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Revolution in Deutschland und Europa 1848/49 Herausgegeben von Wolfgang Hardtwig
Vandenhoeck & Ruprecht
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Revolution in Deutschland und Europa 1848/49 Herausgegeben von Wolfgang Hardtwig
Vandenhoeck & Ruprecht
98. 31782
Umschlagbild: t Blum's letzter Kampf für Deutschland's Freiheit. zu Wien, den 28lcn Qclober 1848. Historisches Museum Frankfurt am Main; Fotograf/ in: 5eitz-Gray_
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Rl"VOirltiOIl ill Deutschlond U/zd Ell ropa 1848/49 / hrsg. von Wolfgang Hardtwig.Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 1998 (Sammlung Vandenhoeck)
ISBN 3-S25-Dl368-X
1i:l 1998 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urhebc.rrechtsgcsetzes ist ohne Zustimm ung des Verlages unzulässig u nd s trafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Sys temen. Satz: Satzs piegel, Bovenden Druck- und Bindearbeiten: Hubert & Co" Gö ttingen
Bayerfsche Stastsblbllolhek München
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Inhalt
Woljga"g Hardtwig Einleitung ...................... , ... , .. , , ... , . , . . ..... 7
Laurenz Demps 18. März 1948. Zum Gedenken an 100 jahre Märzrevolution in Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 11
Peler Niedermiiller Geschichte, Mythos und Politik. Die Revolution von 1848 und d as historische Gedächtnis in Ungarn ...... 32 Woljga"g Kascllllba 1848 / 49: Horizonte politischer Kultur ........... . , ...... 56 Woljgang Hardtwig Die Kirchen in der Revolu tion 1848/ 49. Relig iös·politische Mobilisierung und Parteienbildung .... 79
Rillf P'öve Politische Partizipa tion und soziale Ordnung. Das Konzept der ).volksbewaffnung'( und die Funktion der Bürgerwehren 1848/ 49 . .. . ....................... 109 Rüdiger vom Bruch Die Universitäten in d er Revolution 1848/49. Revolution ohne Universität - Universität ohne Revolution? ........ 133 Konrad Canis Die preußische Gegenrevolution. Richtung und Hauptelemente der Regierungspolitik von Ende 1848 bis 1850 .. 161 Heinrich August Wink/er Der überforderte Liberalismus. Zum Ort der Revolution von 1848/ 49 in d er d eutschen Geschichte ...... ...... ... 185 Ganter Schödl Jenseits von BürgergeselJschaft und nationalem Staat: Die Völ ker Ostmitteleuropas 1848 / 49 ................. . 207
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Inhalt
Ludmi/a Thomas Russische Reaktionen auf die Revolution von 1848 in Europa ....................................... .... 240 Hartmut Knelble 1848: Viele nationale Revolutionen oder eine europäische Revolution? .............................. . ...... ... 260
Autorin und Autoren .... . .. . . ... . . .. .. . . ... . ... ... .. 279
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Einleitung
Der vorliegende Band vereinigt Studien zur Geschichte der Re· volution 1848 / 49 in Deutschland und Europa aus Anlaß d es hundertfünfzigjährigen Jubiläums der Revolution. Sie ents tan· den aus einer Ringvorlesung, die im Wintersemester 1997/ 98 an der Humboldt-Un iversität zu Berlin gehalten w urde. Der Stand ort der Universität Unter den Linden, schräg gegenüber dem ehemaligen Schloßplatz, verpflichtete gleichsam dazu. Berlin war 1848 ein zentraler Handlungsort. lm TIergarten westlich des Brandenburger Tors fanden seit Anfang März die Volksversammlungen statt, bei d enen die populären liberalen und demokratischen Forderungen erhoben wurden. Von hier aus bewegten sich mehrfach Demonstrationszüge zur Innenstadt, bei denen »die Straße« zum Schauplatz des revolutionären Geschehens wurde. Die nach den fatalen Schüssen auf dem Schloßplatz am 18. März losbrechenden Barrikadenkämpfe bildeten den Auftakt für gewaltsame Unruhen auch in anderen Teilen Deutschlands. Wenn es der Revolution auch an einer gesamtdeutschen Zentrale ge fehlt hat, so entwickelte sich hier doch - ebenso wie in Wien - eine zunächst revolutionäre, dann gegenrevolutionäre Dynamik, die auf die anderen Staaten und Hauptstädte des Deutschen Bundes ausstrahlte. Berlin war freilich nicht nur ein zentraler Handlungsort in der Revolution, sondern auch der wichtigste Ort der Erinnerung an die Revolution und ihre Bedeutung für die deutsche Geschichte im weiteren Verlauf des 19. und im 20.Jahrhundert. 1948, beim hundertjährigen Jubiläum, geriet das Gedächtnis an die revolu· tionären Ereignisse in die Konfrontation des Kalten Krieges hin· ein . In ungewöhnlich direkter und massiver Weise versuchte die SED in der politisch noch nicht geteilten Stadt, die kollektive Erinnerung in ihrem Sinne zu gestalten und für ihre politischen Zwecke zu instrumentalisieren. Die übrigen Parteien unter Füh· rung der SPD erkannten die Dimension einer solch einseitigen geschich tspolitischen Vereinnahmung spä t, aber gerade noch so rechtzeitig, daß sie eine exklusive An eignung des historischen Erbes durch die SED verhindern konnten.
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Das hundertfünfzigjährige Jubiläum der Revolution find et in einer weniger zugespitzten, wenn auch keineswegs beruhigten politischen Atmosphäre statt, gerade wenn man vom histo ri· sehen Handlungs· wie auch Ermnerungsort Berlin ausgeht . Es bietet jedenfalls weniger Anlaß für eine aktuell·politische Über· frachtung und für grundsätzliche geschichtspolitische Kontro· ve·rsen. Mit dem endgültigen Übergang des wiedervereinigten Deutschland zur repräsentativen Demokratie 1989/90 hat sich die historiseh·politische Bewertung der liberal-d emokratischen Mehrheit von 1848/ 49 endgültig ins Positive gewendet, na ch· dem in der Einschätzung der revolutionären Ziele und Möglichkeiten zwischen Historikern und politischen Erbeverwaltern aus d er Bundesrepublik und der DDR noch erhebliche Divergenzen bestanden hatten. Die Revolution gilt jetzt als eine wesentliche Etappe auf dem Weg Deutschlands zur parla mentarischen Demokratie und zu einem partizipativen Nationalstaat - ungeachtet ihrer Erfo lglo· sigkeit. Sie konnte ihre Ziele unmittelbar so gut wie nirgends erreichen - weder was die nationale Einheit noch was ih re freiheitspolitischen Forderungen angeht. Gleichwohl ist die gäng ige Rede von ihrem »Scheitern« in den letzten Jahren vielfa ch modifiziert worden. Die Revolution bewirkte den - mehr oder weniger- retardierten Übergang der vor konstitutionellen größ. ten heiden deutschen Staaten, Preußens und ÖSterreichs, zur Verfassungsstaatlichkeit; sie praktizierte in der Paulskirche und in den ei nzelstaatlichen Versa mmlungen vielfach Formen eines modernen Parlamentarismus; sie trieb die Auflösung d er alten Ständeordnung entschieden voran; sie brachte einen Politisierungsschub bis in die unterbürgerlichen und bäuerlichen Schichten hinein, der in den nachfolgenden Jahren d er Reaktion zwa r massiv unterdrückt wurde, sich nach der Lockerung der nachrevoluti onä ren Repression seit 1859 aber erneut Bahn brach und die politische Kultur in den deutschen Staaten erheblich veränd erte. Und sie zeichnete die kleindeutsche Option für die nationalstaatliche Einigung 1864 bis 1871 vor. Gleichwohl sind die Brechungen zu beach ten, die eine allzu einlinige Einordnung der Revolution in eine Vorgeschichte unserer heutigen politischen Ordnung nicht zulassen. Der Protest von Bauern und gewerblichen Schichten verfolgte z. T. eng begrenzte und mitunter durchaus traditionalistische Ziele. Viel· fach verbanden sich die Absichten der politischen Demokratie
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mit sozia l konservativen Wertordnungen und Forderungen. In den Kirchen bew irkte die Revolution eine konservati ve Modernisierung, die für die Verbreitung liberal-demokratischer EinsteUungen durchaus ambivalente Folgen haben sollte. Die Revolution scheiterte in Deutschland hauptsächlich an der von den Akteuren selbst nicht zu verantwortenden Überlastung von sich überschneidenden und gegenseitig verstärkenden Problemen und Aufgaben. 1m Ergebnis setzten sich - kurzfristig und massiv, aber doch auch mit langfris tigen Folgen - die einzeIstaa tli chen militärisch-bürokrati schen Machtapparate durch. Dies hatte u. a. zur Folge, daß das Andenken an die Revolution und ihre Träger und d amit auch an ihre Ziele in der in Deutschland überwiegend staa tsnahen gebildeten Öffentlichkeit zunehmend diskreditiert w urde und im allgemeinen politischen Bew uBtsein viel umstrittener blieb als in anderen europäischen Ländern. Die Revolution von 1848/ 49 is t kein spezifisch deutsches Phänomen, sondern ein europäisches. Diese Feststellung gilt auch, wenn man in Rechnung stellt, daß zwei der großen Mächte der europäischen Pentarchie, England und Rußland - ebenso wie Teile Süd osteu ropas, die un ter os manischer Herrschaft standen - von der Revolution nicht unmittelbar betroffen wurden und daß d ie Revolution im ost- und südosteuropäischen Raum z. T. in anderen Formen, mit anderer Intensität, anderen Trägergruppen und anderen Zielen auftrat als in West- oder Mitteleuropa. Die Verflechtungen und Konfrontationen der europäischen Staaten und ihrer herrschenden, aber auch ihrer opponierenden Kräfte sind überaus vielgestaltig und auch widersprüchlich. Für den Rückblick auf die Jahre 1848/49 in Deutschland ist es un abdingba r, diese eu ropäisc he Dimension der Revol ution in ihrer ganzen Komplexität in die Analyse und Renexion einzubeziehen. Die Vortragsreihe w urde veranstaltet vom Institut für Geschichtsw issenschaften an der Humboldt-Universität; daß auch Vertreter des Instituts für Europäische Ethnologie d aran mitwirkten, hat die Spann weite der Themen und Fragestellungen noch erweitert. Historiker/ Innen und Ethnologen stellten sich die Aufgabe, die angedeuteten Probleme und Dimensionen aus der Sicht von Spezialisten auf dem aktuellen Forschungsstand, aber in allgemein-verständlicher Form und auch für ein breiteres Publikum zugänglich darzustellen. Aspek te der politischen
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und sozialen Geschichte der Revolution in Deutschland und im e uropäischen Vergleich kommen dabei ebenso zur Sprache wie solche der Menta litäts· und der Kulturgeschichte, der Wertorientierungen und der normati ven Einstellungen der Handelnden und Betroffenen. Zwei Beiträge wid men sich ausdrücklich den Formen und Funktionen der Erinnerungsku ltur. Alle hier vorgelegten Untersuchungen verstehen sich ihrerseits als Beiträge zu einer Ermnerungskultur, die ihre eigenen Bedingungen reflektiert und der es nicht nur um die wissenscha ftli che Erkenntnis, sondern auch um die Vermittlung von Wissenschaft und Ö ffe ntlichkeit zu tun ist. Wolfgang Hardh.... ig
Laurenz Demps
18. März 1948 Zum Gedenken an 100 Jahre März revolution in Berlin
Gedenken und Kultur des Gedenkens sind gegenwärtig in heftiger Diskussion. Die Stadt Berlin scheint dabei ihre besonderen Probleme zu haben. Es soU nicht verschwiegen werden, daß die Jahre nach 1945 gerade in Berlin die gesamten Schwierigkeiten der Entwicklung einer Gedenkkultur aufgezeigt haben. Aber es waren immer auch tagespolitische Ereignisse von hoher Brisanz, die eine notwendige Klärung unmöglich machten, ja sogar verhinderten, und dies mit Langzeitwirkung bis in die Gegenwart. An einem Beispiel, dem Gedenken an 100 Jahre Märzrevolution 1848, sollen die Tücken des Gedenkens aufgezeigt werden . Am Anfang stand ein Magistratsbeschluß, der am 25. August 1947 gefaßt wurde. Er trägt die Unterschriften von Louise Schröder, Oberbürgermeister i(n) V(ertretung), und Stadtrat May für die Abt(eilung) f(ür} Volksbildung. Hier zunächst der Wortlaut des Beschlusses: a) Herausgabe einer Festschrift, b) einer kleineren Broschüre für Schüler, c) Berücksichtigung des Revolutionsjahres im Lehrplan der Schulen und Volkshochschulen. d) Durchführung einer Ausstellung über die48er Bewegung in den Räumen des Berliner Zeughauses, zur gleichen Zeit Kennzeichnung der historischen Stä tten der Barrikadenkämpfe, e) offizieller Festakt am 18.3.1948, bei dem Vertreter Groß-Berlins und anderer Körperschaften sprechen; Festrede eines namhaften Historikers, Umrahmung durch das philharmonische Orchester und den Chor der Staatsopcr, f ) am Tag der Beisetzung der Märzgefallenen feierliche Kundgebung auf dem Gendarrnenmarkt unter Mitwirkung der Gewerkschaften, der Parteien und anderer Abordnungen der Berliner Bevölkerung. Im Anschluß an die Kundgebung Bildung eines Gedenkttauerzuges, der sich zum Friedho f der Märzgefallenen im Friedrichshain bewegt, um don an der neuhergerichteten Gedenkstätte Kränze niederzulegen,
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g) um den Erinnerungsfeie rlichkeiten eine möglichst große Wirkung zu verleihen, ist es erwünscht, daß neben den zentralen Veranstaltungen d es Magistrats weitere Sonderveranstaltungen in den Bezirken, Schulfe ie rn. eine Hochschulveranstaltung und dergl. stattfinden, die zeitlich u nd räumlich SO aufeinander abzustimmen sind, da ß keine gegenseitige Beeinträchtigung möglich ist. I
Obwohl es ungewöhnlich sein mag, an den Anfang einer Ausführung ein komplettes Dokument zu stellen, wurde diese Vorgehensweise gewählt, um an Hintergründe und Ergebnisse eines Memorialvorgangs zu erinnern, Motive und Momente d es Tradierens zu beleuchten und Wirkungen und Ergebnisse zu hinterfragen. Und noch etwas Ungewöhnliches: die eigene Erinnerung. Der Verfasser dieser Zeilen war im März 1948 knapp acht Jahre alt und unterlag als Schüler der 33. Volksschu le Prenzlauer Berg diesem Beschluß, in dessen Folge er an irgendeinem Tag im März 1948 - im übrigen bei leichtem Nieseiregen - im Hof der Ruine des Berliner Schlosses stand und die Geschichte der Revolution von 1848 erstmals hörte. Wenig erfreut wegen des leichten Regens, der Schule und in Erwartung dessen, was uns die Lehrer wohl nun schon wieder erzählen würden. Ein weiterer Beschluß des Magistrats vom selben Tage bestimmte, d aß für die "Vorbereitung und Durchführung der Erinnerungsfeierlichkeiten 1848/ 1948[ ... ] folgende Maßnahmen getroffen [werden]; 1. Bildung eines rep räsentativen Komitees, dem namhafte Vertreter des öffentlichen, politischen und geistigen Lebens angehören sollen. 2. Bildung eines Arbeitsausschusses, dem seitens des Magistrats angehören soUen: Bürgermeister L. Schröder, Bürgermeister Dr. Frieclensburg. Bürgermeister Dr. Acker, Stadtrat May, Stad trat Bonatz, Stadtrat Theuner ...2
Zunächst sei an die konkrete Situation in der Stadt erinnert. Nachkriegswirren und Not waren Alltag, Hunger, Krankheit und Verrohung der Sitten ebenso. Kein Glas in den Fenstern, ein permanentes Hungergefühl, Ruinen, wohin man schaute, Glasscherben, Panzerruinen, Fahrgestelle von Geschützen, die man als Spielplätze nutzte, Aluminiumstreifen, »Stahlbucker« aus Panzern, angeschlagenes Panzerglas als besondere Kostbarkeit, Suche nach Holz in den Ruinen ... alles hundertfach beschrieben, Neues ist wohl nicht hinzuzufügen. Die Geschichtsaufarbe itung nach der Katastrophe der NSHerrschaft hatte zunächst einschneidende Eingriffe in das tra-
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dierte Geschichtsbild erbracht. Man war sich einig, daB ein intellektueller Bruch mit der bisherigen Geschichtsbetrachtung nationalstaatlicher und borussischer Prägung notwendig war. Den Minimalkonsens für alle Seiten stellte das Buch von Alexander Abusch »Irrweg einer Nation(( dar, eine sehr mechanische, aber holzschnittartig wirkungsvolle Betrachtung der deutschen Geschichte, die als geradlinige Misere in direkter linie von Luther über Friedrich U. und Bismarck zu Hitler dargestellt wurde. Abusch lieB Raum für die Betrachtung der Gegenkräfte und Bewegungen, zu denen er auch die Revolution von 1848 zählte. Bei der Suche nach Anknüpfungspunkten in der geistigen Leere der Jahre nach 1945 schälte sich ein Zurückgehen um einhundert Jahre heraus. Der März 1848 war wohl der Punkt, auf den sich die Mehrzahl der politisch Handelnden - wenn auch aus unterschiedlichen Motiven - einigen konnte, wenn man an etwas in der Geschichte anknüpfen wollte. Spürbar war die Unruhe, die Suche nach einem Konsens, die die Zeit mitprägte. In einem dann nicht veröffentlichten Aufruf - wohl vom Februar 1948umschrieb der Magistrat von Groß-Berlin den Konsens so: ).Die Revolution hat ihr Ziel nicht erreicht, weder auf den Barrikaden noch im Parlament, und dennoch ist ihr Kampf für unser Volk nicht umsonst gewesen. Reaktion und Tyrannei raubten der werdenden Demokratie die Rechte und Freiheiten, die dem überlebten Obrigkeitsstaat abgerungen [worden) waren.«) Es läßt sich heute nicht mehr eindeutig feststellen, von weichem Personenkreis die Initiative ausging, eine Würdigung von 100 Jahren Märzrevolution in Berlin vorzunehmen. Fest steht, daß diese Idee aus dem Kreis der Stadtverordnetenversammlung an die Öffentlichkeit gebracht wurde. Am 24. April 1947 hatte die Stadtverordnetenversammlung im Haushaltsplan »Volksbildung und Kunst 500 000 RM eingestellt, um die Feierlichkeiten zu finan zieren«. Aber erst am 24 . Juli 1947 gingen die Zeitungen darauf ein. Es folgte am 7. Oktober eine Pressekonferenz, auf der der Leiter der Abteilung Volksbildung, Dr. Karl May, die Einzelheiten der Planung für die Feierlichkeiten erläuterte. Bürgermeis ter Dr. Ferdiand Friedrichsburg schrieb im »Tagesspiegek ))Die Stadt Berlin hat es sich zur Aufgabe gemacht, in den kommenden 1ahren die Vorgänge von 1848 anschauli ch und einprägsam darzustellen. ,,4 Er legte dabei besonderen Wert auf die Vorlage von drei Schriften: eine Arbeit von
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Friedrich Meinecke, eine weitere vom Stadtarchivdirektor Kaeber und eine populäre Schrift für die Jugend. Mit diesen Schriften und in der eingangs erwähnten Ausstellung sollte an die Ereignisse des März 1848 erinnert werden, Kundgebung und Demonstration hatten dann die notwendige Öffentlichkeit herzustellen. In ungewöhnlich scharfer Form reagierte darauf am 21. Oktober die »Tägliche Rundschau «, die Zeitung der Sowjetischen Mihtäradministration für die deutsche Bevölkerung. Sie fragte: »Revolutionsfeiern ohne revolutionären Geist?« Der Arti_kel legte die Schritte der Vorbereitungen dar, ging u . a. auf die geplante Arbeit von Kaeber ein und kommentierte: »Man wird auf diese Weise sicher eine Fülle von historischem Material erhalten, aber ob man in dem Werk revolutionären Atem verspüren wird, dürfte zweifelhaft sein.« Scharf ging der Autor dann gegen die Absicht des Magistrats vor, Friedrich Meinecke um eine weitere Arbeit zu bitten. Meinecke wurde als »Antipode der materialistischen Geschichtsauffassung« bezeichnet und der Vorwurf gemacht, daß er in seinen Arbeiten die »sozialen Zusammenhänge gänzlich unbeachtet gelassen« habe. Es wurde gefordert, Vertreter der Parteien, der Gewerkschaften, gesellschaftlicher Organisationen mit in den Kreis der Personen einzubeziehen, die die Feierlichkeiten vorbereiten sollten. Mit dem Hinweis auf die geplante Demonstration schloß der Artikel mit den Worten: "Damit aus allen diesen Plänen etwas Lebensvolles wird , bedarf es vor allem der Mitwirkung von Menschen mit revolutionärem Geist. «"~ Das entsprach weltanschaulicher und politischer Überzeugung sowie konkretem Machtkalkül, denn die Erinnerung an ein historisches Ereignis war in diesem Selbstverständnis nur dann sinnvoll, wenn damit gleichzeitig Veränderungen in der Gegenwart vollzogen werden konnten. In diesem Falle sollte die Erinnerungsarbeit genutzt werden, um die Bewohner Berlins an die Ausweitung der eigenen Macht heranzuführen . Oberst Serge; I. Tulpanow, damals Chef der Informationsabteilung der Sowjetischen Militäradministration, formulierte dies im Rückblick des Jahres 1976 so: »Von großer Bedeutung bei der Überwind ung der tief im Bewußtsein d er Intelligenz verwurzelten Apologetik des bürgerlichen Parlamentarismus waren Artikel und Bücher, die der Analyse der Novemberrevolution in Deutschland und der Revolution von 1848 gewidmet waren. «6
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1m Klartext bedeutet dies: Es ging nicht um die Erinnerung, sondern um eine Verbindung von Erinnerung und tagespolitischer Auseinandersetzung. Natürlich hat Erinnerungsku ltur immer mit dem Einfluß auf die Gegenwart zu tun. Eine Erinnerung nur an vergangene Vorgänge, ohne eine gewisse Einflußnahme auf die Gegenwart, auf die Haltung, auf die Meinungsbildung usw., ist wohl nicht gerechtfertigt. Zu einer die Menschen ansprechenden Erinnerungskultur gehört aber ganz wesentlich auch die freie Rückwendung der Aufmerksamkeit in die Vergangenheit. Um diese ging es hier freilich nicht, sondern um die Nutzung eines historischen Ereignisses für den politischen Tageskampf. Berlin hatte nach 1945 einen besonderen Status erhalten, der die Stadt in vier Sektoren teilte. Die Stadt sollte aber von allen vierSiegermächten des Zweiten Weltkriegs einheitlich und gemeinsam verwa ltet werden. Den jeweiligen Sektoren stand ein Stadtkommandant vor. Die vier Kommandanten bildeten die Allüerte Kommandantur. Die auf die ganze Stadt gerichtete alliierte Verwaltung verlangte die ständige Suche nach einem Konsens, denn nur das gemeinsame Handeln sicherte die Einheitlichkeit. Der »Ka lte Krieg« zwischen Ost und West um Gebietsansprüche und Einfl ußsphären erschwerte jedoch die Zusammenarbeit immer mehr, man konnte sich über immer weniger Fragen einigen. Mit der Ausarbeitung der Festschrift zur Revolution von 1848 wurde der Direktor des Stadtarchivs, Dr. Ernst Kaeber, beauftragt. Seine Arbeit erschien 1948 im Aufbau-Verlag. Der einleitende Satz Kaebers lautete: »Zwei Themen sind es, die beherrschend über der deutschen Revolution des Jahres 1848 stehen: Einheit und Freiheit. «' Damit stell te sich die Schrift selbst in die po litische Auseinandersetzung. Kaeber schließt: »Und doch - vergeblich ist der 18. März nicht gewesen. Er hat die Möglichkeit für eine Entwicklung der produktiven Kräfte der bürgerlichen Wirtschaft eröffnet [... ] Die Grunde aufzuzeigen, warum die kommenden Generationen das Versäumte nicht nachgeholt, warum sie die schwerste politische Belastung Preußens, den MiHtarismus, nicht ausgerottet haben, ist die wichtigste Aufgabe, die der Geschichtsschreibung der Gegenwart gesetzt ist, ((8 Damit war der inhaltliche Bogen auch für die AussteUung und für den Grundtenor des Gedenkens gespannt. Die Zuspitzung, die vordergründige Politisierung der Gedenkfeierlichkeiten setzte im Januar 1948 ein. Nur eine Berliner
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Tageszeitung - die »Berliner Zeitung{( - berichte te im Janu a r überha upt in knappe r Form vom Fortgang der Vorbereitungen a uf den Gedenktag, auf die Ausstellunßt die Festsitzung der Stadtve rordneten, die Kundgebung und Demonstra tion, z u der »die Betriebe und die Berliner Bevölke rung a ufgerufen wer· den«9 sollen . Das »Neue Deu tsc hland « berichte te dann, d aß Karl Mew is, Stadtverordnete r de r SED und Ve rtreter seiner Pa r· tei im Vorbe reitungskomitee, auf einer Funktion ä rsversamm· lung gegen die Vorbereitungen de r Stadtverordne ten versamm· lung und des Magistrats p rotestiert habe, da d er »18. März eine Sache der Arbeiterklasse« sei.10 N un gelan gten die Vorbereitun· gen des Gedenkens an die Revolution von 1848 in die tagespo· litischen Auseina ndersetzungen. Aus einer historisch·aufklä re· risch ged achten Erinne rung, die ein Denken und Ged enken an ein verbindendes historisches Ereignis darstellen sollte, w urde ein la utes, vorde rgrü ndiges, tagespoliti sches Spektakel. An zwei Ereignisse sei erinne rt: Im Janua r 1947 schlossen sich d ie am e rikanische und britische Besa tzungszone in Westdeutsch· land z ur Bizone zusammen, d ie im März 1948 durch Einbezie· hung d er französischen Zone z ur Trizone e rweitert w urde. Ber· Hn blieb d avon weitestgehend au sgesch lossen, an eine Einbe· ziehung der Stad t - auch der n icht unter Westalliierter Verwaltung stehenden Bezirke - in de n Marshallpl an und in eine vorbereitete Wä hrungsreform war zunächst in keiner Wei· se gedacht. Auf der anderen Seite nahmen die »brutalen Versu· ehe der sowjetischen Besa tzun gsmacht und ih rer d eutschen Helfe r«11 z u, die Westmächte aus Berlin h inau szudrängen und die Macht in ganz Berlin zu übernehmen. Die Februarereignisse in Prag, d ie zum Sturz der Regie rung Masa ry k und zur Über· nahme der Macht durch d ie Kommunis ten in der Tschechoslo· wa kei führten, spitzten d ie Auseina ndersetzungen in Berlin zu, sah man in ihn en doch a uf den unterschied lichen politischen Sei ten ennved er den Weg z ur Durchsetzung eigener politische r Vorstell ungen oder aber d ie d rohe nde Gefahr ein es kommuni · stischen Ums turzes. In die Berli ner Vorgänge spielten sehr sta rk d ie zentralen Hand lungsabläufe in der Sowjetischen Besatz ungszone (SBZ) hinein, die sich ebenfalls a uf Berlin konzentrierten . Am 12. Fe· bruar übertrug d ie Sowjetische Mili täradminis tration Deutsch· la nd (SMAD) der im Juni 1947 gebild e ten De utschen Wirt· schaftskom mi ssion (DWK) Gese tzgebu ngsbefugnisse; damit
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war de facto eine oberste deutsche Regierungsbehörde für die SBZ geschaffen. Oie östl ichen Bezirke der noch ungeteilten Hauptstadt wuchsen in eine zentrale Entscheidungsebene fü r die SBZ hinein, denen die westlichen Bezirke nichts entgegenzusetzen hatten. Oie Spa ltung deutete sich auf allen Ebenen an; erinnert sei nur an den Auszu g von Marschall Sokolowski als Vertreter der SMAD am 20. März 1948 aus dem Alliierten Kontrollrat. Die Politiker insbesondere der SPD und der CDU mußten alles daransetzen, die Haltung der Westmächte gegenüber Berlin zu verändern, d. h. einen Gesinnungswandel bei den Westmächten gegenüber der Stadt herbeizuführen und d ie Westintegration des spä teren West-Berlin voranzutreiben. Dem s tand d as Bestreben der SED gegenüber, offensiv jede Möglichkeit zu nutzen, um d en Druck auf Westberlin und die Westmächte zu vers tärken. Oie Differenzen nahmen in Berlin auch im lokalen Bereich zu. Die sowjetische Militäradministration spielte dabei eine aktive Rolle. Sie arbeitete darauf hin, daß die Berliner Parteiorganisationen von den Verbänden in der Sowjetischen Besatzungszone getrennt wurden. Am 10. Februar 1948 wurde die Berliner Organisation der LOP und am 12. Februar d ie der COU von d en Landesverbänden der SBZ ausgeschlossen. Und so geriet das Gedenken an den 18. März 1848 in einen poli tischen Mahlstrom, denn es bot die Möglichkeit, politischen Druck auszuüben. ln der Folge zeigten sich zwei Linien: die eine, die dem Beschluß des Magistrats folgte, durch Veröffentlichungen, Ausstellungen und Gedenken an den 18. März 1848 aufklärerisch zu wirken, und die zweite, die d as Gedenken an das Ereignis vordergründig, für den pol itischen Tageskampf ummünzen wollte. ln der Vorbereitung auf die folgende Stadtverordnetenversamm lung ließ der Ältestenrat am 14. Januar 1948 - gegen den Protest d es SED-Vertreters - d ie Kundgebung und die Demonstration am 18. März 1948 fallen, d a befürchtet wurde, daß diese für d ie Politik der SED genutzt wurden. Alle anderen Vorlagen fü r die Stadtverordnetenversammlung wurden genehmigt. Am 15. Januar 1948 wurden die Vorlagen des Arbeitsausschusses des Berliner Magistrats in der Berliner Stadtverordnetenversammlung behandelt. Als erster sprach Karl Mewis für dieSED-Fraktion. Er wandte sich gegen die Aktivitäten des Magistrats zu den Gedenkfeiern und füh rte aus, daß nach Ansicht
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seiner " Fraktion die Jahrhundertfeier keine Angelegenheit l e~ diglich der Stad tverwaltung, sondern der Bevölkerung von Ber~ Lin« sei. Den Zeitungsberichten zufolge verlangte er, daß in den Arbeitsausschuß auch Stadtverordnete, Angehörige demokratischer Organisationen, vor allem d es FOCB, des Kulturbundes und der Jugendorganisation aufgenommen werden sollten. Dahinter stand eine strategische Absicht: »Die Revolution von 1848 hat für unsere heutigen Verhältnisse a ußerordentliche Be~ deutung. Die Arbeiterschaft Berlins ist daran auf das höchs te interessiert und beabsichtigt zu beweisen, daß sie der Tradition jener Tage vor hundert Jahren würdig iSt. «ll Die Veranstaltun~ gen - so Mew is weiter - dürften deshalb nicht nur formalen und repräsentativen Charakter tragen, wie das noch vor 15 Jah ~ ren üblich gewesen sei. Überdeutlich trat bei alledem d er Bez ug zu den Ausführungen der »Täglichen Rundschau« vom 21. Oktober 1947 hervor. Mewis' beinahe harmJos anmutenden Sätze stellten eine kla ~ re Kampfansage dar. In ihnen wurde das geplante Programm politisiert. Hier wa r von einer ganz anderen Feier die Rede. In den Ausschüssen sollten Vertreter derjenigen Organisationen mitwirken, die als »Transmissionsriemen« der Politik dienten, und die Veranstaltungen sollten auf die Straße verlegt werden. Mit der Demonstration sollte Druck auf die Politik d es Magi~ strats und im weiteren auf die westlichen Alliierten ausgeübt werden. Der Sinn d er Ausführungen zielte darauf, die abwartende Haltung der westlichen Alliierten gegenüber Berlin in der Weise zu beeinflu ssen, daß sie ihr Engagement in der Stad t un ~ ter dem Druck der Straße einstellen soHten . Insbesondere die Stadtverordneten der SPD mußten da ge~ gen auftreten. Diese Aufgabe übernahm der Abgeordnete Swolinzky. Wohl unüberlegt verlangte er die "ungetei lte Republik von Königsberg bis zum Süden((, um dann die Forderungen von Mewis zurückzuweisen. Es kam zu Tumult, persönlichen Beleidigungen und Ordnungsrufen . Die Position der SPD blieb insgesamt defensiv, s ie wehrte sich insbesondere gegen den Oemonstrationszug zum Friedhof der Märzgefallenen, da die Berliner nur mangelhafte Schuhbekleidung hätten. 13 »Die Menschen soUen jedoch nicht zum Demonstrieren gezw ungen werden . Magis trat und Stadtparlamen t (s ind) d ie gewählten Kö rperschaften, um diese Kundgebung durch zu führen.(14 ),Stellen Sie sich im März, bei rauhem Wetter, einen Demonstra-
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tionszug vor (. . . ] und die Leute haben nicht einmal das Schuhzeug dazu! Wir wollen diesen Tag ohne groBe Propaganda begehen.«IS SPO, COU und LOP zogen sich in dieser Frage zurück, offensichtlich trauten sie ihren Argumenten wenig und hatten Befürchtungen wegen des Organisationsschwungs der SED. Alle Fraktionen brachten dann schließlich ein »Gesetz über den 18. März 1948 als gesetzlicher Feiertageeein. Es hatte folgenden Wortlaut: »§ 1 Der 18. März 1948 ist als Gedenktag des hundertsten Jahrestages der Berliner März-Revolution in Groß-Berlin gesetzlicher Feiertag. § 2 Für die infolge dieser Bestimmung ausfallende Arbeitszeit ist der regelmäßige Arbeitsverdienst zu bezahlen. § 3 Der Magistrat von Groß-Berlin wird ermächtigt, zur Durchführung des Gesetzes allgemeine Verwaltungsvorschriften zu erlassen.ee l6 Mit Befehl Nr. 20 des Obersten Chefs der Sowjetischen Militärverwaltung vom 3. Februar 1948 wurde die Arbeitsfreiheit befohlen, »zur Feier des 100. Jahrestages der Revolution von 1848 in Deutschland, die unter dem Banner der Freiheit für eine einige demokratische deutsche Republik gegen die Kräfte der Feudaljunkerreaktion durchgeführt wurde, und zur Erinnerung an die Kämpfer der Revolution<e.17 Diese Passage verdeutlicht die Stoßrichtung des Befehls. Eine weitere Zuspitzung erfuhr der Streit durch die Tagung des 2. Deutschen Volkskongresses in Berlin. Dieses Organ der SED, bestehend aus Delegierten verschiedener Parteien und Massenorganisationen, vertrat die Auffassung der sowjetischen Deutschlandpolitik. Sein äußeres BiJd entsprach dem Scheinpluralismus, den dieSED nach 1945 in die politische Landschaft der SBZ eingebracht hatte.18 Entstanden war er aus der Volkskongreßbewegung für Einheit und gerechten Frieden. Die in den westlichen Besatzungszonen Anfang 1948 verbotene Bewegung ließ mitteilen, daß sie ihren 2. Kongreß am 18. März 1948 in Berlin abhalten werde. Durch den beabSichtigten Zusammenfall des Gedenkens an den 18. März 1848 mit dem 2. Deutschen Volkskongreß entstanden unter anderem auch Raumprobleme. So war vorgesehen, daß die festliche Sitzung der Stadtverordnetenversammlung in der Deutschen Staatsoper - zu diesem Zeitpunkt Admiralspalast in d er Friedrichstraße und Tagungsort des 2. Deutschen Volkskongresses - stattfinden sollte. Stadtrat May wandte sich daher am 2. Februar an das Ständige Sekretariat des Volkskon-
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gresses und bat um Verlegung, »damit allen Berlinern und den geladenen Gästen die Teilnahme an den Feiern der Stad t möglich is t «.l9
Bereits am 4. Februar anhvorteten Otto Nuschke und Waltet Ulbricht im Namen d es Deutschen Volkskongresses und le hnten eine Verlegung d es Termins ab. Im Gegenzug schlugen sie vor, die »Ehrung an den Gräbern d er Märzgefallen en am 18. März früh « gemeinsam vorzunehmen. »Au f diese Weise so heißt es dann weiter, »würde nach aussen hin bekundet, dass wir gemeinschaftlich dem Gedächtnis der gefallenen Vorkämpfer für Einheit und Freiheit huldigen, wenn auch naturgemäß die politische Tagung des Volkskongresses sich von der doch mehr als Erinnerungsfeier gedachten Berliner Veranstaltung abhebt. «20 Durch diese Hintertür wären d ann der Berliner Magistrat und j ',
die Stadtvero rdneten versa mmlung d och mit dem Volkskongreß verza hnt worden. Das wollten die großen Parteie n - außer d e r SED - in Berlin nicht, da sie d ann po litisch in e in Programm eingebunden worden wären, das s ie ablehnten. Auf die d e r Ö ffentlichke it im wesentlichen verborgenen und damit unverständlichen Vorgänge reagierte d ie Presse unwillig. So meldete die Zeitung ••Berlin am Mittag« am 6. Februar: »Der Älteste nrat lehnte ab, die Opfer d er Revolutio n von 1848 gem einsam mit den Teilnehme rn des Volkskongresses zu ehren. Die genannten Parteien (SPD, CDU, LDP; d e r Verf.J wollen sich ausschließlich an den offiz iellen Feierlichkeiten d er Stadt Berlin bete ili gen. Da an diesen Fe ie rlichkeiten nur geladene Gäste teilnehm en, ist eine Te ilnahme d er Berliner Bevölke rung so gut wie ausgesch1ossen.«21 Die Zeitungen verö ffentl ichten nun die Progra mme für d ie Veranstaltungen, die im wesentlichen g leich lauteten : .. Mittv.'och 17. März 13 Uh r: Eröffnung der Auss tellung im Weißen Saal des Schlosses, Ansprache Stadtrat May. 18 Uhr: Festvorstellung im Deutschen Thea ter . Nathan der Weise... Ans prache Louise Schröder. Donnerstag 18. März 8 Uhr: Einwei hung d es Gedenksteines und Kranzniederlegung auf dem Friedhof der Märzgefallenen. Ansp rache Stadtverordnetenvorsteher Dr. Suhr. 10.30 Uhr: Festakt in der Städtischen Oper. Anspra · che Dr. Peters und Paul Löbe. Rezitation: Fritz Kortner. - 14 Uhr: Festtagung dcr 5tadtverordnetenversammlung im Neuen 5tadthaus.,,21
Dazwischen lagen dann ab 10.30 Uhr die Demonstratio n der SED zum Friedhof der Märzgefallenen und die Kundgebung •
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vor dem Reichstag um 16 Uhr. Es war vom Zeitplan her für die poli tisch Handelnden durchaus möglich, an aUen Veranstaltungen teilzunehmen. Der Zeitplan diente aber nicht diesem Zweck, sondern sollte keine weiteren Komplikationen hervorrufen. Die Gegenkräfte waren gegenüber der Politik der SED in die Defensive geraten, sie hatten sich selbs t überlistet. Die SED konnte sich auf den MagistratsbeschluB von 1947 stützen, verfügte über den historischen Raum in der Mitte Berlins sowie im Friedrichshain und war immer für eine Demonstration - also für die Öffentlichkeit - eingetreten. SPD, CDU und LDP waren in der Stadtverordnetenversammlung vom 15. Januar vehement gegen eine öffentliche Demonstration vorgegangen und hatten sich so eines für diese Zei t wichtigen Mittels der Öffentlichkeitsbeeinflussung beraubt. Die verbalen Auseinandersetzungen in den Medien konnten dies n icht ersetzen. Die SEOKo ntrahenten sahen sich daher zum Rückzug genötigt und muBten kurz entschlossen ihre Haltung in der Kundgebungsfrage ändern, wollten sie nicht ihre Handlungsfreiheit verlieren. Das Gesetz über die Arbeitsfreih eit am 18. März 1948 gab dazu die Möglichkeit. Am 14. März lieBen die Landesvorstände und die Stadtverordnetenfraktionen der SPO, der COU und der LDP unter der Überschrift »Freiheitliches Berlin« einen Aufruf in den in Westberlin erscheinenden Zeitungen veröffentlichen: .. 1848/ 1948 - das s ind hunde rt Jahre Kampf um die Freiheit! Dieser Kampf muß entschlossen fortgesetzt werden, wenn Leben und Zukunft gesichert werden sollen. Jeder entscheide sich klar fü r eine freiheitl iche und demokratisch geordnete Gesellscha ft, gegen Willkür, Rechtlosigkeit und totalitäre Machtansprüche. Bekennt Euch erneut zu Frieden, Freiheit und Demokratie! Gebt diesem Willen Ausd ruc k am 18. März um 16 Uhr auf dem Platz der Republik.«23
Mit diesem Aufruf überwanden die Parteien ihre defensive Hal-
tung in d er Kundgebungsfrage und vers uchten, in die Offensive zu gehen. Der »Tagesspiegel« veröffentlichte einen redaktionellen Aufruf zu dieser kurzfristig angesetzten Kundgebung. Sein Geist und die knappen, zutreffenden Wertungen belegen die Dramatik, die der Vorgang der Würdigung der Revolu tion von 1848 nun in der Tagespolitik angenommen hatte:
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..Mit den Vertretern der Stadt und den aus den deutschen Ländern gekommenen Gästen versanunelten sich heute nachmittag um 16 Uhr die Anhänger der demokratischen Parteien auf dem Platz der Republik, um derer zu gedenken, die vor hundert Jahren für das Bürgerrecht kämpften und sta rben. Der Magistrat glaubte, die Erirmerung an den 18. März nicht mit öf· fentlichen Kundgebungen feiern zu sollen. Aus der Tatsache, daß wir in unserer jüngsten Vergangenheit zu oft au fmarschiert waren und dabei die Selbstbesinnung, auf die es in politischen Dingen ankommt, verlo ren hatten, zog er den umgekehrten Schluß wie die SED. Diese Partei will die suggestive Wirkung des Massenerlebniss~s für ihre Zwecke mißbrauchen. Sie benutzt den 18. März, um die We.betrommel für die Ziele ihrer Partei zu rühren, sie kommandiert nach dem Muster der Arbeitsfront den Gleich· schritt der Betriebe. Es kommt ihr ebenso auf eine gewaltige Demonstration wie auch und vor allem auf die Demonstration der Gewalt an, nach der sie offen strebt. Im Vertrauen auf den nüchternen Sinn der Berliner, die gelernt haben, zw ischen Propaganda und Erkenntnis, zwischen befohlenem Gleichschritt und innerer Übereinstimmung zu unterscheiden, haben die demokratischen Parteien zu einer gemeinsamen Kundgebung aufgerufen. An der Stätte, die zu deutsch " Platz de r öffentli chen Angelegenheiten« heißt, soll heute nachmittag bekundet werden, daß das, was 1848 de r geheime Wunsch von einigen Tausend war, 1948 der öffentlich erklärte Wille von Hunderttausenden ist. Oie SED konunand iert zum Appell, die demokratischen Parteien bitten um die Beteiligung an ihre r Veranstaltung. Der Demonstration der falschen Einheit muß eine Demonstration der echten Freiheit entgegengestellt werden. Berliner, beweist, daß ihr freie Bürger einer Weltstadt sein und bleiben wollt ...u
Angemerkt werden muß, daß der Magistrat u rsprünglich eine Demonstration wollte. Die Verwirrung wurde nur noch größer, als v iele Berliner Tageszeitungen am 16. März den »Aufmarschplan zu m 18. März« veröffentlichen . Die von der SED einberufene u nd durch den Magistratsbeschluß gestützte Kundgebung war für Gesamtberlin angelegt. Allen Verwaltungsbezirken waren Stellplätze zu· gew iesen. So z. B. für die »Bezirke Wedding, Reinickendorf, Spanda u: Cha rlottenstr., Spitze Unter den Linden; Weg: Charlottenstraße bis Jägerstraße«.2S Alle Zü ge wurden ab 10 Uhr über d en Gend armenmarkt geführt und dann ab 10.30 Uhr durch d ie Französische Straße, Schloßplatz, Königstraße, Alexanderplatz, Neue Königstraße, Königstor, Friedenstra ße, Landsberger Platz, Landsberger Allee - genau der Weg, den der historische Zug im Jah re 1848 genommen hatte.26 Und gerade das war d as Verführerische an dieser Kundgebung: Sie folgte dem historischen Vorbild. Der Magistrat dagegen versuchte, sich aus allen Q uerelen
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herau szuhalten und neutral zu bleiben, w ie sich d en Protokollen d er Ab teilung Volksbi ld ung u. a. enmehmen läßt. Am 27. Janua r 1948 wu rde festgelegt: »Es find en in allen Bezirken Veran staltungen statt . Darüber ist von einer zentralen Feier für Lehrer abgesehen worden. Die Schulfeiern m üssen am 17. III . stattfinden , d a der 18. IU. gesetzlicher Feiertag ist. •• Es schloB sich die Klage an : »Es fe hlt alJgemein an Material. ••27 Dam it war die konkrete Situati on umrissen: Die groBen , übergreife nden politisch en Prozesse verhinderten d ieser Aussage zufolge die Umsetzung des eigentlichen Anliegens der Gedenkfeiern. Die Presse d er SE D reagierte sofort. Insbesondere d as »Neue Deu tschland « veröffentlichte aus seiner Sicht Artikel, Äußerungen und Dokumente über die Ereignisse des März 1848. um den Lehrern Material in d ie Hände zu geben und so >Ki ie Köpfe zu besetzen ... Andere Zeitungen versuchten d ies ebenfalls, hatten aber kein Material zur Hand, w ußten nicht, in welche Richtu ng sie gehen sollten . Damit verloren sie an Einfl u ß. Am 17. Februar wurde aus Kreisen d er Lehrerschaft ein An trag auf eine StraBenumbenennung nach Ernst Zinna, einem Berliner Schlossergesellen und Helden d er Barrikadenkämpfe von 1848, gestellt. 28 Am 15. März folgte die Festlegung der Abteilung Volksbildung, d ie »Schüler besuchen die Revolutionsa usstellung im Schloß«.29 Um die Bede utung d ieser Anordnung richtig zu würd igen, sei darauf venviesen, d aß es zu diesem Zeitpunkt keinen Unterricht im Fach Geschichte in Berlin gab und Ausein andersetzungen, wer die neuen Schullehrbücher also damit ein neues Geschichtsbild - bestimmen sollte, an der Tagesordnung wa ren . Wei terhin gab es nach Ausweis d er Sitzungen d er Abtei lungslei ter im Ha up tschulamt kein Material und keine Lehrer, um d ie Ereignisse darzus tellen . Wer d ie Lükke besetzen konnte, entschied im Augenblick und fü r die Zukunft über d as Bewu ßtsein . Am 18. März 1848 traten dann die Stadtverordneten endlich zu ihrer 59. Außerordentlichen Sitzung zusa mmen, um der Revolution von 1848 zu ged en ken. Die Ka mmermusikvereinigung der Berliner Ph ilha rmonie sp ielte einen Sa tz aus dem Beethoven-Septett Es-Du r, op . 20, und der Stadtverordneten vorsteher Dr. Otto Suhr hielt d ie Festansprache. Lakonisch vermerkte das Protokoll: »ln einer Ansp rache würdigte der Sd tv.Vorsteher die Bedeutung Berlins in d er Revolution 1848. Er begründet d ie Einberu fung d er festl ichen Sitzung mit dem
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Hinweis au f die Rolle, die dama ls d ie Berliner Stadtverordnetenversammlung gespielt hat, und die Tatsache, d aß d as Jahr 1848 als Gebu rtsjahr des Parlamentarismus in Deutschland geiten müsse.( 30 Dann trat die Versa mmlung in die Tagesordnung. Sieben Punkte wurden behandelt: 1. Wiedereinrichtung der Deutschen Hochschule fü r Politik Vertagung 2. Stiftung von Preisen für Literatur, Musik und bildende Kunst -Annahme 3. und 4. Sond erzu wendungen aus Anlaß der 100jährigen Gedenkfeier für das H auptkinderheim - Annahme 5. Gesetz über Wappen und Flagge von Groß-Beflin - Ausschreibung 6. Antrag an die Alliierten auf Gnadenerl aß für jugendliche Straftäter - Annahme 7. Beseitigung des Nationa lkriegerdenkmals im Invalid enpark
-Annahme Diese knappe Tagesordnung zeigt die geringen Möglichkeiten auf, über die d ie Stadt verfügte, um ein würdiges Gedenken an die Revolution von 1848 zu ermöglichen . Die Mehrzahl der Anträge mu ßte von d er Alliierten Kommandantur genehmigt werden. Mit dem Beschluß über die Beseitigung des Nationalkriegerdenkm als im Invalidenpark zeigte sich die Versammlung desorientiert. Das Protokoll vermerkt, daß d er Antrag von der SEO-Fraktion gestellt worden war. Als Berichterstatterin trat Frau Schrooter von der LDP auf, die darauf hinwies, »daß die Bezeichnung Nationa lkriegerd enkmal irreführend ist. Es handelt sich vielmehr um einen Regimentsgedenkstein zur Erinnerung an die im Kampf gegen d ie revolutionären Kämpfer 1848 gefall enen Soldaten«.)] Tatsächlich handelte es um eine Säule, eingeweiht am 18. Oktober 1854, »zum Gedächtnis der in den Kämpfen von 1848 und 1849 gefall enen preußischen So ldaten «.32 Au f den ersten Blick ist es verständlich, daß m an ein derartiges Erinnerungszeichen als nicht mehr zeitgemäß ansah und d as Gedenken zum Anl aß nahm, das Zeichen zu vernichten . Aber es war kein Regimentsgedenks tein, sonde rn ein von der preußischen Regierung gesetztes »nationa les Ehrenzeichen«, das sich freilich gegen die gleichzeitige Konjunktur op-
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positioneller nationalkultureller Denkmäler richtete. Alle Frak· tionen stimmten mehrheitlich der Zerstörung zu. D ie Feierstunde war aber nur ein Teil der Veranstaltungen an diesem Tage. Der Berliner Gendarmenmarkt war aufgeräumt worden, hier traf man sich zum Demonstrationszug zum Fried· hof der Märzgefallenen. Auf dem Friedhof im Friedrichshain war am Morgen ein neuer Gedenkstein gesetzt worden, der bis heute die Inschrift trägt: "Den Toten 1848/1918. Das Denkmal habt Ihr selber Euch errichtet. Nu r erns te Mahnung spricht aus diesem Stein, daß unser Volk niemals darauf verzichtet, wofür Ihr starbt - Einig und frei zu sein.« Der Sta dtverordn etenvor· steher O tto Suhr führte aus: »Aus dem Blut der Barrika den ist die erste Auseinandersetzung um d ie Grundrechte in Deutsch· land geboren. Es ist derselbe Geist, der in den besten Kräften der Widerstandsbewegung gegen den Nationalsozialismus ge· blieben war, und die Opfer d es 18. März 1848 sind ebensowenig nach dem unmittelbaren Erfolg zu beurteilen wie die Opfer des 20. Juli 1944. Im Gegenteil - wenn das deutsche Volk endlich die Demokratie begreifen will, dann muß es seine Helden des Frie· dens und d er Freiheit achten lernen . ~ Sehr maßvolle Worte, die d em Charakter des Tages gerecht wurden. Um 10.00 Uhr begann die Demonstration vom Gendarmen markt zum Friedhof der Märzgefallenen, organisiert vom »Ständigen BeriinH Ausschuß für Einheit und gerechten Frie· d en «. Die Berichterstattung der »Neuen Berliner [\)ustrierten« spiegelte die Absicht und den Zweck dieses Aufmarsches wider: »Im Friedrichshain lodert ein Opferfeuer an der historischen Gedenkstä tte. Noch nie hat dieser Platz einen Aufmarsch von so eind rucksvoller Wucht gesehen. Um 12 Uhr wird die Kundgebung eröffn et. Chorlieder klingen auf, dann spricht Wilhelm Pieck.«34 Seine Worte gaben d as Ziel der Veranstaltung vor. »Heute, unter ganz anderen Bedingungen als vor hundert Jahren, ist die Arbeiterschaft zu einer selbständigen Kraft mit einem zielklaren Programm geworden, das ihr von den Gründern des w issenschaftlichen Sozialismus, von Karl Marx und Friedrich Engels, im Kommunistischen Manifest gegeben und deren Lehren von Lenin und Stalin weiterentwickelt wurden. Diese Klarheit des Programms und die breite pol itische und gewerkschaftl iche ürganisiertheit ermöglichen es der Arbeiterscha ft, s ich mit den antifasch is tisch·demokratischen Kräften des Bürgertums und d er Bauernschaft zu verbünden und mit
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ihnen gemeinsam den Kampf für die Demokratie, für die nationale Einheit Deutschlands und für die Wohlfahrt des deutschen Volkes aufzunehmen.«35 Pieck sprach eigentlich kaum über die Revolution von 1848, sondern im wesentlichen über den Volkskongreß: »Wir rufen dem deutschen Volke zu: Laßt euch nicht durch die Hetze gegen den Deutschen Volkskongreß verwirren. Alles ist Lug und Betrug, was gegen ihn vorgebracht wird. Im Deutschen Volkskongreß offenbart sich der Wille des fortschrittlichen Deutschlands sich aus der Schande und Not des Hakenkreuzes und des Hitlerkrieges zu erheben und ein neues, friedliches und demokratisches Deutschland aufzubauen .«36 Damit war im Selbstverständnis der Organisatoren der Forderung der Täglichen Rundschau entsprochen und »revolutionä rer Geist« in die Veranstaltung gebracht worden. Letztendlich stand diese Veranstaltung unter dem leitgedanken, den die »Neue Berliner Illustrierte« in ihrem Bildbericht dazu formulierte: »Das demokratische Berlin hat sich in dieser Kundgebung zu der Verpflichtung bekannt, die damals nicht vollendete Revolution jetzt zu Ende zu führen. «37 Die Arbeiter, so der Grundtenor, haben in der Revolution von 1848 den größten Blutzoll errichtet. Damals aber seien sie schwach und unorganisiert gewesen. Heute verfügten sie über eine große Organisation, ein Programm und eine Theorie, um ihre Interessen zu sichern und durchzusetzen. Mit den Arbeitern ständen liberale und demokratische Kräfte anderer sozialer Klassen und Schichten auf den ßarrlkad..:n. Dieses Zusammengehen verschiedener politischer Kräfte des Jahres 1848 wiederhole sich 100 Jahre später in der Volkskongreßbewegung, und deshalb sei die Unterstützung dieser Bewegung die einzig richtige lehre aus den Ereignissen von 1848. Um 16.00 Uhr schließlich begann die Demonstration auf dem Platz der Republik vor dem Reichstag. Auch dieser Platz mußte für diesen Zweck hergerichtet werden. Hier sprach Franz Neumann, 1. Vorsitzender der SPD in Berlin: ))Wir haben nicht umsonst diesen Platz an diesem Tage geWählt. Er unterstreicht unser Bekenntnis zur deutschen Republik, die dem ganzen deutschen Volke, wie es hier an den Trümmern noch sichtbar ist, dienen soll. Wir zeigen aber auch die Schwierigkeiten auf, die heute noch diesem Ziele entgegenstehen. (~ Auch hier gab es eine Verbindung der Erinnerung mit der gegenwärtigen politischen Situation. Den Veranstaltern war es gelungen, den großen
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Platz vor dem Reichstag zu füllen und die Menschen in dieser angespannten politischen Situation zu mobilisieren. In den Re· den wurde immer auf die Gefahr hingewiesen, West·Berlin kön· ne kommunistisch werden - eine Gefahr, die sehr real war. Der Wandel in der Auffassung der Westmächte gegenüber den westlichen Bezirken Berlins zeigte sich kurz nach den Ereignissen. Der Tagesspiegel meldete am 21. März: »In der wö· chentlichen Konferenz mit seinem Mitarbeitern nahm Ludus D. C lay zu der Demonstration des freiheitlichen Berlins am 18. März Stellung: )Der Mut dieser Deutschen, die am Donners· tag vor dem Reichstag für Freiheit und Demokratie demonstrierten, kann uns ermutigen. Viele tausend Berliner trotzten der Kälte und dem strömenden Regen [... ] Die Tatsache, daß sich so viele Deutsche an dieser Demonstration für Demokratie und individuelle Freiheit beteiligten, ist ein überzeugender Beweis dafür, daß die oft gehörte Behauptung, das deutsche Volk sei an der Demokratie nicht interessiert, falsch ist. Sie zeigt im Gegenteil, daß in Deutschland starke Kräfte bereit sind, für Freiheit und wahre Demokratie zu kämpfen und notfalls soga r zu sterben .«(39 Offiziell teilte die amerikanische Militärregierung mit: »Da s Erscheinen Zehntausender Berliner auf dem Platz der Republik trotz aller Schwierigkeiten des täglichen Lebens, trotz des unfreundlichen Wetters ist ein schlagender Beweis der Größe und Ehrlichkeit der Überzeugung, milder die Berliner von heute die Freiheitsideale, für die die Helden der Revolution von 1848 ihr Leben gaben, zu verwirklichen entschlossen sind . Die amerikanische Militärregierung hat einen tiefen Eindruck von dem Geiste dieser Feier empfangen [.. . I Die Berliner, die sich so spontan versammelten, um den Idealen der Freiheit, d es Friedens und der Demokratie auf dem Platz der Republik ihren Beifall zu zollen, haben die aufrichtige Unterstützung der amerikanischen Mili tä rregierung. «.a Natürlich zählten sowohl die SED als auch ihre Kontrahenten jeweils ihre Demonstranten und warfen sich gegenseitig vor, die Zahlen in ihren Veröffentlichungen gefälscht zu haben . Die dazu erschienenen Kommentare sollen hier nicht angeführt werden. Das war »Kalter Krieg(( in seiner reinsten Form. Und so wurde das Ereignis »100 Jahre Märzrevol ution in Berlin(( nicht nur Gedenken, sondern konkrete und durchaus dramati· sche Tagespolitik.
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Einige Anmerkungen müssen zum Ton der Reden und der Berichterstattung noch gemacht werden. Hier übte keiner Zurückhaltung, der Ton wurde auf beiden Seiten immer peinlicher, z. T. auch mit Anleihen an eine vergangene Zeit. 50 schrieb das Neue Deutschland am 20. März unter d er Überschrift »Demonstration der Hunderttausenden« über die Demonstration im Friedrichshain: »I... J aber gestern, zur Hundertjahrfeier von 1848 marschierten sie wieder; die Proleten aus den Vorstädten Berlins, so, wie sie immer marschiert sind und weitermarsch ieren werden«,41 Noch exemplarischer in der Anleihe an die vergangene Zeit dann der Bericht über die Demonstration: »Wir sahen eine Frau , die hatte ihre Schuhe mit Gummiringen von Einweckgläsern zusammengebunden; wir trafen einen alten Genossen aus den Tagen des antifaschistischen Widerstandskampfes vor 1933, der hatte kein Hemd unter seinem Rock. Jeder von denen, die sich durch Wind und Wetter durchkämpften, zählte doppelt und dreifach.«42 Auf der anderen Seite sprach Kurt Mattick am 12. März im Telegraf vom Ansturm des Totalitarismus, dem zu trotzen sei, denn es »geht in diesen Tagen um die Abwehr einer slawischen Gewaltideologie, die Europa zu zerstampfen drohte
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blizistischen Möglichkeiten beschrieben - mit Festsitzung der Gremien, Festveranstaltung, Kundgebung oder Demonstra· tion , Ausstellung und Publika tionen. Dieses Programm ist dann in der DDR fast stereotypisch geworden ist. Wichtiger aber is t d er grundsätzliche erinnerungspolitische Befund. Der erste Versuch, anläßlich eines großen, sowohl national· w ie sozialgeschichtlich bedeutsamen und im kollektiven Ge· dächtnis noch präsenten Ereignisses, einen Minimalkonsens der Erinnerung an ein heraus ragendes Datum der Berliner Stadtgeschichte zu finden, schlug fehl Es zeigte sich, daß dies unter den ak tuellen politischen Voraussetzungen nicht möglich wa r. Wer nach 1945 an historische Ereignisse in dieser Stadt er· innern wollte, mußte zwangsläufig damit rechnen, von der po· litischen Gegenwart zermahlen zu werden. Das Jahr 1948, das Schicksalsjahr der Stadt und das Jahr der lokalen und nationa· len Spaltung, zeigte das ganz eindeutig. Die Veranstaltungen zum Gedenken an die Ereignisse der Revolution von 1848 muß· ten in den Sog der Auseinandersetzungen um die Zukunft Ser· lins geraten. Die um die Macht in ganz Berlin ringenden Kräfte der SED instrumentalisierten die Möglichkeiten d er Erinnerung, um sich in der ganzen Stadt auszubreiten. Der Ablauf der Ereignisse zeigt, daß dieses Ziel nicht zu erreichen war, daß sie am Wide rstand der demokratischen Kräfte scheiterten, scheitern mußten. Diese Kräfte wiederum übersahen die Gefahr, die sich aus der Mobilisierung der revolutionären Momente der Geschichte hätte ergeben können. Sie gerieten zunächst in die Defensive, konnten dann aber ihre Position behaupten und festigen. Auch ihnen blieb dann zunächst nur die Möglichkeit, den vorhandenen Bestand zu bewahren. Insoweit spiegelten die Erinnerungsfeierlichkeiten an die Revolution von 1848 in Berlin die Auseinand ersetzungen des Jahres 1948 um die Spaltung der Stad t w ider, s ie markierten einen Höhepu nkt auf dem Weg der Spaltung der Stad t. Eine Anmerkung aber soll doch noch gemacht werden: Die Kennzeichnung der his torischen Stätten, die der Magistrat 1947 beschlossen hatte, steht bis heute noch aus.
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Anmerkungen 1 Landesarchiv Berlin (im weiteren LAB), ehem. Stadtarchiv (im weiteren StA), Rep. 100, Magistrat von Groß-Berlin, 43-45, Magistratssitzung August-Sept. 1947, Nr. 747, B1.38. 2 LAB (StA), Rep. 101, Nr. 277. DurchfUhrung von Feierlichkeiten d es Magistrats zum 100. Jahrestag der Revolution von 1848, BI. 42. 3 Ebd., BI. 41. 4 Der Tagesspiegel, 7. Oktober 1947. 5 Tägliche Rundsdlau, 21. Oktober 1947. 6 Sergej I. Tulpanow, Erinnerungen an deutsche Freunde und Genossen, Berlin/ Weimar 1984, 5. 101. 7 Ernst Kacher, Berlin 1848. Zur Hundertjahrfeier der Märzrevotution im Auftrag des Magistrats von GroB-Bertin, Bertin 1948, S. 7. 8 Ebd., S. 207. 9 Berliner Zeitung. 7. Januar 1948. 10 Neues Deutschland, Berliner Ausgabe, Berliner Ausgabe, 8. Januar 1948. 11 Wolfgang Ribbe, Geschichte Berlins. Bd. 2: Von der Märzrevolution bis zur Gegenwart, München 1987, S. 1052. 12 Neues Deutschland, Berliner Ausgabe, 16. Januar 1948. 13 Berliner Zeitung. 16. Januar 1948. 14 Telegraf, 16. Januar 1948. 15 Zit. nach Neue Berliner IUustrierte, 1. April Heft, 1948/ 14. 16 Ebd. 17 Der Morgen, 5. Februar 1948. 18 Siehe dazu Gerhard Keiderling. Scheinpluralismus und Blockparteien, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 45 (1997), S. 257 ff. 19 LAB (StAl, Rep. 101, Nr. 277, BI. In. 20 Ebd.
21 Berlin am Mittag. 6. Februar 1948. 22 Der Telegraf, 14. März 1948. 23 Der Tagesspiegel, 14. März 1948. 24 Der Tagesspiegel, 18. März 1948. 25 Der Vorwärts, 16. März 1948. 26 Ebd. 27 LAB (StA), Rep. 120, Nr. 201, BI. 54. 28 Ebd., BI. 33. 29 Ebd., BI. 22. 30 Protokoll der Stadtverordnetenversammlung. 1948. S. 326. 31 Ebd. 32 Rohert Springer, Berlin - Die deutsche Kaiserstadt, Darmstadt 1878, S. 178. 33 Telegraf, Sondernummer zum 18. März 1945. 34 Neue Berliner lIlustrierte, 1. April-Heft 1948. 35 Neues Deutschland, Berliner Ausgabe, 20. März 1948. 36 Ebd. 37 Neue Berliner lIlustrierte, 1. April-Heft 1948.
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18. März 1948 38 Telegraf, Sondernummer zum 18. März 1948. 39 Der Tagesspiegel, 21 . Mär.!. 1948.
40 Ebd. 41 42 43 44 45
Neues Deutschland, Berliner Ausgabe, 20. März 1948. Neues Deutschland, 20. März 1948. Der Telegraf, 12. März 1948. Der Teleglaf, Sonderausga be zum 18. März 1948. Ebd .
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Peter Niederntiiller
Geschichte, Mythos und Politik Die Revolution von 1848 und das historische Gedächtnis in Ungarn
Die dramatischen Ereignisse von 1989 und der Zusammenbruch des Sozialismus haben die Welt und das Leben in Osteuropa vollständig verändert. Der h istorische Kollaps d es schein bar s ta bilen politischen und gesellschaftlichen Systems hatte (und hat tatsächlich bis heute) ein wahres Janus-Gesch ich t. Einerseits wurden die wirtschaftlichen, politischen und die sozialen Strukturen des »real existierenden Sozialismus« verschüttet, wodurch sich neue Perspektiven für d ie ehemals sozialistischen Länder öffneten. Andererseits haben die Veränderungen viele unerwartete Probleme und Schwierig keiten hervorgerufen, die die Zukunftsvision dieser Gesellschaften stark überschattet, 50s.a r vernichtet haben. Der eigentlich bis heute andauernde Ubergang wird - neben d er fast allgemeinen wirtschaftlichen und politischen Krise - durch den in d en letzten Jahren in d en Geschichts· und Sozialwissenschaften oft thematisierten aufle· benden osteuropäischen Nationalismus charakterisiert. Ethni· sche Konflikte und Kriege, Nationalismus, Rassismus und Antisemitis mu s sind unübersehbare Beg leiterscheinungen d er postsozialistischen Zeiten. Wie lassen sich diese anachronisti· sehen, »prämodernen" Phänomene erklä ren? Diese Frage stand und steht im Mittelpunkt historischer, soziologischer wie auch ethnologischer Forschungen der neunziger Jahre. Dementsprechend gibt es mehrere un terschiedl iche ErklärungsmodeUe, die die Ursachen, Gründe und Wurzeln dieser Erscheinungen auf· zuklären versuchen. Der »neue,( Nationa lismus wird zum einen a ls »natürliche« Konsequenz eines id eologischen Vakuu ms betrachtet. l Andere Mod elle argumentieren mit pol itischen Strategien von »Re-Na tionali sierung« und »Re·Ethnisierung «, mit im Sozia lismu s unterdrückter ethnischer Identität. 2 Wied er andere Versuche beschreiben den osteuropäischen Nationalis·
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mus als politische und symbolische Flucht »ins sicherheitsver· sprechende Alte«,3 oder aber sie begründen ihn mit dem Auf· brechen historischer ethnischer Feindschaften bzw. mit der Wiederkehr der Geschichte. 4 Die Theorien des neuen postsozialistischen Nationalismus und dieses Phänomen selbst könnte man lange und oft kritisch diskutieren. ln diesem Aufsatz nehme ich jedoch davon Ab· stand , weil ich Nationalismus hier nur als ein Beispiel verwen· de, um tieferliegende Veränderungen und Umwandlungen des osteuropäischen Transformationsprozesses zeigen zu können. In diesem Zusammenhang will ich auf eine Tatsache hinweisen, die an sich oft thematisiert, jedoch nicht wirklich analysiert wurde: nämlich, daß sich da s Verhältnis der europäischen (Post)Moderne zur Geschichte und Vergangenheit nach dem Zusammenbruch des Sozialismus grundsätzlich verändert hat, daß die Rolle und der Status von Geschichte, Kultur und Ver· gangenheit sich überall in Europa gewandelt hat. Anders und etwas genauer formuliert: Es gibt heute im Osten wie im Westen ein allgemeines und immer weiter wachsendes gesellschaftli· ches, aber auch politisches Interesse für Geschichte und Vergan· genheit, was in den letzten Jahrzehnten in dieser Form nicht zu beobachten war. Jean Baudrillard deutete in diesem Zusam· menhang an, daß die postmoderne oder posttraditionale Ge· seilschaft - w ie es Anthony Giddens nannte - ihre Entwick· lungsrichtung verändert hat: sie ),frißt sich in die Vergangenheit zurück«.s Es läßt sich beobachten, wie überall in Europa Ge· schichte, historische Ereignisse, Prozesse und Akteure zum zen· tralen Gegenstand politischer und öffentlicher Diskurse gewor· den sind . ln politischen Diskussionen wird mit historischen Ar· gumenten debattiert bzw. in den gesellschaftlichen Debatten mi t Geschichte. Vergangenheit und Kultur argumentiert. In die· sem Sinne wird Geschichte allgemein benutzt, diskutiert, un· terschiedlich repräsen tiert, ritualisiert, visualisiert und letzt· endlich privatisiert. Es ist jener wohlbekannte Prozeß der Post· modeme, in dem die Geschichte du rch viele Geschichten abgelöst wird . Diese Pluralisierung der Geschichte ist jedoch im postsozia · listischen Osteuropa mit klaren politischen Zielsetzungen und Ordnungsvorstell ungen verbunden. Anders gesagt: Es wird versucht, die Geschichte und die Vergangenheit im Sinne des postsozialistischen politischen Systems - was immer das heißen
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Peter Nied.ermü ller
mag - zu rekonstruieren bzw. neu zu schreiben. Dadurch können Geschichte und Vergangenheit als Grund für gegenwärtige politische Leg itimation dienen bzw. können politische Programme und Zukunftsvisionen durch histo rische Rekonstruktionen, durch rekonstruierte oder neu geschriebene Geschichtsbilder ersetzt werden.6 Dieser allgemein cha rakteristische Prozeß d er osteuropäischen Transformationen, der politische und symbolische Kampf um das historische Gedächtnis w urde und wird in d en einzelnen postsozialistischen Ländern mit unterschiedlicher Intensität ausgetragen. In Ungarn, in jenem Land, da s in diesem Aufsa tz als Beispiel stehen soll. sp ielten Geschichte, "neue« Geschichtsbilder und rituelle Darstellungen von im Sozialismus unterdrückten historischen Gedächtnisformen und Erfahrungen eine gan z besondere Rolle. Man könnte sogar sagen, d aß das »neue« Bild von unga rischer Geschichte nicht nur die symbolische Kulisse d es Systemwechsels d arstellte, sondern selbst zum Zusammenbruch des Sozialism us beigetragen hat. Der Zusa mmenbruch des Sozialismus ha t also nicht nur neue oder einfach andere politische und soziale Strukturen mit sich gebracht, sondern hat einen neuen historischen Horizont umrissen. Vor diesem Horizont tauchten jedoch nicht nur »neue«, bisher unbekannte oder unterdrückte historische Ereignisse und Akteure auf, sondern die Meilensteine der unga rischen Geschichte wurden versetz t. Und die Revoluti on von 1848 war und ist so ein Meilenstein.
Die Revolution von 1848 in Uuganl Um die jahre 1848-49 bzw. um die Bedeutung der Revolution für die unga rische Geschichte zu verstehen, mu ß man einen Blick auf die Vorgeschichte und auf d as politische und soziale Umfeld der Ereignisse werfe n. Seit den zwanziger Jahren d es 19. jahrhu ndert versuchten ein Teil d er Aristokratie und des Adels, aber auch Dichter und Schriftsteller, das schwankende fe uda le Gesellscha ftssystem in Unga rn innerhalb d es Habsburg-Reiches zu reformieren und zu modernisieren. Dies bedeutete in der politischen Prax is vor allem d as Verlangen nach nationaler Unabhän gigkeit un d d ie Schaffun g einer unga ri-
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sehen Nationalkultur. Das frühe 19. Jahrhundert kann vor allem durch die Konstruktion und Erfindung der ungarischen NaHonalkultur cha rakterisiert werden, d u rch eine ursprünglich kulturelle Bewegung, die jedoch zwischen 1820 und 1840 immer politischer und gleichzeitig immer radikaler geworden ist. Es handelt sich hier um jenen Prozeß, den Miroslav Hroch in seinem berühmten Buch über europäische nationale Bewegungen im 19. Jahrhundert so treffend beschrieben hat.' Hroch wies darauf hin, daß man in der Herausbildung der nationalen Idee eine sogenannte »Phase A« unterscheiden kann. Diese Phase, die ins frühe 19. Jahrhundert gehört, ging rasch vonstatten und hatte rein kulturellen, literarischen und volkskundlichen Charakter, ohne daß sich daraus unmittelbare politische oder nationale Folgen ergeben hätten. Man kann jedoch sagen, daß dieses Stadium die spä teren politischen Ereignisse und ideologischen Entwicklungen notwendigerweise vorbereitete - vor allem dadurch, d aß sich allmählich eine Sichtweise herausbildete, die weder die Wirtschafts- noch die Gesellschaftsform, also weder das Ökonomische noch das Soziale als wesentlichste und fund am entalste Grundlage für die Entstehung und die Existenz von Nation verstand und betrachtete, sondern vielmehr die sogenannte »dritte Ebene« der sozialen Existenz, die Kultur, die Denkweise, die Weltanschauung. 8 Auch in der ungarische Gesellschaft formierte sich langsam die Überzeugung, daß diese ),dritte Ebene« Ausdruck und Manifestation einer nationalen Substanz sei, und daß diese Substanz verstanden werden müsse, um eine der Nation angemessene Politik betreiben zu können. Diese Auffassung und diese Vorstellung des Nationalen existierten natürlich nicht aus sich heraus, und sie waren auch nicht selbstverständlich. Zur Durchsetzung und Realisierung dieser Idee bedurfte es einer Voraussetzung von grundlegender Bedeutung: Es mußte nämlich für die damalige Gesellscha ft offensichtlich sein, d aß es ohne eigene Kultur und vor allem ohne die Möglichkeit, diese eigene Kultur Anderen darstellen zu können, keine politische und staatliche Unabhängigkeit und somit keine eigene und unabhängige Nation geben konnte. Diese Auffassung hat sich in den späten dreißiger und vierziger Jahren al1mählich verändert bzw. es hat sich der politische Akzent der Reformbewegung und der politischen Opposition verschoben. Neben der Forderung nach nationaler Unabhängigkeit trat immer stärker das Verlangen nach wirtschaftlicher
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und gesellschaftlicher Modernisierung in Form von Kapitalisierung, Industrialisierung, Urbanisierung und vor allem VerbürgerJichung - der Schaffung eines »nationalen (( Bürgertums - in der Vordergrund. In diesem Prozeß lassen sich drei Abschnitte unterscheiden: Während des Landtags von 1839 / 40 wurden unter anderem - die Bedingungen des Funktionierens von Industrie und Handel geregelt bzw. erhielten die bis dahin rechtlosen Juden das Recht, sich frei in den Städten anzusiedeln und Handel und Gewerbe zu treiben. Mitte d er vierziger Jahre entdeckte die politische Oppositio n ein neues Terrain, das der Wirtschaftspolitik. Vereine zum Schutz der ungarischen Industrie entstanden, die gleichzeitig zum Boykott ausländischer vor allem österreichischer - Waren aufriefen, ebenso wie eine Gesellscha ft zur Gründung von Fabriken sowie eine Handelsgesellschaft. Und in der dritten Phase, seit 1847, organisierte sich die Opposition als politische Partei, deren Programme sich auf allgemeine Steuerpflicht, auf soziale Gleichheit, Pressefreiheit, auf die Einführung einer parlamentarischen Regierung, aber auch auf die Union Siebenbürgens mit Ungarn bezogen. Diese allmählich radika ler werdenden Forderungen haben jedoch am historischen Vorabend der 48er Revolution die politische Opposition in Ungarn gespalten - vor allem, was die Strategie und die Philosophie des politischen Widerstandes anbelangt. Es gab keine tiefe, unüberbrückbare Kluft zwischen den verschiedenen Auffassungen, die politischen Ziele waren ja doch dieselben: nationale Unabhangigkeil, wirtschaftliche und gesellschaftliche Modemisierung, die Schaffung eines national gesinn ten Bürgertums. Wo aber die politischen Akzente liegen sollten und wie diese Ziele zu erreichen wären, darüber gab es Differenzen von Beginn an; sie wurden später immer größer und bedeutungsvoller. Auf der einen Sei te stand en d iejenigen sozialen Gruppen und politischen Vorstellungen, die die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen durch allmähliche und vorsichtige Reformen, durch die Herausbildung der ungarischen Na tionalkultur bzw. nationaler Identität durchzusetzen versuchten. Diese Stra tegie verband sich mit einer konservativen Gesellschaftsphil osophi e, die die soziale Ordnung nicht grundsätzlich verändern, sondern eher erneuern und verbessern wollte. Auf d er anderen Seite standen diejenigen sozia len Gruppen, die nicht nur eine radikalere Politik verfolgten, sich also eine grundsätzlichere Veränderung des po-
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litischen und gesellschaftlichen Systems zum Ziele setzten, sondern d.ie vor all em Formen und Muster des westlichen Modernisierungsprozesses in Ungarn ansiedeln und verbreiten wollten. Dieser Modernisierungsversuch bedeutete jedoch nicht nur die Förderung der heimischen Industrie und des Handels bzw. des )}nationalen« Bürgertums, sondern hat auch die neue Sozialphilosophie des Liberalismus eingeführt. Das hier entworfene skizzenha fte Bild der politischen Zustände in Ungarn am Vorabend der Revolution bedarf noch einer Ergänzung. Es gab natürlich nicht nur die politische Opposition, sondern auch politische Kräfte und soziale Gruppen, die sich zusammen mit dem Wiener Hof um die weitere Stabilisierung des schwankenden Feudalismus und dessen politischen Systems bemühten. Und auf dem Lande, in den kleinen Städten und Dörfern Ungarns herrschte Ruhe; seit dem frühen 18. Jahrhundert hatte es keinen Aufstand gegen die Habsburger mehr gegeben. Die politische Lage des Habsburg-Reiches stellte sich also im Blick auf Unga rn in den Wintermonaten 1848 als eine gespannte »Pattsituation« dar, in der weder die Machthaber noch die Opposition die nötige Kraft hatten, eine Entscheidung zu ihren Gunsten herbeizuführen . Diese Lage hat sich durch die Ereignisse vom 15. März 1848 dramatisch verändert. Anfang März hatten d.ie Nachrichten aus Paris, von der dortigen Revolution und dem Sturz des Königs, auch Wien und Budapest erreicht. Im Landtag, der seit November 1847 in PreBburg tagte, wurden die Forderungen der politischen Opposition immer radikaler. Am 3. März schon hatte der Anführer der Opposition, Lajos Kossuth, eine eigene Konstitution und Regierung für Ungarn verlangt und diese Forderung wurde vom Landtag auch angenommen und an den Wiener Hof weitergeleitet. Am 15. März entsandte der Landtag eine Delegation nach Wien, die zwe i Tage spä ter mit der Ernennungsurkunde des ersten ungarischen Ministerpräsidenten, Lajos Batthyany, und dem Versprechen zurückkehrte, der König sei willens, alle Gesetze zu sanktionieren, die ihm in den nächsten Wochen vom Landtag vorgelegt würden. Inzwischen aber fand eine unbluti ge, }>eintägige« Revolution in Pest9 statt, die die früheren politischen Forderungen überholte. Die jungen liberalen und radikalen intellektuellen in Pest, angeführt von dem Dichter sandor Petbfi, hatten die Wichtigsten Forderungen in zwölf Punkten schri ftlich zusammengefaBt, um die Massen,
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die sich wegen eines Jahrmarktes bereits in der Stadt aufhielten, zu mobilisieren. Diese Zwölf Punkte verlangten - unter anderem - Pressefreiheit, eine eigene Regierung und einen eigenen Landtag. eine eigene Konstitution, »)bürgerliche« und religiöse Gleichheit, eine nationale Armee, eine Nationalbank, die Freilassung der politischen Gefangenen, die Abschaffung der feu dalen Verhältnisse und die Union mit Siebenbürgen. Die Zwölf Punkte und das NationaLlied von Petöfi wurden dann während des 15. März ohne Genehmigung des Zensors gedruckt, der Druck der Masse zwang auch d en Stadtmagistrat bzw. den Statthalterbeirat, die oberste Behörde der Landesverwaltung, zur Annahme der Forderungen. Schließlich wurde auch die Freilassung einiger politischen Gefangenen erreicht. Der 15. März, der Anfang der Revo lution, bedeutete gleichzei tig deren Höhepunkt. Die Menschenmasse zog mit revolutionären Liedern und Fahnen durch Buda und Pest, sie schien die Habsburgische Herrschaft und das feudale System gestürzt zu haben. Die hochritualisierten Massenveranstaltungen vom 15. März stellten in diesem Sinne nicht nur die Grundlage für den romantischen Charakter der 48er Revolution dar, sondern sie bedeuteten die erste modeme Demonstration in d er ungarischen Geschichte und machten die Macht symbolischer Ereignisse und politischer Rituale sichtbar. Was danach kam, kann man als politischen Alltag beschreiben. Der Landtag, der immer noch im Preßburg tagte, leitete eine Reihe in raschem Tempo entworfener Gesetze ein, die das Ziel hatten, den ))Systemwechsel(( zur Erfüllung zu bringen. Er entwarf Gesetze über die parlamentarische Volksvertretung, die vollständige innere Selbständigkeit der Regierung, über die Gleichheit von Adligen und Nichtadligen vor dem Gesetz, eine allgemeine Steuerpflicht usw. und nahm sie an. In d er praktischen Umsetzung dieser Gesetze allerdings stieß die Regierung auf unerwartete und letztend lich unlösbare Schwierigkeiten. Zum einen sind die immer größer gewordenen Gegensätze und Konflikte zwischen dem liberalen Adel und den Bauern zu erwähnen. Die Bauern verlangten immer heftiger, daß man sie auch von jenen im eigentlichen Sinne nicht urbarialen Diensten und Leistungen entbinden soHe, die ihnen aufgrund der Nutzung von Feldern auBerhalb der adeligen Possess ionen auferlegt worden waren. Die Regierung konnte den Ba uern in diesem Punkt keine weiteren Zugeständnisse machen, da dieseine
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erhebliche Zusatzbelastu ng der Staatskasse bed eutet h ätte. Demzufolge kam es immer ö fter zu gewaltsamen Dienstverweigerungen, soga r zu versuchten Landbesetzungen. Zum anderen s pitzte sich die Na tionalitätenfrage immer stärker zu. Die libera len und radika len Politiker d er auf ungarischem Territorium lebenden Nationa litäten dräng ten seit Beginn d er Revolution d arauf, d aß alle Nationalitäten des Landes die volle nationale Gleichberechtigung erhalten sollten. Die Regierung aber ging nur auf die kultu rellen und konfessionellen Forderungen ein und lehnte andere Ansprüche strikt ab - so z. B., in d en mehrheitl ich von Nationalitäten bewohnten Komitaten die Sprach e dieser Na tionalitäten als Amtssprache einzuführen. Das führte in kürzester Zeit dazu, da ß sich d ie politischen Führer d er ve rschied enen Nationalitäten gegen die Revolution wa ndten. Die Forderung nach mehr Minderheitenrechten verbanden sich dann schnell mit den bereits erwähnten Begehren der Bauern, vor allem in jenen Grenzgebieten, wo die kroatischen, rumänischen oder serbischen Bauern von der Bauernbefreiung vom Mär z d e fac to nicht profitierten. Dadurch verschlechterte sich die politische Situation in Ungarn rasch und unaufha ltsam. Schon im Juni 1848 kam es zu einem Aufstand von Serben, und im Herbst d esselben Jahres wandten sich auch alle anderen Nationalitäten - Slowaken, Rumänen und Kroaten - gegen die Revolution. Schließlich müssen auch die politischen Bemühungen des Wiener Hofes erwähnt werden, die von Anfang an auf d ie Maßregelung Ungarns abzielten. Nachdem sich die Position der Monarchie im Lauf des Sommers allmählich stabilisiert hatte, ergab sich im August 1848 für den Wiener Hof d ie Möglichkeit, mit Waffen gegen d ie ungarische Revolution vorzugehen. Der unga rische Freiheitskrieg von 1848/49 läßt sich in d rei Etappen aufteilen: Von September 1848 bis Januar 1849 häuften die habsburgischen Tru ppen Erfolg au f Erfo lg, am 5. Januar 1849 eroberten sie soga r Buda. 1m Frühjahr 1849 jedoch startete di e unga ri sche Armee eine Gegenoffensive, konnte im Mai Buda zurückerobern u nd drängte die habsburgische Armee bis Ende April an die Grenze im Westen Unga rns zurück. Die weiteren Ausw irkungen dieser Gegenoffensive waren jedoch verheerend und vernichtend. Das Haus Habsburg verbündete sich mit dem russischen Zaren. 1m Rahmen d ieses Abkommens und auf Bitte des österreich ischen Kaisers Franz Joseph d rangen
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Mitte Juni 1849 russische Hilfstruppen in Ungarn ein, bis Anfang August hatten sie zusammen mit den kaiserlichen Truppen die ungarische Revolution von 1848 endgültig niedergeworfen. Der Niederschlagung d er Revolution folgte eine zehnjährige Periode d er militärischen Besetzung und Willkürherrschaft und der vollständige Anschluß Ungarns an das Ha bsburgische Reich. Ab 1859 begann dann eine Übergan gsphase, die allmählich zum Ausgleich von 1867 führte. Politisch bedeutete d ieser Ausgleich, daß aus der Gesamtmonarchie ein dualis tischer Staat mit gemeinsamen Ministerien für Äußeres, Krieg und einem zur Kostendeckung der gemeinsamen Angelegenheiten d ienenden Ministerium der Finanzen wurde. Formal war Ungarn unabhängig, zwei Regierungen und zwei Parlamente standen nebeneinander. Obwohl der politische Anführer der 48er Revolution, Lajos Kossuth, den Ausgleich ablehnte und ihn als den »Tod der Nation!( bezeichnete, nahm die Mehrheit d er unga rischen Gesellschaft diese Lösung als einzig möglichen Ausweg an; sie sah in ihm soga r ein politisches und institutionalisiertes Zeichen der Aussöhnung bzw. d er Anerkennung der politischen Forderungen der Revolution.
