Der • •• Inspirierte [eser
Zentrale Aspekte biblischer Hermeneutik
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Der • •• Inspirierte [eser
Zentrale Aspekte biblischer Hermeneutik
selbstverstär.td lien. » l.f errneneuti K
ISBN 3-525-01618-2
Ulrich H. J. Körtner
Der inspirierte Leser Zentrale Aspekte biblischer Hermeneutik
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
Die !hutsche Bibliothek - CIP-Einhei.uaufoaJune
KtJrtner, Ulrich H. J.: Der inspiriene Leser: zentrale Aspekte biblischer Hermeneutik / Ulrich H. J. Körtner.Göningen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1994 (Sammlung Vandenhoeck) ISBN 3-525-01618-2
Du Umschlagbild zeigt die Holzplastik »Lesender Klosterschüler« von Ernst Barlach, 1930. C Ernst und Hans Barlach Lizenzverwaltung.
C 1994 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Printed in Germany. Du Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechdich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsge· setzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfliltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Text & Form, Pohle Druck und Einband: Hubert & Co., Göttingen
Für Kerstin Julia und Tobias Jasper
Inhalt Vorwort ................................................................................. 11 Zur Einführung ................................................................. 13
Erstes Kapitel A lies hat seine Zeit. Not und Verheißung der Sprachlosigkeit in Theologie und Kirche .................................. 18 1. 2. 3. 4. 5.
Zacharias ......................................................................... Sprachverlust und Glaubenskrise .............................. Ursachen der Sprachlosigkeit ..................................... Theologie und Metaphysik ......................................... Hoffnung in dürftiger Zeit .........................................
18 20 26 33 38
Zweites Kapitel Ratlos vor der BibeL Konturen einer Hermeneutik des Unverständnisses ........................................................ 44 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Paradigmenwechsel? ............, ....................................... Hermeneutische Zirkelschlüsse ................................ Die Sünde im Verstehen .............................................. Unverständnis und Methode ...................................... Der Vorgang Autonomie .............................................. Glauben und Verstehen ...............................................
44 47 51 52 57 59
Drittes Kapitel &hrift und Geist. Ober Legitimitilt und Grenzen allegorischer&hriftauslegung ......................................... 62 1. Zurück zum vierfachen Schriftsinn? ........................ 62 2. Allegorie und Allegorese ............................................. 67
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3. Geistliche Exegese und mehrfacher Schriftsinn .... 69 4. Recht und Grenzen allegorischer Schriftauslegung ........................................................... 78
Viertes Kapitel Leetor in Bihlia. Schriftauslegung zwischen Rezeptionstisthetilr. und vieifachem Schriftsinn ............ 88 1. 2. 3. 4.
Autor und I...eser ............................................................ 88 Singularisierende und pluralisierende Exegese.... 90 Objektiver Textsinn? .................................................... 95 Rezeptionsästhetik und Hermeneutik des Unverständnisses .......................................................... 99 5. Hintersinn und Vordersinn ....................................... 102 6. Polyphonie und Einklang der Schrift ...................... 104 7. Schriftsinn und literarische Hermeneutik ............. 108
Fünftes Kapitel Formgeschichte und Rezeptionstisthetik. Zur Bedeutung der literarischenjar die biblische Hermeneutilr. ..................................................... 114 1. Formgeschichte und literarische Hermeneutik .... 114 2. Kritik der Formkritik oder: Formengeschichte versus Formgeschichte ................................................ 121 3. Formengeschichte und biblische Hermeneutik .... 130
Sechstes Kapitel Arbeit am Mythos? Zum Verhältnis von Christentum und mythischem Denken bei Rudolf Bultmann ......... 13 7 1. 2. 3. 4. 5.
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Falsche Alternativen .................................................... 137 Der Mythosbegriff Rudolf Bultmanns .................... 143 Weltbild und Mythos .................................................. 150 Mythos und Metapher ................................................ 153 Zwischen Mythos und Metaphysik .......................... 158
Siebentes Kapitel Heißt Glauben klugen Fabeln folgen? Ober Mythos und Wahrheit im Christentum .............. 166 1. Entmythologisierung? ................................................. 166 2. Historische Skepsis ...................................................... 169 3. Erfundene Wahrheit ................................................... 171
Register 1. Namenregister (Auswahl) .......................................... 175 2. Sachregister ................................................................... 176 3. Bibelstellenregister ...................................................... 179
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Vorwort Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin. Paulus, 1. Korinther 13,12
An Veröffentlichungen zur theologischen und biblischen Hermeneutik herrscht gegenwärtig kein Mangel. Der steigende Bedarf an Verstehens- und Auslegungshilfen wie der zunehmende Pluralismus konkurrierender hermeneutischer Methoden zeigt, daß sich das Verstehen des Christentums und seiner grundlegenden Urkunde, der Bibel, nicht mehr von selbst versteht. Wer nach fertigen Antworten auf die offenen Fragen im Umkreis einer biblischen Hermeneutik verlangt, sucht sie in dem vorliegenden Buch vergebens. Es beschreibt lediglich einige Anläufe, sich einen Weg durch das dornige Gestrüpp des Unverstandenen zu bahnen, ohne ein hermeneutisches Zauberwort zu kennen. Die nachfolgenden Überlegungen zu einer biblischen Hermeneutik sind unfertig und fragmentarisch. Mir scheint, als sei es unserem heutigen Verstehen der christlichen Botschaft überhaupt bestimmt, ein Fragment zu bleiben. Diese Erfahrung ist durchaus heilsam, desillusioniert sie doch die Allmachtsphantasien einer Hermeneutik, die alle Wirklichkeit ihren universalen Auslegungsregeln glaubt unterwerfen zu können und einen Totalitätsanspruch der Verstehbarkeit erhebt, der seinem Wesen nach totalitär ist. Die biblischen Texte 11
sprechen demgegenüber von einem Erkennen, das Stückwerk bleibt und dessen Ziel nicht die hermeneutische Machtergreifung des erkennenden Subjektes, sondern die Erkenntnis seines Erkanntseins ist. Danken möchte ich an dieser Stelle all jenen, die zur Entstehung der vorliegenden Studien und ihrer Veröffentlichung beigetragen haben, nicht zuletzt Herrn Verleger Dr. Arndt Ruprecht. Frau stud. theol. Marianne Karner danke ich für die Durchsicht des Manuskripts und ihre Mithilfe bei der Korrektur der Druckfahnen. Das vorliegende Buch ist in einer Zeit entstanden, in welcher mein beruflicher Werdegang das Leben meiner Familie in starkem Maße bestimmt und verändert hat. Dessen eingedenk, widme ich dieses Buch meinen Kindern. Wien, im Frühjahr 1994
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illrich H. J. Körtner
Zur Einführung Wer erst wieder an die Texte gehen will, wenn die Theorie fertig ist, der wird für diese Texte kaum noch Leser finden. Rainer Warning
Seit den Anfangen der Moderne erleidet das Christentum einen fortschreitenden Bedeutungsverlust, den offensichtlich auch die sogenannte moderne Theologie nicht aufhalten kann. Mögen die christlichen Kirchen als Institutionen stabil genug sein, um in ihrer bisherigen Form noch lange fortzubestehen, so scheint sich doch der Geist des Christentums auch in ihnen zu verflüchtigen. Ob er sich in der nachaufklärerischen Moderne lediglich von seiner kirchlich-institutionellen Form zunehmend befreit, um in einem nachkirchlichen Zeitalter in Kultur und Gesellschaft frei zu flottieren, darf bezweifelt werden. Eher hat es den Anschein, als zehre die nachchristliche Religiosität von einer großen Erinnerung, die mehr und mehr zu verblassen droht. Der zu beobachtende Bedeutungsverlust des Christentums geht einher mit einem Sprachverlust des christlichen Glaubens. Ja, man wird sagen müssen, daß er geradezu im Verlust der Sprache besteht, mit welcher auch der Bezugspunkt des Glaubens, Gott selbst, zu entschwinden droht. Solchermaßen auf die Anfange des Verstehens zurückgeworfen, ahnen wir bestenfalls nur noch stückweise, wovon im Christentum eigentlich die Rede ist. Das Verstehen will allenfalls bruchstückhaft gelingen, weil wir als Angehörige der Moderne ein ge13
brochenes Lebensverhältnis zum christlichen Glauben haben. Diese Einsicht hat weitreichende Folgen für die theologische, näherhin die biblische Hermeneutik, deren Fragen das vorliegende Buch gewidmet ist. Mit unserem Lebensverhältnis zum christlichen Glauben ist auch der hermeneutische Zirkel unserer Bibellektüre nachhaltig gestört. An die Stelle des Voroerstibulnisses tritt das Unverständnis als zentrale Kategorie theologischer Hermeneutik. In kritischer Abgrenzung gegenüber einer »Hermeneutik des Einverständnisses«• skizziert die vorliegende Arbeit Konturen einer theologischen Hermeneutik des Unverständnisses. Wichtige Anregungen erhält eine Hermeneutik des Unverständnisses durch den Forschungszweig der sogenannten literarischen Hermeneutik. Ihre Grundeinsichten versucht das vorliegende Buch für die Diskussion, die seit geraumer Zeit um den neuen Methodenpluralismus in der Bibelauslegung sowie um das Projekt einer gesamtbiblischen Theologie geführt wird, fruchtbar zu machen 2• Im folgenden wird die These vertreten, daß eine gesamtbiblische Hermeneutik die Gestalt einer literarischen Hermeneutik annehmen muß. · Zwei wesentliche Erkenntnisse der literarischen Hermeneutik sind für unser Thema von Belang. Zum einen weisen ihre Vertreter darauf hin, daß die Verstehensbedingungen schriftlicher Texte grundlegend anders als Vgl. P. Stuhlmacher, Vom Verstehen des Neuen Testaments. Eine Hermeneutik (NTD Erg. 6), Göttingen 1979, bes. S. 205ff. 2 Zur jüngeren Forschungsgeschichte siehe M Oerni.ng, Gesamtbiblische Theologien der Gegenwart. Das Verhältnis von AT und NT in der hermeneutischen Diskussion seit Gerhard von Rad, Stuttgart g1987. Einblick in die gegenwärtige Diskussion geben die bisher veröffentlichten Themenbände des >Jahrbuchs für Biblische Theowgie< (JBTh) oder auch die Beiträge des 7. Europäischen Theologenkongresses, der 1990 in Dresden zum Thema »Sola scriptura« veranstaltet wurde. Siehe H H Schmid/ J. Mehi.Juzwen (Hg.), Sola scriptura. Das reformatorische Schriftprinzip in der säkularen Welt, Gütersloh 1991.
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diejenigen mündlicher Kommunikationsvorgänge sind. Sie kritisieren an der im 20. Jahrhundert in Theologie und Philosophie vorherrschenden universalen Hermeneutik, daß diese die Textualität des Textes, seine Beschaffenheit als materielles Artefakt, welches gegenüber seinem Autor autonom ist, als grundlegende Voraussetzung seines möglichen Verstehens nicht hinreichend bedacht hat. Die Konsequenz dieser Einsicht besteht darin, sich vom Programm einer universalistischen Hermeneutik der Wrrklichkeit im allgemeinen zu verabschieden und für die unterschiedlichen Formen menschlicher Kommunikationen unterschiedliche Spezialhermeneutiken zu entwickeln. Für Texte ist dieses das Programm einer literarischen Hermeneutik3• Zum anderen hat die literarische Hermeneutik die konstitutive Rolle des Lesers beim Zustandekommen des möglichen Sinns jedes Textes entdeckt. Mit dem Leser gewinnt die textpragmatische Frage der Applikation fundamentale Bedeutung für die Beantwortung der Frage, worin der Sinn eines Textes besteht. Dieser ist, wie sich herausstellt, nicht mit der Intention des Autors oder dem Wortbestand des Textes feststehend gegeben, sondern konstituiert sich immer wieder neu im Akt des Lesens4. Die beiden genannten Grundeinsichten literarischer Hermeneutik sind für das Kanonproblem von größtem Belang, erlauben sie es doch, den biblischen Kanon als Lesefrucht zu interpretieren, als Resultat nicht nur eines individuellen Leseaktes, sondern einer Lesetradition frühchristlicher und altkirchlicher Gemeinden und zugleich als Anleitung zu einer fortgesetzen synchronen Lektüre der in ihm zusammengestellten Texte, deren 3 Einleitend sei nur verwiesen auf P. Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik, hg. v. J. Bollack u. H. Stierlin, Frankfurt a.M. 1975. 4 Siehe vor allem W. lser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung (UTB 636), München 11 1984.
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Einheit freilich nicht ein fixer Sinnbestand ist, sondern durch kombinatorische Lektüre im Akt des Lesens immer wieder neu entstehen soll. Werden die Einsichten literarischer Hermeneutik ernstgenommen, so kommt dem Kanon nicht eine historisch sekundäre, sondern eine hermeneutisch fundamentale Rolle zu. Das Faktum des Kanons ist gewissermaßen die textlich-materielle Voraussetzung einer Spezialhermeneutik der biblischen Literatur. Damit ist nicht einer Hermeneutica sacra das Wort geredet, wohl aber einer literarischen Hermeneutik, welche unter allgemeinen Verstehensbedingungen den besonderen Verstehensbedingungen kanonisierter Texte Rechnung trägt. Wie jede literarische Hermeneutik hat auch eine biblische Hermeneutik nach dem impliziten Leser der kanonisierten Texte zu fragen 5• Die vorliegenden Studien vertreten die These, daß der von den biblischen Texten implizierte Leser ein vom Geist Gottes inspirierter Leser ist. Der Sinn der biblischen Texte konstituiert sich neu in solchen Akten des Lesens, in welchen ihr Leser sich selbst in einer Weise neu verstehen lernt, welche die Sprache der christlichen Tradition als Glauben bezeichnet. Das Problem der Inspiration kehrt also wieder in die theologische Debatte ein, verlagert sich aber vom Text oder seinem Autor auf den Leser und den Akt des Lesens. Inspiration im Sinne des Zum-GlaubenKommens ist aber nicht die Frucht der besonderen Auslegungsregeln einer Hermeneutica sacra, sondern eine unter allgemeinen, von einer literarischen Hermeneutik beschreibbaren Verstehensbedingungen bestehende Möglichkeit. Als literarische Hermeneutik hat eine biblische Hermeneutik zu reflektieren, daß es ein in der Struktur der biblischen Texte begründetes heili-
5 Vgl. W. Iser, Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett {UTB 163), München 1972.
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gendes Verstehen, einen intellectus bzw. eine applicatio
sancti.ficans gibt. So hilfreich die Einsichten literarischer Hermeneutik für die Begründung einer gesamtbiblischen Hermeneutik sind, so problematisch ist freilich eine unkritische Übernahme ihrer Prämissen seitens der Theologie6• Das Programm einer literarischen Hermeneutik nötigt dazu, das reformatorische Schriftpinzip neu zu durchdenken, weil sich dessen theologische Voraussetzungen mit den hermeneutischen Prämissen der Rezeptionsästhetik nicht ohne weiteres zur Deckung bringen lassen. Die vorliegenden Studien plädieren darum für einen kritischen Umgang theologischer Hermeneutik mit den Ergebnissen der neueren Literaturwissenschaften. Das vorliegende Buch untersucht zentrale Aspekte einer rezeptionsästhetisch orientierten biblischen Hermeneutik, ohne den Anspruch zu erheben, ein geschlossenes hermeneutisches Konzept zu entfalten. Einige Kapitel sind aus Aufsätzen erwachsen, die bereits an anderer Stelle publiziert worden sind7• Für die vorliegende Veröffentlichung wurden sie nochmals durchgesehen und umgearbeitet.
6 So auch mit Recht G. Sauter, Die Kunst des Bibellesens, EvTh 52, 1992, S. 347-359, hier S. 351ff. 7 Siehe U. Körtner, Alles hat seine Zeit. Eine Rede über Not und Verheißung der Sprachlosigkeit in Theologie und Kirche, Thßeitr 25, 1994, S. 129-144; ders., Schrift und Geist. Über Legitimität und Grenzen allegorischer Schriftauslegung, NZSTh 36, 1994, S. 1-17; ders., Leetor in Biblia. Schriftauslegung zwischen Rezeptionsästhetik und vierfachem Schriftsinn, WuD 21, 1991, S. 215-233; ders., Arbeit am Mythos. Zum Verhältnis von Christentum und mythischem Denken bei Rudolf Bultmann, NZSTh 34, 1992, S. 163--181.
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Erstes Kapitel
Alles hat seine Zeit Not und Verheißung der Sprachlosigkeit in Theologie und Kirche Schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit. Koh 3,7
1. Zacharias »Als bemerkenswerte Episode sei erwähnt, daß ich kurz vor Weihnachten 1964 so etwas wie einen kleinen Schlaganfall erlebte, der mich (vielleicht ein aufgehobener Finger angesichts des viel zu Vielen, das ich in meinem Leben geredet habe?) auf einen halben Tag zum Verstummen brachte, bis - möglicherweise ein unterbewußter Protest gegen die unter dem heute herrschenden Volk der Neutestamentler übliche Geringschätzung des dritten Evangelisten, jedenfalls zur Erstaunung der mich betreuenden Diakonisse - der Name >Zacharias< {Luk. 1,221) zur Beschreibung meines Zustandes deutlich über meine Lippen kam. Verhältnismäßig bald habe ich mich dann auch in weiteren Worten zur Lage und zur Sache äußern können. Ähnliches ist mir denn auch seither nicht mehr widerfahren- immerhin!«' Der dies berichtet, ist kein geringerer als der greise Theologe Karl Barth im Vorwort zum letzten noch von ihm selbst veröffentlichten Band seiner unvollständig 1 K. &rth, Kirchliche Dogmatik IV /4, Zürich 1967, S. Vill.
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gebliebenen >Kirchlichen Dogmatik<. Er, der in seinem langen Leben wahrlich viel geredet hatte, der gepredigt, gelehrt und in den kirchlichen und politischen Auseinandersetzungen seiner Zeit immer wieder öffentlich Stellung bezogen hatte, empfand den Schlaganfall als heilsamen Schock. Solch heilsamer Schock ist zu manchen Zeiten auch für die Kirche kein Schaden, zumal für die evangelische Kirche, die sich betont als Gemeinschaft des Wortes versteht. Wer heutzutage unter der Not leidet, welche die in Theologie und Kirche zu beklagende Sprachlosigkeit des christlichen Glaubens bereitet, sollte sich durch die Geschichte von Zacharias, dem Vater Johannes des Täufers, daran erinnern lassen, daß das Verstummen-Müssen heilsam sein kann in einer Institution, in der täglich und ständig geredet wird. Gewiß, wir reden viel in der Kirche. Aber haben wir einander und anderen auch immer etwas zu sagen? »Solange man schweigt, hat man noch etwas zu sagen«, belehrt uns der jüdische Aphoristiker Elazar Benyoetz2• Das Schweigen hilft zur Besinnung auf das, was wirklich gesagt werden muß. Oft aber muß es uns erst wie Zacharias die Sprache verschlagen, bis wir endlich einmal schweigen und den Mund halten. Könnte es nicht sein, daß wir Christen am Ausgang dieses Jahrhunderts erst einmal zum Schweigen gebracht werden müssen, bevor wir den christlichen Glauben noch einmal neu zur Sprache bringen können? Muß uns Gott vielleicht wie Zacharias den Mund verschließen, damit wir überhaupt neu hören lernen, was Gott zu sagen hat, bevor wir selbst wieder zu reden anfangen? »Alles«, so gibt der Prediger Salomo zu bedenken, »hat seine Zeit. Schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit« (Koh 3, 7). Wie kann die Botschaft des christlichen Glaubens zeitgerecht formuliert werden? Wie muß 2 E Benyol!tz, Worthaltung. Sätze und Gegensätze, München 1977, s. 27.
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die Sprache der Verkündigung heute beschaffen sein, damit sie bei unseren Zeitgenossen Gehör fmdet? Was ist an der Zeit, daß es von uns Christinnen und Christen gesagt wird? Diese Fragen werden heute oft gestellt. Viel schwerer aber wiegt eine ganz andere Frage: ob es für die Kirche überhaupt an der Zeit ist zu reden und nicht vielmehr zu schweigen?
2. Sprachverlust und Glaubenskrise Nicht selten wird über den Sprachverlust kirchlicher Verkündigung Klage geführt. Und welche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Kirche leiden nicht unter der Sprachnot des Glaubens und seiner geringen Resonanz, die er in der heutigen Zeit findet. Aber sind wir uns des Ausmaßes der Krise hinreichend bewußt, wenn wir lediglich nach neuen Methoden der Verkündigung fragen? Vielleicht muß uns ja erst noch viel bewußter werden, wie sehr unsere Glaubenssprache vom Verfall bedroht ist. 1901 offenbarte Hugo von Hofmannsthai seine Krise als Dichter und seine Verzweiflung über den Verlust der eigenen Ausdrucksmöglichkeiten in seinem fiktiven Brief des Lord Chandos an Francis Bacon. Lord Chandos sieht sich genötigt zu erklären, vveshalb er, der früher durch einige Dichtungen hervorgetreten ist, seit nunmehr schon zwei Jahren nichts mehr veröffentlicht und seine literarische Arbeit gänzlich eingestellt hat. Chandos ist an der herkömmlichen Sprache und ihren Aussagemöglichkeiten irre geworden. Wie seine Sprache, so hat auch er selbst jede Ausdruckskraft verloren. Der Zerfall seiner Sprache hat nicht einmal die religiösen Auffassungen des Lords verschont. »Mir haben sich«, wie er gesteht, »die Geheimnisse des Glaubens zu einer erhabenen Allegorie verdichtet, die über den Feldern meines Lebens steht wie ein leuchtender Regenbogen, in einer stetigen Ferne, immer bereit, zurückzuweichen, wenn 20
ich mir einfallen ließe, hinzueilen und mich in den Saum seines Mantels hüllen zu wollen« 5• Wie die Sprache der Religion ist dem adligen Dichter auch diejenige der Begriffe, die Sprache des Denkens, entglitten: »die abstrakten Worte«, so bekennt er, »denen sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze«4 • Befinden wir uns in Theologie und Kirche nicht in vergleichbarer Lage? Die Sprache des christlichen Glaubens ist uns überliefert, sie rührt uns irgendwie an, aber sobald wir auszudrücken versuchen, wovon sie unserer Meinung nach spricht, ohne das früher Gesagte lediglich zu wiederholen, ohne uns also der Sprache K.anaans bedienen zu wollen, entzieht sich der Gegenstand unseres Glaubens unserem Zugriff. Bisweilen sind wir nicht einmal mehr sicher, ob die großen Worte der biblischen Überlieferung und der christlichen Tradition denn wirklich mehr sind als eine bloße Allegorie für die menschlich allzumenschliche Sehnsucht nach irgendeinem Sinn des Lebens, vielleicht auch nur eine trügerische lllusion. Und die theologische Begrifflichkeit, mit deren Hilfe wir uns der Sache des Glaubens gedanklich zu nähern versuchen, zerfallt zu Staub, der uns wie Sand durch die Finger rinnt. Oder übertreibe ich? Ist das Ausmaß unserer Sprachlosigkeit vielleicht doch nicht so groß? Geht es nur darum, die christliche Verkündigung wieder einmal zu modernisieren, den veränderten Zeit- und Lebensumständen anzupassen, dem Weltbild und Lebensgefühl einer aufgeklärten und mündigen Welt? Dietrich Bonhoeffer, der gern als Vordenker eines radikal aufgeklärten Christentums in Anspruch genom3 H v. HofmannstJuzl, Der Brief des Lord Chandos, in: 0. Loerke/ P. Suhrkamp {Hg.), Deutscher Geist. Ein Lesebuch aus zwei Jahrhunderten, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1969, S. 661-672, hier S. 664f. 4 A.a.O. {Anm. 3), S. 665.
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men wird, empfand seinen eigenen Sprachverlust freilich nicht minder radikal wie Hofmannsthals Lord Chandos5• Anläßlich der Taufe seines Patenkindes Dietrich Wilhelm Rüdiger Bethge schrieb er im Mai 1944 in der Gestapo-Haft: »Du wirst heute zum Christen getauft. Alle die alten großen Worte der christlichen Verkündigung werden über Dir ausgesprochen und der Taufbefehl Christi wird an Dir vollzogen, ohne daß Du etwas davon begreifst. Aber auch wir selbst sind wieder ganz auf die Anfänge des Verstehens zurückgeworfen. Was Versöhnung und Erlösung, was Wiedergeburt und heiliger Geist, was Feindesliebe, Kreuz und Auferstehung, was Leben und Christus und Nachfolge Christi heißt, das alles ist so schwer und so fern, daß wir es kaum mehr wagen, davon zu sprechen. In den überlieferten Worten und Handlungen ahnen wir etwas ganz Neues und Umwälzendes, ohne es noch fassen und aussprechen zu können« 6 • Bonhoeffer wirft in diesen Sätzen das Problem der Hermeneutik auf. Hermeneutik- der Name erinnert an Hermes, den Götterboten, der den Menschen Botschaften aus der himmlisches Sphäre des Olymp zu übermitteln hatte- ist die Lehre vom Verstehen. Die Wissenschaft von der Hermeneutik untersucht, nach welchen Regeln wir schriftliche und mündliche, verbale und iloriverbale Lebensäußerungen anderer verstehen und auslegen, von einer Sprache in die andere, von einer Vorstellungsweh in eine andere, aus einer vergangeneo Epoche in die Gegenwart übersetzen können. So ist auch die Frage, wie der christliche Glaube neu zur Sprache gebracht werden kann, ein hermeneutisches Problem. 5 Auf die Nähe der nachstehenden Äußerungen Bonhoeffers zu Hofmannsthals Brief des Lord Chandos weist auch G. Ebeling, Einführung in die theologische Sprachlehre, Tübingen 1971, S. 69-87 hin. 6 D. &nJweffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. v. K Bethge, NA München a1977, S. 327f.
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Bonhoeffers Analyse theologischer und kirchlicher Sprachnot ist darin radikal, daß er sie auf ein gestörtes Lebensverhältnis der Christen zur Sache des Glaubens zurückführt. Für Bonhoeffer besteht das hermeneutische Problem der christlichen Verkündigung nicht etwa nur darin, nach einer zeitgemäßen Übersetzung für einen Inhalt zu suchen, der weiterhin feststünde und jederzeit zugänglich sei. Die hermeneutische Grundsatzfrage, vor die Bonhoeffer sich gestellt sah, lautete eben nicht bloß: »Wie sag ich's meinem (Paten)kinde?« Sondern radikaler: »Verstehst Du selbst {noch), was du liest {oder hörst)« {vgl. Apg 8,30)? Nicht etwa nur der Kirche entfremdete Zeitgenossen, sondern sich selbst und diejenigen, die wir gern als kirchliche Kerngemeinde bezeichnen, sah Bonhoeffer auf die Anfänge des Verstehens zurückgeworfen. Mit dieser Diagnose war Bonhoeffer radikaler als etwa Rudolf Buhmann, der kurz zuvor sein Entmythologisierungsprogramm formuliert hatte, welches in den 50er und 60er Jahren in Theologie und Kirche für heftige Kontroversen sorgen sollte. Auch für Bultmann war das Problem der Hermeneutik die entscheidende theologische Herausforderung seiner Zeit. Seiner Ansicht nach lagen die Verständnisschwierigkeiten der kirchlichen Verkündigung in der Moderne begründet im Wandel des Weltbilds. In seinem 1941 veröffentlichten Vortrag über »Neues Testament und Mythologie« stellte Bultmann die Behauptung auf: »Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geisterund Wunderwelt des Neuen Testaments glauben« 7• Für den von Bultmann stereotyp zitierten »modernen Men7 R. Bultmann, Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung. Nachdruck der 1941 erschienenen Fassung, hg. v. E. Jüngel (BEvTh 96), München 1988, S. 16.
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sehen« sei das mythische Weltbild der Antike, welches auch dasjenige der neutestamentlichen Schriftsteller gewesen sei, »erledigt«8; erledigt also die traditionellen Vorstellungen von Himmel und Hölle, der biblische Wunderglaube und die Vorstellungswelt neutestamentlicher Endzeiterwartungen. Erledigt war damit für Bultmann jedoch nicht der christliche Glaube an sich, sondern lediglich eine bestimmte Form desselben, nicht der Inhalt der biblischen Botschaft, sondern nur dessen zeitbedingte Einkleidung. Bultmann bestimmte denn auch das hermeneutische Problem als Übersetzungsaufgabe, bei der es darum gehe, die unverändert gültige Wahrheit des Christentums von einem veralteten Weltbild in dasjenige der aufgeklärten Moderne zu übertra&en. Die hermeneutische Aufgabe für eine zeitgemäße Ubersetzung der biblischen Aussagen über Gott, die Welt und den Menschen bestehe darin, »ihre Wahrheit von der mythologischen Vorstellung, in die sie gefaßt ist, zu entkleiden«9 , um ihr sodann ein modernes Gewand zu geben, im Falle Bultmanns dasjenige einer an der Philosophie Martin Heideggers geschulten existentialen Interpretation. Während Rudolf Bultmanns Entmythologisierungsprogramm nach 19+5 von manchen kirchlichen Kreisen des theologischen Radikalismus, ja sogar der Häresie bezichtigt wurde, war es Bonhoeffer, der das Ende des II. Weltkrieges nicht mehr erleben sollte, umgekehrt nicht radikal genug. Nur wenige Tage nach seinen Gedanken zum Tauftag seines Patenkindes notierte Bonhoeffer, Bultmanns Entmythologisierungsprogramm bleibe dem typischen Reduktionsverfahren der sogenannten liberalen Theologie des 19. Jahrhunderts verhaftet, welche zwischen einem überzeitlichen Kern und einer zeitbedingten Schale des Christentums und der biblischen Texte glaubte unterscheiden zu können. Sich 8 A.a.O. (Anm. 7), S. 15f. 9 A.a.O. (Anm. 7), S. 15.
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von Bultmann abgrenzend, schreibt Bonhoeffer 1944: »Ich bin nun der Auffassung, daß die vollen Inhalte einschließlich der >mythologischen< Begriffe bestehen bleiben müssen- das Neue Testament ist nicht die mythologische Einkleidung einer allgemeinen Wahrheit!, sondern diese Mythologie (Auferstehung etc.) ist die Sache selbst!- aber daß diese Begriffe nun in einer Weise interpretiert werden müssen, die nicht die Religion als Bedingung des Glaubens[ ... ] voraussetzt« 10 • Voraussetzung einer neuen Interpretation der überlieferten Texte sei es also, ein völlig neues Lebensverhältnis zu ihrem Gegenstand zu gewinnen, das sich von demjenigen der christlichen Religiosität des 19. und des von ihm bestimmten 20. Jahrhunderts grundlegend unterscheide. Bonhoeffers Kritik am Entmythologisierungsprogramm Rudolf Bultmanns, mit welchem wir uns im sechsten Kapitel noch eingehender befassen wollen, läßt uns erst die ganze Tragweite seiner Bemerkungen zur Sprachnot des Glaubens in seinen Gedanken zum Tauftag seines Patenkindes ermessen. Viel radikaler als Bultmann sah sich Bonhoeffer auf die Anfänge des Verstehens zurückgeworfen, weil die Worte der christlichen Tradition nicht etwa nur die austauschbare Einkleidung einer im übrigen feststehenden Wahrheit, sondern die Sache selbst sind, zu der wir nicht, wie Bultmann meinte, immer schon ein Lebensverhältnis haben, sondern allererst neu gewinnen müssen. Mit den überlieferten Worten verflüchtigt sich nach Bonhoeffer die Sache des Glaubens selbst. Der Sprachverlust in Theologie und Kirche ist für ihn ein Sachverlust. Mit der herkömmlichen Sprache kommt dem christlichen Glauben sein Gegenstand abhanden. Anstelle einer überzeitlichen Wahrheit, die Bultmann glaubt festhalten und als nackte Wahrheit formulieren zu können, bleibt für Bonhoeffer bestenfalls eine Ahnung und eine Hoffnung; die Hoffnung, daß in einer fernen Zukunft der Tag kom10 D. Bonhoeffer, a.a.O. (Anm. 6), S. 360; vgl. dort S. 311-313.
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men wird, »an dem wieder Menschen berufen werden, das Wort Gottes so auszusprechen, daß sich die Welt darunter verändert und erneuert« 11 • Haben Theologie und Kirche im deutschen Sprachraum nach 1945 die von Bonhoeffer diagnostizierte Sprachlosigkeit wirklich überwunden? Ist sie überhaupt auf breiter Front derart grundsätzlich wie bei Bonhoeffer wahrgenommen worden? Hat die schon angesprochene Entmythologisierungsdebatte den Blick für das Ausmaß der Krise christlicher Verkündigung unter den Bedingungen der Moderne nicht eher verstellt als geschärft? Hat sie Bonhoeffers Problembewußtsein nicht über weite Strecken unterboten? Besteht unser Problem heutzutage wirklich nur darin, nicht recht zu wissen, wie wir zeitgemäß über unseren Glauben sprechen können, und nicht vielmehr darin, über das Was des Glaubens nicht wirklich auskunftsfahig zu sein, weil unser · Verhältnis zu ihm gestört ist? So hätte denn in der Tat nicht so sehr das Reden, als vielmehr das Schweigen für den Glauben seine Zeit, weil der fahrende Platzregen des Evangeliums, von dem Luther einst gesprochen hat, derzeit nicht übe1 den Feldern unseres Lebens niedergeht.
J. Ursachen der Sprachlosigkeit Was aber macht uns Christinnen und Christen eigentlich so sprachlos? Worin besteht die Ursache der Sprachnot des Glaubens in der heutigen Zeit? Als Hauptgrund für den Bedeutungsverlust des Christentums in unserer modernen Gesellschaft und für die Kommunikationsprobleme der christlichen Verkündigung wird häufig die Säkularisierung genannt. Mit dieser Antwort ist zunächst allerdings nicht viel gewonnen, 11 A.a.O. (Anm. 6), S. 328.
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ist doch der Begriff der Säkularisierung vieldeutig und gehen die Ansichten über die Gründe für die im Grunde schon durch die Renaissance vorbereitete Säkularisierung und ihre Folgen weit auseinander. In seiner berühmten Schrift »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« hat der Philosoph Immanuel Kant dieselbe bekanntlich als »Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit«, d.h. als Emanzipationsbewegung auf erkenntnistheoretischem, gesellschaftlichem und politischem wie auch auf religiösem Gebiet bestimmt 12 • Seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts wird die Emanzipationsbewegung der Moderne unter religionssoziologischem Gesichtspunkt auch als Säkularisierung bezeichnet. Bedeutet Säkularisierung ursprünglich die Überführung kirchlichen Besitzes in weltliches Eigentum, so meint der Begriff im übertragenen Sinne die Verdrängung einer gesellschaftlich vorherrschendep Religion, in diesem Fall des Christentums, aus dem öffentlichen und alltäglichen Leben auf theoretischem wie praktischem Gebiet sowie die Übertragung ursprünglich religiöser Begriffe und Vorstellungen in eine nichtreligiöse Gedankenwelt. Was kirchlicherseits als Verweltlichung wahrgenommen wird, ist zunächst nichts anderes als ein Teilmoment im Prozeß einer zunehmenden Ausdifferenzierung der europäischen Gesellschaften auf ökonomischem, politischem und religiösem Gebiet 15• Der mit der Industrialisierung Europas verbundenen hochgradigen Arbeitsteilung und durch sie erzwungenen Mobilität entspricht der zunehmende Pluralismus gesellschaftlicher Gruppen, kollektiver wie individueller Lebens12 l Kan.t, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? in: ders., Werke in sechs Bänden, hg. v. W Weischedel, Bd. VI, Darmstadt 1983, s. 53-{) 1. 13 Siehe dazu vor allem die religionssoziologischen Arbeiten von Niklas Luhmann, z.B. N Luhmann, Funktion der Religion, Frankfurt a.M. 1982; ders., Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984.
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und Glaubensformen. Im Verlauf dieses Prozesses haben die christlichen Kirchen ihre Vormachtstellung als Institution einer die Gesellschaft als ganze einenden Weltanschauung schrittweise eingebüßt. Religion ist zur Privatsache geworden. Die Verdrängung der praktizierten Religion aus dem öffentlichen Leben ist aber nicht unbedingt der Beweis einer zunehmenden Gottlosigkeit der Welt, sondern zu einem erheblichen Teil die Folge der U~glaubwürdigkeit der Kirchen, zum Beispiel eine Konsequenz aus dem konfessionellen Bürgerkrieg, in den das Zeitalter von Reformation und Gegenreformation mündete. Der Verlust der religiösen Monopolstellung des Christentums und die zunehmende Distanz vieler Mitglieder zu ihren Kirchen bedeutet nicht das Absterben jeglicher Religiosität, wie das Aufkommen einer neuen, weithin freilich außercht:istlichen oder synkretistischen Religiosität in den vergangeneo Jahren beweist. Insofern ist der Begriff der Säkularisierung irreführend. Was wir heute als Traditionsabbruch und Sprachverlust in der Kirche erleben, ist kein neuartiger Vorgang, sondern die Fortsetzung des epochalen Prozesses der Moderne. Der voranschreitende Bedeutungsverlust der Kirchen vollzieht sich nicht erst seit gestern und wird sich auch nicht durch irgendwelche Strategien zur Rechristianisierung Europas oder missionarische Konzepte des Gemeindeaufbaus umkehren lassen. Das kirchlich institutionalisierte und organisierte Christentum, dem im ehedem christlichen Abendland die Rolle der staatstragenden Religion zukam, hat in Europa - in den USA liegen die Dinge ein wenig anders- seine Rolle als sinnund einheitsstiftendes ideologisches Fundament der Gesellschaft im Prinzip ausgespielt, auch wenn es in dieser Hinsicht ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten gibt. Der mit der Aufklärung einsetzende weltanschauliche und religiöse Pluralismus hat inzwischen dazu geführt, daß wir innerhalb unserer Gesellschaft nicht mehr in
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allen Lebensbereichen, nicht zuletzt auf religiösem Gebiet, ein und dieselbe Sprache sprechen. Wir haben sogar nicht einmal mehr alle dieselben kulturellen Wurzeln. Die durch die Industrialisierung und ihre Modernisierungsschübe wie auch durch wirtschaftliche Not und Kriege ausgelösten Wanderbewegungen lassen unsere europäischen Gesellschaften mehr und mehr zu multikulturellen und multireligiösen Gesellschaften werden. Längst ist beispielsweise der Islam ein gewichtiger religiöser Faktor in Europa. So betrachtet sind die heutigen Verständigungsschwierigkeiten des Christentums zunächst ganz einfach die unvermeidliche Folge des in der Moderne entstandenen und sich weiter vermehrenden kulturellen Pluralismus. Das Zurückdrängen der Religion in der Moderne haben manche Theologen des 20. Jahrhunderts sogar positiv bewertet und die Säkularisierung als notwendige Folge des Christentums gedeutet. Eine derartige theologische Interpretation hat die Säkularisierung beispielsweise bei Friedrich Gogarten erfahren 14• Er hat die Säkularisierung als durch das Christentum selbst hervorgerufene Befreiung der Welt zur Weltlichkeit gewürdigt. Im Grunde sei die Säkularisierung bereits in der biblischen Überlieferung angelegt, so z.B. wenn der Schöpfungsbericht der sogenannten Priesterschrift in Gen 1 die Gestirne nicht als Gottheiten verehre, sondern für bloße Leuchten am Himmel hielte und die Erde von Gott der Herrschaft des Menschen unterstellt sehe. Die nachaufklärerische Säkularisierung habe diesen in der Geschichte des Christentums angelegten Prozeß lediglich fortgesetzt. Von ihm abzugrenzen und theologisch abzulehnen sei allerdings ein Säkularismus, der sich dezidiert atheistisch und antikirchlich gebärde.
14
F. Gogarten, Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit. Die Säkularisierung als theologisches Problem (1953), Gütersloh 2 1987.
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Daß das moderne Denken, wiewohl es sich von der religiösen Tradition emanzipiert habe, religiösen, näherhin jüdisch-christlichen Ursprungs ist, ist eine bisweilen auch von Philosophen vertretene These. Ein prominenter Vertreter derselben war der Philosoph Karl Löwith 15• Seine Darlegungen haben freilich Widerspruch bei Hans Blumenberg hervorgerufen 16• Im Gegensatz zu Löwith und Gogarten deutet Blumenberg das Denken der Neuzeit als eigenständig formulierte Antwort auf Herausforderungen, denen sich das Christentum wohl gestellt hat, aber nicht gewachsen war. Das Denken der Moderne samt seiner Religionskritik sei die unumgängliche Suche nach Antworten auf Fragen, auf welche das Christentum eine überzeugende Antwort schuldig geblieben sei. M.E. ist gegenüber einlinigen Säkularisierungstheorien wie derjenigen Gogartens wirklich Zurückhaltung geboten. Sie segeln nicht selten im Fahrwasser einer apologetischen Theologie, die sich auf fragwürdige Weise um die Ehrenrettung des Christentums und seiner Modernität gemäß dem Motto des Märchens vom Hasen und Igel bemüht: »Iek bin oll da!« Man wird also im Blick auf die mit der Aufklärung einsetzende, durch die Renaissance bereits vorbereitete europäische Säkularisierung nicht nur von Metamorphosen des Christlichen sprechen dürfen, sondern bei unvoreingenommener Analyse anerkennen müssen, daß die Moderne im Sinne Blumenbergs tatsächlich eigenständige, nicht-christliche Antworten auf die großen Fragen der Menschheit wie diejenige nach dem Sinn der Geschichte und nach der Gestaltbarkeit der Welt gefunden hat, wobei das Erbe der vorchristlichen Antike eine nicht unwesentliche Rolle spielte. Andererseits ha15 K LiJwilh, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie ('1953), jetzt in: ders., Sämtliche Schriften 2, Stuttgan 1983, S. 7-239. 16 H Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfun a.M. 1966.
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ben sich, wie schon in der vorangegangenen Geschichte des Christentums, auch in der Zeit seit dem 18. Jahrhundert Theologie und Philosophie bis heute wechselseitig beeinflußt. Das Wahrheitsmoment der Thesen Gogartens und Löwiths besteht darin, daß sich theologische Motive und ihre Transformation im Denken der Moderne nicht ernsthaft bestreiten lassen. Über die vermeintliche Überlegenheit außerchristlicher Antworten im Streit um die Wirklichkeit ist damit ohnehin noch nichts gesagt. Der theologisch als Verweltlichung der Welt gedeutete, teils entschieden abgelehnte, teils ebenso nachdrücklich bejahte Differenzierungsprozeß innerhalb der modernen westlichen Gesellschaft ist aber insofern zwiespältig, als er nicht nur neue Freiheiten und kulturelle Vielfalt beschert hat, sondern auch zu Entfremdung führt. Die Sprachnot der Kirche ist eben auch eine Folge wechselseitiger Entfremdung zwischen dem organisierten Christentum und großen Teilen der Gesellschaft. Was Gogarten unter dem Stichwort des Säkularismus geißelt, nämlich ein antikirchliches und atheistisches Emanzipations bestreben, ist doch zum großen Teil die Folge der eigenen Schuld der Kirchen. Der Verlust an Glaubwürdigkeit, den das Christentum durch den konfessionellen Bürgerkrieg des 17. Jahrhunderts erlitten hat, wurde bereits angesprochen. Das Versagen der Kirche in der sogenannten sozialen Frage des 19. Jahrhunderts, ihr Unvermögen auf die Verelendung breiter Bevölkerungskreise durch die Entstehung des Industrieproletariats eine glaubhafte Antwort zu geben, hat einen Großteil der Arbeiterschaft der Kirche dauerhaft entfremdet. Als Folge kirchlicher Schuld wertete Bonhoeffer auch den von ihm wahrgenommenen Sprachverlust des Glaubens. »ln den überlieferten Worten«, so hat er in den schon zitierten Gedanken zum Tauftag seines Patenkindes geschrieben, »ahnen wir etwas ganz Neues und Umwälzendes, ohne es noch fassen und aussprechen 31
zu können. Das ist unsere eigene Schuld. Unsere Kirche, die in diesen Jahren nur um ihre Selbsterhaltung gekämpft hat, als wäre sie ein Selbstzweck, ist unfähig, Träger des versöhnenden und erlösenden Wortes für die Menschen und für die Welt zu sein. Darum müssen die früheren Worte kraftlos werden und verstummen« 17• Bonhoeffer kritisierte die Haltung der Bekennenden Kirche im Kirchenkampf unter der nationalsozialistischen Diktatur. Zwar habe sie den Kampf gegen den verbrecherischen Nationalsozialismus aufgenommen, jedoch nur, weil und insofern sie die Existenz der Kirche bedroht sah, nicht aber, weil sie Kirche für andere hätte sein wollen, deren physische Existenz gefährdet und ausgelöscht wurde, also etwa für die Juden. Wenn wir heute darunter leiden, daß die Sprachnot des Glaubens, wie Bonhoeffer sie beschrieben hat, fortdauert, so haben wir uns selbstkritisch nach unserer eigenen Haltung in den gesellschaftlichen Konflikten der Gegenwart zu fragen, ohne freilich von einer bloßen Politisierung der Kirche das Heil erwarten zu dürfen. Bonhoeffer, der zum Tun des Gerechten aufforderte und sich aktiv am Widerstand gegen Hitler, konkret: an der Vorbereitung des Attentats auf Hitler beteiligte, hat doch zugleich vom Beten gesprochen und gemeint: »Alles Denken, Reden und Organisieren in den Dingen des Christentums muß neu geboren werden aus diesem Beten und diesem Tun« 18• Erinnern wir uns nochmals an Zacharias. Wie dieser die Sprache verlor zur Strafe dafür, daß er Gottes Verheißungen keinen Glauben schenkte, so wird auch die Kirche immer dann ihre Stimme einbüßen, wenn sie ihrem von Christus gegebenen Auftrag nicht treu bleibt, den Mund aufzutun für die Stummen, die »sitzen in Finsternis und Schatten des Todes« (Lk 1,79). Für sie erhob Za-
17 D. Bonhoeffer, a.a.O. {Arun. 6), S. 328. 18 Ebd.
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charias in seinem Lobgesang die Stimme, nachdem er seine Sprache wiedererlangt hatte.
