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Inge Seiffge-Krenke Psychotherapie und Entwicklungspsychologie Beziehungen: Herausforderungen – Ressourcen – Risiken 2., vollständig überarbeitete Auflage
Inge Seiffge-Krenke
Psychotherapie und Entwicklungspsychologie Beziehungen: Herausforderungen Ressourcen Risiken
2., vollständig überarbeitete Auflage Mit 93 Abbildungen und 7 Tabellen
1 23
Univ.-Prof. Dr. Inge Seiffge-Krenke Johannes-Gutenberg-Universität Mainz Psychologisches Institut Abt. Entwicklungs- und Pädagogische Psychologie Staudinger Weg 9 55099 Mainz
ISBN-13 978-3-540-68290-5 Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag springer.de © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2009 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Renate Scheddin Projektmanagement: Renate Schulz Lektorat: Volker Drüke, Münster Layout und Einbandgestaltung: deblik Berlin Satz: medionet Publishing Services Ltd. Berlin SPIN: 12233243 Gedruckt auf säurefreiem Papier
2126 – 5 4 3 2 1 0
V
Vorwort Ich freue mich, dass die Intention dieses Buches, die Integration von Perspektiven aus der Entwicklungspsychologie und der Psychotherapie, speziell der analytischen bzw. tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie, bei den Lesern und Leserinnen so gut angekommen ist. Die erste Auflage dieses Buches hat sich zügig verkauft, was zeigt, das Studenten unterschiedlicher Fachrichtungen, Therapeuten u. Berater damit viel anfangen konnten. Auch die Rückmeldungen, die ich bei meinen Vorträgen über dieses Thema bekommen habe zeigten mir, dass diese Integration begeistert aufgenommen und produktiv genutzt wurde. In der Tat ist eine entwicklungspsychologische Perspektive in Behandlungen dringend erforderlich, markiert sie doch die baseline, vor der bestimmte pathologische Veränderungen überhaupt erst verständlich und sichtbar werden. Wissen über psychologische Prozesse, über Beziehungsentwicklung, Emotionsregulierung und Bewältigung sind nicht nur hilfreich im Verstehen der Dynamik in Psychotherapien, sie ermöglichen auch eine adäquate Einschätzung von Veränderungen, die sich in einer psychotherapeutischen Behandlung vollziehen. Aber auch die Entwicklungspsychologie kann Erkenntnisse aus psychotherapeutischen Behandlungen nutzen, um zu einem besseren Verständnis von Entwicklungsprozessen zu gelangen. In der Tat gibt es einen fließenden Übergang zwischen Normalität und Pathologe, sind in allen Beziehungskontexten und Entwicklungsprozessen sowohl Risikofaktoren als auch Schutzfaktoren zu beobachten. Diesem integrativen Konzept bin ich treu geblieben, habe aber bei der zweiten Auflage das gesamte Buch gründlich überarbeitet und um neue Ergebnisse aus der Entwicklungspsychologie, der Familienpsychologie, der Familientherapie und der analytischen Psychotherapie ergänzt. Die enorme Bedeutung der frühen Eltern-Kind-Beziehungen wird vor allem in 7 Kap. 3 herausgearbeitet, das sich mit der Bindungsforschung und den langfristigen Auswirkungen sicherer und unsicherer Bindungsmuster beschäftigt. Aber auch in 7 Kap. 2, in dem unter extremer Vernachlässigung aufgewachsene Kinder beschrieben werden, ist offenkundig, welchen zentralen Stellenwert die haltende und beschützende Mutter hat. Weitere Kapitel beschäftigen sich mit zahlreichen in der Forschung aber auch in der Psychotherapie eher übersehenen Perspektiven, z.B. dass Freunde und romantische Partner echte »Entwicklungshelfer« sind, dass sie gemeinsam Agenten, Produzenten ihrer Entwicklung sind (7 Kap. 5). Eine Zentrierung auf die Eltern, oder genauer: auf die Mutter, beherrschte nicht nur lange Zeit die entwicklungspsychologische Forschung, die horizontale Perspektive ist auch in Psychotherapien selten im Blickpunkt. Der Beziehungsraum ist aber von Beginn an sehr komplex, und die Einflüsse, Entwicklungsimpulse und Ressourcen durch andere nahe Personen werden enorm unterschätzt. Dies gilt nicht nur für Geschwisterbeziehungen, auf die wir in 7 Kap. 8 gesondert eingehen, dies gilt auch für die Bedeutung von Freunden und romantischen Partnern. Innerhalb der Familienbeziehungen gibt es allerdings weitere Skotome: Dass pathologische Väter in psychotherapeutischen Behandlungen besonders Thema sind, liegt auf der Hand. Aber was wissen wir über normale Vater-Kind-Beziehungen? 7 Kap. 7 zeigt auf, welchen wichtigen Beitrag Väter zur Entwicklung von Körperkonzept, Autonomie und Geschlechtsidentität leisten. Zu wenig beachtet wurde auch, dass die Familienentwicklung ein Prozess ist, der in einzelnen Phasen, besonders zu Beginn der Elternschaft, wenn aus Paaren Eltern werden, und nach dem Auszug der Kinder aus dem Elternhaus besondere Herausforderungen und Belastungen mit sich bringt und eine immer neue Abstimmung in den Subsystemen »Eltern« und »Kinder« verlangt (7 Kap. 6). Mütter klagen während dieser hoch belasteten Phasen der Familienentwicklung vermehrt über psychische und körperliche Symptome, sind jedoch auch diejeni-
VI
Vorwort
gen, die verstärkt die Initiative ergreifen, um eine nicht mehr angemessene eheliche Beziehung aufzulösen. Zu den Prozessen, die zunächst in der Familie und dann mit dem Alter zunehmend vor allem in Freundschafts- und Partnerbeziehungen gelernt werden, zählen Fertigkeiten in der Emotionsregulierung, in der Mentalisierung und im Umgang mit Konflikten, die zeigen, dass echte Beziehungsarbeit geleistet wird, die die Beziehungen auf ein höheres Niveau bringen. Wichtige Beziehungspartner helfen nicht nur bei der Konturierung der eigenen Identität, des Selbst- und des Körperkonzeptes. Kinder, Jugendliche und Erwachsene verfügen auch über eigene Ressourcen, um ihre Entwicklung voranzubringen 7 Kap. 4). In diesem Zusammenhang werden wir auf Kreativität, Schreiben, Malen, Lesen und die Konstruktion von hilfreichen Phantasien eingehen. Die in diesem Buch vertretene Konzeption von Entwicklung ist eine Lebensspannen-Konzeption, die Entwicklung und Veränderung über die gesamte Lebenspanne beschreibt. Diese Perspektive hat in der Psychotherapie noch nicht so recht Einzug gehalten, wie an einer Zusammenschau der verschiedenen psychoanalytischen Entwicklungskonzeptionen deutlich wird (7 Kap. 1). Dem Individuum wird in diesem Buch wesentliche Aktivität bei der Gestaltung seines Lebens, seiner Beziehungen zuerkannt. Dass dies eine Entwicklung im Beziehungskontext ist, wird in allen Kapiteln eindrücklich deutlich. 7 Kap. 9 integriert die verschiedenen Ansätze und Befunde unter der Perspektive der Ressourcenorientierung, die in der Entwicklungspsychologie bei der Auseinandersetzung mit normalen und gestörten Entwicklungsprozessen wichtig ist, jedoch in der Psychotherapie noch zu wenig beachtet wird. Dieses Kapitel gibt auch Hilfen zur Burn-out Prophylaxe bei Psychotherapeuten. Bei dieser zweiten Auflage haben mich Susanne Pfaff beim Korrekturlesen der vorläufigen Fassung, Peter Flaig und Hiltrud Kirsch beim Erstellen des Quellenverzeichnisses unterstützt. Besonders möchte ich mich bei Renate Schulz und Renate Scheddin vom Springer-Verlag für die angenehme Zusammenarbeit bedanken. Sie waren stets hilfreich und haben unkomplizierte Lösungen für die vielen Bilder, die ich verwendet habe, gefunden. Mainz, im Oktober 2008 Inge Seiffge-Krenke
VII
Inhaltsverzeichnis 1 1.1 1.2 1.3
1.4
1.5
1.6
1.7
Entwicklungspsychologie und Psychotherapie: Zwei »feindliche Schwestern«? . . . . . . Berührungspunkte in den Anfängen . . . . Erste Annäherungen: Freuds Beitrag zur Entwicklungspsychologie. . . . . . . . . Vorstellungen über die Entwicklung in der frühesten Kindheit: Von Freud zu Mahler . . . . . . . . . . . . . . Das Bild des Säuglings und Kleinkindes bei Freud . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Bild des Säuglings und Kleinkindes bei Anna Freud . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Bild des Säuglings und Kleinkindes bei Melanie Klein. . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Bild des Säuglings und Kleinkindes bei Winnicott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Bild des Säuglings und Kleinkindes bei Spitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Bild des Säuglings und Kleinkindes bei Margaret Mahler. . . . . . . . . . . . . . . . Veränderungen in der psychoanalytischen Entwicklungstheorie über die Zeit. . . . . . Bausteine zu einer psychoanalytischen Entwicklungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . Übereinstimmungen zwischen den verschiedenen Ansätzen . . . . . . . . . . . . . Ist die von Sigmund Freud erarbeitete Konzeption der frühen Entwicklung entscheidend weiterentwickelt worden?. . . Skotome, Diskontinuitäten und Kontroversen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychoanalyse und Entwicklungspsychologie . . . . . . . . . . . Von Elterntagebüchern zu Lebensspannen-Psychologie . . . . . . . . . . Ein etwas anderer Entwicklungsbegriff : Individuen als aktive Gestalter ihrer Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterschiede in den Konzepten: Vom rekonstruierten zum kompetenten Säugling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursachen für die Unterschiede in den Entwicklungskonzeptionen . . . . . . . . . . . Bestätigung oder Verwerfung psychoanalytischer Ideen?. . . . . . . . . . . . Integrative Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . Psychoanalytische Entwicklungspsychologie . . . . . . . . . . . . Entwicklungspsychopathologie . . . . . . . . Forschungsanstöße für die Entwicklungspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2
Wenn die fördernde Umwelt ausfällt . . 27
2.1
Winnicotts Beitrag zum Verständnis früher Beziehungsentwicklung. . . . . . . . Wilde Kinder oder Wolfskinder . . . . . . . . Peter von Hameln . . . . . . . . . . . . . . . . . Verbrechen an der Seele: Kaspar Hauser . . Victor von Aveyron . . . . . . . . . . . . . . . Extreme Entwicklungsbedingungen: Kinder in Heimen. . . . . . . . . . . . . . . . . Hospitalismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anaklitische Depression . . . . . . . . . . . . . Kinder in Frauengefängnissen . . . . . . . . . Kinder depressiver Mutter . . . . . . . . . . . Prävalenz und Ätiologie . . . . . . . . . . . . . Mütterliche Depression und Kindesentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . Depression und Mutter-Kind-Interaktionen Langzeiteffekte elterlicher Depression auf Kinder und Jugendliche . . . . . . . . . . . Auswirkungen auf die kognitive Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elternverlust durch Tod . . . . . . . . . . . . . Trauer bei kleinen Kindern. . . . . . . . . . . . Kurz- und längerfristige Entwicklungsbesonderheiten bei Kindern mit verstorbenen Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . Der therapeutische Umgang mit frühen Verlusten: Das zerbrochene Herz . . »Entwicklungsstörungen« oder »Bindungsstörungen«? . . . . . . . . . . . . . . Das zerbrochene Herz: Reinszenierung von Trennungen in der Psychotherapie . .
1 2
2.2
4
2.3 2.4 2.5
5 5 7
2.6
8 10 11 12 2.7 14 14 14
2.8
16 2.9 17 17
44 45 45 45
47 48 48 49
Bindungsentwicklung. . . . . . . . . . . . 53 Von Winnicott zur Bindungstheorie . . . . Haltephase und primäre Mütterlichkeit . . Entstehung von Ich-Strukturen, vom Selbst und von Objektbeziehungen . Die Bindungstheorie . . . . . . . . . . . . . . Bindung und Exploration . . . . . . . . . . . Langfristige Auswirkungen früher Bindungserfahrungen . . . . . . . . . . . . . Beziehungen zwischen Bindungstheorie und verschiedenen psychoanalytischen Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Noch einmal: Der kompetente Säugling . Größen-, Farb- und Formkonstanz . . . . . . Figur-Grund-Unterscheidung und Wahrnehmung von Details . . . . . . . . . . Tiefenwahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . Bewegungswahrnehmung . . . . . . . . . . Frühe Synchronizität zwischen Mutter und Kind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
20 20
24
42 44
3.1
19
23 23
37 37 38 40 41 41
3
18
21 23
28 30 30 31 34
3.2
. 54 . 55 . 56 . 58 . 58 . 59
. 60 . 61 . 62 . 62 . 63 . 63 . 64
VIII
3.3
3.4
3.5 3.6 3.7
3.8
3.9
Inhaltsverzeichnis
Antwortlächeln und Fremdeln . . . . . . . . Das Antwortlächeln . . . . . . . . . . . . . . . . Die Achtmonatsangst . . . . . . . . . . . . . . . Bindungsentwicklung in der Kindheit und im Erwachsenenalter . . . . . . . . . . . . . . Stufenweise Ausbildung des Bindungsverhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . Die Messung von Bindung in der Kindheit. . Bindungsbeziehung und Krippeneintritt. . . Bindungsverhalten bei Erwachsenen . . . . . Stabilität und transgenerationale Weitergabe von Bindungsmustern . . . . . Das »Bindungsloch« in der Adoleszenz. . . Mütterliche Feinfühligkeit und »schwierige« Babys . . . . . . . . . . . . . . . Hilfen bei Babys mit Regulationsstörungen Effekte von Bindungssicherheit: Mentalisierung und Emotionskontrolle . . Bindung und Mentalisierung . . . . . . . . . . Bindung und Emotionsregulierung . . . . . . Bindung und Psychopathologie . . . . . . . Unsichere Bindung und psychische Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Desorganisation von Bindung . . . . . . . . . Bindungsklassifikation und Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
64 65 67
68 69 72 72
86 86
4.7
Warum werden Freunde zunehmend bedeutsamer?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Entwicklungsprozesse, die zu Veränderungen in den Freundschaftsbeziehungen führen. . . . . . . . . . . . . . . 119 Frühes Interesse an Gleichaltrigen . . . . . . . 121 Ein scheinbarer Rückschritt: Egozentrisches Verhalten . . . . . . . . . . . . 122 »lch denke an meine Mutter, die meint, mein Vater findet …« . . . . . . . . . . . . . . . 123 Zunehmende Offenheit gegenüber Freunden und romantischen Partnern . . . . 124 Stufenfolgen in der Entwicklung von Freundschaftsbeziehungen . . . . . . . . . . 124 Wesentliche Lernprozesse in Freundschaftsbeziehungen: Emotionsregulierung, Konfliktbewältigung, Identitätsstiftung . . 128 Emotional kompetent oder emotionale Analphabeten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Konfliktbewältigung: Wenn Freunde lächeln … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Konturierung der Identität. . . . . . . . . . . . 134 Beste Freunde: Prototyp für romantische Beziehungen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Romantische Liebe ist sehr facettenreich . . 137 Funktion von Freunden in unterschiedlichen Phasen der romantischen Entwicklung . . . . . . . . . . . 137 Psychoanalytische Konzeptionen: Wie entwickeln sich romantische Beziehungen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Entwicklungspsychologische Phasenmodelle: Theorien und empirische Belege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Romantische Beziehungen zur Erreichung emotionaler Autonomie von den Eltern . . . 142 Der »Aufstieg« des romantischen Partners in der Beziehungshierachie . . . . . 142 4-Phasen-Modell der romantischen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Unterschiedliche Bindungen an die Eltern und ihr Einfluss auf die Qualität von Liebesbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . 145 Enge Beziehungen: Risiko oder Ressource? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Unterstützung und Verführung. . . . . . . . . 147 Self-handicapping: Kann man auch zu viel emotionale Kompetenz haben?. . . . . . 148
5.3 5.4
88
Symbole und Phantasien in der Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Die Macht der inneren Bilder . . . . . . . . . . 94 Phantasie und Aggression . . . . . . . . . . . 94 Entwicklungspsychologische Grundlagen: Phantasie, Spiel und Kreativität . . . . . . . 95 Entwicklung des Spiels . . . . . . . . . . . . . . 95 Kreativitätsentwicklung . . . . . . . . . . . . . 97 Trauma, Verlust und Phantasie . . . . . . . . 98 Traumatische Erfahrungen . . . . . . . . . . . 98 Veränderungen von Spiel, Kreativität und Phantasie durch Traumata . . . . . . . . . . . . 99 Phantasie und Bindung oder Phantasie und Verlust? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Hilfreiche und tröstliche Phantasien . . . . 102 Der Familienroman . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Rettungsphantasien. . . . . . . . . . . . . . . . 103 Der imaginäre Gefährte . . . . . . . . . . . . . 104 Kreative Tätigkeiten: Malen und Schreiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Tagebuchschreiben zwischen Abwehr und Wunscherfüllung. . . . . . . . . . . . . . . 106 Malen: Der leere Raum wird gefüllt . . . . . . 109 Kunst und depressive Position . . . . . . . . . 110 Theoretische Weiterentwicklungen: Übergangsraum und Übergangsobjekt . . 111 Übergangsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Übergangsobjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
4.6
5.1
78 79
4.1
4.5
Freunde und romantische Partner als »Entwicklungshelfer« . . . . . . . . . . 117
5.2
80 80 82 85
»Das Chaos ordnen«: Die Bedeutung von Märchen . . . . . . . . . 113 Umsetzung im therapeutischen Raum: Geschichten und der Übergangsraum des Vorlesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
5
73 75
Phantasien, Symbolisierungen und Kreativität als Ressourcen . . . . . . . . . 91
4.4
4.9
68
4
4.2 4.3
4.8
5.5
5.6
5.7
5.8
5.9
IX
Inhaltsverzeichnis
6
Familiäre Entwicklungsprozesse im Beziehungskontext . . . . . . . . . . . 151
6.1
Familie früher und heute. . . . . . . . . . . Historische Perspektiven: Was ist eine »Familie«? . . . . . . . . . . . . . Familiärer Wandel in der Nachkriegszeit bis heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Familienentwicklung über die Lebensspanne . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entwicklung des Paares: Bindungsfähigkeit und Nähe-DistanzRegulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beziehungsarbeit und Nähe-DistanzRegulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bindungsfähigkeit in Partnerschaften . . . Familiendynamische Veränderungen durch die Ankunft des ersten und zweiten Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Übergang zur Elternschaft . . . . . . . . Der Übergang von der Dyade zur Triade . . Die Veränderungen in der Partnerschaft . . Konflikte zwischen den Generationen . . . Die Beziehungsgestaltung zwischen Eltern und Kind . . . . . . . . . . . . . . . . . . Familiendynamische Veränderungen durch die Ankunft des zweiten Kindes . . . Familien mit Latenzkindern: Eine Phase relativer Stabilität . . . . . . . . Im Fokus: Die Schule . . . . . . . . . . . . . . Balance zwischen Paar- und Elternebene . Elterliches Stressniveau, Paarkonflikte und kindliche Verhaltensauffälligkeiten . . . . . Familienturbulenzen während der Adoleszenz der Kinder . . . . . . . . . . . . Aushandeln von Autonomie durch Zunahme von Konflikten. . . . . . . . . . . . Der Jugendliche initiiert die Veränderungen in der Beziehung . . . . . . Verschlechterung des mütterlichen Wohlbefindens . . . . . . . . . . . . . . . . . . Familiärer Interaktionsstil und Weiterentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . Die Kinder verlassen das Elternhaus: »Leeres Nest« oder »Hotel Mama«? . . . . Wandel der Eltern-Kind-Beziehung: Ungleiche Interessenlage . . . . . . . . . . . Das Ende der aktiven Elternschaft: Das »leere Nest« . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzögerter Auszug der jungen Erwachsenen: »Hotel Mama« . . . . . . . . . Die Neuformulierung der elterlichen Paarbeziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krisenhafte Entwicklungen . . . . . . . . . . Paare im Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neue Aufgaben: Großelternschaft . . . . . . Veränderungen durch die Pensionierung . Höhere eheliche Zufriedenheit oder Scheidung nach langjähriger Ehedauer? . .
