv)31. Orientierungen, die sich auf die eigene politische Rolle oder auf das politische Geschehen beziehen, begünstigen bei Frauen die Entwicklung von rechtsextremen Einstellungen etwas intensiver als bei Männern. Die Koeffizienten bewegen sich allerdings auf einem sehr geringen Niveau. Rechnet man Regressionen der Rechtsextremismus-Skala auf die hier als unabhängig betrachteten Variablen, dann ergeben sich die in Tabelle 4 aufgeführten Beta-Koeffizienten.

31

Alter korreliert übrigens nicht mit politischem Selbstbewusstsein, politischem Interesse oder mit politischer Unzufriedenheit, auch nicht bei Frauen.

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Tabelle 3: Korrelate (r) der Rechtsextremismus-Skala (REX) mit ausgewählten Variablen nach Geschlecht 2005 Männer Frauen ALTER **,160 **,205 BILDUNG **-,269 **-,245 SCHICHT **-,203 **-,170 ANOMIA **,390 **,297 EFFIINT **-,138 **-,181 LIRE **,217 **,155 POLINT **-,179 **-,185 DEMOZU **-,310 **-,282 POLUNZU **,171 **,180 STANEO *,068 ,043 AUTOLIB **-,423 **-,404 SEX **,457 **,354 ** Die Korrelation ist auf dem Niveau von 0,01 signifikant. * Die Korrelation ist auf dem Niveau von 0,05 signifikant. ALTER Alter in Jahren ANOMIA Orientierungslosigkeit, Macht- und Hilflosigkeit AUTOLIB Politische Ordnungsvorstellungen: Autoritarismus vs. Libertarismus BILDUNG Schulabschluss DEMOZU Demokratiezufriedenheit EFFIINT Politisches Selbstbewusstsein LIRE Links-Rechts-Selbsteinstufung POLINT Politisches Interesse POLUNZU Politische Unzufriedenheit SCHICHT Objektive Schichteinstufung SEX Sexismus STANEO Politische Ordnungsvorstellungen: Staatsinterventionismus vs. Neoliberalismus

Als bester Prädiktor für Rechtsextremismus erweist sich für beide Geschlechter die Präferenz für autoritäre politische Ordnungsvorstellungen. Über die zweitbeste Erklärungskraft bei Männern und Frauen verfügt die Unzufriedenheit mit der Demokratie. Dass Sexismus jeweils erst an dritter Stelle steht, liegt daran, dass ein Teil der Varianz dieser Variable von der Präferenz für autoritäre Ordnungsvorstellungen abgedeckt wird, die Elemente von Diskriminierung und Unterordnung enthält. Egal, ob man sich an den Korrelaten oder an den Beta-Werten orientiert: Sexismus spielt bei der Ausprägung von rechtsextremen Einstellungen eine maßgebliche Rolle, und zwar bei Männern und Frauen. Einschränkend gilt, dass die Bundestagswahlstudie kaum einschlägige Variablen über den sozioökonomischen Status und seine mentale Verarbeitung enthält. Die aufgeklärte Varianz der REX-Skala beträgt bei den Männern nur 42 Prozent und bei den Frauen sogar nur 33 Prozent. Denkbar wäre also, dass die Erklärungskraft von Sexismus im Reigen weiterer relevanter Prädiktoren geringer ausfällt. Nach meinen persönlichen Forschungserfahrungen ist dies allerdings wenig wahrscheinlich, da ich auch mit einem breiteren Set an Einflussvariablen keine wesentlich besseren Koeffizienten erzielt habe. Zumeist haben sich sozioökonomische Faktoren bei der Erklärung von Rechtsextremismus sogar als schwächer erwiesen als soziopolitische Orientierungen (Stöss/Fichter/Kreis/Zeuner 2004: 383 ff.). Würde der Datensatz Variablen zur geschlechtsspezifischen Sozialisation bereithalten, dann dürfte sich der Einfluss von Sexismus auf Rechtsextremismus eher noch verstärken.

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Tabelle 4: Signifikante standardisierte Regressionskoeffizienten (Beta) der Prädiktoren für die Rechtsextremismus-Skala (REX) nach Geschlecht 2005 Männer AUTOLIB DEMOZU SEX ANOMIA LIRE STANEO BILDUNG

Frauen -,294 -,231 ,211 ,202 ,087 ,071 -,061

2

R = ,424 Signifikanzniveau der Beta-Werte 0,05.

AUTOLIB DEMOZU SEX LIRE ANOMIA EFFIINT

-,305 -,205 ,196 ,123 ,115 -,103 2

R = ,332

(Schrittweise) eingeführte Variablen: ALTER ANOMIA AUTOLIB BILDUNG DEMOZU EFFIINT LIRE POLINT POLUNZU REX SCHICHT SEX STANEO

Alter in Jahren Orientierungslosigkeit, Macht- und Hilflosigkeit Politische Ordnungsvorstellungen: Autoritarismus vs. Libertarismus Schulabschluss Demokratiezufriedenheit Politisches Selbstbewusstsein Links-Rechts-Selbsteinstufung Politisches Interesse Politische Unzufriedenheit Rechtsextremismus Objektive Schichteinstufung Sexismus Politische Ordnungsvorstellungen: Staatsinterventionismus vs. Neoliberalismus

Mit Blick auf die zur Verfügung stehenden Erklärungsfaktoren für rechtsextreme Einstellungen unterscheiden sich Männer und Frauen also nicht grundsätzlich. Daher besteht auch kein Anlass, die Existenz eines geschlechtsspezifischen Rechtsextremismus anzunehmen. Jedenfalls spricht nichts für die Unterscheidung zwischen einem männlichen, sexistischen und einem weiblichen, nicht sexistischen Rechtsextremismus. Etwas differenziertere Einsichten ergeben sich, wenn nicht statistische Zusammenhänge sondern Größenordnungen betrachtet werden. Dass ein völkisch-biologistisches Frauenbild mit rechtsextremen Einstellungen korrespondiert, illustrieren folgende Prozentangaben: Sexistisch eingestellte Frauen tendieren häufiger zum Rechtsextremismus als nicht sexistisch eingestellte Frauen: So weisen durchschnittlich neun Prozent aller Frauen, aber 17 Prozent der sexistischen Frauen rechtsextreme Einstellungen auf. Das gilt entsprechend für Männer. Bei ihnen betragen die entsprechenden Anteile 15 Prozent und 35 Prozent. Umgekehrt tendieren rechtsextrem eingestellte Frauen häufiger zu Sexismus als nicht rechtsextrem eingestellte Frauen. So weisen durchschnittlich 11 Prozent aller Frauen, aber 21 Prozent aller rechtsextremen Frauen sexistische Einstellungen auf. Das gilt wiederum entsprechend für Männer. Die entsprechenden Anteile betragen 21 Prozent und 46 Prozent. Diese Befunde informieren zugleich auch darüber, dass sexistische Männer doppelt so häufig rechtsextrem denken wie sexistische Frauen, und dass rechtsextreme Männer doppelt so häufig sexistische Vorstellungen äußern wie rechtsextreme Frauen. Es sind also in erster Linie Männer, die sich vom Rechtsextremismus die Sicherung des Patriarchats versprechen. Unsere Befunde widersprechen mithin nicht der These, dass auch rechtsextreme Frauen in gewissem Umfang nach Gleichberechtigung streben. Sie darf aber nicht für alle rechtsextrem orientierten Frauen verallgemeinert werden.

Rechtsextremismus, Sexismus und Gender Gap

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Bei den Korrelationsanalysen (Tab. 3) hatten wir festgestellt, dass Alter, politisches Selbstbewusstsein, politisches Interesse und politische Unzufriedenheit bei Frauen etwas stärker mit Rechtsextremismus assoziiert ist als bei Männern. Das schlägt sich bei den Einstellungspotenzialen wie folgt nieder: Männliche Rechtsextremisten sind im Durchschnitt 52, weibliche 57 Jahre alt. Von den rechtsextremen Frauen sind 51 Prozent 60 Jahre und älter, bei den rechtsextremen Männern sind es 38 Prozent. Über ein geringes politisches Selbstbewusstsein verfügen 66 Prozent der rechtsextremen Frauen, aber nur 45 Prozent der rechtsextremen Männer, und politisches Desinteresse zeigen 35 Prozent der rechtsextremen Frauen, aber nur 20 Prozent der rechtsextremen Männer. Kein Unterschied besteht aus dieser Perspektive hinsichtlich der politischen Unzufriedenheit. Auffällig ist, dass bei Männern die Links-Rechts-Selbsteinstufung (positiv) und die Demokratiezufriedenheit (negativ) stärker mit Rechtsextremismus korrelieren als bei Frauen. Das macht sich bei der Potenzialbestimmung vor allem bei der Unzufriedenheit mit der Demokratie bemerkbar: 40 Prozent der männlichen, aber nur 26 Prozent der weiblichen Rechtsextremisten teilen diese Unzufriedenheit. Daraus ziehe ich die Schlussfolgerung, dass rechtsextreme Männer der demokratischen Ordnung feindseliger begegnen und damit dem Kernanliegen des Rechtsextremismus eher folgen als Frauen. Der weibliche Rechtsextremismus ist offenbar eher durch Distanz gegenüber der Politik geprägt, der männliche eher durch Distanz gegenüber der Demokratie. Rechtsextreme Männer sind offenbar auch ideologischer strukturiert als rechtsextreme Frauen. Dass ihr Weltbild konsistenter ist, als das der rechtsextremen Frauen, hatte ich bereits in Abschnitt 5a mitgeteilt. Fazit: Hinsichtlich der Ursachen für die Entwicklung von rechtsextremen Einstellungen bestehen (in den hier benutzten Daten) keine gravierenden geschlechtsspezifischen Unterschiede. Dabei spielt Sexismus eine maßgebliche Rolle und kann daher durchaus als „zentrales Attraktionsmoment“ bezeichnet werden, mehr noch bei Männern als bei Frauen. Anzeichen für einen geschlechtsspezifischen Rechtsextremismus haben sich freilich nicht offenbart. Mit Blick auf das Ausmaß von rechtsextremen Einstellungen treten die Unterschiede zwischen Männern und Frauen deutlicher hervor: Es sind vor allem rechtsextreme Männer, die ein sexistisches Frauenbild vertreten. Sie sind auch stärker ideologisch geprägt und zeichnen sich besonders durch antidemokratische Orientierungen aus, während sich rechtsextreme Frauen eher für politisch inkompetent halten und sich auch weniger für das politische Geschehen interessieren.

6.

Manifester Rechtsextremismus

a) Die NPD-Wähler bei der Bundestagswahl 2005 Die Analysen dieses Abschnitts beruhen auf der Wahltagsbefragung von Infratest dimap für die ARD-Wahlberichterstattung. Der Vorteil dieser Datenquelle besteht in den großen Fallzahlen (N=16.365), die auch die detaillierte Betrachtung kleiner Parteien ermöglichen. Nachteilig für den Zweck unserer Untersuchung wirkt sich aus, dass sie keine Informationen über rechtsextreme und sexistische Einstellungen enthält.

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Tabelle 5: Zweitstimme für NPD und Republikaner in den Gebieten und bei den Geschlechtern bei der Bundestagswahl 2005 (%) BRD West Republikaner 0,6 0,6 Männer 0,7 0,7 Frauen 0,4 0,5 NPD 1,6 1,1 Männer 2,3 1,6 Frauen 0,9 0,7 Daten: Wahltagsbefragung Infratest dimap (ARD-Wahlberichterstattung)

Ost 0,4 0,6 0,1 3,6 5,2 1,9

Dass sich Männer häufiger für rechtsextreme Parteien entscheiden als Frauen, ist bekannt und bestätigte sich auch bei der Bundestagswahl 2005 (Tab. 5): Bei den Republikanern war der Anteil der Zweitstimmen bei den Männern fast doppelt so groß wie den Frauen. Und die NPD wurde sogar über zweieinhalb Mal so häufig von Männern gewählt wie von Frauen. Dabei fiel der Gender Gap – vor allem bei den Republikanern – im Osten größer aus als im Westen. Männer wählten die NPD häufiger als Frauen aus Überzeugung, bei den Frauen überwog dafür die Enttäuschung über die etablierten Parteien. Die weiblichen NPD-Wähler fühlten sich auch nicht so oft an die NPD gebunden wie die männlichen NPD-Wähler. Kennzeichnend für Frauen ist zudem, dass sie ihre Wahlmotive öfter als Männer nicht genau angeben konnten. Diese Unsicherheit kam auch darin zum Ausdruck, dass sie ihre Wahlentscheidung eher spontan trafen, während die der Männer zumeist seit längerem fest stand (Tab. 6). Überspitzt formuliert handelte es sich bei den männlichen NPD-Wählern eher um Überzeugungstäter, bei den weiblichen NPD-Anhängern eher um Protestwähler. Tabelle 6: Die Wähler der NPD (Zweitstimme) nach Geschlecht sowie nach Wahlmotiven und Zeitpunkt der Wahlentscheidung bei der Bundestagswahl 2005 (%) Alle Männer Wahlmotive 1 Überzeugung 41 47 Protest 49 44 Rest 10 9 Wahlmotive 2 Kandidaten 8 7 Sachfragen 65 67 Parteibindung 16 18 Mix 11 8 Zeitpunkt der Wahlentscheidung Heute 21 13 Während der letzten Tage 12 13 In den letzten Wochen 15 16 Schon vor längerer Zeit 42 48 Wähle immer dieselbe Partei 9 10 Rest 1 0 Daten: Wahltagsbefragung Infratest dimap (ARD-Wahlberichterstattung)

Frauen 27 59 14 8 63 12 17 43 10 10 29 7 1

Obwohl sich Männer und Frauen gleichermaßen (jeweils zu zwei Dritteln) bei den Wahlmotiven an Sachfragen orientierten, machten sich bei den wahlentscheidenden Themen (Tab. 7) durchaus geschlechtsspezifische Besonderheiten bemerkbar. Zunächst fällt auf,

Rechtsextremismus, Sexismus und Gender Gap

287

dass Frauen bei allen Themen mehr Nennungen aufweisen als Männer. Allerdings mit einer Ausnahme: Männer optierten wesentlich häufiger wegen der Ausländerpolitik für die NPD als Frauen. Diese legten dafür deutlich mehr Gewicht auf die Schul- und Bildungspolitik, auf die Wirtschaftspolitik und auf soziale Gerechtigkeit. Damit dürften sich allerdings kaum Kompetenzzuschreibungen für die NPD verbunden haben. Vermutlich signalisierten die Frauen mit diesen Präferenzen, dass sie mit dem konkreten, auf ihre Alltagsbedürfnisse bezogenen Politikoutput der etablierten Parteien unzufrieden waren. Tabelle 7: Die wahlentscheidenden Themen der Wähler der NPD (Zweitstimme) nach Geschlecht bei der Bundestagswahl 2005 (%) Alle Wirtschaftspolitik 20 Ausländerpolitik 54 Arbeitsmarktpolitik 41 Innere Sicherheit, Kriminalität 22 Umweltpolitik 3 Steuerpolitik 13 Soziale Gerechtigkeit 24 Schul-, Bildungspolitik 9 Außenpolitik 7 Daten: Wahltagsbefragung Infratest dimap (ARD-Wahlberichterstattung)

Männer 17 59 38 20 2 13 21 4 6

Frauen 30 44 47 24 4 15 32 19 7

Noch eine Bemerkung zur Sozialstruktur: Während rechtsextreme Einstellungen mit wachsendem Alter zunehmen (bei Frauen noch stärker als bei Männern), sinken die Wähleranteile der NPD mit steigendem Alter. Bei den 18-24jährigen erreichen die Männer mit 6,4 Prozent (bei einem Durchschnittsergebnis von 2,3%) einen Spitzenwert (Anhang 13d). Übereinstimmende Befunde für beide Geschlechter ergeben sich für die Erwerbs- und Berufsgruppen: Hier stellen die Arbeitslosen, die einfachen und die Facharbeiter die fleißigsten NPD-Wähler, und auch rechtsextreme Einstellungen gedeihen überdurchschnittlich in der Unterschicht. Fazit: Dass sich Frauen für die NPD eher aus Unzufriedenheit mit den etablierten Parteien entscheiden, während sie von den Männern eher aus Überzeugung gewählt werden, fügt sich in unseren früheren Befund ein, dass der weibliche Rechtsextremismus eher durch Distanz gegenüber der Politik, der männliche eher durch Distanz gegenüber der Demokratie geprägt ist. Dies gilt entsprechend für die Annahme, dass Männer ideologischer strukturiert sind und über ein konsistenteres Weltbild verfügen als Frauen. Diese sind sich ihrer Parteipräferenz längst nicht so sicher wie das andere Geschlecht und bewerten mit ihrer Wahlentscheidung offenbar primär die Auswirkungen der etablierten Politik auf ihre Lebensumstände. Damit bestätigen sich auch Vermutungen, dass sich Frauen eher von humanistischen und prosozialen Erwägungen leiten lassen und mehr Gewicht auf Fragen der Umwelt- oder der Bildungspolitik legen als Männer.

b) Die Beurteilung der NPD Da die Wahltagsbefragung von Infratest dimap keine Informationen über rechtsextreme und sexistische Einstellungen enthält, führen wir die folgenden Analysen mit den Daten der Bundestagswahlstudie 2005 fort. Da sich unter den Befragten dieser Studie nur wenige

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bekennende NPD-Wähler befinden, verwenden wir als abhängige Variable hilfsweise die Beurteilung der NPD. „Generelle evaluative Orientierungen“ (Niedermayer 2005: 83) gegenüber politischen Parteien werden mittels einer elfstufigen Skala erhoben32. Sie indizieren selbstverständlich nicht Wahlverhalten sondern ausschließlich die allgemeine Bewertung einer Partei. Jedoch kann angenommen werden, dass Personen, die die NPD positiv beurteilen, auch Gefallen an ihr finden und sie eher wählen werden, als Personen, die ihr ablehnend gegenüber stehen. Dies dürfte insbesondere für rechtsextrem eingestellte Personen gelten. Aus Tabelle 8 geht hervor, dass nur drei Viertel der Befragten die NPD negativ einschätzen. Von einer allgemeinen Ächtung oder gar Ausgrenzung der neonazistischen Partei (Stöss 2007: 133) kann daher keine Rede sein. Jeweils 12 Prozent der (wahlberechtigten) Bürger betrachten sie wohlwollend oder positiv. Dabei besteht überraschenderweise kein Unterschied zwischen den Geschlechtern und auch kaum ein Ost-West-Unterschied. Die Ost-Frauen empfinden für die NPD nur geringfügig seltener Zuneigung als die Ost-Männer. Positiv beurteilt werden die Nationaldemokraten vor allem von (eher männlichen) unteren Jahrgängen, von (eher männlichen) Arbeitslosen, von (eher weiblichen) einfachen Arbeitern und von männlichen Facharbeitern sowie von gering gebildeten Personen, mithin von der Unterschicht. Ähnlichkeiten mit der Sozialstruktur der NPD-Wähler sind unübersehbar. Personen mit rechtsextremen Einstellungen begutachten die NPD erwartungsgemäß wesentlich besser als der Durchschnitt der Befragten (Tab. 8). Hier besteht allerdings ein geschlechtsspezifischer Unterschied: Rechtsextreme Männer stellen der NPD ein besseres Zeugnis aus als rechtsextreme Frauen. Dass diese die NPD zurückhaltender evaluieren als rechtsextreme Männer ist überraschend und daher erklärungsbedürftig. Und für den nun zutage tretenden Ost-West-Unterschied sind auch nicht die rechtsextremen Frauen sondern ausschließlich die rechtsextremen Männer verantwortlich: Während in West und Ost gleichermaßen rund ein Fünftel der weiblichen Rechtsextremisten der NPD gegenüber positiv eingestellt sind, fällen 27 Prozent der männlichen Rechtsextremisten im Westen, aber 47 Prozent von ihnen im Osten ein gutes Urteil über die Nationaldemokraten. Die Wertschätzung der der NPD durch rechtsextreme Männer fällt dann besonders häufig gut aus, wenn sie mit der Demokratie unzufrieden sind, wenn sie sexistisch eingestellt sind oder wenn sie über ein geringes politisches Selbstbewusstsein verfügen. Rechtsextreme Frauen attestieren der NPD besonders oft eine gute Performanz, wenn sie politisch uninteressiert, mit der Demokratie oder der Politik unzufrieden oder anomisch eingestellt sind. Welche geschlechtsspezifischen Auswirkungen hat Rechtsextremismus auf die Zuneigung zur NPD? Die Differenz bei der positiven Beurteilung der NPD zwischen allen Männern und rechtsextremen Männern ist insgesamt doppelt so groß wie die zwischen allen Frauen und rechtsextremen Frauen (sie beträgt 20 Prozentpunkte zu neun Prozentpunkten). Die Werte streuen allerdings beträchtlich. Erhebliche Steigerungen sind vor allem bei Männern zu verzeichnen, wenn sich Rechtsextremismus mit Anomie (+17 Prozentpunkte), mit geringem politischem Selbstbewusstsein (+16 PP), mit autoritären Dispositionen (+14 PP) oder mit politischer Unzufriedenheit (+11 PP) verbindet. Frauen erreichen zweistellige Zuwächse nur bei der Kombination von Rechtsextremismus mit politischem Desinteresse (+11 PP) und mit Anomie (+10 PP). Gerade bei Frauen können sich diese Veränderungen 32

Recodiert: von 1 („halte überhaupt nichts von der Partei“) bis 11 („halte sehr viel von der Partei“). Für Tabellen wurde eine Dreierversion erzeugt: negativ – wohlwollend – positiv.

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auch nur geringfügig auswirken, so bei der Verbindung von Rechtsextremismus mit autoritären Dispositionen (+2 PP) oder mit politischer Unzufriedenheit (+5 PP). Rechtsextreme Einstellungen bewirken also nicht durchgängig, dass die NPD wesentlich häufiger besser evaluiert wird. Sogar das Gegenteil ist möglich. Beispiel Sexismus: 23 Prozent aller Männer mit sexistischen Einstellungen, aber 38 Prozent aller rechtsextremen Männer mit sexistischen Einstellungen bewerten die NPD positiv. Nun zu den Frauen: Gefallen finden an der NPD 15 Prozent der sexistischen, aber nur (etwa) 12 Prozent der zugleich rechtsextremen und sexistischen Frauen. Tabelle 8: Die Beurteilung der NPD durch alle Befragten und durch Rechtsextremisten in den Gebieten nach Geschlecht 2005 (%) BRD

West

Ost

BRD

West

Ost

Alle Männer Frauen Alle Männer Frauen Alle Männer Frauen Alle Männer Frauen Alle Männer Frauen Alle Männer Frauen

Negativ Wohlwollend 76 12 74 13 77 11 76 12 74 13 77 11 77 10 76 11 79 10 Nur Rechtsextremisten 51 21 47 20 56 23 52 23 49 24 56 23 48 14 43 10 59 22

Positiv 12 13 12 12 13 12 12 14 11 28 33 21 25 27 21 38 47 19

Bei rechtsextremen Männern verursachen sexistische Einstellungen also eine deutliche Verbesserung der Benotung der NPD, während sie bei rechtsextremen Frauen zu einer Verschlechterung des Urteils führen. Zur Erinnerung: In Abschnitt 5c hatten wir festgestellt, dass Sexismus bei der Ausprägung von rechtsextremen Einstellungen bei beiden Geschlechtern eine maßgebliche Rolle spielt und dass es vor allem Männer sind, die ein sexistisches Frauenbild vertreten. Nun stellt sich heraus, dass rechtsextreme Männer mit sexistischen Orientierungen die NPD noch häufiger positiv bewerten als ihre Geschlechtsgenossen ohne Sexismus. Sie erwarten sich also gerade auch von der NPD die Absicherung patriarchaler Verhältnisse. Dieser Effekt ist bei den rechtsextremen Frauen vergleichsweise seltenen zu beobachten. Leider ist es mit unseren Daten nicht möglich, den Einfluss von Sexismus auf das Wahlverhalten abzuschätzen. Die These, dass sich rechtsextreme Frauen der NPD trotz ihres reaktionären Frauenbildes zuwenden, ist allerdings nicht von der Hand zu weisen. So viel zum Vergleich von Einstellungspotenzialen. Nun widmen wir uns der Analyse von Zusammenhängen. Dabei beziehen wir als unabhängige Variablen auch die Beurteilung der Bundestagsparteien mit ein (Tab. 9). Zunächst werden Männer und Frauen miteinander verglichen, im nächsten Schritt dann rechtsextreme Männer und rechtsextreme Frauen.

290

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Wie schon bei den Korrelationen mit rechtsextremen Einstellungen (Tab. 3) erzielen auch die Männer bei den Korrelationen mit der Begutachtung der NPD zumeist höhere Koeffizienten als die Frauen. Männer evaluieren die neonazistische Partei zwar genauso häufig positiv wie Frauen, die Ursachen für die Beurteilung der Partei treten bei ihnen aber etwas deutlicher zutage als bei Frauen. Ihre Wertschätzung wird ziemlich stark durch rechtsextreme Einstellungen (positiv) und durch Demokratiezufriedenheit (negativ) sowie schwach durch Anomie (positiv) und die Links-Rechts-Skala (positiv) beeinflusst. Eindeutig dominant ist dabei Rechtsextremismus, und zwar mit einem Koeffizienten, der nahezu einen starken Zusammenhang signalisiert. Für die Frauen messen wir höchstens schwache Assoziationen, nämlich mit der Evaluierung der Linkspartei (positiv) und mit Rechtsextremismus (positiv). Tabelle 9: Korrelate (r) ausgewählter Variablen mit der Beurteilung der NPD für alle Befragten und nur für Rechtsextremisten nach Geschlecht 2005 Alle Männer **-,146 **-,119 **-,174 **,395 **,199 **,231 **-,095 **,204 **-,143 **-,304 **,127 *,066 **-,154 **-,135

Frauen **-,094 **-,111 **-,107 **,250 **,143 **,154 **-,120 *,075 **-,186 **-,195 **,129

ALTER BILDUNG SCHICHT REX SEX ANOMIA EFFIINT LIRE POLINT DEMOZU POLUNZU STANEO AUTOLIB **-,159 URT_SPD URT_CDU URT_CSU *,072 **,093 URT_B90 **-,174 *-,069 URT_FDP *,066 *,066 URT_LP **,188 **,253 ** Die Korrelation ist auf dem Niveau von 0,01 signifikant. * Die Korrelation ist auf dem Niveau von 0,05 signifikant. Nicht besetzte Felder: nicht signifikant. Abkürzungen: s. Tab. 10.

Nur Rechtsextremisten Männer Frauen **-,397 **-,309

**,269

**,262 *-,184

*-,262

*,184 **-,219

*,169

**,478

Sexismus spielt bei der Einschätzung der NPD durch beide Geschlechter nur eine sehr geringe Rolle, wobei der Koeffizient bei Männern über dem von Frauen liegt. Sexistisch eingestellte Personen benoten die NPD zwar überdurchschnittlich häufig positiv (Männer noch öfter als Frauen), aber Sexismus beeinflusst die Zuneigung nur mäßig. Bei der Entwicklung von rechtsextremen Einstellungen kommt dem Sexismus dagegen ein wesentlich größeres Gewicht zu: Seine Wirkung ist bei Männern stark, bei Frauen immerhin noch ziemlich stark (Tab. 3). Ein gegen Emanzipation gerichtetes Frauenbild stellt zwar ein „zentrales Attraktionsmoment“ bei der Hinwendung zum latenten Rechtsextremismus dar, für die Taxierung der NPD ist es allerdings von nachgeordneter Bedeutung. Besonders wichtig ist hier die

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Ideologie im Allgemeinen, die bei der Urteilsbildung der Männer eine deutlich größere Wirkung ausübt als bei der von Frauen. Charakteristisch für die Urteilsbildung der Männer sind also rechtsextreme Einstellungen, eine rechtsgerichtete ideologische Selbstidentifikation und die Unzufriedenheit mit der Demokratie, Faktoren, die unsere These bestätigen, dass die rechtsextremen Neigungen von Männern stark ideologisch fundiert und durch eine feindselige Haltung gegenüber der Demokratie geprägt sind. Charakteristisch für die Urteilsbildung der Frauen sind neben den beiden bereits genannten und bei ihnen vergleichsweise einflussreichen Prädiktoren folgende unabhängige Variablen, die allerdings nur etwas stärker als bei Männern mit der Bewertung der NPD korrelieren: politisches Selbstbewusstsein (negativ), politisches Interesse (negativ) und politische Unzufriedenheit (positiv). Die Zusammenhänge sind sehr schwach und sollten daher – auch mit Blick auf die geringen Differenzen zu den Männern – nicht überbewertet werden, aber die Parallelen zu den Korrelaten mit rechtsextremen Einstellungen (Tab. 3) sind unübersehbar: Die Affinität der Frauen zur NPD wächst mit zunehmender Distanz gegenüber dem politischen Geschehen und den Leistungen der etablierten Politik. Bei Männern ist die Unzufriedenheit mit der demokratischen Ordnung viel wichtiger für die Zuneigung zur NPD als bei Frauen. Da in den neunziger Jahren intensiv über die Bedeutung des politischen Interesses für das Wahlverhalten von Frauen diskutiert wurde, erfolgen dazu noch einige Hinweise auf der Grundlage unserer Daten. Männer sind politisch interessierter als Frauen: Sehr starkes politisches Interesse bekunden 17 Prozent der Männer, aber nur neun Prozent der Frauen. Völlig desinteressiert zeigen sich 13 Prozent der Männer und 25 Prozent der Frauen. Rechtsextremisten sind noch weniger politisch interessiert als der Durchschnitt der Befragten. Aber auch dann gilt, dass rechtsextreme Männer seltener politisch desinteressiert sind als rechtsextreme Frauen (20% zu 35%). Aus der Tatsache, dass sich (insbesondere rechtsextreme) Frauen weniger für Politik interessieren als (rechtextreme) Männer, sollten aber keine voreiligen Schlüsse gezogen werden. Denn das politische Interesse übt nur einen sehr geringen Einfluss auf die Entwicklung von rechtsextremen Einstellungen (Tab. 3) und auf die Evaluierung der NPD (Tab. 9) aus. Dies dürfte im Großen und Ganzen auch für das Wahlverhalten gelten. Dazu sind hier keine Angaben möglich, aber auch in der Literatur werden nur Potenziale, aber keine Zusammenhänge genannt. Ursächlich für das politische Desinteresse scheint mir das damit eng verbundene politische Selbstbewusstsein33 zu sein, das Gefühl also, kompetent und aussichtsreich auf politische Prozesse einwirken zu können (Vetter 2000). Ein geringes politisches Kompetenzgefühl weisen in unserer Befragung 42 Prozent der Männer und 60 Prozent der Frauen auf. Bei den rechtsextrem eingestellten Personen finden sich fast identische Größenordnungen: Männer 45 Prozent, Frauen 66 Prozent). Daher bewegen sich die Korrelationskoeffizienten auch auf einem sehr niedrigen Niveau, wobei das politische Selbstbewusstsein bei der Benotung der NPD noch eine geringere Rolle spielt als bei der Ausprägung von rechtsextremen Einstellungen (Tab. 3, 9). Dass Frauen dabei etwas bessere Messwerte aufweisen als Männer, ist kaum von Bedeutung. Wichtiger scheint mir die Tatsache zu sein, dass Frauen ihre Interventionschancen geringer einschätzen als Männer, und zwar unabhängig davon, ob sie rechtsextrem eingestellt sind oder nicht. Dies dürfte das Ergebnis von Erfahrungen mit ihrer doppelten Vergesellschaftung und/oder mit der patriarchalen Dominanzkultur sein. Ob sich die 33

POLINT und EFFIINT korrelieren sehr stark miteinander (r = ,601).

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Frauen den bestehenden Verhältnissen unterwerfen, ob sie sich mit ihnen nur abfinden oder sie sogar kritisch betrachten, lässt sich mit unseren Daten nicht beantworten. Bei der Regressionsanalyse (Tab. 10) bestätigt sich für Männer der dominante Einfluss von rechtsextremen Einstellungen auf die Zuneigung zur NPD. An zweiter Stelle folgt die Evaluierung der Linkspartei. Dass zwischen den Einschätzungen beider Parteien ein positiver Zusammenhang besteht, hatte sich schon bei den Korrelaten gezeigt (Tab. 9). Offenbar kommt damit die im Rechtsextremismus weit verbreitete Kapitalismuskritik zum Ausdruck (Stöss 2008), als deren Repräsentanten im Parteiensystem nicht nur die NPD sondern auch die Linkspartei angesehen wird. Bei den Frauen bildet die Begutachtung der Linkspartei sogar den stärksten Prädiktor für ihre Affinität zur NPD, gefolgt vom Rechtsextremismus. Dass Sexismus bei der Regressionsrechnung für beide Geschlechter unter den Tisch fällt, dürfte daran liegen, dass schon die Korrelationskoeffizienten gering ausfallen und ein Teil der Varianz im Prädiktor Rechtsextremismus „eingepreist“ sein dürfte. Beim Vergleich von rechtsextremen Männern und rechtsextremen Frauen ist zu bedenken, dass nur die Varianz der wenigen Messwerte oberhalb des Schwellenwerts der Rechtsextremismus-Skala zur Disposition steht. Nennenswerte (signifikante) Kovarianzen mit anderen Variablen dürften selten sein und erhalten dadurch eine besondere Bedeutung. Wenn beispielsweise rechtsextreme Einstellungen bei rechtsextremen Männern (wenn auch nur schwach) positiv mit der Wertschätzung der NPD korrelieren (Tab. 9), dann lernen wir daraus, dass sich selbst innerhalb des rechtsextremen Einstellungspotenzials die Taxierung der NPD mit steigenden Skalenwerten verbessert. Für Frauen gilt das nicht. Bemerkenswert ist vor allem, dass bei ihnen nun die Beurteilung der Linkspartei mit der der NPD mit einem Wert von r = ,478 korreliert. Dabei handelt es sich um den stärksten Koeffizienten, den wir im Laufe dieser Untersuchung gemessen haben. Beim weiblichen Rechtsextremismus hängt die Bewertung der NPD also in exorbitanter Weise von der Einschätzung der Linkspartei ab. Dies schlägt sich entsprechend bei den Regressionskoeffizienten nieder (Tab. 10). Bemerkenswert ist weiterhin, dass bei Rechtsextremisten die Benotung der NPD stark (negativ) vom Alter abhängt, mehr noch bei Männern als bei Frauen. Bei den rechtsextremen Männern folgen als Einflussfaktoren die ideologische Selbstidentifikation, die (negative) Evaluierung der SPD, die Unzufriedenheit mit der Demokratie, die Präferenz für staatsinterventionistische Ordnungsvorstellungen und schließlich – wie erwähnt – die positive Beurteilung der Linkspartei (Tab. 9). Bei der Regressionsanalyse für rechtsextreme Männer verbleiben nur noch das Alter, der Staatsinterventionismus und der Rechtsextremismus, bei rechtsextremen Frauen die Wertschätzung für die Linkspartei, das Alter und die LinksRechts-Selbsteinstufung (Tab. 10). Damit dürfte auch klar sein, warum rechtsextreme Frauen weniger Gefallen an der NPD finden als rechtsextreme Männer: Dass ihre Zuneigung zur NPD stark mit der Wertschätzung der Linkspartei korrespondiert, deutet darauf hin, dass diese Zuneigung vor allem auf ihrer prosozialen Orientierung bzw. auf ihrer Kritik an der Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik basiert und dass rechtsextreme Frauen auch in der Linkspartei eine mögliche Alternative im Parteiensystem sehen. Sie sind also nicht so stark auf die NPD fixiert wie rechtsextreme Männer, die von der NPD vorrangig aus ideologischen, systemfeindlichen Erwägungen angetan sind. Übrigens findet die gelegentlich vorgetragene These, dass Frauen eine „Abneigung gegenüber den Extremen“ (Hofmann-Göttig 1989b: 30) hätten, in unseren Daten keine Bestätigung.

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Tabelle 10: Signifikante standardisierte Regressionskoeffizienten (Beta) der Prädiktoren für die Beurteilung der NPD für alle Befragten und nur für Rechtsextremisten nach Geschlecht 2005 Männer REX URT_LP LIRE ALTER DEMOZU BILDUNG ANOMIA

Frauen ,265 ,241 ,212 -,162 -,117 -,093 ,077

URT_LP REX ALTER LIRE BILDUNG DEMOZU EFFIINT SCHICHT

2

2

R = ,277 ALTER STANEO REX

R = ,181 -,438 ,232 ,200

2

R = ,265 Signifikanzniveau der Beta-Werte 0,05. (Schrittweise) eingeführte Variablen: ALTER ANOMIA AUTOLIB BILDUNG DEMOZU EFFIINT LIRE POLINT POLUNZU REX SCHICHT SEX STANEO URT_CDU URT_CSU URT_B90 URT_FDP URT_LP URT_NPD

,236 ,194 -,189 ,155 -,124 -,114 -,092 ,089

Nur Rechtsextremisten URT_LP ALTER LIRE

,400 -,265 ,232 2

R = ,292

Alter in Jahren Orientierungslosigkeit, Macht- und Hilflosigkeit Politische Ordnungsvorstellungen: Autoritarismus vs. Libertarismus Schulabschluss Demokratiezufriedenheit Politisches Selbstbewusstsein Links-Rechts-Selbsteinstufung Politisches Interesse Politische Unzufriedenheit Rechtsextremismus Objektive Schichteinstufung Sexismus Politische Ordnungsvorstellungen: Staatsinterventionismus vs. Neoliberalismus Beurteilung der CDU Beurteilung der CSU Beurteilung der Bündnisgrünen Beurteilung der FDP Beurteilung der Linkspartei Beurteilung der NPD (abhängige Variable)

Das Alter stellt eine wichtige Variable dar, die den Unterschied zwischen latentem und manifestem Rechtsextremismus markiert. Rechtsextremen Einstellungen nehmen bei beiden Geschlechtern (bei Frauen mehr als bei Männern) mit wachsendem Alter zu. Beim Wahlverhalten zugunsten von rechtsextremen Parteien und bei der Evaluierung der NPD verhält es sich umgekehrt. Insbesondere bei Rechtsextremisten steigt die Wertschätzung der NPD mit abnehmendem Alter (bei Männern mehr als bei Frauen). Rechtsextreme Einstellungen und die Beurteilung der NPD unterscheiden sich auch hinsichtlich der Varianzaufklärung durch die zur Verfügung stehenden unabhängigen Variablen. Zunächst einmal korrelieren diese mit Rechtsextremismus (Tab. 3) zumeist stärker als mit der Einschätzung der NPD (Tab. 9). Vor allem aber erklären sie bei Männern 42 Prozent und bei Frauen immerhin noch 33 Prozent der Varianz der RechtsextremismusSkala (Tab. 4), während die entsprechenden Anteile für die Bewertung der NPD nur 28

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Prozent bzw. 18 Prozent betragen (Tab. 10), und dies, obwohl dabei noch zusätzliche Variablen berücksichtigt wurden. Dass die Aufklärungsquote bezüglich des Rechtsextremismus so gering ausfällt, haben wir oben mit dem Mangel an sozioökonomischen Variablen begründet, die gemeinhin als wichtige Ursachen für Rechtsextremismus gelten. Dass die diesbezügliche Aufklärungsquote für Frauen noch geringer ist als für Männer, haben wir zusätzlich auf das Fehlen von Variablen zur geschlechtsspezifischen Sozialisation zurückgeführt. All dies erklärt wohl kaum die dürftige Varianzaufklärung bei der Evaluierung der NPD. Ich vermute, dass dabei auch das Erscheinungsbild der Partei und tagespolitische Stimmungen eine Rolle spielen. Fazit: Die Befunde lassen sich wie folgt kondensieren:

Frauen finden genauso häufig Gefallen an der NPD wie Männer. Personen mit rechtsextremen Einstellungen bewerten die NPD wesentlich besser als der Durchschnitt der Befragten. Dabei besteht allerdings ein Unterschied zwischen den Geschlechtern: Rechtsextreme Männer stellen der NPD noch häufiger ein gutes Zeugnis aus als rechtsextreme Frauen. Wenn sich bei Männern zu rechtsextremen auch noch sexistische Einstellungen gesellen, wächst der Anteil der positiven Evaluierungen. Das Gegenteil ist bei rechtsextremen Frauen der Fall: Wenn sie über sexistische Orientierungen verfügen, fällt der Anteil der positiven Urteile (bezogen auf alle rechtsextremen Frauen) deutlich unterdurchschnittlich aus. Allerdings ist der Einfluss von Sexismus auf die Wertschätzung der NPD gering, bei Frauen noch geringer als bei Männern. Die Bedeutung des politischen Interesses für die Entwicklung von rechtsextremen Neigungen wird zumeist überschätzt. Es wirkt sich nur in sehr geringem Umfang auf die Verbreitung von rechtsextremen Einstellungen und auf die Beurteilung der NPD aus, bei Frauen allerdings etwas stärker als bei Männern. Maßgeblich für die Bewertung der NPD durch Männer sind rechtsextreme Einstellungen. Es folgen Unzufriedenheit mit der Demokratie, Anomie und eine rechtsgerichtete ideologische Selbstverortung. Bei Frauen sind diesbezüglich die Zuneigung zur Linkspartei und rechtsextreme Einstellungen vorrangig. Wenn nur die Affinität der Rechtsextremisten zur NPD betrachtet wird, dann erweisen sich bei Männern das Ausmaß an rechtsextremen Einstellungen und das Alter als herausragende Einflussfaktoren, bei Frauen die Wertschätzung für die Linkspartei und ebenfalls das Alter.

c) Gewaltbereitschaft Gewalt wurde in der Bundestagswahlstudie nicht abgefragt. Ich hatte allerdings die Möglichkeit, mit den Daten einer Untersuchung zu arbeiten, die Fragen sowohl zur Gewaltbereitschaft als auch zu Sexismus und Rechtsextremismus enthält. Es handelt sich um die für die Friedrich Ebert Stiftung durchgeführte Studie „Rechtsextreme Einstellungen und ihre Einflussfaktoren in Deutschland“ von Prof. Dr. Elmar Brähler und Kollegen (Universität

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Leipzig) aus dem Jahr 2006 (Decker/Brähler 2006). Brähler hat mir die Daten34 freundlicherweise zur Verfügung gestellt, wofür ich mich an dieser Stelle nochmals herzlich bedanke. Sturzbecher, Landua und Shahla (2001: 261) unterscheiden bei Gewalt zwischen der Akzeptanzebene, der Ebene der Verhaltensintentionen und der Handlungsebene35. Die sechs Statements der Brähler-Studie beziehen sich auf Akzeptanz und Verhaltensintentionen. Wir sprechen daher von Gewaltbereitschaft, wobei Gewaltbereitschaft nicht mit Gewalttätigkeit gleichgesetzt werden darf. Faktorenanalysen legen es nahe, zwischen aktiver und passiver Gewaltbereitschaft zu unterscheiden. Aktive Bereitschaft liegt vor, wenn eine Person ihre Bereitschaft erklärt, selbst unmittelbar Gewalt anzuwenden (z.B. „Ich bin in bestimmten Situationen durchaus bereit, auch körperliche Gewalt anzuwenden, um meine Interessen durchzusetzen“). Um passive Gewaltbereitschaft handelt es sich, wenn eine Person für sich selbst Gewalttätigkeit ausschließt, aber das Gewalthandeln anderer begrüßt (z.B. „Ich würde selbst nie körperliche Gewalt anwenden, finde es aber gut, wenn es Leute gibt, die auf diese Weise für Ordnung sorgen“). Die Formulierung der Statements haben bis auf eine Ausnahme36 keine inhaltliche Beziehung zum Rechtsextremismus. Wir untersuchen also nicht rechtsextreme Gewalt sondern Gewaltbereitschaft bei (nicht) rechtsextrem eingestellten Männern und Frauen. Bei der Zustimmung zu den Statements zur Gewaltbereitschaft fällt auf, dass passive Gewaltbereitschaft weiter verbreitet ist als aktive Gewaltbereitschaft und dass sich die Geschlechter nur hinsichtlich der aktiven Gewaltbereitschaft unterscheiden. Dies zeigt sich auch bei den Indizes (Tab. 11): Jeweils 16 Prozent der Männer und der Frauen weisen passive Gewaltbereitschaft auf, zu aktiver Gewaltbereitschaft bekennen sich zehn Prozent der Männer, aber nur vier Prozent der Frauen. Diese Befunde sprechen kaum dafür, dass es sich bei den Frauen schlechthin um das friedfertige Geschlecht handelt. Sie neigen zwar weniger als Männer zu selbsttätiger Gewalt, begrüßen aber genauso häufig wie diese das aggressive Verhalten von Dritten. Insofern hat die These eine gewisse Berechtigung, dass Frauen nicht selbst kämpfen, sondern kämpfen lassen. Damit ist allerdings die Behauptung widerlegt, dass Frauen auf Distanz zu Männern gingen, wenn sich rassistisches Verhalten mit „männlich-chauvinistischem Gebaren amalgamiert“.

34

N=4872. Die Rechtsextremismus-Skala REX_B[rähler] enthält dieselben sechs Statements wie die Bundestagswahlstudie 2005. Zu den Antwortvorgaben: Tab. 1 Nr. h. Der Sexismus-Index SEX_B[rähler] wurde aus folgenden beiden Statements gebildet: „Die Frauen sollen sich wieder mehr auf die Rolle der Ehefrau und Mutter besinnen“ und „Für eine Frau sollte es wichtiger sein, ihrem Mann bei seiner Karriere zu helfen, als selbst Karriere zu machen“. Für Gewaltbereitschaft stehen folgende Statements zur Verfügung: „Ich bin bereit, mich mit körperlicher Gewalt gegen Fremde durchzusetzen“, „Ich würde selbst nie körperliche Gewalt anwenden, finde es aber gut, wenn es Leute gibt, die auf diese Weise für Ordnung sorgen“, „Körperliche Gewalt gegen andere gehört ganz normal zum menschlichen Verhalten, um sich durchzusetzen“, „Ich bin in bestimmten Situationen durchaus bereit, auch körperliche Gewalt anzuwenden, um meine Interessen durchzusetzen“, „Man muss leider zu Gewalt greifen, weil man nur so beachtet wird“, „Selber würde ich nie Gewalt anwenden. Aber es ist schon gut, dass es Leute gibt, die mal ihre Fäuste sprechen lassen“. 35 Zum Diskussionsstand vgl. die Beiträge in Heitmeyer/Soeffner 2004. 36 „Ich bin bereit, mich mit körperlicher Gewalt gegen Fremde durchzusetzen“.

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Tabelle 11: Aktive (GEWAKT) und passive (GEWPAS) Gewaltbereitschaft bei allen Befragten und nur bei Rechtsextremisten in der Bundesrepublik nach Geschlecht 2006 (%) GEWAKT GEWPAS GEWAKT GEWPAS Daten: Brähler u.a.

Alle 7 16

Männer 10 16 Nur Rechtsextremisten 17 24 28 26

Frauen 4 16 9 30

Der Gender Gap beim Gewalthandeln ist aus der Jugendforschung bekannt und wird auch auf biologische Faktoren zurückgeführt: „Die Körperkraft beeinflusst insbesondere die Bereitschaft zu physischen Aggressionen und ist nicht zuletzt eine Ursache für die existierenden Geschlechtsunterschiede bei aggressivem Handeln. So bevorzugen Mädchen aufgrund ihrer physischen Unterlegenheit und ihres Vorsprungs bei der Entwicklung kommunikativer Fähigkeiten spätestens ab dem fünften Lebensjahr subtile bzw. verbale Formen der Aggressivität. Betrachtet man Reputationsschädigung und soziale Ausgrenzung als Formen von Aggressivität, so sind Mädchen bzw. Frauen auf jeder Altersstufe aggressiver als Jungen bzw. Männer.“ (Sturzbecher/Hess/Them 2002: 183 f.)

Die Ostdeutschen unterscheiden sich von den Westdeutschen weder in Bezug auf aktive noch auf passive Gewaltbereitschaft. Die Männer im Osten neigen jedoch etwas mehr zu passiver Gewaltbereitschaft als die im Westen, die ostdeutschen Frauen dafür etwas weniger als ihre westlichen Geschlechtsgenossinnen. Bemerkenswert ist zudem, dass sich westdeutsche Frauen geringfügig öfter zu passiver Gewaltbereitschaft bekennen als westdeutsche Männer. Rechtsextremisten sind deutlich gewaltbereiter als der Durchschnitt der Befragten. Das gilt insbesondere für die Ostdeutschen. Knapp ein Drittel der männlichen Rechtsextremisten im Beitrittsgebiet verfügt über aktive Gewaltbereitschaft! Und wiederum begrüßen die rechtsextremen westdeutschen Frauen passive Gewaltbereitschaft häufiger als die männlichen Rechtsextremisten in der alten Bundesrepublik, diesmal sogar wesentlich häufiger. Gewaltbereitschaft findet sich überdurchschnittlich bei gering Gebildeten, bei Arbeitslosen und einfachen Arbeitern, bei der Unterschicht. Befragte, die sich ideologisch eher rechts verorten und die über rechtsextreme oder sexistische Einstellungen verfügen, lassen ebenfalls erhebliche Gewaltbereitschaft erkennen, wobei Frauen bei der passiven Gewaltbereitschaft teilweise größere Anteile aufweisen als Männer. Die unteren Jahrgänge, vor allem die 14-17jährigen, zeichnen sich durch deutlich stärkere aktive Gewaltbereitschaft aus, als die mittleren und oberen Jahrgänge. Dies gilt jedoch nicht für passive Gewaltbereitschaft. Die statistischen Zusammenhänge berichtet Tabelle 12: Die Links-Rechts-Skala korreliert bei beiden Geschlechtern – wenn auch nur sehr schwach – positiv mit aktiver und passiver Gewaltbereitschaft. Gewaltbereitschaft wächst also mit einer rechten ideologischen Selbstverortung. Besonders eng fallen die Zusammenhänge mit rechtsextremen Einstellungen aus. Beim Rechtsextremismus handelt es sich mithin um eine tendenziell gewaltförmige Weltanschauung37. Ein Geschlechterunterschied macht sich nur bei der aktiven Gewalt37

„Besonders gefährlich jedoch, und dies kann wohl nicht oft genug betont werden, ist der Zusammenhang zwischen Rechtsextremismus und Gewalt. Wir können davon ausgehen, dass zwar längst nicht jeder Gewaltbereite

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bereitschaft bemerkbar: Sie wird bei Männern stärker durch Rechtsextremismus beeinflusst als bei Frauen. Derselbe Effekt zeigt sich – auf niedrigerem Niveau – beim Sexismus. Auch Sexismus stellt eine tendenziell gewaltförmige Überzeugung dar. Und auch dabei gilt, dass aktive Gewaltbereitschaft bei Männern stärker durch Sexismus geprägt ist als bei Frauen. Tabelle 12: Korrelate (r) von aktiver und passiver Gewaltbereitschaft mit mit ausgewählten Variablen nach Geschlecht 2006 Aktive Gewaltbereitschaft Männer Frauen **-,169 **-,075 **-,121 *-,051 **-,120 ,006 **,143 **,085 **,356 **,278 **,216 **,102

ALTER BILDUNG SCHICHT LIRE REX_B SEX_B Daten: Brähler u.a. ** Die Korrelation ist auf dem Niveau von 0,01 signifikant. * Die Korrelation ist auf dem Niveau von 0,05 signifikant. ALTER Alter in Jahren BILDUNG Schulabschluss LIRE Links-Rechts-Selbsteinstufung REX_B Rechtsextremismus (Brähler) SCHICHT Objektive Schichteinstufung SEX_B Sexismus (Brähler)

Passive Gewaltbereitschaft Männer Frauen -,029 ,029 **-,087 **-,060 **-,143 ,006 **,100 **,132 **,307 **,307 **,209 **,181

Fazit: Frauen sind offenbar nicht weniger aggressiv als Männer, aber ihre Bereitschaft zu gewalttätigem Handeln ist geringer. Einen Geschlechterunterschied konnte ich nur bei der aktiven Gewaltbereitschaft ermitteln. Tatsächlich neigen Frauen dazu, Gewalt zu delegieren. Daher sind sie wohl eher passive als aktive Mittäterinnen bei der Reproduktion der Dominanzkultur. Gewaltbereitschaft wird durch rechtsextreme Einstellungen begünstigt, im Weiteren dann auch durch Sexismus. Das gilt eher für Männer als für Frauen, eher für aktive als für passive Gewaltbereitschaft. Nachgerade besorgniserregend ist der Befund, dass knapp ein Drittel der ostdeutschen Männer bereit ist, Gewalt auszuüben.

7.

Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

Die Untersuchung befasst sich vorrangig mit folgenden Fragen: Warum wählen Frauen seltener rechtsextreme Parteien, warum begehen sie weniger rechtsextreme Straftaten als Männer, obwohl sie – so jedenfalls die herrschende Meinung – genauso häufig rechtsextreme Meinungen vertreten wie diese? Bezieht sich dieser Gender Gap tatsächlich nur auf Verhalten (manifester Rechtsextremismus) oder auch auf Einstellungen (latenter Rechtsextremismus)? Sind Männer oder Frauen vom sozialen Wandel, von den Individualisierungsund Desintegrationsvorgängen besonders betroffen? Welches der beiden Geschlechter hat mehr Anlass, seine problematische soziale Lage unter Zuhilfenahme von rechtsextremen Deutungsangeboten zu verarbeiten? Wenden sich Frauen dem Rechtsextremismus trotz rechtsextreme Meinungen vertritt. Umgekehrt ist jedoch nahezu jeder rechtsextreme Jugendliche bereit, Gewalt auszuüben.“ (Sturzbecher/Hess/Them 2002: 208)

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oder gerade wegen seines sexistischen – oder eben auch völkisch-biologistischen, auf einer vermeintlich naturgegebenen Rollenzuweisung beruhenden – Frauen- und Familienbilds zu? Und wie ist das bei Männern? Besteht überhaupt ein Zusammenhang zwischen Rechtsextremismus und Sexismus? Handelt es sich beim Sexismus womöglich sogar um einen Bestandteil des rechtsextremen Einstellungsmusters? Datenbasis der Untersuchung ist die Bundestagswahlstudie 2005. Gelegentlich werden aber auch andere Umfragen herangezogen.

a) Zum Gender Gap bei rechtsextremen Einstellungen Der Gender Gap besteht nicht nur beim manifesten Rechtsextremismus, er zeigt sich ebenfalls beim latenten Rechtsextremismus. Er ist gewissermaßen omnipräsent. Frauen sind eben grundsätzlich anders als Männer (und umgekehrt). In der Literatur finden sich viele Thesen, die in ihrer Pauschalität nicht zu halten sind, weil sie nicht zwischen rechtsextremen Einstellungen und rechtsextremem Verhalten und auch nicht zwischen Rechtsextremisten und Personen ohne rechtsextreme Einstellungen unterscheiden. Und oft stellen sich die Unterschiede zwischen den Geschlechtern auch diffiziler dar, als es der schlichte Vergleich von Einstellungspotenzialen nahe legt. Das betrifft insbesondere die Anfälligkeit von Männern und Frauen für Rechtsextremismus. Die Forschung hat diesbezüglich verschiedene Befunde zutage gefördert, sodass sich als herrschende Lehre die Auffassung durchgesetzt hat, dass im Großen und Ganzen keine geschlechtsspezifische Resistenz gegenüber rechtsextremen Einstellungen besteht. Dem soll hier auch nicht widersprochen werden, obwohl in unserer Umfrage Männer wesentlich häufiger zum Rechtsextremismus neigen als Frauen. Viel interessanter scheint mir die Frage zu sein, worauf sich die widersprüchlichen Resultate gründen. Unsere Untersuchungen zeigen, dass die Messergebnisse auch von der formalen Gestaltung der Messinstrumente, insbesondere der Antwortvorgaben, abhängen. So tendieren Frauen häufiger als Männer dazu, sich auf den Antwortskalen mittig einzustufen. Wenn eine erkennbare Mitte fehlt (wie bei unserer Befragung), weichen sie oft in die Antwortverweigerung oder in untere Skalenwerte aus. So finden sich in unseren Daten wesentlich mehr weibliche als männliche „Nonrespondents“. Wenn eine Antwortskala eine explizit benannte neutrale Mitte enthält (z.B. „teils-teils“), ist die Anzahl der Ausfälle verschwindend gering. Männer scheuen sich seltener als Frauen, auch hohe Punktwerte bei einzelnen Statements zu vergeben. Im Ergebnis verfügen sie, wie Analysen mit der kumulierten Rechtsextremismus-Skala zeigen, über ein konsistenteres rechtsextremes Weltbild als Frauen. Dass geschlechtsspezifische Faktoren bei der Bewertung von Rechtsextremismus-Statements eine Rolle spielen, zeigt sich auch daran, dass sich Frauen der Auseinandersetzung mit „schwierigen“ Statements häufiger verweigern als Männer. Dies führe ich darauf zurück, dass sie sich weniger für Politik interessieren und sich weniger politische Kompetenz zubilligen als Männer und daher eher vor der Beantwortung von heiklen politischen Fragen zurückweichen.

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b) Rechtsextreme und sexistische Einstellungen Der herrschaftstheoretische und der modernisierungstheoretische Ansatz nähern sich der Geschlechterproblematik im Rechtsextremismus aus verschiedenen Perspektiven. Beide schließen sich gegenseitig jedoch nicht aus sondern ergänzen sich. Das Verdienst des herrschaftstheoretischen Ansatzes besteht darin, dass er auf den engen Zusammenhang zwischen rassistischen, völkisch-nationalistischen und sexistischen Bestrebungen als zwei Formen von Diskriminierung, Hierarchisierung und Unterwerfung hingewiesen und begründet hat, warum auch Frauen von einer patriarchalen Dominanzkultur profitieren können. Dass dieser Zusammenhang tatsächlich besteht, und zwar bei Männern und Frauen, konnten wir zweifelsfrei nachweisen. Damit war auch eine erste Antwort auf die Frage gegeben, ob sich Frauen dem Rechtsextremismus trotz oder gerade wegen seines antiemanzipatorischen Weiblichkeitsideals zuwenden: Die Ausprägung von rechtsextremen Einstellungen wird stark durch sexistische Orientierungen begünstigt. Beide Geschlechter erwarten sich vom Rechtsextremismus also – wenn auch aus unterschiedlichen Motiven – die Sicherung des (angeblich bedrohten) Patriarchats durch ein traditionalistisches Frauen- und Familienkonzept. Den Frauen geht es letztlich um Anerkennung, Aufwertung und Orientierungssicherheit, den Männern um die Bewahrung bzw. Stärkung ihrer dominanten gesellschaftlichen Stellung. Der enge Zusammenhang zwischen Sexismus und Rechtsextremismus legte die Bildung eines Index nahe, der beide Orientierungen miteinander verbindet. Detaillierte Analysen ergaben freilich, dass er kaum die Anforderungen an ein konsistentes und zuverlässiges Messinstrument erfüllt. Theoretisch steht diese Kombination auch auf schwachen Füßen. Denn in der Literatur wurde insbesondere von afro-amerikanischen Frauen darauf hingewiesen, dass es sich bei Rassismus/Rechtsextremismus und Sexismus um zwei sehr unterschiedliche Qualitäten von Diskriminierung handelt. Daher wurde Sexismus als Prädiktor für Rechtsextremismus herangezogen. Die Leistungen des modernisierungstheoretischen Ansatzes bestehen darin, dass er den Blick dafür geschärft hat, dass aus den besonderen Sozialisationserfahrungen und gesellschaftlichen Existenzbedingungen von Männern und Frauen unterschiedliche Motive und Intensitäten bei der Hinwendung zum Rechtsextremismus resultieren. Das macht sich schon beim Verhältnis von Rechtsextremismus und Sexismus bemerkbar: Bei Männern fällt der statistische Zusammenhang stärker aus als bei Frauen, ihnen ist die Gewährleistung der patriarchalen Dominanzkultur durch den Rechtsextremismus also wichtiger als den Frauen. Auch im Kontext weiterer Erklärungsfaktoren für rechtsextreme Einstellungen spielt Sexismus bei beiden Geschlechtern eine maßgebliche Rolle und kann daher durchaus als zentrales Attraktionsmoment des Rechtsextremismus bezeichnet werden. Dies trifft wiederum eher auf Männer als auf Frauen zu. Hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Erklärungsfaktoren für rechtsextreme Einstellungen unterscheiden sich Männer und Frauen nicht grundsätzlich. Allerdings enthält unser Datensatz keine Variablen zur geschlechtsspezifischen Sozialisation. Wenn allerdings die Größe der Einstellungspotenziale verglichen werden, machen sich durchaus Besonderheiten bemerkbar: So weisen durchschnittlich 11 Prozent aller Frauen, aber 21 Prozent aller rechtsextremen Frauen sexistische Einstellungen auf, während 21 Prozent aller Männer und sogar 46 Prozent aller rechtsextremen Männer über sexistische Orientierungen verfügen. Es ist also nicht auszuschließen, dass sich rechtsextreme Frauen (und Männer) auch für die Gleichberechtigung der Geschlechter einsetzen.

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An der positiven Assoziation von Rechtsextremismus und Sexismus ändert das freilich nichts. Männer zeichnen sich überdies nicht nur durch ein konsistenteres rechtsextremes Weltbild aus, sie sind auch ideologischer ausgerichtet und folgen dem antidemokratischen Kernanliegen des Rechtsextremismus häufiger als Frauen. Diese unterscheiden sich von den Männern vor allem durch ein geringeres Interesse am politischen Geschehen und halten sich diesbezüglich auch öfter für inkompetent als Männer. Kurz: Der weibliche Rechtsextremismus ist eher durch Distanz gegenüber der Politik geprägt, der männliche eher durch Distanz gegenüber der Demokratie.

c) Zum Gender Gap bei Wahlen Männer wählen nach wie vor häufiger rechtsextreme Parteien als Frauen. Aber nicht nur darin besteht der Geschlechterunterschied. Am Beispiel der NPD konnte gezeigt werden, dass sie mit ihrer Stimmabgabe auch unterschiedliche Ziele verfolgen. Männer wählen die NPD eher aus Überzeugung, Frauen eher aus Protest. Diese sind sich ihrer Parteipräferenz auch nicht so sicher wie Männer und entscheiden sich zumeist erst kurz vor der Wahl, während Männer häufiger über eine Bindung an die NPD verfügen und sich daher zumeist schon vor längerer Zeit auf die Partei festgelegt haben. Bei den wahlentscheidenden Themen sticht bei Männern die Ausländerpolitik hervor, also das klassische, mit einer „Ausrufezeichen-Botschaft“ (z.B. „Ausländer raus!“) versehene Thema des Rechtsextremismus, das sich nahtlos in seine völkisch-nationalistische Ideologie einfügt. Frauen nennen dagegen eher „weiche“ Themen, wie Schul- und Bildungspolitik, Wirtschaftspolitik und soziale Gerechtigkeit. Das spricht dafür, dass sie sich bei ihrer Wahlentscheidung vor allem von der Enttäuschung über die etablierten Parteien, von ihrer Unzufriedenheit mit dem auf ihre Alltagsbedürfnisse bezogenen Politikoutput leiten lassen. Es geht ihnen offenbar tatsächlich um die Verbesserung ihrer Lage als Hausfrauen und Mütter. Unsere Untersuchungen über die Beurteilung der NPD deuten darauf hin, dass der Gender Gap seine Existenz nicht den Frauen schlechthin, sondern nur den rechtsextremen Frauen verdankt. Frauen finden nämlich genauso häufig Gefallen an der NPD wie Männer. Der Geschlechterunterschied tritt erst bei Personen mit rechtsextremen Einstellungen zutage. Sie bewerten die NPD zwar insgesamt häufiger positiv als der Durchschnitt der Befragten, das trifft auf rechtsextreme Männer allerdings anderthalb Mal so oft zu wie auf rechtsextreme Frauen. Von der Beurteilung der NPD darf zwar nicht auf die Wahl der NPD geschlossen werden. Ich gehe allerdings davon aus, dass die Wahlchancen der Partei mit ihrer positiven Evaluierung – insbesondere durch Personen mit rechtsextremen Einstellungen – wachsen. Bei der Ursachenanalyse offenbart sich, dass rechtsextreme Einstellungen einen maßgeblichen Prädiktor für die Beurteilung der NPD darstellen. Sie wirken sich bei Männern jedoch nachhaltiger aus als bei Frauen. Dies gilt entsprechend für rechtsextreme Männer. Bei rechtsextremen Frauen steht allerdings die Wertschätzung der Linkspartei mit weitem Abstand an erster Stelle. Sie sind nicht so stark auf die NPD fixiert wie (rechtsextreme) Männer und betrachten auch die Linkspartei als mögliche politische Alternative im Sinne ihrer Alltagsbedürfnisse. Sexismus hat bei der Hinwendung zur NPD längst nicht die Bedeutung, die ihm in der Literatur zugeschrieben wird. Sexismus korreliert nur sehr schwach mit der Beurteilung der

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NPD, bei Frauen noch schwächer als bei Männern. Da es sich um einen positiven und hoch signifikanten Zusammenhang handelt, gilt generell, dass das traditionalistische Frauen- und Familienbild der NPD durchaus eine gewisse Anziehungskraft auf Männer und Frauen ausübt. Die Annahme, dass Frauen dadurch eher abgestoßen werden, dass sie kein Interesse an Parteien haben, die vornehmlich Männerbelange vertreten, trifft in dieser Pauschalität also nicht zu. Richtig ist allerdings, dass die Alltagsbedürfnisse der Frauen wesentlich mehr Einfluss auf die Wertschätzung der NPD ausüben als ihre sexistischen Vorstellungen. Das bedeutet im Umkehrschluss aber auch, dass die Frauen der NPD nicht vorrangig wegen ihres patriarchalen Gesellschaftsbildes ein gutes Zeugnis ausstellen. Dies gilt sinngemäß auch für Männer. Deren Zuneigung zur NPD gründet sich primär auf ihr rechtsextremes Weltbild. Männer erwarten sich von der NPD zwar auch die Gewährleistung der patriarchalen Dominanzkultur, aber eben nur als nachgeordnetes Motiv für eine positive Beurteilung der Partei. Wenn der Blick nicht auf statistische Zusammenhänge sondern auf Einstellungspotenziale gerichtet wird, dann ergibt sich, dass sich die sehr geringen Korrelationen in bemerkenswerten Größenordnungen niederschlagen: 23 Prozent aller Männer mit sexistischen Einstellungen, aber 38 Prozent aller rechtsextremen Männer mit sexistischen Einstellungen bewerten die NPD positiv. Dagegen finden 15 Prozent der sexistischen, aber nur (etwa) 12 Prozent der zugleich rechtsextremen und sexistischen Frauen Gefallen an der NPD. Diese Befunde verweisen auf eine beachtliche Anzahl von Männern und erst Recht von Frauen, die sich der NPD trotz ihres reaktionären Weiblichkeitsideals zuwenden. Noch mehr als Sexismus wird in der Literatur die Bedeutung des politischen Interesses für die positive Evaluierung der NPD überschätzt. Frauen sind zwar politisch desinteressierter als Männer, aber daraus sollten keine weitreichenden Schlussfolgerungen gezogen werden. Politisches Interesse korreliert zwar negativ mit der Rechtsextremismus-Skala und mit der Beurteilung der NPD, aber die Zusammenhänge fallen nur sehr schwach aus. Dass sie bei Männern etwas geringer sind als bei Frauen, ist unerheblich. Frauen schätzen ihre politischen Interventionschancen eben schlechter ein als Männer, unabhängig davon, ob sie rechtsextrem eingestellt sind oder nicht. Und damit liegen sie schließlich auch nicht völlig neben der Spur. Meine These lautet also, dass der Gender Gap beim Wahlverhalten im Wesentlichen auf divergierenden Zielvorstellungen von rechtsextremen Männern und rechtsextremen Frauen beruht. Erstere sind vor allem aus ideologischen Gründen auf rechtsextreme Parteien fixiert, letzteren geht es eher um ihre Alltagsprobleme als Hausfrauen und Mütter. Darum hegen sie auch gewisse Sympathien für Linksaußenparteien. Die Vermutung, dass Frauen aus denselben Gründen wie Männer rechtsextreme Parteien wählen38, bestätigt sich mit unseren Daten also nicht.

d) Zur Gewaltbereitschaft von Frauen In der Literatur finden sich viele – teilweise auch empirisch belegte – Hinweise darauf, dass sich Frauen gegenüber Männern durch Emotionalität, Fürsorglichkeit, Rücksichtnahme und Einfühlsamkeit auszeichnen und eher humane und soziale Werte vertreten. Gleichzeitig wird 38

„Aus diesen Ergebnissen kann gefolgert werden, dass Frauen im Wesentlichen aus den gleichen Gründen wie Männer rechtsextreme Parteien wählen. Die ideologischen Motive sind hierfür Autoritarismus, Nationalismus und Rassismus, aber auch Antisemitismus und Antifeminismus.“ (Amesberger/Halbmayr 2002c: 420)

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ihnen aber auch genauso viel Aggressivität bescheinigt wie Männern. Nach unseren Untersuchungen unterscheiden sich die Geschlechter nicht hinsichtlich der passiven Gewaltbereitschaft, wohl aber in Bezug auf die aktive Gewaltbereitschaft. Frauen sind kaum das friedfertige Geschlecht, sie kämpfen in der Regel aber nicht selbst, sondern lassen kämpfen. Da Frauen Gewalt delegieren, lässt sich ihre Zurückhaltung bei der Wahl von rechtsextremen Parteien kaum mit dem aggressiven Erscheinungsbild dieser „Männerparteien“ erklären39. Vielmehr handelte es sich bei einem entsprechenden Votum um einen Akt der Gewaltdelegation. Da wir den Gender Gap im Wahlverhalten auf die Verarbeitung der Alltagsprobleme von rechtsextremen Frauen und Müttern zurückführen, stützen wir in gewissem Umfang auch die These von der Fürsorglichkeit der Frauen. Möglicherweise bezieht sich diese bei rechtsextremen Frauen vor allem auf Mitglieder der „Volksgemeinschaft“, während sich ihre Aggressivität hauptsächlich gegen „Volksfeinde“ oder Fremde richtet. Die Bereitschaft zur Ausübung von Gewalt hängt vom Ausmaß der rechtsextremen Einstellungen einer Person ab, bei Männern noch mehr als bei Frauen. Beim Rechtsextremismus handelt es sich mithin unabhängig vom Geschlecht um eine gewaltförmige Ideologie. Dies gilt entsprechend für Sexismus. Auch sexistische Orientierungen fördern die Gewaltbereitschaft, wiederum bei Männern stärker als bei Frauen. Für die Hinwendung der Frauen zum Rechtsextremismus erweist sich also weder sein traditionelles Frauen- und Familienbild noch sein aggressiver Charakter als hinderlich.

e) Gemeinsamkeiten und Unterschiede von latentem und manifestem Rechtsextremismus bei Männern und Frauen Bevor wir uns mit den Unterschieden zwischen latentem und manifestem Rechtsextremismus bei Männern und Frauen befassen, zwei Anmerkungen zu den Gemeinsamkeiten: Erstens dürfte der ideologische Kernbestand des Rechtsextremismus, also völkischer Nationalismus, für Männer und Frauen auf der Einstellungs- und Verhaltensebene identisch sein. Ursprünglich hatte ich die Vermutung, dass zwischen einem maskulinen, sexistisch geprägten und gewalttätigen Rechtsextremismus und einem femininen Rechtsextremismus ohne sexistische Färbung und besondere Aggressivität zu unterscheiden sei und dass sich dieser Unterschied eher beim manifesten als beim latenten Rechtsextremismus offenbart. Das hat sich empirisch jedoch nicht bestätigt. Zweitens scheint Übereinstimmung hinsichtlich der groben sozialstrukturellen Grundlagen des latenten und manifesten Rechtsextremismus bei Männern und Frauen zu bestehen. Beim Rechtsextremismus handelt es sich primär um ein Unterschichtenphänomen, das vor allem bei Arbeitern, Arbeitslosen und Rentnern auftritt. Entscheidend ist – das hat Siller zutreffend angemerkt -, wie die soziale Lage gedeutet wird und welche Handlungsorientierungen daraus abgeleitet werden. Wenn der soziale Status allerdings differenziert erhoben wird (genauer Berufsstatus, Modernität des Arbeitsplatzes, Prekarität des Beschäftigungsverhältnisses etc.), dann macht sich die Omnipräsenz des Gender Gap bemerkbar (Stöss/Fichter/Kreis/Zeuner 2004: 112 ff.)40.