4. Theologie und Metaphysik Die Sprachnot des Glaubens ist aber nicht bloß die Folge einer moralischen Schuld der Kirche oder der Christen. Mitverursacht wird sie auch durch eine Krise der Theologie, deren Aufgabe doch darin besteht, die Sprachschule des Glaubens zu sein. Geriet die christliche Theologie zunächst durch die Religionskritik der Aufklärung in einen ihre Grundlagen erschütternden Begründungsnotstand, so vermochte sie sich schließlich doch der Aufklärung zu öffnen und ihre Einsichten in das theologische Denken einzubeziehen. Inzwischen aber ist das Erbe der Aufklärung seinerseits in die Krise geraten, wird angesichts seiner negativen zivilisatorischen Folgen eine Aufklärung der Aufklärung gefordert. So unumgänglich es historisch war, daß sich die Theologie den Einsichten der Aufklärung öffnen mußte, so unweigerlich ist sie nun mit hineingerissen in die näher zu erläuternde Krise des bisherigen abendländischen Denkens. Was das Christentum von anderen Religionen unterscheidet, ist seine Eigentümlichkeit, denkender Glaube zu sein 19 • Seit seinen Anfängen hat das Christentum das Gespräch mit der abendländischen Philosophie geführt, ja den Anspruch erhoben, die wahre Philosophie zu vertreten. Was das Christentum unter Glauben versteht, ist eben nicht nur eine Sache des Gefühls, sondern auch des Denkens, eine Weise sich und die Welt neu zu verstehen, indem man sich auf Christus und somit in neuer Weise auf Gott bezieht. Beide, die von Hause aus heidnische Philosophie wie das Christentum, waren davon über19 Vgl. C. H Ratsclww, Die Religionen (HST 16), Gütersloh 1979,
s.
1!21.
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zeugt, daß es eine letzte Wahrheit gibt, über die sich vernünftige Aussagen machen lassen. So hat denn das Christentum seinen Wahrheitsanspruch, den Anspruch nämlich, daß Jesus Christus die Wahrheit in Person ist (Joh 14,6), dadurch einzulösen versucht, daß es die lnhalte der christlichen Verkündigung mit den Mitteln des philosophischen Denkens darzustellen versuchte. Auf diese Weise geriet das Christentum in ein Spannungsvoiles Verhältnis zwischen dem Erzählen von Gottes Taten und dem philosophisch geschulten Denken, zwischen Mythos und Metaphysik110• Es war seit ihren Anfängen die Gefahr aller christlichen Theologie, in eine völlige Abhängigkeit vom philosophischen Denken zu geraten, in die - wie ich es ausdrücken möchte - babylonische Gefangenschaft der Metaphysik. Und tatsächlich ist die Theologie im Laufe der Jahrhunderte mehr und mehr zur Gefangenen des metaphysischen Denkens geworden. Dieses aber ist mit der Aufklärung in eine fundamentale Krise geraten und damit auch das Denken des christlichen Glaubens. Weil sich jedoch nur sagen läßt, was sich auch denken läßt, ist die Krise christlicher Verkündigung eben auch zurückzuführen auf eine Krise des theologischen Den.kens. Was aber ist eigendich Metaphysik? Die Metaphysik der Name geht auf Aristoteles zurück - fragt, mit Goethes Faust gesprochen, nach dem, was die Welt in ihrem Innersten zusammenhält. Sie fragt nach der Einheit und Ganzheit dessen, was wir Wrrklichkeit nennen, nach der Transzendenz, dem Hintergrund und Hintersinn alles vordergründig vor Augen Liegenden. Sie fragt nach den Bedingungen unseres Erkennens wie unseres Seins. Sie fragt: »Warum ist etwas? Warum ist nicht nichts?« Wie die Philosophie insgesamt, so hat auch die abend-
20 Vgl. 0. Bayer in: den. (Hg.), Mythos und Religion. Interdiszi· plinäre Aspekte, Stuttgart 1990, S. 7.
ländische Metaphysik eine wechselvolle Geschichte durchlaufen, stark beeinflußt durch die wechselseitige Befruchtung wie Bekämpfung von Philosophie und Theologie. In all ihren Spielarten aber war sie überzeugt von der inneren Einheit von Sein und Sinn und setzte den Gott der christlich-jüdischen Überlieferung mit dem höchsten Sein, dem Sein-selbst gleich, welches zugleich als das höchste Gute und somit als Garant menschlichen Lebenssinns wie als Letztinstanz menschlicher Moral aufgefaßt wurde. Das überkommene metaphysische Denken wurde in der Aufklärung einer radikalen Kritik unterzogen, wobei aus den dargelegten Gründen jede Metaphysikkritik mit Religionskritik einhergehen mußte. Die voraufklärerische Metaphysik hatte den mit dem Sein-selbst identifizierten Gott nach Art eines endlichen Seienden ausgedeutet. Am Ende des 18. Jahrhunderts aber weist Immanuel Kant nach, daß Gott kein Gegenstand unseres endlichen Erkennens sein kann. Ein Gott, den es gibt wie einen Tisch oder auch eine menschliche Person, gibt es demnach also nicht. Die seit der Aufklärung fortentwickelte Religions- und Metaphysikkritik destruierte jeglichen Glauben an irgendeine Hinterwelt, die man sich analog zu unserer irdischen Welt denken könnte, den Glauben an einen Himmel und eine Hölle und an ein jüngstes Gericht, die so beschaffen wären, wie es dem buchstäblichen Sinn der biblischen Vorstellungswelt entspricht. Theologen wie Karl Barth oder auch Rudolf Bultmann haben die in der Rede Friedrich Nietzsches vom Tode Gottes gipfelnde Religionskritik begrüßt als Vorbote der Befreiung des Christentums aus der babylonischen Gefangenschaft metaphysischen Denkens, welches Gott und den Glauben in unzulässiger Weise verobjektiviert und somit in gänzlich unbiblischer Weise vom Göttlichen irdisch, vom Unweitlichen weltlich geredet habe. Die Destruktion des metaphysischen Gottes treffe gar nicht den biblischen Gott selbst, sondern 35
nur den selbsterdachten Gott der Philosophen. Die Religionskritik habe das Christentum zur notwendigen Rückbesinnung darauf geführt, daß, wie Blaise Pascal gesagt hat, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs vom Gott der Philosophen streng zu unterscheiden sei. Auch Bonhoeffer gehört insofern in die Reihe dieser Theologen, als er den Jenseitsglauben aus dem Christentum verbannen wollte, den Glauben ganz an das Diesseits verwiesen sah und dementsprechend auf seinen Wandel zu einem religionslosen, das heißt aber unmetaphysischen Christentum hoffte. So erfreut sich gerade im Protestantismus des 20. Jahrhunderts die These vom Ende der Metaphysik einer gewissen Beliebtheit. Diese These übersieht freilich zweierlei: Zum einen wird man gar nicht behaupten können, die Geschichte der abendländischen Metaphysik sei wirklich an ihr Ende gelangt. Ernstzunehmende Philosophen fordern heute sogar die Ausbildung einer neuen Metaphysik, da die Metaphysik einem unausrottbaren menschlichen Bedürfnis entspreche. Gerade der Philosoph Martin Heidegger, der im Blick auf den Nihilismus Nietzsches vom Ende der Metaphysik gesprochen hatte, hat in seinem Spätwerk überzeugend dargelegt, daß das Ende einer bestimmten Erscheinungsform der· Metaphysik noch lange nicht das Ende jeglicher Metaphysik überhaupt isf.2 1• Dies aber nicht nur, weil der Mensch ein unverbesserlich metaphysisches Wesen ist, sondern auch darum, weil unsere heutige Lebenswelt vielleicht noch stärker als das Mittelalter von Metaphysik durchdrungen ist. In einer nirgends sonst anzutreffenden Radikalität hat Heidegger die neuzeitliche Technik als letzte Metamorphose der abendländischen Metaphysik gedeutet, die ihrem Wesen nach ein machtförmiges Denken sei, welches sich auf totalitäre Weise der Welt zu be-
M He~r, Überwindung der Metaphysik, in: ders., Vorträge und Aufsäue, Pfullingen 1954, S. 71-99.
21 Siehe
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mächtigen versuche 22• Philosophisch münde die Geschichte der abendländischen Metaphysik in den Nihilismus. Nichts anderes als ein praktisch gewordener Nihilismus aber sei ihrem Wesen nach die neuzeitliche Technik. Wohl sei der Glaube an eine Hinterwelt untergegangen, nicht aber die Metaphysik an sich, deren alles Leben bedrohende babylonische Gefangenschaft sich vielmehr in der technokratischen Zivilisation allererst vollende. Trifft Heideggers Analyse des Wesens der neuzeitlichen Technik zu, so wird man sagen müssen, daß die Sprachnot des Glaubens sich deshalb in der Neuzeit entwickeln mußte, weil die Metaphysik, mit der die christliche Theologie durch ihre ganze bisherige Geschichte hindurch verbunden war, in der Gestalt der Technokratie auch unser Gottesverhältnis zu zerstören droht23 • Die These vom Ende der Metaphysik übersieht zum anderen aber auch, daß die bloße Kritik am metaphysischen Denken und am Erbe der Aufklärung zur Auflösung des Wahrheitsbegriffs führt und damit das Christentum der Möglichkeit beraubt, den universalen Wahrheitsanspruch seiner Heilsbotschaft weiterhin argumentativ zu vertreten. Wer wie die heutigen Vertreter einer philosophischen Postmoderne, welche die Aufklärung aufklären möchten, davon überzeugt ist, daß es gar keine universal gültige Wahrheit gibt, sondern bestenfalls nur Wahrheiten, und daß dies die einzig verbleibende Wahrheit sei, kann schließlich auch im Gott des Christentums nll!' noch, um mit Hugo von Hofmann5thals Lord Chandos zu sprechen, eine erhabene Allegorie über den Feldern unseres Lebens erblicken und im übrigen einem neuen Polytheismus huldigen24• 22 Siehe dazu M. Heidegger, Die Frage nach der Technik, a.a.O. (Anm. 21), s. 13-45. 23 Vgl. dazu M Trowitzsch, Technokratie und Geist der Zeit. Beiträge zu einer theologischen Kritik, Tübingen 1988, bes. S. 82-195. 24 Siehe dazu ausführlich U Klirtner, Theologie in dürftiger Zeit.
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So steht die christliche Theologie in einem Dilemma: Einerseits bedarf sie der Befreiung aus der babylonischen Gefangenschaft einer Metaphysik, die in Gestalt der technokratischen Zivilisation alles Leben auf dieser Erde zu zerstören droht und unseren Gottesbezug verdunkelt. Andererseits aber wäre das gerade von Theologen häufig geforderte Ende der Metaphysik auch das Ende jeder Theologie, die auf dem Gebiet des Denkens damit ernst machen will, daß Christus nicht etwa nur irgendeine mögliche, sondern die Wahrheit schlechthin in Person ist. Das Denken des Glaubens würde damit endgültig die Sprache verlieren und in mystischem Schweigen versinken. Die Aufgabe der Theologie ist es darum, nicht zum Ende vernünftigen Denkens, sondern zum Wandel dessen beizutragen, was bislang Metaphysik heißt. Zur Überwindung der technokratischen Gestalt metaphysischen Denkens wird der christliche Glaube jedoch nur dann beitragen können, wenn sein eigenes Denken neu geboren wird aus der ihm vorausliegenden Sprache der Glaubensüberlieferung, aus der Sprache der Texte der Bibel.
5. Hoffnung in dürftiger Zeit Daß die Sprache der Bibel für uns selbst weithin schweigt, ist das eigentlich Bedrückende an der heutigen Sprachnot des Glaubens. Bedrückend ist es, weil sich mit den großen Worten der christlichen Überlieferung Gott selbst entzieht. Tatsächlich ist nach meinem Dafürhalten der Sprachverlust des christlichen Glaubens erst dann wirklich theologisch ernstgenommen, Ein Essay, München 1990, S. 28-42. Zur philosophischen und theologischen Problematik der These vom Ende der Metaphy· sik siehe auch W. Pannenberg, Metaphysik und Gottesgedanke, Göttingen 1988, S. 7-19; J. Salaquarda, Art. Metaphysik III. Ende der Metapyhsik?, TRE 22, S. 65H60.
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wenn er als Schweigen Gottes erlitten wird. Daß Gott mitten in aller Rede von ihm heute schweigt, ist aber, so will es mir scheinen, die Not wie zugleich die Verheißung unserer Sprachlosigkeit in Theologie und Kirche. Notvoll ist es, weil Gottes Schweigen unseren Glauben in tiefe Anfechtung stürzt. Verheißungsvoll aber ist es, weil es doch die Gewißheit des Glaubens nicht außer Kraft setzen kann, daß der Gott, der einstmals geredet hat, auch wieder einmal neu reden wird. So dürfen wir hoffen, daß derselbe Gott, der uns heute durch sein eigenes Verstummen zum Schweigen bringt, uns wie Zacharlas eines Tages neu zum Sprechen und zum Lobpreis bringen wird 25 • Indem das Schweigen Gottes uns selbst verstummen läßt, zwingt es uns dazu, wieder neu auf sein Wort zu hören, damit unser Glaube aus eben diesem Wort neu geboren werde. Erst wenn wir es für uns selbst auf neue 25 Vgl. auch, was M. Trowitzsch, a.a.O. (Anm. 23), S. 8lf zur Möglichkeit des Schweigens Gottes ausführt: •Im Blick auf das Sinnlose und Katastrophale reden wir zuweilen vom >Schweigen< Gottes und denken an eine panische Stille. Es bedeutet vermutlich die größte Herausforderung an den Glauben und an das Vertrauen des Menschen, wahrhaft einzusehen, daß es kein Schweigen Gottes mehr geben kann, daß nicht erfüllt wäre von jenem >kündlich großen Geheimnis<: daß er, ChriltUI, wie ich die Stelle aus dem l. Timotheusbrief [... ] übenetzen möchte, >offenbart ist im Durchgang durch die Sterblichkeit des Fleisches; unvergessen und erhöht vom Geist; scheinend ohne Abschied den Engeln; nicht versagt, sondern gepredigt den Völkern; als Antwort geglaubt in der Welt und ihrer Nacht; nur noch von Gott aus dem Untergang gerettet in die Herrlichkeit<. Auch das Schweigen Gottes handelt eben davon. Gottes Schweigen kann unter keinen Umständen das Evangelium dementieren. Vielmehr wohnt es verborgen auch ihm inne. Daß aber prll.zile von etwas geschwiegen werden kann, weiß die alltllgliche Erfahrung. Es wird dann beredt geschwiegen. Gottes Schwei-. genbleibt in diesem Sinne durchdrungen von Sprache. Auch wo er nicht spricht, im Schweigen, in der Stille, bekundet er sich als derselbe. Denn Gott kann den Namen Gottes nicht unnützlich führen noch unnützlich verschweigen. Er kennt keine liederliche Rede. Und sein Schweigen ist auch noch von ihm.«
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Weise vernommen haben, werden wir eines Tages den Glauben wieder neu zur Sprache bringen können. Das aber setzt voraus, daß wir dem Schweigen Gottes nicht ausweichen und unsere Sprachlosigkeit entweder durch uferloses Gerede oder durch andere Strategien der Bestandssicherung zu kaschieren versuchen. Einige dieser Strategien seien zumindest kurz erwähnt. Es ist zum Beispiel die Tendenz zu beobachten, aus der Sprachlosigkeit des Glaubens in die Welt religiöser Bilder zu flüchten. Bezeichnenderweise erklärt Eugen Drewermann nicht das Wort, sondern den Traum, also das Bild, zum Ursprung aller Religion und zum vornehmsten Medium der Offenbarung Gotte~. Das derzeit große Interesse an einer tiefenpsychologischen Interpretation des Christentums und verwandte Spielarten einer neuen Religiosität haben etwas mit der Kraftlosigkeit des Wortes zu tun. Insofern erweckt auch die heute gängige Kritik an der herkömmlichen Wortlastigkeit des evangelischen Gottesdienstes einen zwiespältigen Eindruck. Mit Recht wird heute in Erinnerung gebracht, daß der Gottesdienst keine Lehrveranstaltung, sondern die Feier des Glaubens ist. Feierlichkeit, liturgische Erneuerung und religiöse Ästhetik können freilich auch dazu dienen, die Sprachnot der heutigen Verkündigung lediglich zu kompensieren. Zweideutig ist aber auch die charismatische Bewegung. Sie ist zum einen das ernstzunehmende Symptom eines spirituellen Defizits der Volkskirche. Andererseits aber erweckt sie den Eindruck, den Geist Gottes eher beschwören zu wollen als von ihm wirklich erfüllt zu sein. Zwar hoffte auch Bonhoeffer auf eine neue Sprache des Glaubens, »befreiend und erlösend wie die Sprache Jesu, daß sich die Menschen über sie entsetzen und doch von ihrer Gewalt überwunden werden« 27 , aber er meinte damit gewiß ~
26 Vgl. E DnweT71IIJJ'In, Tiefenpsychologie und Exegese, Bd. I, 01ten 1984, S. 155. 27 D. Bonhoeffer, a.a.O. (Anm. 6), S. 328.
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nicht die für Außenstehende völlig unverständliche Sprache der Glossolalie, sondern die klar verständliche »Sprache einer neuen Gerechtigkeit und Wahrheit«. Nicht mit den, vom Geist erfüllt, in Zungen redenden Aposteln am Morgen des Pfingsttages sind wir zu vergleichen, sondern eher mit den verzagten Jüngern zwischen Himmelfahrt und Pfingsten, die auf die Ausgießung des Geistes noch warten. Alles hat seine Zeit: das Reden ebenso wie das Schweigen und Warten. Sehe ich recht, so ist es für uns an der Zeit zu warten; zu warten wie die Jünger Jesu nach seinem Weggang, daß sein Geist neu zu ihnen spreche; zu warten wie Zacharias darauf, daß sich seine Zunge wieder löse; zu warten darauf, daß die überlieferte Sprache des Glaubens, die Sprache des biblischen Zeugnisses neu zu uns spricht. Kein teilnahmsloses und gänzlich wortloses, sondern ein gespanntes, tätiges Warten ist gemeint. Wir sollten uns davor hüten, durch unser eigenmächtiges Reden das Schweigen Gottes brechen zu wollen. Wohl aber ist es unsere Aufgabe in einer Zeit des Wartens, so vom Glauben zu reden, daß angesichts des Schweigens Gottes die Erinnerung daran wachgehalten wird·, daß Gott zu uns Menschen vormals geredet hat und sein in der Vergangenheit ergangenes Wort nicht dementiert. Praktisch geschieht solches erwartungsvolles Erinnern, wenn wir uns den Texten der Bibel zuwenden, jener zu Buchstaben geronnenen Erinnerung an Gottes heilvolles Reden, jener schriftlich festgehaltenen Verheißung, daß Gott kommt und nicht für immer schweigen wird. Was wir als Wartende tun können, ist, ganz schlicht dafür zu sorgen, daß die Bibel und ihre Texte, ihre Geschichten und ihre Rede von Gott nicht in Vergessenheit geraten, zum Beispiel, indem wir einfach Geschichten aus der Bibel erzählen. Daß die christliche Verkündigung heute von vielen nicht mehr verstanden wird, liegt zum Teil elementar daran, daß infolge der Säkularisierung und einer nachchristlichen Sozialisation die Texte der Bibel und ihre Sprache nicht mehr präsent 41
sind. Die Weitergabe der Bibel und ihrer Inhalte ist eine wichtige Voraussetzung dafür, daß diese sich selbst wieder neu zur Sprache bringen kann. Darum möchte ich zum Schluß neben Zacharias, dem von Gott der Mund verschlossen wurde, den Mönch Sossima aus Dostojewskis Roman >Die Brüder Karamasow< stellen. Dieser Eremit gab den orthodoxen Priestern, welche erklärten, sie hätten nicht genügend Zeit, das Evangelium zu verkündigen und das Wort Gottes auszulegen, weil sie gezwungen seien, die meiste Zeit des Tages durch Feldarbeit den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen, den einfachen Rat, einmal in der Woche, und sei es nur für eine Stunde, den Kindern des Dorfes und vielleicht auch, sollten sie dazu kommen, deren Eltern, etwas aus der Bibel vorzulesen. Der Starez Sossima vertraute auf die Selbstmächtigkeit der biblischen Worte: »Du selber aber, der du diese Worte liebst, halte nur selten einmal inne und deute ihnen nur diesen oder jenen dem einfachen Mann unverständlichen Ausdruck, und sei nicht in Unruhe darüber, ob sie auch alles verstehen werden, alles wird ja das rechtgläubige Herz begreifen! Lies ihnen vor von Abraham und Sara, von Isaak und Rebekka, wie Jakob zu Laban zog, im Traum mit dem Herrn rang und sprach: >Furchtbar ist dieser Ort!< Und du wirst den ehrfürchtigen Geist des einfachen Volkes erschüttern.[ ... ) Es bedarf ja nur eines kleinen Samens, eines winzigen: möge er [der Priester) solchen nur in die Seele des einfachen Mannes werfen, und der Same wird nicht sterben, er wird vielmehr in dessen Seele leben sein ganzes Leben hindurch, er wird sich in ihm bergen unter der Finsternis und unter dem Gestank seiner Sünden wie ein lichter Punkt, wie eine große Erinnerungl«28 Dostojewskis Starez Sossima steht für die Hoffnung, daß die Sprache und das Denken des Glaubens neu ge28 F. Dostojewslri, Die Brüder Karamasow. Roman (übers. v. K.
Nöuel), Bd. I, Frankfurt a.M. 1986, S. 503f.
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boren werden können aus der Sprache der biblischen Schriften. Skeptiker mögen in der biblischen Tradition nur die Asche eines erloschenen Glaubens sehen. Sossima aber will die Glut, welche in ihr noch immer glimmt, in der Hoffnung bewahren, daß sie eines Tages neu entfacht wird. Wie aber kann es vom bloßen Tradieren der biblischen Texte zu neuem Verstehen und damit zu neuem Leben aus Glauben kommen? Mit dieser Frage wenden wir uns in den folgenden Kapiteln Fragen einer biblischen Hermeneutik zu. Wie wir im ersten Kapitel gesehen haben, ist der sogenannte hermeneutische Zirkel zwischen uns heutigen Lesern und den biblischen Texten tief gestört. Der Begriff des Vorverständnisses, wie ihn Bultmann und die hermeneutische Theologie des 20. Jahrhunderts verwendet haben 29, ist daher als hermeneutische Kategorie unzureichend, weil sie noch immer voraussetzt, daß die Autoren der biblischen Texte uild ihre heutigen Leser »den gleichen Lebensbezug zu der in Rede bzw. in Frage stehenden Sache haben {bzw. insoweit als sie ihn haben), weil sie {bzw. sofern sie) im gleichen Lebenszusammenhang stehen« 30• Wenn nun aber, wie Bultmann nur in Klammern als Möglichkeit in Rechnung stellt, Leser und Autor nicht oder nicht mehr im gleichen Lebenszusammenhang stehen, kann nicht mehr von einem Vorverständnis- und sei es auch demjenigen des Unglaubens -, sondern nur mehr von einem Unverständnis gesprochen werden. Im folgenden Kapitel soll nun das Unverständnis als Kategorie einer biblischen Hermeneutik bedacht werden.
29 Vgl. R. Bultmann, Das Problem der Hermeneutik (1950), in: ders., Glauben und Verstehen II, Tübingen 1952, S. 211-235, hier S. 216. 30 A.a.O. (Anm. 29), S. 217.
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Zweites Kapitel
Ratlos vor der Bibel Konturen einer Hermeneutik des Unverständnisses Jesus lehrte seine Jünger ... Sie aber verstanden das Wort nicht und fürchteten sich, ihn zu fragen. Markus 9,31f
t.J>ar~~n~echsel?
»Verstehst du auch, was du liest?« Mit dieser Frage überfällt Philippus den äthiopischen Schatzmeister, der sich in die Lektüre des Propheten Jesaja vertieft hat. Einigermaßen ratlos fragt der Äthiopier zurück: »Wie kann ich, wenn mich niemand anleitet?« 1 Woraufhin Philippus beginnt, das aufgeschlagene Prophetenwort vom leidenden Gottesknecht auszulegen, indem er es auf den gekreuzigten und auferstandenen Christus bezieht. Das solchermaßen gedeutete Bibelwort aus Jes 53 wird zum hermeneutischen Schlüssel für die ganze Schrift. Ähnlich ratlos wie jener Schatzmeister aus Äthiopien stehen auch heute viele Zeitgenossen vor der Bibel, überzeugte Christen nicht weniger wie kirchenferne Menschen. Das Verstehen der Schrift versteht sich offenbar nicht (mehr) von selbst. Auf den richtigen hermeneutischen Schlüssel kommt es dabei an, der aber erst 1 Vgl. Act 8,30f.
gefunden werden will. Nicht nur die Vorstellungswelt der Bibel, sondern auch ihre Bedeutung für unser gegenwärtiges Leben ist vielen in unendliche Ferne gerückt. Auch die etablierten Methoden historisch-kritischer Bibelauslegung öffnen nicht mehr recht die Tür zum Verstehen. Deshalb wird heute intensiv über alternative Methoden der Bibelexegese diskutiert2• Statt vom hermeneutischen Schlüssel wird heute gern vom Paradigma gesprochen. Um die Bibel neu zu verstehen, wird für die Theologie insgesamt ein Paradigmenwechsel gefordert~. Der Begriff des Paradigmenwechsels stammt von Thomas S. Kuhn4• Dieser hat gezeigt, daß jede WlSSenschaft auf einem vorherrschenden, nicht weiter hinterfragten Denkraster oder Paradigma beruht. Unter einem Paradigma versteht Kuhn eine Konstellation von Voraussetzungen, Werten und Techniken, die sowohl Horizont wie Instrument für den Umgang mit Daten der Wahrnehmung sind. Außerhalb des herrschenden Paradigmas verlieren Faktensammlungen und Beobachtungen ihr Ziel und ihre Bedeutung. Andererseits entscheidet das geltende Paradigma vorab, welche Beobachtungen als irrelevant zu gelten haben. Das Paradigma bestimmt also die Wirklichkeitswahrnehmung und Weltdeutung einer Wissenschaft. Kuhn hat die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen unter2 Einen Überblick über die heute neben der historisch-kritischen Exegese diskutierten Methoden der Bibelauslegung geben W. Langer {Hg.), Handbuch der Bibelarbeit, München 1987, sowie H K &rg, Ein Wort wie Feuer. Wege lebendiger Bibelauslegung, München/Stuttgart 1991. 3 Siehe z.B. W. Wink, Bibelauslegung als Interaktion. Über die Grenzen historisch·kritischer Methode, Stuttgart 1976; H Kang / D. 1hzcy {Hg.), Theologie - wohin? Auf dem Weg zu einem neuen Paradigma {Ökumenische Theologie 11), Zürich/Köln/ Gütersloh 1984; dies. {Hg.), Das Neue Paradigma von Theologie. Strukturen und Dimensionen {Ökumenische Theologie 13), Zürich/Köln/Gütersloh 1986. 4 Vgl. Th. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a.M. 1973.
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sucht und dabei gezeigt, daß Paradigmen ein großes Beharrungsvermögen haben. Solange irgend möglich, wird am herrschenden Paradigma festgehalten.lhm widersprechende Beobachtungen versucht man solange zu vernachlässigen oder, wenn dies nicht mehr möglich ist, dem herrschenden Paradigma unterzuordnen, bis sich deren Integration in die geltende Theorie als zu kompliziert erweist und damit die Gültigkeit des bisherigen Paradigmas fraglich wird. Jedes neue Paradigma stößt deshalb zunächst auf heftigen Widerstand. Wenn es sich aber schließlich durchsetzen kann, wird es umso rascher von der etablierten Wissenschaft okkupiert und damit selbst zur etablierten Wissenschaft. Bevor ein neues Paradigma aufkommt, befindet sich eine Wtssenschaft in der Regel über ein bis zwei Jahrzehnte in einer mehr oder weniger akuten Krise. Umfang und Komplexität der Forschungsprojekte stehen in keinem Verhältnis zur Relevanz der gewonnenen Ergebnisse. Schulen zerfallen, starre Positionen werden aufgegeben, unterschiedliche Standpunkte können offen miteinander konkurrieren, bis schließlich ein neues Paradigma formuliert wird und sich gegen anfängliche Widerstände durchzusetzen vermag. Mancher Vergleich zur gegenwärtigen Lage in Theologie und Bibelwissenschaften drängt sich auf. Eben deshalb sind viele Theologen davon überzeugt, daß ein Paradigmenwechsel in der Luft liegt oder sich bereits vollzieht. Die Suche nach einem neuen Paradigma der Theologie bleibt m.E. jedoch solange erfolglos, als Ursache und Wirkung verwechselt werden und mit einem gegenüber der Begriffsbestimmung Kuhns einigermaßen unklaren Paradigmenbegriff operiert wird. Paradigmenwechsel lassen sich nicht erzwingen, sondern bestenfalls tätig erwarten. Entscheidend für einen neuen Zugang zu den biblischen Schriften ist nicht die Formulierung eines neuen Paradigmas, sondern eine neue Sichtweise, die sich aufgrund einer nicht künstlich herstellbaren umwälzenden Leseerfahrung aufdrängt.
Walter Wink ist zwar zuzustimmen, wenn er behauptet: »Alles Sehen beruht auf einem Denkraster«5• Aber m.E. ziehen er und andere aus dieser Erkenntnis eine falsche Schlußfolgerung. Nicht bewirken neue Paradigmen ein neues Sehen. Sondern umwälzende Seherlebnisse ziehen neue Paradigmen nach sich.
2. Hermeneutische Zirkelschlüsse Will man die angesprochenen Seherlebnisse nicht im weitläufigen Sinn als Offenbarung bezeichnen6, so möchte ich vorschlagen, von Ein-Sichten zu sprechen. Ein-Sichten produziert man nicht. Man gewinnt sie nur, indem sie sich jemandem eröffnen. Andernfalls bleiben sie einem verschlossen, wie die biblische Geschichte vom Schatzmeister aus Äthiopien sehr schön veranschaulicht. Neue Paradigmen sind die Folgewirkung derartiger Ein-Sichten. Eine neue Ein-Sicht in die Texte der biblischen Überlieferung und damit in die Sache von Theologie und Glaube läßt sich nicht willentlich herbeiführen, weder durch das bloße Postulat eines neuen Paradigmas, noch auch durch eine Hermeneutilr. des Einverständnisses, wie sie Peter Stuhlmacher gefordert hae. Stuhlmachers sich unter anderem auf Adolf Schlatter berufende biblische Hermeneutik versucht das vorgängige Unverständnis zu überwinden, indem sie das Einverständnis mit den Texten der Bibel, ihren Fragen und Antworten als Vorbedingung der exegetischen Arbeit fordert. Praktisch soll dies durch die Erweiterung des 5 W Wink, a.a.O. (Anm. 3), S. 18. 6 Vgl. F. &hleiermacMr, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, hg. v. M. Redeker, Bd. I, Berlin 71960, § 10 (S. 71ft). 7 Vgl. P. StuhlmacMr, Vom Verstehen des Neuen Testaments. Eine Hermeneutik (NTD Erg. 6), Göttingen 1979, bes. S. 205ff.
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von Ernst Troeltsch formulierten Kriterienkatalogs geschehen, der historisches Arbeiten an Texten durch Analogie, Kritik, Kausalität und Korrelation definiert sah1• Stuhlmacher ergänzt diesen Katalog um das Kriterium des Vernehmens9 • Zwar räumt er ein, daß der Glaube nicht als Verständnisprinzip innerhalb der Exegese vorausgesetzt werden kann, fordert von dieser jedoch, sich dafür offenzuhalten, »daß das biblische Wahrheitszeugnis Glauben wirkt und daß eine der Bibel geltende Hermeneutik des Einverständnisses in der Bewegung >aus Glauben in Richtung auf Glauben< {Röm 1,17) verläuft« 10• Letztlich wird der Glaube in Stuhlmachers Hermeneutik des Einverständnisses eben doch zur Vorbedingung der Exegese gemacht, wenn er schreibt: »Kirchliche Schriftauslegung kann sich weder der um die Bibel bemühten Glaubensgemeinschaft entziehen, noch kann sie übersehen, daß die biblischen Texte zum Bekenntnis und Lebensvollzug des Glaubens einladen«11. Hermeneutisch problematisch ist nicht das Letztere, wohl aber die geforderte vorgängige Einbindung in die Glaubensgemeinschaft. Der Glaube ist in diesem Fall nämlich nicht mehr wie bei Paulus eine Frucht oder Gestalt des Verstehens, sondern dessen Vorbedingung. Ist aber der Glaube selbst eine Weise des Verstehens, wie Rudolf Bultmann oder Ernst Fuchs dargelegt haben, so versucht Stuhlmachers Hermeneutik des Ein8 Siehe E. Troeltsch, Ueber historische und dogmatische Methode in der Theologie, in: ders., GS II, Tübingen 1913, S. 729-753. 9 P. Stuhlmacher, a.a.O. (Anm. 7), S. 219{ Siehe zum Ganzen auch den., Schriftauslegung auf dem Wege zur biblischen Theologie, Göttingen 1975; den., Zur Methoden- und Sachproblematik einer interkonfessionellen Auslegung des NT, in: EKK-Vorarbeiten, Zürich 1972, S. 11-55. 10 P. Stuhlmacher, a.a.O. (Anm. 7), S. 222. II Ebd. Vgl. auch a.a.O., S. 225: »Im Leben aus der Versöhnung für die Versöhnung hat die Hermeneutik des Einverstlndnilles mit den biblischen Texten ihren umfaaenden Bewlihrungshorizont.«
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Verständnisses das vorherrschende Unverständnis gegenüber den neutestamentlichen Texten im Grunde dadurch zu unterlaufen, daß sie das Verstehen, welches doch nur Ziel des Auslegungsprozesses sein kann, appellativ zur Voraussetzung erklärt. Die Hermeneutik des Einverständnisses läuft also auf eine petitio principii hinaus 12 • Das gleiche Dilemma kennzeichnet aber auch die politische Theologie, z.B. bei Johann Baptist Metz, welcher den zwischen uns Heutigen und den biblischen Texten gestörten hermeneutischen Zirkel durch eine Veränderung unserer Lebenspraxis zu schließen versucht. Zustimmung verdient m. E. die Diagnose von Metz, wonach unser Unverständnis gegenüber den Texten der Bibel, insbesondere gegenüber denen des Neuen Testaments eine Folge fehlender Naherwartung ist, welche den Glauben und das Leben der ersten Christinnen und Christen in der Nachfolge Jesu bestimmt hat. In seinen >Unzeitgemäßen Thesen zur Apokalpytik< geht Metz davon aus, »daß die geschichtliche Krise des Christentums nicht eigentlich eine Krise seiner Botschaft und seiner Glaubensinhalte ist, sondern eine Krise seiner Subjekte und Institutionen, die sich dem unweigerlich praktischen Sinn dieser Inhalte zu sehr entziehen«u. Nur in der radikal gelebten Nachfolge sei ein 12 Zur Sachproblematik siehe auch die Kontroverse zwischen E Grl!ßer, Offene Fragen im Umkreis einer biblischen Theologie, ZThK 77, 1980, S. 20Q-221, und P. Stuhlrruzcher, »... in verrosteten Angeln«, ZThK 77, 1980, S. 222-238. Auf die problematischen historischen, einleitungswissenschaftlichen Urteile Stuhlmachers kann hier ebensowenig eingegangen werden wie auf seinen fragwürdigen Versuch, die Aussagen sämtlicher Schriften des Neuen Testaments auf das »Evangelium von der Versöhnung in Christus« zu reduzieren (vgl. a.a.O., Anm. 7, S. 225ff). 13 J. B. Metz, Hoffnung als Naherwartung oder der Kampf um die verlorene Zeit. Unzeitgemäße Thesen zur Apokalyptik, in: ders., Glaube in Geschichte und Gesellschaft, Mainz 4 1984, S. 149-158, hier S. 149.
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neues Verstehen der biblischen Texte möglich. Ein Leben in der Nachfolge Jesu aber setze ein apokalyptisches Zeitverständnis und das heißt die brennende Naherwartung des Reiches Gottes voraus. »Der christliche Gedanke der Nachfolge und der apokalyptische der Naherwartung gehören unbedingt zusammen. Nachfolge Jesu radikal, d.h. an der Wurzel gefaßt, ist nicht lebbar, >wenn die Zeit nicht abgekürzt wird<. Jesu Ruf: >Folge mir nach!<, und der Ruf der Christen: >Komm, Herr Jesusl< sind untrennbar« 14• Naherwartung und Nachfolge geraten bei Metz in einen Zirkelschluß. Einerseits soll die Naherwartung die Nachfolge motivieren, andererseits die Nachfolge eine Erneuerung christlicher Naherwartung. Durch seine »Betonung des Erwartungscharakters christlicher Hoffnung« will Metz »die Praxis der Christen, kurz gesagt: die Nachfolge, unter Zeitdruck bringen« 15 • Dieser Zeitdruck ist aber doch künstlich, solange die Hoffnung auf das Reich Gottes in ihrer ursprünglichen Form nicht mehr einsichtig ist, weil sie sich in der von Jesus und den ersten Christen erwarteten Form nicht erfüllt hat. Metz versucht sich und seine Leser künstlich in jene Vorstellungswelt des Urchristentums zurückzuversetzen, die ihre Plausibilität verloren hat. Die von Metz geforderte radikale Praxis der Nachfolge hat Albert Schweitzer seinerzeit am Beispiel der Bergpredigt als Interimsethik beschrieben. Anders als Metzwar Schweitzer jedoch davon überzeugt, daß wir zu jener Ethik nicht zurückfinden können, indem wir uns wider besseres Wissen die durch den Fortgang der Geschichte widerlegte Vorstellungswelt urchristlicher Naherwartung aneignen wollen. Die geschichtliche Krise des Christentums ist also doch nicht nur eine Krise sei~ ner Subjekte und ihrer Praxis, sondern eben auch sehr wohl eine Krise seiner Botschaft und ihrer Inhalte. 14 A.a.O. (Anm. 13), S. 155. 15 A.a.O. (Anm. 13), S. 149.
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3. Die Sünde im Verstehen Der geschichtlichen Krise des Christentums und dem mit ihr verbundenen Bedeutungsverlust der biblischEm Überlieferung wird m.E. nicht mit einer wie auch immer gearteten Hermeneutik des Einverständnisses sondern nur mit einer Hermeneutik des Unverstiindn.isses beizukommen sein. Unser Unverständnis gegenüber der Botschaft des Neuen Testaments und unsere fehlende Bereitschaft zur Nachfolge bilden einen circulus vitiosus. Einverstanden mit den zentralen Inhalten der Bibel ist nur der, welcher versteht, und das heißt glaubt und seinen Glauben lebt. Unser Vorverständnis ist hingegen zunächst immer dasjenige des Unglaubens und darum des Unverständnisses. Theologisch gesprochen ist unser Vorverständnis das Unverständnis der Sünde, unser Unverständnis die »Sünde im Verstehen« 16• Und eben deshalb sind wir von Haus aus überhaupt nicht einverstanden mit dem, was die biblischen Autoren über die Welt, die Verfassung der menschlichen Existenz und unser Gottesverhältnis zu sagen wissen. Der Glaube als eine Weise des Verstehens ist immer Überwindung des Unglaubens als des vorgängigen Unverständnisses. Eine Hermeneutik des Unverständnisses ist darum nichts Geringeres als ein Akt der Buße, welche mit dem Eingeständnis unserer theologischen Sprachlosigkeit beginnt. Allein solche Buße kann der erste Schritt auf dem Weg zu einer neuen Ein-Sicht in die Sache und Sprache des Neuen Testamentes sein. Das Warten hierauf beginnt erst, wenn der Verlust der Sprache offen eingestanden und nicht länger durch die Präsentation immer neuer Paradigmen überspielt wird. Eine Hermeneutik des Einverständnisses droht demgegenüber den Weg zu einem neuen Verständnis der biblischen Überlieferung eher zu verbauen als freizuma16 H Weder, Neutestamentliche Hermeneutik, Zürich 1986, S. 83ff.
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chen. Soll es noch einmal zu neuer Ein-Sicht kommen, wird man stattdessen wie Franz Overbeck versuchen müssen, die biblischen Texte »gegen die Attentate ungewaschener Subjektivität ihrer Ausleger« zu schützen, weil sie solches Schutzes »bedürftig und würdig« sind 17 • Es wäre schon viel für das Verständnis der Bibel gewonnen, wenn wir zunächst einmal zu verstehen versuchten, warum wir nicht verstehen.
4. Unverständnis und Metlwde Dazu kann es hilfreich sein, sich eingehender mit der Theologie- und Christentumskritik Franz Overbecks auseinanderzusetzen. Overbeck hat eine neutestamentliche Hermeneutik des Unverständnisses formuliert, die Ausdruck seines religiösen Skeptizismus war. Dieser aber resultierte gerade aus der von Johann Baptist Metz formulierten Einsicht, daß sich zwischen der apokalyptischen Naherwartung der ersten Christen und dem modern-bürgerlichen Christentum ein garstig breiter Graben auftue. Anders als Metz war Overbeck jedoch skeptisch, daß sich dieser Graben noch auf irgendeine Weise überwinden lasse. Vielmehr sei die zweitausendjährige Geschichte des Christentums das Dementi seiner Erwartung des baldigen Weitendes, welche sich nicht in der Manier der liberalen Theologie des 19. Jahrhunderts als bloße Schale von einem überzeitlich gültigen Kern ewiger Wahrheiten ablösen lasse, sondern überhaupt das Wesen des Christentums ausmache. Overbecks Hermeneutik der biblischen, insbesondere der neutestamentlichen Texte gewinnt an Profil, wenn man sie mit der die Geschichte der modernen Hermeneutik nachhaltig prägenden Theorie Friedrich Schlei17 F. Overbeck, Christentum und Kultur. Gedanken und Anmer-
kungen zur modernen Theologie, aus dem Nachlaß hg. v. C.A. Bernoulli, Basel 1919, S. 76.