Das historische Gedächtnis von 1848 Das Nachleben von »1848« fing gleich nach dem endgültigen Niederschlag des Freiheitskampfes an. Die Habsburger verboten zwa r aUe Formen öffentlicher Erinnerung und versuchten die Revolution aus dem kollektiven Gedächtnis auszuradieren, sie konnten jedoch die ra sche Sakralisierung d er Ereignisse nicht verhindern. In den Städten und Dörfern kursierten Gerüchte über einen Neuanfang der Revolution oder aber über gefa ll ene Helden des Freiheitskampfes, die irgendwo lebend gesichtet worden waren . Das histo rische Gedächtnis - hier als eine Form d es kollektiven Gedächtn isses betrachtet, in d em Stücke der Vergangenheit einer Nation oder Gesellschaft gespeichert werden - hat sich jedoch nur langsam herausgebildet. Dabei spielte die Geschichtswissenschaft eine entscheidende, jedoch nicht die alleinige Rolle. Durch wissenschaftliche Forschungen werden differente Geschichtsbilder p roduziert, aus
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denen einige hegemoniale Positionen einnehmen bzw. zum offiziellen Geschich tsbild werden, welches das jeweilige politische System verwendet, um sich selbst zu legitimieren. Neben historischen Forschungen besteht das historische Gedächtnis aus fiktiven Erzählungen der vergangenen Ereignisse, aus einer »geseUschaftlichen Narrative«, die in Form persönlicher Erfahrung'e n und Erinnerungen, mündlicher Traditionen, mentaler und imaginärer Bilder und Erinnerungsorten bzw. in der Literatur und Kunst vorhanden ist. Und schließlich soU das historische Gedächtnis durch öffentliche Erinnerungsakte,IO durch ritualisierte kulturelle Praxis visualisiert und repräsentiert werden. Das historische Gedächtnis stellt jed och nie ein homogenes und eindeutiges Bild der Vergangenheit dar, es zeigt vielmehr, wie unterschiedliche Geschichts- und Vergangenheitsmterpretationen in einer Gesellschaft vorhanden sind oder sein können. 11 Im Entfaltungsprozeß des historischen Gedächtnisses über die Ereignisse von 1848 in Ungarn spielten die öffentlichen Erinnerungsa kte zum 15. März eine zentraJe Rolle. Dieser historische Tag wurde erstmals 1860 mit einer Demonstration gegen die Habsburger begangen und seit dieser Zeit blieb er im Mittelpunkt der Erinnerung. Dieses Datum bedeutete jedoch nicht nur den Zeitpunkt des öffentlichen Andenkens, sondern es hat di e semantische Kontur des historischen Gedächtnisses entworfen, hat bestimmte »Zeitinseln «, metaphorische »Erinnerungsfiguren«, »Gedächtnisräume« und »Gedächtnistexturen «12 zustande gebracht, die das historische Gedächtnis zum Revolutionsjahr 1848 wesentlich bestimm ten. Der 15. März ist zum Symbol für eine friedliche, aber kompromißlose republi kanische Revolution geworden, die von jungen Intellektuellen angeführt, aber durch eine modeme Massendemonstration durchgesetzt wurde. 13 Diese Motive, der republikanische Cha rakter der Revolution, die jungen Intellektuellen und eine damit verbundene Jugendromantik bzw. d ie politische Rolle moderner Massendemonstrationen sind feste, fast alleinige - jedoch leicht instrumentalisierbare - Bestandteile der jeweiligen Erinnerungsrituale geworden. Daß die gesellschaftliche Erinnerung sich auf den 15. März fokussierte. hatte selbstverständlich zur Folge, daß andere historische Ereignisse von »1848« aus dem kollek tiven Gedäch tnis verschwanden. Das historische Gedächtnis zu »1848« hat sich also durch diese Dialektik zwischen
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öffentlicher Erinnerung und gesellschaftlichem Vergessen ent· wickelt. Zu seiner Herausbildung trug aber vor allem - wie bereits angedeutet - die Geschichtswissenschaft bzw. die Geschichtsschreibung bei . Zwischen historischem Gedächtnis und Geschichtswissenschaft gibt es nur eine schmale Grenze, da in der Geschichtsschreibung ja immer ) bewußte und unbewußte Auswahlmechanismen, aber auch Deutung und Entstellung zu bedenken sind«, wie es Peter Burke in einem schönen Essay l4 gezeigt hat Gleichzeitig erachtete aber die ungarische Geschichtsschreibung die Aufarbeitung, die historische Analyse der Revolution, das Wachhalten der Erinnerung und die Mahnung an die politischen und gesellschaftlichen Folgen als moralische Pflicht. Die grundsätzliche Bedeutung von »1848« für die ungarische Geschichte wurde in den Forschungen von Anbeginn hervorgehoben , und die historische Bedeutsamkeit wurde auch später nie in Frage gestellt, obwohl die Geschehnisse sehr unterschiedlich analysiert, interpretiert und dargestellt wurden. Wie gesagt: historische Analyse und Interpretationen waren zu jeder Zeit einhelliger Meinung. daß »1848« eine Wichtige Zäsur in der ungarischen Geschichte, das endgültige Ende des Feudalismus bedeutete und eine neue historische Epoche, die der politischen und gesellschaftlichen Modemisierung, der allmählichen Herausbildung einer bürgerlichen Gesellschaft in Ungarn einleitete. Der Unterschied lag und liegt in der Darstellung und Deutung des politischen und gesellschaftlich en Inhaltes dieses Modemisierungsprozesses. lnteressant ist jedoch in erster Linie nicht, wie verschiedene Schulen und Richtungen der ungarischen Geschichtswissenschaft das Jahr 1848 interpretierten, sondern, wie diese Interpretationen auf das his torische Gedächtnis wirkten. Um diese Wirkung zu läutern, möchte ich auf die RoUe und Funktion narrativer Abbreviaturen hinweisen. Narrative Abbreviaturen sind - wie es Jörn Rüsen formulierte - »in Sprache eingelagerte Geschichten, die nicht als solche erzählt werden, sondern als schon erzählte aufgerufen und kommunikativ verwendet werden((.IS Anders gesagt: Die narrativen Abbreviaturen funktionieren als semantische Konzentrate, die »schicksalhafte Ereignisse der Vergangenheit( 16 in sich speichern und dadurch als »Fixpunkte( der Geschichtswahrnehmung und -darstell ung, als das Skelett des historischen Gedächtnisses wirken. »1848( war so ein schicksalhaftes Ereignis
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in der unga ri schen Geschichte und funktionierte auch (und funktioniert heute noch immer) als narrative Abbreviatur. »1848( als narrative Abbreviatur beinhaltet zwei verschiedene Erzählungen, zwei narrative Strukturen, die sich kurz nach der Revolution herausgebildet und nach dem Ausgleich von 1867 voll entfa ltet haben. Diese Narrationen erzählen die vergangenen Ereignisse unterschiedlich bzw. mit anderen Akzenten, legen sie auf unterschiedlichen zeitlichen und historischen Horizonten aus und verbinden sie mit unterschiedlichen politischen Stra tegien. Zum einen wird »1848( in einem längeren zeitlichen Prozeß und in einem breiteren historischen Kontext gedeutet. »1848( als narrative Abbreviatur weist hier auf die historische Entwicklung d er ungarischen Gesellschaft im 19.}ahrhundert hin. Am Anfang steht die politische und kulturelle Reformbewegung des frühen 19. Jahrhunderts, die schon alle wesentliche Ziele einer sich modernisierenden Gesellschaft konzipiert ha tte. Modernisierung bedeutet in dieser Geschichte vor allem nationale Freiheit und Unabhängigkeit bzw. die Herausbildung der historisch, kulturell und auch ethnisch definierten Nation. Der Grund der Nation und des Staates ist das Volk, das die gemeinsame ethnische und historische Abstammung der Nation repräsentiert und als solches Träger einer ursprünglichen Kultur und der daraus abgeleiteten gemeinsamen NaHonalkultur und Identität ist. In dieser Gesellschaft, d. h. zwischen Aristokratie, Adel und Volk herrscht ein patriarchalisches Verhältnis, die gemeinsame Abstammung, Kultur und Geschichte läßt keine sozialen Konflikte und Auseinandersetzungen aufkommen. Die notwend igen politischen und sozialen Veränderungen kann man durch allmähliche und langsame Reformen, mit der Hilfe eines vorsichtigen politischen Konservativismus und ohne jeglichen Radikalismus durchsetzen. In diesem Sinne stellt die Revolution, genauer gesagt: die politischen Ziele, Forderungen und Intentionen, die d er 15. März repräsentiert, einen Bruch in der kontinuierlichen historischen Entwicklung dar, der dann notwendigerweise zur Niederschlagung der Bewegung, zu Willkürherrschaft und Ausgleich führte und das Erreichen d es obersten Ziels, das Zustandebringen des Nationalstaa tes verhind erte. Es lassen sich in dieser Interpretation allmähliche Reformen, politischer Konservativismus, nationale Unabhängigkeit und ein patriarchalischer Staat als Grundsteine der gesellschaftlichen Modernisierung ansehen, und »1848« gilt
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als der Versuch, diese politische Philosophie und Strategie zu verwirklichen. Die andere Geschichte zu •• 1848« legt den Akzent auf die Revolution, auf notwendigen politischen Radikalismus. Nachdem die aUmählichen politischen und gesellschaftlichen Reformen keinen Erfolg versprachen, gab es keine andere MögLichkeit, als das Volk - im Sinne der Französischen Revolution - zu mobilisieren, um politische Veränderungen zu erzwingen. Dieses Volk wurde jedoch nicht, oder nicht nur in kultureller Terminologie definiert. Dieses Volk »entstand« nicht aufgrund gemeinsamer Abstammung, Kultur und Geschichte, sondern formierte sich durch gemeinsame demokratische politische Forderungen und Zielsetzungen, die nur durch eine Revolution zu erreichen waren. Das Ziel der Revolution war, eine demokratische. liberale, bürgerliche Gesellschaft, eine modeme Nation im politischen Sinne zu schaffen. Nationale Unabhängigkeit und Modernisierung spielten und spielen also auch in dieser Geschichte zentraLe Rollen, nur der Inhalt dieser Kategorien ist ein ganz anderer. In dieser Geschichte stellt der 15. März den Anfang der Revolution, eine symbolische Grenze dar, an der sichtbar geworden ist, daß das existierende politische System nicht mehr reformiert werden konnte: es mußte gestürzt werden .•• 1848« wird als ein revolutionärer Wendepunkt gedeutet, dessen Ziel die politische Demokratie, Liberalismus bzw. die gesellschaftliche, aber auch kulturelle Verbürgerlichung Ungarns waren. Es läßt sich also sehen, daß »1848« a ls nalTalive Abbreviatur eigentlich zwei differente Gesellschaftsmodelle in Rahmen des kollektiven Gedächtnisses repräsentiert, die durch diese Abbreviatur immer wieder aufgerufen werden können und eigentUch bis heute eine grundlegende Rolle in der politischen und gesell schaftlichen Entwicklung Ungarns spielen. 1' Es ist jedoch auch darauf hinzuweisen, daß neben den grundsätzlichen Differenzen auch wesentliche Gemeinsamkeiten in beiden Gesch ichten existieren, vor all em was das Scheitern der Revolution anbelangt. Hier ist das his torische Gedächtnis sehr eindeutig: Die Revolution wurde niedergeschlagen, weil sich die nationalen Minderheiten - Kroaten, Serben, Rumänen, SLowaken - gegen sie wandten, weil die russische Übermacht in den Freiheitskampf auf der Seite der Habsburger eingegriffen hat und weil es Politiker und Generäle gab, die die Revolution verraten haben. Damit sind alle wesentlichen, mit-
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einander verknüpften und »traditionellen« Motive des histori· sehen Gedächtnisses angesprochen. Vor allem sind es die frem· den Mächte - mal die Türken, mal die Russen - , die Ungarn und die ungarische Nation immer wieder gefährdet und erobert haben und ihre Unabhängigkeit unterdrückten. Im historischen Gedächtnis geht es jedoch nicht um konkrete historische Situa· Honen, sondern es geht um das imaginäre Fremde, das in den einzelnen historischen Situationen immer wieder austauschund ersetzbar ist. Es wurde hier - gewissermaßen rückwirkend - ein Bild oder ein Mythos fabriziert, der seit dieser Zeit in ganz verschiedenen historischen und politischen Situationen eingesetzt und instrumentalisiert wurde. Mythos bedeutet hier jedoch nicht eine »ungenaue Erzählung«. Der Begriff wird vielmehr in einem anderen Sinn verwand t, »in dem reichhaltigen, positiveren Sinn einerGeschichte mit symbolischer Bedeutung, die von stereotypen Begebenheiten und überlebensgroßen Figuren - Helden oder Schurken Gebrauch macht«. 18 Dieser Mythos erzählt die Geschichte von 1848, aber darüber hinaus die ganze ungarische Geschichte als ständigen Kampf zwischen Ungarn und den Fremden, zwischen dem Eigenen und dem Anderen. Oder anders ausgedrückt: Die Tragödien und Niederlagen in der ungarischen Ge· schichte - auch die von 1848 - sind immer durch die Fremden, durch die Anderen, durch die »Nicht-Ungarn« hervorgerufen. Die ungarische Geschichte - so geht der Mythos weiter - besteht aus heroischen Kämpfen gegen fremde Mächte und aus niedergeschlagenen Befreiungskämpfen und Aufständen. Dieser Mythos hat aber auch eine andere, politisch immer wieder instrumentalisierbare Konsequenz: der soziale Inhalt der Geschichte und der historischen Entwicklung konnte immer wieder eliminiert werden. Ihm zufolge gab es keine sozia len Probleme und Konflikte. nur nationale und ethnisch gefärbte Auseinandersetzungen. Für das historische Gedächtnis war und ist die ungelöste Bauemfrage von 1848 kein sozialer Konflikt, sondern es war und blieb eine ethnische bzw. nationale Auseinandersetzung. Das historische Gedächtnis betrachtet »1848« eigentlich bis heute als ein historisches Ereignis, bei dem die ethnisch und national definierten Fremde - Minderheiten, ÖSterreicher, Russen, usw. - den ullgarischen Freiheitskampf niedergeschlagen haben. obwohl die Revolution tatsächlich nicht nur am militärischen Übergewicht der Habsburger, sondern in großem Maße
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an den sozialen Konflikten der damaligen ungarischen Gesellschaft scheiterte. Die ErkJärung des Scheitems der Revolution durch den Mythos aber machte »1848« nicht nur zum Teil der nationalen Mythologie und hat nicht nur eine tragische Kontinuität in der ungarischen Geschichte aufgebaut und befestigt, sondern hat die ungarische Geschichte per se als heroisches Schicksal postuliert. Dieses heroisches Schicksal wird durch individuelle Lebensläufe von Anführern der Revolution repräsentiert und symbolisiert, die entweder im Freiheitskampf gefallen sind, wie der Dichter Petöfi, oder die Revolution verraten haben sollten, wie General Görgey, oder Ungarn verlassen mußten und nie im Leben zurückkehren durften, wie Kossuth, oder in der Emigration irrsinnig geworden sind, wie Szechenyi, ein Vordenker der Revolution. Und dieser tragische Charakter ist neben der schon erwähnten Symbolik vom 15. März - ein wei· teres zentrales Merkmal des historischen Gedächtnisses zu »1848«, das nicht nur in der politischen Rhetorik, in der Geschichtswissenschaft und in den öffentlichen Diskursen immer wieder thematisiert wurde, sondern auch im Mittelpunkt literarischer und künstlerischer Darstellungen stand und steht.
1848 im (PosOSozialismus Der Wechsel politischer Systeme ruft immer Veränderung und Umstrukturierung im historischen Gedächtnis hervor. Es war auch in diesem Fall nicht anders. Die Kommunistische Partei, die nach dem Zweiten Weltkrieg, in den späten vierziger Jahren die Macht in Ungarn übernahm, hat das Geschichtsbild von 1848 verändert bzw. in einem ganz anderen Kontext interpretiert. »18481( wurde darin zur Vorgeschichte des Sozialismus. Symbolisch, aber auch politisch wurde eine historische Kontinuität und Entwicklung hergestellt, die von der 48er Revolution geradlinig zur sozialistischen Revolution führte. Dazu eigneten sich die Feierlichkeiten zum hundertsten Jahrestag der Revolution 1948 besonders gut. In Budapest wehte neben der ungarischen Nationalfahne die rote Fahne der Kommunistischen Partei und unter den Bildern, die die politischen Anführer der Revolution zeigten, tauchte das Bild des damaligen ersten Se-
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kretärs der ungarischen Kommunistischen Partei auf (bei späteren Gelegenheiten dann auch die Bilder von Stalin und Lenin). Daß es aber hier nicht um historische oder ideologische Kontinuität ging und der Sozialismus ein eher zwiespältiges Verhältnis zur Revolution von 1848 hatte, wird daran deutlich, daß der 15. März in Ungarn zwischen 1951 und 1988 - abgesehen von einer kurzen Periode 1956 - kein offizieller Feiertag war, obwohl jedes jahr zentrale, durch die Partei und die Regierung organisierte Veranstaltungen stattfanden. Das schwierige Verhältnis des sozialistischen Systems zu »1848« ist während des Aufstandes 1956 noch ),empfindlicher« geworden - vor allem dadurch, daß dieser Aufstand gegen die kommunistische Herrschaft nicht nur in seinen politischen Forderungen, sondern auch in seiner Symbolik ganz bewußt der 48er-Tradition folgte. Der bis dahin offiziell dargestellte und ritualisierte historische Zusammenhang zwischen 1848 und dem Sozialismus wurde symbolisch ignoriert, es entstand sogar eine neue politische Semantik, die sich auf die politische Aktualisierung der Zwölf Punkte - also nationale Unabhängigkeit, Pressefreiheit, Freiheit der politischen Gefangenen, usw. - gründete. Die Aufständischen betonten eine Reihe von Ähnlichkeiten, die »1848« mit 1956 symbolisch verbanden: den spontanen und friedlichen Charakter des ersten Tages der Revolutionen, am 15. März 1848 wie am 23. Oktober 1956; die rituelle Art der Massendemonstrationen; die zentrale Rolle der Jugend an beiden Ereignissen; aber auch, daß sich beide Revolutionen gegenfremde Mächte und die damit verbundene politische Diktatur wandten. Hinzu kamen weitere s trukturelle Ähnlichkeiten: der kurze und scheinbare Sieg der Revolution; eine kurze Periode der praktischen politischen Umsetzung einer Demokratie; und am Ende zwar nicht der Sieg der Armee des russischen Zaren, aber die Panzer der Sowjetunion und die erbarmungslose Vergeltung. Dies alles ist keineswegs erstaunlich. Denn die historischen und symbolischen Parallelen lagen ja nur allzu nahe. Um nun mit dieser neugestifteten und für das kommunistisch e Regime höchst problematischen Tradition umgehen zu können, um den 15. März historisch neu zu verorten und dadurch politisch zu »domestizieren«, zeichnete sich seit den sechziger Jahren eine neue politisch - offizi ell geförderte Erinnerungsstrategie ab. Das Regime versuchte nunmehr, drei historische Daten: den 15. März 1848, den 21. März 1919, der Tag,
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an d em die Ungarische Räterepublik proklamiert worden war, und den 4. April 1945, d en Feiertag der Befreiung Ungarns, symbolisch und rhetorisch miteinander zu verbinden. Ein politisch gefärbtes »Ged ächtnisthea ter(, im Garten d es Nationalmuseums - wo am 15. März 1848 der Dichter Sandor Petöfi die Zwölf Punkte verlesen ha tte - bzw. verschiedene ritualisierte Erinnerungsakte in den unga rischen Städten, vor allem aber in Budapest, sollten diese neu stilisierte revolutionäre und sozialistische Tradition Ungarns symbolisieren. Damit entstanden ein neuer historischer Horizont und ein neuer politischer Kon text, in d enen d er 15. März 1848 wieder neue symbolische Bedeutungen zugeordnet bekam, die früh ere, im Sozialismus unerw ünschte Bedeutungen neutralisieren oder unterdrücken sollten. Daß aber neben dem offi ziellen und in diesem Sinne herrschenden Bild von »1848«, auch andere Vorstellungen und Geschichtsbilder in der Gesellschaft vorhanden waren bzw. das historische Gedächtnis trotz aller Bemühungen d es politischen Regimes auch anders mobilisiert und instrumentalisiert werden konnte, zeigte sich am Anfang der siebziger Jahre, als die ersten, mit offenen Demonstrationen verbundenen, oppositionellen Veranstaltungen zur Erinnerung an »1848" stattfanden. Die bereits erwähnten Motive d es historischen Ged ächtnisses, wie z. B. d ie Idee der nationalen Unabhängigkeit und Freiheit, die politische Unterdrückung durch fremde Mächte, der Kampf gegen poli tische Diktatur usw., ließen ~I ch leicht aktualisieren. Daher ist der 15. März zum Schauplatz symbolischer und politischer Auseinandersetzungen - aber auch politischer Demonstrationen - und gleichzeitig ein Symbol für politischen Widerstand geworden. Seit den siebziger Jahren gab es in Bud apest immer zwei Erinnerungsakte: einen offiziell organisierten, d er das hegemoniale Geschichtsbild repräsentierte, und einen informellen, durch die politische Opposi tion organisierten, der dazu dien te, aktuelle politische Forderungen auf der Bühne bzw. vor den Kulissen historischer Traditionen, in historischen Dekorationen formuJieren und inszenieren zu können. Durch diese »d op pelte Erinnerung «, durch d ie verschiedenen Gedächtnisorte bzw. rituellen Erinnerungschoreographien sind jedoch nicht nur differente historische Gedächtniskonstruktionen, sondern auch abweichende politische Ideologien und Ordnungsvorstellungen sichtbar geworden.
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Der 15. März und d as historische Ged ächtnis zu ~> 1 848« sp ielten also eine ganz wesentliche Rolle in der Geschichte der politischen Ause inand ersetzungen im soz ialistischen Unga rn . Noch wichtigere Funktionen aber kamen ihnen im Zusammenbruch des Sozialismus zu. Den Prozeß der Ereignisse, der zum Zusammenbruch des sozialistischen Systems füh rte, kann man als Ethnologe - nach Victor Turner - als soziales Drama beschreiben.19 Jedes sozia le Drama beginnt mit einem Bruch, der in einer Übergangsp hase öffentlich gemacht und ritualisiert wird und zu einem offenen Konflikt führt (oder füh ren kann). In der Übergangsphase des ungarisch en Systemwechsels spielten einige Elemente d er Vergangenheit bzw. d urch rituelle Erinnerun gsa kte öffentlich inszenierte politische und ideologische Differenzen eine ganz entscheid ende Rolle. Das eine ist die Neubestattung von Imre Nagy,20 d em nach d er 56er Revolution hingerichteten Ministerpräsidenten Un garns; d as andere und frü here sind d ie Geschehnisse vom 15. März 1989. 21 An diesem Tag hatte d ie sich formierende po litische Opposition eine große Massendemonstration in Budapest organisiert, bei der die späteren politischen Forderungen d er Opposition erstmali g öffentlich geworden sind. Wäh rend und durch d iese Kundgebung wurde wiederum eine neue his torische Kontinuität und politische Entwicklungslinie konstruiert, die von 1848 zu 1956 und weiter zu 1989 füh rte. Die politischen Reden wiesen, ebenso wie 1956, auf die politische Aktualität d er Zwölf Punkte von 1848 hin und betonten, daß die politischen Ziele von 1848, besonders diejenigen, die d ie nationale Unabhäng igkeit und Freihei t bzw. die Pressefreiheit anbelangten, immer noch nicht erreicht worden seien. In d iesem Sinne repräsentierte .. 1848« zum wied erholten Male aktuelle politische Forderungen und mach te den frü her erwähnten symbolischen Bruch, den Anfa ng eines sich formierenden sozia len Dramas sichtbar. Etwa ein Jahr später, im Frühling 1990, fand dann eine kräftige pol itische, ideologische, aber auch historische Disku ssion statt. Das ungarische Pa rlament und die Medien debattierten leid enschaftl ich da rüber, welche sta atlichen Symbole die neue unga rische Demokratie brauche un d welche nich t; ob d as sogenannte »Kossuth-Wappen« oder aber d ie Krone des Heiligen Stepha n, des ersten ungarischen Königs, die wiedergeborene ungarisch e Na tion besser symbo li sieren bzw. rep räsenti eren • könne. Und noch im selben Jah r wurd en auch lange öffentliche
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Diskussionen darüber geführt, welches historisches Datum zum nationalen Feiertag bestimmt werden sollte: der 15. März, der 20. August, der Tag des Heiligen Stephan oder aber d er 23. Oktober, der erste Tag d er 56er Revolution. Das Ergebnis ist bekannt: Das »)neue" Wappen der ungarischen Demokratie übernahm die Krone des Heiligen Stephan, und zum nationalen Feiertag wurden gleich alle drei Tage bestimmt. Auf diese Weise entstand ein Geschichtsbild, das die Bestandteile der herrschenden Ideologie im postsozialistischen Ungarn zur Gänze sichtbar macht: Der 15. März repräsentiert die nationale Unabhängigkeit und d ie Tradition der ungarischen Freiheitskämpfe; der 20. August steht für den Ursprungsmythos d es heutigen Staates, für die mythischen Zeiten der Staatsgründung; am 23. Ok· tober wird nicht nur an den Aufstand von 1956 erinnert, dieses Datum symboliSiert den »traditionellen (( Antikommunismus der ungarischen Gesellschaft überhaupt. In diesem Zusammenhang sollte man schließlich noch einen etwas theoretischen Blick auf den Postsozialismus werfen, um zu fragen, wie d ie osteurop äische Gegenwart aus der Vergan· genheit, aus einer abgeschlossenen Zeit, aus zurückgebliebenen Spuren und Ruinen »Geschichte(( macht. Ich kann diese Frage hier nicht ausführlich d isku tieren, doch möchte ich noch eine einfach zu beobachtende Tatsache erwähnen. Der osteuropäi· sehe SystemwechseJ w ird in der Politik, in der Wissenschaft, wie auch in den Medien konsequent als Zusammenbmcll oder Kollaps des Sozialism us interpretiert. Dit!$e Sprachfigur reflek· tiert ein zentrales Merkmal des Systemwechsels in Osteu ropa und zwar, daß die bestehende Ordnung des Sozialismus - ab· gesehen von Rumänien, wo bis 1996 eigentlich kein politischer Systemwechsel sta ttfand - nicht gewaltsam gestürzt wurde, sondern in sich selbst zusammenfiel. Anders gesagt: Der Sozia· !is mus wurde nicht durch eine Revolution oder durch das Wir· ken einer erfolgreichen politischen Opposition abgeschafft . Daraus kann gefolgert werden, daß hinter dem Systemwechsel keine einheitlichen politischen Kräfte, Parteien, O rganisatio· nen, Ideologien und Ziele zu finden sind oder waren. Noch wichtiger scheint zu sein , daß in diesen Ländern keine klaren pol itischen Zukunftsvisionen und gesellschaftlichen Zukun ftsvors tellungen existierten. Politische Parteien haben s ich erst während des System wechsels etabliert und p rofiliert, unterschied liche politische Ideolog ien und divergente gesell-
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schaftliche Ordnungsvorstellungen wurden erst im Zuge der Ereignisse formuliert. Gleichzeitig ist schon in den frühen Perioden des osteuropäischen System wechsels deutHch geworden, daB in einem politischen Feld, in dem die Tradition politischer Demokratie fehlt oder nur sehr mangelhaft vorhanden ist, die sehr unterschiedlichen ideologischen und politischen Ord nungsvorstell ungen sich gegenseitig blockieren, was die Handlungsfähigkeit und -einheit der neuen Demokratien gefäh rdet. Politische Handlungsfähigkeit und gesellschaftliche Handlungseinheit brauchen ein klares »Wir-Gefühl« bzw. die Etablierung von »Wir-Gruppen .. , die wiederum auf eindeutigen Grenzen zwischen . Wir« und »Ihr.. und dadurch auf Ausund Eingrenzungsmechanismen aufgebaut sind. 22 Um dieses umfassende "Wir-Gefühl« in der politisch und ideologisch chaotischen Situation des System wechsels zu erzeugen, gab es nur zwei scheinbar feste und gemeinsame Punkte: die Ablehnung des real existierenden Sozialismus 23 und die (ausgewählten) , lange unterdrückten, jetzt aber wieder aktivierten historischen Traditionen. Um diese potentiellen Gemeinsamkeiten politisch mobilisieren zu können, sind wiederum Begriffe nötig, »kraft derer sie (die Gesellschaft) sich eingrenzt und damit andere ausgrenzt, und d . h. kraft derer sie sich selbst bestimmt«. Ferner: »Immer sind Begriffe erforderlich, in denen sich eine Gruppe wiedererkennen und selbst bestimmen muß, wenn sie als Handlungseinheit will auftreten können. Ein Begriff in diesem hier verwendeten Sinne indiziert nicht nur Handlungseinheiten, er prägt und schafft sie auch. Er ist nicht nur Indikator, sondern auch Faktor politischer oder sozialer Gruppen.,(24 Diese theoretischen Thesen von Reinhart Koselleck charakteris ieren genau die heutige Situation osteuropäischer Gesellschaften. Sie brauchten Begriffe, die - aus Mangel an demokratischen Traditionen bzw. allgemein angenommenen politischen Zukunftsvorstellungen - die postsozia listischen Gesel1schaften integrieren sollten. In diesem Sinne hat sich während des Systemwechsels rasch ein asymmetrischer Gegenbegriff von grundlegender Bedeutung - nämlich »Sozialismus und Postsozialismus(( - herauskristallisiert, der nicht einfach nur politische Unterschiede zum Ausdruck brachte. Diese duale Sprachfigur schuf vielmehr symbolische Abgrenzungsmechanismen, um die politische Differenz zweier historischer Periode sichtbar zu machen. Im Gegensatz zum Sozialismus bezieht sich der Be-
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griff des Postsozialismus nicht auf ein konkretes politisches System . Postsozialismus ist nicht automatisch mit Kapitalismus oder Demokratie gleichzusetzen. Im Gegenteil, im Postsozialismus lassen sich verschiedene politische Ordnungsvorstellungen vom offenen Nationalismus bis zum Neoliberal ismus erkennen - unabhängig davon, was daraus realisierbar ist. Postsozialismus ist also kein eigentlicher, inhaltlich bestimmter politischer Begriff, er bezeichnet kein politisches System, er stellt eher den kleinsten gemeinsamen Nenner für höchst unterschiedliche Vorstellungen d ar. Postsozia lismus bezeichnet also ))eine Existenz, die völlig durch die Tatsache bestimmt u nd definiert ist, d aß sie post ist (hinterher kommt), u nd überwältigt ist vom Bewußtsein, sich in einer solchen Lage zu befinden«.2S Dies bedeutet, daß im Begriff des Postsozialismus eine frühere historische Zeit, die des Sozialismus, repräsentiert und reflektiert wird. Die Logik d ieser Repräsentation zielte jedoch auf die vollständige Ausschließung einer historischen Periode - der des Sozialismus - aus dem politischen und symbolischen Raum d es Systemwechsels, aus der Geschichte und dadurch auf die Stigma tisierung aller sozialer Gruppen ab, die sich in irgendeiner Art und Weise mit dieser Epoche identi fizieren. Anders formuliert: Die Gegenbegri ffe von Sozialismus und Postsozialismus d ienen in einer politisch und ideologisch konfusen Situation dazu, Handlungseinhei t und -fähigkeit d urch Ausgrenzung und symboli sche Stigmatisierung zu scha ffen . Diese politische I~rax ls IS I Jedoch keineswegs unproblematisch. Sie führte vielfach dazu, daß die "kleinen Leute(( ihre eigene Geschichte und Vergangenheit verloren haben. Den Menschen, oder wenigstens ein groBer Teil der postsozialistischen Gesellschaften, sind ihre eigenen vergangenen Erfahrungen und ihr kulturelles Wissen fremd geworden, denn hinter den individu ellen Hand lungen ist ihre Geschichte verschwunden, die doch die Ereignisse des individuellen Lebens mit Bedeutung ausgestattet hatte. Die politische und kulturelle Praxis des Postsozia!ismus, die die Zeit des Sozialismus als wertlose historische Periode, als eine völlige Sackgasse darstellt, hat diese Gesellschaften tief gespa ltet. In dieser Situation schien (und scheint oft immer noch) die Geschichte, die symbolische Repräsentation und die politische lnszenierung der Vergangenhei t der Ausweg zu sein. Die postsozialistischen Gesellschaften sind eigentlich trad iti onslose Gesellschaften, und sie versuchen jetzt, diese Ver-
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gangenheit nicht zu erfinden, sondern eher auszugraben im Sinne einer })Evakuierung und Aushöhlung((.26 Sie suchen etwas Symbolisches, etwas »Festeres((,21 was ihre Zukunft im Spiegel der ausgegrabenen Vergangenheit sichtbar machen könnte. Das historische Gedächtnis von 1848 zeigt und illustriert die Schw ierigkeiten dieser sozia len Praxis.
A'lmerkulIgen 1 VgJ. z. B. Klaus von Beyme, Systemwechsel in Osteuropa, Frankfurt / Mo 1994,5.124-165. 2 Vgl. den Artikel von Kar! Otto Hondrich, Grenzen gegen die Gewalt, in: Die Zeit, Nr. 5 vom 28. januar 1994, 5. 4. 3 Vgl. jan Philipp Reemtsma. Die Königstochter ha t den Frosch nicht geküßt, in: Max Miller / Hans-Georg Soeffner (Hg.), Modemität und Barbarei. Soziologische Zeitd iagnosc am Ende des 20.jahrhunderts, Frankfurt / Mo 1996,5.353-358, hier 5. 356. 4 Siehe Z. B. Holm Su.ndhaussen, Ethnonationalismus in Aktion: Bemerkungen zum Ende Jugosla wiens, in: Geschichte und Gesellschaft 20 (1994), S. 402-423; Jacques Rupnik, Eisschrank oder Fegefeuer. Das Ende des Kommunismus und das Wiedcrerwachen der Nationalismen in Osteuropa, in: Transit 1 (1990),5.132-141. 5 Vgl. Jean Baudrillard, L'iIlusion de la fin ou la greve des evenements, Paris 1992, 5.23; C hristoph Conrad / Martina Kessel, Geschichte ohne Zentrum, in: Christoph Conrad (Hg.), Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zu r aktuellen Diskussion, 5tuttgart 1994, 5. 9-36. 6 Siehe dazu Petcr Niedermüller, Zeit, Geschichte, Vergangenheit. Zur kult urellen Logik des Nationalismus im Postsozialismus, in: Historische Anthropologie 5 (1997), 5. 245-267. 7 Vgl. Miroslav Hroch, Socia] Preconditions of National Revival in Europe: AComparative Analysis of the Social Composition of PatrioticGroups among the 5maller European Nations, Cambridge 1985. 8 Siehe Peter Schöttler, Mentalitäten, Ideologien, Diskurse. Zur sozialgeschichtlichen Thematisierung der .,d rillen Ebene«, in: AU Lüdtke (Hg.), Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und lebensweisen, Frankfurt / M. 1989, 5.85-136. 9 1848 waren Buda und Pest noch zwei miteinander eng verbundene, jedoch voneinander unabhängige Städte, die erst 1873 zur Hauptstadt Ungarns vereinigt wurden. iO Vgl. Pau] Connerton, How Societies Remember, Cambridge 1989, 5. 41 - 71. 11 Zu Formen und Funktionen des historischen Gedächtnisses in verschiedenen sozialhistorischen Kontexten siehe Thomas Butler (Hg.), Mem-
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ory. History, Culture and Mind. Oxford 1989; John R. Ciltis (Hg.), Comme-
morations. The Politics of National Identity, Princelon 1994; Susanne Küchler/ Walter Melion (Hg.), Images of Memory. On Remembering and Representation, Washington D. C. 1990. 12 Vgl. Jan Assmann, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: I::lcrs./Tonio H ölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt / M. 1988, 5.9-19, hier S. 12. 13 Zur Geschichte der Erinnerungskultur zum 15. März siehe Andras Gerö. MArcius 15., in: Ders., Magyar polgarosodas, Budapest 1993, 5.397416.
14 VgJ. Peter Burke, Geschichte als soziales Gedächtnis, in: Aleida Assmann / Dietrich Harth (Hg.), Mnemosyne. Formen und Funktionen de r kulturellen Erinnerung. Frankfurt / M. 1991, S. 289-304, hier S. 289. Siehe auch Paul Ricoeur, Gedächtnis - Vergessen -Geschichte, in: Klaus E. Müller j Jöm Rüsen (Hg.), Historische Sinnbildung. ProblemsteUungen, Zeitkonzepte, Wahmehmungshorizonte, Darstellungsstrategien, Hamburg 1997, S. 433454. 15 Vgl. Jörn Rüsen, Historische Orientierung. Über die Arbeit des Geschichtsbewußtseins, sich in der Zeit zurechtzufmden, Köln 1994, S. iO f. 16 Vgl. Assmann, Kollekti\les Gedächtnis und kulturelle Identität, S. 12. 17 Siehe dazu Peter NiedermüUer, Stadtkultur und Nationalkultur. Kulturkontakt und Kulturkonnikt in den ungarischen Städten, in: Konrad Köstlin / lna-Maria Gre\lerus (Hg.), Kulturkontakt - Kulturkonnikt. Zur Erfahrung des Fremden, Frankfurt / M. 1988, S. 79-85. 18 Vgl. Peter Burke, Geschichte als soziales Gedächtnis, S. 295. 19 Vgl. Victor Turner, Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des mensch· lichen Spiels, Frankfurt / M. 1989, S. 95-139. 20 Vgl. Mate Szab6, Kriterien des Gedenkens. Die Bestattung \Ion lmre Nagy als politisches Symbolereignis, in: Osteuropa 41 (199 1), S. 985-996. 21 VgL Tamas Hofer, Harc a rendszervalta~ rt szimbolikus mezöben. 1'J/:S9. Marclus 15-e Budapesten (Zur symbolischen Dimensionen des Systemwechsels. Der 15. März 1989), in: Politikatudomanyi Szemle 1 (1992), S. 29-52. 22 Siehe dazu Niklas Luhmann, Inklusion und Exklusion, in : Helmut Berding (Hg.), Nationales Bewußtsein und kollekti\le Identität. Studien zur Entwicklung des koUekti\len Bewußtseins in der Neuzeit, Frankfurt / M. 1994, S. 15-45. 23 Obwohl man diese Feststellung eigentlich relati\lieren sollte, weil besonders in den früheren Phasen des Systemwechsels nur gewisse Teilberei· che des sozialistischen Systems kritisiert worden sind, wie die wirtschaftli· chen Schwierigkeiten, die Knappheit in Konsum, Reisefreiheit usw. Politische Forderungen wie Demokratie, Mehrparteiensystem, Meinungs· freiheit, nationale Unabhängigkeit usw. tauchten erst s päter auf. a ls die p0litischen G ruppierungen und Parteien sich schon etabliert hatten. 24 Reinhart Koselleck, Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, in: Ders., Vergangene Z ukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt / M. 1992, S. 211 - 259, h ier S. 212. 25 Vgl. Zygmunt Bauman, Modeme und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Frankfurt/ M. 1995, S. 333.
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VgL Anthony Giddens, Tradition in der posttraditionalen Gesellsch il1ft, in: Soziale Welt 44 (1993), 5. 44.>--485, hier 5. 459. "l.7 Vgl. Aleid a Ass mann, Kultur als Lebenswelt und Monument, in: Dies./Dietrich Harth (Hg.), Kultur als Lebenswelt und Monument, Frankfurt ,/ M. 1991, 5. 11 -25, hier 5. 11 .
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Auch wenn wir es heute wohl gerne bes treiten: Wir sind es gewohnt, anderen Na tionen und Gesellschaften eine spezifische hjstorisch-politische Identität zuzuschreiben, Züge einer Kollektivpersönlichkeit. lmmer noch ist es jenes alte Spiel mit Bildern »vom Anderen«(, mit Mutma Bungen über nationale Charaktere und Mentalitäten al s den vermeintlichen Folgen jeweiliger Kultureigenarten und Gesch ich tsverläufe. Dasselbe geschah und geschieht natürlich auch mit uns. Die Deutschen und die Bildung, die Deutschen und die O rdnung, die Deutschen und d er Krieg: Mindestens in den letzten einhundert Jahren bargen solche Bilder für Zeitgenossen und Nachbarn stets einleuchtende, auch bedrohliche Assoziationen. Die Deutschen und die Revolution hingegen: Nicht erst seit 1918 - und auch durch 1989 kaum gemildert - ruft dieses Bild meist eher ironische Kommentare hervor wie jenen geflügelten Satz von d en d eutschen Revolutionären, die vor der Besetzung des Bahnhofs erst noch eine Bahnsteigkarte lösen. Darin sind natürlich die bekannten Anspiel ungen enthalten a uf ein vermeintlich tief eingewurzeltes sozia les Ordnungs-, Regel- und PflichtbewuBtsein, auf jene»Tugenden« der Deutschen, die für eine Revol ution mentalitätsgeschichtlich einfach nicht »gebaut«( scheinen, die politisch nie willens noch fähig dazu waren und sich lieber regieren lieBen. Vermutlich is t die Floskel von der »regierbaren Gesellschaft« nicht zufällig bis heu te eine Lieblingsvokabel deutscher Politiker. Nun ist dieser Mythos vom ,.O rdnungsvolk« freilich zu einem guten Teil hausgemacht. Nicht zunächst die anderen, die Deutschen selbs t entwarfen dieses historische Cha raktergemälde einer »volkstümlichen « Reichs- und Staa tstreue. A llen statt gefundenen Revolutionsversuchen, allen Traditionen antifeudaler, demokratischer, liberaler wie sozia lis tischer Bewegungen zum Trotz erschienen d ie Bilder deu tscher Vergangenheit d aher stets nachhaltig geprägt von den Zügen einer »Untertanenge-
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schichte«. So ließ sich auch die deutsche Geschichtsschreibung bis in die 1960er Jahre als eine fast reine Politik- und Staatsgeschichte lesen, die das 19. und 20. Jahrhundert in der Figur eines Fortschritts- und Modernisierungsdiagramms zeichnete, wobei dessen Verlauf stets »von oben«, staatlich gestaltet, also wohlgestaltet war. ln diesem Diagramm wiederum markierte die Revolution von 1848 einen zentralen Koordinatenpunkt, von dem aus die Entwicklungslinien hin zu nationaler Einheit und staatlicher Verfassung sta rk ausgezogen wurden, diejenigen hin zu Republik und Demokratie dagegen eher schwach. Die revolutionäre Bewegung selber schien ja »gescheitert« - sofern man von »revolutionär« überhaupt sprechen mochte. Damit wurde ihr Andenken zu einer formbaren Skulptur in den Händen späterer »Zeitgeister« wie von Generationen deutscher Historiker, die deren Gestalt eher tragikkomische als ernsthafte und nachd enkliche Züge verliehen.
Ansichten einer Revolution Nachdem die Anekdote von den deutschen Revol utionären und der Bahnsteigkarte auf das Jahr 1918 anspielte, will ich die Geschichte der Revolution von 1848/ 49 mit einer Gegenanekdote beginnen, die ebenfalls mit der Eisenbahn zu tun hat, für deren queUenmä ßigen Beleg ich jedoch bürgen kann. Gerade rechtzeitig im Jahr 1848 nämlich wird die erste Bahnlinie im Königreich Württemberg fertiggestellt, die damals die beiden wichtigsten Garnisonsstädte Ludwigsburg und Ulm miteinander verbindet. Als im März erste Unruhen beginnen, ist die Regierung daher froh, dieses strategische Truppentransportmittel zu ihrer Verfügung zu wissen. Im Sommer 1849 dann, als die Reichsverfassung beraten wird, zu der sich auch die württembergische Regierung ausgesprochen reserviert verhält, befürchtet man allerdings, daß nun auch umgekehrt bewaffnete Revolutionstruppen diese Verbindung nutzen und mit dem Zug nach Stuttgart einfallen bzw. -fahren könnten, denn die Strecke ist inzwischen nach Norden verlängert, in das »unruhige« Hohenloh ische. Deshalb gibt man Ordre an die Stati onskommandanten d er Bahnhöfe kurz vor Stuttgart: Sie
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möchten, sofern ihnen größere bewaffnete Trupps im Zuge auffielen, diese bereits an ihrer Station ganz entschieden aus dem Zug weisen. Auf diesen klaren Befehl kommt nun allerdings die Rückfrage eines Stationsvorstehers, d er die Furcht sehr wohl versteht, nur gewisse praktische Bedenken hat: Er sei sich nicht sicher, wendet er ein, ob solche Trupps dann einfach auf seine Anordnung hin den Zug auch tatsächlich verlassen würden.\Eine gute Frage, die Antwort d er Regierung darauf ist leider nich t überliefert. Obwohl quasi Beamter, scheint der Mann also Realist zu sein . Allein mit Mütze, Trillerpfeife und Amtsstimme einen bewaffneten Trupp zu dirigieren, dünkt ihm doch kein einfaches Unterfangen. Er jedenfalls traut also der Regel von den deutschen Revolutionären und der Bahnsteigkarte offenbar noch nicht so ganz. Und der Mann hat recht: Zwar fahren damals keine Eisen· bahnzüge voller Bewaffneter nach Stuttgart, aber d ie neue Errungenschaft der Eisenbahn wirkt doch nicht nur im Sinne ihrer Erfinder. Neben ihrer Funktion als TruppentranspOlltllittel dient die Eisenbahnlinie längst als Vehikel und als Kommunikationsader der revolutionären Bewegung: Die großen Volksversammlungen mit manchmal zehn tausenden von Teilnehmern und die groBen regionalen Vereinsversammlungen machen sich nämlich die neue Transporttechnik ebenso für die Massenmobilisierung zunutze wie die Emissäre der Arbeiter- oder der Handwerker· vereine für den Aufbau ihrer Kommunikations- und O rganisa· tlonsnetze. lm Volks mund heißt diese EIsenbahnlinie d a h ~r auch »Demokratenexpreß(c: Ein Herrsc haftsinstrument ist in ein Volksbewegungsmittel umgewidmet. Diese Anekdote besitzt also ei ne umgekehrte Pointe: Sie weist Disziplingläubigkeit und Phantasieannut nicht den Untertanen zu, sondern den Herrschenden. Dariiberhinaus ver· weist ihr Stoff auf einen generellen Kern vieler solcher Revolutionsgeschichten: auf den darin pointiert angedeuteten Ka mpf um die alltäglichen ~~Sp i elrege ln « der Gesellschaft, auf Fragen nach institutionellen Machtverhältnissen und öffentlicher Definitionsmacht, nach Traditionen und Denkgewohnheiten, aber eben auch nach Fähigkeiten der Veränd erung, des Umdenkens und des Umbaus solcher gesellschaftlichen Regelsysteme. Und schließlich verweist sie uns auch auf das Problem unseres Geschichtsbildes, seiner Deu tungen und Überlieferungen: Die Bahnsteig-Anekdote ist kurz, prägnant, bekannt und paßt sle-
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reotyp "ins deutsche Bild «; der »Demokratenexpreß( hingegen ist später nie zu einem geflü gelten Wort geworden - jedenfaUs nicht in der o ffi ziellen Geschichtsüberlieferung. Mit anderen Worten und um die Anekdotik nun zu verlassen: Bis vor wenigen Jahren noch wurde die Revolution von 1848 fa st ausschließlich in einer engen staa ts- und politikgeschichtlichen Perspektive mit wirtschaftsgeschichtJichen Fußnoten präsentiert. Sie erschien dabei als eine Art unfreiwilliger gesellschaftlicher »Modemisierungsvorgang((, geboren aus einer europäischen wie deutschen Krisensituation, zunächst ungeschickt gemanaged vom ancien regime, dann aber doch mit wesentlicher Irnpulsw irkung im Blick auf ihre politisch-institutionellen Folgen, auf ihre verfassungspolitische Seite wie auf die n euen O rganisa tions formen »bürgerlicher( Politik. Dies schienen d ie wertvol1en Merk- und Marksteine für unsere historisch-politische Kultur wie für unser »kollektives Gedächtnis,(. 2 Gewiß war dabei auch immer von revolutionären Bewegungen die Rede: von »Volksmassen«, von Unruhen und von Märzaufständen in Berlin und Wien, von der badischen Revolution gar als einem vorübergehend erfolgreichen Machtkampf. Doch schienen das eher Episoden, diffuse Aktionen und Bewegungen, die gleichsam epidemisch auftraten und bald wieder in sich zusammenfielen. Jedenfalls gab es an dieser Seite der Revolution offenbar weniges, was dauerhaft blieb, was genügend Kraft und Kontinuität besessen hätte, um "geschichtlich « und »politisch « zu wirken - mehr Politik mit dem Bauch, vielleicht noch mit d em Herzen, als mit d em Kopf. Denn dieser Kopf, das war die bürgerlich-kons titutionelle Seite der Revolution. Und deren »Leitfossilien,( d ominierten auch jenes Revolutionsmuseum, das in Büchern, Gedenkschriften und Ausstellungen allmählich erstand: die Paulskirche und die Nationalversammlung mit ihren Debatten über Verfassung und Na tion, über Grund- und Wahlrechte; d ie liberale Bewegung mit ihrer spä teren Spaltung, ihrem Scheitern, aber auch mit ihrem Vorbildund Vorläufercharakter für d ie folgende »modeme(, Parteiengeschichte; die wirtschafts- und sozia lpolitischen Diskussionen als Weichenstellungen für künftige deutsche Zoll-, Gewerbeund Sozialpolitik; vielleicht noch der Abschlu ß der »Bauembefreiung «, also der Grundentlastung und Inbesitznahme d es Landes in bäuerliches Eigentum.
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In den ergänzenden Vitrinen dieses Museums und in d en Fu ßnoten der Geschichtsbücher kam dann etwas mehr zur Sprache, immerhin eine grobe Chronik des Geschehens: Szenen aus der deutschen Vormärzgesellschaft, aus ihren politischen Bewegungen wie industriellen Anfängen - die akute Agrarund Versorgungskrise der Jahre 1846/ 47 - darauf die Welle d er sogenannten »Brotunruhen« und »Hungerkrawalle«( - dann, 1848, die französische Februarrevolution, gleichsam als Signal für die deutsche Märzbewegung - die Bauernunruhen, die ländliche Rentämter in Flammen aufgehen lassen, und die städ tischen Protesta ktionen, die Bürgermeis ter und Magistrate zum Rücktritt zwingen - die Bürgerkomitees mit ihren Märzfo rderungen und d ie liberale Opposition, deren Vertreter Zugang in die Mehrzahl d er deutschen Regierungen finden - militärische Konfrontationen zwischen "Volksbewegung« und Regierungsmacht wie in Berlin und Wien - das Vorparlament auf d er Bühne der Paulskirche und die Nationalversammlung im Mai 1848 mit ihren Debatten - Ende Juni der Reichsverweser Erzherzog Johann - im Herbst Aufstände wie in Frankfurt, Baden oder Wien - gleichzeitig die Spaltung der Bürgerlich en in konstitutionelle Monarchisten und eher republikanisch und demokratisch Gesonnene - am 27.12.1848 die Verkündung der »Grund rechte des deutschen Volkes« - am 28.3.1849 die Verabschiedung der Reichsverfassung durch die Nationalversammlungd ann Ablehnung der Kaiserkrone durch Friedrich Wilhelm IV. von Preußen - im Mal und Juni 1849 darauf die »drille Welle,( der revolutionären Bewegung: Versuche der Durchsetzung der Reichsverfassung in Sachsen, Rheinland , WestfaJen, Pfalz und Baden - d eren Scheitern bzw. Niederschlagung durch preußische Truppen - am 18.6.1849 die Auflösung des ))Rumpfparlaments«, der nach Stu ttgart geflohenen )) Linken« der National versammlung - am 23.Juli die Kapitulation der letzten republikanischen Truppen Badens in Rastatt. - Ende des Rundgangs: die Revolution als Episode, die neu- und wiedergewonnene O rdnung als die "eigentliche« Geschich te? Da s ist natürlich: Revolution im Telegrammstil. Doch so sehr mein Report hier verkürzt, vergröbert und zweifell os Generationen von Historikern un recht tut, die sich durch dicke Aktenbestände gekämpft haben, so gewiß sind es doch ungefähr diese wen igen Schlagzeilen, die das öffentlichen Geschichtsbew ußtsein lange Zeit bestimmten . Denn schon unmittelbar nach 1849
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waren a lte rnative Revo lutionsdeutungen liberale r Historiker rasch von der staa tstragenden Geschichtszunft verdrängt. 1898 konnte m an bei der SOjährigen Wiederkehr mit kaiserlich em Segen d ie volle ndete »Reichseinheit« feiern. 1918 wurde das Be· zugsjahr 1848 zwa r zunächst revolutionär beschworen, bis a u f d ie Arbeite rbewegung mit ihrer Erinne rung a n »d ie Achtund· vierziger( wurde jed och bald w iederum weniger auf die Volks· bewegung verw iesen als vielmehr auf bürgerliche republika ni. sehe und na tionale Traditione n. 1948 schließlich sollte ein raseh entsta ubtes Denkmal »1848( m it flüc htig gezeichneten dem
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anderen, populären Erinnerungs kultur, die sich regional lange Zeit lebendig und da mit zumindest Bruchstücke eines Andenkens an die Volksbewegung aufrecht erhalten hatte,' 50 wurde dieses Datum »1848« allmä hlich zu d em, was es he ute ist: Zu einem ebenso wichtigen wie in seiner Deutung umstrittenen Wendepunkt deu tscher Geschichte, zu einem Anlaß für Nachdenken und Gedenken - aber eben auch zu eine m Anlaß des Nachdenken über dieses Gedenken : Was feiern wir, w as halten wir daran wert? Suchen wir unsere politische Traditionen neu a uf oder setzen wir alte Mythe n statuarisch fes t? Denn wenn es um Geschichte und Erinnerung geht, gilt jene Festste llung des französischen Historikers Lucien Febvre für die 1990er Ja hre ganz besonde rs, wonach es stets Aufgabe der Geschichtssch reibung gewesen sei, »die Ve rgangenheit für ihre Funktion in der Gegenwart z u organisieren «, Im Angesicht de r Jahrtausendwende, die uns als »magisches Da tum« zur Zeitenwende z u werden scheint, nutzen auch wir diese Funktion verstä rkt, betreiben })Arbeit a m nationalen Gedächtnis«,7
Soziale Anerkemllmgskämpfe: Die »zornigen« 1840er Jallre Ich möchte daher nochmals Deutungsmöglichke iten dieser Re volutionsbewegung sklzziert:n, die ande rt: Traditio nslinien an bie ten a ls die jene r bürgerlichen Ikone }) 1848 «, Und ich beginne mit e inem Blick auf die Jahre vor d er Revolution. Nicht erst in unserer Rückscha u ste llt sich die deutsche Vormä rzgesellschaft in viele r Hinsicht a ls eine }}Übergangsgesellschaft« dar. Auch d amalige Politike r und Publizis ten wie Fried rich Da hlmann, Paul Pfizer, Ludw ig Börne oder Ka rl Immermann sprechen vie lmehr immer wied er von d er »Zerrissenheit« ihrer Zeit, von einem Gefühl tiefer Verunsicherung, zw ischen vertra utem Altem und era hntem Neue m sich gleichsa m noch im N ie mandsland zu bewegen, in einer »Schwe llenzeit«. Seit der französischen Revolution steht fü r sie a uch in Deutschland das Ende de r »feudalen We lt<{ längst auf der Tagesordnung : Die Gesellscha ft scheint ihnen )}in Bewegung«, w eg von der ständisch gespa ltenen und spä ta bsolutis tisch entmündig ten hin zu einer bürgerlichen, deren künftige w irtschaftli che w ie sozia le
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Konturen sich mit Blick etwa nach England und Frankreich be· reits erahnen lassen.! Bescheidene Modernisierungsimpulse sind immerhin bereits auch in den deutschen Staaten sichtbar, wenn auch in ambivalenter Form: einerseits durch Versuche staatlicher Landwirtschafts· und Gewerbeförderung, durch Bil· dungs· und Rechtsreformen; andererseits in Gestalt zunehmen· der staatlicher Eingriffe in gewachsene kommunale Selbstän· digkeiten wie in das Alltagsleben der Standes· und Berufsgrup· pen. Diese zweite Seite der Modernisierung wird in vielen Zeitdokumenten in der Tat als ein Stück »sozialer Disziplinie-rung« empfunden, vor allem angesichts des enonnen Ausbaus staatlicher Bürokratie und Polizei, die sich für Kontrolle und Disziplin in a Uen Lebensbereichen zuständig sieht. Insofern wirkt d er aufgeklärte Vormärzstaat mit seinem »System Met· ternich« ironischerweise »absoluter" in seinem Dirigismus als der Spä tabsolutismus, der längst nicht alle Lebensbereiche und Nischen so total erfassen konnte wie dieser »modernisierte,( Verwaltungsstaat. Entscheidend in jedem Fall: Positiv wie ne· gativ empfundene Reformen kommen »von oben« und werden daher vielfach als aufgezwungen erfahren. Diese Wahrnehmung gilt nicht nur für zensurgeschädigte In· tellektuelle, sondern betrifft nachhaltig auch die unterbürgerli· chen Gruppen. Denn für sie verbindet sich der Unmut über sol· che Eingriffe in ihre lebensweltlichen Ordnungen zunehmend mit existentiellen Krisenerfahrungen. Stichworte wie Armen· politik, Arbeitshaus, Landwirtschafts· und Handwerkskrise, Wanderungskontrolle, Heimatrecht markieren soziale Erfah· rungsräume, in denen der »fürsorgliche« Staat mit harter Hand über Lebensläufe und Gruppenschicksale bestimmt. Wenn in dieser Situation nun, besonders seit den 1830er Jah· ren, Ideen einer anderen, frei eren, gerechteren Gesellschaft aus Frankreich über d en Rhein ko mmen, dann ist es kaum verwun· derlich, daß sie auch hier ein Echo finden. Vor allem zwei Be· völkerungsgruppen, die im sozialen wie im geographischen Sinne ))neu « und »mobil« sind , nehmen diese Impulse auf: zum einen und im bürgerlichen Spektrum die »freien « Berufe der Literaten, der Journalisten, d er Rechtsanwälte, der Architekten, auch die neue technische Intell igenz der Ingenieure und Fach· arbeiter, die sich nun um d ie Fabriken zu gruppieren beginnt; zum andem und im Bereich der unterbürgerlichen Schichten die Handwerksgesellen, die Handarbeiter und die Dienstboten,
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d ie vers tä rkt den Städten und Fabriken zuwandern . Beide Gruppen müssen sich neue geographische wie berufliche Posi· tionen in der Gesellscha ft suchen. Und sie m üssen dabei auch ein neues soziales w ie politisches Selbstverständ nis entwickeln, weil sie sich nicht mehr auf einen alten Herkunfts- und Gruppens tatus stützen können. Die literarische und p olitisch-publ izistische Gesellschaftskritik, die liberalen Zirkel und Vereine des Vormärz sind insofern ebenso w ie d ie Unterschich tsp roteste gegen hohe Brotpreise, Mieten, Bierpreise oder w ie d ie »Bürgerinitiativen ( gegen staa tliche Verwaltungsein griffe auch Ausdruck dieser Suche nach einem neuen Selbstbew ußtsein gerade in d en ))beweglich« gewordenen Teilen der Gesel1scha ft. Für sie geht es um die Konstituierung von sozialen Gruppenidenti tä ten und von politi. schen w ie ku lturellen Re präsentationsstrategien in einem öf· fentlichen Ra um, d er ihnen durch stä ndische Enge wi e obrig keitliche Kontrolle immer wieder streitig gemacht. Es sind - um eine Formulierung von Jürgen Habermas aufzunehmen »soz iale Anerkennungskämpfe ((, d ie noch nach einem vielfach »vormod ernen ( gesellschaftli chen Regelwerk ausgetragen werden (müssen). Damit sei nur nochmals unterstrichen, wie wenig s ich die poli tisch·soziale Dynamik des Vormärz einfach im Sinne von Krisen· und Notreflexen verstehen läßt. Nicht der Bauch revol· tiert. nicht Hunger macht bekanntlich revolutionär, sondern die Orientierung an Maßstabt::n vun sozialer Gerechtigke it und Fairness, an kollektiven mora lischen Gefühlen und ethischen Prinzipien, an neuen Bedürfnishorizonten und neuen Formen sozialen Selbstbewu ßtseins. Der amerikanische His toriker Ri· chard liUy ha t m it Blick auf d ie Versorgungskrisen und die Pro· testwellen des deu tschen Vormä rz einmal d ie Metapher von den »hungri gen 1840ern« als Signum d er vorrevolutionären Etappe geprägt. 9 Mir scheinen d ies eher die »zornigen 1ahre( zu sein - Jahre, in denen sich Erbitterung und Empörung angestaut haben über eine tiefe Krise der Ordnung gesellschaftlicher Beziehungen und der Legitimität politischer Herrschaft , 1ahre, in d enen soziale Positionen und Interessen neu artiku li ert und ausgehandelt werden müssen. Auf die Ennvicklung zur Revolution hin gesehen, ma rkiert der späte Vormärz d amit eine rad ikale Eros ionsphase vieler »Iangwelli ger ( hi storischer Erfahrungslinien. Nach 1ahrhun-
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derten der FeudalgeseUschaft, der Untertanenexistenz, der sozialen Unterordnung, nachdem es vorher niemals das freie politische Wort, eine freie Presse, das Recht auf politische Vereinigung und Versammlung gegeben hatte, nachdem für große Bevölkerungsgruppen ein »Recht auf Politikl' nie existierte, deutet sich nun eine völlig neue und ungewohnte Situation an. Um es etwas pathetisch zu formulieren: Die Menschen spüren, daß s ie das Recht und die Möglichkeit haben könnten, über ihre eigenen Gesch icke wie die der Gesellscha ft selbst zu beraten und zu bestimmen . Denn die bisherigen Freiheiten waren enge und vor allem »gewährte«, Zugeständnisse »von oben«, wenn auch auf Druck von unten. Jetzt könnten sie selbst genommene und selbs t gewählte werden. Und man beginnt sich daruberhinaus an seinem Platz nun zuständig zu fühlen für mehr als nur die engen Belange seiner Berufsgruppe, sein es Dorfes oder seines Stadtviertels. Die partiku laren Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte weiten sich hin auf einen Gesamthorizont "Gesellschaft«.IO Dieser Befund klingt so vielleicht etwas überpointiert. Doch scheinen mir unsere bisherigen Forschungserkenntnisse über den Stand der vielfältigen politischen »Vergesellscha ftungsrormen« der 1840er Jahre jedenfalls in diese Richtung zu weisen. Die wichtigsten Medien einer ',bürgerlichen Öffentlichkeit« funktionieren bereits in Gestalt von Zeitungen, die trotz Zensur zwischen den Zeilen informieren und vielfach über die Sparte »Eingesand t,( den öffentlichen Meinungsaustausch organisieren,lI in Gestalt von Vereinen, die neben ihren Lese-, Bildungs-, Gesang-, Turn- oder Gewerbezwecken auch ein soziales Milieu wie ein politisches Netzwerk verkörpern,12 in Gestalt von Wahlkomitees, die rund um die Landtage programmatisch wie überregional wirken. \3 Gleichsam zwischen den lokalen Sozialgruppen operieren Komitees und Petitionsausschüsse, die - meist bürgerlich geführt, aber in ihrer Wirkung andere Schichten integrierend - zu allen möglichen Themen vom städtischen Straßen- bis zum Waldbau, von der Indus trieverschmutzung bis zum Wahlrecht eine Politik d er )'Einmischung« betreiben. Im unterbürgerlichen Spektrum dominieren die Verbindungen der Handwerksgesellen, in denen sich O rganisation, Kommunikation, Mobilisierung nach Mustern vollziehen, die sich im jahrzehntelangen Kleinkrieg mit dem Obrigkeitsstaat bewährt haben und die auch immer wieder Verbindungen finden zu expli-
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zit politischen Auslandsvereinen d er Handwerker und Arbeiter in der Schweiz, in Frankreich oder in England.1' Daneben steht zudem eben jener breite Bereich der Protest· und Aktionsformen, der nicht kontinuierlich politisch mobilisiert, hinter d em aber doch ein alltagskulturelles Kommunikations- und Interaktionsgeflecht steht, das zu jeder Zeit politisch werten und wirken kann. 1S Wesentlich für die politische Kommunikations- wie Mohilisierungsfähigkeit in und zwischen den Gruppen ist schließlich , auch, da ß sich im Vormärz längst Ansätze einer politisthen Symbolsprache entwickelt haben. Begonnen in der Zeit nach den Befreiungskriegen und verstärkt nach den Unruhen und dem Hambacher Fest in den 1830er Jahren,16 haben sich ,)nationale« wie »soziale( Ikonologien gebildet, die d em starken Symbolbedürfnis der sozialen Bewegungen Ausdruck und Botschaft ermöglichen. Schwarz-Rot-Gold an d er Kleidung als nationales und Rot als soz iales »Parteiabzeichen«, lange Haare und Bärte, altdeutscher Rock cl la Turnvater lahn oder französische Technikermütze, Anstecknadeln oder rote Sack tücher, aber auch Gehweisen und Körperhaltungen, Handzeichen und Grußformeln, Witze und Lieder - all dies sind zeichenhafte Verständigungsformen, die politische Gesinnung als Bekenntnis zu einem Bestandteil des Alltagshabitus werden lassen. Hier haben sich also Ansätze einer politischen Kultur entwickelt, deren Breite und Wirkung sich weder auf den klassischen engen Verständnjsbereich " bürserlidler Öffentlichkei t"I,
aürgen Habermas) beschränken, noch im Sinne polito logischer Begriffsdefinitionen an starren institutionellen und normativen Mustern ))moderner Politik« messen lassen. Das, was man hier idealtypisch eine ),Kommunikations- und Aktionsöffentlichkeit« der unterbürgerlichen Schichten und eine »O rgan isa tionsund DiskufSÖffentlichkeit« der bürgerlichen Gruppen nennen könnte, wobei sich heide Praxissysteme vielfach berühren und verschränken, fordert vielmehr einen Begriff ))po litischer Kultur«, der sich an handlungsleitenden Id een und Vorstellungen festmacht, an sozialen Beziehungsformen und kulturellen Praxismustem, d ie in einem sehr weit gefaßten Sinn politisch wirksam werden .18 Diese Wirkung erzielt solch eine po litische Kultur d amals aber gerad e auch deshalb, weil sie ihre Wurzeln in der Alltagskultur hat und noch nich t in ein em seg mentären Raum fonnierter und institutionalisierter Politik konzentriert
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ist. l " In der neueren Erfahrungs~ und Revolutionsgeschichtsfor~ schung neigen im übrigen längst auch die "Pionierarbeiten« von Edward P. Thompson, Eric J. Hobsbawm, Michel Vovelle, Mona Ozouf oder Fran,ois Furet einer solchen Auffassung zu.
»Orgatlisatioll der Massen/( als politische Kultur Von diesem Hintergrund einer lange heranreifenden sozialen Beziehungskrise, deren Ursachen und Symptome sich im März 1848 bündeln und zum offenen Ausbruch kommen, sprechen auch viele der uns zur Verfügung stehenden Dokumente aus dieser Zeit. 20 Ich will hier lediglich zwei süddeutsche Belege dafür aus dem März 1848 zitieren. Aus Neuhütten, zwischen Heilbronn und Schwäbisch Hall gelegen, meldet der Oberamt~ mann zur Stimmung unter den Bauern und Dorfarmen: »Die~ sen Druck können sie nun und nimmermehr ertragen, lieber wollen sie sterben als leben wie Hunde; sie wollen Menschen sein wie andere auch [.. . ] Zwei Blutegel saugen an ihnen, die Herrschaft Gemmingen und die Herrschaft Weiler, und oben~ drein komme noch der Staat.« Und in Stuttgart wird eine Peti~ tion von Arbeitern an die württembergische Ständeversamm~ lung übermittelt, in der es heißt: "Nicht die welterschütternden Ereignisse, [... ] nicht das urplötzliche erwachte Selbstbewußt~ sein der deutschen Nation ist es, was uns veranlaßt, einer Hoch~ ansehnlichen Ständeversammlung bittend zu nahen, sondern das längst schon verletzte Ehrgefühl eines mißverstandenen Standes, der mit den Ehrenwerthesten des Staates in Erfüllung seiner bürgerlichen Pflichten wetteifert, fühlt sich gedrungen, seine ihm vorenthaltenen natürlichen Rechte zu beanspru~ ehen .« Danach fordern die Arbeiter: allgemeines Wahlrecht, Verbesserung der sozialen Lage, Arbeitszeitverkürzung, ))anständige« Behandlung durch die Fabrikherm und Behörden. »Menschen sein«, die »natürlichen Rechte«, »Ehrgefühl« das sind immer wieder zentrale Leitbegriffe und Metaphern in den mündlichen und schriftlichen Äußerungen vor allem der unterbürgerlichen Gruppen. Und deren Semantik scheint mir manchmal aufschlußreicher noch als die politischen Forderungskataloge, die sich schon im Verlauf des März immer uni-
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former gestalten. Denn es ist eine spezifische gesellschaftliche Beziehungssemantik, d ie sich d arin ausdrückt und die - mit Max Weber - ein ).ständ isches Prinzip der Ehre« refl ektiert wel· ches auf sozial ausgewogenen Achtungs· und Anerkennungsvorstellungen grundet. N ur über deren Einhaltung legi timieren sich gesell schaftli che und herrschaftli che Ordnung, w ie ihre Verletzung umgekehrt Wid ersta nd legitimiert. Eben d ies gesch ieht nun in einer Situation, in der die Sensibilität für gesellschaftliche Regelverletzungen d urch innere w ie äußere Einfl üsse nochma ls und entscheidend geschärft wird . Im Inneren scheint es mir nicht etwa d ie »Hungerkrisec( des Win ter 1847 selbst zu sein, d ie zunächst zur Revolte führt, sondern vielmehr die Art und Weise des lokalen und staatlichen Um gangs damit, also das poli tische w ie p sychologische Krisenmanage men t. Und von außen setzen natürlich insbesondere die Nachrichten der fra nzösischen Februarrevolution neue Maßstäbe des Den· kens in politischen und gesellschaftlichen Begriffen . Damit sind zwei Ursachendimensionen hier nur angedeutet, d ie sehr v iel komplexer und komplizierter zu analysieren wä· ren, die aber in ihrem Zusa mmenw irken einen entscheidenden Schub in d er Vergesellscha ftu ng von Erfahrung w ie von Politik ergeben. Ein übergreifender Oeutungsrahmen steht plötzlich bereit, in den sich die lebensweltliche Wahrnehmung füg t und d er zugleich jede Lebenswelt zur Gesellschaft erklärt. Es wi rd ein unglaublich dichter und rascher Vorgang einer »Fund amen· La lpoliLis it!'l'ung« (DieLe r Lan gewiescht!') a u sgelös L, der d ie A ll ·
tagswelten sowohl bis in ihre N ischen »politisiert« w ie auch bis in ihre sozia len Randbereiche: Vorher »unpolitische '( Sachver· halte und Menschen werden p lötzlich in ein politisches Licht getaucht. AlIerdin gs - und damit w ürde ich bislan g gäng igen Auffas· sungen w idersprechen - bedeutet d iese Politisierung nun eben keineswegs, d aß sich damit überwiegend völlig neue Öffent· lichkeitsformen und Politikstile herausbi ld en . Dies trifft woh l im Blick etwa auf das bürgerliche Politikrepertoire oder die Ar· beitervereinsbewegung zu. In der Breite gesehen, vermittelt sich vielmehr eher ein anderes, modifi ziertes Bild: Neben ein · zeinen innovativen Formen finden sich nämlich zahlreiche äl· tere Muster sozia ler Interessenvertretung und po li tischer Selbstdarstellung, die gegenüber dem Vorm ärz nun meh r poli. tisch schä rfer akzentuiert erschein en. Dabei kristallisieren sich
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in den politischen Erfahrungs- und Handlungshorizonten der einzelnen sozialen Gruppen jeweils eigene, charakteristische Züge des öffentlichen Auftretens heraus, die sich in ihrer historischen Prägung und kulturellen Differenzierung sehr genau zurückverfolgen, die politisches Verhalten also gleichsam in einem »kulturellen Dialekt« erscheinen lassen. Dies gilt für die bürgerlichen Gruppen und ihre Diskurs- und Vereinsstruktur ebenso wie für die Unterschichten mit ihren Protest- und Bewegungsformen. Dadurch aber werden auch die Definition lIdes Politischen« selbst und der Modus politischer lnteressenvertretung verändert: Sowohl die Formulierung sozialmoralischer Vorstellungen von »Gemeinwohl« und »Gerechtigkeit« etwa als auch die Formen, in denen diese vorgetragen werden, erhalten ein politisches Eigengewicht. Indem die Volksbewegung sich auf eigene Ideen und Muster einer »Politik von unten« beruft, schafft sie sich selber ihre politische Legitimation und Tradition. Allgemeiner formuliert: Die historische Begründung wie die kulturelle Modellierung von sozialem Gruppenhandeln werden damals als entscheidendes Mittel zur öffentlichen und politischen Legitimierung von Interessen anerkannt. Dieses Neue sehen damals im übrigen auch die Vertreter der politischen Macht. Das württembergische lnnenministerium konstatiert in einem Bericht vom 1.6.1849: »Jede, wenn auch mangelhafte Organisation der Massen erzeugt das Imponierende einer staatlichen Ordnung und bringt zumal unter einem Volke, welches an freie Formen des öffentlichen Lebens sich erst gewöhnen muß, die Täuschung hervor, als ob diese selbst geschaffenen Organe die Bedeutung öffentlicher Behörden anzusprechen hätten.« Diese »Organisation der Massen« hat als revolutionäre Bewegung nun in der Tat viele Gesichter. Denn alles, was an politischen Strukturen des vormärzlichen Alltags lebens zuvor meist nur verdeckt in Erscheinung trat, entfaltet jetzt erst seine Breitenwirkung, und es wird verändert und ergänzt durch neue Politikformen. Fünf organisierende und mobilis ierende Elemente dieser politischen Kultur möchte ich hier besonders hervorheben .ll Zunächst sind es natürlich die Zeitungen, die Flugschriften und relativ rasch auch bildliche Darstellungen sowie Karikaturen, die wie Pilze aus dem Boden schießen und zu lnformationsträgem und Diskussionsforen werden. Für das Jahr 1849 lassen
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sich immerhin bereits rund 1700 Zeitungen in Deutschland nachweisen. Es ist auch eine mediale Revolution, in der sich die politischen Akteure wie das Publikum der Medien bedienen und oft auch schon deren Opfer werden. Leserbriefe, Zuschriften, Berichte, Ankündigungen, politische Erklärungen von Einzelpersonen wie Vereinen, wechselseitige Beschuldigungen als »Revolutionä r« oder »Reaktionär«, Aufrufe, Mitteilungen u nd vor allem auch die Veranstaltungs- und Organisationshinweise lassen die Zeitungen z u kollektiven Organisatoren politischen Lebens werden . Zugleich entwickeln sich d amit neue Kommunikationsstrukturen, die über die alten Gruppen- und Standesschranken hinweggreifen. Ohne dieses neue System der »öffentlichen « Zeitung wäre etwa die Mobilisierung und O rganis ie rung der unglaublich dichten Vereins- und Versammlungsaktivitäten ga r n icht denkbar. Hinzu kommen die Wandanschl äge, die Flugblätter und vor allem die Satirezeitschrifte n und Karikaturen, die über Witz, Parodie und Ironie ihre subversive Kritik entfalten - zwischen d en politischen Lagern wie durchaus auch innerhalb derselben. So lassen die ~~Fli egend en Blätter« im Jahr 1848 unter der Überschrift ,lEines von Seiden« eine Bauersfrau ihren gerade heimkehrenden Mann fragen: 'IKommst Du aus der Volksversammlung?« - »Ja wohl, Alte!« - »Na was habt ihr denn ausgemacht? - Ist jetzt Freihei t oder ist noch Ordnung?« - Dieser knappe, aber illustrative Comic über konservativ geschürte Revolutionsängste erklärt damals mehr als mancher langt: Leitarti kel.
Das zwei te Organisationselemeht bilden die Vereine, d ie aus und neben den Vormärzvereinen entstehen . Dabeibleiben die politischen Vereine - allein in Preu ßen existieren bereits im Oktober 1848 über 700 - lediglich die Spitze eines wahren VereinsEisberges, der von den Sängern, Turnern, Schützen, Geschichtsund Armen freunden bis zu Literatur- und Theate rliebhabe r, Rauchern und Handwerksmeistern reicht. Auch in diesen geselligen Verbindungen wird natürlich politische Gesinnung gepflegt, sie bleiben aber vielfach offen für unterschiedliche politische Posi tionen . Z unächst gilt dies auch für die politischen »Vaterländischen« oder INolksvereine«, die s ich ab dem März 1848 quasi als Forum für alle Richtungen verstehen. In der Regel mit bürgerlichen Sprechern agierend und sich auf Kerngruppen aus dem Vormärz stützen d, sind in ihrer Mitgliedschaft doch auch in nicht une rheblicher Zahl Hand werksgesel-
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len und Arbeiter vertreten. Dabei zählen d ie groBen Vereine in d en Städ ten meist mehrere hundert, manchmal sogar mehrere tausend Mitglieder, in den Dörfern hingegen bleiben es vielfach eher exklusive, po litisch gemäßigte Honora tiorenvereinigungen. Im Sommer 1848 beginnt d ann ein politischer Differenzierungsprozeß, der schließlich in eine Spaltung mündet zwischen konservativen »Vaterländischen Vereinen ••, die meist den alten Mittelstand und Teile d es gehobenen Bürgertums vertreten, und den eher demokratische und republikanisch orientierten "Volks-•• oder "MärzvereinenfC, in denen sich eher Freiberufler und Intellektuelle, aber auch Handwerksgesellen und Arbeiter sammeln .22 Mit dieser politisch-organisatorischen Differenzierun g beginnt nun auch jene politische Lager- und Milieubildung, die für d ie spätere politische Landschaft in Deutschland so charakteristisch sein wird und an deren Rand jetzt bereits auch eigene Arbeitervereine entstehen. Zugleich verstärken sich die Tendenzen zu überregionaler O rganisa tion und Vernetzung, indem über Vereinstage und Landeskomitees auch erste »moderne., Repräsentations- und Delegationsprinzipien sowie regionale und nationa le Gliederungen entwickelt werden. 2J Eine dritte Mobilisierungsform verkörpern jene vielfältigen Komitees und Gruppierungen, die man durchaus als Vorläufer spä terer Bürgerinitiativen betrachten kann. Es sind meist sozial »gemischte'(, lokale oder nachbarschaftliche Interessengruppen, die wie schon im Vormärz kommunale und nationalen Themen aufgreifen, nun jed och auf sehr viel breiterer Front und mit d eutlicheren politischen Akzenten, wenn etwa die Bürgerwehr-Bewaffnung, politische Feiern oder Protestaktionen gegen Stadt- u nd Staatsverwaltungen organisiert werden. Zumeist handelt es sich dabei um eher instabile Zusammenschlüsse auf Zeit, d ie jedoch gerade d adurch häufig neue politische Aktions- und Problemfelder erschließen, auch sehr viel offener für weibliche Teilnehmer sind als die Vereine und im übrigen auch neue Formen des politischen Engagements wie der öffentlichen Diskussion entwickeln. Auch die vierte Ebene steht fü r ein eher informelles, jedoch ausgesprochen massenwirksames Bewegungsmodell: die Volksversammlungen und Manifestationen. Hier werden tatsäch li ch basisdemokratische und plebiszi täre Formen entwickelt, wenn lnformation, Diskussion und Meinungsbildung
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in einem Forum von m itunte r zehnta usenden Teiln ehmern versucht wird . In den heißen Phasen d er Revolution find en wöchentlich oft hunderte solcher Veranstaltu ngen in ganz Deutschland statt, die sich vor allem in den größeren Städ ten konzentrie ren bzw. - da dort meist kein ausreichend groBer »öffe ntliche rc( Platz zur Verfügung steht - häufig a uch a uf Festwiesen, Tumplätzen oder in Parkanlagen da vor.u Die Mobilisierung dazu e rfolgt über Zeitungen, Plakate, Vereine und politische Netzwe rke, und es s ind d ie »großen Themen «, die hier vor allem d iskutiert und oft auch regelrecht abgestimmt werden: Republik oder Monarchie, Reichsverfassung und Volksbewaffnung. Manche d ieser VoLksversammlungen erreichen in ihrer politischen und emotionalen Dyna mik durchaus den Charakter einer Manifestation, einer symbolischen Kund gebung oder eines demonstrativen Zuges. Der Begriff »Demonstration« ist hier absichtlich vermieden, weil die Wirkung d es Demonstrationszuges, d es Marschierens in Reihen und Blöcken, des organisierten massenhaften Au ftretens damals noch nicht entwickelt, noch nicht bekannt ist. •• Die Masselt, d ie sich selbst zur Hauptperson erklärt, die sich selbstbewuBt als Mehrheit darstellt, d ie im langen Zug ih re eigene Form und Ordnung besitzt, wie später vor allem die Arbeiterbewegung, dieses Selbstbild wird d amals gerad e erst entworfen. So verkörpern diese Manifestationen zunächst auch eher eine Form des Festes und der Feier, die zurückgeht auf jene Trad ition der großen VersammJungen und Ft!Sh~ des Vormärz auf der Wartburg oder in Hambach, auf denen sich d ie demokra tisch-na tionale Bewegung organisierte wie inszenierte. Diese vier Ebenen d es revolutionären Prozesses verkörpern »Vergesellscha ftung von Politik« und zugleich ••Politisierung von Gesellscha ft « in einer gan z neuen Qualität und Breite, wenn auch noch nicht im vollgü ltigen »modernen tt Sinn rational und zwecko rientiert gerichteten strategischen Handeins. Eben d ies macht •• Revolution t( allerdings wohl auch aus. Zu dieser politischen Kultur d er Revolution gehört nun aber wesentlich noch ein fünft es Element, auf das ich abschließend etwas ausfüh rlicher eingehen wi ll .
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Symbole und Rituale: Die »Politik der Straftet( Zwar hat die neuere Revolutionsforschung bestätigt, daB viele Taglöhner, Handwerksgesellen oder Fabrikarbeiter damals auch Mitglieder der )>Volksvereine« und »Demokratischen Vereine« sind. Hinzu treten bald auch eigene »Arbeitervereine« als eine bew uBt sozial segregative Organisationsform . Doch existiert darüberhinaus noch eine andere, eine »eigene« Öffentlichkeit der Unterschichten, in die sich ka um je ein Bürger verirrt und in der auch keine bürgerlichen Politikregeln gelten: die Szenerie der damals als »Krawall e«, »Exzesse« und »Tumulte« bezeichneten Aktionen des Vormärz und d er Revolution. Wir haben da fü r inzwischen den Sammelbegriff d es »sozialen ProtestS«.2S Durchgängige Formen sind erkennbar: 1847 werden in den »Hungerunruhen« etwa Bäckerläden gestürmt, das Brot wird nachgewogen, ist es in Ordnung, geht man oft einfach weiter, ist es hingegen zu leicht, wird es genommen und verteilt. 1848 zieht man vor die Häuser von Bürgermeistern, von Stadträten oder von konservativen Abgeordneten, man macht Lärm, fordert ihren Rücktritt. Es finden sich Gruppen in oder vor Wirtshäusern zusammen, ziehen durch die StraBen und rufen »Nieder mit dem König! « oder einfach »Freiheit!«. Natürlich sind dies politisch noch wenig entwickelte, in ihrer Wirkung nur sehr begrenzte Handlungsformen. Politische Kritik und sozialer Konflikt werden oft personalisiert ausgetragen, »das System« wird meist an seinen lokalen Stellvertretern festgemacht, und die Aktionsparolen »klingen« nicht immer zielklar. Darüber macht sich beispielsweise auch die satirische Zei tschrift »Der Eulenspiegel« 1848 lustig, d er ansonsten mit solchem Protest durchaus sympathisiert, wenn er in einer Karikatur einen d örflichen Trupp, bewaffnet mit Mistgabeln, vor das Haus des örtlichen Bürgermeisters ziehen und ihn rufen läßt: »Bürgermeister, wir wollen dich nicht mehr!« - Darauf streckt dieser den Kopf zum Fenster hinaus und ruft zurück: »Das ist au ch ga r nicht nötig - geht heim! « Aber wie alle guten Karikaturen ist auch diese eine mit viel Tiefgang. Sie macht nämlich zugleich d arau f aufmerksam, daB es keineswegs die klare Parole oder die vielzitierte Gewalthaftigkeit des Protests ist, die seine Wirkung ausmacht. - Ernsthaf-
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te Sachbeschädigungen oder gar Angriffe auf die Person sind ausgesprochen selten, wie die genaue Durchsicht der damaligen Polizeiberichte zeig t. Die Wirkung beruht vielmehr auf dem moralischen Gewicht, das dieser öffentlichen Kritik verliehen werden kann. Erreicht sie eine bestimmte Qualität, dann können sich nur wenige Bürgermeister ihrer moralischen Kraft mit jenem ),Das ist auch nicht nötig!« entziehen . Anders als in der Karika tur treten dama ls nach solchen Aktionen in ganz Deutschland auch tausende von Amtsträgern zurück. Sie akzeptieren damit sozialmoralische Regeln, müssen diese akzeptieren, weil sie zwar die Legalität d es Protests an zweifeln können, nicht mehr aber d essen Legitimität. Da nunmehr die Zeiten des Obrigkeitsstaates vorbei scheinen, sind als unsozial kritisierte Amtsführung oder konservative politische Standpunkte nicht mehr durch die alte »Autorität d er Macht« gedeckt. Zudem operiert der Protest noch m it einem zweiten gewichtigen Argument: mit dem der Tradition. Bestimmte rituelle Formen, in d enen Unmut und Sozialkritik geäußert werden, in denen d ie Ordnung kurzzeitig außer Kraft gesetzt wird, verkörpern bereits in der vormodernen Gesell schaft eine Art Gewohnheitsrecht derjenigen, die ansonsten keine politischen Rechte und Artikulationsmöglichkeiten besitzen. Es ist eine Art soz ia ler Seismograph, der unterschwellige Spannungen und Unzufriedenheiten anzeigt. Und es is t auch ein »)moralisches« Lnstrument, d as Bezug nimmt auf gemeinsame Grundüberzeugungen einer vorind us triellen "moralischen Öko nomie und Sozietät« (Edward P'Thompson), an der sich die gesellschaftlichen Beziehungen zu orientieren haben. Wo dagegen verstoßen wird auf wirtschaftlicher, sozialer oder politischer Ebene, folgt Kritik. Eine Kritik in ritueller Form, die zwischen Spiel und Ernst changiert, d ie sich als ) Brauch« auf plebejische und populäre Traditionen beruft und die dort auch häufig genug "bornierten« Zwecken diente. Auf diese Form symbolischen Protests greifen die Handwerksgesellen, Arbeiter und Dienstboten in der Revolution verstärkt zurück. Auf eine kulturelle Form, die al1en vertraut ist, die keine Sprecher und Organisatoren braucht, die ko llektiv in der Gruppe ausgeübt wird , d ie dadurch vor Polizei und Strafe schützt, weil sie sich zw ischen Brauch und Politik bewegt. Es sind die rituelle Form und das moralische Argument der Tradition, die nun eine eminente politische Durchschlagskraft erzie-
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len wie etwa in dem besonders häufig auftretenden Modell des »Charivari«, der »Katzenmusik«. Dabei handelt es sich um einen ehemals dörflicher Rügebrauch, der mit der Arbeitskräftewanderung längst in die Städte gekommen ist und nun nicht mehr zur »Rüge« unmoralischen Lebenswandels oder abweichender Lebensformen angewandt wird, sondern der politischer Kritik dient. Bema lte und vermummte Gestalten versammeln sich vor dem Haus des »Volksfeindes«, schlagen Kochdeckel gegeneinander, pfeifen und miauen, rufen Spottreime, Schi mpfworte und Urleilungsformeln, rütteln an Fenstern und werfen manchmal auch Unrat oder Steine. Kommt die Polizei, zieht man sich wieder stärker ins »Brauchrumliche« zurück Verhaftungen kommen bemerkenswert selten vor. Im Blick auf eine bisher nur in Ansätzen ausgeleuchtete geschlechtergeschicht liche Dimension der Revolution ist dabei bemerkenswert, daß diese Protestaktionen keineswegs nur von männliche Akteuren getragen werden. Während in der Sphäre bürgerlicher Öffentlichkeit die Frauen weitgehend ausgeschlossen s ind von politischen Diskussionen und Aktivitäten, abgedrängt auf Fahnensticken, GeldsammeIn oder das Dekorieren »vaterländischer« Bankette und Feiern, sind sie in dieser »Gegenöffentlichkeit,( oft nicht nur geduldet, sondern in aktiven Rollen tätig. Fast wie in einer Art von »A rbeitsteilung'( beginnen s ie v ielfach den Protest oder »decken« den Rückzug gegen die Polizei. Sie sind hier Teil, nicht Publikum der Bewegung.26 Dieses ganze Szenarium brauchtümlichen Protests, so pittoresk es auch erscheinen mag, beschreibt eine eigene und ernsthafte Sprache der revolutionären Bewegung, gewissermaßen den »Revolutio nsdia lekt« der Unterschichten. Und es liegt wohl gerade auch an diesem Dialekt, daß Historiker lange Zeit darin nur »unpolitisches « oder »vorpolitisches« Verhalten sahen das, was meist abschätzig »Sprache des Pöbels« oder ,.die Politik der Straße« genannt wurde. Gewiß bleibt der Sozialprotest damals wie durch die Geschichte ein vielfach diskontinuierliches und amorphes Phänomen, dem man keine große gesellscha ftsverändemde Vision zu zuschreiben kann. Im Rahmen einer geschichtshermeneutisehen Betrachtungsw eise erscheint dieser Maßstab jedoch als problematisch, ja his torisch falsch , insofern von einem strategischen Polüikvers tändnis ausgegangen wird, das dem Sozialprotest als »autochthoner« Bewegungsform notwendig fremd
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sein muß. Damit werden vor allem zwei seiner wesentlichen Bedeutungsdimensionen verdeckt: seine besondere kulturelle Symbolik und seine lebensweltliche Regulationsfunktion . Denn Protest pocht auf die moralische Legitimität von Sozia lkritik und sozialem Handeln vor dem Hintergrund historisch und gewohnheitsrechtlich begründeter Vorstellungen von ),Ge· sellschaft«, In seiner Grundhaltung ist er dabei zunächst reaktiv, abwehrend, status-quo-orientiert an Besitzstandswahrung und Werteverteidigung. In dieser Abwehrhaltung drückt sich jedoch nicht nur ein ),Bück zurück«, sondern durchaus auch ein },Blick nach vorn<' aus, etwa auf Entwicklungen, welche die eigene Situation nachteilig verändern, oder auf Verschiebungen in der gesellschaftlichen Machtbalance, durch die sich die eigene Position verbessern läßt. Als ein Repertoire ritueller Politik wird diese Form sozialer Bewegung daher in der Revolution zu einer buchstäblichen politischen »Volks-Schule«. Auch in der deutschen Geschichte nach 1849 spielen diese Formen einer »Politik der Straßel( eine wichtige Rolle. »Zusammenrottungen« oder kollektive "Blaue Montage« gehören ebenso zur Geschichte der Arbeiterbewegung, wie andere Protesttraditionen sich in Antikriegs- oder Regionalbewegungen wiederfinden. Weniger deshalb, weil da etwa eine Art Traditionspflege betrieben worden wäre, sondern weil bestimmte einfache Grundformen politischer "Wortmeldung<1 sich immer wieder neu entwickeln und wiederentdecken, wenn die gesellschaftlichen Macht- und Gewaltverha hnisse den I-Iandlun~.s spielraum sozialer Bewegung verengen. Damals jedenfalls verkörpern all diese Formen der >'Volksbewegung<1 die Anfänge einer demokratischen politischen Kultur in Deutschland. Mit dem Scheitern der Revolution im Herbst 1849 und mit der folgenden Zeit der Reaktion werden viele dieser Erfahrungen und Bewegungsformen zwar wieder zurückgedrängt. Doch lassen sich Lernprozesse nicht einfach verbieten, sie lassen sich höchstens verschütten, zudecken durch fa lsche Legenden, Mythen und Denkmä ler. Desha lb wil1 ich dies absichtlich als Schlußbild "der deutschen Revolution« stehen lassen: nicht die hehre Pau lskirche der Parlamentarier, sondern die profane Straße mit ihren frühen Spuren demokratischer Volksbewegung.