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„Bei allen ... Parteien gibt es Hinweise dafür, dass der aggressive politische Stil dieser Parteien oder einiger Persönlichkeiten Frauen auf Distanz hält.“ (Amesberger/Halbmayr 2002c: 420) 40 Dabei handelt es sich allerdings um einen üblichen Effekt: Je feingliedriger die Subgruppenanalyse, desto differenzierter die Einsichten.

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Der wohl eklatanteste Unterschied zwischen latentem und manifestem Rechtsextremismus besteht darin, dass ersterer mit wachsendem Alter zunimmt, während letzterer mit wachsendem Alter abnimmt. (Dies verweist einmal mehr auf die Notwendigkeit, deutlich zwischen Einstellungen und Verhalten zu trennen.) Dabei verhalten sich die statistischen Zusammenhänge bei den Geschlechtern spiegelbildlich: Beim latenten Rechtsextremismus sind sie bei Frauen etwas enger, beim manifesten Rechtsextremismus fallen sie dagegen bei Männern etwas stärker aus. Bei der Interpretation dieser Differenzen ist zu beachten, dass es sich durchweg um sehr schwache Korrelationen handelt. Dass es sich vor allem um junge Leute handelt, die zu vom Mainstream abweichendem Verhalten neigen, dürfte an ihrem problematischen, jedenfalls ungefestigten sozialen Status liegen und an eigenständigen Normen, Werten und Gesellungsformen, die mangelnde soziale Integration in die Erwachsenenwelt und zugleich politische Opposition gegen das Establishment zum Ausdruck bringen. Dass es gerade männliche Jugendliche sind, die zu Gewalt neigen, mag zusätzlich mit ihrer physischen Konstitution zu tun haben. Passive Gewaltbereitschaft korreliert nämlich nicht mit dem Alter, und aktive Gewaltbereitschaft variiert bei Männern etwas stärker negativ mit dem Alter als bei Frauen. Latenter und manifester Rechtsextremismus unterscheiden sich auch hinsichtlich ihrer Beziehung zum Sexismus. Beim Sexismus handelt es sich zwar um einen maßgeblichen Prädiktor für rechtsextreme Einstellungen, bei der Hinwendung zu rechtsextremen Parteien und bei der Bereitschaft zu gewalttätigem Handeln spielt er aber nur eine nachgeordnete Rolle. Die rechtsextreme Mentalität schließt zwar antiemanzipatorische, auf Diskriminierung, Hierarchisierung und Unterwerfung gerichtete Elemente ein, steuert aber Verhalten nur partiell. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass 12 Prozent der Bürger rechtsextrem eingestellt sind, aber nur 2,2 Prozent bei der Bundestagswahl 2005 die NPD oder die Republikaner wählten. Für die Wahlentscheidung sind neben ideologischen Dispositionen eben auch andere Faktoren verantwortlich, wie etwa die Popularität von Personen, die Vordringlichkeit einzelner Sachfragen, die Zuweisung von Kompetenzen, die Wahlkampfführung und die Wahlchancen einzelner Parteien und schließlich tagespolitische Stimmungen. Den Geschlechterunterschied beim Wahlverhalten zugunsten von rechtsextremen Parteien haben wir damit erklärt, dass es sich primär auf rechtsextreme Frauen bezieht: Frauen neigen zwar grosso modo genauso häufig zu rechtsextremem Gedankengut wie Männer, bei Wahlen verhalten sie sich dann jedoch flexibler oder auch „rationaler“ als diese, indem sie ihre Entscheidung nicht nur an ideologischen, sondern auch an konkreten Alltagsbedürfnissen ausrichten und daher Sympathien auch für andere Parteien empfinden, die diese Bedürfnisse zu berücksichtigen scheinen. Im Kontext aller Determinanten des Wahlverhaltens verliert Sexismus als eigenständige Einflussgröße an Bedeutung, insoweit er nicht bereits beim Rechtsextremismus mitgedacht wird. Im Übrigen sind sexistische Einstellungen in der Bevölkerung nicht sehr weit verbreitet, und auch im rechtsextremen Lager ufert die Nachfrage nach anachronistischen Frauen- und Familienkonzepten nicht gerade aus: So verfügt nur ein Fünftel der rechtsextremen Frauen und knapp die Hälfte der rechtsextremen Männer über sexistische Orientierungen. Dass die Nachfrage bei (rechtsextremen) Männern größer ist als bei (rechtsextremen) Frauen, bedeutet offenbar, dass sich Männer von den verbreiteten Emanzipations- und Gleichstellungstendenzen stärker bedroht fühlen und sich häufiger nach einem geordneten Patriarchat sehnen als Frauen.

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Wahlverhalten

Das Michigan-Modell des Wahlverhaltens und die subjektive Sicht der Wähler. Zur Korrespondenz der Effekte von Parteineigung, Kandidatenbewertungen und Urteilen zu politischen Sachthemen mit der subjektiven Begründung von Wahlentscheidungen Das Michigan-Modell des Wahlverhaltens und die subjektive Sicht der Wähler

Steffen Kühnel und Anja Mays

1.

Einleitung

Das Michigan-Modell, benannt nach der Universität, aus dem die Wissenschaftler kamen, die das Modell bereits in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelten (vgl. Campbell/Gurin/Miller 1954, Campbell et al. 1960), ist in der empirischen Wahlforschung der dominante Ansatz zur Erklärung und Prognose des Wahlverhaltens. In der gängigen aber verkürzten Darstellung dieses Ansatzes (vgl. Falter/Schoen 2005). Nach diesem Ansatz lässt sich die Wahlentscheidung für einen Kandidaten oder eine Partei auf drei zentrale Prädiktoren zurückführen, die Parteibindung oder Parteiidentifikation, die Sicht auf politische Sachthemen (Issues) und die Beurteilung der zur Wahl stehenden Personen (Kandidatenbewertung). Der Erfolg des Michigan-Modells dürfte vor allem darin liegen, dass sich die in Umfragen berichtete Wahlabsicht vor einer Wahl bzw. das berichtete Wahlverhalten nach einer Wahl sehr gut auf Antworten auf – vor dem Hintergrund dieses Modells – formulierte (standardisierte) Fragen zurückführen lassen. Mit dem Modell lassen sich zudem im Aggregat tatsächliche Wahlausgänge und in Wiederholungsbefragungen individuelles zukünftiges Verhalten prognostizieren. Dies gilt nicht nur für die USA als Herkunftsland des Modells, sondern für eine Vielzahl weiterer Staaten, u.a. auch für die Bundesrepublik (z.B. Klingemann/Taylor 1977, Falter/Rattinger 1983, Norpoth/Yantek 1983, Jagodzinski/Kühnel 1990, Gabriel 1997, Klein/Ohr 2000, Ohr 2000, Schoen 2004a,b, Dülmer 2005, Kellermann/Rattinger 2005, Rosar/Ohr 2005, Gabriel/Keil 2007). Obwohl das Modell auch bei uns sehr erfolgreich angewendet wird, gibt es überraschenderweise kaum Untersuchungen darüber, ob die durch das Modell postulierten Determinanten des Wahlverhaltens auch die subjektive Sicht der Wähler über die Gründe und Motive ihrer Wahlentscheidungen wiederspiegeln. Für eine rein technizistische Anwendung des Modells mag eine Korrespondenz zwischen wissenschaftlichen Erklärungsfaktoren und bewussten Motiven irrelevant sein. Aus normativ demokratietheoretischer Perspektive ist es dagegen nicht ganz unwichtig, ob die Wähler sich quasi automatisch verhalten oder ob sie bewusste Wahlentscheidungen treffen. Wir wollen in diesem Beitrag daher untersuchen, ob es eine Korrespondenz zwischen den Determinanten des Michigan-Ansatzes und den Gründen gibt, die die Befragten als Wahlmotive nennen. Bei den subjektiven Gründen greifen wir auf drei halboffene Fragen

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Steffen Kühnel und Anja Mays

aus der Nachwahlbefragung zur Bundestagswahl 2005 „Bürger und Parteien“ zurück, in denen im Anschluss an Fragen zu dem Wahlverhalten bei der Bundestagswahl erfasst wurde, warum die Befragten mit ihrer Zweitstimme die zuvor genannte Partei gewählt haben. Die dort genannten Gründe haben wir im Sinne des Michigan-Modells als Hinweise für das Vorliegen einer Parteibindung, für die Bedeutung politischer Sachthemen und für Kandidatenbewertungen kodiert. Wenn es eine Korrespondenz zwischen den genannten Wahlgründen und den Determinanten des Wahlverhaltens nach dem Michigan-Ansatz gibt, dann sollten sich Unterschiede bei den Wahldeterminanten zwischen Befragten zeigen, die explizit einen korrespondierenden Wahlgrund nennen oder aber dies nicht tun. Zunächst werden wir jedoch das in der Nachwahlbefragung berichtete Wahlverhalten in der Tradition des Michigan-Ansatzes auf die Parteibindung der Befragten, ihre Urteile zu politischen Sachthemen und ihre Kandidatenbewertungen zurückführen.

2.

Die Vorhersagekraft des Michigan-Modells in der Nachwahlbefragung

Um die Vorhersagekraft des Michigan-Modells auch für die Bundestagswahl 2005 zu zeigen, werden wir mit einem statistischen Analysemodell die in der Umfrage berichtete Zweitstimme vorhersagen. Dabei beschränken wir uns auf Befragte, die nach eigenem Bekunden eine der nach der Wahl in den Bundestag vertretenen Parteien bzw. Fraktionsgemeinschaften Linkspartei.PDS, Bündnis90/Grüne, SPD, CDU/CSU und FDP gewählt haben.1 Für die Parteibindung verwenden wir eine sechsstufige Skala mit den Polen 0 für „keine Parteibindung“ zu dieser Partei und 5 für „sehr starke Bindung“ zu dieser Partei2. Da in der Analyse fünf Parteien berücksichtigt werden, gibt es auch fünf parteispezifische Parteibindungsvariablen, von denen jedoch nur maximal eine einen Wert größer Null aufweisen kann. Für die Berücksichtigung der Urteile zu politischen Sachthemen haben wir drei unterschiedliche Konstrukte berücksichtigt, die jeweils sehr abstrakt sind, aber gleichwohl geeignet erscheinen, unterschiedliche politische Sichten zu erfassen. Zum einen wird die Kompetenz der Parteien zur Lösung der aus der Sicht der Befragten drei wichtigsten Probleme erfragt, die es in der Bundesrepublik zu lösen gilt. Die Problemlösungskompetenz der Parteien haben wir als additive Indizes konstruiert, wobei die Lösung für das wichtigste Problem vierfach zählt, für das zweitwichtigste zweifach und für das drittwichtigste Ziel einfach. Dabei wird nur dann parteienspezifische Problemlösungskompetenz zugewiesen, wenn nur eine Partei und nicht alle in der Lage sind, ein Problem zu lösen. Jede der fünf Parteien erhält so einen Kompetenzwert zwischen Null und maximal Sieben, wobei der kleinste Wert dann vorkommt, wenn eine Partei kein Problem (besser als andere) lösen kann, und der Maximalwert, wenn nur diese Partei alle drei wichtigsten Probleme lösen kann. 1

Der Einfachheit halber haben wir die Parteien entsprechend ihrer Position auf der Links-Rechts-Dimension angeordnet. 2 Grundlage sind zwei Fragen, in denen zunächst gefragt wird, ob eine Parteibindung zu einer (einzigen) Partei vorliegt und bei einer positiven Antwort, wie stark diese sei. Die Frageformulierungen und Antwortvorgaben für diese Fragen und aller weiteren sind im Anhang am Ende dieses Beitrags dokumentiert.

Das Michigan-Modell des Wahlverhaltens und die subjektive Sicht der Wähler

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Als Indikator für die Übereinstimmung mit den politischen Positionen der Parteien haben wir die ideologischen Distanzen der durch einen Befragten wahrgenommenen Position einer Partei auf der Links-Rechts-Skala zu der Position des Befragten selbst gemessen. Da in der Nachwahlbefragung eine 11-stufige Antwortskala für die Links-Rechts-Position verwendet wird und wir die absoluten Differenzen als Distanzmaß verwenden, kann jede Partei eine Distanz zur Position des Befragten zwischen Null und Zehn aufweisen, wobei der kleinste Wert auftritt, wenn die Position von Befragten und Partei identisch ist oder ein Befragter sich bzw. die jeweilige Partei nicht positionieren kann.3 Obwohl die LinksRechts-Skala an sich inhaltsleer ist, hat sie sich doch in der Bundesrepublik als eine (vereinfachende) Orientierungsgröße für die politischen Postionen von Parteien und Personen bewährt (vgl. Klingemann/Fuchs 1990 und Jagodzinski/Kühnel 1994). Als dritten Indikator für die Beurteilung politischer Sachthemen haben wir die retrospektive Beurteilung der Regierungsleistung vor der Bundestagswahl herangezogen. Der Wertebereich variiert hier zwischen −3 für „sehr unzufrieden“ mit der Regierungsleistung und +3 für „sehr zufrieden“. Der Wert Null wird verwendet, wenn die Befragten sich nicht in der Lage sahen, die Regierungsleistung auf der ursprünglich sechsstufigen Skala ohne Mittelpunkt zu bewerten. Für die Erfassung der Kandidatenbewertung haben wir zum einen die Kanzlerpräferenz berücksichtigt. Dazu haben wir zwei dichotome 0/1-kodierte Variablen gebildet, die den Wert 1 erhalten, wenn die Kanzlerkandidatin der CDU/CSU bei der Bundestagswahl 2005 Angela Merkel bzw. der Kanzlerkandidat der SPD Gerhard Schröder präferiert wird.4 Als zweites Maß für die Kandidatenbeurteilungen haben wir für jede Partei die Beurteilung ihrer Spitzenkandidaten auf der 11-stufigen Skala von −5 für „halte überhaupt nichts von der Politikerin/dem Politiker“ bis +5 für „halte sehr viel von der Politikerin/dem Politiker“ herangezogen. Da die Zahl der in der Umfrage aufgeführten Politiker über die Parteien von eins bei der FDP bis vier bei der CDU/CSU variiert, haben wir jeweils den Durchschnittswert aller Kandidatenbeurteilungen einer Partei als Maß für die Bewertung ihrer Spitzenkandidaten herangezogen. Als statistisches Analysemodell zur Bestimmung der Vorhersagekraft der aufgeführten Determinanten des Michigan-Modells auf die Parteienwahl spezifizieren wir ein konditionales Logitmodell (vgl. Andreß/Haagenars/Kühnel 1997: 306ff). In diesem Modell wird für jede Partei als Ausprägung der abhängigen Variable Parteiwahl eine lineare Vorhersagefunktion spezifiziert, in die die jeweiligen parteibezogenen Determinanten sowie gegebenenfalls weitere parteiunspezifische Prädiktoren eingehen, die Eigenschaften der Personen erfassen. Für die parteibezogenen Determinanten können parteienspezifische Gewichte oder auch für alle Parteien gleiche Gewichte geschätzt werden. Da die parteiunspezifischen Prädiktoren in den linearen Vorhersagewerten aller Parteien jeweils den gleichen Wert aufweisen, müssen für diese Variablen jeweils eigene Regressionsgewichte für jede Partei geschätzt werden. Bei fünf Parteien können aber nur jeweils maximal vier Regressionsgewichte geschätzt werden. Dies liegt daran, dass das Analysemodell aus den Vorhersagewer3

Wenn ein Befragter nicht in der Lage ist, Positionen auf der Links-Rechts-Skala anzugeben, kann er auch keine Distanzen zu den Parteien wahrnehmen, die sein Wahlverhalten beeinflussen. 4 Bettina Westle zeigt in ihrem Beitrag „Die Spitzenkandidatin Angela Merkel (CDU/CSU) und der Spitzenkandidat Gerhard Schröder (SPD) in der Wahrnehmung der Bevölkerung bei der Bundestagswahl 2005“ (in diesem Band), dass die Eigenschaftsbeurteilungen der Kandidaten mit der Kanzlerpräferenz korrelieren, die daher von uns als zusammenfassende Bewertung herangezogen wird.

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Steffen Kühnel und Anja Mays

ten die Wahrscheinlichkeiten schätzt, mit der eine Person eine der fünf Parteien wählt. Da sich die Wahrscheinlichkeiten über alle Parteien zu Eins summieren müssen, reichen vier Wahrscheinlichkeiten aus, um jeweils die fünfte zu berechnen. Bei parteiunspezifischen Prädiktoren wird daher (mindestens) ein Regressionsgewicht auf Null gesetzt. Die zugehörige Partei wird als Referenzgruppe bezeichnet. Um von den linearen Vorhersagegleichungen zu Wahrscheinlichkeiten zu gelangen, werden sie antilogarithmiert (als Potenzen der Eulerschen Zahl e aufgefasst), wodurch negative Werte zu Zahlen zwischen Null und kleiner Eins und positive Werte zu Zahlen größer Eins werden. Die Zahl Null wird zu Eins. Die vorhergesagte Wahrscheinlichkeit der Wahl einer Partei ist dann der Quotient aus dem Antilogarithmus der jeweiligen Vorhersagefunktion geteilt durch die Summe der Antilogarithmen aller Vorhersagefunktionen. Tabelle 1 zeigt die Ergebnisse der Modellschätzung. In der ersten Spalte sind die Namen der Determinanten aufgeführt, in der zweiten Spalte die Parteien, deren lineare Vorhersagegleichung mit dem in der dritten Spalte aufgeführten geschätzten Regressionsgewicht durch die Determinante beeinflusst wird. Positive Gewichte bedeuten, dass die Vorhersagegleichung ansteigt, negative Werte, dass die Vorhersagegleichung sinkt. Die durch Sternchen angegebenen Signifikanzniveaus werden über Quotienten der Gewichte geteilt durch die in der vierten Spalte aufgeführten Standardfehler berechnet.5 Tabelle 1: Determinanten der Zweitstimme bei der Bundestagswahl 2005 Prädiktor Parteineigung Problemlösungskompetenz Ideologische Distanz Regierungsleistung Präferenz für Schröder Präferenz für Merkel Kandidatenskalometer Erhebungsgebiet Osten Konstante

/

Wirkung auf Linke, Grüne SPD, CDU/CSU, FDP Linke, Grüne, FDP SPD, CDU/CSU Alle Parteien Grüne, SPD PDS, Grüne CDU/CSU, FDP Linke, Grüne, SPD PDS Grüne, SPD, CDU/CSU, FDP FDP PDS Grüne CDU/CSU FDP

Gewicht (b) 0.760** 0.394** 0.365** 0.097** −0.151** 0.313** −0.438* −1.520** −1.327** 0.478** 0.229** −0.841** −0.656** −0.750** 0.111 −0.413

Standardfehler 0.0668 0.0296 0.0478 0.0230 0.0327 0.0638 0.2060 0.2456 0.2513 0.0436 0.0391 0.2394 0.2000 0.1947 0.1820 0.2235

Effekt:exp(b) 2.138 1.483 1.440 1.102 0.860 1.367 0.645 0.219 0.265 1.613 1.258 0.431 0.519 0.472 1.117 0.662

2

R : 60.2% (χ : 3373.2; df=12; Pr: <0.001) ; n=1963 ** signifikant auf dem Niveau von p<.01, * signifikant auf dem Niveau von p<.05. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, ML-Schätzung.

Die letzte Spalte enthält die Antilogarithmen der Gewichte. Der jeweilige Wert gibt an, um welchen Faktor sich das Wahrscheinlichkeitsverhältnis zu den übrigen Parteien verändert, wenn der jeweilige Prädiktor bei der Partei um +1 Einheit ansteigt.

5

Die geschätzten Regressionskoeffizienten sind über verschiedene Stichproben asymptotisch normaverteilt. Ist der Quotient größer 1.96 ist das Regressionsgewicht im zweiseitigen Hypothesentest mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von 5% signifikant. Ein Quotient größer als 2.576 ergibt eine Signifikanz bei 1% Irrtumswahrscheinlichkeit.

Das Michigan-Modell des Wahlverhaltens und die subjektive Sicht der Wähler

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Alle Regressionsgewichte der Determinanten der Parteiwahl sind bei einer Irrtumswahrscheinlichkeit von 5% signifikant von Null verschieden. Eine Parteineigung zugunsten der Linkspartei/PDS oder der Grünen erhöht das Wahrscheinlichkeitsverhältnis diese Partei statt einer anderen zu wählen um den Faktor 2.138, wenn die Parteineigung sehr schwach ist. Bei einer sehr starken Parteineigung (Wert = 5) erhöht sich das Verhältnis sogar um den Faktor 44.7 (=2.1385). Deutlich geringer ist der Effekt, der Parteineigung für SPD, CDU/ CSU oder FDP, wo der Anstieg der Parteineigung um +1 Einheit die Wahrscheinlichkeitsverhältnisse gegenüber den anderen Parteien um den Faktor 1.483, also 48.3% erhöht. Bei der Problemlösungskompetenz als ersten Indikator für politische Sachthemen zeigen sich bei PDS, Grünen und FDP deutlich größere Effekte als bei den beiden großen Parteien SPD und CDU/CSU. Ein Anstieg um eine Einheit erhöht die Wahrscheinlichkeitsverhältnisse zugunsten dieser Parteien um 10.2%, bei den kleinen Parteien dagegen um 44.0%. Die ideologische Distanz wirkt sich bei allen Parteien gleich aus. Erhöht sich die Distanz um 1 Einheit auf der Links-Rechts-Skala sinkt das Wahrscheinlichkeitsverhältnis für die Partei um14%. Ein Anstieg der Bewertung der Regierungsleistung um +1 Einheit erhöht nach der Modellschätzung die Chancen der beiden ehemaligen Regierungsparteien um 36.7%. Bei der Kandidatenbeurteilung zeigt sich, dass eine Präferenz für Schröder als Kanzler die Wahlchancen der SPD gegenüber allen Parteien verbessert, aber unterschiedlich deutlich für PDS und Grüne und für CDU/CSU und FDP. Die Wahrscheinlichkeitsverhältnisse der beiden linken Parteien sinken gegenüber der SPD jeweils um 35.5%, die der beiden rechten Parteien jeweils um 78.1%. Wird Merkel als Kanzlerin präferiert hat dies keine Auswirkungen auf das Verhältnis der CDU/CSU zur FDP. Die Wahrscheinlichkeitsverhältnisse von PDS, Grünen und SPD sinken dagegen um 73.5%. Bei den Bewertungen der Spitzenkandidaten der Parteien zeigen sich Unterschiede zwischen PDS und FDP einerseits und Grünen, SPD und CDU/CSU andererseits. Steigt die Sympathie für die Kandidaten von PDS bzw. FDP um +1 Einheit, erhöht dies die Wahrscheinlichkeitsverhältnisse zugunsten dieser Parteien um 61.3%. Bei den drei anderen Parteien ist der Anstiegt mit 25.8% deutlich geringer. Neben den Determinanten des Michigan-Modells enthält das Modell als einzigen weiteren Prädiktor das Erhebungsgebiet, da sich das Wahlverhalten in den alten und neuen Bundesländern unterscheidet. Die Analyse zeigt jedoch, dass der Wohnort der Befragten sich nur auf die Wahlchancen der FDP auswirkt. Verglichen mit den alten Ländern ist in den neuen Ländern bei Kontrolle der übrigen Variablen das Wahrscheinlichkeitsverhältnis der Wahl der FDP gegenüber den übrigen Parteien um 56.9% geringer. Oben haben wir die Vermutung geäußert, dass der Erfolg des Michigan-Modells in der empirischen Wahlforschung vor allem Ergebnis seiner großen Vorhersagekraft ist. Dies zeigt sich auch bei unseren Daten. Die sogenannte Erklärungskraft des Modells gemessen an der Devianzreduktion beträgt R/ = 60.2%, was ein außerordentlich hoher Wert ist. Die Devianz kann als ein Maß für die Unterschiedlichkeit (Streuung) der Realisierungen bei einer nominalskalierten Variable aufgefasst werden (Kühnel/Krebs, 2004: 96ff.). Bei Kenntnis der Werte der Determinanten der Wahlbeteiligung sinkt die Devianz um 60.2% verglichen mit der Devianz der univariaten Parteienwahl. Allerdings geht in den Wert auch die Kenntnis des Erhebungsgebiets ein. Berechnet man die Devianzreduktion gegenüber einem Modell, das die unterschiedliche Randverteilung in den alten und neuen Ländern berücksichtigt, sinkt die Devianz immer noch um 58.7%.

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Steffen Kühnel und Anja Mays

Die Prognosekraft des Modells zeigt sich auch, wenn mit Hilfe der geschätzten Wahrscheinlichkeiten das tatsächliche Wahlverhalten geschätzt werden soll. Wird dabei die Wahl der Partei vorhergesagt, die die relativ größte Auftretenswahrscheinlichkeit hat, ergibt sich das in Tabelle 2 wiedergegebene Bild. In den Spalten sind die vorhergesagten Parteien aufgelistet. Von den 209 prognostizierten Wählern der Linkspartei/PDS haben 182 berichtet, diese Partei tatsächlich gewählt zu haben, 7 haben tatsächlich Bündnis 90/Grüne gewählt, 13 die SPD, 5 die CDU oder CSU und 2 die FDP. Analog sind die Werte in den anderen Spalten zu lesen. Tabelle 2: Vorhersage der Parteienwahl Vorhergesagte Parteienwahl Summe Gewählte Partei Linke Grüne SPD CDU/CSU FDP 182 4 38 13 4 241 Linkspartei.PDS Bündnis 90/Grüne 7 86 65 11 2 171 SPD 13 11 698 22 9 753 CDU/CSU 5 1 28 550 22 606 FDP 2 1 24 84 81 192 Summe 209 103 853 680 118 1963 Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, Berechnung auf Basis der Ergebnisse aus Tabelle 1.

Für alle fünf Parteien gilt, dass das Maximum in jeder Spalte die Zahl der korrekten Prognosen angibt. Bei den Linken sind 87.1% der Prognosen korrekt, bei den Grünen 83.5%, bei der SPD 81.8%, bei der CDU/CSU 80.9% und bei der FDP 68.6%. Mit Ausnahme der FDP liegt bei allen Parteien die Quote der Fehlprognosen unter 20%. Insgesamt wird für 81.4% die Parteienwahl korrekt vorausgesagt. Auf der Basis der Randverteilungen sind dagegen nur 38.4% der Prognosen korrekt. Die Zahl der Fehlprognosen reduziert sich daher bei der Schätzung des Wahlverhaltens nach dem Michigan-Ansatz um gut 70%. Auch bei den Daten der Wahlnachbefragung zur Bundestagswahl 2005 kann also mit Hilfe des Michigan-Modells das (berichtete) Wahlverhalten gut nachvollzogen werden. Im Folgenden wollen wir prüfen, ob die Determinanten des Wahlverhaltens nach dem Michigan-Modell auch mit den Angaben der Befragten zu ihren subjektiven Wahlmotivationen korrespondieren.

3.

Die subjektiven Gründe der Befragten für ihre Parteienwahl

In der Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“ wurde einige Fragen nach der Erfassung des Wahlverhaltens bei der Bundestagswahl 2005 nach den Gründen gefragt, die nach der Ansicht befragten Personen für ihre Entscheidung, die mit der Zweitstimme genannte Partei zu wählen am wichtigsten waren. Dazu wurde ein halboffenes Frageformat verwendet, bei dem auf einer ausliegenden Liste 8 mögliche Wahlmotive aufgeführt waren und die Nennung weiterer nicht angegebener Gründe durch die Vorgabe „Ein anderer Grund, und zwar: …“ möglich wurde. Mittels zweier Nachfragen konnten maximal drei Gründe für die jeweilige Entscheidung bei der Zweitstimme angegeben werden. Die Vorgabe der acht möglichen Antworten führte dazu, dass nur 129 der insgesamt genannten 4748 Antworten in den drei Fragen frei formuliert worden. Es ist nicht überraschend, dass die Antwortvorgaben bereits eine gewisse Nähe zum Michigan-Modell zeigen.

Das Michigan-Modell des Wahlverhaltens und die subjektive Sicht der Wähler

319

Es fiel uns daher nicht schwer, die Antworten im Sinne von Hinweisen für das Vorlegen von Determinanten des Michigan-Modells zu verkoden. Eine Parteibindung als Wahlgrund unterstellen wir, wenn die Befragten die Antwortvorgabe „Meine Verbundenheit mit einer Partei“ nannten, oder in den freien Antworten angaben, eine Partei stärken zu wollen. Als Hinweis für die Bedeutung von politischen Sachthemen im Sinne von Kompetenz sehen wir es, wenn Befragte die Antwortvorgabe „Die Fähigkeiten der Parteien zur Lösung von Problemen, die mir besonders wichtig sind“ wählten. Die Betonung von politischen Vorstellungen sehen wir bei der Antwortvorgabe „Die politischen Ziele und Positionen der Parteien“. Für die retrospektive Bewertung steht die Vorgabe „Die Arbeit der letzten Bundesregierung“. Die Betonung der Kandidatenbewertung sehen wir als gegeben an, wenn entweder die Vorgabe „Die Kanzlerkandidaten, Gerhard Schröder und Angela Merkel“ oder „Die TVDebatte zwischen den Kanzlerkandidaten“ genannt wurde. Die Bedeutung der Kandidaten wird aber auch betont, wenn „Die sonstigen Politiker und Politikerinnen, die die Parteien aufgestellt haben“ genannt wurde. Tabelle 3 zeigt die Häufigkeiten der Nennungen. 8.1% aller Antworten lassen sich als Hinweis auf eine Parteibindung interpretieren. Eine Sachthemenorientierung weisen 38.2% aller Antworten auf, darunter nennen 21.8% die Problemlösungskompetenz der Parteien, 29.9% Ziele und Positionen und 9.8% die Arbeit der letzten Regierung. Schließlich beziehen sich 22.1% aller Antworten auf Kandidaten, darunter 18.4% auf die Person der Kanzlerkandidatin bzw. des Kanzlerkandidaten. Tabelle 3: Ausgewählte Gründe der Parteienwahl Wahlgrund Parteibindung

N

in% der Fälle

in % der Antworten

386

15.2

8.1

1033 1422 464 1814

40.7 56.0 18.3 71.4

21.8 29.9 9.8 38.2

Kanzlerkandidaten 875 34.4 Kandidaten insgesamt 1051 41.4 Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnung

18.4 22.1

Kompetenz Ziele und Positionen Letzte Regierung Issues Insgesamt

Aufgrund der Antwortvorgaben kann die Häufigkeitsverteilung der Antworten nicht als Hinweis auf eine mögliche Korrespondenz zwischen den tatsächlichen subjektiven Entscheidungsgründen für die Parteienwahl und den Determinanten der Parteienwahl nach dem Michigan-Model interpretiert werden. Wir wollen daher im Folgenden eine andere Strategie wählen, um das Bestehen oder Nichtbestehen eines Zusammenhangs zwischen individuellen Wahlgründen und den Determinanten unserer Wahlanalyse aus Tabelle 1 zu überprüfen.

320 4.

Steffen Kühnel und Anja Mays Zusammenhänge zwischen subjektiven Wahlgründen und den Determinanten des Michigan-Modells

Bei der Anwendung des Michigan-Modells zur Vorhersage der Parteienwahl haben wir ausschließlich Daten herangezogen, die auf den Antworten vorgegebener (standardisierter) Fragen basieren, die wir als Indikatoren zur Messung von Parteineigung, Urteilen zu politischen Fragen und Kandidatenbewertungen sehen. Die subjektiven Einschätzungen der Befragten über ihre Motive oder Gründe, die eine und nicht eine andere Partei zu wählen, spielen hierbei keine Rolle. Wenn es jedoch einen Zusammenhang zwischen den Erklärungsgrößen des MichiganModells und den subjektiven Wahlmotiven gibt, dann sollte die Verteilung der Determinante in der Gruppe, die den Wahlgrund nennt von der Verteilung bei einer komplementären Gruppe abweichen, die diesen Wahlgrund nicht nennt. So sollte etwa der Mittelwert der Parteineigung bei Befragten in der Gruppe, die eine Parteibindung als Grund für ihre Wahlentscheidung nennen, höher ausfallen, als in der Gruppe, die diesen Grund nicht nennt. Analog lässt sich erwarten, dass diejenigen, die die Problemlösungskompetenz als Wahlgrund nennen eher dazu tendieren, Problemlösungskompetenzen nur einer einzigen Partei zuzuschreiben. Umgekehrt sollten diejenigen, die diesen Grund nicht nennen, keiner Partei oder allen Parteien gleichmäßig Kompetenz zuschreiben. Bezogen auf die in unsere Logitanalyse verwendeten Kompetenzindizes für die Parteien erwarten wir, dass der Mittelwert des Maximums über die fünf Indizes in der Gruppe mit Nennung des Wahlgrunds Lösungskompetenz höher ausfällt als in der komplementären Gruppe. Wenn die politischen Ziele und Positionen der Parteien als Grund für die Wahlentscheidung genannt werden, dann sollte dies mit der Verteilung der Distanzen der Parteien auf der Links-Rechts-Skala korrespondieren. Konkret erwarten wir, dass die Personen in dieser Gruppe stärkere Unterschiede zwischen den ideologischen Positionen der Parteien wahrnehmen. Dies sollte sich in einer größeren Varianz über die Distanzen zwischen Befragten und Parteien ausdrücken. Wird die Arbeit der vergangenen Regierung als Grund für die Wahlentscheidung genannt, dann erwarten wir, dass dieser Personenkreis zu extremeren Urteilen bei der Bewertung der letzten Regierung neigt als Personen, die andere Gründe angeben. Um dies zu prüfen, werden die Absolutbeträge der von −3 bis +3 laufenden Bewertungsskala herangezogen. Der Mittelwert der vorzeichenbereinigten Skala sollte unter denjenigen höher ausfallen, die die Regierungsarbeit nennen. Wird für die Wahlentscheidung auf die Kanzlerkandidaten hingewiesen, dann erwarten wir, dass der Anteil derjenigen, die eine eindeutige Kanzlerpräferenz haben, in dieser Gruppe größer als in der Korrespondenzgruppe ist. Auch sollte in dieser Gruppe der mittlere Abstand der absoluten Differenz der Kandidatenbewertung größer sein als in der Kontrollgruppe. Werden generell Politiker als relevant für die Wahlentscheidung benannt, dann erwarten wir eine größere Streuung über die mittleren Politikerbewertungen der Parteien. Diese Überlegungen lassen sich in 7 Hypothesen zusammenfassen, die wir anschließend prüfen wollen:

H1: Der Mittelwert der Parteineigungsstärke ist größer, wenn eine Parteibindung genannt wird.

Das Michigan-Modell des Wahlverhaltens und die subjektive Sicht der Wähler

321

H2: Der Mittelwert des Maximums über die Parteikompetenzskalen ist höher, wenn die Problemlösungskompetenz der Partei genannt wird. H3: Der Mittelwert der Varianzen über die Distanzen zu den Parteien ist höher, wenn die politischen Positionen und Ziele als relevant genannt werden. H4: Der Mittelwert der vorzeichenbereinigten Skala zur Bewertung der Regierungsleistung ist höher, wenn die Arbeit der letzten Regierung als Wahlgrund genannt wird. H5: Der Anteil derjenigen, die eine Präferenz für einen der beiden Kanzlerkandidaten haben ist höher, wenn bei den Wahlgründen auf die Bedeutung der Kanzler hingewiesen wird. H6: Der Mittelwert bei der vorzeichenbereinigten Differenz der Sympathieskalometer der Kanzlerkandidaten ist höher, wenn bei den Wahlgründen auf die Bedeutung der Kanzler hingewiesen wird. H7: Der Mittelwert der Varianzen der mittleren Bewertungen der Kandidaten ist höher, wenn bei den Wahlgründen auf die zur Wahl stehenden Politiker verwiesen wird.

Tabelle 4: Determinanten der Zweitstimme bei der Bundestagswahl 2005 Hypothese Grund genannt Nicht genannt Standardfehler Teststatistik H1: Parteineigungsstärke 3.76 2.70 0.072 14.6** 4.52 4.18 0.113 3.0** H2:Maximale Parteikompetenz H3: Varianz ideolog. Distanz 4.14 3.71 0.167 2.6* H4: Betrag Leistungsbewertung 1.76 1.49 0.041 6.5** 89.7% 69.1% 1.848 11.1** H5:Anteil mit Kanzlerpräferenz H6: Betrag Sympathiedifferenz 4.29 3.33 0.129 7.5** 6.76 5.88 0.214 4.1** H7: Varianz Kandidatenbewert. ** signifikant auf dem Niveau von p<.01, * signifikant auf dem Niveau von p<.05. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Beerchnung

Bestätigung Ja Ja Ja Ja Ja Ja Ja

Die Ergebnisse der Hypothesenprüfung sind in Tabelle 4 zusammengefasst. Zu jeder Hypothese sind die jeweiligen Gruppenmittelwerte (bzw. bei H5 die Prozentanteile) der transformierten Determinanten des Michigan-Modells angegeben, die dem Wahlgrund entsprechen, der zur Bildung der Gruppen führte. Die Standardfehler in der dritten Spalte wurden jeweils unter der Annahme ungleicher Varianzen in den Gruppen berechnet. Nur bei H5 impliziert die Nullhypothese der Gleichheit der Anteile auch die Gleichheit der Populationsvarianzen. Die bei zutreffender Nullhypothese asymptotisch normal- bzw. t-verteilte Teststatistik ist der Quotient der Werte der zweiten und dritten Spalte geteilt durch den Standardfehler. Die Mittelwertdifferenzen gehen alle in die durch die Nullhypothesen postulierten Richtungen. So ist die Stärke der Parteineigung im Mittel höher, wenn Befragte der Ansicht sind, Parteibindung sei der Grund für ihre Wahlentscheidung (H1). Auch ist die im Mittel die maximale Parteikompetenzbewertung über die 5 Parteien bei den Befragten größer, die angeben, dass die Problemlösungskompetenz für ihre Wahlentscheidung relevant war (H2). Die Varianzen der Distanzen der Parteien zu den Positionen auf der Links-Rechtsskala sind größer, wenn Befragte angeben, dass politische Positionen und Ziele der Parteien wahlrelevant sind (H3). Der Abstand zur neutralen Mitte bei der Leistungsbewertung der vergangenen Regierung ist größer, wenn die Arbeit der alten Regierung als wahlrelevant gesehen wird (H4). Wenn die Kanzlerkandidaten als wichtig für die Wahlentscheidung angesehen werden, dann ist auch der Anteil derjenigen größer, die eine eindeutige Präferenz zugunsten

322

Steffen Kühnel und Anja Mays

von Angela Merkel oder aber Gerhard Schröder angeben können (H5). In dieser Gruppe ist auch die Distanz zwischen den Sympathiewerten der beiden Kandidaten im Mittel größer (H6). Schließlich sind die Varianzen über die Spitzenkandidatenbewertungen der verschiedenen Parteien größer, wenn die aufgestellten Politiker eine subjektive Rolle für die Wahlentscheidung spielen (H7). Die Ergebnisse bestätigen also unsere Hypothesen in vollem Maße. ür unsere Vermutungen spricht auch, dass die Mittelwertdiffenzen zum großen Teil veschwinden, wenn andere Gruppen betrachtet werden. So z.B. gibt es keine signifikante Differenz bei der Stärke der Parteineigung, wenn zwischen denjenigen unterschieden wird, für die die Problemlösungskompetenz der Parteien besonders wahlrelevant ist. Dies weist darauf hin, dass die genannten Wahlgründe tatsächlich bedeutsam sind. Auf der anderen Seite ist zu bedenken, dass jeweils nur bivariate Beziehungen betrachtet wurden. Wir wollen daher die Korrespondenz zwischen den Determinanten des Michigan-Modells und Wahlmotiven noch auf eine andere Weise prüfen. Dazu berechnen wir für die jeweiligen Komplementärgruppen getrennt Logitanalysen zur Erklärung der Parteienwahl. Dabei erwarten wir, dass sich die Gewichte der linearen Vorhersagewerte in den beiden Komplementärgruppen unterscheiden, die mit der Gruppendefinition korrespondieren. So sollten z.B. die Regressionsgewichte der Parteineigung geringer sein, wenn die Parteibindung nicht als entscheidungsrelevant bezeichnet wird. Tabelle 5: Vergleiche der Regressionsgewichte in den Komplementärgruppen Hypothese Grund genannt Nicht genannt Standardfehler Teststatistik Parteiverbundenheit - Linke + Grüne 0.785 0.729 0.207 0.3 - SPD + CDU/CSU + FDP. 0.761 0.347 0.111 3.7 Lösungskompetenz 0.519 0.100 - Linke + Grüne + FDP 0.250 −2.7 0.119 0.047 - SPD + CDU/CSU 0.072 −1.4 Ziele und Positionen 0.071 −0.152 −0.171 −0.3 - alle Parteien Regierungsarbeit 0.591 0.286 0.170 1.8 - Grüne + SPD Kanzlerkandidaten n.s. n.s. 0.005 0.478 Schröder: PDS+Grüne −1.4 −0.624 0.536 Schröder: CDU/CSU + FDP −1.251 −1.783 −1.0 0.566 Merkel: PDS+Grüne+SPD −0.968 −1.973 −1.8 Politiker 0.355 0.600 0.094 - PDS + FDP −2.1 0.195 0.288 0.083 - Grüne + SPD + CDU/CSU −1.1 n.s:.nicht signifikant. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnung

Bestätigung ja, aber n.s. ja nein nein nein ja, aber n.s. ja, aber n.s. ja, aber n.s. ja, aber n.s. nein nein

In Tabelle 4 sind die Ergebnisse festgehalten. Aus den Werten in der ersten Spalte geht jeweils hervor, auf welche Wahlgründe sich die Gruppierung bezieht und welche Regressionsgewichte für welche Parteien in den Logitanalysen angesprochen sind. Die zugehörigen Determinanten sind Parteineigung bei der Parteiverbundenheit, Kompetenz bei den Problemen, Ideologische Distanz bei Zielen und Positionen, Regierungsleistung bei Regierungshandeln, Präferenz für Schröder bzw. Merkel bei Kanzlerkandidaten und Kandidatenskalometer bei Politiker. Geschätzt werden alle Regressionskoeffizienten des konditio-

Das Michigan-Modell des Wahlverhaltens und die subjektive Sicht der Wähler

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nalen Logitmodells aus Tabelle 1 aufgeführt. In der zweiten Spalte sind die geschätzten Koeffizienten für die Gruppe, die den jeweiligen Wahlgrund nannte, in der dritten Spalte die Koeffizienten für die Komplementärgruppe. Da die Gruppen unabhängig voneinander sind, berechnen sich die in der vierten Spalte wiedergegebenen Standardfehler der Differenzen der Schätzungen zwischen den beiden Gruppen als positive Quadratwurzel aus der Summe der quadrierten Standardfehler der einzelnen Koeffizientenschätzungen. Die asymptotisch normalverteilten Teststatistiken sind dann wieder die Quotienten aus den Differenzen der Werte in der dritten Spalte von denen der zweiten Spalte geteilt durch die Standardfehler in der vierten Spalte. Im Unterschied zu den ersten Tests (Tabelle 4) bestätigen sich hier unsere Vermutungen kaum. Von 11 Koeffizientenvergleichen haben nur 6 das erwartete Vorzeichen, und nur einer dieser Koeffizienten ist bei einer Irrtumswahrscheinlichkeit von 5% signifikant von Null verschieden.6 Umgekehrt weisen aber zwei Tests auf signifikante Differenzen entgegengesetzt zu unseren Vermutungen hin.

5.

Diskussion

Wir haben in diesem Beitrag untersucht, ob sich ein empirischer Zusammenhang feststellen lässt zwischen den Determinanten des Wahlverhaltens nach dem in der empirischen Wahlforschung vorherrschenden Michigan-Modell und den Gründen, die Wähler für ihre individuellen Wahlentscheidungen angeben. Dazu haben wir zunächst der Logik des MichiganModels folgend die in der Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“ berichteten Zweitstimmenvergabe bei der Bundestagswahl 2005 in einem Analysemodell auf die Parteineigung der Befragten, ihre Beurteilung der Problemlösungskompetenzen der Parteien, der wahrgenommenen Abstände zwischen den Positionen der Parteien einerseits und der Befragten andererseits auf einer Links-Rechts-Skala, ihrer Beurteilungen der Leistungen der alten Regierung vor der Wahl, der Präferenz für einen der Kanzlerkandidaten und ihre allgemeinen Bewertungen der Spitzenkandidaten der Parteien zurückgeführt. Mit Hilfe der aus den Daten geschätzten Regressionsgewichte lässt sich das berichtete Wahlverhalten sehr gut vorhersagen. In der Nachwahlbefragung konnten die Befragten zudem bis zu drei Gründe nennen, die ihrer Ansicht nach für ihre Wahlentscheidung bei der Zweitstimmenabgabe am wichtigsten waren. Für diese Fragen wurde ein halboffenes Antwortformat gewählt, bei dem acht mögliche Gründe zur Auswahl vorgegeben wurden und weitere Gründe genannt werden konnten. Die genannten Gründe wurden – wenn möglich – von uns als Hinweise für die Relevanz der Determinanten des Wahlverhaltens nach dem Michigan-Modell gedeutet. Dass dies bei sehr vielen der genannten Gründe der Fall war, ist noch kein Hinweis für eine Korrespondenz zwischen dem Michigan-Modell und der subjektiven Sicht der Wähler, sondern Folge der Antwortvorgaben und nachträglichen Kategorisierungen. Unser Argument lautet, dass sich nur dann von einem Zusammenhang sprechen lässt, wenn es zwischen Personengruppen, die einen Entscheidungsgrund nennen, der mit einer Determinante des Wahlverhaltens nach dem Michigan-Modell korrespondiert, und Personengruppen, die diesen Grund nicht nennen, spezifizierbare Unterschiede in der Verteilung 6

Bei einem einseitigen Test ist zusätzlich auch die Differenz zwischen den Gruppen bei der Regierungsleistung bei 5% Irrtumswahrscheinlichkeit signifikant.

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der entsprechenden Determinante gibt. Wir haben hierzu sieben Hypothesen formuliert und empirisch geprüft. Alle Hypothesen konnten bestätigt werden. In einem weiteren Analyseschritt wurde geprüft, ob sich in den statistischen Analysemodellen zur Vorhersage der Parteienwahl nach dem Michigan-Modell die Regressionsgewichte in einer vorhersagbaren Weise unterscheiden, wenn die Modelle getrennt für Gruppen geschätzt werden, die einen spezifischen Wahlgrund nennen bzw. dies nicht tun. Im Unterschied zur Prüfung über unterschiedliche Verteilungen haben sich unsere Erwartungen hier nur zu einem geringen Teil bestätigt. Dass sich die Modellkoeffizienten nicht so verhielten, wie erwartet, liegt möglicherweise daran, dass durch die Gruppenbildung die Variationen der Prädiktoren beeinflusst werden. Dies kann zu unvorhergesehenen Auswirkungen auf die Schätzungen geführt haben. Um hier zu einem abschließenden Ergebnis zu kommen, sind weitere Analysen notwendig. Für unsere Fragestellung wichtiger sind uns die konkreten empirischen Hinweise darauf, dass die Determinanten des Wahlverhaltens nach dem Michigan-Modell sich auch in den subjektiven Sichten der Wähler finden lassen. Die Wähler scheinen sich bei ihrer Wahlentscheidung durchaus bewusst danach zu orientieren, ob die vergangene Regierung ihre Sache gut oder schlecht machte, welche konkurrierenden Kompetenzen die Parteien für Problemlösungen haben, welche Positionen die Parteien vertreten, welche Kandidaten sie aufstellen und nicht zuletzt, ob sie Bindungen zu einer Partei entwickelt haben. Im Sinne einer normativen Position, nach der eine Demokratie Wähler benötigt, die sehr bewusst ihre Entscheidungen treffen, ist das sehr erfreulich. Es trifft hier auch nicht der Einwand zu, dass die Wähler in den Angaben Ihrer Wahlgründe ex post Rationalisierungen für ein vergangenes eher unreflektiertes Wahlverhalten suchen. Wenn dies so wäre, würden sich nicht so komplexe Antwortmuster finden. Es erscheint uns nicht wahrscheinlich, dass in Umfragen kognitiv aufwendige Rationalisierung von Wahlentscheidung produziert werden. Wir kommen daher zu dem Ergebnis, dass zum einen die Wähler mit unterschiedlichen Gründen, aber durchaus überlegt ihre Wahlentscheidungen treffen, und dass zum anderen das Analyseraster des Michigan-Modells diese Gründe recht gut erfassen kann. Letzteres könnte erklären, warum das Michigan-Modell in der Wahlforschung so erfolgreich ist

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Anhang: Formulierungen der verwendeten Fragen aus der Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“ Parteineigung „Viele Leute neigen in der Bundesrepublik längere Zeit einer bestimmten Partei zu, obwohl sie auch ab und zu eine andere Partei wählen. Wie ist das bei Ihnen: Neigen Sie – ganz und allgemein gesprochen – einer bestimmten Partei zu? Wenn ja, welcher?“ Antwortvorgaben: SPD[1], CDU [2], CSU [3], Bd90/Die Grünen [4], FDP [5], Die Linke.PDS [6], NPD [7], andere [8], keine Partei [9]. Stärker der Parteineigung „Wie stark oder wie schwach neigen Sie, alles zusammengenommen, dieser Partei zu? Neigen Sie ihr sehr stark, ziemlich stark, mäßig, ziemlich schwach oder sehr schwach zu?“ Antwortvorgaben: Sehr stark [5], ziemlich stark [4], mäßig [3], ziemlich schwach [2], sehr schwach [1]. Problemlösungskompetenz „Was ist Ihrer Meinung nach das wichtigste Problem, das es heute in der Bundesrepublik zu lösen gilt?“ … „Welche Partei ist Ihrer Meinung nach am besten geeignet, das Problem zu lösen?“ „Und was ist Ihrer Meinung nach das zweitwichtigste Problem, das es heute in der Bundesrepublik zu lösen gilt?“ … „Welche Partei ist Ihrer Meinung nach am besten geeignet, das Problem zu lösen?“ „Und was ist Ihrer Meinung nach das drittwichtigste Problem, das es heute in der Bundesrepublik zu lösen gilt?“ … …“Welche Partei ist Ihrer Meinung nach am besten geeignet, das Problem zu lösen?“ Antwortvorgaben für Problemnennungen: Halboffene Antwortvorgaben Für Parteien: SPD [1], CDU[2], CSU [3], Bündnis 90 / Die Grünen [4], FDP [5], Die Linke.PDS [6], NPD [7], Andere Partei und zwar: [8], Alle gleich [9], Keine [10] Links-Rechts-Selbsteinstufung „In der Politik reden die Leute häufig von „Links“ und „Rechts“. Wenn Sie diese Skala von 1 bis 11 benutzen, wo würden Sie sich selbst einordnen, wobei 1 links und 11 rechts bedeutet?“ Antwortvorgaben: 1 = Links [1], 11 = Rechts [11].

Das Michigan-Modell des Wahlverhaltens und die subjektive Sicht der Wähler

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Links-Rechts-Einstufung: Parteien „Auch Parteien werden oft als „Links“ oder „Rechts“ eingestuft. Bitte sagen Sie mir wieder anhand dieser Skala, wie Sie selbst die folgenden Parteien einstufen. Ich lese Ihnen die Parteien jetzt einzeln vor. Zunächst zur SPD: Wie stufen Sie die SPD hier ein?“ „Und die CDU?“ „Und wo sehen Sie die CSU?“ „Und wo Bündnis90/Grüne?“ „Und die FDP?“ „Und wo stufen Sie die Linkspartei.PDS ein?“ „Und die NPD?“ Zufriedenheit mit Regierungsleistung „Denken Sie jetzt bitte einmal zurück an die Jahre vor der Bundestagswahl am 18. September. Waren Sie mit den Leistungen der bisherigen Bundesregierung aus SPD und Bündnis90/ Die Grünen – sehr zufrieden [6], ziemlich zufrieden [5], eher zufrieden [4], eher unzufrieden [3], ziemlich unzufrieden [2], sehr unzufrieden [1]?“ Kanzlerpräferenz „Wen hätten Sie lieber als Bundeskanzler, Gerhard Schröder oder Angela Merkel?“ Antwortvorgaben: Gerhard Schröder [1], Angela Merkel [2], Spontan: keinen von beiden [3] Kandidatenbeurteilung „Und was halten Sie – ganz allgemein – von den folgenden Politikerinnen bzw. Politikern? Sagen Sie es mir bitte wieder mit Hilfe des Thermometers“. Antwortvorgaben: +5 = Sehr viel [10], -5 = Überhaupt nichts [0] Aufgeführte Kandidaten der SPD: Gerhard Schröder, Franz Müntefering, Peer Steinbrück; der CDU und CSU: Angela Merkel, Roland Koch, Christian Wulff, Edmund Stoiber; der FDP: Guido Westerwelle; von Bündnis90/Die Grünen: Joschka Fischer, Renate Künast; der PDS: Gregor Gysi, Oskar Lafontaine. Wahlgründe „Und nun noch einmal zur Zweitstimme: Es gibt ja unterschiedliche Gründe, warum man wählt. Ich habe hier eine Liste mit möglichen Gründen. Nennen Sie mir bitte die Buchstaben der drei Gründe, die für Ihre Entscheidung bei der Bundestagswahl am wichtigsten waren.“ Liste: Am wichtigsten für meine Entscheidung zu wählen waren: A Die Kanzlerkandidaten, Gerhard Schröder und Angela Merkel B Die sonstigen Politiker und Politikerinnen, die die Parteien aufgestellt haben C Die politischen Ziele und Positionen der Parteien D Die Fähigkeiten der Parteien zur Lösung von Problemen, die mir besonders wichtig sind E Die Arbeit der letzten Bundesregierung F Meine Verbundenheit mit einer Partei G Der Wahlkampf der Parteien

328 H Die TV-Debatte zwischen den Kanzlerkandidaten Ein anderer Grund, und zwar: ….

Steffen Kühnel und Anja Mays

Die Spitzenkandidatin Angela Merkel (CDU/CSU) und der Spitzenkandidat Gerhard Schröder (SPD) in der Wahrnehmung der Bevölkerung bei der Bundestagswahl 2005 Die Spitzenkandidaten in der Wahrnehmung der Bevölkerung

Bettina Westle

1.

Spitzenkandidaten im Spiegel der Wahlforschung

Seit der Übertragung des sozialpsychologischen Modells der Michigan School zur Erklärung der Wahlentscheidung (Campbell/Gurin/Miller 1954, Campbell et al. 1960) vom USamerikanischen auf den deutschen Kontext wird die Präferenz für einen der Kanzlerkandidaten neben der Parteiidentifikation und den vermuteten Problemlösungskompetenzen der Parteien als wesentlicher Faktor mitberücksichtigt (z.B. Klingemann/Taylor 1977, Norpoth 1977, Eltermann 1978, 1980, Falter/Rattinger 1983, Norpoth/Yantek 1983, Jagodzinski/ Kühnel 1990, Schrott 1993, Kepplinger/Brosius/Dahlem 1996, Rattinger 1996, Gabriel 1997, Gabriel/Vetter 1998, Gehring/Winkler 1997, Brettschneider 1998, 2001, SchmittBeck 1998, Vetter/Brettschneider 1998, Klein/Ohr 2000b, Ohr 2000, Ohr/Klein 2001a, Wessels 2000, 2001, Schoen 2004a,b, Dülmer 2005, Gabriel/Neller 2005, Kellermann/Rattinger 2005, Rosar/Ohr 2005, Gabriel/Keil 2007). Auch im Rahmen von Rational Choice Modellen des Wahlverhaltens wird den Kandidaten in jüngerer Zeit verstärkt Bedeutung zugesprochen. So haftete personenorientiertem Wählen zwar lange eine gewisse Anrüchigkeit als sachfremdes, eher irrationales Verhalten an (vgl. z.B. Janowitz/Marvick 1956: 41-42, Dalton/Wattenberg 1993: 208). Inzwischen gelten solche Orientierungen jedoch als probates Mittel zur Reduktion der Informationskosten, da es bspw. leichter sei über manche Merkmale der Kandidaten einen Eindruck zu gewinnen als über komplexe Sachfragen, da ihre Persönlichkeit stabiler bleibe als tagespolitische schnell wandelbare Fragen, Probleme und Positionen und weil personelles Vertrauen eine durchaus relevante Entscheidungshilfe darstellen könne (z.B. Popkin et. al. 1976: 794, Popkin 1991, Glass 1985: 519, Gabriel/Vetter 1998: 506, Klein/Ohr 2000a: 8). Obwohl in parlamentarischen Systemen anders als in präsidentiellen das Regierungsoberhaupt nicht direkt von den Bürgern, sondern vom Parlament gewählt wird, haben die Kanzlerkandidaten seit Bestehen der Bundesrepublik in den Wahlkämpfen immer viel Aufmerksamkeit erhalten (vgl. z.B. Schütz 1993, Holtz-Bacha 1999). Dies trifft nach überwiegender Einschätzung mit der zunehmenden Rolle des Fernsehens neben den Printmedien als Informationsquelle sogar noch verstärkt zu – insbesondere seit dem Bundestagswahlkampf im Jahr 1998, dem infolge gezielter medialer Inszenierungen (bspw. auf dem Sonderparteitag der SPD in Leipzig am 17. April 1998) eine neue Qualität im Hinblick auf Tendenzen der Amerikanisierung, Personalisierung und Mediatisierung nachgesagt wird (z.B. Wirth/Voigt 1999, Schulz/Zeh/Quiring 2000, Wilke/Reinemann 2000, Wagner 2005, Zeh 2005). Zudem lässt die (allerdings umstrittene) Erosion von stabilen Parteiidentifikationen nicht nur mehr Raum für Themen, sondern auch für Personen als Bestimmungsfakto-

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ren der Wahlentscheidung (vgl. z.B. Schmitt-Beck/Schrott 1994, Gabriel/Vetter 1998, Schoen 2003). Vor diesem Hintergrund hat sich auch die Forschung in der Bundesrepublik vermehrt der Frage zugewandt, wie die Wahrnehmung der Kandidaten ausfällt, wie die Präferenz für einen der Kandidaten zustande kommt und welche Bedeutung sie für die Wahlentscheidung hat. Wesentliche Befunde zur Entstehung der Urteile über die Kandidaten sind, dass diese sich (wie auch andere Evaluationen) aus dem Zusammenspiel zwischen Prädispositionen des Urteilenden (z.B. Stereotypen über Menschen, Idealvorstellungen von Politikern) und der Wahrnehmung der jeweils aktuellen Kandidaten ergeben und dass dabei sowohl rollennahe als auch rollen- bzw. politikferne Merkmale von Bedeutung sind. Umstritten bleibt allerdings die relative Bedeutung dieser Merkmalsdimensionen für die Gesamturteile über die Kandidaten und für die Kandidatenpräferenz (vgl. z.B. Rosenberg et al. 1986, Rosenberg/Mc Cafferty 1987, Funk 1996, Brettschneider 1998, Klein/Ohr 2001). Sowohl die Kandidatenpräferenz als auch teilweise die vorgelagerten Urteile zu einzelnen Merkmalen zeigen laut vorliegenden Befunden zu früheren Bundestagswahlen starke Zusammenhänge mit der Wahlentscheidung. Diese werden bei gleichzeitiger Berücksichtigung der Issuekompetenzurteile und der Parteiidentifikation zwar wie erwartbar deutlich gemindert, verlieren jedoch nicht völlig an Bedeutung. Umstritten ist auch, ob im Zeitablauf tatsächlich eine zunehmende Personalisierung des Wahlverhaltens im Sinn eines Bedeutungszuwachses der Kandidatenpräferenz für das Wahlverhalten erfolgte (z.B. Ohr 2000, der zwischen 1972 und 1998 einen Anstieg zu beobachten meint, und anderen, die eher wahlspezifische Schwankungen feststellen, so z.B. Kaase 1994, Lass 1995, Pappi/Shikano 2001a, Brettschneider 2002, Anderson/Brettschneider 2003). Ferner deutet die Mehrzahl der Befunde nicht auf die in der Amerikanisierungs-/ Personalisierungsdebatte vermutete wachsende Bedeutung der rollenfernen Merkmale bei der Urteilsbildung über die Kandidaten (z.B. Lass 1995, Brettscheider 2002). Im Hinblick auf Deutschland lässt der größere Anteil von Parteiidentifikateuren im Westen eine vergleichsweise größere Rolle der Kandidatenorientierungen im Osten erwarten, jedoch variieren auch hierzu die empirischen Befunde (z.B. Gabriel/Vetter 1998, Gabriel/Brettschneider 1998, Wessels 2000, Brettschneider 2001, Pappi/Shikano 2001b, Anderson/Brettschneider 2003). Im vorliegenden Kapitel werden Kandidatenorientierungen bei der Bundestagswahl 2005 untersucht. Nach einer knappen Diskussion von Konzeptualisierungs- und Operationalisierungsfragen im folgenden Abschnitt wird beschrieben, wie die Images von Angela Merkel und Gerhard Schröder ausfielen und analysiert, ob alle erfassten Merkmale dieselbe oder aber unterschiedliche Bedeutsamkeit für die Gesamtbewertung eines Kandidaten sowie für die Herausbildung der Kandidatenpräferenz einnehmen. Dabei stellt sich auch die Frage, inwieweit die Gesamtbewertungen beider Kandidaten anhand derselben oder aber unterschiedlicher Merkmale je Person vorgenommen werden. Dem schließt sich die Frage an, ob die Kandidatenprofile eher singulär oder aber eher in Konkurrenz zueinander gebildet werden und welche Rolle dies für die Kanzlerpräferenz einnimmt. Ferner werden die Effekte der Eigenschaftswahrnehmungen im Vergleich zu denen der Gesamtbewertungen auf die Kandidatenpräferenz analysiert. Abschließend wird untersucht, welche Rolle die Parteiidentifikation in diesem Prozess einnimmt.

Die Spitzenkandidaten in der Wahrnehmung der Bevölkerung 2.

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Konzeptualisierung und Operationalisierung von Orientierungen gegenüber den Spitzenkandidaten

Die Konzeptualisierung und Operationalisierung der Kandidatenorientierungen hat sich im Zeitablauf verändert und variiert auch aktuell zwischen verschiedenen Forschern. So verstanden Campbell/Gurin/Miller (1954) darunter nur solche Merkmale, die sich auf die Kandidaten als Personen beziehen, nicht jedoch als Repräsentanten ihrer Parteien oder Vertreter bestimmter Politikpositionen und –kompetenzen. Ähnlich berücksichtigten Campbell et al. (1960) nur Merkmale der Persönlichkeit, differenzierten diese jedoch erstmals in rollennahe und rollenferne Eigenschaften, wie bspw. Führungsstärke und Entscheidungsfreude einerseits und Ausstrahlung und intaktes Familienleben andererseits. Im weiteren Verlauf der Forschung beschränkten sich manche Arbeiten einerseits auf Gesamtbewertungen der Kandidaten (z.B. Klingemann/Taylor 1977, Ohr 2000), während andererseits verschiedene Versuche einer Ausdehnung und dimensionalen Differenzierung der Kandidatenmerkmale erfolgten. Für die US-Präsidentschaftswahlen wurden bspw. die vier Dimensionen Kompetenz, Führungsqualität, Integrität und Empathie berücksichtigt (Kinder et al. 1980, Kinder 1986, Shanks/Miller 1991, Miller/Shanks 1996) oder aber die fünf Dimensionen Kompetenz, Integrität, Verlässlichkeit, Charisma und persönliche Merkmale (Miller et al. 1976, Wattenberg 1991). Operational wurden sowohl offene als auch geschlossene Fragen verwendet, bei letzteren wurde teils mit singulären, teils mit multiplen Indikatoren gearbeitet, und schließlich variierten auch die Frageformate bspw. zwischen Auswahlfragen (per Karten), Alternativfragen, Likert-Skalen, Rangordnungsverfahren und Semantischen Differentialen (vgl. z.B. zu offenen Fragen Lass 1995, zu Auswahlfragen Allensbach Ifd-Umfragen 6061 und 7075, Alternativfragen Infratest-dimap 2005, zu Ranking Kepplinger/Brosius/ Dahlem 1994, zu Semantischen Differentialen Eltermann 1978, zu Rating Vetter/Brettschneider 1998 und Klein/Ohr 2000a). Auch in der jüngeren bundesdeutschen Forschung findet sich – als Reaktion auf die Kritik, dass es bislang kein Standardinstrument zur Erfassung der Kandidatenorientierungen gibt (Kaase 1994) – das Bemühen, ein solches zu entwickeln, wobei relativ häufig eine Unterscheidung in eine rollenferne und eine rollennahe Dimension vorgenommen wird, die jedoch in unterschiedliche Teildimensionen differenziert und mit verschiedenen konkreten Merkmalen ausgefüllt werden. So unterscheiden Vetter/Brettschneider (1998) in verschiedenen Arbeiten die vier Teildimensionen Issue-Kompetenz und Manager-Fähigkeiten als rollennahe, Integrität und persönliche, apolitische Eigenschaften als rollenferne Merkmale (auch Brettschneider 1998, 2001, 2002). Klein/Ohr (2000a, b) fügen dem noch die rollennahe Teildimension des Parteirepräsentanten hinzu. In einer weiteren Arbeit zu Landtagswahlen lassen Ohr/Klein (2001b) die Teildimension des Parteirepräsentanten unberücksichtigt, ergänzen aber die rollennahe Dimension um die Teildimensionen der politischen Vertrauenswürdigkeit, der kommunikativen Kompetenz und des Bezugs zum Bundesland. Auch die Inhalte und Anzahl der verwendeten Items pro Teildimension variieren zwischen diesen Arbeiten. Im kommerziellen Bereich der Wahlforschung finden sich ähnliche Instrumente, deren Vergleich über verschiedene Bundestagswahlen hinweg auch einen Eindruck davon vermitteln kann, welche Eigenschaften bei unterschiedlichen Kandidatenpaaren in der Öffentlichkeit offenbar ins Blickfeld gerückt wurden und damit Beispiele für ein klassisches ImageAgenda-Setting und Image-Priming bilden (vgl. z.B. Kindelmann 1994), das von Wahl zu

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Wahl anders ausfallen kann.1 Daneben illustrieren solche Vergleiche auch die Veränderung von als relevant angesehenen Kriterien über längere Zeiträume hinweg. So fragte bspw. das Institut für Demoskopie in Allensbach nahezu bei jeder Wahl nach ‚Verstand und klarer Linie’, ‚Durchsetzungskraft’, ‚Ehrlichkeit’ etc., aber nur bis in die achtziger Jahre nach ‚christlich, fromm’ und nur bei der Kombination Schmidt und Kohl 1978 und 1981 nach ‚jung, unverbraucht’, nur bei Schröder und Stoiber 2002 nach ‚Menschlichkeit’ und ‚Anständigkeit’, nur bei Schröder und Merkel 2005 nach ‚Intelligenz’ etc. (NoelleNeumann/Piel 1983, Noelle-Neumann/Köcher 1993, Köcher 2002, Noelle 2005). Ähnlich erfasste Infratest dimap neben einem relativ stabilen Eigenschaftskatalog 1998 beim Vergleich von Kohl und Schröder zusätzlich unter anderem ‚politische Weitsicht’ und die ‚Bereitschaft, neue Wege in der Politik’ zu gehen, was tendenziell die damalige mediale Diskussion um Erfahrung versus Ausgebranntheit widerspiegelt; bei der Konkurrenz zwischen Schröder und Stoiber 2002 wurden dagegen mit ‚Aufbau der ostdeutschen Wirtschaft’, ‚Regelung der Zuwanderung von ausländischen Arbeitskräften’, ‚Steuerpolitik’, ‚Verbesserung des Schul- und Bildungssystems’ und ‚Bewältigung internationaler Krisen’ Politikpositionen und -kompetenzen stärker ins Zentrum gerückt (ARD Deuschland Trend September 1998 und August 2002). In der Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“ 2005 war es infolge eng begrenzter Ressourcen nicht möglich mit multiplen Indikatoren für Teildimensionen zu arbeiten. Daher wurde versucht, für die Teildimensionen, die sich bislang in der bundesdeutschen Forschung bewährt haben, jeweils einen Indikator zu entwickeln, der die Dimension möglichst breit abdecken sollte. Zusätzlich wurde ein Item zur Teildimension „nationaler Repräsentant“ formuliert. Die Fragen wurden im Ratingformat gestellt, das am angemessensten sein dürfte, um ein differenziertes Bild der Eigenschaftswahrnehmung zu zeichnen. (Sofern jedoch die Bewertungen von Eigenschaften primär das Ziel haben als erklärende Variablen für die Kanzlerpräferenz zu fungieren, erscheinen Alternativfragen oder Auswahlfragen besonders angemessen, weil sie der Entweder-Oder-Entscheidungsstruktur der Kanzlerpäferenz am besten entsprechen, da für gewöhnlich nur eine Person das Amt des Kanzlers/der Kanzlerin besetzen kann).2 Schaubild 1 zeigt die berücksichtigten Teildimensionen und die Indikatoren.