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ermachers vergleicht. Schleiermachers allgemeine Hermeneutik fußt auf der Voraussetzung, »daß sich das Mißverstehen von selbst ergiebt und das Verstehen auf jedem Punkt muß gewollt und gesucht werden« 18• Schleiermachers Hermeneutik läßt sich also als eine solche des Mißverständnisses bezeichnen. Diese versagt jedoch nach Overbecks Auffassung an den Texten des Neuen Testaments. Und zwar scheitert sie seiner Meinung nach an dem Umstand ihrer Kanonisierung, welche nichts anderes als das Eingeständnis späterer Generationen sei, die Texte der urchristlichen Uberlieferung nicht mehr zu verstehen. Für Overbecks Hermeneutik des Unverständnisses kommt der Kanonbildung deshalb entscheidende Bedeutung zu, weil er sie als das Eingeständnis interpretiert, daß das Urchristentum mit seinen Hoffnungen auf die baldige Wiederkunft Christi endgültig gescheitert ist. Overbecks Hermeneutik der neutestamentlichen Texte besagt, daß diese grundsätzlich nicht mehr verstanden, sondern nur noch ausgelegt werden können. Overbeck klassifiziert die Schriften des Neuen Testaments als der Urgeschichte des Christentums zugehörige Urliteratur 19 • Sein Begriff der Urliteratur ist mit demjenigen der urchristlichen Literatur, wie ihn Dibelius und Vielhauer - letzterer ausgerechnet unter Berufung auf Overbeck - entwickelt haben, nicht zu verwechseln20• Urliteratur im Sinne Overbecks ist nicht das Schrifttum aus einer historiographisch beschreibbaren Frühphase des Christentums, sondern das literarische Zeugnis einer Urgeschichte, deren Wesen darin besteht, als Entste18 F. &hleiermacher, Hermeneutik. Nach den Handschriften neu hg. u. eingel. v. H. Kimmerle, Heidelberg 1959, S. 86 u.ö. 19 Vgl. F. Overbeck, Über die Anfänge der patristischen Literatur (1882), Nachdruck Darmstadt 1966, S. 16ff. 20 Siehe dazu M Rese, Fruchtbare Mißverständnisse. Franz Overbeck und die neutestamentliche Wissenschaft, in: W. Brlbulle / E. Stegemann (Hg.), Franz Overbecks unerledigte Anfragen an das Christentum, München 1988, S. 211- 226.
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hungsgeschichte jeder historischen Forschung prinzipiell unzugänglich zu sein. Folgt man der Geschichtstheorie Overbecks, so liegen die Anfänge jeder historischen Erscheinung, mithin auch diejenigen einer Bewegung wie der des Christentums, in einem undurchdringlichen Dunkel, das auch mit dem Instrumentarium historischkritischer Forschung nicht aufzuhellen ist 1• Ur- oder Entstehungsgeschichte und Geschichte bzw. Historie trennt nicht eine lediglich chronologische Differenz, sondern ein qualitativer Sprung. Ihm entspricht nach Overbeck der qualitative·Sprung, den er zwischen Literatur und Urliteratur zu erkennen· glaubt. »Das Vergangene aller Urliteratur ist eben nicht. einfach Vergangenheit, sondern qualifizierte Vergangenheit oder Vergangenheit in zweiter Potenz - Mehrals- Vergangenheit, Uebervergangenhdt: es ist, nahezu, nichts mehr von Gegenwart darin« 22• Das Kennzeichen von Urliteratur besteht in einer »unmittelbaren Einheit von Entstehung und Wirksamkeit«~. Mit dem Ende der Urgeschichte sind die Verslehensbedingungen- und das heißt eben auch die Lebensbedingungen! - der christlichen Urliteratur unwiderruflich verlor~ngegangen. »Das Urchristentum lebt für uns wohl noch in Büchern, aber nur noch in solchen, so daß wir nahezu gar nichts von den Menschen wissen, die sie schrieben«24• Da wir nach Overbecks Urteil aber weder über die Autoren noch über die ursprünglichen Adressaten der urchristlichen Schriften gesicherte Erkenntnisse gewinnen können, ist jegliches Verstehen der neutestamentlichen Schriften, wie es z.B. die produktionsästhetische25 Her-
21 Vgl. F. Overbeck, a.a.O. {Anm. 17), S. 20ff. 22 A.a.O. (Anm. 17), S. 23. 23 Ebd. 24 Ebd. 25 Richtet eine produlctWnsiistheti.sche Textinterpretation ihr Augenmerk auf die Intention des Autors, die sie zu rekonstruieren versucht, so eine 1Y!Zeptionsiisthetische Deutung auf den Leser,
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meneutik Schleiermachers sucht, ausgeschlossen. »Die christliche Urliteratur ist darum für spätere Geschlechter und noch für uns so schwer verständlich, weil sie es für ihr ursprüngliches Publikum so unmittelbar war~. Recht drastisch kann Overbeck formulieren, am neutestamentlichen Kanon halte man »den Totenschein« der christlichen Urliteratur in Händen27 • Der Grund ist folgender: »Sie verschmähte es, dem Inhalt ihrer Schriften mit Hilfe literarischer Formen größere Allgemeingültigkeit zu verschaffen. Indem sie so selber versäumte, sich den Anschluß an die Weltliteratur zu sichern, ist sie von der Kirche kanonisiert worden: das will sagen, die Nachwelt hat darauf verzichtet, sie zu verstehen, und sich vorbehalten, sie auszulegen« 28 • Overbeck unterscheidet zwischen historischem Perstehen und applikativem Auslegen von Texten. Diese Unterscheidung basiert auf der auch für Schleiermacher grundlegenden hermeneutischen Prämisse, nach welcher das Verstehen gleichbedeutend mit der Rekonstruktion der ursprünglichen Aussageabsicht des Autors is~. Während aber Schleiermacher deren Rekonstruktion lediglich in gewissen Grenzfällen für undurchführbar hält, ist diese Grenzsituation nach Overbeck im Neuen Testament der Regelfall. Mit dem Ende der christlichen Urgeschichte, also der Ursprungsgeschichte des Urchristentums, haben die neutestamentlichen Texte, folgt man Overbeck, erzwungenermaßen gegenüber ihren Autoren Autonomie erlangt. Diese ist die Voraussetzung aller kirchlichen Bi-
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der versucht, im Akt des Lesens den Sinn eines Textes zu erfassen. F. Overbeck, a.a.O. (Anm. 17), S. 23f. A.a.O. (Anm. 19), S. 29. A.a.O. (Anm. 17), S. 24; vgl. auch a.a.O., S. 75. Schleiermacher unterscheidet allerdings nicht zwischen Verstehen und Auslegung, sondern zwischen Verstehen und NutztznUJen.dung, wobei Verstehen bei Schleiermacher mit Auslegung gleichbedeutend ist. Vgl. a.a.O. (Anm. 18), S. 154f.
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belexegese, die nicht nur über weite Strecken ihrer Geschichte faktisch, sondern wesenhaft allegorisch ist. Die Annahme, derzufolge die neutestamentlichen Schriften auf Grund göttlicher Eingebung entstanden sind, bewertet Overbeck als hermeneutischen Reflex des Umstands, daß diese Texte mit dem Ende der Urgeschichte des Christentums ihre Verständlichkeit eingebüßt haben50. Allegorische Schriftauslegung aber ist stets eine Weise der Applikation. »Denn Auslegung kanonischer Texte hat zum geringsten Teil ihr Verständnis zum Ziel, praktischere Mittel gehen dem weit voraus«~ 1 • Overbeck scheut sich nicht zu behaupten: »Alle theologische Exegese ist allegorisch, verschämt oder unverschämt, oder sie ist überhaupt keine theologische Exegese mehr, sondern nur das Mittel, Texte, die theologische Exegese in ihrem religiösen Ansehen zu erhalten sich bemüht, in diesem Sinn los zu werden« 52• Overbeck sieht sich nicht genötigt, dieses weitreichende Urteil im Hinblick auf die historisch-kritische Forschung einzuschränken. Im Gegenteil: Die historisch-kritische Exegese, namentlich die Literarkritik, ist nach seiner Ansicht nichts anderes als ein »Ersatz für die wächserne Nase, welche die theologische Exegese der Schrift für ihre Zwecke an der allegorischen Exegese verloren hat«". Was historisch-kritische Exegese und allegorische Schriftauslegung miteinander verbindet, ist die Suche nach einem Text hinter dem Text. An die Stel30 Vgl. F. Overbeck, a.a.O. (Anm. 19), S. 16( 31 A.a.O. (Anm. 17), S. 75. Zur allegorischen lnterpretatioOIWeise siehe a.a.O., S. 89f( 32 A.a.O. (Anm. 17), S. 91. ~ A.a.O. (Anm. 17), S. 89. Zur Methode der literarkritiachen Quellenscheidung äußert sich Overbeck a.a.O., S. 85ff Die allegorische Schriftauslegung war nach seinem Urteil ihrerseits »eine Art von Surrogat für den nicht mehr lebenden Mythusc des Urchristentums. Siehe F. Overbeclc, Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie, a1903, Nachdruck Darmstadt 1981, S. 36.
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le des vorfindlichen, unverständlich gewordenen Textes tritt ein fiktiver, sei es derjenige eines allegorischen Schriftsinns, sei es derjenige einer postulierten literarischen oder gar vorliterarischen Quelle oder Urfassung, mit deren Aussagen man etwas Besseres glaubt anfangen zu können. »Dabei ist doch sehr die Frage, wer die >Freieren< sind, die alten unbedenklichen Allegoristen oder die modernen versteckten. Jene beugten sich unter die Texte, aber behaupteten sich und ihre Phantasie nur um so rücksichtsloser. Diese ziehen die Texte zu sich herab, sind aber zugleich nur um so mehr darauf bedacht, sich im Zaum und >zurück< zu halten«~.
5. Der Vorgang Autonomie Overbecks neutestamentliche Hermeneutik des Unverständnisses berührt sich nun in wesentlichen Punkten mit der modernen Rezeptionsästhetilr. bzw. literarischen Hermeneutilr. 55 • Die unterschiedlichen Ansätze einer literarischen Hermeneutik kommen gerade darin überein, daß jeder Text, nicht nur die biblischen Schriften, Autonomie gegenüber seinem Autor und seinen soziokulturellen Entstehungsbedingungen gewinnt; und zwar nicht erst durch einen Wandel der Lebenswelten, sondern schon durch den bloßen Vorgang der Schriftwerdung. So erklärt Paul Ricreur ganz grundsätzlich: »Was der Text bedeutet, fallt nicht mehr mit dem zusammen, was der Autor sagen wollte. Wörtliche, daß 34 A.a.O. (Anm. 17), S. 91. 35 Aus der Fülle rezeptionsästhetischer Arbeiten seien genannt: H R. Jauß, Zur Abgrenzung und Bestimmung einer literarischen Hermeneutik, in: Poetik und Hermeneutik IX. Text und Applikation, hg. v. M Fuhrmann, München 1981, S. 459-481; ders., Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a.M. 1982; R. WarnirzR {Hg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München !1988.
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heißt Text gewordene, und nur gedachte oder psychologische Bedeutung haben von nun an unterschiedliche Schicksale« 56• Damit gewinnen nun aber der Leser und der Akt des Lesens fundamentale Bedeutung für das Verstehen~7.
Was Overbeck für die Schriften des Neuen Testaments beklagt, gehört nach rezeptionsästhetischer Einsicht zu jedem Akt des Lesens: In ihm zerbricht die Welt des Textes diejenige d~s Autors wie seiner früheren Leser. ·Overbeck wirft der allegorischen Schriftauslegung und aller sonstigen theologischen Exegese vor, aus der Not solcher Verfremdung eine Untugend zu machen und erklärt den Tod des Urchristentums zum Tod auch seiner Literatur. Ganz anders liegen jedoch die Dinge für eine rezeptionsästhetische Betrachtungsweise. So arbeitet Ricreur heraus, daß die mit der Verschriftung verbundene Autonomie des Textes gegenüber seinem Autor und seiner Ursprungssituation keine Verfallserscheinung ist, sondern eine positive Rolle für das Verstehen spielt: »die Verfremdung ist nicht das Ergebnis der Methode und also nicht etwas nachträglich Zugefügtes oder gar Schädliches; sie konstituiert vielmehr die Erscheinung des Textes als Schrift; zugleich ist sie die Bedingung der Interpretation. Die Verfremdung ist nicht nur das, was das Verstehen besiegen muß, sondern auch das, was·dieses bedingt« 58 • Gegen Overbeck läßt sich also einwenden, daß das hermeneutische Problem des Unverständnisses, wie es sich ihm darstellt, nicht auf die neutestamentlichen Schriften oder andere Arten von Urliteratur beschränkt 36 P. RicCEur, Philosophische und theologische Hermeneutik, in: ders./E. Jangel, Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache, München 1974, S. 24--45, hier S. 28. 37 Siehe dazu W. Iser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 2 1984; ders., Der implizite Leser, München 1972. 38 P. Ric«Eur, a.a.O. (Anm. 36), S. 29.
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ist, sondern in mehr oder weniger starkem Maße alle Literatur betrifft. Rezeptionsästhetisch betrachtet ist Overbecks Begriff der Urliteratur daher nicht unproblematisch. Der von Overbeck postulierte qualitative Unterschied zwischen Literatur und Urliteratur ist unter hermeneutischen Gesichtspunkten g~-~~_g~r, als Overbeck glaubt. Auch bedeutet das Unverstänanis im Sinne Overbecks, d.h. das Scheitern produktionsästhetischer lnterpretationsversuche, nicht schon das Ende jeglichen Verstehens überhaupt.
6. Glauben und Verstehen Was Overbeck für den Tod der neutestamentlichen Texte hält, ist in Wahrheit eine entscheidende Bedingung dafür, daß sie von ihren Lesern verstanden werden können. Diese These setzt freilich einen anderen Begriff des Verstehens als denjenigen Overbecks voraus. Das Verstehen, um das es bei jeder Lektüre, in ausgezeichneter Weise aber beim Lesen der biblischen Texte geht, istmit Ricreur gesprochen - ein »Sich verstehen vor dem Text. Es heißt nicht, dem Text die eigene begrenzte Fähigkeit des Verstehens aufzuzwingen, sondern sich dem Text auszusetzen und von ihm ein erweitertes Selbst zu gewinnen, einen Existenzentwurf als wirklich augeeignete Entsprechung des Weltentwurfs«, den ein Text bereitstellt. »Nicht das Subjekt konstituiert also das Verstehen sondern -so wäre wohl richtiger zu sagen- das Selbst wird durch die >Sache< des Textes konstituiert«!9. Insofern ist alles Verstehen immer schon Aneignung, d.h. applikativ. Während Overbeck jedoch in der Applikation biblischer Texte nur die Willkür ihrer Ausleger am Werke zu sehen vermag, zeigt Ricreur auf, daß der Leser seinerseits allererst durch den Text als lesendes Subjekt konstituiert wird. »Ich, der Leser, fmde mich 39 A.a.O. (Anm. 36}, S. 33.
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nur, indem ich mich verliere«, nämlich im Akt des Lesens40• Solches applikative Verstehen ist freilich nur dann kein willkürlicher Umgang mit Texten der Bibel, wenn der Akt des Sich-vor-dem-Text-Verstehens »eine Kritik der lllusionen des Subjekts« einschließt: »Eine >Hermeneutik des Verdachts< gehört heute als interpretierender Teil zu jeder Aneignung des Sinnes. Mit ihr geht der >Abbau< der Vorurteile fort, die es verhindern, die Welt des Textes sein zu lassen« 41 • Im Akt des Lesens gerät der Leser in den Text hinein, um ihn so zu vervollständigen und zugleich selbst als Subjekt neu konstituiert zu werden42 • Dies gilt auch vom Glauben, der nichts anderes ist als eine auf Ein-Sicht beruhende, in bestimmter Weise qualifizierte Form der Rezeption biblischer Überlieferung. Der Glaube ist ein Verstehen biblischer Texte, durch welches der Leser nicht nur in den Text gerät, um ihn zu vervollständigen, sondern durch welches er seinerseits verwandelt wird, indem er sich neu verstehen und so neu zu leben lernt. Solch ein verwandelndes Verstehen ist aber ein Widerfahrnis, das weder durch den Appell an unser Einverständnis noch durch das Postulat eines neuen Paradigmas erzeugt werden kann. Das Verstehen des Glaubens kann sich selbst nicht als Tat, sandern nur als Gabe begreifen. Ratlos vor der Bibel können wir darum nur wie Bonhoeffer erklären: »Es ist nicht unsere Sache, den Tag vorauszusagen - aber der Tag wird kommen -, an dem wieder Menschen berufen werden, das Wort Gottes so auszusprechen, daß sich die Welt darunter verändert und erneuert« 45 • 40 Ebd.
41 A.a.O. (Anm. 36), S. 44. 42 Vgl. U &o, Leetor in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, München 1987, S. 61: »Insofern ein Text aktualisierbar ist, ist er unvollständig.« 43 D. &nJweffir, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnung aus der Haft, hg. v. E. Bethge, Neuausgabe München ~1985, s. 328.
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Wenn auch Hermeneutik das Verstehen nicht zu erzwingen vermag, so kann sie doch die Bedingungen möglichen Verstehens beschreiben. Die beiden Größen, die im Fall der biblischen Hermeneutik einer genaueren Analyse bedürfen, sind Schrift und Geist. Nach theologischem Verständnis konstituiert der göttliche Geist den möglichen hermeneutischen Zirkel zwischen Text und Leser. Indem aber die Erfahrung des Heils an das Verstehen der Schrift gebunden ist, bedarf deren Textualität, d.h. der Umstand, daß ein materielles Artefakt Medium der Heilsvermittlung sein soll, einer hermeneutischen Analyse. Welche Konsequenzen sich aus der Textualität der Schrift für das Verhältnis von Geist und Buchstabe und damit für eine biblische Hermeneutik ergeben, soll im folgenden Kapitel untersucht werden.
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Drittes Kapitel
Schrift und Geist Über Legitimität und Grenzen allegorischer Schriftauslegung Gott hat die heiligen Schriften dem Fassungsvermögen so vieler angepaßt, die darin einen so verschiedenen und doch wahren Sinn fmden sollten. Augustin, Confessiones XII,31
1. Zurück zum vierfachen &hri.ftsinn? Die Stunde der Abrechnung scheint gekommen. Wie einst Friedrich Nietzsche Anlaß hatte, über Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben nachzudenken•, so ist es heute an der Zeit, Gewinn und Verlust der historisch-kritischen Bibelauslegung zu bilanzieren. Vor zweihundert Jahren trat sie ihren Siegeszug an und half dem Christentum entscheidend mit, den Anschluß an die Moderne zu finden. Nach anfänglichen Widerständen erkannten schließlich auch die Kirchen den Nutzen der Historie für das Lesen, nämlich für das Lesen der Bibel an, die um des Lebenswillen gelesen werden will. Gegenwärtig aber voßzieht sich auf breiter Front eine Abkehr von der historisch-kritischen Exegese. Ihr Nutzen wird inzwischen längst nicht mehr nur von fundaF. Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874), in: ders., Werke I, hg. v. Karl Schlechta, Darmstadt '1982, s. 209-285.
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mentalistischen Kreisen bezweifelt. Die historisch-kritische Forschung wollte den Menschen der aufgeklärten Moderne neue Zugänge zur Bibel eröffnen, indem sie die aufgeklärte Vernunft von der Zumutung befreite, das in der Bibel Berichtete oder Verkündigte und Verheißene buchstäblich für wahr zu halten. Inzwischen wird zunehmend lauter die Frage gestellt, ob nicht gerade die an den Universitäten gelehrte Exegese erheblich dazu beigetragen hat, daß die Bibel bei vielen Zeitgenossen ungelesen im Bücherschrank steht, weil der Nutzen des Bibellesens für das Leben nicht mehr einsichtig ist. Es sind längst nicht mehr nur theologische Außenseiter, welche den Bankrott der historisch-kritischen Bibelauslegung erklären~. Das Unbehagen an der Schulexegese greift unter den Theologiestudierenden immer mehr um sich. Selbst ein Verfechter historisch-kritischer Exegese hat kürzlich eingeräumt, »daß weite Teile heutiger Exegese blutleer wirken.« Man könne sich »des Eindrucks kaum erwehren, daß die herkömmlich angewandte Methode zuweilen die Texte ihrer Kraft buchstäblich beraubt«~. Noch weiter reicht die Kritik des katholischen Theologen Eugen Drewermann, die historisch-kritische Bibelauslegung zerstöre nicht nur das Leben der biblischen Texte, sondern das religiöse Leben insgesamt, weil sie die Dimension der Erfahrung völlig vernachlässige. Universitätstheologen und offizielle Kirchenvertreter hätten viele Jahre ihres Lebens damit zugebracht, von Dingen zu sprechen, die sie »nie 2 Siehe z.B. W. Wink, Bibelauslegung als Interaktion. Über die Grenzen historisch-kritischer Methode, Stuttgart 1976, bes. S. 7f{ 3 G. Lüdenuznn, Träume -die vergessene Sprache Gottes? Zur tiefenpsychologischen Exegese Eugen Drewermanns, Md.KI 41, 1990, S. 67-73, hier S. 68. Siehe auch Lüdemanns ausführliche Kritik in: G. Lüdemann, Texte und Träume. Ein Gang durch das Markusevangelium in Auseinandersetzung mit Eugen Drewermann (Bensheimer Hefte 71), Göttingen 1992.
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gefühlt, nie erfahren, nie erlebt und nie erkannt, dafür aber allen erklärt, bewiesen, begründet und verkündet« hätten•. Im Kern lautet die sich formierende Kritik an der historisch-kritischen Exegese, daß sie dem Bedeutungsverlust der Bibel Vorschub leistet, indem sie zu einem religiösen Erfahrungsverlust führt. Entgegen ihrem erklärten Ziel gelinge es der historisch-kritischen Bibelauslegung nicht, die Lebens- und Erfahrungswelt der biblischen Schriften, ihrer Autoren und ihrer ursprünglichen Leser zu erschließen, geschweige denn diese mit unserer heutigen Erfahrungswelt zu vermitteln. Die Historie erwecke die alten Texte nicht zu neuem Leben, sondern sei deren Totengräber. Historische Textanalyse und Rekonstruktion verhindere jene Leseerfahrung, die doch das Ziel jeder Bibellektüre sein sollte, nämlich eine neue »Erfahrung mit der Erfahrung« zu machen 5• So nimmt es nicht wunder, daß nach neuen, erfahrungsbezogenen Zugängen zur Bibel gesucht wird6• Um solche Zugänge bemühen sich je auf ihre Weise die Ansätze einer tiefenpsychologischen, einer feministischen, einer befreiungstheologischen oder auch einer materialistischen Exegese. So unterschiedlich ihre Zuga.npweisen im Einzelnen sind, so verbindet sie doch die Überzeugung, daß Sinn und Bedeutung biblischer Texte nicht auf die - historisch-kritisch zu erhebende- bewußte Aussageabsicht ihrer Verfasser reduziert werden darf, sondern daß auch Tieferliegendes, Unbewußtes in 4 E Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese II, Olten 5 1989, s. 18. 5 Vgl. G. Ebeli.lf6, Schrift und Erfahrung als Quelle theologilcher Aussagen, ZThK 65, 1978, S. 99-116, hier S. 114, der von der »gottgemäße[n] Erfahrung mit aller Erfahrung« in der Begegnung mit dem Wort Gottes gesprochen haL 6 Einen Überblick über die verschiedenen Ansätze geben W. Lan&e'r(Hg.), Handbuch der Bibelarbeit, München 1987; H. /( &rg, Ein Wort wie Feuer. Wege lebendiger Bibelauslegung, München/Stuttgart 199 1.
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die Texte eingeflossen ist. Der Sinn eines biblischen Textes erschließe sich daher in vollem Umfang erst, wenn seine Tiefenschichten freigelegt würden. Gegenüber der von der historisch-kritischen Bibelauslegung postulierten Eindeutigkeit und Einsinnigkeit wird den Texten der Bibel somit eine Mehrdeutigkeit und Vielstimmigkeit zugestanden, wie sie- wenn auch unter anderen gedanklichen Voraussetzungen - in ähnlicher Weise die altkirchliche und mittelalterliche Lehre vom mehrfachen Schriftsinn angenommen hat. Führt also die Kritik an der historisch-kritischen Forschung zur Rehabilitierung der von dieser radikal verworfenen allegorischen Schriftauslegung?7 Unübersehbar sind jedenfalls die Berührungspunkte zwischen der vorreformatorischen Auslegungstradition und heutigen Ansätzen einer tiefenpsychologischen Exegese. Beiden gemeinsam ist zum einen der Erfahrungsbezug ihrer Bibelauslegung, näherhin der Bezug zur Erfahrung des persönlichen Glaubens. Tiefenpsychologische wie mittelalterliche Schriftauslegung versuchen den historischen Abstand zwischen den Texten und ihren heutigen Lesern zu überwinden, indem sie eine zeitübergreifende Dimension des Daseins geltend machen, an der die einer fernen Vergangenheit entstammenden Texte der Bibel wie ihre heutigen Leser in gleicher Weise partizipieren. Beide Auslegungsweisen teilen darum zum anderen die Überzeugung, daß die biblischen Texte nicht eindimensional gelesen werden dürfen, weil ihr Wortlaut doppeldeutlich ist8 • Wie die 7 Unter dem Eindruck der Ergebnisse der Rezeptionsästhetik bzw. der literarischen Hermeneutik ist diese Frage von Hartwig Thyen aufgeworfen worden. Siehe H Thyen, in: Seht, euer Gott. Sieben Auslegungen zu Passions- und Ostertexten aus dem Johannesevangelium, zur 51. Bibelwoche 1988/89, hg. v. Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste (Texte zur Bibel 4), Neukirchen-Vluyn 1988, S. 12. 8 Zum Begriff vgl. Y. Spiegel (Hg.), Doppeldeutlich. Tiefendimensionen biblischer Texte, München 1978.
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mittelalterliche Lehre vom mehrfachen Schriftsinn begreifen auch die verschiedenen Ansätze einer tiefenpsychologischen Schriftauslegung die Texte der Bibel nicht nur als historische Dokumente vergangener Glaubens-, und Lebenserfahrungen, sondern auch als Medium heutiger, persönlicher Glaubenserfahrungen. Nach allegorischer wie nach tiefenpsychologischer Auffassung sprechen die biblischen Texte nicht nur den menschlichen Verstand, sondern alle Schichten des Daseins an. Sie haben es also auch mit unserem Körper und unseren Gefühlen zu tun. Die Frage drängt sich auf, ob nicht das heutige Gespräch zwischen Tiefenpsychologie und biblischer Exegese zu einer Neubewertung der von den Reformatoren wie von der Aufklärung abgelehnten Tradition allegorischer Schriftauslegung führen muß. Gleiches gilt vom Bibliodrama, das den Zugang zu biblischen Texten auf dem Weg eines in einer Gruppe stattfmdenden Spielund Interaktionsprozesses sucht, in dem sicß Texterfahrung und Selbsterfahrung wechselseitig durchdringen9 • »Im Bibliodrama tut sich nicht selten ein {auch)' allegorisches Verstehen des Textes auf; die Allegorese kehrt zurück im mimischen Spiel«, wodurch nach Auffassung des Neutestamentlers Tim Schramm, der sich selbst intensiv mit dem Bibliodrama beschäftigt, Bedeutungen eines Textes entdeckt werden, »die sich oft als so evident erweisen, daß die strikte Abwehr einer allegorischen Auslegung durch die historisch-kritische Exegese als unangemessen erscheint« 10• Wie aber läßt sich das sachliche Recht der Tradition allegorischer Schriftauslegung und ihrer Lehre von einem mehrfachen Schriftsinn vom exegetischen Standpunkt aus begründen? Welches sind ihre Grundzüge und gedanklichen Voraussetzungen? Wieweit läßt sich 9 Einführend siehe G. M Martin, Art. Bibliodrama, in: W. Langer (Hg.), a.a.O. (Anm. 6), S. 305-310. 10 T. Schramm, Bibliodrama und Exegese, in: .A. Ki.ehn u.a., Bibliodrama, Stuttgan 1987, S. 116-135, hier S. 132.
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die seit der Reformation an ihr geübte hermeneutische und theologische Kritik aufrecht erhalten? Worin bestehen umgekehrt die Schwächen der herkömmlichen Kritik? Welche Einsichten allegorischer Schriftauslegung lassen sich heute wiedergewinnen? Diesen Fragen wollen wir im folgenden nachgehen.
2. Allegorie und Allegorese >Allegorese< ist ein noch recht junger Begriff aus den Sprach- und Literaturwissenschaften. Er bezeichnet eine Auslegungstechnik, die einen Text, der keine Allegorie darstellt, so behandelt, als ob er allegorisch wäre 11 • Ist die Allegorese eine Methode der Auslegung, d.h. der Rezeption von Texten, so die Allegorie ein Verfahren der Textproduktion. Unter dem seit dem 1. Jahrhundert v. Chr. nachweisbaren griechischen Begriff allegoria faßt die antike Rhetorik süwohl Regeln zur Abfassung wie zur Interpretation von Texten zusammen. Als Auslegungstechnik spielt die Allegorese schon in vorchristlicher Zeit eine wichtige Rolle bei der Interpretation heiliger Texte. Etymologisch stammt das griechische Wort allegoria von alla agoreuein, was »etwas anderes sagen (als gemeint ist)« bedeutet. Klassisch ist die Allegorie von Quintillian definiert worden: »Die allegoria, die man mit >irtversio< übersetzt, zeigt entweder mit den Worten etwas anderes als der Sinn ist oder sogar gelegentlich das Gegenteil. Die erste Art entsteht meistens durch fortgesetzte Übertragungen {translationes).« »Jene Art aber, wo das Gegenteil zu verstehen gegeben wird, ist die Ironie (eironeia).« »Der fortgesetzte [sc. Gebrauch der Übertragung (translatio)] läuft auf Allegorie und Rätsel 11 Vgl. H CanciJc-Lindemaier, Art. Allegorese/Allegorie, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe I, Stuttgart 1988, s. 424-432.
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(aenigmata) hinaus« 12 • Allegoritz bezeichnet dasjenige, was in älterer Zeit hyponoia, also »Unter-Sinn« oder »tieferer Sinn« geheißen hat. Allegorische Texte sind demnach doppeldeutlich. Die in ihnen verwendete natürliche Sprache wird durch eine zweite, metaphorische Zeichenebene überlagert. Für ihre Auslegung folgt daraus, daß sie nur dann richtig interpretiert werden, wenn man sie gerade nicht wörtlich nimmt, sondern nach ihrer übertragenen Bedeutung fragt. Die Allegorese weitet diese Auslegungsmethode nun auf solche Texte aus, die nach historisch-kritischem Urteil gar nicht als Allegorie geschrieben worden sind. In unserem Kulturkreis hat sich dieses Interpretationsverfahren im Zusammenhang mit der Homer-Diskussion der griechischen Klassik entwickelt. Der Antrieb zu seiner Ausbildung bestand darin, einerseits die Epen Homers als unvermindert gültig auszuweisen, andererseits aber die Anstößigkeiten zu beseitigen, welche ihre anthropomorphe Darstellung der Götter bereiteten. Grundsätzlich ist die Allegorie also der Versuch, Texte einer fernen Vergangenheit, die in einer Religion oder Kultur kanonischen Rang haben und deren Wortlaut darum unangetastet bleiben muß, dadurch in ihrem Ansehen zu erhalten, daß ihren unverständlich oder obsolet gewordenen sprachlichen Ausdrücken eine neue Bedeutung unterlegt wird, die nicht der Vorstellungswelt des Textes und seines Autors, sondern derjenigen seines Auslegers entstammt. Auf diese Weise versucht die Allegorese den geschichtlichen Abstand zwischen dem Text und seinen späteren Lesern einzuebenen. Ihr Verfahren unterscheidet sich grundsätzlich von der auch für die historisch-kritische Bibelauslegung maßgeblichen grammatischen oder philologischen InterpretAtion, deren Ziel in der Rekonstruktion des vom Autor12 Quintillian, lnstitutio oratoria 8,6,44; 8,6,54; 8,6,14 {hg. v. L. Radermacher, T. 2, Leipzig 1935, S. 124.127.116).
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einst Gemeinten besteht. Die philologische Auslegung versucht den Abstand zwischen Text und Leser zu überwinden, indem sie zu den sprachlichen Ausdrücken der Vergangenheit nach Äquivalenten oder Analogien in der Gegenwartssprache sucht oder die Wörter des Textes kommentierend von neuen begleiten und erklären läßt 1 ~.
Im Unterschied zu einer historisch-philologischen Interpretation erfordert jede Allegorese die Annahme eines mindestens zweifachen Textsinns. Die buchstäbliche Bedeutung eines Textes, um dessen Erfassung sich die grammatische Interpretation bemüht, wird seit der Antike als sensus litteralis oder Literalsinn bezeichnet, seine unterstellte figurative, übertragene Bedeutung als sensus spiritualis, d.h. als geistiger oder geistlicher Sinn. Diese Unterscheidung ist auch für die im folgenden nachzuzeichnende Tradition christlicher Allegorese grundlegend.
}. Geistliche Exegese und mehrfacher &hriftsinn Die Ursprünge allegorischer Bibelauslegung liegen in neutestamentlicher Zeit. Ihr Anstoß war die Frage, mit welchem Recht und mit welcher Auslegungsmethode die christliche Gemeinde die heiligen Schriften des Judentums als heilige Schriften auch für den christlichen Glauben in Anspruch nehmen durfte. Weshalb konnte Paulus behaupten: »Alles, was vormals geschrieben worden ist, das ist zu unserer (d.h. der Christen aus Juden und Heiden!) Belehrung geschrieben, damit wir durch die Geduld und durch den Trost der Schriften die Hoffnung haben« (Röm 15,4)? Paulus gab eine Antwort, indem er das Alte Testament typologisch interpretierte. Wiewohl der Begriff der Typologie eine sprachliche 13 Vgl. P. Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik, Frankfurt a.M. 1975, S. 19.
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Neuschöpfung des 19. Jahrhunderts ist''\ findet sich die Sache doch schon bei Paulus, der in I Kor 10,6 erklärt, die Bestrafung der abtrünnigen Israeliten auf der Wüstenwanderung durch Gott sei als Vorbild (griechisch: typos) für die Christen zu deren Warnung erfolgt. Adam war nach Röm 5,14 ein Bild (typos) des kommenden Christus. Typologisch ist auch die Deutung von Hagar und Sara in Gal4,24ff, welche nach Auffassung des Paulus urbildlieh den Sinaibund und den Neuen Bund darstellen und zugleich auf das irdische bzw. das himmlische Jerusalem hinweisen. Daß Paulus die alttestamentliche Erzählung von Hagar und Sara als Allegorie bezeichnet (allegoreuein), zeigt uns, daß die spezifisch neutestamentliche Typologie eine Variante der allgemein bekannten Allegorese ist. Was sie von der üblichen Allegorese unterscheidet, ist allerdings der Grundgedanke, wonach die Doppeldeutlichkeit alttestamentlicher Texte nicht etwa bloß in der Mehrdeutigkeit einzelner Wörter besteht. Die typologische Exegese geht vielmehr davon aus, daß die durch ein Wort bezeichnete Sache doppeldeutig ist. Doppeldeutlich sind die Personen oder Ereignisse, von denen das Alte Testament berichtet, nach typologischer Auffassung aber deshalb, weil sie in einem heilsgeschichtlichen Zusammenhang mit den neutestamentlichen Vorgängen stehen. Sie bereiten selbst das Christusgeschehen vor, das sie zugleich urbildlieh vorwegnehmen. Im Unterschied zur Homer-Allegorese der Stoa, die sowohl für das hellenistische Judentum als auch für die christliche Exegese zum methodischen Vorbild wurde 15, 14 Vgl. H de Lubac, Geist aus der Geschichte. Das Schriftver-
ständnis des Origenes (1950), dt. Einsiedeln 1968, S. 451. 15 Siehe dazu G. &rdy, Art. Hellenisme, DBS 3, Paris 1938, Sp. 1442-1482; G. Gloclmuum, Homer in der frühchristlichen Literatur bis Justinus (TU 105}, Leipzig 1968; H Hegendlzhl, Latin Fathers and the Classics. A Study on the Apologists, Jerome and on other Christian Writers (AUG 64}, Göteborg 1958; J. Pepin, Mythe et Allegorie. Les origines grecques et les contestations
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blendet die typologische Auslegung den geschichtlichen Abstand zwischen Text und Leser nicht einfach aus, sondern macht ihn im Schema von Verheißung und Erfüllung ausdrücklich, um ihn so freilich auch zu überbrücken. Durch den heilsgeschichtlichen Ansatz einer typologischen Auslegung des Alten Testaments erhält die Allegorese darüber hinaus schon bei Paulus eine spezifisch christlich-theologische Begründung. In altkirchlicher Zeit wurde die allegorische Schriftauslegung auf die neutestamentlichen Schriften ausgedehnt, die im Verlauf eines im 2. Jahrhundert einsetzenden Prozesses neben dem Alten Testament kanonischen Rang erhielten. Als theologische Begründung diente vor allem die folgenreich umgedeutete Aussage des Paulus aus II Kor 3,6: »Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.« Während Paulus das mosaische Gesetz mit dem Wrrken des lebendigen Christus kontrastiert hatte, wurde seine Antithese von Buchstabe und Geist nun zur hermeneutischen Regel der Schriftauslegung abgewandelt und nicht mehr als heilsgeschichtlicheschatologische Aussage, sondern als Beschreibung einer ontologischen und erkenntnistheoretischen Stufenfolge verstanden 16• Zu Beginn des 3. Jahrhunderts hat der alexandrinische Theologe Origenes· erstmals die allegorische Bibelexegese eingehend theoretisch reflektiert und eine spezifisch christlich-theologische Theorie der Hermejudeo-chretiennes, Paris 1958. Zur christlichen Allegorese paganer Texte, welche den Nachweis zu führen suchte, daß auch die Heiden in Gottes Heilsökonomie einbezogen seien und die antike Dichtung als verhüllte Wahrheit für die Wahrheit des christlichen Glaubens als Zeuge aufzurufen sei, siehe HJ. Horn, Art. Allegorese außerchristlicher Texte I. Alte Kirche, TRE 2, Berlin/New York 1978, S. 276-283; U Knwitt, Art. Allegorese außerchristlicher Texie Il. Mittelalter, TRE 2, S. 284-290. 16 Zur Formel »Geist und Buchstabe« und der mit ihr verbundenen Geschichte der Hermeneutik siehe G. Ebeling, Art. Geist und Buchstabe, RGG~ II, Tübingen 1958, Sp. 1290-1296.
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neutik entwickelt. Im 4. Buch seines Werks >Über die Grundlehren der Glaubenswissenschaft (Peri archon)< 11 formuliert Origenes die Lehre eines dreifachen Schriftsinns, die er in seinen Kommentaren und Homilien freilich keineswegs konsequent angewandt hat 18 • Wie der Mensch eine Einheit aus Leib, Seele und Geist darstelle, so habe auch die Heilige Schrift einen dreifachen, nämlich einen leiblich-buchstäblichen, einen psychisch-moralischen und einen pneumatisch-allegorischen Sinn. Nicht die menschlichen Autoren der einzelnen biblischen Schriften, sondern Gott als der eigentliche Autor der gesamten Heiligen Schrift habe ihten Texten einen allegorischen Sinn beigelegt. Die einzelnen Texte haben einen tieferen Sinn, der sich aus der Gesamtheit des späteren Kanons ergibt und den menschlichen Verfassern verborgen war. Einzig mit Hilfe des Geistes Gottes, der nicht nur die biblischen Autoren, sondern auch die Leser der Bibel inspiriert, ist es möglich, den Vollsinn der biblischen Texte zu erfassen. Die Schriftauslegung in der Tradition des Origenes kann daher als geistige bzw. geistliche Exegese bezeichnet werden. Die Schrift dient dem Menschen nach Auffassung des Origenes nicht nur zu seiner historischen Belehrung, sondern zu seiner Rettung. Ihrem dreifachen Sinn entsprechen darum drei Stufen auf dem Weg zur Vollkommenheit. Über die historische und die moralische Unterweisung wird der Glaubende durch die Bibel immer tiefer in die letzten Geheimnisse des Glaubens eingeführt. Dazu bedarf er freilich eines hermeneutischen Schlüssels. Nach Origenes gibt die Schrift selbst zu erkennen, wie sie vom Leser 17 ~nes, Vier Bücher von den Prinzipien, hg., übers., mit kriti-
schen u. erl. Anm. versehen v. H. Görgemanos u. H. Karpp (Texte zur Forschung 24), Darmstadt 1976, S. 668-821. 18 Oftmals bietet Origenes nur zwei Deutungen, bisweilen aber sogar vier. Zur Schriftauslegung des Origenes siehe neben dem in Anm. 14 genannten Werk von Lubac H Graf Reuenllow, Epochen der Bibelauslegung, Bd. I: Vom Alten Testament bis Origenes, München 1990, S. 17D-193.
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entschlüsselt werden will. Der Schlüssel zu ihrer Auslegung ist die der Schrift eingezeichnete »Regel der himmlischen Kirche Jesu Christi«, »die auf die Nachfolge der Apostel gegründet ist« (De princ. IV 2,2). Die Auslegungsgeschichte der Bibel im lateinischen Westen ist nachhaltig von Augustin bestimmt worden. Er verband die von Origenes herkommende Methode geistlicher Schriftauslegung mit derjenigen der sogenannten Antiochenischen Schule, welche im Gegensatz zu Origenes die grammatisch-philologische Erhebung des Literalsinns als Hauptaufgabe der Exegese betrachtete19. Augustin hielt die Allegorese allerdings nur dort für erlaubt, wo sie nicht lediglich in der Mehrdeutigkeit der Einzelwörter, sondern in der Symbolträchtigkeit der von ihr bezeichneten Gegenstände begründet sei. Seine Schriftauslegung fußt also auf der (neuplatonischen) Auffassung, daß die sichtbare Wirklichkeit Gleichnischarakter hat und die unsichtbare Wirklichkeit Gottes zu symbolisieren vermag. Im Mittelalter wurde die Lehre von der Doppeldeutlichkeit der Heiligen Schrift zur Lehre von einem vierfachen Schriftsinn ausgebau~. Bereits im 5. Jahrhundert hat Johannes Cassianus diese Lehre formulierr 1. Er unterschied zwischen historischer Erklärung (historica interpretatio) und geistlichem Verstehen (intelligentia spiritualis), welches sich in tropologia, allegoria und anragoge untergliederte22 • Ein mittelalterlicher Merkvers 19 Aurelius Augusti.nus, De spiritu et littera, CSEL 60, S. 155-230; MPL 44, Sp. 199-246. 20 Zur Geschichte dieser Lehre siehe E v. Dobschatz., Vom vierfachen Schriftsinn. Die Geschichte einer Theorie, in: HarnackEhrung (FS A. v. Harnack zum 70. Geburtstag), Leipzig 1921, S. 1-13. 21 CSEL 13/2,404f. Cassian ist es auch schon, der Spr 31,21 und Spr 22,20 als Schriftbeleg für die Lehre vom mehrfachen Schriftsinn anführt. 22 Vier Arten der Schriftauslegung kennt bereits auch Augustin, der zwischen histDria, aetrologia. analogia und alkgorüz unterscheidet.