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Anmerkungen I Zu diesen und anderen Details wie Quellenangaben s. Wolfgang Kaschuha/Carola Lipp, 1848 - Provinz und Revolution, Tübingen 1980, h ier S. 226. 2 Vgl. dazu Wolfram Siemann, Die deutsche Revol ution von 1848/ 49, Frankfurt/M. 1985. 3 S. dazu ausführlicher auch Siemann, Revolution, S. 7 H. 4 Der amerikanische Historiker Rogers Brubaker hat solche Überlegungen kürzlich aufgegriffen in: Citizenship and Nationhood in France and Germany, London 1992. 5 Zum neueren Forschungsstand vorzüglich Dieter Langewiesche, Die deutsche Revolution von 1848/ 49 und die vorrevolutionäre Gesellschaft, in: Archiv für Sozialgeschichte 21 (1981), S. 458-498; sowie: Ders., Oie deutsche Revolu tion von 1848/ 49 und die vorrevol u tionäre Gesellschaft. Forschu ngsstand und Forschungsperspektiven. Teil 11, in: ebd. 31 (1991), S. 331 -443. 6 Zur Spurensicherung s. etwa Barbara james/Walter Moßmann, Glasbruch 1848, Darmstadt 1983; Wolfgang Steinilz, Deutsche Volkslieder demo kratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten, Berlin 1979. 7 So der TItel einer jüngst von Alcida Assmann verfaßtcn Skizze zur Entwicklung de r deutschen Geschichtskultur und Bildungsidee (Frankfurt/M o 1993). 8 Vgl. dazu auch Wolfgang Hardtwig. Vormärz. Der monarchische Staat und das Bürgertum, München 1985. 9 Vgl. Richard TIlly, Kapital. Staat und sozialer Protest in de r deutschen Industrialisierung. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1980, S. 155. 10 Vgl. Reinhart Koselleck, »Erfahrungsraum« und .. Erwartungshorizont«. Zwei historische Kategorien, in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semanti k geschichtlicher Zeiten, Frankfurt / M. 21992, S. 349-375. 11 S. Kurt Koszyk, Deutsche Presse im 19. Jahrhundert, Berlin 1966; zur Zensur u. a.: Wolfram Siemann, Ideenschmuggel. Probleme der Meinungskontrolle und das Los deutscher Zensoren imI9.Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 245 (1987), S. 76-106. 12 S. Wolfgang Hardtwig, Struklurmerkmale und Entwicklungstendenzen des Vereinswesens in Deutschland 1789-1848, in: OIto Dann (Hg.), Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland, München 1984, S. I1-50. . 13 S. Hartwig Brandt, Parlamentarismus in Württemberg 1819-1870. Anatomie eines deutschen Landtags, Düsseldorf 1987. 14 Wegweisend dazu: Wolfgang Schieder, Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung. Die Auslandsvereine im Jahrzehnt nach de r Julirevolution 1830, Stuttgart 1963; vgl. auch die Beiträge in Ulrich Engelhardt (Hg.), Handwerker in der Industrialisierung. Lage, Kultur und Politik vom späten 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert, Stuttgart 1984. 15 S. Arno Herzig, Unterschichtenp rotest in Deutschland 1790-1870, Göttingen 1988. 16 S. Comelia Foerster, Das Hambacher Fest 1832. Volksfest und Natia-
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naHest einer oppositionellen Massenbewegung, in: DieleT Düding u. a. (Hg.), Öffentliche Festkul tur. Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Reinbek 1988, 5. 11 3-13 1.
17 S. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied 1%2. 18 S. Carola Lipp, Politische Kultur oder das Politische und Gesell-
schaftliche in der Kultur, in: Wolfgang Hardtwig / Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Kulturgeschichte Heute, Göttingen 1996, S. 78-110. 19 S. dazu auch Wolfgang Kaschuba, Zwischen Deutscher Nation und Deutscher Provinz. Politische Horizonte und soziale Milieus im frühen Liberalismus, in: Dieler Langewiesche (Hg.), Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Göttingen 1988. S. 83--108. 20 S. dazu insbesond ere Dieler Langewiesche (H g.), Die deutsche Revolution von 1648/ 49, Dannstadt1983. 21 S. dazu auch Helmut Reinalter (H g.), Demokratische und soziale Protestbewegungen in Mitteleuropa 181 5-1848/ 49, Frankfurt / M. 1986. 22 Vgl. d ie Regionalstudie von Michael Wettengel, Die Revolution von 1848/ 49 im Rhein-Main-Raum. Politische Vereine und Revolutionsalltag im G roSherzogtum H essen, Herzogtum Nassau und in d er Freien Stadt Frankfu rt, WIesbaden 1989. 23 S. dazu: Langewiesche, Uberalismus. 24 Vgl. für Berfin: Manfred Gailus, Straße und Bro t. Sozialer Protest in de n deutschen Staaten unter besonderer Berücksichtigung Preußens, 1847-1849, Göltingen 1990,5.350-418. 25 S. dazu: Heinrich Volkmannl]ütgen Bergmann (Hg.), Sozialer Protest. Studien zu traditioneller Resistenz und kollektiver Gewalt in Deutschland vom Vonnärz bis zur Reichsgründung. Opladen 1984; für die Revolution von 1848/ 49 u . a. Gailus, Straße und Brot. 26 S. d azu: Carola Lipp (Hg.), Schimpfende Weiber und patriotische Jungfrauen. Frauen im Vonnärz und in der Revolution 1848/ 49, Bühl-Moos 1986.
Wolfgang Hardtwig
Die Kirchen in der Revolution 1848/49 Religiös-politische Mobilisierung und Parteienbildung
Es ist ein erstaunliches Defizit der Forschung zur Revolution 1848/ 49, daß sie die Bedeutung der Religiosität und die Rolle der Kirchen für die Wahrnehmung und Interpretation der revo· lutionären Geschehnisse, für die längerfristige Ausbildung des deutschen Parteiensystems, für die Verfestigung der gegenrevolutionären Kräfte 1848/ 49 lange weitgehend vernachlässigt hat - so wie auch umgekehrt wenig danach gefragt wurde, welchen Einfluß die Revolution auf die Weltdeutung der Kirchen, auf die inner kirchlichen Kräftekonstellationen, auf das Kirchenverfassungsrecht und generell auf das Verhältnis von Staat und Kirche, von Politik und Religiosität, von säkularer und religiöser Weltdeutung in Deutschland seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gehabt hat. l Das ist um so befremdlicher, als das Bewußtsein und das Verhalten der Menschen im 19. ]ahrhundert noch weithin von der Religion und von der kirchlichen Weltauslegung geprägt waren . Will man den Bewußtseinsstand - und das heißt nicht nur die bewußt durch methodische Gedankenarbeit herbeigeführten Entscheidungen, sondern auch die vor- oder halbbewußt entstehenden Wertungen und Stellungnahmen, Verhaltensweisen und Handlungen einigermaßen erfassen, die bekanntlich unser Tun und Lassen mindestens ebenso stark steuern wie die rationale Entschließung - dann sollte man sich klarmachen, wie wichtig dieses durch die kirchliche Lehre und aUtagspraktische Lebensbegleitung genährte und autorisierte Vorwissen über "Gott und die Welt« auch für die politische Orientierung der Menschen um die Mitte d es 19. Jahrhunderts gewesen sein muß. Man wird gut daran tun, sich den politisch-sozialen Deutungshaushalt der Zeitgenossen der ]ahrhundertmitte als ein Amalgam aus individuellen Erfahrungen mit Herrschafts- oder Abhängigkeitsverhälb1.issen, altüberlieferten, aus der ständisch
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geformten Lebenswelt gespeisten Deutungsmustern, mehr oder weniger rudimentären Informationen aus dem Kontext der vormärzlichen politischen und sozialen Bewegungen, einem letztlich ununterdrückbaren und bei passenden Gelegenheiten immer wieder aufflammenden elemen taren Geist der Widersetzlichkeit gegen die Obrigkeit und -last not least - eben jenem internalisierten kirchlich-religiösen lnterpretationshorizont vorzustellen, d er alle Lebensäu ßerungen und -ordnungen umschloß, von den kleinen, persönlichen, privaten bis zu den großen, koUektiven, öffen tl ichen.
[.
Als im März 1848 der Funke d er Revolution von Frankreich auf die deutsche Staatenwelt übersprang, traf das d ie beiden großen Kirchen, die protestantische wie d ie katholische, in gewisser Weise nicht unvorbereitet. Keine der großen Institutionen in Deutschland war von dem grundstürzenden Wandel sei t dem Beginn der eigentlichen Reformzeit 1799 so stark betroffen worden wie die katholische Kirche. Aber auch die protestantischen Land eskirchen sahen sich seit der Hochaufklärung im späten 18. Jh . Herausford erungen ausgesetzt, au f d ie sie massiv reagieren mußten, wollten sie nicht einfach eine am Ende unaufhaltsame Erosion der amt$kirduich en A utori tä t hin n ehmen .'
So hatten die Kirchen in den Jahrzehnten vor der Revolution an mindestens vier Fronten zu kämpfen: Zum ersten gegen die massiven Eingriffe der Staaten in die kirchliche Lehre und in d en Kultus. Das ging aufgrund d er unterschiedlichen kirchenverfass ungsrechtlichen Situation im Protestantismus leichter als im Katholizi smus. Denn da in d en protestan tischen landeskirchen der Monarch ex officio immer auch summus episcopus wa r, dirigierte er mehr oder weniger intensiv über eine im wesentlichen von ihm bestimmte landeskirchliche Behörde - meist das Oberkonsis torium - die kirchliche Gesetzgebung und Persona lpolitik. Im katholischen Bereich hatten sich Monarchen und Regierungen das Präsentations- bzw. Zustimmungsrecht bei allen wesentl ichen Personalentscheidungen gesichert und regierten ungeniert in Fragen d er Lehre und religiösen Praxis hinein.
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Zwar kam es darüber mehrfach zu heftigen Spannungen zwischen Landesherren und Kirchen, doch wichtiger ist im Ganzen, daß die Kirchen ungeachtet end loser Zw istigkeiten mit den Staatsbehörden im Detail ihrerseits das Bündnis mit dem Staat suchten, um - zweitens - dem massiven Säkularisierungseinb ruch entgegentreten zu können, der seit der späten Aufklä rung bei einem Teil der Bevölkerung die Selbstverständlichkeit des Kirchenglaubens bedrohte. Er betraf im Protestantismus wie im Katholizismus anfangs vor allem die Gebildeten, dann aber - mit der Verschärfung der sozialen Krisensituation im späten Vormärz - zunehmend auch die unteren Schich ten. In wachsenden Minderheiten etwa bei Kleinbauern, Handwerkern und Dienstboten verloren d ie kirchlichen Weltdeutungen u nd Verhaltensnormen an Verbindlichkeit - und das um so mehr, als beide Großkirchen auf das Vordringen säkula rer Daseinsinterpretation dort, wo sich der gewohn te christliche lebensstil situationsbedingt auflöste, verstärkt auf den pauschalen Vorwurf individueUer Sündhaftig keit rekurrierten. Dieser Trend zur Entchristlichung hatte schon seit der Spätaufklä rung sowohl im Protestantismus wie im Katholizismus innerkirchliche Reaktionen provoziert, die zu - in heutiger und ehvas anachronistischer Terminologie gesprochen - »fundamentalistisehen« religiösen Erneuerungsbewegungen in beiden Lagern führten. DritteilS also standen die beiden Großkirchen vor der Frage, wie sie mit diesen religiösen Erneuerungsbewegungen umgehen, welchen Einfluß sie ihnen einräumen und wie sie die divergierenden Überzeugungen innerkirchlich miteinander vereinbaren soll ten. Bei den Protestanten handelte es sich um die neupietistische Erweckungsbewegung, bei den Katholiken um den .. Ultramontanismus« . Beide Bewegungen enviesen sichje länger desto mehr - als äußerst machtbewußt, schufen sich mit der »Evangelischen Kirchenzeitung« des Bischofs Hengstenberg in Berlin, mit dem Mainzer »)Katholik« un d den »Historisch-Politischen Blättern « des Münchner Eos-Kreises (seit 1838) kämpferische Presseorgane und hatten bis zum März 1848 im Protestantismus teilweise, im Katholizismus seh r weitgehend die wesentli chen innerkirchlichen Positionen in ihre Hand gebracht. Im katho lischen Kirchenvolk fand der Ultramontanismus vor allem auf dem Land und in der kleingewerblichen Bevöl-
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kerung erhebliche Resonanz. Hier hatte das religiöse Leben mit Sonntagsmesse, Beichte, Kommunion, mit Heiligenverehrung und Wallfahrts- und Prozess ionswesen den Kampf der Aufklärung gegen die traditionelle Volksfrömmigkeit mehr oder weniger unbeschadet überstanden, so daß die traditionsorientierte, nun wieder stärker ritualistisch und sensuell orientierte Frömmigkeitspflege der Ultramontanen daran unmittelbar anknüpfen konnte. Auch die protestantische Erweckungsbewegung orientierte sich nach ihren Anfängen in kleinen, eher hierachiefemen Kreisen "religiöser Virtuosen« (Max Weber), in denen sich der Drang nach Erweiterung und Vertiefung der religiösen Subjektivität auslebte, dezidiert zur kirchlichen Orthod oxie hin. Diese Rückkehr zur Tradition und damit zur Verfestigung der dogmatischen Positionen und zur Deutungsmacht des Kle· rus förderte - viertens - in beiden Kirchen die Rückkehr zu einem kämpferischen Konfessionalismus. Je mehr aber die Dogmatik wieder in den Vordergrund trat, desto mehr schwand die irenische Gesinnung. Neu gegründete Vereine wie der GustavAdolph-Verein (1843) auf protestantischer und - in der Reaktion darauf - die seit 1849 gegründeten Bonifatius-Vereine auf katholischer Seite setzten sich jeweils die Unterstützung der eigenen Konfessionsgenossen in der Diaspora zum Ziel. An innerer Geschlossenheit allerdings übertraf der Katholizismus den Protestantismus bei Revolutionsa usbruch bei weitem. Zwar war der Ullramontanismu.:J im Kirchenvolk keineswegs
gleichmäßig durchgedrungen - im rheinischen Bürgertum etwa vertrat er im Sommer 1848 noch eine Randposition. Aber die Kirchenführung dachte einheitlich ultramontan und tat sich damit erheblich leichter als der hohe evangelische Klerus, für die Auseinandersetzung mit der Revolution eine einhei tliche und konsequente Stellungnahme und Strategie zu entwerfen.
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Einig waren sich die Großkirchen in der Ablehnung rationalistischer Oppositionsbewegungen, die zunächst innerhalb der Kirchen entstanden waren und sich dann als freireligiöse Bewe-
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gungen verselbständigten. Wie schon erwähnt, gab sich der theologische Rationalismus gegenüber pietistischer Neoorthodoxie und Ultramontanismus nicht einfach geschlagen. In Preußisch-Sachsen, in Baden, im Rheinland und Schlesien, aber auch an anderen Orten kam es daher vielfach zu erbitterten Auseinandersetzungen im protestantischen Klerus. In Baden etwa engagierten sich bei insgesamt 339 Pfarrgemeinden (März 1848) im Vormärz 98 Pfarrer explizit in den theologischen Richtungskämpfen .) Die Formierung der Rationalisten zu organisierten freireligiösen Bewegungen setzte 1841 im preußischen Sachsen ein, wo sich in Gnadau bei Magdeburg 16 Pfarrer trafen, um gegen die Einschränkung der Lehrfreiheit zu protestieren. Bei der Frühjahrsversammlung 1844 kritisierte der Hallenser Pfarrer Adolph Wislicenus vor jetzt bereits 600 ),Lichtfreunden(( wie sie genannt wurden - das protestantische Schriftprinzip und berief sich auf den )/ ln un s selbst lebendigen Geist(( als höchste Autorität. Es ging also um das Postulat eines undogmatischen Christentums, das einen selbstbewußten, aufklärerisch-vemunftbezogenen Individualismus auf die Spitze trieb. Das mußte weitreichende Konsequenzen haben, denn ein verbindliches Glaubensbekenntnis wurde damit obsolet. Das Magdeburger Konsistorium enthob Wislicenus 1846 seines Amtesworauf die Lichtfreunde-Bewegung dann mit der Gründung »Freier Gemeinden(( reagierte.4 Ganz ähnlich verlief die Gründungsgeschichte der »DeutschKatholiken((. Hier steht der Protest des bereits suspendierten schlesischen Kaplans Johannes Ronge gegen die vom ultramontanen Trierer Erzbischof Amoldi organisierte Massenwallfahrt von rund 500.000 Gläubigen zum angeblichen »Rock Christi« in Trier am Anfang. Ronge wurde exkommuniziert, fand aber mit seinen romkritischen Schriften und Vorträgen solchen Anklang, daß er 1845 bereits eine Deutschkatholische Kirche gründen konnte, die 1847 immerhin mehr als 70.000 Gemeindeglieder umfaßte. Die beiden dissentierenden Gruppen standen sich inhaltlich sehr nahe und verbanden sich vielfach in den »Freien Gemeinden((. Daß beide Gruppen sich nach kurzer Frist außerkirchlich organisierten, hat unterschiedliche Gründe, die aber zum gleichen Ergebnis führten. Den Lichtfreunden ging es anfänglich nur d arum, ihre theologische Position in der Kirche zu behaupten, sie wurden erst durch die scharfe Reaktion von protestan-
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tischer Kirche und Staat vor allem in Preußen aus der Kirche gedrängt. Während d ie Forderung nach Pluralismus sich hier immerhin auf die Legitimität protestantischen Protests berufen konnte, ließ d as ekklesialogische Selbstverständnis der katholischen Kirche dort von vornherein keine andere Möglichkeit als die eigene Kirchenbildung zu. Deutschkatholiken und Freie Gemeinden formierten in den Jahren vor d er Revolution eine gemeinsa me religiöse Oppositionsbewegung gegen die restaurativen Tendenzen in heiden Großkirchen und b il deten eben damit zugleich d as Modell einer utopischen demokratischen Gesellschaft vor. Die Großkirchen waren in den politischen, sozialen und intellektuellen Auseinandersetzungen der dreiß iger und v ierziger Jahredes 19. Jahrhunderts selbst zunehmend Partei geworden, ihre inneren Auseinandersetzu ngen mündeten daher in die Bildung von Religionsparteien au ßerhalb der Kirche ein . Diese Vorgänge s ind nun nicht nur von religions- und kirchengeschichtlichem, sondern von allgemeingeschichtlichem interesse, weil sich die religiöse Dissidenz umgehend mit eindeutig politisch-oppositionellen Einstellungen verband . Diese führten nicht notwendig, aber doch überwiegend, in den demokratischen Radikalismus der Revolution hinein. Lichtfreunde und Deutschkatholiken sind sozialgeschichUich recht präzise zu verorten. Bei den Lichtfreunden handelt es s ich um eine überwiegend städtische Bewegung, die sich zu 80-90 % aus dem Kleinbürgertum und den unteren sozia len Schidlten rekrutierte, ihre
Sprecher aber in freisinnigen Intellektuellen bzw. Akademikern fand. Auch bei den Deutschkatholiken stellten klein-und unterbürgerliche Gruppen die Masse der Mitglieder, die Führung lag bei Freiberuf]ern, Kauf]euten und Journalisten. Deutschkatholiken in gemischt-konfessionellen Regionen versuchten offenbar vielfach, Modernitätsdefizite im Verhältnis zu ihrer Umwelt auszugleichen. Die Gemeinden wuchsen bis 1849 und erlitten nach der Revolution nur geringe Einbu ßen, erst die politische Repression der Reaktionszeit füh rte nach der Mitte der fünfziger Jahre zu einem leichten Absinken der Mitgliederzahlen. Die konkrete Verflechtung von politischer und religiöser Diss idenz zeigt eher eine Inklination zu den Demokraten als zu den Liberalen. In Mannheim machte Gustav Struve als Redakteur des »Mannheimer Journals« seit 1845 die Zeitschrift zum Sprachrohr der Deutschkatholiken. Johannes Ronge war Teil-
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nehmer am Vorparlament, Mitglied des nProvisorischen Zentralausschusses deutscher Demokra ten lI. Die Beispiele ließen sich erheblich vermehren. Es dürfte nicht zu weit gegriffen sein, wenn man feststell t, d aß vor allem dem politisch-demokrati schen Lager in der Revolution Energien aus der religiösen Dissidenz zunossen. Für die Rolle der Kirchen bzw. d er Religion überhaupt im Revolutionsgeschehen war allerdings ein anderer Faktor noch gewichtiger. Durch die mehr oder weniger erzwungene Separation der entschieden rationalistisch und hierarchiekritisch, antidogmatisch und antikol1 fessionell ori entierten inner kirchlichen Kritiker aus beiden Großkirchen vor dem Ausbruch d er Revolution war in beiden Großkirchen die »kirchliche entschiedene Linkett, w ie man vielleicht etwas anachronistisch formulieren könnte, ausgeschieden. Das erleichterte es den Kirchen zweifellos, in der Reaktion auf das revolutionäre Geschehen und seine Herausford erungen ihre Reihen dichter zu schließen. Das schloß unterschiedliche Bewertungen weder im Katholizismus noch - sehr v iel mehr - im Protestantismus nicht aus. Aber es verlieh den distinkt anstaltskirchlichen, orthodoxen, klerikalen Kräften noch mehr Gewicht als sie es ohnehin schon hatten und verstärkte die Neigung zum Konservativismus.
1II.
Wenn die Kirchen, d. h. konkret die Geistlichen auf der Kanzel, in der kirchlichen Publizistik oder in den Kirchenleitungen seit März 1848 Stellung bezogen zur Revolution, so war ihr Urteilshorizont zunächst einmal ein grundsätzlich anderer als der säkularer Politik. Katholische und protestantische Kirchenvertreter und auch kirchlich engagierte Laien urteilten primär aus einem metahistorischen und metapolitischen Gedanken- und Überzeugungskontext heraus. Dieser konnte sich abschwächen oder auch bis zu vermeintlicher Unsichtbarkei t verschwinden - arn Sachverhalt selbst ändert d as nichts. N ur wenn man diese n von aller säku laren Politik profund verschied enen Ausgangspunkt akzeptiert, wird man dem Thema »Kirche und Revolutiont< einigermaßen gerecht werden können.
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Wenn etwa von »Freiheit« d ie Red e war, so bedeutete dieser Begriff fü r d en überzeugten und in d er christlichen Hei lsbot· schaft hinreichend unterrichteten Christen nicht nur die Ge· samtheit d er politischen Freiheiten, der Habeas·Corpus·Rechte und der politischen Mitwirkungsrechte, sondern auch - und idea liter vor allem - die religiös interpretierte Freiheit vom »Bösen «: ~, Wir verstehen die Freiheit anders, als so viele Leute unserer Tage, denn keine Freiheit kommt aus d er Gew alttha t, und die wahre Freiheit kommt nicht von au ßen hinein, sondern von innen heraus«. Die wahre Freiheit entsteht nur durch die Wahrheit - die Annahme der christlichen Wahrheit; d iese war möglich, wenn sich der Mensch yon der »Knechtschaft « befreite d er Knechtschaft d er Sünde. Die »Freiheitslüstemenu d er Gegenwart - so d aher ein Standardargument - begreifen nicht, "d aß die Freiheit von der Sünde erstes Bedürfnis der Menschen und d ie Bedingung jeder anderen Freiheit is t((.s Diese Freiheit konnte der christlichen Lehre zufolge nur über die cfuis tliche Re ligion verwirklicht werd en; fü r d ie g lä ubigen Ka tholi ken hieß das: über die katholische Kirche . Zwingend ergab sich d araus eine Schl u ßfolgerung, die für d as Verhä ltnis beider G roßkirchen zur Revolution zentral w ar und vor allem im Ka tholizismus das politische Handeln regierte: »N ur da, wo d ie rechte kirchliche Freiheit ist, ist auch die rechte bürgerliche Freiheit; nur da, wo d ie rechte bürgerliche Freiheit is t, is t auch die kirchliche Freiheit«.6 Dieses Apriori jed er spezifisch christlichen Stell ungnahme schloß jed och ganz unterschiedliche politische Besetzungen des Freiheitsbegriffs nicht aus. Für die in der Kirche verbliebene protestantische Linke z. B. bed ingten s ich innere und ä u ßere Freihei t insofern, als »alle innere Freiheit der Menschen ohne die entsprechende äußere ein Phanto m ist«.7 Für die konservativen Protestanten dagegen wa r kla r, daß die äußere Freiheit der in neren nur folgen könne.' Das Beispiel belegt, d aß es keinerlei zwingenden und ausschli eß lichen Zusa mm enhang zwi schen d en essentiellen G rundannahmen chris tl icher Weltdeutung und bestimmten po litischen Op tionen gab. Aber es macht auch deutlich, d aß die Perspektive einer dezid iert christlichen Interp retation d er soz ialen, poli tischen und kulturellen Vorgänge in der Revolution eine grundsätzlich andere sein mußte als die ein er an christliche Glaubensinhalte nicht ausdrücklich angelehnten Weitsicht.
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Von dieser Vora ussetz ung her lassen sich die Stellungnahmen von Kirchenvertre te rn bzw. kirchlichen Publizisten schon z ur vormä rzlichen Entwicklung und dann zur Re volution besser verste hen. Der Ka tholizismus rückte von seiner im Vormä rz vielfa ch in a poka lyptische n Dimensionen vorgetragenen Kritik der gesellschaftlich-politischen Modem e, von der rigorosen Ablehnung jeder Art von Liberalismus und Modemis ierung ab und begrü ßte fast durchweg d ie Märzerrungenscha ften und d ie Einbe ru fung de r Fran kfurte r National versammlung. Für George Phillip s in d en »His torisch-Politisch en Blä ttern ', waren die Märzforderungen d ie Basis für die a us katholische r Sicht wichtigste a lle r Freihe iten : die Religio nsfreihe it. Der Konvertit E. Ja rcke, der in seine r Rubrik »Zeitlä ufte" noch Anfa ng 1846 in tie fste m Pessimismus den Gang d er Ereignisse in eine r Theorie der Weltgeschichte a ls einer einzigen Niedergangsgeschichte inte rpretiert hatte, schlug sich plötzlich auf die Seite der Zensurkritiker. Man konnte nun lesen, daß d ie katholische Kirche imm er schon für die Pressefreiheit eingetreten sei - allerdings eine andere Pressefreihe it als die der Libe ralen; denn es gehe nur um eine »Pflicht .. , - d ie »Erfüllung d er göttlichen Sendung", des »Lehret aUe Völke r ... Bei der Reform des Gerichtswesens schJossen sich d ie »Historisch-Politischen Blätter« weitgehe nd der libera len Fo rde rung n ach Ö ffentlichkeit und Mündlichkeit d er Verhandlungen an.9 Die »drei Hauptpunkte de r Märzerrungenschaften, die Religionsfreiheit, die Preßfreih eit und d as Vereinsrecht« erschienen als We rk der göttlichen Vorsehung, um den Fa ll des Protestantis mus zu erreichen. 1o Der kirchliche Ka tholizismus sah m it d en Freiheiten, die e r d ann in der Tat energisch nutzte, endlich die Wa ffengleichheit mit d em liberal-protestantischen Gegner hergestellt. Unterha lb dieser zügigen Anpassung an die liberale politische Kultur d er Revolution wirkten freilich die metahistorischen Deutungsmode lle weiter, in d enen die Revolution a ls Zeitenwende von apokalyptischen Ausmaßen interpretiert wurde, als d er »große verhängnisvolle Wendepunkt in d er Weltgeschichte .. (Guido Görres) ode r als Moment d er »Buße.. , d ie Eu ropa n un fü r die Sünden von Generationen leisten m üsse (E. Jarcke).11 Die Radikalisierung in Fra nkfurt im September 1848 und d er weitere Revolutionsverlauf verstärkten diese G rundstimmung un terhalb der fre ilich konsequen t e ingeha ltenen Strategie, die Iiberal-demokratische - und säkula ristische Revol utio n mit deren e igenen Waffen zu schlagen.
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Der Protestantismus tat sich mit einer einheitlichen Stellungnahme zur Revolution schwerer- entsprechend seiner stärkeren innerkirchJichen und theologischen Pluralisierung. Es gab die protestantisch-theologische Anerkennung und Rechtfertigung der Revolution ebenso wie die völlig kompromißlose Ablehnung. Ein prägnantes Beispiel für das Sympathisieren mit der Revolution, ihren liberalen Zielen, aber auch für die Rechtfertigung soga r ihrer gelegentlichen gewaltsamen Ausbrüche, ist die Rede, die der Prediger an der Berliner »Neuen Kirche«, Adolf Sydow, bei der Bestattung der Märzgefallenen am Friedrichshain hielt. Die Märzrevolution erscheint hier als Fortsetzung und Vollendung der Errungenschaften aus den Freiheitskriegen: "WO eine neue Ordnung der Dinge von einer alten kämpfend sich losringen muß, da geht es z unächst nicht ab ohne Bruch und Widerstoß [... ) Faßen wir die groBe weltgeschichtliche Bedeutung d ieses Augenblicks, dieses entscheidenden Wendepunktes in der Entwicklung unseres preußischen, unsere deutschen Va lerlandes«.12 Die »Evangelische Kirchenzeitung(( dagegen entsetzte sich über die Beteiligung von Theologen an der Trauerfeie r. Auch im Protestantismus kommen in den - im Ganzen doch überwiegend revolutionskritischen - Stellungnahmen die metahistorischen und metapolitischen Urteilskategorien deutlich z um Ausdruck: »Von allem Unglück, das ein Volk treffen kann, ist der Aufruhr das größeste. Nicht Krankheit, nicht Mißjahre, selbst Kriege nicht erzeugen so viel Jammer [. .. ] Ja Herr, wir sind krank, 10 Herzen und Gedanken verstört. Hilf uns durch deine Gnade, daß diese Krankheit nicht sei zum Tode, sondern z um Leben! Amen! «\J Die Revolution is t die Folge eines moralisch-religiösen FehJverhaltens der Menschen, des Abfalls von Gott, und Gott hat sie geschickt, um zu stra fen, vor allem aber, um die Menschen wieder zur inneren Einkehr zu bewegen und auf den Weg des Heils zurückzuführen. Vor allem im Denken der Erweckten dominiert diese Rückfüh rung des politisch-soZia len Geschehens auf den allgemeinmenschlichen Hang zur Sündhaftigkeit im allgemeinen und auf das sündhafte Verhalten der Menschen in den Jahren und Jahrzehnten vor der Revolution im besonderen. Dieser Topos enthält auch eine massiv obrigkeitskritische Komponente. Die obrigkeitskritischen Töne führten allerdings nirgends da z u, die gegenwärtige Ordnung in Frage zu s tellen . Für die Synode in Minden-Ravensberg war die Revolution ein »entsetzensvolles
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Verbrechen «, das zum "Kampf auf Leben und Tod« mit den Feinden zwinge. Man freute sich darüber, daB der »Kern unserer chris tlichen Bevölkerung sich in den schweren Tagen als gottesfürchtig, verständig, ordnungsliebend (... Je< bewährt habe; die liberale Verfassungspolitik erschien als »bloBe Oberfläche«; in d er »1iefe und auf dem Grund ,< des politischen Geschehens seien in Wahrheit die ,'gottlosen und unsittlichen Kräfte der demokratischen, republikanischen und communistisch-sozialistischen Bestrebungen« am Werk,14 Das Fundament dieser Urteile ruht in metapolitischen Kategorien, gleichwohl gewann das religiöse und kirchliche Denken und Handeln mit solchen Feststellungen politische Qualität.
IV. 10 die politische und soziale Revolution im März/ April 1848 waren die Kirchen auch insofern sofort involviert, als mit der Frage nach einer neuen politischen Verfaßtheit Deutschlands die Frage nach ihren eigenen Verfassungen und ihrem Verhältnis zum Staat gestellt war. Sehr viel komplizierter als für den Katholizismus stellte sich dabei die Situation für den Protestantis mus dar. Denn dieser zerfiel in 40 zum Teil - wie die preußische - große, und zum Teil- wie der Stadt Frankfurt am Main - sehr kleine Staatskirchen. Sie unterschieden sich zudem nach der Konfession - lutherische, reformierte und unierte KirchentÜffier - und nach Varianten von mehr liberaler oder orthodoxer Prägung. Die badische Kirchenleitung z. B. war vor 1848 überwiegend liberal eingestellt, die bayerische schroff neulutherisch-orthodox. 15 Alle gemeinsam strebten jedoch nach gröBerer Unabhängigkeit vom Staat, d . h. nach Ausgliederung der kirchlichen aus der staatlichen Verwaltung. Gleichzeitig stand die Frage nach der Mitwirkung von Laien und ),niederem Kl erus«, also den Pfarrern, an der KirchenJeitung auf der Tagesordnung. Es ging also auch um ein Stück innerkirchlicher Liberalisierung bzw. Demokratisierung. Politischer und kirchlicher Liberalismus überschnitten sich in der Forderung, die synodalen Elemente der Kirchenverfassung gegenüber den konsis torialen zu verstär-
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ken. Als Preußen mit der »Oktroyierten Verfassung" vom Dezember 1848 konstitutionelle Verhältnisse einführte, verschärfte sich notwendigerweise auch die Frage nach der Kirchenverfassun g. Da der Grundsa tz der Parität von evangelischer und katholischer Kirche nun ausdrücklich verfassungs rechtlich sanktioniert war, und da im Ergebnis die katholische Kirche mehr Vorteile aus der Pauls kirchendiskussion um das Verhältnis von Staat und Kirche zog als die evangelische, gewann die Frage zusätzliche Brisanz. In diesen kirchen verfassungs rechtlichen Diskussionen setzten sich die Kirchl ich-Konservativen durch. 16 Es gab keine konstitutionelle Reform der Kirchenverfassung, sie blieb also hinter der Staatsverfassung zurück. Der Summepis kopat des Landesherm bestand weiter, m onarchisch-konservativer Staa t und evangelische Kirche blieben aufs engste verzahnt. Auch in allen anderen Staaten scheiterten alle Versuche, die Kirchenverfassung volkskirchlich zu erneuern. Die Revolution hatte auf evangelischer Seite nicht zu einer Lockerung und Erneuerung d er gan z überwiegend patriarchalisch-konservativen landeskirchlichen Verfassung geführt, sondern zu ihrer Verfestigung. Die Einzelstaaten und ihre Kirchenpolitik waren für die Protestanten au fg rund der landeskirchlichen Verfassung der evangelischen Kirche wichtig, die entscheidenden Schlachten zum Verhältnis von Staat und Kirche wurden jedoch in d er Frankfurt er Nationalversammlung geschlagen. Die Debatten über den Artikel III §§ 11-16 wUhlten Katholizismus und Protestantis mus bis in die kleinsten Landgemeinden hinein auf, in keiner anderen Frage mit Ausnahme der aporetischen Reichsverfassungska mpagne im Frühjahr 1849 kam es zu einer solchen Mobilisierung massenhaften Protestes - wenn auch überwiegend auf katholischer Seite und ermöglicht nur durch das Mobilisierungspotential ihrer zentralistisch geführten Kirche. ln einer Reihe von Fragen stimmten aber evangelische und katholische Positionen überein . Es gab soga r - am Widerstand der Katholiken gescheiterte - Versuche zu einer überkonfessionellen Zusa mmenarbeit von protestantischen und kathol ischen Abgeordneten in der Nationalversammlung. Weder Protes tanten noch Katholiken wollten die vollständige Trennung von Kirche und Staat, sie erschien nach der jahrhundertealten engen Verklammerung als ahistorisch und also unnatürlich . Dementsprechend beschloß die Paulskirche nicht die völlige Indiffe-
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renz d es Staates gegen Religion und Kirchen . Der Satz: »Niemand ist verpflichtet (... ), sich irgendeiner religiÖSen Genossenschaft anzuschließen«, wurde w ieder gestrichen, weil er das "vorhandene religiöse und sittliche Gefühl der Nation« zu sehr verletze. I? Immerhin war damit das individ uelle Bekenntnis völlig freigegeben. Seide Kirchen s timmten dem ersten Teil des am heftigsten umkämpften Art. II1 § 16 zu: "Jede Religions-Gesellschaft (Kirche) o rdnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig{(. Anders als die Protestanten aber verwahrten sich die Katholiken leidenschaftlich gegen den zweiten Teil des Satzes: "[sie) bleibt aber, wie jede andere Gesellschaft im Staat, den Staatsgesetzen unterworfen«. Dies hängt mit Erfahrungen des Katholizismus im Vormärz zusa mmen. In Preußen, aber auch im liberalsten Einzelstaat der Jahre vor 1848, in Baden, befanden sich die Katho liken in einer Minderheitensituation gegenüber den Protestanten und fü hlten sich von konservativ-protestantischen ebenso wie von liberal-protestantischen Mehrheiten und Regierungen massiv benachteiligt. Die heftige Konfrontation des Ka tholizismus mit der preuBischen Regierung im Kölner Mischehen-Streit seit 1837 hatte zu einer breiten Kampfbereitschaft des Katholizismus um d ie Wahrung seiner religiösen Überzeugungen und die Wiederherstellung einer größeren kirchlichen Unabhängigkeit vom Staat geführt. So gesehen trat also der Katholizismus - anders als der Protestantismus - wohlgerüstet in den Kampf um d ie Behauptung der kirchlichen Rechte in der Revolution ein . Die katholische Kirche verlangte Religions- und Gewissensfreih ei t, aber sie verstand darunter etwas anderes als die Mehrheit der kultur-protestantisch - kirchenskeptischen liberalen oder der mehrheitlich säkula ristisch - kirchenfeindlichen demokratischen Abgeordneten . Sie wollte zwar das Staatskirchenregiment beseitigen, die Unabhängigkeit der Kirche vom Staat, auch die volle Gleichberechtigung der christlichen Konfessionen anerkennen, aber die volle Gleichheit aller Religionen vor dem Staat schien ihr undenkbar. Der zweite Teil des Sa tzes von Art. m§ 16 schien d ie im ersten Teil gewährte Freiheit wieder in Frage zu stellen. In ihrem MiBtrauen fühlten sich die Katholiken bestätigt, als die Paulskirchenmehrheit ErläuterungsvorschJäge zum § 14 wie: "Die Bestellung von Kirchenbeamten bedarf keiner Beteiligung vom Staat [. .. ) Jeder Religionsgesellschaft wird der Besitz und d ie
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freie Verwaltung ihres Kirchenvermögens (... ) gewährleistet« ablehnte. 18 Gleichwohl - die Freilassung der Kirche ohne die völlige Trennung von Staat und Kirche nützte der katholischen Kirche zunächst sehr viel mehr als der protestantischen, weil ihre rechtliche und politische Situation vor 1848 sehr viel prekärer gewesen war. Die Revolution verbreiterte und beschleunigte also insgesamt die seit Jahrhundertbeginn einsetzenden Politisierungsprozesse in den Kirchen, beim Klerus und bei den Gläubigen. Sie bewirkte einen Organisationsschub, der die Politisierung vor allem des katholischen Milieus auf eine neue Ebene hob und auch im Protestantismus die milieuhafte Verfestigung in freilich divergierenden - förmlichen Vereinskulturen wesentlich voranbrachte. Nur zögerlich hatten die Kirchen die breite gemeinbürgerliche Vereinsbewegung des Vormärz aufgenommen, wobei die evangelische Kirche in ihrer größeren Offenheit für die bürgerliche politisch-soziale Emanzipationsbewegung zunächst deutlich vorangegangen war. Auf diesen Organisations- und Mobilisierungserfahrungen konnte die katholische Kirchenleitung aufbauen, als es darum ging, in den Stürmen der Revolution die katholischen Anliegen und Interessen zu verteidigen. In wenigen Monaten spannte sich das dichte Netz der »Pius-Vereine« über das katho lische Deutschland. Am 3. Oktober 1848 traten in Mainz 82 Abgeordnete von Pius-Vereinen aus 32 Orten zusammen. Sie repräsentierten bereits eine Gesamtmitgliederschaft von rund 100.000. 111 Diese Generalversammlung konstituierte sich als Zentralverein aller Pius-Vereine für ganz Deutschland. Damit stand der katholischen Kirche ein überaus wirksames Instrument zur Mobilisierung der Gläubigen gegen unliebsame Beschlüsse der Nationalversammlung zur Verfügung, das sie mit Hilfe von Massenpetitionen auch konsequent nutzte. Auf katholischer Seite war es also gelungen, die Aktivitäten auf Vereins- und Parlamentsebene erfolgreich zu verzahnen. Organisatorischer und rhetorischer Gipfelpunkt dieser Doppelstrategie war die Versammlung und das Auftreten der Abgeordneten des »Katholischen Klub« auf dem Mainzer Katholikentag. Im Katholischen Klub hatten sich rund 90 engagierte kathol isc he Abgeordnete der Paulskirche locker zusammengeschlossen, um in Kirchenfragen - und nur in diesen - gemeinsam zu operieren. Der Katholische Klub umfaßte keineswegs
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alle Katholiken, sondern nur die ultramontan Gesonnenen. Wer zum rationalistisch-liberalen Lager gehörte, wurde ausgeschlossen. Zudem agierte der Katholische Klub in enger Absprache mit den ultramontanen Bischöfen. Die demonstrative Verknüpfung von dezidiert katholisch-ultramontanen Parlamentsvertretem und der Massenorganisation der Pius-Vereine bekräftigte noch einmal die innerkirchliche Präsenz und den Zusammenhalt des ultramontanen Lagers. So kam es zu einer äußerst effizienten Vertretung der kirchlich-katholischen Anliegen in der Paulskirche, obwohl die Katholiken im Verhältnis zu ihrem Bevölkerungsanteil deutlich unterrepräsentiert waren. So hatten die Protestanten einen Anteil von 46,8 % an der Gesamtbevölkerung des Deutschen Bundes, stellten aber 54,6 % der Pauls kirchenabgeordneten . In Rheinpreußen, wo die Artikulation katholischer lnteressen wohl infolge des Kölner Kirchenkampfes und der permanenten Reibungen des rheinisch-katholischen Regionalbewußtseins mit der protestantisch-zentralistischen Berliner Staatsleitung am weitesten gediehen war, erreichten die Katholiken bei den Maiwahlen 1848 annähernd die Parität. In den gemischt-konfessionellen Klein- und Mittelstaaten dagegen blieb der Katholikenanteil der Paulskirchenabgeordneten meist unter der Hälfte des katholischen Bevölkerungsanteils. Katholiken hatten offenbar, wenn sie überhaupt antraten, geringere Erfolgschancen beim Wettbewerb um Wahlämter. Ein Blick auf die politische Laufbahn bzw. die entsprechenden politischen Erfahrungen der Paulskirchenabgeordneten bestätigt diesen Befund. Von den protestantischen Abgeordneten hatten vor 1848 40,5 % keine politischen Erfahrungen in politischen oder nichtpolitischen Vereinen oder Korporationen, in der politischen Publizistik, in lokalen und regiona len Vertretungskörperschaften, in Parlamenten oder hohen Staatsämtern; bei den Katholiken waren es 61,4 %. Die Katholiken allgemein waren also bei der Nutzung von politischen Partizipationschancen im Vormärz wie 1848/ 49 im Rückstand .20 Dieser Befund paßt zu der neuerdings mehrfach vertretenen These, daß es bei den Maiwahlen 1848 und auch im Sommer 1848 einen formierten politischen Katholizismus noch nicht gegeben habe. Die katholischen Abgeordneten wurden primär als Verfechter eines moderaten Fortschritts gewählt, als Vertreter der März-Freiheiten und zugleich als Verfechter von Ruhe und
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Ordnung. Im Rheinland s tellte die Konfession in den ersten Mo·
naten der Revolution »noch kein(en] entscheidende[n] Bruch im Bürgertum« dar ,2\ Dieses Bild wandelte sich allerdings schon seit dem Sommer 1848 mit dem Vordringen der Pius·Vereine. Die Gründung d es Körner Pius-Vereins nach den Maiwahlen kann als Beginn katholischer Parteibildung gelten. Hier entwickel ten katholische Laien in enger Anlehnung an den klerikalen Führungskreis um Erzbischof Geissel das Konzep teines integralen Katholizismus, von dem aus sie sämtliche politischen und gesellschaftlichen Fragen beurteilten. Unter bürgerlicher Führung artikulierte sich in den Pius-Vereinen von 1848 / 49 erstmals eine »kleinbürgerliche und klerikale Opposition gegen die Politik des Konsens, den die katholischen Bürger mit Liberalen und Konstitutionellen gegen die Revolte der Unterschichten betrieben«.22 Kurzfristig war ihr auf de r allgemeinpolitischen Ebene allerdings wenig Erfolg beschieden. Bei den preußischen Kammerwahlen im Januar IFebruar 1849 wählten die Rheinländer in allen größeren Städten (mit Ausnahme Aachens) de mokratische Abgeordnete. Diese lehnten die restaurative Politik der Regierung Brandenburg scharf ab 23 - die Anziehungskraft des katholisch-konstitutionellen Liberalismus in den Maiwahlen 48 hatte sich verbraucht und der ultramontane politische Katholizismus die Wählerschaft noch nicht durchdrungen.
v. Standen die bewußt katholischen Paulskirchenabgeordne ten durchweg im Lager der konstitutionellen Rechten, so verteilten sich die bewußt protestantischen auf das ganze Spektrum der Frankfurter Fraktionen. Die Christlich-Hochkonservati ven waren dort bekanntlich überhaupt nicht vertreten; wer sich nach Frankfurt wählen ließ und gewählt wurde, stand auf dem Boden des konstitutionellen Verfassungsstaates. Auch in der Preußischen Nationalversammlung, die insgesamt entschiede n weiter links stand als die Pauls kirche, gab es nur einige wenige Abgeordnete, d ie mit einem gewissen Recht dem Hochkonservativis mus zugerechnet werden können. Sie kamen ha uptsäch-
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lieh aus d en pietistischen Wahlkreisen Westfalens und des Wupperta ls oder entstammten d em preußischen Adel der ehed em polnischen Gebiete. Einigermaßen zu Recht klagte also der preußische Hochkonservative Ernst Ludwig von Gerlach: »Auf d er rechten Seite nicht eine Stimme, die der Wahrhei t d ie Ehre gibte<.24 Die protestantischen Geistlichen, d ie in Preußen und Frankfurt gewählt wurden, dachten mit einer Ausnahme alle konstitutionell-monarchisch. Auch in der Rheinpfalz, wo d ie Demokraten stark waren, agitierten die hier zahlreichen rationalistischen Pfarrer für d ie liberalen Kandidaten. In Baden dagegen standen von den drei bewußt p rotestantischen Abgeordneten zwei, Hagen und Mez, im demokratischen Lager, in Württemberg wurden Geistliche nur in die Pa ulskirche gewählt, wenn sie links standen, wie d er Pfa rrer Wilhelm Zimmermann.2S Die Bedeutung der Konfession überhaupt für das Wahl verhalten der Bevölkerung hing von den jeweiligen Umständen ab. Die württembergischen Pietisten wählten aus ihrer vermeintlichen Minderheitssi tuation hera us geschlossen ihren liberalkonservativen Abgeordneten Christian Hoffmann nach Frankfurt, im übrigen spielte die Konfession hier eher eine un tergeord nete Rolle. Geistliche kandidierten in rund 63 % d er Wahlkreise, wurden aber nur in 25 % gewählt.26 In RheinlandWestfalen, also in gemischt konfessionellen Gebieten, spielte dagegen die protestantische Identität neben einer christlich-sozialen Einstellung für die Wahlentscheidung eine wesentliche Rolle. Generell fä llt der hohe Anteil von Theologen als Ersatzmänner in Regionen mit starker katholischer Minderheit auf was d afü r spricht, d aß die Konfession in Wahlen tscheid ungen hineins pielte, aber meist nicht dominant war.27 Wie fü r den Katholizismus stellte d ie Revolution auch für d en Protestantismus eine Epoche eines enormen Politisierungsschubs dar. Berichte über »fö rmliche Wahlpredigten« treffen sicherlich nicht nur punktuell zu. Das pfa rrerliche politische Engagement lag schwerpunktmäßig bei der konstitutionell-liberalen O rdn ungspa rtei, aber es g riff auch ins hochkonserva tive wie auch - sehr viel breiter - ins d emokratisch-republikanische Lager aus. In Bayern gaben Pfa rrer Publikationsorgane heraus, die von Regierung und Königshaus unterstützt wurden.28 Im ostwestfälischen Neupietismus wurde ein Pastor seinen eigenen Angaben zufolge zu r politischen Aktivitä t und zur erfolg-
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reichen Kandidatur für d ie Berliner Nationalversammlung ge· d räng t; er verstand s ich selbst dabei als »Geistlicher, Patriot und Royalist.<.29 Am anderen Ende d es Spektrums gingen aus d er rationalisti sch en Geistlichkei t Badens 8 po litische Aktivisten hervor, die nach dem Ende der Revolution wegen Hochverrats angeklagt wurden. Eine exklusive Beziehung zw ischen theologischem Rationalismus und Republikanismus gab es jedoch nicht, denn insgesa mt w urden in Baden 23 Ge istliche angeklagt.'" Trotz d er breiten Streuung der politischen Ansichten von Klerikern und engagierten La ien beider Großkirchen ergibt s ich im Ganzen der Eindruck, daß d ie Hinwend ung zur Partei der Erhal tung, zum konservativen Lager deutlich überwog. Klar zu unterscheiden sind dabei allerdings die konstitutionelle liberalkonserva tive Richtung und ein an tikonstitutioneller Hochkonservativismus. Geschlossener in der politischen Orientierung und im Auftreten war sicherlich d er Ka tholizism us. Aber auch hier sollte nicht verkannt werden, daß d er vormärzliehe KoaHtionscha· rakter d es Ka tholizismus in der Revolution noch durcha us er· halten blieb, trotz der - im Ganzen nicht erfolglosen - zentralisierenden und vereinheitlichenden Politik der Ultramontanen . Der alte Görres hielt in der vierziger Jahren noch an seinem Konstitutionalis mus fest, Joseph Maria Radow itz, Ignaz Dällinger und der junge Wilhelm Emmanuel von Ketteler repräsen tieren in der Revolution selbst diesen katholischen Kons titu tionalismus. Er vertrug s ich vor allem seit d em Mä rz 1848 sehr wohl mit der Revolutionsfurcht als Grundzug d er katholischen Weitsicht. Seit dem Beginn des Revolutionszeitalters war es das Ziel aUer ka tho lischen Politik, ))die innere Zersetzung d er abendländischen Kultur aufzuhalten durch die Kraft eines einheitlichen Bewußtsein s«:3l Der Konstitution ali smu s bo t d ie Möglich keit, d er Staatsa lJmacht, d ie - verknüpft mit d em Un glauben - als Kern alles Übels betrachtet wurde, entgegenzu treten . Daher fand auch Kar! Ludwig von Hallers hoch kon serva tive Theorie eines ständ ischen Staa tes Anhänger auch im katholischen Lager, es d omin ierte aber die Berei tschaft, ei ne konstitutionelle Monarchie anzuerkennen . Gerade angesichts dieser Verankerung d es hohen Klerus und der katholischen Intellektuellen in einer traditionalistischen bzw. konservativen Mentalität fällt es auf, in welchem Umfang sich
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das Kirchenvolk vielfach den konservativen Parolen verweigerte und zu den Demokraten tendierte. Schon im Frühsommer 1848 war es Erzbischof Geissei als dem Führer der ultramontanen Richtung nicht gelungen, die Mehrheit der katholischen Abgeordneten auf seine Richtung festzulegen, und nicht zufällig bildeten selbst die Mitglieder des Katholischen Klubs nur bei kirchenpolitischen Fragen eine Einheit.)2 Bei den Wahlen zur 2. Preußischen Kammer im Januar 1849 gehörten von den 36 gewählten Abgeordneten der Rheinprovinz 8 zu den konstitutionell-gouvernementalen Konservativen, 11 waren gemäßigt (klerikal) - oppositionell, aber 27 waren Demokraten. Damit hatte sich das Spektrum im Rheinland entschieden von den konstitu tionellen Liberal-Konservativen nach links verschoben.33 In Baden mit seiner überwiegend liberalen bzw. demokratischen Bevölkerung scheiterte die Pius-Vereinsbewegung trotz der Rührigkei t des volkskonservativen Laienagitators Buß.3-' Noch auffallender ist die lnklination mancher Pius-Vereine selbst -vor allem im Rheinland - zur demokratischen Programmatik. Hier verbündete sich der klerikale Ultramontanismus mit den Demokraten. Das war möglich, weil bei den »Ultramontanen konfessionelle Rigidität, anti-elitäre Volksbewegung und Preußenhaß.. zusammenfanden.35 Gerade die junge, nied ere Geistlichkeit selbst durchaus ultramontan - erwies sich als anfällig für das von der ultramontanen Kirchenleitung gefürchtete d emokratische Gedankengut. Die Voraussetzung dafür war eine singuläre Mischung von Motiven aus antipreußischer und damit antiprotestantischer Einstellung und sozialem bzw. antimodemistischem Protest. Die ökonomisch rückständigen Wahlkreise mit hoher Armutsrate neigten zur Demokratie, wobei auch der Stadt-land-Gegensa tz übersprungen wurde. Gerade die von ökonomischen Modernisierungsprozessen bedrohte katholische bäuerliche und kleingewerbliche Bevölkerung fühlte sich massenhaft angesprochen von der grundsätz lichen katholischen Modemitätskritik - insbesondere der Kapitalism uskritik, die ja identisch war mit wesentlichen Aspekten der Liberalismuskritik. 1m menschlich vielfach durchaus milden kirchlich-hierarchischen Milieu heimisch, verbanden sie den innerkirchlichen li beralismus der Hermesianer sozial d urchaus zu Recht mit dem modemitätswilligen rheinischen Großbü rgertum und schlugen sich auf die Seite der »Volksherrschaft\< und einer grundsätzlichen Gegnerschaft zur preußischen Monarchie. Bayerlsche Staalsbibliothek München
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Diese Überschneidung von sozial-konservativen und politisch radika l-progressiven Forderungen zog - im Blick auf das entstehend e d eutsche Parteiensystem - allerdings gravierende Folgen nach sich. Denn die ultramontanen Anführer d es politisch gewordenen Katholizis mus, denen es darum zu tun war, alle Fragen, ökonomische, soziale, kulturelle, weltanschauliche, aus ihrer primär konfessionellen Perspektive zu bewerten, hatten mitden Demokraten zu rivalisieren. Die Dominanz des konfessionellen Motivs spaltete, je stärker d ie ultramontane Agitation griff, die bewußt katho lischen Demokraten vom breiten Lager der Demokratie in Deutschland ab und führte sie längerfris tig in d ie vom kirchlichen Konservativismus geprägte Zentrumspartei. Deren politische Überzeug ungsbasis domini erte bei den kirchlich aktivierten Katholiken allerdings schon 1849, wenn man den deutschen Katholizismus insgesamt ins Auge faß t. Zwar blieb d ie Ergebenheitsadresse des Katho likenvereins in Paderbom an Cavaignac für seine Niederschlag ung der Arbeiteraufs tände in Paris im Juli 1849 singulär.36 Aber der Kampf gegen die Demokraten wurde gerade im Übergang zur Reaktion5ä ra zu einem Hauptthema der Pius-Vereine. Die Kölner Versammlung der Pius-Vereine vom April 1849 z. B. verstand sich ausdrücklich als Gegenveranstaltung zum westfälischen Demokratenkongreß vom November 184B.v Auf d em Zweiten Katholikentag in Breslau im Frühjahr 1849 lehnten die katholischen Vereine einen auf den Grundlagen der li beralen Staa tsund Gesellschaftslehre errichteten Na tionals taat d e facto ab. Die preu ßischen Behörden sahen in diesem Kathobkentag nicht zu Unrecht ein willkommenes Mittel im Kampf gegen d ie Demokratie. 38 Au f dem Dritten Katholikentag in Regensburg im Oktober 1849 kam es dann zu der heftigen Auseinan dersetzung zwischen Buß und Döllinger um d ie Frage eines gesa mtpolitisehen Mandats der Vereine. Die Linie Döllingers, der die Vereine nur auf kirchenpolitische und religiöse Aktivitä ten beschrän ken wollte, siegte. Damit hatte sich der politische Katholizis mu s grun dsä tzlich für die Gegenrevol ution und eine konserva tive Gesamtorientierung en tschieden. Denn d ie »angestrebte Freiheit der Kirche« setzte für Döllinger voraus, daß der einzelne Katholik ein »wahrer Christ und treuester Staatsbürger', werde; was »bloBe Staatsformen, Verwaltungsmaßregeln und rein politische Einrichtu ngen" betreffe, gehöre fü r ihn
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nicht in die Zuständigkeit der Katholikenvereine. Wohl aber waren sie Döllinger zufolge verpflichtet, »dem menschlichen Geiste der systematischen Auflehnung und des Hasses jeder Autorität, der jede Regierung unmöglich zu machen sucht«, aufs Schärfste entgegenzutreten. 39 Dieses Programm erklärte sich für unpolitisch, war es aber nicht, weil es allein den etablierten Mächten göttliche Legitimierung zusprach. Es führ te das katholische Kirchenvolk ganz in das konserva tive Lager.
VI.
Anders entwickelte sich im Protestantismus das Verhältnis von Konfession und Partei. Zu einer explizit konfessionellen Parteibildung wie im Katholizismus in den beiden Jahrzehnten nach der Revolution ist es hier bekanntlich nicht gekommen. Gleichwohl bleibt festzuhalten, daß in Preußen während der Revolutionszeit ein solcher Versuch gemacht wurde. Schon der Vereinigte preußische Landtag 1847 alarmierte die evangelischen Verfechter eines christlichen Staates, als er für die staatsbürgerliche Gleichstellung der Juden und der christlichen Sekten eintrat: »Zu den wesentlichen Aufgaben des Staates gehört die Stärkung und Erhal tung d es Christentums als Volks- und Staatsreligion, denn das Christentum ist dem christlichen Staat in allen Lebensbereichen Grundlage, Norm und Zweck« (Fr. J. Stahl).40 Dieser orthodoxe Standpunkt hatte in Preußen zuletzt durch die Unterstützung Friedrich Wilhelm rv. in der Kirchenführung wie in der Berliner Theologie entschieden das Übergewicht gewonnen. Aber wie schon erwähn t, war er in der Paulskirche gar nicht und in der Preußischen Nationalversammlung partiell nu.r durch einige westdeutsche Pietisten ansatzweise vertreten. In zutreffender Einschätzung der Kräfteverhältnisse erkannten die hochkonservativen Wortführer, daß der Ansa tz bei einer zunächst außerparlamentarischen Parteibildung am ehesten noch Erfolg versprach. Von dort aus sollte dann auch auf das Parlament eingew irkt werden. Ernst Ludwig von Gerlach hat im August 1848 das Funktion ieren eines Parteiensysterns im Konstitutionalismus zutreffend beschrieben 41 - sich damit allerdings auch in Widerspruch gesetzt zu seiner eige-
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nen, auf d ie Gedankenwelt Hallers gestützten, letztlich vorkon stitutionellen patriarchalisch-ständischen Überzeugung. Es kam der Aktionsfähig keit d er preußischen Hochkonservativen zweifellos zugute, d aß ihr theoretisch reflektiertester Kopf, Fr. J. Stahl. zwar weitgehend am »monarchischen Prinzip <' festhielt, durch die Anerkennung einer - freilich nur beratenden Repräsentation faktisch aber ein parlamentarisches Agieren Jegitimierte. 42 Aufschlu ßreich für diese Anpa ssungsfähi gkeit an modem e pol itische Verfah rens- und O rganisa tionsformen ist auch d as Zusammentreten d es Wittenberger Kirchentags im September 1848. Stahl wie auch d er Tagungsleiter Bethmann-Hollweg betonten ausdrücklich, daß es sich um eine weder von Regierung noch Kirche legitimierte Versammlung von Theologen und laien handelte, die sich um die evangelische Kirchesorgten . Streng genommen bedeutete dies nichts and eres, d aß man in d er Not der Revolution nun auch im protestantischen Hochkonservativis mus zu revolution ären Mitteln griff. Diesem Dilemma: d er grund sätzlichen Verweigerung jeder Veränd erung d er politisch-sozialen und kirchlichen Verfassung mit dem Hinweis auf die göttliche Legitimation d er bestehenden Ordnung und einer Verteidigung d ieser O rdnung durch Mittel und Methoden, die durch die Revolution erst geschaffen (Parteien, frei es Vereinswesen) oder erleichtert (Presse) worden waren - konnten die Konservativen jedoch nicht entgehen. Es führte auch zu hefti gen fr iktionen. Leopold von Gerlach etwa polemisierte gegen Stahls Anerkennung einer - wenngleich ständischen und vorindustriellen - Repräsenta tio n: »Di esen Konstitutionalis mus verwerfe ich gerad ezu als unerlaubt und unmöglich. Er verhindert jede gesund e Rea ktion, ohne die für uns kein Heil, und die w ir doch anerkennen müssen«.43 Aber dieser Wid erspruch blockierte nicht d ie Initiative zur Gründ ung konservativer Vereine, zu der die Brüder Gerlach, Stahl, Bi smarck u. a. im Somme r 1848 überg ingen. In d en jetzt massenhaft entste henden »Vereinen fü r König und Vaterland « arbeiteten Kirche und altständischer wie kons titutioneller Adel (wie etwa Dtto von Bismarck) eng zusammen, wobei es zud em gelang, bäu erliche, klein bürgerl iche, aber auch bürgerliche Schichten unter d em Vorzeichen eines christlich-konservativen ein zelstaatlichen Patriotismus zu mobilisieren. Die gemeinsa me GeSinnungsgrundlage war die Ablehnung der Revol ution als der »Gründung des
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ganzen öffentlichen Zustandes auf den Willen des Menschen statt auf Gottes O rd nung und Fügung«.'" Die Vereine verbreiteten Predigten protestantischer Pfarrer, die d ie Zerstörung der Religion durch die Revolution beklagten und d ie Revolution selbst auf das Wirken sa tanischer Kräfte zurückführten. Diese Gleichsetzung der vorrevolutionären politischen Ordnung mit d er göttlichen Schöpfu ngsordnung schlechthin warf allerdings Probleme auf. Denn die königliche, wenngleich inzwischen konstitu tionelle Regie rung legte Gesetzen twürfe vor, die auf eine Reduzierung d er alten Adelsprivilegien abzielten, so etwa zur Aufhebung der FeudaUasten u nd der Grundsteuerexemtion. Es bereitete Mühe, die christliche Weltordnung an sich mit der Verteidigung dieser Privilegien zur Deckung zu bringen. In der zweiten Vereinsgründ ung des preußischen Konservativismus, dem »Verein zur Wahrung d er Interessen des Grundbes itzes« ging man d aher nach vergebli chen Klagen Ernst Ludwig von Gerlachs und d es Pietisten von Th addenTrieglaff über d en »plumpen Materialismus« d es Vereins zur materialistischen Tageso rdnung d er Priv ilegien verteidigung über. ~5 Was sich hier abzeichnete, war d ie zuneh mende Trennung von politischem und religiösem Konserva tivismus. Der christliche Hochkonservativismus in Preußen ha tte sich mit der Anlehnung an Hallers ständischen PatriarchaHsmus auf ein geselJschaftspolitisches Programm festgelegt, d as so einseitig auf d ie Interessen des grundbesitzenden Ad els zugeschnitten war, daß das Bündnis mit bäuerlichen, kleinbürgerlichen und bürgerlichen Schichten, selbst wenn diese in ihrer Mentalität traditionalistisch oder konservativ geprägt waren, nach der extremen Ausnahmesi tuation d er Revolution zerfallen mußte - zumal sich in der preußischen Regierung insgesamt zunächst ein reaktionärer, d ann sta atskonservativer Ku rs durchsetzte.46 In unserem Zusam menhang aber ist entscheidend, d aß eine hochkonservative, spez ifi sch protestantische Gesinnungspolitik bereits 1848/49 überaus prekär war. Wah rscheinlich war es ein Glück für die >>(:ama riUa«, den hochkonserva tiven Kreis um Heinrich Leo, d ie Brüder Gerlach, Fr. J. Stahl und fü r ihre Anhängerscha ft im preußischen Adel, d aß sie in d er preußischen Na tionaJversammJ ung und in der Paulskirche nicht vertreten waren. Denn d as Mißverhältnis zwischen christlicher Sp rache und vielleicht auch - d as sei nich t bestritten - wirklicher christliche r Überzeu gung - und massivster ö konomischer und poli-
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tischer Interessen politik hätte eine konsistente parlamentarische Politik - wie sie den Katholiken ja auch nur in speziellen Kirchenfragen gelang - nicht zugelassen. Symptomatisch für diese Konstellation ist das Scheitern eines Zeitungprojekts, das die Hochkonservativen nach ihrem mageren Abschneiden auf dem Vereinigten Landtag betrieben hatten. Es scheiterte, weil der Ruf der Gründerväter, v. a. Leopold von Gerlachs, als pietistische Dogmatiker zahlreiche Aktionäre wieder zum Rückzug veranlaßte. Bismarck versuchte dann, das Projekt ohne Beteiligung der Pietisten weiterzuführen. Anders als die ersten Initiatoren betonte er die religiöse Neutralität des geplanten Blattes. Auch der neue Versuch scheiterte, vermutlich an der zu großen taktischen Komprornißbereitschaft Bismarcks. 47 Der Weg zur künftigen Trennung von hochkonservativer christlicher Gesinnungs- und konservativer Realpolitik aber war vorgezeichnet. Wie beim politischen Katholizismus sind freilich die Beziehungen zwischen der Führungsschicht aus bewußt christlichen Laien bzw. Geistlichen und dem »Volk« überaus komplex. Wie schon erwähnt, gelang es in den »Vereinen für König und Vaterland « vorübergehend durchaus, bäuerliche und bürgerliche Schichten für das eigene konservative Programm zu mobilisieren. In relativ geschlossenen religiös-sozialen Milieus wie der westfälischen Erweckungsbewegung entwickelten die Geistlichen einen sozialen Konservativismus, der es an Popularität regiona l mit den Demokraten aufnehmen konnte. Die erweckte Frömmigkeit in den Konventikeln stützte die Kleinbauern, hausindustriellen Spinner und Weber in der Krise des Leinengewerbes." Liberale und Demokraten mußten schockiert zur Kenntnis nehmen, daß das religiös engagierte >Nolk« die erweckten Geistlichen als seine natürlichen Sprecher ansah. Die Inhalte und der Motivationshintergrund der von ihnen vertretenen sozialen Politik d eckten sich dabei nicht unbeträchtlich mit denen der Demokraten. Beide wandten sich in der Gewerbepolitik gegen den Übergang zur industriellen Konkurrenzwirtschaft, wie sie von der »Bourgeoisie« bzw. dem »Kapital « so gleichermaßen Demokraten und Erweckte - vertreten wurden. Diese politische und menta litä tsgeschichtliche Gemeinsamkeit von Konservativen und Demokraten zeigte sich in der Gewerbe- und Sozialpolitik, aber auch im Verhältnis zum Staat. Beide setzten ihre Hoffnung auf das Eingreifen des Staates- nur
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meinten die Christlich-Konservativen den alten vorkonstitutioneU-monarchischen und die Demokraten den neuen, umfassend liberalisierten Staat. Bezeichnend ist demgemäß auch der Unterschied in der politischen Methodik: die Demokraten g ründeten Vereine, die Erweckten suchten den direkten Kontakt zu hilfreich von oben intervenierenden Staatsbehärden. In d iesem Punkt erwies sich der entstehende po litische Katholizismus als moderner. Auch er hielt am Autoritätsgefüge der herkömmlichen Sozialordnung fest. Auch er vertrat in den ultramontanen Pius-Vereinen vielfach - je nach örtlicher Gewerbe- und Sozialstruktur - die lnteressen d er gewerblichen unteren Schich ten gegen das Eindringen von liberaler lndustrie- und Konkurrenzwirtschaft. Mit der Steuerung der PiusVereine durch die Geistlichen, dem Einfluß der Bischöfe, d er straffen Organisation von Petitionen entstand im politischen Katholizismus somit eine singuläre Mischung von demokratischer Partizipation an politischen Entscheidungsprozessen und autoritativer Führung. Dabei setzte eine erbitterte Rivalität mit d en Demokraten ein, die sozial- und mentalitätsgeschichtlich auf dem Wertehorizont der gemeinsam angesprochenen Schichten beruhte: ein sozialer Konservativismus, d er von d en Demokraten säkular, vom politischen Katholizismus und vom protestantisch-christlichen Konservativi smus primär in religiösen Kategorien artikuliert wurde.
VII.
Zieht man Bilanz, so zeigt sich zuerst, daß die Revolution die Ausdifferenzierung der Gesellschaft auch auf dem religiöskirchlichen Sektor ein erhebliches Stück vorantrieb, die Religionsfreih eit grundrechtLieh verankerte und die konfessionelle Parität des Staates endgültig durchsetzte. 49 Sie führte aber auch dazu, daß sich die jeweils spezifischen Entwicklungen und Ziele d er beiden Großkirchen noch einmal verhärteten. Die entstehende katholische politische Bewegung hatte von Anfang an wesentliche Energien aus dem Kampf gegen den Protestantismus und seine Verflechtung mit der politischen Macht bezogen. Der Ultramon tanisierungsschub mit seiner Romori entierung
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schloß jetzt eine neue konfessionelle Irenik, aber auch eine interkonfessionelle Zusammenarbeit gegen gemeinsame Gegner, wie sie bis 1837 mehrfach bedacht und im »Berliner Wochenblatt<, auch praktiziert worden war, aus. Das bedeutete für das entstehende deutsche Parteiensystem auch eine verstärkte Konfessionalisierung des politischen Konservativismus. Die Formierung des preußischen Konservativismus in der Revolution vollzog sich auch unter der Parole des ))christlichen Staates.( und der Zusammenarbeit von Geistlichkeit und Politik. Die innere Widersprüchlichkeit eines solchen vor- oder antimodernen Programms, d ie eigenen Ziele nur mit spezifisch modernen Mitteln wie der Presse, der Vereine und der Parteipolitik. betreiben zu können und die christliche WeItde utung dabei exklus iv mit d er Legitimierung der herkömmlichen Ständeordnung gleichzusetzen, bereitete allerdings im Prote· stantismus alsbald den Niedergang des ständischen Hochkon· servativismus und die Verselbständigung einer pragmatisch· konservativen Machtpolitik von christlicher Gesinnungspolitik vor. Dem Katholizismus hingegen gelang es, dieGfÜndung ein er katholischen Weltanschauungspartei ein wesentliches Stück weit vorzubereiten, unterstützt dabei durch den kirchlichen Zen· traJismus, eine zielstrebige Ultramontanisierungspolitik im Kle· rus, aber auch durch den Rekurs auf einen populären Konserva· tivismus. Dieser en tsp rach sozialethisch d en Bedürfnissen, Reaktionsweisen und Wertordnungen großer Teile d er bäuerli· chen und städtischen Bevölke rung, die unter dem Übergang zur liberalisie rten Konkurrenz· und Industriewirtschaft litt und sich ihr zu widersetzen versuchte. Dem Katholizismus gelang es bei alledem zweifellos besser als d em Protestantismus, die revolutionären Märzforderungen so aufzunehmen und für sich zu kanalisieren, daß die Kirche davon profitierte - so vor allem beim Kampf um die Kirchenartikel der Paulskirchenverfassung. Für beide Kirchen brachte die Revolution einen Modernisierungsschub, im Katholizismus mehr noch als im Protestantismus. Vor allem wuchs den Laien eine erheblich größere Rolle zu als zu vor. Modern war a uch die gesteigerte Bereitschaft und Fähigkeit, den Kampf für die eigenen Anliegen auf dem seit März 1848 explosionsartig expandierenden politischen Massenmarkt und mit dessen Mitteln (Presse, Verein, Partei) a uszutragen. In heiden Großkirchen regte sich zudem 1848 das Bedürfnis nach einer parlamentsä hnlichen Ver-
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tretung - dem Wittenberger Kirchentag auf der einen und der Mainzer Generalversammlung der Pius·Vereine auf der anderen Seite. Der protestantische Anlauf blieb elitär, in seinen Zielen kirchenpolitisch eng begrenzt und beschränkte seine Wirkungschancen von Anfang an durch die entschiedene konservative Festlegung auf den Kampf gegen alles, was nach »Revolution(, roch; sein Versuch einer Konföderation der Landeskirchen scheiterte zudem an deren Partikularismus und am Gegensatz von Lutheranern und Reformierten. Die Mainzer Versammlung dagegen steht am Anfang der bis heute wichtigen periodischen Versammlungen des Katholikentags, der die Integration der Laien in die kirchliche Willensbildung, die relative Geschlossenheit des Katholizismus und seine politischen und kirchlichen Ziele immer wieder auch in der politischen Öffentlichkeit zum Ausdruck brachte. Am Katholikentag zeig t sich am deutlichsten die Mobilisierung und Organisierung von Laien - allerdings auf der Grundlage eines gefestigten ultramontanen Konzepts, so daß diese stärkere Aktivierung der Laien kaum zur inner kirchlichen Differenzierung und Pluralisierung beitrug, sondern vor allem die Schlagkraft der kirchlichen Organisation demonstrierte. Es ist jedoch wichtig festzuhalten, daß hier ein populärer massenhafter Konservativismus Gestalt fand, dem in den folgenden Jahrzehnten wichtige Korrektivfunktionen zufielen: zum einen sozialpolitisch, als widerständige Kraft gegen eine nur an Gewinnmaximierung orientierte liberal-kapitalistische Ordnungspolitik; zum anderen gegen eine neuerliche explizite oder implizite Gleichsetzung von Staatsinteresse und ))Geist des Protestantismus« in seiner kirchlichen oder säkularisierten Fassung. Die Ausdifferenzierung von Kirche und Gesellschaft, die die Revolution zunächs t auf der Ebene der verfassungsrechtlichen Stellung der Kirchen im Staat energisch vorangetrieben hatte, wurde in der Reaktion darauf in der kirchlich-gesellschaftlichen Realität wieder zurückgenommen. Der Prozeß der Ver· kirchlichung, den die Erneuerungsbewegungen in beiden Kirchen eingeleitet hatten, gewann in der Reaktion auf die libera le Paulskirchenverfassung und ihren Niederschlag z. B. auch in der preußischen Verfassung eine neue Dynamik. Gerade in der Reaktion auf die verfassungs rechtliche Entkoppelung von Staat und Kirche bildeten sich mehr oder weniger geschlossene konfessionelle Milieus heraus, in denen eine von den Kirchen und
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ihren Geistlichen gelehrte christliche Lebensinterpretation auch d as politische Denken und Handeln durchdrang. Im Katholizismus geschah dies zunehmend auf gesamtnationaler Ebene, dem Protestantismus aber wa r es nicht einmal gelungen, d en landesherrlichen Sumrnepiskopat abzuschütteln. Da die Mehrzahl d er p rotestantischen Geistlichen zudem nach den Unbil den d er Revolution Schutz in der Anlehnung an die Landesherrn suchte, verstrickten sich d ie evangelischen Landeskirchen unter ihren meist orthodoxen Führungen nun ebenfalls in die Reaktionspolitik. Dies wiederum schloß in den sechziger Jahren radikale Kurswechsel zum Liberalismus, wie in Baden, oder kulturprotestantische Auflockerungsversuche, wie im gesa mtdeu tschen »Protesta ntenverein « von 1863 nicht aus. Im Ganzen aber is t das Ergebnis der Revolution bei Protestanten wie Katholiken eine - im Blick auf die zukünfti ge Entwicklung höchst p roblem trächtige konservative Modem isierung.
Anmerkungen 1 Erste Bestandsa ufnahmen für den protestantischen Bereich in: Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des Neueren Protestantismus, hg . von Martin Brecht, Friedrich de Boor u . a., Bd.5 (1979); sowie In: ZeitsChrift für bayertsche Kirchengeschichte 62 (1993); darin ein weiterfü hrender Syntheseversuch von Martin Greschat, Die Ki rchen im Revol utionsjahr 1848/ 49, S. 17-35; vgJ. auch Wolfram Siemann, Die evangelischen Kirchen und ihre Stellung zur Revol ution von 1848/ 49, in: ebd., S.3-16; zum Katholizismus vgl. Ka rin Jaeger, Die Revolution von 1848 un d die Steilung des Katholizismus zum Problem der Revolution, in: Wolfgang Huber / Johannes Schwerdtfeger, Kirche zwischen Krieg und Frieden . Stud ien zur Geschichte d es deutschen Protestantismus, Stuttga rt 1976, S. 244-292. 2 Zum Folgenden immer noch unverzichtbar: Franz Schnabel, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd . IV: Die religiösen Kräfte, Freiburg 1937; als exemplarische Fallstudie fü r einen wichtigen Einzelstaat: Wemer K. Blessing. Staat und Kirche in der Gesellschaft. Institu tionelle Autorität und mentaler Wandel in Bayern während des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1982; vgl. auch Friedrich Wilhelm Graf. Die Spa ltung des Protestantismus. Zum Verhältnis von evangelischer Kirche, Staat und Gesellschaft im frühen 19. Jahrhundert, in: Wolfgang Schieder (Hg.), Religion und Gesellschaft im frühen 19. Jahrhundert, Stuttgart 1993, S. 157- 190; Wolfgang Schieder, Sozi· algeschichte de r Religion im 19. Jahrhundert . Bemerkungen zur For· schungslage. ebd., 5. 11 - 28; Helmut Baier (Hg.), Kirchen in Staa t u nd Ge-
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seilschaft im 19. Jahrhundert, Neustadt/ Aisch 1992; Matthias Klug, Rückwendung zum M ittelalter. Geschichtsbilder und historische Argumentation im politischen Katholizismus des Vormärz, Paderbom 1995. 3 Hermann Rückleben, Theologischer Rationalismus und kirchlicher Protest in Baden 1843-49, in: Pietismus und Neuzeit (wie Anm. 1), s. 6C 83. 4 Hierzu und zum Folgenden v. a.: Jöm Brederlow, »Lichtfreunde« und »Freie Gemeinden«. Religiöser Protest und Freiheitsbewegung im Vormärz und in der Revolution von 1848/ 49, München u. a.1979; Friedrich Wilhelm Graf, Oie Politisierung des religiösen Bewußtseins. Die bürgerlichen Religionsparteien im deutschen Vormärz. Das Beispiel des Deutschkatholizismus, Stuttgart-Bad Cannstatt 1978; Sylvia Paletschek, Frauen und Dissens. Frauen im Deutschkatholizismus und in den Freien Gemeinden 1841-1852, Göttingen 1990; Andreas Holzern, Kirchenreform und Sektenstiftung . Deutschkatholiken, Reformkatholiken und Ultramontane am Oberrhein (1844--1866), Paderbom u . a.I994. 5 Christian Gottlieb BartI, 18.7.1848, zit. nach Stefan Dietrich, Christentum und Revolution. Die christlichen Kirchen in Württemberg 1848-1852, Paderbomu .a. l996,S. 88. 6 Predigt von A. Mauch, zit. ebd., S. 95. 7 Oie evangelische Kirche und die Freiheit. Der Beobachter 1849, Beil. zu N r. 53 (33), zit. ebd., S. 93. 8 Vgl. ebd., S. 93. 9 Vgl. Klug, S. 326 H., Zitat S. 327. 10 Der Finger Gottes in den Begebenheiten der Zeit, in: Kirchliches Wochenblatt aus der Diözese Rottenburg, 1849, Nr. 29, zit. nach Dietrich, S. 32. 11 Glossen zur Tagesgeschichte vom 4.12.1848, in: Historisch-Politische Blätter 22 (1848/2), zit. nach Klug, S. 332. 12 Zit. nach Gerhard Besier, Religion, Nation, Kultur: Die Geschichte der christlichen Kirchen in den gesellschaftlichen Umbrüchen des 19. Jahrhunderts, Neukirchen-Vluyn 1992, S. 42; vgl. dazu auch Siemann, S. 3 ff. 13 Fr. AI. Hauber, Predigt am Geburtsfest des Königs, 27.9. 1848, zit. nach Dietrich, S. 44. 14 Kreissynode Herford, 8.11 .1848, zit. nach losef Mooser, Kirche, Erweckungsbewegung und politischer Konservativismus in der Revolution Das Beispiel Westfalen in sozialgeschichtlicher Perspektive, in: Zeitschrift fü r bayerische Kirchengeschichte 62 (1993). S. 98-115, hier S. 107; vgJ. auch Ferdinand Magen, Protestantische Kirche und Poli tik in Bayern, Köln / Wien 1986, S. 81. 15 Vgl. Greschat, S. 29; Rückleben, S. 66 ff.; Magen, S. 78 ff. 16 Vgl. dazu Klaus Erich Pollmann, Protestantismus und preußischdeutscher Verfassungsstaat. in: Staat und Gesellschaft im politischen Wandel (FestschriJt für W. Bußmann), hg. von Wemer Pö ls, Stuttgart 1979, 5.280-299, hier S. 280-290; vgL auch Besier, S. 13-24,32-6 1. 17 Zil. nach Besier,S. 49. 18 Zil. nach Dietrich, S. 163; vgL ebd., 5. 156-166. 19 Vgl. jetzt zusammenfassend: Ernst Heinen, Katholizismus und Gesellschaft. Das katholische Vereinswesen zwischen Revolution und Reaktion (1848/49-1853/54), Idstein 1993, bes. 5.23-35.
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20 Heinrich Best, Die Männe r von Besitz und Bildung . Struktur und Handeln politische r Führungsgruppen in Deutschland und Frankreich 1848/ 49, Düsseldorf 1990, S. 157 ff. 21 Thomas Mergel, Zwischen Klasse und Konfession. Katholisches Bürgertum im Rheinland 1794-1914, Gö ttingen 1994, S. 133 ff. 22 Ebd., 5. 143. 23 Heinen, S. 147 f. 24 Zit. nach Wolfgang Schwentke r, Konservative Vereine und Revolution in Preußen 1848/ 49. Die Konslituierung d es Konservati vismus als Partei, Düsseldorf 1988, 5. 11. 25 Chris tian R. Homrichhausen, Evangelische Christen in der Paulskirche 1848/ 49. Vorgeschichte und Geschichte der Beziehung zwischen Theologie und politisch- parlamenta rischer Aktivität, Bem u. a. 1985, bes. 5.217- 232. 26 Ebd ., S. 232. 27 Ebd ., S. 207, 217. 28 Magen, S. 82 f. 29 Mooser, S. 105 f. 30 Rückleben. S. n-83. 31 SchnabeI,S. l nf. 32 Greschat, S. 25 f. 33 Jonathan Sperber. Rhineland Radicals. The Democratic Move ment and the Revolution o f 1 8 4 ~ 1 849, Princeto n 1991 , 5. 344 f.; vgl. ebd., 5. 281 ff. 34 Heinen, 5. 28. 35 Mergel. S. 134. 36 Heinen. 5. 42. 37 Ebd., S. 53 ff. 38 Ebd., 5. 60 f. 39 Zil. nach Heinen, 5. 68. 40 Zil. nach Besier, S. 37. 4 1 Vgl. 5chwentke r, S. 15 f . 42 Ebd., 5.47 u . Ö. 43 Zil. nach Schwentke.r, S. 99. 44 Friedrich Ju lius Stahl, zit. nach Schwentke r, S. 47. 45 Vgl. ebd ., S. 100 ff., bes. S. 107 ff. 46 Vgl. dazu d en Beitrag von Ko nrad Canis in diesem Buch. 47 Vgl. Schwentke r, S. 55. 48 Mooser, S. 104; vgl. auch Ders., Maschinensturm u nd Assoziation. Die Spinner und Weber zwischen s ittlicher Ö konomie, Konservativismus und Demokratie in d e r Krise des Leinengewe.bes in Ravensberg. 1840-1870, in: Kar! Ditt / Sidney Pollard (Hg.), Von der Heimarbeit in die Fabrik. Indus trialis ierung und Arbeiterschaft in L.einen- u nd BaumwolIreg ionen Westeuro pas wä hrend des 18. und 19. Jahrhunde rts. Paderbom 1992, S. 309 ff. 49 Vgl. Grescha t. S. 21.
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Politische Partizipation und soziale Ordnung Das Konzept der »Volksbewaffnung« und die Funktion der Bürgerwehren 1848/ 491
Im März 1848 no tierte der Breslauer Kaufmann Kar! Friedrich Hempel die dramatischen Ereignisse in seiner Heimatstadt wie folgt: »Es wurde demnach am 17. die von den Stad tverordneten bereits Tages vorher beschlossene Bewaffnung der Bürgerschaft - unter Zustimmung der Regierungs- und Militair-Behörden durch den Magistrat in einer Bekanntmachung ausgesprochen. [... ] Darauf beschlossen die am Nachmittage in aUen Bezirken der Stadt versammelten Bürger sich vorläufig selbst, so gut es angehe, zu bewaffn en und zur Auszeichnung eine [... ) Binde um den Arm zu heften. Die Aufregung in der Stadt war sehr groB. AUe Läden am Markt und in d en Hauptstraßen waren geschlossen [... ] Die Rathhaus-Treppen waren indessen von bewaffneten Bürgem besetzt [... ] Zahlreiche Bürger-Patrouillen zogen indessen fortwährend durch die Straßen, Polizey und Militair zeigte sich gar nicht in denselben«.2 Am Ende der revolutionären Entwicklung, im Mai 1849, schrieb Hempel: »Denselben Vormittag wurde durch Plakat die Bürgerwehr zur Ablieferung der Waffen bi~ Nachmittag 2 Uhr aufgefordert und gedroht, daß im Fall dies nicht geschähe, sie durch Militair dann abgeholt werden würden. Da dieser Aufforderung nur sehr saumselig Folge geleistet wurde, so zog um 4th Uhr die bewaffnete Macht mit Wagen durch die Stadt und forderte mit Trommelschlag zur Abgabe der Waffen auf, und jetzt ging die Ablieferung besser vonstatten«.) Anfang und Ende der Revolution wurden nicht zufällig durch Gründung und Auflösung von Bürgerwehren bzw. durch Bewa ffnung und Entwaffnung der Bürger signalisiert. Vielmehr waren jene Formationen eng mit dem Schicksal d er Revolution von 1848 verknüpft, sie prägten das Straßenbild in den großen europäischen Metropolen ebenso wie in der Provinz.