1

Eine Standardisierung von Kandidatenorientierungen ist im Hinblick auf longitudinale Analysen vor allem für die Frage der Kandidatenpräferenz sinnvoll, denn auch hierbei gibt es Varianten, bspw. werden nur die beiden Hauptkandidaten für die Auswahl angeboten, oder aber auch die Spitzenkandidaten der kleineren Parteien, oder es wird eine zusätzliche Option „keiner von beiden“ explizit oder aber nur als spontane Reaktion vorgesehen. Für die der Präferenzbildung als vorgelagert zu denkenden Eigenschaften kann allerdings bezweifelt werden, ob eine volle Standardisierung angemessen ist, da sie evtl. den in der Öffentlichkeit hervorgehobenen Merkmalen der jeweiligen Kandidaten nicht hinreichend gerecht wird. So wird auch bei Antworten auf offene Fragen nach guten und schlechten Seiten der Kandidaten oder nach Begründungen für die Kanzlerpäferenz deutlich, dass je nach anstehenden Kandidaten ganz unterschiedliche Merkmale an Bedeutung gewinnen können. Jegliche Standardisierungsversuche der Kandidatenmerkmale sollten also allenfalls die Dimensionen betreffen, aber bei den konkreten Indikatoren zumindest offen für jeweils aktuelle Ergänzungen bleiben. 2 Ein Manko der gängigen und auch der hier verwendeten Eigenschaftslisten dürfte zudem sein, dass ausschließlich nach positiv belegten Eigenschaften gefragt wird, während bei offen gestellten Fragen nicht selten auch negative Merkmale thematisiert werden (vgl. z.B. die Datensätze der Deutschen Nationalen Wahlstudie 1994, 1998 und 2002, ZA-Nr. 4301) Allensbach scheint hierbei eine Ausnahme darzustellen, denn bei Auswahlfragen werden auch Merkmale wie ‚langweilig’, ‚rücksichtslos’ und ‚überheblich’ angeboten (vgl. z.B. zu Oskar Lafontaine Befragungen 1998 und 2005, Allensbacher Archiv, IfD-Umfragen 6061 und 7075).

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Übersicht 1: Konzeptualisierung und Operationalisierung von Kandidatenmerkmalen (F057) Nun geht es nochmal um Politiker und Politikerinnen. Sagen Sie mir bitte auf der Skala von 0 bis 6 zu jeder Aussage, inwieweit diese auf die vorgelesene Person zutrifft. 0 bedeutet, sie trifft überhaupt nicht zu, 6 bedeutet, sie trifft voll und ganz zu. Mit den Werten dazwischen können Sie Ihre Meinung abstufen. Inwieweit trifft die Aussage auf Gerhard Schröder zu? … Und wie ist das bei Angela Merkel? … rollennah, politisch Nationale/r Repräsentant/in Er/Sie kann die Interessen Deutschlands im Ausland gut vertreten. Parteirepräsentant/in Er/Sie hat die einhellige Unterstützung seiner/ihrer Partei. Issue-Kompetenz Er/Sie hat die richtigen Konzepte, um die Zukunftsprobleme zu lösen. Manager-Fähigkeiten Er/Sie ist eine starke Führungspersönlichkeit. Er/Sie arbeitet gut im Team. Kommunikative Kompetenz Er/Sie ist bürgernah. Integrität/Vertrauensperson Er/Sie ist glaubwürdig. rollenfern, apolitisch apolitisches Merkmal Er/Sie ist sympathisch.

Das erste Item soll die Rolle des Kanzlers als Vertreter des Staates bzw. der Interessen der Bundesrepublik nach außen hin erfassen, während das dritte Item entsprechend eher auf die innere Problemlösungskompetenz zielt. Im Interesse des angezielten hohen Generalisierungsgrades bei Verwendung von nur je einem Item wurde auf die Nennung eines konkreten Problems bzw. Themenbereichs (wie bspw. Schaffung von Arbeitsplätzen, Ankurbelung der Wirtschaft) verzichtet, zumal die relevanten Probleme sich über die Zeit ändern können. Während diese beiden Items den Kanzler als inneren und äußeren Anwalt des ganzen Volkes thematisieren, bezieht sich das zweite Item auf das gelegentlich nicht ganz unproblematische Verhältnis zwischen Kanzler(-kandidat) und Partei(-führung), wobei im Hinblick auf die Aktionsfähigkeit die Unterstützung durch die Partei als am wichtigsten angesehen werden kann. Bei den Managerfähigkeiten wurde in Anschluss an die vorliegende Forschung ein Item zur Führungsstärke formuliert, darüber hinaus aber ein weiteres Item zur Teamfähigkeit integriert, welches auch als Ergänzung der insgesamt stark durch männliche Eigenschaftsstereotype geprägten Merkmale durch eine vorgeblich typisch weibliche Qualität gedacht war (vgl. zu solchen Geschlechterstereotypen und ihrer Bedeutung bei Wahlen z.B. Huddy/Terkildsen 1993, Sapiro/Conover 1997, Sanbonmatsu 2002 und die entsprechenden Kapitel in diesem Band). Kommunikative Kompetenz soll durch das Item zur Bürgernähe erfasst werden. Das Item zur Integrität (Glaubwürdigkeit) ist ohne weitere Spezifikation formuliert, wobei davon ausgegangen wird, dass es in einer Grauzone zwischen Politik- und Persönlichkeitsmerkmal liegt bzw. beide Sphären betreffen dürfte. Als relativ generalisiertes, einziges Item zum persönlichen Bereich ist die sympathische Ausstrahlung enthalten, wobei hier vermutet wird, dass Faktoren wie das Aussehen oder das Privatleben mit einfließen, aber auch nicht auszuschließen ist, dass auch politische Faktoren bei der Sympathie eine Rolle spielen können.3 Weil überwiegend nur ein Item pro theoretischer Teildimension erfragt werden konnte, ist nicht zu erwarten, dass diese sich als separate Dimensionen bzw. Teildimensionen zeigen; vielmehr wird eine Zusammenhangsstruktur entlang der Kandidaten erwartet. Dabei dürfte auch die Form der Abfrage – pro Eigenschaft 3

In strengem Sinn erfasst die vorliegende Itemformulierung eigentlich kein Merkmal der Kandidaten wie etwa seine Haarfarbe oder politische Überzeugung, denn Personen sind nicht per se mehr oder weniger sympathisch, sondern erst in Interaktion mit einem wertenden Gegenüber.

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wurde immer zunächst nach Schröder und unmittelbar anschließend nach Merkel gefragt – tendenziell eine Kontrastierung der Personen fördern. Zu den Kandidaten wurden außer den angeführten Eigenschaften im Fragebogen die Kanzlerpräferenz und deren Hauptgrund sowie Gesamtbewertungen erfasst. Diese Fragen wurden weit vor den Eigenschaftsfragen gestellt, so dass letztere nicht auf die generalisierten Urteile abfärben konnten (s. Übersicht 2). Übersicht 2: Indikatoren zur Kanzlerpräferenz und zur Gesamtbewertung der Kandidaten Kanzlerpräferenz

Begründung der Kanzlerpräferenz Gesamtbewertungen

3.

Wen hätten Sie lieber als Bundeskanzler, Gerhard Schröder oder Angela Merkel? 1=Gerhard Schröder, 2=Angela Merkel, 3=nur spontan: keinen von beiden Warum hätten Sie lieber Gerhard Schröder/Angela Merkel als Kanzler/in? (nur 1 Nennung) Und was halten Sie – ganz allgemein – von den folgenden Politikerinnen bzw. Politikern? Sagen Sie es mir bitte wieder mit Hilfe des Thermometers. (-5=halte überhaupt nichts von ihm/ihr bis +5=halte sehr viel von ihm/ihr) - Was halten Sie von Gerhard Schröder? - Und was halten Sie von Angela Merkel?

Wahrnehmung der Eigenschaften der Kanzlerkandidaten im Kontext der Bundestagswahl 2005

Im Vorfeld der Bundestagswahl 2005 war in den Medien viel über politische Fähigkeiten und private Eigenschaften und Verhaltensweisen der Kanzlerkandidaten spekuliert worden. Solche Spekulationen wurden auch durch die außergewöhnlichen Bedingungen dieser Wahl angestoßen. Dies betraf besonders erstens die überraschende Erklärung Schröders und Münteferings (nach einer Reihe verlorener Landtagswahlen am Abend der für die SPD erneut verlorenen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 22.05.2005) die Legislaturperiode im Bund vorzeitig beenden zu wollen. Die Begründung des Kanzlers, er brauche für die geplanten Reformen die klare Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung und wolle daher die Vertrauensfrage stellen, um Neuwahlen zu forcieren, dürfte für viele Bürger/innen schwer verständlich oder unglaubwürdig gewesen sein. Da die SPD überall die Mehrheit verlor, konnte dies als deutliches Signal des Protestes gegen die Reformen gewertet werden und die Interpretation, dass Schröder daher das Amt endgültig ablegen wolle, lag für viele nahe. Allgemeine Verwirrung kennzeichnete dagegen später die Situation, als er immer wieder betonte, er wolle durchaus weiterregieren. Der zweite ungewöhnliche Faktor dieser Wahl war die erstmalige Nominierung einer Frau, Angela Merkel, als Kanzlerkandidatin der Union am 30.05.2005 – einer Kandidatur, die auch durch die klare Koalitionsaussage der FDP zugunsten der Union unterstützt wurde. Der Wahlkampf der SPD war deutlich auf Schadensbegrenzung ausgerichtet – besonders kenntlich durch die Verschiebung der Parteilinie in Richtung Sozialstaatlichkeit. Angesichts der Unzufriedenheit der Wählerschaft mit der Regierungspolitik und der Debatte um die Zulässigkeit des inszenierten Mißtrauensvotums (auch aus den eigenen Reihen der SPD) verfing diese Strategie jedoch nach überwiegender Einschätzung zunächst nicht (vgl.

Die Spitzenkandidaten in der Wahrnehmung der Bevölkerung

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z.B. Niedermayer 2006). Der Wahlkampf der Union konzentrierte sich mit dem Slogan „Deutschland braucht den Wechsel“, ergänzt um eine negative Campaigning Taktik zur Infragestellung der Glaubwürdigkeit Schröders, einerseits auf Abwahlmotive und andererseits auf die Herstellung des Eindrucks von Vertrauenswürdigkeit und Sachkompetenz der Union und ihrer Kandidatin vor allem in den Bereichen Wirtschaft und Arbeit. Dabei widersprach die Ankündigung von Belastungen für die Bürger wie Mehrwertsteuererhöhung, Wegfall von Steuerbegünstigungen, Abbau von Arbeitnehmerrechten allerdings den mehrheitlichen Präferenzen der Bevölkerung, auch großer Teile der eigenen Anhängerschaft. Auch kann davon ausgegangen werden, dass die Nominierung Paul Kirchhofs dem Ziel der Vertrauensschaffung nicht dienlich war. Die starke Thematisierung der „Ehrlichkeit“ des Wahlprogramms stellte einen Bruch mit früheren Strategien von Oppositionsparteien dar, den Wählern keine konkreten Belastungen und Einschnitte anzukündigen, was wiederum von der SPD genutzt wurde, um der Union soziale Kälte vorzuwerfen. Die Spitzenkandidaten nahmen auch im Kontext dieses Wahlkampfs eine wichtige Rolle ein. Zu Beginn der Kampagne wurde Schröder mit verschiedenen Inhalten verknüpft, um seine Sachkompetenz zu betonen. Dies hatte jedoch nur begrenzt Erfolg. Kurz nach Ankündigung der Neuwahlen wurde Merkel dabei mehr zugetraut (Infratest dimap: DeutschlandTREND, Juni bis Sept. und Infratest dimap 2005: 115). Auch der Versuch seine Vertrauenswürdigkeit in der Wahrnehmung der Wählerschaft zu verbessern, gelang nicht zufriedenstellend. Gegen Ende des Wahlkampfs habe man sich daher stärker auf die Aspekte konzentriert, bei denen Schröder schon von Anfang an bei den Bürgern besser abschnitt, nämlich bei der Führungsstärke und der persönlichen Sympathie (Wahlplakat am Ende „Kraftvoll. Mutig. Menschlich.“) Bei der Union konzentrierte sich die Darstellung Merkels bereits frühzeitig auf die Merkmale Sachkompetenz und Vertrauenswürdigkeit. Schlechte Sympathiewerte in Umfragen ließen es nicht geraten sein, persönliche Merkmale in den Vordergrund zu rücken. Offensichtlich war allerdings für jeden Beobachter des Wahlkampfes die Veränderung der optischen Präsentation Merkels, die im Hinblick auf das persönliche Styling (Frisur, Make-Up, Schmuck, Kleidung) bereits als „behutsame Modernisierung der Marke Merkel“ (Geffken 2005) gekennzeichnet wurde. Daneben war besonders auffällig, dass auch die Medien (Print und TV) fast nur noch Fotos publizierten, in denen Merkel fröhlich, jedenfalls optimistisch aussah, und die zuvor dominanten Bilder mit gefurchten, herabhängenden Mundwinkeln, traurigem oder überarbeitetem Blick verschwunden waren (mit wenigen Ausnahmen wie auf dem Plakat der Satiriker Partei „Darf das Kanzler werden?“). Der Umformung des Themas Steuerpolitik zu einem sozialpolitischen Thema durch negative Campaigning der SPD wird allerdings attestiert, die Vertrauenswürdigkeit als zentrale Imagelinie des Unionswahlkampfs und ihrer Spitzenkandidatin beschädigt zu haben (Niedermayer 2007). Der Faktor „Frau“ schließlich wurde von der Union im Wahlkampf weitgehend totgeschwiegen, vermutlich weil man eher Befürchtungen zu mehr negativen als positiven Auswirkungen hegte. Sowohl im Wahlkampf als auch in den vorangegangenen Legislaturperioden wurde Schröder in der Öffentlichkeit wohl häufiger als Merkel als Privatmensch, gelegentlich auch als Kumpel, thematisiert – angefangen vom Familienleben bis hin zum Modebewusstsein (z.B. Feldenkirchen/Geyer/Nelles 2005). Obwohl diese Thematisierung keineswegs immer einen positiven Tenor trug (Scheidungen, Eitelkeit etc.), scheint ihm dies in der Wählergunst keinen Abbruch getan zu haben – im Gegenteil, waren seine Sympathiewerte bei der Bevölkerung deutlich besser als die Merkels (vgl. u.).

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Im TV-Duell am 4.9. wurde Schröder überwiegend als „Sieger“ wahrgenommen, jedoch konnte Merkel durchaus beachtliche Anerkennungserfolge einfahren, insbesondere angesichts der zuvor überwiegend negativen Vermutungen über ihre TV-Performance (vgl. Maurer/Reinemann 2007). Tabelle 1a: Wahrnehmung von Merkmalen der Kanzlerkandidaten und Kanzlerpräferenz vor der Bundestagswahl 2005 1. Zeile: 29.-30.08.2005 2. Zeile: 06.-07.09.2005 3. Zeile: 12.-13.09.2005 Wenn Sie jetzt einmal Gerhard Schröder mit Angela Merkel vergleichen: Wer von beiden ... gibt in der Öffentlichkeit eine bessere Figur ab?

Gesamt: Zeilenprozentanteile* Schröder

Merkel

Anteil der Übereinstimmung mit der Kanzlerpräferenz** Schröder Merkel

Diff. S-M 76.9 16.5 60.4 58.9 78.5 75.8 16.8 59.0 67.2 87.9 77.6 17.0 60.6 63.0 90.0 ist eher in der Lage, Deutschlands Interessen im 68.8 25.4 43.4 66.1 82.0 Ausland zu vertreten? 73.1 20.5 52.6 72.2 83.0 67.4 27.1 40.3 74.5 89.7 ist die stärkere Führungspersönlichkeit? 61.0 33.6 27.4 65.2 68.7 67.2 26.3 40.9 71.8 72.7 65.2 29.6 35.6 71.8 82.7 setzt sich stärker für soziale Gerechtigkeit ein? 55.5 30.7 24.8 75.5 85.8 61.2 25.2 36.0 78.5 80.5 52.6 34.5 18.1 83.2 84.9 ist sympathischer? 54.4 31.2 23.2 75.6 86.1 56.7 29.9 26.8 82.3 80.2 55.8 33.7 22.1 80.5 88.7 hat den größeren wirtschaftspolitischen 49.2 36.4 12.8 70.9 71.4 Sachverstand? 53.6 33.2 20.4 80.8 71.3 48.9 38.8 10.1 80.7 78.7 ist besser mit den Problemen der Bürger vertraut? 35.8 39.9 -4.1 80.8 73.1 45.9 32.0 13.9 81.7 70.0 44.3 37.9 6.4 85.5 80.7 ist tatkräftiger? 39.5 45.1 -5.6 78.0 66.1 46.7 38.4 -8.3 78.6 64.3 45.6 43.5 2.1 83.7 76.7 ist glaubwürdiger? 33.4 43.3 -9.9 90.1 79.9 36.7 39.1 -2.4 92.6 76.3 39.0 47.5 -8.5 93.0 82.8 setzt sich eher für die Schaffung und Rettung von 32.0 49.3 -17.3 89.5 73.9 Arbeitsplätzen ein? 33.7 42.5 -8.8 88.7 68.6 34.2 49.0 -14.8 94.2 77.5 hat die richtigen Konzepte für die Zukunftsprob24.2 44.3 -20.1 89.3 79.6 leme Deutschlands? 33.6 36.8 -3.2 94.9 75.9 34.3 46.2 -11.9 95.7 84.1 Zählindex 0-11 Mittelwert 4.94 3.64 1.30 5.46 3.16 2.30 5.40 3.84 1.56 * Bei den Angaben der Gesamtbevölkerung sind die spontanen Antworten „beide gleich“ und „keiner von beiden“ nicht ausgewiesen. **Lesehilfe: 1.Zeile: 58.9 Prozent derjenigen, die meinen, Schröder gebe in der Öffentlichkeit eine bessere Figur ab als Merkel, präferieren ihn auch als Kanzler. Quellen: Infratest-dimap Vorwahlumfragen, eigene Berechnungen.

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Tabelle 1b: Kanzlerpräferenz in Abhängigkeit von der Anzahl vergleichsweise positiver bewerteter Merkmale der Kanzlerkandidaten Differenzindex der Präferenz für Schröder Präferenz für Merkel 29.-30.08. 06.-07.09. 12.-13.09. 29.-30.08. 06.-07.09. 12.-13.09. Zählindizes, recodiert* -11 bis -7 0.0 2.6 1.3 97.2 96.0 97.1 -6 bis -3 6.2 5.1 6.7 83.6 86.5 91.3 -2 bis 2 31.9 32.7 31.1 49.6 47.0 52.5 3 bis 6 75.4 74.7 76.0 13.2 11.2 9.1 7 bis 11 97.0 96.7 97.5 2.1 0.8 0.9 * Negative Werte indizieren einen Vorsprung Merkels, positive Werte einen Vorsprung Schröders bei den 11 Eigenschaften. Quellen: Infratest-dmap Vorwahlumfragen, eigene Berechnungen.

In drei Vorwahlbefragungen von Infratest dimap Ende August und im September (Tab.1a)4 erreichte Schröder bei sechs von elf erfragten Merkmalen bessere Werte als Merkel, überwiegend Anfang September noch stärker als Ende August, aber Mitte September wiederum in abnehmendem Ausmaß. Darüber hinaus war sein Vorsprung vor Merkel in diesen Bereichen überwiegend erheblich größer als ihr Vorsprung bei vier anderen Merkmalen. Dies betraf insbesondere die Wahrnehmung seiner repräsentativen Fähigkeiten in der Öffentlichkeit und im Ausland, was mit der medialen Darstellung Schröders als souverän und Merkels als unbeholfen auf dem öffentlichen Parkett korrespondierte. Auch bei der Wahrnehmung seiner Führungsstärke und seines Einsatzes für soziale Gerechtigkeit sowie bei der allgemeinen Sympathie schnitt Schröder besser ab. Merkel hatte dagegen bessere Werte bei den Zukunftskonzepten und der Schaffung von Arbeitsplätzen. Im Hinblick auf den wirtschaftpolitischen Sachverstand erreichte Schröder noch etwas bessere Werte als Merkel, die umgekehrt bei der Glaubwürdigkeit besser ankam. Der minimale Vorsprung Merkels bei der Tatkraft und der Bürgernähe kehrte sich schließlich zugunsten Schröders um. Alles in allem stand Schröder bei diesen Merkmalen somit in der Wählergunst wesentlich besser da als Merkel. Dies setzte sich weitgehend, aber nicht vollends in die Kanzlerpräferenz um. So war die Konsistenz beider Urteilsdimensionen zu beiden Kandidaten bei den Eigenschaften am relativ größten, bei denen sie etwas schlechter als der jeweilige Konkurrent abschnitten. Jedoch nahm mit der Kumulation von vergleichsweise positiver bewerteten Eigenschaften eines der beiden Kandidaten auch die Wahrscheinlichkeit, diesen als Kanzler zu präferieren in beiden Fällen ganz erheblich und etwa gleichmäßig zu (Tab.1b). Wird bspw. Schröder bei 7 bis 11 Eigenschaften negativer bewertet als Merkel, so wird er nur zu 1.3 Prozent als Kanzler präferiert, während er bei 7 bis 11 positiver bewerteten Eigenschaften zu 97.5 Prozent auch als Kanzler gewünscht wird (3. Vorwahlbefragung). Entsprechendes gilt für Merkel. Da den nachfolgenden Analysen die Daten einer Nachwahlstudie zugrunde liegen (Feldzeit war vom 23.9. bis 12.10.2005, davon 23. bis 24.9. 2.5 Prozent, bis 3.10. 55.9 Prozent der Befragungen), ist auch noch dieser Ereigniskontext für die Wahrnehmung der Kandidatenmerkmale zu berücksichtigen. Zu nennen ist hier vor allem das chauvinistisch, rüpelhaft wirkende Benehmen Schröders am Wahlabend bei der Berliner Runde, in der er Merkel den Anspruch auf die Kanzlerschaft mit dem fadenscheinigen Argument absprach, 4

Die Datensätze dieser beiden Befragungen wurden dem Projektteam nach der Bundestagswahl zusammen mit dem Nachwahldatensatz für Analysen zur Verfügung gestellt. Diese Analysebefunde konnten somit noch nicht in die Konstruktion des eigenen Erhebungsinstrumentes eingehen.

338

Bettina Westle

bei der Union handle es sich um zwei Parteien, deshalb habe die SPD die Mehrheit und er selbst müsse daher Kanzler bleiben (wobei er ignorierte, dass die Wahl des Kanzlers von den Mehrheitsverhältnissen in Parlament abhängig ist). Da der Versuch Merkels eine Jamaika-Koalition zu bilden jedoch am Nein der FDP scheiterte, erschien bereits nach wenigen Tagen nur noch eine große Koalition aussichtsreich. Auch der Vorschlag von Schröder am 24.9., die Regierungszeit zu teilen, und zwar mit ihm selbst als erster Kanzler, scheiterte am Festhalten der Union an Merkels Anspruch auf das Kanzleramt. In der Folgezeit schwand sein Machtanspruch langsam (Lohse/Schmies 2005). Jedoch erst am 3.10., einen Tag nach der Nachwahl im Dresdner Wahlkreis 160, in dem die Wähler der Union ein zusätzliches Bundestagsmandat verschafften, erklärte Schröder in einem RTL-Interview indirekt seine Bereitschaft zum Machtverzicht, falls die SPD-Führung dies verlange. Der endgültige Machtverzicht erfolgte dann am 12. Okt. auf einem Gewerkschaftskongress in Hannover (vgl. Bannas 2005). Vor diesem Hintergrund erscheint plausibel erwartbar, dass bei den Eigenschaftsbewertungen in der unmittelbaren Zeit nach der Bundestagswahl beiden Kandidaten eine gewisse Hartnäckigkeit, auch interpretierbar als Führungsstärke, nachgesagt werden dürfte, wobei das Geschlechterstereotyp Schröder hierbei noch einen Vorsprung verschaffen könnte. Während Merkel im Hinblick auf die Unterstützung durch ihre Partei besser dastehen dürfte, mag dies bei Schröder in Bezug auf die Bürgernähe und die Sympathiewerte der Fall sein. Als nationaler Repräsentant dürfte Schröder von einem Amtsbonus sowie seinen medialen Kompetenzen profitieren, während der sog. Ehrlichkeitswahlkampf vermutlich auf die Glaubwürdigkeitswerte Merkels positiv abfärbt. Im Hinblick auf die Teamfähigkeit wird angesichts der Konflikte in der SPD im Kontext dieser Wahl und angesichts des Geschlechterstereotyps ein Vorsprung Merkels erwartet. Bei den Problemlösungskompetenzen lässt sich am ehesten ein Kopf-an-Kopf-Rennen vermuten. Die Antwortverteilungen bei der Wahrnehmung der Kandidateneigenschaften stützen überwiegend die angeführten Erwartungen (Tab.2). Bei Schröder wird die Führungsstärke und die nationale Repräsentation am positivsten beurteilt, gefolgt von der Unterstützung durch die Partei und der Bürgernähe. Die Werte für die Sympathie und die Teamfähigkeit sind dagegen erheblich breiter gestreut und eher negativ schneidet Schröder im Hinblick auf Glaubwürdigkeit und seine Politikkonzepte ab. Bei Merkel wird die Unterstützung durch ihre Partei am stärksten wahrgenommen, gefolgt von der Teamfähigkeit. Im mittleren Bereich bewegen sich ihre Eigenschaftszuschreibungen im Hinblick auf Führungsstärke, Bürgernähe, Glaubwürdigkeit, die Vertretung Deutschlands und die Politikkonzepte. Am schwächsten fallen ihre Sympathiewerte aus. Im unmittelbaren Vergleich der beiden Kandidaten schneidet Schröder besonders als Repräsentant deutscher Interessen und bei seiner Führungsstärke besser ab als Merkel, ferner auch bei der Sympathie und der Bürgernähe. Merkel wird dagegen im Durchschnitt häufiger Glaubwürdigkeit, Teamfähigkeit und die Unterstützung ihrer Partei nachgesagt, wobei die Abstände zu Schröder dabei allerdings geringer sind als bei den Merkmalen, bei denen Schröder vorne liegt. Einen nur sehr geringfügigen Vorsprung verbucht Merkel bei den Politikkonzepten. Darüber hinaus zeigt die Betrachtung der fehlenden Angaben, dass durchgehend bei allen Eigenschaften mehr Befragte in der Lage sind Schröder zu beurteilen als über Merkel ein Urteil abzugeben, worin vermutlich ebenfalls eine Folge seines Amtes und der dadurch jahrelang verstärkten Medienpräsenz zu sehen ist. Dafür spricht auch, dass der Unterschied in der Anzahl fehlender Werte zwischen den beiden Kandidaten bei der

Die Spitzenkandidaten in der Wahrnehmung der Bevölkerung

339

Frage der nationalen Repräsentation am größten ist, also in einem Bereich, in dem sich Merkel zu dieser Zeit bei der Wählerschaft mangels Gelegenheit noch kaum profilieren konnte. Differenziert man nach den einzelnen Eigenschaften wird zusätzlich deutlich, dass die Teamfähigkeit offenbar am schwierigsten einzuschätzen ist, möglicherweise als Folge einer selteneren öffentlichen Thematisierung als Qualität von Kanzlerkandidaten. Am unproblematischsten ist es offenbar, die persönliche Ausstrahlung der Kandidaten zu beurteilen, wie in der geringen Anzahl fehlender Angaben zum Ausdruck kommt. Tabelle 2: Wahrnehmung von Eigenschaften der Kanzlerkandidaten Merkel und Schröder 0=trifft überh. nicht zu 6=trifft voll und ganz zu

Vertretung Deutschlands

Parteiunterstützung

Konzepte

Führungsstärke

Teamfähigkeit

Bürgernähe

Schröder: Prozente 3.7 6.7 5.1 4.0 8.2 6.1 5.4 14.8 9.7 10.2 22.6 18.0 19.6 22.6 21.3 31.4 17.1 24.2 25.7 8.0 15.6 57 355 100 4.35 3.30 3.79 Merkel: Prozente 0 6.7 2.1 9.0 7.1 4.4 5.9 1 6.4 2.7 8.2 6.5 4.1 5.6 2 17.3 8.9 16.8 16.7 12.5 16.9 3 28.8 18.8 26.6 24.4 24.3 27.9 4 24.8 23.4 21.1 23.4 26.8 25.0 5 11.7 26.8 13.8 15.1 21.3 14.0 6 4.1 17.3 4.4 6.8 6.6 4.9 fehlende Werte n 275 148 144 96 373 125 Mittelwerte 3.10 4.08 3.02 3.23 3.56 3.22 Schröder minus Merkel: Mittelwertsdifferenzen -6 bis +6 1.24 -.24 -.07 1.12 -.26 .57 Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, Gesamt N=2540; eigene Berechnungen. 0 1 2 3 4 5 6 fehlende Werte n Mittelwerte

2.9 2.3 5.4 13.5 20.9 32.6 22.4 86 4.34

4.1 4.6 12.5 16.7 22.2 23.8 16.1 130 3.84

12.0 10.2 16.7 20.8 19.0 14.7 6.6 109 2.95

Glaubwürdigkeit

Sympathie

14.6 10.3 15.0 21.5 18.7 14.1 5.8 64 2.85

11.4 8.3 10.5 15.2 17.8 23.6 13.1 48 3.43

7.8 8.1 15.0 26.1 20.7 16.0 6.4 110 3.17

11.8 10.3 18.9 23.8 18.6 11.8 4.8 59 2.82

-.32

.61

Während innerhalb der Gesamtbevölkerung wie bereits bei früheren Wahlen eine deutliche Varianz der Eigenschaftswahrnehmungen erwartbar war, ist nach wie vor umstritten, ob solche Eigenschaften individuell tatsächlich differenziert beurteilt werden oder ob sie eher ganzheitlich entlang einer generalisierten Wahrnehmung des jeweiligen Kandidaten erfolgen (vgl. z.B. Vetter/Brettschneider 1998, Klein/Ohr 2000a). Offen ist auch, inwieweit die Kandidaten generell kontrastierend oder aber eigenschaftsspezifisch beurteilt werden. Betrachtet man die Eigenschaftsbeurteilungen pro Kandidat (Tab.3), zeigen sich (ähnlich wie in früheren Erhebungen) recht enge bivariate Zusammenhänge, die aber dennoch in ihrer Intensität variieren. Dabei ist die Struktur dieser Zusammenhänge bei Merkel und Schröder identisch: Besonders eng gehen die Urteile zur Bürgernähe mit denen zu den Politikkonzepten und mit der Sympathie einher – die Bürgernähe könnte somit als Brücke zwischen rollennahen und rollenferneren Merkmalen verstanden werden. Am relativ schwächsten fallen dagegen die Zusammenhänge der Wahrnehmung des Verhältnisses

340

Bettina Westle

zwischen Kandidaten und ihren Parteien zu allen anderen Merkmalen aus, möglicherweise weil nur bei diesem Merkmal ein weiterer Akteur außer dem Kandidaten selbst ins Spiel kommt. Die bivariaten Zusammenhänge der Bewertung beider Kandidaten pro Eigenschaft (Tab.4) zeigen dagegen erheblich schwächere Zusammenhänge, die zudem zwischen negativer und positiver Ausprägung variieren. So findet sich bspw. bei den Sympathiewerten ein negativer Zusammenhang, d.h. größere Sympathie für Schröder geht tendenziell mit geringerer Sympathie für Merkel einher. Bei der Glaubwürdigkeit findet sich dagegen ein positiver Zusammenhang, d.h. hierzu werden tendenziell für beide Kandidaten nur positive oder nur negative Urteile gefällt. Diese Struktur spricht somit gegen durchgehend kontrastierende Beurteilungen der Konkurrenten und für eher voneinander unabhängige, ganzheitliche Wahrnehmungen der Kandidaten. Tabelle 3: Bivariate Zusammenhänge zwischen Eigenschaften von Schröder und bivariate Zusammenhänge zwischen Eigenschaften von Merkel Pearsons r

Vertretung Deutschlands

Parteiunterstützung

Konzepte

Führungsstärke

TeamBürgerGlaub- Sympathie fähignähe würdigkeit keit nur Schröder (n=2037) Vertretung Dtl. .38** .59** .65** .56** .62** .57** .60** Parteiunterst. .45** .34** .45** .47** .40** .41** .36** Konzepte .63** .40** .54** .57** .77** .51** .68** Führungsstärke .62** .40** .58** .51** .59** .54** .59** Teamfähigkeit .58** .48** .53** .50** .63** .57** .57** Bürgernähe .64** .41** .70** .62** .59** .55** .75** Glaubwürdigkeit .59** .49** .56** .53** .57** .58** .55** Sympathie .62** .36** .68** .59** .55** .73** .60** nur Merkel (n=1890) Oberhalb der Diagonale: Schröder, unterhalb der Diagonale: Merkel; ** auf dem Niveau von p<.001 signifikant. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Tabelle 4: Bivariate Zusammenhänge zwischen Eigenschaften Schröders und Merkels Pearsons r

Vertretung Partei- Konzepte FührungsTeamBürgerGlaub- Sympathie Deutschunterstärke fähignähe würdigkeit lands stützung keit n 1888 1881 1883 1887 1858 1887 1888 1890 Vertr. Dtl. -.09 ** .00 -.16 ** -.08 ** -.00 -.15 ** -.00 -.17 ** Partei-u. .03 .22 ** -.05 .02 .10 ** -.05 .06 * -.02 Konzepte -.16 ** -.06 * -.14 ** -.15 ** -.07 * -.21 ** -.06 * -.23 ** Führung. -.11 ** -.06 * -.19 ** -.06 * -.07 * -.19 ** -.05 -.23 ** Teamf. -.01 .07 * -.07 * .02 .15 ** -.05 * .04 -.04 Bürgern. -.12 ** -.04 -.16 ** -.08 * -.02 -.10 * -.01 -.19 ** Glaubw. .01 .11 ** -.04 .01 .10 ** -.04 .19 ** -.04 Symp. -.17 ** -.09 ** -.23 ** -.17 ** -.09 * -.22 ** -.07 ** -.24 ** * auf dem Niveau von p<.01 und ** auf dem Niveau von p<.001 signifikant. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Die Spitzenkandidaten in der Wahrnehmung der Bevölkerung

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Einen ähnlichen Befund liefert die faktorenanalytische Struktur (Tab.5), die sämtliche Urteile zu Schröder auf Faktor 1 und die zu Merkel auf Faktor 2 ausweist, jedoch mit variierenden Vorzeichen der Ladungen auf dem jeweils anderen Faktor. Dabei zeigen beide Faktoren mit ca. 61 Prozent nahezu identische Anteile erklärter Varianz. Diese ist hoch genug, um eine Zusammenfassung der Eigenschaften zu einem Gesamtindex zu rechtfertigen. Die Reliabilitätswerte Cronbachs Alpha sind in beiden Fällen .91 und würden sich lediglich bei Weglassen des Items zur Unterstützung durch die Partei minimal um .001 verbessern. Tabelle 5: Faktorielle Strukturen der Eigenschaften von Schröder und Merkel nur Schröder F1

nur Merkel F1

Schröder und Merkel F1

F2

F1

F2

Vertretung Deutschlands -.04 .80 Merkel .82 -.06 Schröder Parteiunterstützung .06 .58 Items .62 .11 Items Konzepte -.13 .80 .80 -.14 Führungsstärke -.04 .77 .76 -.12 Teamfähigkeit .07 .78 .77 .08 Bürgernähe -.12 .85 .84 -.08 Glaubwürdigkeit .07 .78 .79 .11 Sympathie -.16 .81 .81 -.18 Eigenwert 4.88 4.92 4.40 5.43 Prozentanteil 61.0 61.5 27.5 33.9 erkl. Varianz Hauptkomponentenanalyse, Varimaxrotation ohne Vorgabe der Anzahl der Faktoren; Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Bei der Bildung von Summenindizes aus diesen Eigenschaftsurteilen würden sich bei ausschließlicher Berücksichtigung der Befragten, die alle Eigenschaften beurteilen, allerdings hohe zudem und für Merkel und Schröder unterschiedliche Anteile an ausgeschlossenen Befragten ergeben (Tab.6). Tabelle 6: Fehlende Werte bei den Angaben zu Eigenschaften Schröders und Merkels Zählindizes Schröder Merkel Prozente 0 80.2 74.4 0 1 12.4 14.3 1-2 2 3.4 5.2 3-4 3 1.8 2.6 5-6 4 0.9 1.4 7-8 5 0.4 0.6 9-10 6 0.1 0.5 11-12 7 0.2 0.3 13-14 8 0.6 0.8 15-16 Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Schröder und Merkel 72.5 16.6 5.6 2.4 1.1 0.8 0.1 0.1 0.7

Deshalb werden die Summenindizes in zwei Varianten gebildet, d.h. in Variante 1 unter Ausschluss und in Variante 2 unter Einschluss aller Befragten mit bis zu 7 fehlenden Werten. Variante 1 umfasst bei Schröder 80.2 Prozent und bei Merkel 74.4 Prozent der Befragten, Variante 2 umfasst bei Schröder 99.4 Prozent und bei Merkel 99.2 Prozent der Befrag-

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Bettina Westle

ten. Dabei beruhen die Indizes der Variante 2 nur in ca. 5 Prozent der Fälle auf einer extrem schwachen Antwortgrundlage von weniger als 5 Eigenschaftsbeurteilungen. Dementsprechend ergeben sich bei den Indexvarianten nur geringe Unterschiede in den statistischen Kennwerten, aber sehr große in der Zahl eingeschlossener Fälle. In summarischer Perspektive auf die berücksichtigten Eigenschaften schneidet Schröder etwas besser als Merkel ab (Tab.7). Tabelle 7: Mittelwertindizes und Differenzindizes auf Grundlage der Mittelwertindizes der Angaben zu Eigenschaften Schröders und Merkels Schröder: 0=negativ 6=positiv

Merkel: 0=negativ 6=positiv

zugelassene MittelStd.fehl. MittelStd.fehl. fehlende Werte wert abw. Werte n wert abw. Werte n keine 3.65 1.29 503 3.51 1.17 650 bis 7 3.60 1.31 16 3.26 1.23 21 Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

4.

Schröder minus Merkel -6=Merkel besser +6=Schröder besser MittelStd.fehl. wert abw. Werte n .34 1.81 699 .35 1.84 21

Wahrnehmung der ideologischen Positionen der Kanzlerkandidaten

Eine in der aktuellen Forschung vernachlässigte Form der Einschätzung von Merkmalen bildet die Verortung der Kandidaten auf dem ideologischen Links-Rechts-Spektrum. Man kann diese Position als weitere Eigenschaft betrachten oder auch als eine implizit summarische Wahrnehmung von Politikpositionen, die in vergleichbarer Weise auch zur Kennzeichnung der Parteien als Heuristiken genutzt werden (vgl. z.B. Mondak 1994, Kuklinski/ Quirk 2000, Gomez/Wilson 2001). Dabei ist zu vermuten, dass Kandidaten und ihre Parteien jeweils sehr ähnlich, jedoch nicht notwendig identisch wahrgenommen werden, da sie zumeist einem der Flügel innerhalb ihrer Parteien nahe stehen. Die entsprechenden Einstufungen (Tab.8) zeigen recht homogene Wahrnehmungen durch die Bevölkerung, denn rund 60-70 Prozent der Nennungen fallen auf jeweils 3-4 benachbarte Skalenstufen. Wie erwartet sind die Einstufungen der Kandidaten und ihrer Parteien im Mittel sehr ähnlich, wobei Schröder – vermutlich als Folge seines Reformkurses – etwas weiter rechts als die SPD gesehen wird, während Merkel etwas weiter links als die CDU und besonders als die CSU positioniert wird. Auch auf individueller Ebene hängen diese Positionierungen eng zusammen mit Pearsons r .70 bei Schröder und der SPD und .73 bei Merkel und der Union. Der Schwerpunkt der Selbsteinstufung im vorliegenden Sample liegt zwischen beiden, jedoch deutlich näher zu Schröder als zu Merkel.

Die Spitzenkandidaten in der Wahrnehmung der Bevölkerung

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Tabelle 8: Einstufungen auf der Links-Rechts-Skala Prozente Selbst Schröder Merkel SPD CDU CSU Union* 1 links 3.5 3.9 0.8 4.7 0.7 0.8 0.7 2 3.8 5.6 0.8 5.9 0.9 0.7 1.1 3 11.9 16.1 3.1 19.9 2.5 2.6 2.4 4 13.3 20.1 2.9 25.6 2.8 3.7 3.5 5 16.0 23.4 6.9 22.0 6.9 4.2 5.5 6 27.1 20.2 18.3 13.7 16.0 9.3 8.1 7 9.7 4.6 25.8 4.0 24.5 16.0 16.7 8 7.5 3.5 22.1 1.9 24.0 22.1 25.4 9 4.6 1.1 10.5 1.0 12.5 20.1 20.2 10 1.3 0.7 5.6 0.4 4.9 12.8 10.4 11 rechts 1.3 0.9 3.2 0.8 4.3 7.7 6.0 Mittelwert 5.40 4.69 7.11 4.37 7.24 7.84 7.55 Std. abw. 2.06 1.80 1.83 1.72 1.84 2.04 1.86 n 2367 2353 2357 2405 2412 2389 2384 * Index aus CDU und CSU, je zwei Skalenwerte (außer dem mittleren) zusammengefasst. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Tabelle 9: Einstufungen auf der Links-Rechts-Skala – Differenz- und Nähe-Indizes zwischen Kandidaten und ihren Parteien zu den Befragten Schröder Merkel SPD Union minus Befragte minus Befragte minus Befragte minus Befragte n 2265 2268 2308 2293 Differenzindizes Mittelwerte: -10=Befragte weiter rechts, 10=Befragte weiter links Mittelwert -.71 1.72 -1.04 2.17 Std.abw. 2.53 2.63 2.51 2.67 Näheindizes Mittelwerte: 0=identisch bis 10=sehr entfernt Mittelwert 1.88 2.36 1.97 2.62 Std.abw. 1.83 2.07 1.87 2.22 Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Relevant für die Kanzlerpräferenz dürfte weniger die absolute Einstufung auf der LinksRechts-Skala sein als vielmehr der wahrgenommene Unterschied bzw. die wahrgenommene Nähe zur eigenen Position des Wählers. Im Durchschnitt sehen die Befragten Schröder etwas weiter links als sich selbst und Merkel relativ deutlich weiter rechts, wobei diese Differenzen in Bezug auf die Parteien der Konkurrenten noch etwas stärker ausgeprägt sind. Die Näheindizes erfassen nicht mehr die Richtung, sondern nur das Ausmaß der Nähe bzw. der Unterschiede. Sie zeigen bei den Kandidaten eine größere Nähe als bei den Parteien an und im Durchschnitt eine größere Nähe des Samples zu Schröder bzw. zur SPD als zu Merkel bzw. zur Union. Jedoch sind die Standardabweichungen hinreichend groß, so dass von einer üblichen Heterogenität der Urteile in der Befragtenpopulation auszugehen ist (Tab.9).5 Für die folgenden Analysen werden wegen der einfacheren Interpretierbarkeit die Näheindizes verwendet. 5

Dass die Unterschiede zwischen den Befragten zu den Kandidaten regelmäßig geringer als zu ihren Parteien ausfallen, könnte neben der Frage der Flügelzugehörigkeit der Kandidaten auch daran liegen, dass die Ideologie als Beurteilungskriterium im kognitiven System der Wählerschaft für Personen, zumal wenn sie sich dem Amt des Regierungschefs stellen, eine geringere Rolle als für parteiliche Institutionen einnimmt – eine Annahme, die hier allerdings nicht hinreichend überprüft werden kann.

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Tabelle 10: Bivariate Zusammenhänge zwischen den Kandidaten zugeschriebenen Eigenschaften und Einstufungen auf der Links-Rechts-Skala Pearsons r

LR der Kandidaten Schröder Merkel -.00 -.09** -.01 -.01 .01 -.08** -.00 -.05* -.04 -.05* .01 -.08** .00 -.06* .01 -.11**

Links-RechtsSelbsteinstufung Schröder Merkel -.27** .21** -.14** .13** -.31** .31** -.25** .17** -.19** .11** -.17** .16** -.34** .24** -.31** .28**

Links-Rechts-Nähe der Kandidaten zum Befragten Schröder Merkel .27** .31** .11** .13** .36** .38** .25** .27** .22** .20** .25** .26** .37** .35** .30** .40**

Vertretung Deutschlands Parteiunterstützung Konzepte Führungsstärke Teamfähigkeit Bürgernähe Glaubwürdigkeit Sympathie Gesamtindex ohne fehlende Werte -.03 -.07* -.34** .28** .35** .38** Gesamtindex mit bis 7 fehlenden Werten -.01 -.09** -.32** .25** .35** .38** * auf dem Niveau von p<.01 und ** auf dem Niveau von p<.001 signifikant. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Allerdings hängt keine der erfassten Eigenschaften in nennenswerter Weise mit der Positionierung der Kandidaten auf dem ideologischen Spektrum zusammen, allenfalls mit Ausnahme der Sympathiewerte Merkels, d.h. je weiter rechts Merkel wahrgenommen wird, desto schwächer fällt die Sympathie ihr gegenüber aus (bzw. umgekehrt) (Tab.10). Deutlich und in der Richtung plausible Zusammenhänge finden sich jedoch zwischen allen Eigenschaftswahrnehmungen und der Links-Rechts-Selbsteinstufung der Befragten, also durchgängig positivere Urteile zu Schröder bei zunehmend linker Position der Befragten bzw. bei zunehmend rechter Position durchgängig positivere Urteile zu Merkel. Die Zusammenhänge mit den Näheindizes sind überwiegend nur geringfügig stärker, was als Folge der relativ homogenen Wahrnehmung der Kandidatenpositionen zu sehen ist.

5.

Gesamtbeurteilungen der Kanzlerkandidaten

Wie vor dem Hintergrund der bislang berichteten Verteilungen zu erwarten, schneidet Schröder auch bei der Gesamtbewertung anhand der Skalometer etwas besser ab als Merkel, ebenso wie ihre Parteien, wobei die Urteile zu den Kandidaten und ihren Parteien eng zusammenhängen, während die zwischen Kandidat und gegnerischer Partei nur mäßig negativ ausgeprägt sind (Tab.11).

Die Spitzenkandidaten in der Wahrnehmung der Bevölkerung

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Tabelle 11: Gesamtbewertungen der Kandidaten und ihrer Parteien und Zusammenhänge zwischen den Gesamtbewertungen Prozente Schröder Merkel SPD CDU CSU Union* halte davon: 0 gar nichts davon 10.1 10.8 6.8 8.2 15.7 10.3 1 4.6 5.2 3.6 4.2 6.4 6.9 2 5.6 6.2 8.3 7.4 7.4 8.2 3 4.6 6.2 6.1 7.1 7.0 8.0 4 4.2 4.7 3.9 7.0 7.6 8.4 5 9.1 13.7 11.7 12.6 14.8 8.7 6 7.8 13.1 9.7 10.9 8.6 10.8 7 13.2 13.9 12.9 13.7 10.4 12.7 8 17.7 14.8 20.0 16.3 12.0 14.4 9 13.7 7.3 10.3 7.9 6.0 7.6 10 sehr viel 9.4 4.1 6.7 4.7 4.2 4.3 Mittelwert 5.90 5.25 5.81 5.41 4.63 5.02 Std. abw. 3.15 2.93 2.90 2.85 3.07 2.84 n 2522 2525 2505 2497 2459 2453 Pearsons r Schröder Merkel SPD CDU CSU Union* Schröder -.19** .81** -.27** -.32** -.30** Merkel -.22** .77** .67** .75** SPD -.25** -.33** -.30** CDU .83** .95** CSU .96** * Index aus CDU und CSU, aus Übersichtsgründen wurden in der Darstellung je zwei Skalenwerte zusammengefasst, lediglich der mittlere Skalenwert 5 wurde belassen. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Bivariat (Tab.12) zeigt sich, dass alle Eigenschaften deutlich mit der Gesamtbewertung korrelieren, wobei die engsten Zusammenhänge mit Pearsons r über .60 bei beiden Kandidaten zu der ähnlich allgemeinen Wertungsform, nämlich der ihnen entgegengebrachten Sympathie, bestehen, aber auch zu ihren Konzepten und der ihnen zugesprochenen Glaubwürdigkeit stark ausfallen. Am geringsten ist erneut der Zusammenhang mit der wahrgenommenen Unterstützung der Kandidaten durch die Parteien. Auch die ideologische Nähe der Kandidaten zum Urteilenden zeigt nur mittlere Zusammenhänge mit ihrer Gesamtbewertung. Am stärksten fällt der Zusammenhang mit der Bewertung der jeweiligen Partei der Kandidaten aus. Der große Unterschied in den Zusammenhängen der Variablen ‚Parteiunterstützung’ und ‚Gesamtbewertung der Partei’ irritiert auf den ersten Blick, jedoch könnte sich darin andeuten, dass das spezifische, aktuelle Verhältnis zwischen Kandidat und Partei für die Wählerschaft irrelevanter ist als die strukturelle Zusammengehörigkeit beider, insbesondere da angesichts des Wahlsystems nur jeweils beide zusammen gewinnen oder verlieren können.

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Tabelle 12: Bivariate Zusammenhänge der Wahrnehmung von Kandidateneigenschaften mit der Gesamtbewertung der Kandidaten Pearsons r Gesamtbewertung Schröder Gesamtbewertung Merkel Schröder: Vertretung Deutschlands .58** Merkel: Vertretung Deutschlands Schröder: Parteiunterstützung .29** Merkel: Parteiunterstützung Schröder: Konzepte .70** Merkel: Konzepte Schröder: Führungsstärke .55** Merkel: Führungsstärke Schröder: Teamfähigkeit .51** Merkel: Teamfähigkeit Schröder: Bürgernähe .51** Merkel: Bürgernähe Schröder: Glaubwürdigkeit .71** Merkel: Glaubwürdigkeit Schröder: Sympathie .72** Merkel: Sympathie Schröder: Ges.index o. fehl.Werte .75** Merkel: Ges.index o. fehl.Werte Schröder: Ges.ind.b.7 fehl. Werte .74** Merkel: Ges.ind. b.7 fehl. Werte Schröder: LR-Nähe zu Ego .37** Merkel: LR-Nähe zu Ego SPD-Gesamtbewertung .80** Union-Gesamtbewertung Merkel: Vertretung Deutschlands -.20** Schröder: Vertretung Deutschlands Merkel: Parteiunterstützung -.06** Schröder: Parteiunterstützung Merkel: Konzepte -.25** Schröder: Konzepte Merkel: Führungsstärke -.19** Schröder: Führungsstärke Merkel: Teamfähigkeit -.08** Schröder: Teamfähigkeit Merkel: Bürgernähe -.04 Schröder: Bürgernähe Merkel: Glaubwürdigkeit -.20** Schröder: Glaubwürdigkeit Merkel: Sympathie -.27** Schröder: Sympathie Merkel: Ges.index o. fehl.Werte -.24** Schröder: Ges.index o. fehl.Werte Merkel: Ges.ind. b.7 fehl. Werte -.20** Schröder: Ges.ind. b.7 fehl. Werte Merkel: LR-Nähe zu Ego -.25** Schröder: LR-Nähe zu Ego Union-Gesamtbewertung -.30** SPD-Gesamtbewertung Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

.60** .27** .65** .52** .45** .47** .64** .70** .71** .69** .44** .75** -.16** -.13** -.25** -.18** -.17** -.10** -.25** -.29** -.29** -.24** -.08** -.22**

Konsistent mit den Befunden der vorangegangenen Abschnitte ist, dass die Zusammenhänge mit den Eigenschaften des jeweiligen Gegenkandidaten durchgehend negativ und schwächer ausfallen. Dies deutet erneut darauf hin, dass die wahrgenommenen Gegensätze zwischen den beiden Konkurrenten durchaus eine Rolle für die Gesamturteilsbildung spielen, der Kontrast zwischen beiden jedoch nicht im Zentrum der Urteilsbildung steht.

Die Spitzenkandidaten in der Wahrnehmung der Bevölkerung

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Tabelle 13: Multivariate Zusammenhänge der Urteile zu Kandidateneigenschaften, ideologischer Nähe und Gesamtbewertung von Parteien mit der Gesamtbewertung der Kandidaten Modell 1

Vertretung Deutschlands Parteiunterstützung Konzepte Führungsstärke Teamfähigkeit Bürgernähe Glaubwürdigkeit Sympathie Ges.index o. fehl.Werte Ges.index b.7 fehl. Werte LR-Nähe zu Ego SPD-Gesamtbewertung Konstante 2 adj. r

b .22 -.03 .50 .07 -.03 .04 .34 .51

beta .10 -.01 .28 .03 -.02 .02 .19 .31

** **

** **

Multiple lineare Regressionen Modell 2 Schröder b beta .24 .11 ** -.00 -.00 .47 .26 ** .05 .02 -.02 -.01 .03 .01 .32 .18 ** .50 .31 **

.16 .51

.64

.96

.09 **

.64 Merkel b beta .27 .13 -.09 -.04 .37 .20 .12 .06 .06 .03 -.06 -.03 .20 .11 .56 .32

Modell 3 b .11 -.05 .17 .01 .04 .05 .16 .40

.03 .52 -.06

beta .05 -.03 .09 .01 .02 .03 .09 .24

** **

** **

.02 .48 ** .74

b beta b beta Vertretung Deutschlands .30 .14 ** ** .21 .10 ** Parteiunterstützung -.11 -.05 ** ** -.08 -.04 ** Konzepte .43 .23 ** ** .16 .08 ** Führungsstärke .13 .07 ** ** .12 .06 ** Teamfähigkeit .00 .00 .07 .03 Bürgernähe -.04 -.02 -.01 -.00 Glaubwürdigkeit .21 .12 ** ** .09 .05 ** Sympathie .63 .36 ** ** .44 .25 ** Ges.index o. fehl. Werte Ges.index b.7 fehl.Werte LR-Nähe zu Ego .24 .17 ** .09 .07 ** Union-Gesamtbewertung .41 .40 ** Konstante .75 1.66 2 adj. r .59 .60 .69 ** auf dem Niveau von p<.001 signifikant. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Multivariat (Modell 1) stellen sich sowohl bei Schröder als auch bei Merkel nur noch vier Eigenschaften als deutlich relevant für die Gesamtbewertungen dar, allen voran die Sympathie, gefolgt von den Konzepten, der Glaubwürdigkeit und der Vertretung Deutschlands mit den höchsten beta-Werten. Die b-Werte zeigen darüber hinaus, dass für die Gesamtbewertung Schröders die Konzepte und die Glaubwürdigkeit, für die Merkels die Sympathie und die Vertretung Deutschlands eine relativ größere Rolle einnehmen, also eher jene Aspekte, bei denen die Kandidaten jeweils schlechter abschneiden. Insgesamt erbringen die erfassten Eigenschaften mit einem r2 von .64 bei Schröder und .59 bei Merkel bereits recht gute Erklärungen der Gesamtbewertung, jedoch wird auch deutlich, dass in die Gesamturteile offenbar weitere, hier nicht berücksichtigte Faktoren einfließen.

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Die zusätzliche Berücksichtigung der ideologischen Nähe (Modell 2) reduziert die Erklärungsanteile der Eigenschaften nur unwesentlich, wird aber selbst durch diese deutlich geschwächt und steigert die Gesamterklärungskraft des Modells nicht. Der weitere Einbezug der Gesamtbewertung der Parteien (Modell 3) saugt erhebliche Erklärungsanteile der Eigenschaften auf, deren Effekte zwar noch signifikant bleiben, aber – mit Ausnahme der Sympathie – doch deutlich geringer werden; dabei erbringt dies nochmals einen rund 10prozentigen Erklärungszuwachs. Diese Struktur deutet darauf hin, dass die Parteizugehörigkeit der Kandidaten in der Wahrnehmung der Wähler ein äußerst wichtiges Merkmal ist – eine Wahrnehmung, die einer parteienstaatlichen Demokratie durchaus entspricht und gegen Vermutungen einer stark personalisierten bzw. präsidialen Wahlentscheidung spricht, sofern sich diese Struktur auch bei der Erklärung der Kanzlerpräferenz fortsetzt. Schließt man in diese drei Modelle zusätzlich die äquivalenten Merkmale des jeweiligen Konkurrenten ein, so erhöht sich die Gesamterklärungskraft mit .01 fast überhaupt nicht und die meisten dieser Merkmale erweisen sich als irrelevant (nicht tab. ausgewiesen). Die Differenz in den Eigenschaften zum Konkurrenten ist somit auch nach diesem Befund für die Gesamturteile zum jeweiligen Kandidaten eher unerheblich.

6.

Kanzlerpräferenzen und ihre Gründe

Die Kanzlerpräferenz fällt im vorliegenden Sample mit 45.3 Prozent gegen 29.5 Prozent stark zugunsten von Schröder aus. 25.2 Prozent der Befragten geben spontan an, keinen von beiden als Kanzler zu wollen (n=2471). Bei dem offen erfragten wichtigsten Grund für die Kanzlerpräferenz konzentrieren sich die Angaben zu Schröder mit knapp 34 Prozent in hohem Maß auf verschiedene Kompetenzen, seine Erfahrung im Amt und Führungsqualitäten, gefolgt von seinen Konzepten mit 16 Prozent und seiner Ausstrahlung mit 11 Prozent. Anders als bei der analytischen Erklärung der Gesamtbewertung Schröders spielen bei den durch die Befragten selbst angeführten Gründen für die Kanzlerpräferenz auf die SPD bezogene Gründe mit 5 Prozent nur eine marginale Rolle. Auch Negativurteile über die Konkurrentin sind mit 8 Prozent eher randständig. Als Grund für die Präferenz für Merkel werden dagegen mit rund 26 Prozent am häufigsten Negativurteile über die bisherige, rot-grüne Regierungskoalition angeführt. Dem folgen mit 18 Prozent Nennungen zu Kompetenzen und Führungsqualitäten Merkels sowie mit knapp 11 Prozent auf die Union bezogene Gründe und schließlich mit 10 Prozent das Motiv, eine Frau als Kanzlerin unterstützen zu wollen (Tab.14). Setzt man die offen erfassten Gründe der Kanzlerpräferenz mit den thematisch jeweils vergleichbaren, geschlossen erfragten Eigenschaftsbeurteilungen auf individueller Ebene in Beziehung (Tab.15), so wird eine gute Antwortkonsistenz deutlich: Befragte, die als Grund für ihre Schröderpräferenz bspw. dessen Führungsstärke angeben, beurteilen seine Führungsstärke auch bei den Eigenschaftswahrnehmungen wesentlich besser als die Merkels. Entsprechendes gilt für alle Begründungen sowohl bei Schröder als auch bei Merkel. Die stärkste Polarisierung der Eigenschaftsurteile tritt dabei bei den Schröder-Anhängern zur Bürgernähe, bei den Merkel-Anhängern zur Glaubwürdigkeit auf.

Die Spitzenkandidaten in der Wahrnehmung der Bevölkerung

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Tabelle 14: Kanzlerpräferenzen und Begründungen für die Kanzlerpräferenzen Prozente Codes S* Codes M* Schröder Merkel Kanzlerpräferenz* 45.3 29.5 Begründungen Vertretung Deutschlands 8 1.7 Konzepte, Politiken 4,5,6,9,10,14,28 5,12,15 15.7 6.6 Führungsstärke, Kompetenz 1,7,15,16, 26,27 6,11,19 33.6 17.6 Bürgernähe 23 1.4 Glaubwürdigkeit 3 3 2.0 5.1 Sympathie, Ausstrahlung 2,12, 24 4 11.4 2.1 Parteibezogene Gründe 11,17,19,29 7,13,16 5.1 10.8 Un/Zufriedenheit mit bish. Regierung 18 8,10,14,18 0.7 26.2 TV-Auftritt von Schröder 9 1.3 Merkel unfähig 21 7.1 keine Frau als Kanzlerin 25 1.4 Frau als Kanzlerin 1 10.2 Sonstiges 20,22,30 2,17,20 6.9 9.7 weiß nicht, kein Grund 98 98 12.8 10.4 * In diesen Spalten sind die hier vorgenommenen Zusammenfassungen der ursprünglichen Codes angegeben, um Nachvollziehbarkeit der Analyse zu gewährleisten. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Die offen erfassten Angaben zur Kanzlerpräferenz zeigen einerseits, dass die Eigenschaften der Kandidaten alleine kaum in der Lage sein können, die Kanzlerpräferenz vollständig zu erklären, da Nennungen vorkommen, die bei den Eigenschaften nicht erfasst wurden und/oder nicht als Eigenschaft erfassbar sind. Andererseits können diese Angaben nur einen ersten Anhaltspunkt für relevante Motive der Kanzlerpräferenz liefern, da nur jeweils ein Grund erfragt wurde, aber davon auszugehen ist, dass die Kanzlerpräferenz für gewöhnlich auf mehr als einer Ursache beruht. Außerdem sind offene Fragen erfahrungsgemäß von der Artikulationsfähigkeit und –willigkeit der Befragten sowie den Kompetenzen der Codierer stärker beeinträchtigt als geschlossene Frageformate. Tabelle 15: Eigenschaftsbeurteilungen in Abhängigkeit von Kanzlerpräferenz-Gründen Eigenschaften Kanzlerpräferenz-Grund für Schröder Merkel Kanzlerpräferenz-Grund für Schröder Merkel Mittelwerte 0-6 Vertretung Dtls. 5.69 2.44 Vertretung Dtls. Konzepte, Politiken 4.06 2.46 Konzepte, Politiken Führungsstärke 5.22 2.74 Führungsstärke Bürgernähe 5.40 2.05 Bürgernähe Glaubwürdigkeit 4.37 1.63 Glaubwürdigkeit Sympathie 5.05 2.11 Sympathie Parteibez. Gründe 4.56 4.14 Parteibez.Gründe Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Eigenschaften Merkel Schröder Mittelwerte 0-6 4.38 2.01 4.37 3.57 4.79 1.41 5.13 2.24 4.72 3.42

Im nächsten Schritt werden daher die bivariaten Zusammenhänge zwischen den Eigenschaftswahrnehmungen, der ideologischen Nähe und den Gesamtbewertungen der Kandidaten sowie ihrer jeweiligen Partei mit der Kanzlerpräferenz betrachtet (Tab.16). Dafür ist die Kanzlerpräferenz in vier dichotome Variablen umgeformt worden: Die Variable KpraefS bildet die Präferenz für Schröder im Gegensatz zu Merkel oder keinen von beiden ab, die

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Variable KpraefM äquivalent die Präferenz für Merkel versus Schröder oder keinen von beiden. Die Varaible KpraefSM bildet die Präferenz für Schröder versus Merkel unter Ausschluss derjenigen Befragten ab, die spontan angaben, keinen von beiden als Kanzler zu wollen. Die Variable Kpraefk bildet das Pendant dazu, indem der Ablehnung beider Kandidaten die Entscheidung für einen von beiden (zusammengefasst) gegenübergestellt wird. Tabelle 16: Bivariate Zusammenhänge zwischen Eigenschaftsbeurteilungen, LinksRechts-Einstufungen und Gesamtbewertungen der Kanzlerkandidaten sowie ihrer Parteien mit der Kanzlerpräferenz Cramers V KpraefS Schröder: Vertretung Deutschlands .50** Schröder: Parteiunterstützung .30** Schröder: Konzepte .61** Schröder: Führungsstärke .46** Schröder: Teamfähigkeit .45** Schröder: Bürgernähe .39** Schröder: Glaubwürdigkeit .62** Schröder: Sympathie .62** Schröder: Eigenschaftsindex o. fehl. Werte .67** Schröder: Eig.index mit bis 7 fehl.Werten .67** Schröder: Links-Rechts-Nähe Ego zu Schröder .32** Links-Rechts-Nähe Ego zu SPD .44** Schröder: Gesamtbewertung Schröder .66** Gesamtbewertung SPD .31** Merkel: Vertretung Deutschlands .13** Merkel: Parteiunterstützung .41** Merkel: Konzepte .26** Merkel: Führungsstärke .19** Merkel: Teamfähigkeit .16** Merkel: Bürgernähe .34** Merkel: Glaubwürdigkeit .39** Merkel: Sympathie .40** Merkel: Eigenschaftsindex ohne fehlende Werte .42** Merkel: Eig.index mit bis 7 fehl.Werten .42** Merkel: Links-Rechts-Nähe Ego zu Merkel .35** Links-Rechts-Nähe Ego zu Union .41** Merkel: Gesamtbewertung Merkel .41** Gesamtbewertung Union .48** * auf dem Niveau von p<.01 und ** auf dem Niveau von p<.001 signifikant. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

KpraefM .38** .22** .44** .35** .29** .25** .47** .46** .53** .53** .25** .40** .51** .50** .46** .21** .60** .39** .32** .35** .55** .61** .61** .60** .38** .42** .68** .64**

KpraefSM .56** .33** .66** .51** .46** .40** .68** .68** .72** .72** .36** .52** .76** .73** .50** .22** .65** .43** .33** .34** .57** .64** .63** .63** .47** .51** .70** .71**

Kpraefk .19** .13** .25** .19** .23** .23** .27** .25** .33** .39** .13** .19** .27** .13** .13** .14** .20** .14** .20** .22** .23** .22** .30** .35** .08 .19** .26** .19**

Die Befunde sind denen zum Verhältnis von Eigenschaftswahrnehmungen und Gesamtbewertungen der Kandidaten äußerst ähnlich: Erneut zeigen die Merkmale der Sympathie, Konzepte und Glaubwürdigkeit des jeweiligen Kandidaten die engsten Zusammenhänge zur Präferenz für ihn bzw. sie; aber auch für alle anderen Eigenschaften werden deutliche Korrelationen ausgewiesen. Die den Korrelationen zugrunde liegenden Kreuztabellen (nicht tab. ausgewiesen) zeigen zusätzlich, dass bei den Variablen, die entweder Schröder oder Merkel den beiden anderen Optionen (Gegenkandidat oder keiner von beiden) entgegensetzen, primär die Eigenschaften des ersteren eine Rolle spielen, während die entsprechenden Eigenschaften des Konkurrenten erheblich schwächer korrelieren und sich entgegengesetzt verhalten (was im Fall eines Korrelationsmaßes, das positive und negative Werte abbildet,

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zu negativen Werte führen würde). D.h. in erster Linie sind es die wahrgenommenen Stärken des präferierten Kandidaten und erst in zweiter Linie die wahrgenommenen Schwächen des Gegenkandidaten, die den Ausschlag für die Präferenz für einen der beiden Kandidaten im Gegensatz zum Konkurrenten oder der Ablehnung beider geben. Vergleichbares trifft für die Nähen auf dem ideologischen Spektrum zu, die erneut mittel starke Zusammenhänge zeigen. Am stärksten sind wiederum die Korrelationen mit der Gesamtbewertung der Partei des jeweiligen Kandidaten, nunmehr ergänzt um ebenso enge Zusammenhänge zwischen der Gesamtbewertung des Kandidaten mit der Präferenz für Merkel oder Schröder (KpraefS und KpreafM). Diese Struktur spiegelt sich durchgehend in verstärkten Zusammenhängen mit der Variable wider, die die Präferenz für Schröder versus Merkel direkt gegenüberstellt (KpraefSM). Darüber hinaus wird deutlich, dass die summarischen Eigenschaftsindizes etwa gleich starke Zusammenhänge mit der Kanzlepräferenz aufweisen wie die Gesamtbewertungen der Kandidaten, also vergleichbare Erklärungskraft haben dürften. Wesentlich schwächer sind die Zusammenhänge zwischen allen diesen Merkmalen und der Ablehnung beider Kandidaten (Kpreafk), wobei eine Inspektion der Kreuztabellen zusätzlich zeigt, dass sich diese Option aus einer generalisiert negativen Sicht beider Konkurrenten und ihrer Parteien speist. Für die multivariate Überprüfung der Effekte dieser Variablen auf die Kanzlerpräferenz sind als abhängige Variablen die Entscheidung zwischen Schröder und Merkel (KpraefSM) und die Entscheidung gegen beide (Kpraefk) ausgewählt und für beide Fälle sind fünf Modellvarianten berechnet (Tab.17). Die erste Variante schließt als unabhängige Variablen sämtliche erfassten Eigenschaften der beiden Kandidaten ein; die zweite Variante enthält zusätzlich die wahrgenommene Nähe der beiden Kandidaten zum Befragten auf der Links-Rechts-Skala und die dritte Variante darüber hinaus die Gesamtbewertung der SPD sowie der Union. Die vierte Variante nutzt lediglich die Gesamtbewertungen der Kandidaten und die fünfte Variante zusätzlich die Gesamtbewertungen ihrer Parteien. Alle Varianten kommen mit einem Pseudo r2 von .89 bis .93 zu einer vergleichbaren, ungewöhnlich hohen Erklärungsleistung bei der Präferenz zwischen Schröder und Merkel, zu deutlich niedrigeren Werten mit Pseudo r2 von um .20 bei der Entscheidung gegen beide Kandidaten. D.h. zur Prognose der Kanzlerpräferenz sind die knappen Gesamtbewertungen (Modelle 4 und 5) ebenso gut wie die umfangreicheren Eigenschaftslisten. Berücksichtigt man zur Entscheidung zwischen Schröder und Merkel nur die Eigenschaften (Modell 1), spielen vor allem die Glaubwürdigkeit, die Konzepte, die Vertretung Deutschlands und die Sympathie bei beiden Kandidaten eine Rolle, ferner noch (überraschend im Vergleich zu den bivariaten Befunden) die Teamfähigkeit Schröders. Die ideologische Nähe zu den beiden Kandidaten (Modell 2) weist von dieser ebenfalls, wenn auch eher schwache Effekte auf, verändert das Gesamtbild bei den Eigenschaften aber kaum. Bei zusätzlicher Berücksichtigung der Bewertungen der Parteien werden die Effekte der ideologischen Nähe und auch einiger Eigenschaften schwächer bzw. insignifikant, insbesondere auch die der Konzepte der Kandidaten, so dass nur noch die Sympathie gegenüber Merkel und die Glaubwürdigkeit beider sowie die Teamfähigkeit Schröders signifikante und starke Effekte zeigen. Offenbar werden die Konzepte stärker im Zusammenhang mit der Parteizugehörigkeit wahrgenommen, so dass als originäre Kandidateneigenschaften, welche die Chance auf eine bestimmte Kanzlerpräferenz erhöhen, primär solche aus dem persönlichen und persönlichkeitsnahen Bereich der Integrität verbleiben.