6.2 6.3
6.4
6.5
6.6
6.7
6.8
. 152
6.9
. 152 . 153
Psychotherapie im Alter . . . . . . . . . . Auseinandersetzung mit Alter und Tod. Präventions- und I nterventionsprogramme. . . . . . . . . Familiäre Risikofaktoren . . . . . . . . . . Interventionen in frühen Phasen der Familienentwicklung . . . . . . . . . . . .
. . . 185 . . . 186 . . . 186 . . . 187 . . . 188
. 157
7
Väter: Notwendig, überflüssig oder sogar schädlich für die Entwicklung ihrer Kinder? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
. 160
7.1
. 161 . 163
7.2
Der Körper des Kindes und die Beziehung zum Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Perspektivenwechsel in der Vaterforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Phase 1: Peripherer Status des Vaters . . . . . 196 Phase 2: Vergleich mit der Mutter . . . . . . . 196 Phase 3: Distinktive Charakteristiken des Vaters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Die »Passung« mit psychoanalytischen Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Die distinktive Funktion von Vätern . . . . . 200 Väter von kleinen Kindern: Die »etwas andere Bindung« . . . . . . . . . . 200 Die Spielfeinfühligkeit des Vaters . . . . . . . 201 Väter und Schulkinder: Das Kamikaze-Spiel 202 Väter und Jugendliche: Das Modell für Autonomie. . . . . . . . . . . . 203 Väter und erwachsene Kinder. . . . . . . . . . 204 Differenzerfahrungen: Unterschiedliche Rollen von Müttern und Vätern. . . . . . . . 205 Väter und Töchter, Väter und Söhne . . . . . 207 Der Sohn als »Spiegel des Vaters«?. . . . . . . 207 »Daddy’s little girl …« . . . . . . . . . . . . . . . 209 Verschiedene Typen von Vätern . . . . . . . 211 Die »neuen Väter« . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Der »Disneyland-Daddy« . . . . . . . . . . . . . 212 Der »Sag-du-doch-mal-was!«-Vater . . . . . . 213 Väter und Psychopathologie ihrer Kinder 216 Väter in psychotherapeutischen Behandlungen: »Make room for daddy!«. . 217 Väter von Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Typische Behandlungsprobleme . . . . . . . . 219
. 164 . 164 . 165 . 166 . 167
7.3 7.4
. 167 . 168 . 169 . 170 . 170
7.5
. 171
7.6
. 171 7.7 . 171 . 174 . 175
7.8 7.9
. 175 . 177
8
Geschwisterbeziehungen zwischen Verbundenheit und Individuation . . . . 223
8.1
Geschwister: Ein vergessener Beitrag zur Beziehungsentwicklung und Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . Mit Geschwistern aufwachsen: Realität und Phantasie . . . . . . . . . . . Einflüsse von Alter, Altersabstand und Geschlecht der Geschwister . . . . . . . . Bedeutung und Funktion von Geschwistern im Familienverband. . . . Unterschiede zwischen Geschwistern: Die Nischenspezialisierung . . . . . . . . Krankheit des Geschwisters: Ein Risikofaktor? . . . . . . . . . . . . . . .
. 178 . 178 . 179
8.2
. 181 . 181 . 182 . 182 . 183
8.3
. 184
8.6
8.4 8.5
. . 224 . . 225 . . 227 . . 228 . . 230 . . 233
X
8.7 8.8
8.9
9
Inhaltsverzeichnis
Veränderungen der Geschwisterbeziehungen über die Lebensspanne. . . Unterschiedliche Rollen und Funktionen von Geschwisterbeziehungen . . . . . . . Der Helfer und Lehrer . . . . . . . . . . . . . . Der Gehasste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Beneidete. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Rivale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Elternersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Sündenbock . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Verführer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der erotische Partner . . . . . . . . . . . . . . Der Ersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursachen für die vernachlässigte Geschwisterbeziehung in Psychotherapien . . . . . . . . . . . . . .
. 236 . 238 . 239 . 240 . 241 . 242 . 243 . 244 . 244 . 245 . 246
. 247
Ressourcenorientierung . . . . . . . . . . 251 Komplexe Beziehungsmuster: Triadische Beziehungen . . . . . . . . . . . . . Kontinuitäten, Gefahren und integrative Leistungen . . . . . . . . . . . . . . Respekt vor dem kompetenten Individuum, der kompetenten Familie . . . . . . . . . . . . Von der Defizitorientierung zur Ressourcenorientierung . . . . . . . . . . . Botschaften, die erhört werden wollen . . . . »Dezentrierung« als Burn-out-Prophylaxe . .
10
252 252 253 254 255 255
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Sachverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
1 Entwicklungspsychologie und Psychotherapie: Zwei »feindliche Schwestern«? 1.1
Berührungspunkte in den Anfängen – 2
1.2
Erste Annäherungen: Freuds Beitrag zur Entwicklungspsychologie
–4
1.3
Vorstellungen über die Entwicklung in der frühesten Kindheit: Von Freud zu Mahler – 5
1.4
Veränderungen in der psychoanalytischen Entwicklungstheorie über die Zeit – 14
1.5
Psychoanalyse und Entwicklungspsychologie
1.6
Unterschiede in den Konzepten: Vom rekonstruierten zum kompetenten Säugling – 20
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Integrative Ansätze – 23
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Kapitel 1 · Entwicklungspsychologie und Psychotherapie: Zwei »feindliche Schestern«?
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Spätestens seit den 80er Jahren, mit der Gründung der neuen Disziplin der Entwicklungspsychopathologie wurde deutlich, in welch enger Wechselbeziehung »normale« und pathologische Entwicklungsprozesse stehen. Es brauchte in der Tat einige Jahrzehnte, bis sich die Erkenntnis durchsetzte. »(…) that we can learn more about the normal functioning of an organism by studying it’s pathology and, likewise, learn more about it’s pathology by studying it’s normal condition« (Cicchetti 1984, S. 1). Die Entwicklungspsychologie bzw. Entwicklungspsychopathologie verfügt über eine Fülle von Erkenntnissen über Entstehungsbedingungen gestörter Entwicklung; diese werden aber immer noch zu wenig in Behandlungskonzepte eingebracht (Seiffge-Krenke 2007a). Die Psychotherapie andererseits hat ein umfangreiches Interventionswissen und einen reichen Erfahrungsschatz aus Behandlungen, der in der Entwicklungspsychologie wiederum kaum zur Kenntnis genommen wird. An diesen disparaten Entwicklungen scheint sich erst in jüngster Zeit etwas zu ändern (Bucci 1997; Oerter et al. 1999). Kapitel 1 beschreibt schwerpunktmäßig theoretische Konzeptionen von Entwicklung. Ausgangspunkt ist eine Übersicht über Entwicklungskonzeptionen aus der Sicht der Psychotherapie, die mit der Sicht der Entwicklungspsychologie kontrastiert werden. In weiteren Kapiteln des Buches werden dann immer wieder bestimmte Konzeptionen aufgegriffen und vertieft.
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1.1
Berührungspunkte in den Anfängen
In der Tat sind die Berührungspunkte in den verschiedenen theoretischen Konzeptionen von Entwicklung kaum aufgearbeitet worden. Dies ist in Bezug auf verhaltenstherapeutische Ansätze nicht weiter verwunderlich, da eine eigentliche Entwicklungskonzeption hier nicht existiert. Für die rund 100 Jahre bestehende psychoanalytische Entwicklungstheorie ist es dagegen erstaunlich. In der Entwicklungspsychologie wurde nur die Konzeption von Freud rezipiert, während andere namhafte Vertreter nicht wahrgenommen wurden. Wir beginnen mit den historischen Wurzeln und einigen auffälligen, allerdings nicht genutzten Chancen zur Kooperation zwischen Psychoanalyse und Entwicklungspsychologie. Entwicklungspsychologie und Psychoanalyse haben sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in enger räumlicher Nähe entwickelt. In den Jahren von 1923 bis 1938 machten das Ehepaar Bühler (. Abb. 1.1) sowie Hildegard Hetzer das Wiener Psychologische
Institut zu einem Mittelpunkt internationaler kinder- und jugendpsychologischer Forschung (Hetzer 1982). Die Forschungsarbeiten zeichneten sich durch große Lebensnähe und methodische Vielfalt aus. So wurden u. a. Experimente durchgeführt, Tagebücher und Märchen analysiert sowie Beobachtungen an Kindern und Jugendlichen in natürlichen Kontexten gemacht. Dabei wurden sowohl Kinder und Jugendliche aus normalen Entwicklungskontexten als auch solche, die unter belastenden Bedingungen aufwuchsen, untersucht. Hier sind insbesondere die Arbeiten von Hildegard Hetzer über »Das volkstümliche Kinderspiel« aus dem Jahre 1927 und die 1929 erschienene Monographie »Kindheit und Armut« zu nennen. Hildegard Hetzer war zunächst als Hortnerin bei der Stadt Wien angestellt, wo sie insbesondere Mädchen aus der Unterschicht betreute. Sie hatte entscheidenden Anteil an der gesamten experimentellen Beobachtungsarbeit am Wiener Institut und leitete ein methodisch einzigartiges Projekt, die 24-Stunden-Dauerbeobachtung von 60 Säuglin-
1.1 Berührungspunkte in den Anfängen
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. Abb. 1.1. Charlotte Bühler
gen. Der Kleinkindertest (. Abb. 1.2) von Charlotte Bühler und Hildegard Hetzer aus dem Jahre 1932, der den Entwicklungsstand von Kindern im Alter von einem Monat bis 6 Jahre erfasst, enthält viele einfallsreiche Aufgaben zur Erfassung von Fertigkeiten in Alltagssituationen und macht eine gezielte Diagnose des Entwicklungsstandes bzw. von Entwicklungsverzögerungen möglich. Damals wurden auch schon die ersten Beobachtungen zum Hospitalismus angestellt. In diesem Zeitabschnitt machte auch eine andere kinderpsychologische Richtung von sich reden. Anna Freud hatte 1927 die »Einführung in die Technik der Kinderanalyse« geschrieben. Berühmt geworden ist ihr Fall des »Teufelsmädchens«, in dem sie ihr Vorgehen bei der Kinderanalyse erläutert. Danach besteht das Ziel der psychoanalytischen Arbeit mit Kindern darin, unbewusste Vorgänge bewusst zu machen. Ihre Gegenspielerin war Melanie Klein, deren Schriften zur Behandlungstechnik in der Kinderpsychoanalyse in den Jahren 1920 bis 1926 erschienen. Beide Frauen arbeiteten zunächst in Wien und verbrachten später den größeren Teil ihres beruflichen Lebens in London, wo sie eigene kinderanalytische Schulen gründeten (Seiffge-Krenke 2007a). Zum gleichen Zeitpunkt entstanden auch zahlreiche kinderanalytische Arbeiten anderer Autoren, und Wien wurde durch die Tätigkeit von Maria Montessori, August Aichhorn und Siegfried Bernfeld ein Zentrum der psychoanalytischen Pädagogik. Trotz der offenkundigen räumlich-zeitlichen Nähe und eines starken Praxisbezugs gab es nur wenige Berührungspunkte zwischen der entwick-
. Abb. 1.2. Kind bei der Bearbeitung einer Aufgabe aus dem Kleinkindertest
lungspsychologischen und kinderanalytischen Schule (Hetzer 1982). Für die Entwicklungspsychologie waren die Arbeiten von Freuds Schülern, die sich mit kleinen Kindern beschäftigten, nicht von Bedeutung. Zur Kenntnis genommen wurden lediglich die Arbeiten Sigmund Freuds selbst. An dieser Fokussierung auf den Begründer der Psychoanalyse hat sich in den vergangenen Jahrzehnten wenig geändert. Freud wurde – allerdings mit einer ziemlichen zeitlichen Verzögerung – etwa seit den 50er und 60er Jahren von Entwicklungspsychologen rezipiert. Der stimulierende Einfluss seiner Theorien und Annahmen war enorm, es ist allerdings auffällig, dass andere wichtige Theoretiker der psychoanalytischen Entwicklungstheorie, die u. a. für dieses Buch Pate standen, bis heute nicht zur Kenntnis genommen wurden. Wir wol-
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Kapitel 1 · Entwicklungspsychologie und Psychotherapie: Zwei »feindliche Schestern«?
len daher im Folgenden – beginnend mit Sigmund Freud – einen etwas umfassenderen Einblick in die psychoanalytischen Entwicklungstheorien geben (Seiffge-Krenke 1997a).
1.2
Erste Annäherungen: Freuds Beitrag zur Entwicklungspsychologie
Freuds Beitrag zur Entwicklungspsychologie ist v. a. konzeptioneller Art und umgreift die Entwicklung in den ersten fünf Lebensjahren und deren Auswirkungen auf die Entwicklung im Erwachsenenalter. Charakteristisch sind die Komplexität seines Ansatzes und die starke prädiktive Kraft, die dem Entwicklungsgeschehen in der Kindheit für die Entwicklung im Jugend- und Erwachsenenalter zukommt. Freud hat einen Theorienkomplex geschaffen, der aus verschiedenen Einzeltheorien besteht, so u. a. den Vorstellungen vom psychischen Apparat, der psychoanalytischen Entwicklungslehre, dem psychoanalytischen Krankheitsmodell und der Trieblehre. Freuds Anschauungen entwickelten sich während seines langen und produktiven Lebens ständig weiter. Wir wollen zunächst einige wichtige Grundgedanken streifen, die für die Entwicklungspsychologie von großer Bedeutung waren, um danach verstärkt auf seine Entwicklungskonzeption einzugehen. Für Freud ist Bewusstsein nur ein geistiger Zustand; ein großer Teil der tatsächlichen Wünsche und Antriebe des Menschen, also auch des kleinen Kindes, sind unbewusst. Die psychische Struktur besteht aus drei Instanzen: dem Es (den triebhaften Bestrebungen), dem Ich (dem Vermittler zwischen Triebansprüchen und Umweltanforderungen) und dem Über-Ich (dem Repräsentanten der gesellschaftlichen Normen und Verbote), die sich im Laufe der ersten Lebensjahre auseinanderdifferenzieren und verschiedene Funktionen haben. Charakteristisch für die Freudsche Phasenlehre ist, dass in jeder Entwicklungsphase drei miteinander verbundene Lernprozesse erfolgen (7 Übersicht).
Interaktion zwischen verschiedenen Lernprozessen in den einzelnen Entwicklungsphasen nach Freud 5 Veränderungen in den Objektbeziehungen 5 Verschiebungen in den Körperzonen für sexuelle Befriedigung 5 Ausdifferenzierung von Instanzen
Im Alter von 5 Jahren sind diese komplexen Lernprozesse abgeschlossen, spätere Lernprozesse betreffen die Ich-Ideal-Bildung und das Erreichen einer reifen Genitalität in der Adoleszenz. Phasenlehre und Krankheitsmodell stehen in enger Beziehung. Die Vorgeschichte der Neurose eines Erwachsenen – von Freud als partielle Entwicklungsstörung definiert – reicht bis in die frühkindliche Entwicklung zurück. Es handelt sich in der Regel um einen aktuellen Konflikt, der einen dahinter liegenden latenten früheren Konflikt reaktiviert. Zu einer neurotischen Störung kommt es, weil ein Trauma (d. h. ein die individuelle Verarbeitungskapazität überschreitender Reiz) nicht adäquat bewältigt werden kann. Je nach Zeitpunkt der schädigenden Noxe unterscheidet Freud zwischen präödipalen und ödipalen Neurosen. Die Merkmale der Symptombildung stellen einen Kompromiss dar, der alle drei Instanzen befriedigt und auf pathologischer Ebene ein gewisses Maß an Triebbefriedigung zulässt. Es war eine der einflussreichsten Thesen von Freud, dass ein Kontinuum zwischen »normal« und »abnorm« besteht. Für Freud war Entwicklung v. a. psychosexuelle Entwicklung. Es wird jedoch häufig übersehen, dass diese aus der Sicht Freuds untrennbar mit Entwicklungen im Beziehungsbereich und mit kognitiven Lernprozessen verbunden war. Psychosexuelle Entwicklung vollzieht sich nach Freud in mehreren Stufen, in denen – wie erwähnt – nicht nur das Objekt der Triebbefriedigung wechselt, sondern auch eine jeweils charakteristische Art der Objektbeziehung besteht und sich die Instanzen ausbilden. Die erwachsene Sexualität ist so aus infantilen Vorstufen entstanden, die später unter dem Primat der Genitalität integriert werden. Freuds Theorie der Verführung wurde in der Entwicklungspsychologie verstärkt beachtet, als
1.3 Vorstellungen über die Entwicklung in der frühesten Kindheit: Von Freud zu Mahler
sich vor etwa 20 Jahren die Missbrauchs-Forschung entwickelte. Die infantilen Sexualtheorien (Freud 1905) erklären die Vorstellung, die kleine Kinder über die Zeugung und den Geburtsvorgang haben. Die Traumanalyse (Freud 1900) wurde in wesentlichen Punkten an der Analyse von Kinderträumen festgemacht. Die prägenden Einflüsse früher traumatischer Erfahrungen wurden dann in der Folge durch Arbeiten mit bildgebenden Verfahren, z. B. in der Neuropsychoanalyse (Kaplan-Solms u. Solms 2005), bestätigt. Später haben die Ich-Psychologie und die Objektbeziehungstheorie die Bedeutung der Sexualität abgeschwächt, die Universalität des Ödipuskomplexes angezweifelt und die Bedeutung der Umwelt bei der Entwicklung des Kindes und der Entstehung von Neurosen unterstrichen.
1.3
Vorstellungen über die Entwicklung in der frühesten Kindheit: Von Freud zu Mahler
Die psychoanalytische Entwicklungstheorie ist kein einheitliches Theoriegebäude. Seit Sigmund Freud 1905 mit seiner Schrift »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« die psychoanalytische Entwicklungstheorie begründete, sind über 100 Jahre vergangen. Namhafte Psychoanalytiker haben sich seither bemüht, Licht in die innerpsychischen Vorgänge zu bringen, speziell in die der frühen und frühesten Kindheit. Das größte Verdienst Freuds liegt sicher darin, dass er Entwicklungspsychologen wie kaum ein anderer Autor angeregt und ihnen eine Fülle von Hypothesen zur Erklärung menschlichen Verhaltens liefert. Viele seiner Ideen und Beobachtungen sind später in die Entwicklungspsychologie eingeflossen und haben Anstöße zu empirischen Untersuchungen gegeben. Die Beiträge anderer namhafter Psychoanalytiker sind dagegen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – kaum beachtet worden. Wir wollen unter ihnen einige führende Vertreter herausgreifen, auf die auch im Verlaufe dieses Buches immer wieder eingegangen werden wird. Obwohl in den Arbeiten von Melanie Klein, Anna Freud, René Spitz, Donald Winnicott und Margaret Mahler die methodische Vorgehensweise Freuds mehr oder weniger stark erweitert wurde, wies
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deren Vorgehen spezifische Akzentsetzungen auf, die wiederum zu Unterschieden in den Konzepten führten. Im Folgenden werden die besonderen Beiträge dieser Theoretiker dargestellt; dabei arbeiten wir jeweils den theoretischen Schwerpunkt, den methodischen Ansatz und die Datenbasis heraus, die das Bild vom Säugling und Kleinkind entsprechend beeinflussten.