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Wenn die Idee der Volksbewaffnung auch 1848 ihren Höhepunkt erreichte und im übrigen zugleich kurz darauf auch ihr Ende fand, waren doch weder die Gnmdidee noch die Institutionen von Bürgerwehr oder Nationalgarde zu diesem Zeitpunkt völlig neue Erscheinungen. Vielmehr wurzeln entsprechende Ideen und Zielvorstellungen bereits in der Spätaufklärung. Die Umsetzung der Pläne erfolgte im Anschluß an die revolutionären Ereignisse in Paris 1789 und der in Deutschland, besonders in Preußen, bald darauf einsetzenden Reformperiode in den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, als erstmals in größerem Umfang Bürgerwehren initiiert und eingesetzt wurden; eine zweite wichtige RealiSierungsphase ist zu Beginn der 1830er Jahre, vor aUem in Kurhessen, Sachsen und Braunschweig, zu beobachten. Die Volksbewaffnungsidee und ihre jeweiligen Realisierungen waren von der säkularen Umbruchphase von Alteuropa zur Modeme (1750-1850) geprägt. Diese krisenhafte Epoche, die Reinhart Koselleck als Sattelzeit bezeichnet hat, ist gekennzeichnet von dem Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft und damit der Frage von politischer Partizipation am fürstlichen Regiment und generell von Mitsprache in öffentlichen Angelegenheiten sowie der Herauslösung der Menschen aus sozial und wirtschaftlich motivierten ständischen Bindungen hin zu einer dynamischen, auf der ökonomischen Basis von Angebot und Nachfrage funktionierenden bürgerlichen Marktund Leistungsgesellschaft. Dieser fundamentale gesellschaftlich-politische wie sozioökonomische Prozeß erschließt sich dem Forscher vor allem im Ergebnis mit den Schlagworten Parlamentarisierung, Demokratisierung, Industrialisierung, Individualisierung und Marktwirtschaft; für die Zeitgenossen freilich war das Ziel keineswegs so klar und eindeutig, je nach persönlicher Ausgangsbasis gehörten sie zu den Gewinnern oder Verlierern d es Umwälzungsprozesses. Da die sich herausbildenden industriezweige zunächst das Heer der arbeitslosen und unterbeschäftigten Handwerker und Tagelöhner noch nicht aufnehmen konnten, überstieg die Zahl der Verlierer bis in die 1850er Jahre deutlich die der Gewinner. Die Folgen waren Hungerunruhen und Marktkrawalle, bei denen Übergriffe auf Geschäfte und Marktstände, aber auch Katzenmusiken und eingeschlagene Fensterscheiben bei mi ßliebigen Personen zur Tagesordnung
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gehörten. 4 Die Kulmination dieser Protestaktionen 1830 oder 1848 führte zu einem subjektiv empfundenen wie objektiv vorhandenen Sicherheitsproblem. [mmer deutlicher wurde Regierungen wie Besi tzenden vor Augen geführt, daß die bisherigen traditionellen O rdnungsinstanzen ihrer Aufgabe, für Sicherheit und Ordnung zu sorgen, nicht mehr gerecht werden konnten. Der Staat hatte jedoch keinen allzu großen Spielraum. Die »Polizei des Absolutismus «, das Militär, blieb zwar weiterhin ein wichtiger Fakto r und galt gerade den Konservativen als Garant der monarchischen Ordnung, als Bollwerk gegen jede Revolutionsgefahr. Doch befand sich das Militär in der Defensive, und für eine funkti onierende und effektive Gendarmerie fehlten Geld und po litische Durchsetzungsfähigkeit. s In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die Regierungen deshalb noch in erstaunlich starkem Maße auf die in Auflösung befindlichen traditionellen Träger sicherheitspolizeilicher Gewalt und die vormodern-ständischen Muster sozialer KontroUeangewiesen. 6 Den Bürgerwehren kommt in diesem Koordinatensystem doppel revolutionärer Fundamentalprozesse insofern eine besondere Rolle zu , als sie sowohl auf die sozialen Probleme und die dadurch ausgelöste Bedrohung von Eigentum und Grundbesitz reagierten wie auch als Modell und Instrumentarium liberaler OrdnungsvorstelJungen von Staat und Gesellschaft und d amit von politischer Partizipation galten. Diese auf den ersten Blick merkwürdig anmutende Verquickung völlig gegensätzlicher Funktionszuschreibungen (einmal als Verfassungsschutz, ein anderes Mal als Hilfspolizei) initiierte einen außerordentlich weitgefächerten Diskurs, der nicht nur das gesamte politische Spektrum, sondern auch breite soziale Schichten erfaßte. Und der zudem eine eindeutige Zustimmung oder Ablehnung der Bürgerwehr nur bei sehr extremer Position des Betrachters zuließ. Wurde die Diskussion um 1800 zunächst nur von wenigen Gebildeten geführt, so weitete sich der Kreis der am Diskurs Beteiligten schließlich qualitativ und quantitativ beträchtlich aus; auf dem Höhepunkt d er Debatte 1848 meldeten sich nicht nur selbst einfache Stadtbürger mit Vorschlägen und Urteilen zu Wort, sondern es war nunmehr eine breite Öffentlichkeit involv iert, die die unzähligen Beiträge begierig rezipierte. Diese Entwicklung war einerseits beeinflu ßt von der Lockerung der Pressezensur und einer Umstrukturierung der Produktions-
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und Vertriebsbedingungen sowie der Rezeptionsgewohnheiten. Andererseits geriet die Parole von der Volksbewaffnung von einem anfangs eher randständigen Problem sehr schnell in den Mittelpunkt der Debatten, da die »Volksbewaffnung« nicht nw zur verfassungsrechtlichen und machtpolitischen Definition und Konstruktion einer Scheidelinie von Staat und Gesell schaft beitrug, sondern auch die innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen konfigurierte und zugleich kanalisierte. Je nach Gesellschaftskonzeption und »Volks «-Verständnis, aber auch je nach Staatsnähe und s taatskritischer Einstellung variierten die Vorstellungen erheblich. Spätestens seit den Schriften der bedeutenden StaatsrechtIer earl von Rotteck und earl Theodor Welcker gehörte die Parole von der Volksbewaffnung7 zum klassischen Repertoire d es frühliberalen Forderungskataloges. Bekanntlich bekämpfte der FrühJiberalismus die absolute Herrschaftsausübung und das Gottesgnadentum ebenso wie die adl igen Vorrechte und strebte nach der Durchsetzung eines repräsentativen Verfassungsstaa· tes mit klar umrissenen, in einem Grundrechtskatalog negativ fixierten Eingriffsrechten; vorherrschendes Ideal war das in gei· stiger wie materieller Hinsicht frei und selbstverantwortlich handlungsfähige Individuum und auf gesellschaftlicher Ebene die klassen lose, überständische Staatsbü rgergesellschaft. Erst die Verfassung trennte den Staatsbürger vom Untertanen, band den Monarchen an den Willen des Volkes.8 Im Rahmen dieser Zielvorstellungen stellten die BOrgerwehren ftlr viele das kon· stitutioneUe Gegenmodell zum fürstlich·absolutistischen Militär dar; nicht wenige hofften sogar, in absehbarer Zeit das Mi · Iitär, das als Bastion der Reaktion und als massive Bedrohung aller freihei tlichen Bestrebungen gefürchtet wurde, ganz aufzu· lösen und durch eine Bürgerbewaffnung dauerhaft ersetzen zu können. 9 Analog zu seiner semantischen Vertiefung unterlagen dem Diskurs differierende politische Positionen und vor allem un· terschiedliche Auffassungen von Freiheit, Volk, Gesellschaft und Staat. Anhänger der alten Ordnung hielten an der Unter· tänigkeit der Menschen und der Absolutsetzung fürstlich·mon· archiseher Gewalt fest: Staa t und Gesellschaft bildeten eine or· ganische Einheit, die Beziehungen zw ischen König und Untertan waren paternalistisch geprägt. Gerade für konservative Militärs bedeutete Volksbewaffnung daher allenfalls ein neuer
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patriotischer Kampfgeist oder maximale Zugriffsrechte auf die zivi le Bevölkerung unter Umgehung bisheriger bürgerlicher Schutzbestimmungen. Militärreformer od er die Vertreter der Wehrertüchtigung, erstere im Zeichen der Spätaufklärung, letztere im Bann der Romantik und des Herd erschen Volksbegriffes, akzeptierten zwar die Koexistenz von Staa t und GeseUschaft, wollten aber nur einen sittlich-moralischen Freiheitsbegriff anwenden und damit lediglich die »innere" Einstellung der Menschen ändern.10 Eine nach ))außen" gerichtete radikale Umwälzung der Staatsverfa ssun g oder die Verkündung des politisch partizipierenden Staatsb ürgers stand nicht zur Disposition. Erst vor dem Hintergrund des politischen und republikanischen Freiheitsbegriffs geriet die Formel von der Volksbewa ffnu ng zur staa tskritischen Variante. Vorschläge fü r revolutionäre Formen der Volksbewaffnun g jenseits von Landsturm und Landwehr oder auch die Erweiterung des Volksbegriffes auf untere, grundbesitzlose Schichten blieben in d en ersten Jahren des Vormärz noch aus. Die Variationsbreite der Realisierungsmöglichkeiten der Volksbewaffnung erschöpfte sich zu diesem Zeitpunkt vornehmlich noch in Allgemeiner Wehrpflicht, Landsturm oder Landwehr. Nach 1830 gehörte die Forderung nach Bürgerbewaffnung zum Repertoire von "gemäßigten ,( wie ))entschiedenen,( Liberalen, von Demokraten und Radikalen. So forderte der demokratische Publi zist Fried rich Wilhelm Schulz 1832 nach dem kurhessischen Vorbild »in allen deutschen Ländern, wo noch keine Bürgerga rden sind [... 1dem Volke die Waffen in die Hände" zu geben. Da ))wehrloses Volk [. . . } gleich d em Sperlinge in den Klauen des Habichts(, sei, habe jeder d as Recht, sich ein e Waffe zu besorgen. Schul z rief indirekt zu m Verfassungskampf, zum bewaffneten Schu tz von Freiheit und Verfassung auf. ll Der gemäßigte Liberale David Hansemann forderte 1840 in seiner Denkschrift für den Thronfolger Friedrich Wilhelm IV. wesentlich vorsichtiger und behu tsamer, aber doch nicht minder eindringlich, an der Basis der preußischen Heeresverfassung, nämlich der Volksbewaffnung, unbedingt festzuhalten. 12 Der radikale Reformer Arnold Ruge strich in seiner ),Selbstkritik« 1843 noch einmal die verachtenswerte polizeistaatliche Fu nktion des Stehenden Heeres heraus und forderte, Volksbildung und Volksbewaffnung, Schule und Militär, miteinander zu verschmelzen.13 Auf der Heppenheimer Tagung liberaler Politiker
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1847 w urde hefti ge Kritik an der Bundesmilitärverfassung ge· übt, die keine allgemeine Volksbewaffnung zulasse. Geforde rt wurde eine Minderung des Stehenden Heeres und die Einführung einer »Volkswehr«.14Im gleichen Jahr zählten z u den so· genannten »Offenburge r Forderungen « d er Verfassungseid des Militärs und die Einrichtung einer »volkstümlichen Wehrve r· fassung «(.1 s Noch vor Ausbruch der Revolution 1848 benannte d ie Mannheimer Bürgerversammlung am 27. Februar 1848 v ie r »dringende Fo rderungen «, von d e nen die »Volksbewaffnun g mit freien Wahlen der O ffi ziere( an erster StelJe sta nd .16 Im Frühjahr 1848 gaben die Regierungen den Protesten nach und beriefen neue Minister, fa ßte n Reformbeschlüsse, organisierten Wahlen z ur verfassungsgebenden Na tionalversa mm· lung, hoben die Zensur auf und gewährten endlich die allgemeine Volksbewaffnung. Auch in Berlin spitz te sich die Situation zu. Zusä tzlich beflü gelt vom Erfolg der Revolution in Wien und dem d a mitverbundenen erz wungen en Rü cktritt Mettemichs, bildete sich ein e breite soziale Protestbewegung, d ie täglich weiteren Z ulauf erhiel t. Die allgemeine aufgeregte Stimmung wurde noch weiter angefacht durch kursierende Gerüch te und revolutionäre Nachrichten aus deu tschen und europäischen Ha uptstädten . Friedrich Wilhelm IV. und seine Regierung reagierten auf diese, als immer bedrohlicher empfund ene Entwicklung mit eine r massiven Militärpräsenz auf den Stra ßen. Schon bald kam es z u blutigen Kon(ron tation~n zwischen Militär und Einwohner· schaft, in de ren Folge die e mo tional aufgeladene Atmosphäre eskalierte und auf heiden Seiten aggressive und irrationale Re· aktionen hervorrief. Der Ausgang solche r »Begegnungen« war in jenen Tagen stets d er gleiche und wurde von durch Säbelhiebe oder Gewehrschüsse verletzten, ja soga r getöte ten Einwohner begleitet, so daß jedem Zivilis ten überdeutlich die fa talen Wirkungen und Konsequenzen des militä risch-staatlichen Waffenmonopols a ufgezeigt w urde n . Nach dieser grundlegenden, für nicht wenige auch u nmittelbaren und sc hme rz ha ften Erfahrung besaß die »Märzforderung« nach »Volksbewaffnung« oberste Priorität. Am 7. März s tand die Forderung nach »Volksbewaffnung( in einer Adresse an den König noch an s ieb ter und drittletzter Pos ition .1 7 Zehn Tage spä ter umfaßte eine Vier-Punkte-Adresse erstens die »Zurückziehung der m ili tärischen Macht«, zweitens die »Qrgani-
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sation einer bewaffneten Bürgergarde«, drittens Pressefreiheit und viertens die Einberufung d es Vereinigten Landtages.l8 Die· se Forderungen sollten als sogenannte Sturmpetition im Rah· men einer Massendemonstration, zu der die gesamte Einwohnerschaft aufgerufen wurde, am folgenden Tag, d en 18. März, vor dem königlichen Schloß verkündet werden. Damit war die Bürger- bzw. Volksbewaffnung, verknüpft zu einem Junktim über den Truppenabzug, zur alles bestimmenden Machtfrage geworden, die über Erfolg und Mißerfolg der Bewegung entscheiden würde. Zugleich aber zeichnete sich schon in diesem frühen Stadium die Realisierung nicht nur einer viel stärker politisierten, sondern auch sozial beträch tlich erweiterten Formation ab. Auch König und Regierung hatten ihre Lehren aus den vergangenen Tagen gezogen. Um zukünftige Konfrontationen zu vermeiden, die nur weitere Radikalisierungen nach sich gezogen hätten, versuchte man, stad tbürgerliche Schutzkommissionen aufzustellen und den Bürger zum Ersatzsoldaten zu stempeln . Da aber der Stad tkommandant ein Abrücken vom militärischen Waffenmonopol verweigerte, mußten diese Schutzkommissi0nen unbewaffnet agieren - was ihre Einsatzfähigkeit gleich am ersten Tag, dem 16. März, erheblich minderte.l9 Die Entwicklung kulminierte am 18. März, als es im Rahmen d er »Sturmpetition ll für eine Bürgerbewa ffnung vor dem Schloßplatz zu einer Schießerei kam, in deren Folge Armee und Einwohnerschaft in einen erbitterten und blutigen Barrikaden· kampf verwickelt wurden.20 Am 19. März gab d er König nach, entschied sich für den Rückzug der Truppen aus der Stad t und bewilligte die geforderte Bürgerbewaffnung, an der Bürger und Schutzverwandte beteiligt werden sollten.2l Eine d etaillierte gesetzliche Ausarbeitung wurde in Aussicht gestellt. Dies bedeu· tete im Vergleich zu d en bisherigen Maßgaben eine breite soziale Öffnun g der bürgerlichen Ordnungsformationen bis weit in die unterbürgerlichen Schichten hinein - eine soziale Öffnung, die ja nich t nur durch die Paragraphen d er Verordnung, sondern auch durch die revolutionären Begleitumstände, also die Beteiligung von Tagelöhnern und Handwerksgesellen, bewirkt wurde . Hatten doch in den Augen vieler nicht die stadtbürgerlichen Eliten, sondern vor allem das »Volk« den Sieg und d amit das Anrecht au f eine Selbstbewaffnung errungen . Zunächst aber versuchte die Regierung, die Gefahr einer all-
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gemeinen »Volksbewaffnun g(( zu bannen 22 und vielmehr trotz d er eindeutigen Formulierungen ein e O rdnungsformation von Besitzbürgern zu schaffen, die einer weiteren Rad ikalisieru ng d er Entwicklung vorbeugen sollte. Zentrale Bedeutung erhielt die aus Stadtbürgem bestehende Schützeng ilde, die a ls neue Sc:.hloßwache und ),bürgerliche Leibgarde d es Kön igs( fungieren sollte. 23 Gewehre wurden zunächs t nur an Hausbesitzer und an als verläßlich bekannte Bürger verteilt; d ie groBe Mehrhe it d er Barrikadenkä mpfer blieb von einer Bewaffnun g zunächst ausgeschlossen.24 Diese Einschränkung der ersten Tage w urde von d en Verantwortlichen geschickt kaschiert. 25 Freilich war die Freude über den politischen Erfolg und damit über d ie Präsenz bürgerlicher Ordnungsformationen gerad e in den er· sten Tagen weitgeh end ungeteilt, so daß sich die unteren Schichte n zunächs t nicht a usgeschlossen fühlten. Immerhin war die nun ohne Auflage genehmig te Bü rgerbewa ffnun g ein großer Erfolg, der freilich, d a die Formation zu spät und aus der Defensive heraus bewilligt w urde, im Zuge der weiter vor· antreibenden Radikalisierung rasch verpuffte.26 In d ieser ersten Phase bis in den April hinein blieb die Bürgerbewaffnun g noch in starkem Maße an die Obrigkeit gebunden.27 Auch die Anzahl der Ga rdis ten fi el mit wenigen tausend Männem vergleichs· weise gering aus.23 Die versproch ene gesetzliche Fassung d er Bürgerwehr ließ lange auf sich warten. Zunächs t w urden am 25. März ))Prov iso· rlsch e Anordn ungen Ober die Bildung d er BUrgerwehr von Ber· lin«29 verkündet, die in ihrem Wesensgehalt über eine Bekräfti· g ung d er ersten Adhoc·Bes timmungen vom 19. März ka um hinausg ingen und ledig lich Wachtinstruktionen und Gliede· rungskriterien beinhalteten. Die vom König am 22. März ver· anlaßte Ausa rbeitung eines speziellen Bürgergese tzes sollte sich noch bis in d en Oktober hinziehen. Eine wichtige Etappe wa r d ie Verordnung vom 19. April, in der die Bürgerweh ren landesweit a nerkannt und ihnen )) Behufs Aufrechterhaltung der öffentlichen O rdnung und Sicherheit die Befugnisse d er be· wa ffneten Macht nach d en gesetzlichen Bestimmungen.( zu ge· s tanden w urde.Ja In d er Provinz Bran denburg folgte eine ganze Reihe von Städ· ten in den Märztagen d em Berliner Beispiel und stellte ebenfalls Bürgerwehren bzw. Schutztruppen au f.3 ! Die Prov inzregierung versuchte jedoch, die radikale EntwickJung in Berlin auf d em
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pla tten Land und in den kleineren Städten abzub remsen. So unterstützten die Behö rden vornehmlich d ie Gründungvon Sicherheitsvereinen auf der Basis von 1830. In jenem Jahr war angesichts der Unruhen in den westpreußischen Provinzen eine Verord nung über die Bildung ausschließlich hilfspo lizeilich ausgerichteter städ tischer Sicherheitsvereine, die unter strikter obrigkeitlicher Anleitung stehen sollten, erlassen worden.32 Schon wenige Wochen und Mona te nach diesen ersten Anfangserfolgen, zu m Teil aber auch schon ansa tzweise im März, zeichneten sich zwei Entwicklungen ab. Zum einen zerbrach die breite Protestfront in mehrere politische Flügel; wäh rend die einen mit dem Erreichten zufrieden waren, streb ten die anderen nach mehr, nach funda mentalen Veränderungen der sozioökono mischen Struk tur d er Gesellschaft. Dies hatte gerade für die Volksbewaffnung unmittelba re Auswirkungen. Zum anderen waren d ie in d er Regel reflexartig gewährten Märzverordnungen wenig präzise gewesen, so d aß es - in erster Linie in Preußen - notwendig wurde, ein vollständ iges und detailliertes Bürgerwehrgesetz auszua rbeiten . Die öffe ntlichen Debatten und Diskussionen in den Pa rlamenten und den politischen Klubs sowie d as p ubli zistische Echo könn en hierbei als Gradmesser fü r d as Wied ererstarken d er alten Kräfte gelten. Nachdem im April und Mai eine Regierungskommission zur Erstellung eines Bürgerwehrgesetzes berufen worden war, wurd e d er Entwurf schließlich Anfang Juli d er Nationalversammlung vorgelegt. l l Die sich unmittelba r d arauf entzündende heftige Diskussion innerhalb wie außerhalb d es Parlamentes wurde noch weiter angefacht, als am 4. August d as Pa rlament die überarbeitete Fassung des Entwurfes der Öffentlichkeit p räsentierte.J.4 Die Diskussion kristallisierte sich an d en Brennpunkten: Aufgabenbereich, soziale Zusammensetzu ng, Anbindung an d ie Obrigkeit. Der Gesetzentwurf d er Regierung sah vor, d aß die Bürgerwehr »d ie verfassungsmäß ige Freiheit und die gesetzliche O rdnung zu schü tzen und bei Vertheidigung des Vaterlandes gegen äußere Feinde mitzuwirken « habe. »Eine Berathung oder Beschlußnahme der Bürgerweh r als solcher über öffentliche Angelegenheiten ist [.. . J ve rbo t en ~~.35 Der »G egenen tw urf~<, also d ie Version d er Nationalversammlung, wollte d ieses Verbot eines al lgemeinpo litischen Mand ates zumindest nur auf a lle rein »d ienstlichen Versammlungen({ beschränkt w issen.36
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Seide Entwürfe sahen zudem eine strikte behördliche Anbindung vor. Per königlicher Verordnung könne »die Bürgerwehr einzelner Gemeinden oder Kreise ihres Dienstes (für maximal sechs Monate Dauer] enthoben oder aufgelöst werden« (§ 3).Jl Zudem dürfe die Bürgerwehr nicht ohne obrigkeitliche Requi-
sition zusammentreten und müsse jederzeit den Anordnungen der Behörden Folge leisten. Bei Zuwiderhandlungen kann »der Verwaltungs=Chef des Regierungsbezirks sie vorläufig ihres
Dienstes entheben«.38 Auch über den Wortlaut des Treueeides herrschte zwischen den beiden Entwürfen nur im GroBen und Ganzen Übereinstimmung. 39 Diese allgemeinen Regelungen trafen auf breite Zustimmung lediglich der politischen Mitte. Die radikalen oder demokratischen Stimmen verurteilten die Dominanz des hilfspolizeilichen Aufgabenbereiches und kritis ierten die strikte behördliche Anbindung ..a Es sei die Absicht des Ministeriums, wie es im Leitorgan der radikalen Partei hieß, die Bürgerwehr ,)aller Selbstständigkeit« zu berauben und sie zu einer »bloßen blind handelnden Maschine, (... ) zu einem willenlosen Werkzeuge in der Hand der Regierung« zu machen . Der Willkür des Königs und der Regierung seien hiermit keine Grenzen gesetzt.'1 Der Eid müsse vielmehr lauten: »Ich schwöre Schutz der Verfassung und Treue dem König so lange derselbe die Verfassung achtet «. ~2 Die konservative Seite hielt sich mit ihrer Kritik zunächst eher zurück, da man das Gesetz, das die Wehren fest in das lnstitutionengefUge einbinden sollte, als Fortschritt gegenüber den bisherigen frei und unabhängig agierenden Bürgerwehren betrachtete. lmmerhin sollten bei Verkündung des Gesetzes alle ),fliegenden CorpS« und »wilden Bürgenvehren« aufgelöst werden (§ 121). Freilich wurden trotzdem jene Paragraphen beanstandet, die der »Regierung Schwierigkeiten bereiten« könnten.,(J Diese in vielen Bereichen konservativen oder doch zumindest den staatlich-obrigkeitlichen Zugriff auf die Bürgerwehr ermöglichenden Regelungen mägen überraschen, da sie von einer immerhin gemäßigt-liberalen Regierung stammten. Zu beachten ist freilich, daß die Berliner Bürgerwehr im Mai und Juni immer weiter nach »links« driftete, da sich Beamte und Besitzbürger sukzessive zurückzogen und verstärkt junge Männer aus dem unterbürgerlichen Milieu nachrückten'" - eine Entwicklung, die in vielen europäischen Städten zu beobachten
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war.4S Zugleich zeigte sich die Ordnungsformation zum Ärger der Liberalen immer weniger willens bzw. fähig, bei Tumulten wirksam einzuschreiten. Eine wichtige Etappe dieser Entwicklung stellte der Zeughaussturm vom 14. Juni dar, als die Bürgerwehr tatenlos zusah, wie Arbeiter und Gesellen in das Zeughaus eindrangen und sich mit Waffen versorgten.46 Vor d iesem Hintergrund stellt der Entwurf also durchaus eine Reaktion auf diese En twicklungen der vorhergehenden Wochen dar. Dennoch sah die Regierung für ihre lnitiative selbst Erklärungs- und Rechtfertigungsbedarf. In umfänglichen »Motiven« wurden die Beweggründe erläutert.47 Zunächst wurde die Idee der Volksbewaffnung auch in ihrer politisch-revolutionären Zuspitzung durchaus verteidigt,oI8 um zugleich darauf hinzuweisen, daß eine feste Anbind ung an die Regierung jedoch notwendig sei. Immerhin, so die Überlegung.. würde eine konstitutionelle Regierungsform den Willen des Volkes vertreten und sei darum weisungsbefugt gegenüber den Ordnungsformationen:49 »Der Wille der Nation kann sich nicht zugleich durch die verfassungsmäßigen Organe, und durch die Bürgerwehren einzelner Städte aussprechen, die unter sich in Widerspruch sein können, oder wenn s ie es zufällig nicht sind, jedenfalls nicht den Beruf haben, die Gesetze und die Vollziehung derselben erlassenen Verordnungen und Beschlüsse ihrer Prüfung zu unterwerfen. Die Gefahr einer solchen Prüfung würde um so größer sein bei bewaffneten Bürgerschaften, indem der Versuch, dem Ergebnisse der Berathung durch die Gewalt der Waffen Ge ltung zu verschaffen, geradezu zum Bürgerkriege fü h ren würde.«50 Die Regelung des potentiellen Personenkreises ebenso wie die Klärung der Gleichberechtigung von Stadt und Land fiel lapidar und eindeutig aus: .. Es soll in jeder Gemeinde des Königreichs eine Bürgerwehr bestehen «; sowie: »Jeder Preuße nach vollendetem 24 . und vor dem zurückgelegten SO. lebensjahre is t [... ] zum Dienste in der Bürgerwehr derjenigen Gemeinden berechtigt und verpflichtet, in welcher er seit wenigstens einem Jahr sich aufgehalten haksl Ein Stellvertreterwesen wurde verboten. In ihren »Motiven (( hatte die Regierung ihre weitreichende Regelung damit begründet, daß das Gesetz »auf dem Prinzip der allgemeillen Volksbewaffnung« beruhe. In diesem Sinne sollten auch Dienstboten und »alle diejenigen, für welche der laufende Dienst eine zu drückende Last sein wü rde«
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nicht ausgeschlossen werden; es sollte ihnen aber zugleich freigestellt werden, sich in die sogenannte zweite Dienstliste eintragen zu lassen, auf d er nur jene aufgeführt würden, »welche nur in auBerordentlichen Fällen zum Dienste heranzuziehen« seien.52 Ein Passus, der angesichts der notwendigen Ausgaben für Uniform und Ausrüstung oder der verdienstlosen Ausfallzeiten wohl weniger d em ökonomischen Schutz der Knechte, Gesellen und Arbeiter als vielmehr deren latentem Ausschlu ß dienen soll te. Kontrovers wurde in der Öffentlichkeit vor allem die Wahl der Anführer und der Bürgerwehrgerichte diskutiert. In heiden Entwürfen wurde die Selbstergänzung per geheimer Wahl bei absoluter Stimmenmehrheit bis einschließlich d es Bürgerkompaniechefs vorgesehen . Der Majors-Rang sollte durch indirekte Wahl, also durch Stimmenabgabe nur der Chargen, der Rang des Obersten durch den König besetzt werden, der dafür zuvor eine Liste von drei Kandidaten erhielt. 53 Während die liberale Öffentlichkeit den Wahlmodus weitgehend lobte und allenfalls die Ergänzungsweise der Richterschaft vari.ieren woll te, sahen die Konservativen den Wahl paragraphen als »Träger der Anarchie'" der zum »Untergraben aller Autorität« führen würde.54 In den Monaten August und September gewannen die alten Kräfte immer deutlicher an Einfluß. Einerseits gelang es der Reg ierung in Berlin, mit der Konstablerwache su kzessive eine Sicherheit.saltcrnative aufzubauen, die durchaus als Kampfansage an die Bürgerwehr verstanden werden konnte; andererseits wurden den Obrigkeiten besonders unliebsame »fliegende Verbänd e« überwacht und schikaniert.5S Ein Fanal war der Schweidnitzer Zw ischenfall vom 31. Juli, der sich zu einer parlamentarischen Krise ausweitete, in deren Folge schließlich im September die gemäßigt-liberale Regierung Auerswa ld / Hansemann durch d as »bürokratische Ministerium« Pfuel abgelöst wurde.56 Im Oktober schließlich standen in Berlin d ie »Zeichen auf Sturm«. Auf breiter Linie hatte die sogenannte Fronde zum Gegensch lag ausgeholt. Vor d en Toren Berlins wartete General Wrangel mit seinen Truppen auf d en Befehl zum Einmarsch, der König ließ am 16. Oktober d en Belagerungszustand verhängen und berief schließlich Anfa ng November mit d em Kabinett des Grafen von Brandenburg eine konservative Beamtenregierung.S7 Anfang November kam es zur Vertagung und zuletzt
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zur Schließung der Rumpf-Nationalversammlung, am 10. November rückte General Wrangel in Berlin ein. Das Kriegsrecht w urde über d ie Stad t verhängt, alle politischen Klubs geschlossen sowie die Versammlungs- und Pressefreiheit eingeschränkt: die Revolution war in Berlin beendet. Eine d er ers ten Maßnahmen war die Au flösung der Bürgerwehr. In seiner Auflösungsverfügung vom 11. November bezog sich Friedrich Wilhelm IV. auf den Auflösungsparagraphen des neuen Bürgerwehrgesetzes. Die Berliner Bürgergarde habe zwar, so d er König, »bei einzelnen Gelegenheiten anerkennenswerther Weise für die Ruhe und Siche rheit der Stadt gewirkt((, jedoch habe sie sich in den letzten Tagen u nd Wochen geweigert, "d en Maaßregeln der Staats-Regierung« zu entsprechen . Vor allem habe sie verbotenerweise bis zuletzt diejenigen I,Mitglieder der Nationa l-Versammlung (, welche ihre »ungesetzlichen und wirkungslosen Berathungen fortgesetzt [hätten,] unter ihren Schutz genommen (; dieses sei ein »die Ord nung gefährdendes Widerstreben« und müsse beendet werden.SB Zu Beginn dieser letzten Etappe, am 13. Oktober, wurde das Bürgerwehrgesetz unter der Regierung von Pfuel d er Nationalversa mmlung vorgelegl.* Nah ezu alle Änderungen des Parlamentsentwurfes waren unberücksichtigt geblieben und insbesondere die strikte behördliche Anbindung nochmals verstärkt worden. Gegen d ie Stimmen der opponierend en Ab geordneten, die einen Tag später ein »dissentirendes Votum« abgaben,60 wu rde der Entwurf gebilligt und erlangte am 17. Oktober Gesetzeskraft. 61 Mit diesem Tage wu rden alle bish erigen Ord nungsformationen für aufgelöst erklärt. Nunmehr war die Bürgerwehr zum Zwangsinsti tut geworden, d enn alle Gemeinden waren jetzt zum Aufbau verpflichtet; alle Kosten hatten die Verantwortlichen selbst zu tragen. Am 1. Januar 1849 erging eine Weisung d es Innenministeriums an alle Regierungen, in ihrem Amtsbereich zu prüfen, ob alle noch au f den Aprilverordnungen beruhenden I,wilden( Formationen aufgelöst b zw. entsprechend dem Oktobergesetz reorganisiert worden seien. 62 Obwohl gegen d ieses Gesetz wie berei ts bei seiner Beratung im Juli und August vor al lem die entschiedenen Liberalen und Demokraten polemisierten und es in der Provinz zu Widerstandsma ßnahmen und Protestkundgebungen kam, war die Rechte doch auch nich t zufrieden. In dem Maße. wie d er Siegeszug der Reaktion im Herbst voranschri tt und beträchtlich an Terrain ge-
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wann, wollten konservative Stimmen bald auch von einer institutionell fes t angebund enen O rdnungs-Bürgervvehr nich ts mehr wissen. So notierte d er Hochschullehrer Henning in einem »Pro Memoria « für d as Innenminis terium ironisch, aus d er Tatsache, daß »d ie Umsturzparteien« d ieses Gesetz so sehr kritisiert hätten, könne man schließen, d aß es ein gutes sei. ln der Tat, so Henning weiter, sei damit d ie »tumultuarische, ja anarchische Gestalt« der »w ilden« Formationen beendet worden. Doch seien immer noch so v iele gefährliche Regelungen entha lten, die zum Beispiel d as »Bekritteln der Vorgesetzten« ermöglichten, d aß eine Revision dringend geboten sei. 63 Da die neuen Bürgerwehren mit ihrem restriktiven Z uschnitt bei d er Bevölkerung nur wenig Anklang fanden, nutzte dies die Regierung, indem s ie am 24. Oktober 1849 auch diese O rdnungs-Bürgerwehren a uflöste; zugleich w urden alle »vom Staate verabreichten Waffen « zurückgeford ert. 6oI Mit welcher Akribie diese Entwaffnung vo rgen ommen w urde, zeigt das Eingangszi tat des Breslauer Kaufman ns Hempel. Das Ende der Volksbewa ffn ungskon zeption und ihrer spezifi schen Aus fo rmung, egal ob Sicherheitsverein, Bü rgerwehr oder Nationalga rde, wurde durch m ehrere Faktoren eingeleitet. Einerseits hatte der Siegeszug des Militärs in offener Konfrontation (etwa in Wien oder in Baden) mit den unzureichend ausgestatteten Milizen und FreiwiUi genverbänden d en Ausgang der Revolution mehr als eindeutig entsch ied en . Doch vt=rband sldl damit mehr als nur der Ausga ng eines ungleichen machtpolitischen Duells. Zugleich war die Volksbewaffnun g derart unmittelbar und symbolhaft mit der Revolution verknüpft - hatte doch die von den Fürs ten und Regierungen erpreßte Herausgabe von Gewehren aus s taa tlichen Zeughäusern d en scheinbaren Sieg de r Bew egung im März versinnbildlicht - , d aß im Herbst 1848 und 1849 d ie Entwaffnung der Bevölkerung und d ie Auflös ung aller Bürgerwehren zur unabdingbaren Notwendigkeit gehörte, um d en Sieg der alten Eliten med ien wirksa m und demonstrativ anzuzeigen. Vor allem aber hatten d ie revol utionären Ereignisse d en Fürsten und konserva ti ven Kreisen die Brisan z der Volksbewaffnung vor Augen geführt; selbst jene, die zu Beginn d es Jahres noch hofften, mit einer Ord nu ngs-Bürgerweh r die Bewegung zu kanalisieren und d as Besitzbürgertum zu Verbündeten zu gew innen, nahm en nun Abstand . Zu sehr ha tten Waffen in den
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Händ en von radikalen Demokraten und »roten Pöbelhaufen{(, die soziale und politische Reformen verlangten und diese of· fensichtlich unter Anwendung von Gewa lt auch durchzusetzen beabsichtigten, gezeigt, daß die alten Ängste vor einem Um· s turz der bestehenden Ordnung durchaus real gewesen waren. Andererseits hatte die politische und sozioökonomi sche Doppelkrise maßgeblichen Anteil daran, d aß die Vo lksbewaff· nung auch bei unmittelba r Betroffenen in dieser Form keinen Anklang fand . Mit d er rapiden Zunahme der gesellschaftlichen Verwerfun· gen in d en 1840er Jahren und vor allem 1848 konnten die durch Klassengegensätze und diametrale Interessen von Tagelöhnern und Besitzbürgern ausgelösten Risse nicht mehr gekittet werden. Bereits im Frühjahr 1848 kam es zu alternativen, miteinander konkurrierenden KJassen·Ordnungsformationen, bestehend je· weils aus Tagelöhnern und Arbeitern oder aus Besitzbürgern, in ein und derselben Stadt. Gemeingeist und Bürgersinn oder die innere und äußere Freiheit der Heimatstadt hatten ihre Zugkraft weitgehend verloren; für die Besitzbürger stand einzigdieSicherung ihres Eigentums im Vordergrund . Das Besitzbürgertum floh in Scharen aus dem Ideen-Gebäude einer unsicher gewor· denen kommunalen und au tarken Bürgergesellschaft unter das sichere Dach des zwar militarisierten und autokratischen, jedoch die Eigentumsverhältnisse garantierenden Staates. Angesichts d er wortreichen Bekundungen und vollmundigen Versprechungen der Liberalen in Festreden und Versammlungen, aber auch angesichts d er Prahlereien einzelner Beteiligter in den Kneipen, sa h zudem die nächtliche Realität in den Straßen und an den Sladttoren oftmals recht ernüchternd und kläglich aus. Die Euphorie über d en politischen Erfolg und der Stolz über den eigenen Statuszugewinn verflogen schnell während eines 24stündigen Wachdienstes. Alkohol im Dienst, schla fende Wachposten oder verwaiste Tore und Mauem gehörten zum Alltag - und waren im übrigen für die Gegner der Einrichtung w illkommene Argumen tationshilfen. Sowie der Reiz des Neuen verflogen war, ließen Elan und Einsatzbereitschaft rapide nach, was zunächst die Aufnahme von Männem aus unterbü rgerlichen Schichten beförderte, auf längere Sicht aber auf eine Auflösung d er Ordnungsformation hinauslief. Der anfängliche Vorteil von Bürgergarde oder Bürgerwehr, auf einer Mischung alteuropäischer und moderner Elemente zu
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ba sieren, beg ünstigte zugleich deren Zersetzungserscheinungen. Erstens zeig te sich, d aß die ambitionierte Regelung, alle Verpflichteten heranzu ziehen u nd eine Stellvertretung zu erschweren oder sogar zu verbieten, sich nicht mit der neuen, marktorientierten Wirtscha ftsweise vertrug. Sicherlich, d ie persönliche Dienstverpflichtung sollte den Bruch mit der alten traditionellen Pra xis anzeigen, d en Reihedienst mit klingender Münze abzugelten und Tagelöh ner für einen Wachd ienst zu d ingen. Dieses Verfahren paßte nicht in die neue Zeit, in d er Gemeingeist und Bürgersinn eine persönliche Teilnahme vorsahen. Doch übersah man, d aß es zum einen auch bereits im 18. Jahrhundert eine ganze Reihe guter Gründe d afü r gegeben hatte, daß etwa Kaufleute und Schmiedemeister nur mittelba r ihrer genossenscha ftli chen Verpflichtung nachgekommen wa ren. Zum anderen war der ökonomische Zwang im Zeitalter von Gewerbefreiheit u nd verschärftem Preis- und Konk urren zdruck derart gewachsen, daß wed er Arbeiter, d ie etwa in einer Fabrik ihren Taglohn verrichte ten, noch Hand wer ksmeister, Händler oder Apo theker ohne erhebliche wirtschaftli che EinbuBen ihren Dienstverp flichtungen entsprechen konnten. Zweitens erwies sich gerad e der so gewünsch te ö ffentliche Aufgabenbereich als fatal. Zwar erwuchsen aus der staa tlichen Aufwertung zunächst Prestige und Imagegewinn, d och resultierte hieraus ein enormer Arbeitseinsa tz. Die der Kommune vorgesetzten Behörden nutzten d ie Formatio nen ungeniert als O rdnunl:;s bO ttd und Hilfs p o lIzeitruppe aus. Die von den Obrig keiten d urchaus gewollte Überlastung sollte einer weiteren Politisierung der Bürger einen Riegel vorschieben. Tatsächlich haben d ie permanente Überford erung der Männer und d ie Belastung d er Formationen mit aufwendigen Ga misonstätig keiten wesentlich zum lmageverlust der Ordnungs formationen beigetragen. Dieser Imageverlust war dann oftm als so erheblich, d aß er sich selbst nach dem Abflauen d er Unruhen u nd also einem Rückga ng d er hohen Dienstfrequenz nich t mehr verbesserte. Das Di lemma komplett machten gezielte staatliche Eingriffe, d ie d ie Unab hängigkeit der Formationen schmälerten oder au f andere Weise die Attraktivität der Ein richtung minderten. Die Folge waren b reite Absetzbewegungen und Dienstver• weIgerungen. Die eigentlichen Sieger der Revolution, die Armeen, wurden nicht zuletzt nach d iesen Erfahrungen sukzessive ausgebaut
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und erhielten in Preußen-Deutschland in d en 1860er Jahren und 1871 eine verfassungsexempte Stellung, die maßgeblich an der Militarisierung von Staat und Gesellschaft im 19. Jahrhundert beteiligt war und den alten Eliten für weitere 50 Jahre bis 1918 bzw. soga r bis 1945 die Macht sichern sollte. Es wäre wohl etwas vermessen, das Ende der Volksbewaffnung bzw. der bürgerli chen Ordnungsformationen allein dafür verantwortlich zu machen, doch bildete diese Entwicklung sowohl ein profundes indiz wie auch ein nicht unwichtiges Ins trumentarium für eine spezifisch deutsch e EntwickJung, die sich von der in anderen westl ichen Lä ndern unterschied. Eine autarke Bürgermiliz nach amerikanischem, fran zösischem, holländischem oder Schweizer Muster hätte stattdessen wesentlich zur d emokratischen Durchdringung der Gesellscha ft im 19. Jahrhund ert beitragen können .
Anmerkungen 1 Dieser Beitrag fußt auf Ergebnissen meiner soeben abgeschlossenen und eingereichten Habilitationsschrift: Stadtgemeindlicher Republikanismus und »bewaffnete Macht d es Volkes... »Civile-o O rdnungsformationen und kommunale Leitbilder politischer Partizipation in Spätaufldärung. Vormärz und Revolution . 2 Kar! Friedrich H empel, Die Breslauer Revolution, bearb. von Norbert Conrads, in: Denkwürdige Jahre 1848 1851, Köln 1978, 5.3-94, hier
5.22 /. 3 Ebd., S. 86. 4 Zu Protesten in den l830er und 1840er Jahren vgl. etwa Manfred Gailus, Straße und Brot. Sozia ler Protest in den deutschen Staaten unter besonderer Berücksichtigung PreuBens, 1847- 1849, Göttingen 1990; oder Hans-Gerhard Husung, Protest und Repression im Vormärz. Norddeutschland zwischen Restauration und Revolution, Göttingen 1983. 5 Wie Hans·Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd . 2: Von der Reformära bis zu r indus triellen und politischen »Deu tschen Dop-pelrevolution~ 1815-1845/ 49, München 1987, S. 380 f. , resümiert, wurde das Militär im Vormärz »an den Rand der Enhvkklung .. gedruckt, so daß eine "erstaunliche militärische und militärpolitische Erstarrung« zu be0bachten sei. 6 Zur Sicherheitspolizei und Gendarmerie vgl. Albrecht Funk, Polizei und Rechtsstaat. Die Entwicklung des staatlichen Gewaltmonopols in PreuBen 18 4 ~ 1 914 , Frankfurt / M. 1986; RalphJessen, Polizei im Indus trierevier.
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Mode misierung und He rrschaftspra xis im westfälischen Ruhrgebiet 1 8 4~ 1 9 14, Göttingen 1991; sowie Peler Nitschke, Verbrechensbekämpfung und Verwaltung. Die En tstehung der Polizei in der Grafschaft Lippe, 1700-1814, Münste r 1990. 7 Programmatischen Charak te r erhalten im Vormärz ea rl von Rotteck, Über stehende Heere und Nationalmiliz, Freiburg/ Brsg. 1816; sowie earl Theodor Welcker, Heerwesen: Landwehrsystem, in: Staats-Lexikon, Bd . 3,
1836. 5. 589-607. Eine modeme Ideengeschichte der .. Volksbewaffnung .. muß erst noch geschrieben werden. In den militärgeschichtl khen Abhandlungen ebenso wie in den Arbeiten über FruhliberaLismu5 w ird dieses Pro-
blem wenn überhaupt nur am Rande erwähnt und nie in seiner semantischen Komplexität untersucht. VgL hier etwa exemplarisch Manfred Messerschmidt, Die politische Geschichte der preußisch-d e utschen Armee, in: Deutsche Militärgeschichte in sechs Bänden 164& 1939, München 1983, Bd . 2, Abschnitt Vier, S. 9- 380. Die meis ten Arbeiten zur .. Volksbewaffnung .. befanden sich o hnehin im Dunstkreis der .. Wiederwehrhaftmachung.. im Dritten Reich und sollten damals eine ideologische Schneise von den Befreiungskriegen bis zu r Wehrmacht ziehen. Vgl. hier etwa Reinhard Höhn, Verfassungskampf und Heereseid. Der Kampf des Bürge rtums um das Heer (1815-1850), Leipzig 1938; sow ie Ernst Rudolf H ube r, Heer und Staat in d e r deutschen Geschichte, Hambu rg 1938. 8 Nach wie vor fe hl t es an einer Gesamtdeutung des Libera lismus im 19. Jahrhundert, die vornehmlich d ie rea le sozialgeschichtliche Ebene mit jene r d e r Ideenwelten und Parteiprogramme verknüpft. Vor allem de r Frühlibera lismus als diffuses, kaum eingrenzbares Sammelbecken bestimmter Anschauungen und Überze ugungen, die s ich o ft genug widers prechen, is t ungenügend e rforscht . Die beste Gesamtdeuhmg weiterhin von Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfu rt / M. 1988. 9 Ko nkret zu r Rolle des Militärs in Vormä rz und Revolutio n vgl. Wolfram Siemann, Heere, Freischaren, Barrikaden. Oie bewaffnete Macht als InSlrulI\~nl der Innenpolitik in Europa 161 5- 1&17, in: Diele r Langewiesche (Hg .), Revo lution und Krieg. Zur Dynamik historischen Wandels seit dem 18.Jahrhundert, Paderhorn 1989, 5. 87-102; Bernhard Mann, Soldaten gegen Demokraten? Revolution, Gegenrevolutio n, Krieg 181S 1850, in: ebd ., 5.103-116; Jö rg Calließ, Militär in der Krise. Die bayerische Ar mee in der Revo lution 1848/ 49, Boppard 1976; sowie mit zeitgeb undenem marxistischen Blickw inkel Emil übermann, Soldaten, Bürger, Militariste n. Militär und Demokratie in Deutschland, Stuttgart 1958. VgJ. jetzt auch z u d iesem Problem e tliche Beiträge in Ute Frevert (Hg.), Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Ja hrh undert, Stuttgart 1997. 10 Zur Germanisierung und Relativierung des Freiheitsbildes im Zuge der preußischen Befreiungs kriegs-Ideologie vgl. Michael ]eisrnann, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstvers tändnis in Deutschla nd und Frankreich 1792- 19 18, Stuttgart 1992, S. 27102. 11 Frierlrich Wilhe lm Schulz, Das Rech t des deutschen Vo lkes und die Beschlüsse des Frankfurter Bundestages vom 28ten Juni 1832, in: Hartwig Brandt (Hg .), Res tauration und Frühliberal ism us 1814-1840, Darms tadt 1979, S. 418-423, hier S. 422 f.
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12 David Hansemann, Denkschrift für Friedrich Wilhelm IV. über Preußens Lage und Politik [18401, in: Joseph Hansen (Hg.), Rheinische Briefe und Akten zur Geschichte der politischen Bewegung 1~18S0, 2 Bde., Es· sen 1919, S. 11-81, hier S. 29. 13 Amold Ruge, Eine Selbstkritik des Liberalismus [18431, in: Hans Fenske (Hg.), Vormärz und Revolu tion 1840-1849, Darmstadt 11991 , S. 74-80, h ier S. 78 f. 14 Karl Mathy, Bericht über die Heppenheimer Tagung am 10. Oktober 1847, in: Fenske, Vormärz, S. 239-243, hier 5. 240 und 5. 242. 15 Weiter heißt es: _Der waffengeübte und bewaffnete Bürger kann allein den Staat schützen. Man gebe dem Volke Waffen und nehme von ihm die unerschwingliche Last, welche die stehenden Heere ihm aufe rlegen .. . Zitiert nach Ka rl übermann (Hg.), Flugblätter der Revolution. Eine Augblattsammlung zurCeschichteder Revolution von 1848/ 49 in Deutschla nd, Berlin (Ost) 1970, 5. 48. 16 Weitere Punkte waren Pressefreiheit. Schwurgerichte und ..sofortige Herstellung eines deutschen Parlaments.., vgl. Adresse der Mannhcimer Bürgerversammlung an die Kammer vom 27. Februar 1848, in: Fenske, Vormärz, S. 265. 17 Vgl . Adolf Walft Berliner Revolutions-Chronik. Darstellung der Berliner Bewegung im Jahre 1848 nach politischen, soda len und literarischen Beziehungen, 3 Bde., Berlin 1851 - 1854, Bd. I, S. 17. 18 Vgl. ebd ., Bd. I, S. 96. 19 Vgl. Ka rl August Vamhagen von Ense, Tagebücher, 12 Bde., Leipzig 11863-1869, Bd. IV, S. 287; Wolf!. Revolutions-Chronik, Bd. I, S. 88 f. 20 Vgl. hierzu mit detaillierten Schilderungen Amtliche Berichte und Miltheilungen über die Berliner Barrikadenkämpfe am 18. und 19. März. Von Augenzeugen und Mitkämpfern aus dem Bürger- und Soldatens tande, Berlin 1848; Kar! Ludwig von Prittwitz, Berlin 1848. Das Erinnerungswerk des Generalleutnants Kar! Ludwig von Prittwitz und andere Quellen zur Berliner Märzrevolution und zur Geschichte Preußens um d ie Mitte des 19. Jahrhunderts, bearb. und eingel. von Gerd Heinrich, Berlin 1985. Zu den militärischen Toten Klaus Schwarz, Oie Verluste der preußischen Armee in der Berliner Märzrevol ution 1848, in: Der Bär von Berlin 13 (1964), S. 50-67; zu den zivilen Opfern Jürgen Kuczynski/ Ruth Hoppe, Eine Berufs- bzw. auch Klassen· und Schichtenanalyse der Märzgefallenen 1848 in Beflin, in: Jah rbuch für Wirtschaftsgeschichte 1964/ IV, S. ~276. 21 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kultulbesitz (im folgenden GStA) Beflin, Rep. 77, Titel 244a, Nr. 1, f. 1. Wei ter hieB es: .. Oie Kosten der Bewaffnu ng trägt de r Staat... 22 Einer der ha uptverantwortlichen I.nitia toren beim ersten Au fbau der Bürgerformationen. der Stadtrat Kar! Philipp Nobiling. machte dies in einer .. Nachschrift .. vom 17.4.1848 deutlich: _Die erste Organisation der Bürgerwehr woUte durchaus nicht eine allgemeine VoLksbewaffnung. im Gegentheil das ganze sollte den Charakter eines Communal Instituts tragen .. ; Brandenburgisches Landeshauptarchiv (im folgenden BLHA) Potsdam. Pr. Br. Rep. 37 Boitzenburg. Nr. 4029, f. I-17. Hauptaufgabe sei, so Nobiling weiter, aUein die Ordnungswahrung: .. Es soUte darauf ankommen, der Ar-
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mee den unerfreulichen Beruf abzunehmen, fortwährend und von vornherein die Exekution Polizei zu übernehmen .. , 23 So hieß es denn auch in der Verordnung vom 19.3.1848 weiler: .. Oie Schützengilde wird auf der Stelle einberufen und außerdem eine angemessene Zahl von Bürgern sogleich annirt .. ; GStA Beflin, Rep. 77, Titel 244a, Nr. 1, f. 1. Vgl . außerdem Wolff, Revolutions-Chronik, Bd. 1, 5.333. Wie Nobiling notierte, übte die Gilde anfangs »einen sehr guten Einfluß.. auf die
gesamte Bürgerwehr aus; BLHA Potsdam, Pr. Sr. Rep.37 Boitzcnburg, N r. 4029, f. 1- 17. 24 Wie Oberbürgermeister Kraus nick bemerkte, dürfe sich eine " Volksbewaffnung .... überhaupt nur auf die eigentlichen Bürger und die sonst zuverlässigen Bürger erstrecken. nicht aber aul die ungebundene Masse der besitzlosen untersten Klassen ausdehnen«; vgl. Prittwitz, Berlin, S. 328. Wie Nobiling schrieb, haUe man am 22.3.1848 im Schloß »eine Anzahl in ihren Aemtern oder bürgerlichen Verhältnissen ausgezeichneter Männer, fast alle mit dem eisernen Kreuz geschmückt, versammelt und s ie ersucht, s ich an die Spitze der formirten 12 Abtheilungen zu stellen ..; BLHA Potsdam, Pr. Br. Rep. 37 Boitzenburg, Nr. 4029, f. 1-17. 25 In diesem Sinne äußerte s ich Nobiling dazu einige Wochen später: ,.Mit voller Absicht war nicht gesagt, wie weit sich d ie Bewaffnung er· strecken sollte, wer dazu heranzuziehen, wer auszuschließen sei«. BLHA Potsdam, Pr. Br. Rep. 37 Boitzenburg, NT. 4029, f. 1- 17. 26 Diese Doppelsicht, einmal auf die zurückliegende Entwicklung, einmal auf die kommende n Ereignisse, hat dazu beigetragen, daß die neue O rdnungsrnacht in de r Forschung konträr bewertet wurde. Charakterisiert s ie Funk, Polizei, S. 62, als »radikale Fronts tellung zu den bisherigen Organen .. , so urteilt demgegenüber Rüdiger Hac htmann, Berlin 1848. Eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte de r Revolution, Bonn 1997, S. 270, die Bürgerwehr sei »im Gegenteil (... J zwecks Dämpfung de r Revolution ins Leben gerufen worden«. 27 Zl.Inticlut naHe: Ina.n ab AnfUhn.: r mit d.em Polizc! präsid.enten von
Minutoli und dem Landwehrgeneral von Aschoff der Regierung genehme Personen benannt. Vgl. Bericht von Nobiling vom 17.4.1848 in: BLHA Potsdam, Pr. Br. Rep. 37 Boitzenburg. Nr. 4029, f. 1- 17. Von Aschoff habe, so die Schilderung Nobilings, auf de r entscheidenden Versammlung der einzelnen Bürgerwehroffiziere darauf gedrungen, »sich selbst der Versammlung a ls Kandidat für das Kommando vorzustellen, indem dies der Wunsch Sr. Majestät des Köni gs sei«. Dis kutiert wurde überdies, einen Prinzen als Chef zu benennen, vo r allem aber ..einen praktischen Soldaten an die Spitze der Bürgerwehr zu s tellen«. 28 Am 22.3.1848 haUen sich lediglich 2.400 Personen im Schloß versammelt. Erst Anfang April stieg die Anzahl s prunghaft auf 15.000, 20.000 und schließlich annähe rnd 30.000 Mitglieder an. 29 Ein Exemplar findet sich etwa in SLHA Potsdam, Pr. Sr. Rep.1, Nr. I205. 30 Gesetzsammlung für die Königlich Preußischen Staaten 1848: N T. 17 (5. 111 ) (Nr. 2959) Verordnung über Befugnisse der Bürgerwe hr vom 19. April 1848. Des weiteren hieß es: "Die Bürgerwehren s ind dahe r insbesondere befugt, von ihren Waffen Gebrauch z u machen, wenn s ie bei ihren
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Dienstleistungen angegriffen oder mit einem Angriff gefährlich bedroht werden oder Widerstand durch Thätlichkeit oder gefährliche Drohung stattfindet. Eben so sind sie befugt, bei einem Auflauf von den Waffen Gebrauch zu machen, wenn nach zweimaliger Aufforderung des Befehlshabers die versammelte Menge nicht auseinander geht... Abgedruckt auch in Ernst Rudolf Huber (H g.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte. Bd. I: Deutsche Verfassungsdokumente 1803-1850, Stuttga rt )1978, S. 452. 31 Vgl. Ingo Matema / Wolfgang Ribbe (Hg.), Brandenburgische Geschichte, Berlin 1995, S. 477-48 1. 32 Die Grundungsinitiative erhielt der Landrat, der gemeinsam mit der Orts-Polizeibehörde einen solchen Verein ,.aus zuverlässigen, wohlgesinnten und wehrhaften Ortseinwolmem.. ins Leben rufen durfte. Ausdrücklich sollten ..Studenten und Schüler ebenso, wie die vom täglichen Erwerbe lebende Volksklasse davon ausgeschlossen« bleiben. Amts=Blatt der Königlichen Regierung. 1830, Stück 42, 15.10.1830, NT. ISO: S. 228-229. 33 Unterzeichner war das erst am 25.6. berufene Koalitionskabinett unter dem Ministerpräsidenten Rudolf von Auerswald und dem liberalen AuBen- und Finanzminister David Hansemann. 34 .. Entwurf eines Gesetzes über die Errichtung der Bürgerwehr mit den durch die Central-Abtheilung in Vorschlag gebrachten Abänderungen ... GStA Berlin, Rep. 77, 1iteI244a, Nr. 1, f. 98-107. 3S Entwurf eines Gesetzes, § 1. GStA Berlin, Rep.77, Titel 244a, NT. 1, f. 39-48, hier f.39. Im »Entwurf einer vorläufigen Verordnung« vom April wurde ausschließlich der hilfspolizeiliche Aspekt betont und zum Zweck bestimmt, »die 5chutz.männer in ihren Dienstverrichtungen zu unterstützen und an dem zur Aufrechthaltung der öffentlichen Sicherheit anzuordnenden Wachdienste Theil zu nehmen« . GStA Berlin, Rep. 77, Titel 244a, Nr. 1, f. 49-59, hier f. 49 (Artikel 1). 36 [Gegen-]Entwu.rf eines Gesetzes; GStA Serlin, Rep. 77, Titel 244a, Nr. 1, f. 98-107, hier f. 98 (§ 1). Zusammen mit dem »Gegenentwurf« erstattete die parlamentarische Kommission am 17.8. einen neunundzwanzigseiligen Bericht; ebd., f. 108-122. 37 Der »Gegenentwurf« sah lediglich einige Milderungen vor. So müßten »wichtige Gründe« vorliegen und seien diese in der »Auflösungs=Ordre .. auch anzugeben. Auch sollte nach der Auflösung ein Wiederaufbau n icht erst nach sechs, sondem bereits nach drei Monalen erfolgen; ebd., § 3. 38 Gesetzentwurf, § 4 u. § 6. Im »Gegenentwurf« wurde lediglich wiederum »unler Angabe der Grunde.. gefordert (§ 4). 39 Durch die Verschiebung eines Substantivs erhielt der Eid des ,.Gegenentwurfes.. einen anderen Zungenschlag. Während d.ie Regierungsko mmission ..Treue und Gehorsam dem Könige, de r Verfassung und den Gesetzen des Königreiches .. allen werdenden Bürgerwehrmännem in den Mund legen wollte, lautete der ,.Gegeneid«: »Ich gelobe Treue dem Könige und Gehorsam der Verfassung und den Gesetzen des Königreichs .. ; jeweils § 7. 40 Typisch hier etwa Friedrich Wilhelm Alexander Held, Bürgerwehrgesetz=Entwurf bei Gaslicht betrachtet, in: Locomotive Nr. 87 vom 18.7.1848.
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41 Ebd. Diese Kritik wurde so zugespitzt: .. Wenn also die Regierung die Absicht hat, durch irgend einen Staatsstreich die Verfassung zu vernichten; so b raucht sie nur kurz vo rher die Bürgerwehr der gröBeren Städte und besonders in de r Hauptstadt aufzulösen". 42 Ebd. Daß Held nicht ohne Rückendeckung argumentierte, bewies das Ergebnis der Bürgerwehrchefwahl Anfang August: Immerhin fast 2.700 Bürgerwehnnänner (23.3 %) votierten fü r Held. 43 Komitee des patriotischen Vereins in einem Schreiben an das lnnenministerium vom 1.9.1848; GStA Berlin, Rep. n , TItel 244a, Nr. 1, f. 133 1. 44 Zudem existierten.. teilweise bereits seit den Märztagen, sogenannte freie oder fliegende Corps, die nur locker mit der Bürgerwehr assoziiert waren und sich unter anderem aus dem Handwerkerverein, dem Arbeiterverein und dem Handlungsgehilfenverein zusammensetzten; vgl. Hachtmann, Be.rlin, S. 185-189; sowie den Bericht des Polizeipräsidenten an das Innenministeri um vom 23.4.1850; GStA Berlin, Rep. n , TItel 244a, NT. I, f. 273-285. 45 Vgl. etwa für Wien Wolfgang Häusler, Von der Massenarmut zur Arbeiterbewegung. Demokratie und soziale Frage in de r Wiener Revol ution von 1848, Wien 1979, bes. S. 223-240; sowie für Paris Mark Traugott, Armies of the POOT. Detenninants of Working..class Participation in the Parisian Insu rrec tion of lune 1848, Princeton 1985, bes. S. 34 82. 46 Dieser Vorfall führte nicht nur in Berlin zu umfangreichen Untersuchungen vor einer Kommission der Bürgerwehr oder vor dem Kriegs- und Kriminalgerichten, sondern wurde auch in den Provinzen als Fanal wahrgenommen. Eine unmittelbare Folge war ein Kommandowechsel der Bürgerwehr. Vgl. etwa Wolff, Revolutions..chronik, Bd. II1, S. 25 1-376. 47 Im folgenden GStA Berlin, Rep. n, TItel 244a, Nr. 1, f. 21 - 37. 48 "Als in den Märztagen de r Drang nach politischer Freiheit sich in allen Theilen des Vaterlandes kund gab, war es insbesondere auch die allgemeine Volksbewaffnung, für welche lebhafte Wünsche ausgesprochen wurden. Es lag denselben d ie Idee zum Grunde, daS das Volk in de r Lage sein müsse, die Freiheit, das lange vorenthaltene, endlich errungene Gut, gegen jeden Angriff zu vertheidigen. Der Angriff, gegen welchen das Volk gerüstet sein wollte, wurde natürlich von der Seite erwartet, von welcher die Freiheit vorenthalten sei, von welcher man die Geneigtheit voraussetzte, wieder zu nehmen, was nur mit Widerstreben gegeben worden sei; m it einem Worte, man wollte gerüstet sein gegen die Bestrebungen der Regierung. d ie verfassu ngsmäßige Freiheit zu zerstören und die Herrschaft des Absolutismus wieder an ihre Stelle zu setzen. Mochte ein solches Mißtrauen mehr, mochte es weniger gerechtfertigt sein, in dem Momente des Überganges von dem absoluten Königthum zu einer konstitutionellen Regierungsfo rm ist es jedenfalls erklärbar... 49 .. Nicht minder gewiß aber ist es, daß ein Gesetz, welches eine bewaffnete Macht mit der Bestimmung organisieren wollte, die verfassungsmäßige Freiheit gegen Angriffe der Regierung selbst zu schützen, der Widerspruch gegen die Idee des Staates in sich schließen würde. Der Wille des Volkes ist es, welcher in einem freien Lande herrschen soll. Die republikaniscpe und die konstitutionelle Regierungsform weichen nun in den Mitteln voneinander ab, den wahren Willen des Kernes der Nation zu erfahren
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und demselben Geltung zu verschaffen. Unter einer konstitutionellen Regierungsform ist es ein Axiom, daß der Gesammtwille sich kund gebe durch d ie Übereinstimmung des Königs und des oder de r anderen Zweige de r gesetzgebenden Gewalt. Die Bürgschaft dafü r, daß d er Ausdruck d es Gesammtwillens nicht auf die Dauer hinausgeschoben - von dem Veto kein unverständiger Gebrauch gemacht - und daß der ausgesprochene Wille vol1:rogen werde, liegt in der Verantwortlichkeit der Minister, noch mehr in der Unmöglichkeit, daß ein Ministerium am Ruder bleibe, welches die Majorität in den Kammern weder für sich hat, noch durch eine Auflösung derselben erlangen kann. So lange aber die Kammern und das Ministerium in d er Gesetzgebung zusammenwirken, so lange die Kammern dem Ministerium ihr Vertrauen nicht entziehen, muß das, was von ihm ausgeht, als verfassungsmäßig angesehen werden... 50 Daß eine solche Befürchtung nicht aus der Luft gegriffen war, offenbarte die Haltung de r radikalen Partei, die als HaupU.weck der Bürgerwehr die Verteidigung der Verfassung verstand: .. Demgemäß würde also die Steilung der Bürgerwehr vorzugsweise eine gegen die Regierung gerichtete sein müssen; die Bürgerwehr kaM vorzugsweise nu r als Wache des Volkes (Nationalgarde) gegenüber der Regierung betrachtet werden .. ; Held, Bürgerwehrgesclz::: Entwurf. 51 § 2 und § 8; in beiden Entwürfen bestand der gleiche Wortlaut. Es folgten die üblichen Befreiungsregelungen für Richter, Bürgenneister, Mi· nister, Geistliche, Ortsschulzen, Gendannen und alle sonstigen verbeamteten Personen. 52 §§ 14-1 6 (Entwurf). Neben dieser . Hü llswehr .. wurden alle anderen Männer in der sogenannten ersten Dienstliste gefaßt. 53 §§ 42-52 (Entwurf) und §§ 44-54 (Gegenentwurf). Auch hier ergaben sich nur wenige Differenzen, so etwa, daß alle sechs (Entwurf) bzw. alle drei Jahre (..Gegenentwu rf.. ) neu zu wählen sei. 54 Vgl. etwa d ie Beiträge in der National-Zeitung Nr. 102 (15.7.) und N r. 103 (16.7.) sowie die Eingabe des konservativen patriotischen Vereins an das Innenministerium vom 1.9.; G5tA Berlin, Rep. 71, 1iteI244a, Nr. l, r 133f. 55 Vgl. HachtmaM, Berlin, 5. 447 f. 56 1m schlesischen Schweidnitz hatte Militär auf Bürgerweh r geschos.,n. 57 Vgl. Ernst Rudolf H uber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd. 2: Der Kampf um Einheit und Freiheit 1830 bis 1850, Stuttgart 31988, 5. 746-749 (Zitat S. 745). 58 BLHA Potsdam, Pr.Br. Rep. 2 A I XII 9, Nr. 2498, f. 8. 59 Stenographische Berichte, m, 74. Sitzung vom 13. 10.1848,5. 1533 ff. 60 Stenographische Berichte, lll, 75. Sitzung vom 14.10.1848, S. 156 1. Bemängelt wurde in diesem Votum, daß die Bürgerwehr keiner wirklichen Volksbewaffnung gleichkomme, daß man keine .. politische Institution zum Schutz der Freiheit", sondern eine .. bewaffnete Polizeirnacht.. geschaffen habe, und daß d ie freie Wahl der Anführer beeinträchtigt worden sei. 61 Gesetzsammlung für d ie Königlich PreuBischen Staaten 1848; Nr. 47 (Nr. 3047) (5. 289-319) Gesetz über die Errichtung de r Bürgerwehr vom 17.10.1848; sowie (Nr. 3048) (S.31O) Verord nung. betreffend die Ausfiih·
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rung des Gesetzes über die Errichtung der Bürgerwehr vom 17.10.1848. Zur unmittelbaren Reaktion auf das Gesetz vgl. für BerUn Hachtmann, Berlin, 5. 441-443.
62 GStA Berlin, Rep. 77, 1iteI244a, NT. 2f. 83 f. 63 Das Pro Memoria datiert vom 15.2.1849; GStA Beflin, Rep. 77, litel 244a, Ne. 2 f. 90-94. 64 Gesetzsamml ung für die Königlich Preußischen Staaten 1849; N ... 37 (Ne. 3181) Gesetz, betreffend die Aussetzung der Errichtung und Umformung der Bürgerwehren vom 24.10.1849 (5. 402).
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Die Universitäten in der Revolution 1848/49 Revolution ohne UniversitätUniversität ohne Revolution?
In der Pfingstwoche des Jahres 1848 strömten a us allen deutschen Landen studentische Delegationen nach Eisenach, um erneut, w ie schon 1817, auf einem Wartburgfest für ein politisch erneuertes einig Vaterland einzutreten und zugleich die deutsche Universität an Haupt und Gl iedern zu reformieren. Begeistert nahmen die Versammelten ein von dem Berliner Studenten Reinert entworfenes Manifest an die deutschen Studenten an, in dem es hieß: »Commilitonen! Die Revolutionen dieses Jahres haben die Verhältnisse aller Stände bis in's Tiefste erschüttert, auch die des unsrigen; die Revolution ist die Mutter der studentischen Reform «. Und wenig später: »Was uns leitete bei allen 8erathungen, [... ] es ist der große Gedanke, der die ganze politische Welt bewegt: ein freies, einiges Deutschland .«1 Bei diesem einen Treffen der Studenten blieb es nicht; in den beiden Revolutionsjahren fanden insgesamt fünf Kongresse statt, auf denen die universitas magistrorum et scholarium, freilich getrennt nach Lehrenden und Lernenden, um Universitätsreform in einer neu zu gestaltenden politischen Ordnung rang und beides nicht nur aufeinander bezog, sondern oft genug aus den Leitideen einer vom Einheitspa thos gespeisten Hochschulreform die Maximen für die politische und soziale Gestaltung des Gemeinwesens, der Nation bzw. der Einzelstaa ten herleitete. Ende September trafen sich die Studenten erneut auf der Wartburg, um eine Petition an die Nationalversammlung zur Umgestaltung der Universitäten zu beraten. 2 Etwa gleichzeitig kamen in Jena auf Einladung des Sena ts Professoren und Dozenten zu einem Kongreß zusammen.) Einen sehr anderen Charakter besaß Ende 1849 eine Tagung preußischer Professoren in Berlin, zu der das preußische Unterrichtsministeriu m eingeladen hatte;4 einen wiederum sehr anderen Charakter ein von jun-
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gen Dozenten im August 1848 in Frankfurt am Main organisierter Kongref.t der aus junghegelianischen Impulsen heraus die Gründung einer freien deutschen Akademie erörterte, gewissermaßen als altemative Herausforderung zur bestehenden Universität.s In der kompromißlos konsequenten Zuspitzung ihrer theoretisch begründeten Vorstellungen für eine freie Akademie ließen sich die in frankfurt um Arnold Ruge gescharten Dozenten keinesfalls von den Studenten auf der Wartburg übertreffen, auch nicht von deren die Pfingstversarnmlung prägenden Wortführern, welche fast durchweg dem ProgTeS angehörten, also jenen kleinen Studentengruppen, die schon vor Beginn des »tollen Jahres« aus linkshegelianisch-philosophischem Gedankengut Grundsätze für eine widerspruchsfrei veranker· te allgemeine Hochschule in einer allgemeinen Bürgergesell· schaft entwickelt hatten . In der Regel studierten s ie Jurispru· denz, nicht selten literarisch beeinflußt von dem scharfsinni· gen Radikalismus der in Frankfurt tagenden Dozenten. So verwundert nicht, daß 120 Jahre später im Gefolge der Studen· ten· (und Assistenten·)Bewegung von 1968 ein his tori sch ver· gewissernder Rückbezug auf 1848/ 49 als Legitimationsfolie ebenso wie als Nachweis kontextualer Einzigartigkeit ins Spiel gebracht wurde.€> Gegenüber derartigen ideologiekritischen Ansätzen ver· merkten die Zeitgenossen 1848 einen vermeintlichen Z usam· menhang zwischen radikalen 'limdenzen unter jungen Dozen· ten und ihrem sozial ungeschützten Status als Privatdozenten. Sie waren zur Lehre befugt und ergänzten, oft genug als inno· vativer Sauerteig, das universitäre Lehrangebot, freilich ohne Alimentation und damit nicht der Staatskasse zur Last fallend . Die auf bloBe Hoffnung gegründete Privatdozentur, also auf ein in den Sternen stehendes künftiges Ordinariat, e tabli erte im deutschen Universitätssystem des 19. Jahrhunderts eine nicht öffentlich abgedeckte, sondern privat, über die Familie oder über Nebenerwerb zu finanzierende »Risikopassage((, deren gemäß Max Weber prinzipiell plutokratischer Charakter im Fal· le fehlender familiärer Unterstützung zu einem Sich· Durch· schlagen mutierte? Wissenschaft als Beruf meinte im deutschen Fall in erster Linie ein motivierendes Arbeitsethos, nicht eine laufbahnkanalisierende Versorgung. So heißt es etwa in einem Spottgedicht um 1848: »Privatdozent ist krank und bleich/ an
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Hunger und an Durst nur reich / I... ) weil ihn nicht zahlen tut der Staat / wird er ein roter Demokrat. «8 Die Revolutionsjahre 1848/ 49 wühlten Professoren und Studenten auf, sie schürten Hoffnungen und nährten gelegentlich auch Ängste; zahlreiche Protagonisten der fünf zentralen Versammlungen verstanden sich als Vordenker für eine Neuordnung der einen Nation gemäß einer als Laboratorium der Modeme gedachten Hochschulreform. Andere changierten zwischen gemäßigter Detailreform und Bewahrung. Wer sich als Vordenker nationaler Schicksalsfragen empfand, wurde bald schmerzlich belehrt: Jene fünf Kundgebungen blieben reizvollmarkante Farbtupfer in den revolutionären Unruhen, die deutsche Universitätslandschaft erwies sich als ein vielgestaltiger Fleckerlteppich, der markante regionale und lokale Differenzen widerspiegelt und eben darum ohne schlagkräftigen Einfluß auf die jeweiligen Handlungsebenen blieb.9 Mochten sich viele Hochschulangehö rige auch vor Ort und in den zentralen Hochschulversammlungen als Vordenker nationaler Einheitsgestaltung durch Universitätsreform empfinden, so blieb doch beherrschend die durch Statusinteressen und lokale bzw. regionale Besonderheiten charakterisierte Zersplitterung der deutschen Hochschullandschaft. Auf Meinungsführerschaft bedachte Aktion versandete durchweg in nachvollziehender Reaktion. Es blieb der Frankfurter Nationalversammlung als gesamtstaatlicher Handlungsebene vorbehalten, mit dem Mehrheitsentscheid zum Entwurf von § 152 der Verfassung: »Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei « die Minimalessenz der Debatten rechtsförmig zu fi xieren; in der nachfolgenden Reaktionsära fand diese Formulierung Eingang in die Verfa ssungen Preußens und ÖSterreichs und wurde in subtil diskutierten Variationen dann in die Weimarer Reichsverfassung und in das Bonner Grundgesetz aufgenommen .1O Sicherlich haben prominente Hochschullehrer, wie etwa mit Dahlmann, Grimm und Gervinus, drei der »Göttinger Sieben« von 1837, das intellektuelle Format, die argumentativen Muster der Frankfurter Nationalversammlung mitgeprägt, doch führt eine solche Sichtweise von unserem Thema fort. Zwar wurde die später gängige Formel vom »Professorenparlament« schon 1848 vorgezeichnet, wenn etwa im Herbst dieses Jahres Georg Herwegh in einem bitteren Gedicht textet: »Zu Frankfurt an dem Main / Die Wäsche wird nicht rein;/ Sie bürsten und sie
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bürsten,! Die Fürsten bleiben Fürsten,! Die Mohren bleiben Mohren / Trotz aller Professoren / Im ParIa- Parla- Parlament / Das Reden nimmt ke in End!«11 Doch zum einen ist mit Blick auf 49 Hochschullehrer unter insgesamt 812 Abgeordneten die Le-
gende vom »Pro fessorenparlament{( längst aufgegeben worden, w ird mit Blick auf die berufliche Stellung von einem Be-
amtenparlament, mit Blick auf die vorherrschende berufliche Ausbildung von einem Juristenparlament (60 %) gesprochen. 12
Zum anderen gelangt so d er korporative O rt Universität als Handlungsebene nicht ins Visier, u nd eben hierum geht es in diesem Bei trag. Doch verlohnt eine solche Fragestellung überhaupt, verha r-
ren wir bei ei nem randständigen Thema ? Die nach wie vor ma ßgeblic he Revolutions-Monographie von Wolfram Siemann vermag in ihrer sehr d ifferenzie rten Ana lyse der unterschiedlichen Handlungsebenen auf die Un iversitäten gänzlich zu verzichten ; auch eine dichte Fallstudie zur bayerischen Residenz(und Universitä ts)s tadt München verme rkt eher am Rande s tuden tische Unruhen sowie zauderndes Taktieren im akademischen Senat und bei einzelnen Professoren. ll Ähnlich e rnüchternd wirkt der Befund in d en heiden herausragenden neueren Gesa mtdarste llungen deutscher Geschichte im 19. Jahrhundert: Bei Thom as Nipperdey kommt im Universitätskapitel keine Revolution vor, im Revolutionskapitel keine Universi tät. U Hans-U lrich Wehler spart im U nive rsi tä ts kapitel gleichermaßen die Revolutio n aus und erwähn t im voluminösen Revolutio ns teil Studenten und Professoren lediglich in e inem Absatz. IS Eine ähnliche Einschätzung findet sich - mit einer Ausnahme - in einigen neueren Gesamtdars tell un gen z ur (d eutschen) Universitätsgeschichte, in d enen die revolutionären Un ruhen ] 848/ 49 nicht eigens vermerkt werden. 16 Anders s ieh t es aus kritisch geschä rfter US-amerikanischer Distanz aus, wenn gemä ß der leitenden O rientierung am Beziehungsgenecht von Staat, Gesellschaft und H ochschule Wechselwirkungen zwisch en H ochschulrefo rmansätzen und natio naler Neugestaltung 1848 / 49 unte rsucht oder in einer d eu tschen Studentengeschichte das Revolutionsgeschehen gemäß der Leitthese »vom nationalen Liberalismus zum illiberalen Natio na lismus« übe rprüft wird Y So vermag es vielleicht doch der Mühe wert zu sei n, in diesem d er Märzrevolution geW idme ten Band auch die
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Universitäten zu mustern, zu denen eine umfangreiche Speziallileratur vorliegt. l !
Universitätsrejormen - die Hochschule in BiirgergeselIscllaft Imd Staat Die zentrale Frage lautete: wie ließ sich der revolution äre Geist de r nationalen Bewegung für Unive rsitäts reformen nutzen, über deren Notwendigkeit wie auch Stoßrichtung erst noch eine Verständigung zu erfolgen hatte und die bei allem nationalen, auch die Universitäten ergreifenden Einheitspathos doch mit den jeweils zuständigen einzelstaatlichen Regierungen auszuhandeln waren? Taugte der revolutionäre Elan überhaupt für Uni versitätsreformen oder aber eröffnete sich gar die Chance, von der Korporation und ihren Gliedern aus eine geistige Speersp itze der gesamtnationalen Erneuerung zu formieren? Nicht zufällig wurde immer wieder der Geist d er Urburschenschaft beschworen, erinnerte man zum anderen an die von Berlin 1810 ausstrahlende kulturnationale Umformung der deutschen Universitäten, an die mit Berlin verknüpften Pläne einer nationalen Bildungsanstalt sowie an parallele Ideen einer Nationalerziehung.19 Der Grundgedanke, daß eine altehrwürdige Insti tution wie die Universität nur als eine universitas semper reformanda vor Verkrustung und Erstarrung geschützt werden könne, war gerade dem 19. Jahrhundert nicht fremd , das mit d er reformierten Forschungs universität die ältere Arbeitsteilung zwischen wissenserzeugender Gelehrtensozietä t und wissenssichernder Lehranstalt überwunden und sich einem stürmischen Fortschreiten in den Einzelwissenschaften geöffnet hatte, welches auch deren (im deutschen Fall) nun fast ganz in den Universitäten aufgehobene Verfassungsgestalt nicht unberührt lassen konnte. So begleitet in Wellen unterschiedlicher Dichte eine Debatte um Reformerfordernisse dieser Reformuniversität das gesamte Jahrhundert und beschränkte sich keineswegs au f Phasen politischer Unruhe und Umgestaltung .20 Bereits 1909 musterte der Berliner Kirchen- und Staa tsrechtslehrer Wilhelm Kahl etwa hundert seit 181gerschienene Schriften über Universitätsreformen. 21 Nach frühen Einzelschriften und der
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dann folgenden Siedehitze der Revolutionsjahre 1848/49 konstatiert Kahl zunächs t Ermüdungserscheinungen, dann seit den späten fünfziger Jahren Jahren eine ),Einkehr von der Äußerlichkeit zur Innerlichkeit(, während wiederum nach der Reichsgründung und verstärkt seit den achtziger Jahren Jahren »eine Strömung vom Innerlichen zum Äußerlichen, ein Reformzug vom Wissenschaftlichen zum Organisatorischen, vom geistigen In halt zur rechtlichen Form« zu beobachten sei.22 Ein genauerer Blick auf jene von Kahl für die späten fünfziger Jahren Jahre vermerkte Wende mag von Nutzen sein. Ein Jahrzehnt nach der gescheiterten Revolution, gegen Ende der Reaktionsära, nahm Rudolf Heyrn 1858 eine ungezeichnete scharfs innige Analyse in seine »PreuBischen Jahrbücher « auf über »Die deu tschen Universitäten im 19. Jahrhundert(. Der nach wie vor lesenswerte historische Überblick läBt in dreifacher Hinsicht aufhorchen, indem er Spannun gen der universitären Korporation in einer rechtsstaatlich-liberalen Bürgergesellschaft thematisiert, reale Schranken der Idee akademischer Lehr- und Lemfreiheit aufzeigt sowie eine dem Ideal geistiger Aristokratie zuw iderlaufende Nivellierung des Wissens im Gefolge wissenschaftlicher Spezialisierung beobachtet. So heißt es zu den Auswirkungen der Reaktion a uf die Universitäten: »Die Jahrzehnte lange Bevormundung der akademischen Sena te, die Beschränkungen des Vocationsrechtes d er Facultäten, Beförderungen einer mit dem Bewußtsein der Nation und der kirchlichen Gem einde im Widerspruch stehenden politischen und religiösen Orthodoxie und die Verkümmerung des Privatdocenturns haben einen nachtheiligen Rückschlag a uf den Charakter unserer jüngeren Gelehrten inner- und auBerhalb der Facultäten geübt. «23 Wie läBt sich der vom Autor beschworene und von bloß formalen, altererbten Äu Berlichkeiten d er akad emischen Korporation wie Talare und Titel abzugrenzende ~~co rporative Geist« in der von ihm geforderten liberalen Bürgergesellschaft bewahren, wenn der Sa tz gilt: "Keine Aristokratie ist natürlicher als die der Gelehrten«? Bitter vermerkt er, »daB grade diejenigen, welche sonst, so oft es sich um die Forderung bürgerlicher Rech tsgleichheit im Staate handelt, für ständische Gliederung und »organische« Einrichtungen schwärm en , der corporativen Selbständigkeit der Un iversitä ten au s se rviler Fügsamkeit gegen d en Ministerialwillen am meisten vergeben haben «.2~ Und schlieB lich malt der Autor in einem zweifachen
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Niedergangsszenario die Erschütterung d es Bollwerks universitäre Korporation aus: »Zwei Merkmale der Deflorescenz d es akademischen Körpers treten hervor: ein inneres und ein äußeres. jenes: in d er fortschreitenden Isolirung der Facultäten durch die überwiegende Richtung auf das Empirische in d er Wissenschaft; dieses, das äußere, zum Theil nur d ie Folge des inneren, in der fortschreitenden Nivellierung des akademischen Bürgerthums (wei teren Sinnes) mit der allgemeinen durch die Abschwächung seiner organisirend en Kraft, und zwa r der Form nach durch die Lockerung dercorporativen Bande, sowie durch das Aufgeben nach Außen schützender Exemtionen; dem Gehalte nach durch d ie unverkennbare Tendenz zu r falschen Popularisirung ihres Besitzes nicht nur, sondern auch [... ) zu einer Art Communismus im Wissen.«25 Um es zuzuspi tzen: eine korporativ verfaßte Geistesaristokratie beginnt sich a ufzulösen; mit d er Preisgabe d er auch inneruniversitär umstri ttenen Sondergerichtsbarkeit werden Schutzmechanismen gegen Willkür und Zugriff von außen abgebaut; ein sich durchsetzender Wissenschaftsgeist einzelfachlicher Positivierung gräbt d er Idee der Universität von innen heraus das Wasser ab. So argumentiert nach einem Jahrzehnt der Reaktion und der Sprachlosig keit ein Anwalt liberaler Bürgergesellschaft, der sich Rechenschaft ablegt über das letzte halbe Jahrhundert deutscher Universitätsgeschichte. Ein Streiflicht nur, gewiß, aber d och ein markantes. Jene, die 1849 als Unterlegene wichen, verarbeiten ihre Erfahrungen in einem neuen politischen wie wissenschaftlichen Umfeld . Wir werden darauf zurückkommen. Wichtiger is t im Moment, wie genau vieles von dem auf den Punkt geb racht wird, was d as Thema »Die Universitäten in der Revolution von 1848/ 49( so sperrig, so widersprüchlich macht. Denn jene Apotheose der universitären Korporation als einer Aristokratie d es Wissens und der Gelehrten verweist auf eine in den Reformen zu Beginn des Jahrhunderts bereits selbst angelegte Konfliktlage, auf eine Überforderung, die Menschentum mit Wissenscha ftsgeist koppelt, Orientierungsfunkti onen einer auf wissenschaftliches Ethos gegründeten Aristokratie in rasch sich wandelnden modernen Gesellschaften einfordert. Um nur zwei Beispiele herausz ugreifen: In einem vielbeachteten (und bezeichnenderweise vor der Gesellschaft für Hochschulpädagogik gehaltenen ) Vortrag über »Wandlungen im
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Wesen d er Universität seit 100 Jahren« forderte 1913 der Philosoph, Päd agoge und Bildungshistoriker Eduard Spranger, bei aUen notwendigen Anpassungsleistungen an moderne Erfordernisse nicht d ie eigentliche Aufgabe der Uni versität a us d en Augen zu verlie ren. Für Spranger hieB das: »Totalweltan schau ung«.26 In anderer Akzentsetzung, aber nicht minder verrä terisch, charakterisierte zwölf Jahre später der Orientalist und zeitweilige preußische Kultusmlnister ea rl Heinrich Becker, der gegen hefti ge universitäre Widerstände die Organisa tion, Sozialgestalt und Lehrinhalte der Hochschulen für d ie Anford erungen d es demokra tisch en Parteienstaa tes um zu rüsten suchte, die Universitäten ohne jegliche Ironie als ),Gralsburgen reiner Wissenschaft". 27 Mit d iesen Hinweisen gela ngen einige Grundprobleme der im frühen 19. }ahrhundert e rneuerten d eutschen Universität in d en Blick. Die d er sog. " Humboldt-Universitä t« zugrundeliegenden Maximen veranlaßte n eine unen tschiedene Gemengelage im Beziehungsgeflecht zwische n Universitä t und Staa t. Zum einen kann de r Erfolg dieses Reformmodells nicht von einem Strukturvva ndel im Selbstverstä ndnis groBer Teile d er Stud ierenden selbst abgekoppelt werden. So w urde in jüngerer Zeit auf Prozesse d er Selbstdisziplinierung und d er Einübung in bürgerliche Verantwortungsethik bei Teilen der jugendlichen BiJd ungsschichten um 1800 hingewiesen, welche das Modell eine r w issenschaftlich grundie rten Staatsbürgergesellschaft wesentlieh unterfü tterten und das nationale Pathos d er Urburschenschaft in einen gesamtgesellschaftlichen Begründungszusam menhang einfügen. 28 Betrachten w ir h ingegen die dem Berliner Reformm odell von 1810 z ugrundeliegenden, wenn a uch nur teilweise Idee in Wirklichkeit überführenden Denkschriften , dann springt ein p rinzipielles Spannungsverhältnis ins Auge. 19 Das mit d em Namen Wilhelm von Humboldt verknüp fte, argume ntati v wesentlich dem Theologen Friedrich D.E. Schleie rmacher verpflichtete Universi tätsmodell begründete in Anlehnung an die Spä tsch ri ft des Philosophen lmmanuel Kant über den "Streit der Fakultä ten" von 1798 einen Vorrang der nu r a uf Wa hrheitssuche ausgerichteten philosophischen Fa kultät vor d en drei berufsvorbereitenden (bisla ng oberen) Fakultä ten im Sinne einer prinzipiell offenen und unabschließbaren, nur d er Wahrheit im Sinne rational begründeter, logische r Widerspruchsfreiheit verpflichteten Forschung. Diese d ie modernen Forschungsuniver-
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sität stimulierende Maxime wurde verknüpft mit dem neuhu· manistischen Ideal individueUer Se.lbstentfaltung. Freilich, ein auf Fo rschungsgesinnung gegründetes Persönlichkeitsideal, kondensiert in Wilhelm von Humboldts berühmter FormuliE!-' rung von »Einsamkeit und Freiheit« und keineswegs untypisch für den »Geist der Goethezeit«, das mochte in der »Gralsburg« reiner Wissenschaft auf eine handlungsleitende »Totalweltan· schauung« abzielen, begründete aber für s ich noch keinenstaats· bürgerlichen Verantwortungsraum im gesellschaftlichen Mitein· ander. DemgegenÜber setz te sich der Philosoph Johann Gottlieb Fichte, der neben Schleiermacher gleichfalls eine Denkschrift für die neu zu errichtende Berliner Universität verfaßt hatte, 1808 leidenschaftlich für eine Nationalerziehung ein, die freilich vor allem auf eine Abwehr der französischen Fremdherrschaft abzielte und sich weit von Fichtes vormaliger Jenaer Antrittsrede »Über die Bestimmung des Gelehrten « entfernte, welche unter dem Einfluß der revolutionären Ereignisse in Frankreich eine weltbürgerlich gestimmte Sozialverantwortung der Gelehrten propagiert hatte. Bereits hier deutete sich eine Grundspannung zwischen einem Rückzug in eine »machtgeschützte Innerlichkeit(( (Thomas Mann) und einem neuen nationalen Patriotismus an, w e lcher seinerseits bürgerlich-liberale Ideen mit glühender Vaterlandsliebe zu versöhnen trachtete, aber im Kern bereits die 1848 erneut aufflammende und seit 1866 zunehmend einseitig kanalisierte Spannung zwischen nationalem Liberalismus und illiberalen Nationalismus vorwegnahm. Die zunächst subkutan zu beobachtende, bei den Zentenarfeiern 1913 schließlich zur Eindeutigkeit sich neigende semantische Spannung zwischen der Charakterisierung der Erhebung von 1813 als Freiheits- oder Befreiungskriege illustriert diesen ProzeB.30 Unterstützt wurde eine Distanz von politischer Parteinahme in den politisch-gesellschaftlichen Auseinandersetzungen des Vormärz im universitären Raum durch ein neuartiges Verständnis e ines kultumational überwölbten Kulturstaats, in dem die Geb ildeten, sowohl die Professoren, als auch die ganz überwiegend für den Staatsdienst Auszubildenden, als Staatsbeamte eine überparteilich-ausgleichende Position jenseits widerstreitender Interessen einzunehmen hatten.)1 Gleichwohl steht nicht außer Frage, daß die mächtigen liberal-demokratischen Strömungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus solchen
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ideologischen wie sozialgeschichtlich faßbaren Begrenzungen auch in der Universität herausdrängten. Gewiß, die organisierte geistige Kraft der Urburschenschaft erlosch weitgehend unter den Nackenschlägen und Knebelungen der Karlsbader Be· schlüsse,32 mancherlei studentische Unruhen wie jene in München, die den Landesherm 1830 zur vorübergehenden Schließung der Universität veranlaßten, enthielten keinen artikulierten politischen Wirkungswillen,33 die studentischen Verbindungen richteten sich mehrheitlich in biedermeierlicher Subkultur mit zugleich aufstiegsfördemden Patronageerwartungen ein ,J.I Doch gelang es den Behörden weder, die Burschenschaftsbewegung gänzlich zu zerschlagen, trotz der massiven Repressionen nach dem fehlgeschlagenen Frankfurter Aufstand von 1833, noch die nun aufkommende, theoriegeleitete Bewegung der ProgreBstudenten wirksam zu unterbinden. Zu Recht ist schlieBlich immer wieder auf die öffentliche Meinungsführerschaft jener »politischen Professoren(( insbesondere in den südwestdeut~ sehen konstitutionellen Staaten hingewiesen worden, die vor~ wiegend als Staatswissenschaftier und Juristen den Ideenhaus~ halt möglicher und gedanklich abgesicherter bürgerüch~libera~ ler und rechtsstaatlicher Umgestaltungen diskursiv vorgaben.35 Es war nicht zuletzt jene mit den Universitätsreformen im frühen 19. Jahrhundert geschaffene kultumationale Wettbewerbss itua~ tion, die vergleichbare Studienbedingungen und Berufungs~ chancen im deutschsprachigen Kulturraum eröffnete, welche zugleich auch politische Beweglichkeit förderte. Studenten wechselten Hochschulen wie Bildungsreisende, sie folgten angesehenen Lehrern, ohne einschneidende curriculare Restriktionen befürchten zu müssen, auch wenn die Landeskindervorschriften für Staatsexamina den StudienabschJuB nonnierten.36 Professoren ließen sich unter Qualitätskriterien wegberufen und vermochten sich damit zugleich politischer Kontrolle zu entziehen. Insofern begünstigte die Liberalisierung des akademischen Arbeitsmarktes eine Fluktuation von Personen und Ideen, welche die politischen Instrumentarien der Restaurationsära immer wieder unterliefen.
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Göttingell 1837 - ein Vorspiel? Gleichwohl prägten einzelstaatliche und lokale Besonderheiten einen freiheitlichen Gestaltungswillen. Prägnant zeigte sich dies in der berühmten Protestation der Göttinger Sieben von ]837, welche immer wieder als Fanal für die Revolution elf jahre später gewertet wurd e, zugleich aber sehr plastisch lokale Beschränkungen einer verantwortungsethisch motivierten Widerständigkeit belegt.J7 Besehen wir diesen Fall etwas genauer, da in dichter Bündelung bereits wesen tl iche Konfliktlagen der Revolutionsjahre vorgezeichnet sind. Anla ß der Protestation war bekanntlich nicht ein politisches Vorpreschen der Sieben, sondern der Widerruf der Verfassung durch Ernst-August von Hannover, dem sich die Grimm und Gervinus nicht beugen wollten. Hinter diesem konstitutionellen Konflikt stand aber zugleich ein seit ]830 andauernder Kampf zwischen der Universität Göttingen und einer Regierung, die die korporative Selbstverwaltung einschränken und die Macht der Professorenoligarchie brechen woll te. Dieser Konflikt blieb auch in der Folgezeit ungelöst und trug mit dazu bei. daß die Unruhen 1848 in Göttingen eine ungewöhnlich spektakuläre Resonanz fanden. Es begann alles in den Nachwehen der französischen julirevolution von 1830 mit einem sog. Privatdozentenaufstand in Göttingen im Januar 1831, der die mittelgroße Stadt mit etwa 10.000 Einwohnern zutiefst beunruhigte. Denn für die Bürger war die Universität ein Segen, aber einer mit Widerhaken. Die Stadt lebte weitgehend von der Universität, nicht nur von den Studenten, sie war zudem wegen des Niedergangs selbständiger städtischer Gewerbe neben dem beherrschenden Dienstleistungssektor auf technische Modernisierungen angewiesen, wie sie von der Universität etwa bei den mechanischen Werkstätten ausgingen. Zwar unterstützten auch viele Bürger d ie Verfassungsforderungen der jungen Dozenten, doch als König Wilhelm IV. nach den Unruhen 1831 drohte, die ganze Universität zu schließen, distanzierte sich die Bürgerschaft sogleich von den Unruheköpfen und zeigte Wohlverhalten. 1833 gestand der König ein Staatsgrundgesetz mit bescheidenen Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürger zu, eben dies hob sein Nachfolger sogleich im Sommer 1837 auf, und dagegen protestierten die Sieben am ]8. November.