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Tabelle 17: Kanzlerpräferenz in Abhängigkeit von Urteilen zu den Kandidaten und ihren Parteien S=Schröder M=Merkel

Präferenz für Schröder versus Merkel Präferenz für keinen von beiden (keinen von beiden=fehlend) versus Schröder oder Merkel Exp(B) 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 S: Vertr. Dtls. .63** .66** .78 .99 .99 1.02 S: Parteiunterstütz. .78* .79* .77 1.03 1.03 1.05 S: Konzepte .46** .52** .70* .83** .86** .89 S: Führungsstärke .74 .73 .74 1.05 1.07 1.07 S: Teamfähigkeit .64** .60** .54** .93 .92 .91 S: Bürgernähe 1.03 1.07 1.05 1.02 .97 .97 S: Glaubwürdigkeit .43** .41** .58** .83** .85* .87 S: Sympathie .63** .69** .74 .89* .90* .91 S: LR-Nähe zu Ego 1.28* 1.06 1.05 1.03 Gesamt SPD .58** .68** .92* .93* S: Gesamt .14** .19** .78** .82** M: Vertr. Dtls. 1.66** 1.54* 1.48 1.12 1.10 1.11 M: Parteiunterstütz. .94 .92 .80 .99 .99 .98 M: Konzepte 2.67** 2.40** 1.58 .79** .79** .80** M: Führungsstärke 1.12 1.14 1.15 1.04 1.06 1.06 M: Teamfähigkeit 1.16 1.19 1.11 1.07 1.09 1.11 M: Bürgernähe .97 .97 1.08 .92 .96 .95 M: Glaubwürdigkeit 2.54** 2.66** 1.86** .83** .82** .82* M: Sympathie 2.30** 2.19** 2.46** .83** .80** .81** M: LR-Nähe zu Ego .76** .96 .96 .96 Gesamt Union 1.86** 1.63** .96 .95 M: Gesamt 7.64** 5.78** .80** .82** Konstante (b) .07 .13 .10 -.78 -1.07 1.41 1.22 1.57 1.33 1.58 2 Pseudo r .89 .90 .92 .91 .93 .21 .20 .20 .19 .20 (Nagelkerke) n 1378 1302 1292 1808 1770 1378 1302 1685 2448 2395 * auf dem Niveau von p<.05 und ** auf dem Niveau von p<.01 signifikant. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Für die spontane Ablehnung beider Kandidaten zeichnen von den erfassten Eigenschaften dieselben wie für die Präferenz von einen von beiden verantwortlich, allerdings in dem Sinn, dass bei beiden Kandidaten die Bewertungen zu den Konzepten, der Glaubwürdigkeit und der Sympathie negativ ausfallen, woran auch die ideologischen Nähen nichts ändern. Die zusätzliche Berücksichtigung der Gesamtbewertungen der Parteien führt allerdings dazu, dass keine der Eigenschaftsbeurteilung Schröders noch Signifikanz aufweist.

7.

Zur Rolle der Parteiidentifikation für die Orientierungen gegenüber den Kanzlerkandidaten

Bislang wurde die Erklärungskraft der wahrgenommenen Eigenschaften für die Gesamtbeurteilungen der Kandidaten und für die Kanzlerpräferenz untersucht und damit von einem bottom-up Modell der Urteilsbildung und Entscheidungsfindung ausgegangen, also der Annahme, dass die Gesamtbewertungen der beiden Kandidaten aus vielen Einzelbewertungen resultieren und dies dann in der Präferenzbildung mündet. Jedoch ist keineswegs geklärt, dass der Urteilprozess auf diese Weise verläuft. Vielmehr könnte es sich auch um

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einen top-down-Prozess handeln, bei dem schon bestehende generalisierte Urteile auf die Einzelbewertungen wirken. Diese Wirkungsrichtung wird jedenfalls von der Forschung auf Grundlage des sozialpsychologischen Modells der Michigan Schule nahegelegt, die immer wieder nachgewiesen hat, dass eine langfristige Identifikation mit einer Partei das Wahlverhalten deutlich und nach wie vor ungebrochen prägt. Dies betrifft nicht nur den direkten Effekt der Parteiidentifikation auf die Wahlentscheidung, sondern zusätzlich auch indirekte Effekte, indem sie die Wahrnehmung der beiden anderen Erklärungskomponenten des Modells, die Issuekompetenzzuschreibungen und die Kanzlerpräferenz, beeinflussen kann. Kognitionspsychologisch wird die Parteiidentifikation als Heuristik gesehen, die den Identifikateuren eine Bewertung der Kandidaten ohne tatsächlich vorhandene spezifische Kenntnisse ihrer Eigenschaften ermöglicht (z.B. Rahn 1993). Die diesen Mechanismus ebenfalls plausibilisierende sozialpsychologische Annahme der kognitiven Dissonanzvermeidung bzw. -reduktion (Festinger 1957) ist, dass die Parteiloyalität die Wahrnehmung der Kompetenzen der Partei, mit der man sich identifiziert, und die Wahrnehmung ihres Kanzlerkandidaten einfärbt – d.h. beide werden durch eine „rosa Brille“ geschönt gesehen, während die Gegenseite eher kritisch durch eine „graue Brille“ betrachtet wird. Auf diese Art und Weise werden affektiv-kognitive Dissonanzen vermieden oder zumindest gemindert, wenn ansonsten bspw. die Parteiidentifikation und die Kandidatenwahrnehmung zu cross-pressures führen würden. Tabelle 18: Interesse an Politik und am Wahlkampf in Abhängigkeit von der Parteiidentifikation und Anzahl fehlender Angaben bei Fragen zu den Kanzlerkandidaten in Abhängigkeit von der Parteiidentifikation und Interesse an Politik Zählindizes Parteiidentifikation Mittelwerte PDS B90/Grüne SPD FDP CDU/CSU andere keine n 118 113 806 87 662 45 598 Interesse an Politik 0-4 2.63 2.71 2.45 2.71 2.46 2.16 1.99 Interesse am Wahlkampf 0-4 2.63 2.71 2.45 2.71 2.46 2.16 1.99 Eigenschaften der Kandidaten 0-16 geringes Interesse 1.61 .67 .81 .50 1.23 .58 2.55 mittleres Interesse .50 .75 .48 .84 .67 .38 1.07 großes Interesse .69 .18 .49 .10 .43 1.05 .72 Links-Rechts-Nähe zu Ego 0-2 geringes Interesse .10 .00 .14 .17 .36 .00 .72 mittleres Interesse .10 .13 .14 .08 .16 .08 .19 großes Interesse .04 .03 .09 .07 .06 .11 .12 Gesamtbewertungen der Kandidaten 0-2 geringes Interesse .03 .00 .00 .00 .02 .00 .06 mittleres Interesse .00 .03 .00 .00 .01 .00 .02 großes Interesse .00 .00 .01 .00 .00 .00 .02 Gesamtbewertungen SPD und Union 0-2 geringes Interesse .06 .00 .04 .00 .05 .00 .16 mittleres Interesse .00 .03 .01 .00 .02 .00 .07 großes Interesse .01 .00 .01 .03 .01 .00 .03 Politisches Interesse recodiert wie folgt: 0,1=gering, 2=mittel, 3=groß. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

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Wenn die kognitionspsychologische Annahme der Partei als Cue zutrifft, sollten Befragte mit einer Parteiidentifikation häufiger in der Lage sein die Kandidaten zu bewerten als Befragte ohne Parteiidentifikation. Wenn zudem die sozialpsychologische Annahme der Vermeidung kognitiver Dissonanzen greift, sollten diejenigen, die sich mit einer Partei der betreffenden Kandidaten identifizieren, konsistentere und positivere Urteile zu ihrem Kandidaten sowie negativere zum Gegenkandidaten fällen als die parteilich ungebundenen Wähler und die mit anderen Parteien identifizierten Wähler. Da im untersuchten Sample die Befragten ohne Parteiidentifikation im Durchschnitt mit Mittelwerten von 1.99 (bei Skalen von 0=kein bis 4=großes Interesse) über ein geringeres Interesse an Politik und am Wahlkampf berichten als die mit Parteiidentifikation mit Mittelwerten zwischen 2.16 und 2.71, muss bei der Überprüfung der kognitionspsychologischen Hypothese zusätzlich nach dem Interesse an Politik differenziert werden, denn generell können von politikinteressierten auch häufiger gültige Antworten erwartet werden als von politikabstinenten Befragten (vgl. Westle 2005). Die Werte in Tab.18 stützen die formulierte Annahme: Bei vergleichbaren Gruppierungen des Politikinteresses zeigen die Befragten ohne Parteiidentifikation durchgehend etwas mehr fehlende Angaben als diejenigen mit Parteiidentifikation, gleichgültig welcher Couleur, und zwar fast ausnahmslos bei allen Indikatorengruppen, d.h. bei den 16 Eigenschaftsurteilen ebenso wie bei der ideologischen Nähe und der Gesamtbewertung der Kandidaten sowie ferner der Gesamtbewertung von deren Parteien. Tabelle 19: Haltungen gegenüber den Kanzlerkandidaten in Abhängigkeit von der Parteiidentifikation n S: Vertr. Dtls. S: Parteiunterst. S: Konzepte S: Führungsstärke S: Teamfähigkeit S: Bürgernähe S: Glaubwürdigk. S: Sympathie S: Eig.-ind. o. fehl. Werte S: Eig.-ind. 7 fehl. Werte S: L-R-Diff. zu Ego S: Gesamt Gesamt SPD M: Vertr. Dtls. M: Parteiunterst. M: Konzepte M: Führungsstärke M: Teamfähigkeit M: Bürgernähe M: Glaubwürdigk. M: Sympathie M: Eig.-ind. o. fehl. Werte M: Eig.-ind. 7 fehl. Werte M: L-R-Diff. zu Ego M: Gesamt Gesamt Union

PDS 118 4.43 4.09 2.81 4.54 3.25 3.88 2.90 3.63 3.73 3.73 2.85 5.64 5.16 2.51 4.00 2.00 2.76 3.18 2.75 2.24 1.76 2.60 2.71 4.88 3.10 2.30

B90/Grüne 113 4.58 4.07 3.33 4.66 2.87 3.86 3.16 3.54 3.79 3.77 1.89 6.34 6.79 2.72 3.53 2.39 3.11 3.06 2.76 2.91 2.31 2.73 2.85 3.76 4.62 3.26

SPD 806 5.14 4.36 4.18 5.17 4.08 4.61 4.08 4.74 4.57 4.55 1.16 8.34 8.13 2.75 4.01 2.54 2.78 3.36 3.14 2.77 2.21 2.96 2.93 3.10 4.30 3.70

FDP 87 3.77 3.27 2.16 4.16 2.95 3.61 2.48 3.18 3.22 3.19 2.26 4.90 4.38 3.45 4.01 3.62 3.62 3.87 3.51 3.74 3.33 3.73 3.63 1.12 6.34 6.45

Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

CDU/CSU 662 3.62 3.38 1.94 3.65 2.58 3.22 1.70 2.22 2.77 2.78 2.61 3.93 3.78 3.94 4.49 4.28 4.09 4.12 3.84 4.29 4.03 4.18 4.13 1.15 7.55 7.72

andere 45 3.44 3.19 2.16 3.31 2.58 3.00 1.49 2.60 2.79 2.69 3.63 4.78 4.12 2.65 4.03 2.11 2.65 2.81 2.31 1.86 1.98 2.62 2.52 3.61 3.21 3.88

keine 598 4.19 3.67 2.59 4.09 3.14 3.45 2.58 3.10 3.39 3.35 1.60 5.15 5.30 2.80 3.84 2.52 2.96 3.28 2.78 2.71 2.52 2.96 2.91 2.06 4.52 4.56

Die Spitzenkandidaten in der Wahrnehmung der Bevölkerung

355

Ebenso wird die Annahme bestätigt, dass Befragte die Eigenschaften des Kandidaten der Partei, mit der sie sich identifizieren, besonders positiv beurteilen (Tab.19). So zeigen SPDAnhänger durchgehend bei allen erfassten Merkmalen die positivsten Beurteilungen Schröders und Unions-Anhänger die positivsten Urteile zu Merkel. Dem folgen zumeist die Urteile der Anhänger der jeweils potenziellen Koalitionsparteien, also positivere Urteile der Grünen-Anhänger zu Schröder und der FDP-Anhänger zu Merkel. Die jeweils negativsten Wahrnehmungen Schröders zeigen die Unions-Idnetifikateure und die sonstiger KleinParteien, die negativsten zu Merkel kommen allerdings nicht von den Anhängern der SPD, sondern von denen der PDS – in dieser Struktur spiegelt sich also das Links-RechtsSpektrum der Parteien deutlich wider. Tabelle 20a: Konsistenz der Haltungen gegenüber den Kanzlerkandidaten in Abhängigkeit von Parteiidentifikation: Zusammenhänge zwischen den Urteilen zu Schröder und zwischen den Urteilen zu Merkel Pearsons r

Vertre- Partei- KonFühTeam- Bürger- Glaub- Sympa- L-R- Person Parteitung Dtl’s unter- zepte rungs- fähig- nähe würthie Nähe zu Gesamt Gesamt stützung stärke keit digkeit Ego Vertretung .35** .61** .69** .59** .56** .66** .63** .28** .60** .57** Deutschlands .29** .51** .56** .48** .52** .55** .50** .26** .56** .48** Partei.42** .33** .43** .48** .42** .43** .36** .16** .36** .35** unterstütz. .42** .23** .39** .36** .29** .24** .24** .04 .16** .19** Konzepte .61** .34** .59** .60** .52** .78** .72** .40** .73** .71** .61** .40** .42** .48** .48** .70** .55** .30** .66** .59** Führungsstär- .64** .40** .60** .55** .56** .61** .62** .26** .57** .52** ke .56** .29** .53** .40** .46** .48** .50** .25** .45** .42** Team-fähigkeit .57** .45** .49** .52** .57** .65** .59** .23** .52** .46** .57** .45** .52** .45** .50** .56** .53** .23** .51** .39** Bürgernähe .56** .52** .51** .52** .56** .58** .56** .24** .49** .44** .56** .39** .56** .50** .57** .49** .53** .23** .49** .38** Glaubwürdig- .64** .39** .73** .65** .58** .54** .77** .40** .73** .69** keit .62** .36** .64** .52** .55** .58** .67** .32** .70** .57** Sympathie .63** .35** .69** .65** .56** .57** .74** .35** .75** .67** .58** .31** .63** .52** .48** .58** .69** .23** .64** .46** LR-Nähe zu .33** .13** .42** .34** .21** .28** .38** .44** .43** .45** Ego .26** .08 .34** .16** .18** .22** .28** .34** .32** .36** Person .61** .28** .67** .59** .47** .48** .63** .73** .48** .83** Gesamt .54** .24** .61** .43** .44** .43** .60** .64** .38** .74** Partei-Gesamt .50** .23** .63** .50** .37** .38** .59** .63** .48** .79** .41** .20** .52** .24** .31** .31** .46** .45** .50** .66** Werte oberhalb der Diagonale geben die Korrelationen zwischen den Bewertungen Schröders wider, Werte unterhalb der Diagonale die Korrelationen zwischen den Bewertungen Merkels. Pro Eigenschaftskombination benennt die obere Zeile die Korrelationen bei SPD- und Unions-Identifikateuren, die untere Zeile bei Identifikateuren anderer Parteien und Personen ohne Parteiidentifikation. ** auf dem Niveau von p<.001 signifikant. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Zudem zeigt sich auf individueller Ebene eine größere Konsistenz der Kandidatenurteile bei denen, die sich mit einer der Parteien der Kanzlerkandidaten identifizieren als bei den anderen Befragten. So sind zwar bei beiden Befragtengruppen alle Urteile zu Schröder untereinander und ebenso alle zu Merkel untereinander positiv korreliert, jedoch sind die Zusammenhänge bei den Parteiidentifikateuren durchgehend etwas stärker (Tab.20a).

356

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Tabelle 20b: Konsistenz der Haltungen gegenüber den Kanzlerkandidaten in Abhängigkeit von Parteiidentifikation: Zusammenhänge zwischen den Urteilen zu Schröder und zu Merkel Zeilen: 1 = SPD, Union-PI 2 = andere, keine PI Vertretung Dtls. Parteiunterstützung Konzepte

Vertr. Dtls.

Parteiunterstützung

Konzepte

Führungsstärke

Team- Bürger- Glaub- Sympa- L-R- Person Parteifähig- nähe würthie Nähe zu Gesamt Gesamt keit digEgo keit

-.23** -.04 -.35** -.26** -.13** -.11** -.29** .04 .04 .02 .08 .09 .10* .09 -.11** .08* -.16** -.16** -.03 .03 -.14** .02 .34** -.02 -.05 .13** .11* -.00 -.31** -.14** -.35** -.31** -.18** -.18** -.35** -.02 -.02 .12* -.05 .05 .09 .05 Führungsstärke -.21** -.08* -.34** -.24** -.10* -.13** -.26** .01 .09 .06 .17** .15** .15** .16** Team-fähigkeit -.13** -.04 -.27** -.19** -.01 -.02 -.20** .12* .13** .11* .07 .30** .21** .17** Bürgernähe -.23** -.00* -.25* -.17** -.07* -.02 -.21** .11 .08 .12* .08 .12* .35** .19** Glaubwürdig- -.28** -.13** -.39** -.31** -.20** -.17** -.31** keit -.04 -.00 -.02 -.05 .10* .09 .16** Sympathie -.28** -.13** -.48** -.36** -.19** -.20** -.37** -.07 .07 -.01 -.04 .12* .15** .06 LR-Nähe zu Ego -.16** -.08* -.24** -.13** -.09* -.11** -.21** .01 -.08 .10* .05 .07 .13** .09 Person -.35** -.18** -.48** -.37** -.24** -.24** -.45** Gesamt -.07 -.03 -.04 -.06 .03 .05 .02 Partei -.33** -.15** -.47** -.35** -.21** -.24** -.42** Gesamt -.05 -.11* -.06 -.02 .05 .03 .02 Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

-.33** .03 -.22** -.02 -.39** -.02 -.34** .05 -.25** .09 -.25** .13** -.40** .08 -.45** .03 -.23** .13** -.48** -.07 -.46** -.07

-.33** -.12** -.38** -.02 -.36** -.08 -.28** -.12* -.25** .02 -.25** -.02 -.38** -.07 -.39** -.07 -.12** .40** -.38** -.10* -.41** -.11*

-.34** .03 -.23** -.14** -.45** -.05 -.34** -.02 -.30** .00 -.30** .02 -.46** -.06 -.47** -.11* -.23** .15* -.45** .02 -.48** .00

-.46** -.09 -.23** -.11* -.55** -.13* -.43** -.12* -.38** .02 -.37** .01 -.55** -.12* -.54** -.12* -.37** .07 -.56** -.07 -.56** -.09

Noch deutlicher wird der Strukturunterschied bei den Zusammenhängen zwischen den Urteilen zu Schröder und denen zu Merkel (Tab.20b). Diese fallen nämlich bei den Parteianhängern nahezu durchgehend deutlich negativ aus, während bei den anderen Befragten alle denkbaren Ausprägungen vorkommen. Parteianhänger nehmen also tendenziell „ihren“ Kandidaten immer positiv und den Gegenkandidaten immer negativ wahr, während Ungebundene und Anhänger anderer Parteien durchaus gleichzeitig beide Kandidaten zu demselben Merkmal positiv oder beide negativ beurteilen und stärker zwischen den Merkmalen differenzieren. Dementsprechend fällt auch die Kanzlerpräferenz klar entlang der Parteiidentifikation strukturiert aus (Tab.21). Allerdings bindet die Identifikation mit der SPD die Präferenz für Schröder mit 87.4 Prozent stärker als die Identifikation mit der Union die Präferenz für Merkel 75.1 Prozent. In beiden Fällen münden die Abweichungen primär in der Ablehnung beider Kandidaten und nur zu geringeren Teilen in der Präferenz für den jeweiligen Gegenkandidaten. Ähnlich, wenn auch weniger klar ausgeprägt, ist die Struktur bei den Anhängern der potenziellen Koalitionspartner, während Befragte ohne Parteiidentifikation und noch stärker die wenigen mit einer Loyalität gegenüber sonstigen Parteien deutlich häufiger keinen von beiden Kandidaten wünschen.

Die Spitzenkandidaten in der Wahrnehmung der Bevölkerung

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Tabelle 21: Kanzlerpräferenz in Abhängigkeit von Parteiidentifikation Spaltenprozente Parteiidentifikation Kanzlerpräferenz PDS B90/Grüne SPD FDP CDU/CSU Schröder 48.9 56.3 87.4 19.6 6.6 Merkel 4.6 13.5 2.7 58.7 75.1 keinen von beiden 46.5 30.2 9.9 21.7 18.4 n 116 112 801 85 651 Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

andere 19.9 3.6 76.5 45

keine 36.0 22.6 41.4 571

Um die hohe Übereinstimmung der Eigenschaftsbewertungen mit den Gesamturteilen und der Kanzlerpräferenz bei den Parteiidentifikateuren im Gegensatz zu den parteilich Ungebundenen zu illustrieren, wird abschließend die prozentuale Verteilung bei allen drei Variablen betrachtet. Dazu werden für die Eigenschaften die beiden Indizes mit bis zu 7 zugelassenen fehlenden Werten genutzt und dafür sowie für die Gesamtbewertungen jeweils ein Differential zwischen den Urteilen zu Schröder und zu Merkel gebildet, das anschließend in drei Kategorien mit den Ausprägungen „Schröder besser“, „Merkel besser“ und „beide gleich“ recodiert ist. Nach den bereits vorliegenden Analysen müsste sich jeweils eine hohe Übereinstimmung mit der Ausprägung der Parteiidentifikation ergeben. Diese Erwartung bestätigt sich eindeutig (Tab.22a): SPD-Identifikateure bewerten Schröder bei den Eigenschaften zu 94.1 Prozent besser, bei der Gesamtbewertung zu 90.6 Prozent, UnionsIdentifikateure dementsprechend Merkel zu 81.7 Prozent bzw. zu 79.0 Prozent, während die Wähler/innen ohne Parteiidentifikation zwischen beiden Kandidaten bei den Eigenschaften zu 8.4 Prozent und bei den Gesamtbewertungen zu 24.8 Prozent keinen Unterschied sehen. Dies setzt sich bei den Parteiidentifikateuren aber nicht vollständig in die Kanzlerpräferenz um (vgl. Tab.21), während sich bei den Ungebundenen die Unentschiedenheit zwischen beiden Kandidaten im Vergleich zu den Eigenschaften erhöht, im Vergleich zur Gesamtbewertung minimal reduziert. Tabelle 22a: Eigenschaftsbewertungs- und Gesamtbewertungs-Differentiale Spaltenprozente SPD Differential der Eigenschaftsindizes (bis 7 fehl. Werte) recodiert Merkel besser beide gleich Schröder besser n Differential der Gesamtbewertungen, recodiert Merkel besser beide gleich Schröder besser n Kombinationsindex aus den Differentialen Merkel 2x besser Merkel 1x besser beide gleich Schröder 1x besser Schröder 2x besser n Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Parteiidentifikation Union keine

4.7 1.2 94.1 803

81.7 2.9 15.3 662

30.3 8.4 61.3 589

3.3 6.1 90.6 806

79.0 11.4 9.6 661

27.7 24.8 47.5 589

1.7 0.8 3.8 6.5 87.2 803

73.6 7.2 7.2 5.4 6.6 660

21.1 9.4 10.8 15.4 43.4 583

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Tabelle 22b: Kanzlerpräferenz in Abhängigkeit von Eigenschafts- und Gesamtbewertungsdifferentialen Kanzlerpräferenz: Prozentanteile für

Merkel Merkel beide 2x 1x gleich besser besser PI: SPD – Schröder 6.5 60.3 42.9 PI: Union – Merkel 88.8 65.7 42.0 PI: keine – Schröder 0.0 10.1 13.1 PI: keine – keinen von beiden 24.4 53.8 60.8 PI: keine – Merkel 75.6 36.1 26.0 Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Schröder 1x besser 56.2 25.8 21.8 70.4 7.7

Schröder 2x besser 93.4 3.7 69.2 30.4 0.4

n

697 488 203 227 129

Der bei weitem größte Anteil der Befragten kommt bei den Eigenschafts- und den Gesamtbewertungen zu konsistenten Urteilen (Tab.22a Kombinationsindex), d.h. 29.2 Prozent beurteilen Merkel und 48.2 Prozent Schröder in beiden Fällen positiver als die jeweilige Konkurrenz, wobei dies unter den Unions-Anhängern 73.6 Prozent und unter den SPDAnhängern 87.2 Prozent sind. Nur bei 22.6 Prozent der Befragten stehen sich positive und negative oder neutrale Urteile gegenüber, wobei nur bei 7.7 Prozent insgesamt, am häufigsten mit 10.8 Prozent bei den Ungebundenen, in beiden Fällen ein Gleichstand der Kandidaten gesehen wird oder sich positive und negative Urteile ausgleichen (Tab.22a). Schließlich schlägt sich das Ausmaß dieser Antwortkonsistenzen auch deutlich in der Kanzlerpräferenz nieder – selbst bei Parteiidentifikateuren, aber noch stärker bei den Ungebundenen (Tab.22b).

8.

Zusammenfassung und Ausblick

Im vorliegenden Kapitel wurden eine Reihe von Fragen zu Urteilen und zur Urteilsbildung über die Kanzlerkandidaten der Bundestagswahl 2005 behandelt, deren Antworten nachfolgend knapp zusammengefasst werden: (1) Die Images der beiden Kanzlerkandidaten zeigen zwischen Vor- und Nachwahlzeit bei Schwankungen, insgesamt aber eher geringen Verschiebungen, relativ stabile Profile: Insgesamt verbucht Schröder mehr positive Eigenschaftszuschreibungen als Merkel. Positiv beurteilt werden bei ihm im Durchschnitt vor allem seine Führungsstärke, sein Auftreten in der Öffentlichkeit und seine Repräsentation Deutschlands im Ausland, Bürgernähe und die Unterstützung durch die SPD. Eher negativ fallen dagegen im Durchschnitt die Sympathiewerte sowie die Urteile zu seiner Teamfähigkeit und Glaubwürdigkeit, insbesondere aber zu seinen Politikkonzepten aus. Merkel erreicht nur bei der wahrgenommenen Unterstützung durch die Union und der Teamfähigkeit positive Werte, am negativsten fällt die Sympathie ihr gegenüber aus. Im unmittelbaren Vergleich beider wirkt Schröder als der bessere Repräsentant Deutschlands, als führungsstärker, sozial gerechter, bürgernäher und sympathischer. Merkel wird dagegen mehr Unterstützung durch ihre Partei zugesprochen, sie gilt als teamfähiger und ihre politischen Konzepte im Vergleich zu denen Schröder als etwas besser.

Die Spitzenkandidaten in der Wahrnehmung der Bevölkerung

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(2) Alle Wahrnehmungen der Eigenschaften des jeweiligen Kandidaten weisen starke, positive Zusammenhänge mit seiner bzw. ihrer Gesamtbewertung auf. Werden alle Eigenschaften gleichzeitig berücksichtigt, erweisen sich für die jeweiligen Gesamtbewertungen bei beiden Kandidaten die Sympathie, die Konzepte, die Glaubwürdigkeit und die Vertretung Deutschlands als am wichtigsten. (3) Dabei sind für die Einstufung Schröders die Konzepte und die Glaubwürdigkeit, für die Merkels die Sympathie und die Vertretung Deutschlands vergleichsweise wichtiger, d.h. jeweils solche Eigenschaften, bei denen die betreffenden Kandidaten eher schlecht beurteilt werden. (4) Während die wahrgenommene ideologische Nähe der Kandidaten nur einen geringen zusätzlichen Erklärungsbeitrag leistet, stellt sich die Gesamtbewertung ihrer Parteien als weiteres erklärungskräftiges Merkmal dar, das die Effekte der Eigenschaftswahrnehmungen auf die Kandidaten-Gesamtbewertung deutlich reduziert. (5) Während die Gesamtbewertungen der Kandidaten eng mit ihren jeweiligen Eigenschaftszuschreibungen korrespondieren, aber kaum mit den entsprechenden Zuschreibungen des Konkurrenten, was auf eine jeweils separate Entwicklung ihrer Profile deutet, spielt die Diskrepanz zum Konkurrenten erst in der Alternativsituation der Entscheidung für eine Kanzlerpräferenz eine größere Rolle. (6) Sämtliche Eigenschaftsbeurteilungen korrespondieren auch mit der Kanzlerpräferenz. Ähnlich wie bei der Gesamtbewertung erweisen sich bei gleichzeitiger Berücksichtigung aller Eigenschaftsurteile vor allem die Sympathie, die Glaubwürdigkeit, die Konzepte und die Vertretung Deutschlands eine Rolle, während die Führungsstärke, die Teamfähigkeit, die Bürgernähe und die Unterstützung durch die Partei an Relevanz verlieren. (7) Mit Ausnahme der (eher als schlecht eingeschätzten) Teamfähigkeit Schröders spielen bei zusätzlicher Berücksichtigung der Gesamtbewertungen der Parteien der Kandidaten nur noch deren persönliche Merkmale der Glaubwürdigkeit und sympathischen Ausstrahlung eine Rolle für die Kanzlerpräferenz. D.h. aber auch, dass die Kandidatenpräferenz überwiegend auf der Beurteilung derselben Merkmale bei beiden Kandidaten beruht (und nicht etwa bei der Beurteilung von Schröder andere Eigenschaften herangezogen werden als bei der Beurteilung von Merkel). (8) Die Präferenz für Schröder versus Merkel lässt sich nahezu gleichermaßen gut und fast vollständig durch die Eigenschaftswahrnehmungen wie durch die Gesamtbewertungen prognostizieren. Für die Ablehnung beider Kandidaten sind diese Wahrnehmungen dagegen erheblich weniger relevant. (9) Eine Vielzahl von Hinweisen spricht dafür, dass die Parteiidentifikation im Prozess der Urteilsbildung zu den Kandidaten als vorgelagert zu betrachten ist. Parteianhänger sind häufiger als Unabhängige in der Lage die Kandidaten detailliert zu beurteilen und ihre Urteile fallen konsistenter und positiver für den Kandidaten der präferierten Partei sowie negativer für den jeweiligen Konkurrenten aus. Bei den Ungebundenen kann die situative

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Prägung (z.B. durch Medien) gegensätzlicher Eigenschaftswahrnehmungen somit größere Bedeutung erreichen. Aber auch bei ihnen schlägt sich steigende Konsistenz der Merkmalsbeurteilungen im Einzelnen in einem Rückgang der Entscheidungsunsicherheit und klarerer Prägung der Kanzlerpräferenz nieder. Insgesamt sind die Kandidatenprofile nicht notwendig für die Prognose der Kanzlerpräferenzen – hierfür würden die Gesamtbewertungen der Kandidaten und der Parteien, ergänzt durch die Parteiidentifikation durchaus ausreichen. Jedoch bietet die Ermittlung von Merkmalen der Kanzlerkandidaten interessante zusätzliche Einblicke in den Prozess der politischen Urteilsbildung bei Wahlen und sollte auch in Zukunft fortgeschrieben werden, wenn möglich in umfangreicherer Form, die auch die Analyse der Rollennähe bzw. -ferne dieser Eigenschaften und ihre Bedeutung für die Herausbildung der Kanzlerpräferenz ermöglicht. Von besonderem Interesse für künftige Forschung erscheint jedoch vor dem Hintergrund der vorgelegten Befunde die Frage nach der Richtung der Urteilsbildung als bottom-up oder top-down Prozess – hierzu wären sowohl Panelstudien im Umfeld von Wahlen als auch experimentelle Designs wünschenswert.

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Politisches Wissen als Grundlage der Entscheidung bei der Bundestagswahl 2005 Bettina Westle

1.

Politisches Wissen

Die Frage nach dem politischen Kenntnisstand der Bevölkerung ist in der deutschen Politikwissenschaft lange vernachlässigt worden. Dies mag unterschiedliche Gründe haben. So zeigte die empirische Forschung bereits früh, dass das politische Interesse und Wissen der meisten Bürgerinnen und Bürger nicht dem in normativen, partizipationsorientierten Theorien gezeichneten Idealbild des bestens informierten, interessierten und kompetent engagierten homo politicus entspricht (z.B. Berelson/Lazarsfeld/McPhee 1954, Almond/Verba 1963, Parry 1978). Dennoch schien der demokratische Prozess zu funktionieren (z.B. Berelson 1986, Neumann 1986). Ein guter politischer Kenntnisstand der Bevölkerung konnte also als wenig bedeutsam marginalisiert werden. Oder funktionierte der demokratische Prozess gerade wegen des mäßigen politischen Wissens? Kenntnisreiche Bürger/innen neigen nämlich, so die wenigen vorliegenden Befunde, verstärkt dazu, sich in die Politik einzumischen, was von normativen Elitetheorien der Demokratie eher mit der Gefahr einer permanenten Überlastung des politischen Systems assoziiert und folglich skeptisch gewertet wurde (vgl. z.B. Dahl 1994). Ein weiterer Faktor für die Vernachlässigung des politischen Wissens als Forschungsthema könnte die Auffassung gewesen ein, dass für die Mitsprache in der Demokratie möglichst keine großen Hürden bestehen sollten. Vielmehr verweist das demokratische Gleichheitspostulat auf die identische Möglichkeit zur Selbst- und Mitbestimmung jedes Mitglieds des Gemeinwesens, unabhängig von jeglichen anderen Voraussetzungen. Allerdings erweist sich diese Vorstellung bei intensiverer Betrachtung als unrealistisch. So hat ein umfangreicher Forschungskorpus wiederholt aufgezeigt, dass der Wille und die Fähigkeit zur politischen Beteiligung insbesondere bei anspruchsvollen Partizipationsformen erheblich an sozio-ökonomische Voraussetzungen gebunden ist (z.B. Verba/Nie 1972, vgl. z.B. Milbrath/Goel 1977, Barnes/Kaase et al 1979, Burns/Schlozman/Verba 1997, Norris 2002). Darüber hinaus hat die amerikanische Forschung gezeigt, dass selbst die Beteiligung an und Entscheidung bei Wahlen als der Partizipationsform, die das Gleichheitspostulat vergleichsweise am besten verwirklicht, mit bestimmten kognitiven Voraussetzungen korrespondiert: Je nach politischem Kenntnisstand der Bevölkerung kann die Wahlbeteiligung und das Wahlergebnis durchaus unterschiedlich ausfallen (Delli Carpini/Keeter 1996, Dutwin 2000, Galston 2001, Gilens 2001, Holbrook 2002). In diesem Beitrag soll erstmals auf etwas breiterer Datengrundlage als es bei früheren Befragungen möglich war der Frage nach dem politischen Wissen in der bundesrepublikanischen Bevölkerung nachgegangen werden. Im Zentrum stehen dabei Wissensbereiche, die theoretisch als besonders relevant für das Wahlverhalten erscheinen. Zunächst wird es dabei um die Beschreibung des Wissenstands und seiner Struktur sowie seinen soziodemogra-

Politisches Wissen als Grundlage der Entscheidung bei der Bundestagswahl 2005

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fischen Differenzierungen in der Bevölkerung gehen. Anschließend werden ausgewählte Einstellungen und Verhaltensweisen als Begleitmerkmale bzw. Determinanten politischen Wissens untersucht. Dies mündet schließlich in der Frage nach den Folgen politischen Wissens für die individuelle Wahlentscheidung: Wählen Bürger/innen mit höherem politischem Wissensstand häufiger und wählen sie häufiger entsprechend ihren eigenen Interessen als solche mit schlechterem politischem Wissensstand?

2.

Auswahl der Wissensbereiche, Operationalisierung und Hypothesen

Für die Entscheidung, ob man sich an Wahlen beteiligt oder nicht und falls ja, wie man sein Stimmrecht vernünftig im eigenen Interesse ausübt, sind Kenntnisse über den Sinn und Modus des Wahlsystems von Bedeutung. Handelte es sich bspw. um nicht-demokratische Wahlen, bei denen keine realistische Auswahlfreiheit besteht, die eigene Stimme weniger als die anderer Wähler zählen würde oder Sanktionen infolge von Kontrollen des Stimmverhaltens befürchtet werden müssten, dürfte der Sinn solcher Wahlen fraglich und die Beteiligung daran überflüssig erscheinen (sofern straffrei). Das diesbezügliche Kenntnisniveau der Wähler über das bundesdeutsche Wahlrecht sollte infolgedessen, dass es sich dabei um Schullehrstoff und zudem um dauerhafte Strukturmerkmale handelt, die eine Akkumulation von Wissen über lange Zeit hinweg erlauben, relativ hoch sein. Fehlerhafte Vorstellungen dazu sind am ehesten bei jungen Wählern mit geringer Schulbildung zu erwarten sowie evtl. in Ostdeutschland bei der älteren Population infolge der Konfrontation mit dem dortigen Wahlsystem etwas häufiger als in Westdeutschland. Da solche fehlerhaften Vorstellungen vor allem die Sinnhaftigkeit von Wahlen infrage stellen und evtl. auch mit Ängsten einhergehen dürften, ist zu erwarten, dass sie sich primär in einer geringeren Beteiligung an den Wahlen auswirken. Zu diesem Wissensbereich sind drei Multiple Choice Fragen gestellt worden, die auf die Merkmale der freien, gleichen und geheimen Wahl zielen und jeweils eine richtige Antwortoption vorsehen sowie zwei falsche (s. Übersicht 1: F009A,B,C).1 Das bundesdeutsche System der Stimmabgabe mit Erst- und Zweitstimme sowie ihrer Bedeutung für die Mehrheitsverhältnisse im Parlament und die Regierungsbildung ist zwar ebenfalls seit langem etabliert, jedoch kontraintuitiv und angesichts von Leihstimmen- und Beidstimmen-Kampagnen zusätzlich verwirrend. Bereits für mehrere Bundestagswahlen wurde gezeigt, dass große Anteile der Wähler dieses System nicht verstehen (vgl. Schmitt1

In der Forschung besteht Uneinigkeit über die optimale Zahl an Antwortvorgaben für Wissensfragen (z.B. Bruno/ Dirkzwager 1995, Rogers/Harley 1999, Mondak 2001, Rodriguez 2005). Fragen nach dem Muster richtig/falsch bzw. mit nur zwei Antwortvorgaben werden überwiegend skeptisch beurteilt, da bei ihnen eine 50-prozentige Chance besteht, per Raten die richtige Antwort zu geben. Solche Fragen können folglich als Einzelfragen nicht über den Kenntnisstand zu dem jeweiligen Wissensthema informieren, sondern lediglich als Bestandteile einer großen Itembatterie als Grundlage für Indizes Anhaltspunkte zu Wissensunterschieden in der Bevölkerung geben. Für einzelne Multiple Choice Fragen werden dagegen zumeist drei bis vier Antwortvorgaben empfohlen. Der Vorteil von vier Antwortvorgaben ist, dass sich die Chance, durch Raten die richtige Antwort zu finden, auf 25 Prozent reduziert. Ein gravierender Nachteil ist jedoch, dass es bei vielen Themen nahezu unmöglich erscheint, genügend plausible falsche Antwortvorgaben zu formulieren. Offensichtlich unplausible Antwortvorgaben setzen jedoch cues und haben daher keinen Mehrwert gegenüber weniger Antwortvorgaben; zudem können sie die Gefahr bergen, dass die Befragten sich nicht ernst genommen fühlen. Hier wurden daher drei Antwortvorgaben formuliert, wobei sich dies bereits als recht schwierig erwies und zumeist eine der Antworten relativ unplausibel erschien (vgl. Schelten 1997, Johann 2008).

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Beck 1993, Maier 2000, Westle 2005). Lerneffekte während der Wahlkampagne sind zwar teilweise nachweisbar, jedoch offenbar nicht von Dauer, da die anhaltend große Fehlinformation nicht hinreichend durch das Ausscheiden der erfahrenen und das Nachwachsen der jungen Wählerschaft erklärt werden kann. Um die vorhandene Zeitreihe fortzusetzen, wurde die Frage nach der Bedeutung der zwei Stimmen erneut zur Bundestagswahl 2005 gestellt (s. Übersicht 1: F010). Allerdings ist die Verhaltensrelevanz dieses Indikators etwas fraglich, da den Wählern in der Wahlkabine mit dem Stimmzettel sowie den dort aufgedruckten Erläuterungen Hinweise zur Bedeutung der Stimmen gegeben werden (Stimme für Wahlkreiskandidat, Stimme für Parteiliste), die ihnen bei der Befragung nicht zu Verfügung stehen. Ob die Vorlage des Stimmzettels tatsächlich einen Unterschied bewirkt, kann auf der Grundlage der hier verfügbaren Daten nicht untersucht werden, zumal auch völlig offen ist, ob die Befragten in der Wahlkabine bzw. bei der Briefwahl die genannten Hinweise lesen und verstehen. Ferner ist denkbar, dass die Antwortvorgabe „beide gleich wichtig“ durch individuelle Einstellungen zur Bedeutung des Wahlkreiskandidaten tangiert wird, d.h. dass die Frage nach der „Stärke der Parteien im Bundestag“ bei Befragten, denen der Wahlkreiskandidat besonders wichtig ist, in den Hintergrund rückt. Angesichts des Vorlaufs und Hintergrunds der vorgezogenen Bundestagswahl – also der Reihe für die SPD verlorener Landtagswahlen, des damit immer offensichtlicher erscheinenden Vertrauensverlustes auch für die Regierung im Bund, der infolge erwartbarer Politikblockaden im Bundesrat erschwerten Regierungsbedingungen und Ausrufung von Neuwahlen durch Gerhard Schröder – wurde eine Frage nach den aktuellen Kräfteverhältnissen im Bundesrat in die Erhebung integriert (Übersicht 1: F027), mit der das Verständnis für den Anlass der Wahl erfasst werden soll. Hier wird infolge der breiten medialen Abdeckung dieser Thematik ein recht großer Wissensstand erwartet. Weitere für die Wahlentscheidung relevante Kenntnisse betreffen die Objekte der Wahlentscheidung, also die Parteien und die Kandidaten. Zu den Parteien sind in der Erhebung zwei Frageblöcke integriert. Dies sind erstens vier Fragen zu Haltungen der Parteien zu politischen Themen, die sich im Bundestagswahlkampf 2005 als Positionsissues herauskristallisierten. Dies waren die Einführung der Bürgerversicherung im Gesundheitswesen und die von der Türkei angestrebte Vollmitgliedschaft in der EU, die von SPD, Bündnis90/Grünen und PDS/LL befürwortet wurden, von der Union und der FDP dagegen abgelehnt wurden, die Erhöhung der Mehrwertsteuer, die nur von der Union befürwortet wurde, und als bereits älteres Positionsissue die Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken, die von der Union und der FDP befürwortet und von den anderen Parteien abgelehnt wurden. Erwartet wird eine relativ breite Kenntnis zu der Frage der Laufzeitenverlängerung und jeweils überproportionale Kenntnisse zu der präferierten Partei sowie eine deutliche Abhängigkeit der Kenntnisse vom Interesse am Wahlkampf und der Mediennutzung, da diese Themen äußerst prominent im Wahlkampf erschienen, unter anderem auch im Fernsehduell der Kanzlerkandidaten thematisiert wurden (vgl. Klein/Rosar 2007, Maier/Maier 2007, Reinemann/Maurer 2007). Der zweite Frageblock betrifft die Verortung der Parteien auf dem Links-RechtsSpektrum (Übersicht 1: F031A-G). Damit soll das Verständnis generalisierter ideologischer Positionen im Einzelnen bzw. des Parteienspektrums insgesamt erfasst werden. Auf der Grundlage älterer Studien ist bekannt, dass die Befragten zumeist mit dem Links-RechtsSpektrum Zutreffendes assoziieren (Klingemann 1982), diese Vorstellungen jedoch auch Wandel unterliegen und Befragte mit der Einordnung einiger Parteien durchaus Schwierig-

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keiten haben (Jagodzinski/Kühnel 1994, Pappi 2002). Da bei dieser Einordnung zudem nicht von der einzig richtigen Positionierung ausgegangen werden kann, variieren entsprechende Befunde mit der konkreten Operationalisierung. Eine Möglichkeit ist die Trichotomisierung der 11-stufigen Skala und anschließende Klassifikation entlang üblicher Parteizuordnungen (z.B. Westle 2005), also bspw. PDS, Grüne/B90 und SPD auf den Skalenpositionen 1 bis 5=links, FDP mitte=6 oder FDP, CDU/CSU und NPD auf den Skalenstufen 7 bis 11=rechts als richtige, wenn auch grobmaschige Zuordnungen. Eine andere Möglichkeit bezieht sich nicht auf die absoluten, sondern auf die relativen Positionierungen der Parteien zueinander (z.B. Vetter/Maier 2005), d.h. PDS/LL < Bündnis90/Die Grünen < SPD < FDP < CDU < CSU < NPD, wobei diese Variante feinkörniger ist, allerdings im Extrem Positionierungen aller Parteien fast ausschließlich im mitte-links oder im mitte-rechts-Bereich zulässt und zudem zutreffende Kenntnisse von mehr als der präferierten Partei verlangt, um auch bei dieser als richtige Antwort klassifiziert zu werden. Daher fällt das Wissensniveau bei Variante 2 notwendig geringer als bei Variante 1 aus. Um Vergleiche mit früheren Befunden zu erleichtern, werden hier beide Varianten genutzt. Schließlich kann für die Abgabe der Erststimme Wissen über die Wahlkreiskandidaten von Bedeutung sein. Hierfür steht eine Fragebatterie zu Namen und Parteizugehörigkeiten der Wahlkreiskandidaten zur Verfügung (Übersicht 1: F017, F018). Die Antworten auf diese offen gestellten Fragen wurden von den Interviewern wörtlich aufgezeichnet. Bei der hier vorgenommenen Codierung dieser Antworten wurde großzügig verfahren, d.h. nicht nur vollständig korrekte Namensangaben werden als „richtig“ klassifiziert, sondern auch jegliche Verballhornungen der Namen, so lange diese noch Ähnlichkeit mit dem faktischen Namen aufweisen. Fehlende oder falsche Vornamen sowie fehlende oder falsche Titel blieben unberücksichtigt, die ausschließliche Angabe eines Vornamen, eines Titels oder eines Berufs wurde jedoch als „weiß nicht“ eingeordnet. Generell wird nachfolgend bei allen Wissensfragen zwischen objektiv richtigem (richtigen Antworten), unzutreffendem (falschen Antworten) und fehlendem Wissen (weiß nicht, keine Angabe) differenziert, wobei letzteres die Negativfolie zu subjektivem Wissen darstellt. Darüber hinaus wird bei Indizes auch das Nettowissen berechnet, d.h. die Anzahl richtiger minus falscher Antworten. Als Gründe für diese Differenzierungen wurde schon in einer früheren Arbeit (Westle 2005) angeführt, dass objektiv zutreffende Kenntnisse eine Voraussetzung für rationale Wahlentscheidungen darstellen, die subjektiv für richtig gehaltenen (jedoch objektiv falschen) Kenntnisse aber ebenso verhaltensrelevant sein können und zwar auf eine andere Weise als das Bewusstsein über fehlendes Wissen. Irrige Kenntnisse stellen subjektiv geglaubtes Wissen dar, das generell als handlungsfördernd gelten kann, aber sie bilden eine Entscheidungsgrundlage, die dazu führen kann, entgegen den eigenen Interessen zu wählen. Das Bewusstsein fehlender Kenntnisse dürfte dagegen eher handlungshemmend wirken, aber nicht zu irrtümlichen Entscheidungskalkülen beitragen. Die Berücksichtigung des Nettowissens soll der Tatsache Rechnung tragen, dass bei großer Rateneigung generell die Wahrscheinlichkeit richtiger, aber auch falscher Antworten steigt.

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Bettina Westle

Übersicht 1: Indikatoren politischen Wissens Dimensionen/Fragetexte Politische Strukturen: Merkmale demokratischer Wahlen (F009) Bei demokratischen Wahlen gibt es bestimmte Grundsätze. Ich nenne Ihnen jetzt einige davon. Sagen Sie mir bitte jeweils, welche der aufgeführten Bedeutungen richtig ist. Sie brauchen mir nur die Kennziffer zu nennen. Wenn Sie eine Antwort nicht wissen, sagen Sie das bitte einfach. Dann gehen wir weiter zur nächsten Frage. (A) Was bedeutet der Begriff „geheime Wahl“? 1 man darf nicht darüber sprechen, wen oder was man gewählt hat, oder 2 es darf nicht veröffentlicht werden, wen oder was bestimmte Gruppen in der Bevölkerung gewählt haben, oder 3 es darf nicht kontrollierbar sein, wen oder was der einzelne Bürger gewählt hat. (B) Was bedeutet der Begriff „gleiche Wahl“? 1 dass die Stimme von jedem Wähler gleich viel zählt, oder 2 dass alle Parteien die gleichen Chancen im Wahlkampf bekommen, oder 3 dass alle Parteien gleich viele Kandidaten aufstellen. (C) Was bedeutet der Begriff „freie Wahl“? 1 dass man zwischen verschiedenen Parteien bzw. Kandidaten auswählen kann, oder 2 dass man der Partei, die man wählen will, beliebig viele Stimmen geben kann, oder 3 dass der Bundeskanzler frei entscheiden kann, wann Bundestagswahlen sind. Politische Strukturen: Wahlsystem (F010) Bei der Bundestagswahl ist es so, dass der Wähler zwei Stimmen hat, eine Erststimme und eine Zweitstimme. Was ist eigentlich die wichtigere Stimme, die letztlich über die Stärke der Parteien im Bundestag entscheidet: die Erststimme oder die Zweitstimme oder sind beide hierfür gleich wichtig? 1 Erststimme, 2 Zweitstimme, 3 beide gleich wichtig Aktuelle Ausfüllung politischer Institutionen/Kräfteverhältnis im Bundesrat: (F027) Wissen Sie zufällig, wer zur Zeit im Bundesrat die Mehrheit hat? Sind das … 1 die SPD-geführten Länder, oder 2 die CDU/CSU-geführten Länder, oder 3 hat keine Partei die Mehrheit? Politische Akteure: Parteien – Positionierung bei Positionsissues (F053) Bei den folgenden Fragen geht es jeweils um zwei gegensätzliche Meinungen zu Maßnahmen, die jetzt im Wahlkampf diskutiert wurden. Bitte sagen Sie mir, welche Meinung Sie persönlich dazu haben und welche Meinungen die einzelnen Parteien dazu vertreten. Wenn Sie es nicht wissen, sagen Sie das einfach. (A) Zuerst geht es um die Einführung der Bürgerversicherung im Gesundheitswesen, in die alle Bürger einzahlen. (B) Und nun geht es um die Vollmitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union. (C) Und nun geht es um die Erhöhung der Mehrwertsteuer von 16 auf 18 Prozent, um im Gegenzug die Lohnnebenkosten zu senken (D) Und nun geht es um die Verlängerung der Laufzeiten von deutschen Atomkraftwerken. Jeweils: (a) Sind Sie selbst für oder gegen … (b) Und ist die SPD dafür oder dagegen? (c) Und wie ist das mit der CDU/CSU? (d) Und Bündnis90/Die Grünen? (e) Und die FDP? (f) Und die Linke.PDS? (g) Und die NPD? Bürgerversicherung und Türkei-EU-Vollmitgliedschaft: SPD, Grüne/B90, PDS/LL dafür, andere dagegen, Mehrwertsteuererhöhung: CDU/CSU dafür, andere dagegen, Laufzeitverlängerung AKWs CDU/CSU und FDP dafür, andere dagegen; NPD unberücksichtigt wegen unklaren Positionen.

Politisches Wissen als Grundlage der Entscheidung bei der Bundestagswahl 2005

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Fortsetzung Übersicht 1 Politische Akteure: Parteien – Positionierung auf dem ideologischen Spektrum (F031) Auch Parteien werden oft als „links“ oder „rechts“ eingestuft. Bitte sagen Sie mir wieder anhand dieser Skala, wie Sie selbst die folgenden Parteien einstufen. Ich lese Ihnen die Parteien jetzt einzeln vor. (A) Zunächst zur SPD: Wie stufen Sie die SPD hierbei ein? (B) Und die CDU? (C) Und wo sehen Sie die CSU? (D) Und wo Bündnis90/Grüne? (E) Und die FDP? (F) Und wo stufen Sie die Linkspartei.PDS ein? (G) Und die NPD? Politische Akteure: Namen der Wahlkreiskandidaten (F017) (Nur an Befragte, die angegeben haben, bei der BTW 2005 eine Erststimme abgegeben zu haben): Können Sie sich noch an die Namen von einem oder vielleicht sogar mehreren der hiesigen Wahlkreiskandidaten oder Kandidatinnen erinnern, und können Sie mir sagen, für welche Partei sie bei der Bundestagswahl am 18. September angetreten sind? 1 Ja --- weiter mit F018 2 Nein --- weiter mit F020 (F018) Bitte nennen Sie mir die Namen und die Partei der Kandidatinnen bzw. Kandidaten

3.

Verteilung und Struktur politischen Wissens

Von den erfragten Grundprinzipien demokratischer Wahlen (Tab.1) ist das Prinzip der freien Wahl, der Auswahl zwischen Konkurrenten, weithin bekannt, nämlich bei 91 Prozent der Bevölkerung. Auch die Bedeutung der geheimen Wahl kennen immerhin 83 Prozent. Weniger verständlich scheint das Prinzip der gleichen Wahl zu sein, das nur 59 Prozent mit der Zählwertgleichheit der Wählerstimmen assoziieren, 27 Prozent dagegen auf Chancengleichheit der Parteien im Wahlkampf beziehen. Neben diesem größeren fehlerhaften Verständnis ist auch das subjektive Wissen hierzu geringer, wenn knapp 10 Prozent sich nichts unter dem Prinzip der gleichen Wahl vorstellen können. Die Zusammenfassung der Kenntnisse zu diesen drei Wahlprinzipien zu Indizes des fehlerhaften, des fehlenden, des richtigen und des Nettowissens zeigt, dass rund 43 Prozent mindestens eines der Prinzipien falsch verstehen und knapp die Hälfte zu allen drei Prinzipien zutreffendes Verständnis zeigt bei deutlich weiter verbreitetem subjektivem Wissen.2 Zur Kenntnis der Bedeutung der Zweitstimme (Tab.2) liegen Vergleichsdaten zwischen Vor- und Nachwahl sowie der Bundestagswahlen 1998 und 2002 vor. Bei allen drei Wahlen ist der subjektive Kenntnisstand hoch und der objektive Kenntnisstand fällt in den Nachwahlstudien besser als in den Vorwahlstudien aus, umfasst jedoch nur etwas mehr als die Hälfte der Wähler/innen. Darüber hinaus lassen sich keine Regelmäßigkeiten in den falschen Vorstellungen feststellen – vielmehr glauben 1998 und in der Vorwahlstudie 2005 etwas mehr Befragte beide Stimmen zählten gleich viel, 2002 und in der Nachwahlstudie 2005 entfällt die knappe Mehrheit der Fehlurteile dagegen auf die Erststimme.

2

Eine Hauptkomponentenfaktorenanalyse zeigt eine einfaktorielle Lösung mit einem Eigenwert von 1.28 (bei ausreichenden Kommunalitäten), allerdings nur 42,6 Prozent Varianzaufklärung.

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Tabelle 1: Kenntnis von Merkmalen demokratischer Wahlen – 2005 n=2540 geheime Wahl

Prozente falsch

0 darf nicht darüber reden 9.3 1 darf nicht veröff. werden 6.7 2 weiß nicht, kA 1.0 3 darf nicht kontrollierbar sein 83.0 Mittelwert gleiche Wahl weiß nicht 0 Parteien gleiche Chance im Wk. 27.2 1 Parteien gleich viele Kandidaten 4.0 2 weiß nicht, kA 9.7 3 jede Stimme gleich viel 59.1 Mittelwert freie Wahl richtig 0 beliebig viele Stimmen 4.4 1 B-kanzler entscheidet Wahltermin 2.3 2 weiß nicht, kA 2.3 3 Auswahl zw. Konkurrenten 91.0 Mittelwert Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Zählindizes 57.2 33.2 8.2 1.4 .54 88.7 9.8 1.3 0.2 .13 2.3 11.2 37.6 48.9 2.33

richtig minus falsch -3 -2 -1 0 1 2 3

1.4 0.4 8.2 2.6 31.5 7.1 48.9

Mittelwert

1.79

Tabelle 2a: Kenntnis der Bedeutung des Zweistimmensystems 1998, 2002, 2005 Prozente

1998 2002 2005 Vorwahl Nachwahl Vorwahl Nachwahl Vorwahl Nachwahl Erststimme 23.3 18.9 26.4 21.3 21.0 22.6 beide gleich 23.1 21.2 18.3 19.1 31.8 16.8 weiß nicht, kA 8.2 5.6 6.9 4.3 2.9 4.7 Zweitstimme 45.4 54.4 48.3 55.3 44.3 55.9 n 2687 2768 1432 2318 1502 2540 Quellen: 1998 und 2002: Deutsche Nationale Wahlstudie, 2005 Infratest dimap Vorwahlbefragung, und Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Die Tatsache, dass sich die Antwortverteilung vor jeder Wahl wieder auf einem ähnlichen Niveau befindet, zeigt eine fehlende Nachhaltigkeit der in den Nachwahlstudien beobachtbaren Wissenszuwächse an. Dieser Eindruck wird auch durch die Antwortverteilungen in der Nachwahlbefragung 2005 gestützt, die mit zunehmendem zeitlichen Abstand zum Wahltermin einen zwar nicht linearen, in der Tendenz aber doch deutlich erkennbaren Rückgang der richtigen Antworten zugunsten der falschen und der weiß nicht Antworten zeigen. Offenbar vergisst ein Teil der Wählerschaft diese Information relativ schnell, obwohl es sich um ein dauerhaftes Strukturelement des politischen Systems handelt (Tab.2b).3 Tabelle 2b: Kenntnis der Bedeutung des Zweistimmensystems in Abhängigkeit vom Datum der Befragung – 2005 23.-25.9. 26.-28.9. 29.9.-1.10. 2.-4.10. 5.-7.10. 28.2 40.8 34.9 39.1 42.0 3.4 3.8 5.4 4.1 3.3 68.4 55.4 59.8 56.7 54.7 n 91 564 448 539 477 Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen. falsch weiß nicht, kA richtig

3

8.-10.10. 42.3 6.6 51.1 195

11.-13.10. 41.4 9.3 49.3 227

Noch deutlicher wird der Wissensrückgang allerdings bei den aktuellen Wahlkampfissues, bei denen das Nettowissen von einem Mittelwert von 9.01 relativ kontinuierlich auf 7.33 sinkt, während bspw. bei der Links-RechtsPositionierung keine derartig ausgeprägten Veränderungen auftreten.

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Über die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat (Tab.3) wissen knapp drei Viertel der Befragten Bescheid, der Rest verfügt in der Vorwahlzeit zu etwa gleichen Teilen über Nichtwissen oder falsche Vorstellungen, in der Nachwahlzeit etwas stärker über fehlende als falsche Vorstellungen.4 Tabelle 3: Kenntnis der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat 2005 Prozente SPD geführte Länder keine Partei weiß nicht, kA CDU/CSU geführte Länder

Vorwahl Nachwahl 10.9 5.1 3.6 6.2 12.7 15.7 72.7 73.0 n 1502 2540 Quellen: Infratest dimap Vorwahlbefragung, Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Die Kenntnisse über die vier erfragten Positionsissues (Tab.4a) des Bundestagswahlkampfes 2005 sind themen- und parteispezifisch sehr unterschiedlich verteilt. Am häufigsten mit ca. 80-90 Prozent richtiger Antworten sind die Positionen der Union und der SPD zur Mehrwertsteuer und zum EU-Beitritt der Türkei sowie die Position von Bündnis90/Die Grünen zur Laufzeit der Atomkraftwerke bekannt. Mit weitem Abstand auf dem letzten Platz liegen die Kenntnisse über die Parteipositionen zur Einführung einer Bürgerversicherung. Das deutet auf sehr unterschiedliche Gründe für diese Kenntnisse. Da die Debatte um Atomkraftwerke älteren Datums ist und die Grünen hier ihr „Heimterritorium“ haben, dürfte es sich um angehäuftes Wissen des Langzeitgedächtnisses handeln. Die beiden anderen Issues sind dagegen spezifisch für den Wahlkampf 2005. Beide Issues zeigen aber – im Gegensatz zur Frage der Bürgerversicherung, bei der erheblich mehr fehlerhaftes und fehlendes Wissen vorhanden ist – als Gemeinsamkeit relativ leichte Verständlichkeit und evozieren vermutlich Betroffenheitsgefühle. Darüber hinaus spielt die Größe der Parteien durchgehend eine Rolle, d.h. die Positionen der beiden großen Parteien sind für gewöhnlich am besten bekannt, gefolgt von denen von Bündnis90/Die Grünen, während die FDP-Positionen deutlich weniger bekannt sind und die Linke/PDS durchgehend das Schlusslicht bildet. Fehlerhafte Zuschreibungen von Parteipositionen sind am häufigsten in der Frage der Bürgerversicherung bei allen Parteien und ferner bei der FDP in der Frage der Mehrwertsteuer und der Linken/PDS in der Frage des EU-Beitritts der Türkei. Nichtwissen wird bei weitem am häufigsten in Bezug auf die Positionen der Linken/PDS bekannt, gefolgt von denen der FDP. Zusammenfassungen der Items zu parteibezogenen und alternativ zu themenbezogenen Indizes spiegeln die theoretischen Überlegungen wider, dass Wähler/innen entweder partei- oder issueorientierte Wahlentscheidungen treffen können. Im ersten Fall bestünde a priori oder aus anderen Gründen als den hier erfassten Issues eine Neigung zu einer oder mehreren Parteien, deren Positionen dann ggf. besser als die Positionen anderer Parteien bekannt sein sollten. Im zweiten Fall wären eine oder mehrere Themen im Zentrum des Interesses und folglich sollten die Positionen verschiedener Parteien dazu bekannt sein. Die faktorenanalytische Überprüfung zeigt eine Dominanz der issueorientierten Struktur, jedoch teilweise mit zusätzlichen Subdifferenzierungen: So laden alle Items zur Bürgerversiche4

Die Indikatoren zum Zweistimmensystem und zu den Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat werden nicht mit den Items zu den Wahlprinzipien, die einen gemeinsamen Faktor bilden, zu einem Index zusammengefasst, da nach entsprechenden Analysen die Kommunalitäten nicht ausreichen und die erklärte Varianz sinkt.

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rung auf einem gemeinsamen Faktor, während die Items zu den anderen drei Issues sich jeweils auf zwei Faktoren aufteilen und im Fall des EU-Beitritts zur Türkei und der Erhöhung der Mehrwertsteuer nochmals zwischen SPD, CDU und Bündnis90/Grünen einerseits und FDP sowie PDS andererseits differenzieren, im Fall der Atomkraftwerke nur die PDS auf einem einzelnen Faktor ausweisen.5 Tabelle 4a: Kenntnis von politischen Positionen der Parteien 2005 – einzelne Items 2005 Prozente

SPD

CDU/ B90/ FDP Linke/ SPD CSU Grüne PDS Bürgerversicherung falsch 25.6 35.7 24.3 23.4 24.6 6.3 wn,kA 30.3 31.0 40.4 44.9 58.2 12.7 richtig 44.0 33.3 35.2 31.7 17.2 80.9 Erhöhung der Mehrwertsteuer falsch 9.4 3.2 9.4 32.6 4.1 10.6 wn,kA 10.0 8.2 19.4 24.1 39.4 20.9 richtig 80.6 88.6 71.1 43.3 56.5 68.5 Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

CDU/ B90/ FDP CSU Grüne Beitritt der Türkei zu EU 6.9 10.0 11.3 13.2 21.5 37.1 79.9 68.5 51.6 Laufzeit Atomkraftwerke 6.3 3.4 11.8 19.5 15.5 37.1 74.2 81.0 51.1

Linke/ PDS 29.9 50.0 20.1 7.0 61.5 31.4

Tabelle 4b: Kenntnis von politischen Positionen der Parteien 2005 – Zählindizes der 4 Issuepositionen pro Partei n=2540 Prozente

falsch SPD CDU/ CSU 57.6 56.3 34.1 36.3 7.0 6.5 1.3 0.8 0.0 0.1 .52 .52

B90/ Grüne 62.1 29.7 7.1 0.9 0.1 .47

weiß nicht, kA

FDP Linke/ SPD CDU/ B90/ FDP Linke/ PDS CSU Grüne PDS 0 45.3 54.2 58.8 60.8 51.1 36.1 20.8 1 35.3 29.0 22.4 20.3 22.5 23.2 17.6 2 15.3 13.9 9.6 9.2 11.7 16.2 18.1 3 3.6 2.8 4.7 5.4 7.9 10.3 18.9 4 0.6 0.1 4.6 4.2 6.9 14.1 24.6 Mittelwert .79 .66 .74 .72 .97 1.43 2.09 richtig minus falsch SPD CDU/CSU B90/Grüne -4 0.0 0.1 0.1 -3 0.3 0.0 0.0 -2 1.2 1.0 1.2 -1 2.3 1.7 2.8 0 12.4 11.6 15.0 1 11.0 10.4 12.2 2 30.3 34.7 28.4 3 13.5 13.6 15.2 4 29.0 26.9 24.9 Mittelwert 2.22 2.24 2.09 Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

richtig SPD CDU/ B90/ FDP Linke/ CSU Grüne PDS 6.0 4.9 8.7 20.3 34.6 8.8 9.8 11.5 20.7 26.1 19.1 16.6 19.8 28.1 23.3 37.1 41.8 35.0 22.5 11.4 29.0 26.9 24.9 8.3 4.6 2.74 2.76 2.56 1.78 1.25 FDP 0.6 0.7 4.4 7.0 31.1 17.7 22.0 8.1 8.3 .99

Linke/PDS 0.1 0.3 4.5 11.6 40.8 18.8 13.6 5.7 4.6 .60

Die parteibezogene Zusammenfassung (Tab.4b) zeigt, dass bei den vier Positionsissues die FDP, gefolgt von der Linken/PDS am häufigsten und Bündnis90/Die Grünen am seltensten falsch eingeschätzt werden. Fehlende Kenntnisse betreffen am meisten die Linke/PDS, 5

Diese faktorenanalytische Struktur entspricht primär den Befragten im Westen. Im Osten wird die PDS zumeist auf denselben Faktoren wie die anderen Parteien ausgewiesen und nur die FDP bildet den jeweils zweiten Faktor.