Das Bild des Säuglings und Kleinkindes bei Freud Freud (. Abb. 1.3) hatte als Erster die besondere Bedeutung der frühen Kindheit für die weitere psychische Entwicklung des Menschen erkannt. Zur Entwicklung des Neugeborenen und des wenige Wochen und Monate alten Säuglings finden sich in seinem Theoriegebäude allerdings nur wenige Äußerungen. Dies hängt damit zusammen, dass er sich auf den gerade entdeckten Kernkonflikt, den Ödipuskomplex, konzentrierte und in seinem therapeutischen Vorgehen, der »talking-cure«, die in diesem Zusammenhang verdrängten Phantasien aufzudecken versuchte. Das präverbale Erleben war so nicht zugänglich und konnte entsprechend nicht konzeptualisiert werden. Freud hat bekanntlich niemals ein Kind behandelt – auch der Kleine Hans wurde durch Gespräche mit seinem Vater therapiert – und bildete seine Theorie der Entwicklung von Kindern überwiegend aus Erfahrungen in der Behandlung erwachsener Neurotiker (Stork 1986).
. Abb. 1.3. Sigmund Freud
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Kapitel 1 · Entwicklungspsychologie und Psychotherapie: Zwei »feindliche Schestern«?
Zugang zur Entwicklung: Therapie Erwachsener Freuds Zugang zu entwicklungspsychologischem Material, also zu einer Theorie der normalen Entwicklung, stammt fast ausschließlich aus der Psychoanalyse von Erwachsenen, teilweise sehr schwer gestörter Menschen. Er ist sich dabei durchaus darüber im Klaren, dass es sich bei den so gewonnenen entwicklungspsychologischen Aussagen lediglich um Annahmen (er spricht von »Konstruktionen«) handelt.
In seinem Phasenmodell der Entwicklung unterscheidet er eine erste, so genannte orale Phase, in der die primäre Lusterfahrung an den Mund gekoppelt, also eng mit der Nahrungsaufnahme verbunden ist. Freud weist darauf hin, dass die Einverleibung des Objekts (in diesem Fall der Brust) ein Vorbild für die spätere Objektbeziehung darstellt. Er unterscheidet – wie auch bei den übrigen Phasen der infantilen Entwicklung – zwischen einer aggressiven und einer erotischen Bestrebung. Für die darauf folgende anale Phase ist charakteristisch, dass der Anus die Mundschleimhaut als führende erogene Zone ablöst. Wiederum wird zwischen sadistischen und erotischen Anteilen unterschieden, wobei für diese Entwicklungsphase generell die Ambivalenz besonders herausragend ist. In der ödipalen Phase steht für beide Geschlechter der Phallus als Symbol für narzisstische Integrität im Zentrum. Die Entwicklung in der ödipalen Phase wurde von Freud aus der Sicht des kleinen Jungen beschrieben und für kleine Mädchen in Analogie konstruiert. Für beide Geschlechter sind Penisneid und Kastrationsangst neben dem starken Interesse am gegengeschlechtlichen Elternteil zentrale Themen dieser Phase. Freud hat später darauf hingewiesen, dass diese drei Phasen psychosexueller Entwicklung einander überlagern und teilweise nebeneinander bestehen können (Freud 1928). Ein weiteres wichtiges Konzept aus den Ansätzen einer psychoanalytischen Entwicklungstheorie ist das Konzept des Reizschutzes, welches Mechanismen beschreibt, über die der Säugling zur Aufrechterhaltung eines stabilen Gleichgewichts ver-
fügt (Esman 1991). Dieses Konzept war 1920 in seiner Schrift »Jenseits des Lustprinzips« eingeführt worden. In der Freudschen Konzeption der frühesten Kindheit finden sich neben der Entwicklung der Sexualität erste Ansätze einer Objektbeziehungstheorie. In diesem Zusammenhang ist die Theorie des primären Narzissmus zu sehen: Während Freud ursprünglich, d. h. 1905, davon ausging, dass das Kind bereits in den ersten Wochen seines Lebens zur Objektliebe fähig ist, der später – im Stadium des Autoerotismus – eine Abwendung vom und danach eine erneute Zuwendung zum Objekt folgen, formulierte er 1914 das Konzept des primären Narzissmus, welches besagt, dass ursprünglich ein subjektiver Zustand der Ungetrenntheit zwischen Mutter und Kind besteht. Das Bild des Säuglings und Kleinkindes stellt sich bei Freud demnach folgendermaßen dar: 5 Im 1. Lebensjahr und während der ersten Hälfte des 2. Jahres (orale Phase) erfolgt der Lustgewinn über die Lippen und die Mundschleimhaut. Die Entwicklung der Objektbeziehung durchläuft in dieser Zeit eine Phase des Autoerotismus, eine Phase des primären Narzissmus sowie eine Phase der Liebe zum Teilobjekt. Erste Differenzierungen zwischen Es und Ich setzen ein. 5 Ab der zweiten Hälfte des 2. Lebensjahres bis zum 3. Lebensjahr (anale Phase) erfolgt der Lustgewinn über die Afterschleimhaut und zunehmend auch über die Extremitätenmuskulatur. In der Entwicklung der Objektbeziehungen findet der Übergang von den Teilobjektbeziehungen zur Besetzung des Objekts als Ganzes statt. Gravierende Fortschritte in den Ich-Funktionen (Laufen, Sprechen, Realitätsprüfung) begleiten diese Entwicklung. 5 Entscheidende Weiterentwicklungen finden in der ödipalen Phase statt, die etwa zwischen dem 3. und 5. Lebensjahr angesiedelt ist. Die sexuelle Identität des Kindes wird hier wesentlich durch Identifizierung mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil bestimmt. Eine neue Instanz, das Über-Ich, ist das »Erbe des Ödipuskomplexes«. Es wird deutlich, dass die Einführung des Vaters zu einer gravierenden Veränderung des familiären Binnenklimas führt (7 Kap. 7).
1.3 Vorstellungen über die Entwicklung in der frühesten Kindheit: Von Freud zu Mahler
Das Bild des Säuglings und Kleinkindes bei Anna Freud
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. Abb. 1.4. Anna Freud
Anna Freud (. Abb. 1.4) hat die klassische Theorie der frühkindlichen Entwicklung, wie ihr Vater Sigmund Freud sie konzipiert hat, in entscheidendem Maße weiterentwickelt. In ihrem 1965 erschienenen Buch »Normality and pathology in childhood« (dt. 1982) fasst sie ihre Weiterentwicklungen zusammen, wobei Theorie und Praxis eng miteinander verwoben sind. Zugang zur Entwicklung: Beobachtung und Therapie Anna Freud ist zu ihrem Bild vom Säugling und Kleinkind auf zwei verschiedenen Wegen gekommen: einmal über Erfahrungen aus der von ihr entwickelten Psychoanalyse von neurotischen Kindern und zum anderen über die direkte Beobachtung von neurotischen und normalen Kindern. Sowohl das klinische als auch das Beobachtungsmaterial stammen im Wesentlichen aus ihrer Arbeit und der ihrer Mitarbeiter der Hampstead Nurseries und der Hampstead Child Therapy Courses und wurden im Hampstead Index systematisiert, der allgemeine Informationen über ein Kind (z. B. äußere Lebensbedingungen, Entwicklung des Kindes, Familiengeschichte) sowie analytische Einzelbefunde (Objektbeziehungen, Ich- und Über-lch-Entwicklung, Abwehrmechanismen u. Ä.) zusammenfasst. Kinder in Extremsituationen (im Waisenhaus, in Konzentrationslagern, Kinder, die den Tod der Eltern erlebten; z. B. A. Freud u. Bergmann 1977; A. Freud 1979) wurden von ihr ebenfalls beobachtet und untersucht.
Anna Freuds Beitrag zur Theorie einer normalen Kinderentwicklung beruht nicht auf Rekonstruktionen aus der Analyse erwachsener Patienten, da »bei der Rekonstruktion aufgrund von Erwachsenenanalysen die Pathologie unweigerlich zuviel Gewicht auf Kosten normaler entwicklungsbedingter Geschehnisse bekommt« (A. Freud 1965/1982, S. 2708).
Der Hampstead-lndex stellt – zusammen mit dem Konzept der Entwicklungslinien – den wesentlichsten Versuch Anna Freuds dar, neue Wege in der psychoanalytischen Forschung zu gehen. Einen Forschungsschwerpunkt Anna Freuds bildet die Ich-Entwicklung. Sie beschreibt, wie das Neugeborene bzw. der Säugling seine körperlichen und psychischen Bedürfnisse anmeldet und wie die Mutter diese erste »Sprache« des Säuglings richtig deutet und beantwortet. Die Idee der halluzinatorischen Wunscherfüllung ihres Vaters aufgreifend, beschreibt sie, wie der Säugling durch häufiges Wiederholen der Sequenz »eigenes Schreien« und »Erscheinen des realen Objekts« allmählich lernt, zwischen dem inneren Vorstellungsbild und einem Objekt in der Außenwelt zu unterscheiden. Diese neue Fähigkeit, zwischen der äußeren Realität und den inneren Vorstellungen zu unterscheiden, ist »einer der wichtigsten Fortschritte in der psychischen Entwicklung des Säuglings« (A. Freud 1953, S. 1544). Sie hat somit das Konzept der Realitätsprüfung, das bereits von Sigmund Freud eingeführt worden war, in seiner Anwendbarkeit in der frühen Kindheit überprüft. Anna Freud beschreibt die Entwicklung weiterer Ich-Funktionen, wie die Erinnerung und die Trennung zwischen Selbst und Objekt. Das Neugeborene und der ganz junge Säugling erleben sich noch nicht als eine von der Mutter getrennte Einheit. Nach Anna Freud ist das erste innere Bild ein Körperbild, das im Laufe des 1. Lebensjahres erworben wird. Die Ich-Entwicklung im 2. Lebensjahr ist im Wesentlichen charakterisiert durch den allmäh-
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Kapitel 1 · Entwicklungspsychologie und Psychotherapie: Zwei »feindliche Schestern«?
lichen Übergang vom Lustprinzip zum Realitätsprinzip, vom Primärvorgang zum Sekundärvorgang. Nach Anna Freud ist eine wesentliche Aufgabe der Mutter, das Schreien des Neugeborenen bzw. des Säuglings intuitiv richtig zu deuten und angemessen darauf zu reagieren. Dies entspricht der Konzeption Winnicotts (1960a), der zufolge der Säugling in den ersten Wochen und Monaten seines Lebens auf die Einfühlungsfähigkeit seiner Mutter angewiesen ist. Ohne ihre Intuition und Fürsorge ist eine gesunde Entwicklung des Kindes undenkbar. Im Laufe des 1. Lebensjahres erfährt die Mutter-Kind-Beziehung eine allmähliche Weiterentwicklung: Das Kind schreitet von einer narzisstischen zu einer objektgerichteten und konstanten Beziehung fort. In ihrem Konzept der Entwicklungslinien (A. Freud 1965/1982) gibt sie Beispiele einzelner Entwicklungsreihen, deren Schicksale von ihren Anfängen in der frühesten Kindheit bis zur reifen Ausformung im Erwachsenenalter beschrieben werden, wobei die Entwicklungsabfolgen der Triebentwicklung und Über-Ich-Bildung sowie der Objektbeziehungen integriert werden. Die besondere Bedeutung dieses Konzepts liegt in seiner Veranschaulichung durch zahlreiche Beispiele aus der frühesten Kindheit und einer erstmaligen Aufstellung einer Chronologie von Entwicklungsprozessen. Eine typische Entwicklungslinie verläuft von der infantilen Abhängigkeit zum erwachsenen Liebesleben. Ein Blick auf die Entwicklungslinien zeigt, dass Trennungen auf jeder Entwicklungsstufe eine andere Bedeutung haben. Werden Mutter und Kind in der Phase der biologischen Einheit voneinander getrennt, gleichgültig aus welchem Anlass, lassen sich beim Kind Ausbrüche von Trennungsangst und Trennungsschmerz nachweisen. Je sicherer und konstanter sich die Objektbeziehungen des
Kindes verankert haben, d. h. je unabhängiger sie von der körperlichen Anwesenheit oder Abwesenheit der betreffenden Person und den von ihr ausgehenden Befriedigungen sind, desto länger können Trennungen dauern, ohne traumatische Wirkung zu haben. Hier geben die verschiedenen Stationen auf der Entwicklungslinie die notwendigen Auskünfte über die voraussichtliche Wirkung von Klinikaufenthalt, Abwesenheit der Eltern, Eintritt in den Kindergarten etc., für die das chronologische Alter des Kindes nie maßgebend sein kann. (A. Freud 1965/1982, S. 70)
Das Bild des Säuglings und Kleinkindes bei Melanie Klein
Zugang zur Entwicklung: Analysen von Kleinkindern Melanie Kleins Konzept der frühen psychischen Entwicklung beruht auf der psychoanalytischen Arbeit mit schwer gestörten Kindern. Grundlage ihrer Konzeption waren zahlreiche Kinderanalysen, darunter auch Analysen von Zweijährigen.
Das Werk Melanie Kleins (. Abb. 1.5) ist in der internationalen psychoanalytischen Bewegung äußerst kontrovers beurteilt worden. Die ab 1927 mit der Veröffentlichung von Anna Freuds Buch »Einführung in die Technik der Kinderanalyse« auf das heftigste geführte Auseinandersetzung zwischen Anna Freud und Melanie Klein über Probleme des technischen Vorgehens in der Kinderanalyse hat schließlich zu einer Entwicklung getrennter Schulen geführt (King u. Steiner 2000).
Die Anna-Freud-Melanie-Klein-Kontroverse Anna Freud, die der Auffassung war, dass kleine Kinder unanalysierbar und auch ältere Kinder nicht fähig seien, eine Übertragungsneurose zu entwickeln, wie man sie aus der Analyse Erwachsener kennt, modifizierte die klassische Behandlungsmethode so, dass sie ihr für Kinder anwend-
bar erschien. Melanie Klein hingegen postulierte, dass bereits Kinder im Alter von 2 Jahren fähig seien, eine Übertragungsneurose zu entwickeln; sie wandte daher in der Kinderanalyse die klassische Methode des Deutens an, insbesondere die 6 Symboldeutung (Frank 1999).
1.3 Vorstellungen über die Entwicklung in der frühesten Kindheit: Von Freud zu Mahler
Während Anna Freud mehr das reale Erleben und das Ich des Kindes in den Vordergrund ihrer Überlegungen stellte, orientierte sich Melanie Klein an den unbewussten Phantasien. Ihre therapeutische Vorgehensweise ist charakterisiert durch eine spezielle Variante der Spieltechnik. Um unbewusste Prozesse zu verstehen, fasst Klein alles, was das Kind im Spiel ausdrückt, als ein Äquivalent für die freie Assoziation auf, also als eine Symbolisierung unbewusster psychischer Geschehnisse. Damit werden auch Handlungen, die man
Melanie Kleins Konzeption der Entwicklung im 1. Lebensjahr unterteilt die orale Phase in eine paranoid-schizoide und eine depressive Position. 5 Die paranoid-schizoide Position umfasst die ersten 3–4 Monate des Lebens. Der Name dieser Position soll auf die Tatsache hinweisen, dass die Hauptängste des Säuglings während dieser Zeit Verfolgungsängste sind und die wichtigsten Abwehrmechanismen auf einer Spaltung beruhen. Das Kind nimmt lediglich einen Teilaspekt der Mutter wahr und hat so eine Beziehung zum Teilobjekt. 5 Die depressive Position beginnt etwa im 4. Lebensmonat und zeichnet sich in erster Linie durch die Beziehung zum Gesamtobjekt aus, d. h., das Kind erkennt nun seine Mutter als eine Person.
. Abb. 1.5. Melanie Klein
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ganz anders deuten könnte, ausnahmslos symbolisch gedeutet. Anna Freud führt dazu ein Beispiel an: Und das Kind, das der Besucherin entgegenläuft und ihr das Handtäschchen öffnet, muss nicht, wie Melanie Klein meint, damit symbolisch seine Neugier ausdrücken, ob im Genital der Mutter wieder ein neues Geschwisterchen steckt, sondern etwa an ein Erlebnis vom Vortage anknüpfen, an dem jemand Eintretender ihm in einem ähnlichen Täschchen ein kleines Geschenk mitgebracht hat. (A. Freud 1927, S. 40)
Wie kann man sich diese Entwicklung im Einzelnen vorstellen? Während der ersten 3–4 Lebensmonate ist die Kapazität des Ichs, zu integrieren, noch sehr begrenzt. Das Kind erlebt sehr starke Ängste; Spaltungsprozesse und einfache Ordnungsgebungen sind charakteristisch. Melanie Kleins Konzeption zufolge nimmt das Kind die Mutter zunächst als Teilobjekt wahr, wobei die guten mütterlichen Erfahrungen, ausgedrückt durch die »gute Brust«, introjiziert und negative Erfahrungen mit der Mutter, konzeptualisiert als die »böse Brust«, nach außen projiziert werden. Klein beschreibt damit Prozesse der Projektion und Identifikation als komplementäre Versuche der einfachen Ordnungsgebung, in deren Folge das Objekt, von einem Partialobjekt ausgehend, allmählich aufgebaut wird. Mit wachsender Integrationsfähigkeit des Ichs nehmen die Angsterfahrungen ab, und die Mutter kann als Ganzes erlebt werden. Diese depressive Position, die sich ab dem 4. und 5. Monat konsolidiert, ist für die zweite Hälfte des 1. Lebensjahres charakteristisch. Das Kind kann bei wachsendem Realitätssinn zunehmend zwischen Versagungen, die von außen kommen, und phantasierten inneren Gefahren unterscheiden. Im Laufe der depressiven Position wird die Beziehung des Kindes zu seinen Eltern immer realistischer, so dass die Eltern zunehmend als getrennte Individuen wahrgenommen werden. Dies führt auch zu einer verstärkten Zuwendung zum Vater. Im Unterschied zu Freud hat Melanie Klein (1930) Frühstadien des Ödipuskomplexes unterschieden. Der Ödipuskomplex, der nach der klassischen Theorie die Entwicklung zwischen dem 3.