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bringt die Theorie des mehrfachen Schriftsinns auf die griffige Formel: »Littera gesta docet, quid credas allegoria,/ moralis quid agas, quo tendas anagogia«lß. - »Der Buchstabe lehrt, was geschah, was du glauben sollst, die Allegorie,/ der moralische Sinn, was du tun, wohin du streben sollst, die Anagogie (d.h. die Hinaufführung).« Nach dieser Auslegungsregel bedeutet beispielsweise das Wort >Jerusalem< buchstäblich die gleichnamige Stadt in Palästina, allegorisch die Kirche, moralisch die Seele des Menschen, anagogisch aber das himmlische Jerusalem 24• Im Verlauf des Mittelalters verschieben sich die Akzente gegenüber den Anfangen geistlicher Schriftauslegun~. Einerseits verstärkt sich allmählich das Interesse an der grammatisch-philologischen Interpretation, also am Literalsinn. Andererseits macht sich schon im 4. Jahrhundert eine Tendenz bemerkbar, die heilsgeschichtliche Dimension, auf welche die typologische Exegese großes Gewicht legt, zugunsten einer Allegorese zu vernachlässigen, welche die biblischen Aussagen auf die individuelle Innerlichkeit der Leser bezieht. Diese Art der Allegorese wird im Mittelalter zum besonderen Merkmal der Bibellektüre des Mönchtums. Nach Auffassung Gregors des Großen ist die Bibel ein Spiegel des menschlichen Verhaltens26• Ein Beispiel mag den Wandel der Auslegung veranschaulichen: Die Jakobsleiter (vgl. Gen 28,10ff), an der die Engel auf- und niedersteigen, wurde von der älteren Tradition im Anschluß an Joh 1,51 als Symbol der Menschwerdung 23 Teilweise ist das letzte Glied dieses Merkverses überliefert: »quid speres anagogia« bzw. »quid speres anagoge«. Vgl. v. Dobschütz, a.a.O. (Anm. 20), S. 1, Anm. 1. 24 Joluznnes Cassian, CSEL 13/2, S. 405. 25 Zur Geschichte der biblischen Hermeneutik im Mittelalter siehe H de Lubac, Exegese medievale. Les quatre sens de l'ecnture, 4 Bde., Paris 1959-1964; B. Smalley, The Study of the Bible in the Middle Ages, Oxford 1952. 26 Vgl. Lubac, a.a.O. (Anm. 14), S. ~5.
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Christi, der Fleischwerdung des ewigen Gotteswortes gedeutet. Der Augustinerchorherr Gerhoh von Reichersberg {1093-1169) aber deutet sie als Sinnbild der Heiligen, die zur Erkenntnis Gottes aufsteigen, um hernach wieder abzusteigen zur Erkenntnis ihrer selb~ 7 • Ungeachtet der noch zu erörternden Kritik der Reformatoren am vierfachen Schriftsinn und des Aufkommens historisch-kritischer Auslegungsmethoden hielt sich die Allegorese nicht nur in der katholischen Kirche, sondern auch im neuzeitlichen Protestantismus. Das gilt für die altprotestantische Orthodoxie wie für den Pietismus. Während die geistliche Schriftauslegung katholischer Prägung eher der Allegorese zuneigt, praktizieren protestantische Vertreter geistlicher Exegese eher eine typologische Auslegung. Ein klassisches Beispiel der typologischen Exegese des Alten Testaments im 20. Jahrhundert ist das Werk des evangelischen Theologen Wilhelm Vische~. An den Universitäten führt die geistliche Exegese nur noch ein Schattendasein. Das gilt seit dem zweiten vatikanischen Konzil auch für die katholische Theologie, die sich seither den Methoden der historisch-kritischen Bibelauslegung geöffnet hat. Einzig in der katholischen Theologie Frankreichs hat sie sich in gewissem Umfang behaupten können. Vor allem das Lebenswerk der beiden Jesuiten-Kardinäle Jean Danielou und Henri de Lubac, die sich intensiv der Origenes-lnterpretation gewidmet haben, muß in diesem Zusammenhang erwähnt werden 29• Im deutschen Sprachraum lebt die Tradition geistlicher Exegese im Werk des kürzlich verstorbenen katholischen Theologen Hans Urs von Balthasar sowie in den Schriften Romano Guardinis und Hugo Rahners fort. 27 Vgl. Lubac, a.a.O. (Arun. 14), S. 486. 28 W. VIScher, Das Christuszeugnis des Alten Testaments, 1. Bd.: Das Gesetz, München 1934. 29 Siehe u.a. J. Danülou, Origene, Paris 1948.
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Lubac und andere Vertreter einer geistlichen Exegese im 20. Jahrhundert bevorzugen die Bezeichnung >geistige< bzw. >geistliche Exegese<, um ihren Ansatz von jenen Spielarten der Allegorese abzugrenzen, denen man den Vorwurf exegetischer Willkür machen kann. Lubacs Exegese steht der typologischen Schriftauslegung sehr nahe. Wenn er und andere dennoch nicht von typologischer, sondern von geistlicher Exegese sprechen, so deshalb, weil die Typologie in der Regel auf einzelne Gestalten der Heilsgeschichte beschränkt bleibt. Lubac ist dagegen der Auffassung, daß der geistige Sinn der Bibel letztlich kein anderer ist als der des Neuen Bundes. Nicht einzelne Begebenheiten der Geschichte Israels, sondern das Alte Testament in seiner Gänze sei auf das Neue Testament hin zu lesen. Der geistliche Sinn der alttestamentlichen Schriften besteht aber für Lubac darin, daß der alte Bund im neuen vergeistigt wird. Diese Vergeistigung interpretiert er als Verinnerlichung: »Wer Geist sagt, sagt Innerlichkeit«~. Die Arbeiten Lubacs oder auch Hugo Rahners~ 1 sind für die gegenwärtige Diskussion auch deshalb bedeutsam, weil sie bereits die Frage nach dem Verhältnis von Tiefenpsychologie und Exegese aufgeworfen haben. Lubac etwa hat sich zwar gegen die Gleichsetzung von göttlichem Geist (pneuma) und menschlicher Psyche verwahrt und die geistliche Exegese von einer tiefenpsychologischen Bibelauslegung deutlich abgehoben. Gleichwohl konnte er die Arbeiten Sigmund Freuds und Carl Gustav Jungs als Wegbereiter eines Denkklimas würdigen, das der alten Tradition geistlicher Schriftauslegung weitaus besser entspreche als dasjenige des Rationalismus oder des Pragmatismus. Tiefenpsychologie und philosophischer Existentialismus könnten den Weg zu einer Synthese von historisch-kritischer und geistli30 Lubac, a.a.O. (Anm. 14), S. 452. 31 Siehe u.a. H Rahner, Griechische Mythen in christlicher Deutung, Basel 5 1985.
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eher Schriftauslegung bereiten 52 • Diesen Brückenschlag hält heute auch der katholische Theologe Josef Sudbrack für möglich und nötig. Einerseits bedürfe die historisch-kritische Exegese der Rückbindung an die Tradition geistlicher Schriftauslegung. Andrerseits müsse die geistliche Exegese in unserer Zeit tiefenpsychologisch fundiert werden. Die alte Exegese sei von der Erfassung des Christus des Glaubens zu einer zweiten Stufe der Schrifterschließung, nämlich zur Ebene der subjektiven Betroffenheit des Lesers geschritten. Um diese bei dem heutigen Wissensstand zu erreichen, seien Psychologie und Tiefenpsychologie unabdingb~. Den Verfechtern einer streng historisch-kritischen Exegese müssen solche Überlegungen bedenklich erscheinen, auch dann, wenn Sudbrack darauf insistiert, eine von tiefenpsychologischen Analysen unterstützte geistliche Schriftauslegung müsse möglichst nahe beim biblischen Wortlaut bleiben. Denn die allegorische Exegese des Mittelalters erscheint nicht nur dem neuzeitlichen historischen Bewußtsein fragwürdig. Sie ist in der Reformationszeit schließlich auch wegen ihrer theologischen Voraussetzungen massiv kritisiert worden. Wie aber steht es heute um die Berechtigung der theologischen und historisch-philologischen Kritik an der Allegorese? Hat die Lehre vom mehrfachen Schriftsinn vielleicht doch ein gewisses Wahrheitsrecht? Ist das Entweder-Oder von historisch-kritischer und allegorischer Schriftauslegung möglicherweise eine falsche Alternative?
32 Vgl. Lubac, a.a.O. (Anm. 14}, S. 503. 33 Vgl. J. Sudbraclr., Exegese und Tiefenpsychologie aus der Sicht geistlicher Exegese, in: A. Görrr:s/W. Kasper (Hg.), Tiefenpsychologische Deutung des Glaubens? Anfragen an Eugen Drewermann (QD 113), Freiburg/Basel/Wien 1988, S. 98-114.
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4. Recht und Grenzen allegorischer &hriftauslegung »Wehren kan mans nicht, das man nicht solt Historien fur sich nemen und heimliche bedeutung draus ziehen, welches Paulus nennet Mysteria [... ].Aber man verleuret daruber den rechten grund und verstand der Schrifft und furet die leute auff eitel Holczwege«~. Was bewegt Martin Luther zu diesem negativen Urteil, wiewohl er in seinen Anfängen selbst das Alte Testament allegorisch ausgelegt hat? Es sind in erster Linie nicht dieselben Gründe, die in späterer Zeit die historisch-kritische Forschung gegen die Allegorese vorgebracht hat. Es war vielmehr seine reformatorische Grunderkenntnis von der Rechtfertigung des Sünders aufgrund des Christusglaubens, durch die bei Luther das traditionelle Schema von Buchstabe und Geist und des vierfachen Schriftsinns von innen her umgewandelt wurde". Für Luther verband sich der allegorische Sinn der Schrift, nämlich der Glaube an Christus, mit dem Literalsinn, den er mit Christus und dem, »was Christum treibet« gleichsetzte. Schon vorreformatorische Reformbewegungen hatten die Lehre vom vierfachen Schriftsinn verworfen. Aber erst Luthers These, allein die Schrift habe als Quelle und Norm des Glaubens zu gelten, weil allein der von ihr bezeugte Christus der Grund des Glaubens sei, allein aber der Glaube den Sünder vor Gott rechtfertige, stellte die Kritik an der Lehre vom vierfachen Schriftsinn auf eine neue theologische Grundlage. Das dreifache >allein< (solus) Luthers hat zur Voraussetzung, daß die Schrift in sich klar und für jedermann verständlich ist. Das Verstehen konzentriert sich darum bei Luther zunehmend auf den buchstäblichen Sinn. Die Schrift legt sich selbst aus für den, der von jenen Texten aus, 34 Martin Lulher, WA t 6, 68, t tf; 69, 28-~. 35 Vgl. G. Ebeling, An. Hermeneutik, RGG! ill, Tübingen 1959, Sp. 242-262, hier Sp. 251.
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deren Literatsinn sich eindeutig feststellen läßt, die Aussagen mehrdeutiger Texte zu interpretieren versucht. Wenn die Neuzeit die historisch-kritische Erforschung der Bibel hervorbrachte, entwickelte sie damit nicht ohne weiteres das reformatorische Schriftverständnis fort. Im Gegenteil sind die Anfänge historischkritischer Bibelauslegung teilweise mit der Absicht verbunden, die reformatorische Abtrennung des Kanons vom Prozeß kirchlicher Traditionsbildung zu widerlegen und das katholische Traditionsprinzip ins Recht zu setzen56 • Auch innerhalb des Protestantismus führt die historisch-kritische Forschung zur Kritik am reformatorischen Schriftprinzip, bis dahin, daß dem geschichtlich gewordenen Kanon jegliche Verbindlichkeit für den christlichen Glauben abgesprochen wird. Trotz seiner Ablehnung der Lehre vom vierfachen Schriftsinn gehört Luther in die Tradition der geistlichen Schriftauslegung, insofern sein >Christus allein< in Verbindung mit dem >allein die Schrift< bedeutet, daß er das Alte Testament als Christuszeugnis interpretiert. Während für Luther Jesus Christus der Literalsinn des Alten Testaments ist, besteht der buchstäbliche Sinn der alttestamentlichen Schriften für eine historisch-kritische Lektüre einzig in dem historisch Berichteten bzw. in der vorchristlichen Aussageabsicht der historischen Verfasser. Aus Sicht der modernen Linguistik und der heutigen Literaturwissenschaften wird man sagen müssen, daß die Theorie des vierfachen Schriftsinns, die siimtlichen Texten der Bibel eine allegorische Bedeutung unterstelh, einen Kategorienfehler begeht. Was sie nämlich 36 Dies war z.B. das erkenntnisleitende Interesse der Studien des französischen Oratorianers Richard Sirnon zur Textgeschichte des Alten und Neuen Testaments, welche die Anfänge der modernen Textkritik mitbegründeten. Vgl. W. G. KtJ.mmel, Art. Bibelwissenschaft II. Bibelwissenschaft des NT, RGG' I, Tübingen 1957, Sp. 1236-1251, hier Sp. 1239.
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bei Texten, die von ihren Autoren gar nicht allegorisch gemeint sind, als weitere Bedeutungsebenen zu erkennen glaubt, sind in Wahrheit keine weiteren Bedeutun-gen, die dem Text innewohnen, sondern .Auslegungsebenen, die der Leser wählt, um den Text auf sich und seine Lebenswelt zu beziehen. Seit dem 18. Jahrhundert unterscheidet die Hermeneutik zwischen dem Verstehen, dem Auslegen und dem Anwenden eines Textes~7 • Wendet man diese Einteilung des Interpretationsvorgangs auf die Lehre vom vierfachen Schriftsinn an, so wird man sagen müssen, daß diese Theorie das Verstehen und Auslegen eines Textes mit seiner Anwendung, der sogenannten Applikation verwechselt. Sie verwechselt Sinn und Bedeutung eines Textes mit seinem Gebrauch. Meines Erachtens wird die Unterscheidung von Sinn und Gebrauch eines Textes auch in der gegenwärtigen Diskussion um das Recht alternativer Auslegungsmethoden, insbesondere einer tiefenpsychologischen Exegese, nicht immer hinreichend beachtet. Weithin handelt es sich bei allegorischen oder auch tiefenpsychologischen Auslegungen gar nicht im strengen Wortsinn um Interpretationen biblischer Texte, sondern um deren Applikation. Die Applikation hat ihren Sitz im Leben vor allem in Meditation und Predigt. Es fällt auf, daß beispielsweise J. Sudbrack die bleibende Bedeutung geistlicher Exegese vor allem an mittelalterlichen Predigten, z.B. des Mystikers Johannes Tauler nachweisen möchte~. Andererseits basiert auch E. Drewermanns populärer Kommentar zum Markusevangelium auf Pre-
57 Erstmals findet sich diese Unterscheidung bei dem pietistischen Theologen J. J. Rambach (1723). Vgl. W. &henk., Art. Hermeneutik II, TRE 15, Berlin/New York 1986, S. I 4+150, hier S. 144. Siehe dazu auch H R. Jtuifl, Zur Abgrenzung und Bestimmung einer literarischen Hermeneutik, in: M Fuhrmann u.a. (Hg.), Text und Applikation (Poetik und Hermeneutik IX), München 1981, S. 459-481, hier S. 461. 58 Vgl. Sudbrack, a.a.O. (Anm. 33), S. 112ff.
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digten des Verfassers39 • Ebenso wird das Bibliodrama von seinen Vertretern »als eine Weise der Predigt« betrachtet, »als Predigt nicht mehr eines einzelnen, sondern als Predigt der vielen, als Predigt der mündigen Gemeinde« 40 • Die Bedeutung einer tiefenpsychologischen Bibelauslegung und einer an die mittelalterliche Auslegungspraxis anknüpfenden geistlichen Exegese scheint mir darum zunächst gar nicht darin zu bestehen, auf einen von der historisch-kritischen Exegese übersehenen Hintersinn biblischer Texte aufmerksam zu machen, sondern darin, die jeder Interpretation gestellte Aufgabe der Applikation nachdrücklich in Erinnerung zu rufen41 • Diese aber wird von der üblichen Praxis historisch-kritischer Bibelauslegung weithin sträflich vernachlässigt. Meines Erachtens muß die Diskussion um das sachliche Recht alternativer Auslegungsmethoden gerade in dieser Richtung vertieft werden. Die neuere philosophische Hermeneutik hat längst darauf hingewiesen, daß jede Interpretation eine Einheit von Verstehen, Auslegen und Anwenden eines Textes ist42 • Kann man der Allegorese wie manchen Spielarten einer tiefenpsychologischen Exegese vorwerfen, zwischen Auslegung und 39 E DT'f!wermann, Das Markusevangelium, 2 Bde., Olten 4 1989/ 1988. 40 Schramm, a.a.O. (Anm. 10), S. 126. 41 Zustimmung verdient daher m. E. das Konzept einer Bibelpsychologie als Psychologie der Rezeption biblischer Texte, wie es Anton Alois Bucher vorschlägt. Siehe A.A. Bucher, Bibelpsychologie. Psychologische Zugänge zu biblischen Texten, Stuttgart 1992, bes. S. 167-173. Gegenstand einer psychologischen Exegese biblischer Texte sind nach Bucher »nicht die psychischen Befindlichkeiten und Motive biblischer Individuen, ist nicht die Frage, ob Jakob einen Ödipuskomplex hatte; ihr Gegenstand sind vielmehr wir selbst, insofern wir einen biblischen Tezt rezipieTY!n und deuten« (S. 167). 42 Siehe vor allem H. G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (GW 1), Tübingen 5 1986.
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Anwendung eines Textes nicht genügend zu unterscheiden, so umgekehrt der historisch-kritischen Exegese, die Applikation von der Interpretation in unzulässiger Weise abzutrennen 4~. Der gegenwärtige Methodenstreit um die richtige Bibelauslegung kann aus falschen Alternativen herauskommen, wenn die Ergebnisse der neueren Literaturwissenschaften in die Diskussion einbezogen werden44• Diese haben nachgewiesen, daß jedes Verstehen eines Textes immer schon zugleich eine Form der Aneignung ist. Sie zeigen außerdem, daß der buchstäbliche Sinn eines Textes keineswegs so eindeutig feststeht, wie uns die historisch-kritische Exegese glauben machen will. Nach Auffassung der herkömmlichen historisch-kritischen Bibelauslegung besteht der Sinn eines Textes in dem, was sein Verfasser seinen einstigen Lesern hat sagen wollen. Ihr Ziel ist daher die Rekonstruktion der Aussageabsieht des historischen Autors. Die historisch-kritische Exegese übersieht jedoch zumeist, daß die Frage nach der Intention des Verfassers bei vielen Texten, insbesondere bei solchen, die wie die biblischen eine poetische Qualität haben, nicht sehr weit trägt. Auch vernachlässigt sie weithin, daß sich die Verstehensbe43 Obwohl Klaus Berger den Blick auf das Problem der Applikation lenkt, flillt gerade seine Hermeneutik hinter das bereits erreichte Problembewußtsein zurück, indem er für t;ine strikte Trennung von Exegese und Applikation plädiert, die 'Interpretation als rein historische Rekonstruktion bestimmt und die Applikation tendenziell auf die ethische Anwendung biblischer Texte reduziert. Siehe K Berger, Hermeneutik des Neuen Testaments, Gütersloh 1988, S. 108-124. 44 Einen Überblick über die literaturwissenschaftliche Diskussion gibt R. Warni.ng {Hg.), Rezeptionsästhetik {UTB 303), München '1988. Zur Rezeption der literaturwissenschaftliehen Debatte innerhalb der biblischen Exegese siehe J. Frry-, Der implizite Leser und die biblischen Texte, ThBeitt 23, 1992, S. 266-290, der S. 289f ausführliche Literaturhinweise gibt; ferner P. Muller, »Verstehst du auch, was du liest?« Lesen und Verstehen im Neuen Testament, Darmstadt 1994, bes. S. 120ff.
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dingungen schriftlicher Texten von denjenigen der mündlichen Kommunikation grundlegend unterscheiden. Sobald nämlich die Rede vom mündlichen Wort zur Schrift übergeht, wird sie gegenüber der Intention ihres Urhebers autonom. Die Konsequenz dieses Vorgangs beschreibt der Philosoph Paul Ricreur folgendermaßen: »Was der Text bedeutet fällt nicht mehr mit dem zusammen, was der Autor sagen wollte. Wörtliche, d.h. Text gewordene, und gedachte oder psychologische Bedeutung haben von nun an unterschiedliche Schicksale«.s. Es verhält sich also gar nicht so, daß der Autor die Bedeutung seines Textes ein für allemal festlegen könnte. Es ist der Leser, der den Sinn eines Textes im Akt des Lesens jeweils neu, und zwar vermutungsweise, festlegen muß 46• Der Text erhält im Akt des Lesens vermutungsweise einen Sinn, indem der Leser die Leerstellen ausfüllt, welche jeder, vor allem ein poetischer Text hat, Räume des Nicht-Gesagten und des Schon-Gesagten47• Dabei stellt der Leser Sinnbezüge zu seiner eigenen Lebenswelt wie auch zu anderen Texten her, die der Autor keineswegs gekannt oder im Blick gehabt haben muß. Nicht nur die Überlieferung von Texten, sondern auch ihre Lektüre hat zudem eine Geschichte, in deren Verlauf sich die Sinnfülle der Texte immer weiter steigert. Im Laufe seiner Überlieferungsgeschichte provoziert 45 P Ricaur, Philosophische und theologische Hermeneutik. in: ders.'/E Jangel, Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Rede. Mit einer Einführung von P Gisel, München 1974, S. 2+-45, hierS. 28. 46 Vgl. M Frank, Die Grenzen der Beherrschbarkeit der Sprache, in: P Forget (Hg.), Text und Interpretation. Deutsch-französische Debatte (UTB 1257), München 1984, S. 181-213, bes. S. 202. 47 Siehe dazu vor allem W lser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung (UTB 636), München 1976, a1984; ders., Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett (UTB 163), München 1972; U. Eco, Leetor in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, München 1987.
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ein Text immer neue Sinnverbindungen, die sein Autor noch gar nicht übersehen konnte. Die alte Lehre vom vierfachen Schriftsinn hat von diesen Zusammenhängen mehr geahnt als die herkömmliche Praxis historisch-kritischer Bibelauslegung. Übersieht die heute vorherrschende historisch-kritische Exegese die Autonomie des Textes gegenüber seinem Autor, so freilich die Allegorese im Extremfall seine Autonomie gegenüber dem Leser. Schon bei Origenes führt die Einsicht in den Sinnüberschuß der biblischen Texte nicht etwa zur Aufwertung, sondern zur Abwertung ihrer Textualität. Der Buchstabe erscheint bei ihm als Repräsentant der Leiblichkeit, die es zugunsten der durch den Geist bestimmten Innerlichkeit zu überwinden gilt. Demgegenüber lenkt die literarische Hermeneutik unseren Blick auf den Text als materielles Artefakt, das einzig kraft seiner Buchstäblichkeit eine Sinnfülle erzeugt. Manche Spielarten geistlicher Schriftauslegung lassen sich dagegen den Rahmen der Interpretation nicht mehr vom Text und seiner grammatischen Struktur vorgeben, sondern entnehmen ihn der eigenen Vorstellungswelt. In diesem Fall wird die Grenze zwischen Interpretation und freiem, wenn nicht gar willkürlichem Gebrauch biblischer Texte überschritten48• Dessen ungeachtet behalten Typologie und Allegorese ihr Recht, insofern jeder Akt des Bibellesensein doppelter Auslegungsvorgang ist: In ihm wird nicht etwa nur der Text durch den Leser ausgelegt, sondern auch umgekehrt der Leser durch den Text. Allegorische oder typologische Exegese legt weniger den Text als seinen Leser aus, gehört aber insofern legitimerweise in einen ganzheitlichen Akt des Lesens. 48 Daß auch eine unkritische oder kurzschlüssige Übernahme re-
zeptionsästhetischer Ansätze innerhalb von biblischer Exegese und Homiletik einer derartigen Grenzüberschreitung Vorschub leisten kann, kritisiert mit Recht G. Sau.ter, Die Kunst des Bibellesens, EvTh 52, 1992, S. 347-359, hier s_ 351-355.
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Die Typologie oder Allegorese ist im Grunde eine Art Collage- oder Montagetechnik, wie sie uns in der modernen Poesie oder auch der zeitgenössischen Malerei und Filmkunst begegnen49• Sie montiert das biblische Sprachmaterial der Vergangenheit, um Gegenwärtiges auszusagen. Wir kennen dieses Verfahren z.B. von den Herrnhuter Losungsbüchern, die eine alttestamentliche Losung mit einem neutestamentlichen Lehrtext zusammenstellen und es dem Leser überlassen, aus diesen Bibelworten und dem beigegebenen Gebet oder Gesangbuchvers einen Text zustandezubringen, der in sein Leben hineinspricht und es auslegt. Man wird sogar noch einen Schritt weiter gehen und sagen können, daß schon der biblische Kanon eine literarische Montage ist. Indem die alttestamentlichen und neutestamentlichen Schriften aus einer umfangreicheren religiösen Literatur ausgesondert und zu heiligen Texten erklärt wurden, hat man sie als Teile zu einem neuen Ganzen zusammengefügt, in welchem der Leser immer neue Sinnbezüge entdecken kann und soll. Wörtlich übersetzt heißt das griechischen Wort kanon >Regel< oder >Richtschnur<. Der Kanon ist nicht nur ein Leitfaden des Glaubens, sondern eine Anweisung zum Lesen, die Einladung zu einer literarischen Entdekkungsreise. »Die Schrift« ist jedoch nicht etwa nur das Resultat individueller Leseakte, sondern die Frucht einer gemeinschaftlichen Lesetradition frühchristlicher und altkirchlicher Gemeinden. Zugleich ist die Schrift eine Anleitung zu fortgesetzter gemeinschaftlicher synchroner Lektüre der in ihr zusammengestellten Texte. . Die Einheit der Schrift läßt sich freilich weder formal im Sinne einer Kanonsliste noch durch die Dogmatisierung eines fixen Sinnbestandes bestimmen. Sie entsteht vielmehr immer wieder neu durch fortgesetzte Lektüre. Die Bildung des Kanons in der Alten Kirche setzte voraus, daß aus all seinen von ganz verschiedenen Auto49 Siehe dazu R. &hren, Predigtlehre, München 1980, S. 20+-208.
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ren aus unterschiedlichen Zeiten stammenden Schriften ein und derselbe Geist spricht und vernommen werden kann und daß es derselbe Geist ist, der auch im späteren Hörer oder Leser lebendig ist oder Wohnung nehmen will. Eine ausschließlich historisch-kritische Exegese steht in der Gefahr, die Selbigkeit des göttlichen Geistes zu leugnen. Umgekehrt neigt die allegorische Schriftauslegung dazu, die Geschichtlichkeit und Vielfalt dessen zu verkürzen, »was der Geist den Gemeinden sagt« (Apk 2,7 u.ö.). Daß es ein und derselbe Geist ist, der aus den biblischen Büchern unterschiedlichster Herkunft spricht und im Akt ihrer Lektüre erfahren werden kann, heißt nicht, daß er immer nur ein und dasselbe sagt. Allegorese und Typologie sind dann abzulehnen, wenn sie aus all den vielen Stimmen, welche die Bibel aufgefangen hat, immer nur dasselbe heraushören oder -lesen wollen. Diese Gefahr ist auch bei manchen Spielarten einer tiefenpsychologischen oder anderer sogenannter alternativen Auslegungsmethoden unverkennbar. Im besten Fall aber erinnert uns die alte Lehre vom vierfachen Schriftsinn daran, daß die Texte der Bibel eine poetische Qualität haben. Sie sind darum polyphon wie eine vielstimmige Musik, mehrdeutig, offen für Übertragungen und Assoziationen. Sie bringen ihre Leser und Hörer wie Resonanzböden zum Schwingen und Klingen. Frei nach Paulus können wir schließen: Es sind mancherlei Auslegungen, Deutungen und Anwendungen, aber es ist ein Geist, der da wirkt alles in allen. Im vorliegenden Kapitel haben wir die kanonisierte Schrift als geistinspirierte Lesefrucht interpretiert. Dabei sind wir auf die konstitutive Rolle des Lesers nicht nur für die Auslegung, sondern auch für die Bildung der Schrift aufmerksam geworden. Der von den biblischen Texten implizierte Leser ist ein vom göttlichen Geist inspirierter Leser. Im folgenden Kapitel wollen wir noch genauer fragen, was unter dem inspirierten Leser zu verstehen ist, und den Akt inspirierter Schriftlektüre noch
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eingehender analysieren. Dabei wird sich zeigen, daß die literarische Hermeneutik theologische Probleme aufwirft, die für das reformatorische Schriftverständnis folgenreich sind, bei einer kritiklosen Übernahme rezeptionsästhetischer Ansätze aber allzu leicht übersehen werden. Das folgende Kapitel plädiert demgegenüber für einen kritischen Umgang mit Theorien einer literarischen Hermeneutik.
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Viertes Kapitel
Leetor in Bihlia Schriftauslegung zwischen Rezeptionsästhetik und vierfachem Schriftsinn Hermeneutik ist die Kunst,
aus einem Text herauszuholen, was nicht drinsteht. Odo Marquard
1. Autor und Leser Unter dem Eindruck grundlegender Einsichten des Forschungszweigs der literarischen Hermeneutik hat Hartwig Thyen die Frage aufgeworfen, »ob nicht die mittelalterliche Lehre vom vierfachen Schriftsinn geradezu progressiv war dem undurchschauten Wahn gegenüber, der heute weithin die Exegese beherrscht, wonach die Reduktion auf den sensus grcunmaticus oder historicus, der dann sogleich mit dem psychischen Phänomen der vermeintlichen >Intention des Autors< identifiziert wird, die Festlegung des >objektiven Textsinnes< erlauben soll« 1• Wie wir bereits in den vorherigen Kapiteln gesehen haben, verändert sich unter rezeptionsästhetischen Prämissen die hermeneutische Fragestellung, die seit Schleiermacher vornehmlich produktionsästhetisch ausH Thyen, in: Seht, euer Gott. Sieben Auslegungen zu Passions~ und Ostertexten aus dem Johannesevangelium, zur 51. Bibelwoche 1988/89, hg. v. Arbeitsgemeinschaft Missionaritche Dienste (Texte zur Bibel4), Neukirchen-Vluyn 1988, S. 12.
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gerichtet war, sehr grundlegend. Die literarische Hermeneutik hebt ins Bewußtsein, daß ein Text mit seiner Verschriftung gegenüber seinem Autor und damit gegenüber seinen psycho-sozialen Entstehungsbedingungen autonom wird2• Richtet, vereinfacht gesprochen, eine produktionsästhetische Texttheorie ihr Augenmerk auf die Intention des Autors und identifiziert diese mit dem Sinn eines Textes, so lenkt eine rezeptionsästhetische Textinterpretation den Blick auf den Leser und seine aktive Rolle beim Zustandekommen eines Textsinnes in einem neuen Lebenskontext~. Im Akt des Lesens zerbricht die Welt des Textes diejenige des Autors4 • Umberto Eco, auf den Thyen sich neben Ricceur beruft, stellt die weitergehende These auf, daß einem Text gar keine feststehende Bedeutung innewohnt, die es lediglich im Akt des Lesens zu erheben gelte, sondern daß Texte »Maschinen zur Erzeugung von Bedeumugen« sind, welche allererst durch ihre Leser und deren Gespräch untereinander realisiert werden 5• Wie bereits im vorigen Kapitel gezeigt wurde, steht mit der Intention des Autors als der einzig möglichen Bedeutung eines Textes zur Disposition, was bisher als Literalsion verstanden und mit dem Instrumentarium historisch-kritischer Methodik analysiert wurde. Beobachtet man die bereits angesprochene gegenwärtige Diskussion um den Pluralismus sogenannter neuer Paradigmen biblischer Exegese, insbesondere die Entwicklung unterschiedlicher Ansätze einer tiefenpsycho2 P. Rica!ur, Philosophische und theologische Hermeneutik, in: ders./E. Jangel, Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache, München 1974, S. 24-45, hier S. 28. 3 Zur Theorie der Produktionsästhetik siehe einführend R. Warning, Rezeptionsästhetik als literaturwissenschaftliche Pragmatik, in: ders. (Hg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München '1988, S. 9-41. 4 Vgl. P. RiC<Eur, a.a.O. (Anm. 2), S. 31. 5 U. &o, Nachschrift zum »Namen der Rose«, München 1984, S. 3. 13f.
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logischen, sozialgeschichtlichen oder auch feministischen Auslegung, so scheint sich tatsächlich die Ablösung der historisch-kritischen Exegese durch eine neu~ Variante der Theorie eines mehrfachen Schriftsinns anzubahnen. Haben wir im vorigen Kapitel bereits über das grundsätzliche Recht und die Grenzen allegorischer Schriftauslegung nachgedacht, so soll nun das Verhältnis von Rezeptionsästhetik und vierfachem Schriftsinn genauer untersucht werden. Wie im folgenden gezeigt werden soll, gestaltet sich das Verhältnis der traditionellen Lehre vom vierfachen Schriftsinn und der Tradition geistlicher Exegese zu heutigen Theorien der Rezeptionsästhetik komplizierter als es Thyens Frage nach der möglichen Progessivität der mittelalterlichen Bibellektüre vermuten läßt.
2. Singularisierende und pluralisierende Exegese Daß die Theorie des mehrfachen Schriftsinns mit dem Anliegen heutiger rezeptionsästhetischer Texttheorien konvergiert, erscheint zweifelhaft, wenn man Odo Marquards Unterscheidung von singularisierender und pluralisierender Hermeneutik in die Diskussion einbezieht6. Marquard würdigt die neuzeitliche Hermeneutik historisch als Reaktion auf die Konfessionskriege der Reformationszeit, in der erbittert um die Wahrheit und Klarheit der Heiligen Schrift gerungen wurde. »Die Hermeneutik antwortet auf diese Tödlichkeitserfahrung des hermeneutischen Bürgerkriegs um den absoluten Text, indem sie - zur pluralisierenden, d.h. literarischen Hermeneutik sich wandelnd - den nichtabsoluten Text und den nichtabsoluten Leser erfmdet
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Während Marquard unter pluralisierender Hermeneutik eine Texttheorie versteht, die »in der einen und seihen buchstäblichen Gestalt viele Sinnmöglichkeiten und verschiedenartigsten Geist aufspürt« 8 , glaubt die singularisierende Hermeneutik »die eine einzig richtige und sozusagen heilsabsolute Lesung der Bibel festzulegen«9. Folgt man der m.E. sinnvollen hermeneutischen Typenlehre Marquards, so ist nicht nur die reformatorische Reduktion des mehrfachen Schriftsinns der mittelalterlichen Auslegungstradition auf den Literalsinn, sondern auch die mittelalterliche Hermeneutik selbst eine Spielart singularisierender Exegese gewesen. In der Auseinandersetzung zwischen Traditionsprinzip und reformatorischem Schriftprinzip stritten sich »zwei singularisierende Hermeneutiken, denn beide wollten die heilsbedeutsam richtige Auslegung des absoluten Textes: der Heiligen Schrift« 10 • Nach Marquard war alle theologische Hermeneutik vor der Aufklärung singularisierend, insofern sie »in den vielen biblischen Geschichten stets die eine Geschichte, die nottut, die Erlösungsgeschichte« wiederzufinden suchte »und also stets - und dafür war die Annahme eines mindestens zweifachen Schriftsinns unabdingbar- im vielfältigen >Buchstaben< der Schrift den einen einzigen >Geist<« 11 • Thyens Erwägung, zwischen der mittelalterlichen biblischen Hermeneutik und heutigen Ansätzen literarischer Hermeneutik könnte eine Affinität bestehen, geht freilich, wie wir schon sahen, keineswegs einfach fehl. Wie die Ansätze einer literarischen Hermeneutik konstatiert nämlich auch die Lehre vom vierfachen Schriftsinn eine Differenz zwischen der Intention des Autors und einer oder gar mehrerer von dieser unabhängigen Textbedeutungen, die für den Leser bestehen. Insofern behauptet also bereits die allegorische Schriftauslegung 8 9 10 11
A.a.O. A.a.O. A.a.O. A.a.O.
(Anm. (Anm. (Anm. (Anm.
6), 6), 6), 6),
S. S. S. S.
129. 128. 129. 128f.
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die Autonomie jedes biblischen Textes gegenüber seinem jeweiligen Autor. Einschränkend ist aber sogleich hinzuzufügen, daß die Differenz zwischen Textsinn und Intention des Autors von der allegorischen Hermeneutik keineswegs rezeptionsästhetisch, sondern produktionsästhetisch erklärt wird. Der zweite Textsinn entsteht nicht im Akt des Lesens, sondern ist nach mittelalterlicher Auffassung identisch mit der Intention eines weiteren zu denkenden Autors, nämlich Gottes, welcher als der eigentliche Urheber der Heiligen Schrift gilt. Gegenüber diesem Autor aber wird der kanonische Text keineswegs für autonom erklärt. Das produktionsästhetische Schema wird von der allegorischen Texttheorie also nicht verlassen, sondern lediglich auf Gott als übermenschlichen Autor übertragen. Zwischen einem rezeptionsästhetischen Verständnis von Texten als Maschinen zur Erzeugung unendlich vieler Bedeutungen durch ihre Leser und der vorreformatorischen Schriftauslegung besteht darum ein grundlegender Unterschied. Anders als eine literarische Hermeneutik fordert die traditionelle theologische Lehre vom mehrfachen Schriftsinn gerade nicht die Freigabe des biblischen Textes an seine Leser, sondern dient im Gegenteil seiner kirchlichen Kontrolle. Zu genau diesem Zweck wird die Lehre vom vierfach Schriftsinn beispielsweise im neuen katholischen Weltkatechismus reaktiviert. Nicht etwa die Lehre vom vierfachen Schriftsinn, sondern die historisch-kritische Exegese erscheint im Katechismus als pluralisierende Hermeneutik. Der Hermeneutik des vierfachen Schriftsinns kommt nach dem Weltkatechismus die Aufgabe zu, den Pluralismus historischer Bibelauslegung einzudämmen, welche zur Hilfswissenschaft einer durch das kirchliche Lehramt approbierten geistlichen Exegese degradiert wird 12• In der vom Weltkatechismus vertretenen Form 12 Siehe Katechismus der Katholischen Kirche, Vatikanstadt/München 1993, Abschnitte 115-119 (S. 66f).
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behauptet die Lehre vom mehrfachen Schriftsinn eben nicht eine theoretisch unbegrenzte Pluralität von Deutungsmöglichkeiten, sondern hat deren Reduktion zum Ziel. Sie setzt den Akzent nicht auf die Vielfalt von Auslegungsmöglichkeiten, sondern auf die innere Einheit des Kanons. Daß die überkommene Lehre vom vierfachen Schriftsinn auch in früherer Zeit im Sinne Marquards eine Form der singularisierenden Hermeneutik war, läßt sich am Schriftverständnis des Origenes verdeutlichen, auf welches wir bereits im vorigen Kapitel kurz eingegangen sind. Origenes hat die Theorie eines dreifachen Schriftsinns entwickelt, welche anthropologisch und soteriologisch begründet ist. »Wie nämlich der Mensch aus Leib, Seele und Geist besteht, ebenso auch die Schrift, die Gott nach seinem Plan zur Rettung der Menschen gegeben hat« 1s. Die Heilige Schrift dient dem Menschen zur Rettung, ist also soleriologisch als medium salutis zu interpretieren. Weil der Personkern des Menschen nur über die Stufenfolge von Leib, Geist und Seele erlöst werden kann, spricht die Schrift nach Origenes alle drei Dimensionen menschlichen Daseins an. Eben darum korrespondiert der trichotomischen Anthropologie eine dreidimensionale Exegese der biblischen Texte. Andernfalls wäre nach Auffassung des Origenes der soleriologische Anspruch der Schrift nicht einlös bar. Mitnichten aber handelt es sich bei Origenes' Lehre vom dreifachen Schriftsinn um eine pluralisierende literarische Hermeneutik. Origenes postuliert nämlich nicht die Möglichkeit mehrerer usus einer Schriftstelle, sondern behauptet einen dreifachen sensus. Die biblischen Texte oder einzelne Begriffe in ihnen sind angeblich äquivok. Ihre Äquivokation aber entsteht nicht durch den Leser, sondern wird als gezielt eingesetztes 13 Origenes, De princ. IV 2,4 {ed. H. Görgemanns/H. Karpp, Darmstadt 1976).
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Ausdrucksmittel des verborgenen Autors, nämlich Gottes, interpretiert. Somit ist die Lehre vom dreifachen Schriftsinn bei Origenes eine produktionsästhetische Texttheorie, die nicht nach Verstehensmöglichkeiten der Leser, sondern nach der Aussageintention Gottes bzw. des Heiligen Geistes fragt, welcher hinter der Vielfalt menschlicher Autoren als der eine und einzige Autor der Schrift angenommen wird. Dem in sich einheitlichen Heilswillen Gottes aber entspricht eine zwar mehrdimensionale, gleichwohl einzige Aussageabsicht Gottes. Diese allein konstituiert den wahren Sinn der Schrift. Auch insofern ist die Lehre vom dreifachen Schriftsinn produktionsästhetisch konzipiert, als Origenes der Gedanke fernliegt, es sei der Leser, der aus eigener Erkenntniskraft den dreifachen Sinn der biblischen Texte auffinden könnte. Der Leser ist vielmehr auf einen ihm nicht ohne weiteres zur Verfügung stehenden »Schlüssel zur Erkenntnis« angewiesen 14, dem ihm wiederum die Schrift selbst - d.h. aber doch Gott und also der angenommene transzendente Autor! - an die Hand gibt. Der hermeneutische Schlüssel aber ist, wie wir schon im vorigen Kapitel sahen, die angeblich der Schrift immanente »Regel der himmlischen Kirche Jesu Christi«, »die auf die Nachfolge der Apostel gegründet ist«t5.
U. Ecos Kritik an den »Türhütern der Orthodoxie«, deren einzige Legitimation darin besteht, erfolgreich die Regeln für gute Interpretationen festgelegt zu haben und so »die Sieger {politisch und kulturell gesehen) im Kampf um die Durchsetzung ihrer eigenen Interpretation« geblieben zu sein 16, impliziert also keineswegs, wie Thyen vermutet, eine Ehrenrettung für die vorreformatorische Lehre vom vierfachen Schriftsinn, sondern de14 De princ. IV 2,3 {vgl. Lk 11,521). 15 De princ. IV 2,2. 16 U Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache, München 1983, S.222f.
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ren Kritik. Die Hermeneutik des mehrfachen Schriftsinns, abgesichert durch das kirchliche Lehramt, ist gerade ein klassisches Beispiel für jene hermeneutische Orthodoxie, die Eco rezeptionsästhetisch zu überwinden sucht.
J. Objektiver Textsinn? Ansätze zu einer rezeptionsästhetischen Hermeneutik bewegen sich nicht jenseits, sondern diesseits von Spinoza und Schleiermacher. Die hermeneutische Kehre vom Autor zum Leser bedeutet nicht, daß erneut ein mehrfacher, nach Analogie der Äquivokation zu denkender Schriftsinn in vorreformatorisch-theologischem Sinne postuliert, sondern daß die Existenz eines textimmanenten Literalsions überhaupt in Frage gestellt wird. Ist nämlich der Text gegenüber dem Autor und seiner Aussageabsieht autonom zu denken, so fallen Literalsion und Intention des Autors - anders als es noch nach Schleiermachers hermeneutischer Theorie der Fall ist auseinander. Es wird damit nicht nur die neuzeitliche Gleichsetzung des Literalsions mit dem sensus historicus hinfällig, sondern es kann von einem feststehenden Literalsion eines Textes gar nicht mehr im herkömmlichen Sinne die Rede sein. Gewinnt der Leser eine textproduktive Funktion im Akt des Lesens, dann konstituiert sich allererst durch ihn ein möglicher Literalsion des Textes. Wenn nun verschiedene Leser unterschiedliche Textbedeutungen entdecken, so handelt es sich nicht wie nach der mittelalterlichen theologischen Texttheorie um eine Pluralität verschiedener sensus, sondern um eine Vielfalt innerhalb des sensus litteralis. Insofern bedarf Marquards Charakterisierung der Hermeneutik Schleiermachers als Wende zur pluralisierenden Hermeneutik einer Modiftk.ation. Statt von ihrer Überwindung sollte man bei Schleiermacher mit H.R. Jauß besser von einer Metamorphose der Theorie
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des mehrfachen Schriftsinns sprechen 17 • Schleiermacher wie auch Friedrich Ast haben die Lehre vom mehrfachen Schriftsinn zur Theorie der mehrfachen Auslegungsweisen abgewandelt. Unter Preisgabe der Lehre von der Verbalinspiration der Bibel tritt bei Schleiermacher an die Stelle des sensus litteralis die grammatische Interpretation, an die Stelle des sensus spiritualis aber die psychologisch-technische Interpretation, welche einen Text nicht als Produkt des göttlichen Geistes, sondern des Geistes des Schriftstellers und seiner Epoche auffaßt, wobei der Geistbegriff des deutschen Idealismus im Hintergrund der Hermeneutik Schleiermachers steht. Schleiermachers Hermeneutik pluralisiert, was die biblischen Einzeltexte betrifft, also nicht deren Gegenstand, sondern lediglich dessen Interpretationsmöglichkeiten. Unendlich ist nach Schleiermacher wohl die divinatorische Aufgabe der Hermeneutik, nicht aber die Menge der Sinnmöglichkeiten eines einzelnen Textes. Das gilt nach Schleiermachers Auffassung für nichtfiktionale Texte ebenso wie für fiktionale oder poetische Texte. Entsprechend beurteilt er die Tradition des mehrfachen Schriftsinns und der allegorischen Auslegungsmethode. Diese wird nicht einfach verworfen. »Man kann sie nicht mit dem allgemeinen Grundsatz abfertigen daß jede Rede nur Einen Sinn haben könne, so wie man ihn gewöhnlich grammatisch nimmt. Denn jede Anspielung ist ein zweiter Sinn; wer sie nicht mit auffaßt kann den Zusammenhang ganz verfolgen, es fehlt ihm aber doch ein in die Rede gelegter Sinn« 18• Zu kritisieren ist nach Schleiermacher, daß die allegorische 17 Vgl. H R. JrJ#, Zur Abgrenzung und Bestimmung einer literarischen Hermeneutik, in: M Fuhrmann (Hg.), Poetik und Hermeneutik IX. Text und Applikation, München 1981, S. 459-481, hier S.