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gefolgt von der FPD, am wenigsten die beiden großen Kontrahenten, die umgekehrt die größten Anteile richtiger Antworten abschöpfen, gefolgt von Bündnis90/den Grünen und erst mit Abstand der FDP und der Linken/PDS. Beim Nettowissen ergibt sich eine klare Rangfolge von der Union, knapp gefolgt von der SPD auf den beiden ersten Plätzen, mit kleinem Abstand zu den Grünen und deutlichen der FDP und der Linken/PDS. Die issuebezogenen Indizes (Tab.4c) weisen ebenfalls klare Rangordnungen aus: Fehlerhafte Positionswahrnehmungen und fehlende Kenntnisse sind bei weitem am häufigsten in Bezug auf die Bürgerversicherung. Unkenntnis ist auch bei der Laufzeit der Atomkraftwerke und der EU-Vollmitgliedschaft der Türkei weit verbreitet, deutlich weniger dagegen in Bezug auf die Mehrwertsteuer, die allerdings mehr falsche Zuordnungen erfährt als die Positionen zu den Atomkraftwerken. Sowohl bei den richtigen Antworten als auch beim Nettowissen rangiert daher das „Betroffenheitsissue“ Mehrwertsteuer auf dem ersten Platz, gefolgt von dem „Langzeitwissen“ über die Atomkraftwerke und dem EU-Beitritt der Türkei, während die Bürgerversicherung weit abgeschlagen bleibt. Tabelle 4c: Kenntnis von politischen Positionen der Parteien 2005 – Zählindizes der Nennungen zu den 5 Parteien pro Issue und zu allen 4 Issues 2005 Prozente BV BV,EU, alle 4 MW,AK Issues 0 0 1 1-5 2 6-10 3 11-15 4 16-19 5 20 Mittelwert unrecodiert

Zählindizes alle 5 Parteien: 0 bis 5 bzw. pro Issue bzw. 0 bis 20 bei allen 4 Issues EU MW AK alle 4 BV EU MW AK alle 4 BV EU MW AK alle 4 Issues Issues Issues falsch weiß nicht, kA richtig

51.8 57.1 59.2 75.8 12.4 29.0 30.1 14.7 10.8 8.9 5.4 5.7 8.2 3.3 3.5 2.3 8.9 1.2 1.7 1.3 7.9 0.6 0.1 0.2

21.3 59.7 17.8 1.2 0.0 0.0

34.4 18.3 10.7 7.0 3.9 25.7

1.34

2.96

2.05

.64

.59

.39

41.8 54.9 34.5 24.9 21.0 28.9 13.9 8.0 15.1 6.1 7.0 3.8 2.7 2.4 4.2 10.6 6.7 13.5

15.3 43.0 21.7 11.6 5.3 3.1

45.7 12.5 8.1 10.7 14.3 8.7

13.0 4.4 10.7 23.6 37.1 11.2

7.8 6.0 10.9 17.4 29.4 28.5

14.7 6.7 7.1 20.5 31.2 19.8

3.2 11.1 35.7 31.3 17.9 0.8

1.35 1.01 1.55 5.95 1.62 3.01 3.40 3.06 11.09 richtig minus falsch BürgerEU-Beitritt Erhöhung der Laufzeit alle 4 Issues versicherung der Türkei Mehrwertsteuer Atomkraftwerke -5 7.9 0.6 0.1 0.2 -20 0.0 -4 4.6 0.3 0.1 0.4 -16 bis -19 0.0 -3 7.3 1.1 1.8 1.1 -11 bis -15 0.0 -2 4.6 0.9 1.5 0.7 -6 bis -10 0.2 -1 7.4 4.1 3.2 2.3 -1 bis -5 3.7 0 29.0 12.4 8.4 14.9 0 5.9 1 7.5 10.4 7.3 10.5 1 bis 5 23.1 2 4.1 10.7 14.2 6.7 6 bis 10 33.8 3 10.1 30.9 24.4 19.9 11 bis 15 21.3 4 8.6 17.4 10.5 23.5 16 bis 19 11.2 5 8.7 11.2 28.5 19.8 20 0.8 Mittelwert Mittelwert .28 2.37 2.82 2.67 unrecodiert 8.13 Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

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Betrachtet man die Antwortverteilungen auf alle Fragen zu den Positionsissues zusammen, so ergeben sich Mittelwerte von knapp 3 falschen, 6 fehlenden und 11 richtigen Zuordnungen bzw. bei einem möglichen Range von -20 bis 20 ein Mittelwert von 8.13 des Nettowissens. Tabelle 5a: Kenntnis der ideologischen Parteipositionen 2005 – einzelne Parteien n=2450 Variante 1 Variante 2 Prozente Linke/ B90/ SPD FDP CDU CSU NPD Linke/ B90/ SPD FDP CDU CSU NPD PDS Grüne PDS Grüne falsch 4.6 6.8 7.7 20.0 13.2 11.3 11.8 31.3 67.6 71.7 68.1 75.4 62.4 24.2 wn,kA 6.6 7.4 5.3 7.8 5.0 6.0 8.3 6.6 7.4 5.3 7.8 5.0 6.0 8.3 mitte 2.0 12.6 13.0 25.1 15.2 8.8 0.6 richtig 86.9 73.3 74.0 47.1 66.6 74.0 79.3 62.1 25.0 23.0 24.1 19.6 31.6 67.5 Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Tabelle 5b: Kenntnis der ideologischen Parteipositionen 2005 – Zählindizes

falsch

Zählindizes alle Parteien: 0-7 bei falsch, weiß nicht/kA und richtig, -7 bis 7 bei richtig minus falsch Variante 1 Variante 2 wn, kA mitte richtig richtigfalsch wn, kA richtig falsch 86.0 49.9 3.7 0.1 8.8 86.0 26.8 5.1 31.6 2.5 0.7 0.5 5.1 8.6 2.7 12.9 4.5 1.8 19.7 2.7 18.1 0.8 3.7 6.5 7.9 8.6 0.8 14.6 0.5 1.0 14.7 7.5 15.4 0.5 8.1 1.1 0.8 19.0 13.5 20.9 1.1 18.6 0.5 0.1 27.0 28.0 13.7 0.5 0.0 3.2 0.0 22.0 40.5 12.4 3.2 5.5

0/ -7- -6 59.5 1/ -5- -4 22.3 2/ -3- -2 7.1 3/ -1- 0 7.4 4/ 1 2.5 5/ 2-3 0.8 6/ 4-5 0.5 7/ 6-7 0.0 Mittelwert unrecodiert .75 .46 .77 5.01 4.26 4.01 Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

.46

2.53

richtigfalsch 17.5 12.1 19.8 18.4 8.1 18.6 0.0 5.5 -1.48

Die Einordnung der Parteien auf dem ideologischen Links-Rechts-Spektrum (Tab.5a) zeigt in beiden Varianten die relativ höchsten Anteile richtiger Antworten für die Parteien an den Endpolen des Kontinuums, während im gemäßigten Bereich deutlich mehr Unsicherheiten und Fehleinordnungen zu beobachten sind. Die anspruchsvollere Variante 2, die eine Hierarchisierung bzw. zutreffende Einordnung jeder Partei in Abhängigkeit der anderen Parteien verlangt, bringt für die gemäßigten Parteien überwiegend Fehleinordnungen hervor. Die einfachere Variante 1, die eine voneinander unabhängige Zuordnung der Parteien zulässt, zeigt dagegen, dass grobe Fehleinschätzungen, definiert als Zuordnung auf der falschen Seite des Spektrums (z.B. Grüne rechts) – jedoch eher selten sind. Vielmehr werden diese Parteien gehäuft in der Mitte verortet. Lediglich bei der FDP, für die aktuell die Zuordnung auf der rechten Seite als richtig definiert wurde, zeigt neben einem hohen Anteil von Einordnungen in der Mitte auch hohe Anteile falscher, d.h. linksseitiger Zuordnungen, was jedoch angesichts der wechselnden Koalitionsgeschichte der FDP und ihrer ambivalenten

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Stellung in der klassischen Konfliktstruktur durchaus nachvollziehbar ist.6 Dementsprechend zeigen die Zählindizes bei Variante 1 auch überwiegend zutreffende, bei Variante 2 überwiegend unzutreffende Antworten (Tab.5b). Tabelle 6a: Kenntnis von Namen und Parteizugehörigkeiten der Direktkandidaten im Wahlkreis 2005 n=2222 Namen der Direktkandidaten im Wahlkreis Prozente SPD CDU/CSU FDP B90/Grüne falsch 5.9 5.7 2.7 2.6 weiß nicht 67.5 68.4 91.8 93.2 richtig 26.6 25.9 5.5 4.1 Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

LL/PDS 2.0 94.0 4.0

Tabelle 6b: Nennungen zu Direktkandidaten 2005 – Zählindizes n=2222 Prozente

falsch 0 1 2 3 4 5

86.8 9.8 2.2 0.7 0.1 0.5

weiß nicht, kA 0.9 2.1 6.6 16.5 19.3 54.6

richtig 61.8 18.3 13.5 5.0 1.2 0.2

-5 -4 – -3 -2 – -1 0 1-2 3-4 5 Mittelwert, Mittelwert .19 4.15 .66 unrecodiert Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

richtig minus falsch 0.5 0.5 6.9 57.8 28.4 5.6 0.2 .47

Massive Unkenntnis herrscht allerdings in Bezug auf die Namen der Wahlkreiskandidaten (Tab.6a, b). Über 90 Prozent der Wählerschaft erinnert sich überhaupt nicht an die Namen der Kandidaten von FDP, Bündnis90/Die Grünen und Linke Liste/PDS und gerade mal knapp 32 Prozent glauben sich an den Namen des SPD- oder des Unionskandidaten zu erinnern, wovon allerdings etwa 6 Prozent der Nennungen (selbst bei sehr großzügiger Auslegung) falsch ausfallen. Der häufigste Fehler ist die Verwechslung von Spitzenkandidaten oder ehemaligen Spitzenkandidaten bzw. im Bund prominenten Ministern mit den Wahlkreiskandidaten. So wird bei den falschen Nennungen zu SPD-Wahlkreiskandidaten mit 12.6 Prozent am häufigsten Gerhard Schröder genannt, bei der Union mit 13 Prozent Angela Merkel und bei der FDP mit 16.9 Prozent Guido Westerwelle. Bei Bündnis90/die Grünen konzentrieren sich die fehlerhaften Nennungen mit 32.7 Prozent in hohem Maß auf den ehemaligen Außenminister Joschka Fischer, gefolgt von 11.2 Prozent Nennungen von Renate Künast, 9.9 Prozent von Hans-Christian Ströbele und nur 2,3 Prozent fälschlich von Fritz Kuhn und 1,0 Prozent von Andrea Nahles. Bei der Linken Liste/PDS stellen sich 21.3 Prozent fälschlich Gregor Gysi, 19.7 Prozent Oskar Lafontaine und 9.6 Prozent Lothar Bisky als 6

In der faktorenanalytischen Struktur (oblique bei Variante 1 und mitte sowie weiß nicht/kA zusammengefasst, oblimin bei Variante 2) dieser Indikatoren mischen sich die Zuordnung zur Linken versus Rechten einerseits, zur Mitte versus den Extremen andererseits. So bilden (insgesamt sowie in beiden Landesteilen) CDU, CSU und FDP einen ersten Faktor, SPD und Bündnis90/Die Grünen einen zweiten Faktor und PDS sowie NPD den dritten Faktor – da diese Struktur jedoch teilweise durch die Hierarchisierung „technisch“ bedingt ist, ist sie nicht zentral für die Indexbildung.

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Wahlkreiskandidaten vor. Daneben werden in geringerem Maß Namen und Parteizugehörigkeiten verwechselt oder Kandidaten aus benachbarten Wahlkreisen genannt. Diese fehlerhaften Zuordnungen, vor allem aber das offen bekannte Nicht-Erinnern an die Namen der Wahlkreiskandidaten spricht erheblich gegen jeglichen empirischen Realitätsgehalt der Bedeutung, die ihnen bzw. den Wahlkreisabgeordneten normativ und durch die Erststimme auch institutionell als Vermittler zum und Ansprechpartner der Wähler zugesprochen wird. Tabelle 7: Bivariate Zusammenhänge zwischen verschiedenen Indikatoren bzw. Indizes politischen Wissens 2005 Pearsons r

Zweitstimme

Bundesrat

IssueLinks-Rechtspositionen Pos. alle Paralle Parteien teien Variante r-f 1 r-f .23** .28** .17** .18** .26** .28** .41**

Wahlprinzipien r-f .18** .19** Zweitstimme .13** Bundesrat Issuepositionen alle Parteien r-f Links-Rechts-Pos. alle Parteien Variante 1 r-f Links-Rechts-Pos. alle Parteien Variante 2 r-f ** signifikant auf dem Niveau von p<.001. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Links-RechtsPos. alle Parteien Variante 2 r-f .19** .15** .12** .28**

Wahlkreiskandidaten r-f

.48**

.09**

.12** .14** .14** .14**

.10**

Die untersuchten Indikatoren zeigen sehr unterschiedliche Niveaus der Kenntnisstände, angefangen von relativ weit verbreitetem Wissen über zentrale Demokratiemerkmale über etwas geringeres Wissen zu Spezifika des Wahlsystems und einzelne Issuepositionen sowie ideologische Standpunkte der Parteien bis hin zu weit verbreiteter Ignoranz in Bezug auf die Wahlkreiskandidaten (und je nach Anspruch kann das Glas als halbvoll oder halbleer interpretiert werden). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwieweit diese verschiedenen, als potenziell relevant für die Wahlentscheidung definierten Wissensbereiche, überhaupt Gemeinsamkeiten aufweisen. Einen ersten Hinweis dazu geben die Korrelationsmaße in Tab.7. Danach hängen alle Wissensbereiche positiv miteinander zusammen, wenn auch in nicht sehr starken Ausmaß. D.h. bspw. wer über die Wahlkreiskandidaten Bescheid weiß, kennt sich tendenziell auch besser mit den Parteien und dem Wahlsystem aus – jedoch sind diese Zusammenhänge angesichts teilweise sehr schiefer Verteilungen nicht sehr stark und lassen demnach durchaus Raum für unterschiedliche Bestimmungsgründe der verschiedenen Wissensbereiche.

4.

Determinanten und Begleitmerkmale politischen Wissens

Insoweit Wissen von Bedeutung für das Verständnis des politischen Prozesses und die Wahrnehmung der eigenen Interessen durch politische Beteiligung ist, stellen sich Wissensunterschiede, die an demografische Merkmale sozialer Ungleichheit gebunden sind, als die Qualität der Demokratie beeinträchtigende Ungleichheiten dar. Solche Ungleichheiten sind bereits in früheren Studien beobachtet worden (vgl.o) und bestätigen sich auch hier in

Politisches Wissen als Grundlage der Entscheidung bei der Bundestagswahl 2005

379

einigen Fällen, werden in anderen jedoch widerlegt (Tab.8). So zeigen Ostdeutsche inzwischen nicht mehr durchgängig geringeres politisches Wissen als Westdeutsche. Jedoch neigen Frauen im Durchschnitt nach wie vor etwas seltener als Männer zu falschen Antworten, aber deutlich häufiger dazu, fehlendes Wissen anzugeben, was in einem geringeren Anteil richtiger Antworten und geringerem Nettowissen resultiert. Das Lebensalter zeigt dagegen kaum bedeutsame Effekte, allenfalls reduziert höheres Alter minimal falsche Nennungen. Wie erwartbar verringert höhere Schulbildung falsche Antworten und fehlendes Wissen und erhöht die Anteile richtiger Antworten bei allen erfassten Wissensbereichen deutlich. Vergleichbares, wenn auch in geringerer Intensität, trifft auf die Schulbildung der Eltern zu, worin sich vermutlich häusliche politische Sozialisationseffekte äußern. Darüber hinaus trägt aber auch Bildungsmobilität zu Wissenszuwächsen bei. Eine ähnliche Antwortstruktur gilt für die Analyse nach Einkommen als Indikator für verfügbare Ressourcen und für die subjektive soziale Schicht. Auch Merkmalen sozialer und politischer Integration werden verschiedentlich positive Wirkungen auf politische Kenntnisse nachgesagt. Diese Annahmen können mit den vorliegenden Daten allerdings kaum gestützt werden. So erzeugen die Erwerbstätigkeit bzw. fehlende Arbeitslosigkeit zwar minimale Effekte der erwarteten Art, jedoch resultieren diese primär aus dem Überhang erwerbstätiger Männer sowie den starken Zusammenhängen von Arbeitslosigkeit mit Bildung und Schicht. Ähnlich gilt für die minimalen Effekte der Lebensform in einer Partnerschaft, dass diese verschwinden, wenn der Effekt des Geschlechts kontrolliert wird. Schließlich zeigen sich zwar Effekte der Mitgliedschaft in politiknahen Organisationen (Gewerkschaft, Berufsverband, Bürgerinitative und Partei), allerdings dürfte diese zumindest teilweise auch durch das Interesse an Politik kontaminiert sein (vgl.u.). Die multivariate Überprüfung der Effekte der bivariat wichtigsten dieser Variablen auf das politische Wissen zeigt, dass lediglich die schulische Bildung durchgehend – also bei allen Wissensvariablen – ihren Effekt behält. Darüber hinaus zeigen das Wohngebiet, das Einkommen, die Bildung der Eltern, das Geschlecht und die Arbeitslosigkeit noch vereinzelt Effekte, die aber gegenüber den bivariaten deutlich reduziert sind. Auch die Gesamterklärungskraft dieser Merkmale ist äußerst gering – mit adj. r2 von .03 (Bundesrat), .04 (Wahlkreiskandidaten) über .05 (Zweitstimme) und .06 (Wahlprinzipien und ideologische Positionen, beide Varianten) bis .08 (Issuepositionen) (nicht tab. ausgewiesen). Neben der schulischen Bildung haben sich in der vorliegenden Forschung immer wieder das Interesse an Politik und politische Informationsaufnahme als wichtige Bedingungen politischen Wissens erwiesen (vgl.o.). Das gilt auch im vorliegenden Fall. Alle erfassten Merkmale politischer Involvierung – d.h. allgemeines Interesse an Politik, Interesse am Bundestagswahlkampf 2005, Interesse an verschiedenen Formen der Wahlwerbung sowie die Rezeptionshäufigkeit von politischen Informationen aus der Tageszeitung, dem Fernsehen und dem Internet – reduzieren nahezu durchgehend weiß nicht Angaben, in geringerem Maß auch falsche Angaben und verstärken deutlich den Anteil richtiger Antworten bzw. auch das Nettowissen. Dasselbe Muster ist beim politischen Effektivitätsbewusstsein zu beobachten, d.h. je politisch kompetenter sich Bürger/innen fühlen, desto häufiger geben sie auf die Wissensfragen eine richtige und desto seltener eine falsche Antwort bzw. gar keine Antwort. Ausnahmen von diesem Muster finden sich nur im Hinblick auf Wahlkreiskandidaten (und die Issuepositionen der Parteien, jedoch nicht signifikant), zu denen durch politische Involvierung und subjektive politische Kompetenz die fehlerhaften Angaben ebenfalls etwas zunehmen.

380

Bettina Westle

Tabelle 8: Bivariate Zusammenhänge zwischen demografischen Merkmalen und politischem Wissen 2005 Pearsons r

Gebiet: 1=W 2=O

GeAlter Schulschlecht: in ab1=M 2=F Jahren schluss: 0= keiner bis 4= hoch

Wahlprinzipien falsch .06** .02 .05* -.18** weiß nicht -.00 .07** -.01 -.10** richtig -.06** -.05* -.05* .21** richtig-falsch -.06** -.03 -.05* .20** Zweitstimme falsch .03 .01 .01 -.15** weiß nicht -.00 .10** .03 -.10** richtig -.03 -.06* -.02 .20** Bundesrat falsch .02 .04 -.04 -.05* weiß nicht -.01 .14** -.02 -.11** richtig -.01 -.15** .05* .13** Issuepositionen alle Parteien falsch .04 -.07** -.04 -.04 weiß nicht -.05* .21** .00 -.18** richtig -.04 -.20** .02* .23** richtig-falsch -.02 -.14** .03 .22** Links-Rechts-Einstufung alle Parteien Variante 1 falsch -.04 .01 -.05 -.16** weiß nicht -.06* .14** .04 -.13** richtig .05* -.11** .02* .22** richtig-falsch .05* -.08** .03 .23** Links-Rechts-Einstufung alle Parteien Variante 2 falsch -.04 .04 .04 -.17** weiß nicht -.06* .14** .04 -.13** richtig .08** -.14** -.07* .25** richtig-falsch .07* -.10** -.06* .22** Wahlkreiskandidaten falsch .04 -.06* -.06* .11** weiß nicht -.07** .06* .05 -.21** richtig .06* -.03 -.02 .17** richtig-falsch .02 .01 .02 .09**

Schulabschluss Eltern: 0= keiner bis 4= hoch

Bildungsmob.: -4= abwärts bis 4= aufwärts

Einkom Subj. men: Schicht 1=u. bis 1=u. 3= bis oben 5= oberes Quintil

Erwerbstätigkeit: 0= nein 1= ja

-.10** -.12** -.15** -.11** -.05* -.04 -.07** -.05 -.04 -.02 .11** .15** .16** .12** .06* .11** .14** .16** .12** .06*

Arbeits- Lebens- Mitlosig- form: glied: 0=nein keit: 1= 0= nein allein 1=ja 1= an- 2=mit dere Partner Person im HH 2= Person selbst 3= Person selbst + andere Person im HH .07** -.01 -.00 -.04 -.06** .03 -.07** .02

-.04 -.04 .06*

-.14** -.13** -.09** -.06* .04 -.08** -.11** -.10** -.06* .00 .18** .17** .13** .08** -.04

-.02 -.06* .06*

-.05* -.06* -.06** .01 -.08** -.11** -.13** -.06* .10** .13** .15** .05*

-.08** -.07** .11** .10**

-.03 -.07* -.08** -.06** .07** .08**

.06* -.04 -.07** .08** -.08** -.12** -.11** .09** .15**

-.04 -.02 .01 -.05* .01 -.10** -.12** -.17** -.12** -.04 .14** .16** .18** .17** .04 .14** .13** .15** .17** .03

.04 .02 -.04 -.06*

-.01 .05* -.06** -.15** .10** .14** .06** .10**

-.10** -.10** -.03 -.09** -.05 -.07** -.06** -.12** -.09** -.04 .14** .15** .12** .14** .05* .14** .13** .10** .14** .05*

.06** .01 .04 -.05* -.05* .02 -.06** .01

-.00 -.09** .07** .05**

-.11** -.11** -.07* -.07* -.07** -.02 -.07** -.06** -.12** -.09** -.04 .04 .16** .16** .15** .11** .09** -.05* .14** .13** .11** .09** .08** .00

.04 -.05* .01 -.02

.00 -.09** .08** .03

.02 .02 .04 .06* -.03 -.14** -.12** -.14** -.11** -.06* .09** .13** .15** .10** .03 .02 .09** .11** .07** -.01

-.02 -.05* .07* .06*

.05* -.10** -.09** .05

** signifikant auf dem Niveau von p<.001, * signifikant auf dem Niveau von p<.01. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

-.01 .07* -.06* -.04

Politisches Wissen als Grundlage der Entscheidung bei der Bundestagswahl 2005

381

Allerdings korrelieren, wie erwartbar, die Variablen zur Involvierung recht hoch miteinander: Wer sich für Politik interessiert, richtet dieses Interesse auch zumeist auf den Wahlkampf (.66**), wenn auch in geringerem Maß auf die Wahlwerbung (.26**), und Interesse für den Wahlkampf korrespondiert seinerseits mit Interesse für die Wahlwerbung (.30). Diese Interessen drücken sich auch im Informationsverhalten aus; so bestehen zwischen Interesse an Politik, Wahlkampf und Wahlwerbung einerseits und Informationsnutzung andererseits ebenfalls positive Zusammenhänge – mit Tageszeitungen (.44, .34, .13), TVNachrichten (.31, .32, .14) und mit Informationssuche im Internet (.26, .23, .16); ebenso korrespondieren diese Merkmale stark mit dem Effektivitätsbewusstsein (von .60 bis .19 – jeweils Pearsons r, signifikant auf dem Niveau von p<.001). Tabelle 9: Bivariate Zusammenhänge zwischen politischer Involvierung sowie politischem Effektivitätsgefühl und politischem Wissen 2005 Pearsons r

Interesse an Interesse am Politik: Wahlkampf: 1=überh. 1=überh. nicht bis nicht bis 5=sehr stark 5=sehr stark

Wahlprinzipien falsch -.19** -.15** weiß nicht -.13** -.10** richtig .24** .19** richtig-falsch .22** .17** Zweitstimme falsch -.14** -.11** weiß nicht -.23** -.24** richtig .23** .21** Bundesrat falsch -.16** -.10** weiß nicht -.29** -.24** richtig .35** .27** Issuepositionen alle Parteien falsch .05 .06 weiß nicht -.39** -.35** richtig .42** .37** richtig-falsch .34** .30** Links-Rechts-Pos. alle Parteien Variante 1 falsch -.10** -.04 weiß nicht -.23** -.22** richtig .27** .20** richtig-falsch .24** .16** Links-Rechts-Pos. alle Parteien Variante 2 falsch -.07** -.03 weiß nicht -.23** -.22** richtig .23** .19** richtig-falsch .16** .12** Wahlkreiskandidaten falsch .11** .11** weiß nicht -.25** -.22** richtig .22** .18** richtig-falsch .13** .10**

Interesse Informa-tion Information Information Internet: an WahlTagesTV-Nach0=nie bis richten: werbung: zeitung: 7=jeden Tag 0=nie bis Zählindex 0=nie bis 0 bis 7 7=jeden Tag 7=jeden Tag

interne Efficacy: 0=gering bis 7=groß

.01 -.09** .04 .02

-.08** -.08** .11** .10**

-.05* -.06** .08** .07**

-.08** -.03 .09** .08**

-.14** -.17** .22** .19**

-.02 -.10** .06*

-.09** -.18** .17**

-.02 -.18** .10**

-.05* -.07** .08**

-.16** -.18** .23**

.03 -.13** .08**

-.13** -.19** .25**

-.09** -.12** .16**

-.05* -.11** .12**

-.12** -.30** .33**

.05* -.16** .15** .11**

.02 -.24** .27** .22**

.02 -.21** .24** .20**

.03 -.17** .18** .14**

.05 -.39** .42** .33**

.03 -.10** .07** .04

-.07** -.14** .15** .14**

-.01 -.17** .13** .10**

-.02 -.10** .09** .08**

-.12** -.25** .26** .24**

.05 -.10** .01 -.01

-.03 -.14** .13** .09**

.03 -.17** .09** .04

-.07* -.10** .14** .11**

-.10** -.25** .26** .19**

.05* -.08** .06* .02

.04 -.18** .18** .14**

.06* -.07* .05* .01

.07** -.14** .12** .07**

.10** -.21** .18** .10**

** signifikant auf dem Niveau von p<.001, * signifikant auf dem Niveau von p<.01. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

382

Bettina Westle

In der multivariaten Analyse (nicht tab. ausgewiesen) erklären diese Variablen zusammen erneut auch nur geringe Anteile der Varianz im politischen Wissen (adj r2 zwischen .03 bei den Wahlkreiskandidaten über .06 bei den Wahlprinzipien, der Zweitstimme und der hierarchischen ideologischen Einstufung der Parteien und .07 bei der dreigeteilten, .11 bei den Mehrheitsverhältnissen im Bundesrat und .15 bei den Issuepositionen der Parteien). Dabei erweist sich durchgehend das politische Effektivitätsgefühl und das allgemeine Interesse an Politik als am wichtigsten, mit weitem Abstand gefolgt vom Interesse am Wahlkampf und der Nutzung von Tageszeitungen, während die anderen Variablen keine signifikanten Effekte mehr erreichen. Zusammenhänge zwischen politischem Wissen und politischer Unterstützung sind bislang im deutschen Kontext nicht untersucht worden. Beschränkt man die Betrachtung auf zentrale Kategorien politischer Unterstützung in Anlehnung an das Konzept Eastons (1965, Westle 1989, 1999), lässt sich annehmen, dass eine starke Bindung an die Demokratie und eine positive Sicht des politischen Prozesses auf Dauer mit größerem politischem Wissen einhergeht: Wer die Demokratie als Regierungsform stark befürwortet, fühlt sich vermutlich auch stärker für ihren Erhalt verantwortlich und sieht politische Information und Partizipation als Bürgertugend oder Bürgerpflicht an – beiden Merkmalskomplexen haften gemeinsame Normen an. Darüber hinaus kann vermutet werden, dass eine positive Sicht der im eigenen Land realisierten Demokratie die Motivation zum Erwerb und Erhalt politischen Wissens stärkt, da eine dauerhaft negative Einstellung zu einem Objekt psychologische Hürden der Beschäftigung damit aufbaut (vgl. z.B. Festinger 1957). Dabei kann der Zusammenhang durchaus als Kreislauf gedacht werden, da ein guter politischer Kenntnisstand umgekehrt das Verständnis für demokratische Politik und ihre Probleme stärken dürfte. Die Beurteilung der aktuellen Regierung als nicht normative, sondern eher instrumentell geprägte, kurzfristig wandelbare Unterstützungsform sollte dagegen keine Zusammenhänge mit politischem Wissen zeigen. Diese Annahmen spiegeln sich nahezu perfekt in den Daten wider (Tab.10). Je stärker die Idee der Demokratie befürwortet wird, desto seltener verfügen die Bürger/innen über Fehl- und fehlende Kenntnisse und desto häufiger über zutreffendes Wissen. Dasselbe Muster wiederholt sich in abnehmender Intensität bei den schwächer normativ konnotierten Variablen der Haltung zur Demokratie des Grundgesetzes und der Zufriedenheit mit dem demokratischen Prozess in Deutschland. Mit der Regierungszufriedenheit bestehen dagegen so gut wie keine nennenswerten Zusammenhänge (mit Ausnahme etwas geringerer Anteile von weiß nicht Antworten). Infolge der Zusammenhänge zwischen den Variablen der Unterstützung der Demokratie erreichen diese gemeinsam jedoch nur geringe Erklärungskraft (adj. r2 zwischen .02 und .05), wobei die Haltung zur Idee der Demokratie am bedeutsamsten bleibt (nicht tab. ausgewiesen).

Politisches Wissen als Grundlage der Entscheidung bei der Bundestagswahl 2005

383

Tabelle 10: Bivariate Zusammenhänge zwischen Merkmalen politischer Unterstützung und politischem Wissen 2005 Pearsons r

Idee der Demokratie Demokratie: des Grundgesetzes: 1=sehr dagegen bis 1=sehr 6=sehr dafür unzufrieden bis 6=sehr zufrieden

Realität der DemoRegierungskratie in Deutschleistung: land: 1=sehr 1=sehr unzufrieden unzufrieden bis bis 6=sehr zufrieden 6=sehr zufrieden

Wahlprinzipien falsch -.18** -.11** -.09** weiß nicht -.03 -.06** -.03 richtig .18** .14** .10** richtig-falsch .19** .13** .10** Zweitstimme falsch -.10** -.10** -.07** weiß nicht -.06** -.06** -.02 richtig .13** .12** .08** Bundesrat falsch -.11** -.09** -.03 weiß nicht -.09** -.07** -.07** richtig .15** .13** .08** Issuepositionen alle Parteien falsch -.08** -.06** -.08** weiß nicht -.15** -.09** -.04 richtig .22** .14** .10** richtig-falsch .23** .15** .12** Links-Rechts-Positionen alle Parteien Variante 1 falsch -.13** -.10** -.10** weiß nicht -.12** -.05* -.02 richtig .19** .12** .09** richtig-falsch .19** .13** .10** Links-Rechts-Positionen alle Parteien Variante 2 falsch -.10** -.13** -.11** weiß nicht -.12** -.05* -.02 richtig .18** .16** .12** richtig-falsch .15** .15** .12** Wahlkreiskandidaten falsch .02 .04 .03 weiß nicht -.12** -.11** -.05* richtig .13** .10* .05 richtig-falsch .10** .06* .03 ** signifikant auf dem Niveau von p<.001, * signifikant auf dem Niveau von p<.01. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

.00 -.05* .03 .01 -.06* -.07** .09** .02 -.05* .02 .03 -.05* .04 .02 .04 -.06* .04 .01 .03 -.06* .01 -.01 .03 -.04 .03 .02

Auch die Gesamterklärungskraft der Variablen, die sich in den vorangegangenen Analysen als starke Korrelate politischen Wissens herausgestellt haben, ist mit adj. r2 zwischen .04 und .14 wenig zufriedenstellend und zudem variiert die relative Bedeutung einzelner Variablen über die verschiedenen Wissensindikatoren hinweg. Als wichtigste und relativ stabile Effekte sind jedoch die der schulischen Bildung, des allgemeinen politischen Interesses und der Haltung zur Idee der Demokratie festzuhalten (Tab. 11).

384

Bettina Westle

Tabelle 11: Multivariate Zusammenhänge zwischen ausgewählten Merkmalen und politischem Wissen 2005 Multiple lineare Regressionen

Wahlprinzipien

Zweitstimme

Bundesrat

Issuepos. alle Parteien b beta .91 .07** -.82 -.07** .53 .10**

Links-Rechts- Links-RechtsPos. alle Par- Pos. alle Parteien Var. 1 teien Var. 2 b beta b beta .45 .07** .91 .09** -.25 -.05** -.70 -.09** .36 .15** .54 .14

Wahlkreiskandidaten

b beta b beta b beta b beta Gebiet .31 .10** Geschlecht -.07 -.05* Schulabschluss .15 .11** .15 .16** Schulab. Eltern -.08 -.07* Einkommen .06 .06* .04 .06* .09 .11** Arbeitslosigkeit -.05 -.06* Pol. Interesse .18 .13** .14 .21** .84 .15** .29 .11** Wahlkampf Int. Tageszeitung .03 .07** .02 .08** .13 .06* .04 .08** Idee Demokratie .18 .11** .72 .11** .29 .09** .47 .10** .11 .07** Grundgesetz .17 .08** .34 .11** Konstante -.31 -.77 .17 -2.54 .33 -8.28 -1.26 2 adjusted r .09 .07 .09 .14 .08 .09 .04 In der Tabelle sind auf dem Niveau von .01** bis .05* signifikante Werte ausgewiesen. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

5.

Issueprofile und Parteiidentifikation der Wählerschaft und Kenntnis der Issuepositionen der Parteien

Kontroverse politische Themen bieten den Parteien die Möglichkeit ihr Profil zu schärfen und Wähler an sich zu binden, allerdings umgekehrt auch die Gefahr Wähler zu verlieren. Im Bundestagswahlkampf 2005 sind vor allem vier Issues kontrovers diskutiert worden, die jedoch zusammen nicht mit parteispezifischen Profilen korrespondieren. Vielmehr nahmen die drei Parteien der Linken dieselben Positionen ein, d.h. Befürwortung der Bürgerversicherung und der Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU und Ablehnung der Erhöhung der Mehrwertsteuer sowie der Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke. Dem stand die Union mit konträrem Profil gegenüber, während die FDP sich von der Union durch Ablehnung der Mehrwertsteuererhöhung unterschied. Diese Parteiprofile kamen in der Wählerschaft allerdings kaum vor (Tab.12). Lediglich knapp 7 Prozent der Bürger/innen wiesen das Profil der Linken auf, 9 Prozent das der FDP und 3 Prozent das der Union. Rechnet man noch solche Bürger hinzu, die bei einem der vier Issues keine eigene Position hatten, kommen nochmals knapp 5 Prozent für die Linke, rund 6 Prozent für die FDP und 2 Prozent für die Union hinzu. Allerdings sind die Wunschprofile in der Wählerschaft auch äußerst heterogen, d.h. es findet sich, mit Ausnahme derjenigen 11 Prozent, die bei allen vier Issues eine Gegenposition einnehmen, keine große Gruppierung mit einheitlichem Profil.

Politisches Wissen als Grundlage der Entscheidung bei der Bundestagswahl 2005

385

Tabelle 12: Wählerprofile bei vier Positionsissues des Bundestagswahlkampfs 2005 – insgesamt und in Abhängigkeit der Parteiidentifikation Profil von Linke/PDS+ B90/Grüne+SPD FDP Union FDP/Union keine Partei

alle

BV+EU+MW-AKW1 fehlende Angabe BV-EU-MW-AKW+ 1 fehlende Angabe BV-EU-MW+AKW+ 1 fehlende Angabe 1 fehl. Angabe bei MW BV+EU-MW+AKW+ 3 BV+EU+MW+AKW- 4 BV-EU+MW-AKW+ 9 BV-EU+MW-AKW- 14 BV+EU-MW-AKW- 15 BV-EU-MW-AKWsonstige Kombinationen ohne fehlende Angaben* sonstige Kombinationen mit mindesten 1 fehlenden Angabe

PI: B90/ Grüne 18.7 17.3 1.3 5.8 0.0 0.0 0.0 0.0 1.4 0.0 10.9 10.2 2.0 10.5

PI: SPD

PI: FDP

PI: Union

keine PI

6.8 4.8 9.0 6.4 3.4 1.6 0.3 3.6 2.6 7.0 4.9 7.6 11.2 7.1

PI: Linke/ PDS 11.9 10.0 9.1 2.5 0.7 0.0 0.0 0.5 6.8 10.6 9.8 8.4 5.6 3.2

12.7 5.3 8.0 4.1 0.6 0.3 0.0 0.9 2.8 6.4 6.9 10.1 14.4 7.7

1.4 4.0 11.1 5.1 14.5 5.2 1.1 8.0 5.5 3.0 1.4 5.4 11.3 7.7

1.0 2.9 10.6 7.3 9.3 4.5 0.9 9.5 2.1 8.9 1.3 5.2 4.9 8.5

4.5 3.5 9.6 9.0 0.8 0.4 0.0 1.9 2.0 5.6 4.8 7.5 15.1 6.2

23.7

20.9

21.9

19.8

15.3

23.1

29.1

n 2540 118 113 806 87 662 598 * Hierunter fallen 7 verschiedene Kombinationen, von denen jedoch keine insgesamt oder bei einer der Parteianhängerschaften mehr als 5 Prozent erreicht; ** Hierunter fallen alle restlichen Kombinationsmöglichkeiten, die eine bis vier fehlende Angaben zu eigenen Issue-Positionen enthalten. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Zu erwarten ist aber, dass Befragte, die sich mit einer der Parteien langfristig identifizieren, deren Profil in höherem Ausmaß aufweisen als der Durchschnitt der Wählerschaft. Auf dem linken Spektrum ist dies auch der Fall, insbesondere bei den Anhängern von Bündnis90/Die Grünen mit 18,7 Prozent (gegenüber 6,8 Prozent insgesamt), gefolgt von denen der Linken/PDS und den SPD-Anhängern. Umgekehrt weisen die Anhänger der Union und der FDP dieses Profil nur sehr unterproportional auf. Vergleichbares trifft für die Anhänger der Union zu und, wenn auch weniger ausgeprägt für die der FDP, wobei es in diesem Lager auch einige Überschneidungen der Profile gibt. Allerdings ist insgesamt auch zwischen den Parteiidentifikateuren und den Angebotsprofilen ihrer jeweiligen Partei nur eine recht geringe Korrespondenz zu beobachten, denn die Anhängerschaften weisen vielfältige davon abweichende Profile auf. Nur in einem Fall entspricht eine solche größere Abweichung aber dem Profil einer Partei des Gegenlagers, nämlich bei den PDS-Anhängern das FDP-Profil.

386

Bettina Westle

Tabelle 13: Wissen zu Issue-Positionen der Parteien in Abhängigkeit von der eigenen Issue-Position 2005 Spalten prozente

Einführung Bürgerversicherung gegen wn/ für kA

EU-Vollmitgliedschaft Türkei gegen wn/ für kA

Mehrwertsteuererhöhung gegen wn/ für kA

Laufzeitverlängerung AKW gegen wn/ für kA

PDS falsch 34.7 9.6 22.2 34.3 13.2 25.6 3.9 wn/kA 52.4 86.3 48.5 47.2 74.6 46.1 38.5 richtig 12.9 4.1 29.3 18.4 12.2 28.3 57.6 B90/Grüne falsch 35.3 10.6 20.3 11.2 4.6 9.2 10.0 wn/kA 34.7 73.9 27.8 19.4 47.8 15.1 18.6 richtig 30.0 15.5 52.0 69.4 47.7 75.7 71.4 SPD falsch 37.7 10.5 21.2 7.9 2.4 3.7 9.1 wn/kA 23.9 69.3 15.4 10.5 39.0 6.7 9.1 richtig 38.5 20.2 63.4 81.6 58.6 89.6 81.8 FDP falsch 28.7 10.9 24.6 11.0 9.8 12.8 32.3 wn/kA 40.3 74.8 33.0 33.7 62.3 34.7 23.6 richtig 30.9 14.2 42.4 55.3 27.9 52.5 44.1 CDU falsch 47.4 14.8 34.8 7.3 7.0 5.6 3.6 wn/kA 25.3 67.8 16.5 10.5 38.2 9.0 7.1 richtig 27.3 17.4 48.7 82.2 54.8 85.4 89.3 Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

2.6 68.3 29.1

5.6 34.7 59.7

4.6 56.7 38.7

3.1 84.8 12.1

11.8 58.6 29.5

2.3 54.0 43.7

9.1 13.0 78.0

3.9 11.9 84.2

1.0 51.0 48.0

3.8 6.3 89.9

5.7 52.1 42.2

11.9 2.0 86.2

9.1 17.6 73.3

5.1 55.5 39.5

14.8 11.6 73.7

23.7 56.2 20.2

36.7 16.7 46.6

17.3 33.8 48.8

5.0 71.7 23.3

7.3 27.8 64.9

0.8 44.7 54.5

2.0 2.5 95.5

8.0 17.0 75.0

4.0 55.3 40.7

4.9 8.7 86.4

Angesichts dieser recht geringen Übereinstimmung von Profilen der Parteien mit der Wählerschaft bzw. ihren Anhängerschaften stellt sich umso schärfer die Frage, ob letztere sich dieser fehlenden Übereinstimmung überhaupt bewusst sind, ob sie also die Parteipositionen zutreffend oder fehlerhaft wahrnehmen. Betrachtet man zunächst die Wahrnehmung der Positionen der Parteien in Abhängigkeit von denen der Befragten auf der Ebene der einzelnen Issues (Tab.13), so zeigt sich – wie schon bei der Bundestagswahl 2002 zu teilweise anderen Issues (vgl. Westle 2005) – dass diejenigen Bürger/innen, die selbst keine Stellung zu einem Streitpunkt beziehen, auch erheblich häufiger als diejenigen mit einer eigenen Meinung nicht über die Positionen der Parteien Bescheid wissen. Darüber hinaus lässt sich eine Tendenz erkennen, dass in den meisten Fällen die Befürworter der Issues die Parteipositionen etwas häufiger als die Gegner richtig zuordnen. Insbesondere die Gegnerschaft zur Bürgerversicherung geht in Bezug auf alle Parteien mit stark fehlerhaften Wahrnehmungen ihrer Positionen in dieser Frage einher. Differenziert man nach Befragtenprofilen (Tab.14, oberer Block), so wird darüber hinaus deutlich, dass Befragte mit dem linken Issueprofil auch die Positionen der drei Parteien dieses Profils am häufigsten richtig wahrnehmen, gefolgt von denjenigen mit dem konträren, also dem Unionsprofil. Umgekehrt wird das Profil der Union aber nicht von den Befragten mit demselben Profil am häufigsten zutreffend wahrgenommen, sondern ebenfalls von denen mit dem linken Issueprofil. Diejenigen mit dem Unionsprofil nehmen dagegen häufiger als die mit FDP-Profil die Positionen der FDP richtig wahr. Diejenigen mit einem FDP-Profil schneiden dagegen deutlich schlechter ab, allerdings ähnlich wie solche Befrag-

Politisches Wissen als Grundlage der Entscheidung bei der Bundestagswahl 2005

387

te, die von allen Parteien abweichende vollständige Issueprofile aufweisen. Am schlechtesten sind die Kenntnisse der Issuepositionen jeder der Parteien bei Befragten, die selbst in einer oder mehr der Issues keine Position haben. Aufschlussreich ist auch die Analyse dieser Kenntnisse in Abhängigkeit der Parteiidentifikation (Tab.14, unterer Block). Bei einem möglichen Nettowissen von vier richtigen (und keiner falschen) Einordnung erreicht keine der Parteianhängerschaften im Durchschnitt auch nur einen Wert von drei richtigen (und einer fehlenden) Einordnung, sondern alle werden von Fehlwahrnehmungen begleitet. Das relativ beste Wissen mit einem Mittelwert von 2.82 über ihre eigene Partei weisen die Anhänger von Bündnis90/Die Grünen auf, gefolgt von denen der SPD mit 2.40 und der CDU mit 2.34, während die FDP mit 1.79 und besonders die der Linken/PDS mit 1.65 einen deutlich geringeren Kenntnisstand zu den Issuepositionen ihrer jeweiligen Partei zeigen. Im Fall der Anhängerschaften der drei kleineren Parteien sind diese auch besser als alle anderen über die Positionen ihrer Partei informiert, nicht aber im Fall der großen Volksparteien: Über die Positionen der SPD wissen die Anhänger der FDP, der Grünen und der PDS besser Bescheid, und im Fall der Union sind alle anderen Parteianhänger besser oder mindestens genauso gut informiert wie deren jeweils eigene Anhänger. Infolge der für gewöhnlich engen Verknüpfung von Parteiidentifikation und Wahlentscheidung ist anzunehmen, dass nicht nur ein Großteil der Wähler insgesamt, sondern auch der Parteiidentifikateure ihre Wahlentscheidung auf einer deutlich unzulänglichen Kenntnislage über die Positionen der Parteien getroffen hat (vgl. dazu u.). Tabelle 14: Nettowissen zu vier Issue-Positionen der Parteien in Abhängigkeit vom IssueProfil und von der Parteiidentifikation 2005

Mittelwerte gesamt Befragten-Profil Prozent 6.8 9.0 3.4 44.0 36.8

PDS

B90/ Grüne

.60

2.09

SPD -4 bis 4 2.22

wie PDS, B90/ Grüne und SPD 1.31 3.08 3.21 wie FDP .19 2.19 2.07 wie Union 1.08 2.81 2.94 Sonstiges, ohne fehl. Angaben .62 2.13 2.26 mindestens 1 fehl. Angabe .49 1.76 1.96 Parteiidentifikation Linke/PDS 4.9 1.65 2.50 2.51 Bündnis90/Grüne 4.7 1.07 2.82 2.55 SPD 33.8 .59 2.21 2.40 FDP 3.6 .80 2.46 2.61 Union 27.8 .52 2.26 2.35 keine 25.1 .43 1.61 1.79 Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

FDP

CDU

.99

2.24

alle Parteien -20 bis 20 8.13

1.40 1.36 1.62 .98 .77

3.20 2.08 3.14 2.27 1.98

12.20 7.88 11.60 8.26 6.96

1.20 1.23 1.02 1.79 1.14 .69

2.56 2.88 2.34 2.52 2.34 1.87

10.41 10.55 8.55 10.19 8.61 6.39

388 6.

Bettina Westle Ideologische Selbsteinstufung und Parteiidentifikation der Wählerschaft und Kenntnis der ideologischen Positionen der Parteien

Zur ideologischen Einstufung wiederholt der Befund der Bundestagswahl 2002, dass Befragte, die sich selbst nicht auf der Links-Rechts-Skala einstufen auch bei der Einstufung jeder der Parteien extrem überproportional weiß nicht antworten – diese Bürger haben Tabelle 15: Ideologische Einordnung der Parteien in Abhängigkeit von der ideologischen Position der Befragten 2005 Spaltenprozente

Variante 1 Position der Befragten wn/kA links mitte rechts

wn/kA

Variante 2 Position der Befragten 1-3 4-5 6 7-8

9-11

Linke/PDS falsch wn/kA mitte richtig B90/Grüne falsch wn/kA mitte richtig SPD falsch wn/kA mitte richtig FDP falsch wn/kA mitte richtig CDU falsch wn/kA mitte richtig CSU falsch wn/kA mitte richtig NPD falsch wn/kA mitte richtig

5.0 40.9 4.3 49.8

5.9 2.3 1.7 90.1

4.4 4.9 2.3 88.4

2.1 6.6 1.3 89.9

36.8 40.9

28.5 1.6

26.3 2.8

33.0 4.9

34.8 4.3

38.9 12.0

22.3

69.8

70.9

62.1

60.9

49.1

6.0 49.0 13.8 31.2

6.1 2.2 12.8 78.8

5.9 8.3 15.7 70.1

9.3 4.2 8.3 78.2

47.0 49.0

74.8 1.4

67.1 2.8

67.8 8.3

64.8 3.0

77.6 7.1

4.0

23.8

30.1

23.9

32.3

15.4

5.7 43.9 17.6 32.8

5.4 0.6 11.5 82.5

7.0 5.9 16.8 70.3

13.7 2.4 10.3 73.6

53.0 43.9

74.1 0.6

73.5 0.6

73.0 5.9

69.3 1.3

77.4 5.2

3.1

25.3

25.9

21.1

29.4

17.5

6.8 52.0 15.5 25.7

23.6 2.3 22.7 51.3

19.8 8.4 32.5 39.3

17.0 4.8 24.3 53.9

39.3 52.0

69.0 1.8

74.1 2.7

69.6 8.4

66.8 5.1

67.8 4.3

8.7

29.2

23.2

22.0

28.1

27.9

6.2 42.9 15.8 35.1

16.8 0.8 14.2 68.3

12.4 4.9 22.6 60.1

8.9 2.3 8.7 80.0

51.8 42.9

76.5 1.0

77.8 0.6

78.0 4.9

75.3 1.7

77.8 3.7

5.3

22.5

21.7

17.2

23.0

18.5

3.8 47.4 8.4 40.4

13.9 1.8 7.4 76.9

10.4 4.7 13.8 71.1

9.2 3.2 6.0 81.7

41.0 47.4

63.5 1.9

61.0 1.7

67.1 4.7

60.4 2.7

74.4 4.4

11.6

34.6

37.3

28.2

37.0

21.2

7.0 12.6 21.0 24.4 23.3 18.6 25.2 25.7 4.3 5.7 8.2 45.3 1.8 5.9 5.7 6.7 0.4 0.4 1.5 88.3 81.3 69.3 30.3 74.9 75.5 69.1 67.6 Nettowissen Nettowissen Mittelwerte -7 bis 7 Mittelwerte -7 bis 7 alle Parteien 2.18 4.57 4.08 4.45 -2.08 -1.30 -1.14 -1.70 -1.19 Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

41.1 11.8

9.2 45.3 0.0 45.5

47.1

-2.58

Politisches Wissen als Grundlage der Entscheidung bei der Bundestagswahl 2005

389

offenbar grundsätzliche Schwierigkeiten im Verständnis bzw. der Handhabung dieses Synonyms für das ideologische Spektrum. Darüber hinaus sind jedoch nur geringe Färbungen der Einordnung der Parteien durch die eigene Position zu beobachten. So zeigt sich nur bei Variante 1 und den größeren Parteien, dass Befragte die Parteien der eigenen Richtung auf der Skala häufiger zutreffend einordnen als der Gegenrichtung. Bei der Hierarchisierung der Parteien in Variante 2 ist jedoch kein systematischer Unterschied in Abhängigkeit von der eigenen Position mehr zu erkennen (Tab. 15). Tabelle 16a: Ideologische Einordnung der Parteien – Variante 1 in Abhängigkeit von der Parteiidentifikation 2005 Spaltenprozente Linke/PDS B90/Grüne Linke/PDS falsch 3.4 1.0 wn/kA 0.0 2.4 mitte 0.7 0.7 richtig 95.9 95.9 B90/Grüne falsch 15.5 2.9 wn/kA 0.7 2.3 mitte 21.8 4.2 richtig 62.0 90.6 SPD falsch 10.6 4.3 wn/kA 0.0 0.6 mitte 25.9 15.3 richtig 63.6 79.8 FDP falsch 13.3 14.2 wn/kA 0.4 4.2 mitte 27.1 20.1 richtig 59.2 61.4 CDU falsch 6.9 2.9 wn/kA 0.0 1.8 mitte 8.6 4.3 richtig 84.5 91.0 CSU falsch 4.5 2.9 wn/kA 0.2 1.8 mitte 2.9 2.0 richtig 92.4 93.3 NPD falsch 3.2 1.7 wn/kA 1.0 2.8 mitte 0.0 1.8 richtig 95.8 93.7

SPD

Identifikation mit FDP CDU

CSU

NPD

keine

5.7 4.5 1.7 88.1

3.5 3.4 0.0 93.1

3.5 7.7 1.3 87.5

2.0 5.4 0.9 91.7

0.0 0.0 0.0 100.0

5.3 9.9 4.4 80.4

7.6 4.9 14.3 73.3

0.7 1.7 13.0 84.6

5.4 7.2 8.3 79.2

6.1 6.6 12.8 74.6

1.8 1.6 8.9 87.6

7.2 12.5 14.5 65.9

9.8 2.4 11.0 76.8

5.3 1.4 7.8 85.5

7.6 6.6 8.1 77.6

3.0 3.1 18.7 75.2

1.6 2.6 6.5 89.3

6.3 9.1 16.4 68.1

21.0 5.1 21.8 52.1

17.0 1.2 27.3 54.5

19.9 7.0 27.5 45.7

17.7 6.8 35.2 40.4

63.0 1.6 18.2 17.1

21.8 13.3 25.4 39.5

14.5 2.7 12.7 70.2

9.8 1.8 12.9 75.6

11.4 4.5 18.4 65.7

8.9 2.2 18.3 70.6

31.6 1.6 27.4 39.3

17.0 9.3 18.4 55.3

12.2 3.4 8.4 76.1

10.7 1.4 3.2 84.8

10.8 5.0 10.2 74.0

9.8 2.2 8.6 79.5

21.2 1.0 19.4 58.5

12.9 11.7 10.1 65.3

12.7 8.0 16.3 18.4 6.5 4.2 8.8 8.0 0.6 0.0 0.1 0.9 80.2 87.8 74.8 72.7 Mittelwerte Nettowissen -7 bis 7 4.33 5.11 4.30 4.39

6.2 0.0 0.0 93.8

9.7 12.5 1.3 76.6

3.60

3.71

alle 4.96 5.76 Parteien Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

390

Bettina Westle

Tabelle 16b: Ideologische Einordnung der Parteien – Variante 2 in Abhängigkeit von der Parteiidentifikation 2005 Spaltenprozente Linke/PDS B90/Grüne Linke/PDS falsch 15.8 20.0 wn/kA 0.0 2.4 richtig 84.2 77.5 B90/Grüne falsch 71.5 50.3 wn/kA 0.7 2.3 richtig 27.9 47.3 SPD falsch 78.3 49.9 wn/kA 0.0 0.6 richtig 21.7 49.5 FDP falsch 72.8 63.2 wn/kA 0.4 4.2 richtig 26.8 32.5 CDU falsch 76.8 71.7 wn/kA 0.0 1.8 richtig 23.2 26.6 CSU falsch 58.4 51.0 wn/kA 0.2 1.8 richtig 41.4 47.3 NPD falsch 16.4 17.1 wn/kA 1.0 2.8 richtig 82.7 80.1

SPD

Identifikation mit FDP CDU

CSU

NPD

keine

30.3 4.5 65.2

17.1 3.4 79.5

33.7 7.7 58.6

36.6 5.4 58.1

41.3 0.0 58.7

34.6 9.9 55.5

68.9 4.9 26.2

65.6 1.7 32.7

69.1 7.2 23.7

68.9 6.6 24.5

67.4 1.6 31.0

67.4 12.5 20.0

73.4 2.4 24.2

71.5 1.4 27.1

69.6 6.6 23.7

74.8 3.1 22.1

56.8 2.6 40.6

74.3 9.1 16.6

68.8 5.1 26.1

66.1 1.2 32.7

66.0 7.0 27.0

66.4 6.8 26.8

61.0 1.6 37.4

71.3 13.3 15.4

76.4 2.7 20.9

65.2 1.8 33.0

77.7 4.5 17.8

75.2 2.2 22.6

72.3 1.6 26.2

75.3 9.3 15.4

64.3 3.4 32.3

53.2 1.4 45.4

64.0 5.0 30.9

68.2 2.2 29.7

60.7 1.0 38.3

61.4 11.7 26.9

26.3 12.9 24.4 29.0 6.5 4.2 8.8 8.0 67.2 82.9 66.8 63.1 Mittelwerte Nettowissen -7 bis 7 -1.46 -.18 -1.56 -1.72

8.2 0.0 91.8

23.9 12.5 63.6

-.43

-1.95

alle -.82 .38 Parteien Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Die Annahme, dass Bürger/innen zumindest die Partei, mit der sie sich identifizieren, zutreffend einordnen bzw. häufiger zutreffend einordnen als die Anhänger anderer Parteien, wird durch die vorliegenden Daten nicht gestützt (Tab.16a,b). Sie trifft in Variante 1 lediglich für die Linke/PDS und Bündnis90/Die Grünen zu. Besonders ausgeprägt sind andere Muster im Fall der FDP und der CDU, die von den eigenen Anhängern nicht nur in Folge häufiger Einordnung in der Mitte, was in dieser Variante als zulässig angesehen wird, weniger richtige Einstufungen (rechts) erhalten, sondern auch häufiger links eingestuft werden als von den Anhängern der linken Parteien. Ein ähnliches Muster zeigt sich bei Variante 2, bei der der Anteil richtiger Einstufungen bei den eigenen Anhängern geringer ist als bei denen der anderen Parteien. Daneben sind erneut besonders hohe Anteile fehlender Einordnung durch Bürger/innen ohne Parteiidentifikation zu beobachten. Insgesamt spiegeln sich in diesen Parteiverortungen neben Diskrepanzen in der Selbst- und Fremdwahrnehmung deutlich die unterschiedlichen Zusammensetzungen der Anhängerschaften nach Bildung und politischem Interesse wider (so zeigen die Anhänger von B90/Die Grünen, FDP und

Politisches Wissen als Grundlage der Entscheidung bei der Bundestagswahl 2005

391

PDS im vorliegenden Sample im Durchschnitt größeres politisches Interesse und die höhere Bildung als die Anhänger von SPD, CDU und CSU mit nochmals deutlichem Abstand zu denen der NPD).

7.

Wahlverhalten auf der Grundlage von Faktenkenntnis?

Abschließend wird analysiert, inwieweit die Wahlbeteiligung in Abhängigkeit von politischem Wissen variiert, inwieweit die Entscheidung bei der Erststimme und die Entscheidung für die einzelnen Parteien (Zweitstimme) auf zutreffendem, fehlendem oder fehlerhaftem Wissen basiert. Tabelle 17: Wahlbeteiligung in Abhängigkeit von politischem Wissen 2005 Prozentanteile „gewählt“ Recodes

3 Wahlprinzipien: Zählindizes weiß richtig minicht nus falsch 0 1 bis -3 bis 1 bis 3 0 3 88.6

falsch

82.2 82.2 88.7 Zweitstimme weiß nicht

richtig

Recodes 85.5

falsch

52.9 92.4 Bundesrat

4 Issuepositionen von 5 Parteien: Zählindizes weiß nicht 0

richtig minus falsch

1 bis 4 bis 6 7 bis 14 bis -8 bis 0 1 bis 6 bis 3 13 20 5 10

11 16 bis bis 15 20 91.0 93.1 91.3 86.7 68.2 79.2 81.5 90.9 89.6 95.6 Links-Rechts-Einordnung von 7 Parteien Zählindizes weiß nicht Variante 1 richtig minus falsch 0 1 bis 2 3 bis 7 -7 bis 0 1 bis 3 4 bis 5 6 bis 7 88.8 87.9 74.7 84.5 86.2 87.5 89.8 Variante 2 richtig minus falsch -7 bis -4 -3 bis 0 1 bis 3 4 bis 7

weiß richtig nicht 83.7 73.9 91.5 Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

88.8

85.2

89.5

93.5

Zur Wahlbeteiligung (Tab.17) zeigt sich durchgehend bei den verschiedenen Wissensindikatoren eine abnehmende Frequenz bei zunehmend berichtetem Nichtwissen. Personen, die sich kein Urteil zu politischen Fakten zutrauen, gehen also seltener wählen als Personen, die sich solche Urteile zutrauen. Die Unterschiede hierbei sind durchaus beträchtlich und erreichen bei den Issuepositionen fast 25 Prozentpunktdifferenzen. Zweitens ist die Wahlbeteiligung bei richtigen Faktenkenntnissen bzw. zunehmendem Nettowissen höher als bei geringerem. Diese Zusammenhänge sind zwar nicht in jedem Fall völlig kontinuierlich, jedoch in der Tendenz ebenfalls deutlich. Für eine optimale Wahlentscheidung sollte das Wissen alle zur Wahl stehenden Alternativen umfassen, minimalerweise sollte es die gewählte Alternative betreffen. Im Folgenden wird daher die gewählte Alternativ jeweils allen anderen Alternativen in zusammengefasster Form gegenübergestellt.

392

Bettina Westle

Tabelle 18: Kenntnis des Wahlkreiskandidaten in Abhängigkeit von der Erststimme 2005 Spaltenprozente

Linke/PDS

mit Erst- und Zweitstimme gewählt

nur mit Erststimme gewählt

falsch 9.1 richtig 36.0 Bündnis90/Grüne falsch 7.5 richtig 14.9 SPD falsch 6.9 richtig 35.6 FDP falsch 7.4 richtig 22.2 CDU/CSU falsch 7.2 richtig 38.8 * Pro Partei fehlende Anteile zu 100 Prozent = weiß nicht/kA. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

0.0 21.4 5.3 21.1 14.0 35.4 6.1 15.2 5.7 39.5

weder diesen Kandidat noch die Partei gewählt 1.8 3.8 2.4 3.9 5.2 23.6 3.1 5.5 4.9 22.1

Oben wurde bereits berichtet wie schwach die Kenntnis der Wahlkreiskandidaten verbreitet ist – die bei weitem meisten Befragten geben an, diese nicht zu kennen. Allerdings ist zu vermuten, dass die Kenntnis desjenigen Kandidaten, für den man mit der Erststimme votiert hat, etwas größer ausfallen sollte als die Kenntnis der jeweiligen Gegenkandidaten, evtl. besonders ausgeprägt bei einer Entscheidung für einen Kandidaten, dessen Partei nicht mit der Zweitstimme gewählt wurde, da einer solchen Entscheidung ein explizit kandidatenorientiertes Motiv zugrunde liegen könnte. Während die erste Vermutung sich bestätigt, wird die zweite nicht gestützt (Tab.18). So glauben in der Tat durchgehend Bürger/innen, die den Kandidaten einer bestimmten Partei gewählt haben, häufiger als alle anderen, sich an dessen Namen und Parteizugehörigkeit zu erinnern – diese Erinnerung trügt sie zwar auch etwas öfter, ist aber doch erheblich häufiger zutreffend. Dabei ist das Wissen um die Wahlkreiskandidaten der beiden großen Parteien am weitesten verbreitet. Anders als vermutet, besteht dabei aber kein systematischer Unterschied zwischen Befragten ohne und solchen mit Splitting-Entscheidung. Dies lässt darauf schließen, dass die Splitting-Entscheidungen kaum an Kandidaten, sondern an Parteien und Koalitionskalkülen orientiert erfolgen. Auch das Wissen über die Positionen der Parteien in den vier erfassten Streitfragen ist bei den Wählern der jeweiligen Parteien jeweils besser als bei denen, die sie nicht gewählt haben – wenn auch mit Mittelwerten von 1.32 bis 2.50 von dem Vollständigkeit anzeigenden Mittelwert 4.00 noch deutlich entfernt (Tab.19). Dabei zeigen die Wähler von Bündnis90/Die Grünen sowohl die besten Kenntnisse der Positionen der von ihnen präferierten Partei als auch des gesamten Parteienspektrums. Ihnen folgen die SPD-Wähler in Bezug auf die SPD, sie bilden aber gleichzeitig das Schlusslicht bei den Kenntnissen der Alternativen. An dritter Stelle stehen die Wähler der FDP und an vierter Stelle die der Union sowohl in Bezug auf das Wissen um die von ihnen gewählte Partei als auch um die Alternativen. Die Wähler der Linken/PDS wissen am wenigsten über die Positionen der von ihnen gewählten Partei, aber stehen auf Platz 2 in Bezug auf die Positionen des Parteienspektrums insgesamt.

Politisches Wissen als Grundlage der Entscheidung bei der Bundestagswahl 2005

393

Tabelle 19: Kenntnis der Issuepositionen der Parteien in Abhängigkeit von der Zweitstimme 2005 Mittelwerte 4 Linke/PDS B90/Grüne SPD Issuepositionen nein ja nein ja nein ja der einzelnen .54 1.32 2.06 2.50 2.16 2.37 Partei: -4 bis +4 aller Parteien: -20 9.66 9.68 8.50 bis +20 Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

FPD nein .95

ja 1.39

CDU/CSU nein ja 2.21 2.34

8.81

8.61

Weniger stark ausgeprägt sind die Unterschiede in der Wissensbasis der Wählerschaften bei der ideologischen Einstufung der Parteien. Nur die Wähler/innen von Bündnis90/Die Grünen, Linke/PDS und NPD stufen ihre jeweilige Partei häufiger richtig und seltener falsch ein als die anderen, während bei den Wählerschaften der Union, der SPD und der FDP keine signifikanten Unterschiede zu jeweils allen anderen bestehen. Erneut zeigen sich die Wähler/innen der Grünen als am besten über das gesamte Parteienspekturm informiert, mit einigem Abstand gefolgt von denen der PDS und der FDP, während die der Union und der SPD schlechtere Kenntnisse des Ideologiespektrums artikulieren (die wenigen Wähler der NPD schneiden bei Version 2 besser, bei Version 1 dagegen am schlechtesten ab, Tab.20). Tabelle 20: Kenntnis der Parteipositionen im Links-Rechts-Spektrum in Abhängigkeit von der Zweitstimme 2005 SpaltenLinke/PDS B90/Grüne SPD FDP CDU prozente nein ja nein ja nein ja nein ja nein ja Var.1* falsch 4.8 1.9 7.1 2.3 7.0 9.4 19.7 23.3 14.0 10.7 richtig 86.2 96.3 72.3 86.2 73.0 76.3 47.4 43.6 66.7 66.3 Mittelwerte alle Partei4.49 5.19 4.23 4.44 4.40 en:-7 bis 7 Var.2** falsch 32.1 20.9 69.0 49.6 70.0 75.4 67.8 72.0 75.5 75.2 richtig 60.9 79.1 23.4 46.5 23.5 21.8 24.1 23.8 19.4 20.1 Mittelwerte alle Partei-1.27 .21 -1.62 -1.22 -1.44 en:-7 bis 7 * Fehlender Anteil zu 100 Prozent pro Spalte=weiß nicht/kA und mitte; **fehlender Spalte = weiß nicht/kA. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

CSU nein ja 11.7 73.0

10.0 77.2

NPD nein ja 11.8 79.1

4.40

62.5 31.2

62.3 32.8 -1.44

4.9 90.5 3.92

24.3 67.3

9.4 87.1 -1.27

Anteil zu 100 Prozent pro

Im Hinblick auf die Kenntnis der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat zeigen sich alle Wählerschaften mit richtigen Antworten von knapp 75 Prozent (NPD) bis gut 81 Prozent (B90/Grüne) relativ gut informiert (Tab.21)

394

Bettina Westle

Tabelle 21: Kenntnis der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat in Abhängigkeit von der Zweitstimme 2005 SpaltenLinke/PDS B90/Grüne SPD FDP prozente falsch 13.1 8.2 11.6 8.4 richtig 77.6 81.2 75.6 76.8 * Fehlender Anteil zu 100 Prozent pro Spalte=weiß nicht/kA. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

CDU/CSU 8.5 79.3

NPD 14.8 74.6

Zum Zweistimmensystem geben dagegen die Wähler der SPD am häufigsten die richtige Antwort, während die bei den anderen Fragen stets besser informierten Wähler von Bündnis90/Die Grünen, tendenziell auch die der FDP, schlechter abschneiden. Möglicherweise hängt dieser Unterschied mit Überlegungen der Wählerschaft von kleineren Koalitionspartnern zu Leihstimmen zusammen. Jedoch sind Wähler, die ihre Stimmen splitten, insbesondere im linken Lager, über die Bedeutung der Zweitstimme etwas besser informiert als Wähler, die kein Stimmensplitting vornehmen (Tab.22). Tabelle 22: Kenntnis des Zweistimmensystems in Abhängigkeit von der Zweitstimme und vom Splittingverhalten 2005 Spaltenprozente falsch richtig

Linke/PDS

B90/Grüne

SPD

FDP

CDU/CSU

NPD

33.8 63.4 kein Split

42.8 54.7 Split

32.2 66.3

45.6 52.6

40.0 56.3

37.2 62.8

Lagerübergreifend 39.7 60.1

andere Kombinationen 13.3 80.4

im linken im rechten Langer Lager falsch 37.9 35.4 29.3 42.2 richtig 59.5 63.6 69.0 57.8 * Fehlender Anteil zu 100 Prozent pro Spalte=weiß nicht/kA. Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

Split

Wissen die Deutschen Wählerinnen und Wähler nun viel oder wenig über wahlrelevante Fakten? Diese Frage lässt sich nicht einfach beantworten, denn es gibt keine absoluten Maßstäbe dafür, was und wie viel man über Politik wissen sollte, um politisch kompetent handeln zu können. Um dennoch einen Anhaltspunkt zur Beantwortung der Frage zu finden, werden hier im letzten Schritt alle verfügbaren Wissensindikatoren (mit Ausnahme der Fragen nach den Namen der Wahlkreiskandidaten) zusammengefasst (Tab.23).7 Auf dieser Grundlage wird deutlich, dass immerhin etwa 8 Prozent der Bürger/innen ihre Wahlentscheidung auf der Grundlage von mehr falschen als zutreffenden Informatio7

Da hierfür die Unterschiede in den Varianten der Links-Rechts-Einstufung nicht von Bedeutung sind, wird aus diesen zunächst eine neue Variante gebildet. Dafür wird bei Variante 1 die Einordnung der Linken/PDS und von Bündnis90/Die Grünen und die der CSU und der NPD in der Mitte zu den falschen Antworten recodiert, die der SPD, der FDP und der CDU in der Mitte zu den richtigen Antworten zugeordnet. Anschließend wird Variante 1 mit Variante 2 so kombiniert, dass Werte, die bei beiden Varianten übereinstimmen, die bisherigen Werte (-1 für falsch und 1 für richtig) behalten, während Antworten, die zwischen den beiden Varianten nicht übereinstimmen, zusammen mit den weiß nicht Angaben den Wert 0 erhalten. Anschließend wird aus allen 31 einzelnen Indikatoren, die jeweils von -1 über 0 bis +1 reichen, ein Summenindex gebildet, der folglich von -13 über 0 bis 31 reichen kann. Schließlich wird dieser Summenindex so recodiert, dass sämtliche Antworten im negativen Bereich zusammengefasst sind und die im positiven Bereich gleichmäßig auf vier Kategorien aufgeteilt sind.

Politisches Wissen als Grundlage der Entscheidung bei der Bundestagswahl 2005

395

nen über die Politik getroffen haben. Allerdings konzentriert sich dies mit 14 Prozent besonders auf die Kategorie der Sonstigen, in der sich primär Nichtwähler befinden. Über sehr geringes Wissen verfügen rund 22 Prozent, besonders stark ausgeprägt unter den wenigen Wählern von Kleinstparteien sowie der NPD. Ca. 35 Prozent der Bevölkerung weisen ein Wissensniveau auf, das unter der Hälfte des mit dem vorliegenden Instrumentarium Mess- bzw. Erreichbaren liegt. Die Mehrheit der Fragen können dagegen 27 Prozent zutreffend beantworten und knapp 9 Prozent erreichen das obere Fünftel der Wissensskala. In den beiden oberen Kategorien und insgesamt am besten schneiden die Wähler/innen von Bündnis90/Die Grünen ab, gefolgt von denen der Linken/PDS. Im mittleren Bereich liegen die Wähler/innen der FDP, gefolgt von der Union und der SPD, im unteren die der NPD und sonstiger Parteien; Schlusslicht bilden diejenigen, die nicht oder ungültig wählen.8 Tabelle 23: Verteilungen politischen Wissens in der Bevölkerung insgesamt und in Abhängigkeit von Wahlentscheidung 2005 gesamt

Linke/ PDS

B90/ Grüne

SPD

FDP

„negatives“ Wissen: -31 bis -1 7.5 7.2 3.2 5.9 6.2 Wissen: 0 bis 7 22.2 18.1 14.7 20.1 16.9 Wissen: 8 bis 15 34.8 29.0 27.2 37.4 34.3 Wissen: 16 bis 23 26.8 30.5 39.7 27.0 33.8 Wissen: 17 bis 31 8.7 15.2 15.1 9.7 8.8 Mittelwert unrec. -31 bis 31 12.20 14.19 15.34 12.68 13.30 n 2540 170 178 778 194 Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“, eigene Berechnungen.

8.

CDU/ CSU

NPD

andere Sonstige Parteien

6.3 17.9 39.6 27.4 8.8

6.9 30.3 28.6 26.2 8.0

0.0 53.0 21.9 19.3 5.8

14.1 33.8 31.0 18.1 3.0

12.90 632

10.73 26

9.70 36

8.81 527

Resümee

Die vorgelegten Analysen stützen und erweitern frühere Befunde. Wie zuvor variiert die Wahlbeteiligung deutlich mit dem politischen Kenntnisstand der Bürger/innen. Vom normativen Standpunkt aus kann man das mit einem lachenden und einem weinenden Auge sehen: Der Befund, dass die Wahlbeteiligung mit steigendem Anteil an zutreffenden Kenntnissen wächst, also stärker auf Wissen als auf Fehlwissen beruht, ist erfreulich. Die Förderung des subjektiven und des objektiven politischen Wissens in der Bevölkerung könnte jedoch dem Rückgang der Wahlbeteiligung deutlich entgegenwirken. Die hier untersuchten Bereiche wahlbezogenen Wissens weisen sehr unterschiedliche Niveaus auf. Massive Wissensdefizite sind allerdings nur in Bezug auf die Wahlkreiskandidaten festzustellen. Dies ist wohl primär als Hinweis darauf zu werten, dass die Bürger/innen diese Bewerber im Vergleich zu den Parteien und den Kanzlerkandidaten als unwichtig ansehen. Jedenfalls widerspricht dieser Befund deutlich den politischen Intentionen, die mit dem System der personalisierten Verhältniswahl, Direktwahl dieser Kandida8

Der entsprechende Index unter Einschluss der Fragen zu den Wahlkreiskandidaten reicht von -36 bis 36 und weist für alle 2222 Befragten einen Mittelwert von 13.10 auf; in recodierter Form entfallen auf die Kategorie mit „negativem Wissen“ 4,5 Prozent, auf die zweite Kategorie 24,6 Prozent, auf die dritte Kategorie 41,1 Prozent, auf die vierte Kategorie 25,0 Prozent und auf die Spitzenkategorie 4,8 Prozent. Es bestehen keine gravierenden Unterschiede zu dem oben berichteten Index in Abhängigkeit der Wahlentscheidung (Zweitstimme).