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Kapitel 1 · Entwicklungspsychologie und Psychotherapie: Zwei »feindliche Schestern«?
und 5. Lebensjahr bestimmt, etabliert sich nach Klein bereits um den 6. Lebensmonat herum. Charakteristisch für diese Frühstadien des Ödipuskomplexes ist wiederum, dass in den kindlichen Phantasien zunächst Teilobjekte eine wesentliche Rolle spielen, während sich die Beziehung zu ganzen Objekten allmählich etabliert. Nach Kleins Auffassung hat diese frühe Triangulierung die Funktion, negative Affekte, die ansonsten ausschließlich auf die Mutter gerichtet wären, angemessener zu verteilen. Die stärkere Einbeziehung des Vaters in ihrer Theorie der frühen Entwicklung ist auch aus ihrer Charakterisierung früher Affekte wie Neid, Eifersucht, Gier und Dankbarkeit abzuleiten (7 Kap. 8). Ihre eigenwillige Methode sowie die Tatsache, dass sie eine Vielzahl von Kindern analysiert hat, die jünger als 3 Jahre waren, hat Melanie Klein zu Ergebnissen geführt, die nicht mit der Theorie Sigmund Freuds übereinstimmen, insbesondere, was
die Datierung einiger Phänomene betrifft. Weitere Differenzen betreffen im Wesentlichen die Ich-Bildung. Nach Melanie Klein verfügt bereits das Neugeborene über genügend Ich, um Angst zu erleben, Abwehrmechanismen anzuwenden sowie in Phantasie und Realität primitive Objektbeziehungen zu bilden.
Das Bild des Säuglings und Kleinkindes bei Winnicott Der Brite Winnicott hat – ausgehend von den metapsychologischen Konzepten der englischen Schule ab 1950 – entscheidende neue Überlegungen zur Entwicklung des Säuglings beigetragen. Er stellte erstmals die wechselseitige Beziehung zwischen Mutter und Kind in den Mittelpunkt seiner Ausführungen und erkannte damit der frühen Interaktion ihre volle Bedeutung zu.
Zugang zur Entwicklung: Kinderarzt und Erwachsenentherapeut Winnicott war zuerst und vor allem Kinderarzt. Während seiner 40jährigen Arbeit an verschiedenen Kliniken hat er über 60.000 Säuglinge, Kinder, Mütter und Väter gesehen. Durch eine eigene Analyse angeregt, fing er an, sich für analytische Theorien zu interessieren und war fasziniert von der Bestätigung dieser Theorien durch die zahllosen Anamnesen, die er als Pädiater aufgenommen hatte. Bald entdeckte er anhand der Krankengeschichten, dass schon Säuglinge psychisch krank sein können.
Winnicott hatte zwar als Kinderarzt reichlich Gelegenheit, Mutter-Kind-Paare zu beobachten, dennoch hat er seine Theorien über die frühe Entwicklung allein auf rekonstruktivem Wege entwickelt, und zwar über die Analyse erwachsener Borderline-Patienten. Zu seinem Bild vom Säugling und Kleinkind kam er also, indem er aus Übertragungsund Gegenübertragungsphänomenen in der Behandlung von Borderline-Patienten auf die frühkindliche psychische Entwicklung geschlossen hat. Er versteht seine Vorgehensweise als eine Erweiterung der Arbeiten Freuds.
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Winnicott wurde zunächst Schüler von Melanie Klein, für deren wichtigsten Beitrag er die Arbeit zur depressiven Position hielt: Ich glaube, dass sie den gleichen Rang hat wie Freuds Konzept vom Ödipuskomplex. Dieser betrifft nur eine Dreierbeziehung, während Melanie Kleins depressive Position eine Zweierbeziehung betrifft, die Beziehung zwischen dem Säugling und der Mutter. (Winnicott 1965/2002, S. 230)
Auch die Erarbeitung der frühen Abwehrmechanismen (die Spaltung des Objekts in ein gutes und ein böses) und die von Klein postulierte paranoidschizoide Position werden von Winnicott gewürdigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg beginnt er allerdings, sich in seinen Ansichten zunehmend von ihr zu lösen, und hebt als wichtigsten Kritikpunkt die Vernachlässigung von Umweltfaktoren hervor. Winnicott hat keine strenge Stadienlehre in Bezug auf die Entwicklung des Kindes formuliert, da seiner Meinung nach ein wesentlicher Faktor
1.3 Vorstellungen über die Entwicklung in der frühesten Kindheit: Von Freud zu Mahler
die mütterliche Beziehung ist, ohne die der Säugling nicht zu existieren vermag. Im Zentrum seines Ansatzes stehen dementsprechend die Theorie der Mutter-Kind-Beziehung mit besonderem Schwerpunkt auf der Rolle der primären Mütterlichkeit und der mütterlichen Fürsorge für die kindliche Ich-Entwicklung. Winnicott vertritt die Ansicht, dass der Hauptgrund, weshalb der Säugling in seiner Entwicklung fähig wird, das Es zu beherrschen, und warum das Ich lernt, das Es einzubeziehen, die Tatsache der mütterlichen Fürsorge ist: Das Ich des Säuglings wird durch das Ich der Mutter vertreten und so kraftvoll und stabil gemacht. (ebd., S. 52)
Besonders wichtig wurde die Holding-Funktion der Mutter, die später häufig als therapeutisches Konzept in der Behandlung schwer gestörter Patienten genutzt wurde. Die Rolle der mütterlichen Fürsorge und das Konzept der primären Mütterlichkeit (Winnicott 1960b) sind wichtige Bestandteile seiner Theorie (7 Kap. 3). Durch das Konzept der »good enough mother« hat Winnicott wesentlich zur Entlastung und Entidealisierung des Bildes von der Mutter beigetragen. Im Verlauf der frühen Mutter-Kind-Interaktionen bekommen Versagungen in dem Sinn, dass die mütterliche Anpassung nicht perfekt ist, eine zunehmende Bedeutung. Auf dem Wege der innerlichen Trennung von der Mutter sind die Konzepte des Übergangsobjekts bzw. der Übergangsphänomene anzusiedeln, die Winnicott 1953 eingeführt hat (7 Kap. 4).
Das Bild des Säuglings und Kleinkindes bei Spitz Spitz (. Abb. 1.6) hat ab 1935 als erster Psychoanalytiker die Methode der direkten Beobachtung und empirische Vorgehensweisen zur Erforschung der Entwicklung in der präverbalen Phase angewandt. Auf diese Weise ist ein Bild von der Entwicklung während des 1. und zu Beginn des 2. Lebensjahres entstanden, das empirisch fundiert ist.
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Zugang zur Entwicklung: Empirische Untersuchungen und Beobachtungen Spitz hat an einer repräsentativen Zahl von Kindern – insgesamt waren es 393 – Querschnitt- und Längsschnittstudien durchgeführt, wobei letztere bis zu 2½ Jahre dauerten. Er setzte dabei standardisierte Tests, z. B. den Bühler-Hetzer-Test, sowie Beobachtungsmethoden ein. Jedes Kind wurde wöchentlich vier Stunden lang beobachtet; zu bestimmten Zeitpunkten wurden außerdem Entwicklungsprofile erstellt. Als weitere Methoden wurden Filme sowie Gespräche mit den Eltern und dem Pflegepersonal eingesetzt. Beobachtungsstudien wurden in sehr verschiedenen Settings wie Säuglingsheimen, Familien, Pflegestellen, Findelhäusern und Entbindungsabteilungen von Krankenhäusern durchgeführt.
Das besondere Interesse von René Spitz galt der Entwicklung der Objektbeziehung während des 1. Lebensjahres (Spitz 1954). Seiner Beobachtung nach durchläuft das Kind in den ersten beiden Lebensjahren folgende Entwicklungsstadien: 1. eine objektlose Entwicklungsstufe, 2. die Stufe des Objektvorläufers sowie 3. die Stufe des eigentlichen libidinösen Objekts. Während in der klassischen Sichtweise Freuds das Subjekt im Mittelpunkt des Interesses steht, welches das Objekt mit aggressiver oder libidi. Abb. 1.6. René Spitz
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Kapitel 1 · Entwicklungspsychologie und Psychotherapie: Zwei »feindliche Schestern«?
nöser Energie besetzt, hebt Spitz die Wechselseitigkeit der Beziehung zwischen Objekt und Subjekt hervor. Nach Spitz gibt es in der Entwicklung des Säuglings und Kleinkindes außerdem entscheidende Wendepunkte, die eine Umstrukturierung des psychischen Systems auf eine Ebene höherer Komplexität signalisieren und auch im Verhalten des Kindes deutlich sichtbar werden. Diese Wendepunkte nennt er »Organisatoren«. Der Begriff ist der Embryologie entnommen, wo er diejenigen Strukturen bezeichnet, die innerhalb des Gesamtkomplexes der Entwicklung Steuerungsfunktionen übernehmen. Die Bedeutung der Organisatoren für die Entfaltung der kindlichen Persönlichkeit besteht darin, dass sich die Persönlichkeit bei erfolgreichem Erreichen eines Organisators weiterentwickeln kann. Objektlose Stufe. Die 1. Stufe der Entwicklung
beginnt mit der Geburt und dauert etwa bis zum 3. Monat; sie fällt mit Freuds Stufe des primären Narzissmus zusammen. Das charakteristische Merkmal dieser Phase ist ihre Undifferenziertheit. Es gibt auf dieser Stufe keine klare Unterscheidung zwischen Psyche und Soma, zwischen Innen und Außen, zwischen Trieb und Objekt sowie zwischen Ich und Nicht-Ich. Der einzige zu beobachtende Affekt in dieser Phase ist eine unspezifische Unlust. Die Rolle der Mutter während dieser ersten drei Lebensmonate ist die eines Schutzes. Sie schützt den Säugling vor Reizüberflutung, hilft, Reize, die von innen kommen, zu verarbeiten, indem sie für Spannungsabfuhr sorgt, und unterstützt ihn schließlich durch den so genannten Dialog, Schritt für Schritt bedeutungslose Reize in bedeutsame Signale umzuwandeln. Stufe des Objektvorläufers Die 2. Übergangsstu-
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fe beginnt mit dem Antwortlächeln, zu dem Spitz Attrappenversuche durchgeführt hat (7 Kap. 3). Stufe des eigentlichen libidinösen Objekts Zu Beginn des 2. Lebensjahres konstituiert sich dann der 3. Organisator, das verneinende Kopfschütteln, in Verbindung mit dem ersten »Nein«. Für Spitz ist es das mütterliche »Nein«, das das Kind in Wort und Geste übernimmt. In seiner Arbeit »Ja und Nein: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation« hat Spitz (1957) die Kommunikation
innerhalb der Mutter-Kind-Dyade von der präverbalen Kommunikation bis zur verbalen Kommunikation beobachtet und nachgezeichnet. Er hat die unterschiedlichen Stimuli, die in dieser Kommunikation benutzt werden (Zeichen, Signale und Symbole), differenziert und den prägenden Charakter dieser frühen kommunikativen Beziehung für die Entwicklung aller späteren Sozialbeziehungen herausgearbeitet. Für ihn ist mit dem Beginn des 3. Organisators die früheste Form des Abstraktionsvermögens realisiert. Mit dem Erwerb der Verneinungsgeste wird das Handeln durch das Wort ersetzt, die Kommunikation wird auf Distanz geführt. Gestörten Mutter-Kind-Beziehungen hat er einen erheblichen Raum eingeräumt und eine Liste schädlicher mütterlicher Einstellungen und daraus resultierender kindlicher Krankheiten aufgestellt. Beispielsweise führe Feindseligkeit – manifest ausgedrückt in Überängstlichkeit der Mutter – zur Neurodermitis des Säuglings (Spitz 1965/1986). Das von der Mutter geschaffene affektive Klima ist abhängig von ihrer bewussten oder unbewussten gefühlsmäßigen Einstellung, welche letztlich über normale oder pathologische Entwicklung ihres Kindes entscheidet. Partieller oder gar völliger Entzug der affektiven Zuwendung durch die Mutter im 1. Lebensjahr führt zu schwersten psychischen Störungen des Kindes, wie Spitz’ Studien über Findelhäuser eindrucksvoll belegen (7 Kap. 2).
Das Bild des Säuglings und Kleinkindes bei Margaret Mahler Margaret S. Mahler entwickelte und veränderte ihr Bild vom Säugling und Kleinkind während einer über 25-jährigen Forschungstätigkeit. Sie unterscheidet in der frühkindlichen Entwicklung drei Phasen: 5 eine autistische Phase, 5 eine symbiotische Phase sowie 5 eine Phase der Loslösung und Individuation. Mit Einsetzen der Loslösungs- und Individuationsphase beginnt die »psychische Geburt« des Menschen (Mahler et al. 1975).
1.3 Vorstellungen über die Entwicklung in der frühesten Kindheit: Von Freud zu Mahler
Zugang zur Entwicklung: Therapie schwer gestörter Kinder Das eigentliche Forschungsinteresse Mahlers ist klinischer Art: Es gilt autistischen und psychotischen Kindern. Aufgrund ihrer klinischen Arbeit mit diesen psychisch schwerstgestörten Kindern ist sie zu der Annahme gelangt, dass es in der normalen Entwicklung des Kindes eine autistische und eine symbiotische sowie eine Phase der Loslösung und Individuation gibt, wobei sich letztere in vier Subphasen unterteilen lässt. In einer groß angelegten Studie sollte die Subphasen-Hypothese verifiziert werden, was jedoch nur ansatzweise gelang, da hierzu experimentelle und beobachtende Ansätze nötig gewesen wären.
Normaler Autismus In der Phase des normalen
Autismus, in welcher der meist schlafende Säugling hauptsächlich damit beschäftigt ist, die Homöostatase, also das Gleichgewicht des Organismus, nach der Geburt aufrechtzuerhalten, bietet er das Bild eines geschlossenen monadischen Systems. Daher ist die autistische Phase objektlos. Symbiotische Phase Die sich im 2. Monat
anschließende symbiotische Phase ist präobjektal; die Mutter stellt ähnlich wie bei Klein ein Partialobjekt dar. Das wesentliche Kennzeichen der Symbiose ist eine halluzinatorische, somatopsychische und omnipotente Fusion mit der Mutter. Der Säugling kann noch nicht zwischen Innen und Außen, Selbst und anderen differenzieren. Für die Entstehung eines basalen Sicherheitsgefühls in dieser Phase ist die gefühlsmäßige Einstellung der Mutter zu ihrem Kind von großer Bedeutung. Phase der Loslösung und Individuation Etwa
im 4. und 5. Lebensmonat nimmt das Kind seine getrennte Existenz wahr und entwickelt ein Körperbild. Diese Subphase der Differenzierung dauert ungefähr bis zum 10. Lebensmonat an. Mit zunehmender Mobilität beginnt der Säugling, sich vom passiven Schoßkinddasein zu lösen. Am Ende des 1. Lebensjahres lässt sich am deutlichsten beobachten, dass der Individuations- und Ablösungsprozess aus zwei miteinander verflochtenen Ent-
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wicklungskomponenten besteht: der Individuation (Fähigkeiten zur Autonomie in der Wahrnehmung, dem Gedächtnis, dem Denken und der Realitätsprüfung) und der Loslösung (Fertigkeiten der Distanzierung, Ausbildung von Grenzen sowie Fertigkeiten zur Ablösung von der Mutter). Optimal ist eine Entwicklung nach Mahler, wenn beide Prozesse parallel zueinander verlaufen. Bei der 2. Subphase, der Übungsphase, unterscheidet Mahler eine frühe und eine späte Phase. Das Experimentieren, das Sich-Entfernen von der Mutter und der narzisstische Überschwang über die eigenen neu gewonnenen Fähigkeiten sind die wesentlichen Kennzeichen dieser Subphase. Durch wachsende Fortschritte in den Ich-Funktionen erlebt sich das Kind als magischer Meister. Diese Phase, die sich vom 10.–12. und vom 16.– 18. Monat erstreckt, ist die Periode der Exploration per se. Ersatzbezugspersonen werden in dieser Phase besonders leicht akzeptiert. Mit dem Eintritt in die 3. Subphase, die Phase der Wiederannäherung, etwa um die Mitte des 2. Lebensjahres, macht sich bei wachsender kognitiver, emotionaler und motorischer Differenzierung ein Anwachsen der Trennungs- und Verlustangst bemerkbar, nachdem das Kind in der 2. Subphase die Mutter zeitweise »vergessen« konnte. Nun entstehen das Bewusstsein von der tatsächlichen Trennung und damit ein erneutes Verlangen nach der Mutter. Deshalb ist diese Phase nach Mahler v. a. durch die aktive Wiederannäherung des Kindes an das mütterliche Objekt charakterisiert. Zwischen dem 15. und 24. Monat lässt sich ein scheinbar widersprüchliches Verhalten beobachten: Das Kleinkind oszilliert ständig zwischen betontem Suchen und Vermeiden von engem Körperkontakt mit der Mutter. Dann erfolgt die Konsolidierung der Individualität. In dieser 4. Subphase ist die Wiederannäherung an den Vater von besonderer Bedeutung (Rotmann 1978). Mahlers Ansatz ist nicht unwidersprochen geblieben. Daniel Stern (1977, 1985) hält die Konzeption Mahlers durch die Ergebnisse der neueren empirischen Säuglingsforschung für widerlegt und möchte diese durch seine eigene Theorie der Entwicklung des Selbstempfindens ersetzen. Angeregt durch seine Experimente, die er benutzt hat, um Margaret Mahlers Phasen zu widerlegen, entstand eine äußerst kontroverse Diskussion, in der man
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Kapitel 1 · Entwicklungspsychologie und Psychotherapie: Zwei »feindliche Schestern«?
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sich mit der Übereinstimmung zwischen der neueren empirischen Säuglingsforschung und einigen Annahmen der psychoanalytischen Entwicklungstheorie beschäftigte.
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1.4
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Veränderungen in der psychoanalytischen Entwicklungstheorie über die Zeit
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Die psychoanalytische Entwicklungstheorie ist ein komplexes Theoriengebäude, das sich in den vergangenen 100 Jahren sehr verändert hat. . Tab. 1.1 gibt einen vereinfachten Überblick über die bisher beschriebenen Ansätze, bezogen auf die orale und anale Phase. Wie eingangs betont, handelt es sich dabei lediglich um die Ansätze der wichtigsten Theoretiker.
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Bausteine zu einer psychoanalytischen Entwicklungstheorie
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. Tab. 1.1 zeigt eine Vielfalt von Konzepten. Auffäl-
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lig ist, dass die Zeitangaben zu den Entwicklungsprozessen außerordentlich variieren und dass über die früheste Phase der Entwicklung, die orale Phase, wesentlich mehr und unterschiedliche Konzeptionen vorliegen als etwa über spätere Phasen. Über die ödipale Phase sind sich verschiedene Theoretiker wie Anna und Sigmund Freud sowie Melanie Klein thematisch einig, unterscheiden sich aber in den zeitlichen Angaben enorm. Die gesamte Entwicklung von der Latenz bis zur Adoleszenz wurde in den bislang dargestellten Ansätzen fast vollständig vernachlässigt (Seiffge-Krenke 2007a). Der Fokus auf die frühe Entwicklung ist demnach unverkennbar. Eine wesentliche Entwicklung über die Zeit sind der immer stärkere Einbezug von Beobachtungsdaten sowie die zeitliche Vorverlagerung von Konzepten und Entwicklungen, die von Freud selbst erst wesentlich später angesetzt wurden. Die enorme Variabilität ist auf die sehr unterschiedlichen Perspektiven und Akzentsetzungen zurückzuführen, die einige der führenden Theoretiker der psychoanalytischen Entwicklungstheorie vorgenommen haben. Entwicklungspsychologen, die grundlegende Konzepte der psychoanaly-
tischen Entwicklungstheorie prüfen wollten, hätten eine wahrlich schwere Aufgabe vor sich. Dies ist in der Tat bislang nur in Ansätzen geschehen, z. B. bei der Überprüfung der Konzeption des Ödipuskomplexes (Greve u. Roos 1996).