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Schriftauslegung unberechtigterweise jeder beliebigen Bibelstelle einen Hintersinn unterstellt. »Die Aufmerksamkeit darf aber hierauf nur gerichtet werden wenn uneigentliche Ausdrücke dazu Anzeichen geben« 19• Schleiermacher gesteht der älteren Auslegungstradition also zu, daß es allegorische Texte gibt, bestreitet jedoch, daß dieser Umstand zur Annahme eines mehrfachen Schriftsinns der ganzen Bibel nötige oder berechtige. Ist vielmehr »eine Stelle allegorisch gemeint[:] so ist auch der allegorische Sinn der einzige und einfache Sinn der Stelle denn sie hat gar keinen andern und wollte sie jemand historisch verstehen [:] so gäbe er den Sinn der Worte gar nicht wieder, denn er legte ihnen nicht die Bedeutung bei welche sie in dem Zusammenhang der Stelle haben; so wie umgekehrt wenn eine anders gemeinte Stelle allegorisch erklärt wird. Denn geschieht dies wissentlich: so ist es keine Auslegung mehr sondern eine Nutz~wendung wenn aber unwissentlich[:] so ist es eine falsche Erklärung« 20 • Erst heutige Ansätze einer literarischen Hermeneutik führen auf Grund ihrer rezeptionsästhetischen Prämissen zu einer radikalen pluralisierenden Hermeneutik. Radikal sind sie insofern, als sie die Annahme eines einzigen Literatsinns prinzipiell in Frage stellen und die hermeneutische Sicherstellung der ursprünglichen Intention des Autors für ein unmögliches Unterfangen halten. Rezeptionsästhetischen Einsichten nähert sich Schleiermacher nur an wenigen Stellen, vor allem bei der Frage nach der Möglichkeit einer Interpretation mythischer Texte. Schleiermacher erkennt nämlich, daß in ihrem Fall seine Konzeption der technischen Interpretation aus prinzipiellen Gründen versagt. Technisches Verstehen bedeutet bei Schleiermacher bekanntlich, einen Text oder ein Werk als Lebensäußerung eines
19 Ebd. 20 A.a.O. (Anm. 18), S. 155.
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Individuums zu verstehen 21 • »Jedes ist aber auch ein einzelnes als That seines Urhebers und bildet mit seinen anderen Thaten zusammen das Ganze seines Lebens, und ist also nur aus der Gesammtheit seiner Thaten natürlich nach Maaßgabe ihres Einflusses auf jene und ihrer Aehnlichkeit mit ihr[,] in der andern nämlich der persönlichen Beziehung zu verstehen« 22• Schleiermacher ist sich dessen bewußt, daß eine solche Erhebung der Intention des Autors faktisch in vielen Fällen kaum durchführbar ist oder doch höchst divinatorisch bzw. hypothetisch bleiben muß: »wie viele von den bedeutendsten Schriftstellern giebt es nicht von deren ganzem übrigen Leben und Sein wir so wenig wissen daß überhaupt Bedenken entsteht wie weit wir ihrer Person zu trauen haben« 23 .1m Falle mythischer Texte aber ist eine technische Interpretation nicht nur faktisch schwierig, sondern grundsätzlich ausgeschlossen, und zwar deshalb, weil Mythen nicht einem einzelnen Autor zugeschrieben werden können, sondern einen überindividuellen Ursprung haben: »Für den Mythos giebt es aber keine technische Interpretation weil er nicht von einem Einzelnen herrühren kann und das Schwanken des gemeinsamen Verständnisses zwischen dem eigendichen und uneigendichen Sinn macht hier die Duplicität am scheinbarsten«24.1m Fall des Mythos also wird selbst für Schleiermacher die Singularität des Textsinns fraglich. Grundsätzlich wird diese aber erst von einer rezeptionsästhetisch orientierten literarischen Hermeneutik in Frage gestellt.
21 A.a.O. (Anm. 18), S. 113: »Verstehen als Darstellung der Gedanken. Zusammengeseztes durch den Menschen. Also aus dem Menschen.« 22 A.a.O. (Anm. 18), S. 147. 23 A.a.O. (Anm. 18), S. 150. 24 A.a.O. (Anm. 18), S. 85.
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4. Rezeptionsästhetik und Hermeneutik des Unverständnisses Wie gesehen, konvergieren heutige Ansätze einer literarischen Hermeneutik keineswegs mit den theoretischen bzw. theologischen Prämissen der Lehre vom vierfachen Schriftsinn. Konvergenzen bestehen aber, wie wir bereits im zweiten Kapitel gesehen haben, zwischen einer pluralistischen literarischen Hermeneutik und der Herleitung und Wesensbestimmung allegorischer Schriftauslegung bei Franz Overbeck. Daß nämlich die Texte des Neuen Testaments gegenüber ihren Autoren und ihren soziokulturellen Entstehungsbedingungen autonom geworden sind, ist nach Overbeck die historische Voraussetzung ihrer kirchlichen Rezeptionsgeschichte. Wie schon festgestellt wurde, besteht zwischen Overbecks Theorie der christlichen Urliteratur und heutigen Ansätzen einer literarischen Hermeneutik allerdings darin ein gewichtiger Unterschied, daß Overbeck den von ihm beschriebenen Vorgang der Autonomie nur negativ bewerten kann. Ähnlich wird die Ablösung des Textes vom Autor allerdings selbst noch von Gadamer beurteilt, welcher zwar darin über Schleiermacher hinausgeht, daß er die hermeneutische Differenz von mündlicher Rede und schriftlichem Text anerkennt, die Verschriftung von Sprache jedoch für eine Verfremdung hält, die es im Vorgang des Verstehens zu überwinden gilt25• Overbeck wirft der allegorischen Schriftauslegung 25 Vgl. P. Ricreur, a.a.O. (Anm. 2), S. 24f. Im Unterschied dazu sie-
he H-G. Gtuiamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (GW 1), Tübingen '1986, S. 165ff. »Schrift und was an ihr teil hat, die Literatur, ist die ins Fremdeste entäußerte Verständlichkeit des Geistes« (a.a.O., S. 169). Gadamer hält freilich die Hermeneutik Hegels derjenigen Schleiermachers für überlegen, »sofern das Wesen des geschichtlichen Geistes nicht in der Restitution des Vergangenen, sondern in der denkenden Vermittbmg mit dem ~IWJIJrtigen Leben besteht« (a.a.O., S. 174). Gegen Schleiermachers Herme-
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wie aller theologischen Exegese vor, aus der Not solcher Verfremdung eine Untugend zu machen. Während Gadamer dem Vorgang des Verstehens »die Rückverwandlung toter Sinnspur in lebendigen Sinn« zutrau~, ist Overbeck der Meinung, schon der Prozeß der Kanonisierung stelle der urchristlichen Literatur endgültig den Totenschein aus, und keine wie auch immer geartete Interpretation könne die einmal abgestorbene Urliteratur zu neuem Leben erwecken27• Overbeck sucht seine hermeneutische Position geschichtsphilosophisch damit zu untermauern, daß der Ubergang von der Urgeschichte zu einer historischer Forschung zugänglichen Geschichte mit dem Tod zu vergleichen sei118• Der Tod des Urchristentums ist unter dieser Prämisse der Tod auch seiner Literatur. Entsprechend besteht für Overbeck die hermeneutische Aufgabe der Interpretation neutestamentlicher Texte nur noch in der Totenwache, welche die in ihrer Übervergangenheit ruhenden Schriften vor neutik literarischer Texte läßt sich darüber hinaus einwenden, daß deren Bestreitung einer hermeneutischen Differenz zwischen schriftlichen Zeugnissen und mündlicher Rede nicht wirklich überzeugt. Schleiermacher vergleicht nämlich zu diesem Zweck einen Text mit dem Gedächtnis eines Hörers: »So· mit verschwindet hier wieder der Unterschied zwischen dem was bloß mündlich vernommen wird und dem was wir schrift· lieh vor uns haben gänzlich, indem wir auch für jenes durch das Gedächtoiß uns aller Vortheile bemächtigen die dem lezten ausschließlich zu eigen scheinen« (a.a.O., Anm. 18, S. 145). Ein Widerspruch entsteht nun aber dadurch, daß Schleiermacher die Gedächtnisleistung eines Hörers für »gleichsam ein regel· mäßigeres und vollständigeres Blättern« hälL Schleiermacher wählt nun also nicht mehr die mündliche Rede als hermeneuti· sches Paradigma für eine Theorie des Textes, sondern umgekehrt das Modell des Buches als Paradigma für eine Theorie der mündlichen Kommunikation. 26 H.-G. Gadamer, a.a.O. (Anm. 25), S. 169. 27 Vgl. R Overbeck, Über die Anfänge der patristischen Literatur {1882), Neuausgabe Darmstadt 1966, S. 29. 28 Vgl. R Overbeck, Christentum und Kultur. Aus dem Nachlaß hg. v. C. A. Bernoulli, Basel 1919, S. 21.
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Leichenschändung, will sagen »gegen die Akte ungewaschener Subjektivität ihrer Ausleger« zu schützen versucht;29. Ganz andere Perspektiven ergeben sich für die biblische Hermeneutik jedoch aus dem Ansatz einer literarischen Hermeneutik, wie wir uns schon im zweiten Kapitel am Beispiel der Texttheorie Ricreurs verdeutlicht haben. Ricreur arbeitet nämlich heraus, daß der mit der Verschriftung gegebenen Autonomie des Textes gegenüber seinem Autor und seinen Entstehensbedingungen »im Unterschied zu dem Verfallscharakter, den Gadamer darin erblickt« 30 , ein positives Element innewohnt. Jede Textinterpretation versucht nicht etwa nur die Verfremdung der Welt des Autors zu überwinden, sondern ist durch diese überhaupt bedingt. Was Overbeck als Verfallserscheinung der neutestamentlichen Texte auffaßt, ist rezeptionsästhetisch betrachtet gerade die Bedingung für ihre fortlaufende Rezeption und damit ihre Wrrksamkeit. Das von Overbeck diagnostizierte Unverständnis der Moderne, auch der modernen Theologie seiner Zeit, gegenüber den Texten des Neuen Testaments ist nicht mit dem Ende jeglicher Verstehensm.öglichkeiten überhaupt zu verwechseln. Overbeck kritisiert die theologische Schriftauslegung auch darin, daß sie die applikative Auslegung an die Stelle einer historischen Interpretation setze. Wie nicht erst die neuere literarische Hermeneutik, sondern auch schon H.-G. Gadamer einsichtig gemacht hat, wohnt freilich jedem Verstehen ein applikativer Zug inne. Was Overbeck im Fall der neutestamentlichen Texte bemängelt, ist doch in Wahrheit eine Grundtatsache jedes lnterpretationsvorgangs. Allerdings bleibt es auch unter rezeptionsästhetischen Prämissen sinnvoll, zwischen Auslegung bzw. Applikation und einer auf historisches Verstehen abzielenden Interpretation zu unterscheiden. 29 A.a.O. {Anm. 28), S. 76. 30 P. Ricreur, a.a.O. {Anm. 2), S. 28.
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Ein Mangel sogenannter alternativer Auslegungsmethoden besteht, wie wir im vorigen Kapitel gesehen ·haben, häufig darin, diese Unterscheidung zu mißachten. Folgt man U. Eco, so lassen sich Auslegung und Interpretation in der Weise unterscheiden, daß sich letztere anders als die freie Applikation durch den Text selbst, und zwar durch seine grammatische und semantische Struktur begrenzen läßt. Diese Struktur dient der Interpretation als maßgebliche Regel im hermeneutischen Spiel mit dem Text. Insofern kann Eco sagen, ein Text sei »nichts anderes als die Strategie, die den Bereich seiner - wenn nicht >legitimen<, so doch legitimierten - Interpretationen konstituiert« 51 •
5. Hintersinn und Vorr.k~inn Die hermeneutische Schlußfolgerung aus der Entdekkung der Autonomie der biblischen Texte kann nicht in der Rückkehr zur früheren Lehre vom vierfachen Schriftsinn bestehen. Eine als literarische Hermeneutik formulierte biblische Hermeneutik kann die Wahrheit dieser Lehre nur beerben, indem sie dieselbe vom Kopf auf die Füße stellL Daß ungeachtet aller herausgearbeiteten Unterschiede zwischen einer pluralistischen literarischen Hermeneutik und der Tradition allegorischer Schriftauslegung ein innerer Zusammenhang besteht, haben wir uns im vorigen Kapitel vergegenwärtigt. Wir wollen uns diesen Zusammenhang noch einmal an der Hermeneutik RiCCEurs verdeutlichen. RiCCEur behauptet, »daß die Zerstörung eines primären Verweisungsbezugs durch Fiktion und Poesie die Bedingung der Möglichkeit dafür sei, daß ein sekundärer Verweisungsbezug freigelegt werde, der die Welt nicht mehr nur als Bereich verfüg31
U Eco, Leetor in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in er· zählenden Texten, München 1987, S. 73.
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barer Gegenstände erreicht, sondern als das, das Husserl >Lebenswelt< und Heidegger >ln-der-Welt-Sein< nennt« 52• Ricreur fragt nun: »Was bleibt zu interpretieren, wenn wir die Hermeneutik nicht mehr definieren können als Frage nach den hinter dem Text verborgenen inneren Absichten eines anderen, wenn wir die Interpretation aber auch nicht auf die Zerlegung der Strukturen beschränken wollen? Ich würde sagen: interpretieren heißt, die Weise des vor dem Text entfalteten In-derWelt-Seins darzustellen«~~. Ricreur unterscheidet zwischen einem primären und einem sekundären Verweisungsbezug sprachlicher Äußerungen. Die Verschriftung von Sprache zerstört den Verweisungsbezug mündlicher Rede auf die Welt als Wrrklichkeit und schafft einen sekundären Verweisungsbezug auf die Welt als Möglichkeit. »Ein Text ist zu interpretieren als ein Entwurf von Welt, die ich bewohnen kann, um eine meiner wesenhaften Möglichkeiten darein zu entwerfen«!l4. Sucht die allegorische Schriftauslegung nach einem Hintersinn, so eine im Sinne Ricreurs verfahrende Interpretation nach dem Vordersinn der biblischen Texte. Sie legt den Akzent weniger auf die Mehrdeutigkeit des Textes als auf diejenige der Welt. Nicht der Text, sondern die Welt wird im Vollzug der Auslegung verfremdet. Dies ist gemeint, wenn wir sagen, eine als literarische Hermeneutik konzipierte biblische Hermeneutik stelle die Lehre vom mehrfachen Schriftsinn vom Kopf auf die Füße.
32 P. Ricceur, a.a.O. (Anm. 2), S. 3lf. 33 A.a.O. (Anm. 2), S. 32. 34 Ebd.
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6. Polyphonie und Einklang der &hrifi WlJ'd theologische Exegese zur pluralisierenden Schriftauslegung, wenn sie die Lehre vom vierfachen Schriftsinn rezeptionsästhetisch vom Kopf auf die Füße stellt? Dies scheint der Fall zu sein, sofern man an die unendliche zahl von Applikationsmöglichkeiten biblischer Texte denkt. In anderer Hinsicht eröffnet jedoch gerade die Rezeptionsästhetik neu den Blick für die innere Einheit der biblischen Texte und auch ihrer Auslegungen. Während die historisch-kritische, produktionsästhetische Textinterpretation eine Pluralität von Autoren und Aussageabsichten freigelegt hat, führt der rezeptionsästhetische Ansatz in gewisser Hinsicht zur Singularität eines vormodernen Schriftverständnisses zurück. Singularität bedeutet nun freilich nicht Uniformität, sondern die Kohärenz des Pluriformen. Zunächst gilt das für die einzelnen biblischen Schriften, die synchron als textliche Einheiten zu interpretieren sind. Dies schließt ihre diachrone Analyse nicht aus, doch kehrt sich unter rezeptionsästhetischen Prämissen die Abfolge von diachroner und synchroner Interpretation gegenüber der gängigen Praxis historisch-kritischer Exegese um. Wir werden uns diesen Sachverhalt im folgenden Kapitel an der formgeschichtlichen Methode verdeutlichen. Das eben Gesagte gilt nun aber auch für die Größe des Kanons. Wie im vorigen Kapitel gezeigt wurde, kann der Kanon nicht nur produktionsästhetisch, nämlich kanonsgeschichtlich-kritisch, sondern unbeschadet seiner historischen Disparatheil unter rezeptionsästhetischen Gesichtspunkten als ein literarisches Gesamtkunstwerk gelesen werden. Deshalb bleibt die historisch-kritische Frage nach der Vorgeschichte und Entstehungsgeschichte des Kanons legitim. Sie setzt freilich das historische Faktum des Kanons immer schon voraus. Weil die Kanonisierung von Schriften einherging mit der Unterdrückung solcher Texte, die nicht kanonisiert wurden, hat sie die Spuren der Genese des Kanons teil-
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weise verwischt. Die Kanonisierung frühchristlicher Schriften wie auch das Entstehen des alttestamentlichen Kanons in frühchristlicher Zeit stellen darum einen nicht minder gewichtigen qualitativen Sprung dar, wie die Verschriftung mündlicher Tradition. Dies hat Overbeck richtig gesehen. Es sollte auch zu denken geben, daß das Verdikt historisch-kritischer Forschung die Frage nach der Legitimität und inneren Einheit des Kanons nicht wirklich zum Verstummen bringen konnte. »Noch den modernen Theologen überrascht man immer wieder bei einem Bibelumgang, der wie der frühe Kirchenvater Zitat an Zitat, Bild an Bild fügt, als sei >das Gotteswort< eben doch das eines einzigen Urhebers«, wie der jedes Biblizismus gewiß völlig unverdächtige Philosoph Hans Blumenberg beobachtet35 • Er vertritt die Auffassung, »noch dem ungläubigsten Leser« könne »nichts Besseres geraten werden als dem, der seinen Homer lesen möchte und nicht von störender Vielverfasserschaft Notiz nehmen sollte: das Ganze so zu lesen, als ob es nur den einen Autor hätte und der sich an jeder Stelle durch alle anderen Stellen erläutern und sinnbereichern ließe«56 • Mit diesem Ratschlag für Bibelleser wird nicht einem Rückfall der Exegese in voraufklärerische Positionen das Wort geredet. Aber Blumenberg wendet gegen die moderne Exegese ein: »Die aufklärerische Bibelkritik hat den Fehler begangen, einen jeden sich dumm vorkommen zu lassen, der nicht in den Umgang mit den Texten einbezog, was er doch wissen konnte und mußte. Sie hat dem Erlebnis die Legitimität genommen«37 • Blumenberg ist dessen sicher: »Alles ist für den Hörer und Leser auf immer verloren, wenn er aus den Geschichten nicht mehr die eine Geschichte zusammenbringt, in der er 35 H Blumenberg, Matthäuspassion (Bibliothek Suhrkamp Bd. 998), Frankfurt a.M. 1988, S. 21. 36 A.a.O. (Anm. 35), S. 21f. 37 A.a.O. (Anm. 35), S. 22.
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mit dem Einen sich als einen vorkommen lassen kann« 38 • Die von Marquard so bezeichnete pluralisierende Hermeneutik vermag das Anliegen der singularisierenden Exegese eben nicht völlig außer Kraft zu setzen. Die entscheidende Frage lautet nun aber, ob der Kanon lediglich formal kohärent ist, ob eine inhaltliche Kohärenz nur durch den Leser im Akt des Lesens konstruiert wird, oder ob er damit einer inhaltlichen Anweisung des Kanons selbst folgt. Nach Ricreur ist der Gott, auf den sich die biblischen Autoren beziehen, sowohl der Einheit stiftende Bezugspunkt aller verschiedenartiger Gottesrede in der Bibel wie auch das Maß und der Grund ihrer Unvollkommenheit. »Das Wort Gott zu verstehen heißt, dem Richtungspfeil seines Sinnes zu folgen. Unter dem Richtungspfeil seines Sinnes verstehe ich seine zweifache Fähigkeit, alle aus den Einzelreden hervorgegangenen Bedeutungen zu vereinen und einen Horizont zu eröffnen, der sich dem Abschluß der Rede entzieht«~9 • M.E. aber muß der Name Christi als dieser die Einheit des Kanons stiftende Bezugspunkt benannt werden, insofern er dem Wort >Gott< allererst eine eindeutige Richtung gibt. Dies ist nun nicht etwa lediglich ein dogmatisches Postulat, das mehr oder weniger willkürlich von außen an die biblischen Texte herangetragen würde, sondern eine den neutestamentlichen Autoren gemeinsame Überzeugung, und zwar gerade auch dort, wo sie sich auf die alttestamentlichen Schriften beziehen. Indirekt gilt das Gesagte darum auch für die jüdischen Schriften, die allein auf Grund einer christologischen oder christozentrischen Auslegung, wie wir sie in den neutestamentlichen Schriften vorfinden, christlicherseits als göttlich inspirierter Kanon anerkannt wurden.
38 A.a.O. (Anm. 35), S. 23. 39 P. RiCO!ur, a.a.O. (Anm. 2}, S. 42.
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Insofern das Wort >Christus< der Einheit stiftende Bezugspunkt des biblischen Kanons in seiner Gänze ist, können seinen Schriften letztlich nur in einer Dialektik von pluralisierender und singularisierender Exegese interpretiert werden. Unter produktionsästhetischen Prämissen hat Schleiermacher diese Dialektik als diejenige von philologischer und dogmatischer Interpretation beschrieben. Während die dogmatische Inspirationslehre den neutestamentlichen Kanon als Werk eines einzigen Schriftsteller&, nämlich des Heiligen Geistes ansehe, betrachte eine rein philologische Exegese jede neutestamentliche Schrift isoliert von den übrigen. Schleiermacher wendet gegen die von ihm als dogmatisch bezeichnete Interpretation ein, daß die »individuelle Bildung« einer Schrift nicht ausgeblendet werden dürfe, gegen die philologische Exegese aber, daß jede Interpretation eine »gemeinsame Abhängigkeit« der neutestamentlichen Autoren zu berücksichtigen habe. Sie bestehe gegenüber Christus als gemeinsamer Bezugsgröße. »Wenn die philolog[ische] Ansicht dies verkennt vernichtet sie das Christenthum. Denn wenn die Abhängigkeit von Christo Null ist gegen die persönliche Eigenthümlichkeit und die vaterländischen Mängel so ist Christus selbst Null«. Andererseits ist die Christusrelation jeweils individuell gefärbt. »Wenn die dogmat[ische] (sc. Ansicht) den Kanon von der Analogie des Glaubens über diese Grenze ausdehnt vernichtet sie die Schriften«40• Die unaufgebbare Dialektik von pluralisierender und singularisierender Exegese hat Schleiermacher auf folgende hermeneutische Regel gebracht: »Die Analogie des Glaubens kann also nur heißen: es ist irgendwo falsch erklärt, wenn aus allen zusammengehörigen Stellen nichts gemeinsames übereinstimmend hervorgeht«41.
40 Alle Zitate bei F. Schleiermacher, a.a.O. {Anm. 18}, S. 102. 41 A.a.O. {Anm. 18}, S. 103.
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Das Wort >Christus< verstehen heißt dem Richtungspfeil seines Sinnes zu folgen. Dieser Pfeil schießt über den Wortlaut jedes biblischen Textes hinaus. »Hermeneutik« - so Odo Marquard - »ist die Kunst, aus einem Text herauszukriegen, was nicht drinsteht« 42 • Wichtig an einem Text ist nicht allein das Gesagte oder Geschriebene, sondern nicht minder das Ungesagte und Ungeschriebene, die Leerstellen zwischen den Wörtern und Zeilen•~. Das gilt auch für die biblischen Schriften, insbesondere für die Texte des Neuen Testaments. All ihre Aussagen über Christus weisen über sich selbst hinaus. Was in den Texten geschrieben steht, ist das Wort >Christus< in unterschiedlichen sprachlichen Verbindungen. Die mit ihm benannte Wrrklichkeit aber, das Vonwoher gläubiger Existenz in der Gemeinschaft der Glaubenden, steht nicht in den Texten selbst, sondern ist zwischen den Zeilen je und je neu im Ereignis des Lesens und Verstehens zu entdecken.
7. Schriftprinzip und literarische Hermeneutik Ein rezeptionsästhetisches Verständnis biblischer Texte führt die Exegese aus manchen Sackgassen historischkritischer Forschung hinaus. Es wirft aber auch eine Reihe theologischer Probleme auf, die keineswegs neu sind, in der gegenwärtigen theologischen Debatte aber bisweilen übersehen werden. Die zu beachtenden dogmatischen Probleme sollen an einigen Aussagen Ecos verdeutlicht werden. Wie auch andere Literaturwissenschaftler weist Eco auf die Notwendigkeit der Mitarbeit des Lesersam Zustandekommen eines Textes hin. Der Text ist nach Eco 4!2 0. Marquard, a.a.O. (Anm. 6), S. 117. 43 Vgl. dazu U. Eco, a.a.O. (Anm. 31), passim, bes. S. 6lff.
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»eine träge Maschine[ ... ], welche dem Leser ein hartes Stück Mitarbeit abverlangt, um gewissermaßen die weißen Stellen, die frei geblieben sind, die Räume des Nicht-Gesagten und des Schon-Gesagten auszufüllen«44• Der Text fordert »die Mitarbeit des Lesers als wesentliche Bedingung seiner Aktualisierung«, weil er »ein Produkt ist, dessen Interpretation Bestandteil des eigentlichen Mechanismus seiner Erzeugung sein muß« 45• Negativ formuliert besagt dies: »Insofern ein Text aktualisierbar ist, ist er unvollständig« 46 • Sofern diese Aussagen auch für die Texte des biblischen Kanons gelten, stellen sich die dogmatischen Fragen nach der perfectio oder sufficientia der Schrift, sowie nach ihrer efficacia und damit das Problem des Synergismus. Ist der Ieetor in biblia konstitutiv für die Aktualisierung ihrer Texte, so wird augenscheinlich das reformatorische Schriftprinzip des sola scriptu.ra, nachdem es bereits durch das historische Bewußtsein der Neuzeit ins Wanken geraten ist, nun auch durch eine pluralisierende literarische Hermeneutik in Frage gestellt. Gehört der Leser konstitutiv in den biblischen Text selbst, ist er es, der den Text durch seine Aktualisierung immer erst neu produziert, so scheint das extra nos Christi, auf welchem die Reformatoren so sehr insistiert haben, hinfallig zu werden. Dieser Schluß ist jedoch nicht zwingend. Auf der Suche nach einer Lösung der angesprochenen dogmatischen Probleme scheint es mir hilfreich zu sein, sich an die Christologie Martin Kählers zu erinnern. Kählers christologische Konzeption ist gerade darin wegweisend, daß sie im Grunde ein rezeptionsästhetisches Modell von Christologie entwickelt hat. Es besagt, daß die Geschichtlichkeit des Jesus, von dem das Neue Testament erzählt, einzig in seiner Wirkungsgeschichte besteht: 44 A..a.O. (A.nm. 31), S. 29. 45 A..a.O. (A.nm. 31), S. 65.
46 A..a.O. (Arun. 31), S. 61.
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»Was aber ist die Wrrkung, die durchschlagende, welche dieser Jesus hinterlassen hat? Laut Bibel und Kirchengeschichte keine andere als der Glaube seiner Jünger« 47• Kählers Schüler P. Tillich hat diesen wirkungsgeschichtlichen Ansatz der Christologie fortgeführt. »Jesus als der Christus« ist, wie Tillich hervorhebt, »sowohl ein historisches Faktum als auch der Gegenstand gläubiger Aufnahme« 411 • Der Christus extranosexistiert pro nobis nicht anders denn als Christus in nobis. »Die aufnehmende Seite des christlichen Ereignisses ist von ebenso großer Bedeutung wie die faktische Seite. Und nur aus ihrer Einheit geht das Ereignis hervor, auf dem das Christentum gegründet ist. In der Symbolik der Kirche ist Christus das Haupt der Kirche und diese sein Leib. In diesem Sinne gehören die faktische und die aufnehmende Seite notwendig zusammen« 49• Im Anschluß an Kähler erklärt nun Tillich, nicht nur der Glaube der Christen, sondern auch das Neue Testament sei seinerseits »ein integrierender Bestandteil des Ereignisses, das es bezeugt. Es repriisentiert die aufnehmende Seite jenes Ereignisses und bezeugt seinefalctische Seite« 50• Unter Aufnahme rezeptionsästhetischer Einsichten läßt sich der Gedanke dahin fortführen, daß nicht nur der Glaube der ersten Jünger, sondern auch der heutige Leser ein integrierender Bestandteil des von den neutestamentlichen Schriften bezeugten Ereignisses und somit ein Bestandteil der Schrift selbst ist. Zwischen Aufnahme im Sinne Tillichs und Rezeption im Sinn einer allgemeinen literarischen Hermeneutik ist allerdings zu unterscheiden. Aufnahme meint bei Tillich nämlich eine qualifizierte Weise der Rezeption, nämlich den Glauben als bestimmte Weise des Verste47 M. Kähler, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus (1892) (TB 2), München 4 1969, S. 38f (im Original gesperrt). 48 P Tillich, Systematische Theologie II, Stuttgan !1977, S. 108. 49 A.a.O. (Anm. 48), S. 109. 50 A.a.O. (Anm. 48), S. 128.
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hens. Der Glaube aber ist ein Verstehen ·biblischer Texte, durch welches der Leser nicht nur in den Text gerät, um ihn zu vervollständigen, sondern durch welches er seinerseits verwandelt wird, indem er sich neu verstehen lernt. Der Glaube als Widerfahrnis verwandelnden Ver7 stehens kann sich selbst nicht als Tat, sondern nur als Gabe begreifen. Während im Rahmen einer allgemeinen literarischen Hermeneutik zwischen willkürlicher Aneignung von Texten und regelgeleiteter, nämlich den vom Text selbst vorgegebenen Spielregeln folgender Interpretation zu unterscheiden ist, muß darüber hinaus theologisch zwischen Glauben und Unglauben differenziert werden, zwischen gläubiger Aufnahme und der »Sünde im Verstehen« 51 • Beide Weisen des Verstehens aber werden durch die biblischen Texte provoziert. Für das Problem der soteriologischen Suffizienz der Schrift folgt aus diesen Überlegungen, daß ihre Texte zwar im Sinn einer allgemeinen Texttheorie unvollständig sind, sich aber selbst den Leser schaffen, dessen sie zu ihrer Vervollständigung bedürfen. Sie sind eine Strategie, traditionell gesprochen ein medium salutis, welches Glauben provoziert. Wo sich im Akt des Lesens gläubige Annahme ereignet, vervollständigt sich der Text in dem von ihm selbst intendierten und provozierten Sinne. Suffizient sind die biblischen Texte in dem Sinne, daß sie hinreichend sind als alleiniges Stimulans gläubiger Rezeption, welche sich selbst wiederum nicht als autonome Leseleistung, sondern als Gabe, nämlich als Frucht des Lesens begreift. Die rezeptionsästhetische Feststellung, daß, wie jeder Text, auch die biblischen Texte erst durch den Leser realisiert werden, muß also dem sola scriptura des reformatorischen Schriftprinzips nicht unbedingt widersprechen. Eine dogmatische Interpretation der im Sinn einer literarischen Hermeneutik bestehenden Unvoll51 Vgl. H ffeder, Neutestamentliche Hermeneutik, Zürich 1986, s. 83ff.
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ständigkeit der biblischen Texte muß ihren Ausgangspunkt in der Pneumatologie suchen. Ebenso hat es ja die von uns als produktionsästhetische Texttheorie interpretierte Lehre von der Verbalinspiration getan. In ihrer altprotestantischen Fassung unterschied sie zwischen Gott als der causa principalis und den inspirierten menschlichen Autoren als den causae instrumentales52• Eine literarische Hermeneutik erlaubt es und nötigt geradezu, zu der anscheinend obsolet gewordenen Inspirationslehre zurückzukehren, um sie freilich grundlegend umzuformulieren. Rezeptionsästhetisch muß sie als Lehre vom inspirierten Leser rekonstruiett werden. Unter Aufnahme der alten Begrifflichkeit läßt sich das mit der Theorie einer literarischen Hermeneutik aufgeworfene Problem der soteljologischen Suffizienz derart lösen, daß der Leser theologisch zwar keinesfalls als causa principalis, wohl aber als causa instrumentalis zu denken ist. In diesem Sinne gehört der Leser auch nach theologischem Verständnis in den biblischen Text. Welche exegetischen Folgerungen sich aus der rezeptionsästhetischen Einsicht ergeben, daß der Leser wohl in den Text, aber nicht hinter ihn gelangen kann, soll im folgenden Kapitel am 'Beispiel der formgeschichtlichen Methode diskutiert werden. Es ist das bleibende Verdienst der herkömmlichen formgeschichtlichen Methode, auf die inhaltliche Relevanz der äußeren Form sprachlicher Äußerungen hingewiesen zu haben. Indem sie aber mit literarkritischen und überlieferungsgeschichtlichen Fragen verknüpft wurde, hat die formgeschichtliche Methode die Schriftlichkeit der biblischen Texte hermeneutisch zumeist vernachlässigt oder sich, darin der Theorie vom mehrfachen Schriftsinn nicht unähnlich, anheischig gemacht, einen Text hinter dem vorliegenden Text zu suchen. Aus diesem Grund sieht sich die formgeschichtliche Methode inzwischen ge52 Vgl. J. Gerluud, Loci Theologici I 12,18 (ed. E. Preuß), Leipzig 1 1885, s. 16.
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wichtigen methodischen Einwänden ausgesetzt. Wenn wir im folgenden Kapitel auf die gegenwärtige formgeschichtliche Debatte ausführlicher eingehen, so deshalb, weil sich gerade aus ihr eine Reihe wichtiger Gesichtspunkte für eine biblische Hermeneutik ergeben, die sich als literarische Hermeneutik begreift.
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Fünftes Kapitel
Formgeschichte und Rezeptionsästhetik Zur Bedeutung der literarischen für die biblische Hermeneutik Die göttlichen Worte wachsen mit den Lesenden. Gregor der Große
1. Formgeschichte und literarische Hermeneutik Seit mehr als zehn Jahren steht die durch Rudolf Bultmann1, Martin Dibelius2 und Karl Ludwig Schmidt!) begründete klassische Formgeschichte4 des Neuen Testa-
Vgl. R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 9 1979. 2 Vgl. M Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums, Tübingen 6 1971. 3 K L &hmidt, Die Stellung der Evangelien in der allgemeinen Literaturgeschichte {1923), jetzt in: F Hahn, Zur Formgeschichte des Evangeliums, Darmstadt 1985, S. 126-228; K L. &hmidt, Der Rahmen der Geschichte Jesu. Literarmtische Untersuchungen zur ältesten Jesusüberlieferung, Berlin 1919, Nachdruck Darmstadt 1964. 4 Zu den Vorläufern der formgeschichtlichen Methode sowie zu ihrer Geschichte innerhalb der alttestamentlichen Wissenschaft und deren Einfluß auf die neutestamentliche Exegese, insbesondere zum Programm H. Gunkels siehe einführend H-P. Ma/ler, Art. Formgeschichte/Formenkritik I. Altes Testament, TRE 11, Berlin/New York 1983, S. 271-285; H Köster, Art. Formgeschichte/Formenkritik II. Neues Testament, TRE 11, S. 286-299, bes. s. 287f.
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ments im Kreuzfeuer der Kritik 5• Wenngleich bereits erste Entwürfe einer neuen formgeschichtlichen Methode vorliegen6, ist die Debatte doch längst noch nicht abgeschlossen. Bisher sind vor allem die historischen, näherhin die überlieferungsgeschichtlichen, literaturgeschichtlichen, soziologischen und religionsgeschichtlichen Voraussetzungen und Konsequenzen formgeschichtlicher Textanalyse diskutiert worden 7• Die gegenwärtige formgeschichtliche Debatte wirft aber auch eine Reihe von hermeneutischen Fragen auf, die ich im folgenden behandeln möchte. Wenn ich recht sehe, gibt es eine Reihe von Konvergenzpunkten zwischen der Forderung nach einer Revision der bisherigen Formgeschichte und neuen Ansätzen theologischer und biblischer Hermeneutik, die durch dieneuere literarische Hermeneutik und Rezeptionsästhetik angeregt worden sind. »Die formgeschichtliche Methode«, so hat vor einigen Jahren noch einmal Helmut Köster die herkömmliche Auffassung bekräftigt, »befaßt sich mit den Formen der mündlichen Überlieferung. Sie unterscheidet sich grundsätzlich von der Untersuchung literarischer Gat5 Siehe u.a. E Güttgemann.s, Offene Frage zur Formgeschichte des Evangeliums {BEvTh 54), München a1971; H FranJcemJjlJ.e, Evangelist und Gemeinde. Eine methodenkritische Besinnung mit Beispielen aus dem Matthäusevangelium, Bib. 60, 1979, S. 155--190; W. H Kelber, Markus und die mündliche Tradition, Lingßibl 45, 1979, S. 5-58; K Haacker, Leistung und Grenzen der Formkritik, ThBeitr 12, 1981, S. 55--71; ders., Neutestamentliche Wissenschaft. Eine Einführung in Fragestellungen und Methoden, Wuppertal 1981, S. 56-63; W. &hmithals, Kritik der Formkritik, ZThK 77, 1980, S. 14~185. Zur älteren Kritik vgl. vor allem E Fascher, Die formgeschichtliche Methode. Eine Darstellung und Kritik. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte des synoptischen Problems (BZNW 2), Gießen 1924. 6 Siehe vor allem K Berger, Formgeschichte des Neuen Testaments, Heidelberg 1984; ders., Einführung in die Formgeschichte, Tübingen 1987. 7 Vgl. K Berger, Einführung {s. Anm. 6), passim, bes. S. 17+-240.
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tungen und der innerhalb der Literatur in Erscheinung tretenden Stilformen«8 • Die seither geführte Diskussion hat aber den Umstand neu.ins Bewußtsein gerückt, daß es - wie immer man ihren Gegenstand definieren willdie formgeschichtliche Methode in jedem Fall unmittelbar nur mit Texten, nicht aber mit mündlicher Tradition zu tun hat. Sofern die Frage nach einem mündlichen Vorstadium neutestamentlicher Schriften oder Einzeltexte überhaupt sinnvoll ist, kann sie nur an die heute vorhandenen kanonischen und außerkanonischen Texte des frühen Christentums gestellt werden. Wir befinden uns heute eben nicht in der überlieferungsgeschichtlichen Lage eines Papias von Hierapolis, der glaubte, durch Befragung vermeintlicher Apostelschüler unmittelbar und an den Texten der ihm vorliegenden Evangelien vorbei aus den Quellen angeblich authentischer, da apostolisch autorisierter, mündlicher Überlieferung schöpfen zu können9 • Dies muß gegenüber der herkömmlichen Formgeschichte betont werden, die sich stark auf die synoptischen Evangelien konzentriert und die Frage literarischer Formen mit derjenigen d~r Überlieferungsgeschichte verquickt hat, dabei aber das Medium des Textes und seine Schriftlichkeit, mit anderen Worten den Text als materielles Artefakt hermeneutisch und exegetisch-methodisch sehr vernachlässigt hat 10• Zwischen mündlicher und schriftlicher Kommunikation besteht eine fundamentale hermeneutische Differenz. Wird diese bedacht, so wird nicht nur die methodiH. Köster, a.a.O. (Anm. 4), S. 286. Papias v. Hierapolis bei Euseb, HE 111 39,3f. Zu Papias siehe ausführlich U Körtner, Papias von Hierapolis. Ein Beittag zur Geschichte des frühen Christentwns (FRLANT 133), Göttingen 1983. Siehe dort S. 173ff zu mündlichen Traditionen bei Papias. 10 Zum Begriff des materiellen Artefakts im Unterschied zu demjenigen des Textes als eines Iistherischen Objekts siehe J. V. Malcarovslcj, Kapitel aus der Poetik, Frankfurt a.M. 1967; ders., Kapitel aus der Ästhetik, Frankfurt a.M. 1970.
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sehe Entflechtung von Formgeschichte, Überlieferungsgeschichte und Kompositionskritik 11 sondern auch die Einbeziehung der Einsichten literarischer Hermeneutik in die formgeschichtliche Debatte notwendig; ist es doch die literarische Hermeneutik, welche die gegenüber mündlichen Äußerungen besonderen Vorstellungsbedingungen schriftlicher Kommunikation untersucht. Peter Szondi hat die literarische Hermeneutik lapidar als »die Lehre von der Auslegung, interpretatio, literarischer Werke« definiert 12• Eine solche hat sich trotzder hohen Blüte der hermeneutischen Disziplin im 20. Jahrhundert erst in den letzten beiden Jahrzehnten entwik.keln können. Indem die Hermeneutik seit Dilthey sich mehr und mehr zur Grundlagenwissenschaft entwickelte, wandte sie sich in starkem Maße von ihrer einstigen Aufgabe ab, eine materiale Lehre von der Auslegung zu sein 1 ~. Die heutigen Ansätze einer literarischen Hermeneutik kommen darin überein, daß sie als materiale Lehre von der Auslegung literarischer Werke deren iisthetischen Charakter hermeneutisch reflektieren. Sie kehren damit freilich nicht zu hermeneutischen Positionen philologischer Hermeneutik zurück, wie sie vor Schleiermacher vertreten wurden. Von diesen unterscheidet sich eine literarische Hermeneutik darin, »daß sie den ästhetischen Charakter der auszulegenden Texte nicht erst in einer Würdigung, die auf die Auslegung folgt, berücksichtigt, sondern zur Prämisse der Auslegung selbst macht« 14• Für Szondi ist die literarische Hermeneutik eine »die Philologie mit der Ästhetik versöhnende Auslegungslehre« 15•
Vgl. K. Berger, Einführung (s. Anm. 6), S. 23ff. 12 P. Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik, hg. v. I. Bollack u. H. Stierlin, Frankfurt a.M. 1975, S. 9. 13 Vgl. P. Szondi, a.a.O. (Anm. 12), S. 11. 14 P. Szondi, a.a.O. (Anm. 12), S. 13. 15 P. Szondi, a.a.O. (Anm. 12), S. 25. Siehe auch die Arbeiten von
II
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Den mit dieser Aufgabenstellung verbundenen hermeneutischen Fragen geht im Besonderen die sogenannte Rezeptionsiisthetilr. nach, »die unter verschiedenen Aspekten und auf verschiedenen Wegen Bedingungen, Modalitäten und Ergebnisse der Begegnung von Werk und Adressat untersucht« 16• Unter Aufnahme der semiotischen Begrifflichkeit von Ch. Morris 17 läßt sich sagen, daß die Rezeptionsästhetik literarische Texte in pragmatischer Hinsicht analysiert und pragmatische Textmodelle entwickelt, die nicht nur die Kategorie des Autors, sondern auch diejenige des Lesers ausdrücklich in den Interpretationsvorgang einbeziehen 18 • Eine grundlegende Voraussetzung jeder rezeptionsästhetischen Texttheorie ist außerdem die Autonomie des Textes gegenüber seinem Autor bzw. seinen Produktionsbedingungen, die er durch seine Verschriftlichung erlangt. Davon wird noch zu reden sein. Unbeschadet einer Näherbestimmung dessen, was im einzelnen unter »Form« zu verstehen ist, liegt die Bedeutung der .Asthetilr. für die formgeschichtliche Methode auf der Hand. Sie ist in jüngster Zeit z.B. von Klaus Berger geltend gemacht, aber auch schon in den AnfänH. R. Jauß, besonders H R. JaujJ, Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a.M. 1970; ders., Zur Abgrenzung und Bestimmung einer literarischen Hermeneutik, in: M Fuhrmann (Hg.), Text und Applikation (Poetik und Hermeneutik IX), München 1981, S. 459-481; ders., Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfun a.M. 1982. 16 R. Warrzinc, Rezeptionsästhetik als Literaturwissenschaftliche Pragmatik, in: ders. (Hg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München 5 1988, S. 9-41, hier S. 9. 17 Siehe Ch. Morris, Signs, lartgUage and behavior, New York 19~, g1955, der die Unterscheidung zwischen Syntaktik, Semantik und Pragmatik sprachlicher Zeichen eingeführt hat. 18 Siehe dazu vor allem W. lser, Der implizite Leser, München 1972; ders., Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 1976; U &o, Leetor in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten (1979), dt. München/Wien 1987.