396

Bettina Westle

ten durch die Erststimme, verknüpft sind. Eine verstärkte Nähe zur Bevölkerung wird hiermit offensichtlich nicht bzw. nur äußerst unzureichend hergestellt. Im Zeitalter elektronischer Medien ist den Wähler/innen das Spitzenpersonal der Parteien vermutlich deutlich bekannter und „näher“. Die Analyse der Kenntnis von Issuepositionen der Parteien verweist auf wichtige Lernfaktoren: die Wahrnehmung von Betroffenheit (Mehrwertsteuer), die Chance, Wissen über längere Zeit zu erwerben und die Komplexität bzw. Überschaubarkeit der Folgen von zur Entscheidung anstehenden Sachverhalten (Gegensatz zwischen Atomkraft und Bürgerversicherung). Hierzu sind die Parteien selbst und die Medien in ihrer Rolle als Vermittler gefragt. Kurzfristig im Wahlkampf thematisierte Issues erschweren den Wählern eine rationale Entscheidung ebenso wie solche, deren Konsequenzen schwer durchschaubar sind bzw. nicht hinreichend transparent vermittelt werden. Politische Schlagworte wie die Links-Rechts-Bezeichnung erscheinen in ihrer Rolle ambivalent. Einerseits können Sie Wählern Heuristiken bieten, die die Notwendigkeit spezifischerer Informationssuche reduziert. Andererseits scheinen Sie aber für große Teile der Wählerschaft eher Leerformeln darzustellen oder gar Verwirrung zu stiften. Empörte Aufschreie über die Ignoranz des Wahlvolkes haben in der Politik und in der Wissenschaft immer mal wieder Konjunktur – sind jedoch wenig angemessen und nicht hilfreich. Zum einen liegt solcher Empörung ein vermutlich überhöhter Maßstab zugrunde, der Politik als den Mittelpunkt der Welt definiert sowie das eigene professionell bedingte Wissen und/oder eine Idealvorstellung zur Norm stilisiert. Sicher ist Politik wichtig, betrifft alle und zudem dürfen und sollen in der Demokratie alle mitentscheiden. Und sicher wäre es deshalb wünschenswert, dass auch alle kompetent damit umgehen können – doch ist dies kaum realistisch. Zum anderen gibt es nicht „das dumme Volk“, vielmehr ist die Bevölkerung hochgradig differenziert in ihrem Interesse an und in ihrem Wissen über Politik, ferner auch durchaus in ihrer objektiven und subjektiven Betroffenheit von unterschiedlichen Politiken und in ihrem Willen zur politischen Einflussnahme. Verglichen mit einem anderen Bereichen politischen Wissens – nämlich über die Europäische Union (vgl. Westle/Johann 2009) – ist das für die Entscheidung bei Bundestagswahlen relevante Wissen jedenfalls erheblich deutlich besser – was als weiterer Hinweis darauf zu werten ist, dass die wahrgenommene Betroffenheit, die Nähe und Transparenz des Entscheidungsgegenstands und der Eindruck, mit dem eigenen Verhalten Einfluss nehmen zu können, wesentlich dazu beitragen, dass Bürger/innen die Anstrengung des Wissenserwerbs auf sich nehmen.

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Politisches Wissen als Grundlage der Entscheidung bei der Bundestagswahl 2005

397

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Bettina Westle

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Charakteristika und Motive der Stimmensplitter bei der Bundestagswahl 2005 David Johann

1.

Einführung

Das Wahlsystem gibt den Rahmen vor, innerhalb dessen sich Wahlverhalten vollzieht. Es ist ein Faktor der Wahlentscheidung. Drei Elemente des bundesdeutschen Wahlrechts sind hervorzuheben: Die Aufteilung in eine Erst- und eine Zweitstimme, die Fünf-ProzentSperrklausel und die Grundmandatsregel. Mit der Aufteilung in eine Erst- und eine Zweitstimme seit dem Jahr 1953 sollte ein Element der Persönlichkeitswahl in das deutsche Verhältniswahlsystem eingeführt werden. Während die Erststimme der Entscheidung der Wähler für einen Wahlkreiskandidaten entspricht, wobei jeweils der Wahlkreiskandidat gewählt ist, der in seinem Wahlkreis die meisten Erststimmen erhält (= relative Mehrheit), bestimmt der Anteil der Zweitstimmen die Stärke der Parteien im Parlament (wenn von etwaigen Überhangmandaten abgesehen wird).1 Die Fünf-Prozent-Sperrklausel besagt, dass nur Parteien in das Parlament einziehen dürfen, die mindestens fünf Prozent der abgegebenen gültigen Zweitstimmen erhalten. Einzige Ausnahme ist der direkte Gewinn von mindestens drei Wahlkreisen (= Grundmandatsregel). Tabelle 1: Stimmensplitting bei den Bundestagswahlen 1957 bis 2005 Bundestagswahl 1957 1961 1965 Splittinganteil (in 6.4 4.3 6.5 Prozent) Bundestagswahl 1983 1987 1990 Splittinganteil (in 10.9 13.7 15.6 Prozent) Quellen: 1957-1998: Hilmer/Schleyer (2000); 2002 und 2005: ungültige Zweitstimmen sind ausgeschlossen.

1969

1972

1976

1980

7.8

8.8

6.0

10.1

1994

1998

2002

2005

16.5

20.0

20.5

23.9

Bundeswahlleiter; ungültige Erststimmen sowie

Die meisten Wähler geben dem Wahlkreiskandidaten der Partei ihre Stimme, für die sie mit der Zweitstimme votieren bzw. umgekehrt der Partei ihre Zweitstimme, für deren Wahlkreiskandidaten sie mit der Erststimme votieren. In den letzten Jahren ist jedoch die Zahl derjenigen, die ihre Stimme splitten – also mit ihrer Zweitstimme nicht die Partei des Wahlkreiskandidaten wählen oder umgekehrt – deutlich gestiegen. Tabelle 1 zeigt, dass seit 1976 der Anteil der Stimmensplitter ständig zugenommen hat. Insbesondere seit der Wiedervereinigung 1990 stieg ihr Anteil mit jeder Bundestagswahl weiter deutlich an. Bei der Bundestagswahl 2005 machte fast jeder vierte Wähler von der Möglichkeit der getrennten Stimmabgabe Gebrauch, womit ein neuer Rekord aufgestellt wurde – Grund genug, dem 1

Die Aufteilung in eine Erst- und eine Zweitstimme wurde zwar im Jahr 1953 eingeführt, die Festlegung der Zweitstimme als entscheidend für die Stärke der Parteien im Parlament trat allerdings erst 1957 in Kraft.

400

David Johann

Phänomen des Stimmensplittings in diesem Band ein eigenes Kapitel zu widmen und an einige frühere Untersuchungen zum Thema anzuknüpfen.

2.

Kombinationen der Erst- und Zweitstimme

Von 299 Wahlkreisen entfielen bei der Bundestagswahl 2005 145 auf die SPD, 106 auf die CDU und 44 auf die CSU. Siege von Wahlkreiskandidaten der kleinen Parteien waren selten: Während Kandidaten der Linken immerhin drei Wahlkreise gewinnen konnten, entfiel auf Bündnis 90/Die Grünen nur ein Wahlkreis und die FDP ging leer aus. Betrachtet man die Differenzen zwischen Erst- und Zweitstimmen bei den einzelnen Parteien, so ist zu erkennen, dass sich für beide Volksparteien deutliche Erststimmenüberhänge von 5.6 bzw. 4.2 Prozentpunkten ergeben. Dagegen zeigt sich sowohl bei Bündnis 90/Die Grünen als auch bei der FDP ein deutliches Erststimmenminus von 5.1 bzw. 2.7 Prozentpunkten (Tab.2). Auch in den einzelnen Wahlkreisen lässt sich für die beiden Volksparteien in aller Regel ein Erststimmenplus beobachten, während die Kandidaten der FDP und der Grünen zumeist ein Erststimmenminus verzeichnen (nicht tab. ausgewiesen). Tabelle 2: Differenz Erst- zu Zweitstimmen bei der Bundestagswahlen 2005 Prozent

Union

SPD

FDP

West +6.1 +4.8 -5.6 Ost +3.5 +1.4 -2.9 Gesamt +5.6 +4.2 -5.1 Quelle: Statistisches Bundesamt (2005a).

B90/ Grüne

Linke. PDS

Sonstige

Union+ SPD

-3.1 -1.2 -2.7

-0.9 -0.1 -0.7

-1.4 -0.7 -1.2

+10.9 +4.9 +9.8

FDP+ Grüne+ Sonstige -10.1 -4.8 -9.0

Die Berechnung des Quotienten aus Erst- und Zweitstimme führt zu einem ähnlichen Ergebnis. Es zeigt sich, dass die Werte auf Bundesebene bei den großen Parteien mit 1.16 (CDU/CSU) und 1.12 (SPD) über 1 und bei den Bündnisgrünen und der FDP mit Werten von 0.67 respektive 0.48 unter 1 liegen. In Westdeutschland sind die Quotienten bei CDU/CSU und SPD größer und die der FDP und Bündnis 90/Die Grünen kleiner als in Ostdeutschland. Die Linkspartei.PDS nimmt eine Sonderstellung ein: Während in Westdeutschland ebenfalls ein negativer Quotient zu beobachten ist, findet sich in Ostdeutschland mit einem Wert von 1 ein ausgeglichenes Verhältnis. Auch in den einzelnen Wahlkreisen liegt der Quotient für die großen Parteien bis auf wenige Ausnahmen deutlich über 1 und bei den kleinen Parteien mit Ausnahme der Linkspartei.PDS in Ostdeutschland deutlich unter 1 (Tab.3). Besonders hoch fallen die Überschusse an Erststimmen gegenüber den Zweitstimmen vielfach in Wahlkreisen aus, in denen prominente Wahlkreiskandidaten antreten. Dies gilt sowohl für die Volksparteien als auch für die kleinen Parteien.2

2

So ergibt sich bspw. für den SPD-Kandidaten Olaf Scholz im Wahlkreis Hamburg-Altona ein Verhältnis Erst- zu Zweitstimmen von 1.30 und für seinen Parteifreund Gernot Erler im Wahlkreis Freiburg ein Verhältnis Erst- zu Zweitstimmen von 1.45. Bei den CDU-Kandidaten erzielte im Vergleich zum bundesdeutschen Durchschnitt seiner Partei Wolfgang Bosbach im Wahlkreis Rheinisch-Bergischer Kreis mit einem Verhältnis Erst- zu Zweitstimmen von 1.33 ein ähnlich herausragendes Ergebnis wie Andreas Gottfried Lämmel mit einem Wert von 1.52 im Wahlkreis Dresden I. Die Liste könnte noch um einige weitere SPD- bzw. CDU/CSU-Gewinner ihres Wahl-

Charakteristika und Motive der Stimmensplitter bei der Bundestagswahl 2005

401

Tabelle 3: Verhältnis Erst- zu Zweitstimmen in den Bundestagswahlkreisen 2005 (ohne Berlin) CDU/CSU West Ost 1 1 18 39 8 102 14 59 14 13 13 3 1 1 234 53

Quotient West >= 1,35 4 1,30 bis 1,34 5 1,25 bis 1,29 10 1,20 bis 1,24 30 1,15 bis 1,19 45 1,10 bis 1,14 78 1,05 bis 1,09 33 1,00 bis 1,04 18 0,95 bis 0,99 7 0,90 bis 0,94 3 0,85 bis 0,89 0,80 bis 0,84 1 0,75 bis 0,79 0,70 bis 0,74 0,65 bis 0,69 0,60 bis 0,64 0,55 bis 0,59 0,50 bis 0,54 0,45 bis 0,49 0,40 bis 0,44 0,35 bis 0,39 0,30 bis 0,34 <= 0,29 Summe 234 Durchschnitt Deutschland 1.16 1.14 1.14 Quelle: Statistisches Bundesamt (2005a).

SPD Ost 1 4 6 17 15 8 2 53 1.05

Anzahl der Wahlkreise B90/Grüne FDP West Ost West 2 1 1 1 3 3 2 1 4 4 7 2 5 1 7 6 11 4 3 26 7 2 23 9 2 34 9 6 27 7 25 32 2 19 25 1 38 15 62 4 56 17 3 233 52 234 0.65

0.77

0.45

Ost 1 1 3 5 5 7 18 5 5 1 1 1 53

Linke.PDS West Ost 1 1 1 2 3 3 14 10 23 21 8 54 3 66 44 17 6 1 225 53

0.64

0.82

1.00

Tabelle 4 zeigt, dass die Wähler der Volksparteien ihre beiden Stimmen zu großen Teilen übereinstimmend abgaben. Wurde gesplittet, wurden Splittingkombinationen aus einer großen und einer kleinen Partei bevorzugt. Dabei ist auffällig, dass sich in beide Richtungen (Erststimme=1000 und Zweitstimme=1000) eine Tendenz zum vor der Wahl durch die Parteien angestrebten Koalitionspartner erkennen lässt. Von 1000 Unions-Erststimmenwählern wählten 156 bzw. 105 mit der Zweitstimme die FDP, von 1000 SPD-Erststimmenwählern 120 Bündnis 90/Die Grünen. Und auch umgekehrt wählten von 1000 FDP-Zweitstimmenwählern mit der Erststimme 602 die Union sowie von 1000 Grünen-Zweitstimmenwählern mit der Erststimme 567 die SPD – das sind jeweils deutlich größere Anteile an Zweitbzw. Erststimmen als für die Parteien, für die keine Koalitionsaussage getroffen wurde.

kreises erweitert werden und zeigt, dass bekannte Politiker von ihrem Namen profitieren. Gleiches gilt auch für Wahlkreiskandidaten kleinerer Parteien.

402

David Johann

Tabelle 4: Stimmenkombinationen bei der Bundestagswahl 2005 Zweitstimme=1000 Von 1000 abgegebenen Zweit-stimmen für die... CDU... CSU... SPD... B90/Grüne... FDP... Linke.PDS... Erststimme=1000 Von 1000 abgegebenen Erst-stimmen für die Kandidaten der...

entfielen auf Erststimmen für die... CDU 907 26 38 515 35

CDU CDU... 778 CSU... SPD... 22 B90/Grüne... 43 FDP... 205 Linke.PDS... 20 Quelle: Statistisches Bundesamt (2005b).

CSU 918 7 8 87 4

SPD 31 23 867 567 71 173

B90/Grüne 9 11 53 347 14 28

FDP 36 29 10 11 290 15

Linke.PDS 6 2 25 20 11 721

FDP 156 105 18 24 581 14

Linke.PDS 9 4 40 44 27 788

entfielen auf Zweitstimmen für die...

CSU 834 4 15 44 2

SPD 28 28 777 330 73 109

B90/Grüne 10 8 120 512 18 21

Doch wer waren die Stimmensplitter bei der Bundestagswahl 2005? Und welche Motive haben sie zur getrennten Stimmabgabe bewogen? Nach einigen theoretischen Überlegungen werden im Folgenden zunächst Hypothesen formuliert. Es folgt die Darstellung der Datengrundlage und die Operationalisierung, bevor die Hypothesen bi- und multivariat überprüft werden. Schließlich werden die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst und diskutiert.

3.

Theoretische Überlegungen

Stimmensplitting ist in vielen Facetten denkbar. Grundsätzlich zu unterscheiden sind das erzwungene und das freiwillige Splitting. Erzwungenes Stimmensplitting kann dadurch auftreten, dass die Erststimme keinem Kandidaten der eigentlich präferierten Partei gegeben werden kann, weil kein Direktkandidat aufgestellt wurde, oder umgekehrt dadurch, dass die Erststimme einem Wahlkreisbewerber gegeben wird, für dessen Partei keine Landesliste existiert. Zu freiwilligem Splitting gehören Fälle, bei denen die Erststimme einem chancenreicheren Bewerber gegeben wird als dem der eigentlich präferierten Partei (Cox 1997 nennt dieses Motiv „Ordinary Strategic Voting“, was am ehesten mit „minimal strategisches Wählen“ übersetzt werden kann, vgl. Pappi/Herrmann 2006). Es kann aber auch sein, dass die Erststimme einem Wahlkreisbewerber einer anderen Partei gegeben wird, weil dieser attraktiver oder sympathischer ist oder als kompetenter wahrgenommen wird als der der eigenen Partei („Persönlichkeitsbonus“ oder „Persönlichkeitswahl“), oder dass die Erststimme einem Kandidaten gegeben wird, um dessen Partei zu der nötigen Anzahl von mindestens drei gewonnenen Wahlkreisen zu verhelfen („Direktmandatebonus“). Umgekehrt sind Fälle vorstellbar, bei denen mit der Zweitstimme nicht die eigentlich präferierte Partei, sondern die Partei mit einem populären Spitzenkandidaten, der z.B. überparteiliches

Charakteristika und Motive der Stimmensplitter bei der Bundestagswahl 2005

403

Ansehen genießt, gewählt wird („Präsidentenbonus“), oder Fälle, bei denen die Zweitstimme einer anderen Partei „geliehen“ wird, um ihr über die Sperrklausel zu helfen (so genannte „Leih- oder Stützstimme“). Die am häufigsten diskutierte Variante der Vergabe von Leihstimmen ist die Abgabe der Zweitstimme an einen möglichen oder präferierten Koalitionspartner mit dem Ziel, die gemeinsame Mehrheit zu sichern (z.B. Schoen 1998; Gschwend 2001; Pappi/Thurner 2002; Behnke et al. 2004).3 Erzwungenes Stimmensplitting ist eine zu vernachlässigende Größe, da sich nur vereinzelt Direktkandidaten ohne Landesliste zur Wahl stellen und nur selten Parteien ohne Direktkandidaten antreten. Im Allgemeinen kann davon ausgegangen werden, dass es sich beim Stimmensplitting um eine aus Sicht der Wähler freiwillige Form des Splittings handelt. Die verschiedenen Motive freiwilligen Splittings lassen sich unterschiedlichen theoretischen Ansätzen zuordnen. Persönlichkeitsbonus und Präsidentenbonus sind mit dem sozialpsychologischen Modell der Michigan-School erklärbar. Demnach stehen Wähler in einem Spannungsfeld zwischen langfristig stabiler Parteiidentifikation und kurzfristig wandelbaren Positionen zu politischen Issues und Kandidaten (Campbell et al. 1960). Die individuelle Parteiidentifikation bildet das Kernstück des individualpsychologischen Erklärungsansatzes. Sie beeinflusst die Wahrnehmung und Bewertung politischer Vorgänge und hat folglich einen bedeutenden Effekt auf die Wahlentscheidung. Daneben orientieren sich Wähler aber durchaus auch an politischen Sachfragen sowie an Merkmalen der Kandidaten wie Vertrauenswürdigkeit oder Problemlösungskompetenz. Stehen nun Parteiidentifikation und Kandidatenpräferenz und/oder Issueorientierungen im Widerspruch zueinander, bietet sich als Lösung ein Splitting von Erst- und Zweitstimme an. Der Kern von Downs ökonomischer Theorie des Wählens besteht in der Annahme, dass ein rationaler Wähler unter den verfügbaren Handlungsalternativen diejenige wählt, durch die er seinen Nutzen maximieren kann (Downs 1957). Durch Stimmensplitting in Form von Ordinary Strategic Voting, Direktmandatebonus oder Leihstimmenvergabe wird versucht die politische Einflussnahme und die Wahlchancen zu erhöhen. Daher können sie diesem Ansatz zugeordnet werden, wobei allerdings einige Einschränkungen vorzunehmen sind: In den meisten Wahlkreisen haben nur die Kandidaten der großen Parteien CDU/CSU und SPD (in Teilen Ostdeutschlands zählt auch Die Linkspartei.PDS dazu) Aussicht auf den Gewinn des Wahlkreises. Daher kann nur die Vergabe der Erststimme an den Kandidaten einer großen Partei und die Vergabe der Zweitstimme an eine der kleinen Parteien als Anhaltspunkt für rationales Kalkül im engeren Sinne angesehen werden. Es verbleiben demnach innerhalb des rationalen Splittingmusters nur minimal strategisches Wählen und die Vergabe von Leihstimmen. Bei der Vergabe von Leihstimmen ist überdies das Verhalten der Splitter nur dann als rational im Sinne des Wahlsystems anzusehen, wenn die kleine Partei im Stande scheint, die Fünf-Prozent-Sperrklausel zu überwinden und/oder mehr als drei Direktmandate zu gewinnen, die Splitter aber gleichzeitig nicht davon ausgehen, der Einzug der kleinen Partei in den Bundestag wäre ausgemachte Sache, da eine Leihstimme ansonsten überflüssig wäre.

3

Darüber hinaus sind auch Fälle von Leihstimmen denkbar, in denen Wähler unabhängig von der eigenen Parteipräferenz Wert darauf legen, dass ein bestimmtes Anliegen wie bspw. der Umweltschutz angemessen im Parlament behandelt wird (Falter 1987). Diese Form der Leihstimmenvergabe wird im Folgenden nicht weiter diskutiert.

404 4.

David Johann Hypothesen

Im US-amerikanischen Raum wird die gemischte Stimmabgabe zentral auf die Abwesenheit starker psychologischer Bindungen an eine der Parteien zurückgeführt (vgl. z.B. Beck et al. 1992; Brody et al. 1994; Frymer 1997; Bean/Wattenberg 1998).4 Ein Anstieg der Splittingraten gilt als Zeichen für Dealignment (vgl. z. B. Wattenberg 1991). Auch für Deutschland lässt sich aus der Indifferenz-These eine Hypothese zwischen Parteineigung und Splittingverhalten ableiten. Parteipolitische Loyalitäten hemmen taktisch motiviertes Wahlverhalten (vgl. Lanoue/Bowler 1992; Schoen 1999). Insofern ist auch für die Bundestagswahl 2005 zunächst zu erwarten, dass unter denen, die stark zu einer Partei neigen, vergleichsweise selten gesplittet wird und die Splittingbereitschaft mit abnehmender Parteineigung steigt. Zwischen dem Lebensalter und der Parteineigung besteht ein positiver Zusammenhang. Gründe dafür liegen in der Genese und Entwicklung von Parteibindungen im Laufe des Lebenszyklus sowie in ihrer anschließenden Verfestigung (Schoen 2000a; Kaspar/ Falter 2007). Demgemäß wird davon ausgegangen, dass jüngere Wähler aufgrund schwächerer oder weniger gefestigter Parteienbindungen und größerer Flexibilität im Wahlverhalten eher ihre Stimmen splitten als ältere. Was Wechselwirkungen betrifft, ist zu testen, ob das Alter für sich einen positiven Effekt auf die Splittingrate hat oder ob das vermutete Phänomen, sollte es empirisch bestätigt werden, auf intervenierende Effekte der ungleichen Verteilung von Parteineigung und Bildung in den Altersgruppen zurückzuführen ist. Um sinnvoll splitten zu können, müssen die Wähler die Feinheiten des deutschen Wahlsystems zumindest ansatzweise verstehen. Da Bildung das Verständnis des Wahlsystems fördert und somit erst Splitting im Sinne einer kalkulierten Entscheidung ermöglicht, ist anzunehmen, dass formal höher Gebildete gegenüber formal niedriger Gebildeten höhere Splittingraten aufweisen. Bei politisch Interessierten findet eine intensivere Auseinandersetzung mit Politik und Wahlen statt als bei politisch Desinteressierten. Es kann davon ausgegangen werden, dass politisch Interessierte das Wahlsystem eher durchschauen und überdies die Wahlkreis- und Spitzenkandidaten eher kennen und einschätzen können als ihr Pendant. Folglich wird vermutet, dass sich in der Gruppe der Stimmensplitter vor allem die politisch Interessierten finden. Ähnlich wie das generelle oder spezielle politische Interesse liefern auch Fragen nach der Häufigkeit der Rezeption von Zeitungsartikeln, Fernsehsendungen und Internetseiten mit politischem Inhalt einen Hinweis auf den politischen Informationsstand der Respondenten. Somit sollte mit der Häufigkeit der Rezeption auch die Splittingrate steigen. Und nicht zuletzt ist auch davon auszugehen, dass die Anteile der Stimmensplitter unter den politisch Informierten höher sind als unter den politisch Uninformierten. Stimmensplitting als Persönlichkeitswahl liegt vor, wenn die Erststimme nicht dem Wahlkreiskandidaten der Partei gegeben wird, mit der man sich identifiziert, sondern einem Wahlkreiskandidaten einer anderen Partei, weil dieser aus diversen leistungs- oder persönlichkeitsbezogenen Gründen als besser eingestuft wird. Wähler, die sich mit einer bestimmten Partei identifizieren, aber von einem Wahlkreiskandidaten einer anderen Partei mehr halten, als von dem der eigenen Partei, sollten daher eher splitten, als Wähler, bei denen sich die Parteiidentifikation mit der Einschätzung des Wahlkreiskandidaten deckt. 4

In den USA haben beide Stimmen einen echten Einfluss auf die Verteilung von Mandaten. „Ticket splitting“ bezeichnet dort die gemischte Stimmabgabe bei simultan abgehaltenen Präsidentschafts- und Kongresswahlen.

Charakteristika und Motive der Stimmensplitter bei der Bundestagswahl 2005

405

Präferieren Wähler dagegen einen Spitzenkandidaten, der nicht der Partei angehört, mit der sie sich identifizieren, kann es ebenfalls sein, dass dieser Bewertung mit Stimmensplitting Ausdruck verliehen wird. Somit wird auch davon ausgegangen, dass Wähler, die sich mit einer bestimmten Partei identifizieren, aber von einem Spitzenkandidaten einer anderen Partei mehr halten als von dem der eigenen Partei, eher splitten, als Wähler, bei denen sich die Parteiidentifikation mit der Einschätzung des Spitzenkandidaten deckt. Die dargestellten Kombinationen aus Erst- und Zweitstimme bei der Bundestagwahl 2005 (Kap.2) legen als Erklärung minimal strategisches Wählen ebenso nahe wie die koalitionstaktische Vergabe von Leihstimmen. Um nun zu überprüfen, ob die vermuteten Motive tatsächlich hinter den Splittingkombinationen stecken, sind weitere Überlegungen notwendig. Für Anhänger kleiner Parteien ist strategisches Wählen im Sinne von Ordinary Strategic Voting risikolos, da sie eine ansonsten nutzlose Erststimme vergeben. Sollte minimal strategisches Wählen ein zentrales Motiv für Stimmensplitting bei der Bundestagswahl 2005 darstellen, ist davon auszugehen, dass der Anteil der Splitter unter den Wählern mit einer Parteiidentifikation für eine kleine Partei höher ist als der Anteil der Splitter unter allen Wählern. Zurückliegende Bundestagswahlen lehren, dass die großen Parteien Koalitionspartner brauchen, um regieren zu können. Drei Koalitionsoptionen waren bei der Bundestagswahl 2005 realistisch: Eine große Koalition, eine schwarz-gelbe Koalition und eine rot-grüne Koalition. Nach dem koalitionsrationalen Leihstimmenprinzip neigen Anhänger der großen Parteien dazu, ihre Zweitstimme dem potentiellen Koalitionspartner zu „leihen“, um der präferierten Koalition zu einer regierungsfähigen Mehrheit zu verhelfen. Dies ergibt aber nur Sinn, wenn es sich bei dem Koalitionspartner um eine kleine Partei handelt. Folglich wird vermutet, dass innerhalb der Gruppe, die eine Parteiidentifikation für eine große Partei hat und sich eine realistische Koalition aus präferierter großer und einer kleinen Partei wünscht, der Anteil der Splitter größer ist als unter allen Wählern, die sich mit einer der großen Partei identifizieren.

5.

Datenbasis

Grundvoraussetzung für eine Untersuchung des Splittingphänomens auf Basis von Umfragedaten ist, dass den Datensätzen entnommen werden kann, ob die Befragten Stimmensplitting vorgenommen haben. In der Nachwahlbefragung wird mit zwei getrennten Fragen sowohl die Erst- als auch die Zweitstimmenvergabe erhoben, so dass jeweils eine dichotome Splittingvariable gebildet werden kann. Diese nimmt bei einer übereinstimmenden Stimmabgabe hinsichtlich der Erst- und der Zweitstimme („Straight Ticket“) den Wert 0 an und bei getrennter Stimmabgabe („Split Ticket“) den Wert 1.

406

David Johann

Übersicht 1: Abhängige Variable Fragetexte Bei der Bundestagswahl konnten Sie ja zwei Stimmen vergeben. Die Erststimme für einen Kandidaten aus ihrem Wahlkreis, die Zweitstimme für eine Partei. Diese Liste hier ist ein Muster-Stimmzettel, ähnlich wie Sie ihn bei der Bundestagswahl erhalten haben. Wie haben Sie auf ihrem Stimmzettel angekreuzt? Bitte nennen Sie mir die Kennziffer für Ihre Erststimme. Kandidat/in (-1) trifft nicht zu (1) der SPD (2) der CDU/CSU (3) von Bündnis 90/Die Grünen (4) der FDP (5) von Die Linke.PDS (6) der Republikaner (7) der NPD (8) einer anderen Partei, und zwar (9) habe ungültig gewählt (98) kann mich nicht erinnern (99) verweigert Und wie ist das mit Ihrer Zweitstimme? Bitte nennen Sie mir die Kennziffer für Ihre Zweitstimme. (-1) trifft nicht zu (10) SPD (11) CDU/CSU (12) Bündnis 90/Die Grünen (13) FDP (14) Die Linke.PDS (15) Republikaner (16) NPD (17) Die Grauen (18) andere Partei, und zwar (19) habe ungültig gewählt (98) kann mich nicht erinnern (99) verweigert Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“.

Tabelle 5: Verteilungen der recodierten abhängigen Variable Prozentualer Anteil

Straight Ticket

Split Ticket

Missings

Gesamt

60.5

18.0

21.5

100.0

457

546

2540

N 1537 Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“.

Zur Ermittlung der Parteiidentifikation liegen zwei Variablen vor. Die erste erfragt die Parteiidentifikation für eine bestimmte Partei, wobei die Antwort „neige zu keiner Partei“ eine gesonderte Kategorie darstellt. Die zweite hält die jeweilige Stärke der Parteiidentifikation in fünf Kategorien von sehr stark bis sehr schwach fest. Die neu gebildete Variable zur Stärke der Parteiidentifikation ist eine Kombination aus beiden Variablen und unterscheidet vier Kategorien: Respondenten ohne, mit einer schwachen oder mäßigen, mit einer starken und solche mit einer sehr starken Parteiidenifikation. Zur Charakterisierung der Splitter richtet sich der Blick auf das Alter, die formale Bildung, politisches Wissen, das politische Interesse und die Häufigkeit der Rezeption politischer Themen. Das Alter wird auf fünf Kategorien recodiert: 18 bis 24 Jahre, 25 bis 34 Jahre, 35 bis 44 Jahre, 45 bis 59 Jahre und 60 Jahre und älter, die formale Bildung aufgrund teilweise geringer Zellenbesetzungen auf vier Kategorien: Wähler ohne Schulabschluss oder mit einem Volks- bzw. Hauptschulabschluss, solche mit Mittlerer Reife bzw. Realschulabschluss, Wähler mit Abitur oder Fachhochschulreife sowie Wähler mit (Fach-) Hochschulabschluss. Für den Indikator politisches Wissen wird die Frage nach der Wichtigkeit von Erst- und Zweitstimme sowie die Kenntnisse über die Mehrheit im Bundesrat und die Bedeutung der Wahlrechtsgrundsätze „geheim“, „gleich“ und „frei“ herangezogen. Aus den fünf Wissensitems wird ein Summenindex über die Anzahl der richtigen Antworten gebildet. Er hat einen Range von 0=„keine richtige Antwort“ bis 5=„alle Fragen richtig beantwortet“. Aufgrund geringer Fallzahlen bei keiner und nur einer richtigen Antwort, werden die beiden Kategorien zusammengelegt. Was das politische Interesse betrifft, wird im Datensatz das allgemeine politische Interesse und das Interesse an der Bundestagswahl unterschieden. Bei beiden Variablen werden die nicht und wenig Interessierten aufgrund geringer Zellenbesetzung zu einer Kategorie zusammengefasst, so dass zwei Variablen mit jeweils vier Ausprägungen vorliegen. Für die Häufigkeit der Rezeption liegt eine Fragebat-

Charakteristika und Motive der Stimmensplitter bei der Bundestagswahl 2005

407

terie vor, die jeweils die Anzahl der Tage in der Woche erfragt, an denen sich die Respondenten in Zeitungsartikeln, Fernsehsendungen und Internetseiten über politische Informationen informieren. Aus den Variablen wird ein Mittelwertindex gebildet, bei dem eine Ausprägung von 0 für keine Rezeption politischer Themen steht und eine Ausprägung von 7 für tägliche Rezeption in allen abgefragten Medien. Aufgrund geringer Zellenbesetzungen werden anschließend jeweils zwei benachbarte Skalenpunkte zusammengefasst, so dass in die Analysen eine Variable mit vier Ausprägungen eingeht. Um zu überprüfen, ob Stimmensplitting auf einen Persönlichkeitsbonus zurückgeführt werden kann, werden Skalometer zur Einschätzung der Wahlkreiskandidaten herangezogen. In der Nachwahlstudie wurde erfragt, ob sich die Respondenten an einen oder mehrere Wahlkreiskandidaten erinnern. Konnten die Respondenten Namen und Parteizugehörigkeiten von Kandidaten nennen, wurden sie unabhängig davon, ob der Name richtig war oder nicht, darum gebeten, die genannten Kandidaten auf einer Skala von 1=„halte nicht viel von ihr/ihm“ bis 11=„halte viel von ihr/ihm“ einzustufen, so dass im Idealfall je Respondent fünf Skalenwerte für die Wahlkreiskandidaten der SPD, CDU/CSU, FDP, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linkspartei.PDS vorliegen. Wurden mindestens zwei Kandidaten bewertet, werden die Skalenwerte wechselseitig voneinander subtrahiert. Die Differenzen zeigen an, wie die Wahlkreiskandidaten im Vergleich zu den Kandidaten der jeweils anderen Parteien eingestuft werden. Unter Berücksichtigung der Parteiidentifikation kann nun eine neue Variable gebildet werden, die zwischen Respondenten unterscheidet, welche vom Wahlkreiskandidaten der eigenen Partei mindestens genauso viel halten wie von den anderen benannten Kandidaten, und Respondenten, die den Wahlkreiskandidaten der eigenen Partei schlechter einstufen als mindestens einen anderen benannten Wahlkreiskandidaten. Da allerdings die Unkenntnis der Wahlkreiskandidaten weit verbreitet ist, umfasst diese Variable lediglich 346 gültige Fälle, so dass die Ergebnisse der entsprechenden Analysen (Kap.4) mit Vorsicht zu genießen sind. Hinweise auf das Splittingmotiv Präsidentenbonus liefert die Frage nach der Kanzlerpräferenz. Die Option „keinen von beiden“ wird ausgeschlossen, so dass eine Dichotome Variable mit den Ausprägungen 1=„Gerhard Schröder“ und 2=„Angela Merkel“ vorliegt. Verwendet werden überdies die Politikerskalometer der Spitzenkandidaten von SPD, CDU/CSU, FDP, Bündnis 90/Die Grünen und Linkspartei.PDS. Da die Linkspartei.PDS zwei Spitzenkandidaten aufgestellt hat, wird für Oskar Lafontaine und Gregor Gysi ein Mittelwertindex gebildet. Zwischen den Kandidatenpaaren werden die Differenzen der Skalenwerte berechnet, so dass überprüft werden kann, ob von den Respondenten jeweils ein Kandidat gegenüber einem anderen besser beurteilt wurde oder nicht. Nun wird eine neue Variable gebildet, die zwischen Respondenten unterscheidet, die den Kandidaten der bei der Frage nach der Parteiidentifikation genannten Partei im Vergleich zu allen anderen Kandidaten mindestens gleichgut einstufen, und Respondenten, die mindestens einen Kandidaten der anderen Parteien besser finden als den eigenen. Zur Überprüfung der koalitionsrationalen Leihstimmen-Hypothese wird die Frage herangezogen, welche Partei(en) die Bundesregierung bilden soll(en), wenn seitens der Respondenten alleine darüber entschieden werden könnte. Die Respondenten hatten die Möglichkeit der Mehrfachnennung, so dass für jede Partei eine Dummy-Variable vorlag, die bei Nennung den Wert 1 annimmt und bei Nicht-Nennung den Wert 0. Mit Hilfe der Dummies wird eine Variable gebildet, die zwischen den politisch denkbaren Parteikombi-

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nationen unterscheidet. Respondenten, die keine oder nur eine Partei genannt haben, werden mit 0=„kein Koalitionswunsch geäußert“ codiert.

6.

Ergebnisse der bivariaten Analysen

6.1 Charakteristik der Stimmensplitter Im Folgenden werden die Hypothesen einer empirischen Überprüfung unterzogen. Zunächst wird eine Charakterisierung der Splitter vorgenommen. Eingegangen wird dabei auch auf Unterschiede bzw. Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Teilelektoraten Ostund Westdeutschland. Laut Statistischem Bundesamt war bei der Bundestagswahl 2005 der Splittinganteil im Westen größer ist als im Osten. Dies verwundert, gelten doch die ostdeutschen Wähler als volatiler und flexibler, was sich bisher – wie repräsentative Wahltagsbefragungen der Bundestagswahlen zeigen – auch im Volumen der getrennten Stimmabgabe widerspiegelte (vgl. Hilmer/Schleyer 2000 und Hartenstein 2002). In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Splittinganteil für Ostdeutschland bei der untersuchten Nachwahlbefragung deutlich niedriger ausfällt als in Westdeutschland. Worauf dies zurückgeführt werden kann, lässt sich nur spekulieren. Allein mit einem größeren Vertrauensintervall wegen einer geringeren Fallzahl für Ostdeutschland lässt sich die Differenz nicht erklären. Möglicherweise handelt es sich um Mängel bei der Stichprobenziehung. Wähler ohne Parteiidentifikation splitten ihre Stimmen in beiden Landesteilen deutlich häufiger als Wähler mit einer Parteiidentifikation. Die geringsten Splittingraten finden sich in Westdeutschland unter den sehr starken und in Ostdeutschland unter den starken Parteiidentifikateuren. Darüber hinaus sind die Unterschiede zwischen Respondenten mit schwacher oder mäßiger und den mit starker Parteiidentifikation in beiden Teilelektoraten sehr gering. Die Ergebnisse für den Zusammenhang zwischen Alter und Splittingbereitschaft entsprechen nicht durchgehend den Erwartungen. Zwar lassen sich wie vermutet bei den jüngeren Wählern höhere Splittingraten feststellen als bei den älteren, die höchsten Splittinganteile finden sich aber bei den mittleren Altersgruppen. Dieses Muster findet sich in ähnlicher Form auch in den beiden Teilelektoraten. Bzgl. der formalen Bildung werden die Erwartungen erfüllt. Während Wähler ohne bzw. mit Haupt- oder Volksschulabschluss die geringsten Splittinganteile aufweisen, folgen auf den Plätzen mit knapp unterdurchschnittlichen Splittinganteilen Wähler mit Mittlerer Reife bzw. Realschulabschluss und mit den höchsten Anteilen die Gruppen der Abiturienten und der Hochschulabsolventen. Bei den Abiturienten lassen sich teilweise höhere Werte feststellen als bei Akademikern. Wiederum findet sich das entsprechende Muster sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland. In Westdeutschland scheint sich die formulierte Vermutung zum Kenntnisstand zu bestätigen. Mit der Anzahl der richtigen Antworten steigt auch der Splittinganteil. Die beobachteten Zusammenhänge sind jedoch nicht signifikant. Auch in Ostdeutschland finden sich unter den Respondenten die geringsten Splittinganteile, die höchstens eine Frage beantworten können. Gleichzeitig verringern sich die Splittingraten zwischen Respondenten mit zwei und solchen mit fünf richtigen Antworten, so dass formulierte Hypothese nicht bestätigt werden kann.

Charakteristika und Motive der Stimmensplitter bei der Bundestagswahl 2005

409

Tabelle 6: Zusammenhang zwischen Stimmensplitting und Variablen der Nachwahlbefragung West 25.0

Splittinganteil (in Prozent) Ost 14.5

Alle Wähler Parteiidentifikation keine 29.8 24.3 schwache oder mäßige 24.7 12.3 starke 24.7 10.0 sehr starke 18.4 12.2 Cramers V 0.07 0.16** Alter 18-24 26.6 17.0 25-34 31.5 21.3 35-44 30.9 21.4 45-59 28.5 15.3 60 und älter 15.8 7.2 Cramers V 0.16** 0.16** Bildung kein oder Volks-/Hauptschulabschluss 19.9 6.4 Mittlere Reife/Realschulabschluss 25.4 16.4 Abitur/Hochschulreife 35.1 25.4 Hochschulabschluss 33.6 21.4 Cramers V 0.14** 0.18** Pol. Wissen: Index Anzahl richtiger Antworten höchstens eine 20.5 6.1 zwei 22.1 19.4 drei 22.7 17.1 vier 26.2 14.3 fünf 26.7 12.8 Cramers V 0.05 0.08 Politisches Interesse allgemein kein oder wenig 20.6 17.5 mittel 23.1 11.6 ziemlich stark 26.6 16.0 sehr stark 31.7 17.5 Cramers V 0.08 0.07 Politisches Interesse Bundestagswahl kein oder wenig 17.6 11.8 mittel 23.4 14.4 ziemlich stark 25.1 12.9 sehr stark 26.8 16.0 Cramers V 0.05 0.04 Häufigkeit Rezeption (recodierter Index) (1) 24.6 11.8 (2) 27.0 17.9 (3) 21.8 11.4 (4) 42.0 37.8 Cramers V 0.12** 0.18** * auf dem Niveau von p <.05 und ** auf dem Niveau von p <.01 signifikant. Quelle: Nachwahlstudie „Bürger und Parteien 2005“.

Gesamt 23.0 28.4 22.2 22.4 17.0 0.07* 24.4 29.7 29.0 25.8 14.2 0.15** 18.2 22.7 33.3 30.9 0.13** 16.4 21.4 21.3 23.9 24.4 0.04 19.9 21.0 24.6 28.2 0.07* 17.1 21.7 22.9 24.6 0.04 22.4 25.5 19.6 41.1 0.13**

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Allgemeines politisches Interesse sowie politisches Interesse an der Bundestagswahl wirkt sich für Gesamtdeutschland wie erwartet auf die Splittingbereitschaft aus. Während Wähler, die kein oder nur wenig Interesse bekunden, die geringsten Splittinganteile aufweisen, steigt der Splittinganteil mit der Zunahme des Interesses an und ist in den Gruppen der stark Interessierten mit 28.2 bzw. 24.6 Prozent am höchsten. Allerdings ist nur der Zusammenhang zwischen allgemeinem politischem Interesse und Splittinganteil signifikant, und das auch nur auf einem Niveau von <.05. Darüber hinaus finden sich deutliche Unterschiede zwischen den beiden Teilelektoraten. Der Zusammenhang zwischen der Häufigkeit der Rezeption politischer Informationen und dem Splittingverhalten ist signikant. Respondenten, die dem höchsten Skalenwert zugeordnet werden und damit intensiv politische Information rezipieren, weisen mit 41.1 Prozent die mit Abstand höchsten Splittinganteile auf. Die zweithöchste Splittingrate findet sich aber nicht wie vermutet bei einem Skalenwert von 3, sondern in beiden Landesteilen bei einem Skalenwert von 2.

6.2 Motive der Stimmensplitter Nachdem eine Charakteristik der Stimmensplitter vorgenommen wurde, stellt sich die Frage, welche Motive sie zur getrennten Stimmabgabe bewogen haben. Um zu überprüfen, ob ein Persönlichkeitsbonus zu signifikant höheren Splittingraten führt, richtet sich der Blick auf alle Wähler, die sich mit einer der sechs Parteien SPD, CDU, CSU, FDP, Bündnis 90/Die Grünen und Linkspatei.PDS identifizieren. Es wird getestet, ob Wähler, welche den Wahlkreiskandidaten der Partei, mit der sie sich identifizieren, zumindest gleich gut finden wie Kandidaten einer anderen Partei, seltener splitten als Wähler, die von mindestens einem Kandidaten einer anderen Partei mehr halten. Tabelle 7: Stimmensplitting nach Wahlkreiskandidatenpräferenz unter Parteiidentifikateuren Einschätzung der Wahlkreiskandidaten… Prozent entspricht PI entspricht nicht PI straight ticket 75.4 81.5 split ticket 24.6 18.5 Gesamt 100.0 100.0 N 65 281 Quelle: Nachwahlstudie „Bürger und Parteien 2005“, Cramers V = 0.06.

Gesamt 80.3 19.7 100.0 346

Tabelle 7 zeigt, dass Respondenten, bei denen sich die Einschätzung der Wahlkreiskandidaten mit der Parteiidentifikation deckt, häufiger splitten als diejenigen, die mindestens einen Kandidaten einer Partei besser finden, mit der sie sich nicht identifizieren. Somit kann die Persönlichkeitsbonus-Hypothese nicht gestützt werden. Der Präsidentenbonus ist in zwei Varianten vorstellbar. Die erste Variante bezieht sich auf die beiden Spitzenkandidaten der Volksparteien, da nur diese eine reale Chance haben, Regierungschef zu werden. Eine weiter gefasste Variante bezieht die Spitzenkandidaten der anderen Parteien mit ein. Es kann argumentiert werden, dass auch sie im Fall des Zustandekommens einer Regierungsbeteiligung der jeweiligen Partei verantwortungsvolle Positio-

Charakteristika und Motive der Stimmensplitter bei der Bundestagswahl 2005

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nen bekleiden und ein gewichtiges Wort bei der Gestaltung der Tagespolitik mitzureden haben. Tabelle 8a: Stimmensplitter nach Kanzlerkandidatenpräferenz unter den Anhängern von SPD und CDU/CSU Kanzlerkandidatenpräferenz... Prozent entspricht PI entspricht nicht PI straight ticket 83.9 84.3 split ticket 16.1 15.7 Gesamt 100.0 100.0 N 1084 51 Quelle: Nachwahlstudie „Bürger und Parteien 2005“, Cramers V = 0.00.

Gesamt 84.0 16.0 100.0 1135

Tabelle 8b: Stimmensplitter nach Skalometer der Kanzlerkandidaten unter den Parteiidentifkateuren von SPD und CDU/CSU Kandidat identifizierter Partei wird... mindestens ebenso gut schlechter eingestuft wie eingestuft wie der gegnerider gegnerische sche Kandidat Kandidat straight ticket 83.0 80.0 split ticket 17.0 20.0 Gesamt 100.0 100.0 N 1236 75 Quelle: Nachwahlstudie „Bürger und Parteien 2005“, Cramers V = 0.02. Prozent

Gesamt

82.8 17.2 100.0 1311

Tabelle 8c: Stimmensplitter nach Skalomter der Spitzenkandidaten unter den Parteiidentifikateuren von SPD, CDU/CSU, FDP, Bündnis 90/Die Grünen und Linkspartei.PDS Kandidat identifizierter Partei wird... mindestens ebenso gut schlechter eingestuft wie eingestuft wie der gegnerider gegnerische sche Kandidat Kandidat straight ticket 81.6 71.0 split ticket 18.4 29.0 Gesamt 100.0 100.0 N 1172 417 Quelle: Nachwahlstudie „Bürger und Parteien 2005“, Cramers V = 0.11**. Prozent

Gesamt

78.8 21.2 100.0 1589

Was die Anhänger der Volksparteien betrifft, zeigen Tabelle 8a und 8b, dass die Präsidentenbonus-Hypothese nicht bestätigt werden kann. Es sind nur marginale, nicht signifikante Unterschiede zwischen den Teilgruppen vorhanden. Bezieht man die Anhänger der kleinen Parteien und ihre Spitzenkandidaten in die Untersuchung mit ein, ergibt sich ein anderes Bild. Respondenten, die mindestens einen gegnerischen Spitzenkandidaten positiver bewerten als den der Partei, mit der sie sich identifizieren, splitten eher als Respondenten, die mindestens einen anderen Kandidaten wenigstens genauso gut einschätzen. Der Zusammenhang ist auf einem Niveau von <.01 siginifikant, so dass die PräsidentenbonusHypothese unter Einbezug der Spitzenkandidaten aller Parteien bestätigt werden kann (Tab.8c).

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Tabelle 9a: Stimmensplitter nach Parteiidentifikation Prozent

SPD

CDU

CSU

Grüne

straight ticket 83.2 81.5 86.0 52.9 split ticket 16.8 18.5 14.0 47.1 Gesamt 100.0 100.0 100.0 100.0 N 716 465 129 104 Quelle: Nachwahlstudie „Bürger und Parteien 2005“.

FDP 34.2 65.8 100.0 76

Linke. PDS 85.9 14.1 100.0 99

andere

keine

Gesamt

56.3 43.8 100.0 32

71.6 28.4 100.0 352

77.1 22.9 100.0 1973

Tabelle 9b: Stimmensplitter nach Parteiidentifikation Parteineigung für... Prozent kleine Partei keine PI oder PI für große Partei straight ticket 59.4 80.5 split ticket 40.6 19.5 Gesamt 100.0 100.0 N 310 1662 Quelle: Nachwahlstudie „Bürger und Parteien 2005“, Cramers V: 0.18**.

Gesamt 77.2 22.8 100.0 1972

Nun zum minimal strategischen Wählen: Die Anhänger der großen Parteien weisen nur geringe Anteile an Splittern auf. Der CSU mit 14.0 Prozent folgt die SPD mit 16.8 Prozent und die CDU mit 18.5 Prozent. Dagegen finden sich für die kleinen Parteien die höchsten Anteile an Splittern. Die FDP belegt den Spitzenplatz mit 65.8 Prozent, mit 47.1 Prozent weisen die Bündnisgrünen den zweithöchsten Anteil auf und auf die „anderen Parteien“ entfällt immerhin ein Anteil von 43.8 Prozent. Die Linkspartei.PDS stellt eine Ausnahme dar. Ihre Wähler splitten augenscheinlich deutlich weniger als die der anderen kleinen Parteien und sogar nur unwesentlich mehr, als die Wähler der CSU (Tab.9a). Grund dafür könnte sein, dass die Chancen der PDS-Direktkandidaten in vielen ostdeutschen Wahlkreisen seitens der Wähler ähnlich gut eingeschätzt werden wie die der beiden sogenannten Volksparteien. Da die Linkspartei.PDS zur Überprüfung der Ordinary-Strategic-VotingHypothese im Folgenden sowohl in West- als auch in Ostdeutschland zu den kleinen Parteien gezählt wird, ist darauf hinzuweisen, dass der Effekt für die kleinen Parteien größer ausfallen dürfte, wenn die PDS nicht in diese Gruppe einbezogen würde. In Tabelle 10b sind Respondenten mit einer Parteineigung für eine kleine Partei sowie Respondenten ohne bzw. mit einer Parteineigung für eine große Partei jeweils zu einer Gruppe zusammengefasst. Der Anteil der Splitter unter den Anhängern der kleinen Parteien ist mit 40.6 Prozent deutlich größer als der Anteil der Splitter unter allen Wählern. Cramers V hat einen Wert von 0.18, die beobachtete Abweichung von der Indifferenzmatrix ist statistisch hochsignifikant. Die Ordinary-Strategic-Voting-Hypothese ist somit bestätigt, es kann von einem positiven Zusammenhang zwischen der Anhängerschaft einer kleinen Partei und der Splittingbereitschaft ausgegangen werden. In den Test der Leihstimmen-Hypothese gehen nur Anhänger der beiden großen Parteien ein. Darüber hinaus sind die Koalitionswünsche der Parteianhänger zu berücksichtigen. Tabelle 10 zeigt, dass sich die Anhänger der Unionsparteien vor allem eine schwarzgelbe Koalition wünschen (41.2 Prozent). Es folgt mit deutlichem Abstand der Wunsch nach einer Großen Koalition (12.4 Prozent). Bei den Anhängern der SPD ist das Bild weniger eindeutig. Dem Wunsch nach einer Großen Koalition mit einem Wert von 28.9 Prozent folgt mit knappem Abstand der Wunsch nach einer rot-grünen Koalition mit einem Wert

Charakteristika und Motive der Stimmensplitter bei der Bundestagswahl 2005

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von 24.4 Prozent. Erwähnenswert sind überdies die relativ hohen Werte für eine JamaikaKoalition unter den Anhängern der CDU/CSU (9.6 Prozent) sowie für eine Rot-Rot-Grüne Koalition unter den Anhängern der SPD (4.6 Prozent). Da es sich um Daten einer Nachwahlbefragung handelt, kann vermutet werden, dass zumindest ein Teil der Wähler in dem Bewusstsein geantwortet hat, dass aufgrund des Wahlergebnisses rechnerisch weder eine schwarz-gelbe noch eine rot-grüne Koalition möglich ist. Insofern ist davon auszugehen, dass der Anteil für eine Rot-Rot-Grüne- und für eine Ampel-Koalition unter den Anhängern der SPD, der Anteil für eine Jamaika-Koalition unter den Anhängern der Unionsparteien sowie die Anteile für eine Große Koalition unter den Anhängern beider großen Parteien niedriger ausgefallen wären, wäre zum Zeitpunkt der Befragung das Wahlergebnis noch ungewiss gewesen. Aus diesem Grund wird die Leihstimmen-Hypothese im Folgenden in zwei Varianten getestet: Einmal ohne (Variante 1) und einmal mit Einbezug der Koalitionswünsche Jamaika, Ampel- und Rot-Rot-Grün (Variante 2) als realistische Koalitionswünsche. Tabelle 10:

Koalitionswunsch unter den Anhängern der großen Parteien

Koalitionswunsch in Prozent Anhänger der SPD Kein Koalitionswunsch geäußert 25.2 Große Koalition 28.9 Rot-Grün 24.4 Rot-Gelb 3.0 Rot-Rot 3.5 Ampel 3.7 Rot-Rot-Grün 4.6 Schwarz-Grün 0.3 Schwarz-Gelb 0.7 Jamaika 0.1 Andere Koalitionswünsche 5.5 Gesamt 100.0 Quelle: Nachwahlstudie „Bürger und Parteien 2005“.

Anhänger der Unionsparteien 28.7 12.4 0.1 0.5 0.1 0.5 0.2 2.0 41.2 9.6 4.7 100.0

Tabelle 11a: Splittinganteil in Abhängigkeit vom Koalitionswunsch unter den Anhängern einer der beiden großen Parteien – Variante 1 Koalitionswunsch Realistischer KoalitionsKein Koalitionswunsch, Wunsch wunsch aus präferierter einer Großen Koalition oder unreaPartei und kleiner Partei listischer Wunsch aus präferierter Partei und kleiner Partei straight ticket 78.5 85.2 split ticket 21.5 14.8 Gesamt 100.0 100.0 N 413 866 Quelle: Nachwahlstudie „Bürger und Parteien 2005“, Cramers V: 0.08**. Prozent

Gesamt

83.0 17.0 100.0 1279

414

David Johann

Tabelle 11b: Splittinganteil in Abhängigkeit vom Koalitionswunsch unter den Anhängern einer der beiden großen Parteien – Variante 2 Koalitionswunsch Realistischer KoalitionsKein Koalitionswunsch, Wunsch wunsch aus präferierter einer Großen Koalition oder unreaPartei und kleiner Partei listischer Wunsch aus präferierter Partei und kleiner Partei straight ticket 78.0 86.7 split ticket 22.0 13.3 Gesamt 100.0 100.0 N 527 751 Quelle: Nachwahlstudie „Bürger und Parteien 2005“, Cramers V: 0.11**. Prozent

Gesamt

83.1 16.9 100.0 1278

Den Tabellen 11a und 11b ist zu entnehmen, dass Anhänger der großen Parteien mit einem realistischem Koalitionswunsch aus präferierter großer Partei und einer kleinen Partei deutlich häufiger splitten als alle Anhänger der großen Parteien. Bei Variante 2 sind die Zusammenhänge stärker als bei Variante 1. Die beobachtete Abweichung von der Indifferenzmatrix ist in beiden Fällen statistisch signifikant. Die Leihstimmen-Hypothese ist damit bestätigt. Da der Wunsch einer schwarz-gelben Koalition unter den Anhängern der Unionsparteien deutlich ausgeprägter ist als der Wusch einer rot-grünen Koalition unter den Anhängern der SPD und darüber hinaus auch die Werte für eine Jamaika-Koaltion unter den Unionsanhängern höher ausfallen als die für eine Ampel- oder eine Rot-Rot-Grüne Koalition unter den SPD-Anhängern, stellt sich die Frage, ob die beobachteten Effekte gleichermaßen auf die Anhänger der SPD und die Anhänger der Union zurückzuführen sind. Um dies zu überprüfen, wird die Leihstimmenthese zusätzlich getrennt für die Anhänger der SPD und der CDU/CSU getestet. Tabelle 12a: Splittinganteil in Abhängigkeit vom Koalitionswunsch unter den Anhängern der SPD – Variante 1 Koalitionswunsch Kein Koalitionswunsch, Wunsch einer Großen Koalition oder unrealistischer Wunsch aus präferierter Partei und kleiner Partei straight ticket 80.2 84.5 split ticket 19.8 15.5 Gesamt 100.0 100.0 N 172 530 Quelle: Nachwahlstudie „Bürger und Parteien 2005“, Cramers V: 0.05. Prozent

Rot-Grün

Gesamt

83.5 16.5 100.0 702

Charakteristika und Motive der Stimmensplitter bei der Bundestagswahl 2005

415

Tabelle 12b: Splittinganteil in Abhängigkeit vom Koalitionswunsch unter den Anhängern der SPD – Variante 2 Koalitionswunsch Rot-Grün, Ampel oder Kein Koalitionswunsch, Wunsch Rot-Rot-Grün einer Großen Koalition oder unrealistischer Wunsch aus präferierter Partei und kleiner Partei straight ticket 78.4 86.0 split ticket 21.6 14.0 Gesamt 100.0 100.0 N 232 470 Quelle: Nachwahlstudie „Bürger und Parteien 2005“, Cramers V: 0.10*. Prozent

Gesamt

83.5 16.5 100.0 702

Tabelle 13a: Splittinganteil in Abhängigkeit vom Koalitionswunsch unter den Anhängern der CDU/CSU – Variante 1 Koalitionswunsch Kein Koalitionswunsch, Wunsch einer Großen Koalition oder unrealistischer Wunsch aus präferierter Partei und kleiner Partei straight ticket 77.2 86.3 split ticket 22.8 13.7 Gesamt 100.0 100.0 N 241 336 Quelle: Nachwahlstudie „Bürger und Parteien 2005“, Cramers V: 0.12**. Prozent

Schwarz-Gelb

Gesamt

82.5 17.5 100.0 577

Tabelle 13b: Splittinganteil in Abhängigkeit vom Koalitionswunsch unter den Anhängern der CDU/CSU – Variante 2 Koalitionswunsch Schwarz-Gelb oder Jamaika Kein Koalitionswunsch, Wunsch einer Großen Koalition oder unrealistischer Wunsch aus präferierter Partei und kleiner Partei straight ticket 77.6 87.9 split ticket 22.4 12.1 Gesamt 100.0 100.0 N 295 281 Quelle: Nachwahlstudie „Bürger und Parteien 2005“, Cramers V: 0.14**. Prozent

Gesamt

82.5 17.5 100.0 576

Ebenso wie der Anteil der Splitter unter den Wählern, die eine generalisierte Präferenz für die SPD aufweisen und gleichzeitig eine realistische Koalition mit einer kleinen Partei befürworten, höher ist als der Anteil der Splitter unter allen Wählern, die eine generalisierte Präferenz für die SPD haben (Tab.12a und 12b), ist der Anteil der Splitter unter den Wählern, die eine generalisierte Präferenz für die Unionsparteien offenbaren und gleichzeitig eine realistische Koalition mit einer kleinen Partei befürworten, höher als der Anteil der Splitter unter allen Wählern, die eine generalisierte Präferenz für die Unionsparteien haben (Tab.13a und 13b). Während die beobachtete Abweichung von der Indifferenzmatrix unter den Anhängern der SPD nicht (Variante 1) oder nur auf einem 5-Prozent-Nivau (Variante 2) statistisch signifikant ist, sind die Unterschiede für die Unions-Anhänger in beiden Fäl-

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David Johann

len statistisch hochsignifikant. Das bedeutet, dass der unter den Anhängern beider Volksparteien beobachtete Leihstimmeneffekt (Tab.11a und 11b) in erster Linie auf die CDU/ CSU-Anhänger zurückzuführen ist.5

7.

Ergebnisse der multivariate Analysen

Im Folgenden werden die bivariaten Befunde multivariat überprüft. Für eine inferenzstatistische Untersuchung des Einflusses der genannten Merkmale auf Stimmensplitting als nominale, dichotome abhängige Variable bietet sich eine binäre logistische Regression an. In die multivariaten Analysen fließen nur Merkmale ein, welche bei den bivariaten Analysen als signifikante Einflussgrößen identifiziert werden konnten. Berechnet werden acht Modelle. In alle Modelle gehen das Alter, die formale Bildung, das allgemeine politische Interesse und die Häufigkeit der Rezeption politischer Informationen ein. Sie werden durch die „Contrast“-Anweisung (SPSS 16) so gebildet, dass jeweils die erste Kategorie eines Merkmals die Referenzkategorie darstellt. Zwei Modelle werden ergänzt um das Merkmal Parteiidentifikation. Im ersten Fall werden die Respondenten nach ihrer Stärke der Parteiidentifikation unterschieden und die Ausprägung „keine“ geht als Referenzkategorie ein. Im zweiten Fall wird unterschieden zwischen Respondenten ohne Parteiidentifikation bzw. mit einer Neigung für eine große Partei und einer Neigung für eine kleine Partei. Referenzkategorie ist entsprechend der Ordinary-Strategic-Hypothese erstgenannte Kategorie. In ein drittes und ein viertes Modell wird die gebildete Variable zur Überprüfung der Präsidentenbonushypothese aufgenommen, wobei Respondenten, die vom Spitzenkandidaten der Partei, mit der sie sich identifizieren, mindestens ebensoviel halten wie von den Kandidaten der anderen Parteien, die Referenzkategorie darstellen. In das vierte Modell fließt überdies die koalitionsrationale Leihstimmenhypothese ein. Eine Jamaika-Koaltition unter den Anhängern der Union sowie eine Ampel- oder eine Rot-Rot-Grüne-Koaltion unter den SPD-Anhängern werden als realistische Koalitionsoptionen eingestuft. Referenzkategorie sind Anhänger der großen Parteien ohne Koalitionswunsch, mit dem Wunsch einer Großen Koalition oder einem unrealistischen Koalitionswunsch. Die beschrieben Modelle werden jeweils zweimal berechnet, einmal ohne und einmal mit Einbezug der Variable Region (Ost/West). Bei Kontrolle anderer Einflussfaktoren büßen einige Prädiktoren an Erklärungskraft ein. Die Effekte der Häufigkeit der Rezeption politischer Informationen und des Alters werden in allen Modellen durch die anderen Variablen moderiert. Einen signifikanten Einfluss der Zugehörigkeit zur Gruppe der politisch sehr stark Interessieren im Vergleich zu den nicht oder nur wenig Interessen ist nur in vier von acht Modellen signifikant (Modell 1a, 1b, 3a und 3b). Wird die gebildete Variable zur Überprüfung der Leihstimmenhypothese in das Modell aufgenommen (Modelle 4a und 4b), verliert ferner der Effekt der formalen Bildung deutlich an Stärke und ist statistisch nicht mehr signifikant. Somit können multivariat als zentrale Einflussgrößen auf die Chance, die Stimme zu splitten, vor allem die schon 5

Dass koalitionstaktische Überlegungen bei der Bundestagswahl 2005 unter den Anhängern der Unionsparteien eine große Rolle spielten, beobachtet auch Bernhard Weßels. Sich auf Ergebnisse einer im Auftrag des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB) durchgeführten Nachwahlbefragung berufend, stellt er fest, dass unter denjenigen, die eigentlich der CDU/CSU ihre Stimme geben wollten, mehr als 10 Prozent an die FDP verloren gingen. Zudem trennten von diesen 95 Prozent ihre Stimmen (vgl. Weßels 2005).

Charakteristika und Motive der Stimmensplitter bei der Bundestagswahl 2005

417

bei den bivariaten Analysen erkannten Motive benannt werden. Was die Stärke der Effekte betrifft, sind die Unterschiede zwischen den beiden Teilelektoraten nur marginal. Tabelle 14: Logistische Regression, Exp( b j ) außer bei Konstanten Modell 1a 1b 2a 2b 3a 3b 4a 4b Alter (Referenz: 18-24) 25-34 n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. 35-44 n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. 45-59 n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. 60 und älter n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. Formale Bildung (Referenz: kein oder Volks-/Hauptschulabschluss) Mittlere Reife n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. Abitur/Hochschulreife 1.54* 1.56* 1.48* 1.49* 1.84** 1.87** n.s. n.s. Hochschulabschluss n.s. 1.48* n.s. n.s. 1.71** 1.84** n.s. n.s. Politisches Interesse allgemein (Referenz: keine oder wenig) mittel n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. ziemlich stark n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. sehr stark 1.86* 1.90** n.s. n.s. 1.76* 1.75* n.s. n.s. Häufigkeit Rezeption (Referenz: (1) ) (2) n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. (3) n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. (4) n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. Stärke Parteiidentifikation (Referenz: keine) schwache oder mäßige 0.76 0.74 starke 0.75 0.71* sehr starke 0.52** 0.50** Parteiidentifikation (Referenz: keine oder für große Partei) für kleine Partei 2.45** 2.77** Präsidentenbonus (Referenz: PI entspricht Spitzenkandidatenpräferenz) PI entspricht nicht Spitzenkandidatenpräf. 1.70** 1.75** 1.87** 1.88** Leihstimmen (Referenz: kein Koalitionswunsch, Wunsch einer Großen Koalition oder unrealistischer Koalitionswunsch aus präferierter Partei und kleiner Partei) Realistischer Koalitionswunsch 1.65** 1.62** Region (Referenz: Westdeutschland) Ostdeutschland 0.49** 0.44** 0.43** 0.60*

Konstante (b)

-1.33** -1.21** -1.61** -1.52** -2.11** 0.08 0.09 0.10 0.12 0.10 Pseudo- R 2 (Nagelkerke) N 1935 1935 1937 1937 1560 * auf dem Niveau von p <.05 und ** auf dem Niveau von p <.01 signifikant. Quelle: Nachwahlstudie „Bürger und Parteien 2005“.

-2.00** 0.12 1560

-2.22** -2.18** 0.08 0.08 1195

1195

418 8.

David Johann Diskussion

Ein Vergleich mit vorangegangenen Bundestagswahlen zeigt, dass nicht nur der Anteil der Stimmensplitter seit Anfang der 1960er Jahre kontinuierlich zugenommen hat, sondern dass sich auch die Größenordnungen zwischen den Parteien verändert haben. Sowohl das Erststimmen-Plus bei SPD und CDU/CSU als auch das Erststimmen-Minus bei der FDP fiel bei der Bundestagswahl 2005 größer aus als bei allen vorangegangenen Wahlen. Während dabei wie bei früheren Bundestagswahlen jeweils die Differenzen zwischen der Erst- und der Zweitstimme in den neuen Bundesländern geringer waren als in den alten, war das Volumen der getrennten Stimmabgabe im Osten nicht mehr größer als im Westen – im Gegenteil: Bei der Bundestagswahl 2005 übertrafen die westdeutschen Wähler in der Splittingbereitschaft ihr ostdeutsches Pendant. Dem deutschen Zweistimmen-Wahlrecht wird häufig nachgesagt, es sei für die Wähler schwer zu durchschauen. Tatsächlich sind viele Wähler nicht in der Lage, die Mechanismen und Effekte des deutschen Wahlsystems zutreffend zu beschreiben. Die Frage, welche Stimme entscheidend für die Zusammensetzung des Bundestages ist, konnten bei der Bundestagswahl 2005 44 Prozent nicht richtig beantworten. Dieses Ergebnis entspricht früheren Befunden von Schmitt-Beck (1993), Hilmer/Schleyer (2000) und Westle (2005), die mit einem vergleichbaren Fragemodell Anteile in ähnlicher Größenordnung ermittelten. Bei der Bundestagswahl 2005 splitteten nicht nur politisch aufgeklärte Wähler. Von den Wählern, die ihre Stimmen trennten, wussten 36.4 Prozent nicht über die Stimmenwichtigkeit Bescheid. Und darüber hinaus lassen – rein instrumentell betrachtet – manche Splittingkombinationen vermuten, dass es einige Wähler nicht verstanden, mit der Möglichkeit der getrennten Stimmabgabe richtig umzugehen. Dass Stimmensplitter allgemein als Prototyp des rationalen Wählers angesehen werden können, wie dies z.B. Schultze (1995) und Eith (1989) tun, kann demnach angezweifelt werden. Dennoch kann gesagt werden, dass bei der Bundestagswahl 2005 bei einem großen Teil der Wähler nicht planloses oder irrationales Splitting vorlag. Es gibt verschiedene Motive des Stimmensplittings. Davon wurden vier diskutiert: Stimmensplitting als Persönlichkeitwahl und Stimmensplitting aufgrund eines Präsidentenbonus, welche mit dem sozialpsychologischen Modell der Michigian-School erklärt werden können, sowie minimal strategisches Wählen und die koalitionstaktische Vergabe von Leih- bzw. Stützstimmen als Formen rationalen Wählens. Von den Motiven Persönlichkeitswahl und Präsidentenbonus konnte mit den vorliegenden Daten nur der Präsidentenbonus nachgewiesen werden, und dieser auch nur in einer weiter gefassten Variante, welche auch Spitzenkandidaten kleiner Parteien einbezieht. Somit kann gesagt werden, dass die Bewertung der Spitzenkandidaten durch die Wähler bei der Entscheidung für oder gegen Splitting von Relevanz ist, nicht aber die Bewertung der Wahlkreisbewerber. Mit Ausnahme der Anhänger der Linkspartei.PDS, für die koalitionstaktisches Splitting auf Bundesebene wenig Sinn machte und deren Wahlkreisbewerber in einigen ostdeutschen Wahlkreisen realistische Chancen auf den Gewinn des Direktmandates hatten, konnte gezeigt werden, dass Anhänger kleiner Parteien bei der Bundestagswahl 2005 weitaus häufiger splitteten als Anhänger der beiden Volksparteien CDU/CSU und SPD. Dies kann als rational quantifiziert werden, da die Vergabe einer strategischen Erststimme an den chancenreicheren Wahlkreiskandidaten der großen Parteien unter den Anhängern der kleinen Partei mit weit weniger „Kosten“ verbunden als die Vergabe einer strategischen Zweitstimme eines

Charakteristika und Motive der Stimmensplitter bei der Bundestagswahl 2005

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Anhängers der großen Parteien an den potentiellen Koalitionspartner. Umso bemerkenswerter scheint, dass für die Bundestagswahl 2005 nicht nur minimal strategisches Wählen dokumentiert, sondern auch die Leihstimmenhypothese gestützt werden kann. Zurückzuführen ist der Leihstimmeneffekt vor allem auf die große Zahl der Anhänger der Unionsparteien, die ihre Zweitstimme aus koalitionstaktischen Überlegungen an die FDP abgaben. Zum Anstieg der Splittingraten bei Bundestagswahlen beigetragen hat sicher, dass sich die Angebotsseite des politischen Systems verändert hat. Das Werben um gemischte Voten ist heute weitaus selbstverständlicher als es noch vor 20 Jahren der Fall war. Eine unklare Koalitionslage nützt kleinen Parteien nicht. Im Gegenteil: Leihstimmen sind insbesondere bei klarer Koalitionslage zu erwarten (vgl. Gschwend/Pappi 2004). Eine klare Koalitionsaussage seitens der Unionsparteien gab es bei der Bundestagwahl 2005. Und die Umfrageergebnisse ließen vermuten, dass der Einzug der FDP in das Parlament wahrscheinlich, aber keineswegs als gesichert angesehen werden konnte. So gesehen ist ein Leihstimmeneffekt eine nicht mehr ganz so große Überraschung. In Anbetracht der Tatsache, dass die absolute Prägekraft der Parteibindungen an der Wahlurne zurückgegangen ist, die Wähler zunehmend unabhängiger und flexibler votieren und sich immer kurzfristiger entscheiden, war ein Anstieg der Splittingraten zu erwarten. Die Freisetzung von Verpflichtungen, sozialen Normen und Traditionen führt zu einer größeren Flexibilität im Wahlverhalten. Dies spiegelt sich auch in der Splittingbereitschaft wider. Abschließend sei darauf hingewiesen, dass eine Entscheidung für strategisches Wählen – welcher Form auch immer – grundsätzlich mit Unsicherheit verbunden ist. Das liegt daran, dass Wähler nur unvollständige Informationen über das Verhalten der anderen Wähler besitzen und das Abschneiden von Kandidaten und Parteien nicht feststeht. Hinzu kommt, dass Wahlverhalten durch die Antizipation beabsichtigen Wahlverhaltens anderer Wähler beeinflusst wird. Da zunehmende Splittingbereitschaft die Vorhersage von Wahlergebnissen erschwert, resultiert ein Teufelskreis sowohl für Wähler als auch für Wahlforscher. Folglich ist es nicht nur interessant zu beobachten, wie sich die Splittingraten in Zukunft entwickeln werden, sondern auch, wie die Wahlforschung (kommerziell oder nicht-kommerziell) auf die Entwicklung reagiert.