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Die Resonanz auf diese mutige Tat war in ganz Deutschland und darüber hinaus ungeheuer, nur nicht im Land Hannover und in Göttingen selbst, wo sich heftige Kritik an den Sieben erhob. So will es eine weit verbreitete Lesart, doch die Wirklichkeit war weitaus komplexer. Die Bürgerschaft taktierte und lavierte, bei den DeputiertenwahJen im Göttinger Magistrat fand sich keine Mehrheit für einen der Regierung genehmen Kandidaten, nach drei Neuwahlen wurde in zähem Ringen ein Kompromißkandidat gefunden. In der Sache teilte die Bürgerschaft offenbar weithin den Protest gegen die Aufhebung der Verfassung, sie kritisierte vor allem die Form, welche den landesherrn erneut zu scharfen Drohungen wie Schließung bzw. Translokation der Universität veranlaßten. Die s tandortgebun ~ dene Bürgerschaft sah sich - im Unterschied zu den prinzipiell mobilen Studenten und Professoren - in ihrer Existenzgrund~ lage bedroht; tatsächlich fanden die entlassenen und als Gelehr~ te hoch geachteten Sieben bald anderswo Anstellung. Diese Hinweise schmälern in keiner Weise die auf Rechts~ staatlichkeit pochende Protestation der Sieben, sie korrigieren aber ein einseitiges schwarz~weiß~Gemälde und machen auf je spezifische Konfliktlagen aufmerksam, welche bereits auf Spannungen zwischen den zentralen Studenten- und Dozen~ tenkundgebungen und der äußers t buntscheckigen Situation je~ weils »vor Ort(( in der Revolution selbst hinweisen. Der Fall Göttingen 1837 erweist sich für unser Thema in fünffacher Hinsicht als lehrreich. Spektakuläre Aktionen wie der Auszug der gesamten Göttinger Universität 1848 setzen erstens eine langfristig vorbereitete politische Sensibilisierung der Kor~ poration voraus, wie sie anderswo nur selten gegeben war. Dar~ aus folgt zweitens, daß die Universität als politisch sich artiku~ lierende Korporation von Lehrenden und Lernenden nur dort Gewicht erlangte, wo eine präzise und über inneruniversitäre Detailfragen hinausreichende Stoßrichtung gegeben war, wie hier mit der konstitutionellen Bewegung. Auch anderswo droh~ ten 1848 Landesherren bei Aufmüpfigkeit mit Schließung der Universität, was bei geringem korporativem Selbstbewußtsein und starken innerunivers itären Spannungen sogleich ein Einlenken bewirkte. Damit ist dritteilS die Frage von Selbstbewußtsein und Ab~ hängigkeit thematisiert. Während neben Göttingen nur die vermögende und von hohem korporativen Selbstbewußtsein ge-
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tragene badische Universität Heidelberg, zudem intellektuelles Zentrum für die bewaffneten Aufstände in der Pfalz, ungeachtet städtischer Wirtschaftsinteressen die scha rfe Waffe eines (vorübergehenden) Auszuges der Studenten führte, duckte sich die zweite badische und vormals vorderösterreichische Landesuniversität Freiburg, wirtschaftlich darbend, völlig von den Staatszuschüssen abhängig und mit einem geringen korporativen SelbstbewuBtsein ausgestattet, sogleich bei der ersten SchlieBungsandrohung. Ähnlich reagierte die kleinstädtischkleinstaatliehe Universität GieBen im GroBherzogtum Hessen auf wirtschaftliche Pressionen und Auflösungsdrohungen, ging es doch auch um die Existenz von in der Regel noch wenig renommierten Hochschullehrern, welche an eine rettende Berufung an eine andere Universität nicht zu denken wagten. Wiederum anders stellte sich die Situation in den beiden hauptstädtischen Aktionszentren Berlin und Wien dar. Hier wie dort beteiligten sich vor allem Studenten, aber auch Hochschullehrer an den Barrikadenkämpfen. Doch während in Wien, uno typisch genug, die Aula der Universität Ausgangspunkt und Zentrum der Revolution wurde, verharrte die Berliner Universität trotz ihrer exponierten Mittelpunktlage eher im Schatten der Märzunruhen. Während in Wien ein sozial relativ gering differenzierter Lehrkörper mit einem nur kleinen Anteil an Privatdozenten und eine durch politische Reaktion und Nationalitätenprobleme zugleich aufgewühlte Studentenschaft gegen die Staatsleitung wie auch gegen ein antiquiert-verkrustetes und zugleich straff zentralistisches Universitätssystem anrannten, dessen Modemisierung erst seit 1849 unter dem Grafen Thun einsetzte,38 so war demgegenüber die Berliner Korporation durch scharfe Spannungen innerhalb des Lehrkörpers gekennzeichnet. Denn mit dem wissenschaftlichen Ansehen diese r Hochschule einher ging eine überdurchschnittlich hohe Zahl von geistig beweglichen, aber vielfach mittellosen Privat· dozenten, ferner rührten sich die zahlreichen und nur äuBerst kärglich besoldeten auBerordentlichen Professoren, welche soziale BessersteJlung_und korporationsrechtliehe Mitwirkung verlangten, dcyni( aber einen GroBteil der um ihre Privilegien fürchtendenJ)rdinarien an die Seite der restaurativen Staatsbürokratie tri !l>en.39 Vierten zeigt das Göttinger Beispiel von 1837, damit auf die vielfältig n Konstellationen vor Ort im Revolutionsjahr vora us-
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weisend, daB jeweils unterschiedliche lnteressenlagen und Handlungsrestriktionen einerseits in den Hochschulen selbst, andererseits aber auch in den Bürgerschaften und Magistraten der beherbergenden Universitätsstädte zu beachten sind, daß der Blick allein auf die Universitäten nicht genügt. 1848 sprühte in einigen Universitätsstädten der revolutionäre Funke in der Bürgerschaft auf, griff dann auf die Universität über oder hat dort kaum Resonanz gefunden. In anderen FäDen blieb eine aufmüpfige Hochschule von der umgebenden Stadt abgeschottet, weil vor allem studentische Unruhen von der Bürgerschaft scharf mißbilligt wurden. In wieder anderen Fä llen verbündeten sich einzelne progressive Kräfte an der Universität mit vorwiegend bildungsbürgerlichen politischen Zirkeln in der Stadt· bürgerschaft. Als Grundmuster schälte sich, freilich nicht aus· nahmslos, heraus: je kleiner die Universitätsstadt, als d esto beherrschender erwies sich die von der dortigen Universität ausgehende politische Schwerkraft. Fünftens lassen die bisherigen Beobachtungen bereits erkennen, daß die aus der Universität heraus organisierten zentralen Kundgebungen 1848/49 zwar maßgebliche Argumentations· muster von Hochschulreform in einer revolutionären Situation spiegeln, daß sie aber keine eigenständige Handlungsebene begründeten, da die Teilnehmer anschließend in ihrer Hochschule mit sehr unterschiedlichen Problemen konfrontiert wurden, die sich ungleich stärker als handlungsbestimmend erwiesen und zentrale universitätspolitische Willensbildungen verhinderten.
Die Studenten ;1/ der Revolutioll4{) In der Frühphase der Revolution hoben sich die Universitäten
kaum von den genereUen bürgerlichen Stimmungslagen und Forderungskatalogen ab. Das zeigt etwa ein genauerer Blick auf die Entwicklung in Berlin,41 wobei uns hier wie in diesem ge· samten Abschnitt die Studenten vor allem beschä fti gen sollen. Anfang März 1848 war das Berliner Straßenbild durch Volks· versammlungen geprägt, an denen sich natürlich auch Studen· ten und Dozenten beteiligten, während Versuche, die Aula der Universität Unter den Linden als einen zentralen Kundge·
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bungsort zu nutzen, anfangs am Widerstand des Rektors schei· terten und heftige Debatten zw ische n gemäßigten und radika· len Studenten bei einer Versammlung von sechshundert Studie· renden im Vorraum de r verschlossenen Aula von Mitgliedern der christlichen Studentenverbindung Wingolf gesprengt wur· den . Als nach dem 13. Mä rz mit den soz ia lrevolutionären For· derungen von Industriearbeitern sich die Lage verschärfte, es zu e rsten Straßenkämpfen kam, die von einem studentischen Corps unterstützte Bürgerwehr in eine prekäre Frontstellung zw ischen Aufständischen und dem aufmarschi erten Militär ge· riet, da vertieften sich sogleich die Spannungen zwischen den politischen s tudentischen Lagern. Doch dieGemäßigten setz ten bei einer (nun möglich en) Aulaversammlung am 17. März eine Abfuhr jener kleinen radikalen G ruppen durch, d ie im Namen der Stude ntenschaft Aufrufe an das Berliner Volk proklamie re n wollten. Mit de m (dem Kronprinz und spä te ren Kaiser Wilhelm I. angelasteten) blutigen Einsatz d er Truppen gegen die Volksver· sammlung vor dem Schloß am 18. März und d em nachfolgen· den Barrikadenbau durch Bürge r aus a llen Schichten verände r· te sich die Situation schlagartig, in de r Stadt wie in der Univer· sitä t. Während die Mehrzahl de r Studenten die Forderung nach Bewaffnung bislang mit der Schaffung von Ruhe und Ordnung begründet ha tte, stellten sie sich nun auf die Seite der Revolu· tion, um allerdings nach kurzer Zeit sich wieder in mehrheitlich konstitutionelle und eine zunehmend isolierte Minderhe it von Republikanern aufzuspalte n . Scharfsinnige Linkshege lianer unter den Berliner Priva tdozenten gewannen wie kaum anders· wo eine treue studentische Anhängerschaft, doch die überwie· gende Mehrzahl der Studierenden und erst recht der Professo· renschaft setzte auf Mäßigung und Verständigung mit der Staatsautorität. Nie wurde die Berliner Aula - im Gegensatz zu Wien - Zentrum der revolutionären Bewegung; die links·intel· lektuelIen studentischen Führer verließen noch im Somme r Ber· lin, in der Aula wurde ga r dem konservativen Minister Arnim Asyl gewährt, als er vor e inem wütenden Angriff der Berliner Bevölkerung flüchten mu ßte. Nur e inma l noch schien die Aula der Universität zu einem Han dlungszen trum aufzurücken, als mi t dem Wiedererstarken der Reaktion beim Einmarsch Wran· gels am 10. November die nun vorübergehend geeinte Berline r Studentenschaft die Aula der von gewaltsamer Auflösung be·
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drohten preußischen Nationalversammlung zur Verfügung stellen wollte. Doch der neue Rektor August Boeckh lehnte dies entschieden ab, und er fand Unterstützung bei sechzig Professoren (überwiegend Ordinarien), die in einem Gutachten dem König das Recht zur »Verlegung« und zur »Vertagung« des Parlaments bestätigten. Der Protest der Studenten und eine GegenerkJärung junger Dozenten verhallten wirkungslos. Wie besonders war der Berliner Fall? Offenbar nich t in der Anfangsphase. Weitgehend einheitlich verlief die Studentenbewegung an deutschen Universitäten im März 1848, als die sog. Märzforderungen mit ihren liberal-konstitutionellen Stoßrichtungen gegen polizeistaatliehe Unterdrückung und für bürgerliche Freiheiten an allen bislang genauer untersuchten H ochschulen mit überwältigender Mehrheit unterstützt wurden, als zum anderen die dann das studentische Pfingsttreffen auf der Wartburg prägende Progreßbewegung sich noch nicht in der doppelten Stoßrichtung von Nationalstaatsgestaltung und Universitätsreform formiert hatte. Insofern ordnen sich die überall anzutreffenden s tudentischen Versammlungen, Adressen und Aufrufe in die allgemeine s tadtbürgerliche Aufbruchsbewegung ein. In einzelnen mitteldeutschen Mittelstaaten, wie in Leipzig, Göttingen und Jena, trugen sie unmittelbar zur Etablierung liberaler Märzministerien bei. Doch wenn wir nach dem weiteren Verlauf fragen, dann ergibt sich eine verwirrende Vielfalt, die auf jeweilige Sonderlagen verweist. Abgesehen von der einen Ausnahme Wien mit der Au la als Zentrum der revolutionären Bewegung blieben die deutschen Universi täten und die in ihr versammelten Studenten allenfalls Subzentren mit allerdings teilweise beträchtlicher Ausstrahlung. In großen Flächenstaaten wie Preußen und Bayern bildeten die zugleich mit einer Universität ausgestattete Kapitalen den eigentlichen Bezugspunkt in sehr unterschiedlicher Weise. Während in Berlin Verbitterung über die Reaktion des Staates überwog und zu Radikalisierungsschüben führte, aber die Studentenschaft, von kurzen Momenten abgesehen, nicht in solidarischen Aktionen einte und erst recht kein politisches Bünd nis der Korporation insgesamt bewirkte, fiel die bayerische Metropole München durch einen entschiedeneren, freilich taktisch-elastisch verpackten Reformwillen ihrer Univers ität auf, welche sich (ähnlich wie die freili ch stärker gesamtpolitisch ar-
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gumentierende württembergische Landesuniversität Tübingen) allerdings mehr auf Fragen der engeren Hochschulreform als auf bürgerliche Freiheits rechte konzentrierte.42 Gegenüber der mit einem unmittelbaren staatlichen Zugriff konfrontierten Universität in der Landeshauptstadt vermochten sich die bayerischen Provinzuniversitäten Erlangen und Würzburg einigermaßen erfolgreich gegen polizeistaatliche Übergriffe in studentischer und zugleich gesamtkorporativer Geschlossenheit zur Wehr zu setzen, begünstigt durch einen geringen studentischen Radikalis mus, durch den Verzicht auf eine in den Hauptstädten zwangsläufig thematisierte staatspolitische Umgestaltung und damit die Konzentration auf korporativ-ständische und auf generelle bürgerrechtliche Interessen. Spektakuläre Form nahmen die Auseinandersetzungen mit den studentischen Auszügen in Göttingen und Heidelberg an. Doch während die Göttinger Aktion von der gesamten Korporation getragen wurde, ging es doch um jenen seit 1831 schwelenden konstitutionellen Dauerkonflikt, den wir bereits kennengelemt haben, während man in Göttingen also diese stoßrichtung der Volksbewegung mit einigem Erfolg vorantrieb, scheiterten die Aktionen in Heidelberg an dem gemeinsamen Widerstand von Prorektor, Senat und staatlichen Behörden. Es ging nicht mehr nur um konstitutionelle Freiheitsrechte, obgleich gerade Heidelberger Professoren im Vormärz die liberale Opposition in Baden führend beeinflußt hatten, jetzt verselbständjgten sich die auf die Hochschule selbst bezogenen Ideen einer Neugestaltung in enger Wechselwirkung mit dem Radikalisierungsprozeß in der Pfalz und in Baden. So spaltete der in alter universitätsgeschichtlicher Tradition stehende studentische Auszug die Korporation und verlief letztlich im Sande. Ein Jahr später, im Mai 1849, unterstützte dann eine Studentenlegion den bewaffneten Kampf um die Reichsverfassung, vorübergehend ergriff der Student Schlöffel als Regimentskommissar des revolutionären Landesausschusses die Macht in der Stadt, doch der Senat der Universität hielt sich sorgsam zurück, entzog am 13. August nach dem Scheitern des Aufstandes 29 Studierenden da s akademische Bürgerrecht und beglückwünschte den Großherzog am 31. August zu seiner Rückkehr.43 Überblicken wir das Verhältnis von Hochschule und städ ti schem Umfeld, dann ergibt s ich folgendes Bild. In mehreren kleinen Universitätsstädten standen die Hochschulen und vor-
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nehmlich die Studenten als zentraler Unruhemotor einer kaum beteiligten Bürgerschaft gegenüber, während in einigen Mittelstädten ein reger Austausch erfolgte, wohingegen in den Großstädten Leipzig und Berlin die akademische Bewegung im Windschatten konkurrierender G ruppen in der Stadt selbst verharrte. In den norddeutschen Küstenstädten übte - mit Ausnahme des mecklenburgischen Rostock - das selbstbewußte Großbürgertum einen disziplinierenden Einfluß auf die Universitäten und ihre Studenten im Sinne gemäßigt-liberaler Fordenmgen aus. Während im preußisch-rheinischen Bonn ein ungewöhnlich aktiver, wenn auch kleiner Zirkel von Studenten sich um Carl Schurz gruppierte, allerdings von der Stadt und den Universitä tsgremien gleichermaßen bekämpft wurde, verbündeten sich im thüringischen Jena Studenten und Bürger in aUgemeinpolitisehen Freiheitsforderungen, wohingegen vor allem in den traditionsreichen und mächtigen Studentenverbindungen Gegenströmungen envuchsen. Eine einzigartige Situation ergab sich in Breslau, wo Studenten sich mit Kleinhandwerkern und Bauern solidarisierten, erklärbar vor dem Hintergrund der sei t 1844 andauernden Hungerunruhen und sozialen Spannungen in Schlesien, eine einzigartige Situation auch in der Saalestadt Halle, wo unter d em Einfluß d es Historikers Heinrich Leo, Reaktionär und »Studentenvaterl' zugleich, ein aktiver studentischer Konservativismus das Gesicht der Universität während der Revolution prägte. Neben dem ~ziehungsgeflecht Universität und Stadt (bzw. Region wie in Schlesien oder den sächsischen und badischen Aufstandsgebieten) ist die Größe der einzelnen Universitäten zu beachten. Bei kleinen Universitäten bis zu etwa dreihundert Studenten beherrschte die Korporation zwar das (klein)städ tisehe Leben, doch traten allgemeinpolitische Forderungen hinter h ochsch ulspezifische Problemlagen zurück, zumal, wie wir bereits für Freiburg und G ießen sahen und dies au ch auf Marburg z utraf, landesherrlich es Desinteresse die Existen z der Hochschule ernstlich gefährdete. Doch gab es auch hier keine einheitlichen Aktionsmus ter, in Marburg etwa förderte der Senat die stud en tische Bewegun g, während er sie in Freiburg än gstlich be hind erte. Stud en tische Auszüge, aufsehend erregend g roß und z ugleich noch leicht organisierbar, erfolgten kaum zufällig in mittelgroßen Universitäten bis zu sechshun d ert Studenten. In größeren Universitäten verhinderte eine
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hochdifferenzierte allgemein. und hochschulpolitische Lagerbildung von vornherein ein geschlossenes Auftreten der Kor· poration. Wir haben es bei den studentischen Initiativen also mit einer ungemein zergliederten Landschaft zu tun; hinzu traten kaum lösbare Spannungen zwischen den Verfechtern staatsbürgerli . cherGleichheit und den Anhängemständisch·korporativer Pri· vilegien, wie sich an dem Dauerstreit um die akademische (Son· der·)Gerichtsbarkeit zeigte. Auf der Wartburg und in Eisenach fanden sich Mehrheiten gegen eine solche Exemtion, doch vor Ort wollten in etwas schiefer Allianz dann die Corps auf ge· wohnte Privilegien nicht verzichten, während gemäßigt pro· gressive Gruppen je nach der politischen Lage an ihrer Hoch· schule eine besondere akademische Gerichtsbarkeit als Schutz gegen polizeistaatliche Eingriffe betrachteten. Vor diesem Hintergrund sind die studentischen Treffen 1848 auf der Wartburg und in Eisenach als sehr ambivalent einzu· schätzen. Zum einen beeindruckt, mit welcher Unbefangenheit hier (wie auch bei dem Frankfurter Dozententreffen und den Vorstößen von Extraordinarien bei der Jenaer Professoren ver· sammlung) in der Fülle von Anträgen und Diskussionspunkten praktisch alles zur Disposition gestellt wurde, vom Fakultäten· modell bis zur einzelstaatlichen Universitätsstruktur, von der an das Abitur gebundenen Zugangsberechtigung bis zu einer freien Volksuniversität. Auch sollte die auf beiden Studenten· treffen erkennbare Durchschlagskraft des Progreß nicht unterschätzt werden. An dem Pfingsttreffen beteiligten sich über par· lamentarisch·repräsentative, nicht über direktdemokratische Vertretungen etwa 10 % der gesamten deutschen Studentenschaft; im September bekannten sich 49 der insgesamt 57 studentischen Parlamentsmitglieder in Eisenach zur demokratischen Staatsform."" Demgegenüber traten in der gesamten Studentenschaft etwa 5 % aktiv für die Revolution ein und nur 12 % begrüßten überhaupt politische Veränderungen . •5 Das verdient Beachtung, um die oft unterschätzte Stoßkraft des mit Blick auf Aus bildung und künftige Berufe als jugendliche »Beamtenop· position ( charakterisierten Progreß zutreffend zu gewichten. Auf der anderen Seite spiegeln die Protokolle eine erhebliche Bandbreite studentischer politischer Mentalität in dieser Zeit wider, wie wir in drei Punkten sehen können. Erstens: nicht nur die akademische Gerichtsbarkeit war auf
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dem Pfingsttreffen umstritten, bereits die demokratischen Manifestationen spalteten in der Frage Einheitsrepublik oder auch republikanische Verfassungen in den Einzelstaaten. Theoretische Abstraktion und ein Gespür für einzelstaatliche Besonderheiten rieben sich hier wie anderswo. Sodann stand den Demokraten nicht nur die »Rechte«, sondern vornehmlich das ),Zentrum « gegenüber, das in Fragen der Hochschulreform, die also den unmittelbaren eigenen Lebensbereich betrafen, mit den "Linken«, in den allgemeinpolitischen Verfassungsfragen indes gegen sie stimmte. Zweitens: lm Zentrum der Forderungen stand ein linkshegelianisch-theoretisch gespeistes Gesamtheitsmodell, aus dem konkrete nationale Zielsetzungen, eine nationalstaatliehe Umformung der Universitäten und die Idee einer Allgemeinen Studentenschaft abgeleitet wurden. Ironischerweise kam es zu einem nationalen ZusammenschluG nur auf der Gegenseite, nämlich im Kösener Seniorenconvent der Korporierten; die Idee allgemeiner Studentenausschüsse scheiterte hingegen an innerstudentischen Fragmentierungen und dem Beiseitestehen der Verbindungsstudenten. Zwar wurden zunächst an den meisten Universitäten solche Ausschüsse gebildet, doch schon im Juli setzten Auflösungstendenzen ein und die meisten zerfielen dann ganz, oft auf äußeren Druck. Nur in Tübingen, Würzburg und München konnten sich solche Ausschüsse einige Zeit halten, gingen dann aber aufgrund studentischer Wahlmüdigkeit ein. DritteilS schließlich scheiterten die Aktivsten, die Progreßstudenten, an ihren inneren Widersprüchen. Sie waren überwiegend Juristen und stammten zumeist aus bildungsbürgerlichen Elternhäusern, sie bildeten die politisch am weitesten sensibili s ierte und zudem theoretisch geschulte Speerspitze der jugendlichen d eu tschen Bildungsschicht in dieser Zeit. Ihr Einheitspathos veranlaßte sie zu erstaunlichen Gedankenexperimenten, doch s ie wurden aufgerieben durch interessegeleitete Veralltäglichung, durch Widersprüche zwischen nationaldemokratischen Zielen und den sperrigen Hochschulreformfragen,46 und das revolutionäre Engagement blieb für die meisten von ihnen ein bloßes Zwischenspiel. Sofern sie nicht zu den Waffen gegriffen hatten oder emigriert waren, mußten aus weislich von Stichproben die Progreßstudenten nur kurzfristige und (im Unterschied zu den Folgen des Hambacher Festes) milde Sanktionen
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hinnehmen, besetzten sie später in der Regel geachtete Beamtenpositionen, offenbar kaum jemand mußte in die Wirtschaft ausweichen,"? Einiges spricht d afür, daß v iele d er studentischen Wortführer von 1848 ein Jahrzehnt später als Dreißiger und Mittdreißiger mit dem 1859 gegründeten Deutschen Nationalverein im Sinne eines gemäßi gten liberalen Nationalismus sympathisierten und eine neue Ära von dem 1848 scharf kritisierten preuß ischen Kronprinzen und nunmehrigen Monarchen erwarteten, d aß sie d ann 1866/ 67 d en Frieden mit Bismarck in der neuen Nationalliberalen Partei schlossen. Es bliebe zu prüfen, wieweit ein Theodor Mommsen die Ausnahme darstellte, e in Feuerkopf, der auch als bedeutender Gelehrter noch nach de r Jahrhundertwend e d er Bürgerges innung von 1848 treu blieb. Das Protokoll des Wartb urgtreffens hatten Friedländer und Giseke mit einer scharfsinnigen Analyse d er Universitäten im d eutschen Partikularismus eingeleitet und dann emphatisch ausgerufen: ))Das sind die Zustände, unter denen wir die Universitäten betreten haben. Das sind die Hochschulen des Staates d es Protestantismus! Das sind die Freiheiten, die man d er gebildets ten Jugend d er gebildetsten Nation zu ihrer Entwickelung gönnte!«.J8 Nach der Präsentation aller Beschlüsse heißt es dann am Ende d es Protokolls selbstbewußt und besorgt zug leich: »Wie haben unsere Väter die Köpfe geschüttelt, als sie die Gelübde der Freiheit lasen, die wir von der Wartburg aus unserem Vo lke vorlegten, und die nicht aUe im »)constitutionellen « Sinn verfaß t sind! Wie werden unsere Lehrer, Rector und Senat, die Hän de über dem Kopf zusammenschlagen, wenn wir ihnen vortragen, daß wir unser volles akademisches Bürgerrecht, daß w ir Sitz und Stimme im Senat, Mitwirkung bei d er Verwaltung und gar bei der Wahl der Professoren verlangen!«49 Ende d es Jahres führte der Mitunterzeichner Giseke d ann d as Scheitern d er demokratischen und hochschulpolitischen Linken au f interne Streitigkeiten, auf abstraktes Theoretisieren zurüc k, das kon krete Aussagen scheute. 50 Ein Jahrzehnt später schrieben zwei vormals in Jena führende Studenten poli tiker rückblicken d: ))Wir meinten, Philosoph ie sei Hegel und womöglich d er von Ruge und Feuerbach interpretierte Hegel, und diese sehr unrichtige Überzeugun g und Selbstgew ißheit machte uns vor d er Zeit abstrakt und blasiert; wir stand en in einem religiös-politischen Formel- und Schablonenthum .«51
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Ausblick Wir haben uns auf die Studenten konzentriert und sollten nachtragen, daß mit dem Scheitern der Revolution auch alle anderen Ansätze zu einer Universitätsreform schei terten. Insbesondere die Forderungen von Privatdozenten und Extraordinarien nach akademischer Rechtsgleichheit und sozialer Sicherung verhall ten wirkungs los und wurden erst ein halbes Jahrhundert später in dem neuen Umfeld einer interessenpolitisch organisierten Massen - und Industriegesellschaft erneut a ufgegriffen, erst nach d em politischen Systemwechsel 1918 in bescheidener Form und eher ansatzweise gelöst. S2 Allerdings erscheint fraglich, ob auch ein weiterhin einzelstaatlich gegUedertes, auf Erbkaisertum, Nationalversammlung und Reichsverfassung gegründetes nationales Gemeinwesen eine einschneidende Hochschulreform bewirkt hätte, berücksichtigt man die nich t einheitliche, aber schon im Herbs t 1848 nur zu geringen Zugeständnissen sich verstehende Abwehrphalanx einer durchaus zutreffend als Ordinarienun iversität zu charakteris ierenden Korporation. Listen wir die Forderungskataloge innerha lb der Universitäten auf, d ann fand vor allem das Anklang, was auf eine durchaus nicht unproblematische (Rück?)Gewinnung der Autonomie in Verbindung mit dem Katalog bürgerlicher Freiheitsrech te abzielte. Schwieriger lagen die Dinge bei der Beschneidung oder gar Abschaffung überkommener Privilegien, zumal hier d ie in Verbindun gen organisierten Studenten eine Allianz mit Wortführern jener Ordinarien universität eingingen. Daß die allgemeinpolitische Forderung nach Ausdehnung des Wahlrechts auch das Mitbestimmungsproblem in der Universität aufwarf, war nicht zu verkennen, doch hatte s ich gerade über diesen Punkt, der die gesamtgesellscha ftli che Machtfrage betraf, d as deutsche Bürgertum im Verlauf der Revolution zerspalten. Und wenn in den Augen der ProgreBstudenten die erneuerte Universität als Modell für einen zu schaffen den demokratischen Nationalstaat dienen sollte, dann überforderte dies d ie ))G ralsburgen (( einer liberalen Kultumation volls tändi g. Es kann aUenfalls die Frage gestellt werden, ob und inwieweit die während der Revolution von sehr vielen Dozenten und Professoren vorgelegten Konzepte zur Erweiterung der korporativen Autonomie und der Lehrfreiheit in den folgenden Jahrzehnten trotz d es Scheitems ins titutioneller Reformen die Praxis der
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staatlichen Hochschulpolitik beeinflußten.53 Damit wird aber die Handlungsebene in jedem FaU verlagert, von gewählten Gremien z u den einzelstaatlichen KuJtusbürokratien. ),ln den Revolutionsjahren hatte sich die Reformbewegung zum Teil noch mit der politischen Bewegung verbündet und sich mit ihren gegen den Staat gerichteten Reformforderungen an die Kammern der einzelnen Länder und an die Frankfurter Nationalversammlung gewandt. Nach der Revolution lehnten die Universitäten eine Beschäftigung des Landtags und der politischen Parteien mit hochschulpolitischen Fragen ab, weil dies dem Grundsatz der korporativen Autonomie nicht entspreche..24 Wenn im Anschluß an Peter Moraw die deutsche Universitätsgeschichte mit der Humbold tschen Reformuniversität in ihre klassische Phase eintrat,55 und das Jahrhundert zwischen 1810 und 1914 gar als ))Hochklassik(( erscheint, dann ist eine solche Blütephase nicht von der 1848/ 49 nur vorübergehend unterbrochenen Beziehungsgeschichte zwischen (Obrigkeits-) Staat und Universität abzukoppeln. Diese Geschichte ist eingespannt zwischen zwei Pole, bezeichnet durch den liberalen Staatsmann Wilhelm von Humboldt, für den der Staat in Fragen der Wissenschaft nichts zu suchen hatte, der aber selbstverständlich mit dem Berufungsrecht des Staates die Korporation vor ihren eigenen Unzulänglichkeiten schützen wollte,56 und den )'a llmächtigen(( Ministerialdirektor im preußischen Kultusministerium Friedrich Althoff, dessen so gar nicht auf die Ideale von 1848/ 49 eingeschworenes ),System(, die Effizienz der deutschen Hochschullandschaft um 1900 in einer zuvor wie danach einzigartigen Weise steigerte. 57 Daß dieses System zwei Seiten hatte, daß die ihm innewohnende Tendenz zur Bürokratisierung Effizienzsteigerung mit selbstherrlicher Mißachtung von Persönlichkeitsrechte n verknüpfte, das haben kritische Zeitgenossen gesehen und auf eben jenen Obrigkeitsstaat zurückgeführt. ss In der Regel scheint aber die deutsche Universität solche Widersprüche verdrängt zu haben. War es ein Mißverständnis, war es Selbstbetrug oder war es Geschichtsklitterung, wenn Eduard Spranger 1913 schrieb: })In diesen Männern [sc. wie W.v. HumboldtJlebte also die Überzeugung, daß Forschen und lehren nur in voller Freiheit gedeihen, daß die Universität deshalb die freiesten Formen erhalten und als ein Staat im Staate betrachtet werden müsse. Und darin liegt denn z ugleich, daß die Prinzipien der liberalen politischen Weltanschauung mit denen
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identisch sind, auf denen auch die Universität des 19. J a hrhun ~ d erts errichtet wurde. (... ] Es ist bekannt, daß die Versuche, den Universitäten das konservative Gepräge aufzudrücken, nicht gelangen, d aß vielmehr im Jahre 1848 - man denke etwa an Amold Ruge - die alten liberalen Tendenzen mit erneuter Kraft herausschlugen, und daß die Universitätsprofessoren von den Göttinger Sieben bis zur Paulskirche und darüber hinaus bis in die Gegenwart hinein die Träger d es nationalen Liberalismus gewesen sind((.59
Anmerkungen I Abgedruckt in: Max Friedländer/ Robert Giseke, Das Wartburgfest der deutschen Studenten in der P6ngstwoche des Jahres 1848, Leipzig 1848, S.46. 2 Carl Schurz, Der Studenten kongress zu Eisenach am 25. September 1848. Seine Bedeutu ng und seine Resultate, Bonn 1848. 3 Verhandlungen deutscher Universitätslehrer übe r die Reform der deutschen Hochschulen in der Versammlung zu Jena vom 21.-24. Septem~ ber 1848, hg. von O. Domrich / H. Häser, Jena 1848. 4 Verhandlungen der Conferenz zur Beratung von Reformen in der Verfassung und Verwaltung der preußischen Universitäten, Berlin Dec:. 1849. 5 VI;;1. Rudo lph
Jun~,
Fran kfurter Iloch &:hulplii nc IJS·I 1866,
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1915; grundlegend zu allen fünf Kongressen Karl Griewank, Deutsche Studenten und Universitäten in der Revolution von 1848, Weimar 1949. 6 Vgl. etwa Rai ner Lersch, Wissenschaft und Mündigkeit. Die dida k~ tische Aufgabe der Hochschulreform in demo kratischer Gesellschaft sei t 1848, Bochum 1975; Gerda Bartol, Ideologie und studentischer Protest. Untersuchungen zur Ents tehung deutscher Studentenbewegungen im 19. und 20. ]ahrhundert, München 1977. 7 Vgl. die an eine Max-Weber-These angelehnte empirisch-soziologische Stud ie von Ma rtin Schmeiser, Akademischer Hasard. Das Berufsschicksal der deutschen Universitä t 1870-1920, Stuttgart 1994. 8 Zit. nach Alexander Busch, Die Geschichte des Privatdozenten, Stuttgart 1959, S. 130. 9 Zur Analyse de r die Revolutionszeit bestimmenden Handlungsebenen vgl. Wolfram Siemann, Die deutsche Revolution von 1848/ 49, Frankfurt/M . 19&5. 10 Vgl. Raine r A. Müller, Die d eutsche Universität als Freiheitsraum Verfassungen und Parteiprogramme 1848 bis 1949, in: Bemd Rill (Hg.), Freiheitliche Tendenzen d er Deutschen Geschichte, Regensburg 1989, 5.62-84.
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11 Zitiert nach Siemann, Revolution, S. 124. 12 Ebd., S. 126. 13 Karl-]osep h Humme l, München inder Revolution von 1848/ 49, Götlingen 1987, bes. S. 67-81, 379 ff. 14 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und s tarker Staat, München 1983. 15 Hans-U1rich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bel.. 2: 18151945/ 49, München 1987. 16 H ans-Weme r Prahl, Sozialgeschichte des Hochschulwesens, Münehen 1978; Ders./ lngrid Schmid t-Harzbach, Oie Universität. Eine Kulturund Sozialgeschichte, München 198 1; Thomas Ellwein, Oie d eutsche Universi tät vom Mittelalter bis zur Gegenwart, 2. überarb. Aufl., Frankfurt / M . 1992; vgl . dagegen den infonnativen Abschnitt zu 1848 bei Rainer A. Müller, Geschichte de r Universität. Von der mittelalte rlichen Universität z ur d eutschen Hochschule, München 1990, S. 78ff. 17 C ha rles E. McClelland, State, Society, and University in Germany 1700- 1914, Cambrid ge 1980, S. 22 1 ff.; Konrad H . ]arausch, Deutsche Studenten 1800-1970, Frankfurt/ M. 1984, S. 47 ff. 18 Neben de r Darstellung der zentralen Kundgebungen durch G riewan k, von einem tragisch endenden, »bürgerlichen« His toriker im Jubiläumsjahr 1948 in der SBZ verfaßt, vgl. auch eine (unvollständige) Auflistung der zahlre ichen Lokalstudien zu SerHn, Sonn, Gießen, Tübingen, Heidelberg bei Rüdiger vom Bruch, Uni versitätsreform als soziale Bewegung. Z ur Nicht-Ordinarienfrage im späten deutschen Kaiserreich, in: Geschichte und Gesellscha ft 10 (1984), S. n - 91; sowie als erste Gesamtdarstellung die exzellente Monographie von Heide Thielbeer, Universität und Politik in der Deutsche n Revolution von 1848, Bonn 1983. 19 Z ur generellen Orientierung vgl. Georg Jäger / Heinz-Elmar Teno rth, Pädagogisches Denken, in: Karl-Ernst ]eism ann/Peter Lundgreen (H g.), Handb uch de r deutschen Bildungsgeschichte, Bd . 1lI (1800-1870), Münche n 1987, S. 71-104, sowie R. Steven Turner, Universitäten, in: ebd., S. 221249. 20 Vgl. Gert Schubring (Hg.), .. Einsamkeit und Freiheit" neu besichtigt. Universitätsreformen und Disziplinenbildung in Preußen als Modell für Wissenschaftspolitik im Europa des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1991. 21 Wilhelm Kahl, Geschichtliches und Grundsätzliches aus der Gedankenwelt übe r Universitä tsreformen. Rede zur Gedächtnisfeier des Stifters der Berliner Universität Friedrich Wil helm 111. in der Aula am 3.8.1909, Serlin 1909. 22 Ebd., S. 17, 27; vgl. auch vom Bruch, Universitätsrefo rm, S. f. 23 Rudolf Haym, Die d eutschen Universitäten im neunzehnte n Ja hrhundert, in: Preußische Ja hrbücher 2 (1858), S. 107-141 , Zitat S. 135. 24 Ebd., S. 132.
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25 Ebd., S. 128. 26 Ed uard Spranger, Wandlungen im Wesen der Universität seit 100 Jah ren, Leipzig 1913, S.35. 27 Carl He inrich Hecker, Vom Wesen derdeutschen Universitä t, Leipzig
1925, S. 7.
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Rüdiger vom Bruch
28 Vgl. Wollgang Hardtwig, Sozialverhalten und Wertewandel der jugendlichen Bildungsschicht im Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft (17.-19. Jahrhundert), in: Vierteljahrschriit für Sozial- und Wu1schaftsgeschichte 73 (1986), S. 305-335; Ders., Krise de r Universität, studentische Refonnbewegung (1750-1819) und die Sozialisation der jugendlichen deutschen Bildungsschichi, in: Geschichte und Gesel lschaft 11 (1985), S. 155-176. 29 Eine Edition der wichtigsten Denkschriften nebst ergänzenden Korrespondenzen und Rezensionen besorgte zuletzt Ernst Müller (Hg.), Gele-
gentliche Gedanken über Universitäten von Engel, Erhard, Wolf, Fichte, 5chleiennacher, Savigny, v. Hurnboldt, Hege!, Leipzig 1990; zur Gewichtung dieser Anregungen im Sinne einer realitätsfonnenden Verankerung der sog... Humboldt-Universität.. als eine Kanl-5chleiennacher-Universität vgl. Rüdiger vom Bruch, A Slow Farewell to Humboldt? Stages in the History of German Universities. 1810-1945, in: Mitchell G. Ash (Hg.), German Universities. Pas t and Future - Crisis or Renewal, Providence 1997, S. 3-32. 30 Vgl. etwa Diele r Düding/ Peter Friedemann/ Paul Münch (Hg.), Öffentliche Festkultur. Politische Feste in Deutschland von de r Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg, Hamburg 1988, hier insbesondere den Beitrag von Wolfram Siemann, Krieg und Frieden in der historischen Gedenkfeier des Jahres 1913, S. 298-320. 31 Vgl. immer noch Frilz K. Ringer, Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890-1933, Stuttgarl 1983. 32 Vgl. Manfred Brümmer, Staat konlra Universität: Die Universität Hal1e-Wittenberg und die Karlsbader Beschlüsse 1819-1848, Weimar 1991. 33 Vgl. Hummel, München, S. 67. 34 Vgl. Jarausch, Studenten; sowie als eine (bedenklich unkritische) Binnenansicht Paulgerhard Gladen, Gaudeamus igitur. Stude ntische Verbindungen - einst und jetzt, München 1986. 35 Vgl. aus der umfangreichen Literatur etwa Hans Fens ke, Gelehrtenpolitik im liberalen Südwesten. 1831}-1880, in: Gustav Schmidt / Jöm Rüsen (Hg.), Gelehrtenpolitik und politische Kultur in Deutschland 1830-1930, Bochum 1986, S. 39-58; sowie als eine den Vormärz mit dem Revolutionsgeschehen verzahnende lokale Fallstudie Eberhard Sieber, Der politische Professor um die Mitte des 19. Jahrhunderts, in: 500 Jahre Eberhard-KarlsUniversi tät Tübingen, hg. von Hansmartin Dccker-Hauff/ Gerhard Fichtner / Klaus Schreiner, bearb. von W!lfried Setzler, Tübingen 1977, S. 285-306. 36 Zum Gesamtkomplex der Normierung von Prüfungen vgl. Peler Lundgreen, Zur Konstituierung des »Bildungsbürgertums«: Berufs- und Bildungsauslese der Akademiker in Preußen, in: Wemer Conze/ Jürgen Kocka (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil I: Bildungssystem und Professionalisierung in internatio nalen Vergleichen, Stuttgart 1985, S.79-108. 37 Vgl. aus der reichen Literatur besonders: Die Göttinger Sieben. Ansprachen und Rede n anläßlich der 150. Wiederkehr ihrer Protestatio n (Göttinger Universitätsreden, H .S5), Göttingen 1988; Rudolf von Thadden, 1837 - die Universität im Königreich Hannover, in: Bemd Moeller (Hg.), Stationen der Gö ttinger Universitälsgeschichte, Götlingen 1988, S.46-67; Hartmut Boockmann, Göttingen. Vergangenheit und Gegenwart einer europäischen Universität, Göttingen 1997, S. 42 ff.
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38 Zur österreichischen Entwicklung vgl. Silvester Lechner, Gelehrte Kritik und Res tauration: Mettemichs WlSSenschafts- und Pressepolitik und die Wiener »Jahrbücher der Literatur« (1818-1849), Tübingen 1977; Hans Lentze, Die Universitätsrefonn des Ministers G raf Leo Thun-Hohenstein, Graz 1962; Walter Höflechner, Die Baumeister des künftigen Glücks. Fragment einer Geschichte des Hochschulwesens in ÖSterreich vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis in das Jahr 1938, Graz 1988. 39 Vgl. Erich J.e. Hahn, The Junior Facult y in ,.Revolt,,: Reform Plans for Herlin University in 1848, in: American Historical Review 82 (1977), S.875-895. 40 Zur Entlastung des Anmerkungsapparats wird fü r das folgende auf die zahlreichen Spezialuntersuchungen hingewiesen (vgl. Anm. 18), insbesondere auf das von Heide lhielbeer präsentierte Material. 41 Einzelnachweise bei Thielbeer, Universität, S. 91 ff. 42 Zu München vgl. neben Hummel auch Wolfgang König. Universitätsreform in Bayern in den Revolutionsjahren 1848/ 49, München 1977; zu Tübingen Eberhard Sieber, Stad t und Universität Tübingen in der Revolution vo n 1848/ 49, Tübingen 1975; Ders. (Hg.), Dokumente zur gescheiterten Tübinger Universitätsrefonn in der Revolution von 1848/ 49, Tübingen 1977. 43 Vgl. Thielbeer, Universität, S. 58 ff. 44 Vgl. Ja rausch, Studenten, S. 52lf. 45 Thielbeer, Universität, S. 140. 46 Auf die verwickelten Detailfragen in den Hochschulreform-Auseinandersetzungen kann h ier nicht eingegangen we rden, vgJ. hierzu Griewank, Jarausch und lhielbeer. 47 Vgl. Thielheer, Universität, S. 128 ff.; sowie als Anhang 11 d ie berufsbiographischen Lis ten, S. 250-254. 48 Friedländer/Giseke, Wartburgfest, S. 11 . 49 Ebd., S. 59. 50 Robert Giseke, Die Entwicklung der demokratischen Partei in Breslau, in: Grenzboten, 2. Sem., 111. Band, Leipzig 1848. 51 Richard und Rohert Keil, Geschichte des Jenaer 5tudentenlebcns 1548-1858, Leipzig 1858, 5.628. 52 Vgl. zum späten Kaiserreich vom Bruch, Universitäts reform; ferner als (nur teilweise realisiertes) Konzept für Reformen in der Weimarer Republik earl Heinrich Becker, Gedanken zur Hochschu lreform, Leipzig 1919. 53 Vgl. König, Universitätsreform, S. 273. 54 Ebd., 5. 274; dies im Anschluß an Norbert Andemach, Der Einfluß der Parteien a uf das Hochschulwesen in Preußen 1848-1918, Göttingen 1972. 55 Peter Moraw, Aspekte und Dimensionen älterer deutscher Universitätsgeschichte, in: Peter Moraw / Volker Press (Hg.), Academia Gissensis. Beiträge zur älteren Gießener Universitätsgeschichte, Marburg 1982,5. 143. 56 Vgl. Wilhelm von Humboldt, Über die innere und äußere Organisation de r höheren wissenschaftlichen Anstalten in Herlin, in: Schriften zur Politik und zum Bildungswesen (Wilhelm von Humboldt, Werke in fünf
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Bänden. Bel. 4). Darmstadt l 1969. 5 . 255-266; Wilhelm von Humboldts Universitätsidee - ihre Bedeutung für die Hochschulbildung heule. Berlin 1988; Günther Hool. Umden Zustand der Universität zum Besseren zu reformieren. Aus acht Jahrhunderten Universitätsgeschichte. Wien 1994. 57 Vgl. Bemhard vom Brocke (Hg.), Wisse:nschaftsgeschichte und \o\Iissenschaftspolitik im Industriezeitalter. Das ..System Althoff.. in historischer Perspektive, Hildesheim 1991 ; Bemhard vom Brocke/ Peter Krüger (Hg.). Hochschulpolitik im Föderalismus. Die Protokolle der Hochschulreferenten der deutschen Bundesstaaten und ÖSterreichs 1898 bis 1918. Berlin 1994. 58 Vgl. Rüdiger vom Bruch, Max Webers Kritik am ..System Althoff.. in universitätsgeschichtlicher Perspektive. in: Berliner Journal für Soziologie
5 (1995), S. 313-326. 59 Spranger. Wandlungen. S. 12 f.
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Die preußische Gegenrevolution Richtung und Hauptelemente der Regierungspolitik von Ende 1848 bis 1850
In seiner Säkularbetrachtung zur Revolution fand es Friedrich Meinecke vor fünfzig Jahren eine »rätselhafte Tatsache«, »daß
diese ganze Revolution von ]848 im Anfang so leicht siegen und in ihrem weiteren Verlaufe dann mit verhältnismäßig geringer Mühe niedergeworfen werden konnte.<,1 Meineckeempfahl, sich der Haltung des deutschen Bürgertums zuzuwenden, wollte man das Rätsel lösen. Das ist inzwischen in der Forschung vielfach geschehen, ohne daß das Rätsel ganz gelöst worden wäre. Für eine Antwort auf Meineckes Frage ist es daher geboten, den Rahmen weiter zu stecken und neben einer veränderten Einstellung des Bürgertums in Deutschland am Ende der Revolution auch das gegenüber dem März 1848 rapide gewandelte Verhalten der preußischen Regierung zu beachten. Anfang 1848 waren di~ Widersprüche zwischen den einzelnen Richtungen 'der Opposition gegen das herrschende System vorübergehend in den Hintergrund getreten, weil dessen Unfähigkeit zum sozialen und politischen Wandel die tiefe Krise von Staat und Gesellschaft auf die Spitze trieb. In Berlin war es vor dem 18. März die Militärführung, die mit blutigen Exzessen die unterschiedlichen Bewegungen geradezu in die gleiche Richtung provozierte und dadurch das revolutionäre Geschehen in Gang setzte. Das liberale Bürgertum sah sich anschließend seinen Zukunftsvorstellungen näher als je zuvor. Emporgetragen durch eine Revolution, die es nicht gewollt hatte, sah es den Weg für den Wandel frei - und zwar einen tiefergreifenden Wandel, als es ihn vor der Revolution in seinem Streben nach politischer Mitbestimmung dem alten System offeriert hatte. Für einen Teil der Eliten dieses geschlagenen, aber weitgehend funktionsfähig gebliebenen Systems bedeutete dieser
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Trend Gefahr und Chance zugleich. Bei diesem Personenkreis leitete die Schockwirkung der Revolution einen ProzeB des Umdenkens ein, der beträchtliche Wirkung erlangen sollte. Flexibilität und Reformbereitschaft traten an die Stelle verstockter Starrheit. Dieser Prozeß verlief freilich bei den Repräsentanten des Hofes, des Militärs, der Bürokratie und des Großgrundbesitzes keineswegs einheitlich. Oft spielte die Taktik eine Rolle, wenn diese nun plötzlich sich zu 8efünvortern des konstitutionellen Prinzips aufschwangen. Doch besonders im Militär und in der Bürokratie wirkten teilweise durchaus noch Id een der Reformzeit nach, und solche Wortführer, die vor der Revolution eher im Hintergrund gestanden hatten, traten nun nach vorn. Die Camarilla, das informelle Zentrum dieser konservativen Bewegung, inspirierte nach der Märzrevolution die konzeptionelle Debatte um eine für Adel und Monarchie akzeptable Spielart des Konstitutionalismus. Auch die Anfang November eingesetzte Regierung der Gegenrevolution bewegte sich auf dieser Linie - schon deshalb, weil die Minister d er hohen Bürokratie, der Generali tät und dem Wirtschaftsbürgertum entstammten. Diese Blickrichtung deutet darauf hin, daß das Bürgertum der Hauptadressat der konservativen Bes trebungen war. Es sollte rechts· und machtpolitisch partiell zufriedengestellt, jedoch langfristig zu einem sekundären Bündnispartner domestiziert werden. Die erste Phase der Gegenrevolution - von Anfang November 1848 bis Mitte Januar 1849 - begann, als General Friedrich Wilhelm Graf von Brandenburg das Ministerpräsidentenamt übernahm und mit einem Staatsstreich die preußische Konstituante ausschaltete. Er vertagte und verlegte sie zunächst. Zugleich bot sich die Regierung jedoch auf drei Ebenen dem Bürgertum als Bundesgenosse an und konnte dabei von dem entscheidenden Vorteil ausgehen, auch nach der Mä rznied erlage über die staatlichen Machtapparate zu verfügen. Erstens setzte sie auf Kooperation bei einer gewaltsamen Niedervverfung der Revolution . Die Basis dafür war das gemeinsame Interesse, das System der sozialen Ungleichheit und besonders die bestehende Eigentumsordnung zu bewahren. Zweitens bekannte sie sich zu einer monarchischen Spielart des konstitutionellen Systems, die die Krongewalt in das Machtzentrum rückte, den parlamentarischen Lnstanzen jedoch ein Mitspracherecht ein-
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räumte. Drittens sprach sie sich für einen preußisch-deutschen -Bundesstaa t aus, der die nationalen Einheitsforderungen mit d em Ziel einer Hegemonie des preußischen Staa tes in Deutschland verband .2 Eine von der Regierung konzipierte Erklärung König Friedrich Wilhelms IV. vom 8. November 1848 formulierte diese zen· tralen Vorhaben: es gehe darum, die Souveränität der Krone gegen den Sou veränitätsanspruch des preußischen Parlaments zu wahren und dieses bei Widerspruch aufzulösen; Preußen als Großmacht zu rehabilitieren, indem es die Stü tze »der werden· d en Einheit Deutschlands« bei »Souveränität seiner Könige und Fürsten •• bilde und die Paulskirche auf die Grenze der Verfas· sungsvereinbarung zurü ckverweise; gegen Rebellion »mit rücksichtsloser Energie« einzuschreiten.) Die Regierung hatte es in diesem Augenblick vor allem mit zwei unterschiedlichen Tendenzen im Bürgertum zu tun. Wäh· rend bildungsbürgerliche Eliten in den Parlamenten, besonders in der preußischen verfassungsgebenden Versammlung und d ort initiiert vor allem durch die demokratische Linke, in Rich· tung auf ein bürgerlich-parlamentarisches System drängten und des halb die konservative Regierungsseite zum Handeln zwangen, beklagten Unternehmer verminderte Umsätze, die sie auf die anhaltende pol itische Unruhe und Instabilität schoben." Das Verlangen na ch Ruhe und Ordnung gewann im Herbst 1848 generell breitere Wirkung, erfaBte auch kleinbÜr· gerliche und bäuerliche Kreise und wurde zu einem sozialen Ferment der Gegenrevolution in einem doppelten Sinne. Es schwächte die Basis d er revolutionären Bewegung. Zugleich konnte die Regierung der Staatsstreichpolitik breitere Resonanz sichem, indem sie die »zweite« Revolution als Gefahr überhöh· te und instrumentalisierte. Die Rechnung ging auf. Anders als im März vermied die Regierung, als sie die Konstituante ausschaltete, jegliche Provokation. Es gelang, Berlin ruhig zu halten. Gleichwohl waren alle Vorkehrungen ge troffen, Störungsversuche im Keim zu ersticken.5 Proteste gab es in manchen Provinzen, besonders in Schlesien und Sachsen. Gegen sie wu rde Militär eingesetzt. Die Geister schieden sich, als die linke Majorität der Konstituante als ihren letzten Beschluß die Steuerverweigerung durchsetzte. Im liberalen Bürgertum wuchs die Distanz zu dieser Versammlung rapide.6
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Das galt besonders für die Liberalen in der Nationalversammlung in Frankfurt. Ihre Kritik resultierte freilich nicht allein aus dem Linkstrend der preußischen Konstituante, sondern auch aus ihren eigenen deutschland politischen Vorstellungen. In ihrer Mehrheit standen diese Liberalen in großdeutscher Reichstradition. Als später allein die kleindeutsche Lösung rea· listisch schien, schwebte ihnen zwar, so illusionsreich das anmutet, ein preußisches Reichsoberhaupt vor, jedoch nicht eine Hegemonie des preußischen Staates, vielmehr ein parlamentarisches Deutschland, in das Preußen weitgehend aufgehen sollte? Noch am 8. Dezember verlangte Heinrich von Gagern, daß Preußen zum Ausgleich dafür, daß es das Reichsoberhaupt stellte, nsich ganz und unbedingt der Nationalversammlung und der Zentralgewalt [... ] anschlösse<,.8 Drei Tage zuvor hatte die Berliner Regierung eine Verfassung für Preußen oktroyiert, und auch sie besaß ihre deutschland politische Komponente. Ein modemes, lebensfähiges, eigenständiges konstitutionelles Preußen sollte sich als Partner der Vereinbarung mit größerem Gewicht als bislang der Paulskirche präsentieren. Die Paulskirche hat, so scheint es, dieses Faktum wenig reflektiert; sie befand sich freilich in einer Zwickmühle, konnte sie doch den - zwar begrenzten - Fortschritt der Konstitution nicht gut mißbilligen. Es handelte sich um eine Verfassung nach monarchisch-konstitutionellem Muster. Die exekutive Gewalt stand allein dem König zu, nur er durfte Minister ernennen und entlassen. Die gesetzgebende Gewalt übte er gemeinsam mit dem Landtag aus. Mit seinem absoluten Vetorecht vermochte er jedoch Gesetzesbeschlüsse der Kammern abzuweisen und mit seinem Notverordnungsrecht Regelungen mit faktischer Gesetzeskraft ohne das Parlament zu erlassen. So gab es weder Gewaltenteilung noch parlamentarische Ministerverantwortlichkeit. Bürgerliche Grundrechte wurden geWährt, d och gewichtige Ausnahmeparagraphen eingebaut, durch die sie in Zeiten der Krise leicht außer Kraft gesetzt werden konnten. Ein Revisionsvorbe· halt sollte spätere Korrekturen ermöglichen. 9 Manchen Politikern des Camarillakreises, die für eine strikte Konterrevolution und ständ ische Rezepte votierten, ging das, was die Verfassung zugestand, entschieden zu weit und in die fal sche Richtung. So markiert der Verfassungserlaß den Ausgangspunkt für einen tiefen Widerspruch zwischen einer hoch -
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konservativen Strömun~ die am Hofe, unter dem Landadel und in Teilen des höheren Staatsapparats starken Einfluß besaß, und der reaHtätsbezogenen, flexiblen reformkonservativen Politik der Regierung. Er vertiefte sich rasch, als er sich auf die DeutschJandpolitik ausdehnte, und führte in den beiden folgenden Jahren öfters geradezu zur Lähmung der Regierungspolitik. »Nicht das Beste, das Mögliche sei zu tun«, mahnte Brandenburg das Haupt der Camarilla, den General Leopold von Gerlach. 1o Doch zu beeindrucken vermochte er ihn nicht. Dagegen traf im Bürgertum die Verfassung auf viel Akzeptanz. Ihr geistiger Vater, Friedrich Julius Stahl, veröffentlichte zwei Tage nach der Oktroyierung eine Flugschrift, in der er ihre Prinzipien auf die Formel brachte: »Eine Gewähr der Ordnung des Ganzen und der Stellung und des Besitztums des Einzelnen bietet nur eine selbständige starke königliche Gewalt.(]] Es waren naturgemäß mehr gemäßigte als linke Liberale, die zustimmten.]2 Die Regierung ließ der Verfassung eine,Yielzahl praktischer Schritte folgen, um die innere Konsolidierung fortzuführen. Sie drücken das politische Profil des Staatsministeriums ebenso wie seine Strategie und Taktik besonders anschaulich aus. Erstens leitete es mit kleinen und mittleren Nachbarstaaten, zuerst mit Anhalt-Dessau, dann mit beiden Mecklenburgs, Verhandlungen ein, die eine Kooperation des Militärs herbeiführen sollten, um revolutionäre Aufstände niederzuschlagen.13 Zweitens ging die Regierung in der praktischen Innenpolitik daran, die staatlichen lnstanzen mit administrativen Mitteln die in der Verfassung gewährten Freiheiten demonstrativ und restriktiv begrenzen zu lassen . Die Behörden wurden zu einer »kräftigen Handhabung« der gesetzlichen Ordnung ebenso aufgefordert wie zur Entlassung von Beamten, ,)welche dieser Anforderung nicht genügen «. Administrativ eingeschränkt wurden besonders die Presse- und die Versammlungsfreiheit. ]4 Drittens mußte der Regierung daran liegen, aus der Ende Januar 1849 bevors tehenden Wahl zum Landtageine starke konservative Fraktion hervorgehen zu lassen, um die beabsichtigte Verfassungsrevision n icht nach links ausufern zu lassen. Da diese Wahlen nach allgemeinem und gleichem Wahlrecht stattfanden, sollten sozialpolitische Initiativen die Ernsthaftigkeit des Reformansatzes unterstreichen. Ein Handwerkerparlament wurde einberufen, um eine neue Gewerbeordnung vorzubereiten. Einen ers ten
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Schritt bedeuteten die im Februar 1849 eingeführten Gewerberäte und Gewerbegerichte. Die gegen den Staatsstreich rebellierenden Bauern in Schlesien erhielten eine Regelung der Ablösung zu günstigen Sätzen versprochen. IS Bereits Anfang des neuen Jahres traten dort staatliche Kreisgerichte an die Stelle von etwa 2000 Patrimonialgerichten. In der zweiten Phase der Gegenrevolution - von Mitte Januar bis Ende April 1849 - stand die deutsche Politik im Mittelpunkt. Wenn das Kabinett dafür die Kooperation mit der Paulskirche suchte, ergab sich das nicht allein aus dem Bestreben, die Liberalen für den eigenen Kurs zu gewinnen. Vielmehr traf Leopold von Rankes Begründung für eine preußisch-deutsche Initiative, zu derer im Oktober 1848 in einer Denkschrift die Staatsführung aufforderte, im neuen Ministerium eine verbreitete Grundstimmung: im Blick auf die deutsche Nationalbewegung und die Praxis des Zollvereins konstatierte Ranke die längst zwischen Deutschland und Preußen bestehende gegenseitige Durchdringung, die einen wachsenden Teil seiner Macht und europäischen Bedeutung in seinen Zusammenhang mit Deutschland verlagere.16 Es sind zugleich Ansätze der Erkenntnis, die über ein Jahrzehnt später Bismarck leitete: in einer Zeit raschen gesellschaftlichen Wandels mit einer preußischen Deutschlandoffensive auch die Lebensfähigkeit einer nur partiell modemen preußischen Monarchie unter Beweis zu stellen. Der Zollverein erwies sich dafür als wichtiges Instrument, bewies er doch auf materieUem Gebiet, wie effizient und zukunftsträchtig nationale Konzentration unter preußischer Hegemonie war. Ministerpräsident Brandenburg war überzeugt, Preußen werde den vollen Sieg über die Revolution erst »durch Aufstellung einer neuen Schöpfung« gewinnen Y Die kleindeutsche Bundesstaatslösung, die er anvisierte, war freilich nicht identisch mit dem Konzept der Paulskirche. Für ihn galt als Hauptziel, die Hegemonie des preußischen Staates in Deutschland, und damit einen Zugewinn an Macht und Stabilität für Preußen durchzusetzen. Es fehlen genauere Analysen darüber, wie weit nationales BewuBtsein Eingang in die konservativen Strömungen gefunden hat. Da die Revolution bei den Konservativen zuerst eine von preußischem Patriotismus geprägte partikularstaatliche Abwehrreaktion hervorrief,18 konnte eine Verkoppelung des bundesstaatlichen Ziels mit der preußischen Hegemonie bei ihnen
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am ehesten auf Akzeptanz rechnen. Bismarck hat den »preußischen Patriotismus(, Brandenburgs in den Befreiungskriegen verwurzelt gesehen und fand ihn schon deshalb von »deutschem Nationalgefühl durchsetzt" .19 Preußen leitete seine Initiative mit der Zirkulardepesche vom 23. Januar ein, nachdem die Wiener Regierung klarges tellt hatte, daß sie lediglich zu einem revidierten Staatenbund zu· rückkehren wolle. Berlin indes nahm nun die von Heinrich von Gagern stammende Doppelbundsidee auf. Ein "engerer« Bund, faktisch ein preußisch-kleindeutscher Bundesstaat, sollte mit Österreich einen Staatenbund bilden. Für dieses Ziel sollten Verhandlungen eingeleitet werden mit Wien, Frankfurt und den Bundesstaaten. Doch das Verhältnis zu ÖSterreich verschlechterte sich rasch. Ministerpräsident Felix Fürst Schwarzenberg hielt rigoros an seiner strikten Ablehnung eines Bundesstaates fest. "Wir würden es eher aufs äuBerste ankommen lassen«, drohte er der Regierung in Berlin.20 Am 9. März bot er an, mit der gesamten Habsburgermonarchie in den Deutschen Bund einzutreten. Auf Zustimmung in den Einzelstaaten, auch in der Bevölkerung, besonders in Süddeutschland, in denen landesspezifisch geprägtes Bewußtsein gewachsen und eine preußische Lösung wenig populär waren, konnte eine solche Idee durchaus rechnen. ln ihr jedoch die weitreichende, kühne Zukunftsaltemative eines 70-Millionen-Reiches zu sehen,21 scheint eine erstaunliche Interpretation, handelte es sich doch, zumal in dieser frühen Phase, um eine von Abwehr motivierte, nicht ausgereifte und durchkonstruierte Idee, die wohl allein das Ziel verfolgte, die Frankfurter und die Berliner Pläne zu durchkreuzen. Widerspruch gegen die preußische Deutschlandpolitik kam auch von den europäischen Großmächten. Das Gleichgewicht der groBen Mächte hatte bislang auf der Vielfalt MitteJeuropas, der Zersplitterung Deutschlands beruht. Hatten sich die großen Mächte bereits g~gen jeden Wandel gestellt, der Schwerkraft im europäischen Zentrum zu konzentrieren drohte, verstärkten sich ihre Vorbehalte jetzt noch, weil dieser Wandel mit einer Revolution verknüpft war, oder, genauer, aus ihr hervorzugehen drohte. Den schärfsten Einspruch dabei formulierte die russische Führung. Sie verwarf das preußische Ziel, indem sie den Nationalstaat generell als Werk der Revolution desavouierte. Sie verlangte, Front zu machen gegen die Paulskirche, und ver-
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sprach militärischen Beistand, was nichts anderes als die versteckte Drohung bedeutete, militärisch zu intervenieren. Faktisch beanspruchte sie über das östliche Mitteleuropa eine hegemoniale Stellung. Sie zu konservieren war doppelt motiviert, außenpolitisch wie gesellschaftlich. Rußland sollte abgeschirmt bleiben gegenüber dem gesellschaftlichen WandeL 22 Von Frankfurt aus lief der Druck auf Preußen in entgegengesetzter Richtung. Eine knappe Mehrheit der Nationalversammlung bot Ende März dem preußischen König die Kaiserkrone an. Doch zugleich zielte sie darauf, die von ihr erarbeitete Reichsverfassung in eigener Souveränität in Kraft zu setzen, indem sie mit dem Angebot der Krone faktisch verlangte, die Konstitution zu akzeptieren. Diesen Bruch des Prinzips der Vereinbarung hinzunehmen, war die preußische Regierung nicht nur aus grundsätzlichen, sondern auch aus spezifischen Erwägungen nicht bereit, hatten doch die Gagern-Liberalen, um sie zur Zustimmung zum Erbkaisertum zu bewegen, der demokratischen Fraktion Simon Konzessionen in zwei Grundsatzfragen der Verfassung gemacht, die Brandenburg für unannehmbar hielt: das suspensive Veto des Kaisers trat an die Stelle des absoluten Vetos und das allgemeine und gleiche Wahlrecht an die Stelle des Zensus-Wahlrechts. So fiel die Antwort des Königs eher ablehnend aus, eindeutig war sie nicht. Sie war, vor allem auf Betreiben der Regierung, hinhaltend. Noch suchte Brandenburg den Bruch mit der Paulskirche zu vermeiden. Gegen den Souveränitätsanspruch der Nationalversammlung setzte er noch einmal das Vereinbarungsprinzip und den »Antrag der deutschen Regierungen«.23 Gerade auf diese Regierungen wuchs indes der Druck ihrer Parlamente und der öffentlichen Stimmung. 28 Regierungen stimmten der Kaiserwahl zu, zugleich aber auch - ohne Bedingung - der Reichsverfassung. Die vier Königreiche lieBen Berlin nicht im Zweifel darüber, daß sie ihr negatives Votum nur noch aufrechterhalten woHten, wenn Preußen mit der Ablehnung der Verfassung vorausging. Zuletzt zeichnete sich auch in beiden preußischen Kammern ein positives Votum zur Frankfurter Reichsverfassung ab. Hält man sich diese Konstellation der politischen Kräfte Mitte April in Deutschland vor Augen, drängt sich der Eindruck auf, daß es eine reelle Chance für den Frankfurter Bundesstaats- und Verfassungsplan gab - vorausgesetzt, Preußen nahm das Ange-
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bot und die Verfassung an. Ein Übergang auf friedlichem, vorw iegend parlamentarischem Wege zu einer bürgerlich-parlamentarischen Monarchie schien au f einmal möglich . Es waren deshalb auch nicht in erster Linie die erwähnten gravierenden Korrekturen in der Verfassung - über die eine Einigung noch keineswegs ausgeschlossen war-, durch die sich die preußische Regierung zur Absage an Frankfurt gezwungen sah, sondern d er ganze inzwischen von der Pauls kirche dominierte politische Prozeß, der seinen Lauf zu nehmen drohte, die Konstellation der politischen Kräfte insgesamt. Alles spitzte sich in dieser dramatischen Situation auf die Kernfrage zu, welche Seite das Gesetz des Handelns bestimmte, die Paulskirche oder Preußen. Wollte die preußische Regierung den Staat Preußen in seiner traditionellen Struktur, aber auch in seiner neuen, noch keineswegs s tabilen konservativ-konstitutionellen politischen Spezifik und wollte sie seine Aussicht auf die Hegemonie in Deutschland bewahren, mußte sie d as Paulskirchenangebot ablehnen. Die folgenden Ereignisse trieben den Grundkonflikt auf die Spitze. Die Zweite Kammer des Landtages überschritt ebenso w ie die Paulskirche die Grenzen ihrer Kompetenz. Am 21 . April nahm d ie Kammer die Reichsverfassung als rechtsgültig an. Wenige Tage später verlangte sie, den Belagerungszustand in Berlin aufzuheben . Die Paulskirche forderte die Regierungen, die noch zögerten, auf, die Reichsverfass ung anzunehmen. Es war für die preußische Regierung der letzte Augenblick, um beiden Parlamenten die Initiative zu entwinden. Am 27. Ap ril löste sie den Landtag auf. Einen Tag später wies sie das Angebot der Kaiserkrone ebenso zurück wie d ie Reichsverfa ssung in ihrer derzeitigen Gestalt. Im Gegenzug forderte sie die Regierungen der deutschen Staaten auf, mit ihr neue Verhandlungen über Bundesstaat und Verfassung aufzunehmen. Dieser Vorstoß der preußischen Regierung leitete die dritte Phase der Gegenrevolution - von Ende April bis Juli - ein. Er sollte gegenüber der Paulskirche und der Reichsverfassungskampagne die Initiative für den eigenen Weg in der Bundesstaatsfrage zuruckgewinnen. Diesem Ziel war der militärische Einsatz preußischer Truppen gegen d ie Kampagne eindeutig untergeordne t, er sollte ihr di enen . Ein Verfassungsentwurf wurde vorgelegt, d er auf der Frankfurter Konstitution aufbaute, mit den wichtigen Korrekturen allerd ings, die die Regierung immer wieder geltend gemacht hatte: dem absoluten Vetorecht
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d es p reußischen Exekuti v-Oberhaupts und dem Dreiklassenwahlrecht für das Volkshaus. Um dessen Kompetenz weiter zu reduzieren, wurde ein sechsköpfiges Fürstenkollegium vorgesch lagen, das sich gemeinsam mit dem Oberhaupt und dem Reichstag in d ie legislativen Rechte zu teilen hatte. Doch mehr als die Verfassungsbestimmungen wa r es d ie initiative selbst, d ie die erstrebte preußische Hegemon ie sichern sollte. Sie bedeutete einen neuen Anlauf, der sich in seiner Zielsetzung von der Januardepesche keineswegs entfern te. Diese Kontinuität der Deutschland politi k der Regierung Brandenburg gilt es hervorzuheben, weil in der Historiog raph ie die Unionspolitik in ihrer Eigenständigkeit überbewertet und sie gewöhnlich auf d en Namen Rad owitz red uziert wird .24 Taf· sächlich war Radowi tz nur der Beauftragte der Regierung für die Verhandlungen mit den Bundesstaaten, und Brand enbu rg ließ den General schon d eshalb gern im Vordergrund agieren, um in hei klen Si tuationen sich von ihm abgrenzen zu können und den eigenen Bewegungsspielraum zu bewah ren. Der äu· ßere Rahmen, d en die Unionspolitik anvisierte, wa r nichts an· deres als der Gagernsche Doppelbun d, den Brandenb urg im Ja· nuar 1849 als Hülle für eine p reußische Hegemonie aufgegri f· fen ha tte. Nur wenn sie den Vorteil der mi litärischen Präsenz in den von den Verfassungskämpfen geschwächten Klein· und Mittel· staaten nutzte, rasch handelte und schnell entschied, solange sich ÖSterreich auf d en Kampf gegen d ie Revolution in Ungarn und Italien zu konzentrieren ha tte, meinte d ie Regierung das Ziel erreichen zu können. Die Hektik der Verhandlungen er· leichterte es jedoch d en dem Vorhaben Preußens abgeneigten, allerdings von ihm temporär abhängigen Regierungen Sach· sens und Hannovers, Scheingefechte zu führen und d en letzten En tscheid ungen auszuweichen. Umgekehrt erhielt d er Opti· mismus der Fü hrung in Berlin Auftrieb, als süddeutsche Regie· rungen von ihr Truppen gegen die Aufstände in Bad en und d er Pfalz anforderten. Der militärische Erfolg Preußens gewährlei; ste auch d en po litischen, gab der Ministerpräsident dem als Befe hlshaber nach Süddeutschland entsandten Prinzen Wilhelm mit au f den Weg.25 Als im Juli 1849 der Aufs tand in Baden militärisch erstickt war, hatten sich Bayern und Württemberg d em Unionsprojekt jedoch nicht angeschlossen. Es erwies sich als Fehlei nschät·
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zung, auf die politische Wirkung der Militärhilfe gleichsam im Selbstlauf zu setzen; der günstig scheinende Zeitpunkt war überdies verflossen. Das Ende, das die Volksrevolution fand, erwies sich nun auch als Riegel für die bundesstaatliche Alternative. 26 Es erhebt sich die Frage, ob ein anderer als der von Brandenburg eingeschlagene Weg gangbar gewesen wäre. Daß es zu viele und zu starke Gegenkräfte gab, ist nicht zu übersehen. Lediglich im deutschen Wirtschaftsbürgertum und, halbherzig, bei den gemäßigten Liberalen fand die Unionspolitik Anklang.27 Die Schubkraft der nationa len Bewegung blieb ihr wegen des Hegemonieziels weitgehend fremd. Besonders in Mittel- und Süddeutsch1and stand Preußen im Ruf, die Dominanz von Obrigkeit, Bürokratie und Militär in einem konservativen Staatswesen zu verkörpern und die liberalen Freiheiten und die historisch gewachsene Eigenständigkeit zu bedrohen. Katholiken befürchteten protestantische Vorherrschaft. Die Regierungen der deutschen Königreiche, die sich allein durch den Druck der Nationalbewegung auf die Unionsverhand lungen eingelassen hatten, nutzten diese Stimmung, um Zeit zu gewinnen, die kritische Periode nochmals verstärkter revolutionärer Aktivitäten im Zuge der Reichsverfassungskampagne zu überstehen. Von Anfang an keinen Zweifel an ihrem entschiedensten Widerspruch ließen die preußischen Hochkonservativen, ÖSterreich und Rußland. Es hört sich geradezu fundamentalistisch an, wenn die »Kreuzzeitung« der Regierung vorhielt, sie habe das »Knie gebeugt vor dem Popanz der Revolution( und von ihr verlangte, »die Vermischung der deutschen Einheit mit der deutschen Revolution« zu korrigieren. 28 Auch im Verhältnis mit Wien war die Schärfe kaum noch zu überbieten. »Wir werden nächstens aufeinander schießen((, drohte Schwarzenberg. 29 Auch der Zar kündigte Krieg als »beinahe unvermeidlich« an. JO Doch war das ernst gemeint? Am Ausklang der Revolution konnte ein Krieg unberechenbare, gefahrdrohende Folgen zeitigen, besonders wenn Rußland ÖSterreich zu Hilfe kam. Zu erwarten war dann, daß der preußische Staat und die nationale Bewegung gemeinsam gegen den äußeren Feind kämpften. Ein Sieg in diesem Kampf konnte durchaus zur Konstituierung eines preußisch-deutschen Reiches führen, zugleich aber auch verfassungspolitische Zugeständnisse erzwingen, die bislang ausgeschlossen waren. Sogar mit einer Neubelebung der Revo-
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lution, unter nationalem Vorzeichen, muBte gerechnet werden. So spricht manches dafür, daß der diplomatische und ideologi. sehe Druck ÖSterreichs und Rußlands auf Preußen und ihre nicht einmal verschleierte Kooperation mit den preußischen Hochkonservativen deshalb so massiv waren, weil sie alle wußten, über solchen Druck hinaus nicht gehen zu können. Die Entschlußkraft der Berliner Regierung zu beeinträchtigen vermochte dieser massive Widerspruch sehr wohl. Denn auch ihr verbot sich eine rigorose Offensive aus den gleichen Gründen wie ihren Gegnem. Auch sie hatte, wenn sie den inner- und außerdeutschen Widersachern entschlossen den Kampf angesagt hätte, zu bedenken, ob sie der Revolution dann nicht einen neuen Nährboden verschaffte. So blieben in dieser instabilen Lage für die Pläne sämtlicher Auguren die Aussichten unsicher. Für die Regierung Brandenburg blieb allein der eingeschränkte Mittelweg; e r vermied die Extreme und suchte die begrenzte Kooperation mit allen Seiten außer mit den revolutionären Kräften. ln der vierten Phase der Gegenrevolution - vom Juli 1849 bis zum März 1850 - standen die innerpreußischen Fragen im Vordergrund : die Revision der Verfassung und neue Reformgesetze. Die Unionspolitik s tagnierte. Doch diese beiden Bereiche blieben im Zusammenhang. Da in der neu gewählten Zweiten Kammer des Landtages die Unionspolitik noch eine Mehrheit fand, war die Regierung nicht im Zweifel, ihre innenpolitischen Ziele nur verwirklichen zu können, wenn sie an ihrem deutschen Kurs festhielt. 31 Unzweifelhaft: der günstigste Zeitpunkt für eine Verwirklichung war vorbei. Doch eine Minimalvariante versuchte die Regierung noch zu retten. Sie mußte auch ihr Gesicht wahren. Und es gab den taktischen, den manipulatorischen Aspekt gegenüber den Liberalen. Zusätzlich geschwächt wurde die Unionspolitik durch die lnitiativen Schwarzenbergs, die auf vielfältige Weise in den Mittels taaten die Gegenkräfte zu s tärken trachteten. Als erstes konnte Schwa rzenberg Berlin dafür gewinnen, die provisorische Zentralgewalt in einem Interim bis Mitte 1850 gemeinsam zu übernehmen. Für ihn bedeutete dies den ersten Schritt zur Wiederbelebung des Deutschen Bundes. Brandenburg und Radowitz dagegen interpretierten ein solches Interim als Schritt in die Richtung des »weiteren Bundes«.J2 Sie verkannten die Lage, denn für diese Alternative fehlte bei dem Stillstand in der
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Frage des »engeren Bundes( jegliche Basis. Zweitens operierte Schwarzenberg nun erfolgreich mit militärischen Hilfszusagen an die Königreiche. Als Preußen seine Truppen aus Sachsen abzog, um die vor neuen Unruhen besorgte Dresdener Regierung politisch unter Druck zu setzen, sprang Wien in die Bresche und konzentrierte Ende 1849 Truppen an der Grenze in Böhmen und erleichterte Beust den Austritt aus dem Dreiköni.~sbündnis. 13 Im Februar 1850 inspirierte Schwarzenberg ein Ubereinkommen der süd - und mitteldeutschen Königreiche gegen die Unionspolitik. Drittens versuchte er mit einem wirtschaftspolitischen Unterbau dieser Politik zusätzliche Stabilität zu verleihen, indem er den Plan einer mitteleuropäischen Zollunion aufgriff, den sein Handelsminister Bruck entworfen hatte. Schwarzenberg hatte vor allem den Zoll verein im Visier, weil er wußte, welche tragende Säule des preußischen Hegemonieplans er darstellte. Zwar bestand im Bürgertum Süddeutschlands einiges schutzzöllnerisches Interesse, doch ernsthaft gefährden konnte der Vorstoß den Zollverein nicht. Auf dieser Ebene gab es für Schwarzenberg bislang nichts zu gewinnen. Es blieb dabei: das eigene Interesse diktierte fast allen mittels taatlichen Regierungen, sich in der deutschen Frage politisch auf ÖSterreich, wirtschaftlich auf Preußen hin zu orientieren. 34 Der Stillstand der Unionspolitik wurde zudem genährt durch einen wachsenden Zwiespalt, der nicht wenige preußische Konservative besonders aus Armee und Bürokratie geradezu politisch lähmte. Sie konnten das Ziel der preußischen Hegemonie und die von der Regierung angestrebte Unionsverfassung nicht in Einklang bringen. Entsprechend formulierte Bismarck im Landtag die Alternative: entweder konservativ-solidarische Kooperation mit ÖSterreich zur Vernichtung der Revolution oder preußisch-kJeindeutsche Expansionspolitik gegebenenfalls mit Krieg . Es verwundert nicht, daß er für keinen der beiden Wege plädierte.lS Die nationalpolitische Initiative Berlins stagnierte freilich noch aus anderen Gründen: die innenpolitischen Kontroversen gewannen in dieser Phase der Gegenrevolution ein solches Gewicht, daß die deutsche Frage auf den zweiten Platz rückte. Als die Verfassungsrevision Anfang 1850 abgeschlossen war, hatte die Regierung ihren mittleren, konservativ-konstitutionellen Weg behaupten können und Korrekturen auf ein Minimum reduziert. Der Erfolg resultierte freilich aus einem harten Kampf,
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den sie an zwei Fronten führen muBte: gegen die liberale Linke
und gegen die konservative Rechte. Eine demokratische Linke gab es nicht mehr. Sie hatte s ich aus Protest gegen das Dreiklassenwa hlrecht an der Wahl vom 17. Juli nicht beteiligt und damit sich und die Liberalen um manche Chancen gebracht. Die Liberalen und die Konservativen ihrerseits e rwiesen sich in beiden Kammern als äußerst heterogen. Eine starke Stellung besaß die äußerste, hochkonservative Rechte, auch wegen ihres Einflusses auf den König und am Hofe. Die Liberalen konzentrierten sich darauf, das absolute Vetorecht des Monarchen ein wenig zu entwerten und die Parlamentsrechte in d er Ste uerbewilligungsfra ge zu stär ken, indem s ie d em Landtag nun doch eine Art Steuerverweigerungsrecht zuzubilligen beantragten. Durchsetzen konnten s ie das a llerdings nicht. Viel wirkungsvolle r war de r Vorstoß von hochkonserva ti ver Seite. In d er deutschen Politik traten sie der Regie rung fun damentaloppositionell entgegen - nun starteten sie auch in der Verfassungsfrage einen Generalang riff.l6 Beid e Wege sollten zum gleiche n Ziel führen: zur totalen Restauration . Auch die Argumente glichen sich auf heiden Feldern: Die Hochkonservativen unte rstellten der Regierung bedenkenlos Näh e zur Revolution. Es wäre gewiß verkehrt, darin primä r taktisches Kalkül z u sehen . Für sie zeichnete sich vielmehr eine umfassende Machteinbuße ab. Sie fühlten sich gleichsam doppelt bed roht, sowohl durch die Oeutschland- als durch die VerfassungspoliHk Brandenburgs. Wie gefährdet s ie ihre Sonderstellung sahe n, zeigte sich, als sie die Grundrechte ins Visier nahmen. Sie hatten die oktroyierte Verfassung allein unter taktischem Vorzeichen verdrossen akzeptiert und als ein Provisorium betrachtet. Wenn sie nun aufgeregt zeitweilig sogar den Sturz de r Regierung und ein eigenes Kabinett ins Kalkül zogen, verdeutlicht das freili ch auch, wie weit s ich ihre Vorstellungswelt von den Realitäten entfe rnte. Ihr Revisionseifer konzentrierte sich schließlich a uf d as Ziel, die Erste Kammer als Stä ndeersa tz personell so z u s trukturieren, daß s ie als Machtorgan des Großgrundbesitzes fu ngieren konnte. Auch d ieses Ans innen wehrte d ie Regierung ab. Die Mitgliedschaft in der Kammer richte te sich schließ lich nach dem Kriterium der Höchstbesteuerung. Das war ein wichtiges Signal. Denn ebenso wie das Wahlrecht nach Steue rklassen be-
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vorzugte auch diese Entscheidung den gesamten großen Besitz. So zeigen heide Regelungen, wie die Regierung ihr seit November verfolgtes Ziel, das Bürgertum für ihren Kurs zu gewinnen, zu ve rwirklichen trachtete. Sie strebte die Symbiose von Großbürgertum und Großgrundbesitz als Herrschaftselite an. Als alle grundlegenden Revisionspläne gescheitert waren, raffte sich die hochkonservative Opposition noch einmal zu einem Totalangriff auf. Der König sollte den Eid auf die Verfassung verweigern. Diesem Ansinnen widersetzte sich Brandenburg entschlossen. Mit großem Ernst wandte er sich an den König. Eindrucksvoll beschwor er ihn, die durch die Revolution vorgeprägten begrenzten inneren und äußeren Alternativen für die preußische Politik endlich zur Kenntnis zu nehmen; auch Friedrich 1I., lebte er heute, würde eine Verfassung geben, ))um nicht wählen zu müssen zwischen einem anderen siebenjährigen Krieg, der nicht mehr geführt werden kann, und einem Zurückziehen auf sich selbst, welches der Weg zum Untergang wäre«.)7 Der König beugte sich diesen Argumenten. Resigniert notierte Edwin v. Manteuffel, der Gewährsmann der Camarilla: »Unsere innerste Überzeugung (ist), (... ] daß Preußen nur durch eine Diktatur zu retten (... ] is t. « Doch »d ie Zeit, dieser Überzeugung Eingang zu verschaffen, ist noch nicht gekommen.,.38 Von ihren Verfassungsprinzipien ließ sich die Regierung auch bei ihren neuen Reformvo rhaben leiten. Eine neue Gemeindeordnung, die junkerliche Privilegien im Gutsbezirk reduzierte, und ein Grundsteuergesetz, das die Befreiung des Großgrundbesitzes von dieser Steuer aufhob, vermochte der konservative Widerstand noch zu verhindern. Generell etablierte sich die lokale ländliche Ordnung noch mehr als bisher als AuffangsteIlung für die Macht der alten Staatseliten. Doch das Gesetz, das den noch abhängigen Bauern das Recht gab, sich von ihren Lasten abzulösen, setzte die Regierung im März 1850 durch :~ Es unterschied sich kaum von der liberalen Vorlage Patows aus dem Revolutionsja hr, die damals vom Großgrundbesitz heftig bekämpft worden war. An die Stelle der Landabtretung trat der Loskauf, für den alle Beschränkungen wegfielen. Der Bauer wurde persönlich frei , und er wurde Eigen tümer. Doch hatte er meist eine neue Abhängigkeit in Kauf zu nehmen, weil er sich gewöhnlich bei den Rentenbanken verschulden mußte, um sich freizukaufen. Das Gesetz wirkte sich
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besonders in der von den Bauernunruhen hauptsächlich betroffenen Provinz Schlesien aus, in der bislang mehr Bauern als anderswo noch die Arbeitsrente zu leisten hatten. Der finanzielle Vorteil führte dazu, daß viele Großagrarier das Gesetz am Ende billigten. Sie mußten sich wie die Regierung im Landtag von Bismarck, als dem Vertreter der äußersten Rechten, vorhalten lassen, daß sie die pure Nützlichkeit über das altetablierte Recht stellten und somit einem revolutionären Prinzip huldigten.