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gen der alt- und neutestamentlichen Formgeschichte kontrovers diskutiert worden 19• Gleichwohl wird man von der älteren Formgeschichte nicht behaupten wollen, daß sie durchgängig im Sinne Szondis den ästhetischen Charakter der auszulegenden neutestamentlichen Texte wirklich zur Prämisse ihrer Auslegung gemacht hat. Ihre Voraussetzungen sind vielmehr überlieferungsgeschichtliche Traditionshypothesen sowie literarkritische Benutzungshypothesen, weswegen denn auch die ästhetische Frage nach der Form literarischer Einheiten überlieferungsgeschichtlich und literarkritisch funktionalisiert worden ist. Ein wichtiges Ergebnis der jüngeren formgeschichtlichen Debatte besteht m.E. in der Einsicht, daß auch innerhalb der neutestamentlichen Exegese der ästhetische Charakter der auszulegenden Texte konsequent zur Prämisse der Auslegung gemacht werden muß. Dies soll im folgenden gezeigt werden. Wrrd das formgeschichtliche Anliegen rezeptionsästhetisch als dasjenige einer literaturwissenschaftliehen Pragmatik der neutestamentlichen Texte reformuliert, so ergibt sich auch die Möglichkeit eines neuen Brükkenschlags zwischen Formgeschichte und Linguistik, wie ihn kürzlich Gottfried Schille gefordert hat. Schille sucht nach einer Verständigungsmöglichkeit, indem er die herkömmliche »Formgeschichte als linguistisches Modell« beschreibt20• Tatsächlich hat sich die Rezeptionsästhetik im Anschluß und auf der Grundlage eines semiotisch fundierten Begriffs des Kunstwerks entwikkelt, erweist sich aber zusehends einer bloßen »Semiotik
19 Vgl. K. Berger, Einführung (s. Anm. 6), S. 51ff, 63ff. Zur Bedeutung der Ästhetik für die alttestamentliche Formgeschichte siehe H-P. Müller, a.a.O. (Anm. 4), S. 282f; L. Alonso-&Mkel, Das Alte Testament als literarisches Werk, Köln 1971. 20 G. &hi.lle, Zur Relation von Linguistik und Formgeschichte, ThLZ 115, 1990, Sp. 87-93, bes. Sp. 91f.
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des Codes«21 und ihren »Code-Knackern«22 überlegen. Die linguistische Immanenz semiotischer und strukturalistischer Zentralbegriffe wird in der Rezeptionsästhetik gerade gesprengt, wie sich nicht zuletzt an den Werken Paul Ricmurs studieren läß~. Insofern erscheint mir allerdings die These Schilles problematisch, Formgeschichte sei nichts anderes als »ein seit den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts im Bereich neutestamentlicher Forschung diskutiertes und seither ständig verbessertes methodisches Instrumentarium zur linguistischen Bearbeitung biblischer Texte«24• Eine rezeptionsästhetisch fundierte Formgeschichte ist weder eine bloße Verbesserung der bisherigen formgeschichtlichen Methode, noch erschöpft sie sich in einer linguistischen Textanalyse. Sie kann es deshalb nicht, weil sie wie die Rezeptionsästhetik auf die Rolle des Lesers beim Zustandekommen des Sinns der Texte aufmerksam wird. Der Leser ist aber nicht, wie die herkömmliche Linguistik unterstellt, lediglich ein Beobachter, da nämlich der Sinn eines Textes keineswegs eine seiner Struktur rein immanente Erscheinung ist. Nach rezeptionsästhetischer Auffassung ist es vielmehr der Leser, welcher den Sinn eines Textes im Akt des Lesens schöpferisch hervorbringt. Der Relation zwischen Rezeptionsästhetik und Linguistik soll im folgenden jedoch nicht weiter nachgegangen werden. Ausgehend von dem erklärungsbedürftigen und strittigen Begriff der Form sollen vielmehr die hermeneutischen Voraussetzungen einer sich als re21 Vgl. U &o, Einführung in die Semiotik, München ~1985, S. 111 und die dortige Unterscheidung zwischen einer Semiotik des Codes und einer solchen der Botschaft. 22 Vgl. 0. MarqUIUYi, Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist, in: ders., Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981, S. 117-146, hier S. 154ff. 23 Siehe vor allem P. Rictzur, Hermeneutik und Strukturalismus. Der Konflikt der Interpretationen I, München 1975. 24 G. Schille, a.a.O. (Anm. 20 }, Sp. 92.
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zeptionsästhetische Textpragmatik begreifenden Formgeschichte untersucht werden. Näherhin möchte ich die Bedeutung von Franz Overbecks Programm einer Formengeschichte und seines Begriffes der christlichen Urliteratur für eine rezeptionsästhetische Formgeschichte erörtern. Zum Schluß werde ich auf einige systematisch-theologische Fragen eingehen, die durch die Rezeptionsästhetik innerhalb der biblischen Exegese aufgeworfen werden.
2. Kritik der Formkritik oder: Formengeschichte versus Formgeschichte Die formgeschichtliche Methode ist in den vergangenen Jahren einer grundsätzlichen Kritik unterzogen worden. Für die synoptischen Evangelien ist vor allem auf die Arbeiten von W. Schmithals zu verweisen, für das Johannesevangelium auf die Studien von H. Thyen. Die Kritik der Formkritik gelangt in beiden Fällen zu ähnlichen Resultaten, indem an die Stelle der von der herkömmlichen Formgeschichte favorisierten Fragmenten- und Überlieferungshypothesen neue Varianten der älteren Benutzungshypothese treten. Während Schmithals für die Synoptiker eine mündliche Vorgeschichte bestreitet und ihre Evangelien auf die geniale dichterische Arbeit eines Urmarkus zurückführt, interpretiert Thyen analog das Jobarmesevangelium als Palimpsest, welchem die synoptischen Evangelien als Vorlage· und zu interpretierendes Material gedient haben. »Das früheste >Evangelium< ist« nach Auffassung von Schmithals »die Grundschrift des MkEv. [... ] Die Grundschrift ist ein Werk literarischer Kunst mit gutem Aufbau und überzeugenden Verknüpfungen. [... ] Das hervorstechende Charakteristikum der Gattung >Evangelium<«, nämlich die Darstellung der Passion Jesu, »besitzt keine literarischen Vorbilder oder Analogien. 121
Ihm liegt das gleichfalls analogielose urchristliche Kerygma zugrunde, wie es schon vor der Entstehung der Grundschrift formelhaft ausgebildet war (1 Kor 15,3ff). Insoweit läßt sich also die Frage nach dem Ursprung der Gattung >Evangelium< nicht unter Verweis auf literarische Analogien beantworten«25• Ähnlich argumentiert H. Thyen nicht nur für eine literarische Abhängigkeit des Johannesevangeliums von den Synoptikern, sondern kritisiert auch die seit Bultmann übliche Quellenkritik und favorisiert stattdessen eine synchrone Lektüre des Johannesevangeliums, welche seine originäre literarische Einheitlichkeit erweisen kann26• »Liest man [... ] vor dem Hintergrund der [... ] neueren Arbeiten zum Verhältnis des vierten zu den drei älteren Evangelien erneut die schon 1869 in Heidelberg entstandene fesselnde und immer noch weithin überzeugende Studie über >Das schriftstellerische Verhältnis des Johannes zu den Synoptikern< von Heinrich Julius Holtzmann, so ist man geneigt im Blick auf die deutsche Forschung in Anlehnung an Paulus zu sagen: >Die Formgeschichte ist zwischeneingekommen<. Denn anders als der geniale Franz Overbeck haben ihre Vertreter seine Rede von der >Urliteratur< sowie den Modus der Schriftlichkeit der Evangelien und ihren Charakter als poetische Werke nicht zureichend reflektiert«27• Die von Dibelius eingeführte Kategorie der Kleinliteratur unterzieht Thyen denn auch einer scharfen KritikliB. 25 W. SclunithaJ.s, Einleitung in die drei enten Evangelien, Berlin/ New York 1985, S. 416. 26 Vgl. H Th~n, in: Seht, euer Gott. Sieben Auslegungen zu Passions· und Ostertexten aus dem Johannesevangelium, zur 51. Bibelwoche 1988/89, hg. v. Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste (Texte zur Bibel 4), Neukirchen/Vluyn 1988, S. 17f. 27 H Th~n, Die Erzählung von den bethanischen Geschwistern (Job 11,1-12,19) als »Palimpsest« über synoptischen Texten, in: F. van Segbroeclt u.a. (Hg.), The Four Gospels 1992 (FS F. Neirynck), Bd. III, Leuven 1992, S. 2021-2050, hier S. 2024. 28 Vgl. auch a.a.O. (Anm. 27), S. 2024, Anm. 10: »Die u.a. von M. Dibelius eingeführte Kategorie der> Kleinliterature erlaßt ja
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Schmithalsens wie Thyens Kritik der Formkritik geben Anlaß, ausführlicher auf Overbecks Begriff und Programm einer Formengeschichte einzugehen, die sich von demjenigen einer Formgeschichte erkennbar unterscheidet. Overbecks These, wonach jede wirkliche Literaturgeschichte des Urchristentums eine Formengeschichte zu sein habe 29, ist in der Geschichte der neutestamentlichen Exegese des 20. Jahrhunderts zu großer Bedeutung gelangt. Insbesondere haben sich M. Dibelius und Ph. Vielhauer auf diesen Satz Overbecks berufen50. Beide haben Overbeck jedoch gründlich mißverstanden51. Ob man angesichts der Aporien der herkömmlichen Formgeschichte immer noch von einem fruchtbaren Mißverständnis sprechen darf, ist fraglich 52• Wenn Overbeck von einer Formengeschichte sprach, so hatte er im Unterschied zu der auf der Methode literarkritischer Quellenscheidung basierenden Formgeschichte gerade nicht vorliterarische kleinste Erzähleinheiten und auch sonst keine mündliche oder literarische Vorgeschichte der Evangelienliteratur oder der übrigen neutestamentlichen Schriften im Blick, sondern die Großformen der neutestamentlichen und anderer frühchristlicher Schriften, d.h. die Makrogattungen. Wenn Overbeck aber von Literaturgeschichte sprach, so meinte er, ganz im Unterschied etwa zu Vielhauer, gerade nicht diejenige der neutestamentlichen Schriften, sondern die-
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nicht im Entferntesten, was bei Overbeck der Term >Urliteratur< einst signalisierte.« F. Overbeck, Über die Anfänge der patristischen Literatur (1882), Sonderausgabe Darmstadt 2 1966, S. 12. Vgl. auch E. Fascher, a.a.O. (Anm. 5), S. 228. Siehe dazu J.-Chr. Emmelius, Tendenzkritik und Formgeschichte. Der Beitrag Franz Overbecks zur Auslegung der Apostelgeschichte im 19. Jahrhundert (FKDG 27), Göttingen 1975; M Rese, Fruchtbare Mißverständnisse. Franz Overbeck und die neutestamentliche Wissenschaft, in: R. BTiJndle/E W. Stegemann (Hg.), Franz Overbecks unerledigte Anfragen an das Christentum, München 1988, S. 211-226. Vgl. M. R.ese, a.a.O. (Anm. 31), S. 225.
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jenige der patristischen Literatur. Ihr gegenüber repräsentierten die im Neuen Testament postum kanonisierten Schriften nach Overbecks Theorie ein Stadium urchristlicher Nicht-Literatur. Um zu verstehen, weshalb Overbeck die Zugehörigkeit der neutestamentlichen Schriften zum Universum der Literatur bestreiten konnte, ist sein Begriff des Urchristentums bzw. der Urgeschichte zu erläutern. Durch ihn nämlich wird Overbecks Überzeugung begründet, daß eine methodisch lr.ontrollierbare Rekonstruktion der Vorgeschichte beispielsweise der Evangelien nicht möglich sei. Während sowohl die Formgeschichte Bultmanns als auch diejenige von Dibelius die Urgeschichte des Christentums im Stadium seiner Mündlichkeit ansiedelt, sind für Overbeck die neutestamentlichen Texte in ihrem literarischen Endstadium die Zeugnisse einer Urgeschichte, deren historisches Dunkel sich mit den Mitteln der Geschichtswissenschaften nicht aufhellen läßt. Overbecks klassische Abhandlung heißt denn auch bezeichnenderweise >Über die Anfange der patristischen Literatur<. Um diese ging es Overbeck, nicht aber um die Anfange einer urchristlichen Literatur, welche der Untersuch ungsgegenstand des Vielhauersehen Programms ist. Nicht um die Geschichte urchristlicher Literatur, sondern um die Anfange der Literatur des patristischen Zeitalters zu ergründen, wählte Overbeck den Weg »einer Vergleichung der Formen [sie!] der neutestamentlichen und der patristischen Literatur. Bei solcher Vergleichung muß sofort erkannt werden, daß es zwischen beiden Literaturen [ ... ] literarhistorisch keinen Zusammenhang gibt. Denn überblickt man das Neue Testament in Hinsicht auf die literarische Form seiner Bücher [sie!], so hat man es entweder mit Formen zu tun, welche allerdings allen Zeitaltern der christlichen Literatur gemein sind, aber dann befindet man sich damit auch überhaupt noch gar nicht im eigentlichen Bereich der Literatur; oder es sind wirklich Formen, welche in 124
diesen Bereich gehören, nur lassen sich dann diese Formen gar nicht zu den bleibenden und in diesem Sinn der christlichen Literatur überhaupt eigentümlichen rechnen, da sie vielmehr absterben, noch bevor es zur gesicherten Existenz einer Literatur der Kirche kommt«". »Formengeschichte« ist, wie hieraus ersichtlich, bei Overbeck also eine andere Bezeichnung für das, was man im 19. Jahrhundert Tendenzkritik nannte und was seit der Mitte unseres Jahrhunderts als redaktions- oder kompositionsgeschichtliche Fragestellung verhandelt wird~.
Im Gegensatz zur Formgeschichte des 20. Jahrhunderts ist Overbecks Begriff der Form nicht durch die romantische Ästhetik (Herder), sondern durch die klassische bestimmt, welche vor allem durch August Boeckhs »eidographische Methode« repräsentiert wurde und in H. Jordans >Geschichte der altchristlichen Literatur< ihre Fortsetzung fand~5 • Wie schon festgestellt, korrespondiert Overbecks Begriff der Urliteratur demjenigen der Urgeschichte. Mit dem Ende der Urgeschichte sind nach Ansicht Overbecks auch die Voraussetzungen unwiderruflich verlorengegangen, um die christliche Urliteratur weiterhin verstehen zu können. Im Vorgang ihrer Kanonisierung erkennt Overbeck das Ende des Urchristentums, welches mit dem Christentum überhaupt gleichgesetzt wird. Overbeck bestimmt nämlich das Wesen des Christentums als apokalyptische Weltverneinung, welche durch das Ausbleiben der Parusie Christi für immer widerlegt worden ist. Der Begriff einer Geschichte des Christentums ist deshalb für Overbeck ein Selbstwider33 F. Overbeck, a.a.O. (Anm. 29), S. 18f. 34 Vgl. J.-Chr. Emmelius, a.a.O. (Anm. 31), passim, sowie M. Rese, a.a.O. (Anm. 31), S. 224f. 35 H Jordan, Geschichte der altchristlichen Literatur, Leipzig 1911, verstand sein Programm ausdrücklich als Fortführung des Overbeckschen. Zu Jordan und Boeckh vgl. E. Fascher, a.a.O. (Anm. 5), S. 228f; K. Berger, Einführung (s. Anm. 6), S. 51ff.
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spruch 56• Eben darum kann er aber auch im neutestamentlichen Kanon, welcher ein Produkt des inzwischen paradoxerweise in das Kontinuum der Weltgeschichte eingetretenen Christentums ist, nur »den Totenschein« des Urchristentums erblicken37 , mit welchem die junge Kirche eingesteht, das wahre Christentum nicht mehr zu verstehen38 • Overbecks Begriff der christlichen Urliteratur ist nicht unwidersprochen geblieben. Sowohl H. Cancik als auch K. Berger haben an ihm in jüngster Zeit Kritik geübt39 • Beide Autoren halten Overbeck entgegen, daß schon die Existenz des lukanischen Doppelwerks, der Pastoralbriefe sowie der sogenannten Katholischen Briefe ein starker Einwand gegen Overbecks Thesen sei. Auch sei die Gattung der Evangelien keineswegs so kurzlebig gewesen, wie Overbeck behauptet hat. Overbecks Verdikt, die apokryphe Literatur des frühen Christentums sei eine Abnormität, lasse sich nicht halten, wie umgekehrt sein Begriff der Urliteratur und deren Klassifizierung als einzigartig unklar bleibe. Die Behauptung, die im Neuen Testament kanonisierte Literatur des ältesten Christentums sei ohne Analogien, 36 Vgl. auch F. Overbeck, Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie. Streit- und Friedensschrift (1873, 2 1903), Nachdruck der 2. Auß., Darmstadt 1981. Zu Overbecks Verständnis des Christentums siehe die Beiträge in: R. Brändle/E. W Stegemann (Hg.), a.a.O. (Anm. 31), sowie R. Wehrli, Alter und Tod des Christentums bei F. Overbeck, Zürich 1977; H-P. Eber/ein, Theologie als Scheitern? F. Overbecks Geschichte mit der Geschichte, Essen 1989; A. Pfeiffer, Franz Overbecks Kritik des Christentums (SThGG 15), Göttingen 1975. 37 F. Overbeck, a.a.O. (Anm. 29), S. 29. 38 Vgl. F. Overbeck, Christentum und Kultur. Gedanken und Anmerkungen zur modernen Theologie. Aus dem Nachlaß hg. v. C.A. Bernoulli, Basel1919, S. 24. 39 Siehe K. Berger, Einführung (s. Anm. 6), S. 205f im Anschluß an H. Cancik, Die Gattung Evangelium. Das Evangelium des Markus im Rahmen der antiken Historiographie, in: Humanistische Bildung 4, 1981, S. 63-101.
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werde durch Entsprechungen, die sich in Prophetenund Philosophenbriefen fanden, ebenso widerlegt wie durch die Beobachtung, daß zwischen den Evangelien und der zeitgenössischen hellenistischen Literatur intensive Verflechtungen bestünden. Bedenklich sei weiterhin, daß Overbeck die systematisch-theologische Frage nach dem Verhältnis von Evangelium und Welt auf fragwürdige Weise historisch zu beantworten versuche, indem er formgeschichtliche Hypothesen mit einem geschichtsphilosophischen Dekadenzschema verknüpfe. Tatsächlich handele es sich im Fall der neutestamentlichen Literatur um eine Volksliteratur, die durchaus von der Hochliteratur beeinflußt wurde, wie umgekehrt auch die Hochliteratur in der Spätantike in einem Wechselverhältnis zur sogenannten Kleinliteratur stand. Der beispielsweise in Act 4,13 anzutreffende Topos der Ungelehrtheit der Jünger sei darum keine historisch zutreffende soziologische Angabe, sondern ein offenbarungstheologischer Topos, welcher die Unableitbarkeit des Evangeliums unterstreichen solle. Die Kritik Canciks und Bergers an Overbecks Programm einer Formengeschichte urchristlicher Literatur läßt sich einerseits durch den Hinweis Stuhlmachers verstärken, daß »seit Auffindung der Qumrantexte [... ] die Anschauung, daß sich Naherwartung und historische Traditionsbildung ausschließen, überholt« ist40• Auch ist festzustellen, daß Overbecks Behauptung, im Fall der apostolischen, insbesondere der paulinischen Briefe, sei das geschriebene Wort »weiter nichts als das durchaus kunstlose und zufallige Surrogat des gesprochenen«, der Brief eine »literarische Unform« 41 , literaturwissenschaftlich nicht haltbar ist, sondern durch 40 Siehe P. Stuhl.TTUlCher, Zum Thema: Das Evangelium und die Evangelien, in: ders. (Hg.), Das Evangelium und die Evangelien. Vonräge vom Tübinger Symposium 1982 (WUNT 28), Tübingen 1983, S. 1-26, bes. S. 2-8. 41 R Overbeck, a.a.O. (Anm. 29), S. 19. 21.
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neuere Untersuchungen zum Einfluß spätantiker Rhetorik in den neutestamentlichen Briefen widerlegt wird. Von daher hat der ästhetische Ansatz einer Formgeschichte eine gewisse Berechtigung, wie ihn P. Fiebig entwickelt hat. Fiebig hat Vergleiche zwischen der neutestamentlichen und jüdischer Literatur gezogen und sah deren Vergleichbarkeit insofern für gegeben, als die urchristliche Traditionsbildung nicht losgelöst von der jüdischen erfolgt sei42• Problematisch ist jedoch die Unterstellung, Overbeck sei es um den Nachweis der Besonderheit von Offenbarung zu tun gewesen. Ein solches apologetisches Interesse kann man durchaus bei W. Schmithals wahrnehmen, wenn er die Analogielosigkeit des Kerygmas hervorhebt43, kaum aber bei Overbeck. Außerdem verquickt Berger den Overbeckschen Begriff der Urliteratur in unzulässiger Weise mit demjenigen der .Kleinliteratur, der auf Dibelius zurückgeht44• Und bei aller vordergründigen Ähnlichkeit überwiegen im Fall der behaupteten außerneutestamentlichen Analogien die formgeschichtlichen Unähnlichkeiten. Weiter ist zu sagen, daß der Begriff des Dekadenzschemas Overbecks allgemeine Geschichtsphilosophie allzu sehr verkürzt. Für Overbeck ist die qualitative Differenz zwischen Geschichte und Urgeschichte ein allgemeines historisches Gesetz. Zwar wird, wie Overbeck überzeugt ist, über kurz oder lang jede Erscheinung der Geschichte von dekadenten Tendenzen erfaßt. Die Geschichte als solche aber verläuft nach seiner Auffassung weder aufsteigend noch absteigend45. Ein Sinn der Geschichte als ganzer wird darum von Overbeck negiert. »Der Gang der Geschichte ist we42 Vgl. P. FiebiK, Der Erzählungsstil der Evangelien im Lichte des rabbinischen Erzählungsstils untersucht. Zugleich ein Seittag zum Stteit um die »Christusmythe« (UNT 11), Leipzig 1925. Siehe dazu auch K. Berger, Einführung (s. Anm. 6), S. 52ff. 45 Vgl. W Schmithals, a.a.O. (Anm. 25), S. 416. 44 Vgl. H. Thyen (s.o. Anm. 28). 45 SieheR Overbeck, a.a.O. (Anm. 38), S. 1-10.
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der beständige Degeneration noch beständiger Fortschritt, er vollzieht sich in der Verschlingung bei der. Der Streit aber, ob am Anfang der Geschichte das goldene Zeitalter oder die reine Bestialität steht, ist an sich eine Absurdität« 46 • Etwas anderes ist es, daß das Christentum damit angefangen hat, »eine Geschichte für sich abzulehnen und eine solche denn auch nur gegen seinen eigenen, uranfänglich ausgesprochenen Willen erlebt« hat. Wer wollte das im Ernst bestreiten?! Aber das »Christentum unter den Begriff des Historischen stellen, also zugeben, daß es historisch geworden ist, heißt zugeben, daß das Christentum von dieser "Welt ist und in ihr, wie alles Leben, nur gelebt hat, um sich auszuleben« 47 • An diesem gesondert zu diskutierenden Urteil hängt jedoch m.E. nicht die These Overbecks, die neutestamentlichen Schriften seien als Urliteratur zu klassifizieren. Deren Prämissen sind vielmehr einerseits ein am Maßstab antiker profaner Literatur gewonnener Maßstab 48 , andererseits das nach einer Erklärung verlangende historische Faktum der Kanonbildung. »Der Satz, daß mit dem Neuen Testament die christliche Literatur nicht anfängt, hat einmal das Urteil der ganzen Kirche für sich, wenn diese den neutestamentlichen Schriften die Entstehung aus göttlicher Eingebung, aus Inspiration des heiligen Geistes ausschließlich zuspricht und damit dem Neuen Testament und der sonstigen christlichen Literatur eine Schranke zieht, welche, wenn sie überhaupt etwas bedeuten soll, es unmöglich macht, in der einen dieser Literaturen den Anfang der anderen zu sehen und nötigt, sich für die eigentliche Masse der christ46 A.a.O. (Anm. 38), S. 6. 47
Ebd.
48 Vgl. F. Overbeck, a.a.O. (Anm. 29), S. 36, wonach es ein Kennzeichen christlicher Urliteratur ist, daß sie sich von den »Formen der bestehenden profanen Weltliteratur« noch gänzlich fernhält.
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liehen Literatur nach einer anderen umzusehen« 49• Overbeck entwickelt nun aber eine »Defmition der patristischen als der griechisch-römischen Literatur christlichen Bekenntnisses und chrisdichen lnteresses«50. Mögen die Begriffe einer Urliteratur und einer Urgeschichte problematische Assoziationen wecken,- so scheinen mir beide gerade im Hinblick auf die Fragestellungen einer li~erarischen Hermeneutik bzw. einer Rezeptionsästhetik durchaus fruchtbar z~ sein, wie bereits im zweiten und vierten Kapitel dargelegt wurde. Nun wollen wir"fragen, welche Perspektiven biblischer Theologie sich aus der Verbindung von Overbecks Programm einer Formengeschichte der christlichen Urliteratur mit dem Ansatz einer literarischen Hermeneutik ergeben.
J. Formengeschichte und biblische Hermeneutik Zunächst ist festzuhalten, daß Overbecks Programm einer Formengeschichte insoweit mit demjenigen einer Rezeptionsästhetik konvergiert, als seine Einsichten in den literarischen Charakter und die hermeneutischen Probleme der neutestamentlichen Schriften den Blick der Exegese von einer universalen Hermeneutik, wie sie seit Bultmann und seinen Schülern vorherrscht, zu einer rruzterialen Hermeneutik zurücklenkt51 • Ungeachtet mancher problematischer Urteile Overbecks sprechen seine nach wie vor gültigen Beobachtungen dafür, daß die neutestamentliche Exegese einer Spezialhermeneutik bedarf. Damit ist nicht eine Hermeneutica sacra ge49 A.a.O. (Anm. 29), S. 16f. 50 A.a.O. (Anm. 29), S. 37. 51 Vgl. P. Szondi, a.a.O. (Anm. 12), S. 13; H. R. Jauß, Abgrenzung (s. Anm. 15), S. 460.
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meint, wie Overbecks Begriff der Urliteratur und seine Bewertung der Kanonbildung nahelegen könnten, sondern eine literarische Hermeneutik, welche für die Interpretation neutestamentlicher Texte ein gattwigsspezifisch differenziertes methodisches Instrumentarium entwickelt. Dabei gilt es zu beachten, daß unterschiedliche Gattungen unterschiedlichen Verstehensbedingungen unterworfen sind. Rezeptionsästhetisch, und das heißt textpragmatisch betrachtet, vollzieht sich das Verstehen von Briefliteratur durchaus anders als das von narrativer, fiktionaler Literatur, die Lektüre der Johannesapokalypse anders als die der Evangelien oder lyrischer Texte wie beispielsweise der alttestamentlichen Psalmen. Overbecks Programm einer Formengeschichte korrespondiert dem Ansatz einer literarischen Hermeneutik aber auch insofern, als beide Einsicht in die Notwendigkeit geben, das Faktum des Kanons, d.h. das Kanonisiertsein tter neutestamentlichen Texte als Erscheinungsweise ihrer Verfremdung und somit als heutige Bedingung ihres möglichen Verstehens hermeneutisch und methodisch zu bedenken. Auf Grund der mit dem Phänomen des Kanons verbundenen Differenzierung von Verstehen und Auslegen hat Overbeck alle theologische Exegese der kanonisierten Texte des Neuen Testaments als Allegorese kritisiert. Auch die historisch-kritische Forschung fällt bei Overbeck unter dieses Verdikt. Ihre Versuche der Quellenscheidung samt Fragmenten- und Überlieferungshypothesen bewertet Overbeck nicht als Überwindung, sondern als Sublimierung der allegorischen Auslegungsmethode, welche doch auf ihre Weise ebenfalls darum bemüht ist, einen Text hinter dem vorfindliehen Wortlaut zu entdecken, um sich diesen religiös anzueignen. Overbecks Urteil über die historisch-kritische Exegese begegnet uns in abgewandelter Form bei W. Richter wieder, der auf den Zusammenhang zwischen der mit der Methode literarkritischer Quellenscheidung ver131
bundeneo modernen Formgeschichte und dem Ansatz der existentialen Interpretation aufmerksam gemacht und letztere »nur als eine moderne Form der Allegorese« bezeichnet hat52 • Gewiß verdient es das Programm einer existentialen Interpretation des Neuen Testaments differenzierter beurteilt zu werden. Es läßt sich aber, wie im folgenden Kapitel gezeigt werden soll, nicht bestreiten, daß dieses, unbeschadet der von Bultmann selbst entwickelten formgeschichtlichen Methode und ihrer Prämisse von der inhaltlichen Relevanz der äußeren Form, letzten Endes auf problematische Weise zwischen Form und lnhalt der neutestamentlichen Texte zu trennen versucht. Demgegenüber hebt Overbecks Begriff der Urliteratur den unauflöslichen Zusammenhang von Form und lnhalt biblischer Texte hervor. Sein Programm einer Formengeschichte bleibt auch insofern bedeutsam, als es den inzwischen fragwürdig gewordenen Versuchen, mittels einer literarkritisch orientierten Formgeschichte hypothetische Texte hinter den überlieferten biblischen Texten zu suchen, eine Absage erteilt. Stattdessen lenkt Overbeck den Blick auf die vorliegende Endgestalt des Textes, bei welchem auch die heutigen Ansätze einer literarischen Hermeneutik den Einsatz für die Interpretation wählen. Hierin stimmen Overbeck und die neuere literarische Hermeneutik überein, wenngleich Overbecks von uns als Hermeneutik des Unverständnisses bezeichnete Texttheorie den Vorgang der Autonomie des Textes gegenüber seiner Ursprungssituation nicht in der gleichen Weise deutet, wie es dem Ansatz einer Rezeptionsästhetik entspricht. Wird Overbecks Begriff der Form rezeptionsästhetisch gewendet, so erscheint es nun aber möglich, das Problem des »Sitzes im Leben« neu zu bearbeiten. Daß diese für die klassische Formgeschichte grundlegende 52 W. Richter, Exegese als Literaturwissenschaft, Göttingen 1971, s. 17.
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Kategorie sich zunehmend als fragwürdig erweist, erscheint rezeptionsästhetisch durchaus plausibel. Die herkömmliche Formgeschichte setzt mit dem Sitz im Leben ein Einvernehmen von Sprechern und Hörern bzw. Autoren und Lesern über den jeweiligen situativen Kontext voraus. Der Sitz im Leben einer zur Schrift gewordenen sprachlichen Äußerung ist "jedoch die Literatur. Die Autonomie eines Textes besteht gerade darin, daß der möglicherweise einstmals vorhandene ursprüngliche Sitz im Leben zerstört wird. Damit wird eine grundlegende Voraussetzung der bisherigen Formgeschichte hinfallig, welche im Grunde eben diesen Vorgang der Autonomie bestreiten muß. Tatsächlich sind jedoch beispielsweise die Evangelien, wie die neuere Forschung zeigt, als fiktionale Texte streng genommen situationslos. Folgt man Overbeck, so sind auch die übrigen Texte des Neuen Testaments spätestens durch den Vorgang ihrer Kanonisierung situationslos geworden. Ihnen eignet also - ganz entgegen der vorherrschenden Meinung herkömmlicher Formgeschichte eine pragmatische Leere53 •. Während freilich Overbecks Programm einer Formengeschichte diese pragmatische Leere nur negativ als Entleerung der neutestamentlichen Texte wahrnehmen kann, erlaubt es der Ansatz einer Rezeptionsästhetik, diese Situationslosigkeit hermeneutisch fruchtbar zu machen. · Wie beispielsweise W. Iser herausarbeitet, speist sich gerade aus der Situationslosigkeit eines Textes die Antriebser.~rgie für das, was Iser als Situationsbildung fiktionaler Texte bezeichnet54• 53 Vgl. W Iser, Der Akt des Lesens (s. Anm. 18), S. 280ff; W. Iser, Die Appellstruktur der Texte, in: R. Warning {Hg.), a.a.O. (Anm. 16), s. 25:)--276. 54 Vgl. W. Iser, Die Wirklichkeit der Fiktion - Elemente eines funktionsgeschichtlichen Textmodells, in: R. Warning (Hg.), a.a.O. (Anm. 16), S. 277-324, hier S. 288ff. Siehe dazu auch R. Warning, a.a.O. (Anm. 16), S. 33. Zur Situationsbildwzg im Akt des Lesens vgl. ferner P. Ricreurs Konzept der Mimesis und
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Aus rezeptionsästhetischer Sicht ist zur gegenwärtigen Debatte um die Kategorie des Sitzes im Leben zu bemerken: »Noch keine Institutionentheorie hat hier ein brauchbares Kategorienangebot bereitgestellt, möglicherweise gerade deswegen, weil die Pragmatik literarischer Institutionen, weil ihr >Sitz im Leben< in einer eigentümlich parasitären Existenz zu sehen ist: Was sie an lebensweltlichen Konventionen npt sich führen, verzehren sie, indem sie es ausgrenzend vergegenständlichen«55. Aus alledem kann nur die Konsequenz gezogen werden, formgeschichtliche und literarkritische bzw. überlieferungsgeschichtliche Fragestellungen innerhalb der neutestamentlichen Exegese zu entflechten, wie es beispielsweise K. Berger gefordert hat56• Eine rezeptionsästhetisch fundierte Formgeschichte kann es dabei aber nicht bewenden lassen, sondern muß sich aus den bereits genannten Gründen mit dem Problem des Kanons auseinandersetzen. Die entscheidende Frage lautet in unserem Zusammenhang, ob der Kanon lediglich formal oder aber auch inhaltlich kohärent ist. Sie braucht hier nicht weiter erörtert zu werden, nachdem dies bereits in den beiden vorherigen Kapiteln geschehen ist. Es sei aber wenigstens darauf hingewiesen, daß sich durch die Einbeziehung rezeptionsästhetischer Fragestellungen in die formgeschichtliche Debatte eine neue Gesprächsmöglichkeit zwischen Exegese und systemati-
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seine Differenzierung von Mimesis I (Präfiguration vorgängige Lebenswelt), Mimesis 11 (Konfiguration Text) und MiRezeption). Siehe dazu P. Ricaur, mesis 111 (Refiguration Zeit und Erzählung, Bd. I: Zeit und historische Erzählung (Übergänge 18/1), dt. München 1988, S. 87-135. 55 R. Warning, a.a.O. (Anm. 16), S. 38. Siehe dort auch S. 38f zur bisherigen Lernfähigkeit der Rezeptionsästhetik. eine Theorie literarischer Institutionen zu formulieren, welche das Problem der Komplementarität von Funktion und Gestalt (H. Kuhn) lösen würde. 56 Vgl. K. Berger, Einführung (s. Anm. 6), S. 23ff.
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scher Theologie auftut. Dies hat in jüngster Zeit vor allem Oswald Bayer einsichtig gemacht, der unter Berufung auf die formgeschichtliche Methode die Theologie insgesamt als Formenlehre charakterisiert, wobei er sich bezeichnenderweise weniger an Bultmann und Dibelius als an Overbeck anschließt. Als Formenlehre ist die Theologie nach Bayers Auffa~ung »eine Art Grammatik zur Sprache der ausgelegten [sie!] Bibel, zur lebendigen und Leben schaffenden Stimme des Evangeliums. Sie intendiert primär nicht, wie Hegel, den >Begriff<. Sie sucht auch nicht, wie Schleiermacher und Feuerbach, primär das >Motiv<. Sie hebt vielmehr auf die >Form< ab. Damit nimmt sie die Arbeit der Formgeschichte auf, bringt die Einsicht Overbecks [sie!] in die unauflösliche Verschränkung von literarischer Form und Lebensform, von Sprachgestalt und Sachverhalt zur Geltung und kann sich in diesem Zusammenhang auf soziologische Fragestellungen einlassen« 57 • Als Formenlehre muß sich freilich nicht nur die Theologie überhaupt, sondern auch die Formgeschichte als rezeptionsästhetisch zu erneuernde Methode der Exegese mit dem Kanon als literarischer Größe auseinandersetzen, und zwar insofern, als »das abgeschlossene Werk, die Bibel, ein umgrenzter Raum für die Interpretation ist, in dem die theologischen Bedeutungen in einer Wechselbeziehung zu. den Formen der Rede stehen. Von nun an ist es unmöglich, die Bedeutungen zu interpretieren, ohne den langen Umweg einer strukturalen Erklärung der Form zu machen« 58 • Aus der rezeptionsästhetischen Kritik der herkömmlichen Formgeschichte ergeben sich neue Gesichtspunkte für die durch Bultmann vor mehr als fünfzig Jahren angestoßene Entmythologisierungsdebatte. Auch wenn 57 0. Bayer, Autorität und Kritik. Zu Hermeneutik und Wissenschaftstheorie, Tübingen 1991, S. 187; vgl. auch a.a.O., S. 13f. 56. 80f. 145 {unter Bezugnahme auf J. G. Hamann). 58 P. Ricreur, a.a.O. (Anm. 58), S. 39.
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die Diskussion über das Verhältnis von Mythos und Religion nicht bei Bultmanns Auffassungen stehengeblieben ist, erscheint es lohnend, nochmals das Gespräch mit Bultmann aufzunehmen. Während Bultmanns Entmythologisierungsprogramm unterstellt, daß der Inhalt mythischer Redeweise von seiner Form abgelöst werden kann, nötigt das Konzept einer literarischen Hermeneutik zu dem umgekehrten Schluß, daß die Bedeutung mythischen Redens von Gott nur auf dem langen Umweg einer strukturellen Erklärung ihrer Form gemacht werden kann. An der älteren Entmythologisierungsdebatte haftet freilich von vornherein etwas Schiefes, als Bultmann die notwendige Unterscheidung zwischen Mythos und Metapher kaum getroffen hat. Das folgende Kapitel möchte zeigen, wie gerade diese Unterscheidung die Entmythologisierungsdebatte aus falschen Alternativen herausführen und neu beleben kann.
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Sechstes Kapitel
Arbeit am Mythos? Zum Verhältnis von Christentum und mythischem Denken bei Rudolf Bultmann Hier fragt sich nicht, welche Ansicht muß von der Erscheinung gewonnen werden, damit sie irgend einer Philosophie gemäß sich bequem erklären lasse, sondern umgekehrt, welche Philosophie wird gefordert, um den Gegenstand gewachsen, auf gleicher Höhe mit ihm zu seyn. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Mythologie
1. FalscheAlternativen Wer nach dem Verhältnis von Mythos und Religion frage, wird auch heute nicht an Bultmanns Entmythologisierungsprogramm vorbeikommen. Allerdings ist es Un~r
den neueren Veröffentlichungen siehe 0. Bayer (Hg.), Mythos und Religion. Interdisziplinäre Aspekte, Stuttgart 1990. Dort fmdet sich S. 176-181 eine von H Kuhl.mann zusammengestellte Auswahlbibliographie zu den Themenbereichen >MythOS< und >Mythologie<. Ferner sei verwiesen auf K Kerenyi (Hg.), Die Eröffnung des Zugangs zum Mythos (WdF 20), Darmstadt ~1982; H·H Sclunid (Hg.), Mythos und Rationalität (Beiträge des VI. Europäischen Theologen·Kongresses 1987),
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um die Theologie Bultmanns und seine Theorie der existentialen Interpretation biblischer Texte merklich still geworden. Seine 1941 veröffentlichte hermeneutische Programmschrift >Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung< 2, deren Ansatz einer existentialen Interpretation Bultmann exemplarisch in seinem im selben Jahr erschienenen Kommentar zum Johannesevangelium durchführte\ hat nach dem 2. Weltkrieg »eine solche öffentliche Diskussion entfacht, wie es seit Harnacks Wesen des Christentums und Barths Römerbrief kein theologisches Buch mehr getan hatte« 4 • Inzwischen ist diese Diskussion verebbt. Man wird freilich nicht sagen können, daß sie wirklich einen Abschluß erreicht hat. Sie ist vielmehr Ende der sechziger Jahre weitgehend abgebrochen und von anderen theologischen Fragestellungen überlagert worden. Eine breitere Wiederaufnahme des Gesprächs mit Bultmann erscheint durchaus wünschenswert. Das gilt unbeschadet neuerer Entwicklungen im Bereich der Mythenforschung. Trotz aller an Bultmanns Entmythologisierungsprogramm und seinem Mythosbegriff geübten Kritik wird man einräumen müssen, daß bislang »die Theologie der unmittelbaren Gegenwart zu dem Thema Gütersloh 1988; H-P. Müller, Mythos- Kerygma- Wahrheit. Gesammelte Aufsätze zum Alten Testament in seiner Umwelt und zur biblischen Theologie (BZAW 200), Berlin/New York 1991; ders., Jenseits der Entmythologisierung, NeukirchenVluyn 1979. 2 R. Bultnuum, Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung, in: ders., Offenbarung und Heilsgeschehen {BEvTh 7), München 1941, S. 27-69. Als Separatum ist Bultmanns Aufsatz von E. Jüngel neu herausgegeben worden {BEvTh 96, München 1988). Er wird im folgenden nach dieser Neuausgabe zitiert. 3 R. Bultmllnn, Das Evangelium des Johannes {KEK II), Göttingen 1941, 1a1986 (mit Ergänzungsheft). 4 H Zahrnt, Die Sache mit Gott. Die protestantische Theologie im 20. Jahrhundert, München 1966, S. 275.