Übereinstimmungen zwischen den verschiedenen Ansätzen Es gibt allerdings auch einige Übereinstimmungen in den Konzeptionen. Von Sigmund Freud bis Margaret Mahler besteht Einigkeit darüber, dass die Libidoentwicklung in den ersten drei Lebensjahren zunächst eine orale und danach eine anale Phase durchläuft. Auch über die Ich-Entwicklung herrscht Konsens: Das Neugeborene verfügt noch nicht über ein Ich, dies bildet und organisiert sich erst im Laufe der ersten Wochen als Körper-Ich und ist in seiner Entwicklung eng an Beziehungen, v. a. zur Mutter, gebunden. Auch die Entwicklung der Objektbeziehung wird übereinstimmend in eine objektlose Phase, eine Phase der Teilobjekte sowie eine Phase der echten Objektbeziehung eingeteilt. Lediglich die Konzeption Melanie Kleins bildet eine Ausnahme. Was die frühe Libidoentwicklung betrifft, macht sie bereits in der zweiten Hälfte des 1. Lebensjahres genitale Strebungen aus und postuliert in der Entwicklung der Objektbeziehung von Anfang an eine Beziehung zum Teilobjekt. Man könnte sagen, dass Melanie Klein in gewisser Weise aus dem Rahmen fällt, weil sie eine Reihe von Entwicklungsphänomenen sehr viel früher ansetzt als die anderen Autoren. Über die zeitliche Einteilung der frühen Entwicklung herrscht ansonsten Einigkeit. Obwohl Sigmund und Anna Freud sowie Winnicott keine exakten Zeitangaben machen, kann man ihren detaillierten Schilderungen entnehmen, dass die Entwicklung einem Schema folgt, das auch in etwa von den anderen Autoren so beschrieben wird. Es gibt ferner Berührungspunkte und Überlappungen zwischen den Konzepten einzelner Theoretiker. Auffällig sind beispielsweise Parallelen zwischen den Konzepten Anna Freuds und Winnicotts über die Bedeutung der Mutter im 1. Lebensjahr des Kindes. Beide betonen die Abhängigkeit des Säuglings von der Mutter und weisen darauf hin, dass die mütterliche Fürsorge eine zentrale Rolle in seinem Leben spielt, die erst offensichtlich wird, wenn
1,7–3 Jahre Anale Phase
5 Liebe zum Objekt als ganze Person
5 Autoerotismus 5 Primärer Narzissmus 5 Liebe zum Teilobjekt
Besonderheit: 5 Konzepte Gier, Neid und Dankbarkeit
6./7.–12. Monat 5 Depressive Position
Besonderheit: 5 Konzept des Dialogs 5 Theorie der Organisatoren der Psyche
5 Stufe der ambivalenten Beziehungen Besonderheit: 5 Konzept der Entwicklungslinien
3.–7. Monat 5 Stufe des Objektvorläufers 8.–12. Monat 5 Stufe des eigentlichen Objekts Ab dem 13. Monat 5 Ursprung und Beginn der menschlichen Kommunikation
5 Biologische Einheit zwischen Mutter und Kind 5 Liebe nach dem Anlehnungstypus 5 Stufe der eigentlichen Objektbeziehung
Besonderheit: 5 Konzept der mütterlichen Fürsorge 5 Konzept des Übergangsobjekts 5 Konzept des falschen Selbst
5 Primärer Narzissmus 5 Verschmolzenheit mit der Mutter 5 Phase des Übergangsobjekts 5 Besetzung des Objekts als Ganzes
23./25.–30./36. Monat 5 Konsolidierung der lndividualität
17./19.–22./24. Monat 5 Wiederannäherung
11./12.–16./18. Monat 5 Üben
Subphasen: 5.–10. Monat 5 Differenzierung
4./5.–30./36. Monat 5 Loslösung und Individuation
2.–3./4. Monat 5 Symbiotische Phase
1. Monat 5 Phase des normalen Autismus
Ohne genaue Zeitangabe
1.–2. Monat 5 Objektlose Stufe
Ohne genaue Zeitangabe
1.–5./6. Monat 5 Paranoid-schizoide Position
Ohne genaue Zeitangabe
0 – 1,6 Jahre
Orale Phase
Mahler (ab 1972)
Winnicott (ab 1957)
Spitz (ab 1957)
A. Freud (ab 1927)
Klein (ab 1921)
S. Freud (ab 1905)
Alter
. Tab. 1.1. Psychoanalytische Entwicklungstheorien von 1905 bis in die 80er Jahre ((siehe im Buch: S. 15 3))
1.4 Veränderungen in der psychoanalytischen Entwicklungstheorie über die Zeit 15
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sie ausfällt. Auch bei Anna Freud spielt die »Hingabe der Mutter« (A. Freud 1953), die dem Winnicottschen Konzept der primären Mütterlichkeit nahe kommt, eine wesentliche Rolle in der ungleichen Beziehung zwischen Mutter und Kind. In einer neueren Arbeit hat Padel (1991, S. 342) die Beziehungen zwischen den Theorien von Melanie Klein und Winnicott herausgearbeitet und schreibt ironisch: Winnicott and Klein were both trying to account for the same kind of experience, but that neither could accept the other’s language in explaining it.
Die Überschneidungen zwischen den drei Ansätzen der Ich-Psychologie, der Selbstpsychologie und den Objektbeziehungstheoretikern sind teilweise biographisch begründet. Dies ist auch der Grund, weshalb Objektbeziehungstheorien und Selbstpsychologie, die sich aus den beschriebenen Ansätzen in den folgenden Jahrzehnten weiterentwickelten, starke konzeptuelle Überlappungen zeigen (Seiffge-Krenke 2007a).
Ist die von Sigmund Freud erarbeitete Konzeption der frühen Entwicklung entscheidend weiterentwickelt worden?
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Aus metapsychologischer Sicht kann man diese Frage eindeutig bejahen, da strukturelle und adaptive Gesichtspunkte immer stärker beachtet wurden. Diese Weiterentwicklung war möglich, da neue Datenquellen – wie Beobachtungen an gesunden Säuglingen und Kleinkindern – eine Erweiterung der zu engen, zu klinischen Sichtweise erforderten. Das Konzept der Objektbeziehungen hat immer stärker an Bedeutung gewonnen. In Freuds Theorie der »one body psychology« (Balint 1952) hatte die Objektbeziehung noch keinen systematischen Stellenwert. Erst durch Arbeiten wie die von Melanie Klein, Anna Freud und Winnicott angeregt, wurden die Objektbeziehungen systematisch in die psychoanalytische Theorie integriert. Die Beziehung zwischen der Mutter und dem neugeborenen Säugling bzw. sehr kleinen Kind wurde als paradigmatisch für die Objektbeziehungen bei frühen Störungen wie nar-
zisstischen und schizoiden Störungen angesehen (Kernberg 1975). Es waren v. a. die Forschungsbefunde der in den 40er Jahren begonnenen direkten Beobachtungen an Kindern und Säuglingen, die dazu führten, dass die Theorie der Objektbeziehungen einen so wichtigen Stellenwert in der psychoanalytischen Theorienbildung bekam, der sich dann in der Folge in weiteren Forschungsarbeiten zur triadischen Kompetenz und in Behandlungsangeboten für Familien mit Säuglingen niederschlug (von Klitzing 1998). Wie psychoanalytische und entwicklungspsychologische Beobachtungsstudien an Kleinkindern ergeben haben, findet bereits zwischen dem Neugeborenen und seiner Mutter ein komplizierter Austauschprozess statt (7 Kap. 3). In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass der Vater in der Theorienbildung als bedeutsames Objekt immer früher eingeführt wurde. Die Interaktionsbeziehungen sind also – nach einer kurzen symbiotischen Phase mit der Mutter – triadisch. Die Beziehungsstrukturen in der frühen Kindheit sind aber – im Vergleich zu Freuds Konzeption – nicht nur komplexer, sie sind auch desexualisierter: Der Vater wird zunehmend als Schrittmacher für die Loslösung aus der symbiotischen Mutter-Kind-Beziehung begriffen (7 Kap. 7). Hinzu kommt, dass die Balance zwischen der Wahrnehmung der äußeren Welt und der Bildung innerer Repräsentanzen konzeptuell immer bedeutsamer wurden. Freuds Konzept des Körper-lchs als früheste kognitive Leistung wurde bestätigt, seine Ideen der inneren Repräsentation wichtiger Bezugsobjekte wurden aufgegriffen und differenziert. Normale Entwicklungsverläufe nahmen einen immer größeren Stellenwert in der Theorienbildung ein. Paradigmatisch sei dafür das Konzept der Entwicklungslinien genannt. Freud hatte zwar 1905 in den »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« zum ersten Mai den systematischen Versuch unternommen, eine epigenetische Theorie der Entwicklung auszuarbeiten, die auf die Libidoentwicklung begrenzt war. Doch erst durch die Arbeiten von Anna Freud (1965/1982) wurde es möglich, Modellvorstellungen von Entwicklung über unterschiedliche Funktionsbereiche in den Entwicklungslinien zu konzeptualisieren. Verhaltensweisen des Kindes wurden so aus der Perspektive ganz unter-
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1.5 Psychoanalyse und Entwicklungspsychologie
schiedlicher Entwicklungsprozesse betrachtet, und die Wechselbeziehungen zwischen Objektbeziehungen, Trieb- und Ich-Entwicklung konnten analysiert werden.
Skotome, Diskontinuitäten und Kontroversen Ein bemerkenswertes Skotom aller psychoanalytischen Entwicklungstheorien ist ihre Ausblendung der Entwicklung im Lebenslauf. Jugendalter, junges, mittleres und spätes Erwachsenenalter werden von ihrer Entwicklungsdynamik weitestgehend ignoriert und haben kein Interesse auf sich gezogen. Der starke Fokus auf die frühe und früheste Entwicklung ist auffällig und hat auch zu Besonderheiten in der Theorienbildung der letzten Jahre geführt, in der andere Familienmitglieder neben der Mutter (wie Väter und Geschwister, 7 Kap. 7 und 8) regelrecht »vergessen« wurden. Für die Dynamik der weiteren Entwicklung nach dem 5. Lebensjahr gibt es nur in Ausnahmefällen theoretische Konzeptionen, z. B. die von Peter Blos (1973) über das Jugendalter. Die Weiterentwicklung der psychoanalytischen Entwicklungstheorien ist nicht kontinuierlich verlaufen, denn sowohl aus inhaltlicher als auch aus methodischer Sicht hat es Akzentverschiebungen und Traditionsbrüche gegeben. Schon zu Beginn der 20er Jahre haben sich zwei Richtungen herausgebildet, die verschiedene Wege zur Erforschung der frühen Kindheit beschrieben haben: die so genannte englische Schule (Melanie Klein und später Winnicott) und die so genannte genetisch-strukturelle Schule (Anna Freud und später Spitz und Mahler). Für letztere spielten Forderungen nach Objektivität und der Wunsch, das psychische Geschehen der frühen und frühesten Kindheit mit biologischen Reifungsprozessen in Einklang zu bringen, eine wesentliche Rolle. Demgegenüber waren für die englische Schule die unbewusste Dynamik und die innerpsychischen Konflikte, die bereits für das Neugeborene bestimmend sein sollten, charakteristisch. Bis in die heutige Zeit haben die FreudKlein-Kontroversen nichts von ihrer Aktualität eingebüßt (Seiffge-Krenke 2007a). Die genetisch-strukturelle Schule weicht von der klassischen Konzeption Sigmund Freuds
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inhaltlich durch eine Akzentverschiebung (Vom Es zum Ich) und methodisch durch die Erweiterung um die Direktbeobachtung (inklusive der experimentellen Vorgehensweise von Spitz) ab. Die englische Schule behält zwar die Freudsche Zentrierung auf unbewusste Konflikte bei, bricht aber durch deren Vorverlagerung in die Neugeborenenzeit ganz klar mit der Freudschen Tradition. Die Kontroversen zwischen Anna Freud und Melanie Klein (in den 1920er Jahren) oder Daniel Stern und Margaret Mahler bzw. denjenigen, die Mahlers Theorie nach ihrem Tod repräsentierten (in den 1980er Jahren), zeigen diese Unvereinbarkeiten in den theoretischen Ansätzen auf. Man kann daher gegenwärtig nicht von einer einheitlichen psychoanalytischen Entwicklungstheorie sprechen. Nicht einmal innerhalb der beiden großen Schulen gibt es eine einheitliche Konzeption. Dies erschwert nicht nur den Vergleich zwischen den einzelnen Theorien, sondern auch deren empirische Überprüfung (Mertens 1994a, 1994b). Integrative Ansätze wie jener von Fornari (1970), der versucht, die Ansätze von Spitz und Klein zu verbinden, oder von Padel (1991), der die Beziehungen zwischen den Konzepten von Winnicott und Klein herausarbeitet, sind Ausnahmen geblieben.
1.5
Psychoanalyse und Entwicklungspsychologie
Die Entwicklungspsychologie hat nicht den Versuch gemacht, das komplexe Gebäude der psychoanalytischen Theorien empirisch zu überprüfen.Sie hat aber – bewusst oder unbewusst – Konzepte aus der Psychoanalyse benutzt und umfangreiche empirische Befunde zu Wahrnehmungs-, Denk- und Gedächtnisprozessen sowie zur frühen Interaktion erhoben, die einen Teil der psychoanalytischen Aussagen und Annahmen, die aus der Rekonstruktion von Erwachsenenanalysen bzw. aus der Beobachtung und Behandlung von Kindern entstanden sind, revidiert, z. T. aber auch bestätigt. Aus diesen Gründen ist es sinnvoll, einen Blick auf diese Befunde zu werfen. Auch die Psychoanalyse hat sich in den letzten Jahren verstärkt mit entwicklungspsychologischen Ergebnissen beschäftigt. Die Arbeiten von Lichtenberg (1983), Lang (1988) oder Dornes (1993) stellen Versuche dar, psychoanaly-
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Kapitel 1 · Entwicklungspsychologie und Psychotherapie: Zwei »feindliche Schestern«?
tische Entwicklungstheorie und empirische Forschungsergebnisse aus der Entwicklungspsychologie miteinander in Beziehung zu setzen. Dabei ergeben sich interessante Unterschiede in den Perspektiven. Bevor wir auf diese Unterschiede eingehen, ist es allerdings notwendig, kurz einen Blick auf die parallel stattfindende Entwicklung in der Nachbardisziplin Entwicklungspsychologie zu werfen und deren Konzeption von Entwicklung zu betrachten.
Von Elterntagebüchern zu Lebensspannen-Psychologie Wir haben eingangs auf die engen Berührungspunkte zwischen Psychoanalyse und entwicklungspsychologischer Forschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Wien hingewiesen. Es wurde jedoch auch deutlich, dass die Chance einer engen Kooperation kaum genutzt wurde. In der Entwicklungspsychologie hat sich eine eigenständige, experimentell begründete Säuglingsforschung entwickelt, die das »Inventar« des Neugeborenen und Säuglings genau untersucht. Entsprechend der starken allgemeinpsychologischen Orientierung der frühen Entwicklungspsychologie standen Wahrnehmung, Gedächtnis und Denken zunächst im Vordergrund. Die Tatsache, dass der Säugling auch ein beziehungsfähiges Wesen ist, wurde relativ spät – und unter deutlichem Einfluss psychoanalytischer Konzepte – untersucht. Seit dieser Zeit hat die Entwicklungspsychologie ein exponentielles Wachstum erfahren und sich auf sehr viele Bereiche der Entwicklung ausgedehnt. Auch ihre Konzeption von Entwicklung hat sich sehr verändert. Man mag kaum glauben, dass es erst rund 100 Jahre her ist, als die ersten Entwicklungspsychologen ihre distanziert beobachtenden Tagebücher über ihre eigenen Kinder schrieben, so Clara und – etwas seltener – William Stern (1907; . Abb. 1.7) sowie das Ehepaar Scupin (1910). Wenig später verfasste eine weitere junge Mutter und Wissenschaftlerin, Rosa Katz (1928), die »Gespräche mit Kindern«, und wenn man den Ausführungen ihrer Kinder Glauben schenken darf, gehörte ihr Notizblock zum selbstverständlichen Familienalltag. Diese Dokumente der Entwicklung der eigenen Kinder sind in ihrer Mischung
. Abb. 1.7. Clara und William Stern
aus lebendiger Darstellung, Bemühen um Objektivität und Sparsamkeit der Deutung auch heute noch äußerst lesenswert. Von einer echten Lebensspannen-Perspektive, die wir heute in der Entwicklungspsychologie vertreten, war dieser Ansatz noch weit entfernt. Dennoch zählen die dort behandelten Themen (wie Spracherwerb, Kommunikation, geistige Entwicklung und soziales Verhalten) immer noch zu den großen Forschungsthemen, die uns beschäftigen. Die Entwicklungspsychologie hat sich als Wissenschaft in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts an den deutschen Universitäten etabliert. In den ersten entwicklungspsychologischen Publikationen standen experimentelle Anordnungen im Vordergrund, unter dem Einfluss der Wiener Schule (1923–1938) wurden dann die bereits beschriebene Methodenvielfalt und die Verknüpfung der Forschung mit der Praxis immer bedeutsamer. Bis zum Beginn der 1960er Jahre konzentrierte sich die Forschung fast ausschließlich auf Säuglinge und Kinder im Schulalter; Jugendforschung machte nur rund ein Drittel der Forschung aus. Nach und nach eroberte die Entwicklungspsychologie aber beinahe die gesamte Lebensspanne: In den 1960er und 1970er Jahren begann sie sich für das höhere Erwachsenenalter zu interessieren, seit den 1980er Jahren stehen typische Entwicklungs-
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1.5 Psychoanalyse und Entwicklungspsychologie
aufgaben des jungen Erwachsenenalters wie Familiengründung und die Geburt von Kindern unvermindert im Zentrum. Schließlich wird seit dem Ende der 1990er Jahre der zuvor »übersehene« Entwicklungsabschnitt zwischen Jugend- und Erwachsenenalter, »emerging adulthood«, beforscht. Seit den 1980er Jahren setzte auch eine weitere bemerkenswerte Veränderung ein, die Fusion von Forschung zu normalen und gestörten Entwicklungsprozessen in der neuen Disziplin Entwicklungspsychopathologie. Längsschnittuntersuchungen über lange Zeiträume wurden nun, neben experimentellen und Beobachtungsstudien, verstärkt die Methode der Wahl, um Entwicklungsprozesse und Veränderungen abzubilden. Entwicklungskontexte und die Diversität von Entwicklung gewannen immer mehr an Bedeutung. Man entdeckte unterschiedliche Entwicklungspfade in Abhängigkeit von unterschiedlichen Entwicklungskontexten und -bedingungen. Die Entwicklungspsychologie hat sich also rasant und sehr komplex entwickelt. Dies macht sich auch an einem enormen Anstieg der Publikationstätigkeit bemerkbar. Im Zeitraum von 1945 bis 1964 gab es lediglich 500, von 1965 bis 2002 dagegen bereits 15.525 fachspezifische Publikationen. Es würde den Rahmen dieses Buches sprengen, einen systematischen Überblick über das Gebiet der Entwicklungspsychologie zu geben. Dies kann an anderer Stelle (Oerter u. Montada 2002) nachgelesen werden. Uns sollen dagegen Befunde beschäftigen, die besonders für Psychologen und Psychotherapeuten in freier Praxis, in Beratungstellen, Ambulanzen und Psychosomatischen bzw. Psychotherapeutischen und Psychiatrischen Kliniken relevant sind. Es gibt dabei auch auffällige Forschungslücken in Gebieten, die von großer praktischer Relevanz sind. Nicht alles wurde nämlich in den vergangenen Jahrzehnten in der Entwicklungspsychologie gleichermaßen beachtet und beforscht. Im Rahmen der entwicklungspsychologischen Familienforschung spielen Väter und Geschwister immer noch keine bedeutsame Rolle. Erfreulich ist allerdings das Forschungsaufkommen in Bezug auf Bindung – mit dem Fokus auf Mutter-Kind-Beziehungen. Auch das Augenmerk auf familienstrukturelle Veränderungen, wie die Häufung von Scheidungsfamilien und Alleinerziehenden, hat sehr zugenommen.