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neu er Revolutionsgefa hr aus Frankreich gerechnet wurde. 4J Diese deu tschland politische Zielsetzung näherte sich nun auch den Vorstellungen von konserva tiven Kritikern an, die sich inzwischen mehr von p reußischem Prestige und d er Überlegung bestimmen ließen, die bisherige d eu tsche Politik in einer reduzierten Variante nicht einfach faUenlassen zu sollen." Auf d em Erfurter Reichstag, d er über d ie Unionsverfassung befand, trafen Liberale und Konserva tive noch einmal zum alten Streit aufeinan der. Kön igliches oder p arlamentarisches System la utete Stahls Kampfaufruf.4s Es b lieb eine Geisterbeschwörung. Es ha lf den Liberalen nichts, daß sie sich diesmal noch nachgiebiger zeigten als bislang schon. Fü r d en Ministerpräsidenten Bran denburg bedeutete d er Reichstag ohnehin nur einen Nebenschau p latz. 46 Doch als im Mai nur 12 der 26 Teilnehmers taaten d en Fürstenkongreß der Union beschickten und auch diese sich nicht zu einem Einführungsbeschlu ß verstanden, und als gleichzeitig die bislang so gutwilligen Liberalen d ie Regierung wegen ihres Zaudern hefti g angriffen, sah der Reg ierungschef Mitte August alle Mittel - außer d er Gewalt erschöpft und gab d ie bisherige d eutsche Politik aufY Als letzten Funken Hoffnun g hielt er fest, sich mit Wien über eine preußisch-österreichische Parität im Deutschen Bund zu einigen, die eine Dominanz Preu ßens im Norden ermöglichen sollte, gestützt allein auf seine Macht, ohne d en ))lästigen l( Reichstag. Schw arzenberg zielte jedoch nicht auf den Kompromiß mit Preußen, sondern auf d essen Unterwerfung. Als erstes restaurierte er d en Bund estag. Noch ignorierten ihn Preu ßen und d ie Unionsstaaten. Für Juli 1850 berief Wien die Bundesstaaten zu einer Zollkonferenz nach Kassel mit dem Ziel, den Zollunionsplan nun du rchz usetzen. Da sich die König reiche in der Zwickmühle befanden - ihre Absicht, politisch Eigenständ igkeit zu behaupten, ließ sie zu dem Bruckprojekt neigen, ihr wirtschaft liches Interesse d agegen verwies sie zum Zollverein - blieb die preu ßische Delega tion mit ihrer Taktik, auf Zeitgew inn zu setzen und d ie Tarifreform zu verschieben, erfo lg reich .0&8 Nach d iesem m ißgl ücktem Auftakt bot sich Schwarzenberg jedoch bald eine sehr viel sicherere Chance zu einer a uf die Unterordnung Preußens unter eine ös terreichische Präroga tive zielenden Offensive, und zwa r als Dänemark in der hols teinischen Statthalterschaftsfrage und Kurhessen in seinem Verfass ungskonflikt um militä rische Intervention d es Bundes baten. Seide
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Krisenherde versprachen, den preußisch-österreichischen Kon flikt auf die Spitze zu treiben und jede Halbheit auszuschließen. In d er schleswig-holsteinischen Frage mußte sich Preu ßen seit 1848 d en Vorwurf der Großmächte, besonders Rußlands, gefallen lassen, im Bunde mit d er Revolution zu agieren. Die hessisehe Frage war für Berlin deshalb heikel, weil das Kurfürstentum formell der Union angehörte und ein Mi!itä reinsatz die Verbindung zwischen d en beiden voneinander getrennten Territorien d es preußischen Staates gefährd ete. Als der Deutsch e Bund auf Betreiben Schwarzenbergs tatsächlich einen Beschluß zur Intervention in Kurhessen zugunsten d er hochkonservativen Regierung Hassenpflu g traf, löste dies in Preußen einen Schock aus. Wegen d es Info rmationsvorsprungs erlaßte er zuerst die Berliner Zentrale. Brandenbu rg konnte nunmehr seine Linie, die Un ionspo litik sa chte ve rsickern zu lassen, um dafür die bundespolitische Machtteilung mit Österreich einzutau schen, nicht mehr durchhalten. Die Konserva ti ven sahen jetzt das Prestige Preußens ma ssiv bed roht. Leopold von Gerlach warnte besorgt, d aß unehrenha ftes Nachgeben das Land demoralisieren werde. 49 Als am 1. November ÖSterreich in Kurhessen einz umarschieren beschloß, stellten sich Brandenburg auch im Staatsministerium unerwartete Schwierig kei ten entgegen, d en zuvor mit d em Zaren in Warschau verabred eten Schritt, die Union zu li quidieren, zu verwirklichen. Nach drei Tagen härtesten Streits hatte er sich jedoch beha uptet. ~ Kurz d arauf, am 6. November, brach er gesundheitlich zusammen und bezahlte die extreme Belastung der zurückliegend en Wochen und Monate mit d em Leben. In den nächs ten Tagen weitete sich die verbreitete Erregung in Deutschland zu einer fö rmlichen Kriegsstimmung aus.51 Sie erfaßte Konservative, Liberale und Demokraten und reichte in Preu ßen von d eutsch-nationaler bis zu preu ßisch-patriotischer Prägung. Demokraten klagten die Mächte d er Reaktion, Konservative d ie Mächte des Absolutismus an und meinten dabei übereins timmend ÖSterreich und Rußland. Doch da rf die soziale Vielfalt der Stimmung nicht über ihr Ausmaß tä uschen, d as wir nicht genau kennen. Ungefährlich für die Regierung war die Situa tion frei lich nicht. Sich in einen Krieg hineinreißen zu lassen, konnte innenpolitisch noch immer zu unkontrollierbaren Folgen führen . Sä mtliche GroBmächte sahen aus ein em
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möglichen Krieg erneut die Gefahr der Revolution erwachsen. Sie neigten freilich zur Überbewertung dieser Gefahr - was tatsächlich die Friedenssicherheit erhöhte. Sie verstärkten allerdings den politischen Druck und täuschten sogar Kriegsbereitschaft vor, um den jeweiligen Kontrahenten zum Nachgeben zu zwingen. So beschloß die Berliner Regierung wegen der öffentlichen Erregung zwar die Mobilmachung, aber auf Krieg war sie nicht aus. Aus dieser Konstellation resu ltierte die anfängliche Hochspannung ebenso wie am Ende die friedliche Entscheidung. Im Vertrag von Olmütz vom 29.11.1850 verzichtete Preußen, wie sich seit längerem abgezeichnet hatte, schJießlich auch gegenüber ÖSterreich auf die Unionspolitik. Wien versprach eine Reorganisa tion d es Deutschen Bundes, bei der Preußen auf Gleichberechtigung rechnete. 52 Ersteres - der Verzicht auf die Union - bildete das letzte Glied in der Kette deutschlandpolitischer Bemühungen, die nun an ihr Ende kam. Letzteres war für Preußen nicht mehr als eine Hoffnung, die sich rasch zerschlug. Schwarzenberg konnte seinen Erfolg voll auskosten - und dies um so mehr, als er den Sieg in einem Konflikt errungen hatte, der für die Sachentscheidung eigentlich überflüssig war, den er allein zur Demütigung Preußens angezettelt hatte, um auch die kleinste Konzession zu umgehen. Die schwere diplomatische Niederlage Preußens in Olmütz hat in der Geschichtswissenschaft viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Vergleichsweise wenig beachtet wurde dabei die einschneidende längerfristige Wirkung, die für Preußen von dem Vertrag ausging: die Machtverschiebung im Innem und nach außen. So wie die bundesstaatlichen Initiativen der letzten Jahre und die reformkonservative Gegenrevolution einander bedingt und ergänzt haben, so verband sich der Verzicht auf jene jetzt mit der Wende zur strikten Reaktion. Der König sprach von Systemwechsel, und O. v. Manteuffel, der neue Ministerpräsident, von einem Wendepunkt, der nun erst zum entschiedenen Bruch mit der Revolution führe. 53 Das Staatsministerium verlor die meisten konsequenten Protagonisten des reformkonservativen Kurses, die Hoc.hkonservativen gewannen nach ihrem deutschland politischen Sieg beträchtlichen Einfluß auch in der Innenpolitik, die Liberalen befanden sich im Abseits. Doch die totale Restauration blieb aus. Wiederum war es die Sorge vor der Revolution, die das Kontrastprogramm nivellierte.
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Der Wandel in der außenpolitischen Stellung Preußens war noch viel gravierender. Die vorrevolutionäre Konstellation des europäischen Gleichgewichts d er Mächte war wiederhergestellt. Preußen erfreute sich von neuern der Gunst Rußlands, Englands und Frankreichs, nachdem es, d eutlich geschwächt, auf eine Vormachtstellung verzichtet ha tte und sich berechenbar auf Stillstand einstellte. Das Mißtrauen der großen europäischen Mächte wandte sich jetzt gegen ÖSterreich, das nun in Mitteleuropa zu dominieren schien . Diese Wende barg für Preußen die Chance in sich, auch bei einer aktiven Außenpolitik einen größeren Handlungsspielraum in Rechnung stellen zu können. Die reformkonservative Gegenrevolution blieb also nur eine kurze Episode. Sie reichte nur von Ende 1848 bis Ende 1850. Das mag die Neigung gefördert haben, ihre Eigenständ igkei t zu übersehen. Sie wird teils dem Ende der Revolution, teils dem Beginn d er Reaktionsperiode zugeschla gen oder auf die Unionspolitik beschränkt.s.. Indes bestechen ihre klare Grundrichtung und ihre innere Konsistenz. Brandenburg gab ihr die Linie, nicht Radowitz. Weder die Resultate noch ihre Wirkung verschwanden. Das mona rchisch-konstituti onelle System blieb erhalten, wenn es auch durch rückwärtsgewandte Gesetze, Institutionen und eine entsprechende Verwaltungspraxis gleichsam abgeschirmt und partiell trockengelegt wurde. Die Reformen entfalteten dennoch ihre Wirkung. Trotz vielfacher Grenzen, Halbhei ten und Hemmnisse: der Prozeß d er politischen und sozialen Modemisierung unter bürgerlich-kapitalistischem Vorzeichen hatte auch in Preußen an Fahrt gewonnen. Allein die deutsche Politik brach ab. Doch sollte es sich nur um einen Aufschub handeln; die Antriebskräfte kehrten ebenso wieder wie die Chancen und folglich auch die Rezepte. Sieht man nämlich genau hin, so fällt die Verwandtschaft dieser reformkonserva tiven Politik mit der Bismarckschen Politik d er sechziger Jahre ins Auge. Das gilt besonders für das Ziel d es Bundesstaates, bei dem für Brandenburg wie für Bismarck die preußische Hegemonie das erste Kriterium blieb. Die strategische Nähe beider Konzepte - des Brandenburgischen und d es Bismarckschen - drückt sich in einem Symptom aus. Der Begriff d er "Revolution von oben« findet nicht erst 1866 Verwendung,55 sondern bereits 1849. Am 9.Juli 1849 warnte der
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öste rreich ische Botschafter von Prokesch-Osten den preußischen Ministe rpräsiden ten: »Einheit sei nur d urch die Revolution von unten oder oben oder von beiden zugleich z u erreichen «56 Das hieß aber auch : anders als 1866 konnte es 1849 nicht als siche r gelten, daß d er Weg in den Bun desstaat im lnnem auf die Revolution von oben - und das hieß zuerst auf den Krieg gegen Österreich und die deutschen Mittelstaaten - zu begrenzen war.51 Ebensowenig wäre de r Krieg gegen ÖSterreich außenpolitisch zu isolie ren gewesen . So waren es als erstes die unterschiedlichen Bedingungen, die in der Deutschlandpolitik Bis marck den Erfolg und Brandenburg das Scheitern garantierten. Darauf abzuheben, daß de r General in erster Linie ein Kommißkopf gewesen wäre, wie Bisma rck, selten gerecht im Urteil über Vo rläufer, späte r behaupteteS!! - das is t gewiß ein Fe hlurteil.
Anmerkungen 1 Friedrich Meinecke, 1848. Eine Säkularbetrachtung, Berlin 1948, S. 13. 2 Der erste Teil dieses Beitrages fußt auf einem soeben fertiggestellten größeren Aufsatz: Konrad Canis, Vom Staatsstreich zur Unionspolitik. Oie Interdependenz von innerer, deutsche r und äußerer Politik der p reußischen Regierung am Ende der Revolution 1848/ 49. Er erscheint 1998 in einem Studienband mit Beiträgen zur Revolutionsgeschichte. Dort sind auch zusätzliche Quellen- und Literaturbelege angegeben. 3 Geheim es Slaatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA) Berlin, Br.Pr. H .-A., Rep. SO, Abt. E, Nr. 5, BI. lOS f. 4 Lotha r GaU, Das wirtschaftliche Bürgertum und die Revolution von 1848 in Deutschland, in: Bürgertum, liberale Bewegung und Nation, München 1996, S. 73. 5 GStA Berlin, Rep . 77, Ttt. 500, Nt . 1, Bd. 3, BI. 7: O . v. Manteuffel an die Oberpräsid enten 25. 11 .1848. 6 Rolf Luhn, Oie liberale Vereinsbewegung in Preußen von März bis Dezember 1848, Diss. Jena 1984, S. 251 ff.; Wolfram Siemann, Oie deutsche Revolut ion von 1848/ 49, Frankfurt / M. 1985, S. 173 ff.; Gunther Hildebrandt, Politik und Taktik der Gagem -Libera len in der Frankfurter Nationalversammlung 1848/ 49, Berlin 1989, S. 152 ff. 7 Dieter Langewiesche, Reich, Nation und Staat in der jüngeren de utschen Geschichte, in: His torische Zeitschrift, Bd. 254 (1992), S. 358. 8 GStA Sethn, I.U. HA, Außenministerium I, Nr. 6038, BI. 120 ff.: Bülow an Bemstorff 8.12.1848. 9 Ernst Ru dolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bei. 2, Stutt-
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gart 1960, S. 763 ff. Der Verfassungstext ist publiziert in: Emst Rudolf Huber (Hg .), Dokumente zur deutsche n Verfassungsgeschichte, Bd. 1, Stuttgart 1963, S. 484 ff. 10 Hellmu t Diwald (Hg.), Von de r Revolut ion z um Norddeutschen Bund. Aus dem Nachlaß von E.L. v. Gerlach, Göttingen 1970, S. (fJJ f. 11 Friedrich Julius Stahl, Die Revolutio n und die constitutionelle Monarchie, SerHn 1848, S. 78. 12 Ma nfred Botzenhart, Deutscher Parlamenta rismus in der Revolutionszeit 1848-1850, Düsseldorf 1971, S. 555. 13 GStA Berlin, Br.-Pr. H.-A., Rep . SO, Abt . J, N T. 212, BI. 71 : Brandenburg an Friedrich Wllhclm Iv. 13.12.1848; Leopold von Ge rlach, Denkwürdigkeiten, Bd. 1, Berlin 1891, S. 276. 14 Vgl. Canis, Staatsstreich, MS. 15 Joac him Paschen, Demokratische Ve reine und preußischer Staat, München 1971, S. 122!. 16 Leopold von Ra nke, Sämtliche Wer ke, Bd . 48 u . SO, Berlin 1887, S. 592 ff. 17 GStA Berlin, Br.-Pr. H.-A, Rep. 51, Ab!.), Nr.46w, BI. 23 ff.: Prom(>moria Brandenburgs 6.12. 1849. 18 Langewiesche, Reich, S. 360. 19 Bismarck, Oie gesammelten Werke, Bd . 15: Erinnerung und Gedanke, hg. von Ge rhard Ritter u. Rud olf Stadelmann, Berlin 1932, S. SO!. 20 GStA Berlin, 111. HA, Nr. 699, BI. 76 ff.: Bericht aus Wien 6.2.1 849. 21 So zuletzt Anselm Doering-Mante uffe l. Die deutsche Frage und das e uropäische Staatensyste m 1815-1871, Münche n 1993, S. 27 f. 22 GStA Berlin, 111 . HA, Außenministerium I, Nr. 6420 und 6421 . 23 Huber, Dokumente, Bd. 1, S. 407 ff. 24 Diese Auffassung geht auf die noch immer in vielem maßgebliche R:.do ..... il7.-Monogr:.phic von Meinecke zurüc k (Friedrich Meinecke, Radewitz und die deutsche Revolution, Berlin 191 3). Sie vertritt z u letzt auch Sie mann, Revolution, S. 218. 25 GStA Berlin, Br.-Pr. H.-A, Rep .5 1, Abt. 1. NT. 46w, BI . 16ft.: Promemoria Brandenburgs 10.6.1849. 26 Meinecke, Radowitz, S. 303. 27 Ralf Weber, Von Frankfurt nach O lmütz. Zur Genesis und Politik des gotha ischen Liberalis mus, in: Bourgeoisie und bürgerliche Umwälzung in Deutschland 1789-1871 , hg. von Helmut Bleiber, Berlin 1977, S. 375 ff. 28 Konrad Canis, Joseph Maria von Radowitz. Konterrevolution und preußische Unionspolitik, in: Männer der Revolution von 1848, Bd. II, hg. von Helmut Bleiber, BerHn 1987, S. 475 f. 29 GStA BerHn, Rep. 81, Wien I, N r. 176, Bd . 2, BI. 99 ff.: Bericht aus Wien 8.7.1849. 30 Ebd., Br.-Pr. H.-A., Rep. SO, Abt. J, Nr. ll04, BI. 334: Rauch a n Friedrich Wilhelm IV. 21.5.1849. 31 Sächsisches Haupts taatsarchiv Dresden, Außenministerium, Nr. 91 3, BI. 288 f.: Bericht a us Berlin 11.10.1849. 32 Meinecke, Radowitz, S. 336.
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Die preußische Gegen revolution
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33 G5tA Berlin, Re p . 81, Wien I, Nr. 176, Bd.3, BI. 21 fl.: Berichte aus Wien 23.10., 15.12., 19.12.1849. 34 Helmut Rumpier, Die deutsche Po litik des Freiherrn von Beus t, Wien 1972, S. 313. 35 Fürst Bismarck als Redner, hg . von W. Böhm, Bel . I, o. J., S. 6S ff.; 1.0thar GaU, Bismarck. Der weiBe Revolutionär, Frankfurt/ M. 1980, S. 104 f.; Ernst Engelberg. Bis marc k. Urpreu Be und Reichsgründer, Berlin 1985, 5. 345 f. 36 Günther Grünt hai, Parlame ntarismus in PreuBen 1848 / 49-1857/ 58, Düsseldorf 1982, 5. 126 f.f, bes. 5. 159; Hans-Christof Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach, Göttingen 1994, S. 488 ff.; Wilhelm FüßI, Professor in der Po litik: Friedrich Julius Stahl (1802-1861), Göttingen 1988, S. 266 ff.; Botzel"lhart, Parlamentaris mus, 5. 745 fr. 37 GStA ßerHn, Br.-PT. H.-A., Rep. 50, Abt. J, Nr. 212, BI. lOS: Brandenburg an Friedrich Wilhe1m IV. 21.12.1849. 38 Ebd ., Re p. 192, Nt E. v. Manteuffel, 0 Nr. 13, BI. 5 H.: Aufz. E. v. ManteuIfels Anl. Dezem ber 1849. 39 Walter 5chmidt u. a., Deutsche Gesch ichte, Bel. 4, Berlin 1984, 5. 398 f.; Georg Mo ll, .. Preußischer Weg" und bürgerl iche Umwälzung in Deutschland, Weimar 1988, 5. 58 ff. 40 Bismarck a ls Redner, S. 125. 41 GStA SerHn, Br.-Pr. H.-A., Rep. 50, A bt.J, N r. 212, BI. 163 f.: Brandenburg an Friedrich Willielm IV. 4.9.1850. 42 Ebd. 43 Ebd., m. H A, Au ßenministeri um I, Nr. 8264, BI. 163: Bülow an Strotha 13.2.1849; Joscph Maria vo n Radowilz, Nachgelassene Brie fe und Aufzeichnungen, hg. vo n W. Mö hring. Stuttgart 1922, 5 . 162 H.; OUo von Manteuffe!. Unter Friedrich Wilhelm IV. Denkwürdigkeiten, hg. von H. v. Poschinger, 1. Bd., Serh n 1901, S. 219 ff. Auch die Londo ner Zentralbehörde des Bundes der Ko mmunisten hielt im März 1850 e ine Revolution in Frankreich für nahe bevorstehend. Vgl. Kar! Ma rx / Friedrich Engels, Werke, Bd. 7, ßerlin 1960, S. 245. 44 Diwald, Revolution, S. 668 ff. 4S Botzenhart, Parlamentarism us, 5. 767 H.; Walte r Schmidt, Erfurt und das deutsche Unionsparlament von 1850, in: Ulmann Weiß (Hg.), Erfurt 742-1992, Weimar 1992, S. 525 ff. 46 Radowilz, Briefe, S. 204. 47 Ebd ., 5. 284 f.; Meinecke, Radowilz, S. 445 ff.; Manteuffel, Denkwürdigkeiten, S. 205. 48 Helmut Böhme, Deutschlands Weg zu r Großmacht, Köln 1%6, 5. 29. 49 Diwald, Revolution, 5. 718. 50 Manteuffel. Denkwürdig keiten, S. 296 ff. 5 1 Wolf ram Siemann, Gesellscha ft im Autbruch. Deutschland 18491871, Frankfurt / M. 1990, S. 32. 52 Hans-Julius 5choeps, Von O lmütz nach Dresden 1850/ 51 , Köln 1972, 5. 19 ff.; Engelberg, Bismarck, S. 356 ff. S3 Heinrich von Poschinger (Hg.), Preußens auswärtige Politik 1850-
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1858. Unveröffentlichte Dokumente, Bd . I, Berlin 1902, S. 32 ff.; Manteuffel, Denkwürdigkeiten. S. 384; Siemann, Gesellschaft. S. 31 ff. 54 Die Regierung Brandenburg wird von Siemann als .. Reaktions-Kabinett .. bezeichnet (Revolution. S. 173), von Heinrich Lutz als ..entschieden konservativ .. (Zwischen Habsburg und Preußen, Berlin 1994. S. 293). G üntcr Wollstein sicht sie etwas differenzierter (Deutsche Geschichte 1848/ 49, Sluttgart 1986, S. 139 Ef.). Eine monographische Arbeit zum 10ema wäre angemessen. Einzig eine ä.ltere Dissertatio n liegt vor: Fritz Heinemann, Die Politik d es G rafen Brandenburg. Berlin 1909. 55 Ernst Engelberg. Über die Revolution von oben. in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 22 (1974), S. 1184 ff. 56 HHStA Wien, MdÄ. PA 111, Nr. 33, BI. 42: Bericht aus Berlin 9.7.1849. 57 Canis, Radowitz. S. 477 U. 58 Bismarck, Werke. Bd . 15. S. 39.
Heinrich August Winkler
Der überforderte Liberalismus Zum Ort der Revolution von 1848/ 49 in der deutschen Geschichte
Im Jahre 1948, einhundert Jahre nach d er deutschen Revolution von 1848 / 49, veröffentlichte der Tübinger His toriker Rudolf Stad elmann eine Sa mmlung von Aufsätzen zum Thema »Deutschland und Westeuropa« . Im ersten Aufsatz »Deutschland und die westeuropäischen Revolutionen « trug Stadelmann, Autor einer ebenfall s 1948 erschienenen, noch heute lesenswerten »Sozialen und politischen Geschichte d er Revolution von 1848.<, eine These vor, die fortan in d er Diskussion um den »deutschen Sonderweg,c, die his torische Abweichung Deutschlands vom Westen, eine groBe Rolle spielte: Seit hundert Jahren werde das Volk der Deutschen »in seinem politischen Wollen fast unbesehen von d en anderen Nationen in das Schubfach der Reaktion geschoben und ein Etikett darüber geklebt mit der Aufschrift: Das Volk ohne Revolution. Der Mangel an Befreundung mit d er Praxis und d en Ideen der westeuropäisch en Revolutionen, der Mangel an Erfahrung und Erziehung auf dem Feld d er radikalen Abkehr von der absolutistischen Vergangenheit der neueren Jahrhunderte ist der eigentliche Pariastempel, der unserer Geschichte aufgeprägt ist seit etwa drei Generationen. Die Verfemung des deutschen Namens hat in d em Ausbleiben einer normalen revolutionären Pubertätskrise d er deutschen Entwicklung ihre erste und wahrscheinlich wichtigste Wurzel«.! Soweit der Befund. Auf Stadelmanns Versuch einer Erk.1ä rung komme ich noch zurück. Zunächst aber nehme ich seine These vom ))Volk ohne Revolution(( zum Anlaß, mich der Revolution von 1848 in drei Schritten zu nähern: Erstens frage ich nach der besonderen Herausforderung, vor die sich der gemäßigte Liberalismus damals gestellt sah. Zweitens erörtere ich die Positionen der demokratischen und sozialistischen Linken.
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Drittens frage ich nach den Lernprozessen, die durch die Revolution ausgelöst wurden, und damit nach ihren Wirkungen.
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Eine »ungewollte Revolution« hat Wolfgang Schieder die Revolution von 1848 genannt. Was die gemäßigt liberalen Vertreter von Besitz und Bildung angeht, die in der Paulskirche die Mehrheit der Abgeordneten stellten, ist das eine zutreffende Formel. Es war geradezu das hervorstechende Merkmal des Liberalismus im engeren Sinn des Begriffs, daß er seine politischen und namentlich seine konstitutionellen Forderungen auf dem Weg der Verständigung mit den Fürsten und ihren Regierungen, also nicht revolutionär, durchsetzen wollte. Von einer Revolution wußte man nie, wo sie hinführen würde: Die große Französische Revolution von 1789 galt deutschen Liberalen gemeinhin nicht als das Beispiel einer geglückten, sondern einer entgleisten Revolution; jakobinische Terreur und napoleonische Herrschaft waren aus liberaler Sicht die historischen .)argumenta e contrario« fü r den Weg der friedlichen Reform. Im Jahre 1847, am Vorabend der deutschen Revolution, faßte der aus Düsseldorf stammende, damals in Marburg lehrende Historiker Heinrich von Sybel in seiner Schrift »Die politischen Parteien der Rheinprovinz in ihrem Verhältnis zur preußischen Verfassung« das liberale Credo wie folgt zusammen: »Die Revolution ist es, die auf aUen Seiten den ungebändigten Trieb auf Herrschaft erweckt, der ebenso das Grab der konstitutionellen Verfassung wie jeder wahren Freiheit genannt werden kann«. Wenn sich die sozialistischen und kommunistischen Tendenzen, namentlich in der Jugend und bei den arbeitenden Klassen, weiter so ausbreiteten wie im letzten Jahrzehnt, wü rden sie Regierung und Bourgeoisie schlechthin jeden Einfluß auf den vierten Stand , das Proletariat, abschneiden. »Hiergegen gibt es nur ein Mittel, feste Anknüpfung des Bürgerstandes an die Staatsgewalt durch politische Berechtigung. Dadurch, und nur dadurch allein, kann er [der Bürgerstand, H . A. W.) wieder bis zu seinen letzten Teilen herab in den natürlichen Gegensatz gegen jene Tendenzen gerückt, dadurch allein eine geistige Kraft er-
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schaffen werden, w elche die öffentliche Meinung in einer gesunden Betrachtung der gesellschaftlichen Zustände festzuhalten vermag«. 2 Die Gefahr, die er von Sozialismus und Kommunismus ausgehen sah, war nicht der einzige Grund, weshalb Sybel größten Wert auf die Feststellung legte, der Standpunkt der Liberalen sei _toto coelo von demokratischer Begeisterung oder kosmopolitischer Spekulation entfernt" und habe »keine Ader mit dem Radikalismus gemeine<. Die Erörterung des »Ultramontanismus«, der reaktionären Bestrebungen des katholischen Klerus, führte den Autor zur gleichen Schlußfolgerung, daß der Liberalismus alles Heil nur von einer Verständigung zwischen Bürgerstand und Staatsgewalt erwarten konnte. Politische Berechtigung, wie Sybel sie verstand , zielte auf die gemeinsame Zurückdrängung der feudalen, klerikalen und radika len Kräfte durch Staat und Liberalismus. Dem Staat mußte, wenn man dem Autor folgte, an einer solchen Zusammenarbeit schon deshalb gelegen sein, weil die liberale Partei die einzige war, die Reichsstände für ganz Preußen in einer Form begehrte, »in der sie allein die Festigkeit und Einheit des Staates zu schirmen imstande sind«.) Nachdem der revolutionäre Funke Ende Februar 1848 von Frankreich aus d en Rhein übersprungen hatte, änderte der deutsche Liberalismus nicht seine Zielsetzungen, sondern versuchte, diese unter den veränderten Bedingungen einer »ungewollten Revolution « zu erreichen. Sybel hatte sich in seiner Schrift von 1847 nur mit eitlem der beiden großen Ziele der liberalen Bewegung befaßt: dem der innerstaatlichen Freiheit einem Postulat, das, auf Preußen angewandt, Verfassung und gesamtstaatliches Parlament bedeutete. Das andere Ziel war die nationale Einigung. Für den Liberalismus jener Zeit ga lt nicht mehr die Devise des Badeners earl von Rotteck von 1832, er wolle »lieber Freiheit ohne Einheit als Einheit ohne Freiheit«. Seit Beginn der vierziger jahre war die Einheit Deutsch lands vielmehr zu einer Forderung aufgestiegen, die den gleichen Rang für sich beanspruchte wie das Verlangen nach verfassungsmäßiger Freiheit. Die Rheinkrise von 1840 hatte zu diesem Wandel ebenso beigetragen wie die fortschreitende IndustrialiSierung in den Staaten des 1834 gegründeten Deutschen Zollvereins. Gründe der äußeren Sicherheit wie das wirtschaftliche Zusammenwachsen sprachen weiterhin für die Schaffung
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eines deutschen Nationalstaats. Seide Ziele, Freiheit lind Einheit, standen daher auch von Anfang an auf der Tagesordnung der deutschen Revolution von 1848.4 Im Zusammentreffen der Fo rderungen nach Einheit und Freiheit lag die größte Schwierigkeit, vor die sich die deutschen »Revolutionäre wider WilIen« 1848 gestellt sahen. Die französischen Revolutionäre von 1789, 1830 und 1848 hatten es einfa cher: Sie fanden den Nationalstaat schon vor, den sie mehr oder weniger grundlegend verändern wollten . Die deutschen liberalen hingegen mußten jenes Deutschland erst noch schaffen, das sie sich nur als freiheitlichen Staat vorstellen konnten. Da mit war eine Vielzahl von Folgeproblemen verbunden: obenan die Fragen, wo die Grenzen eines deutschen Nationalstaates liegen sollten; ob auch Nichtdeutsche wie Polen, Dänen, Tschechen, Slowenen und Italiener - Untertanen von Herrschern, deren Territorium teilweise zum Deutschen Bund gehörte - Bürger ein es d eutschen Nationalstaats werden sollten; wie das Verhältnis dieses Staates zu den Teilen ÖSterreichs zu gestalten war, die am d eutschen Einig ungswerk nicht teilnehmen wollten oder ko nnten.5 Als die Nationalversammlung am 18. Mai 1848 in Frankfurt zusammentrat, hatte bereits ein außenpolitischer Konflikt begonnen, der wenige Monate später zu einem schweren Zusammenstoß zwischen der Paulskirche und der von ihr eingesetzten provisorischen Zentralgewalt auf der ein en, der deutschen und europäischen G roßmacht Preußen auf der anderen Seite führen sollte. Dänemark hatte sich Schleswig einverleibt, das, anders als Hols tern, zwar n icht zum Deutschen Bund gehörte, aber mit Holstein a uf Grund alter Verträge fest verbunden wa r. Am 3. Mai 1848 überschritten Bundestruppen unter dem Oberbefehl eines preu ßischen Generals d ie Grenze zum eigentlichen Dänemark, was sogleich Rußland und England, zwei Signata rmächte der Schlußakte d es Wiener Kongresses von 1815, auf d en Plan rief. Unter d em Druck von London und SI. Petersburg unterzeichnete Preußen, ohne sich an die vom Reichs ministerium in Frankfurt aufgestellten Bedingungen zu halten, in Malmö einen Waffenstillstand mit Dänemark, der den Rückzug der dänischen wie der Bund estruppen aus Schleswig und Holstein vorsah. Ln Deutschland erhob sich ein Sturm nationaler En trüstung. Als das Reichsministe,rium, bar a ller Mittel, PreuBen zur Fort-
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setzung des Krieges zu bringen, sich in das Unvermeidbare schickte und seine Bereitschaft zu erkennen gab, d en Vertrag ungeach tet aller Proteste anzunehmen, rebellierte d ie Nationalve mlung. Nach einer mehrtägigen leid enschaft1lCfien batte sprach sie eme knappe Mehrhei t von 238 zu 221 Stimmen fü r den Antrag d es Historikers Friedrich Christoph Dah lmann aus, die Maßnahmen zur Ausführung des Waffenstillstandes einzustellen, also den Bundeskrieg gegen Dänemark fortzusetzen. Daraufh in trat noch am gleichen Tag d as Reichsministerium unter d em Fürsten Karl von Leiningen zurück. Die angemessene parlamentarische Krisenlösun g wäre nun die Bildung einer Nachfolgeregierung gewesen, die sich auf die Mehrheit gegen den Waffenstillstand stü tzte. Doch die nega tive, von der linken mitgetragene Mehrheit in eine positive, gouvernementale Mehrheit zu verwandeln, erwies sich als unmöglich. Am 16. September beschloß die Nationa lversa mmlung mit 257 zu 236 Stimmen, d en Vollzug des Waffenstillstands nicht weiter zu behindern. Die Niederlage der Paulskirche war selbstverschuldet. Da von vornherein feststand, daß Preußen d en Vertrag von Malmö nicht w iderrufen würde, war d er Beschluß vom 5. September wenig mehr als ein Versuch, dem Parlam ent ein Alibi vor d er d eutschen Öffentlichkeit zu verschaffen. Hätten die d eutschen Regierungen mit Preußen an d er Spitze getan, was d ie deu tsche Nationalversammlung ford erte, wäre daraus ein europäischer Krieg erwachsen. Hätte d ie Nationalversammlung sich nicht selbst korrigiert, wären d ie deu tschen Regierungen gezwungen gewesen, mit ihr zu brechen. Die Selbstberichtigung aber forderte einen hohen Preis. Die Empörung der Radikalen entlud sich im Frankfurter Aufstand, in d essen Verlau f zwei konservative Abgeordnete der Paulskirche ermordet wu rden, und im zweiten badischen Aufstand, d er nach vier Tagen niedergeworfen wurde. Die Auflehnung d er außerparlamentarischen linken führte zur Isolierung d er parlamentarischen Linken und zu einem Ruck nach rechts in der deutschen Nationalversamml ung wie in d er deutschen Gesell schaft. Die Septemberkrise wa rf eine veralJgemeinerba re Lehre ab: Das Streben nach nationaler Einheit verwies d en d eutschen liberalismus auf d ie Machtmittel d es historischen Preußen. Dieser Staat wa r im Frühjahr 1848 so wenig zusammengebrochen
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wie die andere deutsche Großmacht, Österreich. Weder die preußischen noch die a ußerpreußischen deutschen Liberalen wollten einen Zusammenbruch des preußischen Soldatenstaa tes, weil Deutschland ohne ihn außenpolitisch nicht handlungsfähig war. Für die deutsche Nationalversammlung hatte es nie eine »Stunde Null « gegeben, in der sie die Chance gehabt hätte, das militärische Potential Preußens durch eine d eutsche Revolutionsa rmee zu ersetzen. Im September 1848 schlug d ie Stunde der Wahrheit: Die Nationalversammlung mußte die deutschen und europäischen Machtverhältnisse anerkennen. Die Alternative wäre ein europäischer Krieg gewesen, aus dem, nach . menschlichem Ermessen, nur die Ordnungsmächte oder, sehr viel weniger wahrscheinlich, die radikale Linke als Sieger hätten hervorgehen können, nicht aber der deutsche Liberal ismus.6 Zu einer anderen Einsicht verhalf das Habsbu rgerreich d er Nationalversammlung. Am 12. Januar 1849 sprach Rei chsfinanzminister Hermann von Beckerath, Mitglied des rechtsliberalen »Casinosc(, aus, was für viele noch e in undenkbarer Gedanke war: »Das Warten auf ÖSterreich ist das Sterben d er d eu tschen Einheit. c< Tags da rauf bezeichnete sein Fraktionsfreund Wilhelm Hartwig Beseler aus Schleswig-Holstein die vom österreichischen Ministerprä sidenten Fürst Schwarzenberg angestrebte mitteleuropäische Lösung, ein en Zusammenschluß d es nichtösterreichischen Teiles d es Deutschen Bundes und d er habsburgischen Gesamtmonarchie, als ein »Reich der Mitte, welches Europa beherrscht mit 70 Mi1lionen«, ja als ein »po litisches Ungetümc(: »Dieses Reich der Mitte nehmen wir nicht an, das würde Europa nicht zugeben, und das würde Deutschland nicht befriedigenc(,7 Die »Kl eindeutschen« Beseler und Beckerath hatten d ie logik der Machtverhältnisse auf ihrer Seite. In gewisser Weise läßt sich dasselbe von den »Großösterreichernc, sagen, die einem großdeutschen Nationalstaat eine Absage erteilten, weil er d as Ende de r Habsb urgermo narchie bed eu tet hätte. Die »Großdeutschen c( dagegen, die immer noch an einen Nationalstaa t unter Einschluß des deutschen ÖSterreich glaubten, strebten nicht Geringeres an als die Quadratur des Kreises. Ein Tei l der Großdeutschen beharrte aus demokratischer Überzeugung au f der Integrität des d eutschen Volkes, die nicht irgend welchen d ynastischen Interessen geopfert werden d urfte. Ein anderer Teil des großd eutschen »Lagers«, der katholische und konservative,
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lehnte d en Aussch1uß ÖSterreichs ab, weil er die kulturelle Hegemonie des Protestantismus und die politische Hegemoni e Preußens zur Folge gehabt hätte. Aber wie immer das Ziel ))G roßdeutschland« begründet wurde: Mit ÖSterreich, wie es aus d er Gegenrevolution vom Herbst 1848 hervorgegangen wa r, ließ es sich nicht erreichen, und gege" dieses ÖSterreich nach Lage der Dinge auch nicht. Die Konterrevolution hatte im Dezember 1848 zwa r auch in Preußen gesiegt: Die Auflösung der Nationalversammlung und der Erlaß einer o ktroyierten Verfassung durch Friedrich Wilhelm IV. bedeuteten den Sieg des a lten Staates über das neue Recht, das aus der Märzrevolution hervorgegangen war. Doch der preußischen Na tionalversa mmlung tra uerten in der deutschen Nationa lversammlung nur wenige Liberale nach: Das Berliner Parlament hatte weit links von der Paulskirche gestanden und diese mehr als einmal durch scharfe Kritik herausgefordert, ja ihre Legitimation, für Deutschl and zu sp rechen, grundsätzlich in Frage gestellt. Dazu kam, daß die oktroyierte Verfassung auf weite Strecken durchaus liberal war. Die meisten gemäßigten Liberalen in d er deutschen Nationalversammlung dürften die Meinung des rheinischen Unternehmers Gustav von Mevissen, eines Abgeordneten d es »Casinos«, geteilt haben, der in einem Brief vom 8. Dezember 1848 mit Blick auf d en Staatsstreich Friedrich Wilhelms IV. von einem »kühnen Griff d es Königs« sprach und den Augenblick für gekommen hielt, »wo alle Männer von politischem Einfluß und von politischem Mut sich auf den neugeschaffenen Rechtsboden stellen und die hereindrä uende Anarchie bekä mpfen müssen«. Nichts anderes meinte Mevissens Fraktionsfreund Dah1mann, als er am 15. Dezember im Plenum der Paulskirche vom »Recht der rettenden Tat« sprach und damit die Forderung begründete, das künftige deutsche Staa tsoberhaupt müsse ein absol utes (und nicht nur suspensives, also lediglich aufschiebendes) Vetorecht gegen Parlamentsbeschlüsse haben.8 ÖSterreich tat im Frühjahr 1849 alles, um der kleindeutschen Partei zu einer Mehrheit zu verhelfen. Am 9. März - zwei Tage nachdem Kaiser Franz Joseph d en österreichischen Reichstag zu Kremsier aufgelöst und eine Gesa mtstaatsverfassung oktroy iert hatte - forderte Schwarzenberg die Aufnahme d er Habsburgermonarchie als ganzer in den neu zu schaffenden Natiodeutschen Staa tenverband . Die Antwort der deutschen •
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naiversammlung war die Wahl Friedrich Wilhelms IV. zum Erbkaiser eines kleindeutschen Nationalstaates. Daß der preußische König die Wahl nicht annahm, markiert die endgültige Niederlage des Paulskirchenljberalismus. Eine Widerlegung der kleindeutschen Lösung aber war die Entscheidung Friedrich Wilhelrns nicht. Eine großdeutsche Lösung hätte das europäische Gleichgewicht noch sehr viel stärker erschüttert als ein preußisch geführter kleindeutscher Nationalstaat. Da ein großdeutscher Nationalstaat ohne Auflösung des Habsburgerreiches nicht zu verwirklichen war, hättediese Lösung große Teile Ostmittel- und Südosteuropas revolutioniert, eine russische Intervention großen Stils provoziert und einen europäischen Krieg ausgelöst. Die großdeutsche Lösung scheiterte aber schon daran, daß die Habsburgermonarchie zur Selbstaufgabe weder bereit war noch gezwungen werden konnte. Im Frühjahr 1849 war die europäische Gegenrevolution so erstarkt, daß Preußen nicht mehr mit der Paulskirche paktieren konnte, ohne die Gefahr eines Krieges mit den heiden östlichen Großmächten, Rußland und ÖSterreich, herauszufordern . Vor dem Sieg der österreichischen Gegenrevolution im Oktober 1848 wäre diese Gefahr geringer gewesen, aber damals war die Paulskirche noch mehrheitlich großdeutsch gesinnt gewesen. Eine andere Frage ist, ob das Nein des preußischen Königs den Versuch der Liberalen widerlegt, ihre Ziele auf dem Weg der Verständigung mit den alten Gewalten zu erreichen. Um diese Frage zu beantworten, ist es notwendig, die Alternativen zur liberalen Politik zu prüfen, die 1848/49 propagiert wurden. Damit wende ich mich dem zweiten Teil meiner Überlegungen, den Positionen der Linken, zu.9
11. Das krasse Gegenteil von liberaler Verständigungspolitik wäre die frühzeitige Ausrufung der deutschen Republik gewesen das Ziel, das die Führer der badischen Radikalen, Hecker und Struve, verfolgten, als sie am 12. April 1848 vom Bodensee aus eine Volkserhebung in ganz Deutschland zu entfesseln versuchten . Der erste badische Aufstand war die Antwort darauf, daß
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das Vorparlament in Frankfurt weder Hecker noch Struve in den Fünfzigerausschuß gewählt hatte, der bis zur Wahl der deutschen Nationalversammlung mit dem personell erneuerten Bundestag zusammenwirken sollte. Der äußerste linke Flügel der badischen Revolutionäre sah fortan die Gegenrevolution auf dem Vormarsch und die gemäßigten Liberalen in der Rolle von Verrätern. Dem Fünfzigerausschuß in Frankfurt stellte sich umgekehrt Heckers Putsch als Anschlag auf die Wahlen zur Nationalversammlung dar, die auf den Mai angesetzt wa· ren. Auch überzeugte Demokraten wie Robert Blum waren dieser, durchaus begründeten Meinung. Der Aufstand war bald niedergeschlagen, aber die Wirkung war fatal für die gesamte Linke: Die Idee der deutschen Republik hatte Schaden genommen; im Bürgertum wuchs die Neigung, die Verständigung mit den Fürsten noch mehr als bisher zur Richtschnur der Politik zu machen und einen scharfen Trennungsstrich zu Vertretern radikaler Positionen zu ziehen. 1o Weder in der deutschen Nationalversammlung zu Frankfurt noch in der preußischen Nationa lversammlung zu Berlin hatten Radikale nach der Art von Hecker und Struve einen Rückhalt - von Radikalen im Sinne des Kölner »Bundes der Kommunisten« um Marx und Engels ganz zu schweigen. Die meisten Demokraten, ob sie am Fernziel der deutschen Republik festhielten oder eine volkstümliche, auf das Prinzip der Volkssouveränität sich gründende Monarchie zu akzeptieren bereit waren, gingen wie die gemäßigten Liberalen davon aus, daß die neuen »Märzregierungen« sich in den Dienst von Einheit und Freiheit stellen würden. Der Konflikt mit Kopenhagen erzeugte massiven Zeitdruck: Wer Schleswig nicht Dänemark überlassen wollte, war auf preußisches Militär angewiesen . Das Ziel der Einheit verlangte Entscheidungen, die dem Ziel der Freiheit unter Umständen abträglich sein konnten. In der schleswig-holsteinischen Angelegenheit fielen die wichtigsten Entscheidungen bereits vor dem Zusammentritt der beiden Nationalversammlungen. Die Septemberkrise machte deutlich, daß die Linke vor einern europäischen Krieg um Schleswig-Holstein nicht zurückscheute, aber keinerlei Mittel besaß, die Rechte, vertreten durch den preußischen König und die preußische Regierung, zu zwingen, eine linke Politik zu betreiben. Diese Erfahrung wirkte auf die gemäßigten Liberalen ernüchternd, nicht jedoch auf die Lin-
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ke innerhalb und außerhalb der Parlamente. Als Ende Oktober 1848 die Konterrevolution in Wien siegte, forderte Benedikt Waldeck, der Wortführer der preußischen Demokraten (und von Haus aus ein katholischer Westfale) in der Berliner Nationalversammlung Preußen im Namen Deutschlands und der Freiheit zur militärischen Intervention auf. Es war derselbe Waldeck, der einige Monate zuvor am gleichen Ort gegen die Wahl eines der deutschen Nationalversammlung nicht verantwortlichen Reichsverwesers, des österreichischen Erzherzogs Johann, p rotestiert hatte, weil er in diesem den künftigen habsburgisehen Erbkaiser witterte. »Wir wollen das Schwert, das wir solan ge siegreich für Deutschland geführt haben, gern in den Schoß der Nationalversammlung niederlegen, gern dem Zentraloberhaupt Deutschlands übergeben«, erklärte Waldeck am 11 . Juli. »Aber einem Reichsverweser, der für seinen Kopf den Krieg erklären könnte, dem wollen wir das Schwert Friedrichs des Großen nicht anvertrauen((.ll Der Krieg, den die Linke für gerecht hielt, war ein Volkskrieg. In der Debatte der Paulskirche vom 12. März 1849, in der es um das preußische Erbkaisertum ging, warnten mehrere Redner, darunter der konservative Abgeordnete Joseph Maria von Radowitz, ein Friedrich Wtlhelm IV. freundschaftlich verbundener preußischer General und bekennender Katholik ungarischer Abstammung, und der fraktionslose Protestant Moritz von Mohl aus Stuttgart, ein gemäßigter Demokrat und überzeugter Föderalist, vor der Gefahr eines Bürgerkrieges, sollte es zum Bruch mit ÖSterreich kommen . Die entschiedene Linke aber schien die Aussicht auf Krieg und Bürgerkrieg nicht zu schrecken. Der Zoologe Kar! Vogt, Mitglied der Fraktion »Deutsches Haus« und Fürsprecher einer Föderation des ganzen deutschen Reiches mit dem ganzen ÖSterreich, hielt in einer von der Linken stünnisch bejubelten Rede den Zeitpunkt für gekommen, zusammen mit Polen und Ungarn den Entscheidungskampf zwischen West und Ost auszufechten. »Meine Herren, der heilige Krieg der Kultur des Westens gegen die Barbarei des Ostens, den dürfen Sie nicht herabwürdigen und vergiften durch ein Duell zwischen dem Hause Habsburg und dem Hause Hohenzollern (... ) Nein, meine Herren, Sie müssen entschlossen sein, diesen Krieg sein zu lassen, was er sein soll, ein Kampf d er Völker.(12 Vogt war ein bürgerlicher Demokrat. Die Väter des })Wissenschaftlichen Sozialismus« gingen in der Militanz ihrer Forderun-
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gen noch weit über das hinaus, was die parlamentarische Linke verlangte. Die Tatsache, daB Schwarzenberg sich bei seiner gegenrevolutionären Politik auf einen groBen Teil der slawischen Nationalitäten, namentlich der Tschechen, Kroaten und Slowenen, stützen konnte, veranlaBte Friedrich Engels, zur Vernichtung dieser Völker aufzurufen. Im Januar 1849 sprach Engels in der .>Neuen Rheinischen Zeitung« mit Blick auf die Südslawen von .) Natiönchen«, von .>Völkerruinen« und .>VölkerabfäUen«, die die Konterrevolution verträten, und drohte: .>Der nächste Weltkrieg wird nicht nur reaktionäre Klassen und Dynastien, er wird auch ganze reaktionäre Völker vom Erdboden verschwinden machen. « Einen Monat später sagte der gleiche Autor dem »revolutionsverräterischen Slawentum« einen »Vernichtungskampf und rücksichtslosen Terrorismus - nicht im Interesse Deutschlands, sondern im Interesse der Revolution« an. Das Stichwort .>Weltkrieg« hatte Engels von Karl Marx übernommen. Marx war in seinem Neujahrsartikel für die •• Neue Rheinische Zeitung« zu dem SchluB gelangt, die Revolution werde nur siegen, wenn sie die Gestalt eines europäischen, ja eines Weltkrieges annehme - eines Krieges, der mit dem Sturz der französischen Bourgeoisie beginnen und dann sowohl das kapitalistische England als auch Rußland, die Vormacht der östlichen »Barbarei«, ergreifen müsse: »Revolutionäre Erhebung der französischen Arbeiterklasse, Weltkrieg - das ist die Inhaltsanzeige des Jahres 1849.«13 Zu der Zeit, in der diese Artikel erschienen, hatte die Gegenrevolution in Wien, Berlin und Paris bereits gesiegt. Der Weltkrieg, den Marx entfesseln wollte, sollte den weiteren Vormarsch der Konterrevolution aufhalten und ihre bisherigen Erfolge dadurch auslöschen, daß er in die proletarische Weltrevolution umschlug. Die Linke von Karl Marx bis Karl Vogt sah im russischen Zarenreich mit Recht den Todfeind der europäischen Revolution, und insofern war es konsequent, wenn sie einen erfolgreichen Krieg gegen die östliche »Barbarei« zur Bedingung des Sieges der Revolution erklärte. Waldeck verfolgte, als er PreuBen zum Kampf gegen die Wiener Konterrevolution aufrief, nur scheinbar bescheidenere Ziele: Die Ausweitung des deutschen Krieges zu einem europäischen Krieg wäre sicher gewesen, hätte die preuBische Regierung ihre Politik an dem ausgerichtet, was die Linke in heiden Nationalversammlungen, der Berliner wie der Frankfurter, verlangte.
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Die Linke hatte recht mit ihrer Behauptung, d aß die Kräfte d es alten Regim es dank d er Verständigungsbereitscha ft d er ge· mäßigten Liberalen von d en Erschütterungen d es März 1848 sich rasch w ieder hatten erholen können. Aber eine Lösung des Problems, wie Deutschland zur selben Zeit frei und ein Staat werden sollte, ha tten die Demokraten und Sozialisten nicht an· zuhieten. Der linke Ruf nach dem ganz Europa erfassenden Be· freiungskrieg d er Völker war ein Ausdruck d eu tschen intellektuellen Wunschdenkens, bar jed er Rücksicht auf d ie tatsächlichen Krä fteverhältnisse in den einzelnen Gesellschaften wie zwischen den Staaten und folglich blind fü r die menschlichen Kosten d er eigenen Desperadopolitik. Wä re d er Krieg a usgebrochen, d en d ie äußerste Linke forderte, hätte d ie Gegenrevo· lution wohl in viel größerem Umfang und auf viel blutigere Weise gesiegt, als es zwischen d em Herbst 1848 und dem Spät· jahr 1850 geschah . Entsp rechend radika l wäre d ie politische Nied erlage d er freiheitlichen Kräfte gewesen. Die »Revol u tionäre w id er Willen« wa ren in d ieser Hinsicht realistischer. Daß sie sich zunehmend den Konserva tiven annä· herten, ist auch vor dem Hintergrund d er linken Alternative zu sehen: Die Utopie vom großen Krieg zur Befreiung d er Völker, die militante Seite des Traumes vom »Völkerfrühling«, verhal f de r liberalen Verständigungspolitik zu einem erheblichen Maß an politischer Plausibilitä t. Denn wenn d ie konsequenten Re· volutionäre Gelegenheit erhalten hä tten, ihr Programm in d ie Tat umz usetzen, wä re das Ergebnis vermutlich eine europäi· sche Katastrophe gewesen.
Ill.
Im d ritten und letzten Tei l meiner Überlegun gen wende ich mich den Wirkungen der deutschen Revolution von 1848 zu, darunter d en Lehren, die unterschiedliche politische Lager aus dem »tollen Jahr(( zogen. Die An näherung zwischen liberalen und konservativen Kräften, von der ich eben gesprochen habe, verlief durchaus nicht nur in einer Richtung - im Sinne einer An passung der Liberalen an d ie Konserva tiven. Preußen war, und zwar and ers als ÖSterreich nicht nur nominel1 , seit Ende 1848 ein Verfassu ngsstaat. Damit war d er Hohenzol1ernstaat
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dem Liberalis mus ein beträchtliches Stück entgegengekommen. Hatte man Preu ßen vor 1848 nur in wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht ein vergleichsweise fortschrittliches deutsches Land nennen können, so verringerte die oktroyierte Verfassung vom Dezember 1848 den politischen Abstand zwischen Preußen und d en süddeutschen Staaten. Vom preu ßischen Absolutismus hatte vieles, zumal im Militärwesen, die Revolution überdauert; ein absolutistischer Staat aber war das nachrevolutionäre Preußen definitiv nicht mehr. Die Konstitutionalisierung Preußens ist einer der Gründe, weshalb das gäng ige Urteil, die Revolution von 1848 sei rundum gescheitert, zu kurz greift. Gescheitert is t die Revolution gemessen an ihrem Doppelziel: d er Freiheit und Einheit Deutschlands. Weder wurde Deutschland ein freiheitlicher Nationals taat, noch konnte sich der Liberalismus in den EinzeIs taaten behaupten. Doch seit 1848 war sehr viel klarer als zuvor, was »Deutschland« politisch und geographisch bedeutete wen jene »Germania « mit dem schwarz- rot-goldnen Banner in der Linken, mit dem Schwert und einem frei nachempfundenen Ölzweig in der rechten Hand wirklich verkörperte, vor deren überlebensgroßem Bild die Abgeordneten in der Paulskirche fast ein Jahr lang getagt hatten. Die »Kleindeutschen «, vor 1848 eine kleine Minderheit, hatten kräftig an Boden gewonnen. Die Erfahrungen von 1848 waren notwendig, um im gemäßigten Liberalismus ein einigermaßen rea listisch es Bild von den Grenzen eines deutschen Nationalstaats durchzusetzen. Die Revolution tat viel, um den Zusammenhalt der Kräfte zu fördern, die sich vom Ziel eines freiheitlichen und einigen Deutschland nicht abbringen ließen. Liberale und Demokraten aus allen Teilen Deutschlands waren in eine engere Beziehung zueinander getreten, als sie zuvor bestanden hatte. Und auch inhaltlich war man sich näher gekommen: Seit der gemeinsamen Arbeit an der Reichsverfassung und zumal an ihrem Grundrechtsteil gab es gesamtdeutsche Maßstäbe für das, was es in den Einzelstaaten wie in einem künftigen deutschen Nationalstaat zu erreichen gal t, um die Sache des Fortschritts zum Sieg zu führen. Gescheitert war die Revoluti on vor allem an einer politischen Überforderung des Libera lismus: Es erw ies sich als unmöglich, Einheit und Freiheit zur gleichen Zeit zu verwirklichen. In den alten Nationalstaaten des Westens, in Frankreich und England
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zumal, war die nationale Vereinheitlichung über Jahrhunderte hinweg das Werk von Königen und Ständeversammlungen gewesen. Wer mehr Freiheit wollte, fand den staatlichen Rahmen schon VO T, in dem die Veränderungen erfolgen sollten. In Deutschland mußte der staatUche Rahmen für d as Vorhaben der Liberalen und Demokraten erst noch hergestellt werden. Die Liberalen im engeren Sinn waren sich durchaus bewußt, daß sie, während sie am staatlichen Rahmen des neuen Deutschland arbeiteten, die Machtmittel d er größeren deutschen Staaten mit Preußen an d er Spitze benötigten, um das Werk der nationalen Einigung nach außen, gegen andere Mäch te abzusichern. Schon d eswegen (und nicht nur, weil sie die sozia le Revolution fürchteten) verbot sich aus ihrer Sicht eine Politik der Konfrontation mit den alten Gewalten - eine Politik, wie die Linke sie befürw ortete und betrieb. Der liberale Lemprozeß ließ sich in einem Wort bü ndel n, d as, weit über Deutschland hinaus, pop ulär wurde, seit es 1853 im Titel eines Buches des liberalen Publizisten Ludwig August von Rochau a ufgetaucht war: »G rundsätze der Realpolitik. Angewendet auf die staatlichen Zustände Deutschlands«. Realpolitik im Sinne Rochaus hieß vor allem, ei"e Ein sicht zu beherzigen: ))Herrschen he iß t Macht üben, und Macht üben kann nur der, welcher Macht besi tzt«. Für Deutschland kam infolgedessen a lles darauf an, die Interessen der d eutschen Staaten und namentlich der beiden Großmächte ebenso klar zu erkennen wie d ie Interessen der deutschen Nation. Preußen und Österreich zugleich für den Dienst der Nation zu gew innen, sei unmög lich. Es sei nämlich geradez u ei n »Lebensinteresse für jeden der heiden G roßstaaten (... ), daß der andere verhinde rt werde, mit der Na tion gemeinschaftLiche Sache zu machen«. Da die Endzwecke ÖSterreichs und jene d er deutschen Natio n nach Meinung des Autors unvereinbar waren, kam nur Preußen als deutsche Führl'..ngsmacht in Frage. Falls Preußen sich jedoch damit begnügen sollte, nur bis an die österreichisehen Grenzen vorzurücken, werd e d er Ehrgeiz der Na tion die Kabinettspolitik zwingen, »den Wettstreit mit ÖSterreich auf ein schließliches Entweder -Oder zu stellen«. »Kleindeutsch land .< war für den Realpolitiker Rochau also nur eine Du rchgangsstabon nach »)G roßdeutschland«. Damit sprach er nicht für alle »Kleindeutschen«, aber doch für jene, denen es schwerfiel, Ab-
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schied von der Vorstellun.g eines deutschen Volkes zu nehmen, dem auch die deutschen ÖSterreicher angehörten. Die Lösung der deutschen Frage als außenpolitischer Machtfrage hatte für Rochau absoluten Vorrang vor der freiheitlichen Entwicklung im lnnem. Den innenpolitischen Fortschritt konnte er sich einstweilen nur im Rahmen jenes Kons titutionalismus vo rstellen, von dem er doch gleichzeitig schrieb, daß er lediglich »auf höherer Duldung " beruhe - einer Duldung, »die jeden Augenblick aufhören oder wenigstens an andere Bedingungen geknüpft werden kann«. Als »Tumplatz, als politische Schule für Deutschland,< aber war er unentbehrlich . »Nach jedem Sieg, den die historische Souveränität dem Kons titutionalismus abgewinnt, setzt sie denselben wenigstens in einen Teil seiner Rechte wieder ein und bereitet s ich dadurch neue Kämpfe«. 14 Radikal andere Schlußfolgerungen als Rochau zog Marx aus den Revolutionen von 1848, aber in einem stimmte der Londoner Emigrant mit dem liberalen Publizisten überein: in der Erkenntnis, daß in der Geschichte alles vom Besitz oder Nichtbesitz der Macht abhing. Für Marx bestand die wichtigste Lektion des Revolutionsjahres darin, daß das Proletariat die einmal e roberte Macht nur festhalten konnte, indem es die Klassengegner systematisch unterdrückte. Er gab seine eigene Auffassung wieder, wenn e r die Position des })revolutionären Sozialismus« oder »Kommunismus« wie folgt umriß: »Der Sozialismus ist die Permanenzerklärung der Revolution, die Klassendiktatur des Proletariats als notwendiger Durchgangspunkt zur Abschaffung der Klassenunterschiede überhaupt«. Zwei Jahre spä ter rechnete Marx die Einsicht, »daß Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führt«, sogar zum Kembereich seiner Theorie. Die Erfahrung des Scheitems »seiner« Revolution führte bei Marx also nicht zu einer Revision, sondern zu einer Radikalisierung seiner Revolutionstheorie, und mehr denn je orientierte e r sich am vermeintlichen Modell der modemen Urrevolution: der Französ ischen Revolution von 1789 und namentlich ihrer terroristischen Phase, der Jakobinerherrschaft. 15 Ein dritter Lemprozeß war der konservative. Im Jahre 1850 erschien die dreibändige »Geschichte der sozia len Bewegung in Frankreich« d es Rechtshegelianers Lorenz von Stein. Aus der Zuspitzung der Klassengegensätze im westlichen Nachbarland und ihrer Folge, der Errichtung der Herrschaft Louis Napole-
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ons, folgerte der Autor, daß es nur eine Möglichkeit gab, eine soiche Enhvicklung in Deutschland und anderen Ländern aufzuhalten. Die Monarchie mußte sich als »natürlicher Schutzherr und Helfer« der »)fijederen, bisher gesellschaftlich und staatlich unterworfenen KJasse~' begreifen und sich in ein )}Königtum der sozialen Reform« verwandeln. Der wichtigste Adressat dieser Empfehlung hieß Preußen. In einem 1852 veröffentlichten Aufsatz verfocht Stein die Ansicht, Preußen bestehe aus »zusammengebrachten, von keiner gleichartigen Gesellschaftsordnung durchdrungenen Staatsmassen,,; daher sei für den Hohenzollernstaat nicht die Volksvertretung, sondern die Regierung das zusammenhaltende und ordnende Element; PreuBen fehle mithin die »Verfassungsfähigkeit «. Erst durch eine deutsche Volksvertretung lieB sich Stein zufolge die Unzulänglichkeit der preuBischen Verfassung ausgleichen. Faßte man beide Gedankenreihen, die aus der französischen und die aus der preußischen Geschichte abgeleitete, zusammen, so ergab sich daraus ein ehrgeiziges Programm: Der preußische Staat mußte sich nach innen durch soziale Reformen zugunsten der arbeitenden Klasse, nach außen durch die nationale Einigung der Deutschen von Grund auf neu legitimieren. 16 Zum Exekutor dieses Programmes wurde Bismarck. »Revolutionen machen in Preußen nur die Könige'" bemerkte er während des preußischen Verfassungskonflikts gegenüber Napoleon III. Die Kriege, die er 1864 gegen Dänemark, 1866 gegen ÖSterreich und 1870/71 gegen Frankreich führte , waren Teile einer "Revolution von oben" -die preußische Antwort auf 1848. Bismarck verwirklichte die Einheitsforderung des Liberalismus im Sinne der kleindeutschen Lösung. Von den liberalen Freiheitsforderungen übernahm er das, was mit den Interessen der alten Führungsschicht verträglich war, also sehr viel weniger, als die Liberalen erstrebt hatten. Als er sich rund ein Jahrzehnt nach der Reichsgründung anschickte, die soziale Frage unter dem selbstgewählten Etikett des »Staatssoz ialismus« zu lösen, war der Bruch mit dem Wirtschaftsliberalismus bereits vollzo· gen und die Nationalliberale Partei, seine parlamentarische Hauptstütze zwischen 1867 und 1878, gespalten.11 Rudolf Stadelmann hat das Ausbleiben einer erfolgreichen Revolution in Deutschland mit dem Erbe des aufgeklärten Absolutis mus erklärt, den er als eine Art deutscher Sonderepoche begriff. »Paradox gesprochen: nicht die deutsche Reaktion, son-
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dern d er deutsche Fortschritt hat Deutschland gegenüber dem Westen zurückgeworfen . Nur die Idee der Revolution von oben und die Praxis d es aufgeklärten Verwaltungsstaates, nur das Vorbild von Herrschern, die als Freunde des Volkes und gerade des niederen Volkes einen Ruf besaßen weit über die Grenzen ihres Staa tes hinaus, war stark genug, d en Wettbewerb mit d er Erklärung d er Menschenrechte aufzunehmen. Das Idea l der Revolution von oben hat dem Deutschen das Gefühl vermittelt, d aß er keinen fremd en Import brauche, um sein Hau s in Ordnung zu halten. Und es waren nicht die Fürsten selbst und ihre Beamten, sondern das aufgeklärte literarische Bürgertum, weiches d ieses Ideal pflegte .•• '8 Von den Fernw irkungen von Bismarcks »Revolution von oben., läßt sich ähnliches sagen. Als das Kaiserreich im Herbst 1918 zusammenbrach, war eine klassische Revolution von unten in Deutschland scho n ni cht meh r möglich. Deutschland kannte, dank des von Bismarck 1867 eingeführten al1gemeinen, gleichen und direkten Reichstagswahlrechts für Männer und des eben erst, im Oktober 1918, vollzogenen Übergangs zur parlamentarischen Monarchie, schon zu viele Elemente von Demokratie, als daß es im Sinne der Jakobiner oder Bolschewiki hätte 1>tabula rasa« machen können. Auf der Tagesordnung stand die Erweiterung, nicht eine, und sei es auch nur zeitweilige Einschränkung des bereits errungenen Maßes an Demokratie, etwa in Gestalt einer Diktatur des Proletariats. Deutschland war auch schon zu industrialisiert für einen totalen Bruch mit der Vergangenheit. Rosa Luxemburg irrte sich, als sie am 31. Dezember 1918 auf d em Gründungsparteitag d er Kommunistischen Partei Deutschlands meinte, "geführt durch den Gang der historischen Dialektik und bereichert um die ganze inzwischen zurückgelegte siebzigjährige kapitalistische Entwicklung«, stünd e man nun w ieder an der Stelle, "wo Ma rx und Engels 1848 sta nden, als sie zum ersten Mal d as Banner des internationalen Sozialismus aufrollten. Siebzig Jahre d er großkapitalistischen Entwicklung haben genügt, um uns so weit zu bringen, d aß wir Ernst machen können, den Kapitalismus aus der Welt zu schaffen.« In Wirklichkeit hatte d ie wirtschaftliche und geselJschaftliche Enhvicklung den Bedarf an Kontinuität der alltäglichen öffentlichen Dienstleistungen gewaltig gesteigert und jenen für hochindustrialisierte Gesellschaften bezeichnenden "Anti-Chaos-Reflex« hervorgerufen, den Richard Lö-
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wenthai zu Recht d en objektiv revolutionshemmenden Faktoren von 1918/ 19 zurechnet. 19 Zwischen den d eu tschen Revolution en von 1848 / 49 und 1918/ 19 g ib t es eine Reihe von auffallenden Parallelen oder, wie man auf englisch sagen w ürde, von )' recurrent patterns« . Seide Revolutionen waren in gewisser Weise »ungewollt«, d ie Sozialdemokraten 1918 ebenso Revolutionäre wider Willen wie die Liberalen 1848. Beide Ma le unternahm eine Minderheit den Vers uch, die Wahl zur Nationalversammlung gewaltsam zu verhindern und dies d amit zu rechtfertigen, daß die Gemäßigten die Revolution verraten hätten: Der Heckerpu tsch vom Ap ril 1848 erlebte eine Art Wiederkehr im (mit fragwü rdigem Recht oft "Spa rtakusa ufs tand « genann ten) Berliner Ja nuarau fstand von 1919. Marxens Aufruf zum revolutionären Weltkrieg verwandelte sich in Lenins Weltrevolution. Verändert h atten sich freilich d ie H immelsrichtungen, aus d enen d ie revolutionären und d ie gegenrevolutionä ren Pa ro len kamen. Am Beginn einer europäischen Revolu tionsweUe stand 1848 die Pa riser Februarrevolution, am Ende des Ersten Weltkriegs d ie russische Oktoberrevolution von 1917. Hätte 1848 / 49 ein Weitertreiben d er Revolution zu einer Intervention des autokratischen Rußland geführt, so nach 1918 eine Nachahmung des russischen Beispiels in Deutschland zu einem militärischen Eingreifen d er westlichen Demokratien. Zur Probe au fs Exempel kam es weder im einem noch im anderen Fall . Oie »Machtergreifun g der Extremisten «, in d er Crane Brinton die typische zweite Phase aller großen Revolutionen sieht, fand nicht s tatt. Doch auch als bloße Möglichkeit w ar der Ernstfall in beid en Revolutionen ein politischer Faktor. Er rief Angst hervor und d iente als Mittel, Angst zu schüren: d ie Angst vor der ro ten Revolution, vor Chaos und Bürgerkrieg.20 Der Vergleich läßt sich fortsetzen: 1848 w u rd e der liberalismus d urch d ie Fülle de r zu lösenden Aufgaben ü berfordert, nach 1918 die Sozialdemokratie. Von d en beiden großen Zielen d er Revolution von 1848 w urde eines, die na tionale Einheit, 1871 durch Bismarck verwirklich t, das an dere, d ie politische Freiheit im Sinne eines parla mentarisch regierten Verfassungstaates, ers t 1918 im Gefolge der militä rischen Nied erl age Deu tschlands im Ersten Weltkrieg. Die Verknüpfung von N iederlage un d Demokratie wurde zur sch weren Vorbelastun g der ersten deu tschen Republik. Sie beruhte auf d er wechselseitigen
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Bereitschaft der gemäßigten Kräfte in Arbeiterschaft und Bürgertum, miteinander zusammenzuarbeiten. Doch die freiheitlichen Kräfte im deutschen Bürgertum waren 1918 längst nicht mehr so stark wie 1848, und sie wurden im Verlauf der vierzehn Jahre der Weimarer Republik immer schwächer. Zuletzt stand die Sozialdemokratie im Kampf um die Erhaltung der Demokratie nahezu isoliert da: von der Rechten des nationalen Verrats, von den Kommunisten des Klassenverrats bezichtigt. Die Demokratie gegen eine Mehrheit zu verteidigen, die die Demokratie im Grunde nicht wollte, und sich zugleich am eigenen Anspruch auf die Verwirklichung von mehr sozialer Gerechtigkeit messen lassen zu müssen: Rudolf Hilferding hat im Sommer 1931 diese Herausforderung mit der Quadratur des Kreises verglichen und von einer »tragischen Situation« der Sozialdemokratie gesprochen.2\ Am Ende kommen wir wohl auch bei der Betrachtung der Revolution von 1848 um den vielmißbrauchten Begriff der Tragik nicht herum. Stadelmann hat in seinem eingangs zitierten, 1946, ein Jahr nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft, verfaßten und zwei Jahre später veröffentlichen Aufsatz das ),Scheitern der 48er Bewegung« verhängnisvoll für die politische Entwicklung der Deutschen genannt und dieses Urteil mit einer Metapher zu begründen versucht: »Das Gift einer unausgetragenen, verschleppten Krise kreist von 1850 ab im Körper des deutschen Volkes. Es war die typische Krankheit des >Landes ohne Revolutionw.22 Das Scheitern der Revolution von 1848 hat die Wirkungen gehabt, die Stadelmann beschreibt: Es ist einer der Gründe für die Schwäche der freiheitlichen Traditionen im Deutschland des 20. Jahrhunderts oder, um denselben Sachverhalt anders auszudrucken, die obrigkeitliche Verformung großer Teile des deutschen Bürgertums oder, noch schärfer, die Brechung des liberalen Selbstbewußtseins. Und doch greift Stadelmanns Verdikt zu kurz. Denn wenn wir ernst nehmen, was die wirklichen (und nicht nur widerwilligen) Revolutionäre von 1848 wollten, müssen wir auch nach den Kosten d es denkbaren Erfolgs dieser Revolution fragen . Ohne einen großen europäischen Krieg wäre dieser Erfolg schwerlich zu sichern gewesen. Wollen wir die gemäßigten Liberalen dafür tadeln, daß sie, bei allen ausufernden Visionen von künftiger deutscher Hegemonie, vor dieser Konsequenz zurückschreckten?
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Aus dem Rückblick von eineinhalb Jahrhunderten haben wir vielleicht die Chance, differenzierter zu urteilen, als manche Historiker es 1948, hundert Jahre nach der Revolution, taten . Damals stand die »deutsche Katastrophe«, wie Friedrich Meinecke die Zeit des Nationalsozialismus genannt hat, ganz im Vordergrund der Betrachtung. Die zwölf Jahre von 1933 bis 1945 bleiben das zentrale Ereignis der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert. Im kollektiven Gedächtnis der Deutschen wirkt diese Zeit bis heute nach als das große ),argumenturn e contra rio« für die westliche Demokratie, die viele Deutsche so lange verachten zu können meinten. Eben daraus ergibt sich ein paradoxer Effekt, der 1948 noch nicht erkennbar war: Der Erinnerung an das »Dritte Reich «, die extremste Form der deutschen Auflehnung gegen die Demokratie, kommt im Gesamtzusammenhang der deutschen Geschichte eine ähnliche Bedeutung zu wie bei anderen Nationen die Erinnerung an eine erfolgreiche Revolution. Es is t eine Erinnerung, die die Demokratie festigt. 23 Die Verfasser der Säkularbetrachtungen von 1948 konnten nur auf eine deutsche Demokratie, die gescheiterte Republik von Weimar, zurückblicken. Wir kennen mittlerweile auch die vielzitierte Erfolgsgeschichte der zweiten deutschen Demokratie, die bis 1990 freilich nur eine westdeutsche Demokratie war. Daß sie heute eine gesamtdeutsche Demokratie ist, hat seine Ursache nicht nur im Zusammenbruch des sowjetischen lmperiums. Zum Endc der z",citcn dcutschcn Diktatur trugen a.uch
jene Zehntausende bei, die der Partei- und Staatsführung der DDR im Herbst 1989 das selbstbewußte Wort entgegenriefen: ))Wir sind das Volk«! Der Begriff »Revolution(, mag für die Ereignisse von 1989/90 zu hoch gegriffen sein. Aber das Ergebnis des Umbruchs ist die Verwirklichung dessen, was die Träger der Revolution von 1848 erstrebten: Einheit in Freiheit.
AnmerklllTgell 1 Rudolf Stadelmann, Deutschland und die westeuropäischen Revolutionen, in: Ders., Deutschland und Westeuropa. Drei Aufsätze, Laupheim 1948,5. 11-34, hier 5. 14; Ders., Soziale und politische Geschichte der Revolution von 1848, München 11948 e I970).
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2 Wolfgang Schieder, 1848/ 49: Die ungewollte Revolution, in: Carola Stern / Heinrich August Wmkler (Hg.), Wendepunkte deu tsche r Geschichte 184 ~ 1990, Frankfurt/ M. 1994, S. 17-42; Michael Neumüller, Liberalismus und Revolution. Das Problem der Revolution in der deutschen libera len Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, Düsseldorf 1963; Hartwig Brandt, Die Julirevolution (1830) und die Rezeption der .. prinicipes de 1789.. in Deutschland, in: Roger Dufraisse (Hg.), Revolution und Gegenrevolution 1789-1830. Zur geistigen Auseinandersetzung in Frankreich und Deutschland, München 1991, S. 225-235. 3 Heinrich von Sybel, Die politischen Parteien der Rheinprovinz, in ihrem Verhältniß zur preußischen Verfassung, Düsseldorf 1847, S. 63, 81 f., 59, 54 (in der Reihenfolge der Zitate; Hervorhebung im Original). 4 Manfred Meyer, Freiheit und Macht. Studien zum Nationalis mus süddeutscher, insbesondere badischer Liberaler 1830-1848, Frankfurt/ M. 1994, S. 149 (Rotteck); Irmline Veit·Brause, Die deutsch-französische Krise \'on 1840. Studien zur deutschen Einheitsbewegung, Diss. Köln 1967; HansUlrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen .. Deutschen Ooppelrevolution .. von 1815-1845/49, München 1987, S. 125 ff. 5 Hans Rothfels, 1848 - One Hundred Years After, in: The Journal of Modem His tory 20 (1984), S. 291 - 319; Ders., Das erste Scheitern des Nationalstaates in Ost·Mittel-Europa 1848/ 49, in: Ders., Zeitgeschichtliche Betrachtungen, Göttingen 1959. 5.40-53. 6 Veit Valentin, Geschichte der deutschen Revolution 1848-1849, 2 Bde. (' 1931/32) ND, Bd. 2, Köln 1970, S.95ff.; Manfred Botzenhart, Deutsche r Parlamentarismus in der Revolutionszeit 1 84~1850, Düsseldorf 19n, 5. 184 H.; Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 2: Der Kampf um Einheit und Freiheit 1830 bis 1850, Stuttgart )1988, 5. 587 H. 7 Ste nographischer Bericht übe r die Verhandlungen de r deutschen cons tituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main. Hg. auf Beschluß der Nationalversammlung durch die Redactions-Commission u. in deren Auftrag v. Prof. Franz Wiga rd, 9 Bde., Leipzig 1948/ 49, Bei. 6, S. 4596 (Beckerath), 4626 (Beseler). 8 Joseph Hansen, Gus ta v von Mevissen. Ein rheinisches Lebensbild 1815-1899, Bd . 2, Bonn 1906, S. 448 (Brief an Georg Mallinckrodt); Stenographische r Bericht, Bd . 6, S. 4096 f. (Dahlmann); Manfred Botzenhart, Das preußische Parlament und die deutsche Nationalversammlung im Jahre 1848, in : Gerhard A. Ritte r (Hg.), Regierung, Bürokratie und Parlament in Preußen und Deutschland von 1848 bis zur Gegenwart, Düsseldorf 1983, S. 14 10. 9 Günter Wollstein, Das "Großdeutschland .. der Pauls kirche. Nationale Ziele in der bürgerlichen Revolution 1848/ 49, Düsseldorf 1977; Rudolf Lill, GroBde utsch und kleindeu tsch im Spannungsfeld de r Konfessionen, in : Anton Rausche r (Hg.), Probleme des Konfessionalis mus in Deutschland seit 1800, Paderbom 1984, 5. 29-47; Peter Borowsky, Was ist Deutschland? Wer is t de utsch? Die Debatte zur nationalen Identität in de r de utschen Na· tionalversammlung in Frankfurt und der preußischen Nationalversamm· lung zu Berlin, in: Bemd-Jürgen Wendt (Hg.), Vom schwierigen Zusammen-
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wachsen der Deutschen. Nationale Identität und Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt / M. 1992, 5.81-85; Wolfram Siemann, Die deut· sehe Revolution von 1848/ 49, Frankfurt/ M. 1985.5.192 ff .. 10 Valentin. Geschichte, Bd. l, S. 46 ff.; Franz X. Vollmer, Die 48er Revolution in Baden. in: losef Hecker u . a., Badische Geschichte. Vom Großherwgtum bis zur Gegenwart, Stuttgart 1979, S. 37-64. 11 Verhandlungen der Versammlung zur Vereinbarung der Preußischen Staats-VerfassunSt 3 Bde., Beflin 1848, Bd . 1, 5.417 (Waldeck, 11.7.1848), Bd . 3, S. 292 f. (Walde<'k, 31.10.1848). 12 Stenographischer Berichi, Bei. 6, 5. 5807 ff. (Radowitz, 17.3.1849), 5. 5823 (Vogl, 17.3.1849), Mohl (17.3.1849). 13 Karl Marx, Die revolutionäre Bewegung, in: Karl Marx / Friedrich Engels, Werke (: MEW), Berlin 1959 H., Bd. 6, S. 148-150, hier S. 150 (Hervorhebung im Original); Friedrich Engels, Der magyarische Kampf. in: ebd., S. 16S-176, hier S. 1n u . 176; Ders., Der demokratische Panslawismus, in: ebd., S. 271-286, hier S. 286. 14 Ludw ig August von Rochau, Grundsätze der Realpolitik. Angewendet auf die staatlichen Zustände Deutschlands 1853), hg. u. eingeleitet von Hans-Ulrich Wehler, Frankfurt / M. 1972. S. 25, 173, 171, 126, 128 (in der Reihenfolge der Zi tate). 15 Karl Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich (1850), in: MEW, Bd.. 7, S.9-107, hier S. 89 f.; Ders., Brief an Joseph Weydemeyer vom 5.3. 1852, in: ebd., Bd. . 28, S. 503-509, hier S. 508. 16 Larenz von Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, 3 Bde. (1850), ND Darmstadt 1959, Bd . 3: Das Königtum, die Republik und die Souverä nität der französischen Gesellschaft seit der Februarrevolution 1848, S. 37-41; Ders., Zur preußischen Verfassungsfrage (1852), ND Darmstadt 1951 , S. 4, 23. 17 Fürst Otto von Bismarck, Oie gesammelten Werke, Berlin 1924f.,
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Dd. 8, S. "59.
18 Stadelmann, Deutschland, S. 28. 19 Hermann Weber (H g .), Der Gründungsparteitag der KPD. Protokoll und Materialien, Frankfurt/ M. 1969, S. 18O (R. Luxemburg); Richard Löwenthai, Bann und Weimar: Zwei deutsche Demokratien, in: Heinrich Au· gust Wtnlder (Hg.), Politische Weichenstellungen im Nachkriegsdeutschland 1945-1953, Göttingen 1979, S. 9-25, hier S. l1; Heinrich August Winlder, Von der Revolution zur Sta bilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924, Berlin 21985, S. 19 ff. 20 Crane Brinton, Die Revolution und ihre Gesetze (Orig.: The Anatomy of Revolution, New York 1938), Frankfurt/M. 1959, S. 211 ff. 21 Rudolf Hilferding, In Krisennot, in: Die Gesellschaft 8 (193I/l1), S. 1-8, hier S. 1. 22 Stadelmann, Deutschland, S. 31. 23 Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, Wiesbaden 1946; Ders., 1848. Eine Säkularbetrachtung. Berlin 1948.
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Günter Schödl
Jenseits von Bürgergesellschaft und nationalem Staat Die Völker Ostmitteleuropas 1848/ 49'
Ein Blick auf die noch immer nationalhistorisch zersplitterte, nur wenig aufeinander bezogene und insofem letztlich ihrer MaBstäbe unsichere Literatur über ,,1848« als ostmitteleuropäisches Ereignis läBt bestimmte methodisch-interpretative Anliegen als besonders dringlich erscheinen. Zunächst dürfte es geradezu überfällig sein, eine allzusehr philologisch-textbezogen eingeengte Perspektive entschieden zu erweitem. So sollte die verbreitete Gewohnheit, von programmatischer Ähnlichkeit bzw. Übereinstimmung ostmitteleuropäischer und deutschmittelA /wes teuropäischer Phänomene allein schon auf entsprechend starke, auch gleichgerichtete Dynamik zu schlieBen, eine Korrektur erfahren. Erst dann wird voll und ganz sichtbar, daB die Ereignisse von 1848/ 49 in Ostmitteleuropa 2 keinen apriori harmonisierten , sondern einen auBerordentlich vielfältigen und konfliktträchtigen Erscheinungsreichtum zeitigten. Eine zweite methodische Überlegung schlieBt hier an: Die Auswertung derart ermittelter Befunde, diese kontextgebundene Erfassung historischer Wirklichkeit ist angewiesen auf den systematischen Vergleich als weiterem Untersuchungsschritt. In dieser Hinsicht steht die Forschung - abgesehen von älteren, weithin ideologisch verzerrten Darstellungen - erst am Anfang, obwohl es durchaus wertvolle Studien zu einzelnen, meistens nationalhistorisch definierten Gegenständen gibt. 3 Dieses Defizit ist nicht verwunderlich: Selbst der seit langem intensiverörterte Vergleich Deutschlands und Englands im 19. Jahrhundert weist noch immer bestimmte Untersuchungslücken u. a. bezüglich bestimmter Aspekte von Verfassungswirklichkeit und Sozialordnung, von Partizipation und Mobilität auf.4 1nsofern ist dies angesichts weitaus geringerer Forschungsressourcen, vor allem angesichts politischer Kommunikationsbarrieren
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und vielfacher, besonders sprachlicher und staatlicher Zersplitterung d es europäischen Ostens um so weniger eine Überraschung. Zum soeben erwähnten Vergleich d es englischen und des deutschen Entwicklungsganges im 19. Jahrhundert, vor allem d es Teilaspekts 1848, weist der osbnittel- bzw. osteu ropabezogene Vergleich noch in anderer Hinsicht eine enge Verbindung auf. Es sind die Transformations- und gesamteuropäischen lntegrationsprozesse unserer Gegenwart, die d en Blick dafür öffnen, daß das Problem 1848 weder als europäisches noch als einzelstaatliches Ereignis sinnvoll zu erörtern ist, werm die geschichtliche Erinnerung einer seit dem Zweiten Weltkrieg gewachsenen westeuropäisch-atlantischen Bewußtseins- und Wertgemeinscha ft diese östliche Hälfte Europas mehr oder weniger ausklammert, d er Tendenz nach soga r exotisiert. Wie groß bei d erart tagespolitisch gepräg ter Perspektivenwahl die Gefahr methodischer Verunsicherung und inhaltlicher Anfechtbarkeit ist, zeigt ebenfalls die Forschungsdiskussion zum Verg leich Deutschland - England im 19.Jahrhundert. Hier ist jüngst die Kontroverse über einen deutschen Sonderweg erneuert worden :~ Mit guten Gründen wird u. a. kritisiert, daß d ie These eines vom englisch-westeuropä ischen Modell abweichenden und letztlich d eformierten Modernisierungsprozesses Deutschlands weitgehend durch Politik und Zeitgeist vorgegeben sei, jedenfalls die nötige begriffliche und empirische Fundierung
ve rmi ~sen l~ sse .
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Die folgenden Darlegungen gelten dem Anliegen, d ie historische Individualität bestimmter Phänomene - in diesem Falle Ostmitteleuropas um 1848 - als solche sichtbar zu machen. Damit sind Überlegungen zu d en Möglichkeiten eines systema tischen Vergleichs zunächst innerhalb des europäischen Ostens, sodann mit Westeuropa und Deutschmitteleuropa verb unden. Die Vergleichsperspektive wird mehr oder weniger eingeengt au f zwei Teilaspekte - a uf diejenigen von »Bürgergesellschaft « und »nationalem Staat((. Diese Sc.hwerpunktsetzung soll einige knappe Beobachtungen zu Ähnlichkeiten und Unterschieden,
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auch zur Bewegungsrichtung der Entwicklung im östlichen Europa um 1848 ermöglichen.6 Zur Einordnung sei zunächst versucht, die politisch-konstitutionelle und die wirtschaftlich-gesellschaftliche Gesamtsituation mit einigen wenigen Angaben zu umreißen und zu veranschaulichen. Zunächst läßt der Blick auf die politisch-konstitu tionel1e Landschaft des östlichen Europa erkennen, daß weithin die Akteure jenes Wandels, wie er sich in West- und Mitteleuropa seit Französischer Revolution und napoleonischer Ära abzeichnet, noch nicht staatlich oder national definiert sind. Noch immer bestimmen alte Mächte, vor- und übernationale Monarchien, Preußen und ÖSterreich, Ru ßland und Osmanisches Reich, die staa tlich-territoriale Gliederung des europäischen Ostens. Aber neue Tendenzen der politischen Durchdringung und der wirtschaftlich-gesellscha ftlichen Erschließung vom Zentrum her zeichnen sich ab. Es gibt Zonen geringerer Verdichtung von Macht und Organisation, wo sich autochthone, auf Selbstbestimmung drängende Dynamik bemerkbar macht. Dies gilt im Norden für den Aufstand im Königreich Polen gegen die russische Herrschaft ab November 1830 ebenso wie für die ungarische Reformära, besonders das gewissermaßen evolutionä r-strategische Aufbegehren des »langen Landtagsl( von 1832 bis 1836, und für die ersten serbischen Aufstände zwischen 1804 und 1830 gegen die osmanische Herrschaft, aus der sich zwischen 1821 und 1830 die Griechen zu lösen vermochten. Neben diesem Streben nach politiSCher Autonomie, das zum Teil auch schon als Anspruch aufStaatsbildung auftrat, ist ein zweites, zeitlich vorgelagertes und weiter verbreitetes Strukturelement zu benennen : von ersten lmpulsen politisch-staatlicher Emanzipation, die im frühen 19. Jahrhundert aber nicht mit ihm verbunden sein mußten, nicht scharf zu unterscheiden, hatte . sich mancherorts schon seit dem mittleren 18. Jahrhundert ein Streben nach kulturell-ethnischer Selbstvergewisserung und zuweilen auch na ch ersten Schritten nationaler Identitä tsbildung abgezeichnet. Dies konnte sich - besonders bei den Tschechen, aber auch bei Kroaten, Slowaken und etwas später den Slowenen - als gew issermaßen symbiotische Auseinandersetzung mit dem deutschmitteleuropäischen Verständnis von Kultumation vollziehen. Es konnte andererseits im Weichbild der Ostki rche als konfessionell-politische Gemeinschaftsbildung seine Gestaltung finden, was bei Serben und Bulgaren mit d er
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historisch-romantischen Beschwörung vorosmanischer StaatIichkeit verbunden war. Zwar nicht in diesen Formen von nationalem ),Erwachen{( bzw. nationaler )Wiedergeburt« und von staatsbezogenem Autonomiestreben, aber in abgewandelter Erscheinungsweise zum einen der westeuropäisch orientierten Reformdebatte, zum anderen einer national definierten Staatsidee sollten auch in Rußland und sogar im Osmanischen Reich gewisse Echowirkungen im frühen 19. bzw. am Ausgang des Jahrhunderts zu bemerken sem.
Insgesa mt zeugen schon diese knappen Hinweise davon, daß es im Osten Europas bereits vor 1848 Strukturmerkmale und Verlaufsformen des politischen Lebens gab, die es rechtfertigen, von Ähnlichkeit mit West- und Deutschmitteleuropa ,1 vielleicht auch von dessen regelrechter Vorbild wirkung zu sprechen. Diesen Eindruck verstärken zudem Beobachtungen, daß auch bei manchen Details von Wandel und Neuerung geradezu eine Nachahmung des Westens zustande kam. So bei der Einführung bestimmter Teilelemente westlicher politischer Kultur wie Verfassung und Partei, Parlament und konstitutionelle Monarchie. Aber ein Blick auf die Realität solcher Neuerungen, auf die Wechselwirkungen mit ihrer jeweiligen Umgebung läßt zugleich die Grenzen solcher Hinweise auf Ähnliches und Paralleles deutlich werden . So stellten erste Parteien in Griechenland und in Kongreßpolen seit der Mitte der zwanziger Jahre, de!>gleichen frühe Ve rfassungen wie die .. türkisch e « Verfassung in Serbien von 1838 oder der serbische )}Sabor«, ein
Parlament, das allerdings zwischen 1843 und 1858 nur ein einziges Mal, eben im Jahre 1848 tagte und sich längst vor der ersten Verfassung, nämlich aus Repräsentantenversammlungen entwickelt hatte - so stellten Erscheinungen dieser Art weniger Ähnlichkeiten mit westlicher Modeme dar als eigenständige, unter Umständen auch verfehlte und so gar nicht beabSichtigte, womöglich auch manipulativ-instrumentell gedachte Schöpfungen. Eine Variantenbildung dieser Art, hinter der sich im Extremfall sogar - sei es planvoll herbeigeführt oder als Resultat der regional besonderen Entwicklungsmöglichkeiten - das Gegenteil des betreffenden modernen, westlichen Bezugsobjekts verbirgt, kann nur unter Berücksichtigung des politischgesellschaftlichen Kontextes einem sinnvollen Vergleich unterzogen werden.8 Die politisch-konstitutionelle Landschaft in Europas Osten
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jedenfalls entsprach in vielem nicht den Vorstellungen, die man sich von den Bedingungen des europäischen Modernisierungsprozesses dieser Zeit macht. Ganz abgesehen davon, daß - w. o. erwähnt - die als Träger in Frage kommenden Großgruppen weder staatlich noch territorial definiert waren und daß insgesamt der Prozeß nationaler Identitätsbildung weithin noch im Anfangsstadium steckte, fehlte es auch an den wirtschaftlichgesellschaftlichen Voraussetzungen. Balkanische Bauerngesellschaften, bipolare Agrarordnungen mit der Grundherr-Kolon bzw. Kmet-Konstellation sowie eine Mehrheit abhängiger Bauern - diese soziale Struktur entsprach den EXistenzbedingungen des westeuropäischen Modernisierungsprozesses ebensowenig wie eine Gesellschaft ohne die nötige Trägerschicht, sei es bürgerlicher Mittelstand oder AdeL Immerhin ist einzuräumen, daß politisch-kulturelle und Wirtschaftlich-gesellschaftliche Strukturelemente dieser Art zumindest zeitweilig übersprungen oder überhaupt funktional ersetzt werden konnten . Dies konnte durch situative Vorbildwirkung, wie sie vom griechischen Unabhängigkeitskampf und von d en polnischen Aufständen, vor allem von der Pariser Julirevolution und den belgischen Unruhen im August 1830 ausstrahlte, ebenso geschehen wie durch außenpolitische Veränderungen. Diese begünstigten den serbischen bzw. den griechischen Unabhängigkeitskampf, als das Osmanische Reich zunächst durch Rußland, ferner durch Aufstände in Mesopotamien und Arabien, später durch eine Allianz der Großmächte anderweitig unter Druck gesetzt wurde. Mit Vorbehalten dieser Art lassen sich die politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse d es östlichen Europa im frühen 19. Jahrhundert durch die Beobachtung charakterisieren, daß ihnen weniger der gesellschaftliche Wandel und das Verlangen nach einer rechtlich abgesicherten Verfassungsordnung seitens einer ansatzweise politisierten Öffentlichkeit den Stempel aufdrückten; es handelte sich hier eher um die weitgehend traditionellen Formen von Verweigerung gegenüber fremder Loyalitätsforderung, die mit einem neuen Interesse adliger oder f und intellektueller Eliten an nationaler Identität einhergehen konnten. Es war - kurz und zugespitzt ausgedrückt - weniger politischer Modemisierungsd ruck als nationales Autonomiestreben, das auch im Osten Europas am Ausgang der vierziger Jahre eine neue Veränderungsdynamik hervorbrachte. Am Beispiel
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zunäch st üstmitteleuropas im engeren Sinne, vor allem des tschechischen Falles, sodann im kurzgefaßten Vergleich mit Osteuropa insgesamt sei dies im folgenden näher betrachtet.