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Anhang Übersicht 2: Unabhängige Variablen Fragetexte Parteiidentifikation Viele Leute neigen in der Bundesrepublik längere Zeit einer bestimmten Partei zu, obwohl sie auch ab und zu eine andere Partei wählen. Wie ist das bei Ihnen: Neigen Sie - ganz allgemein gesprochen – einer bestimmten Partei zu? Wenn ja, welcher? (1) SPD (2) CDU (3) CSU (4) Bündnis 90/Die Grünen (5) FDP (6) Die Linke.PDS (7) NPD (8) andere (9) keine Partei Stärke Parteiidentifikation Wie stark oder wie schwach neigen Sie, alles zusammengenommen, dieser Partei zu? Neigen Sie ihr (5) sehr stark, (4) ziemlich stark, (3) mäßig, (2) ziemlich schwach oder (1) sehr schwach zu? Politisches Interesse allgemein Wie stark interessieren Sie sich für Politik? Würden Sie sagen - (4) sehr stark, (3) ziemlich stark, (2) mittel, (1) wenig oder (0) überhaupt nicht? Politisches Interesse Bundestagswahl Am 18. September war ja Bundestagswahl. Wie stark haben Sie sich für diese Wahl interessiert? (4) sehr stark, (3) ziemlich stark, (2) mittel, (1) wenig oder (0) überhaupt nicht? Häufigkeit Rezeption politischer Informationen (A) An wie vielen Tagen in der Woche lesen Sie im Durchschnitt Berichte über das politische Geschehen in einer Tageszeitung? (B) An wie vielen Tagen in der Woche sehen Sie Nachrichtensendungen im Fernsehen an? (C) Und an wie vielen Tagen in der Woche nutzen Sie das Internet, um politische Informationen zu suchen? (0) nie (0.5) weniger als einmal pro Woche (1) 1 Tag pro Woche (2) 2 Tage pro Woche (3) 3 Tage pro Woche (4) 4 Tage pro Woche (5) 5 Tage pro Woche (6) 6 Tage pro Woche (7) 7 Tage pro Woche Politisches Wissen: Wahlrechtsgrundsätze Bei demokratischen Wahlen gibt es bestimmte Grundsätze. Ich nenne Ihnen jetzt einige davon. Sagen Sie mir bitte jeweils, welche der aufgeführten Bedeutungen richtig ist. Sie brauchen mir nur den Buchstaben zu nennen. Wenn Sie eine Antwort nicht wissen, sagen Sie das bitte einfach, dann gehen wir weiter zur nächsten Frage. (A) Was bedeutet der Begriff "geheime Wahl"? (1) Man darf nicht darüber sprechen, wen oder was man gewählt hat (2) Es darf nicht veröffentlicht werden, wen oder was bestimmte Gruppen in der Bevölkerung gewählt haben (3) Es darf nicht kontrollierbar sein, wen oder was der einzelne Bürger gewählt hat (B) Was bedeutet der Begriff "gleiche Wahl"? (1) dass die Stimme von jedem Wähler gleich viel zählt (2) Dass alle Parteien die gleichen Chancen im Wahlkampf bekommen (3) Dass alle Parteien gleich viele Kandidaten aufstellen (C) Was bedeutet der Begriff "freie Wahl"? (1) Dass man zwischen verschiedenen Parteien bzw. Kandidaten auswählen kann (2) Dass man der Partei, die man wählen will, beliebig viele Stimmen geben kann (3) Dass der Bundeskanzler frei entscheiden kann, wann Bundestagswahlen sind Politisches Wissen: Erst-/Zweitstimme Bei der Bundestagswahl ist es so, dass der Wähler zwei Stimmen hat, eine Erststimme und eine Zweitstimme. Was ist eigentlich die wichtigere Stimme, die letztlich über die Stärke der Parteien im Bundestag entscheidet? (1) Die Erststimme, (2) die Zweitstimme oder sind (3) beide hierfür gleich wichtig? Politisches Wissen: Mehrheit Bundesrat Wissen Sie zufällig, wer zur Zeit im Bundesrat die Mehrheit hat? Sind das (1) die SPD-geführten Länder (2) die CDU/CSU-geführten Länder (3) oder hat keine Partei die Mehrheit?

Charakteristika und Motive der Stimmensplitter bei der Bundestagswahl 2005

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Schulbildung Welchen allgemeinbildenden Schulabschluss haben Sie, oder haben Sie einen Hoch- bzw. Fachhochschulabschluss? (1) Bin noch Schüler(in) (2) Schule beendet ohne Abschluss (3) Volks- / Hauptschulabschluss bzw. Polytechnische Oberschule mit Abschluss 8.oder 9. Klasse (4) Mittlere Reife, Realschulabschluss bzw. Polytechnische Oberschule mit Abschluss 10. Klasse (5) Abitur, EOS - Erweiterte Oberschule mit Abschluss 12. Klasse, Fachhochschulreife (6) Abgeschlossenes Studium an Hoch- oder Fachhochschule, Universität, Polytechnikum Alter Würden Sie mir bitte sagen, in welchem Monat und in welchem Jahr Sie geboren sind? Erinnerung an Namen der Wahlkreiskandidaten Können Sie sich noch an die Namen von einem oder vielleicht sogar mehreren der hiesigen Wahlkreiskandidaten oder Kandidatinnen erinnern, und können Sie mir sagen, für welche Partei sie bei der Bundestagswahl am 18. September angetreten sind? (1) ja (2) nein Skalometer zur Einschätzung der Wahlkreiskandidaten Und sagen Sie mir bitte, ob Sie viel oder nicht so viel von {Name Kandidat/-in} halten. Bitte benutzen Sie dafür die Skala von 1 bis 11. 1 bedeutet, dass Sie nicht viel von dem Politiker oder der Politikerin halten und 11 bedeutet, dass Sie sehr viel von ihm oder ihr halten. Mit den Werten dazwischen können Sie Ihr Urteil abstufen. (A) SPD-Kandidat/-in (B) CDU/CSU-Kandidat/-in (C) FDP-Kandidat/-in (D) Bündnis 90/Die GrünenKandidat/-in (E) PDS.Linkspartei-Kandidat/-in Kanzlerpräferenz Wen hätten Sie lieber als Bundeskanzler, Gerhard Schröder oder Angela Merkel? (1) Gerhard Schröder (2) Angela Merkel (3) Spontan: keinen von beiden Politikerskalometer Und was halten Sie - ganz allgemein - von den folgenden Politikerinnen bzw. Politikern? Sagen Sie es mir bitte wieder mit Hilfe des Thermometers. +5 bedeutet, dass Sie sehr viel von der Politikerin bzw. dem Politiker halten. -5 bedeutet, dass Sie überhaupt nichts von der Politikerin bzw. dem Politiker halten. Mit den Werten dazwischen können Sie Ihre Meinung abgestuft sagen. (A) Was halten Sie von Gerhard Schröder? (B) Und was halten Sie von Angela Merkel? (C) Und was von Joschka Fischer? (D) Und was halten Sie von Guido Westerwelle? (E) Und was halten Sie von Gregor Gysi? (F) Und was von Oskar Lafontaine? Bildung der Bundesregierung Wenn Sie ganz allein darüber entscheiden könnten: Welche Partei bzw. welche Parteien sollten Ihrer Meinung nach die Bundesregierung bilden? (1) SPD (2) CDU/CSU (3) Bündnis 90/Die Grünen (4) FDP (5) Die Linke.PDS (6) NPD (7) andere, und zwar Quelle: Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“.

Eine Betrachtung der Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2005 auf Basis von Rational-ChoiceKonzepten Eine Betrachtung der Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2005

David Johann

1.

Einführung

Die Beteiligung an Wahlen gilt als die zentrale politische Partizipationsform in parlamentarischen Demokratien. Wahlen sind für die Bürger die bedeutendste Möglichkeit, politisch Einfluss zu nehmen. Für die meisten Bürger sind sie gar der einzige Anlass, aktiv in das politische Leben einzugreifen. Daher erfahren die gesunkenen Wahlbeteiligungsraten der letzten Jahre in der Bundesrepublik Deutschland große Aufmerksamkeit. An der Bundestagswahl 2005 beteiligten sich 77.7 Prozent der Wahlberechtigten. Damit wurde der bisherige Tiefstwert von 77.8 Prozent aus dem Jahre 1990 unterboten und ein neuer Negativrekord in der Geschichte der Wahlen zum Deutschen Bundestag aufgestellt. Auffällig ist, dass die Wahlbeteiligung in Ostdeutschland wie in den Jahren zuvor deutlich unter der in Westdeutschland lag (vgl. Tabelle 1). Tabelle 1: Die Wahlbeteiligung bei den Bundestagswahlen 1949 bis 2005 (in Prozent der Wahlberechtigten) 1949

1953

1957

1961

1965

1969

1972

1976

78.5

86.0

87.8

87.7

86.8

86.7

91.1

90.7

1980 1983 Gesamt West 88.6 89.1 Ost Quelle: Statistisches Bundesamt.

1987

1990 77.8 78.6 74.5

1994 79.0 80.5 72.6

1998 82.2 82.8 79.9

2002 79.1 80.6 72.8

2005 77.7 78.5 74.3

West

84.3

In der wissenschaftlichen Diskussion ist umstritten, ob die gesunkene Wahlbeteiligung als Krise der Demokratie oder als Zeichen der Normalisierung zu deuten ist. Diejenigen, die sinkende Beteiligungsraten als Krisenphänomen ansehen, interpretieren sie als Signal für politische Unzufriedenheit. Als Motive für die Enthaltung bei der Wahl ließen sich politischer Protest, Misstrauen gegenüber der politischen Klasse sowie als fehlend wahrgenommene Einflussmöglichkeiten identifizieren (z.B. Feist 1992). Vertreter der Normalisierungsthese argumentieren hingegen, dass die Beteiligung bei Bundestagswahlen historisch bedingt im internationalen Vergleich über Jahre überdurchschnittlich hoch ausfiel und sich nun eine Angleichung vollzieht (dazu z.B. Roth 1992). Im Folgenden werden zunächst Ansätze zur Erklärung der Wahlteilnahme bzw. Wahlenthaltung dargelegt. Es folgt die Vorstellung der Datenbasis und die Operationalisierung möglicher Einflussgrößen der Wahlbeteiligung sowie die Formulierung von Hypothesen

Eine Betrachtung der Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2005

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auf Basis von Rational-Choice-Konzepten. Die beabsichtigte bzw. berichtete Wahlbeteiligung fällt in Umfragen stets höher aus als die faktische. Daher wird anschließend auf die Überschätzung der Wahlbeteiligung und mögliche Verzerrungen eingegangen, bevor die Wahlbeteiligung bi- und multivariat analysiert wird. Abschließend erfolgt eine Diskussion über Erklärungsfaktoren.

2.

Ansätze zur Erklärung der Wahlbeteiligung

Als Triebfeder für die Wahlbeteiligung bzw. umgekehrt als Ursache für die Nichtwahl kommen viele Faktoren in Frage. Der mikrosoziologische Erklärungsansatz verknüpft über ein Interaktionsmodell die soziale Position einer Person mit dem Wahlverhalten. Er unterstellt, dass sich individuelles Verhalten an die in der sozialen Umgebung vorherrschenden Verhaltensweisen anpassen. Durch Mechanismen der sozialen Kontrolle gehorchten Mitglieder den in der Gruppe dominierenden (Wahl-)Normen. Eine Stimmabgabe würde umso wahrscheinlicher, je mehr (partei-)politisch homogenen, gleichgerichteten Gruppen ein Wahlberechtiger angehört. Umgekehrt wird angenommen, dass Personen, die konträren politischen Normen, so genannten Cross-Pressures, ausgesetzt sind, keine oder lediglich schwache parteipolitische Einstellungen aufweisen und insbesondere bei geringem politischem Interesse zur Stimmenthaltung neigen (vgl. Lazarsfeld et al. 1968). Sowohl Kirchenals auch Gewerkschaftsbindung sind dabei zentral. Diese Annahme lässt sich für die BRD jedoch nicht bestätigen – im Gegenteil: Die Wahrscheinlichkeit der Wahlbeteiligung steigt bei Zugehörigkeit zu heterogenen Gruppen (Falter/Schumann 1994; Kleinhenz 1995). Für die Erklärung dieses Sachverhalts vermutet Renz (1997) zum einen, dass Verhaltenserwartungen, die sich aus der Mitgliedschaft in einer sozialen Gruppe ergeben, an Bedeutung verloren haben, sowie zum anderen, dass sie von den Wählern nicht mehr als disparat wahrgenommen werden. Darüber hinaus betont er einen grundsätzlich wahlbeteiligungsfördernden Effekt der sozialen Integration, unabhängig davon, ob es sich um eher homogene oder eher heterogene Gruppenzugehörigkeiten handelt. Die dem sozialpsychologischen Ansatz zugerechneten Merkmale hängen stärker mit der Wahlteilnahme zusammen als die soziologischen Einflussgrößen. Das sozialpsychologische Modell der Michigan-School sieht die individuelle Wahlentscheidung in einem Spannungsfeld von langfristig stabiler Parteiidentifikation und kurzfristig wandelbaren Positionen zu politischen Issues und Kandidaten (Campbell et al. 1960). Die genannten Einflussgrößen können für die Erklärung der Wahlbeteiligung herangezogen werden, da die individuelle Wahlbeteiligung als Teil der Wahlentscheidung betrachtet wird. Die Vertreter des sozialpsychologischen Ansatzes identifizieren langfristig stabile Einstellungsdimensionen als bedeutende Ursachen für die Wahlbeteiligung: die sogenannten Civic Orientations. Diese Größen sind per Definition von der aktuellen politischen Ereignislage weitgehend unabhängig. Man wählt, da man im Laufe der individuellen Sozialisation ein Set an Einstellungen erworben hat, welches zur individuellen psychologischen Verbundenheit mit dem politischen System beiträgt und infolgedessen die Wahlbeteiligung sehr wahrscheinlich werden lässt. Empirisch erweist sich hierbei die Parteiidentifikation, verstanden als langfristige, stabile psychologische Bindung an eine Partei, als eine der stärksten Erklärungsgrößen. Welcher Partei man sich verbunden fühlt, ist dabei eher unbedeutend, weitaus

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wichtiger ist, dass überhaupt eine Parteiidentifikation vorliegt und wie intensiv sie ist (vgl. Völkl 2007). Ein dritter etablierter Theoriestrang fasst Wahlverhalten als Folge rationaler Entscheidungen auf. Nach der Theorie des rationalen Wählens sind weder die sozialstrukturelle Determiniertheit noch eine ausgeprägte Parteiidentifikation für die Wahlteilnahme ausschlaggebend. Im Zentrum steht vielmehr das subjektive Kosten-Nutzen-Kalkül mündiger Bürger. Dementsprechend wird sich ein Wahlberechtigter nur dann an einer politischen Wahl beteiligen, wenn ihm die relativen Vorteile des Wählens größer erscheinen als die relativen Vorteile der Wahlenthaltung. Ausgangspunkt der ökonomischen Theorie des Wählens ist der individuelle Wohlfahrtsnutzen, d.h. der Nutzen, den ein potentieller Wähler durch die Handlungen der Regierung erhält. Downs (1957) betrachtet Wählen als Zukunftsinvestition. Der Nutzen bestehe darin, dass der von einem Wähler gewählte Akteur aus Sicht des Wählers eine im Vergleich zu anderen Akteuren für seine individuelle Lage bessere Politik betreibe. Voraussetzung für die Wahlbeteiligung sei demnach also unmittelbar, dass sich die zur Wahl stehenden Akteure in den Augen des Wählers unterscheiden. Andernfalls wäre es für den Wähler unerheblich, welcher Akteur die Wahl gewinnt und die Regierung stellt. Zur Ermittlung seiner Entscheidung bilde der Wähler ein so genanntes Parteiendifferenzial. Diese Wahrnehmung von Unterschieden zwischen den zur Wahl stehenden Akteuren allein reicht nach Downs jedoch nicht aus, um die Teilnahme an einer Wahl erklären zu können. Nur wenn ein potentieller Wähler auch den Eindruck habe, er kann entscheiden, welcher Akteur die Regierung stellt, seien die entsprechenden Unterschiede handlungsrelevant. Da die einzelne Wählerstimme in aller Regel nur äußerst geringen Einfluss auf den Wahlausgang hat und sich der Wahlberechtigte selbst bei einem Erfolg der aufgrund seines Parteiendifferenzials präferierten Partei nicht sicher sein kann, ob er den gewünschten Gegenwert erhält, stelle sich für den rationalen Wahlberechtigten die Frage, warum er sich überhaupt an der Wahl beteiligen soll. Ein Nutzen scheine kaum erkennbar. Hinzu kämen Kosten, die mit der Wahlentscheidung verbunden sind: Entscheidungskosten der Informationenbeschaffung und Opportunitätskosten dadurch, dass der Wahlakt selbst Zeit benötigt. Unter diesen Voraussetzungen scheint die Entscheidung zur Wahlenthaltung als rational. Die tatsächlich gemessene Wahlbeteiligung steht dazu aber im offensichtlichen Widerspruch. Im Bewusstsein dieses „Wahlparadoxons“ postuliert Downs daher einen vom konkreten Wahlausgang unabhängigen Nutzen des Wählens: einen langfristigen Wohlfahrtsgewinn durch Erhaltung des demokratischen Systems. Für Bürger bestehe eine Pflicht, die Demokratie durch die Wahlbeteiligung zu bewahren (Downs 1957; Riker/Ordeshook 1968). Diese Lösung des Wahlparadoxons ist insofern problematisch, als der individuelle Wohlfahrtsnutzen „Bestand des demokratischen Systems“ ein Kollektivgut ist. Somit besteht die Gefahr des Trittbrettfahrens, denn selbst wenn ein Wahlberechtigter nichts zum Erhalt der Demokratie beiträgt, kann er vom Nutzen ihrer Existenz profitieren (Olson 1965). Eine Lösung dieses Kollektivgutproblems bietet Coleman (1990): Internalisierte Beteiligungsnormen führten zur Wahlteilnahme. Anders ausgedrückt: Um Missfallensäußerungen durch andere Personen zu entgehen und einem schlechten Gewissen vorzubeugen, zögen es die meisten Wahlberechtigten vor, sich an der Wahl zu beteiligen. Diese Wahlbeteiligungsnorm wird aber unabhängig davon erfüllt, für welchen Akteur der Wähler votiert. Um Informationskosten zu sparen und nicht ermitteln zu müssen, welcher Akteur mutmaßlich der persönlichen Wohlfahrt am ehesten dient, ist es für den Wähler

Eine Betrachtung der Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2005

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rational, sich zufällig für irgendeine Partei zu entscheiden. Somit ist im Rahmen des Rational-Choice-Ansatzes zwar die Wahlbeteiligung erklärbar, nicht aber die Entscheidung unter den zur Wahl stehenden Akteuren. Eine Lösung dieses Problems wiederum bieten Brennan und Lomansky (1993). Sie vertreten das Konzept des expressiven Wählens. Demnach ist die individuelle Wahlentscheidung zu einem großen Teil expressiv und nicht instrumentell motiviert. Im Gegensatz zur instrumentellen Komponente, welche darin besteht, durch eine Handlung ein Handlungsziel zu erreichen und dadurch die eigene Lage zu optimieren, besteht die expressive Komponente im Ausdrücken einer bestimmten Präferenz und dient der Erhaltung bzw. Verstärkung des individuellen Selbstwertgefühls. Sie zielt somit eher auf normativ-ideologische Gesichtspunkte. Der Nutzen expressiven Handelns besteht also in der Handlung selbst und nicht im Ergebnis, d.h. der Wahlerfolg des favorisierten Akteurs ist erwünscht, aber keineswegs notwendig. Nach Brennan und Lomansky kann der expressive Nutzen durchaus auch gegen persönliche ökonomische Interessen gerichtet sein (vgl. auch Lindenberg 1989; Kaempfer/Lowenberg 1993; Esser 1996). Durch die Einführung einer expressiven Nutzenkomponente wird die Deutung des Wählens als rein ökonomische Investitionsentscheidung verworfen, die Vorstellung eines egoistischen, rein instrumentellen Nutzenmaximierens um nicht-ökonomische Nutzenargumente ergänzt und folglich der Nutzen der Wahlbeteiligung gegenüber der Nichtwahl erhöht. Bei hinreichend genauer Erfassung des instrumentellen und des expressiven Nutzens, den Entscheidungs- und Opportunitätskosten sowie der Wahlnorm sollte eine Erklärung der Wahlbeteiligung im Rahmen des Rational-Choice-Modells möglich sein (vgl. auch Kühnel/Fuchs 1998).

3.

Datenbasis, Operationalisierung und Hypothesen

Für die folgende, auf Umfragedaten basierende Analyse der Wahlbeteiligung bei der Bundestagwahl 2005 wird neben der Nachwahlstudie „Bürger und Parteien“ auch eine Vorwahlstudie genutzt („Bundestagswahl 2005 Kampagnendynamik“, ZA-Nr.: 4302). Da für die folgende Untersuchung nur interessiert, ob jemand zu wählen beabsichtigt bzw. gewählt hat oder nicht, werden die abhängigen Variablen dichotomisiert. Die Vorwahlstudie erfragt die Beteiligungswahrscheinlichkeit. Respondenten, die angaben, wahrscheinlich nicht oder bestimmt nicht zur Wahl zu gehen, wird der Wert 0 zugeordnet, Respondenten, die berichteten, bestimmt zur Wahl zu gehen, wahrscheinlich zur Wahl zu gehen oder bereits per Briefwahl teilgenommen zu haben, der Wert 1. Respondenten, welche die Beteiligungswahrscheinlichkeit mit „vielleicht“ klassifizierten, werden aus der Untersuchung ausgeschlossen, da sie nicht eindeutig zugeordnet werden können. In der Nachwahlstudie wird die Wahlbeteiligung direkt erfragt. Diese Variable wird für die folgende Analyse so recodiert, dass der Ausprägung „habe nicht gewählt“ der Wert 0 zugeordnet wird und der Ausprägung „habe gewählt“ der Wert 1. Respondenten, die angaben, ungültig gewählt zu haben, werden aus der Untersuchung ausgeschlossen.

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Übersicht 1: Abhängige Variablen Fragetext in der Vorwahlstudie Wenn Wahlen stattfinden, geben viele Leute ihre Stimme ab, andere kommen nicht dazu, ihre Stimme abzugeben, oder nehmen aus anderen Gründen nicht an der Wahl teil. Nun findet am 18. September die nächste Bundestagswahl statt, wie ist es da bei Ihnen? Werden Sie da (1) bestimmt zur Wahl gehen, (2) wahrscheinlich zur Wahl gehen, (3) vielleicht zur Wahl gehen, (4) wahrscheinlich nicht oder (5) bestimmt nicht zur Wahl gehen? (7) bereits Briefwahl gemacht (8) weiß nicht (9) verweigert Fragetext in der Nachwahlstudie Nun direkt zur Wahl: Haben Sie bei der Bundestagswahl am 18. September gewählt oder haben Sie nicht gewählt? (1) habe gewählt (2) habe nicht gewählt (3) habe ungültig gewählt (8) weiß nicht (9) verweigert Quellen: Vorwahlbefragung „Bundestagswahl 2005 Kampagnendynamik“, Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“.

Tabelle 2: Verteilungen der abhängigen Variablen Vorwahl Prozent Nachwahl Prozent (1) bestimmt zur Wahl gehen 79.6 (1) habe gewählt 87.5 (2) wahrscheinlich zur Wahl gehen 8.4 (2) habe nicht gewählt 11.7 (3) vielleicht zur Wahl gehen 3.1 (3) habe ungültig gewählt 0.4 (4) wahrscheinl. nicht zur Wahl gehen 1.4 (8) weiß nicht 0.0 (5) bestimmt nicht zur Wahl gehen 3.0 (9) verweigert 0.4 (7) bereits Briefwahl gemacht 4.1 (8) weiß nicht 0.5 (9) verweigert 0.0 Gesamt 100.0 100.0 N 3583 2540 Quellen: Vorwahlbefragung „Bundestagswahl 2005 Kampagnendynamik“, Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“.

Beide Datensätze enthalten darüber hinaus eine Reihe von Variablen, welche als Indikatoren für die Kosten- und Nutzenargumente der Wahlbeteiligung gedeutet werden können. Fragen nach der langfristigen Parteineigung oder auch die Parteiskalometer beziehen sich auf Unterschiede zwischen den Parteien. Die Variablen werden daher als Indikatoren für ein generelles Parteiendifferenzial betrachtet. Da sie aber auch auf normativ-ideologische Gesichtspunkte abstellen, werden sie gleichzeitig auch als expressive Nutzenkomponente angesehen (vgl. Kühnel/Fuchs 1998). Die Fragen nach der langfristigen Parteineigung werden jeweils in eine neue Variable überführt, die zwischen Respondenten ohne, mit einer sehr schwachen oder schwachen, einer mäßigen, einer starken und solchen mit einer sehr starken Parteiidenifikation unterscheidet. Was die Parteiskalometer betrifft, wird zunächst je Respondent der Mittelwert über alle Parteiskalometer hinweg gebildet, dann je Respondent und Partei ein Parteidifferenzial berechnet, indem jeweils die den einzelnen Parteien zugeordneten Werte vom Mittelwert subtrahiert werden, und schließlich wird aus diesen Differenzen ein Mittelwertindex gebildet. Der Index wird für die bivariaten Analysen so recodiert, dass eine Variable mit 5 Ausprägungen vorliegt, die Werte zwischen 1 und 5 annehmen kann. Je niedriger der Wert ist, desto geringer ist das generelle Parteiendifferenzial des Respondenten. Entsprechend der theoretischen Annahmen ist davon auszuge-

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hen, dass mit der Stärke der Parteineigung und der Größe des Parteiendifferenzials die Beteiligungsraten steigen. Als Indikator für ein Parteiendifferenzial kann bei der Vorwahlerhebung überdies ein Statement zu Unterschieden in der Politik der Parteien herangezogen werden: Die Respondenten sollten anhand einer 5er-Skala angeben, inwieweit die Aussage „Die Parteien unterscheiden sich in ihren Zielen so sehr, dass der Bürger klare Alternativen hat“ zutrifft. Für die Analyse wird die Variable so umgepolt, dass 0 „trifft überhaupt nicht zu“ und 4 „trifft voll und ganz zu“ bedeutet. Wiederum ist zu vermuten, dass Befragte, für die sich die Parteien bzw. ihre Politik unterscheidet, eher zur Wahlbeteiligung neigen, als Befragte die keine Unterschiede zwischen Parteien bzw. ihrer Politik feststellen. Eine weitere Nutzenkomponente, die sich als instrumentell im Sinne der Beeinflussung des Wahlausgangs und expressiv im Sinne eines generellen Nutzens des Wählens interpretieren lässt, ist die vermutete Wirkungswahrscheinlichkeit der eigenen Stimme. Sie wird in der Nachwahlstudie über die Zustimmung zum Statement „Bei Wahlen gehen so viele Leute wählen, dass es egal ist, ob ich zur Wahl gehe oder nicht“ ermittelt und für die Analyse so recodiert, dass die Ausprägung 0 für „es ist egal“ steht und der Wert 6 für „es ist nicht egal“. Respondenten, die die eigene Beteiligung als nicht egal einstufen, sollten sich eher an der Wahl beteiligen als ihr Pendant. Fragen nach dem generellen politischen Interesse, aber auch speziellere nach dem Interesse an der Wahl oder am Wahlkampf, sind Indikatoren dafür, dass sich ein Befragter intensiv mit Politik beschäftigt, daher eher politisch informiert sein sollte und dementsprechend weniger Entscheidungskosten anfallen. In beiden Studien wurden sowohl das generelle politische Interesse als auch das Interesse an der Wahl erhoben. Die Polungen der Variablen der Vorwahlstudie werden an die der Nachwahlstudie angepasst und die Variablen so recodiert, dass zwischen Respondenten mit 0=„kein“, 1=„wenig“, 2=„mittel“, 3=„ziemlich stark“ und 4=„sehr stark“ unterschieden wird. In der Nachwahlstudie wird in einer Fragebatterie zusätzlich das Interesse an Wahlkampfwerbung abgefragt, wobei die Respondenten jeweils angeben sollten, ob Interesse an den Formen Plakatwerbung, Fernsehwerbung, Radiowerbung, Flugblätter und Handzettel, Internetwerbung, Informationsstände sowie Wahlkampfveranstaltungen besteht oder nicht. Die sieben Variablen werden wie folgt recodiert: Die Ausprägung „interessiert nicht“ nimmt den Wert 0 an und die Ausprägung „interessiert“ den Wert 1. Anschließend wird ein Summenindex gebildet, der einen Range von 0 bis 7 hat. Niedrige Werte lassen auf kein bzw. geringes Interesse an Wahlkampfwerbung schließen, hohe Werte auf großes Interesse. Entsprechend der theoretischen Annahmen sollte mit dem Interesse die Beteiligungsrate steigen. Auch Fragen nach der Häufigkeit der Rezeption von Zeitungsartikeln, Fernsehsendungen und Internetseiten mit politischem Inhalt liefern Hinweise auf den politischen Informationsstand der Respondenten und damit auf die Entscheidungskosten. In der Nachwahlstudie liegt eine entsprechende Fragebatterie vor, die jeweils die Anzahl der Tage in der Woche erfragt, an denen sich die Respondenten im entsprechenden Medium informieren. Aus den Variablen wird ein Mittelwertindex gebildet, bei dem eine Ausprägung von 0 für „keine Rezeption politischer Themen“ steht und eine Ausprägung von 7 für „tägliche Rezeption in allen abgefragten Medien“. Wiederum ist zu vermuten, dass mit der Häufigkeit der Rezeption auch die Beteiligungsrate steigt. Ein weiterer Faktor politischer Involvierung ist das politische Wissen. Für Wahlberechtigte, die über großes politisches Wissen verfügen, fallen weniger Informations- und in

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der Folge geringere Entscheidungskosten an als für ihr Pendant mit einem geringeren Wissensstand. Somit ist davon auszugehen, dass die Beteiligungsraten unter den politisch Informierten höher sind als unter den politisch Uninformierten. Gleichzeitig kann es aber sein, dass subjektiv für richtig gehaltene, objektiv jedoch falsche Kenntnisse vorliegen, die in ähnlichem Ausmaß verhaltensrelevant und somit beteiligungsfördernd sein dürften. Das Bewusstsein fehlender Kenntnisse sollte dagegen tatsächlich beteiligungshemmend wirken und somit bei den entsprechenden Respondenten deutlich seltener zu Wahlbeteiligung führen. Aus diesem Grund wird bei den nachfolgenden Analysen nicht nur objektiv richtiges und objektiv unzutreffendes Wissen einbezogen, sondern mit den Optionen „weiß nicht/ keine Angabe“ auch subjektiv fehlendes Wissen. In der Nachwahlstudie wird das Wissen u.a. über die Wichtigkeit von Erst- und Zweitstimme, die Kenntnis über die Mehrheit im Bundesrat sowie über die Bedeutung der Wahlrechtsgrundsätze „geheim“, „gleich“ und „frei“ erfragt. Aus diesen fünf Wissensitems werden drei Summenindizes gebildet: (1) die Anzahl der falschen Antworten, (2) die Anzahl richtigen Antworten und (3) die Anzahl der „keine Angabe“- bzw. „weiß nicht“-Nennungen, jeweils mit einem Range von 0 bis 5. Aufgrund geringer Fallzahlen werden für die Analyse jeweils die Indexwerte 3 bis 5 zusammengefasst (vgl. das Kapitel „Politisches Wissen als Grundlage der Entscheidung bei der Bundestagswahl 2005“ in diesem Band). Politische Effektivität bezeichnet das Gefühl, in der Politik mitsprechen und Einfluss auf die Politik nehmen zu können. Zu unterscheiden sind eine internale Dimension, d.h. das Zutrauen in die eigene Einflussfähigkeit als Bürger und somit ebenfalls ein Faktor politischer Involvierung, und eine externale Dimension, d.h. die Bewertung der Offenheit der Politik für Einflussversuche der Bevölkerung (z.B. Craig/Niemi/Silver 1990; Vetter 1997). In der Vorwahlerhebung finden sich ein Indikator für die internale Efficacy-Dimension und zwei für die externale Efficacy-Dimension. Da die beiden externalen Efficacy-Variablen auf einen Faktor laden, werden sie zu einem Summenindex zusammengefasst, welcher für die bivariate Analyse in eine 5er-Skala überführt wird. In der Nachwahlstudie finden sich für die internale Dimension drei Items und für die externale zwei, die jeweils zu einem Summenindex zusammengefasst werden. Wie bei den Daten der Vorwahlerhebung, werden die Summenindizes für die bivariate Analyse in eine Skala von 1 bis 5 recodiert. Dabei steht der Wert 1 für ein geringes politisches Selbstbewusstsein bzw. geringe wahrgenommene Responsivität und der Wert 5 für ein großes politisches Selbstbewusstsein bzw. große vermutete Responsivität. Zu vermuten ist, dass die Beteiligungswahrscheinlichkeit bei starkem politischem Selbstbewusstsein bzw. großer Responsivität höher ist als bei geringem politischem Selbstbewusstsein bzw. geringer Responsivität. Auch Mitgliedschaften in Parteien, Bürgerinitiativen, Gewerkschaften oder Berufsvereinigungen sind Faktoren politischer Involvierung. Sie sollten die Chance erhöhen, dass über Politik gesprochen wird, politische Informationen ausgetauscht und vermittelt werden und ferner eine Beteiligungsnorm aktiviert wird. Während die Vorwahlstudie lediglich Gewerkschaftsmitgliedschaft erfragt, enthält die Nachwahlstudie eine Fragebatterie mit allen genannten Mitgliedschaften. Die Fragen werden jeweils so recodiert, dass dichotome Variablen vorliegen, die zwischen 0=„keine Mitgliedschaft“ und 1= „Mitgliedschaft“ unterscheiden. Aus den vier Fragen der Nachwahlstudie wird ein Summenindex mit einem Range von 0=„keine Mitgliedschaften“ bis 4=„Mitglied in allen Organisationen/Vereinigungen“ gebildet. Aufgrund geringer Fallzahlen bei drei, vier und fünf Mitgliedschaften wird der Summenindex für die Analyse so recodiert, dass nur zwischen Respondenten ohne

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Mitgliedschaft, mit einer Mitgliedschaft und mit mindestens zwei Mitgliedschaften unterschieden werden kann. Eng zusammen mit Faktoren politischer Involvierung hängt das Merkmal formale Bildung. Auch von formaler Bildung sollte ein positiver Effekt auf die Wahlbeteiligung ausgehen und dementsprechend eine Steigerung der Beteiligungswahrscheinlichkeit. Erklärt werden kann dies damit, dass formale Bildung Wahlberechtigte in die Lage versetzt, politische Informationen aufzunehmen und zu bewerten. Somit sollte die Wahrnehmung von Unterschieden zwischen den Parteien leichter fallen, die Entscheidungskosten sinken und somit der expressive und instrumentelle Nutzen des Wählens steigen (vgl. Kühnel 2001). Die Bildungsvariablen werden für die Vorwahl- und die Nachwahlstudie so recodiert, dass mindestens drei Kategorien vorliegen: Wähler mit keinem oder einem Volks- bzw. Hauptschulabschluss, solche mit mittlerer Reife bzw. Realschulabschluss und Wähler mit (Fach-) Hochschulreife. Für die Nachwahlstudie werden zusätzlich die Respondenten mit (Fach-) Hochschulabschluss ausgewiesen. Ein weiteres soziodemografisches Merkmal, welches Berücksichtigung finden sollte, ist das Alter. Viele Studien zeigen, dass die Wahlbeteiligung mit dem Alter zunächst ansteigt und dann bei sehr hohem Alter wieder sinkt. Zu erklären ist der kurvilineare Verlauf mit unterschiedlichen Kosten des Wählens in den verschiedenen Lebensphasen: Im Vergleich zu den mittleren Altersgruppen sind bei jüngeren die Opportunitätskosten hoch, da der Wahlakt mit der Freizeitgestaltung konkurriert. Bei Personen in sehr hohem Alter führen dagegen körperliche und mentale Schwächen zu hohen Opportunitätskosten. Darüber hinaus hängen die niedrigen Beteiligungsraten bei den jüngeren Wahlberechtigten mit geringem politischem Interesse, mit eher geringen Bindungen an politische Parteien sowie mit einer vergleichsweise schwach ausgeprägten Wahlbeteiligungsnorm zusammen (Falter/ Gehring 1998; Kühnel 2001). Für die bivariate Analyse wird das Alter auf fünf Kategorien recodiert: 18 bis 24 Jahre, 25 bis 34 Jahre, 35 bis 44 Jahre, 45 bis 59 Jahre und 60 Jahre und älter. Der parteiunabhängige, langfristige Nutzen der Wahlbeteiligung kann auch über die diffuse, grundsätzliche Unterstützung der politischen Ordnung erfasst werden. In der Nachwahlbefragung wird die Zustimmung zur Staatsidee der Demokratie erfragt, ein Indikator für die Wichtigkeit des Motivs, mit der Wahlbeteiligung die Demokratie zu stützen. Die 6stufige Skala wird aufgrund geringer Zellenbesetzungen bei den niedrigen Skalenwerten in eine 4er Skala recodiert, bei dem der Wert 1 „gegen die Idee der Demokratie“ bedeutet, der Wert 2 „etwas dafür“, der Wert 3 „ziemlich dafür“ und der Wert 4 „sehr dafür“. Die Nutzenargumente lassen sich nicht immer eindeutig zuordnen, so dass bei den nachfolgenden Analysen nicht geklärt werden kann, ob in erster Linie instrumentelle oder expressive Motive über die Wahlbeteiligung bestimmen.

4.

Die Überschätzung der Wahlbeteiligung in Umfragedaten

Die beabsichtigte bzw. berichtete Wahlbeteiligung ist in Umfragen stets höher als die faktische. Sie wird um fünf bis zehn Prozentpunkte überschätzt (vgl. Eilfort 1994; Falter/Schumann 1994; Kleinhenz 1998; Kühnel 2001). Auch die hier verwendeten Daten überschätzen die Wahlbeteiligung. Während bei der Nachwahlerhebung die gemessene Wahlbeteiligung in beiden Landesteilen um ca. 10 Prozentpunkte über der tatsächlichen liegt, ist die gemessene Wahlbeteiligung der Vorwahlerhebung insgesamt 17.3 Prozentpunkte höher als die

432

David Johann

faktische und der Unterschied in der Vorhersagegenauigkeit zwischen Ost- und Westdeutschland ist mit 3 Prozentpunkten verhältnismäßig groß (Tab. 3). Tabelle 3: Faktische und gemessene Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2005 Prozent

Faktische

1

Vorwahl

Nachwahl

Differenz VorwahlNachwahlFaktische Faktische West 78.5 95.5 88.4 17.0 9.9 Ost 74.3 94.3 85.5 20.0 11.2 Gesamt 77.7 95.3 87.8 17.3 10.1 Quellen: Statistisches Bundesamt, Vorwahlbefragung „Bundestagswahl 2005 Kampagnendynamik“, Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“.

Erklären lassen sich die Unterschiede vermutlich damit, dass viele Befragte vorgeben, sie beabsichtigen zu wählen bzw. hätten gewählt, obwohl sie es nicht tun. Um das als Overreporting bezeichnete Phänomen näher untersuchen zu können, müsste man die Nichtwähler nachträglich identifizieren, was aufgrund des Wahlgeheimnisses und Datenschutzes nicht möglich ist. Einige Studien lassen als verantwortliche Größe für Overreporting die soziale Erwünschtheit der Stimmabgabe vermuten, wobei für Deutschland gezeigt werden konnte, dass auf Overreporting das Alter, das Geschlecht, die Parteineigung, das politische Interesse und die Wahlnorm einen Einfluss ausüben – Merkmale also, von denen gleichzeitig ein wahlbeteiligungsförderlicher Effekt vermutet wird (vgl. Eilfort 1994; Bernstein et al. 2001; Cassel 2003; Caballero 2005). Folglich besteht die Gefahr, dass die Zusammenhänge zwischen den genannten Merkmalen und der Wahlbeteiligung überschätzt werden. Tabelle 4: Wahrscheinlichkeit der Wahlbeteiligung nach Region Prozent West Ost bestimmt zur Wahl gehen 79.8 80.4 wahrscheinlich zur Wahl gehen 8.2 8.7 vielleicht zur Wahl gehen 2.9 2.3 wahrscheinlich nicht zur Wahl gehen 1.3 1.7 bestimmt nicht zur Wahl gehen 2.9 3.7 bereits Briefwahl gemacht 4.4 2.6 weiß nicht 0.5 0.5 Gesamt 100.0 100.0 N 2771 644 Quelle: Vorwahlbefragung „Bundestagswahl 2005 Kampagnendynamik“.

Berlin 72.2 10.7 9.5 1.2 2.4 4.1 0.0 100.0 169

Gesamt 79.6 8.4 3.1 1.4 3.0 4.1 0.5 100.0 3584

Das Problem sozial erwünschten Antwortverhaltens gilt für beide Erhebungszeitpunkte gleichermaßen und erklärt somit nicht die Unterschiede zwischen Vorwahl- und Nachwahlerhebung. Dass die Wahlbeteiligung bei der Vorwahlerhebung in größerem Ausmaß überschätzt wird als bei der Nachwahlerhebung, könnte daran liegen, dass eine Reihe von Respondenten, die eine Wahlabsicht äußerten, tatsächlich zum Zeitpunkt der Befragung beabsichtigten zu wählen, sich aber dann der Stimme enthielten, z.B. weil sie in der Zwischenzeit von ihrer Wahlabsicht abrückten, verhindert waren oder andere Beschäftigungen vorzogen. Die Wahlbeteiligung in Ostdeutschland wird in deutlich größerem Ausmaß über1

Amtliches Endergebnis: Anteil der Wähler an den Wahlberechtigten nach Auszählung des Wählerverzeichnisses.

Eine Betrachtung der Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2005

433

schätzt als in Westdeutschland. Offenbar fanden Entscheidungsrevisionen in diesem Landesteil besonders häufig statt. Über die Gründe kann nur spekuliert werden; es lag jedenfalls nicht daran, dass sich die Befragten in den neuen Bundesländern einer Wahlteilnahme unsicherer waren, denn dies müsste sich in der bekundeten Wahrscheinlichkeit ihrer Wahlbeteiligung widerspiegeln, was nicht der Fall ist (vgl. Tab. 4). Die Daten der repräsentativen Wahlstatistik erlauben einen Vergleich der faktischen und der berichteten Beteiligungsraten nach Altergruppen und Geschlecht. Für die Vorwahlerhebung zeigt sich, dass die Differenzen bei den 18 bis 21 Jährigen und den über 70 Jährigen mit jeweils zwischen 21 und 22 Prozentpunkten eine ähnliche Größenordnung haben, die Differenzen zwischen den 22 und den 70 Jährigen aber sukzessive von über 27 auf 10 Prozentpunkte sinken, was ein Hinweis auf einen negativen Zusammenhang zwischen Overreporting und Alter ist und bei den folgenden Analysen zu einer Unterschätzung des Einflusses des Alters führen dürfte. Bei der Nachwahlbefragung ist dagegen keine eindeutige Tendenz erkennbar und die Differenzen schwanken stark zwischen den Altergruppen, so dass keine Richtung einer möglichen Verzerrung angegeben werden kann (vgl. Tab. 5). Tabelle 5: Faktische und gemessene Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2005 nach Altersgruppen Prozent

Faktische

2

Vorwahl

Nachwahl

Differenz VorwahlNachwahlFaktische Faktische 18-21 70.0 91.9 82.2 21.9 12.2 22-25 66.5 94.1 76.2 27.6 9.7 26-30 70.1 94.2 84.1 24.1 14.0 31-35 74.5 94.7 83.0 20.2 8.5 36-40 78.4 95.2 89.7 16.8 11.3 41-45 79.7 94.9 86.5 15.2 6.8 46-50 80.2 95.9 92.8 15.7 12.6 51-60 82.5 97.0 91.0 14.5 8.5 61-70 85.0 95.0 89.2 10.0 4.2 > 70 76.7 97.8 90.2 21.1 13.5 Gesamt 78.3 95.3 88.0 17.0 9.7 Quellen: Statistisches Bundesamt, Vorwahlbefragung „Bundestagswahl 2005 Kampagnendynamik“, Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“.

Tabelle 6: Faktische und gemessene Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2005 nach Geschlecht (in Prozent der Wahlberechtigten) Prozent

Differenz VorwahlNachwahlFaktische Faktische Männer 78.1 95.4 88.2 17.3 10.1 Frauen 78.5 95.2 87.5 16.7 9.0 Gesamt 78.3 95.3 87.9 17.0 9.6 Quellen: Statistisches Bundesamt, Vorwahlbefragung „Bundestagswahl 2005 Kampagnendynamik“, Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“.

2

Faktische

Vorwahl

Nachwahl

Repräsentative Wahlstatistik: Anteil der Wähler mit Stimm- und Wahlscheinvermerk im Wählerverzeichnis an den Wahlberechtigten.

434

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Was das Merkmal Geschlecht betrifft, lässt sich sagen, dass bei Männern die Wahlbeteiligung sowohl bei der Vorwahl- als auch bei der Nachwahlbefragung etwas stärker überschätzt wird als bei Frauen. Im Gegensatz zu den Differenzen bei den verschiedenen Altersgruppen sind die Unterschiede zwischen den Geschlechtern aber nur gering und dürften für die Analyse keine gravierenden Auswirkungen haben (vgl. Tab. 6).

5.

Ergebnisse der bivariaten Analysen

Im Folgenden werden die auf Basis von Rational-Choice-Konzepten herausgearbeiteten Hypothesen einer empirischen Überprüfung unterzogen. Erste Hinweise auf die Bedeutung der Kosten- und Nutzenargumente liefern bivariate Analysen. Zu den wahrgenommen Unterschieden zwischen den Parteien entsprechen die bivariaten Analysen weitgehend den Erwartungen, wobei die Zusammenhänge bei der Nachwahlbefragung deutlicher ausfallen als bei der Vorwahlerhebung. Wahlberechtigte ohne oder mit nur schwacher Parteineigung wählen seltener als solche mit einer starken oder einer sehr starken Parteineigung. Dieser Zusammenhang findet sich aber nicht gleichermaßen in beiden Landesteilen. Während bei der Nachwahlbefragung die Unterschiede in Ostdeutschland lediglich etwas geringer ausfallen als in Westdeutschland, weist bei der Vorwahlerhebung in Ostdeutschland die Gruppe der schwachen Parteiidentifikateure eine höhere Beteiligungsrate auf als die Gruppen der mäßigen oder starken Parteiidentifikateure. Beim kategorisierten Parteiendifferenzial dagegen sind die vermuteten Zusammenhänge im Osten deutlicher als im Westen. In der Vorwahlstudie wurden Reaktionen auf ein Statement erhoben, das ebenfalls auf wahrgenommene Unterschiede in der Politik der Parteien zielt. Respondenten, die deutliche Unterschiede zwischen den Parteien ausmachen, beteiligten sich in Deutschland deutlich öfter an Wahlen als solche, die keine Unterschiede sehen. Darüber hinaus sind aber keine eindeutigen Muster erkennbar. Die Befunde zum Zusammenhang der individuellen Einschätzung der Bedeutung der eigenen Stimme für den Wahlausgang und der Wahlbeteiligung entsprechen den Erwartungen: Mit der zugeschriebenen Bedeutung der individuellen Stimme steigt auch die Wahrscheinlichkeit der Wahlteilnahme. Allerdings steigen die Beteiligungsraten in Ostdeutschland nicht stetig mit der beigemessenen Bedeutung, sondern schwanken im mittleren Bereich der Skala. Die Wahrscheinlichkeit der Wahlteilnahme sollte steigen, je niedriger die Entscheidungskosten ausfallen. Gemäß der theoretischen Annahmen sind die Beteiligungsraten bei den politisch mittel und stark interessierten Respondenten deutlich höher als bei den nicht oder wenig interessierten. Dieses Muster findet sich bei der Vorwahl- und der Nachwahlbefragung, in beiden Landesteilen und sowohl beim allgemeinen politischen Interesse als auch beim Interesse am Bundestagswahlkampf und an der Bundestagswahl, wobei die Abstände bei letztgenannter Frage am deutlichsten ausfallen. Zwischen den ziemlich stark und sehr stark Interessierten sind alles in allem kaum Unterschiede erkennbar, teilweise weisen die ziemlich stark Interessierten gegenüber den sehr stark Interessierten sogar höhere Beteiligungsraten auf. Entscheidungskosten sollten auch dann niedriger sein und in der Folge die Wahlbeteiligung höher, wenn regelmäßig politische Informationen der Medien rezipiert werden.

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Auch diese Erwartung wird erfüllt: Unter den Respondenten, die nie oder nur sehr selten politische Informationen der Medien aufnehmen, finden sich die niedrigsten Beteiligungsraten, während sich die höchsten Beteiligungsraten in der oberen Hälfte der Skala finden, wobei allerdings ab einer bestimmten Informationshäufigkeit ein Sättigungseffekt zu beobachten ist. Mit objektivem politischem Wissen wurde ein weiteres Merkmal politischer Involvierung eingeführt. Mit der Anzahl richtiger Antworten steigt in beiden Landesteilen die Bereitschaft zur Wahlbeteiligung. Gleichzeitig ist eine abnehmende Frequenz bei bekundeten fehlenden Kenntnissen zu beobachten, wobei die Unterschiede in Westdeutschland größer sind als in Ostdeutschland. Unter Respondenten, welche die Wissensitems falsch beantworten, sind die Ergebnisse in beiden Landesteilen wenig eindeutig. Der Index der internalen Dimension politischer Effektivität liefert einen Hinweis darauf, dass sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland mit der Stärke des politischen Selbstbewusstseins die Bereitschaft zur Wahlteilnahme steigt. Die theoretischen Annahmen werden somit gestützt. Gleiches gilt für die Indizes der zugeschriebenen Responsivität. Sie zeigen jeweils deutliche Unterschiede zwischen den unteren und den oberen Skalenwerten. Die höchsten Beteiligungsraten finden sich aber teilweise nicht am oberen Rand der Skalen, sondern bei einem Indexwert von 4. Mitgliedschaften in Bürgerinitiativen, Parteien, Berufsvereinigungen und Gewerkschaften fördern in beiden Landesteilen die Bereitschaft, sich an Wahlen zu beteiligen. Sind die Unterschiede in der Vorwahlerhebung marginal, liefert der Summenindex der Nachwahlbefragung einen eindeutigen Hinweis darauf, dass mit Mitgliedschaften in politiknahen Organisationen eine Beteiligungsnorm aktiviert wird. Tabelle 7: Korrelate der Wahlbeteiligung

Alle Wähler Parteiidentifikation keine schwache mäßige starke sehr starke Cramers V Parteiendifferenzial (kategorisiert) (1) schwach (2) (3) (4) (5) stark Cramers V

Beteiligungsrate (in Prozent) Vorwahlbefragung Nachwahlbefragung West Ost Gesamt West Ost Gesamt 95.5 94.3 95.3 88.4 85.5 87.8 91.5 75.0 96.0 97.7 99.4 0.19**

86.5 100.0 96.0 99.3 100.0 0.24**

90.8 77.4 95.7 98.1 99.3 0.19**

73.9 60.0 90.7 95.1 98.1 0.30**

74.8 86.4 84.2 94.5 98.7 0.25**

74.0 68.2 89.4 95.0 97.9 0.28**

88.1 95.5 96.5 98.8 90.8 0.14**

89.2 92.1 97.0 98.6 100.0 0.14**

88.9 94.9 96.2 98.8 92.3 0.12**

57.9 79.9 93.3 94.9 96.6 0.28**

43.5 81.6 89.3 91.7 100.0 0.25**

55.4 80.1 92.5 94.2 97.5 0.27**

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Tabelle 7: Korrelate der Wahlbeteiligung (Fortsetzung) West Parteien unterscheiden sich in ihren Zielen so sehr, dass der Bürger klare Alternativen hat: trifft... überh. nicht zu eher nicht zu teils zu eher zu voll und ganz zu Cramers V Bei Wahlen gehen so viele Leute wählen, dass es egal ist, ob ich zur Wahl gehe oder nicht: trifft... (0) voll und ganz zu (1) (2) (3) (4) (5) (6) überhaupt nicht zu Cramers V Politisches Interesse allgemein kein wenig mittel ziemlich stark sehr stark Cramers V Interesse Bundestagswahl kein wenig mittel ziemlich stark sehr stark Cramers V Interesse am Wahlkampf kein wenig mittel ziemlich stark sehr stark Cramers V Interesse an Wahlkampfwerbung (Index) (0) (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) Cramers V

90.8 95.0 98.1 92.8 98.3 0.13**

71.8 89.0 98.2 98.5 95.0 0.29**

70.8 90.8 97.6 98.3 98.3 0.32**

Vorwahlbefragung Ost Gesamt

92.2 94.8 93.6 100.0 91.3 0.10

68.9 89.0 97.6 97.8 98.8 0.34**

64.2 88.8 97.9 98.9 100.0 0.43**

West

Nachwahlbefragung Ost Gesamt

91.1 95.3 96.8 94.1 97.0 0.09**

71.6 89.2 97.7 98.5 96.1 0.29**

52.4 69.0 71.9 79.1 83.8 89.7 94.7 0.34**

43.2 56.5 79.5 72.4 71.2 87.1 95.6 0.41**

50.4 67.9 73.7 76.9 80.6 89.1 94.9 0.36**

45.1 78.4 89.6 96.6 95.0 0.36**

60.8 68.2 86.3 93.7 95.3 0.29**

48.8 76.6 88.9 96.0 95.3 0.34**

14.8 64.7 85.9 95.1 96.5 0.50**

27.8 52.8 83.8 94.3 95.3 0.48**

17.4 62.2 85.3 94.8 96.2 0.49**

74.2 91.7 90.9 92.7 94.2 96.8 98.6 93.6 0.26**

71.0 81.1 91.5 94.2 96.9 85.7 100.0 77.8 0.28**

73.5 89.7 91.0 92.9 95.0 94.0 99.0 91.2 0.26**

69.0 90.7 97.3 98.5 98.7 0.35**

Eine Betrachtung der Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2005

437

Tabelle 7: Korrelate der Wahlbeteiligung (Fortsetzung) West Häufigkeit Rezeption politischer Information (Index) (0) (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) Cramers V Wissen: Index falscher Antworten Drei bis fünf zwei eine keine Cramers V Wissen: Index k.A./w.n. Antworten drei bis fünf zwei eine keine Cramers V Wissen: Index richtiger Ant. keine eine zwei drei bis fünf Cramers V Internal Efficacy (singuläres Item bzw. Index) (1) (2) (3) (4) (5) Cramers V External Efficacy (Index) (1) (2) (3) (4) (5) Cramers V Mitgl. Gewerkschaft nein, bin kein Mitglied ja, bin Mitglied Cramers V Mitgliedschaften (Index) keine eine mindestens zwei Cramers V

Vorwahlbefragung Ost Gesamt

West

Nachwahlbefragung Ost Gesamt

34.8 63.0 80.7 87.4 94.5 93.2 100.0 100.0 0.33**

33.3 58.1 71.4 79.2 89.8 92.1 100.0 94.4 0.28**

33.3 62.6 79.7 85.5 93.5 92.9 100.0 100.0 0.31**

86.4 88.9 85.1 91.9 0.09**

81.1 84.6 87.3 86.8 0.06**

85.1 87.8 85.5 91.0 0.08**

39.1 65.4 83.3 92.2 0.27**

63.2 71.9 89.3 86.3 0.13**

45.0 66.4 84.4 90.0 0.24**

57.9 73.1 82.1 90.5 0.17**

33.3 82.7 81.1 87.3 0.17**

53.6 75.7 82.0 89.8 0.16**

79.4 94.6 96.6 96.4 94.4 0.14**

100.0 82.8 93.7 98.3 92.9 0.18**

84.6 92.6 95.6 96.9 94.5 0.11**

74.0 88.2 92.7 96.3 90.6 0.23**

78.4 84.3 90.8 95.9 95.1 0.19**

76.6 83.9 90.1 95.1 95.3 0.20**

84.8 97.1 98.1 97.6 94.8 0.23**

89.0 91.5 96.4 98.3 94.4 0.14*

86.3 96.3 97.3 97.9 93.7 0.19**

70.1 82.4 88.5 91.3 95.3 0.21**

76.4 86.7 90.4 92.3 91.3 0.16*

73.2 88.8 93.2 97.0 91.2 0.25**

95.3 96.0 0.01

93.7 97.5 0.06

95.1 96.2 0.02 86.1 96.2 98.6 0.14**

84.4 93.5 100.0 V: 0.10

85.7 95.9 98.9 0.13**

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Tabelle 7: Korrelate der Wahlbeteiligung (Fortsetzung) West Formale Bildung kein o.Volks-/Haupts. Mittlere Reife/ Reals. Abitur/Hochschulreife Hochschulabschluss Cramers V Alter 18-24 25-34 35-44 45-59 60 und älter Cramers V Staatsidee Demokratie dagegen etwas dafür ziemlich dafür sehr dafür Cramers V

Vorwahlbefragung Ost Gesamt

West

Nachwahlbefragung Ost Gesamt

93.7 96.9 97.9 0.09**

91.5 94.6 97.8 0.10

93.2 96.3 98.0 0.10**

84.0 91.6 94.7 95.3 0.15**

80.7 85.6 97.0 94.9 0.15**

83.5 89.5 94.9 95.1 0.14**

94.7 94.0 95.7 96.9 95.5 0.05

86.4 95.2 88.5 96.6 96.8 0.16**

92.4 94.6 94.7 96.7 95.9 0.06*

80.6 83.5 88.3 91.4 90.2 0.10**

78.0 79.8 86.8 92.5 86.0 0.14**

79.3 82.8 88.0 91.6 89.4 0.11**

71.4 73.9 84.5 92.9 0.20**

71.0 78.2 85.3 89.9 0.14**

70.5 74.9 84.8 92.1 0.19**

* auf dem Niveau von p <.05 und ** auf dem Niveau von p <.01 signifikant. Quellen: Vorwahlstudie „Bundestagswahl 2005 Kampagnendynamik“, Nachwahlstudie „Bürger und Parteien 2005“.

Auch von formaler Bildung geht alles in allem ein positiver Effekt auf die Wahlbeteiligung aus. In Gesamtdeutschland steigen sowohl bei der Vorwahl- als auch bei der Nachwahlerhebung die Beteiligungsraten mit der Bildung an. Allerdings findet sich dieses Muster nicht durchgehend in Ostdeutschland. Zum Alter werden frühere Ergebnisse bestätigt. Sind die Unterschiede bei der Vorwahlerhebung nur gering und bei einer Aufsplittung zwischen Ost und West nicht eindeutig, zeigt die Nachwahlerhebung, dass die Wahlbeteiligung zunächst mit dem Alter ansteigt und dann in hohem Alter wieder sinkt. Die niedrigsten Beteiligungsraten finden sich in beiden Erhebungen unter den 18-24Jährigen, die höchsten unter den 45-59Jährigen. Als eine langfristige Nutzenkomponente wurde die Zustimmung zur Idee der Demokratie in die Untersuchung aufgenommen. Es zeigt sich, dass die Wahlbeteiligung unabhängig vom Landesteil mit der Intensität der Zustimmung zur Idee der Demokratie steigt.

6.

Ergebnisse der multivariaten Analysen

Im Folgenden werden die bivariaten Befunde multivariat überprüft. Für eine multivariate Analyse der Wahlbeteiligung als dichotome, abhängige Variable bietet sich eine binäre logistische Regression an. Berechnet wird jeweils für die Vorwahl- und die Nachwahlerhebung ein schrittweises Modell mit einem Test auf Aufnahme für alle verwendeten Indikatoren der Kosten- und Nutzenargumente, der auf der Signifikanz der Wertestatistik beruht, und einem Test auf Ausschluss, der auf der Wahrscheinlichkeit der Waldstatistik beruht. Für politisches Wissen wird der Index fehlender Kenntnisse verwendet, da er bivariat die eindeutigsten Ergebnisse geliefert hat. Da nicht von einem linearen Alterseffekt ausgegangen wird, wird beim Indikator Alter jeweils statt der metrischen Variable Geburtsjahr die in

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Altersgruppen recodierte Variable in das Modell aufgenommen. Ratingskalen und Indizes werden als (quasi-)metrische Variablen behandelt (z.B. Jaccard/Wan 1996). Aus den kategorialen Variablen Parteineigung, formale Bildung und Alter bei beiden Erhebungen, Gewerkschaftsmitgliedschaft bei der Vorwahlerhebung sowie des auf drei Kategorien recodierte Mitgliedschaftsindexes, des Indexes fehlender Kenntnisse und der recodierten Zustimmung zur Staatsidee der Demokratie bei der Nachwahlerhebung werden mit der „Contrast“-Anweisung (SPSS 16) so Indikatorvariablen gebildet, dass jeweils die erste Kategorie eines Merkmals die Referenzkategorie darstellt. Nach Ausschluss der ungültigen Angaben beruht die Analyse der Wahlbeteiligung für Gesamtdeutschland bei der Vorwahlerhebung auf 2838 Fällen, die bei der Nachwahlerhebung auf 1961 Fällen. Tabelle 8: Vorwahlbefragung – logistische Regression

Wurden die Hypothesen bei den bivariaten Analysen weitgehend gestützt, bietet sich bei der logistischen Regression unter Einbezug der Variablen der Vorwahlerhebung ein anderes Bild. Während für Gesamtdeutschland die Parteiidentifikation, das Interesse am Wahlkampf, die externale Dimension der Efficacy, die formale Bildung sowie das Alter als Einflussgrößen auf einem 1-Prozent-Signifikanz-niveau identifiziert werden können, ist das allgemeine politische Interesse nur auf einem 5-Prozent-Niveau signifikant. Das kategorisierte Parteiendifferenzial, wahrgenommene Unterschiede zwischen den Parteien bzw. ihrer Politik, die internale Dimension der Efficacy oder die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft haben keinen signifikanten Einfluss auf die Chance, sich an der Wahl zu beteiligen. Dass

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weder das gebildete Parteiendifferenzial noch wahrgenommene Unterschiede der Parteien signifikanten Einfluss auf die Wahlbeteiligung haben, aber die Parteineigung, könnte dafür sprechen, dass Respondenten der Vorwahlerhebung bei der Abfrage der Stärke ihrer Parteiidentifikation nicht in erster Linie auf Unterschiede zwischen den Parteien abzielten, sondern entsprechend des sozialpsychologischen Ansatzes tatsächlich eher einer psychologischen Bindung Ausdruck verleihen, welche ab einer gewissen Stärke zur Wahlteilnahme motiviert (vgl. Tab. 8). Tabelle 9: Nachwahlbefragung – logistische Regression

Auch eine logistische Regression der Variablen der Nachwahlbefragung zeigt, dass keinesfalls alle der vermuteten Einflussgrößen tatsächlich die Wahlteilnahme determinieren. Le-

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diglich das Parteiendifferenzial, die individuelle Einschätzung der Bedeutung der eigenen Stimme, das politische Interesse an der Bundestagswahl, die Häufigkeit der Rezeption politischer Informationen und die externale Dimension politischer Effektivität haben auf einem 1-Prozent-Niveau signifikanten Einfluss auf die Wahlbeteiligung. Hinzu kommt ein Einfluss bekundeten fehlenden Wissens auf einem 5-Prozent-Signifikanzniveau (vgl. Tab. 9). Die Erklärungsleistungen beider Modelle sind für Gesamtdeutschland mit Pseudo-RQuadrat-Werten (Nagelkerke) von 0.34 bei der Vorwahlerhebung und 0.43 bei der Nachwahlerhebung gut. Die deutlichsten Verbesserungen der Vorhersageleistung werden bei der Vorwahlerhebung mit der Aufnahme des Interesses am Wahlkampf und der Parteiidentifikation erreicht. Bei der Nachwahlbefragung führen die individuelle Einschätzung der Bedeutung der eigenen Stimme und das Interesse an der Bundestagswahl zu den deutlichsten Steigerungen der Pseudo-R-Quadrat-Werte (nicht tab. ausgewiesen). Berechnet man die logistischen Regressionen getrennt für West- und Ostdeutschland (vgl. Tab 8 und 9), erhält man für die Daten der Nachwahlbefragung in beiden Landesteilen gleichermaßen Pseudo-R-Quadrat-Werte von 0.44. Analysen der Daten der Vorwahlerhebung führen hingegen zu deutlichen Unterschieden der Modellgüte. Während im Westen ein Pseudo-R-Quadrat von 0.32 erreicht wird, ergibt sich für Ostdeutschland ein Wert von 0.43. Was die Identifikation signifikanter Einflussfaktoren auf die Chance der Wahlbeteiligung betrifft, zeigen sich für Westdeutschland bei der Vorwahlerhebung Effekte der Parteiidentifikation, des allgemeinen politischen Interesses, des Interesses am Wahlkampf und der externalen Dimension der Efficacy, nicht aber der formalen Bildung und des Alters. Bei der Nachwahlbefragung haben das Parteiendifferenzial, die individuelle Einschätzung der Bedeutung der eigenen Stimme, das Interesse an der Bundestagswahl, das Bewusstsein fehlender politischer Kenntnisse und die externalen Efficacy einen signifikanten Effekt. Der Rezeptionsindex wirkt sich für Westdeutschland dagegen nicht signifikant aus. In Ostdeutschland bietet ein anderes Bild. Bei der Vorwahlerhebung hat nicht die Parteiidentifikation einen signifikanten Effekt, sondern das Parteiendifferenzial. Darüber hinaus findet sich neben einem Effekt der externalen Dimension der Efficacy lediglich noch ein signifikanter Effekt des Interesses im Wahlkampf. Und auch bei der Nachwahlbefragung unterscheidet sich Ostdeutschland deutlich von Westdeutschland. Lediglich das Parteiendifferenzial, die Häufigkeit der Rezeption politischer Informationen und die individuelle Einschätzung der Bedeutung der eigenen Stimmen haben einen auf einem 1-Prozent-Niveau signifikanten Effekt auf die Chance der Wahlbeteiligung. Darüber hinaus ist zu erkennen, dass sich die Chance der Wahlbeteiligung in Ostdeutschland bei den starken Parteiidentifkateuren im Vergleich zu Respondenten ohne Parteiidentifikation signifikant auf einem Niveau von p<.05 erhöht.

7.