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Spannend ist, dass zunehmend auch die Familienentwicklung in späteren Phasen nach dem Auszug der Kinder beforscht und der Einfluss von Kindern auf ihre Eltern analysiert wird. Mit diesen und einigen weiteren Befunden und Ergebnissen werden wir uns in den folgenden Kapiteln noch ausführlicher beschäftigen.
Ein etwas anderer Entwicklungsbegriff: Individuen als aktive Gestalter ihrer Entwicklung Kennzeichnend für die Entwicklungspsychologie ist, wie wir anhand dieses kurzen Abrisses gesehen haben, eine immer stärkere Ausweitung auf alle Alterstufen der Lebensspanne, eine Lebensspannen-Perspektive. Am Beginn der entwicklungspsychologischen Forschung wurden dagegen, wie wir anhand des Wiener Instituts verdeutlicht haben, lediglich Säuglinge, Kinder und Jugendliche untersucht. Der Entwicklungsbegriff war entsprechend relativ eingeengt auf ein dynamisches Veränderungsgeschehen, das gut beobachtbar war und häufig auch reifungsbedingt. Frühere Entwicklungskonzeptionen 5 5 5 5
Auf ein Endniveau ausgerichtet Stark reifungsabhängig Irreversible Reihenfolge Phasen mit qualitativen Unterschieden
In der Tat gibt es Entwicklungsprozesse, die diesen Merkmalen folgen, z. B. die motorische Entwicklung. Allerdings folgt eine Vielzahl von Entwicklungsprozessen, möglicherweise sogar die meisten, diesem Muster nicht. Auch wenn wir in den folgenden Kapiteln gelegentlich Entwicklungsphasen darstellen, z. B. die Abfolge der Freundschaftskonzepte oder die Entwicklungsabfolge beim Spiel, verbirgt sich hinter ihnen eine grundsätzlich andere Entwicklungskonzeption, die auch insgesamt in diesem Buch vertreten wird. Seit den Arbeiten von Lerner und Busch-Rossnagel (1981) werden Kinder, Jugendliche und Erwachsene als aktive Produzenten ihrer eigenen Entwicklung angesehen, d. h., ihr Beitrag zu ihrer eigenen Entwicklung ist
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Kapitel 1 · Entwicklungspsychologie und Psychotherapie: Zwei »feindliche Schestern«?
unübersehbar. Sie sind Gestalter ihrer Entwicklung und beeinflussen aktiv auch bedeutsame Beziehungspartner – und zwar von der Babyzeit an. Eine wesentliche Einschränkung früher entwicklungspsychologischer Sichtweisen und gegenwärtiger psychoanalytischer Entwicklungstheorien ist die Konzentration auf sehr frühe Phasen der Entwicklung. Entwicklung endet aber nicht im Jugendalter. Wachstum und Aufbau, Gewinn und Verlust lassen sich über die gesamte Lebensspanne nachvollziehen. Damit ist schon angedeutet, dass ein naiver Entwicklungsbegriff im Sinne einer linearen Progression zu kurz greift (7 Kap. 5). Progressive und regressive Anteile kommen in allen Entwicklungsphasen in jeweils unterschiedlicher Balance vor und können auch in einzelnen Entwicklungsbereichen (soziale Entwicklung, kognitive Entwicklung etc.) unterschiedlich ausgeprägt sein. Dem Entwicklungskontext wird eine immer größere Bedeutung zugemessen, genauso wie der Diversität von Entwicklung, also der Tatsache, dass es ganz unterschiedliche Verläufe von Entwicklung in Abhängigkeit vom Entwicklungskontext gibt. Wir haben dies u. a. in 7 Kap. 5 anhand verschiedener Entwicklungspattern bei der Entwicklung romantischer Beziehungen beschrieben, in 7 Kap. 6 anhand des unterschiedlichen Auszugsverhalten und in 7 Kap. 7 anhand verschiedener Väter-Typen verdeutlicht. Die in diesem Buch vertretene Entwicklungskonzeption 5 Subjekt als aktiver Gestalter 5 Wechselseitige Einflussnahme zwischen Eltern und Kindern 5 Enormer Einfluss des Entwicklungskontexts 5 Lebensspannen-Perspektive 5 Entwicklung ist nicht nur Progression
1.6
Unterschiede in den Konzepten: Vom rekonstruierten zum kompetenten Säugling
Das beschriebene Entwicklungskonzept gilt in der Entwicklungspsychologie auch für sehr kleine Kinder. Hier zeigt sich besonders, dass Entwicklungspsychologie und Psychoanalyse sehr verschiedene Entwicklungskonzeptionen haben.
Ursachen für die Unterschiede in den Entwicklungskonzeptionen Die Entwicklungspsychologie hat in ihren Forschungsarbeiten in den letzten 30 Jahren ein Bild des kompetenten Säuglings (Stone et al. 1973) entworfen, während die Psychoanalyse noch relativ lange das Bild eines passiven, undifferenzierten und seinen Trieben ausgelieferten Wesens aufrechterhielt. Dies hat seine Gründe in erster Linie darin, dass Schlussfolgerungen über die frühe Kindheit aus der Analyse erwachsener Patienten gewonnen wurden und die ersten 1½ Lebensjahre durch dieses Verfahren äußerst schwer zugänglich sind. Ein weiterer Grund liegt im Adultomorphismus, der Beschreibung des Säuglings in Kategorien von Erwachsenen, sowie im Pathomorphismus, der Konzeptualisierung des Säuglings in Begriffen aus der Erwachsenenpathologie. In beiden Fallen dienen der Erwachsene und v. a. der neurotisch gestörte Erwachsene als Vorbild oder Maß aller Dinge (Seiffge-Krenke u. Resch 2000). Diese enge Verknüpfung zwischen zwei Entwicklungsphasen wird deutlich an der Formulierung Freuds, eine Neurose sei eine »partielle Infantilisierung« (1905). Ein weiterer wesentlicher Unterschied zwischen Entwicklungspsychologie und Psychoanalyse ist der Unterschied zwischen dem rekonstruierten und dem realen Kind. Dornes (1999) kritisiert zu Recht, dass die psychoanalytische Entwicklungstheorie nicht darstellt, wie die Kindheitsentwicklung tatsächlich verläuft, sondern nur die Berichte und Erzählungen von Patienten über ihre Kindheit wiedergibt. Die Psychoanalyse arbeitet mit einem rekonstruierten Kind, und für die Rekonstruktion ist wichtig, dass sie therapeutisch effektiv ist, klinische Nützlichkeit ist also das entscheidende Kri-
1.6 Unterschiede in den Konzepten: Vom rekonstruierten zum kompetenten Säugling
terium. Aus der Analyse erwachsener Patienten kann man aber nicht einmal so einfache, auch für die Psychoanalyse und die Entwicklungspsychologie sehr wichtige Fragen beantworten, ob und was der Säugling sieht, riecht, hört, schmeckt, fühlt und empfindet, sondern nur schildern, was Patienten glauben, was sie als Säugling gesehen, gefühlt und erlebt haben. Daran wird deutlich, dass Rekonstruktionen aus Erwachsenenanalysen als alleinige Informationsquelle unzureichend sind. Allerdings haben wir bereits hervorgehoben, dass alle großen psychoanalytischen Entwicklungstheoretiker wie Spitz, Mahler, Bowlby, Anna Freud, Winnicott und Klein nicht nur rekonstruktiv verfuhren, sondern dass sie, wenn auch in unterschiedlichem Maße, auch direkte Beobachtung heranzogen. Freud selbst hat den Wert von Beobachtungsdaten immer hervorgehoben und schreibt bereits 1920 (S. 46): Verstünden es die Menschen, aus der direkten Beobachtung der Kinder zu lernen, so hätten diese drei Abhandlungen überhaupt ungeschrieben bleiben können.
Bestätigung oder Verwerfung psychoanalytischer Ideen? Die Säuglingsforscher haben in den letzten 20 Jahren eine Reihe faszinierender Versuchsanordnungen entwickelt, die Aufschluss über die Erfahrungen in der frühen Kindheit geben können, also über einen Zeitpunkt, über den Informationen aus der Rekonstruktion in Erwachsenenbehandlungen nur sehr beschränkt zugänglich sind. Ein Teil dieser Experimente bezog sich auf die visuelle Wahrnehmung des Säuglings und untersuchte die visuelle Präferenz für verschiedene Gesichter, beispielsweise das der Mutter, u. a. über die Länge der Fixierungsdauer des Säuglings (. Abb. 1.8). Diese Forschung zum Präferenz-Paradigma ist in ihren Aussagen nicht unproblematisch, denn die Tatsache, dass ein Säugling das Gesicht seiner Mutter länger fixiert, mag zwar eine relativ klare Schlussfolgerung über seine Präferenz erlauben – aber die Tatsache, dass er keine Präferenz bekundet, kann nicht zu dem Schluss führen, dass er keinen Unterschied bemerkt. Überhaupt muss man kritisch sagen, dass zu viele und zu komplexe psy-
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chologische Erkenntnisse an der Fixierungsdauer von Objekten festgemacht wurden (Kavsek 1995). Untersuchungen über die visuelle Wahrnehmung haben allerdings auch zahlreiche für die Psychoanalyse äußerst interessante Befunde ergeben (7 Kap. 3). Was die kognitive Entwicklung des Säuglings angeht, bestehen auffallende Diskrepanzen zwischen den Annahmen der Entwicklungspsychologie, konzeptualisiert in Piagets Theorie des frühen Denkens, und der Psychoanalyse. Piaget geht zwar wie die Psychoanalyse von einer anfänglichen Welt der Teilobjekte aus, in der visuelle und haptische Informationen über ein Objekt noch unverbunden nebeneinander existieren und erst später zu einem einheitlichen Objekt zusammengefasst werden können. Es gibt jedoch für ihn kein symbolisches Denken, d. h. kein Denken mit Hilfe von Bildern oder sprachlichen Zeichen, das sich in Abwesenheit konkreter Objekte entwickeln kann. Für Piaget entsteht Denken aus der Anwesenheit der Objekte. Dies unterscheidet sich radikal von der traditionellen psychoanalytischen Auffassung, der zufolge das Denken aus der Abwesenheit der Objekte hervorgeht. Für Piaget gibt es keine infantilen Phantasien, mit deren Hilfe Säuglinge etwas herbei- oder wegphantasieren können, sich abwesende Eltern oder vergangene Befriedigungssituationen halluzinatorisch vergegenwärtigen können. Auch psychoanalytische Konzepte des frühen Denkens wie
. Abb. 1.8. Vorrichtung zur Beobachtung von Babys in Wahrnehmungsexperimenten
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Kapitel 1 · Entwicklungspsychologie und Psychotherapie: Zwei »feindliche Schestern«?
die infantile Grandiosität oder die halluzinatorische Wunscherfüllung, die nach Meinung vieler Vertreter der psychoanalytischen Entwicklungstheorie das frühe Denken und Phantasieren charakterisieren, liegen Piaget zufolge zeitlich wesentlich später, wenn man überhaupt von ihrer Existenz ausgeht. Bestimmte Parallelen lassen sich zwischen dem Konzept der infantilen Grandiosität in der Psychoanalyse und dem des Egozentrismus nach Piaget, der etwa im 3. Lebensjahr angesiedelt ist, finden (7 Kap. 5). Erst in einem späten Denkstadium, dem formalen Denkniveau, sind Denkprozesse Piaget zufolge unabhängig von konkreten Gegebenheiten möglich. Insgesamt gibt es also wenige Berührungspunkte zwischen den Vorstellungen der Psychoanalyse und der kognitiven Entwicklungspsychologie, wobei hervorzuheben ist, dass ihr berühmtester Vertreter, Jean Piaget, sich selbst einer Psychoanalyse unterzogen hat und auch die theoretischen Konzepte der Psychoanalyse schätzte. Eine weitere wichtige Forschungsrichtung in der Entwicklungspsychologie hat in vielen Studien die frühe Interaktion von Mutter und Kind untersucht und ein erstaunliches Ausmaß an Abgestimmtheit, Wechselseitigkeit bzw. Reziprozität dokumentiert. Viele Interaktionen werden vom Säugling eingeleitet, ihr Verlauf wird von ihm kontrolliert und reguliert, und auch die Beendigung wird von beiden Partnern in äußerst subtiler Weise ausgehandelt (7 Kap. 3). Wenn man die Wahrnehmungsleistungen und Interaktionsaktivitäten betrachtet, müssen Zweifel aufkommen, ob das Bild des Säuglings im 1. Lebensjahr aus der Sicht der Psychoanalyse mit Konzepten wie Autismus oder Symbiose angemessen beschrieben wird. Vielmehr ist der Säugling aktiv und gestaltend tätig und weist eine immense Lernfähigkeit auf (Pauen 2006). Schon Brazelton (1973) hat die Interaktionskompetenz von Säuglingen eindrucksvoll beschrieben. Sichtet man also die Befunde der entwicklungspsychologischen Säuglingsforschung zur frühen Interaktion, so muss man sagen, dass die bereits in den ersten sechs Monaten vielfältigen Aktivitäten des Säuglings zur Regulierung der Interaktionen zusammen mit seinen kognitiven Fähigkeiten zeigen, dass das Konzept der Symbiose mit seinen Konnotationen der Unabgegrenztheit, der Undifferenziertheit, der Verschmolzenheit und der Passivität nicht mehr angemessen ist. Allerdings gibt
es für das Konzept der Symbiose Belege aus anderen Kulturen, wo die frühe Sozialisation nicht auf Abgrenzung und Eigenständigkeit ausgerichtet ist, sondern auf Verschmelzung und Interrelation (Keller u. Zach 2002). Dies zeigt wiederum die Bedeutung des Entwicklungskontextes. Eine ähnliche Kritik gilt für das Konzept des Autismus. Beide Konzepte entstanden aus dem erwähnten pathomorphen Vorgehen, also aus der Übertragung von Begriffen aus der Krankheitslehre auf normale Entwicklungsstadien. Ein weiterer wichtiger Aspekt besteht in der inneren Repräsentation vergangener Erfahrungen und ihrer langfristigen Bedeutung für die Interaktion. Die Bindungsforschung (7 Kap. 3) stellt eine Schnittstelle zwischen Psychoanalyse und Entwicklungspsychologie dar, und sie wurde von einem Psychoanalytiker (John Bowlby) und einer Entwicklungspsychologin (Mary Ainsworth, mit absolvierter Psychoanalyse) entwickelt. Inhaltlich nimmt die Bindungstheorie mit empirischen Methoden ein Grundanliegen der psychoanalytischen Entwicklungstheorie auf, nämlich die Untersuchung der Qualität früher Mutter-Kind-Beziehungen und den Nachweis ihrer gravierenden Bedeutung für die spätere Entwicklung des Kindes. Entsprechend war der empirische Nachweis langfristiger Effekte dieser frühen Beziehungen für die Psychoanalyse sehr bedeutsam. Insgesamt kann man bemerken, dass Beziehungskonzepte aus der Psychoanalyse stärker aufgegriffen und intensiver untersucht wurden als Konzepte, die sich auf die kognitive Entwicklung und die Realitätskonstruktion des kleinen Kindes bezogen. Allerdings ist es wichtig, hervorzuheben, dass sich Beziehungskonzepte auch einfacher untersuchen lassen und gut beobachtbar sind. Dennoch ist bemerkenswert, dass für die entwicklungspsychologische Forschung nicht die frühen Theoretiker von Freud bis Klein relevant waren, sondern ein »Abtrünniger«, John Bowlby, der mit seinen 1973 erschienenen Veröffentlichungen über »Trennungsangst und Trauer bei Kleinkindern« (Bowlby 1980) nicht nur auf erbitterten Widerstand der Kleinianer stieß, von denen er selbst abstammte, sondern auch von der Schule Anna Freuds stark kritisiert wurde. Für die Entwicklungspsychologie waren seine Konzepte der Bindung und der mütterlichen Feinfühligkeit sowie das Konzept des inneren Arbeitsmodells
1.7 Integrative Ansätze
(»inner working model«) von großer Bedeutung. Man muss allerdings kritisch anfügen, dass in dem Maße, in dem eine Neuorientierung für die psychologische Forschung möglich war, John Bowlby von orthodoxer psychoanalytischer Seite v. a. Kritik und Schweigen erfuhr und dass möglicherweise Bowlbys Ausschluss aus der orthodoxen Psychoanalyse ihn als Theoretiker für die Psychologie eher »salonfähig« machte (Köhler 1990).
1.7
Integrative Ansätze
Entwicklungspsychologie und Psychoanalyse entwickelten sich zu Beginn dieses Jahrhunderts in enger räumlicher Nähe, die Chance für eine Kooperation wurde jedoch kaum genutzt. Zu sehr war die Entwicklungspsychologie mit der Umsetzung naturwissenschaftlicher experimenteller Standards und die Psychoanalyse mit der Suche nach klinischen Belegen für die Ursachen neurotischer Störungen beschäftigt. Mit großer zeitlicher Verzögerung wurden die Beiträge des Gründungsvaters der Psychoanalyse, Sigmund Freud, rezipiert. Die Beiträge seiner Schüler sind – teilweise bis heute – von der Entwicklungspsychologie nicht wahrgenommen worden. Dieses Kapitel verfolgt daher das Ziel, die Entwicklung der komplexen psychoanalytischen Entwicklungstheorie in den vergangenen 100 Jahren zu präsentieren und – in einem geringeren Umfang – die Entwicklung in der Nachbardisziplin Entwicklungspsychologie aufzuzeigen. Wir haben darauf hingewiesen, dass die Weiterentwicklungen der psychoanalytischen Entwicklungstheorie diskontinuierlich verlaufen sind und große Kontroversen zwischen einzelnen Theoretikern bestanden.
Psychoanalytische Entwicklungspsychologie Neuere Darstellungen der psychoanalytischen Entwicklungstheorie versuchen verstärkt, empirische Befunde aus der Entwicklungspsychologie einzubeziehen (vgl. Mertens 1990; Stork 1986; Dornes 1993). So hat die Rezeption entwicklungspsychologischer Befunde zur sexuellen Entwicklung zu einer Neubewertung der psychoanalytischen Theorie geführt.