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Daß die revolutionäre Entwicklung in den Ländern der böhmi· sehen Krone seit März 18489 im soeben erwähnten Sinne nicht nur von den Ereignissen in Frankreich und in Deutschmitteleu· ropa beeinOußt war, sond ern Besonderheiten aufwies, sollte sich sehr schnell zeigen. So klar hier auch als konstitutive Tendenzen die Ausformung einer Bürgergesellscha ft und d as Selbstbestimmungsstreben einer Nation hervortraten, so unübersehbar waren gewisse Eigenheiten. Auch wenn d as wirtschaftlich-gesellschaftliche Erscheinungsbild Böhmens im 19. Jahrhundert d emjen igen Deutschmitteleuropa s in hohem Maße glich - in einem besond eren Licht steht doch vor allem die Frage nach dem Subjekt, nach den Trägern der Ereignisse von 1848, ihrem Selbstverständnis und ihren Zielen. Zwar wich di e sozial-strukturelle Zusam mensetzung auch der Bevölkerung Prags als wichtigstem Schauplatz d es böhmischen »1848« ni cht wesentlich von deutschmitte leuropäischen Verhältnissen
ab; vor allem hatten sich bereits bürgerliche Mittelschichten herauszubilden begonnen . Aber gewisse Eigenheiten ließen diese Anfänge sozialer Modernisierung doch erkennen - gegenüber deutschmitteleuropäischen, zugleich auch ostmitteleuropäischen Parallelen. So bahnte sich in jedem der böhmischen Länder geWisserma ßen eine Verd opplung des Modernisierungsprozesses an. Auf ein- und demselben Territorium traten - vielfach miteinander konkurrierend - jeweils eine tschechische und eine deutsche Verbürgerlichungstendenz zutage. Diese Prozesse waren weder territorial kompakt, noch umfaßten sie je einen klar abgegrenzten TeiJ der böhmischen Länder, zumal die zug rundeliegende nationale Rivalität noch nicht voll ausgeb ildet war. Selbst ein nur ansa tzweise systematisch strukturierte r, kurzer Blick auf den Ereignisablauf von 1848/49 in Böhmen 10 zeigt, daß die Cha rakterisierung als »Revolution« nur begrenzt auf
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eine entsprechende Dramatik gegründet werden kann . Abgesehen von situ ativen Zuspitzungen und den Prager »Pfingstunruhen« Mitte Juni 1848 handelte es sich nicht um ein revolutionä res Geschehen im Sinne langdauernder Barrikadenkämpfe, mit Massenmobilisierung und -radikalisierung. Vor allem kam es nicht z u anhaltender Teilnahme der städtischen Unterschichten und der Landbevölkerung. Wie diese soziale Grenze zum Mas5ellphänomen nicht überwunden wurde, so auch nicht diejenige zwischen Stad t und Land. Daher könnte man für einen G roßteil des Geschehens eher von »Prager Revolution« sprechen als von »Böhmischer Revolution«. Insofern stellte sie von ihrer Ereignisgestalt, aber auch von ihrem programmatischen Profil her keineswegs eine voll ausgebildete Parallele zur Revolution, genauer: zu den drei Aufständen in Wien dar. Die initialzünd ung der Mobilisierungs- und Homogenisierungsimpul se war auch nicht stark genug, um die historischen Grenzen zwischen den Ländern der Wenzelskrone, zw ischen Böhmen, Mähren und Österreichisch-Schlesien zu überspringen. Dennoch wäre es unberechtigt, dieses Geschehen im Sinne des Klischees »weit d ahinten im Osten« gewissermaßen zu exotisieren; weder die kleindeutsche Sichtweise d es Bismarckstaates noch diejenige des Ost-West-Blockdenkens, d ie beide noch immer nachwirken, werden den besonderen ostmitteIeuropäischen Verhältnissen gerecht. Die Prager Ereignisse von 1848/49 spielten sich nicht irgendwo im Dämmerlicht eines düster-unbegreiflichen Ostens ab, sondern geographisch und zug leich politisch in nächster Nähe Wiens als damaligen mitteleuropä ischen Zentrums. So ist es ein wichtiger Teilaspekt des sei t d em Ende des Blockgegensatzes in Gang gekommenen politisch-historischen Umdenkens, wenn auch am Beispiel »1848" über die böhmischen Länder als Teil Mitteleuropas, überhaupt über das östliche Mitteleuropa nachgedacht wird. Eine dieser Art erneuerte Verortung im au thentischen zeitgenössischen Kontext legt - trotz der w. o. envähnten Einwände - die Auffassung nahe, es habe sich nicht nur um d ie eher zufä lli ge Ähnlichkeit eines Randphänomens gehandelt, sondern um einen konstitutiven Bestandteil der staaten- und völkerübergreifenden, in sich zusammenhängenden europäischen Revolution . Deren bestimmende Inhalts- und Strukturelemente sind auch in der böhmischen Revol ution anzutreffen. So ist im Hinblick auf die eigentliche Prager Revolutionsphase zwischen März und Juni 1848,
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also zwischen »Wenzelsbad· Versammlung« als Auftakt und d er Nied ersc hlagung d er Pfingstunruhen als negativer strategi. scher Entscheidung, geradezu eine hochgradige Übereinstimmung gegeben. Dieser Einschätzung widerspricht nicht d er Umstand, daß es während d er weiteren Entwicklung bis zur Auflösung des verfassunggebenden Kremsierer Reichs tags und schließlich dem Ausnahmezus tand in Prag am 7. Mä rz bzw. 10. Mai 1849 zu Vorgängen und Gestaltungen anderer Art gekommen ist. Sie können in höherem Maße als Ausdruck der Landes- und der überg reifenden Reichspolitik verstanden werden. Verglichen etwa mit den dram a ti schen Auseinand ersetzungen auf d en Straßen d er Hauptstadt des Habsburgerreiches, besond ers im März / Mai und bereits unter proletarischer Beteiligung im Oktober 1848, han delte es sich beim Aufta kt d er böhmischen Revolution im Prager Wenzelsbad eher um eine durchaus n icht um stürzlerische Protest- und Petitionskundgebung. Ihre prog rammatischen Bekundungen bilden zusammen mit d em ablehnend en Antwor tschreiben d es Histo rikers Fra nti~e k Pa lacky, den der Fünfzigerausschuß d er d eutschen Nationalbewegung eingelad en hatte, an d en Vo rberei tungen für eine d eutsche Nationalversa mmlung mitzuwirken, gewissermaßen d en konzeptionellen Kern jener früh en tschechischen Po litik: Der Politisierungsschub von März/ Ap ril gewann so erste inhaltliche Kontu ren. Auch ers te o rganisatorische Ergebnisse traten zutage: So wurde als erstes G lied einer langen Kette na ti onaler Organisa tionsbemühungen, d ie mit dem tschechoslowakischen »Na ti onalrat« von 1916/ 18 ihren Abschl uß finden sollten, ein tschechischer »Nationalausschu ß« geschaffen. Eine weitere, ausgesproch en konfliktträchtige frühe Folge d er Debatten, die sich aus der Wenzelsbad-Kundgebung trotz d er Teilnahme auch deu tscher Bürger ergaben, war die beginnende Nati onalisierung d es deutsch-tschechischen Zusa mmenlebens. Auch wenn regelrechte kollektive Verfeind u ng d am it noch nicht vorprogrammiert war, so rückte doch ein künftighin prägendes Problem auf die Tagesordnung. Die Zeit d es his torisch gewachsenen böhmischen Landespatriotismus war abgelau fen , und die kultureJl·intellektuellen Bestrebungen »nationaler Wied ergeburt« (»Narodni obrozeni«) erfuhren ihre Metam o rphose zum Politischen. Vorbe reitet ha tte sich dies kulturell schon seit d em späten l a. Jahrhundert, und im frühen 19. Jahrhundert wa-
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ren im Vergleich und im Wettstreit mit dem zu dieser Zeit in Prag noch d ominierenden deutschen Element sprachliches und politisches Selbstbewußtsein der Tschechen geformt worden. Verstärkt durch den Generationswechsel in den tschechischen Führungsschichten seit den frühen vierziger Jahren, wurde daraus eine unumkehrbare Tendenz, die eben 1848 endlich auch mit politischer Schubkraft ausgestattet wurde: Eine Wechselbeziehung zwischen - erst jetzt gesicherter - tschechischer nationaler Identität und übergreifendem Modemisierungsprozeß, die beide Elemente so eng aneinanderband, daß sie in gewissem Maße austauschbar werden sollten. So vorteilhaft, womöglich sogar notwendig diese Kombination für die Entfaltung der tschechischen Nation auch wurdesie erwies sich zugleich als Verhängnis: die Deutschen gerieten im eigenen Lande unabhängig von ihrem tatsächlichen Verhalten als Verkörperung des Deutschen überhaupt, an dem man sich zugleich maß und rieb, in die Rolle geWissermaßen eines für die tschechische nationale Entwicklung prägenden negativen Bezugspunktes, einer Art negativen Elitenersatzes. Es war die Einsicht in dieses Zerbrechen einer bisher überwiegend symbiotischen Konstellation tschechischer und deutscher Bevölkerung in Böhmen, was Palackys paradigmatisch bedeutsame Distanzierung von Parlament und Staat der Deutschen bedingte. Wirkungsmächtiger als die im Laufe des Jahrhunderts sich aufstauenden gegenseitigen Vorurteile und Aggressionen sollte dieser funktional notwendige Sachverhalt werden, daß sich die, eben 1848 erst zur Entfaltung kommende tschechische Nationsbildung von Anfang an in Auseinandersetzung mit der vorauslaufenden, beeindruckenden und sogleich bedrohlichen deutschen Parallele herausbildete. Damit war die Zeit vorbei, in der böhmischer Landespatriotismus und romantischer Slawismus, Loyalität zum Hause ÖSterreich und Beschwörung des historischen böhmischen Staatsrechtes nebeneinander hatten existieren können. Zwar erkannten nationalpolitische Meinungsführer wie Palacky und Karel Havlicek Borovsky noch vor 1848, wie illusionär alle Vorstellungen von slawischer Solid arität waren. Es war ihnen auch nicht verborgen geblieben, wie schwer es fallen mußte, einen historisch hergeleiteten Anspruch auf böhmische Staa tlichkeit durchzusetzen. Aber unübersehbar war angesichts des Politisierungsschubs, den ,,1848« zumindest den größeren Städten brachte, zug leich dies:
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es wurde als ein Zeichen der Zeit aufgefaBt, daß die Absage an böhmischen Landespatriotismus, an übemational·humanistisehe Harmonieappelle, gleichermaßen an Panslawismus und russische Verlockung, nun nicht mehr einen Verzicht auf volle Entfaltung der eigenen Nation nach sich zog. Angesichts des
gewandelten Zeitgeistes von 1848 und besonders der ungarischen und polnischen Vorbilder nebenan war diese Orientierung durchaus selbstverständlich, und doch führte sie nicht zu entsprechend klaren Positionen bei der anstehenden nationalpolitischen Programmdiskussion. Die Forderungen der Prager Petitionsbewegung blieben daher bei den Belangen tschechisch-deu tschen Zusammenlebens sowie der künftigen Beziehung zu Wien strittig bzw. unabgeschlossen-vage. Aber ähnlich klar wie Palackys Verweigerung gegenüber einem nationalen Deutschland waren auch die Petita der Wenzelsbad-Versammlung, insofern es um den gemeinsamen politisch-freiheitlichen Kanon der europäischen Revolution ging. Man forderte in erster Linie das Ende der Mettemichschen Epigonie eines überlebten Absolutismus, in Böhmen des Ständesystems; wichtigste Anliegen waren Verfassung und bürgerliche Freiheitsrechte, femer die Liberalisierung in Bereichen wie Justizwesen, Versamm lungsrecht und Presse; weitgehend bekannte man sich auch zum Abschluß der Bauembefreiung. Aber so klar dieses Bekenntnis zur eigenen Nation und ihrer Entfaltung in den Kategorien d es Sturmjahrcs 1848 auch crscheint, so zaudcr-nd und
vorläufig blieb doch die na tionalpolitische Ku rsbestimmung darüber hinaus. Dieses Moment des Zaudems, des offenkundigen Zurückschreckens vor naheliegenden Folgerungen aus prinzipiellen Erkenntnissen war nicht nur Ausdruck einer Zeit beschleunigter Veränderungen, die wenig Gelegenheit zu abgeklärter Programmarbeit gegeben hätte - es hat mehr mit Genesis und charakteristischer Konstellation tschechischer nationaler Politik in Böhmen zu tun. Beides war in hohem Maße von der Einsicht in die Übermacht der Verhältnisse bestimmt. Die Protagonisten tschechischer nationaler Politik, welche als solche bis 1848 ohneh in nur Sache einer Minderheit gewesen war, befanden sich zwar auf der Höhe ihrer Zeit, was die Reflexion über Möglichkeiten kulturell-nationaler Identitäts- und kollektiver Willensbildung betraf, die trotz politischer Ohnmacht gegeben waren. Sie ließen sich vom pragmatischen Selbstbehauptungsstreben
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des englischen Bürgertums, von Konzepten des englischen liberalismus für kompromißorientierte Beteiligung des Bürgertums an der Macht mehr noch inspirieren als von der Radikalisierung des französischen Konstitutionalismus;ll schließlich hatte man sich in der vorpolitischen Phase der zwanziger und dreißiger Jahre an Wunschbildern urslawischer Zustände, besonders slawischer Demo kratie, geradezu berauscht, hatte man zudem Erwartungen in ein slawisiertes Österreich und in allslawische Gemeinschaft gesetzt. Aber der systematisch durchdachte Gegenentwurf zur abgelehnten Realität einer innenund außenpolitisch, finanziell und herrschaftstechnisch in die Krise geratenen Monarchie, die außer der Selbsterhaltungsraison des Hauses ÖSterreich kaum noch über eine Staatsidee verfügte, ferner der Gegenentwurf zu den unzureichenden Reformofferten des böhmischen Adels, die lediglich eine gewisse bürgerliche Erweiterung der überlebten Ständeordnung vorsahen -dies alles wurde nicht in seiner vollen systematischen Entfaltung präsentiert. So stellte es von vorneherein einen Akt des Zurückschreckens vor entschiedenen politisch-konstitutionellen und sozialen Reformforderungen dar, daß in der ersten Wenzelsbad-Petition vom 11 . März 1848 nicht innen-, sondern nationalitäten politischen Postulaten der Vorrang eingeräumt wurde. Mit Nachdruck wurde eine Verfassungsgarantie für die Gleichstellung aller Nationalitäten der Monarchie gefordert, während insgesamt für die tschechische Debatte über das Verhältnis zu den Deutschen in Böhmen selbst eine gewisse Unentschiedenheit charakteristisch war. Es handelte sich um ein Schwanken des national politischen Denkens zwischen konkurrierenden grundsätzlichen Auffassungen, die um 1848 weitgehend durch Palacky einerseits, andererseits Havlicek Borovsky als Angehörigem einer jungen, nicht mehr universalistisch-humanistisch geprägten Intellektuellengeneration verkörpert werden : um das »Schwanken zwischen dem historischen Staatsrecht (mit der Priorität der Tschechen und der tschechischen Sprache bei Havlicek) und der Autonomie und dem Naturrecht (Palackys Gleichberechtigung bei der Landessprachen) ~(. 12
Ein gewisses Zurückschrecken vor der Rolle der TItularnalion eines selbständigen Staatswesens stellte die Forderung nach Ausdehnung des Prinzips der individuellen Gleichberechtigung auf die Ebene der Gleichberechtigung von Nationalitä-
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ten dar. Auf der gleichen Linie bewegten sich - als Zentrum der nationalitätenpolitischen Debatte - die sprach- und verwaltungspolitischen Vorschläge dieser Zeit. Im April 1848 trat selbst ein führender Vertreter der entschiedeneren Richtung HavHceks, Vaclav Tornek, in diesem Sinne hervor: 1J anders als gleichzeitig die ungarische Nationalbewegung und ihre Nationalitätenpolitik beharrte Tomek auf weitgehender Zweisprachigkeit in Bildungswesen und Staatsverwaltung Böhmens. Verbunden hiermit waren in der ersten Wenzelsbad-Petition staatsrechtliche Forderungen, die - wiederum in Anpassung an den Status quo - nicht etwa der nationalen Staatsbildung galten, sondern einer Art realistischen Umbaus der Habsburgermonarchie. Und auch hier erweist ein Vergleich mit der ungarischen Problematik, wie ausgeprägt eine innere Unsicherheit, vielleicht auch unpraktisch-idealistische und politisch unerfahrene Haltung der tschechischen Wortführer war. Während die ungarische Fronde die Restituierung der historischen Staatlichkeit forderte, zugleich aber eine Stellungnahme zur Loyalitätserwartung der Krone und zu den Vorstellungen anderer Nationalitäten vermied, engten tschechische Politiker durch vorzeitige Stellungnahmen ihren reformpolitischen Spielraum ohne Not selbst ein. Sie legten sich weitgehend auf das Konzept eines österreichisch-ungarisch-tschechischen Trialismus fest. H Er sollte zudem die nationale Integration von Böhmen, Mähren und Schlesien als Ländern der We n zelskrone unte r einem Vize-
könig - ausdrücklich: aus der herrschenden Dynastie - ermöglichen. Stärker kam der reformerische Impetus der Wenzelsbad-Versammlung bei den im engeren Sinne verfassungspolitischen Forderungen zur Wirkung, etwa durch das Beharren auf eine wesentliche Erweiterung und Veränderung des Ständelandtages durch die Wahl von Vertretern der Städte und Landgemeinden. Auch die - bereits erwähnten - staatsrechtlichen und nationalitätenpolitischen Forderungen nach engerem Zusammenschluß der böhmischen Länder unter Aufwertung Prags enthielten nach den Maßstäben des zeitgenössischen österreichischen Liberalismus einen massiven Modemisierungs im puls: sie zielten auf gemeinsame Institutionen der Länder der Wenzelskrone als Mittel nationaler Integration. Die weitere Entwicklung der Petitionsbewegung, so etwa Palackys Landtagsinitiative von Anfang Mai, bewies eine entschiedene Stoßrich-
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tung. Es ging um Liberalisierung der ständischen Institutionen und um Abwehr des Plans einflußreicher adliger Reformer und des böhmischen Gubernalpräsidenten Leopold Graf Thun-Hohenstein, ÖSterreich lediglich nach Maßgabe eines historisch hergeleiteten Kronländerföderalismus umzugestalten - ohne echte Reform d er ständischen Vertretungskörperschaften und ohne volle Gleichstellung der Tschechen mit den Deutschen.
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Trotz alledem wurde es für den weiteren Verlauf und die Ergebnisse der bö hmischen Revolution charakteristisch, daß sich schon im April ein Kompromiß mit den adligen Reformern anbahnte. Nach Graf Thuns Vorstellungen wurde die organisatorische Plattform der Revolution, der Wenzelsbad-Ausschuß, durch Umformung zum tschechischen "Nationalausschuß « entschärft und eingebunden in den Kurs des Gouverneurs. Diesem gelang es, die tschechischen Wortführer des Wandels dadurch für sich einzunehmen, daß er gegen den - für die tschechische Bewegung gefährlichen - Zentralismus der stärker werdenden Wiener Linken eine Allianz anbot. Weitere Umstände, welche - in krassem Unterschied zur ungarischen Nationalbewegung - deren tschechisches Pendant bremsten: zunächst als äußeres Moment die nationalpolitische Dynamik Frankfurts, die ihrerseits eine Verschärfung der Wiener Zentralisierungsbestrebungen nach sich zog; außerdem machte sich als internes Hindernis allmählich bemerkbar, daß sich die tschechische Nationalbewegung weder in Schlesien noch in Mähren schon voll durchsetzen konn te - in Schlesien überhaupt nicht, in Mähren wiederum kristallisierte sich eine pragmatischere Variante heraus, die auf Distanz zu den staatsrechtlichen Forderungen nach trialistischer Zusammenfassung der böhmischen Länder und Zentralisierung ihres politischen Lebens ging. ln dieses Bild einer unter der Übermacht widriger Existenzbedingungen von Anfang an abgewandelten böhmischen Revolution fügte sich auch die innenpo litische Komponente ihrer Progra mmatik. Trotz des Bewußtseins in der Wenzelsbad-Versammlung, daß ein möglichst breiter Konsens vom liberalen Bürgertum über
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die Studenten bis hin zum städtischen Kleinbürgertum und den Bauern nötig sei, blieb die insofern naheliegende, weithin pro· pagierte Forderung nach vollständiger Bauernbefreiung doch nicht unumstritten . Gegenläufig zur gleichzeitigen sozialen Ra· dikalisierung der Wiener Revolution kam es beispielsweise schon am 13./ 14. März im sogenannten Pinkas·Entwurf der Pe· titionskampagne zu einer Abschwächung der ursprünglichen Forderung nach völliger Beseitigung der Feudallasten, als nur noch eine Verbesserung der Lebensverhälmisse angemahnt wurde. Zunächst wurde der anfängliche Einfluß der vergleichs· weise radikalen Prager »RepeaHsten« durch wachsende Präsenz des begüterten Bürgertums in der tschechischen Nationalbewegung gebremst. 15 Dann nahm im April Gouverneur Graf Thun der Nationalbewegung die Initiative aus der Hand . Es war nur eine kurze Phase, zwischen 11 . März und etwa Mitte April 1848, während der - analog zur Entwicklung in Wien, wo zwischen 13. und 15. März das System Metternich sein Ende fand - in Böhmen die Revolution in Gestalt des Wenzels-Ausschusses von großen Teilen der Bevölkerung tatsächlich als Re-präsentantin der Nation betrachtet wurde. Auch im Urteil des Ho fes erfuhr sie alsbald eine deutliche Herabstufung - vor allem im Vergleich zur ungarischen Nationalbewegung. Zwar konnte die allerseits bedrängte Krone nach der erzwungenen Annäherung an das konstitutionelle Prinzip von der ungarischen Nationalbewegung am 16. März zur indirekten Sanktionierung der ungarischen Autonomie gedrängt werden, zwar schufen ferner am 18./22. März Aufstände in Mailand und Ve· nedig sowie am 23. März Sardiniens Kriegserklärung eine wei· tere Front und nahm die Herausforderung seitens Frankfurts immer deutlichere inhaltliche Konturen an. Dennoch vermochte die Krone gegenüber der böhmischen Petitionsbewegung eine ausweichend·abwehrende Position aufrechtzuerhalten: in der Antwort vom 8. April, welche unter dem Eindruck der be· ginnenden Vorbereitungen für Wahlen zum böhmischen landtag und zum ästerreichischen Reichstag erfolgte, verpflichtete sich die Regierung nicht zu einer realistischen Reichsreform, auch nicht zur Einheit der böhmischen Länder und entsprechenden konstitutionel1en Einrichtungen. 1m wesentlichen anerkannte sie lediglich die konkreten nationalitäten politischen Anliegen der Petition, also vor allem die Gleichstellung der Na· tionalitäten und damit die Aufwertung der tschechischen
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Sprache. Selbst den Anschein einer Zustimmung zu den staatsrechtlichen Anspruchen der Tschechen suchte sie zu vermeiden, indem sie nur indirekt, nur durch Hinweis auf zentrale Institutionen, von einer Zusammengehörigkeit der Länder der böhmischen Krone sprach: einer Analogie zu dem Entgegenkommen gegenüber den »Ländern der Stephanskrone« beugte man auch dadurch vor, daß nicht von den »Ländern der Wenzelskrone« , sondern nur vom »Königreich Böhmen« gesp rochen wurde. 16 Die Prager Deputation nahm das ebenso hin, wie die Unterscheidung zwischen - verweigertem - verantwortlichem Ministerium und gemeinsamem Parlament der böhmischen Länder und andererseits - in Aussicht gestellten - Landesinstitutionen nur für Böhmen. Daß sich also die Krone sogar in dieser Schwächephase nur in sehr begrenztem Umfang zu einem Entgegenkommen bereitfand , wurde mH jener Kompromißbereitschaft hingenommen, welche der böhmischen Revolution von Anfang an eigen war. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß es - im Zusammenhang mit einer zweiten revolutionären Welle in Wien im Maiseit Monatsanfang in Prag erneut zu Unruhen kam. Damit war nun auch die Radikalisierung von Arbeitern verbunden, zugleich die ers tmals signifikante Verschlechterung des tschechisch-deutschen Verhältnisses in Prag, nachdem ein Versöhnungsfest im königlichen Wildgarten am 25. Mai gescheitert war. Vorkommnisse dieser Art konnten die mittlerweile ausgetestete und einvernehmlich verabredete Strukturierung der politisch-gesellschaftlichen Machtaus übung nicht mehr gefährden. Es blieb bei dem Arrangement zwischen Gouverneur Thun und dem tschechischen Nationa lausschuß bzw. dem adlig-bürger lichen InteressenkarteU des »Provisorischen Regierenden Rates«. Dieses hatte Thun am 28. Mai unter Einbeziehung führender tschechischer Politiker wie Palacky und F ranti~ek Rieger ins Leben gerufen. Obwohl die tschechische Öffentlichkeit hierin einen Schritt zu ihrer nationalen Emanzipation erblickte, handelte es sich um eine weitere Initiative von oben, welche die Lage in Böhmen nicht etwa gegen den Hof, sondern gegen das revoltierende Wien gerichtet stabilisieren sollte. In ihren Grundzügen definierte Palacky die bestimmenden Anliegen d er böhmischen Revolution, wie sie sich im Frühjahr 1848 während gewissermaßen dieses ersten, weithin bereits prägenden Durchgangs von programmatischer Konturierung
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und nationaler Mobilisierung herausgebildet hatten - und zwar dadurch, daß er sie mit seiner abschlägigen Antwort vom 11. April auf die Einladung nach Frankfurt in d en Kategorien tschechischer Nationalpolitik zum Ausdruck brachte. Palacky wies darauf hin, daß die Zugehörigkeit der böhmischen Länder zum Deutschen Bund als Angelegenheit »von Herrscher zu Herrscher«, nicht aber »von Volk zu Volk.. aufzufassen sei;17 er als tschechischer Politiker sei daher weder befugt noch willens, an der Gestaltung eines deutschen Nationalstaats mitzuwirken. Für seine eigene, die tschechische Nation, gebe es - wie für die kle inen Völker zwischen Deutschland und Rußland überhaupt - nur in einem ÖSterreich, das s ich eben als Völkerbündni s zu verstehen habe, ein e Zukunft. Die böhmische Revolution war in dieser Perspektive ein Ereignis d er tschechischen Nationalpolitik. lhre politisch-gesellschaftliche Gestalt einschließlich d es Verhältnisses zu d en Deutschen im Lande war ebenso wie die Beziehungen zum Haus ÖSterreich von diesem Grundsatz her bestimmt. Im Zen trum des Revolutionsgeschehens war das kollektive Existenzinteresse einer jungen, noch nicht als ganzer mobilisierten Nation positioniert, dem eine Entwicklungs- und Emanzipations programmatik nach w esteuropäischem Vorbild zu- und untergeordnet war. Die - kons titutiven - Zielvorstellungen politischer und gesellschaftlicher Modemisierung, von nationalem Staa t und bürgerlich e r Gesellschaft, ersch e ine n aber in ihrer Reich -
weite d eutlich verkürzt. Sie wurden in der Revolutio n von 1848 als lnitialereignis "nationaler Wiedergeburt« nach Maßgabe bestimmter Umweltbedingungen in einer Art und Weise abgewandelt, d ie nicht nur für die böhmischen länder, sondern na tiona l-indi viduell unterschiedlich - für Ostmitteleuropa überhaupt charakteristisch ist . Mehrere Faktoren sind es gewesen, die im Falle der böhmisch en Revolution, zugleich d es tschechischen Modernisierungsprozesses, für die Herausbildung einer besonderen Erscheinungsform des europäischen Ereignisses 1848 gesorgt ha ben. Sie nochmals zu nennen, stellt zugleich d en Versuch dar, ansatzweise ein Betrachtungsmuster für den Vergleich Böhmens mit anderen Teilgebieten d es östlichen Europa zu entwerfen. Zunächst waren weder in pol itischer noch in gesellschaftlicher Hinsicht die Voraussetzungen gewissermaßen für einen direkten Weg in Richtung auf nationale Staatsbildung und Bür-
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gergesellschaft gegeben. Die Einbindung in die übernationale Habsburgermonarchie bzw. das Defizit von Staatstradition und entsprechender Elitenbildung waren ebensowenig zu korrigieren wie die Verzögerung der soziostrukturellen Modernisierung. Wie die reichs- und außenpolitische Konstellation, wie die unvollendet - unsichere nationale Identitätsbildung, so trugen auch die soziostrukturellen Bedingungen der böhmischen Revolution zur kompromißartigen Verkürzung ihrer nationalpolitischen Dimension bei. Eine Nutzung der Emanzipationschancen, die das englische liberale Modell des selbstbestimmten Einzelnen und der freien Gemeinde eröffnete, hätte gleichermaßen ein starkes, selbstbewußtes Bürgertum und eine tragfähige Massenbasis vorausgesetzt. Beides war in den böhmischen Ländern bis etwa in die siebziger Jahre nicht gegeben. Die tschechische Nationalbewegung stand 1848/ 49 der politischen und sozialen Übermacht des dynastisch-spätabsolutistischen Vielvölkerstaates und der böhmischen Aristokratie, heide vor- bzw. übernational geprägt, im Grunde ohne selbsttragende Dynamik gegenüber. Ohne eine politisch erfahrene Bürgerschicht, zugleich ohne jede Aussicht, die Unterschichten für ihre Anliegen in Bewegung setzen zu können . Wirtschaftliche Modernisierung und soziostrukturelle Differenzierung steckten noch in den Anfängen. Sie waren zu sehr an das agrarisch-kleinstädtische Milieu gebunden, um einer nationalpolitischen und sozialen Revolution über einige Wochen hinaus die nötige Schubkraft verleihen zu können. Außerdem fand man zur Masse der Dorfarmut keinen Zugang und das ohnehin schwache lnteresse der bäuerlichen Bevölkerung erlahmte nach der endgültigen Beseitigung der Erbuntertänigkeit seit Hochsommer 1848. Da ferner - außerhalb Prags - kaum unternehmerisch starkes Bürgertum existierte und bürgerliche Aufsteiger im Staatsdienst gemeinhin verösterreicherten, war das soziale Reservoir der Nationa lbewegung ganz unzureichend. Im Grunde waren es lntellektuelle und Studenten oftmals kleinstädtischer und bäuerlicher Herkunft, daneben besonders in Prag manche Angehörige der jungen Unternehmerschicht sowie Handwerker und Gewerbetreibende, die als Träger der Revolution und darüber hinaus der nationalen Bewegung in Frage kamen. Insofern ist zwar in sozioökonomischer Hinsicht die Tendenz zu Modernisierung, zur Entstehung einer Bürgergesellschaft erkennbar. Zugleich aber auch die Tatsache, daß die - in aller Kür-
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ze erwähnten - Defizite nicht nur das Ergebnis einer zeitlichen Verzögerung, sondern auch einer gewissen inhaltlich·struktu· rellen Variantenbildung waren. Obwohl es - anders als sonst im Osten Europas - im späten 19. Jahrhundert an der Tendenz zu einer voll entfalteten tschechischen Nationalgesellschaft kei· nen Zweifel mehr geben konnte, sollte es doch bei bestimmten sozialen und politischen Echowirkungen bleiben: sie ergaben sich aus einer gesellschaftlichen Überrepräsentation kleinstäd· tisch·agrarischen Milieus, auch der unteren Mittelschichten. Als weiterer Faktor kam die für das östliche Europa charakte· ristische ethnische Gemengelage hinzu: die Tschechen, die am Vorabend der Revolution (1847) nur etwa 10,5 % der 37,44 Mio Personen zählenden Bevölkerung ÖSterreichs stellten, sahen sich in Böhmen einer vermutlich 30 bis 40 % umfassenden deut· schen Minderheit gegenüber 18 - einer Minderheit, die sich mit den österreichischen Deutschen eng verbunden und 1848 in die deutsche Nationalbewegung einbezogen wußte. Schließlich war man sich in der tschechischen Führung durchaus der Be· deutung auch außenpolitischer Einflüsse, bzw. der jeweiligen Großmächtekonstellation, bewußt. Zumindest 1848/ 49 ließen die GroBmachtbeziehungen - ungeachtet etwa englischer Kri· tik an dem epigonal·absolutistischen, verkrusteten System Met· ternich - keine Chance erkennen, durch Anlehnung an andere Mächte, vor allem an das lange idealisierte Rußland, einen grö· Beren Bewegungss pielr
Unter Bedingungen dieser Art war der tschechischen Nation, wie die Ereignisse im Jahre 1848 zeigen, zwar nicht der Weg zu politisch·gesellschaftlicher Entfaltung schlechthin versperrt sie war auch nicht durch ihre besonderen Voraussetzungen a priori auf einen Sonderweg im Sinne von Unter· und Fehlent· wicklung verwiesen. Aber die Entwicklungsziele >IOationaler Staat und BürgergeseUschaft{{, wie sie 1848/ 49 hervortraten, konnten zunächst nur abgewandelt erreichbar erscheinen. Es dürfte gerechtfertigt sein, die böhmische Revolution und die sich daraus ergebende weitere Entwicklung der Tschechen jen· seits von nationalem Staat und Bürgergesellschaft zu verorten: es handelt sich nicht um eine regelrechte Alternative zu den europäischen Ideen und Tendenzen und 1848, sondern um eine weitere Variantenbildung neben derjenigen, die bereits im Zuge der deutschen Revolution zustande gekommen war. Hatten hier das Ziel nationale Staatsbildung und das ethnisch·kultu·
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relle Kriterium kollektiver Identitätsbildung als Teil eines umfassenden Modernisierungsprozesses anders als in Westeuropa zentrale Bedeutung erlangt, so lassen sich die Ereignisse in Böhmen als eine weitere ostmitteleuropäische Variante auffassen. Eigentlich o rientiert am Vorbild des westeuropäischen, vor allem aber in hohem Maße geprägt durch das deutsche ethnischkulturelle Nationsverständnis, mußte die nationale Bewegung der Tschechen angesichts übermächtiger reichs- und außenpoliti scher, auch sozialer Existenzbedingungen die modemisierungs kons titutiven Entwicklungsziele »nationale Staatsbildung und Bürgergesellschaft(( modifizieren. So wurde durch 1848 in den böhmischen Ländern - eng verzahnt mit den deutschböhmischen und deutschösterreichischen Verhältnissen - eine tschechische nationale Entwicklung im Augenblick ihrer Politisierung dergestalt langfristig vorprogrammiert, daß sie - zum einen - politisch der Tendenz zu einer " Nation ohne Staat« (" Na rod bez statu«) folgte. Zum anderen richtete sich die wirtschaftlich-gesellschaftliche Gestaltung dieser "staatsoppositionellen Nationalgesellschaft«19 nach einer - im Vergleich mit West- und weithin auch Deutschmitteleuropa - verzögerten OeAgrarisierung, nach stärkerem Agrarbezug von industrialisierung, Urbanisierung und VerbürgerHchung, schließlich nach überproportionaler Bedeutung von unteren Mittelschichten und Kleinstadtmilieu . Insgesamt ist dies ein Modemisierungsprozeß, der - anders als in West- und Deutschmitteleuropa ohne direkte Anknüpfung an eine gleichsam selbstverständlich wirksame Vorgeschichte von Staatlichkeit und nationaler Identität in Gang kommen mußte. Statt einer erkennbaren Schrittfolge national definierter Staatsbildung auch nur bei den Tschechen, geschweige denn bei den sprachlich-ethnisch verwandten Slowaken oder gar der deutschen Bevölkerung der böhmischen Länder, die auf europäische Maßstäbe einer liberalen Bürgergesellschaft abgestimmt gewesen wäre, blieb - als Ergebnis von »1848(( - aus mittlerer Sicht nur der Kompromiß mit der Habsburgermonarchie, die ihrerseits zu dieser Zeit noch gegen nationalen Staat und Bürgergesellschaft als existenzieller Gefahr Front machte. Diesen Kompromißcharakter in seiner Bedeutung für den weiteren Verlauf der böhmischen Revolution und die tschechische Nationalbewegung kann ein Blick auf die folgenden Ereignisse veranschaulichen. So s tellt sich der Prager Slawenkongreß sei t dem 2. Juni, der durch die Pfingstunruhen
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seit 12. Juni und den Ausnahmezustand vom 18. Juni zum Fias* ko wurde, weniger als ein Höhepunkt der Revolution denn als Ausdruck ihrer zu schwachen Dynamik, ihrer unzureichenden politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen dar. Oie militärische Niederwerfung kann als logischer Abschluß der eigentlichen »Revolution« aufgefaßt werden. Bereits Mitte Juni wurden alle Illusionen über Machtverhältnisse und Regenerierungsfähigkeit der angeschlagenen Monarchie beseitigt. Außerdem zeigte sich, daß weder die Prager Bevölkerung als solche, geschweige denn diejenige Böhmens insgesamt und gar diejenige Mährens und Schlesiens sich durch nationalpolitische Proklamationen dieser Art tatsächlich repräsentiert und zu politi scher Aktion veraniaßt sahen . Und was die nationalpolitisch aktiven Intellektuellen betrifft, so wurde deutlich, da ß s ie weder politisch handlungsfähig noch zu nationalpolitischer Konsensbildung imstande waren. Die konzeptionellen Widersprüche zwischen Palackys ethnischem Föderalismus austroslawi schen Zuschnitts und panslawischer, zum Teil auch ru ssischer Orientierung Jüngerer konnten ebenso wie der Gegensatz zwi schen revolutionärer, liberaler Grundhaltung und dem Hilfeersuchen der »slawischen Brüder((, die sich der ungarischen Revolution bzw. des magyarischen Nationalstaatsstrebens zu erwehren hatten, nur rhetorisch verdeckt, nicht aber geklärt werden.
Diese Einschätzung bestätigt die weitere Entwicklung bis zum strategischen Abschluß der Revolution in ÖSterreich am 7. März 1849 mit dem Verfassungsoktroi sowie im Mai bzw. August mit dem definitiven Ende in Böhmen bzw. in Ungarn und Venezien. Wie während des Slawenkongresses in nationa lpolitischer Hinsicht, so wird im weiteren Verlaufe des Jahres 1848 durch das Agieren der tschechischen Abgeordneten, besonders derer aus Böhmen, zusätzlich auch in verfassungspolitischer Hinsicht das Defizit an gesellschaftlicher Massenbasis als Grund für konzeptionellen Substanzverlust und zunehmend fragwürdiges, bloßes Taktieren sichtbar - im Verfassungsgebenden Reichstag seit dem 22. Juli und gleichermaßen seit d em 22. November bei dessen Fortsetzung in Kremsier. Die Konstitutionsund Freiheitsforderungen der Revolution wurden als Bezugspunkt ihres parlamentarischen Wirkens mehr und mehr relativiert. Sie wurden - unter fortwährenden internen Auseinandersetzungen - allmählich der Orientierung an einem sich verselb-
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ständigenden, eher opportunistischen Kalkül nationalpoliti~ scher Vorteile geopfert. So näherten sich die tschechischen Abgeordneten der Regierung, indem sie sich gegen die demokratische Linke in Wien wandten. Außerdem geschah dies dadurch, daß si~ mit der Regierung gem einsam d en nationalstaatsbezogenen, antiösterreichischen Zentralismus Frankfurts und Ungarns zum gemeinsamen Feindbild erkoren . Auch mit d er Auflösung des Kremsierer Reichstags und d em Sichtbarwerden e i ~ ner militärisch-repressiven Initiative von oben fand man sich ab. Als dann ab August/ Dezember 1851 die alte Ordnung unter bürokratisch-zentralistischem Vorzeichen wieder hergestellt wurde, kam es trotz zeitweiligen Autbäumens in Böhmen nur noch zu einer Welle von Resignation und ratlosem Pessimismus: Palackys schrittweiser Rückzug aus dem politischen Leben 1849 / 50 legte davon beredtes ZeugniS ab. Daß die böhmische Revolution, daß der erste Anlauf zu tschechischer Nationa lpolitik auf diese Weise scheiterte, war wohl weniger individuellen und situativen Irrtümern oder der politischen Unerfah renheit der schma len tschechischen Führungsschicht, die sich zudem ihrer deutschböhmischen Rivalen zu erwehren hatte, zuzuschreiben. Sehr viel mehr war es wohl notwendiges Ergebnis bestimmter politischer und struktureller Existenzbedingungen der böhmischen Revolution, die weder den westeuropäischen noch d en deutschmitteleuropäischen Weg zu Bürgergesellschaft und nationalem Staa t uneingeschränkt ermöglichten.
IV Ein kurzer Blick a uf einige ausgewählte Aspekte d er Verhältnisse im Osten Europas insgesa mt um 1848 läßt zunächst - im Sinne der einleitenden Bemerkungen - deutlich werden: »1848« war in d er Tat ein »europäisches« Ereignis. Selbst dort, wo es nicht zu regelrechtem Revolutionsgeschehen kam, waren fast durchweg zumindest Ansätze dazu oder wenigstens indirekte Veränderungsimpulse spürbar. Von einem Revolutionsgeschehen im engeren Sinne, als ereignismäßiges Analogon zur böhmischen Revolution, und eingeschränkt zu Deutschmittele uropa, kann in m ehreren Teillandschaften d es östlichen Mitteleu-
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Topa gesprochen werden. Was den polnischen und litauischen Bereich betrifft, so konnte zwar im russischen Teilungsgebiet das nach dem Aufstand von 1830 / 31 errichtete Pazifizierungs· regime seine anhaltende Wirksamkeit erweisen, aber in Preu· Ben war trotz der »Versöhnungsära « seit 1840 schließlich im März 1848 revolutionäres Hervorbrechen polnischen Emanzipationsverlangens nicht zu verhlndem. 20 Ähnlich wie im österreichischen Teilungsgebiet bereits 1846 im FaU der bisherigen »Freien Stadt(( Krakau scheiterten diese Aktionen eines polnischen »Nationalkomitees«, Nach dessen Kapitulation bereits am 9. Mai 1848 kam es - wie in Krakau - zur Beseitigung der bisherigen SondersteUung des Großherzogtums Posen. Programmatisch, auch von Verlauf und Ergebnissen her stärker ausgeprägt war der revolutionäre Charakter der Ereignisse im Falle der beiden anderen ostmitteleuropäischen Adelsnatio· nen, in Ungarn und in Kroatien . Die ungarische Revolution ~r· reich te die Zustimmung der Krone zur Einsetzung eines natiPnalen, verantwortlichen Ministeriums unter Lajos Graf Batthyany am 17. März 1848, die Grund lage für das ab April folgende Reformwerk des Landtags war damit geschaffen. Die Reformen zielten gleichermaßen auf politisch·staatliche Auto· nomie und gesellschaftliche Modemisierung. Nach mehreren Radikalisierungsschritten bis hin zur militärischen Auseinan· dersctzuns mit der Krone und schließlich
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14 . April 1849 zur
Souveränitätserklärung Ungarns führte insbesondere die lnter· vention des nikolaitischen Rußland schließlich zum Scheitern auch der ungarischen Revolution. Dazu hatte der Umstand bei· getragen, daß die Kossuthisten durch schematische Kombina· tion des historischen ungarischen Staatsrechts mit Versatz· stücken des westeuropäischen Liberalismus den größten Teil der nichtmagyarischen Bevölkerungshälfte zum Widerstand geradezu gezwungen hatten. Die Aussicht auf Ungarn als magyarischem Nationalstaat, also lediglich auf individuelle Freiheiten ohne Absicherung ihrer nationalen Identität machte glei· chermaßen slowakische, rumänische und serbische Freischaren, vor allem aber die kroatische Nationalbewegung zu Geg· nem der paradoxen »Iawful Revolution« (lstvan Deak).21 Nicht nur diese ~) Notwehr « gegen die ohnehin drohende Magyarisierung, sondern auch eigenständige Impulse waren es, die im März 1848 zum Durchbruch der kroatischen Natio· nalbewegung geführt haben. Sie trat die Nachfolge der ~)Illyri·
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sehen Bewegung«22 an, deren Anliegen die kroatische Au tonomie innerhalb Österreichs und ansonsten die kulturelle Einheit der Südslawen gewesen war. Die »Nationalpartei«( setzte 1848 - unter anderem am 18. Mai durch eine neue Wahlordnung wesentliche Sch ritte in Richtung auf Abbau d er ständischen Ord nung und auf libera l-repräsentative Neuerungen durch.2J Der z um 5. Juni einberufene Sabor (Landtag) bezog sich bei d er einseitigen Umwandlung der kroatisch-unga rischen Realunion in eine b loße Personalunion auf jene kroa tische Staatlichkeit, die bereits zu Beginn d es 12. Jahrhunderts verlorengegangen war. Auch in Kroatien erwies sich der Anspruch auf nation ale Staatsbildung als nicht realis ierbar: er verursachte eine offene militärische Au sei nandersetzung zwischen den Kroaten unter der Führung des Banu s (La ndeschefs) Josip JelaCic ab Juni 1848 und der ungarischen Na tionalbewegung - die kroatische Nationalbewegung war damit mehr oder weniger auf Kooperation mit d er Krone an gewiesen. So unvolls tänd ig die Umsetzung westeuropäischen liberalen Reformdenkens und d er N achvollzog revolutionä rer Ereignisablä ufe in dieser ostmittele uropäischen Region auch ausfi elen, so wenig zweifelhaft kann doch sein, daß die Ereignisse in d en böhmischen Ländern und in polnischen Teilungsgebieten, in Unga rn und Kroa tien in unmittelbarer Beziehung zu d en gleichzeitigen Ereignissen im Westen Europas ihre Gestaltung fand en . Dies kann nicht in gleichem Maße von bestimmten Vorgängen we iter im Osten und Süd osten behauptet werden. Während selbst in Os tmitteleu ropa bei Slowa ken und Slowenen 1848/ 49, abgesehen von kleineren, vornehmlich intellektuellen Vorläuferg ru ppen noch keine entfalteten Nationalbewegungen existierten, aber wenigstens erste Indizien für eine »nachholende« Aneignung von Liberalism us und Nationalismus gegeben waren, war d ies im russischen Kaiserreich - sei es im Baltikum, in Weißrußland od er in der Ukraine - ebensowenig zu beobachten wie bei Rumänen und Balkanvölkern oder im Osmanischen Reich. Un d dennoch erscheint es gerechtfertigt, im Hinblick auf 1848/ 49 von m ancherlei Wechselbeziehungen und Ähnlichkeiten zu sprechen, die - ungeachtet geringer ereignisgeschichtlicher Bedeutung - als Anzeichen einer e uropawei ten, in gewissem Sinne einer gesa mteuropäisch en Entwicklungstendenz au fgefa ßt werden können. So könnte man auf d as Baltikum hinweisen, wo zwa r schon
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im frühen 19. Jahrhundert durch deutschbaltische Vermittlung kulturnationale und literarische »Erweckungs«-impulse wirksam wUIden.2~ Es sollte aber noch bis zur Jahrhundertmitte dauern, bevor u . a. dank der Schrittmacherrolle kleiner lntellektuellenzirkel sowie jahrzehntelanger Agrarreformen und andererseits wegen des seit den sechziger Jahren wachsenden Russifizierungsdrucks die programmatisch-organisatorischen Voraussetzungen nationaler Mobilisierung entstanden, die frei lich die ungünstigen Rahmenbedingungen des kaiserlichen Rußland nicht beeinflußten. Im Vergleich dazu wurden den Ukrainern wesentlich günstigere Chancen der Emanzipation eingeräumt: das österreichische Galizien avancierte im Frühjahr 1848 geradewegs zu einer Art ukrainischem Piemont. Die Politisierung der dortigen "ruthenischen« bäuerlichen Bevölkerungshälfte wurde von Statthalter Franz Graf Stadion plan voll gefördert - als Gegengift gegen die polnische Nationa lbewegung. Aber erste nationalpolitische Organisations- und Programminitiativen ("Oberster Ruthenischer Rat ••/»Holovna Rus'ka Radacc) blieben angesichts des offenen Bekenntnisses zu einer gesamtukrainischen Nation und der Forderung nach Autonomie für ein ruthenisches Kronland innerhalb ÖSterreichs einigermaßen isoliert. So war weder die Masse der Bauern zu mobilisieren noch überhaupt die nationalpolitische Grundfrage ukrainischer oder russisch e r Orientierung zu e ntscheiden . Na-
tionalpolitische Radikalität dieser Art brachte letztlich nur die reformerische Ohnmacht, weithin auch die Isolierung der jungen Elite von der eigenen Nation zum Ausdruck. Hierin, in der ,>Rolle« von Nationalismus als Reformersatz, liegt eine Ähnlichkeit mit der rumänischen Entwicklung. Anders als ihre Konnationalen im seit 1812 russischen Bessarabien sowie in den Fürstentümern Moldau und Walachei, anders auch als die habsburgischen Rumänen in Bukowina und Banat, hatten diejenigen in Siebenbürgen 25 zunächst die Überwindung ihres orthodox-unierten Konfessionsgegensatzes und das Streben nach Gleichberechtigung mit den »ständischen Nationen « der Magyaren, der Szekler und der »Sachsen« als ihre Aufgabe begriffen. Schon im späten 18. Jahrhundert begann so die Po litisierung des Bewußtseins ethnisch-kultureller Z usammengehörigkeit, das nach 1816 in die konnationalen Donaufürstentümer, die noch unter osmanischer Hoheit s tanden, transferiert wurde. Der rumänische Nationalgedanke wurde hier zu einem
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wesentlichen Versa tzstück jenes "Bojarenliberalismus«, dessen Refo rmdenken also von ÖSterreich, von der theresianisch-josephinischen Reformüberlieferung her ebenso beeinflußt war wie vom Liberalismus jüngerer Intellektueller, die vor allem als Söhne d es mittleren Bojarenadels in Westeuropa studiert hatten . Aber na tionale Integration und liberale Reform stießen während und - ab 1822 - nach der Phanariotenherrschaft auf widrige Bedingungen: Liberalismus ohne Bürgertum, Nationalismus ohne Na tion w urden zu bloßen Herrschaftsinstrumenten einer klientelistisch verfaß ten Oberschicht. Sie war an Reformen allenfalls im Sinne d er IIEntorientalisierung« von Verwaltung, Rechtswesen etc. interessiert.16 Diese Verhältn isse konnten auch durch d ie Revolution in der Walachei nicht in Frage gestellt werden: Ihre Veränderungsd ynamik reichte led iglich dazu, den Hospod ar Gheorghe Dimitrie Bibescu am 25. Juni 1848 durch d ie Ko mitees um Ion C. Bratianu zu stürzen und eine Verfassung vorzubereiten. Auf d em weiteren Weg zur rumänischen Staatsbildung (1 859/ 61), der entsprechend der Friedensregelung nach d em Krimkrieg zur Einberufung von Landtagen führte, verblaßten diese frühen Spuren konstitutionellen und sozialen Refo rmd enkens, das allmählich zu klientelistischem Macht- und Interessenstreit d eformi ert wurde, wied er sehr schnell . Die Revolution in Moldau und Walachei wurde im t"ferbst 1848 durch russische Intervention beendet. Damit waren auch die ohnehin geringen Hoffnun gen der rumänischen Nationa lbewegung innerhalb d er Habsburgermonarchie, in Siebenb ürgen, unter Führu.ng d es orthodoxen Bischofs Andreiu ~gun a auf gesamtrumänische Staatsbild ung vorerst einmal zerstört. Daß die siebenbürgischen Rumänen in einem opferteichen Bürgerkrieg 1848/ 49 gegen die lnkorporierung durch Ungarn, überha upt gegen die ungarische Revol ution, insofem auch fü r d ie Interessen der Krone einstanden, lohnte ihnen eine Parallele zur schlechten Behand lung der Kroaten - die Regierung nicht: da s II Blasendorfer Programm« der siebenbürgisch-rumänischen Revolution vom Mai 1848 mit Forderungen u. a. nach konstitu tioneller Gleichstellung, später nach rumänischer Autonomie innerhalb ÖSterreichs stieß nach 1849 im Zuge der neoabsolutis tischen Rekonstruktion habsburgischer Macht ebenso auf Ablehnung wie vorher als ungarische Antithese das Programm der Kossuth-Beweg ung. Wie bei den Rumänen in Siebenb ürgen / Banat sowie in den
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Fürstentümern gewissermaßen erst nach Modemisierung der Konfessions- bzw. der Bojarennation, so war bei Serben (außerhalb ÖSterreichs) und Bulgaren erst nach internationaler Absicherung der staatlichen Existenz und ersten Anzeichen von wirtschaftlich-gesellschaftlichem Strukturwandel im späten 19. Jahrhundert, also mehr als ein halbes Jahrhundert nach der ungarischen »Refo rmära «, die Zeit wenigstens ansatzweiser Modemisierungsversuche gekommen . Zwar machte sich bei den Bulgaren bereits in den vierziger Jahren der Prozeß der »>nationalen Wiedergeburt« ("vuzratdane«) bemerkbar:'lJ die osmanische Autorität wurde nach fünf Jahrhunderten ungefährdeter Gültigkeit ebenso wie der griechische Vorrang in Kirche und Kommerz in Frage gestellt; zwa r konnten auch die Serben außerha lb der Habsb urgermona rchi e bis 1830, als sie s ich im Windschatten des osma nisch-phanarioti schen Rückzugs aus den Donaufürstentümern 1822 und der griechischen Verselbs tändigung zwischen 1821 und 27/ 30 selbst der osmanischen He rrschaft weitgehend entledigten, das mod eme Entwicklungsziel nationaler Staa tsbildung realisieren; aber es gab weder ein bulgarisches noch ein serbisches »1848«, auch kein etwa nur zei tlich versetztes - entwickJ ungslogisches Äq uivalent. Trotz gewisser kulturell-wirtschaftlicher, weithin konfessionell eingebundener Einflüsse von a ußen auf Serben und Bulgaren, ehva von Conn .. tionnlcn in Süd ungnrn bzw. vom rus -
sische n Odessa aus, war es aber ein im wesentlichen andersartige r Entwicklungsgang, de r sich hier abzeichnete. So ist es beispielsweise nicht als Beleg für eine Annäherung an die Ideale der europäischen Revolution, sondern eher für das Ausmaß der tatsächlichen Distanz zu betrachten, wenn die serbische Skup~tina (Vorsteherversammlung) im Jahre 1848 einberufen wurde - es war nur eben zwischen 1843 und 1858 ein einziges Mal, daß dies geschah. Und die Fortschritte bei der Staatsbildung vollzogen sich nicht in Abstimmung mit politisch-kulturellen und wirtschaftlich-gesellschaftlichen Veränderungen, die in West- und Mitteleuropa unter vielfacher Abwandlung doch einen charakteristischen Bedingungs-, Verlaufs- und Wirkungszusammenhang geschaffen ha tten.28 Mit anderen Worten: die zügige Realisierung des Entwicklungsteilzieles Staatsbildung durch Rumänen, durch Serben und Bulgaren sowie - unter ausschlaggebender Mitwirkung der Großmächte - durch die Griechen kann nicht als Indiz für gleichermaßen zügige Verwirkli-
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chung anderer Teilziele, ehva einer »Bürgergesellschaft« westlichen Typs gelten. Es wäre auch irreführend, darauf einen Entwicklungsvergleich zwischen den genannten Balkannationen und Polen, Tschechen, i . g. S. auch Kroaten zu gründen, denen im 19. jahrhundert die Staatsbildung noch nicht gelang. Auf die Gren zen eines solchen Vergleichs verweist auch das Beispiel der griechischen Staatsbildung. Sie war nicht Ergebnis eines selbsttragenden gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses, sond ern überwiegend exogener Einflüsse - zunächst im Jahre 1821 von seiten der moldauischen Phanarioten, d ann mehr und mehr von seiten der GroBmächte, während sich die autochthone Dynamik. der Griechen - zersplittert wie sie war - dem osmanischen militärischen Druck nicht gewachsen zeigte. In welchem Maße die einzelnen Versatzstücke des west- und deutschmitteleuropäischen Reformkanons von 1848 im Falle isolierter Übertragung oder überhaupt der Implementierung in eine fremde Umgebung ihren ursprünglichen Sinn, ihre Systemfunktio n einbü Bten und anderen Zwecken als den 1848 eingeford erten nutzba r gemacht werden konnten, zeigt noch deutlicher als der rumänische Fall eines Liberalismus ohne Modernisierung und als d er balkan ische Weg zur nationa len Staa tsbildung ohne vollständige und moderne Nationalgesellschaft schließlich d as Schicksal der Ideen von 1848 im Osmani schen Reich.2'J Vorbereitet durch den Einfluß westeuropäischer Vorbilder d er Verwaltungs- und Militärreform en im frühen 19. jahrhundert kam es in den vierziger jahren während der Tanzimat-Periode (1 839-1861) zur Zeit des Sultans Abdülmecit zu Grundrechtsga rantien und ersten Ansätzen konstitutioneller Politik. Ihnen folgte 1876 unter Abdülhamit 11. schließlich die Gewährung einer Verfassung, die allerdings ein Jahr spä ter sistiert wurde. Aber das Ziel dieser Übernahme isolierter Einzelelemente westlicher Modernität war - neben u. a. der Rücksichtnahme besonders auf Forderungen Englands - zweifellos gerade die Absicherung der Autokratie, keinesfall s ein Ein schwenken auf den westlichen Enhvicklungsweg.
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v Es ist das Anliegen dieser Ausführungen, am Beispiel der böhmischen Revolution von 1848 zunächst auf das Gemeinsa me von Ostmitteleuropa und d em west- und deutschmitteleuropäischen Geschehen hinzuweisen; auf dieser Grundlage wird die Frage nach Unterschieden, nach dem für OstmitteJeuropa
Charakteristischen gestellt. Daran schließen sich kurze Beobachtungen zum Vergleich mit Ost- und Südosteuropa an: mit der d ortigen Kombination von Reformanleihen und andersartigen oder noch nicht herangereiften Rezeptions- und Anwendungsbed ingungen kontrastiert, tritt das Charakteris tische d er ostmi tteleuropäisch en Verhältnisse d eutlicher hervor. Vor a llem dürfte d arau f abzuheben sein, da ß - bei erheblichen national-individuellen Unterschied en im einzelnen - sich die böhmischen und polnischen, ungarischen und kroa tischen Revolutionen des Jahres 1848 auf Überlieferungen von ständischen Vertretungskörperschaften und Staatlichkeit bezogen haben. Dies geschah auch in solchen FäUen, wo - etwa bei den Tschechen - eine nationale Adelselite längst nicht mehr existierte oder - so bei den Kroaten - die eigene Sta atlichkeit schon seit dem Beginn des 12. Jahrhunderts erloschen war. Auf diese hi sto rische Erinnerung, vielfach literarisch hochs tili siert und emotional überfrachtet, wurde a u c h dann die Forderung nach
Wiederherstellung gegründ et. wenn weder die künftige territoriale Ausdehnung noch das nationa le Selbstverständn is geklärt waren . Weithin war solche inhaltliche Bestimmung nationaler Staatsbildung im Osten Europas wegen d er vorherrschenden ethnischen Gemengelage gar nicht möglich. So mag es berechtigt sein, davon zu sprechen, das mit West- und Deutschmitteleuropa gemeinsame Entwicklungsziel nationaler Staatsbildung erfahre in Ostmitteleuropa eine gewisse Abwandlung: es bleibt zwa r verbindlich, ist aber in d en genannten Fä llen schon deswegen unrealisierbar, weil es parallelen Bestrebungen benachbarter Nationen widersprich t. Auch die politisch-konstitutionelle Zielstellung der Revolution, von den individ uellen Freiheitsrechten und rechtsstaa tlicher Sicherhei t bis hin zu Verfassung und Parlament, ist im os tmitteleuropäischen Reformkanon enthalten . Dies gil t unabhängig von bestimmten Modifizierungen, die sich aus der jeweiligen InteressenJage der Träger des Revol utionsgesch eh ens ergaben. Diese konn ten •
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nicht identisch sein etwa bei magyarischem oder galizisch-polnischem Hochadel sowie bei tschechischen oder kroatischen Intellektuellen und kleinen Gewerbetreibenden. Aufs Ganze gesehen scheinen die konstitutiven Teilziele sowie der politisch-gesellschaftliche Kontext die These zu erlauben, daß Gemeinsamkeit im wesentlichen gegeben war. Dennoch bedarf es auch hier einer Modifizierung: ein Blick auf die gesellschaftliche Dynamik, die Forderungen dieser Art überhaupt zu Geltung brachte, weist auf Charakteristika, wohl eher: Defizite, Ostmitteleuropas hin . Der Weg zur »Bfugergesellschaft(, auch wenn er das definierte Ziel darstellte, war nur mit zeitlicher Verzögerung und darüber hinaus mancherlei inhaltlicher Veränderung möglich . So wenn etwa alte Eliten, insbesondere übernationale oder entnationalisierte wie im böhmischen und kroatischen Falle, einem ausgesprochenen Defizit an Mittelschichten gegenüberstanden. Diese Konstellation kam etwa in der unvollständigen magyarischen Sozialstruktur zum Ausdruck. Ähnliches gilt von De-Agrarisierung und Urbanisierung, von Anfängen industriel1en Proletariats sowie der Intensität nationaler Assimilation und überhaupt der gesellschaftlichen Differenzierungsprozesse. Die »europäischen« Entwicklungstendenzen von 1848, die Herausbildung von »nationalem « Staat und ~) Bürgergesel1schaft«, erfahren also in Ostmitteleuropa nicht nur in ihrem Programmgehalt, sondern auch bei ihrer Dynamik eine - ihrerseits variierende - gewisse Abwandlung. Sie kann im Einzelfall über abgestufte Variantenbildung hinaus bis zu dezidierter Widersprüchlichkeit sowie manipulativer lnstrumentalisierung reichen - dies wurde an einigen Beispielen aus dem ost- und südosteuropäischen Bereich gezeigt. Es handelte sich letztlich nicht einmal in Ost- und Südosteuropa, geschweige denn im östlichen Mitteleuropa um »)$onderwege{( bzw. um einen gemeinsamen anti westlichen Entwicklungspfad, jedenfalls nicht um eine Alternative zu Bürgergesellschaft und nationalem Staat. Aber das Ausmaß der Variantenbildung läßt erahnen, wie gewichtig die strukturellen Defizite und die politisch-kulturellen Hindernisse gewesen sein müssen, die dabei um 1848 wirksam geworden sind - ihre Langzeitwirkung macht sich auch in den gegenwärtigen Transformationsprozessen im östlichen Europa noch bemerkbar.
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Anmerkungen 1 Erweiterte Fassung eines Beitrages zu einer Ringvorlesung an d er H umbold t-Un iversität zu Berlin im Wmtersemester 1997/ 98. Die Anmerkungen, die vor allem Uteraturbelege enthalten, sind kurzgefaßt. 2 Die Begriffe »Ostmitteleuropa .. , ..Mitteleuropa .., »ÖStliches Europa«, .,Osteuropa« ete., die an sich nie klar voneinander abgegrenzt waren, sind seit d er Auflösung des ..Ostblocks« erneut in die Diskussion geraten. In den folgenden Aus führungen - dies bedarf insofern eines ausdrücklichen Hinweises - wird ein engerer ..Ostmitleleuropaot-Begriff, der zumindest die westslawisch- ungarisch-südslawische (slowenisch-kroatische) Region zusammenfaßt, ausgedehnt aufTeile Deutschmitteleuropas sowie auf d ie unmittelbar ben achbarten baltisch-ostslawischen und balkanisch-rurkischen Gebiete. Dieser weite »Ostmitleleuropaot-Begriff ist sicherlich nicht auf alle Epochen gleichermaBen anwendbar. Vgl. u. a. die einschlägigen Überlegungen von K. Zemack, in: Osteuropa, München 1977, bes. S. 33-41. 3 Weiterfü hrende Anregungen vermitteln einige neuere Sammelbände: K. Mack (Hg.), Revolutionen in Ostmitteleuropa 1789-1989, Wien 1995; R. Jaworski/ R. Luft (Hg.), 1848/ 49. Revolutionen in Ostmitteleuropa, München 19%; grundlegend für die kom parative Betrachtung: D. Langewiesche (H g.), Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Verg leich, Göttingen 1988, und J. Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert, 3 Bde., München 1988, hier u . a. die Beiträge von Langewiesche, Liberalis-mus und Bü rgertum in Europa, Bel.. 3, S. 360-394; ferner M. H roch, Das Bürgertum in d en nationalen Bewegungen des 19.1ahrhunderts, in: ebd., 5 . 337-359; Elzbieta Kaczynska, Bürgertum und städtische Eliten, in: ebd., S. 466 ~ 87. " Dazu R. M uru, Dcutochc r und briti5Chcr LibcTn tis m ue im VcrSlci.::h ,
in: Langewiesche, Liberalismus im 19. Jahrh undert, S. 223-259. 5 Vgl. G. Eley, Liberalismus 1860-19 14. Deutschland und Großbritann ien im Verg le ich, in: ebd., S. 260-276. 6 Zur strukt ur- und ent\.Yickl ungsbezogenen Betrachtung Ostmitleleuropas u. a.: I. Berend / Gy. Ranki, The European Periphery and lndustrialization 1780- 191 4, Budapest 1982; P.F. Sugar /0. Treadgold (H g.), A History of East Central Europe, 11 Bde., Seattle 1974 ff.; A. Wand ruszka / P. Urban itsch (Hg .), Die Habsbu rgermonarchie 1848-1918, bish. 7 Bde., Wien 1973 ff.; Ch. Cholioll'ev / K. Mack/ A. Suppan (Hg.), Nationalrevolutionäre Bewegungen in Südosteuropa im 19.]ahrhundert, Wien 1992, und W. Conze, Ostmitteleuropa, hg. v. K. Zemack, München 1992. 7 Zum Stand der Forschungsdiskussion über die deutschmitteleuropäische Entwicklung seien aus de r umfangreichen Litera tur lediglich genannt: D. Langewiesche, Europa zwischen Res tauration und Revolution 1815-1849,3. bearb. Auflage, München 1993; H.·U. Wehler, Deutsche Geseilschaftsgeschichte, Bd . 2, München 1987; Th. Nipperdey, Deu tsche Geschichte 1800-1866, München 1983; H. Lutz, Zwischen Habsburg und Preußen. Deutschland 1815-1866, Berlin 1985; J. Sheehan, German His tory 1770-1866, Oxford 1989; H. Rumpie r (Hg.), Deutscher Bund und deutsche Frage 1815-1866, Wien 1990; W. Hardtwig. Vormärz, München ·1997; W.
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Häusler, Von der Massenarbeit zur Arbeiterbewegung, Wien 1978; W. Siemann, Die deutsche Revolution von 1848/ 49, Frankfurt1 M. 1985; H .-H. Brandt, Der österreichische Neoabsolutismus, 2 Bde., Göttingen 1978; kurz und anregend zum tschechisch.o()Stmilleleuropäischen Bezug nunmehr: F. Seibt, Das Jahr 1848 in der europäischen Revolutionsgeschichte, in: Jaw orski / Luft, 1848/ 49, S. 13-27. 8 Zum Problem von Entwicklungsverzögerung und Maßstäben ihrer Inte rpretation am südslawischen Beispiel: K. Grothusen, Urbanisierung und Nationsbildung in Jugoslawien, in: Süd ost-Forschungen XUß (1984), 5. 135-180. 9 Vgl. J. Ktcn, Die Konniktgemeinschaft. Tschechen und Deutsche 1780-1918, München 1996, bes. Kap. 2; O . Urban, Die tschechische Gesellschaft 1848-1918, 2 Bde., Wien 1994; J. Kotalka, Tschechen im Habsburgerreich und in Europa 1815-191 4, Wien 1991; Jiti ~taif, Revoluen! leta 1848-1 849 a ~ecke zem~. Prag 1990; zur deutschen Sicht vgl. K. 80s! (Hg.), Handbuch der Geschichte der böhmischen Länder, 4 Bde., Stuttgart 1974, hier 2. Bel .; F. Prinz. (Hg.), Böhmen und Mähren (: Deutsche Geschichte im Osten Europas, Bd. 2), Berlin 1993. 10 Dazu n unme hr: Urban, Tschechische Gesellschaft, Kap. I; J. K. H ~ ensch, Geschichte Böhmens, Münc hen 11987, bes. S. 316-349. 11 Kten, Konfliktgemeinschaft, 5.59; zum längerfristigen geistesgeschichtlichen Entwicklungszusammenhang: R.G. Plaschka, Von Palacky bis Pekat. Geschichtswissenschaft und Nationalbewußtsein bei den Tschechen, Graz 1955. 12 Ebd ., S. 82; zu den Fo lgen dieser Debatte für d ie nationalitätcnpolitische Praxis siehe: A . Klima, Ce!i a Nemci v revoluci 1848-1849, Praha 1988. 13 Ebd., S. 83. 14 Ebd ., 5.78; zum politisch-gesellschaftlichen Rahmen: P. Heumos, Agrarische Interessen und nationale Politik in Böhmen 1848-1889, Wiesbaden 1979; Ders., Oie Bauernbefreiung in den böhmischen ländern, in: Jaworski / Luft, 1848/ 49, 5.221-237; J. Kolejka, Närody habsburske m onarchie v revoluci 1848-1889, Praha 1989. 15 Urban, Tschechische Gesellschaft, S. 45 ff. 16 Ebd., S. 53. 17 Ebd.,S. 60f. 18 Ebd.,S. 3 L 19 Th. Schieder, zit. nach J. Ko ralka / R.J. Crampton, Die Tschechen, in: Wandruszka /U rbani tsch, Habsburgermonarchie, lII / l, 5. 489-521, hier 5 16 A 95. 20 VgL K.G . H ausmann, Ad elsgesellschaft und nationale Bewegung in Polen, in : O. Dann (H g.), Nationalismus und sozialer Wandel, Hamburg 1978, 5.23-47; K. Zemack, Polen und Ru ßland, Berlin 1994; Ders. (H g.), Zu m Verständnis der polnischen Frage in Preußen und Deutschland Im-187l , Berlin (West) 1987; W. Molik. Entwicklungsbedingungen und -mechanismen d er polnischen Nationalbewegung im Großherzogtum Posen, in : Berl iner Ja hrbuch für osteuropäische Geschichte 1995, Bel. 2, 5. 17-34; A. GiIl, Die polnische Revolution von 1846, München 1974. 21 Zur ungarischen Revolution neben den einschlägigen Bänden von I.
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Deak, Die rechtmäßige Revolution, 01. Übers. VVien 1989; 1. Varga, Ajobbagyfelszabadltas kivivasa 1848-ban, Budapest 1971; F. Glatz/R. Melville (Hg.), Gesellschaft, Politik und Verwaltung in der Habsburgermonarchie 1830-1918, Budapest 1987; A. Urban, Batthyany Lajos miniszterelnö!<sege, Budapest 1986, sowie jüngst die Thesen von P. Hanak, Die gesellschahli· ehen Voraussetzungen der Revolution in Ungarn, in: Jaworski / Luft, 1848/ 49, S. 239-244; sowie die strukturbezogene lnterpretationsskizze von A. Gergely, Der ungarische Adel und der Liberalismus im Vonnärz, in: Langewiesche, Liberalismus im 19. Jahrhundert, S. 458 483; zum ostpÜtteleuropäischen Vergleich die Detailuntersuchungen bei V. Bacskai (Hg.), Bürger· turn und bürgerliche Entwicklung in Millel· und Osteuropa, 2 Bde., Budapest 1986. 22 Dazu zahlreiche Studien von J. Sidak, bes.: Ders., Studije iz hrvatske povijesti za revolucite 1848/ 49, Zagreb 1979; wichtig außerdem: W. Kessler, Politik, Kultur und Gesellschaft in Kroatien und 5lawonien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, München 1981. 23 Zu regionaler Konkretisierung und politisch· kulturellem Gesamtzu· sammenhang: N. StanCic, Hrvatska nacionalna ideologija preporodnog po' kreta u Dalmaciji, Zagreb 1980; sowie vor allem das Gesamtwerk von M. Gross u. a., Povijest prava~ke ideologije, Zagreb 1974. 24 G. v. Rauch, Geschichte der baltischen Staaten, München 11977, hie r 5. 19-34; G.v. Pistohlkors, Baltische Länder (= Deuts<:he Geschichte im Osten Europas, Bd. 4), Berlin 1994, 5.295-362; zu den benachbarten ostsla· wischen Modernisierungsansätzen und ihren historis<:hen Voraussetzun· gen neuerdings: M. Osterrieder, Von der Sakralgemeinschaft zur modemen Nation, in: E. sthmidt·Hartmann (Hg.), Formen des nationalen Bewußtseins im Lichte zeitgenössischer Nationalismustheorien, München 1994, 5. 197-232. 25 K. HItc hilIS, Die RUllIäJ1CII, In: Wilnoll·uszka/Urba.nils.:::h, Ilöbsbu r-
germonarchie, III / 1, 5.585-625; Ders., Die Idee der Nation bei den Rumä· nen in Transsilvanien 1691- 1848, Bukarest 1989; E. Turczynski, Konfession und Nation, Düsseldorf 1976; D. Berindei, 1848 in tärile romane, Bu c u~ti 1984. 26 E. Turczynski, Von der Aufklärung zum Frühliberalismus, München 1985, hier S. 8, ferner S. 27 ff., 5. 240-249. 27 N. Reiter (Hg.), Nationalbewegungen auf dem Balkan, Berlin 1983; F. Adanir, Die makedonische Frage, VViesbaden 1979. 28 Turczynski, Konfession und Nation; W. Behschnitt, Nationalismus bei Serben und Kroaten 1830-1914, München 19&1; zum südost· und ost· mitteleuropäischen Vergleich siehe: H. Lemberg, Der Versuch der Herstel· lung synthetiS<:her Nationen im östlichen Europa im Lichte des Theorems von Nation· Buildin!;t in: Schmidt-Hartmann, Formen des nationalen Bewußtseins, 5. 145-161 ; H. Sundhaussen, Nationsbildung und National is· mus im Donau·Balkan-Raum, in: Forschungen zur osteuropäischen Ge-schichte 48 (1992), 5.223-258; Adanir u. a ., Traditionen und Perspektiven vergleichender Forschung über die historischen Regionen Osteuropas, in: Berliner Jahrbuch für osteuropäis<:he Geschichte 1996, Bd. 1, S. 11-43. 29 SieheJ . Matuz, Das Osmanische Reich, Dannstadt 1985; Th. Scheben, Verwaltungsreformen der frühen Tanzimatzeit, Frankfurt / M. 1991; G.
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Schödl, Zur Entstehung des türkischen Nationalismus, in: Ders., Formen und G renzen des Na tionalen, Erlangen 1990, S. 189-21O; B. Lewis, The Emergence of Modem Tu.rkey, London 1986; M. Ursinus, Regionale Reformen im Osmanischen Reich am Vorabend der Tanzimat, Berlin (West) 1982.
Ludmila Thomas
Russische Reaktionen auf die Revolution von 1848 in Europa
Die Gesch ichte sei schnell erzählt: Der konservative russische Zar kam d en von d er Revolution in Bedrängnis gera tenen europäischen Monarchen mit seiner Armee zu Hi lfe. Diese Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten wurde von Souveränen dieser Staaten herbeigesehnt und außerdem entsprach sie d en Verpflichtungen, die die Mitgliedsstaaten d er Heiligen Allianz 1B15 eingegangen waren und die zumindest formell zu diesem Zeitpunkt noch ihre Gü ltigkeit besaßen. Sie war d emnach doppelt begründet. Die russische Armee, das Lieblings kind des Zaren, erwies sich im Ungamfeldzug als kampffähig, d . h. auch immun gegenüber der Revolutionsseu:, ehe, eine Tatsache, für die sowohl die damaligen Anhänger d er Revolution als auch später die Historiker nach Erklärung suchte n . Rußland als Genda rm E uropas w ar die Variante von Mar-x
und Engels - ein Schlagwort, in welchem Differenzierungen keinen Platz hatten. Rußland als Retter Europas war die zweite Variante, ein Urteil, in d em russische Stimmen überwogen; am bekanntesten darunter war die Äußerung des Dichters und Staatsmanns Fedor Tjutschew. Rußland als Opfer der Willkür des herrschenden reaktionären Regimes des Zaren und des von ihm geschaffenen Überwachu ngs- und Unterdrückungsappa rates - so lautete, von dem erwähn ten Muster etwas abweichend, das Urteil d er liberalen Historiographie vor 1917 und der offi ziellen sowjetischen Geschichtsschreibung. Das in bezug auf die Geschichtsschreibung ungebräuchliche Adjektiv »offiziell ( zielt auf Auftragsarbeiten oder Jubiläumsschriften wie etwa die 1952 in der Akad emie der Wissenschaften in Moskau unter der Leitung der Professoren F. V. Potemkin und A. I. Molok erarbeitete zweibänd ige Kollektivarbeit »Revoljucii 1848 1849«, die insgesamt knapp 1.500 Seiten umfaßt. Daß Ba kunin in d ieser Arbeit auf sieben Seiten erwähnt wird, während
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Russische Reaktionen auf die Revolution von 1848 in Europa
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StaHns Name auf dreiundsiebzig Seiten vorkommt, daß Niko· laj I. weit weniger erscheint als Karl Marx, sagt noch nicht all· zu viel über die Qualitä t der Arbeit aus, jedoch sehr viel über die Zeit, in d er sie ents tanden war. In der damaligen sowjeti· schen Geschichtsschreibung spiegelte sich ein Kompromiß zweie r Richtungen wider - der revisionistisch-nationa len und d er o rthodox-revolutionären, wobei erstere insgeheim an ältere konservative Vorbilder anknüpfte. Wesentliche Beiträge für das Gesamtbild , in dem die Gestalt Nikolaj l. unverhältnismäßig hervorgeh oben wird, ha tten Männer wie der Historiker Schilder in Ru ßland um die Jahrhundertwende oder Theodor v. Bemhardi und Theodor Schiemann in Deutschland erbracht. l Schiemanns Band IV d er »Geschichte Rußlands unter Kaiser Nikola us 1.(, erschien 1919 und enthält Gedanken, die dem rechtskonservativen Historiker wohl nach d er Erfahrung beider Revol utionen - d er russischen und der deutschen 1917-1918in den Sinn gekommen waren. Die gegenwä rtige Beschäftigung mit diesem Problem in Rußland zeichnet sich - neben d er Re· habilitierung des Zaren vor allem in d er politischen Publizistik - durch die Bemühung aus, ein von einseitiger Fixierung auf den Herrscher freies Bild zu entwerfen. Allerdings droht das Revolutionsthema darin hinter anderen, vor allem kulturologischen Aspekten zu verschwinden.2 Die Auseinandersetzung mit der europäischen Revo lution von 1848 gehört zu d en Schlüsselerfahrungen Rußlands. Ohne ihre Berücksichtigung sind die Weitsicht der führenden russischen Revolutionäre siebzig Jahre s päter ebensowenig zu ver· stehen w ie die Besonderheiten d es russischen Konservatismus· entwurfs, der zunehmend auf die Behinderung europäischer Einflüsse sowie die rep ressive Bekämpfung d er revolutionären Ansätze gerichtet war. Diese beiden Fragen s tehen im Mittel· punkt der folgenden Überlegungen . Die Annäherung an das Problem der Revolution im 19. Jahrhundert erfolgt s tets, im FaUe Rußlands nicht anders als im übrigen Europa, mH Rückblick auf die Große Französische Revo· lution. Die Bewältigung d ieses Ereignisses w ies in Rußland von Anfang an einige Besonderheiten auf. An ers ter Stelle is t die bemerkenswert untypische Kluft zwischen den begeis terten Anhängern und den skeptischen Kritikern der französischen Ereignisse zu nennen. Während zu den skeptischen Kritikern Männer des Geistes wie Niko laj Karamsin gezählt werden, fi-
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gurieren auf der anderen Seite die Namen einflußreicher Staats· männer. Zu den begeisterten Anhängern liberalen Geistes und umwälzender Reformen müssen vor allem d er Zar Alexander I. und seine engsten Berater, darunter Michail Speranskij, gezählt werden. Diese Feststellung ist nicht neu, Historiker aus ver· schiedenen Ländern lieferten mehr oder weniger bewußt Quellenbeweise für diese These. Selbst nach dem Rußlandfeldz u g Napoleons war der Za r vom Einfluß liberaler Veränderungen nach französischem Muster nicht gänzlich geheilt, was sowohl in seinen polnischen Experimenten als auch in den Auseinandersetzungen mit Mettem ich sichtbar wurde. Alexanders lnkonsequ enzen im liberalen Vorgehen - zu diesem Zeitpunkt, wie auch schon davor - werden andererseits als Beweis d afür angeführt, daß er die Rolle des Liberalen lediglich gespielt habe.3 Der bekannte Kulturhistoriker B. Egorow zum Beispiel erklärt die Schwäche des russischen Liberalismus im 19. Jahrhundert mit dem ausgeprägten Despotismus d er Selbstherrschaft. Den Ha ß Puschkins und seiner Freunde im Kreis der Adelsopposition gegen den Zaren bringt er mit dem Wandel von d essen Ansichten in die konservative Richtung in Verbindung. Daß unter den geistigen Vätern der konserva tiven Richtung , der von Puschkin und den Dekabristen stets verehrte Dichter und Historiker Nikolaj Karamsin zu find en ist, wird absichtlich wenig beachtet. Der G rund dafiir liegt ni cht nur in d er Wid e r-
sprüchlichkeit von Karamsins Wirken, obwohl auch dieses zur Begriffsverwirrung beigetragen hat: Bis heute wird er sowohl zum Begründer der liberalen Richtung als auch zum konsequenten Vertreter der konserva tiven Politik erklärt. Wenn Wissenschaftler wie Leontowitsch oder Egorow ihn in d ie liberale Strömung einordnen und bereit sind, sein e Ablehnung einer Verfassung für Rußland oder gar der Bauernbefreiung zu übersehen, so hängt d as m. E. mit seinem eigentümlichen Weltbild zusammen. Der politische Konservatismus, der sich vor allem in der Haltung zur französischen Revolution äußerte, rührte bei ihm nicht von der Ignoranz gegenüber Westeuropa, sondern von der Kenntnis und Verehrung der europäischen Kultur her, d eren Entwicklung er durch die Revolution bedroht sah. Fü r die gebildete russische Adelsgesellschaft war Karamsin aber vor allem d er Autor der "Geschichte des Russischen Staa tes«, eines Werks, dessen Bedeutung stets verkannt wird, wenn man ihn als Beitrag zur Geschichtswissenschaft betrach tet. Es wa r
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ein Ereignis der russischen Kulturgeschichte. Das Geschichtswerk steht am Beginn der neuen russischen Literatur, neben Dichtungen von Baratynski, Wjasemskij und Ryleew, neben Puschkins Werk, das neben Priva tlyrik philosophische Geschichtsbetrachtungen und publizistische Tätigkeit beinhaltete. Karamsins sanfter Konservatismus anerkannte den russischen Nachholbedarf hinsichtlich der europäischen Au fklärun gsideen, d ie in Rußland für ihre Wirkung ei nfach noch Zeit brauchten. Karam sin wies der kommenden Generation den Weg zu einer schöpferischen kulturerhaltenden Tätigkeit jenseits aller Machtambitionen und Umstürze. Last not least war darin Platz für den russischen Patriotismus, ohne welchen der russische Konservatismus nicht denkbar ist. Dieser Aspekt ist um so bemerkenswerter, als er zur Verbindung von Patriotismus und Opposition gegen den Zaren führt. Za r Alexander I. war nur konsequent in seinem Liberalismus, wenn er sich als Sieger über Napoleon in Paris feiern lieB. Den verärgerten russischen Generälen hat er damit ungewollt die Chance überlassen, sich als die eigentlichen Patrioten an der Spitze des Vaterländischen Krieges unter ihresg leichen betrachten zu lassen. Die Verschwörung der Dekabristen wäre ohne die Mitwissenschaft eines dieser Generäle, Ermolow, nicht soweit gediehen.~ Daß Puschkins Zarenhaß wie auch die Bewegung der Dekabristen eigentlich gegen Alexander 1. und nicht gegen seinen Nachfolger NikoJaj 1. gerichtet war, wird ebenfalls oft übersehen. Karamsins Haltung zu Alexander ist noch in anderer Hinsicht bemerkenswert. Es ist die Auffassung vom göttlichen Ursprung der Macht des Zaren, eine These, die nicht nur als Begründung für die Legitimität der Herrschaft Anwendung fand, sondern auch als Anlaß, den Gehorsam zu verweigern, sofern Zweifel an der Übereinstimmung zwischen dem Handeln des Za ren und dem Gottesa uftrag angemeldet und bewiesen werden konnten. Diese These bildete nicht nur den Rahmen für gerechtfe rtigte Opposition oder auch Widerstand; sie wa r ebenso die Begründung fü r eine nachsichtige Haltung gegenüber der Staatsmacht, d ie sich als Selbstherrschaft deklarierte und zugleich ohnmächtig hingenommen hatte, daß die Untertanen über den göttlichen Ursprung einzelner Machtäußerungen mitzubestimmen beanspruchten. Diese Haltung bildete für viele eine Zuflucht, eine Möglichkeit, die monarchische Macht im
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Prinzip zu akzeptieren, ohne sich an die Befehle d es jeweiligen Zaren gebunden zu fühl en. In d er späten Regierungszeit von Nikolaj 1., d. h. in der Zeit der Revolution, war diese Haltung vor allem unter Slawophilen verbreitet. So fonnulierten sie ihre Kritik in Traktaten, in denen sie einen idealen Herrscher beschrieben und damit dem Za ren indirekt die Entfernung vom göttlichen Auftrag vorhielten . Die russische Gesellschaft zur Zei t der Revolution von 1848 verfügte also sehr wohl über Spielräume, die ihr erlaubten, d er Verführung d er Revolution zu widerstehen, ohne sich andererseits mit der Politik des Zaren zu identifizieren, aber auch ohne die Konsequenz, die zur Verabsolutierung des Terrors im Sinne des Zwangs der Enbnachtung des Herrschers führen konnte. Ungelöste soziale Probleme auf dem Lande, Mißernten, e holeraepide mien, Brände, die Jahr für Jahr Dörfer und Städte vernichteten - all diese Mißstände und Katastrophen riefen Unruhen hervo r. Doch weder d er Zar noch di e Instituti on der Selbstherrschaft waren dadurch ernsthaft gefährdet. Die Gefahr erblickte man außerhalb d es Landes, analog - wie man meinte -, zu 1812, als die russische Armee das Vaterland vor den revolutionären Horden verteidigt hatte. Diese Verankerung d~ r Ereignisse im kollektiven Gedächtnis war ein wesentlicher Grund, warum die Entscheidung des Zaren, gegen die europäische Revolutio n militärisc h vor zugehe n , n icht als eine dem gro-
ßen Teil der Oberschicht aufgezwungene Aktion betrachtet werden kann. Ein Jahr später war diese Stimmung nicht mehr vorhanden, was hauptsächlich mit der Haltung d es Za ren zusammenhing. Doch zu dieser Zeit wuchs dem russischen Konservatismus ein neuer Verbündeter heran. Die liberale intelligenz, deren prominentester Vertreter im Ausland Alexander Herzen war, erwies sich durch d ie Enttäuschung über die westeu ropäischen Verhältnisse in ihrer Aktivität gelähmt. In den historischen Untersuchungen, die die Person Nikolaj I. zum Mittelpunkt haben, ragen bis heute die Arbeiten von Schild er und Schiemann eindeutig hervor, nicht zuletz t d eshalb, weil sie die im 19. Jahrhundert durchaus verbrei tete Methode, die Landesgeschichte an der Biographie des Herrschers zu exemplifizieren, voUkommen beherrschten. Ihre Quellenlage ist unterschiedlich. Schiemann konnte von d en Quellen profitieren, die Schil der zur Verfügung standen. Sein eigener Beitrag, zumindest in dem Teil über die Revo lutionszeit, be-
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schränkt sich auf den Briefw echsel d es Herrscherpaares sow ie auf Tagebuchaufzeichnungen d er Zarin . Beeindruckend ist die Schil derung d er ersten Reaktion des Zaren auf den Ausbruch d er Revolution in Paris. Freude über d en Sturz d es ihm verhaßten Louis Philippe vom »usurpierten Thron« war die erste Empfi nd ung, die er in einem Brief an den Sch wager Fried rich Wil helm 1lI. nach Berlin mitteilte. Darauf folgte die Feststellung, daß beide - der russische Kaiser wie der preußische König unmittelba r in ihrer Existenz bedroht seien. Die militärische Abwehr, für d ie der Kaiser 350.000 Mann in Aussicht gestellt hatte, war d as erste, was ihm als Antwort auf die Herausforderung der Pariser Revolu tion eingefallen war. Doch um etwas abwehren zu können, mu ß man vorher angegriffen worden sein, un d Ni ko laj gestand, daß ihm am liebsten gewesen wäre, wenn d ie Franzosen g leich die Grenze über d en Rhein überschritten und nicht gewarte t hätten, bis die Revolution in Deutschland ausgebrochen sei. Der Ton des Briefes gleicht d em einer Anweisung: Zwei große Armeen seien aus Truppenkontingenten d er deutschen Länder bereitzustellen, zwischen beide würde sich die russische Armee stellen, um in d rei Monaten gemeinsam marschieren zu können. Das war am 7. März. Die Nachrichten aus Berlin und aus Wien in den nächsten Wochen versetzten Za r Nikolaj r. d ann in Panikstimmung. Am meisten hat er befürchtet. d aß ÖSterreich und Preußen unter dem Druck der Aufständischen die Unabhängig keit Po lens proklamieren würden. In dieser Stimmung entstand d as Manifest an d as russische Volk, d as d er Zar eigenhändig verfaßt hat. Darin ist von der Bedrohung der G renzen durch Aufruhr und Anarchie die Red e, die von Frankreich ausgehend schne ll auf Deutschland übergegangen und "mit einer Frechhei t sich verbreiteten, die im Verhältnis zur Nachgiebigkeit der Regierungen wuchscc. Der Schlußsa tz »Gott ist mit uns! Versteht es, ihr Völker, und unterwerft euch, denn mit uns ist Gott! (, tauchte in den Äußerungen des Zaren in den nächsten Monaten wie ein Refrain oder eine Selbstbeschwörung auf.5 Die völkerrech tlichen Konsequenzen dieses Manifests gaben du rchaus Anlaß zu r Sorge, d enn der Tatbestand der g roben Einmisch ung in d ie inneren Angelegenheiten mehrerer eu ropäischer Staaten war mit keinen Verträgen zu entschu ldigen. Sowohl der russische Außenminister als auch d er Botschafter in Berlin hatten d ies sofort erkannt und versucht, eventuelle Kon-
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sequenzen durch einen besänftigenden Kommentar zu vermeiden. Auch der zweite Zarenauftritt in diesen Tagen - beim Empfang einer Adelsdelegation - zeugt davon, daß Nikolaj die Ereignisse als unmittelbare Bedrohung interpretierte. Er umarmte jeden Anwesenden und beteuerte, daß im Landesinneren nach seinen Informationen »aufrichtige Ergebenheit und der Eifer für Thron und Vaterland e! herrschten . In der Aufforderung an den Adel, er saUe dem Zaren in seiner Eigenschaft als dessen "Polizei« helfen, die Ordnung aufrechtzuerhalten, sieht Schiemann zurecht die nackte Furcht vor d em Übergreifen der Revolutio n auf Rußland .6 Wie ernst seine Befürchtungen waren, zeigte sich auch in der Erleichterung über die ausgebliebenen inneren Unruhen schon im Winter 1849, vor allem aber in dem Jubel über den günstigen Ausgang des Ungarnfeldzugs im Sommer ]849. Daß das verzweifelte Ansinnen der geschlagenen ungarischen Rebellen, ihre Heimat lieber der russischen Krone unter dem liberalen Großfürsten Konstantin Nikolaewitsch als König anzuvertrauen, s tatt die bisherige Stellung Ungarns im Habsburgerreich zu rekonstituieren, d em Kaiser schmeichelte, ist gewiß nicht überraschend. I Nicht zu verstehen s ind im Kontext solch glücklicher Fügun. gen seine Aktivitäten im Frühjahr 1849 im eigenen Land: Nach· d e m e r sich Anfang April während der Osterwoche, die e r in
Moskau verbrachte, ausgiebig hatte feiem lassen, ließ er am Schluß und als Höhepunkt d er Feierlichkeiten ein e Maskenauf· führung als Huldigung Rußlands an England veranstalten, mit der vor Vertretem d es englischen Hofes zugleich der Reichtum sowie die landschaftliche und nationale Vielfalt Rußlands de· monstriert wurden. Dahinte r verbarg s ich d er Gedanke eines politischen Bündnisses mit England, eine Vorstellung, die den Zaren schon seit 1844 beschäftigte. Es soUte, nach Schiemann, »die beiden einzigen Völker verein t vorführen, d ie von den re· volutionären Wirren des Jahres 1848 unberührt geblieben wa· ren «.i Gleichwohl verspürte er, nachdem er in die Hau ptstadt St. Petersburg zurückgekehrt war, das Bedürfnis, mit jedem scha rf abzurechnen, d er Ungehorsam zeigte. Bei der Jugend entdeckte er nicht genug Respekt, es mißfiel ihm auch das Aus· sehen der Moskauer Stud enten und d er Intellektuellen der s la· wophilen Richtung. Es fo lgte die »Bärtekampagne«, während der viele angesehene und bekannte Bürger von der Polizei, wie
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150 Jahre zuvor, aufgefordert wurden, sich die Bärte abzurasieren. Während in dieser Aktion das Vorbild Peters I. lebendig schien, entsprach die Verfügung, die Zah l der Studierenden im Reiche zu reduzieren, weil angeblich zu viele Jugendliche studierten und zu wenige die Militärlaufbahn wählten, weder der aufldärerischen Tradition noch einer für die Modem e offenen Politik. Der Höhepunkt dieser Serie von Willkürakten war das Hinrichtungsspektakel, das als Schlußakt des PetraschewskijProzesses auf Veranlassung des Zaren veranstaltet wurde. Zum ersten Mal tat sich hier in Gestalt d es Zaren ein neuer Typus d es russischen Konservativen auf. Es ist der Typu s, der in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts in dieser politischen Strömung vorherrschend wird: der mit großer Macht ausgestattete Staa tsdiener, der als oberste POicht die Erhaltung d er Ordnung und Unterdrückung jeden Widerspruchs, aber auch aller Initiativen ansieht. Isoliert und belächelt im Kreise der Intelligenz sa h er in der Bildung wie in der Hinwendung zu europäischen Idealen der sozialen Umgestaltung eine Gefahr für die innere Stabilität. Die harmlos klingend e, selbst gewählte Bezeichnung »ochraniteli <. - Beschützer, O rdnungshüter - hatte sehr bald einen bedrohlichen Klang erhalten, nachdem die neue polizeiliche Behörde zur Bekämpfung revolutionärer Umtriebe als »)otdelenie ochrany« in den Hauptstädten installiert worden war. »Ochranka« nannte man diese Ordnungshüter etwas verächtlich, worin die Einstellung zum Ziel ihrer Tätigkeit zum Ausdruck kam. Man brachte sie nicht mehr mit d er drohenden Gefahr aus d em Westen in Verbindung, sondern mit den willkürlichen Verfolgungen eigener Mitbürger. In seiner vollen Ausprägung trat dieser Typus dann erst nach dem Krimkrieg und den großen Reformen der sechziger Jahre hervor. Die reservierte Haltung gegenüber den westeuropäischen Ereignissen bezog sich in diesen Kreisen zuerst auf die Methoden der Revolutionsbekämpfung; Kompromißlösungen hielt man in der Umgebung des Zaren für nicht angebracht, genauso wenig Reformen, die zur Reduzierung der monarchischen Gewa lt hätten führen können. Der Krimkrieg und die Niederlage vertieften d ie Entfremdung vom Westen durch das verbreitete Gefühl, von seiten der europäischen Regierungen verraten worden zu sein. Für d en weiteren Verlauf der Entwicklung in Rußland war nicht unwichtig, daß eine Zeit lang auch die liberalen Kreise
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von Europa enttäuscht waren. Am deutlichsten ist diese Haltung in Zeugnissen derer festzustellen, die sich an der Seite der Revolution in die e uropä ischen Belange einmischten. Alexan der Herzen und Michail Bakunin sind von der Forsch ung besond ers hervorgehoben worden: Herzen von der russischen und spä ter sowjetischen Geschichtsschreibung, Bakunin von der w estlichen. Die geteilte Vo rliebe erklärt sich am wenigsten aus d er Rolle d er heiden Revolutionäre unmittelba r wäh rend de r Revolutionszeit, sie betrifft mehr ihren späteren Werdegang. Zufälle spielen na türlich auch eine RoUe. Unter d en Russen, die in d er europäischen Revolutionsgeschichte des 19. Jahrhun derts ihren Platz gefund en haben, s teht Michail Bakunin mit an erster Stelle. Besonders beeindruckend ist d ie s prachliche Vielfalt d er Untersuchungen über ihn, wobei die Tatsache, daß er in mehreren europäischen Sprachen p ub li zierte, n icht ohne Einfluß auf diesen Umstand blieb. Im übrigen weist heute die »Bakuniniane«, wie einer der Beteiligten die Bakuninforsch ung bezeichnete, so viele spannende Episoden, so viel unerwartete Z uspitzu ngen und Wend ungen auf, daß man vermuten könnte, d as Forschungsobjekt lasse d ie Unruhe seines Lebens in den Schicksalen seiner Biographen wei terwirken.' Darunter find en w ir ukrainische Forscher in Deutschland wie Dragomanov, russische Emigranten in Prag und Belgrad w ie Ewreinow, sowje tisch e D iss ide nten in den USA w ie Boris
Nikolaew skij, tschechi sche Fo rscher wie Cejchan, deutsche Histo riker in Prag wi e Jose f Pfitzner, ganz abgesehen von Bakunins Zeitgen ossen , Freund en , Verwandten , Gegnern und Mitkämpfern, die zahlreiche Zeugnisse in französisch, deu tsch, ita lienisch, englisch, polnisch, tschechisch und russisch hinterlassen haben. Zu den besonders oft und widersprüchlich interpretierten Episoden seiner Tätigkeit gehören seine »Beich te« an den Zaren, sein e Mitarbeit an dem von dem Provokate ur Netsch aew verfaßten »Ka techis mus des Revolutionärs« sow ie seine Z usa mmens töße mit Kar! Marx bei d er I. Internationa le. Bei den deutschen un d ös terreichischen Zei tgenossen Bakunins wa r seine Teilnahme am Slawen-Kongreß in Prag An fang Junj 1848 besonders unpopulär. Oie Verdächtigung - an deren Verbrei tu ng Engels und auch Ma rx beteiligt waren - , er sei ein Spion des Zaren, sp ielten bei der Isolierung, in d ie er in Frankreich und in Deu tschland geriet, eine Rolle. Um so unbegrün deter erschein t mir Peter Scheiberts Einschätzung, Bakunin sei ein
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Symbol d afür, wie u nreif die deutsche Revolution von 1848 ge· wesen sei, denn gerade in diesem Teil seiner Aktivitäten zeigte er sich vielen seiner Freunde, die in d er Revolution eine maß· gebende Rolle spielten, überlegen.9 Bakunin war in d en Kreisen d er d eutschen Intellektuellen in d en Jahren vor der Revolution nicht zu ignorieren. Davon zeug t einerseits sein schon 1842 in den Deutschen Jahrbüchern für Wissenschaft und Kunst unter dem Titel »Die Reaktion in Deutschland . Ein Fragment von einem Franzosen« erschienener Artikel, in dem er zum Schritt von d er Theorie zur revolutionären Tat auffo rde rte. Um sein Inkognito kümmerte sich Ba kunin allerdings wenig. »Die Lust d er Zerstörung ist eine schaffende Lust« - nicht nur d ieser berühmte Satz und die Er· wähnung Rußlands, dem eine große Zukunft in diesem Rausch der Zerstörung zugedacht wird, führen auf die Spur d es russi· schen Rebellen, sondern auch die von geradezu religiösem Pa· thos erfüllte Aufforderung, mit d er Bakunins spä tere westeuropä ische Biographen große Schwierigkeiten hatten: »Thut Bu ße! Das Reich des Herren ist nahe! laßt uns d arum d em ewigen Geist vertrauen, der nur deshalb zerstört und vernichtet, weil er der unergründliche und ewig schaffende Quell alles Lebens iSt. «IO Ein auf andere Weise spektakuläres Zeugnis sind die in Bakunins Briefen d okumentierten Kontakte mit Vamhagen von Ense, Georg Herwegh und auch George Sand, d eren Einfluß auf den linken Sinneswandel der zuerst nur am Studium d er Werke Hegels interessierten Russen schon J. Pfitzner zu beweisen versuchte. 1I Eine Erklärung für manches andere Rätsel in Bakunins Verhalten kann eine genauere Untersuchung der Frage bringen, welche Rolle seine russische Herkunft für ihn wirklich spielte. Es existieren von ihm drei größere Darstellungen dieses Pro· blems, die alle der Forschung erst relativ spät zur Verfügung standen: d ie schon erwähnte »Beich te«, die erst Anfang d er zwanziger Jahre veröffentlicht wurde; d ie in sächsischer Haft geschriebene Stell ungnahme »Meine Verteidigung«, d ie Vaclav Cejchan veröffentlichte, und schließlich die anon ym 1849 er· schienene Schrift »Russische Zuständ e«, d ie Boris Nikolaewskij 1929 in russisch herausbrachte und d ie erst 1996 von Wolfgang Eckhard t im Original herausgegeben wurde. Eine vergleichende Analyse dieser d rei Texte steht für einige Aspekte noch bevor. Wahrscheinlich würde sie helfen, das Ge·
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wicht der taktischen Momente, die mit den jeweiligen Entstehungsumständen dieser Schriften zusammenhingen, zu relativieren. Denn abgesehen davon, daß einige Fragmente in den heiden letzteren Texten wörtlich übereinstimmen, lassen sich politische Schlußfolgerungen, die Bakunin aus den Zustandsschilderungen zog, sehr großzügig interpretieren. Er war offen für die Idee der Volksmacht, doch ob an der Spitze der neuen O rdnung ein Bauemführer wie Pugatschow, ein Adelsrevolutionär wie Pestet oder ein Vertreter der Romanowd ynastie stehen sollte, das überließ er ganz der Volks- oder auch der Völkerentscheidung. Aus seiner Sicht sollte der Wille der revolutionären Masse und nicht d er in Diplomatie und taktischem Vorgehen geübten nationalen lntel1igenz auch die sogenannte slawische Frage entscheid en. »Bruder! Traut nicht den diplomatischen Küns ten. Polen haben sie ins Verderben gestürzt, sie werden auch euch ins Verderben srurzent', heißt es in seinem Aufruf an die Slawen 1848.12 Auf dem Slawenkongreß, in dessen Tagungen und in Couloirgesprächen er wie ein »weißer Rabe« herumirrte, fiel seine Naivität nur deshalb auf, weil sie sich von der ausgeklü· gelten Naivität seiner tschechischen oder polnischen Opponenten abhob. Zu weilen unterschieden sie sich auch nur in der Vorstellung von d er Herkunft des Monarchen, den sie an der Spitze des s lawis c he n Staatsgebildes gesehe n haben .