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>Mythos, Religion und Wissenschaft< keinen mit dem Bultmannsehen an Rang und Umfang vergleichbaren Beitrag geliefert« hat5 • An Bultmanns Auffassung des Mythischen ist in doppelter Weise Kritik geübt worden. Zunächst meldete sich -vor allem in der kirchlichen Öffentlichkeit- heftiger Protest gegen die Charakterisierung biblischer Inhalte als mythologische Vorstellungen zu Wort. Gegen die Annahme mythologischer und legendarischer Elemente innerhalb der biblischen Überlieferung wurde die vermeintliche historische Faktizität des biblisch bezeugten Heilsgeschehens verteidigt. Im Anschluß an die Versicherung des 2. Petrusbriefes, die Apostel seien nicht von Menschen erdachten Mythen gefolgt6 , wurde von neuorthodoxen oder pietistischen Kritikern Bultmanns der gänzlich unmythologische Charakter der biblischen Texte behauptet. 7 Die gegenläufige Kritik hält Bultmann vor, nicht die Behauptung vom Vorhandensein mythischer Vorstellungselemente im Neuen (und Alten) Testament, sondern die Forderung ihrer Entmythologisierung sei das Problematische an seinem hermeneutischen Ansatz. In verschiedenen Variationen und mit unterschiedlicher Begründung ist die These vertreten worden, daß jede religiöse Wirklichkeitsdeutung mythisch und die Sprache des Mythos die durch keine Entmythologisierung 5 K Hühner, Die Wahrheit des Mythos, München 1985, S. 324. Zur Standortbestimmung der gegenwärtigen Diskussion siehe auch B. Jaspert {Hg.), Bibel und Mythos. 50 Jahre nach Rudolf Bultmanns Entmythologisierungsprogramm, Göttingen 1991. 6 li Petr 1,16. Vgl. auch I Tim 1,4; II Tim 4,4; Tit 1,14. 7 Zum Verlauf der Diskussion um Bultmanns hermeneutischen Ansau siehe G. Bornlcamm, Die Theologie Rudolf Bultmanns in der neueren Diskussion. Zum Problem der Entmythologisierung und Hermeneutik, ThR NF 29, 1963, S. 3~141. {Bibliographie a.a.O., S. 3~ von E. Brandenburger). Zum folgenden vgl. auch U Körtner, Noch einmal Fragen an Rudolf Bultmann. Zur Kritik der Theologischen Schule Bethel am Programm der Entmythologisierung, WuD 18, 1985, S. 159-180.
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überwindbare Sprache jeder Religion, auch des Christentums sei. Mit dem Mythischen stehe und falle die Möglichkeit religiöser Rede überhaupt. Gegen Bultmann wendet beispielsweise Kurt Hübner ein: »Wo lebendig geglaubt wird und nicht nur philosophisch-wissenschaftlich argumentiert wird, da wird auch mythisch erlebt, man drehe und wende es wie man will«! Plakativ formuliert Walter J. Hollenweger: »Der Mythos stirbt nicht!« und kommt zu dem Schluß: »Der Streit geht also nicht darum, ob die christliche Botschaft mit oder ohne Mythos ausgedrückt werden soll. Es geht vielmehr darum, wie wir theologisch sachgerecht mit dem Mythos umgehen« 9• Hollenweger macht sich auf seine Weise die Kritik Bonhoeffers zu eigen, der schon kurz nach Erscheinen von Bultmanns Entmythologisierungsaufsatz einwandte, »daß die vollen Inhalte einschließlich der >mythologischen< Begriffe bestehen bleiben müssen das Neue Testament ist nicht eine mythologische Einkleidung einer allgemeinen Wahrheit!, sondern diese Mythologie (Auferstehung etc.) ist die Sache selbstl« 10 • In ähnlicher Weise haben sich nach 1945 Julius Schniewind, Friedrich Karl Schumann, Helmut Thielicke oder auch Ernst Lohmeyer geäußert 11 • Karl Jaspers schließlich vertrat die Auffassung, der Mythos als Chiffrensprache sei die einzige Möglichkeit, jene Transzendenz auszusagen, an welche sich jeglicher Glaube als 8 Hübner, a.a.O. (Anm. 5), S. 338. 9 W. Holknweger, Umgang mit Mythen. Interkulturelle Theologie 2, München 1982, S. 63. 75. 10 D. Bonlweffir, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. v. E. Bethge, Neuausgabe, München 8 1977, S. 360; vgl. a.a.O., S. 311-313. 11 Siehe J. &hn.iewind, Antwort an R. Bultmann. Thesen zum Problem der Entmythologisierung, KuM I, Harnburg 1948, S. 85-134, bes. S. 88; F K &hum.an.n., Oie Entmythologisierung des Christusgeschehens, KuM I, S. 211-224, hier S. 222; H Thieliclce, Die Frage der Entmythologisierung des Neuen Testaments, KuM I, S. 177-210, bes. 195-210; E Lo~r, Die rechte Interpretation des Mythischen, KuM I, S. 154-165.
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den Ermöglichungsgrund menschlicher Existenz verwiesen sehe. Seine philosophischen Einwände gegen Bultmann gipfelten gar in dem Vorwurf: »Entmythologisierung ist fast ein blasphemisches Wort« 12. Diese letztlich an Platons Dialektik von Mythos und Logos anknüpfende Linie der Bultmannkritik stellt freilich insofern eine falsche Alternative auf, als im Grunde zwischen ihren Vertretern und Bultmann unstrittig ist, daß die mythische Rede nicht im objektivierenden Sinne beim Wort zu nehmen ist, sondern der Sinnerhellung durch Interpretation bedarf. Nach eigenem Bekunden geht es auch Bultmann nur um die Frage, auf welche Weise mit dem Mythos theologisch sachgerecht umzugehen ist. Entmythologisierung meint bei ihm ja nicht, wie immer wieder unterstellt worden ist, die Eliminierung, sondern die - an Heideggers Fundamentalontologie geschulte existentiale - Interpretation des Mythischen 13. Schon Bultmann selbst hat auf die Widersprüchlichkeit jener Kritiker aufmerksam gemacht, die selbst die Berechtigung des Entmythologisierungsprogramms dadurch unter Beweis stellen, daß auch sie unter der Hand mythologische Begriffe und Vorstellungen zu interpretationsbedürftigen Bildern erklären14. Man wird darum Bultmann beipflichten müssen, wenn er seinen Gegnern vorhält, ein metaphorisches Verständnis des Mythos gebe dessen ursprüngli-
K Jaspers, Wahrheit und Unheil der Bultmannsehen Entmythologisierung, KuM 111, Harnburg 1954, S. 9-46, hier S. 19. Jaspers' Vortrag und der sich anschließende Briefwechsel mit Bultmann sind neu herausgegeben worden: K Jaspers/ R. Bultmann, Die Frage der Entmythologisierung, München 1981 (mit einer Einführung von H. Ott, a.a.O., S. 7-26). 13 Vgl. G. &rnlcamm, Mythos und Evangelium, in: ders./ W. Kla.as, Mythos und Evangelium. Zum Programm R. Bultmanns, TEH NF 26, München 1951, S. 3-29, hier S. 16. 14 Vgl. R. Bultmann, Zum Problem der Entmythologisierung, KuM II, Harnburg 1952, S. 179-208, hier S. 185f. 12
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chen Sinn im Grunde preis und sei im Sinne der Terminologie Bultmanns nicht mehr mythologisch 15• Angesichts falscher Alternativen in der Entmythologisierungsdebatte stellt sich allerdings die Frage, ob das in ihr verhandelte hermeneutische Grundproblem durch den Begriff des Mythos zutreffend benannt ist. Dies muß insofern bezweifelt werden, als der Mythosbegriff sowohl von Bultmann wie von vielen seiner Kritiker in problematischer Weise verwendet wird. Vor allem Wolfhart Pannenberg hat gezeigt, daß die Ergebnisse der neueren religionswissenschaftliehen Mythosforschung im Verlauf der Entmythologisierungsdebatte insgesamt nur unzureichend berücksichtigt worden sind. Sowohl Bultmann wie nicht wenige Gegner seines Entmythologisierungsprogramms arbeiten mit einem von seiner ursprünglichen Wortbedeutung weitgehend losgelösten und in seiner Verwendung ausufernden, bisweilen auch unpräzisen Begriff des Mythischen, der überdies in theologisch-apologetischer Absicht gebraucht wird 16 • 15 R. Bultmann, Zu J. Schniewinds Thesen, das Problem der Ent-
mythologisierung betreffend, KuM I, Harnburg 1948, S. 135-153, hier S. 135. 16 Vgl. W. Pannenberg, Christentum und Mythos, Güteniob 1972 (zuerst in: M Fuhrmann [Hg.], Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption [Poetik und Hermeneutik IV), München 1971, S. 47~25). Daß Bultmanns Theologie im weitesten Sinne apologetisch ist, vermerkt auch W. &hrnitluzls, Art. R. Bultmann, TRE 7, Berlin/New York 1981, S. 387-396, hier S. 388. Schon 1ulius Schniewind hat mit Recht darauf hingewiesen, daß die apologetische Fragestellung Bultmanns von vielen Kritikern nicht hinreichend erkannt worden ist, und bedauert, daß der zusammen mit dem Entmythologisierungsaufsatz publizierte Beitrag zur Frage der natürlichen Offenbarung in der anschließenden Debatte unbeachtet geblieben ist. Siehe auch R. Bultnuznn. Das Problem der >natürlichen Theologie<, GuV I, Tübingen 7 1972, S. 294-312; ders., Die Frage der natürlichen Offenbarung, GuV II, Tübingen 1952, S. 79-104. Diese Aufsätze zeigen die Nähe Bultmanns zu Paul Tillichs Methode der Korrelation. Allzu verkürzt ist jedoch die Sicht der Dinge in der
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Bultmanns Mythosverständnis und die dagegen erhobenen Einwände sollen im folgenden einer genaueren Prüfung unterzogen werden. Dabei bleibt zu beachten, daß bei Bultmann die Entmythologisierung kein Selbstzweck, sondern lediglich die Kehrseite der von ihm begründeten existentialen Interpretation des Neuen Testaments ist. Es wird sich jedoch zeigen, daß sich die existentiale Interpretation des neutestamentlichen Kerygmas nur sehr bedingt als Arbeit am Mythos bezeichnen läßt. Die bleibende Bedeutung der existentialen Interpretation ist von dieser Feststellung, das sei hier eingangs betont, unberührt. Wir werden aber genötigt, das in ihrem Zusammenhang von Bultmann mit dem Begriff des Mythos benannte hermeneutische Problem zu reformulieren.
2. Der Mythosbegriff Rudolf Bultmanns Wie verwendet nun Bultmann den Mythosbegriff, und wie läßt sich sein Verständnis des Mythi~hen problemgeschichtlich einordnen? In Bultmanns grundlegendem Entmythologisierungsaufsatz von 1941 ist der Begriff des Mythos weitgehend synonym mit demjenigen des mythischen Weltbildes. Das Problem ·des Verstehens neutestamentlicher Texte aber besteht nach Bultmann in der heutigen Unglauhhaftiglr.eit des mythischen Weltbildes, das nach seiner Auffassung die neutestamentliche Vorstellungswelt bestimmt. Folgerichtig stellt sich für Bultmann die Frage, »ob die Verkündigung des NeuThese Leuzes, »Bultmann habe ein Gegenbild zu dem mit dem Stichwort >Entweltlichung< charakterisierten christlichen Glauben entworfen und habe dieses Gegenbild dann mit der, Bedeutung des Mythos-Begriffs gleichgesetzt« (R. Leuze, Homo factus est. Zur wiedererwachten Aktualität des Mythosbegriffs und ihrer Bedeutung für die Christologie, in: J. &hls/ G. Wenz [Hg.], Vernunft des Glaubens [FS W. Pannenberg], Göttingen 1988, S. 525-539, hier S. 526).
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en Testaments eine Wahrheit hat, die vom mythischen Weltbild unabhängig ist« 17 • Die hermeneutische Aufgabe der Theologie besteht also darin, »ihre Wahrheit von der mythischen Vorstellung, in der sie gefaßt ist, zu entkleiden«18. Das Wesen des Mythos besteht nach Bultmann nicht darin, in Gestalt eines objektiven Weltbilds kosmologische Fragen zu beantworten. Vielmehr entwirft der Mythos ein Weltbild, in welchem sich ausspricht, »wie sich der Mensch selbst in seiner Welt versteht; der Mythos will nicht kosmologisch, sondern anthropologisch besser: existential interpretiert«, d.h. nach dem sich in ihm aussprechenden Selbstverständnis und Weltverhältnis des Menschen befragt werden 19. Bultmann beschreibt das Wesen des Mythos folgendermaßen: »Der Mythos redet von der Macht oder von den Mächten, die der Mensch als Grund und Grenze seiner Welt und seines eigenen Handeins und Erleidens zu erfahren meint. Er redet von diesen Mächten freilich so, daß er sie vorstellungsmäßig in den Kreis der bekannten Welt, ihrer Dinge und Kräfte, und in den Kreis des menschlichen Lebens, seiner Affekte, Motive und Möglichkeiten, einbezieht. Etwa wenn er von einem Weltei, einem Weltenbaum redet, um Grund und Ursprung der Welt anschaulich zu machen; oder wenn er von Götterkämpfen redet, aus denen die Zustände und Ordnungen der bekannten Welt hervorgegangen sind. Er redet vom Unweldichen weldich, von den Göttern menschlich«20• Erläuternd fügt Bultmann hinzu, er verwende den Mythosbegriff in dem Sinn~. »wie die religionsgeschichtliche Forschung ihn versteht«. Ihrer Auffassung nach aber sei der Mythos eine »Vorstellungsweise«, näherhin »eine Vorstellungsweise, in der das Unweltliche, 17 Buhmann, a.a.O. (Anm. 2}, S. 14. 18 A.a.O., S. 15. 19 A.a.O., S. 22. 20 Ebd.
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Göttliche als Weltliches, Menschliches, das Jenseitige als Diesseitiges erscheint [... ], eine Vorstellungsweise, der zufolge der Kultus als ein Handeln verstanden wird, in dem durch materielle Mittel nichtmaterielle Kräfte vermittelt werden.« Gegenüber seiner religionsgeschichtlichen Verwendung bezeichne der Mythosbegriff dagegen im modernen Sprachgebrauch nichts weiter als ldeologie111 • Bultmanns, von uns ausführlich zitierte, Fassung des Mythosbegriffs ist von Pannenberg einer grundsätzlichen Kritik unterzogen worden. Daß Bultmann sich mit der zeitgenössischen religionswissenschaftliehen Forschung einig weiß, findet Pannenberg »angesichts der gänzlichen Vernachlässigung der von Malinowski ausgehenden Diskussion des Mythosbegriffs [... ) einigermaßen erstaunlich« 22 • Bronislaw Malinowski, Karl Kerenyi, Mircea Eliade und andere haben den Mythos von Sage und Märchen abgegrenzt. Seine Eigentümlichkeiten gegenüber diesen Erzählformen sehen sie darin, daß der Mythos eine gründende, die jetzige Welt- und Lebensordnung fundierende Geschichte erzählt. Er handelt jeweils von einer aus der Sicht der gegenwärtig Lebenden als Urzeit zu betrachtenden Epoche. >Urzeit< ist in Verbindung mit dem Mythos kein Begriff der absoluten Chronologie, sondern eine .fu.nktionale Kategorie. Ein Mythos muß darum auch nicht selbst ein hohes Alter haben. Sein funktional Urzeitliebes aber besteht darin, daß hinter das vom Mythos erzählte, die gegenwärtige Lebensordnung begründende Geschehen nicht weiter zurückgefragt werden kann23 •
21 A.a.O,, S. 22f (Anm. 20). 22 Pannenberg, a.a.O. (Anm. 16), S. 13. Siehe B. Malinowski, Myth in Primitive Psychology, 1926, sowie die einschlägigen Arbeiten von K. Th. Preuß, K. Kerenyi und M. Eliade. 23 Siehe dazu auch H. Bl.umenherg, Arbeit am Mythos, Frankfurt a.M. 1979; ders., Wirklichkeitsbegriff und Wirklichkeitspotential des Mythos, in: M. Fuhrmann (Hg.), a.a.O. (Anm. 16), S. 11-66.
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Ob man von einer völligen Vernachlässigung der neueren religionswissenschaftliehen Forschung bei Bultmann sprechen muß, läßt sich vielleicht zurückhaltender beurteilen als es bei Pannenberg geschieht. Immerhin erklärt auch Bultmann, wie gesehen, der Mythos handele vom »Grund und Ursprung der Welt« oder von Götterkämpfen, »aus denen die Zustände und Ordnungen der bekannten Welt hervorgegangen sind«. Auch wird der Zusammenhang von Mythos und Kultus durchaus angesprochen, den die ritualistisch-soziologische Mythosdeutung Malinowskis und anderer eingehend untersucht hat. Bultmann beläßt es aber bei verstreuten Hinweisen. Vor allem nimmt Bultmann in seine zusammenfassende Definition des Mythos das Element der Urzeitlichkeit nicht auf. Es ist für sein Mythosverständnis augenscheinlich nicht konstitutiv, sondern wird eher beiläufig erwähnt. Nicht Urzeitlichkeit, sondern anthropomorphe, vorwissenschaftliche Weltbildhaftigkeit ist für Bultmann das entscheidende Merkmal des Mythos. Wenn sich Bultmann auf die religionswissenschaftliehe Forschung beruft, so denkt er augenscheinlich vor allem an die Arbeiten von Wilhelm Bousset und Hermann Gunkel. Deren Auffassung des Mythos als einer primitiven Vorstellungsform des Göttlichen in Gestalt von Göttergeschichten, die das Göttliche anthropomorph versinnlichen und so vom Unweitlichen weltlich reden, läßt sich bis zu dem Göttinger Altphilologen Christian Gottlob Heyne· zurückverfolgen114• Sowohl Heynes als auch Boussets, Gunkels und Bultmanns Verständnis des Mythischen ist letztlich jener Mythosdeutung zuzurechnen, die Schelling als allegorische charakterisiert hat. SeheHing kritisierte an der bis in die Antike
24 Vgl. Chr. Hartlich/W. Sachs, Der Ursprung des Mythosbegriffs in der modernen Bibelwissenschaft, Tübingen 1952, S. 12-19; im Anschluß daran W. Pannenberg, a.a.O. (Anm. 16), S. 1~19.
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zurückreichenden allegorischen Mythosinterpretation, daß sie dem Mythos keine eigene Wahrheit zugestehe25 • Bultmanns Auffassung vom Mythos liegt ganz auf der Linie einer allegorischen Deutung, wenn er die Aufgabe der Interpretation der neutestamentlichen Mythologie darin sieht, »ihre Wahrheit von der mythologischen Vorstellung, in die siegefaßt ist, zu entkleiden«26• Trotz seiner Kritik an der Hermeneutik der liberalen Theologie des 19. Jahrhunderts übernimmt Bultmann an dieser Stelle deren Modell von Schale und Kern27• Der Inhalt, das Kerygma, läßt sich von seiner Form, der Mythologie, trennen und in eine neue Form gießen. Daß Bultmann tatsächlich der allegorischen Mythendeutung nahesteht, zeigt seine Reaktion auf die These seiner Kritiker, die Sprache des Mythos sei die unaufgebbare Sprache des christlichen Glaubens wie jeder Religion. Bultmann hält mythische Vorstellungen und Begriffe allenfalls in einem vorläufigen Sinn für unentbehrlich, »sofern in ihnen Wahrheiten intendiert sind, die sich in der Sprache der objektivierenden Wissenschaft nicht aussagen lassen. In mythologischer Sprache kommt dann zum vorläufigen Ausdruck, wofür die adäquate Sprache erst gefunden werden muß« 28• Sätze wie: »Ich liebe dich« oder: »Ich bitte dich um Verzeihung« zeigen nach Bultmann aber, daß es jenseits der Alterna25 Vgl. F W. J. &helling, Einleitung in die Philosophie der Mythologie, SW 11/1, Stuttgart/Augsburg 1856, S. 26-46. Mit dem Urteil, daß auch Heyne ungeachtet seines Protestes den Mythos allegorisch interpretiere, setzt sich Schelling von seinen Frühschriften ab, die ganz unter dem Eindruck der Arbeiten Heynes und der von ihm begründeten >mythischen Schule< standen. Zu Schellings Magisterdissertation >De prima maloru.m humanorum origine {Genesis 111)< ( 1792) und seinem Aufsatz >Ü&er Mythen, historische Sagen und Philosopheme der ältesten Welt< (1193) siehe Hartlich/Sachs, a.a.O. (Anm. 24), S. 56-58. 1!6 R. Bultmann, a.a.O. {Anm. 2), S. 15. 27 A.a.O. {Anm. 2), S. 25f. 28 R. Bultmann, a.a.O. {Arun. 14), S. 186.
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tive von wissenschaftlicher und mythischer Sprache noch eine andere gibt, und zwar »eine Sproche, in der sich Existenz naiv ausspricht, und es gibt entsprechend eine Wusenschaft, die ohne die Existenz zum welthaften Sein zu objektivieren, von der Existenz redet« 29• Bultmanns existentiale Interpretation, deren Programm den Hauptteil seines Entmythologisierungsaufsatzes ausmacht, glaubt sich auf dem Weg zu solch einer neuen Sprache, in welche sich das Kerygma aus dem Sprachgewand des Mythos adäquat, wenn nicht sogar angemessener transponieren läßt. Der Einfluß Schellings ist demgegenüber- zumindest indirekt - bei vielen Kritikern Bultmanns spürbar, so beispielsweise in der schon zitierten These Bonhoeffers, im Neuen Testament sei die Mythologie »die Sache selbst«30 oder in derjenigen Kurt Hübners von der unverwechselbaren »Wahrheit des Mythos« und der ihm eigenen Rationalität51 • Nach Schellings später Philosophie der Mythologie ist der Mythos eine apriori notwendige Form der Wirklichkeitsdeutung. »Die Mythologie ist nicht allegorisch, sie ist tautegorisch«~, also nicht bloß ein Gleichnis für etwas Wahres, sondern dieses Wahre selbst. Mit seiner Auffassung wendet SeheHing sich gleichermaßen gegen die allegorische wie die poetologische Mythendeutung, als deren Hauptvertreter Karl Philipp Moritz, Carl August Böttiger sowie die Frühromantiker August Wilhelm und Friedrich Schlegel zu nennen sind. Wenngleich die Deutung des Mythos als einer Form der Poesie seinem Wesen weitaus eher als ein allegorisches Verständnis gerecht wird, ist sie nach SeheHing doch insofern unzureichend, als sie den Mythos als dichterische Erfindung auffaßt. Der Mythos rückt bei dieser Deu29 A.a.O. (Anm. 14), S. 187. ~ D. Bonhoeffer, a.a.O. {Anm. 10), S. 360. 31 Zu Hübners Auffassung von der Rationalität des Mythos vgl. a.a.O. (Anm. 5), S. 23~290. 32 Schelliog, a.a.O. {Aom. 25), S. 195f.
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tung in die Nähe des schönen Scheins und des unverbindlichen ästhetischen Spiels, dessen Bezug zur Wahrheit fraglich ist. Nach SeheHing wohnt dem Mythos dagegen eine apriorische Wahrheit inne, welche diejenige des Monotheismus bzw. der höchsten Idee ist. Erst in einem geschichtlichen Prozeß, in welchem die Idee des Göttlichen in einer Vielzahl von Ideen entfaltet wird, gelangt nämlich der Monotheismus zu einem Begriff seiner selbst. Die Ausdifferenzierung eines von Schelling angenommenen ursprünglichen, naiven Monotheismus vollzieht sich im ideengeschichtlichen Stadium des Polytheismus. Die Wahrheit des polytheistischen Mythos besteht also darin, daß nur im Durchlaufen des Polytheismus der anfänglich naive Monotheismus schließlich in seiner Absolutheit wirklich begriffen werden kann 55 • Im Vergleich zu SeheHing ist der Mythosbegriff nicht nur Bultmanns, sondern auch vieler Kritiker seines Entmythologisierungsprogramms einigermaßen unbestimmt54. Nicht nur manche seiner Gesprächspartner, sondern stellenweise auch Bultmann bezeichnen mit dem Begriff des Mythos die Sprache der Religion oder noch allgemeiner gefaßt die Sprache des Metaphori33 Auf die Unterschiede des Mythosverständnisses Schellings zu demjenigen Hegels kann im Zusammenhang unseres Themas nicht näher eingegangen werden. 34 Bei Hollenwegerist die Unbestimmtheit des Mythosbegriffs sogar programmatisch: »Genau will ich sein in bezug auf die Funktion des Mythos[ ... ] Unbestimmt will ich bleiben in bezug auf die lnluzlte und Formen, da sich diese von Situation zu Situation ändern« (a.a.O., Anm. 9, S. 13). Hollenweger beruft sich für diese Unbestimmtheit ausgerechnet auf K. Kerenyi, der die Funktionalität mythischer Urzeitliehkeil freilich sehr wohl präziser als Hollenweger beschrieben hat. Dieser erklärt a.a.O., S. 63: »Die Funktion des Mythos besteht darin, ein Ensemble von Überzeugungen in archetypischer Form auszudrücken.« Die Kategorie des Archetypischen ist jedoch, wie die Diskussion um die Tiefenpsychologie Carl Gustav Jungs zeigt. recht problematisch.
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schenss. Das Verständnis des Mythischen als eines metaphorischen Sprachspiels kommt freilich der von Schelling neben der allegorischen ebenfalls problematisierten poetologischen Auffassung nahe. Das hermeneutische Problem der Metaphorik religiöser Rede ist von der Frage, wie sich Christentum bzw. christliches Kerygma und Mythos zueinander verhalten, jedoch zu unterscheiden. Wir werden darauf zurückkommen. Zuvor aber wirft die in der Entmythologisierungsdebatte immer wieder begegnende Zuordnung von Mythos und Weltbild einige Fragen auf.
J. Weltbild und MytJws Wie Bultmann interpretieren auch m::.nche seiner Kritiker den Mythos als eine bestimmte Form des Weltbildes. In dieser Einschätzung trifft sich z.B. Hollenweger durchaus mit Bultmann. Das Verhältnis von Weltbild und Mythos kann sich bei Hollenweger jedoch dahingehend umkehren, daß sowohl der antike Mythos als auch das moderne, wissenschaftlich geprägte Weltbild »zwei verschiedene Mythen« sind 56, wobei Hollenweger den Mythosbegriff gelegentlich durch Thomas S. Kuhns Begriff des Paradigmas ersetztl7• Da jedes Weltbild im Sinne Hollenwegers letztlich ein Mythos ist, vertritt er ähnlich wie schon Karl Jaspers gegenüber Bultmann die Ansicht, daß der moderne Mensch der westlichen Industriegesellschaft sehr wohl »elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen
35 Neben Jaspers siehe z:.B. die in Anm. 11 genannten Autoren. Auch Hollenweger verteidigt den •Mythos als Sprache« (a.a.O., Anm. 9, s. 75). 36 Hollenweger, a.a.O. (Anm. 9), S. 67. 37 A.a.O. (Anm. 9), S. 71.
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und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben« kannM. Einer vergleichbaren Auffassung begegnen wir bei Kurt Hübner, der Bultmann vorhält, »daß seine Entscheidung zugunsten der Wissenschaft rein historisch begründet ist« 39• Das fortdauernde Festhalten an der neutestamentlichen Mythologie müsse keineswegs ein sacrificium intellectus sein. »Man könnte nämlich im Gegenteil sagen, daß gerade der Zwiespalt, gleichzeitig wissenschaftlich und mythisch zu denken, zu jener Situation gehört, in der wir uns heute befinden. Ja, es ist die Frage, ob ~ser praktisches und persönliches Leben nicht weit eher von mythischen als von wissenschaftlichen Haltungen geprägt ist. So kann es sein, daß wir uns oft weit mehr verleugnen, wenn wir uns einseitig für das wissenschaftliche Weltbild entscheiden und nicht für das mythische« 40 • Hübners Kritik an Bultmanns Entmythologisierungsprogramm wendet sich aber lediglich gegen dessen Abwertung des Mythos zugunsten des naturwissenschaftlichen Weltbildes, nicht jedoch gegen Bultmanns Mythosverständnis als solches. Hübner vermerkt zwar dessen unsystematischen Charakter, findet es im übrigen aber durch seine eigenen Untersuchungen weitgehend bestätigt41 • Ähnlich wie Bultmann bestimmt Hübner die »Gegenständlichkeit als Einheit von Ideellem und Materiellem« als das Primäre mythischer Welterfahrung42, wobei die mythische Welterklärung im Unterschied zur wissenschaftlichen anstelle von Begriffen mit numinosen Wesen operiere, die gewissermaßen als Alphabet des mythischen Denkens fungieren.
38 R. Bulunann, a.a.O. (Anm. 2), S. 16; dagegen Hollenweger, a.a.O. (Anm. 9), S. 73ff. 39 Hübner, a.a.O. (Anm. 5), S. 330. 40 A.a.O. (Anm. 5), S. 331. 41 Vgl. a.a.O. (Anm. 5), S. 324f. 42 Vgl. a.a.O. (Anm. 5), S. 109-134.
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Im übrigen aber liege dem Mythos die gleiche Rationalität wie dem wissenschaftlichen Denken zu Grunde4>5. Anders als die genannten Kritiker erhebt Bultmann für seine existentiale Interpretation den Anspruch, das biblische Kerygma nicht nur vom Mythos in seiner ursprünglichen Bedeutung, sondern von jedem objektivierenden Denken und das heißt von jeder Bindung an irgendein Weltbild zu befreien44• »Entweltlichung« ist bei Bultmann also nicht nur eine ethische, sondern auch eine fundamentaltheologische Kategorie. An Bultmann wie an seine Kritiker ist jedoch die Frage zu richten, ob die Kategorie des Weltbildes dem Mythos überhaupt angemessen ist. Während Jaspers, der die Wiederbelebung der mythischen Sprache gefordert hat, die zeitgenössische Wissenschaft dadurch ausgezeichnet sieht, daß sie im Unterschied zu allen früheren Epochen (einschließlich dem Durchschnittsbewußtsein unserer eigenen) erstmals auf ein Weltbild verzichtet45, läßt sich mit Heidegger fragen, ob es sich nicht genau umgekehrt verhält. Hat nicht erst Descartes die Möglichkeit eines Weltbildes im Sinne Bultmanns, d.h. einer objektivie~nden Weltdeutung geschaffen? Indem Descartes das denkende Ich zum subjectwn oder hypokeimenon der Welt, zur Bezugsmitte also und zum Grund alles Seienden erklärt, wird die Welt zum Objekt. Erst das neuzeitliche Subjekt-Objekt-Schema erlaubt es, das Ding als lediglich vom Subjekt vor-gestelltes, als Vorstellung also und Bild zu denken. So gesehen wird die Welt erst in der Neuzeit als Bild begriffen, als Objekt, welches sein Sein erst durch das vorstellende Subjekt erhält. Meint der Begriff des Welt43 Hübner definiert die Mythos wie Wissenschaft gleichermaßen zugrundeliegende Rationalität als empirische, semantische, lo· gische, operative und normative Intersubjektivitlt. Zu Hübners Verständnis der Rationalität des Mythos siehe zusammenfas· send a.a.O. (Arun. 5), S. 287-290. 44 Vgl. Bultmann, a.a.O. (Anm. 14), S. 187. 45 K.Jaspers, a.a.O. (Anm. 12), S. n.
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bildes streng genommen die Welt als Bild begriffen, dann leuchtet der Einwurf Heideggers ein: »Uberall dort, wo das Seiende nicht in diesem Sinne ausgelegt wird, kann auch die Welt nicht ins Bild rücken, kann es kein Weltbild geben« 46 • Heideggers Interpretation des Weltbildbegriffs kann hier nicht weiter diskutiert werden. Sie zeigt aber, daß die Kategorie des Weltbildes in der bisherigen Entmythologisierungsdebattte nicht hinreichend geklärt worden ist'~7 • Bei Bultmann impliziert die Rede vom mythologischen Weltbild den Vorwurf objektivierenden Denkens, der sich bei näherem Hinsehen philosophisch als problematisch erweist. Man wird vielmehr feststellen müssen, daß der Mythos als WelterziZ/zlung·sich von einem objektivi~renden Weltbild grundsätzlich unterscheidet.
4. Mythos und Metapher Eröffnen erzählender Mythos und neuzeitliche Wissenschaft als objektivierendes Denken ganz verschiedene Zugänge zur Wrrklichkeit48, so stellt sich das hermeneutische Problem der neutestamentlichen Texte in anderer Weise als Bultmann es formuliert. »Es handelt sich dabei«, wie Wolfhart Pannenberg mit Recht feststellt, »nicht um· einen Streit über die Gültigkeit oder Ungültigkeit dessen, was die neuere Religionswissenschaft als Mythos kennengelernt hat. Es handelt sich vielmehr um 46 M Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, in: den., Holzwege, Frankfurt a.M. 1950, S. 6~113, hier S. 82. 47 Gegen die unkritische Verwendung des Weltbildbegriffs in der Mythosdebatte wendet sich auch H-P. Maller, Mythos und Kerygma. Anthropologische und theologische Aspekte, ZThK 83, 1986, S. 405-435, jetzt in: ders., a.a.O. (Anm. 1), S. 188-219. 48 Daß Mythos und Wissenschaft nicht auf derselben Ebene liegen, verdeutlicht Blumenberg, a.a.O. (Anm. 23), S. 253f am Beispiel der Geschichte vom Noahbund und des ihn bestätigenden Regenbogens. Vgl. auch a.a.O., S. 303.
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die Gültigkeit oder Ungültigkeit gewisser vorneuzeitlicher und vorwissenschaftlicher Denk- und Vorstellungsformen«49. Wieweit der Mythos als religionswissenschaftliches Phänomen von dieser Auseinandersetzung mitbetroffen ist, bleibt ein gesondert zu erörterndes Thema50• Das von Bultmann mit dem mißverständlichen- nebenbei bemerkt von Hans Jonas stammenden51 - Begriff der Entmythologisierung benannte hermeneutische Problem ist aber weniger das des Mythos als dasjenige der Semantik religiöser Rede. Die Frage lautet, inwiefern eine bestimmte, allerdings auch in mythischen Erzählungen auftauchende oder mit mythischen Themen und Vorstellungen verbundene Sprache das notwendige Ausdrucksmedium jeder religiösen Weltauffassung und auch des christlichen Glaubens ist52• Be49 W Pannenberg, a.a.O. (Anm. 16), S. 17. 50 Aus der neueren Diskussion zum Verhältnis von Mythos und Wissenschaft seien neben der in Anm. 1 aufgeführten Literatur genannt: J. Fischer, Über die Beziehung von Glaube und Mythos. Gedanken im Anschluß an Kurt Hübners »Die Wahrheit des Mythos«, ZThK 85, 1988, S. 30~328; H-P. Maller, Mythos - Anpassung - WirklichkeiL Vom Recht mythischer Rede und deren Aufhebung, ZThK 80, 1983, S. 1-25. 51 Siehe H Jonas, Augustin und das paulinische Freiheitsproblem. Eine philosophische Studie zum pelagianischen Streit (FRLANT 44), Göttingen 1930, 11 1965, S. 8o--89, bes. S. 82. Vgl. Bultmann, a.a.O. (Anm. 2), S. 25 (Anm. 21). 52 Zur Reformulierung des hinter Bultmanns Entmythologisierungsprogramm und seiner existentialen Interpretation stehenden hermeneutischen Problems siehe auch Pannenberg, a.a.O. (Anm. 16), S. 29f, der zwischen einer mythischen und einer religi.ljsen Weltauffassung unterscheidet. Letztere, die mit dem wie auch immer zu denkenden Eingreifen göttlicher Mächte in das gegenwärtige Weltgeschehen rechnet, sei auch für die biblischen Schriften konstitutiv. Die Wirksamkeit einer mythischen Weltauffassung, eines mythischen Wirklichkeitsverständnisses im alttestamentlichen und im urchristlichen Denken, sowie die Funktion einzelner mythischer Themen und Vorstellungen sei demgegenüber ein gesondertes Problem. Pannenberg rechnet durchaus mit der Möglichkeit auch spezifiSCh israelitischer Mythenbildung, wobei der Mythos nach Pannenberg im Unter-
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antworten läßt sich diese Frage nur, wenn zwischen mythischem Denken und metaphorischem Reden begrifflich klarer unterschieden wird als dies bei Bultmann oder auch manchen seiner Kritiker der Fall ist. Die begriffliche Verwirrung ist offenkundig, wenn Bultmann gelegentlich seinen Gesprächspartnern unterstellt, sie redeten mythisch5\ wo diese mit Recht einwenden könnten, die Sprache des Mythos ebenso metaphorisch zu gebrauchen wie Bultmann, wenn dieser seinerseits bestreitet, daß die Rede vom Handeln Gottes mythisch sei. Die Rede vom Handeln Gottes ist nach Bultmann nämlich kein mythologischer Rest in seiner existentialen Interpretation, sondern eine zugegebenermaßen anthropomorphe Redeweise von Gott, die aber nur dem Ungläubigen wie ein Mythos vorkomme, tatsächlich aber eine Form der Analogie sei 54• Anthropomorphes Reden zeichnet freilich gerade den Mythos im religionswissenschaftliehen Wortsinn aus. Insofern redet ein Satz wie der folgende, von Bultmann stammende, durchaus mythologisch: »Indem Gott Jesus kreuzigen ließ, hat er für uns das Kreuz errichtet« 55 • Folgerichtig urteilt Hans Blumenberg: »Die Entmythologisierung ist zu einem großen Teil nichts anderes als Remetaphorisierung: das punktuelle Kerygma strahlt auf einen Hof von Sprachformen aus, die nun nicht mehr beim Wort genommen zu werden brauchen« 56•
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schied zu H. Blumenberg nicht notwendigerweise polytheistisch ist! Vgl. a.a.O., S. 23. 27. So z.B. in seiner Antwort auf Schniewind, a.a.O. (Anm. 15), passim. Vgl. Buhmann, a.a.O. (Anm. 2), S. 50f. 63f; ders., a.a.O. (Anm. 14), S. 196-208. Siehe auch a.a.O. (Anm. 2), S. 49 die Behauptung, die neutestamentliche Rede von der Sünde sei nur scheinbar mythologisch. Bultmann, a.a.O. (Anm. 2), S. 55. H Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher {stw 289), Frankfurt a.M. 1979, S. 87.
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So steht hinter Bultmanns Entmythologisierungsprogramm eigendich die Frage, ob religiöse Sätze meinen, was sie sagen bzw. ob es möglich ist, unmetaphorisch, d.h. univok von Gott zu reden~ 7 • Bultmann ist allerdings der Auffassung, daß der Mythos als Sprache, das heißt aber im Grunde auch das metaphorische Reden von Gott für den chrisdichen Glauben prinzipiell entbehrlich ist. »Die Notweruiigkeit, vom Unanschaulichen anschaulich zu reden[ ... ] kann ich nicht einsehen. Warum nicht die mißverständliche Anschaulichkeit durch eine sachgemäße Sprache ersetzen? oder sie - wenn sie in der liturgischen Sprache (wenigstens weithin mit Recht) fortlebt, stets interpretieren?« 58• Indem Bultmann die metaphorische Sprache des Mythos auf dem Wege ihrer Interpretation nicht nur verstehen, sondern wo möglich auch ersetzen will, bleibt er freilich dem Reduktionsverfahren der von ihm selbst kritisierten liberalen Theologie verhaftet. . Während sich hinter dem Mythosbegriff mancher Kritiker Bultmanns ein Verständnis des Metaphorischen verbirgt, das in den poetologischen Metapherntheorien Paul Ricceurs oder Hans Blumenbergs Unterstützung findet~9 , entspricht Bultmanns Interpretation mythologischer Rede dem auf Aristoteles zurückzuführenden rhetorischen Metaphernbegriff. Ihm zufolge sind Metaphern uneigendiche Rede und lediglich ein Stilmittel der Rhetorik. Dieses Metaphernverständnis stößt jedoch bei der Rede vom Handeln Gottes, an der Bultmann festhalten will, an seine Grenzen. Die Aporie, in welche Bultmann an dieser Stelle gerät, läßt sich mit Hilfe einer Theorie der absolutell Metapher vermeiden. Sie erlaubt es zugleich, innerhalb der religiösen Rede von Gott semantisch zu differenzieren. 57 Vgl. dazu R. Bultrruznn, Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?, GuV I, Tübingen 7 1972, S. 26-37. 58 Buhmann, a.a.O. (Anm. 15), S. 152. 59 Siehe dazu ausführlich H Braun/G. Figal/U KiJrtner, Meinen religiöse Sätze, was sie sagen?, WuD 19, 1987, S. 221-235.
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Die Kritik an Bultmanns Entmythologisierungsprogramm schießt nämlich über das Ziel hinaus, sofern sie den Eindruck erzeugt, sämtliche biblische metaphorische Ausdrücke seien für den christlichen Glauben zur angemessenen Rede von Gott unaufgebbar. Wer dies annimmt, landet bei der sprichwörtlichen Sprache Kanaans. Von der Rede vom Handeln Gottes ist nun aber nicht nur festzustellen, daß sie nicht eliminiert werden kann, sondern auch, daß sie im Neuen Testament ihre Eindeutigkeit erst dadurch gewinnt, daß sie christologisch gefüllt wird. Die Rede ~on Jesus von Nazareth und diejenige vom Handeln Gottes bedingen einander in den neutestamentlichen Texten wechselseitig. Auf diese Weise entsteht ein Grundbestand von Metaphern, ohne welche das christliche Kerygma nicht aussagbar ist. Nicht von sämtlichen in der Bibel vorkommenden Metaphern, wohl aber von diesem Grundbestand christologischer Metaphern ist im Sinne Bonhoeffers zu sagen, daß sie nicht die mythologische Einkleidung einer allgemeinen Wahrheit, sondern die Sache selbst sind. Im Anschuß an die Metapherntheorien Ricreurs und Blumenbergs können derartige Sprachgebilde als absolute Metaphern bezeichnet werden. Sie zeichnen sich dadurch aus, daß sie begrifflich nicht auflösbar sind, ihrersei~ aber sprachbildend wirken. Für eine semantische Theorie der absoluten Metaphorik religiöser Rede kehrt sich das hermeneutische Problem Bultmanns daher um: Die Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade besteht auf dem Gebiet des Verstehens nicht darin, daß das Kerygma sich zu jeder Zeit wul an jedem Ort in einer neuen Sprache darbietet, sondern vielmehr darin, daß dieses zeit- und vorstellungsgebundene Wort immer wieder in neue Sprachen einzugehen vermag undtrotzseiner bleibenden Fremdheit verstanden wird 60• Mit Rudolf Bohren läßt sich die60 Um dies an einer neutestamentlichen Geschichte zu verdeutlichen: Das in Act 2,1 ff geschilderte Pfingstwunder besteht nicht
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ser Vorgang als Spracherweiterung bezeichnen. »Damit würde sich das hermeneutische Problem umkehren: Nicht so sehr die Übersetzung der Schrift in unsere Sprache stünde dann zur Debatte, sondern die Verwandlung unserer Sprache in die der Bibel«61 •
J. Zwischen Mythos und Metaphysik Das hermeneutische Problem der sich auf das Neue Testament berufenden christlichen Rede von Gott ist damit freilich noch nicht vollständig beschrieben. Es tritt erst dann ganz in den Blick, wenn das Verhältnis dieser Rede nicht nur zum Mythos, sondern auch zur Metaphysik hinterfragt wird. Im Grunde bringt das Wort »Theologie« in seiner christlichen Verwendung das hermeneutische Problem christlicher Rede spannungsvoll auf den Begriff. >Rede von. Gott< heißt griechisch übersetzt ja nichts anderes als >Theologie<. >Theologie< aber ist bekanntlich kein Wort der biblischen Überlieferung, sondern der griechischen Antike, welche unter der Rede von Gott oder dem Göttlichen ursprünglich das Singen und Sagen der Göttergeschichten, d.h. aber den Mythos verstand. Platon und Aristoteles sowie die Stoa verwendeten später den Begriff >Theologie< zur Bezeichnung ihrer im einzelnen durchaus unterschiedlichen Metaphysik. Indem sich aber das Christentum im weiteren Verlauf seiner Geschichte auf den Gebrauch des Wortes >Theologie< einließ, hat es sich gleichzeitig »auf eine Fragestellung eingelassen; die seine Theologie zwischen Mythologie und Metaphysik stellt und mit beidem kritisch verbunden sein läßt«62• darin, daß die Jünger das Evangelium in alle Sprachen übersetzen, sondern darin, daß ihre befremdende und unverständliche Glossolalie Eingang in alle Sprachen fmdet und trotz ihrer Fremdheit von dem Umstehenden verstanden wird. 61 R. Bohren. Predigtlehre, München 4 1980, S. 134. 62 Bayer, a.a.O. (Anm. 1), 7. Vgl. auch Hans-Peter Müllers Überle·
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Genau jenen Ort christlicher Rede von Gott zwischen Mythos und Metaphysik benennt der Begriff der absoluten Metapher, der von uns im Zusammenhang der Rede vom Handeln Gottes eingeführt wurde. Diese These bedarf einer kurzen Erläuterung. Absolute Metaphern im Sinne Blumenbergs sind nicht ein Stilmittel der Rhetorik oder zu Begriffen verblaBte Bilder, sondern ein »Modell in pragmatischer Funktion, an dem eine >Regel der Reflexion< gewonnen werden soll«63 • Sie entsprechen damit jenen Sprach- und Denkfiguren, die Kant als Symbole bezeichnet hat. Symbole im Sinne Kants sind »indirekte Darstellungen des Begriffs[ ... ] vermittelst einer Analogie (zu welcher man sich auch empirischer Ansch~uung bedient), in welcher die Urteilskraft ein doppeltes Geschäft verrichtet, erstlieh den Begriff auf den Gegenstand einer sinnlichen Anschauung und dann zweitens die bloße Regel der Reflexion über jene Anschauung auf einen ganz anderen Gegenstand, von dem der erstere das Symbol ist, anzuwenden«64• Symbole sind bei Kant also Analogiebildungen, mit deren Hilfe reinen Vernunftbegriffen, denen »schlechterdings keine Anschauung angemessen gegeben werden kann«, zu einer »Versinnlichung« verholfen wird. Nach Kant ist in diesem Sinne auch »alle unsere Erkenntnis von Gott bloß symbolisch; und der, welcher sie mit den Eigenschaften Verstand, Wille u.s. w., die allein an Weltwesen ihre objektive Realität beweisen, für schematisch nimmt, gerät in den Anthropomorphism, so wie, wenn er alles Intuitive wegläßt, in den Deism, wodw-ch überall nichts, auch nicht in praktischer Hinsicht erkannt wird« 65 • Ohne hier im einzelnen auf Kants Ästhetik, aus gungenzur »Aufhebung des Mythos« durch das Kerygma, a.a.O. (Anm. 47), s. 21G-218. 63 H Blumenherg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, ABG 6, 1960, S. 7-142, hier S. 10. 64 1 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 59, in: ders., Werke V, hg. v. W. Weischedel, Darmstadt 1983, S. 460. 65 A.a.O. (Anm. 63), S. 461.