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Sie machte deutlich, dass einige Ansichten der klassischen Psychoanalyse zur sexuellen Entwicklung (z. B. die Thesen vom Penisneid, vom Kastrationskomplex, von der Verleugnung der Vagina oder von der Sicht des Vaters als Rivale) falsch sind bzw. präziser: sich aus entwicklungspsychologischer Sicht nicht belegen lassen (Mertens 1994a, 1994b). Dornes (1993, 1999) hat in seiner Arbeit die Direktbeobachtung der Säuglingsforschung und die psychoanalytische Rekonstruktion hinsichtlich ihrer methodischen Besonderheiten verglichen, die Irrtumsanfälligkeit psychoanalytischer Rekonstruktionen herausgearbeitet und dafür plädiert, die Ergebnisse der entwicklungspsychologischen Säuglings- und Kleinkindforschung stärker als bisher bei der psychoanalytischen Theorienbildung über die frühe Kindheitsentwicklung mit heranzuziehen. Baumgart (1991) sowie Tyson und Tyson (1997) haben ebenfalls einen der neueren Integrationsversuche unternommen. Besonders hervorzuheben sind Forschungsarbeiten, die psychoanalytische Konzepte empirisch untersuchen, wie beispielsweise die Baseler Arbeiten um Kai von Klitzing (7 Kap. 7), die überwiegend an klinisch unauffälligen Familien ansetzen. Durch die Entdeckung neuer Faktoren zur Erklärung von Psychopathologie wird so ein vertieftes Verständnis der Bedeutung von Objektbeziehungen bei der Entstehung und Behandlung von Störungen ermöglicht.
Entwicklungspsychopathologie Psychoanalyse und entwicklungspsychologische Säuglingsforschung unterscheiden sich aber nach wie vor substantiell darin, dass sich die Psychoanalyse mit Pathologie, die entwicklungspsychologische Säuglingsforschung sich dagegen mit Normalität beschäftigt. Allerdings hat sich in den letzten Jahrzehnten immer stärker das Bewusstsein durchgesetzt, dass Entwicklungsbeeinträchtigungen häufiger als ursprünglich angenommen bestehen und dass man aus der Analyse von gestörten Entwicklungsverläufen sehr viel an Erkenntnissen für die Abläufe gesunder Entwicklung erfahren kann. Seit Beginn der 1980er Jahre konnten beide Perspektiven, d. h. die klinisch-psychoanalytische und die entwicklungspsychologische, auf einem neuen
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Kapitel 1 · Entwicklungspsychologie und Psychotherapie: Zwei »feindliche Schestern«?
Feld, der Entwicklungspsychopathologie, zusammengeführt werden (Sroufe u. Rutter 1984). Eine Wiesbadenerin, Emmy Werner, wurde zur herausragenden Mitbegründerin dieser neuen Disziplin und leitete die aufsehenerregende Kauai-Studie, in der sämtliche neugeborenen Kinder und ihre Familien einer hawaianischen Insel über zwei Jahrzehnte regelmäßig beobachtet und untersucht wurden, um Aufschluss über gelingende und scheiternde Entwicklungsprozesse und deren Determinanten zu finden. Es wurden also normale Entwicklungsverläufe studiert, einschließlich der Kinder, die sich im Verlauf der Zeit problematisch entwickelten. Risiko- und Schutzfaktoren für eine gesunde und pathologische Entwicklung konnten identifiziert werden (Werner u. Smith 1982). In dieser neuen Forschungsrichtung wurden, ausgehend von großen Gruppen ursprünglich gesunder Kinder, erstmalig die pathogenen Einflüsse vom Zeitpunkt der Geburt an untersucht. Die neue Forschungsrichtung hat eine ganze Anzahl ungewöhnlicher und beeindruckender Ergebnisse gebracht, so z. B. die Ergebnisse zur Resilienz: Auch Kinder, die unter extrem ungünstigen Belastungen und stressreichen Bedingungen aufwuchsen (wie Verlust der Mutter, schwere chronische Erkrankung, ökonomische Deprivation), konnten sich gesund entwickeln, wenn kompensatorische Schutzfaktoren in ihrer eigenen Person oder in der Umwelt vorhanden waren. Damit wurde deutlich, dass belastende Lebenssituationen und kritische bzw. traumatisierende Ereignisse nicht notwendigerweise und in jedem Fall zum Ausbruch schwerer psychischer oder körperlicher Erkrankungen führen müssen – eine zentrale These der Psychoanalyse –, sondern eine erhebliche Varianz hinsichtlich der Individuen besteht, die letztlich eine neurotische Entwicklung durchmachen (Resch 1999).
Forschungsanstöße für die Entwicklungspsychologie Genuin psychoanalytische Konzepte wurden sehr selten empirisch in der Entwicklungspsychologie untersucht; eine Ausnahme bildet die Untersuchung des Ödipuskomplexes (Greve u. Roos 1996). Die Entwicklungspsychologie hat der psychoanalytischen Entwicklungstheorie aber wesentliche Anstöße zu empirischen Studien zu verdanken. Wir haben bereits auf die Forschungsanstöße bezüglich der Untersuchung von Beziehungen im frühen Kindesalter hingewiesen. Ein nicht unerheblicher Teil der neueren Konstrukte in der Entwicklungspsychologie (z. B. Missbrauch, Bindung, Bewältigung, inneres Arbeitsmodell, Trauma) sind psychoanalytischer Herkunft und haben zu fruchtbaren und interessanten Forschungsergebnissen geführt. Thesen der Psychoanalyse zur Bedeutung früher Bindungen und traumatischer Ereignisse wurden zu empirischen Hauptströmungen früherer und heutiger Entwicklungspsychologie (z. B. Traumaforschung, Deprivationsforschung, LebensereignisForschung, Missbrauchs-Forschung). Für die Entwicklungspsychologie ist es daher ebenfalls an der Zeit, offensiver mit psychoanalytischem Gedankengut umzugehen. Man muss sich schon fragen, warum es im deutschsprachigen Raum erst möglich ist, psychoanalytische Konstrukte zu übernehmen und zu untersuchen, wenn sie in anglisierter Form »salonfähig« geworden sind. Eine gewisse Selbstkritik hinsichtlich der Überfrachtung mancher Operationalisierungen (Stichwort: Fixationsdauer) und ein Stück Kreativität bei der Entwicklung geeigneter Untersuchungsansätze wären auch am Platze. Die Anleihen der Entwicklungspsychologie bei genuin psychoanalytischen Methoden sind jedenfalls unverkennbar und werden im weiteren Verlauf dieses Buches, so bei der Erfassung von Bindungsverhalten durch das AdultAttachment-Interview, noch dargestellt werden. Die beiden »feindlichen Schwestern« haben sich, zusammengefasst, in den letzten Jahren sehr aufeinander zu bewegt. Aber es bleibt noch Einiges zu tun, um eine echte Integration zu leisten. Dieses Buch ist als Beitrag zu verstehen, uns in diesem Punkt ein Stück weit voranzubringen.
1.7 Integrative Ansätze
Fazit Kann man gegenwärtig von einer einheitlichen psychoanalytischen Entwicklungstheorie sprechen? 5 Es gibt Diskontinuitäten und Kontroversen, aber auch Übereinstimmungen zwischen den Konzeptionen von Freud, Anna Freud, Klein, Winnicott, Spitz und Mahler. 5 Lange Zeit wurde ein sehr enger Entwicklungsbegriff verfolgt, der nur die frühen Entwicklungsphasen umfasst und nicht der in diesem Buch vertretenen Konzeption des Individuums als aktivem Gestalter seiner Entwicklung entspricht. 5 Psychoanalytische Konzepte stehen verstärkt Pate für die neuere entwicklungspsychologische Forschung.
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2 Wenn die fördernde Umwelt ausfällt 2.1
Winnicotts Beitrag zum Verständnis früher Beziehungsentwicklung – 28
2.2
Wilde Kinder oder Wolfskinder
2.3
Verbrechen an der Seele: Kaspar Hauser – 31
2.4
Victor von Aveyron
2.5
Extreme Entwicklungsbedingungen: Kinder in Heimen – 37
2.6
Kinder depressiver Mutter – 41
2.7
Elternverlust durch Tod
2.8
Der therapeutische Umgang mit frühen Verlusten: Das zerbrochene Herz – 48
2.9
Das zerbrochene Herz: Reinszenierung von Trennungen in der Psychotherapie
– 30
– 34
– 45
– 49
28
>>
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Um angemessen beurteilen zu können, ob bestimmte Verhaltensweisen oder Defizite als pathologisch einzuschätzen sind, braucht man genaue Kenntnisse der normalen Entwicklung. Andererseits können aber auch gerade abweichende Entwicklungsverläufe für das Verständnis der normalen Entwicklung von großem Wert und Nutzen sein. Oftmals werden Bedingungen, Mechanismen und Prozesse, die eine normale Entwicklung ermöglichen, steuern und vorantreiben, besonders deutlich, wenn sie fehlen bzw. versagen. Die in diesem Buch vertretene Konzeption von Entwicklung betont die Eigenaktivität, d. h. betrachtet Kinder, Jugendliche und Erwachsene als Agenten ihrer eigenen Entwicklung. Dies setzt aber immer einen angemessenen und förderlichen Entwicklungskontext und liebevolle Beziehungen zu wichtigen Bezugspersonen voraus. Kein Mensch kann sich in einem sozialen Vakuum entwickeln. Jedes menschliche Neugeborene ist auf andere (erwachsene) Menschen angewiesen. Sie müssen seine körperlichen Bedürfnisse befriedigen und ihm psychisch Geborgenheit und Sicherheit geben, damit es wachsen und gedeihen kann. Normalerweise übernehmen die biologischen Eltern oder Ersatzeltern diese Aufgaben. Welche katastrophalen Auswirkungen frühkindliche Mutter-Kind-Trennungen haben, ist seit den berühmten Findelhausuntersuchungen bekannt. Noch dramatischer sind die Ausfälle und Beeinträchtigungen, die bei wilden Kindern, die praktisch ohne menschliche Bezugspersonen aufwuchsen, beobachtet wurden. Diese Beobachtungen haben unmittelbare klinische Relevanz und lassen sich zu dem Verhalten von Eltern, die aufgrund eigener schwerer Erkrankungen wie Depressionen oder Psychosen ihre Kinder vernachlässigen, in Beziehung setzen.
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Kapitel 2 · Wenn die fördernde Umwelt ausfällt
2.1
Winnicotts Beitrag zum Verständnis früher Beziehungsentwicklung
Über die früheste Entwicklungsphase, die orale Phase, liegen wesentlich mehr und differenziertere Konzeptionen vor als über andere Entwicklungsphasen. Diese Phase ist deshalb so entscheidend, weil nach einheitlicher Meinung verschiedener Schulen das Neugeborene noch nicht über ein Ich verfügt, sondern erst im Laufe der ersten Wochen ein zunächst sehr stark körperbezogenes Ich bildet. Diese Bildung erster Ich-Strukturen ist ganz eng an die liebevolle Beziehung zu einer Pflegeperson, in der Regel die Mutter, geknüpft. Beziehungsentwicklung, Körperkonzept und Identität sind demnach untrennbar miteinander verbunden. Obwohl auch andere Autoren diese Tatsache unterstreichen, kommt
dies am prägnantesten in den Arbeiten von Winnicott zum Ausdruck: Der Brite Donald Winnicott stellte erstmals die wechselseitige Beziehung zwischen Mutter und Kind in den Mittelpunkt seiner Ausführungen und erkannte damit der frühen Interaktion – ohne diesen neueren Begriff zu benutzen – seine volle Bedeutung zu. Seine besondere Entdeckung bestand letztlich darin, der Mutter als einer äußeren Person eine elementare Funktion in der frühen Entwicklung des Kindes zuerkannt zu haben (Storck 1986, S. 28). Auf Winnicotts Konzeption der Entwicklung wird immer wieder eingegangen. Sie dient als Leitlinie für die Beschreibung früher Entwicklungsprozesse in der Eltern-Kind-Beziehung und ist besonders Thema in den 7 Kap. 2–4. Entsprechend Winnicotts Ansatz steht die Mutter-Kind-Beziehung ganz im Zentrum. Wir werden im Verlauf dieses Buches sehen, v. a. in 7 Kap. 5 und
2.1 Winnicotts Beitrag zum Verständnis früher Beziehungsentwicklung
7, dass dies eine Komplexitätsreduktion ist, da vermutlich von einer sehr frühen Entwicklungsphase an weitere wichtige Beziehungen eine entwicklungsfördernde Rolle spielen. Für die ganz frühe Phase des menschlichen Säuglings erscheint diese Komplexitätsreduktion allerdings sehr sinnvoll, weil der Beitrag der Mutter hier zentral ist und ihr Vorhandensein bzw. ihr Verlust die Weichen für alle weiteren noch möglichen Entwicklungsprozesse stellt. Das Thema »Wenn die fördernde Umwelt ausfällt« lässt sich theoretisch in Winnicotts 1965 erschienenem Buch »Maturational processes and the facilitating environment« verankern. Darin legt er eindrücklich dar, dass es unmöglich ist, den Säugling zu beschreiben, ohne seine Mutter zu beschreiben. Die Idee der Einheit in dieser frühen Entwicklungsphase wird in keiner psychoanalytischen Entwicklungstheorie so radikal vertreten. Obwohl Winnicott – wie erwähnt – anfangs einige Ideen Melanie Kleins teilte, distanzierte er sich später zunehmend von ihr. Als wichtigsten Kritikpunkt hebt er die Vernachlässigung des Umweltfaktors hervor, denn er ist der Auffassung, dass die frühkindliche Entwicklung wesentlich von einem Umweltfaktor geprägt ist: der mütterlichen Fürsorge.
Vernachlässigung des Umweltfaktors »Aber sie (M. Klein) wollte nie ganz anerkennen, dass es zugleich mit der Abhängigkeit des frühen Säuglingsalters wirklich eine Periode gibt, in der es unmöglich ist, einen Säugling zu beschreiben, ohne die Mutter zu beschreiben, die der Säugling noch nicht von einem Selbst zu trennen vermag.« (Winnicott 1965/2002, S. 232)
Eine Basis für Winnicotts Konzeption waren die sehr umfangreichen Beobachtungen von Mutter-Kind-Interaktionen während seiner ärztlichen Tätigkeit (7 Kap. 1), in der die mütterliche Fürsorge deutlich wurde. Im Zentrum des Winnicottschen Ansatzes steht die Theorie von der Beziehung zwischen Mutter und Kind. Für Winnicott ist die Idee der Einheit sehr wichtig. Er schrieb einmal: »There’s no such thing as an infant« (Winnicott 1965). Ohne die
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2
mütterliche Fürsorge gibt es keinen Säugling. »Der Säugling und die Mutterpflege bilden eine Einheit.« (Winnicott 1965/2002, S. 50) In dieser Einheit besteht das Hauptcharakteristikum des Säuglings in seiner Abhängigkeit und das der Mutter in einem spezifischen psychischen Zustand, der primären Mütterlichkeit (»primary maternal preoccupation«), ohne die die innere Bereitschaft der Mutter, ganz für das Kind da zu sein, nicht zu verstehen ist. In einer gesunden Entwicklung wandelt sich die Abhängigkeit des Säuglings zunehmend in Richtung Unabhängigkeit, und die Mutter-Kind-Einheit beginnt sich allmählich zu lösen. Für diese Entwicklungsschritte hat Winnicott weitere Konzeptionen entwickelt (7 Kap. 3 und 4). Er sieht durchaus, dass die biologische Grundausstattung wichtig ist, weist aber darauf hin, »dass das ererbte Potential eines Säuglings kein Säugling werden kann, wenn es nicht mit der mütterlichen Fürsorge zusammengebracht wird« (ebd., S. 55). Wichtige Konzepte in der Theorie der Mutter-Kind-Beziehung 5 5 5 5 5
Idee der Einheit Abhängigkeit des Säuglings Primäre Mütterlichkeit Mütterliche Fürsorge Ererbtes Potential
Winnicott weist auf die Etymologie des englischen Wortes für Säugling hin und betont, dass das sehr junge Kind noch nicht sprechen kann und somit auf das mütterliche Einfühlungsvermögen angewiesen ist. Tatsächlich bedeutet das Wort »infant« in deutscher Sprache »nicht sprechend«, und es ist nützlich, sich das Säuglingsalter als eine Phase vor der Wortbildung und vor dem Gebrauch von Symbolen zu denken. Daraus folgt, dass es sich auf eine Phase bezieht, in der der Säugling von einer mütterlichen Fürsorge abhängig ist, die nicht auf dem Verstehen dessen beruht, was verbal ausgedrückt wird oder werden könnte, sondern auf mütterlichem Einfühlungsvermögen (Winnicott 1965/2002). Für Winnicott ist das Säuglingsalter eine Periode der Ich-Entwicklung, und zwar hauptsächlich der Ich-Integration. Bei diesem Prozess spielt die mütterliche Fürsorge eine ganz bedeutsame Rolle:
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Kapitel 2 · Wenn die fördernde Umwelt ausfällt
Ich vertrete hier die Ansicht, der Hauptgrund, warum der Säugling in seiner Entwicklung gewöhnlich fähig wird, das Ich zu beherrschen, und warum das Ich lernt, das Es einzubeziehen, sei die Tatsache der mütterlichen Fürsorge, die Tatsache, dass das Ich des Säuglings durch das Ich der Mutter vertreten und so kraftvoll und stabil gemacht wird. (ebd., S. 52)
Ohne die mütterliche Fürsorge gibt es also keinen Säugling. Der Säugling und die Mutter bilden eine Einheit von wechselseitiger Bezogenheit, in der wesentliche Ich-Funktionen gelernt werden.
2.2
Wilde Kinder oder Wolfskinder
Von welcher enormen Bedeutung und entwicklungsfördernder Funktion diese Einheit zwischen Mutter und Kind ist, zeigt sich am beeindruckendsten in der Analyse der dokumentierten Fälle von wilden Kindern oder Wolfskindern. Inzwischen sind 50 Fälle solcher Wolfskinder wissenschaftlich belegt. Das erste Wolfskind – der so genannte hessische Wolfsjunge – wurde 1344 dokumentiert, die jüngste Dokumentation reicht bis in die Gegenwart zum Affenkind von Teheran, über das im Jahre 1961 berichtet wurde. Zwischen 1344 und 1700 werden in der Literatur lediglich fünf Fälle von wilden Kindern berichtet, im Zeitraum von 1700 bis 1832 sind es schon 26. Geht man davon aus, dass Kindesaussetzungen in allen Epochen bis ins 18. Jahrhundert nicht besonders ungewöhnlich waren, so kommen diese Zahlen wohl kaum dadurch zustande, dass mehr Kinder ausgesetzt wurden, sondern eher dadurch, dass sich der Blick der Wissenschaften auf diese Erscheinungen zu richten begann. Definition Wilde Kinder oder Wolfskinder sind menschliche Wesen, die entweder im jugendlichen Alter in der freien Natur aufgefunden wurden, wo sie in einigen seltenen Fällen offenbar mit Tieren zusammengelebt hatten oder – wie im Fall von Kaspar Hauser – plötzlich in der zivilisierten Gemeinschaft der Menschen auftauchten, ohne dass ihre Herkunft oder vorherige Lebensweise genau aufzuklären gewesen wäre.
Wir werden drei Wolfskinder genauer analysieren: Peter von Hameln, Kaspar Hauser und Victor von Aveyron. Alle drei scheinen in der Wildnis und Isolation die zum Überleben notwendigen rudimentären Handlungsweisen, aber durchaus auch sehr spezielle und erstaunliche Fähigkeiten entwickelt zu haben.
Peter von Hameln In der Nummer 104 der »Neuen Zeitung von Gelehrten Sachen« vom Dezember 1725 befindet sich auf Seite 1014 eine kurze Notiz: Hannover. Man hat Sr. Königlichen Majestät einen Knaben von etwa 15 Jahren gebracht, der in einem Wald nahe bei Hameln gefunden worden, allwo er auf Händen und Füßen ging und auf die Bäume kletterte wie ein vierfüßiges Thier. Weil er nicht reden kann, so weiß man nicht, wie oder wenn er in diesen Wald gekommen, allwo er bloß von Mooß und Kräutern gelebet. Man gewöhnte ihn nach und nach zu den ordentlichen Speisen und der König hat verordnet, ihn soviel wie möglich zu unterweisen.