Ein solches Moment d er doppelten Inkonsequenz - der nationalen und der demokratischen - gab es bei Bakunin im Sommer 1848, als er plötzlich d ie Möglichkeit sah, die Konterrevolution mit Hilfe d es Zaren, der an der Spitze der Slawen stehen sollte, zu bekämpfen. Als dies nicht gelang, begann Bakunin an der slawischen Herkunft des Zaren zu zweifeln: »Denn wer istdieser Nikolai? Ein Slawe? Nein, ein holstein-gottorpscher Herr auf sIawischern Throne, ein aus der Fremde stammender Tyrann«. In dieser Episode war Bakunin selbst ein Taktiker, der gla ubte, d en Na tionalismus der anderen für seine Revolutionsoptionen ausnutzen zu können. Versöhnlicher dagegen klang das Fazit inderseiben Schrift: »Dem d eutschen Volke sollt ihr die Hand bieten. Nicht den Despoten Deutschlands, mit denen ihr jetzt im Bunde steht, und das gerade soll t ihr nicht tun . Nicht jenen d eutschen Pedanten und Professoren in Frankfurt, jenen (... ) ehrgeizigen Literaten, welche (... ] die meisten deutschen Zeitschriften mit Schmähungen (... ] gegen Polen und Tschechen angefüllt h aben,
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jenen deutschen Spießbürgern, welche sich über jedes Unglück der Slawen freuen. Aber dem deutschen Volke, das aus der Revolution hervorgeht«.'3Diese ganze monarchische Verirrung Bakunins 1848, die Ewreinow als »politisches Gaunerstück .. bezeichnete,14 kann schon deswegen nicht unbeachtet bleiben, weil sie ihre Fortsetzung in Bakunins Ansichten über die sechziger Jahre, z. B. in der Einschätzung des sibirischen General-Gouverneurs, Grafen Murawjow, hatte.15 Für das Verständnis der von Cejchan veröffentlichten )>Verteidigung« Bakunins für das sächsische Gericht, ist die paradoxe Rolle wichtig, in die er glaubte geraten zu sein. Er war überzeugt, daß man ihn für einen russischen Spion hielt und versu chte diesen für ihn lästigen Verdacht zu entkräften. Von einem Polen erwarte man selbstverständlich, daß er bei jeder Unruhe dabei sei, aber ein Russe? »Diese Betätigung eines Russen an dem allgemeinen Streben zur Freiheit erscheint so sonderbar, daß viele sich eine solche nicht anders als durch unnatürliche Ursachen erklären«.16 Daß ihm die Beteiligung an dem Freiheitskampf die Todesstrafe bescheren würde, erkannte er, nachdem er seine Selbstverteidigung fertiggesteUt hatte. Daß dagegen der Verdacht, ein russischer Spion zu sein, in den Augen der sächsischen Richter eine weniger harte Bestrafung verdienen würde, war zu erwarten, ebenso wie die Aussicht, nach Rußland überstellt zu werden und dort eine noch härtere Strafe e rle iden zu müssen. Bakunin hoffte also auf die Begnadigung nach der Todesstrafe in Sachsen und widersetzte sich dem Rufmord, den der Spionageverdacht implizierte. Andererseits wollte er offenbar an diesem Wendepunkt seines Lebens Bilanz ziehen. Immerhin schwebte über ihm das Damoklesschwert des Todesu rteils, unter seinen Freunden verbreitete sich bereits die Nachricht von seinem Tod. Vermutlich war Bakunin unter deutschen Revolutio nären niemals so populär gewesen wie während der Zeitspanne, in der man an seinen Tod glaubte. Abschiedsbriefe, die Bakunin im Kerker zusätzlich plagten, 17 können als eine makabre Bestätigung dafür angesehen werden, daß tote Helden nicht nur im Krieg, sondern auch in d er Revolution stets die g rößten Helden sind . Ernster zu nehmen ist das Geständnis von Georg Herwegh in einem Brie f an Feuerbach Ende 1851: »Seit mein Freund Bakunin tot ist, kenne ich keinen Menschen mehr, der ein wirklich revolutionäres Naturell hat, nach der Gefühls- wie nach der Verstandsseite hin, als Dich und Wag-
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ner.«18 Der gewissenhafte Historiker 5cheibert hat diesen Brief nicht verschwiegen, obwohl dessen Aussage eine Antwort auf die Frage nach der Wirkung Bakunins enthält, die wenig zum Urteil von der Unreife d er Revolution paßt. So heißt es bei Scheibert: »Nichts kennzeichnet so sehr die Ratlosigkeit jener Jahre, als daß dieser Russe, der eigentlich nichts mitbrachte als den festen Wil1en, auf jeden Fall die Revolte zu versuchen, immer wieder den Finger am Abzug halten konnte, (... I so, daß 1848 und 1849 durch ihn mitgeprägt werden sollten .{{19 Nicht weniger als über Bakunins Rolle ist Scheibert übrigens auch über Richard Wagners »radikalen Primitivismust< von 1848/49 ersta unt, so daß der Verdacht aufkommen kann, daß er die Atmosphäre dieser Revolution nicht nachzuvollziehen vermochte und da ß ihm das Ziel, eine Linie zwischen Bakunin und Lenin zu ziehen, wichtiger war als die Einschätzung von Bakunins tatsächlicher Rolle in Deutschland . Ana logien zu einem solchen Historiker-Verhalten bietet im übrigen auch die russische Bakunin- und Alexander HerzenForschung. Schon sei t den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts benötigte die russische liberale Gesellschaft einen solideren Anwalt für die Versöhnung mit der revolutionä ren Tradition Westeuropas als es Bakunin zu sein schien. Für diese RoUe wurde Alexander Herzen auserwählt - und die russischen Marxis te n fo lg te n diesem Mus te r nach 1917. Michail Lcmke gab be-
reits vor der Revolution eine zweiundzwanzigbändige Werkausgabe heraus. Daß die sowjetische daraufhin d reißig Bänd e umfassen mußte, bedarf kaum der Erwähnung, hatte aber auch zur Folge, daß eine wirkliche Popularität Herzens in d er Sowjetunion sich nur anhand seiner schöngeistigen Versuche und seiner Erinnerungen einstellen konnte. Herzens Briefe und Korrespondenzen aus der Revolutionszeit und unmittelbar danach unterscheiden sich nicht wesentlich von dem, was wir über Bakunin in diesen Jahren wissen. Nicht ganz so bedingungslos wie bei Bakunin war die Begeisterung für die zerstörerische Kraft d es aufgebrachten Volkes; nicht ganz so unvermitte lt und zwa nghaft wie bei Bakunin waren Herzens Hoffnungen, d aß der revolutionäre Funke auch auf Rußland übersp ringen möge. Tiefer und nachhaltiger dagegen ist bei Herzen die Verzweiflung über die Niederschlagung der Revolution. Keine Rolle spielt bei Herzen die konfuse Konstruktion eines Volkszaren in Verbindung mit der Idee des Slawenbundes. Lediglich in der
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Einstellung zu d en polnischen Revolutionären trafen sich eine Zeit lang Bakunins und Herzens Ansichten . Die bekannte Schrift Herzens ~) Vom anderen Ufer«, schon 1851 veröffentlicht, ist ein wehmütiger Abschied von Illusionen über die Möglichkeiten der Revolution in Europa . »Du hast gesiegt, Galiläer(, heißt es am Schluß seiner Schrift in Ansp ielung auf das biblische Motiv der Auseinandersetzung Christi mit der offiziellen Rel igion und der Regierungsrnacht. Christus als erster Revolutionär - d ieses Bild, auf das Herzen später nochmals zurückgriff, find et sich in Anlehnung an ihn auch während der O ktoberrevolution wieder. Alexan der Herzens Haltung zu den Ereignissen in Rußland und Westeuropa lä ßt sich auf der subjektiven emotionalen Ebene auf zwei Extreme zurückführen: Einerseits war für ihn die Erfahrung nicht zu leugnen, daß die Zustände in Westeuropa nach d er Niederschlagung der Revolution für einen Oppositionellen immer noch unvergleichlich günstiger waren als in seiner Heimat; daher d er Entschluß, im Exil zu bleiben und von dort aus den Kampf weiterzuführen. Dieser Aspekt tritt in seinen polemischen Schriften nicht deutlich hervor, da die Enttäuschung über die Niederlage d er Revolution mit den privaten Katastrophen in seinem Leben zusammentraf und seine pessimistischen Visionen noch verstärkte. Andererseits verspürte er d as Bedürfnis, sein Verbleiben im Exil vor den Freunden in Rußland zu rechtfertigen, um nicht als Verräter oder Überläufer zu gelten. In diesem Zusammenhang steht auch seine Überempfindlichkeit gegenüber allen Anzeichen einer kritischen Beurteilung russischer Zukunftsaussichten, die er in d er westeuropäischen Publizistik zu finden glaubte. Die Gründe, die für ein Verbleiben in Europa sp rachen, faßte er daher folgendermaßen zusammen: ~) ln Europa hat man den im Ausland Lebenden nie als Verbrecher und d en nach Amerika Ausgewanderten nie als Verräter betrachtet. Bei uns gibt es nichts dergleichen . Bei uns war die Einzelperson s tets unterdrückt, verschwand in der Menge, bemühte sich nicht einmal hervorzutreten . Das freie Wort wurde bei uns stets als Dreistigkeit, Originalität, als Rebellion betrachtet; der Mensch verschwand im Staa te, löste sich in der Gemeinde auf (... ] Wenn Rußland nicht so weiträumig wäre, wenn die fremdländische Machtordnung nicht so unklar aufgebaut wäre und so unordentlich gehandhabt würde, könnte
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man ohne Übertreibung sagen, daS in Rußland kein einziger Mensch leben könnte, der sich auch nur irgend wie seiner Würde bewußt wäre.«20 Herzen sah demnach Freiräume für die Entfaltung des Individuums im Versagen des Staatsapparates und nicht umgekehrt . Unbewußt fügten sich die heiden Revolutionäre, Herzen wie Bakunin, in die Tradition der Rechtlosigkeit des Individuums, indem sie ihr Fembleiben von Rußland zu begründen und zu entschuldigen suchten. Für die Heimat nützlich zu sein war die beste Entschuldigung. So entstand bei Herzen die Idee einer freien, der russischen Zensur nicht unterstellten Druckerei; er setzte sie um mit der Gründung der Zeitschrift »Die Glocke«; deren Aufgabe sahen die heiden Herausgeber - Herzen und Ogarew - , in der Vorbereitung der Bauernbefreiung. Damit haben sie sich eine zentrale Position in jenen Auseinandersetzungen gesichert, die letztlich zu einer weiteren Schwächung der Liberalen unter der russischen Oberschicht beigetragen haben . Zuvor jedoch waren die Überraschungen und Enttäuschungen zu verkraften, die de r Krimkrieg und sein Ausgang den Russen bereiteten. Das Hineingleiten in einen Krieg, in weichem RuBland nicht nur die europäische Öffentlichkeit, sond ern auch die groBen europäischen Mächte gegen sich vereint gefund en hatte, hing einerseits mit der euphorischen Selbstüberschätzun g der russ isch en Militärmacht durch den Za re n
zusammen, andererseits aber auch mit der Mißachtung der Diplomatie - einer Mißachtung, in welcher der Zar übrigens nicht nur mit Bakunin, sondern auch mit den einfluBreichen Staatsbeamten übereinstimmte. Die Neigung, die völkerrechtlichen Vereinbarungen beliebig auszulegen oder gar leichtferti g zu miBachten, kann als .?ine Folge d er russischen Auffassung von Rechtsnormen überhaupt gedeutet werden: der durch formellrechtliche Schranken in der lnnenpolitik nicht gebundene Monarch war schwer zu bewegen, solche Schranken in d er Außenpolitik zu akzeptieren. Die Konflikte mit der Türkei, die schlieBlieh zum Krimkrieg führten, begannen nicht - wie offi ziell deklariert wurde - wegen der Lage der chris tlichen Sla wenminderheiten im os manischen Reich, sondern wegen d er Weigerung des GroBwesirs, polnische Flüchtlinge, die an der ungarischen Revolution teilgenommen haben, an di e russ ische Regierung auszuliefern. Die Stationierung englischer und französischer Geschwader an den Dardanellen und in Smyrna hatte
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Ende 1849 eine Kompromißlösung und eine nur kurzfri stige Beilegung d es russ isch-türkischen Konflj kts ermöglicht. AuBenminister Nesselrode hatte sich zunächst mit d er von d er türkischen Seite unterb reiteten Auskunft zufrieden erklärt, wonach der Großteil der 1.100 polnischen Flüchtlinge zu eng lischen bzw. französischen Untertanen geword en oder zum Islam übergetreten seien. Für diejenigen, d ie noch die russische Staa tsangehörigkeit besaßen, war vom Großwesir die Ausweisung aus der Türkei in Aussicht gestellt worden. Im übrigen erlebte der in d en Jahrzehn ten zuvor auf verschiedene Bewährungsproben gestellte Pa triotismus d er russischen Oberschicht im Krimkrieg eine sonderba re Verwandlung. Die Belagerung und Verteidigung des Schwarzmeerhafens Sewastopoi brachte eine neue Welle des Patrio tismus hervor, die durchaus verglichen werden ka nn mit der Stimmung d es »opoltschenie« (der Bürgerwehr) 1812, mit d er Rußland d er Okkupa tion der westlichen Territori en einschließlich Moska us d urch die napoleonische Armee entgegengetreten wa r. Ein neues Element war jedoch die tatsächliche Angst vor einem möglichen siegreichen Ausgang des Krieges. Eine Gesellschaft, die kurz zuvor auf d ie »Dreieinigkeit« der offiziellen Ideologie Selbstherrschaft, Rechtgläubigkeit und Volkstümlichkeit - eingeschworen worden war, war bereit, die Niederlage im Krieg hinzunehmen, wenn d iese die Stärkung der Selbstherrschaft verhinderte. Dieser vielfach dokumentierte SinneswandeJ21 kön nte als ein Zeichen d er politischen Unreife einer Gesellschaft interpretiert werden, d ie ihre Grundsä tze immer dann zu ändern bereit ist, wenn eine Kriegsnied erlage droh t. Doch gerade bei diesem Prinzip der Selbstherrschaft, d as d en imperialen Bestand d es Russischen Reiches berührte, war Sinneswandel bis d ahin selten und nu r bei Einzelpersonen zu beobachten gewesen: Untersuchungen aus jüngster Zeit, z. B. d urch d en Kulturhistoriker Egorow, versuchen die Tiefenwirkungen d es imperialen Denkens auf den russischen Volkscharakter nachzuweisen. 22 Dabei ist anhand von Belegen aus Folklore und Chroniken nich t nur eine unkritische Einstellung, sondern sogar Zustim mung von seiten des Volkes gegenüber den von d er Regierung geführten Eroberungskriegen d eu tlich geworden. Es sei kein Fall bekannt, in dem es seine Stimme gegen einen solchen Feldzug erhoben habe.lJ Kurz vor dem plötzlichen Tod Nikolaj I. erregte in Peters-
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burg und in Moskau eine anonym verbreitete Schrift Aufsehen. Der Auto r der Broschüre war, wie sich erst Jahrzehnte später herausstellte, der bekannte Gelehrte und Publizis t Boris Nikolaewitsch Tschi tscherin. Es is t anzunehmen, daß die ersten leser um die Identität d es Verfassers wußten. Doch schon in der nächsten Generation stand die Meinung über ihn, den Begründer der konservativen ),Staatsschu)e.(, so fest, daß man ihm die heftige Polemik gegen die offi zielle Außenpolitik, wie sie in der Broschü re offenkundig wa r, nicht mehr zutraute. Der Weg zum konserva ti ven Reformanhän ger begann mit d er Begeisterung für die Errichtung der Republik 1848 in Paris. Die Ernüchterung kam im Sommer, als - w ie er später schrieb -, »die demokratischen Massen begannen, ohne jed en Sinn und Anlaß d ie Einrich tungen zu zerstören, die für sie geschaffen wurden. Als d er Aufruhr beseitigt wurde, neigte ich zu gemä ßigtem RepubLika. nertum und meinte, daß die Republik unter diesen Bedingun· gen sich festigen könnte. Aber schon die Präsidentenwahlen ha· ben meinen Glauben an d ie Demokratie erschüttert . Das Ziel entfernte sich in meinen Augen in d ie mehr oder weniger fe m e Zukun ft. Enttäuscht von der lebendigen Kraft der Demokra tie verlor ich auch d en Glauben an die theoretische Bedeutung d es Sozia lismus.<,24 Die ervvähnte Schrift, überschrieben mit •• Die Orientfrage vom russisch en Standpunkt .. , trägt den Charakter eines s taa ts m ä nnisch kon zip ierte n Gegen e ntwurfs sow ohl Zllr
o ffiziellen Lagebeurteilung als auch zu den Darstellungen in der westlichen Presse; die letztere w ürde den Kriegsausbruch au f d ie »nicht zu befriedigende Eitelkeit .. Ruß lands zuruckfüh· ren. Tschitscherin schilderte die Opferbereitschaft d er kämpfen. d en Truppen auf d er Krim und auch das Engagement der rus· sischen Provinz für die moralische und materielle Unterstül· zu ng der Armee. Insgesa mt habe der Krieg die Verbindung zw ischen dem Volk und d em Za ren restlos zerstört. Gegen die offiziell verb reitete Ansicht, Ru ßland führe d en »Hei ligen Krieg .. um den Schutz d er christlichen Bevölkerung in der Tü rkei, wandte er sich mit besonderer Schärfe: Wenn, meinte er, die Türkei zu verurteilen wäre, d ann nicht wegen der Glaubensun· terschiede zum orthodoxen Christentum, sondern wegen d er inneren politischen Struktur, deren Refonnierung Rußland nie unterstü tzt habe. »WoHen wir tatsäch lich glaubhaft machen, d ie Be freiung der Unterdrückten in der Türkei anzus treben, während (... J unser Po len unter d er Last d es verhaßten Jochs lei-
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det?« 2S Anderseits hielt Tschitscherin das politische Ziel d es Krieges, d as er klar als Erweiterung d er russischen Herrschaft im O rient definierte, für völlig legitim: Jeder Staat solle um seine Bedeutung und seinen Einfluß auf die anderen Sorge tragen. Die politische Kunst bestehe nur darin, dieses Ziel mit möglichst geringen Opfern zu erreichen, das bedeutet, die Zeit, den Ort und die Mittel richtig zu wäh len. Im Rückblick auf die europäische Politik seit 1815 kritisierte Tschitscherin die Einflüsse, die von Metternichs außenpolitischem Konservatismus ausgegangen seien. Diese Politik sei lediglich für Österreich vorteilhaft gewesen, d as auf dem Status quo beharren mußte, weil es keine Zu kunft gehabt habe. Rußland jedoch habe in der Außenpolitik verstand en, solchen Einflüssen zu widerstehen. Anders d agegen sei d ie Innenpolitik des Zaren zu beurteilen, in der er keine Korrekturen durch das Volk und die Opposition, keine Einschränkungen durch das Gesetz zu fürchten gehabt habe. Später kritisierte Tschitscherin nicht weniger scharf die Politik der nächsten Zaren - er erlebte noch drei -, und nur für einen, Alexander 1I., empfand er wirkliche Hochachtung. An seiner Überzeugung, daß die ideale Regierungsform für Rußland die konsti tutionelle Monarchie sei, änderte diese Kritik nicht das mindeste. Tschitscherins Schrift ist für unseren Zusammenhang deshalb so wichtig, weil sie eine Charakteristik d er Stellung Rußlands in Europa nach 1848 und vor 1853 enthält: Rußland sei seit 1849 auf dem Höhepunkt seines Ruhmes und seiner Macht gewesen; es habe sich in alle d eutschen Angelegenheiten gemischt, ÖSterreich vor d em Niederga ng gerettet und zugleich PreuBens ehrgeizige Pläne durchkreuzt. Rußland sei in Europa als ein unbesiegbarer Koloß angesehen worden, der, an der Spitze eines konserva tiven Mächtesystems, den von inneren Unruhen erfa ßten Westen sich zu unterwerfen drohte.26 Die Geschichtswissenschaft ha t die Aufgabe, Urteile der Zeitgenossen über die Ereignisse zu relativieren. Daß das Urteil über die russischen Aktionen in Europa 1848 / 49 heute milder ausfällt als vor 150 Jahren, beobachten wir nich t nur in Rußland . Erwähnt sei hier immerhin auch der frühere US-Außenminister Kissinger, der in seinem Traktat über die Außenpolitik darauf hinwies, es habe Perioden gegeben, »besond ers die vierzig Jahre nach dem Ende der napoleonischen Kriege, in d enen Rußland keinen eigenen Nutzen aus seiner ungeheuren Macht zog,
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sondern sich ganz in den Dienst des Schutzes konservativer Werte in Mittel- und Westeuropa steHte(e. v Im Unterschied zu den konservativen Königshöfen in West- und Mitteleuropa, die sich über Weltanschauungen definierten, die von einem starken Moment der Selbstkontrolle geprägt waren, haben die Zaren sich in den Dienst von Kreuzzügen gestellt und hielten die republikanischen Bewegungen schlichtweg für unmo ralisch. Der Aspekt der unterschiedlichen Auffassungen von Legitimität, der auch schon für Tschitscherin wichtig war, erlaubte es Kissinger, die Ereignisse und Verwicklungen im europäischen Mächtesystem 1848/ 49 ausgewogener zu beurteilen als die Zeitzeugen jener Ereignisse. Doch wenn auch die russische Regierung keinen besonderen Nutzen aus ihrer Macht ziehen konnte, war sie deshalb doch so wenig uneigennützig wie ihre west· und mitteleuropäischen Verbündeten und Gegner. Erbar· mungslos war sie vor allem gegen das eigene Volk.
Anmerkungen 1 N. K. Schilder, Imperator Nikolaj I. Ego shisn' i zarstwowanie, SI. Petersburg 1903; Theodor Schiemann, Geschichte Rußlands unter Kaiser Nikolau. I., Ud. IV; Bcrlin 1919; Thcodo r von Bcrnh"rdi, RuRl"nd im Miin. .md
April 1854, in: Historische Zeitschrift 71 (1893),5. 414-455; Ders., Rußland, wie es Nikolaus I. hinteriäßt, in: ebd . 72 (1894), 5. 247- 290, 441-479. 2 Vgl. G5. Knabe, Materialy k lekzijam po obschtschcj teorii kultury i kulture antitsdtnogo mira, Moskau 1993, S. 94 f. 3 Vgl. N. Eidelman, PosJednij letopisez, Moskau 1983; B. F. Egorow, Ewoluzija russkogo liberalisma v XIX weke: ot Karamsina do Tsehitscherina, in : Is istorii russkoj kultury, Bd. V. Moskau 1996, S. 480 f. 4 S. A. Ekschtut, V poiske istoritscheskoj altemativy. Aleksandr 1., ego spodwishniki, dekabristy, Moskau 1994. 5 Schild er, 5. 632. 6 Vgl. Schiemann, S. 142 ff. 7 Ebd., 5 . 186 f. 8 Hier sei nur auf vielversprechende Forschungseinsätzc unter Förderung und Anleitung Prof. David B. Rjasanows verwiesen, die d ie Anregungen des monumentalen Werks des Anarchisten Max Nettlau mitberücksichtigen: Ju. M. 5teldow (Hg.), Sobranie sotschinenij i pisem 1828-1876, Bde. 1-4, Moskau 1926-1935; auch W. Polonskij, Materialy dlja biografii M. Bakunina, Bde. 1-3, Moskau 1923-1928. Vgl. dazu neuerdings historiographisehe Auskünfte von Wolfgang Eckhardt, in: Michael Bakunin, Russische Zustände, Berlin 1996.
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9 P. Schcibert, Von Bakunin zu l...enin. Geschichte der russischen revolu tionären Ideologien 1840-1895, Leiden 1956. to Die Reaktion in Deutschland. Ein Fragment von einem Franzosen, in: Deutsche Jahrbücher für WISSenschaft und Kunst, Nr. 125, 21.10.1842, S. I002. 11 Bakuninstudien von Dr. josef Plittner, in: QueUen und Forschungen aus dem Gebiete der Geschichte, hg. von der Historischen Kommission der Deutschen Gesellschaft der Wissenschaften und Künste fü r die Tschec:hoslawische Republik, Prag 1932, H. to, S. 13-34. 12 Aufruf an d ie Slawen. Von einem russischen Patrioten Michael Bakunin, Mitglied des Slawenkongresses in Prag. Koethen 1848, S. 4. 13 Ebd ., S. 24, 32. 14 B. A. Ewreinow, Poslednij etap slawjansko; dejatelnosti Bakunina, in: Nautschnye trudy russkogo nar
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Ha rtmut Kaelble
1848: Viele nationale Revolutionen oder eine europäische Revolution?
Wir sind gewohnt, d ie Revolution von 1848 als eine na tionale Revoluti on a nzusehen - wi r, das heiß t d ie Franzosen, Deutschen, Schweizer, Ita lie ner, ÖSterreiche r, Polen, Ungarn, Tschechen, also d ie H istorike r a us den Ländern Europas, die 1848 eine Revolu tion erlebten . Allen ist na türlich bewußt, d aß d iese Revolution nicht nur im jeweils eigenen Land sta ttfand, sondern auch in Nachbarlä ndern. Die europäischen His torike r sehen deshalb die Revolution von 1848 meist als eine Vielzahl von ' lO tiorralen Revolutionen an, normalerweise aber nicht als eine gem einsame europäische Revolution. Man sp richt dahe r in d en Handbüchern zur eu ropä ischen Geschichte und in den inte rnationalen Überblicken zu 1848 meis t von den Revolutionen von ] 848. 1 Der französische Historike r Cha rIes Pouthas ha t diese Sicht der Revolutio n von 18 48 sch o n vor e ine m h albe n Ja h rhun-
de rt pointiert formuliert, sah in der Unterschiedlichkeit de r Revolutionen von ]848 sogar den Grund für ihr Scheitern : »Ein Blick au f Europa, d as vielleicht nie im Verlauf seiner Geschichte eine solche Gemeinsamkeit d er Ereignisse gezeigt ha t, läßt e rke nnen, daß de n Revolutionen von 1848 schl ießlich nur die Tatsache der Revolution gemeinsam war. [. . . ]ln Wirklichkeit ha tte jede [Revolution ] eigene Ursachen und Zielrichtungen . [.. . ] Ihre Unvereinbarkeit von einem Land zum anderen, und selbst in ein und demselben Land haben sie isoliert und durch ihre Widersprüchlichkeit so gut wie neu tralisiert. Die Revolutionen von 1848 sind an ihrer Komplexität zugrunde gegangen .«2 Auch in d en Augen von Dieter Langewiesche, de r 1988 eine n m uste rgültigen europäischen Überblick schrieb, »gab es keine n einheitliche n europäischen Revolu tionsverlauf«.3 Die Revolutionen von 1848 w urden allerdings auch als eine ge meinsa me europäische Revolution inte rpretiert. Schon manche Zeitgenossen sah en d iese Revolution als ein gemeinsa mes
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internationales Ereignis. Der französische Schriftsteller und Po· litiker Alexis d e Tocqueville sagte in einer Rede vor befreunde-ten Politikern im Januar 1848: »Fühlen Sie nicht mit einer Art instin ktiver Intuition, die nicht erklärt w erden kann, aber un· trüglich is t, d aß der Boden Europas aufs neue erzittert? Merken Sie - wie sage ich? - den Revolutionssturm nicht, der in d er Luft li eg t ?«~ Auch eini ge jüngere Interpreten d es 19. Jahrhunderts und spez iell d er Revoluti on 1848 vertreten diese Sicht. Eric Hobsba wm schrieb 1962 im ersten Band seiner mehrbändigen Geschichte Europas: »Niemals ist eine Revolution universaler vorausgesagt worden [... ]. Ein ganzer Kontinent wartete, be· reit jede Revolutionsnachricht fa st so fort von Stadt zu Stadt über elektrische Telegraphen weiterzugeben. [... ] 1848 brach die Explosion l os .(~ Roger Price gibt seinem vor wenigen Jahren erschienenen Buch über 1848 zwar den Untertitel »Kleine Geschichte d er europäischen Revolutionen «; aber auch er möchte »dem Sinn einer Folge von Ereignissen, d ie einen ganzen Kon· tinent erfa Bten, auf d en Grund« gehen.' Eine ganze Reihe an· d erer Historiker sprechen zwar von d en Revolutionen von 1848. behandeln sie aber d e facto 1848 häufig als eine gemein. sa me europäische Revolution. Man darf freilich diese Position weder unter d en Zeitgenossen noch unter d en heutigen Histo· rikern überschätzen. Sie ist eine Minderheitsp osition. Nicht nur Historiker einzelner na tionaler Revolutionen, sondern auch international vergleichende Histo riker vertreten meist die klassische Sicht einer Vielzahl von nationalen Revolutionen von 1848. Was spricht für d ie klassische Sicht einer Vielzahl nationaler Revol utionen, w as spricht für die Interpretation einer gemein. sa men europäischen Revolution? Ich werde die Hauptargu· mente fü r heide Positionen vortragen und am Ende versuchen. eine Bi lanz zu ziehen. Dabei möchte ich n icht den Eindruck er· wecken, als ob es über diese Frage einen Historikerstreit mit klar abgesteckten Lagern gibt. Ich habe zwar fast aUe folgenden Argumente aus den Arbeiten von Histo rikern übernommen. Die Gegensätze d er beiden Positionen bei der Interpretation der Revolu tion von 1848 sind aber zum überwiegenden Teil meine eigene In szenierung. Zuers t d ie Argumente für eine Vielzah l von Revolutionen 1848. Wenn ich recht sehe, gibt es fü r Historiker fünf Gründe dafür, nicht von einer gemeinsamen europäischen Revolution von 1848 zu sprechen:
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1. Ein erstes Argument gegen eine einheitliche europäische Revolution von 1848: Diese Revolution war keine europaweite Revolution, da sie in wichtigen Teilen Europas ausblieb. Sie fand weder in Großbritannien, noch in den Niederlanden oder Belgien, noch in den skandinavischen Ländern noch in Spanien oder Portugal noch im damals noch gröBtenteiis vom osmanischen Reich beherrschten Südos teuropa, auch nicht in dem schon unabhängigen Griechenland , schließlich auch nicht im Zarenreich statt. Man kann diese Länder nicht einfach als Ausnahmen von der europäischen Normalsituation d eklarieren. Sie umfassen zu breite Teile Europas. Rund die Hälfte der Europäer wohnten damal s in diesen Ländern. Vor alle m aber kann man die Gründe für das Ausbleiben der Revolution in diesen Ländem nicht über einen Leisten schlagen. Sicher lä ßt sich für einen beträchtlichen Teil dieser Länder, für Spanien, Rußland , den osmanisch okkupierten Teil Europas das Ausbleiben der Revolution auf besonders massive Repression zurückführen . Frau Thoma s und Herr Schödl weisen in ihren Beiträgen zu Osteuropa in di esem Band dara uf hin. Aber scho n unter d iesen Ländem muß diese Repression sehr verschieden gedeutet werden . In Spanien und Portugal steht sie am Ende der Einführung liberaler Verfassungen 1812 und am Ende von Bürgerkriegen während d er 1830er Jahre, in RußInnd odeT in SüdostcuTopa dagcgcn nic ht. DarübeT hin a u s fa fh
für Großbritannien, für die skandinavischen Länder, für Belgien und die Niederlande diese Erklärung der politischen Repression nicht. Man kann eher argumentieren, da ß zumindes t Großbritannien schon im 17. Jahrhundert seine Revolution erlebt hatte, es daher politisch schon zu liberal war, als da ß es nochmals eine Revolution brauchte. Die skandinavischen länder gingen grundsätzlich in der Geschichte einen nichtrevolutionären Weg der Durchsetzung mod erner Verfassungen? Wie auch immer man das Au sbleiben d er Revolution in allen diesen Ländern erklärt: Das Faktum bleibt, daß in wichtigen und völlig verschiedenen Tei len Europas, in dem wirtschaftlich mod ernsten Teil im Nordwesten Europas ebenso wie in dem bevölkerungs tärksten La nd Europas im Osten und im zurückgeb liebensten, einer Fremdherrschaft unterworfenen Teilen im Südosten Europas, die Revolution von 1848 ausblieb. Sie war daher - so das Argument - in Europa nur ein regionales, kein wirklich europäisches Ereign is.
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2. Ein zweites Argument ist der klassische Einwand gegen eine einheitliche europäische Revolution von 1848: Diese Revolutio n war in jedem europäischen Land eine andere Revolution, gemessen an ihrem Zeitablauf, ihren Zielen, ihren Trägern, an der Reaktion der Herrschenden und an ihren Folgen. Einige Länder wie Frankreich, Süditalien und die Schweiz waren unabhängig voneinander Startländer d er Revolution; andere Länder w ie Deutschland, ÖSterreich, Ungarn, Tschechi en, Polen waren dagegen Nachfolgeländer. Die Ziele der Revolution waren trotz damals neuer internationaler Verkehrs- und Kommunikationstechniken, der Eisenbahnen und des Telegraphen, in jedem Land andere. Die sozialen Ziele reichten von der Ablösung der Feudallasten in Ungarn bis zur Arbeilsschutzgesetzgebung und Arbeitsbeschaffung für Industriearbeiter in Frankreich . Das politische Ziel der Errichtung eines Nationalstaates hatte in jedem Land eine andere Bedeutung. In Frankreich war dieses Ziel bedeutungslos, da ein Nationalstaat schon bestand. In der Schweiz wurde eine Föderation von Kantonen erfolgreich in einen Nationalstaat umgebaut. ln Deutschland ging es um die erfolglose Forderung des Umbaus eines Staatenbundes in einen Nationalstaat, dessen Grenzen allerdings schwer zu ziehen waren. ln Italien fehlte der erfolglosen Forderung nach einem Nationalstaat die Voraussetzung eines Staatenbundes. ln Ungarn, Polen, Tschechien, teilweise auch in Italien richtete sich die erfolglose Forderung nach einem Nationalstaat vor allem gegen die Habsburger Monarchie, auch unter diesen Ländern mit vielfältigen Unterschieden. Weiter stieß die Revolution von 1848 auf völlig unterschiedliche Rea ktionen der Herrschenden vom blitzartigen Zugeständnis einer Verfassung in den Niederlanden, in Dänemark oder im Königreich Neapel bis zu erbarmungslosen standrechtlichen Erschießungen jedes Verdächtigen in Ungarn oder Baden. Die Revolution von 1848 führte daher zu ganz unterschied lich intensiven Konflikten, kostete in der Schweiz mit Einschluß d es Sonderbundskriegs rund hundert Menschenleben, dagegen allein in Ungarn über hunderttausend Menschen das Leben.8 Die Revolution von 1848 hatte vor allem auch in jedem Land andere Folgen. Sie war in einigen wenigen Ländern ein Erfolg, erbrachte in Belgien ein etwas offeneres Wahlrecht, in d en Niederlanden und in Dänemark eine liberalere Verfassung, in der Schweiz eine libera lere Verfassung und die Konstitution einer
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modemen Schweizer Nation. In den meisten anderen europäischen Ländern war die Revolution von 1848 dagegen eher ein Mißerfolg, jedenfalls gemessen an den Forderungen der Anhänger der Revolution. Insgesamt glich - so das Argument - keine dieser zahlreichen europäischen Revolutionen der anderen . 3. Ein drittes grundlegenderes Argument: Die Revolution von 1848 spielte für die säkularen Weichenstellungen der europäischen Geschichte keine zentrale Rolle. Revolutionen gehörten zwar wesentlich zu einer bestimmten politischen Phase Europas, in der das Ancien Regime abgelöst und durch moderne politische Verfassungen und modeme Wirtschaftsmärkte ersetzt wurde. Revolutionen sind vielleicht sogar eine welthistoTische Besonderheit Europas und des Westens. Jedenfalls wurde sie im Westen erfunden, in anderen Teilen der Welt hingegen nur nachgeahmt, in Südamerika ebenso wie in China oder Südostasien. Aber die Revolution von 1848 war in dieser welthistorisch bedeutsamen Ereigniskette von westlichen Revolutionen ein Nebenschauplatz. Die entscheidenden Revolutionen waren die beiden englischen Revolutionen, vor allem aber die amerikanische Revolution von 1776 und die französische Revolution von 1789. Diese Revolutionen haben die Menschenrechte, die Teilung der Macht zwischen Parlament und Monarch bzw. Präsident, die Liberalisierung der Wirtschaft und den privaten EigcntuIT\sschutz durchgesetzt, :luch die erst.e n sozialstaatlichen
Konzepte aufgebracht. Nicht nur das: In der französischen Revolution von 1789 wurde auch schon vorgeführt, wie eine solche Revolution nach kurzer Zeit scheitern konnte. Gegenüber diesen Revolutionen entwickelte die Revolution von 1848 keine grundsätzlich neuen Konzepte, war auch in ihrem Scheitern nicht neuartig. Die großen vergleichenden Untersuchungen zu den Revolutionen in der Welt oder in Europa behandeln daher die Revolution von 1848 entweder nur zweitrangig oder überschlagen sie völlig wie etwa die klassische historische Analyse von R. R. Palmer in seinem »Age of the dernocratic revolution « oder die klassische sozial wissenschaftliche Analyse von Theda Skocpol oder die jüngste Gesamtdarstellung der europäischen Revolutionen CharIes Ttlly.9 Die Revolutionen von 1848 - so das Argument - sind kein zentra les Ereignis in der Kette der europäischen Revolutionen, sondern eher ein Nachklatsch der früheren großen Revolutionen in davon bisher unberührten Gebieten Europas, mit klaren Wirkungsgrenzen in noch weiter zu-
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rückgebliebenen Gebieten, in Rußland und im osmanisch ok· kupierten Teil Europas. 4. Ein viertes Gegenargument, das nirgends ausgesprochen aber immer selbstverständlich vorausgesetzt wird: Die Revolu · tion von 1848 war im strikten Sinne keine Revolution Europas, weil es überhaupt kein europäisches Machtzentrum, keinen eu· ropäischen Staat, keine europäische Monarchie gab, die man hätte revolutionieren können, auch keine europäische Hauptstadt, in der Ereignisse von europäischer Tragweite hätten stattfi nd en können. Im polyzentrischen Europa mit seinen vielen politischen Machtzentren konnte es 1848 nur viele Revolutionen geben. Das war nicht nur eine Frage des damals bestehenden europäischen Staatensystems, sondern auch der Konzepte der Revolution von 1848. Während die nationale Einheit in vielen europäischen Revolutionen von 1848 eine zentrale Rolle spielte, verlangte so gut wie niemand nach einer europäischen Einheit im modemen supranationa len Sinn. Die wesentlichen Forderungen der Revolution von 1848 wurden fast nie auf die europäische Ebene übertragen: Fast niemand forderte eine mehr als nur deklamatorische europäische Menschenrechtscharta, eine europäische Verfassung, die mehr als ein internationaler Ver· trag wa r, ein europäisches Parlament mit den Kompetenzen ei· nes normalen Parlaments, einen europaweiten unbegrenzten Wirtschaftsmarkt. Auch die wenigen Europäer, d ie 1848 überhaupt europäische Einheitspläne entwickelten, die Franzosen Hen ri Feuquerai, Littre und Francisque Bouvet, d er Scho tte CharIes Mackay" der Italiener Carlo Cattaneo und die Deutschen Amold Ruge und Julius Fröbel, gingen über die Forderung nach einem europäischen Staatenbündnis nicht hinaus. Nur d er französische SchriftsteUer Victo r Hugo, damals eine Ausnahme, verö ffentlichte schon modeme, später vielzitierte Vorstellungen von einer eu ropäischen Einheit, allerdings eher als feme Zukunftsvision, nicht als Ziel der damaligen Tagespolitik, auch nicht sehr präzise in den Details. lO Unter den Historikern bleibt Heinz Gollwitze r, der 1951 die Revolution von 1848 für einen »Brenns piegel « in d er Entwicklung der Europaidee hielt, auf einer vereinzelten Position.\1 Überhaupt fehlte es 1848 an der Vorstellung von einemgleicllberechtigten modus vivendi zwischen den europäischen Nationen. Zwa r war der Glaube an ein friedliches Zusa mmenleben
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von Republiken, an d en Völkerfrühling, weit verbreitet. Aber die Revolution von 1848 war gleichzeitig tief vom d en Natio· nalismen des 19. Jahrhunderts und den Suprematien einiger eu· ropäischer Nationen über andere geprägt. Sie spalteten die Eu· ropäer und belasteten auch die Revolution von 1848 mit natio· nalistischen Konflikten schwer. Die deutschen Anhänger der Revolution anerkannten die Autonomieforderungen der Dä· nen, Polen und Tschechen quer d urch d ie politischen Richtun· gen meist nicht an, die österreichischen Anhänger d er Revolu · tion meist nicht die Autonomieforderungen der Italiener, Un· garn, Polen und Tschechen, die ungarischen Revolutionäre nicht die Autonomie der Rumänen, Kroa ten, Slowaken und Ser· ben Y Das Verhältnis zwischen den europäischen Nationen blieb häufig von Herrscha ftsans pruchen der einen Nation über die andere bestimmt. Von einer europäischen Revol ution von 1848 könnte man - so das Argument - nur sprechen, wenn es entweder schon einen europäischen Staa t ge.g eben hätte oder wenn die Anhänger der Revolution wenigstens eine europäi· sehe Verfassung gefordert und dabei schon realisierbare Kon· zepte von einem gleichrangigen Zusammenleben d er europäi. schen Nationen entwickelt hätten . 5. Ein fünftes Argument gegen eine einheitliche Revolution von 1848 hat mehr mit der Interpretation dieser Revolution durch die Historiker zu tun : Die Historiker haben bis her die Geschichte d er Revolution von 1848 überwiegend im nationa· len Rahmen geschrieben. Die Revolutionen von 1848 sind fester Bestandteil der nationalen Geschichtsinterpretation geworden. Vor allem in Deutschland, in der Schweiz, in Österrei ch, in Tschechien, in Ungarn ist die Einordnung der Revolution von 1848 zentral für das demokratische Selbstverständnis und seine Konstruktion der Geschichte. Symbole drücken das in manchen Ländern aus. In Unga rn wurde die wichtigste Persönlichkeit der Revolution von 1848, Lajos Kossuth, auf einem der Geld· scheine aufgenommen. In Deutschland ist der Revolution von 1848 in der offiziellen Dauerausstellung zur deutschen Ge· schichte im Deutschen Dom am Berliner Gendarmenmarkt im · merhin ein zentraler Raum zugewiesen worden. In der Interpretation der europäischen Geschich te besitzt die Revolution von 1848 dagegen bisher selten einen solchen Platz. Unter der Perspektive der europäischen Einheit werden an dere Entwicklungen wie - um nur die Neues te Geschichte zu erwäh ·
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nen - die Aufklärung des 18. Jahrhunderts, der Pazifismus und die Verständigungsdiplomatie der Zwischenkriegszeit, der europäische Widerstand gegen Hitler, die Europabewegung nach dem Zweiten Weltkrieg, die Gründerzeit der europäischen Institu ti onen in den 1950er Jahren als Etappen einer Geschichte der europäischen Einheit herausgehoben . Die Revolutionen von 1848 gehören dazu nicht. Sie gelten letztlich doch als Teil der nationalen Zerklüftung Europas im 19. Jahrhunderts, wenigstens nicht als eine starke Bewegung dagegen. Warum soll man sich - so das Argument - um die Sicht einer einheitlichen europäischen Revolution von 1848 bemühen, wenn sie für die Gesamtinterpretation der europäischen Geschichte keine große Bedeutung haben wird?!3 Diese Argumente wirken sicher so überzeugend, daß man sich fragt, wie man überhaupt von einer einheitlichen europäischen Revolution von 1848 sprechen kann. Aber fand die Revolution von 1848 wirklich nur in der einen Hälfte Europas statt? War wirklich jede Revolution von 1848 eine Sonderentwicklung? War die Revolution von 1848 wirklich ein welthistorisches Hintertreppenereignis? War sie für die Geschichte Europas als Ganzes tatsächlich so bedeutungslos? Auch die Sicht von einer europäischen Revolution von 1848 hat wichtige Argumente für sich. 1. Es gab 1848 nicht zwei säuberlich voneinander getrennte Europas, ein revolutionäres Europa und ein von der Revolution unberührtes Europa. Auch der scheinbar unrevolutionäre Teil Europas wurde von dieser Revolution massiv beeinflußt. Die starke Wirkung dieser Revolution in den scheinbar unrevolutionären Teilen Osteuropas behandeln Frau Thomas und Herr Schödl in ihren Beiträgen über Rußland und über Südosteuropa. Ich verweise darauf. Ähnlich stark war der Einfluß der Revolution von 1848 auf die unrevolutionären Teile West- und Südeuropas. In den Niederlanden gab es Aufstände in Amsterdam und Den Haag. Ohne den raschen Erlaß einer moderneren Verfassung vor aUem unter Einfluß des Historikers und späteren Regierungschefs (1849-53) J. R. Thorbecke hätte wahrscheinlich auch die Niederlande zu dem revolutionären Teil Europas gehört.!' Belgien erhielt bereits bei seiner Entstehung 1831 eine der damals liberalsten europäischen Verfassungen und verwirklichte damit schon damals Forderungen der späteren Revolution von 1848. Trotzdem sah sich auch Belgien 1848 zu
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einer ganzen Reihe rascher politischer Reformen, darunter auch zu einer für Kontinentaleuropa recht offenen Wahlrechtsreform gezwungen, die zu einer breiten liberalen Mehrheit im Paria· ment führten. 15 In Dänemark berief der König 1848 unter dem Eindruck der Revolution südlich des Landes eine liberale Regierung und erließ 1849 eine Verfassung. In Schweden sah sich die Krone gezwungen, zumindest eine liberale Regierung zu emennen. 16 Auch in Großbritannien hatte das Ausbleiben der Revolution von 1848 viel mit der für damalige Verhältnis liberalen politischen Struktur, allerdings auch mit der Schwäche der Chartistenbewegung und mit frühem massivem Einsatz der Polizei gegen Unruhen zu tunY In Irland wurde 1848 ein Aufstand versucht, fand aber in der durch die Hungersnöte der 1840er Jahre demoralisierten Bevölkerung wenig Unterstützung und besaß wegen einer politischen Führungskrise des Landes keine Kraft. 18 ln den südeuropäischen Ländern Spanien und Griechenland, in denen die wichtigen Revolutionen in anderen Zeiträumen stattfanden, entstanden zumindest einzelne regional begrenzte Aufstände, die durch die übermächtige Armee niedergeschlagen wurden. 19 Der französische Historiker Charles Pouthas spricht deshalb - wie schon erwähnt - für ganz Europa von einer »Gemeinsamkeit der Ereignisse«, der britische Historiker Eric Hobsbawm von »einer gemeinsamen Stimmungs- und Stillage. ein er eigenartig romantisch-utopischen Atmosphäre und einer ebensolche Ausdrucksgebärde«, der deutsche Historiker Theodor Schieder von einem »allgemeinen Erregungszustand«.20 Die Revolution stand als potentielle Drohung über ganz Europa, kam aber in manchen Teilen Europas durch Repression, in anderen Teilen durch rasche liberale Reformen der Monarchen, in wieder anderen Teilen Europas durch die Schwäche der Liberalen nicht zum Ausbruch. 2. Darüber hinaus war nicht jede Revolution von 1848 eine völlige Sonderentwicklung. Die Revolutionen von 1848 wiesen auch unverkennbare Gemeinsamkeiten auf. Trotz aller Komplexität und Vielfalt war die Revolution von 1848/ 49 ein gemeinsames Ereignis, gab es gemeinsame historische Ursachen, gemeinsame Ziele, eine gemeinsame, in sich verflochtene Trägerschicht, aber auch starke Verflechtungen der Gegner der Revolution, überhaupt eine starke Wechselwirkung zwischen den nationalen Ereignissen, schließlich auch ein gemeinsames, fast gleichzeitiges Scheitern.
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Schon auf d en e rsten Blick ähnelten sich die Revolutionen von 1848/ 49 in ihrem Zeitablauf. Sie waren vor allem äußerst kurz, da uerten im Ganzen nicht viel mehr als ein Jahr, waren d amit weit kürzer a ls d ie groBen kla ssischen Revolutionen. Sie began nen zwischen Januar und März 1848 mit Unruhen fast gleichzeitig überall in Europa, in Ita lien, Deutsch1and, Frank· reich, ÖSterreich, Belgien, Spanien, England . Sie endeten l w i· sehen Mai und Aug ust 1949 mit der Erstickung der Revolution d urch Armeetruppen gleichzeiti g in Sizilien, in Frankreich, im Kirchenstaa t, in Deutschland, in Ungarn, in Norditalien.21 Die Revolutionen von 1848 besaßen zudem unverkennbare gemeinsa me Hau ptursachen: die Agrar· und Ernährungskrisen unmittelbar vor der Revolution; der Vertrauensverlust d er Regierungen vor allem im Bürgertum; die Krisenstimmung in d er breiteren Bevölkerung, d ie durch d en Verfall d es Ancien Re· gimes und durch di e ersten Anfängen der Industria lisierung ausgelöst wurde; die seit der fran zösischen Revolution aufge· stauten Erwartungen in Verfassungen und in die Sicherungen d er Menschenrechte; die na tiona len Bewegungen wirkten in fast allen europäischen Lä nd ern, wenn auch in sehr unter· schied licher Gewichtung. Das gemeinsa me Modell wa r die fran zösische Revolution von 1789. Gleichzeitig hatte sich das Zusa mmenwachsen Europas im Vergleich zur fran zösischen Revolutio n von 1789 durch d as en tstehende Eisenbahnnetz, durch die neuen Telegraphen, auch durch die erheblich weiter entwickelte Presse erheblich verstärkt . Dadurch gewannen die gemeinsa men Ursachen in ihrer internationa len Wirkung noch an Gew icht. Wenigstens eine Trägerschicht war für alle europä ische Re· volu tionen als treibende Kraft wichtig: die Intellektuellen. Sie waren nach d er französischen Revolution von 1789 von d en eu· ropäischen Regierungen mit großem Mi ßtrauen beobachtet und verfolgt worden, ha tten mühsam eine wirtschaftl iche Basis und eine öffentliche politische Rolle zu erreichen versucht, standen aber über die Staatsgren zen hinweg o ft in engem interna tiona· len Austausch miteinander. Für sie wa r die Revolution von 1848 d er g roße Aufbruch, >leine Revol ution d er Intellektuellen", wie Chrislophe Charle es mit Vorbehalten a usd rückt. »Zum erstenma i scha ffen d ie Unruhen und der Legi tim ationsverlust einiger Mächte für kurze Zeit Raum für geistige und po litische Freiheit auf europäischer Ebene. (. .. 1 Der etwas naive und in d er Fol-
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gezeit heftig kritisierte Überschwang dieser Jahre resultiert aus dem scheinbaren Zusammentreffen d er lange erträumten Welt mit dem tatsächlichen Gang der Geschichte.«22 Es hat damit zu tun, daß auch die Ziele der Revolutionen von 1848 ähnlich waren. Vier grundsätzliche Ziele der Revolutionen 1848 wurden mit unterschiedlicher Gewichtung in allen Ländern verfolgt: die Forderung nach liberalen Verfassungen, nach frei en nationalen Wirtschaftsmärkten, nach Nationalstaaten, auch schon nach sozialstaatlicher Sicherhei t. Schließlich gab es auch viel an europäischer Gemeinsamkeit in d en Ursachen für das Scheitern der Revolution: in d er Überlastung der Revolution mit zu vielen groBen Zielen; in der Reformbereitscha ft, aber Revolutionsabneigung breiter Teile d es Bürgertums; in den für die Zeitgenossen unlösbaren Nationa litätenkonflikten; im Scheitern einer po litischen Allianz zw ischen Bürgertum und den städ tischen wie ländlichen Unterschichten. Breite Gemeinsamkeiten gab es allerdings auch in den Grenzen des Scheitem s und in d er Fortwirkung der Revolution: in d er dauerhaft en Politisierung der Öffentlichkeit, im wachsenden Gewicht d er Intellektuellen in ihr, in der neuen Ro lle der Massen in der Politik, im Ende einer romantisch-utopischen politischen Orientierung, in d er wachsenden Bedeutung von Verfassungen und auf längere Sicht in d er breiteren Z ula ssung von Meinungs- und Pressefre iheit.
Diese Geschichte der gemeinsamen europäischen Revolution von 1848 zu skizzieren, ist kein imaginäres Zukunftsprojekt. Sie ist im Kern bereits geschrieben. Seit dem Jahrhundertjubiläum der Revolution vor fünfzig Jahren arbeiten einzelne Historiker daran. Dazu gehören auch international bedeutende Namen. Ich erwähne nur die wichtigsten europäischen Synthesen : L.Namier schrieb scho n 1946 ein Essay, in dem er d ie Ulusionen d er europäische Revolution von 1848 und ihr Scheitern vor allem den europäischen Intellektuellen anla stete.23 Pierre Renouvin untersuchte 1948 zur 1ahrhundertfeier der Revolution von 1848 die verschiedenen Vorschläge in Europa für eine europäische Einheit in der Revol ution 1848. 24 Charles Pouthas stellte 1949 in einem europäischen Überblick zur Revolution von 1848 die gemeinsam en europäischen Entwicklungen den na tionalen Besonderheiten gegenüber.25 1ean Sigmann schrieb 1970 einen gründlichen europäischen Überblick über d.ie Revolution von 1848, verfolgte dabei allerdings vor allem die inner-
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europäische Vielfalt und Unterschiedlichkeiten.26 Jacques Go· d echo t schrieb 1971 die lange Vorgeschichte und Geschichte der Revolutio n von 1848 in einem chronologischen europäischen Überblick.27 Peter N. Steams behandelte 1974 in einer europäi· schen Gesamtschau die Hauptträgerschichten und Hauptgeg· ner, die räumliche Ausstrahlung und da s Scheitern, das Wei·ter· wirken der Revolution von 1848 als Ganzes.28 Theodor Schieder schrieb 1977 ein Buchkapitel über ).die Revolution von 1848«, in dem er intensiv auf die nationalen Geschichten dieser Revolutio n einging, aber auch breit die gemeinsamen europäischen Ursachen und Folgen behandelte.29 Roger Price veröffentlichte 1988 eine kurze europäische Darstellung der Revolution 1848, ihrer Ursachen, ihres Ablaufs, ihrer Unterdrückung und ihrer Weiterwirkung.)O Dieter Langewiesche behandelte 1988 in einer gelungenen Forschungssynthese die Debatte der Hi storiker über die Ursachen der Revolutionen von 1848 und über die Gründ e für ihr Scheitern, erfaBt dabei ebenfalls die Revolution von 1848 in ihrer europäischen Gesamtheit. 31 Jonathan Sperber befaBte sich 1994 im europäischen Zusammenhang mit dem sozia len und politischen Kontext, dem Ereignis, den Phasen und den Auswirkungen der Revolution von 1848.32 Alle diese und andere Historiker sprechen zwar meist diszipliniert von den Re· volutionen von 1848, präsentieren sie aber über weite Passagen als einen historischen Gesamtgegenstand, schreiben letztlich über die Revolution von 1848.),3 3. Die Revol utio n von 1848 wird in der Literatur über die Ereign iskette der groBen europä ischen Revoluti onen unterschätzt. Sie war nicht einfach ein Abklatsch der französischen Revo lution auf Sparflamme, unoriginell, kürzer, rasch gescheitert. Sicher brachte die Revolution von 1848 für das Konzept der Menschenrechte, der Machtteil ung zwischen Parlament und Monarch, des libera len Wirtschaftsmarktes, d er sozialstaatlichen Sicherung keine grundsätzlich neuen Ideen hervor. Sie enthielt aber d och eine ganze Reihe von neuen Entwicklungen. Sie war weit stärke r als die Revolution von 1789 eine internationale Revolution . Sie war nicht mehr wie noch die französi· sche Revol ution von 1789 eine Revolution in nur einem Land mit groBen europäischen Folgen, sondern umgekehrt eine europaweite internationale Revolution, die bisher allerdings primär in ihren nationa len Folgen gesehen wurde. Die Revolution 1848 war darüber hinaus von vornherein weit stärker als die
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französische Revolution von 1789 vom europäischen Nationalismu s geprägt. Dieser Nationalismus war zumindest in Deutschland und in der Habsburger Monarchie ein entscheidender Faktor für ihr Scheitern. Die französische Revolution von 1789 dagegen begann als internationale Menschenrechtsrevolution. Auch wenn sie nach und nach vom französischen Nationalismus eingeholt und bestimmt wurde, begründete sie doch eine lange, bis heute weiterwirkende Tradition internationaler Menschenrechtsbewegungen.34 Sch ließlich war die Revolution von 1848 nicht nur kürzer, sondern scheiterte auch eindeutiger als die großen vorhergehenden Revolutionen . Sie markiert dabei das Ende der Serie von großen Revolutionen, die aus illlleren sozialen und politischen Krisen entstanden und entweder die Umverteilung der Macht durch eine Verfassung - dafür steht eher die französische Revolution von 1789 - oder die Durchsetzung eines Nationa lstaa tes - dafür steht eher die amerikanische Revolution - erbrachten. Revolutionen brachen nach 1848/ 49 in Europa in der Regel nur noch aus, wenn sich - wie am Ende des preußisch-französischen Kriegs 1870/71 die Kommune oder am Ende des Ersten Weltkriegs die Revolution von 1917 und die Revolution von 1918 - Herrschaftssysteme durch einen verlorenen Krieg selbst grundlegend geschwächt hatte. Dieses Ende der langen Kette der klassischen westl ichen Revohitionen h
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Sicht doch s tärker als d ie französische Revolution von 1789 ein dauerhafter Schub bei der Durchsetzung der Kernfreiheiten e i ~ ner funkti onierenden politischen Öffentlichkeit, der Meinungsund Pressefreiheiten. Auf die französische Revolution von 1789 fo lgte ei ne Zeit der verschärften Meinungs- und Pressekontrolle, wie sie das Ancien Regime in weiten Teilen Europas nicht gekannt hatte. Nach d er Revolution von 1848 hingegen erreichten die intellektuellen in den meisten europäischen Ländern nach einer vorübergehenden Repressionszeit einen recht großen Entfaltungsspiel raum . Trotz aller weiterbestehenden Bed rohungen und Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreihei t war die Zeit nach 1848 die eigentliche Periode des Aufs tiegs de r Intellektuellen zu einem Faktor der Politik.36 4. Es ist schließlich auch nicht einzusehen, warum die Revolution von 1848 nur Kembestandteil von nationaler Geschichtsinterpretation sein kann und warum sie die Historiker der eu~ ropäischen Einheit bisher eher links liegen ließen. Auch für eine Geschichte Europas, die die Einheit Europas und das heutige europäische Selbstverständnis als Fluchtpunkt wählt, is t die Re~ volu tion von 1848 bedeutsam. Mehrere Argumente sprechen dafür. - Eine Geschichte der europäischen Einheit kann nicht nur eine Geschichte von Einhei tschüben sein, sondern sollte auch diejenigen Perioden als Teil der europäischen Geschichte aufnehmen, in denen Gegentendenzen zu einem geteilten, zersplitterten, durch innere Konflikte geschlagenen Europa im Vordergrund stehen. Nur aus solchen Perioden der Zersplitterung Europas lassen sich spätere Einheitstendenzen verstehen. Zudem verschwinden Einheitstendenzen niemals völlig. Auch im Zeitalter des Höhepunktes des Nationalstaates blieb Europa eine Einheit als Zivilisation, und viele Europäer verstanden Europa in diesem Sinn auch als Einheit. Auch wenn die Revolution von 1848 in ihrer Wirkung im ganzen Europa eher weiter aufsplitterte, sollte sie doch stärker in den Kanon der europäischen Geschichte aufgenommen werden. Die Revolution von 1848 war in ihren Zielen sicher nicht eu~ ropä isch. Die Einheit Europas war weder für die Anhänger noch für die Gegner der Revolution ein wichtiges Thema. Trotzdem ist damit auch unter dem Blickwinkel einer europäischen Einheit nicht alles über die Revolution von 1848 gesagt. Sie enthält andere, wichtige Tendenzen zu einer euro-
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päischen Einheit: Sie war die intemationalste und damit auch europäischste unter denn großen Revolution des 17. bis 19. Jahrhunderts. Die Revolution von 1848 wie ihre Gegenre· volution fanden auf der europäischen Bühne statt. Sie war in ihren Zielen national, aber in ihrem Verlauf und in ihren Ge· meinsamkeiten europäisch. Das ist wichtig, weil man die Ge· schichte Europas nicht nur als eine Serie von zielgerichteten europäischen Einheitsprojekten schreiben kann, sondern zu ihr auch die den Europäern oft gar nicht bewußten, zumin· dest von ihnen nicht unbedingt gewoUten Gemeinsamkeiten gehören sollten. Europa war nicht nur eine geplante und gewollte, sondern oft auch eine gelebte Zivilisation. Das trifft auch für die Revolutionen von 1848 zu: Sie gehören zur Geschichte des gelebten Europa, nicht des gew6Uten Europa. - Die Geschichte Europas sollte sich schließlich nicht in der Geschichte einer gewollten oder gelebten europäischen Einheit erschöpfen, sondern auch eine Geschichte des europäischen Selbstverständnisses, seiner kurzen und langen Wurzeln, sein. Zu dem heutigen europäischen Selbstverständnis gehören vor allem vier Elemente: innereuropäische Friedenssicherung, eine funktionierende Demokratie, ein liberaler Wirtschaftsmarkt und soziale Sicherung durch den Staat. Die Revolution von 1848 hat sicher im ersten dieser Zielsetzungen , in der innereuropäischen Friedensi cherun g eh er versagt, jedenfalls keine neuen realistischen Konzepte erbracht. Aber in den anderen Perspek tiven des heutigen europäischen Selbstverständnisses hat sie wichtige Entwicklungsschübe eingeleitet. Sie hat in manchen Ländern direkt zu liberaleren Verfassungen geführt, in anderen Ländern zumindest die Erwartungen in Verfassungen, in eine bessere Sicherung der politischen Grundrechte und in eine Machtteilung zwischen Monarch, Parlament und Gerichten, vers tärkt. Sie hat auch die Liberalisierung der europäischen Wirtschaft verlangt, im östlichen Teil Europas vor allem die Ablösung von feudalen Abhängigkeiten der ländlichen Unterschichten, in den westeuropäischen Gesellschaften eher die weitere Verbürgerlichung, die Gleichheit vor dem Recht, den Schutz des individuellen Eigentums weiter angemahnt. Sie hat schließlich besonders in Frankreich und Deutschland zu einer öffentlichen Debatte über die soziale Sicherung durch den Staat geführt. Sicher führte die Revolution von
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1848 nur in wenigen Ländern zu klaren, einschneidenden, dauerha ften Entscheidungen in diesen Bereichen. Aber sie hat zumindest diesen Forderungen breiteres Gehör in derÖf· fentlichkei t verschafft, politische Erwartungen erzeugt und dad urch dazu geführt, daß spätere liberale, manchmal auch konserva tive Regierungen diese Forderungen allmählich umsetzten. Aus allen diesen Gründen sollte die Revolution von 1848 ihren Platz auch in einer Geschich te Europas haben, die nicht nur eine Addi tion von Nationalgeschichten, son· dem ein e Geschichte der europäischen Gemeinsamkeiten is t. Sie beko mmt diesen Platz auch schon eingeräumt.
Anmerkungen 1 Vgl. die Verwend ung des Ausdrucks .. Revolutionen von 1848« bei: Dieter Langewiesche, Euro pa zwischen Res tauration und Revolution, 1815-1849, München 1985, S. 71 ff.; Jacques Godechot, Les revolutions d e 1848, Paris 1971 ; Jean Sigmann, 1848. Les revolutions romantiques et dCmocratiques d e l'Europe, Paris 1970 (engi.: 1848. The Romantic and [)e... mocratic Re volutions in Europe, Landon 1973); Peter N. 5 teams, The revolutions of 1848, Landon 1974; 5. Schmidt, Zu Problemen d e r e uropäischen bürgerlichen Revolutionen von 1848/ 49, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 27 (1979), 5. 639-659; Horst 5tuke / Wilfried Forstmann (Hg.), Die e uropäischen Revolutionen von 1848, Königstein 1979; P Jones, The 1848 revolutions, 1981 ; Jonathan Sperber, The European Revolutions, 1848- 1851, Cambridge 1994; S. Miller, Ma king modem European his tory, Ho undsmill 21997, S. lOS ff. 2 CharIes H. Pouthas, Die Komplexität von 18 48 (1949), in: Stuke / Forstmann, Die europäischen Revolutionen, 5. 29. 3 Langewiesche, Europa, 5. 71; vgl. seinen sehr kJaren Überblick übe r die Einheitlichkeit und Vielfalt de r Revolu tionen von 1848 in : ebd ., 5. 159 ff. 4 Alexis de Tocqueville, Erinnerungen 11850), 5 tuttgart 1954, 5. 52. 5 Eric Hobsbawm, The age of revolu tions 1789-1848, New York 1%2, 5. 361 f. 6 Roger Price, 1848. Klei ne Geschichte der europäischen Revolutionen, Berlin 1992,5. 9 (eng!.: The Revolutions o f 1848, Landon 1988). 7 So Sträth (Hg.), Democratisation in Scandinav ia in comparison, Göleborg 1987. 8 Schweiz: Geschichte der Schweiz und der Schweizer, Basel 1986, 5. 630 f.i Ungarn: Price, 1848. Kleine Geschichte, S. 98. 9 Vgl. R. R. Palmer, The age of the democralic revolution. A politicaJ history of Europe and America, 1760-1800, Princeton 1959; CharIes liUy,
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Hartm u t Kaelble
Die europäischen Revolu tionen, München 1993; Theda Skocpol, States and 50cial Revolution: A Comparative Analysis 01 Francc, Russia and China, Cambridge 1979; Dies., Sodal revolutions in the modem warld, Cambridgc 1994; vgl. a . j. A. Coldstone, The comparative and historical study of revolutions, Annual Review of Sociology 8 (1982). 10 Vgl. zur Einschätzung der Europadebatte in d er Revolution 1848: P. M . Lützeler, Die Schriftstel Jer und Europa. Von der Romantik h is zur Gegenwa rt, Münche n 1992, S. 144 Ef.; B. Duroselle, L'idee d 'Europe dans ]'his toire, Paris 1%5, 5. 212 fi.; Pierre Renouvin, L'idee d 'Etat- Unis d 'Europe pend an t 1a crise d e 1848. in: Actes du congres h is to rique du Centenaire de la R~volution de 1848, Pa ris 1948, 5. 31-45 (gründlicher, s keptischer Überblick); Ders., L'idee de federation europeenne dans la pensee politique du XIXe siede, Oxford 1949, S. 8 ff.; Heim Gollwitzer, Europabild und Europagedanke. Beiträge zur deutschen Geis tesgeschichte d es 18. und 19. Jahrh und erts, München 195 1, S. 323 fL ; Martin Göhring. Europäische Revolutionen als Etappen europäischen Zusammenschlusses, in: Ders. (Hg.), Eu ropa Erbe und Aufgabe, Wiesbaden 1956, S. 169 f.; V. Valentin, Geschichte des Völkerbundgedankens in Deutschland, Berlin 1920; B. Voyenne, Histoire de l'iMe europeenne, Paris 1964, S. 130 ff.; C. C u.rcio, Europa, Storia di un'idea, 2 Bde., Florenz 1958, Bd. 2, S. 681 ff.; R. H . Foerster, Eu ropa . Geschichte einer politischen Idee, München 1967, S. 280 Uf. Neben Hugo schlug auch der Belgier Louis Bara 1849 schon s upranationale Institutionen für Europa vor. Sein Vorschlag wu rde aber erst 1872 veröffentlicht (vgl. Renouvin, L'idee d ' Etats Unis, S. 38 f.). 11 Gollwitzer, Europabild, S.323; aber auch er vermag keine europäische Einheitsvo l'Stel lung in Deutschland zu präsen tieren, die eine modem e s upranationale Zielrichtung besaß und mehr als bloße internationale Allianzen vorschlug. 12 Vgl. I'rltt, UW8. Kleine Geschichte, 5.87; A. Klima, The boUrgeoIS revol ution of 184~9 in CentraJ Europe, in: R. Porter/ M oTeich, Revolution in His tory, Cambridge 1986, S. 78, 86 ff.; Martin Broszat, Zweihunde rt Jahre d eu tsche Polcnpolitik, Frankfurt / M. 11972, S. 109 ff.; Sigmann, 1848, S. 334 L; Langewiesche, Europa, S. 165 f. 13 Vgl. a ls Beispiele einer solchen Interpretation: Rene Girault, Das Eu· ropa de r Historiker, in : Raine r Hudemann / Hartmu t Kaelble / KlausSchwabe (Hg .), Europa im Bl ick der His toriker. Europäische Integ ration im 20. Ja hrhundert: Bewußtsein und Institutionen, München 1995, S. 55 ff.; V. Pomian, Europa und seine Nationen, Berlin 1990. 14 H . Lad emacher, Geschichte der N ied erlande, Darmstadt 1983, S. 227 f.; E. H . Kossmann, The Low Counlries 1780-1940, Oxford 1978, S. 192 fL, 201 ff.; Michael Erbe, Belgien, Niederlande, Luxemburg. Geschichte des niederländischen Rau mes, Stuttgart 1993, S. 243 ff. 15 Erbe, Belgien, S. 218 f.; Martin Kirsch, Der monarchische Konstitutionalismus im 19.Jahrhundert - Frankreich (1789-18n / 79) im europäischen Vergleich, Oiss. Berlin 1997, passim . 16 Steams, The revolu tions, S. 169 f.; Sigmann, 1848, S. 104 ff. 17 G. Rude, Warum gab es 1830 und 1848 in England keine Revolution?, in: Stuke / Forstmann, Die europäischen Revolu tionen, S. 42 f.; W. Langer, Das Mus ter de r städtischen Revolutionen von 1848, in : ebd ., S. 49 ff.
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1848: Eine eu ropäische Revolution?
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18 J.c. Beckett, Geschichte Irlands, Stuttgart 1997, S. l96ff.; Steams, The re\'olutions, S. 171. 19 D. Dakin, The unification of Greece 1770- 1923, Landon 1973, S. 81 (Dakin sieht allerdings keinen Zusammenhang mit den anderen Revolutionen in Europa); W. L Bcmecker/ H . Pietschmann, Geschichte Spaniens, Stullgart l l997; Langewiesche, Europa, S. 71. 20 Po uthas, Die Komplexität, in: Stuke/ Forstmann, Die europäischen Revolutionen, S. 29; Eric H obsbawrn, Die Blütezeit des Kapitals. Eine Kulturgesch ichte de r Jahre 1848-1875, Franklurt/ M. 1975, S. 26; Theodor Schieder, Staatensystem als Vonnacht der Welt 1848-1918, Frankfurt / M. 11982, S. 18. 21 Vgl. d ie verdienstvolle synoptische Ereignistafel bei Langewicsche, Europa, S. 237 ff. 22 C hristophe Charle, Vordenker der Modeme. Die Intellektuellen im 19. Ja hrhundert, Frankfurt / M . 1997, S. 92 1.; vgl. auch L Namier, 1848: The revolution of intellectuals 11 9461, Neuausgabe Oxford 1992. 23 N amier, 1848; vgJ. zuvor schon : B. C roce, Geschich te Europas im 19. Jah rhu ndert 119321, Zürich 1979. 24 Renouvin, L'idee d 'Etats Unis; kurz auch Göhring, Europäische Revolutione n. 25 Pouthas, La complexite de 1848, in: 1848. Revue des revolutions contempo raines 184 (1949), S. 1-1 3 (deutsch in : Stuke/ Forstmann, Die europäi· sehen Revolutionen); vgl. auch Priscilla Robert.son, Revolutions o f 1548. A sodal history, New Vo rk 1952. 26 Sigmann, 1848. 27 Godechot, Les revolutions. 28 Stea ms, The revolutions, S. I1-68, 167- 250. M. Kossok s prach in einem kurz danach veröffentlichten Aufsatz zwar von der europäischen Revolution von 1848, interessierte sich aber ausschließlich fü r das von Marx postulierte Entwicklungsgefälle zwischen den einzelnen nationalen Revolutionen, also nur fü r innereuropäische Unterschiede. Vgl. M. Kossok, Bemerkungen zur Frage d es europäischen Charakters der Revolution 1848/ 49, in: Wissenschaftliche Zeitschri ft der Universitä t Rostock 1974, S. 507-51O. 29 Theodor Schieder, Staatensystem, S. 11-57. 30 Price, 1548. K1eineGeschichte; ein interessanter internationaler Überblick, aber leider unter einem nicht begründeten Ausschluß von Frankreich und Ita lien: Klima, The bourgeois revolution. 31 Langewicsche, Europa, S. 161-170; vgl. auch Ders., Die Rolle der Militärs in den europäischen Revolutionen von 1848/ 49, in: W. Bacho fer / W. Fischer (Hg.), Ungarn - Deutschland, München 1983; Ders., Gesellschaftsund verfassungspolitische Handlungsbedingungen und Zielvorstellungen europäischer Liberaler 1848, in: Wolfgang Schieder (Hg .), Liberalismus in der Gesellschaft des deutschen Vormärz, Göttingen 1983. 32 Sperber, The European Revolutions. 33 Ich habe aus Zeitgründen darauf verzichten müssen, die Überblicks· werke zur Geschichte Europas systematisch auf die Behandlung der Rev~ lution von 1848 durchzugehen. Fürden Wandel d es Blicksder Europäer auf 1848 wäre das sicher aufschlußreich .
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Hartmul Kaelble
34 Zuletzt: S. Wahnich, L' impossible citoyen. L'l!:lranger dans le disrollIS de la revolution francaise, Paris 1997.
35 Anregend zum Vergleich von 1789 und 1848: E. Labrousse 1848, 1830, 1789. Wie Revolutionen entstehen, in: I. A. Hartig (Hg .), Geb1rt der bürgerlichen Gesellschaft 1789, Frankfurt / M. 1979; Sperber. The Eu:opean Revolutions. S. 245 ff. 36 Charle, Vordenker, S. 92 ff.
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Autorin und Autoren
RÜDlGER VOM BRUCH, geb. 1944, Dr. phil., seit 1993 Professor fü r Wissenschaftsgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Veröffetltlic/ulIIgetl u. 11.: Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung. Gelehrtenpolitik im deutschen Kaiserreich, H us um 1980; Weltpolitik als Kulturmission. Paderbo m 1982; Hl'.rausgeber von: Weder Kommunismus noch ~pita lismus. BürgerlicheSozialreform in Deutschland vom Vormärz bis zur Ära Adenauer, München 1985; Ku ltur und Kulturwissenschaften um 1900, 2 Bde., StulIgart 1989 u. 1997; H istorikerlexikon, München 1991. KONRAD C... N1S, geb. 1938, Dr. phii., seit 1980 Professor fü r Deutsche Geschichte an der H umboldt-Universilät zu Berlin. Verö/frtltlichutlge'l U. Il .: Bisma rc k und Waldersee. Die außenpolitischen Krisenerscheinungen und das Verhalten des Generals tabes 1882-1890, Berlin 1980; Von Bismarck zur Weltpolitik. Deutsche Außenpolitik 1890 bis 1902, Berlin 1997. LAURENZ DEMPS, geb. 1949, Dr. phii., Professor für Territorialgeschichte an der Humboldt-Uni versitäl. Veriiffentlichwlgen u. a.: Berlin wird Weltstadt, 2. Aufl ., Leipzig 1997 (zus. mit Harald Brost); Der Gendarmen-Markt, Die Neue Wache, Der Schiffbauerdamm, Der Pariser Platz, Das Hotel Adlon (zus. mit Carl Ludwig Paeschke). WOLFG .... NG H .... RDTWlG, geh. 1944, Dr. phi!., 1985-1991 Professor fü r Neuere Geschichte an der Universität Erlangen-Nümberg, seit 1991 Professor für Neuere Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Veröffrntlic/IU'I gen 11. 11.: Geschichtsschreibung zwischen Alteuropa und moderner Welt. Jarob Burckhardt in seiner Zeit, GÖllingen 1974; Vormärz. Der m onarchische Staat und das Bürgertum, 4. ergo Aufl., München 1997; Geschichtskultur und Wissenschaft, München 1990; Nationalis mus und Bürgerkultur in Deutschland, 1500-1914, Cöllingen 1994; Genossenschaft, Sekte, Verein. Bd . 1: Vom Spätmittela lter bis zur Französischen Revolu tion, München 1997; Herausgeber von: Übe r das Studium der Geschichte, München 1990; Soziale Räume in der Urbanisierung. München 1990 (zus. mit Klaus Tenfelde); Deutschlands Weg in die Modeme. Po litik, Gesellschaft, Kultur, München 1993 (zus. mit Harm-Hinrich Brandt); Kulturgeschichte Heute, Göttingen 1996 (zus. mit Hans-Ulrich Wehler).
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Autorin und Autoren
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