Diskussion

Ob die gesunkene Wahlbeteiligung als Krise der Demokratie oder Zeichen der Normalisierung zu deuten ist, kann an dieser Stelle nicht abschließend beantwortet werden. Frühere Untersuchungen, welche die subjektiv empfundene Knappheit des Wahlausgangs in den Mittelpunkt rücken, kommen zu differierenden Ergebnissen. Einige zeigen, dass die Bedeutung der eigenen Stimme von einer Mehrheit eher als gering wahrgenommen wird (Blais/ Young 1996, 1999; Blais 2000), andere kommen zu dem Ergebnis, dass ein großer Teil der

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Befragten den Einfluss der eigenen Stimme als hoch einschätzt (Kühnel/Fuchs 1998; Arzheimer/Klein 2000; Klein 2002). Die vorliegende Nachwahlstudie stützt letztgenannte Resultate. Etwa vier Fünftel der Wahlberechtigten glaubt, es sei nicht egal, ob sie zur Wahl gehen oder nicht. Und mit der vermuteten Wirkungswahrscheinlichkeit der eigenen Stimme steigt die Chance der Wahlteilnahme. Auf der anderen Seite wird die Responsivität in beiden Erhebungen von einem Großteil der Respondenten als eher gering eingestuft (Vorwahl: 46.4 Prozent; Nachwahl: 57.5 Prozent). Gleichzeitig konnte sie hier aber als bedeutender Einflussfaktor für die Wahlteilnahme respektive Wahlenthaltung identifiziert werden. Somit finden sich sowohl Hinweise, die gegen eine Interpretation des Rückgangs der Wahlbeteiligung als Enttäuschung über ineffektive Beteiligungsmöglichkeiten und somit als Krisenphänomen sprechen, als auch Hinweise, die an der Normalisierungsthese zweifeln lassen. Die Erklärung der Wahlbeteiligung wird häufig als Schwäche des Rational-ChoiceAnsatzes angesehen. Tatsächlich eignen sich Konzepte des rationalen Wählens jedoch sehr gut, um nach Einflussfaktoren für die Wahlbeteiligung zu suchen. Es lassen sich eine ganze Reihe von Variablen identifizieren, die als Kosten- und Nutzenargumente gedeutet werden können und die mit der Wahlteilnahme korrelieren. Die berechneten multivariaten Modelle haben eine hohe Erklärungsleistung, wobei diese für Ostdeutschland tendenziell stärker ist als für Westdeutschland. Bei Kontrolle anderer Einflussfaktoren zeigt sich, dass die Chance der Wahlteilnahme mit wahrgenommenen Unterschieden zwischen den Parteien steigt. Die Entscheidung zur Wahlteilnahme kann dementsprechend als Zukunftsinvestition angesehen werden, was für eine instrumentelle Teilnahmemotivation spricht. Da beide Indikatoren auch normativideologische Gesichtspunkte beinhalten, sind der Einfluss von Parteineigung und Parteiendifferenzial gleichzeitig auch ein Hinweis auf die Bedeutung der von Brennan und Lomansky eingeführten expressiven Bestandteile der Teilnahmemotivation. Einen Anhaltspunkt dafür, dass instrumentelle und expressive Nutzenkomponenten als für die Wahlteilnahme zentral eingestuft werden können, liefern überdies die positiven Effekte der vermuteten Wirkungswahrscheinlichkeit der eigenen Stimme und der externalen Dimension der Efficacy. Die Dienlichkeit instrumenteller Teilnahmekostenargumente zeigt sich im Effekt des Interesses an der Bundestagswahl, des Interesses am Wahlkampf, der Häufigkeit der Rezeption politischer Informationen in den Medien sowie des Bewusstseins fehlender politischer Kenntnisse. So konnte gezeigt werden, dass auch bei Kontrolle anderer Einflussfaktoren mit höheren (wahrgenommen) Entscheidungskosten die Chance der Wahlteilnahme sinkt. Ein signifikanter Einfluss des Alters, der zumindest ansatzweise den formulierten Erwartungen entspricht, verweist ferner darauf, dass auch Opportunitätskosten für die Wahlteilnahme von Bedeutung sind.

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Anhang Übersicht 2: Unabhängige Variablen Fragetexte in der Vorwahlstudie Parteiidentifikation In Deutschland neigen viele Leute längere Zeit einer bestimmten politischen Partei zu, obwohl sie auch ab und zu eine andere Partei wählen. Wie ist das bei Ihnen: Neigen Sie – ganz allgemein gesprochen – einer bestimmten partei zu? Und wenn ja, welcher? (1) SPD (2) CDU (3) CSU (4) CDU/CSU (5) Bündnis 90/Die Grünen (6) FDP (7) Linkspartei/Die Linke (das Bündnis von PDS und WASG) (8) Andere Partei (9) Nein, keiner Partei Stärke Parteiidentifikation Wie stark oder schwach neigen Sie – alles zusammengenommen – dieser Partei zu? (1) sehr stark (2) ziemlich stark (3) mäßig (4) ziemlich schwach (5) sehr schwach Sympathieskalometer Parteien Und nun noch etwas genauer zu den Parteien. Stellen Sie sich einmal ein Thermometer vor, das aber lediglich von plus 5 bis minus 5 geht, mit einem Nullpunkt dazwischen. Sagen Sie bitte mit diesem Thermometer, was Sie von den einzelnen Parteien halten. +5 bedeutet, dass Sie sehr viel von der Partei halten; -5 bedeutet, dass Sie überhaupt nichts von der Partei halten. Mit den Werten dazwischen können Sie Ihre Meinung abgestuft sagen. Wenn Ihnen eine Partei nicht ausreichend bekannt ist, brauchen Sie diese natürlich nicht einzustufen. (A) Was halten Sie von der SPD? (B) Und was halten Sie von der CDU? (C) Und was halten Sie von der CSU? (D) Und was halten Sie von den Grünen? (E) Und was halten Sie von der FDP? (F) Und was halten Sie von der Linkspartei, dem Bündnis von PDS und WASG? Unterschiede zwischen Parteien Ich lese Ihnen jetzt einige Aussagen über die Parteien und die Politik in Deutschland vor. Sagen Sie mir bitte zu jeder Aussage, ob sie Ihrer Meinung nach (1) voll und ganz zutrifft, (2) eher zutrifft, (3) teils zutrifft, teils aber auch nicht, (4) eher nicht zutrifft oder (5) überhaupt nicht zutrifft. Hier ist die Aussage... Parteien unterscheiden sich in ihren Zielen so sehr, dass der Bürger klare Alternativen hat Politikinteresse allgemein Einmal ganz allgemein gesprochen: Wie stark interessieren Sie sich für Politik? (1) sehr stark (2) stark (3) mittel (4) wenig (5) überhaupt nicht? Interesse am Wahlkampf Und wie stark interessiert Sie speziell der gerade laufende Wahlkampf zur bevorstehenden Bundestagswahl? (1) sehr stark (2) stark (3) mittel (4) wenig (5) überhaupt nicht? Internal Efficacy Ich lese Ihnen jetzt einige Aussagen über die Parteien und die Politik in Deutschland vor. Sagen Sie mir bitte zu jeder Aussage, ob sie Ihrer Meinung nach (1) voll und ganz zutrifft, (2) eher zutrifft, (3) teils zutrifft, teils aber auch nicht, (4) eher nicht zutrifft oder (5) überhaupt nicht zutrifft. Hier ist die Aussage... Wichtige politische Fragen kann ich gut verstehen und einschätzen External Efficacy Ich lese Ihnen jetzt einige Aussagen über die Parteien und die Politik in Deutschland vor. Sagen Sie mir bitte zu jeder Aussage, ob sie Ihrer Meinung nach (1) voll und ganz zutrifft, (2) eher zutrifft, (3) teils zutrifft, teils aber auch nicht, (4) eher nicht zutrifft oder (5) überhaupt nicht zutrifft. Hier ist die Aussage... (A) Die Parteien wollen nur die Stimmen der Wähler, ihre Ansichten interessieren sie nicht (B) Egal was man wählt, es macht keinen Unterschied für das, was in der Politik passiert Gewerkschaftsmitgliedschaft Sind Sie selbst oder jemand anderer in Ihrem Haushalt Mitglied einer Gewerkschaft? (1) ja, selbst (2) ja, nur andere (3) ja, selbst und andere (4) nein

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Schulbildung Welchen höchsten allgemein bildenden Schulabschluss haben Sie? (1) Schule verlassen ohne Abschluss (2) Hauptschul-/Volksschulabschluss (3) Realschulabschluss/Mittlere Reife/Fachschulreife (4) Abschluss der Polytechnischen Oberschule 10. Klasse (vor 1965: 8. Klasse) (5) Abitur/allg. Hochschulreife/Fachhochschulreife (Gymnasium bzw. EOS, auch EOS mit Lehre) (6) Anderen Schulabschluss (7) noch in der Schule Alter In welchem Jahr sind Sie geboren? Fragetexte in der Nachwahlstudie Parteiidentifikation Viele Leute neigen in der Bundesrepublik längere Zeit einer bestimmten Partei zu, obwohl sie auch ab und zu eine andere Partei wählen. Wie ist das bei Ihnen: Neigen Sie - ganz allgemein gesprochen – einer bestimmten Partei zu? Wenn ja, welcher? (1) SPD (2) CDU (3) CSU (4) Bündnis 90/Die Grünen (5) FDP (6) Die Linke.PDS (7) NPD (8) andere (9) keine Partei Stärke Parteiidentifikation Wie stark oder wie schwach neigen Sie, alles zusammengenommen, dieser Partei zu? Neigen Sie ihr (5) sehr stark, (4) ziemlich stark, (3) mäßig, (2) ziemlich schwach oder (1) sehr schwach zu? Sympathieskalometer Parteien Und nun zu Ihrer allgemeinen Beurteilung von einzelnen Parteien und Politikern: Stellen Sie sich einmal wie auf diesem Blatt dargestellt - ein Thermometer vor, das aber lediglich von plus 5 bis minus 5 geht, mit einem Nullpunkt dazwischen. Sagen Sie bitte mit diesem Thermometer, was Sie von den einzelnen Parteien halten. +5 bedeutet, dass Sie sehr viel von der Partei halten. -5 bedeutet, dass Sie überhaupt nichts von der Partei halten. Mit den Werten dazwischen können Sie Ihre Meinung abgestuft sagen. (A) Zunächst zur SPD: Was halten Sie von der SPD? (B) Und von der CDU? (C) Und was halten Sie von der CSU? (D) Und vom Bündnis 90/Die Grünen? (E) Und von der FDP? (F) Und von der Linkspartei.PDS? (G) Und von der NPD? Vermutete Wirkungswahrscheinlichkeit der eigenen Stimme Bitte geben Sie zu jeder der folgenden Aussagen an, inwieweit Sie zutrifft. Der Wert 0 bedeutet "trifft überhaupt nicht zu", der Wert 6 bedeutet "trifft voll und ganz zu". Mit den Werten dazwischen können Sie Ihre Meinung abstufen. Bei Wahlen gehen so viele Leute wählen, dass es egal ist, ob ich zur Wahl gehe oder nicht. Politisches Interesse allgemein Wie stark interessieren Sie sich für Politik? Würden Sie sagen - (4) sehr stark, (3) ziemlich stark, (2) mittel, (1) wenig oder (0) überhaupt nicht? Politisches Interesse Bundestagswahl Am 18. September war ja Bundestagswahl. Wie stark haben Sie sich für diese Wahl interessiert? (4) sehr stark, (3) ziemlich stark, (2) mittel, (1) wenig oder (0) überhaupt nicht? Interesse Wahlkampf-Werbung Wenn Sie an den Wahlkampf vor der Bundestagswahl zurückdenken. Bitte sagen Sie mir zu jeder der folgenden Formen von Wahlwerbung im Bundestagswahlkampf, ob Sie das interessiert oder nicht. (A) Wie ist das mit Plakaten der Parteien? (B) Wie ist das mit Parteienwerbung im Fernsehen? (C) Wie ist das mit Parteienwerbung im Radio? (D) Wie ist das mit Flugblättern und Handzetteln der Parteien? (E) Wie ist das mit Werbung der Parteien im Internet? (F) Wie ist das mit Informationsständen der Parteien? (G) Wie ist das mit Wahlkampfveranstaltungen der Parteien? Häufigkeit Rezeption politischer Informationen (A) An wie vielen Tagen in der Woche lesen Sie im Durchschnitt Berichte über das politische Geschehen in einer Tageszeitung? (B) An wie vielen Tagen in der Woche sehen Sie Nachrichtensendungen im Fernsehen an? (C) Und an wie vielen Tagen in der Woche nutzen Sie das Internet, um politische Informationen zu suchen? (0) nie (0.5) weniger als einmal pro Woche (1) 1 Tag pro Woche (2) 2 Tage pro Woche (3) 3 Tage pro Woche (4) 4 Tage pro Woche (5) 5 Tage pro Woche (6) 6 Tage pro Woche (7) 7 Tage pro Woche

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Politisches Wissen: Wahlrechtsgrundsätze Bei demokratischen Wahlen gibt es bestimmte Grundsätze. Ich nenne Ihnen jetzt einige davon. Sagen Sie mir bitte jeweils, welche der aufgeführten Bedeutungen richtig ist. Sie brauchen mir nur den Buchstaben zu nennen. Wenn Sie eine Antwort nicht wissen, sagen Sie das bitte einfach, dann gehen wir weiter zur nächsten Frage. (A) Was bedeutet der Begriff "geheime Wahl"? (1) Man darf nicht darüber sprechen, wen oder was man gewählt hat (2) Es darf nicht veröffentlicht werden, wen oder was bestimmte Gruppen in der Bevölkerung gewählt haben (3) Es darf nicht kontrollierbar sein, wen oder was der einzelne Bürger gewählt hat (B) Was bedeutet der Begriff "gleiche Wahl"? (1) dass die Stimme von jedem Wähler gleich viel zählt (2) Dass alle Parteien die gleichen Chancen im Wahlkampf bekommen (3) Dass alle Parteien gleich viele Kandidaten aufstellen (C) Was bedeutet der Begriff "freie Wahl"? (1) Dass man zwischen verschiedenen Parteien bzw. Kandidaten auswählen kann (2) Dass man der Partei, die man wählen will, beliebig viele Stimmen geben kann (3) Dass der Bundeskanzler frei entscheiden kann, wann Bundestagswahlen sind Politisches Wissen: Erst-/Zweitstimme Bei der Bundestagswahl ist es so, dass der Wähler zwei Stimmen hat, eine Erststimme und eine Zweitstimme. Was ist eigentlich die wichtigere Stimme, die letztlich über die Stärke der Parteien im Bundestag entscheidet? (1) Die Erststimme, (2) die Zweitstimme oder sind (3) beide hierfür gleich wichtig? Politisches Wissen: Mehrheit Bundesrat Wissen Sie zufällig, wer zur Zeit im Bundesrat die Mehrheit hat? Sind das (1) die SPD-geführten Länder (2) die CDU/CSU-geführten Länder (3) oder hat keine Partei die Mehrheit? Internal Efficacy Bitte geben Sie zu jeder der folgenden Aussagen an, inwieweit Sie zutrifft. Der Wert 0 bedeutet "trifft überhaupt nicht zu", der Wert 6 bedeutet "trifft voll und ganz zu". Mit den Werten dazwischen können Sie Ihre Meinung abstufen. (A) Im allgemeinen weiß ich recht viel über Politik (B) Politische Fragen sind für mich oft schwer zu verstehen (C) Ich traue mir zu, in einer Gruppe, die sich mit politischen Fragen befasst, eine aktive Rolle zu übernehmen External Efficacy Bitte geben Sie zu jeder der folgenden Aussagen an, inwieweit Sie zutrifft. Der Wert 0 bedeutet "trifft überhaupt nicht zu", der Wert 6 bedeutet "trifft voll und ganz zu". Mit den Werten dazwischen können Sie Ihre Meinung abstufen. (A) Die Politiker kümmern sich nicht darum, was einfache Leute denken (B) Die Parteien versuchen durchaus, die Interessen der Wähler zu vertreten (C) Es gibt in der Bundesrepublik zwischen den Wahlen genügend Möglichkeiten für die Bevölkerung, Einfluss auf die Politik zu nehmen Mitgliedschaften Sind Sie persönlich (A) in einer Bürgerinitiative, (B) in einer Partei, (C) in einer Berufsvereinigung oder (D) einer Gewerkschaft? Und falls ja, haben Sie dort ein Amt? (1) Nein, bin nicht Mitglied (2) ja, bin Mitglied, habe aber kein Amt übernommen (3) ja, bin Mitglied und übe ein Amt, eine Funktion aus Schulbildung Welchen allgemeinbildenden Schulabschluss haben Sie, oder haben Sie einen Hoch- bzw. Fachhochschulabschluss? (1) Bin noch Schüler(in) (2) Schule beendet ohne Abschluss (3) Volks- / Hauptschulabschluss bzw. Polytechnische Oberschule mit Abschluss 8.oder 9. Klasse (4) Mittlere Reife, Realschulabschluss bzw. Polytechnische Oberschule mit Abschluss 10. Klasse (5) Abitur, EOS - Erweiterte Oberschule mit Abschluss 12. Klasse, Fachhochschulreife (6) Abgeschlossenes Studium an Hoch- oder Fachhochschule, Universität, Polytechnikum Alter Würden Sie mir bitte sagen, in welchem Monat und in welchem Jahr Sie geboren sind?

Eine Betrachtung der Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2005

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Zustimmung Staatsidee Demokratie Zunächst geht es nicht um tatsächlich bestehende Demokratien, sondern um die Idee der Demokratie. Was würden Sie, im Vergleich zu anderen Staatsideen, zur Idee der Demokratie sagen. Sind Sie (6) sehr für die Idee der Demokratie, (5) ziemlich für die Idee der Demokratie, (4) etwas für die Idee der Demokratie, (3) etwas gegen die Idee der Demokratie, (2) ziemlich gegen die Idee der Demokratie, (1) sehr gegen die Idee der Demokratie? Quellen: Vorwahlbefragung „Bundestagswahl 2005 Kampagnendynamik“, Nachwahlbefragung „Bürger und Parteien“.

Schicht, soziale Mobilität und Wahlverhalten Anja Mays und Jürgen Leibold

1.

Einleitung

Als eine Folge des sozialstrukturellen Wandels wird – neben der Herausbildung neuer gesellschaftlicher Konfliktstrukturen – auch das Abschmelzen traditioneller Sozialmilieus angesehen (vgl. etwa Dalton 1984, Bürklin/Klein 1998, Gluchowski et al. 1997). Die mit sozialem Wandel einhergehende und in modernen Gesellschaften in der Regel besonders ausgeprägte soziale Mobilität gilt dabei als eine Ursache für die Erosion traditioneller Milieus, in denen gruppenspezifische politische Orientierungsschemata und eindeutige Parteiorientierungen vermittelt werden. Folgt man den sozialstrukturellen Überlegungen der frühen amerikanischen Wahlforschung (vgl. Lazarsfeld et al., 1944, Berelson 1954), dann sollte soziale oder räumliche Mobilität mittel- und langfristige Konsequenzen sowohl für individuelle politische Orientierungen als auch für politisches Handeln haben. Der Theorie nach befinden sich die Betroffenen in einer Cross-Pressure-Situation zwischen Herkunfts- und Destinationsgruppe. Diese besondere Situation führt demnach zu einem Rückgang des politischen Interesses, zur Verzögerung der Wahlentscheidung und zu vermehrter Wahlenthaltung. Darüber hinaus ist zu vermuten, dass sich bei einem Wechsel von Klassenlage oder Wohnort alte soziale Bindungen langsam abschwächen und die darüber vermittelten politischen Orientierungen und Normen (z.B. Wahlnormen) nachlassen. Gleichzeitig sollten die politischen Präferenzen der Destinationsgruppe – sofern es sie denn gibt – an Attraktivität gewinnen und über veränderte Parteipräferenzen letztlich auch zu einem Wechsel im Wahlverhalten führen (Interaktionsansatz). Aber auch Ansätze, die die Wahlentscheidung primär mit der Interessenlage der Wähler in Verbindung bringen (wie die Cleavage-Theorie nach Lipset/Rokkan 1967 oder die Rational Choice-Ansätze), lassen Verhaltensänderungen der sozial Mobilen erwarten (Interessenansatz). So ist beispielsweise damit zu rechnen, dass sozial Aufwärtsmobile ökonomisch weniger auf staatliche Transferleistungen angewiesen sind und deshalb häufiger marktorientierte und weniger sozialdemokratische Parteien präferieren. Auf Basis der Nachwahlbefragung zur Bundestagswahl 2005 wird der Einfluss von sozialer Lage und sozialer Mobilität auf die Wahlentscheidung untersucht. Nach der Vorstellung des theoretischen Konzepts und der Hypothesenformulierungen wird zunächst auf die Operationalisierung der Prädiktoren eingegangen. Daran anschließend wird der Zusammenhang zwischen Wahlentscheidung und sozialer Lage bzw. Mobilität bivariat und unter Berücksichtigung von Kontrollvariablen analysiert.

Schicht, soziale Mobilität und Wahlverhalten 2.

451

Theoretische Überlegungen und Hypothesen

Der Zusammenhang zwischen Sozialstruktur und Wahlverhalten ist ein geradezu klassisches Thema der empirischen Wahlforschung (vgl. Lipset 1960, Lipset/Rokkan 1967). Klassenspezifisches Wahlverhalten kann – im Sinne der ökonomischen Theorie nach Downs (1957) – als das Ergebnis einer interessenbasierten, rationalen Entscheidung verstanden werden (Interessenansatz). Die Präferenz der Arbeiterschaft für linke Parteien kann demnach mit ihrem Interesse an einer Politik der Umverteilung erklärt werden. Mitglieder höherer sozialer Schichten bevorzugen dagegen – aufgrund ihrer privilegierten sozioökonomischen Stellung – eher eine wirtschaftsliberale bzw. konservative Politik. Betrachtet man hingegen das individuelle politische Verhalten mehr als soziale denn als instrumentelle Handlung (vgl. Lazarsfeld et al., 1944, Berelson 1954, vgl. auch Heath et al. 1985), dann lässt sich das Wahlverhalten als Resultat sozialer Interaktionen begreifen (Interaktionsansatz). Klassentypisches politisches Verhalten ist dann Ausdruck der sozialen Identität und reflektiert die politischen Werte und Normen der sozialen Bezugsgruppe. Dass Arbeiter eher zur Wahl linker Parteien tendieren als Mitglieder der Mittel- oder Oberschichten konnte – wenn auch in unterschiedlich starkem Ausmaß – in international vergleichenden Studien gezeigt werden (vgl. Lipset 1960, Nieuwbeerta et al. 2000). Während beispielsweise in den USA das Wahlverhalten nur sehr schwach mit der Klassenlage assoziiert ist, gehören die skandinavischen Staaten zu den Ländern mit stark ausgeprägtem Klassenwahlverhalten. Deutschland nimmt in diesem Kontext eine Mittelposition ein (Nieuwbeerta et al. 2000: 336). Die Bedeutung des class votings für die Entwicklung von Parteipräferenzen bzw. Wahlverhalten wird jedoch seit einiger Zeit in Frage gestellt (s. stellvertretend für Deutschland: Brettschneider et al. 2002). Befunde, nach denen der Stimmanteil der SPD in der Arbeiterschaft sowie der Anteil der Unionsparteien bzw. der FDP innerhalb des alten Mittelstandes deutlich zurückgegangen sind (vgl. Gluchowski/von Wilamowitz-Moellendorff 1997: 195), führten zur These der abnehmenden Prägekraft der Sozialstruktur (etwa Dalton 1984, Gluchowski/von Wilamowitz-Moellendorff 1997, Bürklin/Klein 1998). Infolge des sozialen Wandels, so die Vertreter der Dealignment-These, haben sich die Loyalitätsbeziehungen der Kernwählerschaften (Arbeiterschaft auf der einen vs. alter Mittelstand auf der anderen Seite) zu den Parteien abgeschwächt. Untersuchungen neueren Datums kommen allerdings auf Basis alternativer Vorgehensweisen zu anderen Ergebnissen (vgl. Brettschneider et al. 2002: 8). Müller (1998) konnte beispielsweise zeigen, dass bei einer für die heutige Gesellschaft angemessenen Operationalisierung der Erwerbs- und Sozialstruktur die politische Prägekraft der Klassenspaltung weitgehend erhalten geblieben ist. Mit der hier angesprochenen Diskussion ist die These, nach der soziale Mobilität einen Einfluss auf das Wahlverhalten hat, eng verknüpft. Konkret geht es um die Frage, ob vor allem die gegenwärtige sozialstrukturelle Position das politische Denken und Handeln beeinflusst, oder ob (und wie stark) auch die soziale Herkunft eine Rolle spielt. Bei der Analyse von Mobilitätseffekten müssen daher zwei Arten von Effekten berücksichtigt werden (vgl. Herz 1995: 177): Ein Schicht- oder Klasseneffekt liegt dann vor, wenn sich sozial mobile Individuen genauso verhalten wie nichtmobile in der Destinationsschicht. Entspricht das Wahlverhalten des mobilen Menschen dem seiner sozialen Herkunft, dann haben wir es dagegen mit einem Mobilitätseffekt zu tun. Aus der Perspektive des Interaktionsansatzes ist ein Mobilitätseffekt insbesondere dann zu erwarten, wenn die Personen aus einem homoge-

452

Anja Mays und Jürgen Leibold

nen sozialen Milieu mit eindeutigen politischen (Wahl-) Normen stammen. In einem solchen Fall befinden sich die Betroffenen in einem klassischen cross pressure zwischen Ursprungs- und Destinationsgruppe (vgl. auch Jackman 1972). Ein wahlpolitischer Schichteffekt sollte umso unwahrscheinlicher werden, je attraktiver die Destinationsschicht wahrgenommen wird und je stärker die gegenwärtige Interessenlage wirkt. Die Bedeutung der sozialen Mobilität für das Wahlverhalten wurde schon früh untersucht (vgl. Lipset/Zetterberg 1959, Lipset/Bendix 1959, Butler/Stokes 1971, Jackman 1972, Abramson 1972, Knoke 1973; zu neueren Studien siehe: De Graaf/Ultee 1990, Weaklim 1992, Clifford/Heath 1993, De Graaf et al. 1995, Herz 1995, Nieuwbeerta et al. 2000). Häufig wurde dabei ein asymmetrischer Mobilitätseffekt vermutet: Menschen, die durch ihre sozialstrukturelle Mobilität über Kontakte zu mehreren sozialen Schichten verfügen, sollten sich – unabhängig von ihrer Herkunft – an der höheren sozialen Schicht orientieren (vgl. etwa Lipset 1959, Parkin 1971, Knoke 1973, Thorburn 1979). Im Hinblick auf das Wahlverhalten bedeutet dies, dass sowohl soziale „Auf“- wie „Absteiger“ vergleichsweise häufig konservative bzw. bürgerliche Parteien wählen sollten1. Der Unterschied zwischen Ab- und Aufwärtsmobilen liegt somit darin, dass sich die sozial Aufgestiegenen in ihrem Wahlverhalten an ihre Destinationsschicht anpassen während sich sozial abgestiegene an der Herkunftsschicht orientieren und ihr politisches Abstimmungsverhalten nicht verändern. Die Erwartung asymmetrischer Mobilitätseffekte stützt sich auf mehrere Argumente: Zum einen wird angenommen, dass die subjektiv empfundene Zugehörigkeit zu höheren Schichten das individuelle Selbstwertgefühl stärkt. Gäbe man als abwärtsmobiler Mensch die politischen Normen der Mittel- und Oberschichten auf, so sei dies ein Zeichen dafür, dass man sich in sein Schicksal füge (Parkin 1971). Zum anderen wird vermutet, dass soziale Mobilität indirekt über den Weg interpersonaler Kontakte auf politische Einstellungen wirkt (Lin 1982): Während Aufwärtsorientierte neben den Beziehungen zur Herkunftsschicht auch neue soziale Kontakte zur Destinationsgruppe knüpfen, versuchen sozial abgestiegene Menschen vor allem die alten Bindungen zur höheren Statuslage zu erhalten. Daraus folgt, dass Aufsteiger stärker durch ihre gegenwärtige Position beeinflusst werden als Absteiger. Als drittes Argument für einen asymmetrischen Mobilitätseffekt wird die politische Sozialisation angeführt. Die verschiedenen Klassen der Gesellschaft, so die Vorstellung, seien unterschiedlich erfolgreich in ihrer politischen Sozialisation. Thorburn (1979) kommt z.B. in seiner Untersuchung zu dem Ergebnis die Mittelschicht sei sehr viel effektiver in der Vermittlung ihrer politischen Normen als die Arbeiterklasse. Die empirische Datenlage ist jedoch nicht eindeutig. Die meisten empirischen Studien zum Einfluss von Mobilität auf politische Einstellungen und Wahlverhalten kommen zu dem Ergebnis, dass sozial mobile Menschen eine Mittelposition zwischen Herkunfts- und Destinationsschicht einnehmen. Neben ihrer aktuellen sozialen Lage berücksichtigen mobile Menschen demnach auch ihre Herkunft (Mobilitätseffekt). Ob allerdings die Hypothese eines asymmetrischen Mobilitätseffektes zutrifft, lässt sich aufgrund der empirischen Ergebnisse nicht eindeutig beantworten. Während De Graaf und Ultee (1990) und Weaklim (1992) die Hypothese nicht bestätigen konnten, fanden Knoke (1973) oder Cliffort und

1

Auf der Ebene des politischen Systems sollte eine solche Entwicklung aufgrund der in modernen Gesellschaften in der Regel stark ausgeprägten sozialen Mobilität mittelfristig zu einer Schwächung linker Parteien führen.

Schicht, soziale Mobilität und Wahlverhalten

453

Heath (1993)2 Hinweise auf die Existenz eines solchen asymmetrischen Einflusses. Demzufolge scheint die Frage, ob ein Mobilitätseffekt vorliegt oder nicht, von weiteren Faktoren abzuhängen. In einer ländervergleichenden Studie fand Herz (1995) deutlich variierende Mobilitätseffekte sowohl zwischen den untersuchten Staaten als auch zwischen den unterschiedlichen Generationen. Für die Bundesrepublik entdeckte Herz (19953) bei zwei Gruppen signifikante Mobilitätseffekte, wenn auch keine asymmetrischen: „Personen, die aus der Arbeiter- in die Mittelschicht wechseln, halten an ihrer linken parteipolitischen Neigung fest, während umgekehrt die Aufsteiger aus dem landwirtschaftlichen Sektor in die Arbeiterschicht konservativ bleiben“ (Herz 1995: 191). Darüberhinaus betonte Herz, dass in der Bundesrepublik – anders als in allen anderen untersuchten Staaten – die Schichtabhängigkeit des Wahlverhaltens unabhängig von der Mobilität in der jüngeren Generation größer ist als bei älteren Bevölkerungsgruppen (Herz 1995: 190). Die folgende empirische Analyse geht der Frage nach, ob sich für das Jahr 2005 Mobilitätseffekte bei der Wahlentscheidung feststellen lassen. Die Untersuchung orientiert sich dabei an der Vorgehensweise von Herz (1995: 185), mit dem Unterschied, dass die Berechnungen für Ost- und Westdeutschland getrennt durchgeführt werden. Als erste Hypothese erwarten wir, dass das Wahlverhalten, gemessen auf der LinksRechts-Dimension durch den gegenwärtigen sozialen Status beeinflusst wird (H1): Je höher die Schicht, desto her wird eine rechte Partei präferiert. Die zweite Hypothese prüft den Mobilitätseffekt: Für Personen, die aus der Mittel- oder Oberschicht in die Arbeiter- bzw. Unterschicht abgestiegen sind, erwarten wir, dass das Wahlverhalten dem der Herkunftsschicht entspricht (H2a). Aufgrund der vermuteten Asymmetrie sollte für Personen, die aus der Arbeiter- bzw. Unterschicht in die Mittel- oder Oberschicht aufgestiegen sind dagegen kein Herkunftsseffekt zu beobachten sein (H2b). Das Wahlverhalten der Aufsteiger sollte sich somit vom Abstimmungsverhalten der Herkunftsschicht unterscheiden, d.h., sie sollten häufiger rechte Parteien bevorzugen.

3.

Operationalisierungen und deskriptive Ergebnisse

3.1 Subjektive Schichteinstufung Soziale Unterschiede sind ein charakteristisches Merkmal menschlicher Gesellschaften. Bei der Beschreibung und Erklärung von sozialem Handeln ist der soziale Status einer Person eine relevante Größe, da dieser mittelbar oder unmittelbar mit den Entscheidungen der Individuen verknüpft ist. Zur Messung vertikaler Unterschiede sind eine Reihe elaborierter Instrumente entwickelt worden, die genutzt werden können, um strukturelle Ungleichheiten zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft oder zwischen Gesellschaften zu beschreiben. Klassischerweise stützen sich diese auf Unterschiede hinsichtlich der Bildung, des Einkommens und des Berufs, um den sozialen Status einer Person zu erheben (vgl. Wolf 1995). Neben den Indikatoren zur Messung des objektiven sozio-ökonomischen Status oder des Berufsprestiges wird auch die subjektive Schichteinstufung seit Jahrzehnten zu diesem Zweck einge2

De Graaf und Ultee (1990) untersuchten in ihrer Studie niederländische Daten, Clifford und Heath (1993) dagegen eine britische Stichprobe. 3 Die Studie berücksichtigt den Zeitraum zwischen 1972 und 1974.

454

Anja Mays und Jürgen Leibold

setzt (Kleining/Moore 1968, Noll 1999, Habich/Noll 2008). Die Selbsteinstufung bietet die Möglichkeit aus der subjektiven Perspektive des Befragten heraus, die im Verhältnis zu anderen Mitgliedern der Gesellschaft wahrgenommene Position innerhalb der bestehenden sozialen Hierarchie zu ermitteln. Insbesondere im Falle von Ober- und Unterschicht ist das Verfahren von Vorteil, da nicht immer über die berufliche Stellung eine zutreffende Einstufung vorgenommen werden kann. Einflussgrößen wie z.B. familiäre Ressourcen oder soziale Problemlagen werden in diesen Fällen nicht immer angemessen berücksichtigt (vgl. Kleinig/Moore 1968). Es stellt sich die Frage, ob die subjektive Selbsteinstufung tatsächlich eine zuverlässige Messung im Hinblick auf die gesellschaftliche Statushierarchie darstellt. Befragte berücksichtigen bei ihrer Antwort auf die Frage nach der Schichteinstufung in der Regel Merkmale wie Beruf und Nettoeinkommen, doch auch Bildung, Vermögen und andere Faktoren können dabei eine Rolle spielen. Im Rahmen der Bundestagswahlstudie 2005 wurde die subjektive Schichteinstufung über, die auch im ALLBUS-Programm verwendete Frage, welcher Schicht sich die Befragten selbst zurechnen, erfasst. Als Antwortvorgaben standen auf einer vorgelegten Liste Unter-, Arbeiter-, Mittel-, obere Mittel- und Oberschicht zur Auswahl. Tabelle 1: Subjektive Schichteinstufung in den neuen und alten Bundesländer (2005) Westen Häufigkeiten Unterschicht 49 Arbeiterschicht 512 Mittelschicht 908 Obere Mittelschicht 147 Oberschicht 9 Summe 1626 Quelle: Bundestagswahlstudie 2005

Osten Prozent 3.0 31.5 55.9 8.8 0.6 100.0

Häufigkeiten 33 442 361 22 2 859

Prozent 3.8 51.4 42.0 2.6 0.2 100.0

Wie aus Tabelle 1 zu erkennen ist, ordnete sich die Mehrheit der Befragten der Mittelschicht (51,1%) zu, allerdings mit deutlichen Unterschieden zwischen den neuen und alten Bundesländern. Während rund 55,9% im Westen sich der Mittelschicht zurechnen, sind es im Osten nur 42,0%. Hingegen ordnet sich in den ostdeutschen Ländern die Mehrheit der Arbeiterschicht zu (51,4%). Der Anteil der oberen Mittel- und Oberschicht fällt mit 9,4% im Westen der Republik etwa dreimal so groß aus wie im Osten (2,8%). Bezogen auf die Unterschicht stellt sich das Verhältnis zwischen neuen (3,8%) und alten (3,0%) Ländern umgekehrt dar. Verglichen mit den Daten des ALLBUS 2006 ergeben sich geringfügige Unterschiede, was für die Reliabilität des Indikators spricht, da offensichtlich auch ein anderer Erhebungs- und Fragebogenkontext zu ähnlichen Ergebnissen führt (vgl. Habich/Noll 2008). Insgesamt betrachtet sind die Unterschiede in der Struktur der sozialen Schichtung zwischen Ost und West mehr als 15 Jahre nach dem Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten erheblich. Werden zum Vergleich die Ergebnisse der ALLBUS-Erhebungen herangezogen, so ist fest zu halten, dass die Verteilung der subjektiven Schichteinstufung in den westlichen Bundesländer seit 1980 weitgehend stabil geblieben ist. Bezogen auf die neuen Länder ist es in der ALLBUS-Erhebung 2006 so, dass Arbeiter- und Mittelschicht gleiche Anteile aufweisen. In allen früheren ALLBUS-Befragungen hatte sich eine Mehrheit der Befragten im Osten der Republik der Arbeiterschicht zugeordnet, was unseren

Schicht, soziale Mobilität und Wahlverhalten

455

Ergebnissen mit der Bundestagswahlstudie 2005 entspricht. Letztlich lässt sich aber noch nicht sagen, inwieweit hinter den Ergebnissen des ALLBUS 2006 eine abnehmende Identifikation mit der Arbeiterschicht hin zu einer für den westlichen Teil der Bundesrepublik charakteristischen Mittelschichtsgesellschaft steht oder ob es sich nur um eine vorübergehende bzw. zufällige Schwankung handelt (vgl. ebd.). Um die Unterschiede in den Schichtzuordnungen zwischen West- und Ostdeutschland zu erklären, ist es nahe liegend „sie als Reflex einer unterschiedlichen Verteilung auf sozioökonomische Statuslagen oder sonstige soziodemographische Strukturdifferenzen“ zu werten (Noll 1999: 152). In seinen Analysen mit dem ALLBUS 1996 konnte Heinz-Herbert Noll zeigen, dass die subjektive Schichteinstufung in starkem Maße mit soziodemographischen Merkmalen in Zusammenhang steht. Unter anderem führte er eine multiple Klassifikationsanalyse durch, deren Ergebnisse neben unseren Vergleichsanalysen mit den Daten des ALLBUS 2006 und der Bundestagswahlstudie 2005 in Tabelle 2 wiedergegeben sind. Auf den ersten Blick fällt auf, dass Geschlecht und Alter durchgängig keinen wesentlichen Beitrag zur Erklärung der subjektiven Schichteinstufung leisten. Wie es zu erwarten war, wird die Varianzaufklärung von rund 30% vor allem durch die Statuslage4 der Befragten getragen. Darüberhinaus ist der allgemeinbildende Schulabschluss und nicht das Haushaltseinkommen im Verhältnis zur Haushaltsgröße die nächst wichtigere Erklärungsgröße. Die Effekte des gewichteten Haushaltseinkommens und des Erhebungsgebietes sind unter Berücksichtigung von Kontrollvariablen zwar signifikant aber eher von untergeordneter Bedeutung. Betrachtet man die Analyseergebnisse im Vergleich, so wird die Stabilität der Zusammenhänge deutlich, die sich auch weitgehend bei nach Ost und West getrennten Berechnungen bestätigt.5 Zusammenfassen lässt sich festhalten, dass die subjektive Schichteinstufung umso höher ausfällt, je höher der Status, die formale Schulbildung und das relative Haushaltseinkommen sind. Bei nur gut einem Drittel Varianzaufklärung stellt sich natürlich die Frage, welche Faktoren noch zu Selbsteinstufung herangezogen werden. Denkbar sind hier Effekte, die auf dem Besitz an Vermögenswerten, dem sozioökonomischen Status von Familienmitgliedern oder auch anderen sozialen Kapitalien beruhen. In neueren Analysen konnte dementsprechend gezeigt werden, dass die subjektive Schichtidentifikation von Arbeitern im Zusammenhang mit schichthomogenen Kontakten steht (Pappi/Brandenburg 2008). Tabelle 2: Determinanten der Schichteinstufung ALLBUS 1996 ALLBUS 2006 Eta Beta Eta Beta Geschlecht 0.07 0.03 0.05 0.08 Alter 0.09 0.11 0.04 0.09 Haushaltseink. pro Person 0.33 0.15 0.36 0.16 Schulabschluss 0.34 0.18 0.38 0.22 Statuslage 0.49 0.36 0.45 0.28 West/Ost 0.24 0.17 0.18 0.12 R/R² 0.57 0.33 0.54 0.29 Quellen: Noll 1996, Bundestagswahlstudie 2005, ALLBUS 2006 4

Eta 0.11 0.12 0.29 0.41 0.49 0.18 0.58

BTW 2005 Beta 0.07 0.08 0.12 0.24 0.33 0.17 0.34

Als Indikator für die Statuslage haben wir den von Hoffmeyer-Zlotnik entwickelten Index zur „Autonomie beruflichen Handelns“ genutzt, der auf der Feinklassifikation der Stellung im Beruf beruht und daher sowohl mit den Daten des ALLBUS 2006 als auch mit denen der Bundestagswahlstudie 2005 berechnet werden konnte (vgl. Wolf 1995; Hoffmeyer-Zlotnik 1993). 5 In zwei Teilanalysen (ALLBUS 2006 – West und BTW 2005 – Ost) erwies sich die Bildung als stärkster Prädiktor der subjektiven Schichteinstufung.

456

Anja Mays und Jürgen Leibold

Für die weiteren Analysen zum Einfluss der sozialen Mobilität auf die Wahlentscheidung haben wir auf Basis der Differenz zwischen aktueller Selbsteinstufung und der subjektiven Schicht des Elternhauses in der Phase der Adoleszenz des Befragen die wahrgenommene intergenerationale Mobilität berechnet. Aus den in Tabelle 3 abgetragenen Ergebnissen geht eindeutig hervor, dass die überwiegende Mehrheit in den neuen (72,6%) und alten Bundesländern (66%) weder einen Auf- noch einen Abstieg im Vergleich zur Schicht ihrer Eltern wahrgenommenen hat. Einen subjektiven Aufstieg haben im Westen 26,9% und im Osten 19,6% der Befragten erzielt, wohingegen weniger als 10% einen Abstieg erlebt haben. Ein Auf- oder Abstieg um eine Schichtstufe ist dabei die Regel und soziale Mobilität über mehrere Stufen eher die Ausnahme. Verglichen mit anderen Ergebnissen für die Bundesrepublik, die über differenziertere Indikatoren zur Klassenlage gemessen wurden, fallen die von uns gemessenen Mobilitätsraten deutlich geringer aus. Inwieweit die über Berufsindikatoren gemessene Mobilität, die nicht zuletzt mit Veränderungen in der Beschäftigungsstruktur korrespondieren auch subjektiv als Auf- oder Abstieg wahrgenommen werden, zumal es über die Bildungsexpansion zu einer tendenziellen Entwertung von Bildungszertifikaten gekommen ist, bleibt fraglich. Das Verhältnis der Gesamtmobilität von zwei Auf- zu einem Abstieg entspricht aber nahezu exakt den Befunden von Reinhard Pollak, die er anhand von Längsschnittanalysen mit ALLBUS- und SOEP-Daten ermitteln konnte (vgl. Pollak 2008). Ausgehend von der Frage zur Wahlrückerinnerung wurden für die binäre abhängige Variable „Wahlentscheidung“ die Parteien zu einem „linken“ und einem „rechten“ Parteienblock zusammengefasst. Die „linken“ Parteien SPD und die Linke.PDS repräsentieren dabei eine sozialstaatlich orientierte Politik und stehen in der Tradition der klassischen Arbeiterparteien. Die „rechten“ oder bürgerlichen Parteien CDU/CSU bzw. FDP stehen dagegen für eine marktorientiertere Politik. Die Partei Bündnis 90/Die Grünen wurde keinem der ideologischen Blöcke zugeordnet, da wir der Auffassung sind, dass die Bündnisgrünen – bezogen auf das klassische sozialstrukturelle Cleavage – nicht eindeutig zu den linken, sozialstaatlich orientierten Parteien gezählt werden können. Tabelle 3: Soziale Mobilität auf Basis der subjektiven

drei Schichten abgestiegen zwei Schichten abgestiegen eine Schicht abgestiegen keine Veränderung eine Schicht aufgestiegen zwei Schichten aufgestiegen drei Schichten aufgestiegen Summe Quelle: Bundestagswahlstudie 2005

Westen Häufigkeiten 1 19 115 1064 376 36 1 1612

Prozent 0.1 1.2 7.1 66.0 23.3 2.2 0.1 100.0

Osten Häufigkeiten 1 12 54 617 158 6 1 849

Prozent 0.2 1.5 6.3 72.6 18.5 0.8 0.2 100.1

Schicht, soziale Mobilität und Wahlverhalten

457

Im Folgenden sind die ursprünglichen Operationalisierungen und die für die Analysen vorgenommene Datentransformationen aufgeführt. Im Interview lautete der Fragetext zur Wahlrückerinnerung: „Welche Partei haben Sie dann bei der Bundestagswahl am 18. September mit Ihrer Zweitstimme gewählt?“ Für unsere Analysen bekamen die Befragten, die sich bei der Bundestagswahl 2005 für eine „linke“ Partei (SPD oder Die Linke.PDS) entschieden haben den Wert 1 zugewiesen. Den Wert 0 erhielten Befragte, die eine „rechte Partei“ (CDU/CSU oder FDP) gewählt haben. Als weitere Prädiktoren verwenden wir in den logistischen Regressionsmodellen die Variablen Bildung, Religionszugehörigkeit, Kirchenbindung, Gewerkschaftsmitgliedschaft und die Mobilität. Bildung: „Welchen allgemeinbildenden Schulabschluss haben Sie oder haben Sie einen Hoch- bzw. Fachhochschulabschluss?“ Die Antworten der Befragten wurden in „Bildung in Jahren“ umkodiert. Religionszugehörigkeit: „Welcher Religionsgemeinschaft gehören Sie an?“ Aus dieser Variable wurde ein Dummy für katholische und ein Dummy für evangelische Religionszugehörigkeit erzeugt. Die restlichen Befragten bilden die Referenzkategorie. Kirchenbindung: „Wie oft gehen Sie im allgemeinen zur Kirche?“ Die Variable wurde zu einem dreistufigen Indikator (nie, unregelmäßig, regelmäßig) umkodiert. Gewerkschaftsmitgliedschaft: „Sind Sie in einer Gewerkschaft?“ Gewerkschaftsmitglieder erhielten den Wert 1, diejenigen, die nicht Mitglied in einer Gewerkschaft sind, den Wert 0. Mobilitätsvariablen: Zur Messung der Mobilitätseffekte wurden „Aufstiegs- und Abstiegs-Dummies“ kodiert. Personen, die aus der Unter- oder Arbeiterschicht in die Mittel-, oberer Mittel- oder Oberschicht aufgestiegen sind, bekommen in der Variable „Aufsteiger“ den Wert 1. Dementsprechend erhalten diejenigen, die aus der Mittel-, oberer Mittel- oder Oberschicht in die Unter-oder Arbeiterschicht abgestiegen sind, in der Variable „Absteiger“ den Wert 1. Die jeweils verbleibenden Fälle bilden die Referenzkategorie.

4.

Analysen und Ergebnisse

4.1 Wahlverhalten und subjektive Schichteinstufung Wie theoretisch erwartet (H1), zeigt sich ein empirischer Zusammenhang zwischen subjektiver Schichteinstufung und Wahlverhalten (Abbildung 1). Sowohl in West- wie auch in Ostdeutschland bestätigt sich das traditionell bekannte Bild, wonach Arbeiter6 überdurch6

Mitglieder der Arbeiter- und Unterschicht wurden hier zu einer Kategorie zusammengefasst.

458

Anja Mays und Jürgen Leibold

schnittlich häufig linke Parteien wählen. Rechnet man neben den Sozialdemokraten und der Linkspartei die Grünen in das linke Lager mit ein, dann votierten 2005 in Westdeutschland über 60% sowie in den östlichen Landesteilen sogar über 70% dieser Befragten für eine linke Partei. Ebenfalls den Erwartungen entsprechend verhalten sich die Mitglieder der oberen Schichten. In Westdeutschland, aber tendenziell auch im Osten der Republik, wählen Angehörige der oberen Mittel- und Oberschicht überdurchschnittlich oft bürgerliche Parteien (knapp 60% im Westen, im Osten etwa 47%). Die Wähler der Mittelschicht schließlich präferieren in beiden Landesteilen – verglichen mit der Arbeiter- und Unterschicht – häufiger konservative Parteien. Insgesamt liegen die Mittelschichtangehörigen mit ihrem Wahlverhalten allerdings fast genau im Bevölkerungsdurchschnitt Abbildung1:

Wahlrückerinnerung nach subjektiver Schichteinstufung

100% 31,6 8,1 6,9

22,3

34,4

5,8 5,2

41

42,1

18,7

5,3 5,3

15,8

31,6

7,4 6

10,6 10,3

33,9

50%

27,6

38,5 46,8

40,7 32,7

0%

Unter- und Arbeiterschicht West

23,7

20,5

6,6

4

Unter- und Arbeiterschicht Ost

15,8

0,7

Mittelschicht West Mittelschicht Ost Obere Mittel- und Obere Mittel- und Oberschicht West Oberschicht Ost

ͻͲȀ ò

Ȁ

4.2 Wahlverhalten und soziale Mobilität Um die Folgen der sozialen Mobilität für das Wahlverhalten abschätzen zu können, wird die Wahlentscheidung derjenigen Wähler, die im Vergleich zu ihren Eltern einen sozialen Ab- oder Aufstieg erlebt haben, nun separat betrachtet (Abbildungen 2 und 3). Die Parteien wurden hierfür zu einem sozialdemokratisch-sozialistischen und einem konservativliberalen Block zusammengefasst (vgl. Kapitel 3)7. Die Abbildung 2 gibt das Stimmverhalten der sozial Abgestiegenen verglichen mit dem ihrer Herkunftsschicht, also der Mittel- und Oberschicht, wieder. Es zeigt sich für beide Landesteile ein nach Hypothese 2a völlig unerwartetes Bild: Diejenigen, die in ihrem Lebensverlauf einen sozialen Abstieg erfahren haben, wählten bei der Bundestagswahl 2005 deutlich häufiger linke Parteien als die Angehörigen ihrer ursprünglichen Schicht. In Westdeutschland zeigt sich dieser Befund besonders ausgeprägt, hier stimmten 60% der Absteiger, aber nur knapp 43% der Herkunftsschicht für linke Parteien. 7

Werden die Analysen unter Einschluss der Grünen in das „linke“ Lager berechnet, so verändern sich die Schätzergebnisse insgesamt nur unwesentlich.

Schicht, soziale Mobilität und Wahlverhalten Abbildung2:

459

Präferenz für politische Lager und sozialer Abstieg getrennt nach neuen und alten Bundesländern

100%

40,0

29,6

35,2 57,1

50%

60,0

70,4

64,8 42,9

0% Abstieg in Arbeiter- und Unterschicht West

Abstieg in Arbeiter- und Unterschicht Ost

sozialdem. /sozialist. Parteien Abbildung3:

Immoblile Mittel- u. Oberschicht West

Immoblile Mittel- u. Oberschicht Ost

konservativ-liberale Parteien

Präferenz für politische Lager und sozialer Aufstieg getrennt nach neuen und alten Bundesländern

100% 29,4 42,9

45,7

40,9

50% 70,6 57,1

54,3

59,1

0% Im mobile Unter- und Arbeite rsc hicht We st

Immobile Unte r- und Arbe iterschic ht Ost

sozialdem. /sozialist. Parteien

Aufge stiege n in M ittel- o. Oberschic ht West

Aufgestiegen in Mittel- o. Obe rsc hicht Ost

konservativ-liberale Parteien

460

Anja Mays und Jürgen Leibold

Betrachtet man das Wahlverhalten der sozial Aufgestiegenen (Abbildung 3), dann wird schon eher ein theoriekonformes Muster (H2b) sichtbar: Personen, die sich eines sozialen Aufstiegs erfreuen können, präferierten – verglichen mit ihrer Herkunftsschicht – häufiger konservative Parteien. Allerdings liegen hier deutliche Ost-West-Unterschiede vor. Während Aufstiegsorientierte in den westlichen Ländern nur geringfügig häufiger rechts wählen (+ 2,8%), unterstützen ostdeutsche Aufsteiger sehr viel öfter konservative Parteien als „immobile“ Arbeiter (11,5%).

4.3 Multivariate Hypothesenüberprüfung Die in Kapitel 2 aufgestellten Hypothesen sollen nun multivariat – unter Einschluss der genannten Kontrollvariablen – überprüft werden. Um Generationseinflüsse und das unterschiedliche Wahlverhalten in Ost- und Westdeutschland zu berücksichtigen, werden die Berechnungen jeweils für „jüngere“ (bis 49 Jahre) und „ältere“ (50 Jahre und älter) Personen sowie für Ost- und Westdeutschland getrennt berechnet. Die Hypothesenprüfungen erfolgen jeweils schrittweise: im ersten Schritt wird in binären logistischen Regressionsmodellen zunächst der Einfluss der relevanten sozialstrukturellen Faktoren auf die Wahlentscheidung (linke Parteien vs. rechte Parteien) untersucht. Im zweiten Schritt wird zusätzlich der Effekt von subjektiver Schichtzugehörigkeit bzw. sozialer Mobiliät spezifiziert.

4.3.1 Class Voting? In Hypothese 1 gehen wir davon aus, dass Angehörige mit höherem sozialen Status rechte Parteien bevorzugen. Diese These konnte bivariat bestätigt werden. Nach der multivariaten Regressionsrechnung zeigt sich ein differenzierteres Bild (Tabelle 4): In Westdeutschland steigt unabhängig von der Generationszugehörigkeit mit der Höhe der (subjektiven) Schicht die Neigung rechts zu wählen8. In den ostdeutschen Ländern spielt die Schichtzugehörigkeit bei den älteren Befragten keine signifikante Rolle. Bei den jüngeren Ostdeutschen dagegen tritt ein Schichteffekt in der erwarteten Richtung auf, d.h. die jüngeren Befragten aus den neuen Ländern verhalten sich wie die Befragten aus dem Westen und wählen mit zunehmenden sozialen Status häufiger konservative Parteien. Bei den Kontrollvariablen ergibt sich ein uneinheitliches Bild: In Westdeutschland weist die Gewerkschaftsbindung einen merklichen Einfluss auf. Dieser Befund deutet – wie auch die Schichteffekte – in den alten Ländern auf die bekannten Loyalitäten zwischen sozialstrukturellen Gruppen und Parteien hin. In Ostdeutschland dagegen spielt die Zugehörigkeit zu Gewerkschaften keine Rolle bei der Entscheidung, ob rechte oder linke Parteien gewählt werden. Im Hinblick auf den religiös-konfessionellen Konflikt liegt sowohl bei älteren Westdeutschen als auch bei jüngeren ostdeutschen Befragten ein Effekt in der erwarteten Richtung vor: Je häufiger die

8

Durch die Antilogarithmierung werden negative b-Koeffizienten zu Effekt-Koeffizienten zwischen 0 und unter 1 und posive b-Koeffizienten zu Effekt-Koeffizienten von größer 1. Ein b-Koeffizient von 0 entspricht einem EffektKoeffizienten von 1. Die aufgeführten Effekt-Koeffizienten geben an, um welchen Faktor sich das Wahrscheinlichkeitsverhältnis (Wahl einer linken Partei vs. Wahl einer rechten Partei) verändert, wenn der jeweilige Prädikator um eine Einheit ansteigt.

Schicht, soziale Mobilität und Wahlverhalten

461

Kirche besucht wird, desto eher werden rechte Parteien gewählt9. Das Geschlecht und der erreichte Bildungsabschluss sind bei der betrachteten Wahlentscheidung kaum von Belang. Tabelle 4: Einfluss der subjektiven Schicht auf die Links-Rechts-Wahl unter Berücksichtigung von Kontrollvariablen (Hypothese 1), EffektKoeffizienten Links-Rechts-Wahl West / Alter > 49 Determinaten Modell 1 Modell 2 Evangelisch 1,478 1,54 Katholisch 0,781 0,81 Kirchenbindung 0,67* 0,66* Gewerkschaft 2,77** 2,71** Geschlecht: Frau 0,814 0,84 Bildung 0,97+ 0,99 Subjektive Schicht 0,68* Konstante 2,534* 5,60** -2 Log likelihood 765,052 758,414 Modell-Chi² 46,83** 53,47* Freiheitsgrade 6 7 Nagelkerke 0,10 0,116 N 618 618 + p < 0,1; * p < 0,05; ** p < 0,001 Quelle: Bundestagswahlstudie 2005

Links-Rechts-Wahl Links-Rechts-Wahl Links-Rechts-Wahl Ost / Alter 49 West / Alter > 49 Ost / Alter 49 Modell 3 Modell 4 Modell 5 Modell 6 Modell 7 Modell 8 0,78 0,78 1,31 1,38 4,87* 5,44* 0,33+ 0,36+ 0,48* 0,50* 2,31 2,57 0,71 0,71 0,82 0,81 0,16** 0,15** 1,75 1,66 2,26* 2,29* 0,68 0,75 1,09 1,09 0,85 0,9 1,16 1,17 1,01 1,03 0,98 1 1,01 1,04 0,74 0,62* 0,58* 2,78* 4,82* 2,76* 7,49** 15,33** 46,81** 379,76 378,12 685,78 676,32 315,52 310,79 13,09* 14,74* 46,77** 56,03** 24,45** 29,18** 6 7 6 7 6 7 0,058 0,65 0,11 0,13 0,12 0,14 336 336 509 509 252 252

4.3.2 Subjektiv erlebter Abstieg und Wahlentscheidung In Hypothese 2a erwarten wir, dass das Wahlverhalten der sozial Abgestiegenen dem ihrer Herkunftsschicht entspricht. Die bivariate Analyse führte zu dem überraschenden Befund, dass Absteiger häufiger linke Parteien wählen als die Angehörigen ihrer ursprünglichen Schicht. Um die Hypothese unter Berücksichtigung der Kontrollvariablen zu prüfen, wurde ein Datensatz erstellt, der nur Befragte enthält, die entweder aktuell Mitglieder der Mittel bzw. Oberschicht sind oder aber die aus der Mittel- bzw. Oberschicht stammen und heute einer niedrigeren Schicht angehören10. Die Tabelle 5 gibt die Schätzung des Effektes eines sozialen Abstiegs von der Mittel- oder Oberschicht in die Unter- oder Arbeiterschicht wieder. Für jede Subgruppe werden zwei Modelle berechnet. Im ersten Modell (jeweils mit ungeraden Ziffern versehen) werden nur die Kontrollvariablen berücksichtigt. Das zweite Modell enthält zusätzlich eine 0-1-kodierte Dummy-Variable (Absteiger=1) um zu untersuchen, ob Absteiger signifikant anders votieren als die Mitglieder ihrer ursprünglichen sozialstrukturellen Gruppe.

9

Die Konfessionszugehörigkeit spielt insgesamt eine eher untergeordnete Rolle. Die Analyse mit dem vollständigen Datensatz ergab erhebliche Multikollinearitätsprobleme die zu einer Unsicherheit bei der Schätzung der jeweiligen Effekte führt.

10

462

Anja Mays und Jürgen Leibold

Tabelle 5: Einfluss der sozialen Abstiegs auf die Links-Rechts-Wahl unter Berücksichtigung von Kontrollvariablen (Hypothese 2a), Effekt-Koeffizienten Links-Rechts-Wahl West / Alter > 49 Modell Modell Determinaten 9 10 Evangelisch 2,38* 2,37* Katholisch 1,07 1,09 Kirchenbindung 0,64* 0,63* Gewerkschaft 2,25* 2,28* Geschlecht: Frau 0,79 0,83 Bildung 0,98 0,98 Absteiger 2,42 Konstante 1,72 1,65 -2 Log likelihood 507,42 505,63 Modell-Chi² 32,57** 34,36** Freiheitsgrade 6 7 Nagelkerke 0,11 0,11 N 447 447 + p < 0,1; * p < 0,05; ** p < 0,001 Quelle: Bundestagswahlstudie 2005

Links-Rechts-Wahl Ost / Alter > 49 Modell Modell 11 12 0,68 0,65 0,22* 0,21+ 0,66 0,70 0,66 0,69 1,03 1,10 1,03 1,04 2,35 2,32 1,87 168,78 167,71 12,97* 13,17* 6 7 0,12 10,13 177 177

Links-Rechts-Wahl West / Alter 49 Modell Modell 13 14 1,39 1,40 0,44* 0,44* 0,82 0,81 3,06** 3,06** 0,96 0,95 0,98 0,98 0,91 2,11+ 2,14+ 514,56 514,51 43,43** 43,47** 6 7 0,14 0,14 385 385

Links-Rechts-Wahl Ost / Alter 49 Modell Modell 15 16 7,4* 8,24* 1,14 1,34 0,17* 0,15* 0,69 0,75 0,87 0,86 1,01 1,02 2,28 13,15** 12,46* 189,78 188,17 18,18* 19,78* 6 7 0,15 0,16 158 158

Für keine der untersuchten Subgruppen konnte nach Kontrolle der Drittvariablen ein signifikanter Effekt ermittelt werden. Wir können somit die Hypothese 2a als bestätigt ansehen: Das Wahlverhalten der Absteiger weicht nicht signifikant von dem ihrer Herkunftsschicht ab. Allerdings sollte ein Aspekt nicht übersehen werden: Die Tatsache, dass die beschriebenen Effekte nicht signifikant sind, kann möglicherweise auf die geringe Anzahl der Absteiger zurückgeführt werden11. Interessant ist hier, dass – abgesehen von den jüngeren westdeutschen Befragten – sämtliche Koeffizienten positive Vorzeichen aufweisen. D.h. in der vorliegenden Stichprobe wählen Absteiger – sofern sie nicht zur jüngeren westdeutschen Subgruppe gehören – häufiger linke Parteien als ihre Herkunftsschicht. Dieses Ergebnis deckt sich mit weitergehenden Berechnungen (nicht ausgewiesen), die zeigen, dass – wenn der Datensatz nicht auf Mittelschichtangehörige und sozial Abgestiegene reduziert wird12 – die Absteiger verglichen mit den restlichen Befragten (ausgenommen die sozialen Aufsteiger) signifikant häufiger für linke Parteien stimmen.

4.3.3 Subjektiv erlebter Aufstieg und Wahlentscheidung Als letzte Hypothese (H2b) formulierten wir die Vermutung, dass Personen, die in ihrer Biographie einen sozialen Aufstieg erfahren haben, ein von ihrer Herkunftsgruppe abweichendes Stimmverhalten an den Tag legen. Konkret erwarteten wir in dieser Gruppe ein 11

Die westdeutsche Altersgruppe der über 49jährigen z.B. enthält gerade einmal 15 Fälle, die der jüngeren Altersgruppe sogar nur 12 Fälle. 12 Diese Ergebnisse werden hier nicht ausgewiesen, da die Berechnung von einer anderen Vergleichsbasis ausgeht. In Tabelle 5 werden – der Hypothese entsprechend – die sozial Abgestiegenen nur mit den Mittel-bzw. Oberschichtangehörigen verglichen, also mit ihrer eigenen Herkunftsschicht. In der genannten weitergehenden Berechnung wurde dagegen als Vergleichsgruppe alle Befragten mit stabiler Schichtzugehörigkeit verwendet.

Schicht, soziale Mobilität und Wahlverhalten

463

eher konservatives Abstimmungsverhalten. Die Koeffizienten in Tabelle 6 bestätigen zum Teil diese Erwartungen: Abgesehen von den älteren westdeutschen Befragten, weisen die negativen Regressionskoeffizienten darauf hin, dass die Aufsteiger rechte Parteien bevorzugen. Diese Effekte sind allerdings nur in der Gruppe der älteren Ostdeutschen und auf niedrigerem Niveau auch bei jüngeren Westdeutschen13 signifikant. Für diese beiden Subgruppen können wir also festhalten, dass ein Aufstiegseffekt vorliegt: Aufsteiger dieser Teilgruppen distanzieren sich tatsächlich von der Unter- oder Arbeiterschicht und lassen ein verstärkt konservatives Wahlverhalten erkennen. Insbesondere für die westdeutsche ältere Teilstichprobe gilt dieser Effekt jedoch nicht. Diese Subgruppe wählt nicht anders als die Mitglieder ihrer Herkunftsschicht: ältere Westdeutsche, die aus der Unter- bzw. Arbeiterschicht aufgestiegen sind, präferieren ebenso linke Parteien, wie jene, die sich gegenwärtig in der Arbeiter-bzw. Unterschicht befinden. Tabelle 6: Einfluss des sozialen Aufstiegs auf die Links-Rechts-Wahl unter Berücksichtigung von Kontrollvariablen (Hypothese 2b), Effekt-Koeffizienten Links-Rechts-Wahl West / Alter > 49 Modell Modell Determinaten 17 18 Evangelisch 1,40 1,41 Katholisch 0,80 0,80 Kirchenbindung 0,51* 0,51* Gewerkschaft 3,44* 3,44* Geschlecht: Frau 1,26 1,25 Bildung 0,98 0,97 Aufsteiger 1,17 Konstante 3,83* 3,83* -2 Log likelihood 446,53 446,11 Modell-Chi² 37,86** 38,29** Freiheitsgrade 6 7 Nagelkerke 0,14 0,14 N 334 334 + p < 0,1; * p < 0,05; ** p < 0,001 Quelle: Bundestagswahlstudie 2005

5.

Links-Rechts-Wahl Ost / Alter > 49 Modell Modell 19 20 0,70 0,67 0,26+ 0,30 0,79 0,78 2,60 2,34 1,02 1,03 0,98 1,01 0,44* 3,43* 3,14+ 298,06 292,18 11,22* 17,10* 6 7 0,06 0,10 243 243

Links-Rechts-Wahl West / Alter 49 Modell Modell 21 22 1,36 1,23 0,66 0,64 0,91 0,93 2,32* 2,40* 1,01 1,07 1,01 1,03 0,60+ 1,47 1,43 341,53 337,99 13,44* 16,98* 6 7 0,07 0,09 235 235

Links-Rechts-Wahl Ost / Alter 49 Modell Modell 23 24 10,86+ 11,61+ 80,72* 87,38+ 0,04* 0,04* 0,56 0,56 1,42 1,34 1,11 1,14+ 0,58 25,41* 22,22* 186,41 184,64 27,63** 29,40** 6 7 0,20 0,22 153 153

Zusammenfassung und Diskussion

Die empirischen Befunde lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: 1. 2.

13

Ein signifikanter Schicht-Effekt liegt bei allen Befragten mit Ausnahme der älteren Ostdeutschen vor. Abgesehen von jüngeren Ostdeutschen, wählen sozial Abgestiegene – entgegen der theoretischen Erwartung – in unserer Stichprobe häufiger linke Parteien als Mitglieder ihrer Ursprungsschicht. Diese Effekte sind allerdings nicht signifikant, was vermutlich auf die geringen Fallzahlen zurückzuführen ist.

Der Koeffizient für diese Teilgruppe ist auf dem 10%igen Niveau signifikant.

464 3.

Anja Mays und Jürgen Leibold Die sozialen Aufsteiger dagegen wählen in zwei der vier untersuchten Subgruppen (ältere Ostdeutsche und – mit höherer Irrtumswahrscheinlichkeit – auch jüngere Westdeutsche) signifikant häufiger bürgerliche Parteien. Auch hier zeigen sich Ost-WestUnterschiede: Während sich die älteren westdeutschen Aufsteiger nicht signifikant von der Herkunftsschicht unterscheiden – ihre politischen Präferenzen „mitnehmen“ – bevorzugen ältere ostdeutsche Aufsteiger konservative Parteien, passen sich also der Destinationsschicht an.

Wie lassen sich nun diese empirischen Resultate bewerten? Zunächst einmal ist festzuhalten, dass grundsätzlich neben der aktuell eingenommenen sozialstrukturellen Position auch die soziale Herkunft auf das Wahlverhalten wirkt. Insbesondere bei älteren westdeutschen Aufsteigern scheint die frühe politische Sozialisation noch nachzuwirken. Dieser Befund könnte darauf hindeuten, dass diese Generation – im Unterschied zu den jüngeren Westdeutschen bzw. allen Ostdeutschen – ihre frühe politische Sozialisation tatsächliche noch in einem sozial homogenen Milieu (Arbeiterschaft) mit eindeutigen Wahlnormen erlebt hat. Dass politische Lernerfahrungen, die in einem homogenen Umfeld stattfinden, zu langfristig stabileren politischen Orientierungen führen, steht im Einklang mit den Ergebnissen der politischen Sozialisationsforschung (vgl. Geißler 1996). Bei den anderen Aufsteigern wirkt die soziale Herkunft hingegen nicht langfristig nach. Sie wählen (in zwei der drei Gruppen auch signifikant) häufiger konservative Parteien als ihre Herkunftsschicht. Diese Personen, so könnte man argumentieren, verhalten sich also eher „rational“ und wählen entsprechend den Interessen ihrer Destinationsschicht. Die Frage, ob sich die soziale Herkunft bei Absteigern im Wahlverhalten niederschlägt, kann aufgrund der geringen Fallzahlen kaum beantwortet werden. Zwar votieren drei der vier Absteiger-Subgruppen häufiger für linke Parteien als die Mitglieder ihrer sozialen Ursprungsschicht, dieser Effekt erwies sich allerdings als nicht signifikant. Über die hier dargestellten Berechnungen hinaus finden sich in den Daten einige Hinweise, dass Absteiger in der Tat eher linken Parteien zu neigen. Sollten sich diese Hinweise in zukünftigen Untersuchungen bestätigen, dann bedeutet dies, dass auch Absteiger eher „rational“ – also im Sinne ihrer aktuellen sozialen Lage – abstimmen. Insgesamt konnten wir bei unseren Analysen einige deutliche Ost-West- Unterschiede ausmachen. Besonders auffällig erscheint dabei das Wahlverhalten der älteren Ostdeutschen. Zum einen liegt bei ihnen kein Schicht-Effekt vor und zum anderen fällt bei den älteren ostdeutschen Aufsteigern der relativ deutlich ausgeprägte „Aufstiegs“-Effekt zugunsten konservativer Parteien auf. Das Fehlen eines Schicht-Effektes kommt hier vermutlich dadurch zustande, dass die älteren Ostdeutschen – auch wenn sie sich zur Mittel- bzw. Oberschicht zählen- zu über 60% linke Parteien präferieren. Die politischen Sozialisationserfahrungen in der DDR scheint somit bei den älteren Ostdeutschen (sofern sie keinen sozialen Aufstieg erlebt haben) noch heute wirksam zu sein. Die etwas jüngeren Ostdeutschen reagieren hingegen in ähnlicher Weise wie die westdeutsche Bevölkerung auf das parteipolitische Angebot. Bezogen auf die sozialstrukturelle Konfliktlinie scheint sich bei einer Unterscheidung von linkem und rechtem Lager, das Wahlverhalten zwischen Ost- und Westdeutschland langfristig anzugleichen.

Schicht, soziale Mobilität und Wahlverhalten

465

Warum sich allerdings ältere ostdeutsche Aufsteiger verstärkt für konservative Parteien entscheiden, der Sozialisationseinfluss hier also ausbleibt und eine deutlichere Angleichung an die neue Schicht erfolgt, bleibt eine offene Frage. Alles in allem konnten wir mit den vorliegenden Daten zeigen, dass die Wahlentscheidung nicht nur vom gegenwärtigen sozialen Status beeinflusst wird, sondern dass sich unter bestimmten Bedingungen auch die frühere soziale Lage auf die Wahlentscheidung auswirkt. Insbesondere die Ost-West-Unterschiede lassen sich vor dem Hintergrund unserer Analysen als politische Sozialisationsergebnisse interpretieren.

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