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der diese Sätze stammen, und seine Religionsphilosophie eingehen zu können, läßt sich doch sagen, daß sich in der Polarität von Anthropomorphismus und Deismus die angesprochene Spannung von Mythos und Metaphysik widerspiegelt, zwischen denen die absolute Metaphorik christlicher Rede von Gott zu stehen kommt. Deren absolute Metaphorik aber besteht darin, daß sie Sätze formuliert, die weder einen bloßen Vergleich aufstellen, noch univok sagen, wer oder was Gott an sich ist. Sie sagen vielmehr als was Gott ist; und gerade auf diese schiefe Weise sagen sie, wer Gott ist66 • Christliche Rede von Gott steht also spannungsreich zwischen Vergleich und Proposition, worin sich ein weiteres Mal die Spannung von Mythos und Metaphysik zeigt. Indem die christliche Theologie über das dem Mythos verwandte bloße Erzählen und metaphorische Reden von Gott hinausgeht und nach dessen metaphorischer Wahrheit fragt, gerät sie notwendigerweise in den Fragenkreis der Metaphysik. Weil aber die Geschichte der Theologie mit der wechselvollen Geschichte abendländischer Metaphysik verbunden ist, ist die Theologie auch von der im 19. Jahrhundert sich anbahnenden Krise metaphysischen Denkens betroffen. Bultmanns Entmythologisierungsprogramm und sein hermeneutischer Ansatz einer existentialen Interpretation des Neuen Testaments haben auf ihre Weise der Krise einer metaphysisch geprägten Theologie zu begegnen versucht. Nach Heidegger, mit dem Bultmann in den zwanziger Jahren im intensiven Gespräch stand, besteht das Wesen der Metaphysik darin, die Frage nach dem Sein zu stellen. Die Metaphysik aber fragt nach dem Sein wie nach einem Seienden, bedenkt nach Heidegger also nicht die ontologische Differenz zwischen 66 Zu diesem Gedankengang vgl. P Ricaur, Stellung und Funktion der Metapher in der biblischen Sprache, in: den./E. JtJngel, Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache. Mit einer Einführung von P Gisel, München 1974, S. 45-70, hier bes. S. 54.
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Sein und Seiendem. Darin besteht das Ungenügen metaphysischen Denkens. Das Problem der Metaphysik und ihres Ungenügens begegnet uns bei Bultmann als das Problem des objektivierenden Denkens. Jede Form des objektivierenden Denkens, sei es diejenige des Mythos oder diejenige des neuzeitlichen Weltbildes, ist nach Bultmann ungeeignet, die Transzendenz Gottes und die eschatologische Existenzweise des Glaubens angemessen zu erfassen. Während jedoch der späte Heidegger die Metaphysik im Sinne ihrer ständigen Verwindung zu überwinden sucht67 und sich im Rahmen seines erneuten Fragens nach dem Sein nicht scheut metaphorisch und sogar mythisch zu reden, werden klassische68 metaphysische Fragen, z.B. der Kosmologie von Bultmann theologisch als unangemessen zurückgewiesen69. Bultmanns metaphysische Restriktionen sind theologisch ebenso unbefriedigend wie die Forderung mancher seiner Kritiker, die Metaphysik um der Möglichkeit theologischen Denkens willen zu erneuern. Sowohl Pannenberg als auch Jürgen Moltmann, der Bultmanns Theologie in die Nähe gnostischer Erlösungssehnsucht gerückt und als »Theologie der transzendentalen Subjektivität« kritisiert hae0 , haben der These vom Ende der Metaphysik aus theologischen wie philosophischen
67 Vgl. M Heidegger, Überwindung der Metaphysik, in: ders., Vorträge und Aufsät~e, Pfullingen 1954, S. 71-99. 68 Darauf weist besonders Jonas hin. Siehe H Jonas, Heidegger und die Theologie, in: G. Noller(Hg.), Heidegger und die Theologie. Beginn und Fortseuung der Diskussion {TB 38), München 1967, S. 316-340, hier S. 330f. 69 Während er Heideggers in >Sein und Zeit< {1927) entworfene Fundamentalontologie theologisch fruchtbar zu machen suchte, hat sich Bultmann auf das philosophische Spätwerk Heideggers nicht eingelassen. Bultmanns Verhältnis zur Philosophie Heideggers kann hier jedoch nicht weiter erörtert werden. 70 Siehe J. Moltmann, Theologie der Hoffnung, München 10 1977, S. 5Hi0.
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Gründen widersprochen 71 • Eine erkennbar theologischen Interessen dienende Verteidigung der Metaphysik scheint aber doch nur möglich zu sein, wenn der Nihilismus, der für Nietzsche die Konsequenz der abendländischen Tradition metaphysischen Denkens war, abgemildert wird 72• Der metaphysische Gedanke einer letzten Einheit der Wrrklichkeit scheitert jedoch an der Theodizeefrage. Weil sich die im Kerygma angesprochene Einheit Gottes nur glauben und nicht abschließend denken läßt, muß das theologische Denken prinzipiell unabgeschlossen bleiben 73 • Eben darum ist die Überwindung, besser: die ständige Verwindung metaphysischen Denkens, das mit der Erfassung der Wirklichkeit zu einem Abschluß zu gelangen glaubt, eine eminent theologische Aufgabe 74• . Zur Verwindung der Metaphysik gehört die Rückbesinnung auf die kritische Verbundenheit christlicher Theologie mit dem Mythos. Sie ergibt sich daraus, daß die Theologie als Reflexion des Glaubens an die biblische Überlieferung gebunden ist. Es kennzeichnet aber die biblische Überlieferung, daß sie in großen Teilen wie der Mythos von Gott redet, indem sie von Gott erzlthlt. Die grundlegende Erkenntnis der Formgeschichte, daß jede Form einer sprachlichen Äußerung von Be71 Siehe W. Pannenherg, Metaphysik und Gottesgedanke, Göttin-
gen 1988; J. Moltmann, Der gekreuzigte Gott, München 4 1981, s. 204. 72 Erst recht ist aber eine Theologie nach dem Tode Gottes fragwürdig, die als antimetaphysische Theologie nach dem von Nietzsche angesagten Tod Gottes unter umgekehrtem Vorzeichen dem sich im Nihilismus vollendenden metaphysischen Denken verhaftet bleibt. 73 Vgl. 0. Bayer, Autorität und Kritik. Zu Hermeneutik und Wissenschaftstheorie, Tübingen 1991, S. 7f. 181-200. 201-207. 74 Diese Aufgabe wird freilich nicht dadurch gelöst, daß Heideggers Spätphilosophie gewissermaßen christlich getauft wird. Gegen derartige Versuche einer allzu unkritischen theologischen Heidegger-Rezeption hat zu Recht Jonas, a.a.O. (Anm. 68), passim, eine eindringliche Warnung gerichtet.
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deutung für ihren Inhalt ist, muß methodische Konsequenzen für die Theologie insgesamt haben. Ist deren begriffliche Reflexion von den biblischen Gotteserzählungen abhängig, so muß die Form der Erzählung auch auf die Methode theologischen Denkens Einfluß haben. Dieser Einsicht versucht das Programm einer narrativen Theologü Geltung zu verschaffen 75, die bei Bultmann noch gar nicht in den Blick geräe6• Eine narrative Theologie, die sich ausschließlich als Alternative zur metaphysisch geprägten theologischen Reflexion in Begriffen begreift, steht ihrerseits freilich in der Gefahr, die für die christliche Theologie konstitutive Spannung von Mythos und Metaphysik zugunsten des Mythos aufzulösen. Wird die Frage nach der Wahrheit des von Gott Erzählten nicht mehr auf der Ebene begrifflichen Denkens gestellt, wird christliche Theolo75 Einen Überblick über verschiedene Entwürfe einer narrativen Theologie gibt B. Wacker, Narrative Theologie?, München 1977. Gesondert wäre in unserem Zusammenhang zu diskutieren, welche Bedeutung das mit dem Mythos in Beziehung stehende, gleichwohl von der Erzählung zu unterscheidende Dramatische für die christliche Theologie hat. Zum Drama als theologischem Denkmodell siehe vor allem das opus magnum von H. U v. Balthasar, Theodramatik, Bd. I-IV, Einsiedeln 19731983. Vgl. auch U Körtner(Hg.), Theodramatik. Das Drama als Denkmodell in der neueren Theologie (Iserlohner Protokolle 72/92), Iserlohn o.J. (1992), passim. 76 Zu Bulunanns Theologieverständnis vgl. R. Bultmann, Theologie als WJ.Ssenschaft, ZThK 81, 1984, S. 447-469; ders., Theologische Enzyklopädie, hg. v. E. Jüngel u. K. W. Müller, Tübingen 1984. Bulunann kann wohl von einet Theologie des Paulus und des Johannes, nicht aber der Synoptiker sprechen. Siehe Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 7 1977. Zu einem anderen Ergebnis gelangt dagegen Andreas Lindemann, indem er den Begriff einer narrativen Theologie auf die synoptischen Evangelien anwendet. Siehe A. Lindemann., Erwägungen zum Problem einer »Theologie der synoptischen Evangelien«, ZNW 77, 1986, 1-33; H. O>nulmann, Grundriß der Theologie des Neuen Testaments ( 4. Aufl., bearb. v. A. Linde11lll1Zil), Tübingen 1987, S. 142[
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gie ihrerseits zu einer bloßen Spielart des Mythos 77• Sie ist dann nur noch Theologie im antiken Wortsinn, nämlich das Singen und Sagen von einem Gott, das zur Mythenkritik geradezu herausfordert. Christliche Theologie, welche ernsthaft das durch die metaphysische Tradition vermittelte Leitbild der Episteme, d.h. des in Begriffen aussagbaren WlSSens verabschieden wollte, müßte schließlich um den Preis ihrer Selbstpreisgabe in das Lob des Polytheismus einstimmen. 78 Eine theologische Metaphysik.kritik, die auf eine Remythisierung der Theologie hinausläuft, führt nicht über Bultmann hinaus, sondern fällt hinter die von ihm gewonnenen theologischen Einsichten zurück. Christlicher Theologie, welche sich an das erste Gebot wie an die Aussage aus Joh 14,6, daß Jesus als der Christus die Wahrheit des von Gott Aussagbaren und zu Erzählenden in Person ist, gebunden weiß, bleibt jeder Versuch einer Remythisierung der Rede von Gott verwehrt. Der von Bultmann gewählte Begriff der Entmythologisierung mag mißverständlich sein. Er bringt aber die heute in Vergessenheit zu geraten drohende Einsicht zum Ausdruck, daß die theologische Frage nach der Wahrheit des Mythischen notwendigerweise mythenkritisch ist. Bultmanns Behauptung, die mythologische Vorstellungswelt sei für den heutigen Menschen »erledigt« 79, vermag in der vorgetragenen Weise nicht wirklich zu überzeugen. Angesichts einer gegenw~ig zu beobachtenden Nei77 Zur Kritik vgl. D. Ritschl, Zur Logik der Theologie, München 1984, S. 47. Zu seinem von einer narrativen Theologie sich abgrenzenden Story-Konzept siehe auch D. Ri.tschl/H. 0. Jones, »Story« als Rohmaterial der Theologie (TEH 19g), München 1976. 78 Zum Lob des Polytheismus siehe neben Blumenberg, a.a.O. (Anm. 23),_pasaim den Essay von 0. Marquard, Lob des Polytheismus. Uber Monomythie und Polymythie, in: derL, Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1981, S. 91-116; ferner J.-F. LyotiUd, Ökonomie des WUDJChes, dL Bremen 1984; den., Da, postmoderne WISSen, dL Wien 1986. 79 Vgl. Bultmann, a.a.O. {Anm. 2), S. 15f.
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gung zur unkritischen Wertschätzung des Mythischen außerhalb wie innerhalb der Theologie wird man trotzdem kaum behaupten wollen, daß sich Bultmanns Entmythologisierungsprogramm insgesamt erledigt habe. Im folgenden Kapitel soll das Verhältnis von Mythos und Christentum an einem neutestamentlichen Beispiel veranschaulicht werden. Mit dem zweiten Petrushrief wählen wir einen biblischen Text, der wie kein zweiter zeigt, wie stark das Entmythologisierungsproblem mit Fragen der literarischen Hermeneutik verwoben ist. Im zweiten Petrushrief verquicken sich nämlich Fiktionalität und lntertextualität80, handelt es sich doch um eine literarische Fiktion, die ihrerseits auf die fiktionalen Texte der Evangelien Bezug nimmt. Gerade das Beispiel des zweiten Petrusbriefes läßt die Problematik eines Entmythologisierungsprogramms zutage treten, welches eine Diastase zwischen Fiktion und Realität unterstellt. An ihm läßt sich darum verdeutlichen, was es heißt im Sinne rezeptionsästhetischer Theorien nach der »Wirklichkeit der Fiktion« zu fragen 81 • Der Autor des zweiten Petrusbriefes ist ein Beispiel dafür, wie man in die Wirklichkeit der Fiktion verstrickt werden kann. Als inspirierter Leser ist er seinerseits literarisch produktiv geworden und hat einen neuen fiktionalen Text geschaffen. Er wirft nun aber nicht nur die Frage nach der Wirklichkeit intertextueller Fiktion, sondern mehr noch die nach ihrer Wahrheit auf. Somit ist der zweite Petrushrief ein eindrucksvolles biblisches Beispiel für das Verhältnis von Te~t und Applikation und soll daher den Abschluß unserer 'Studien zu einer biblischen Hermeneutik bild~n. 80 Zum Begriff der lntertextualität siehe M Pfister, Konzepte der lntertextualtät, in: U Broich/M Pfister (Hg.), lntertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen 1985, s. 1-30. 81 Vgl. W. Iser, Die Wirklichkeit der Fiktion. Elemente eines funktionsgeschichtlichen Textmodells der Literatur, in: R. WtU7linc (Hg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München ~1988, S. 277-324.
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Siebentes Kapitel
Heijlt Glauben klugen Fabeln folgen? Über Mythos und Wahrheit im Christentum Nicht mit Ausgedachtem begegnet der Erzähler dem Leben, sondern mit Erfindungen, die er der Wrrklichkeit abgetrotzt hat und die geeignet sind, die Wahrheit ahnen zu lassen. Kurzum: mit eifundener Wahrlu:il. Marcel Reich-Ranicki
1. Entmythologisierung? Wrr erinnern uns noch einmal an Bonhoeffers Kritik des Bultmannsehen Entmythologisierungsprogramms. »Ich bin«, so hatte Bonhoeffer gegen Bultmann eingewandt, »der Auffassung, daß die vollen Inhalten einschließlich der >mythologischen< Begriffe bestehen bleiben müssen - das Neue Testament ist nicht die mythologische Einkleidung einer allgemeinen Wahrheit!, sondern diese Mythologie (Auferstehung etc.) ist die Sache selbst1« 1 Der Mythos ist die Sache selbst: Vielleicht wird dies nirgends eindrücklicher als im zweiten Petrushrief und zwar nicht nur obwohl, sondern gerade weil sein t
D. BonJweffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnung aus der Haft, hg. v. E. Bethge, Neuausgabe München 1
1977, s. 360.
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Verfasser beteuert, daß der christliche Glaube sich nicht auf Mythen, sondern reale Geschehnisse stützt. »Wir sind«, versichert der zweite Petrushrief in II Petr 1,16-19 seinen Lesern, »nicht ausgeklügelten Mythen gefolgt, als wir euch kundgetan haben die Kraft und das Kommen unseres Herrn Jesus Christus; sondern wir haben seine Herrlichlr.eit selber gesehen. Denn er empfing von Gott, dem Vater, Ehre und Preis dun::h seine Stimme, die zu iJun kam von der großen Herrlichlr.eit: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe. Und diese Stimme haben wir gehört vom Himmel kommen, als wir mit iJun waren auf dem heiligen Berge. Um sofester haben wir das prophetische Wort, und ihr tut gut daran, daß ihr darauf achtet als auf ein Licht, das da scheint an einem dunklen Ort, bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe in euren Herzen.« »Man kann«, so schrieb Bultmann 1941, »nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geisterund Wunderwelt des Neuen Testaments glauben« 2• Zu dieser mythologischen Vorstellungswelt zählt offenbar auch der Glaube an die baldige Wiederkunft Christi und ein buchstäbliches Weltende samt Jüngstem Gericht. »Die mythische Eschatologie«, so Bultmann, »ist im Grunde durch die einfache Tatsache erledigt, daß Christi Parusie nicht, wie das Neue Testament erwartet, alsbald stattgefunden hat, sondern daß die Weltgeschichte weiterlief und - wie jeder Zurechnungsfähige überzeugt ist- weiterlaufen wird« 5• Bultmanns Skepsis wie unsere eigene gegenüber der apokalyptischen Naherwartung des Urchristentums ist 2 R. Bultrruuzn, Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung. Nachdruck der 1941 erschienenen Fassung, hg. v. E. Jüngel (BEvTh 96), München 1988, S. 16. 3 Ebd.
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so neu freilich nicht. Schon in der zweiten Christengeneration wurden Stimmen laut, die fragten: »Wo bleibt die Verheißung der Wiederkunft Christi? Denn nachdem die Väter entschlafen sind, bleibt es alles, wie es von Anfang der Schöpfung gewesen ist« (II Petr 3,4). Als selbst innerhalb der christlichen Gemeinden die verheißene Wiederkunft Christi als Mythos abgetan zu werden droht, taucht Mitte des zweiten Jahrhunderts ein bis dahin unbekannter Brief auf, der vom Apostel Petrus kurz vor dessen Tod geschrieben worden sein will. Das apostolische Schreiben beschwört die Christen eindringlich, die Hoffnung auf das Kommen Christi nicht preiszugeben und die Ankündigung seines Weltgerichts in jedem Falle ernstzunehmen. Die Wiederkunft Christi, so beteuert Petrus, ist keine mythische Vorstellung, sondern so gewiß, wie es wahr ist, daß Jesus vor den Augen seiner Jünger auf einem Berge verklärt wurde. Die christliche Hoffnung besserer Zeiten ist keine lllusion, sondern eine unumstößliche Tatsache, verbürgt durch Petrus und alle Apostel, welche Jesu persönliche Jünger und Augenzeugen seines Lebensweges waren. Sie wurden Zeugen seiner in den Evangelien geschilderten Verklärung. Mit eigenen Augen erkannten sie in Jesus den verheißenen Messias. Mit eigenen Ohren hörten sie vom Himmel die Stimme Gottes, der sich zu Jesus als seinem Sohn bekannte. Mit zwingender Gewalt tat sich ?etrus und den übrigen Aposteln das Zeugnis des Alten Testaments auf, das prophetisch auf Christus und seine Wiederkunft am Jüngsten Tage verwies. So wahr Petrus zum Augenzeugen der Verklärung Jesu wurde, so gewiß wird Jesus am Ende der Tage als Weltenrichter erscheinen. Das Evangelium, die Botschaft des christlichen Glaubens, ist also keine Mythologie, sondern verbürgte Historie und glaubwürdige Prophetie.
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2. Historische Skepsis Diese Beweisführung wird ihren Eindruck auf jene Leser nicht verfehlt haben, die glaubten, tatsächlich ein Schreiben des Apostels Petrus in Händen zu halten. Sie überzeugt gewiß auch heute noch jene, die den zweiten Petrushrief für echt halten. Doch seine Argumentation bricht in dem Moment wie ein Kartenhaus zusammen, wo sich herausstellt, daß der zweite Petrushrief pseudonym, d.h. ein fingierter Brief ist, nicht von Petrus geschrieben, sondern von einem unbekannten Christen des zweiten Jahrhunderts. Genau dies ist aber das Urteil, zu welchem die historisch-kritische Exegese gelangt4• Entpuppt sich die Christusbotschaft damit nicht als ein Mythos, die Geschichte des Christentums als Geschichte einer Mythenrezeption, die derart verworren ist, daß am Ende der Mythos als solcher nicht mehr durchschaut wird und seine Anhänger Fiktion und Realität nicht mehr auseinanderhalten können? Hat Bonhoeffer also - freilich in ganz anderer Weise, als er selbst glaubte - nicht recht mit seiner Behauptung, im Neuen Testament sei der Mythos die Sache selbst? Allerdings: Ist mit dieser Feststellung die Sache selbst nicht auch schon - erledigt? Bedenken wir, was da geschieht: ein pseudonymer frühchristlicher Schriftsteller sitzt seinerseits im Falle der Evangelien einer literarischen Fiktion auf. Er verfaßt - das sei ihm zugute gehalten - seinen fingierten Petrushrief in der besten Absicht, den christlichen Glauben gegen allen Zweifel zu verteidigen. Angesichts der unter seinen Mitchristen um sich greifenden Skepsis gegenüber der Wiederkunft Christi fragt er sich: Was hätte dazu wohl der Apostel Petrus gesagt? Petrus, so überlegt er, ist doch Augenzeuge dessen gewesen, was die Evan4
Zur Verfasserschaft vgl. z.B. W &hrrzge, Der zweite Petrusbrief, in: H Balz/W &hrrzge, Die »katholischen« Briefe (NTD 10}, Göttingen 1973, S. 118-149, hier S. 120f.
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gelien über Jesus berichten. Ja, die Evangelisten haben sich doch bei der Abfassung ihrer Schriften auf seinen Augenzeugenbericht gestützt. Und hat Jesus nicht selbst laut Zeugnis der Evangelien klar und deutlich von seiner Wiederkunft am Ende der Tage gesprochen? Solche Gedanken gehen jenem unbekannten Mann durch den Sinn, wenn er sagen hört: »Wo bleibt die Verheißung seiner Wiederkunft? Denn nachdem die Väter entschlafen sind, bleibt es alles, wie es vom Anfang der Schöpfung gewesen ist.« Hätte Petrus solchen Zweiflern nicht entgegnet: »Wir Apostel sind nicht von Menschen erdachten Mythen gefolgt, als wir euch durch unsere Predigt, die in den Evangelien ihren Niederschlag gefunden hat, die Kraft und die Wiederkunft Christi bezeugten. Denn wir sind Augenzeugen seiner Herrlichkeit und Gottessohnschaft gewesen«? Solche Überlegungen müssen jenen Unbekannten geleitet haben, als er auf den Einfall kam, mit einem fmgierten Petrushrief in den Streit um die Wiederkunft Christi einzugreifen. Ist er dabei aber nicht seinerseits von Menschen ~rdachten Mythen aufgesessen? Nach heutigem Erkenntnisstand geben die Evangelien in ihrer uns vorliegenden Fassung keine Augenzeugenberichte der Jünger Jesu wieder. Ihre Jesusgeschichten sind keine Tatsachenberichte, die hieb- und stichfest die Gottessohnschaft Jesu beweisen, sondern Glaubenszeugnisse, Predigten in Erzählform, welche den Glauben an Jesus als den Sohn Gottes schon voratfssetzen. Insbesondere die Geschichte von der Verklärung Jesu, welche der zweite Petrushrief anführt, ist nach mehrheitlicher Überzeugung heutiger Exegeten kein historischer Bericht, sondern eine nachösterliche Legende. Um eine mythologische Vorstellung zu retten, hätte demnach der unbekannte Verfasser des zweiten Petrusbriefes, indem er selbst klugen Fabeln folgte, diese lediglich um eine weitere vermehrt. Wenn der Mythos mit der Sache des Glaubens zusammenfällt, scheint es um dessen Wahrheit schlecht bestellt zu sein. 170
). Eifundene Wahrheit Die historisch-kritische Exegese bestätigt offenbar nur, daß die neutestamentlichen Schriftsteller von dem antiken Urteil, wonach alle Dichter lügen, keine Ausnahme machen. Der christliche Glaube und seine Zukunftshoffnung ist vor der Kritik der aufgeklärten Vernunft anscheinend nicht mehr zu retten, weil kein gedanklicher Kern übrigbleibt, welcher der Religionskritik standhalten könnte. Wer den zweiten Petrushrief und seine literarische Fiktion entmythologisieren will, findet offenbar dasselbe wie jemand, der Schale für Schale von einer Zwiebel löst, um ihren Kern zu suchen- nämlich nichts. Alles Lüge! So mag derjenige urteilen, der die Wahrheit hinter dem Mythos sucht. Wie aber, wenn der Mythos in ganz anderer Weise die Sache selbst, nämlich die Wahrheit selbst ist? Wie, wenn die Wahrheit dieses Mythos nur findet, wer selbst in den Mythos, in seinen Text hineingerät? Zu fragen ist nämlich, wie es um die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen des Entmythologisierungsprogramms Bultmanns bestellt ist. Im vorherigen Kapitel wurde bereits Bultmanns Begriff des Weltbildes problematisiert. Wir müssen nun hinzufügen, daß nicht nur· der Begriff des Weltbildes, sondern auch der von ihm vorausgesetzte Begriff der Wirklichkeit problematisch ist. Ohne den Begriff der Fiktion zu verwenden, thematisiert Bultmann mit seinem bereits kritisch untersuchten Mythosbegriff die Fiktionalität neutestamentlicher Erzählung von Gott. Bultmanns Begriff der Objektivation legt die ontologische Prämisse seines Begriffs von mythischer Fiktionalität bloß. Sie besteht in dem am Begriff der resorientierten Wahrheitsverständnis, wonach Wahrheit die adaequatio intellectus ad rem ist. Wirklichkeit steht demzufolge als Realität der Fiktion diastatisch gegenüber. Fiktion ist per defmitionem das Nicht-Wirkliche. Dem Mythos hält Bultmann nun 171
vor, vom Ungegenstiindlichen, nämlich von Gott und dem Phänomen menschlicher Existenz, gegenständlich zu reden. Was Bultmanns Entmythologisierungsprogramm objektivierende Rede vom Ungegenständlichen nennt, ist in der jüngeren literaturwissenschaftliehen Diskussion als »Quasi-Urteil« bezeichnet worden5• Die Quasi-Urteile des Mythos aber sind nach Bultmann im Grunde Pseudo-Urteile nicht nur über das Ungegenständliche, sondern auch über die feststehende bzw. wissenschaftlich-objektiv feststellbare Wuklichkeit. Nun hat aber W Iser ein funktionsgeschichtliches Textmodell fiktionaler Literatur entwickelt, welches nachweist, daß sich literarische Texte gerade nicht darin erschöpfen, »empirisch gegebene Objektwelten zu denotieren; ja, ihre Darstellung zielt auf das, was nicht gegeben ist«6 • Fiktion ist demnach nicht, wie es ein ontologischer Begriff derselben festlegt, das Nicht-Wukliche, sondern eine Dekonstruktion und Rekonstruktion von Wirklichkeit. Nach lser muß das ontologische Argument »durch ein funktionalistisches ersetzt werden. Fiktion und Wuklichkeit können daher nicht mehr als ein Seinsverhältnis, sondern müssen als ein Mitteilungsverhältnis begriffen werden. Dadurch löst sich zunächst die polare Entgegensetzung von Fiktion und Wirklichkeit auf: Statt deren bloßes Gegenteil zu sein, teilt Fiktion uns etwas über Wirklichkeit mit« 7• Eine funktionale Betrachtung der Fiktion besagt: »Als Kommunikationsstruktur schließt die Fiktion Wuklichkeit mit einem Subjekt zusammen, das durch die Fiktion mit einer Realität vermittelt wird« 8 • Eben dies geschieht im Akt des Lesens, in welchem die Wirklichkeit für den Leser neu 5 Siehe R. lngarden, Das literarische Kunstwerk, Tübingen 1 1960, s. 169ff. 6 W: Iser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wukung, München ,1990, S. 87. 7 A.a.O. (Anm. 6), S. 88. 8
Ebd.
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entsteht, indem er selbst in die Fiktion hineingerät. In diesem Kommunikationsgeschehen aber entsteht nicht nur neue Wirklichkeit, sondern ereignet sich zugleich Wahrheit. So betrachtet, können wir sehr wohl sagen, daß sich für den Autor des zweiten Petrusbriefes bei der Lektüre der Evangelien Wahrheit ereignet hat. Die Wahrheit des Christusmythos ist freilich keine Sache historischer Beweise, wie sie der zweiter Petrushrief liefern will. Das weiß aber im Grunde auch der Verfasser des zweiten Petrusbriefes. Indem er selbst in den Text der Evangelien geriet, ging ihm die Wahrheit des Mythos auf. Der inspirierte Leser wird zum Autor, welcher die Wahrheit des Mythos neu erfindet, indem er Petrus die folgenden Worte in den Mund legt: »Um so fester haben wir das prophetische Wort, und ihr tut gut daran, daß ihr darauf achtet als auf ein Licht, das da scheint an einem dunklen Ort, bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe in euren Herzen.« Ein weiteres Mal wird die Hoffnung auf die Wiederkunft Christi am Jüngsten Tage bekräftigt. Was aber deren mythologischen Vorstellungsrahmen sprengt und insofern irritiert, ist das Bild vom Morgenstern, der in den Herzen der Leser aufgehen soll. Es überrascht nicht deshalb, weil der Morgenstern doch schon vor der Dämmerung zu sehen, das Bild insofern also nicht ganz stimmig ist. Es ist vielmehr überraschend in der Sache. Der Morgenstern ist vermutlich ein Symbol für den wiederkommenden Christus. »Ist hier«, so fragt ein Ausleger, »die ursprünglich kosmische Dimension der Parusie psychologisch umgebogen und individualistisch verengt? Dies wird sich trotzdes Festhaltensan der Parusieerwartung kaum bestreiten lassen«9 • . Wird aber solche Kritik dem Sachverhalt im zweiten Petrushrief wirklich gerecht? Vielleicht muß man gerade umgekehrt sagen: Eben weil der unbekannte Verfas9 W. Schrage, a.a.O. (Anm. 4}, S. 132.
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ser in der Begegnung mit dem Evangelium, mit seinen Geschichten- namentlich derjenigen von der Verklärung Jesu- erfahren hat, daß der Morgenstern in seinem Herzen aufgegangen ist, ist ihm auch die überkommene Parusieerwartung zur bleibenden Gewißheit geworden. Die individuelle Erfahrung drängt zur kosmischen Erweiterung, denn das Erlebnis eigener Erleuchtung ist kein anderes als dasjenige von Gericht und Gnade, von Tod und Leben. Eben diese Erfahrung, besser: diese Widerfahrnis, ist die Sache selbst, die Wahrheit des Mythos, die sich uns dann erschließt, wenn auch wir unversehens selbst durch den Mythos erschlossen werden und unsere Existenz in ihrer Verfallenheit wie in ihrem Gehaltensein offenbar wird.
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Register 1. Namenregister (Auswahl) Augustin 62, 73, 75 v. Balthasar 75 Barth 18, 35, 138 Bayer 135 Benyoeu 19 Berger I 18, 126ff, 134 Blwnenberg 30, 105, 155ff, 159 Boeckh 125 Bohren 157 Bonhoeffer 21-26, 31f, 36, 40, 60, 140, 148, 157, 166, 169 Bousset 146 Bultmann 8, 23ff, 35, 43, 48, 114, 122, 124, 130, 132, 135157, 160f, 165--167, 171f
Guardini 75 Gunkel 146 Heidegger 24, 36f, 103, 141, 152f, 160f Herder 125 Heyne 146 v. Hofmannsthai 20, 22,37 Hollenweger 140, 150 Homer 68, 70, 105 Hübne~K. 140,148,151 Husserl 103 lset 133, 172
Cancik 126f Cassian 73
Jaspers 140, 150, 152 Jauß 95 Jonas 154 Jordan 125
Danielou 75 Dibelius, M. 53, 114, 123f, 128, 135 Dostojewski 42 Drewermann 40, 63
Kähler 109f Kant 27, 35, 159 Kerenyi 145 Köster 115 Kuhn, Tb. S. 45f, 150
Eco 89,94~ 102,108 Eliade 145
Löwith 30f de Lubac 75f Luther 26, 78f
Fiebig 128 Gadamer 99ff Gerhob v. Reichersberg 75 Gogarten 29ff
Malinowski 145f Marquard 88, 90f, 93, 95, 106, 108 Meu 49f, 52
175
Moltmann 161 Morris 118 Nietzsche 35f, 62, 162 Origenes 71 ff, 84, 93f Overbeck 52-59, 99ff, 105, 121, 122-133, 135 Pannenberg 142, 145f, 153, 161 Papias 116 Paulus 11, 48, 69ff, 78, 86, 122
SeheHing 137, 146, 148ff Schille 119f Schleiermacher 52f, 55, 88, 9599, 107, 117, 135 Schmidt, K.L. 114 Schmithals 121, 123, 128 Schramm 66 Schweitzer, A. 50 Stuhlmacher 47f, 127 Sudbrack 77 Szondi 117, 119
Quintillian 67
Tauler 80 Thyen 88-91, 94, 121ff Tillich 110
Rahner, H. 75f Richter 131 Ricmur 57ff, 83, 89, 101ff, 106, 120, 156, 157
Vielhauer 53, 123f Vischer, W. 75
2. Sachregister Allegorese 66-71, n-78, 81, 84ff, 131f Allegorie 20f, 37, 67f, 70, 74 Altes Testament 71, 75, 79, 168 Applikation 15, 56, 59, SOff, 101ff, 104, 165 ~etik 40, 117~ 125, 159 Aufklärung 27f, 30, 33ff, 37, 66, 91 Auslegung 11, 16, 49, 56,65-69, 71, 73f, 75, 80f, 84, 86, 90f, 93, 96f, 101-104, 106, 117, 119, 131 Autor 8, 15f, 43, 51, 54f, 57f, 64, 68, 72, 80, 82- 85, 88f, 91f, 94f, 97ff, 101, 104-108, 112, 118, 126, 133, 165, 173 Bekennende Kirche 32 Bibel 7, 11, 38, 41f, 44f, 47ff,
176
51f, 60, 62-66, 72ff, 76, 79, 86, 91, 96f, 106, 110, 135, 157f Bibliodrama 66, 81 Christentum 8f, 11, 13, 21, 24, 26-37,40,49-54,56,62,110, 116, 124ff, 129, 137f, 140, 150, 158, 165{, 169 Christus 22, 32ff, 38, 44, 53, 70f, 73, 75, 77ff, 94, 106-110, 125, 164, 167-170, 173 Entmythologisierung 9, 138141,143, 154f, 164f, 166, 171f Entmythologisierungsprogramm 149 Erfahrung 11, 61, 63f, 174 Erinnern 41 Erlebnis 105, 174 Eschatologie 167
Evangelien 116, 121-124, 126f, 131, 133, 165, 168ff, 173 Exegese 8, 48, 56, 58, 62-66, 69f, 72-77, SOff, 84, 86, 8893, 100, 104-108, 119, 121, 123, 130f, 134f, 169, 171 -, befreiungstheologische 64 -,feministische 64, 90 -,geistliche 64, 69, 73-77, 81, 84,90,92 -, historisch-kritische 45, 56, 62-66,68,75,77, 79,81~84, 86,90,92, 104,131,169,171 -, materialistische 64, 90
-, singularisierende 90f, 93 - des Einverständnisses 14, 47ff, 51 -des Unverständnisses 14, 44, 51ff, 57f, 99, 132
Fiktion 102, 165, 169, 171ff Formengeschichte 8, 121, 123, 125, 127, 13ü-133 Formgeschichte 8, 114-117, 119-125,128,132-135,162
Kanon 15f, 53, 55, 72, 79, 85, 93, 100, 104-107, 109, 125f, 129, 131, 133ff Kerygma 122, 128, 143, 147f, 150, 152, 155, 157, 162 Kirche 7, 18-21, 23, 25f, 28, 31 ff, 39, 55, 73ff, 85, 94, 110, 125f, 129
Geist 16,22,40f,61f, 71f, 76, 78, 84,86,91 Glaube 22, 24, 33, 37ff, 47f, 51, 60, 78,110f,140,167,171 Gott 13, 16, 19,24,26,29,3242, 50, 60, 62, 70, 72f, 75, 78, 92ff, 106, 112, 136, 155-164, 167f, 170ff Gottesdienst 40 Hermeneutica sacra 16, 130 Hermeneutik 3, 7f, 11, 14-1 7, 22f, 43f, 47ff, 51-54, 57, 60f, 71, 80f, 84, 87-99, 101ff, 106, 108-115,117,130ff,136,147, 165 -,biblische 11, 14, 16f, 43, 47, 52, 61, 91, 101ff, 113ff, 130, 165 -,literarische 14-17, 57, 84, 793, 97ff, 101ff, 108-115, 117, 130ff, 136, 165 -, pluralisierende 9Q-93, 96f, 99, 102, 106, 109
implizierter Leser 16, 86 inspirierter Leser 16, 86, 112, 165, 173 Interpretation 24f, 29, 40, 58f, 67ff, 74f, SOff, 84, 94, 96ff, 10ü-104, 107, 109, 111, 118, 131f, 135, 138, 141, 143, 147f, 152f, 155f, 160
Leerstelle 83, 108 Leser 120 Linguistik 79, 119f linguistisch 119, 120 Literalsion 69, 73f, 78f, 89, 91, 95,97 Literarkritik 56 Metapher 8, 136, 153, 156f, 159 Metaphorik 150, 157, 160 Metaphysik 36 Moderne 13, 23f, 26-31, 62f, 101 Monotheismus 149 Mythologie 23, 25, 137f, 140, 147f, 151, 158, 166, 168 Mythos 8f, 34, 98, 136f, 139156, 158,-163, 165f, 168-174 Nachfolge 22, 49ff, 73, 94 Naherwartung 49f, 52, 127, 167
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Neues Testament 23, 49, 51, 53, 55,58,99, 101,108,114,124, 126, 129, 131ff, 138, 143, 148, 151, 15~ 160, 16~ 169 Orthodoxie 75, 94f Paradigmenwechsel 7, 44ff patristische Literatur 124, 130 Pfingsten 41 Philosophie 15, 24, 31, 33ff, 137, 148 Pietismus 75 Pluralismus 11, 27ff, 89, 92 Pneumatologie 112 Polytheismus 37, 149, 164 Prophetie 168 Protestantismus 36, 75, 79 Reformation 28, 67, 77, 90 Religion 21, 25, 27ff, 40, 68, 136f, 139f, 147, 149 Religionskritik 30, 33, 35f, 171 Religionswissenschaft 153 Religiosität 13, 25, 28, 40 Rezeptionsästhetik 8, 17, 57, 88, 90, 99, 104, 114f, 118-121, 130, 132f Säkularisierung 26-30, 41 Schriftprinzip 79, 91, 108f, 111 Schweigen 18f, 26, 38-41 sensus historicus 95 sensus litteralis 69, 95f sensus spiritualis 69, 96 Sitz im Leben 80, 133f sufficientia {scripturae sacrae) 109 Sünde 42, 51, 111 Synabol 74, 159,173
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Technik 36f Text 16, 24f, 38, 41 Theologie 52, 164 -,hermeneutische 11, 14, 17, 115 -, katholische 63, 75ff, 79, 92 -,liberale 147, 156 -, narrative 163 Tiefenpsychologie 66, 76f Tradition 16,21,25,30,43,66, 69, 72,74-77, 79,90,96, 102, 105, 116, 162, 164 Traditionsprinzip 79, 91 Traum 40,42 Typologie 69f, 76, 84ff Überlieferungsgeschichte 83, 116f Urchristentum 50, 53ff, 58, 100, 123-126, 167 Urliteratur 53ff, 58f, 99f, 121f, 125f, 128-132 Verfremdung 58, 99ff, 131 Verkündigung 20,-23, 26, 34, 40f, 138, 143 Verstehen 7, 11, 13, 17, 22, 43ff, 49ff, 53ff, 58-61, 66, 73, 78, 8Qff, 97, 101, 111, 131 Vorverständnis 14, 43, 51 Wahrheit 9, 24f, 34, 37f, 41, 59, 80, 90, lOH, 140, 144, 147ff, 157, 160, 163-166, 170f, 173f Weltbild 8, 21, 23f, 143f, 146, 15Q-153, 161, 171 Wirkungsgeschichte 109 Wissenschaft 22, 45f, 139, 147f, 151ff
J. Bibelstellenregister Gen 28,10ff 74 Koh 3,7 18, 19 Jes 53 44 Lk 1,79 32 Joh 1,51 74 Joh 14,6 34, 164 Apk 2,7 86 Act 4,13 127
Röm 1,17 48 Röm 5,14 70 Röm 15,4 69 1 Kor 10,6 70 2 Kor 3,6 71 Gal 4,24ff 70 2 Pett 1,16-19 167 2 Pett 3,4 168
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Ulrich H. J. Körtner
Weltangst und Weltende Eine theologiacbe Interpretation der Apokalyptik. 1988. 428 Seiten, kartoniert. ISBN 3-525-56178-4 "Der Autor entwickelt in Grundzügen eine theologische Theorie der Angst, die einen neuen Zugang zum apokalyptischen Denken eröffnet Apokalyptik ist eine Form der Seelsorge an Geängstigten. Die Theologie muß sieb fragen lassen, inwieweit sie ihrerseits zu solcher Seelsorge im 'Zeitalter der Angst' flhig ist Auf diese Frage versucht das Buch eine systematisch-theologische Antwort zu geben." AnzeigerjUr die Seelsorge
Hendrik Birus (Hg.)
Hermeneutische Positionen Schleiermacher- Dillbey - Heidegger - Gadamer. Mit Beiträgen von Heinrieb Anz, Hendrik Birus, Günter Figal und Horst 'furk. (Kleine Vandenboeck-Reibe 1479). 1982. 155 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-33468-0
lngo Baidermann
Einführung in die Bibel 4. Auflage 199:5 von "Die Bibel - Buch des Lemens". (UTB Uni Taschenbücher 1486). 291 Seiten, kartoniert. ISBN :5-8252-1486-9 "Der Verfasser, der von einem ganzheitlichen Ansatz ausgeht und sich den übergreifenden Themen der Bibel zuwendet, bietet dem Leser mehr als nur eine gute Einftlhrung in die Sprache der Bibel, in deren Strukturen und Grundbegriffe, er bietet auch mehr als nur Verslehenshilfen beim Studium der Bibel. Es gelingt Baldermann, dem Leser die Eigenarten und Erzllblformen biblischer Autoren und deren theologische Intentionen zu verdeutlichen, sein Interesse für Zusammenbinge zu wecken, ihn mit Formen des Erzllblens und Argumenten bekannt zu machen und entscheidende biblische Knotenpunkte aufzuweisen." Rqormierte Kirchenzeilwl8
V&R
Ymdenhoeck &.Ruprecht