Peter von Hameln ist der erste Fall, und er ist recht unspektakulär. Er weist aber in allen wesentlichen Merkmalen schon die Charakteristiken der anderen Wolfskinder auf. Man fand ihn zur Zeit der Weizenernte in der Gegend von Hameln. Er war damals etwa 15 Jahre alt, ernährte sich von Pflanzen und Rinde und war kaum bekleidet (. Abb. 2.1). Auch in der Zivilisation war er anfangs nicht dazu zu bringen, Kleidung zu tragen. Sprechen konnte er nicht. Darüber, wann er ausgesetzt wurde und wie lange er in der Wildnis gelebt hatte, existieren keine zuverlässigen Daten. Zunächst beschäftigte man sich in Hameln und Hannover einige Zeit mit ihm. Eine Notiz in der »Neuen Zeitung von Gelehrten Sachen« von 1726 besagt, dass man ihm das Sprechen beibringen wollte. Wie andere wilde Kinder hatte er Interesse von höchster Stelle hervorgerufen. Er wurde zum König von Hannover gebracht, der dann später King George I. wurde. Peter von Hameln ging mit ihm nach England und lebte an verschiedenen Orten, entfloh dort auch zuweilen, wurde aber immer wieder aufgegriffen. Er starb im Jahre 1785. In England wurden mehrere Dokumentationen
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2.3 Verbrechen an der Seele: Kaspar Hauser
2.3
. Abb. 2.1. Peter von Hameln
über seine Entwicklung angefertigt. Wegen seines seltsamen Verhaltens war man sich nicht im Klaren, ob er nicht »more of the Ourang-Ourang species than of the human« sei (Gentleman’s Magazine 20, 1751, S. 522). Ein besonders interessantes Dokument ist der Bericht von Lord Monboddo. Danach lernte Peter zwar im Laufe der Jahre, alles Nötige zu verstehen, selbst sprechen konnte er aber außer seinem Namen und dem des Königs kein Wort. Seine Nahrung passte sich allmählich normaler Kost an, und er lernte aufrecht zu gehen. In diesem Zusammenhang bestätigte man ihm im Gentlemen’s Magazine, dass er kein Idiot sei, sondern sogar gewisse Formen des »common understanding« habe. In der Tat war eine wichtige Frage bei allen Wolfskindern, ob sie schwachsinnig wären. Die z. T. erheblichen spezifischen Fertigkeiten, die sie in der Wildnis erworben hatten, sprachen jedoch gegen eine solche These. Die Frage, inwieweit sich kognitive, sprachliche und soziale Fertigkeiten entwickelten und inwieweit sie als angeboren oder durch Erziehung beeinflusst betrachtet werden müssen, stand im Raum und wird bei den beiden folgenden wilden Kindern, über die wir sehr genaue Dokumentationen haben, noch deutlicher.
2
Verbrechen an der Seele: Kaspar Hauser
Das Schicksal von Kaspar Hauser ist umfangreich in Form von Büchern und Schriften dokumentiert und mehrfach verfilmt worden. Er tauchte 1828 in Nürnberg auf und wurde 1833 ermordet. . Abb. 2.2 zeigt Kaspar kurz nach seinem Erscheinen in Nürnberg. Kaspar Hauser stand 1828 in Nürnberg plötzlich mitten auf einem öffentlichen Platz mit einem Brief in der Hand, der auf seine Herkunft verweisen sollte. Ob dieser Brief Aufschluss über seine tatsächliche Herkunft gab oder nur fingiert war, ist nie geklärt worden. Danach wäre er jedenfalls 1812 geboren, Kaspar genannt und dann später ausgesetzt worden. Nun kam er nach Nürnberg, um »ein solcher Reiter (zu) werden wie mein Vater es war«. Eine andere, von Anselm von Feuerbach in Umlauf gebrachte Version besagte dagegen, dass Kaspar adeliger Herkunft gewesen wäre und aus Gründen der Thronfolge beseitigt werden sollte. Für diese These spricht auch die Ermordung Kaspars im Jahre 1833 in Ansbach. Denn während der fünf Jahre, die er in menschlicher Gemeinschaft zugebracht
. Abb. 2.2. Kaspar Hauser zum Zeitpunkt seines Auftauchens in Nürnberg
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Kapitel 2 · Wenn die fördernde Umwelt ausfällt
hatte, ist kein Motiv zu erkennen, das eine solche Tat rechtfertigte. Zum Zeitpunkt seines Auftauchens ernährte er sich nur von Wasser und Brot und verfügte über ein auffallendes Gehör, einen ausgeprägten Geruchssinn und ein enormes nächtliches Sehvermögen. Sein Wortschatz war am Anfang sehr begrenzt. Außer dem Satz »Ich möchte ein solcher Reiter werden, wie mein Vater es war« benutzte er nur häufiger das Wort »Ross«, also Pferd. Damit drückte er durchaus unterschiedliche Bedürfnisse und Absichten aus. Während der ersten Befragungen stellt sich heraus, dass Kaspar vermutlich von seinem 4. Lebensjahr bis zu seinem Erscheinen in Nürnberg isoliert in einem dunklen Raum gelebt, besser: vegetiert haben muss, mit Nahrung und Kleidung wahrscheinlich versorgt, während er schlief. Er wurde zunächst zwei Jahre lang durch den Gymnasiallehrer Daumer unterrichtet und lernte sprechen, lesen und schreiben. Die weitere Unterrichtung erfolgte dann durch Feuerbach. Zwei Gutachten wurden über ihn angefertigt: Das erste Gutachten 1828 – das ist ungefähr der Zeitpunkt, zu dem er aus dem Kerker kam – bescheinigte ihm
die Intelligenz eines 3- oder 4-Jährigen. Zwei Jahre später bescheinigte ihm das Gutachten bereits die Fähigkeiten eines 8-Jährigen. Kaspar war gegenüber Dingen zunächst animistisch eingestellt, d. h., er betrachtete sie als mit Bewusstsein, Empfindung und eigenem Willen ausgestattet. Rollende Äpfel »können laufen«, bleiben sie liegen, sind sie »müde«. Der Wind fegte seiner Meinung nach ein Blatt absichtlich zu Boden, und Bäume empfinden Schmerz, wenn man sie schlägt. Einer Katze will Kaspar das Laufen auf zwei Beinen beibringen. Allmählich entwickelte er, wie Feuerbach (1832, S. 128) schreibt, ein Verständnis für familiäre Beziehungen und Konstellationen. Er gewöhnte sich an alltägliche Kost, vergrößerte seinen Wortschatz und wurde im Laufe der Jahre ein Mensch von »trockenem, aber kerngesundem Menschenverstand«. Kaspar machte also enorme Entwicklungsfortschritte. Er lernte sprechen, zeichnen und fertigte mehrere Fassungen einer Autobiographie an. In einem Gutachten heißt es: Hausers geistige Anlagen machten während der ersten Zeit seines Hierseins ungemein schnelle Fortschritte. Er zeigte Fähigkeiten und Talente, welche zu den schönsten Erwartungen berechtigen.
12 13 14 15 16 57 18 19 20 . Abb. 2.3. Kaspar Hauser, nachdem er einige Jahre unter Menschen gelebt hatte
Gleichzeitig entwickelte sich die anfangs festgestellte Schärfe gewisser Sinnesfunktionen, insbesondere seines Gehörs und seines enormen nächtlichen Sehvermögens auf das normale Maß zurück. . Abb. 2.3 zeigt Kaspar Hauser, nachdem er einige Jahre unter Menschen gelebt hatte. Um sich zu verdeutlichen, warum Kaspar Hauser solche enormen Entwicklungsfortschritte machte, schauen wir uns den Phasenverlauf seiner Entführung an, der auf Forschungen von Leonhardt (2001) beruht (. Tab. 2.1). Kaspar Hauser lebte zunächst vom Alter von etwa 3 Wochen bis ungefähr zum 3. Lebensjahr bei Familie Blochmann – bis zum Tod der Pflegemutter. Man fand Impfnarben bei ihm, die darauf schließen ließen, dass man den Wunsch hatte, der »Erbprinz« möge am Leben bleiben. Er wurde dann auf Schloss Beuggen gebracht; dort lebte er zwei Jahre, als er etwa 3–5 Jahre alt war. Damals wurde eine Flaschenpost bei Colmar gefunden, die auf seine Gefangenhaltung verwies. Die Flaschenpost
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2.3 Verbrechen an der Seele: Kaspar Hauser
2
. Tab. 2.1. Phasenverlauf 1. Station:
Bei Familie Blochmann
= Vom Alter von 3 Wochen bis zum 3. Lebensjahr = Im 3. Lebensjahr Tod der Pflegemutter = Impfnarben: Der Erbprinz sollte am Leben bleiben
2. Station:
Schloss Beuggen
= ca. 2 Jahre (von 3–4/5 Jahre) = Flaschenpost verweist auf Gefangenhaltung = K. zeichnet später Wappen, erinnert sich an Dame mit Federhut
3. Station:
Schloss Pilsach
= Vom Alter von 4–5 Jahren bis zum 22. Lebensjahr = Pilsacher Holzpferd = Der Kerker = Der »Kerkermeister«
4. Station:
Schloss Pilsach
= Vorbereitung zum Aufbruch = Gehen lernen = Brief und auswendig gelernte Sätze
enthielt in verschlüsselter Weise auch den Namen Kaspar Hauser in der Unterschrift: Wer auch immer diesen Text finden wird – ich werde in einem Kerker bei Laufenberg am Rhein gefangen gehalten. Mein unterirdischer Kerker ist sogar dem bekannt, der sich meines Thrones bemächtigt hat. Ich kann nicht mehr schreiben, da ich sorgfältig und grausam bewacht werde. Hannes Sparinzio.
Später erinnert sich Kaspar an diese Periode, zeichnet eine Dame mit Federhut und auch das Wappen des Schlosses Beuggen. Die weiteren Phasen seiner Gefangennahme sind dann auf Schloss Pilsach lokalisiert, wo er einen sehr langen Zeitraum von etwa 4–5 Jahren bis zum Alter von 22 Jahren verbringt. Ulrike Leonhardt (2001) hat die Station in Pilsach genauer analysiert. Sie hat das Pilsacher Holzpferd (. Abb. 2.4) gefunden, mit dem Kaspar Hauser lange Jahre in diesem Kerker verbracht, gespielt und gesprochen hat. Sie identifizierte auch den Kerkerraum, der extrem niedrig war. Kaspar konnte nicht aufrecht stehen und musste sitzen. In seiner Autobiographie hat er auch über den Kerkermeister geschrieben, der ihn nachts mit Essen und auch Kleidung versorgte, während er schlief oder auch vorgab zu schlafen. Vorbereitungen zum Aufbruch fanden noch auf Schloss Pilsach statt. Der Kerkermeister brachte ihm das Gehen bei, was in dem Film »Kaspar Hauser« mit André Eisermann in der Titelrolle sehr eindrücklich dargestellt wurde.
Die Herkunft von Kaspar Hauser ist nie geklärt worden. Eine Blutanalyse, die im Jahre 1997 auf der Basis der Kleidung angefertigt wurde, die Kaspar bei seiner Ermordung trug, erbrachte keine Hinweise, dass er aus dem Hause Baden stammt. Allerdings gab es einige Ungereimtheiten. Nicht das Haus Baden hat das Vergleichsblut zur Verfügung gestellt, sondern ein Nachfahre aus dem Hause Napoleon, denn Kaspars Mutter war vermutlich eine Nichte Napoleons. Auch wurde die Blutanalyse nicht mit dem Blut der Stichverletzung am Herzen an der Weste von Ansbach durchgeführt, sondern bezog sich auf Blut an der Hose. Inzwischen ist man sich einig, dass die Blutanalyse wiederholt werden sollte.
. Abb. 2.4. Pilsacher Holzpferd
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Kapitel 2 · Wenn die fördernde Umwelt ausfällt
re Verfilmungen, von denen der Film mit André Eisermann und Katharina Thalbach sicher der bekannteste ist. Er veranschaulicht eindrucksvoll sowohl die enorme Lernbereitschaft als auch die soziale und emotionale Sensibilität von Kaspar und zeigt auf, was Feuerbach bereits 1832 schrieb: das »Verbrechen am Seelenleben des Menschen«.
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Victor von Aveyron
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2.4
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Unser letzter Fall, Victor von Aveyron, stammt aus Frankreich. Er wurde im Jahre 1800 im Wald von Rodez im Departement Aveyron nach mehreren vergeblichen Versuchen eingefangen und war zu diesem Zeitpunkt etwa 12 Jahre alt. Er war völlig verwildert, aber zu rudimentären lebenserhaltenden Tätigkeiten fähig. Er ernährte sich von wilden Früchten, die er geschickt zuzubereiten wusste, und war sehr schnell und wendig. Auffällig waren seine starken Affekte – er war oft jähzornig, dann wieder völlig apathisch – und seine unartikulierten Vokalisationen. Der »Wilde von Aveyron« schlief von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang. Auch konnte er bestimmte Arten von Schmerz nicht vorhersagen und entsprechend vermeiden. So griff er in ein offenes Feuer, das er offensichtlich nicht kannte. Victor wurde zunächst dem Psychiater Pinel vorgestellt – wiederum war die Frage, ob es sich um eine Form des Schwachsinnes handele – und kam dann zu einem Taubstummenlehrer nach Paris, Jean Itard, der anderer Meinung war. Pinel hatte Victor als »Idiot« eingestuft, seine Sinne wären in einem Zustand der Stumpfheit, er wäre unfähig zur Aufmerksamkeit, besäße weder Gedächtnis noch Urteil noch Nachahmungsgabe. Itard versuchte, dieses Urteil zu revidieren. Er unterrichtete Victor und brachte ein enormes Erziehungsprogramm bei dem Wilden von Aveyron zur Anwendung, von dem wir im Folgenden einige Aspekte kennen lernen werden. Itard verfasste zwei Berichte über Victor, in denen er ausführlich beschrieb, wie er Victor zu erziehen versuchte (1801 und 1806, Malson et al. 1972). Ab 1806 lebte Victor völlig bei Madame Guerin (sie hatte ihn schon vorher bei Itard betreut), dort starb er auch 1828.
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. Abb. 2.5. Der schwarze Mann, Zeichnung von Kaspar Hauser
In jedem Fall ist mehrfach dokumentiert, dass Kaspar Angst vor einem schwarzen Mann (. Abb. 2.5) hatte, von dem er auch 1828 nach einer Vision Zeichnungen angefertigt hat. Schließlich ist bekannt, dass es einen Mordanschlag auf ihn gab und dass er 1833 ermordet wurde. Auch der Mordkomplott ist dokumentiert. Ein schwarzer Mann verspricht ihm, Auskunft über seine Herkunft, genauer gesagt: über die Herkunft seines Vaters zu geben. Kaspar Hauser verabredet sich mit ihm im Park von Ansbach und wird dort erstochen. Der Bürgermeister schreibt in seinem Nachruf: Kaspar Hauser, mein vielgeliebter Kurant, ist nicht mehr. Er starb zu Ansbach gestern nach zehn Uhr an den Folgen des 14. dieses Monats an der durch einen Meuchelmörder erlittenen Verwundung. Ihm, dem Opfer gräuelvoller älterer Unnatur, sind nun die Rätsel gelöst, an welcher die Vorsehung sein trauriges Dasein geknüpft hatte. Im ewigen Frühling jenseits wird der gerechte Gott ihm die gemordeten Freuden der Kindheit, die untergrabene Kraft der Jugend und die Vernichtung für ein Leben, das erst seit fünf Jahren ihn zum Bewusstsein des Menschen erhoben hatte, reich vergelten. Friede seiner Asche.
Das Schicksal von Kaspar Hauser hat viele Menschen bewegt; es existieren zahlreiche Bücher und Aufzeichnungen über ihn. Bereits 1927 verzeichnete eine Bibliographie über 1000 Titel zu Kaspar Hauser. Des Weiteren gibt es mehre-
2.4 Victor von Aveyron
Erziehungsprogramm von Itard 5 Victor für das Leben in der Gemeinschaft gewinnen, indem man es ihm angenehmer gestaltet als das, das er bisher geführt hat, und gleichzeitig dem Leben ähnlicher machte, das er verlassen hat 5 Die Sensibilität durch heftige Stimulanzien und zuweilen durch heftige seelische Erschütterungen wecken 5 Seinen Gedankenkreis erweitern, indem man ihm neue Bedürfnisse gibt und seine Beziehung zu der ihn umgebenden Welt vervielfältigt 5 Ihn zum Gebrauch der Sprache führen, wobei das Einüben der Nachahmung durch das zwingende Gebot der Notwendigkeit bestimmt wird 5 Die einfachen Geistestätigkeiten an die Gegenstände seiner körperlichen Bedürfnisse anlehnen und dann auf den Bildungsstoff ausdehnen
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machte er seiner Freude mit den durchdringendsten Schreien Luft, sprang umher, wälzte sich im Schnee, den er mit beiden Händen packte und mit unvorstellbarer Gier in seinen Mund stopfte. Oft bin ich stehen geblieben und habe ihn lange Stunden mit unsagbarer Freude in solchen Situationen beobachtet und gesehen, wie alle jene krampfhaften Zuckungen und jenes ständige Wiegen seines Körpers allmählich nachließen und einem ruhigeren Verhalten wichen. Und wie unmerklich sein ausdrucksloses und grimassierendes Gesicht einen tiefen Zug von Trauer und melancholischer Verträumtheit annahm, sobald seine Augen sich auf die Oberfläche des Wassers hefteten, in das er von Zeit zu Zeit einige dürre Blatter warf. Wenn nachts bei klarem Mondschein die Strahlen dieses Himmelskörpers in sein Zimmer drangen, wachte er meistens auf und stellte sich ans Fenster. Und dort verharrte er, wie seine Erzieherin berichtete, einen Teil der Nacht reglos mit angespanntem Nacken, die Augen auf die mondbeschienene Landschaft geheftet, in einer Art kontemplativer Extase.
In Malson et al. (1972) finden sich zahlreiche Beispiele der enormen emotionalen Bedeutung von Naturereignissen für Victor. Starke Emotionen traten fast ausschließlich bei der Beobachtung von Victor für das Leben in der Gemeinschaft gewinnen. Naturereignissen wie Wind, Sonnenschein, Regen Der erste Gesichtspunkt bei der Erziehung des Wil- etc. auf, und sein Umgang mit Natur war äußerst den von Aveyron – so beschrieb es Itard – bestand respektvoll. Wann immer er ein Glas Wasser darin, ihn für das Leben in der Gemeinschaft zu bekam, nahm er es in die Hand und trank es sorggewinnen, indem man es ihm angenehmer gestal- fältig Schluck für Schluck wie einen feinen Likör. tete als das, das er bisher geführt hatte, und gleichzeitig dem Leben ähnlicher machte, das er verlassen Die Sensibilität durch heftige Stimulanzien hatte. Es galt, Victor auf seine Weise glücklich zu wecken. Der zweite Gesichtspunkt in Itards Erziemachen, d. h. ihn bei Tagesende zu Bett zu bringen, hungsprogramm war die Sensibilität des Wilden ihm Nahrung nach seinem Geschmack vorzusetzen von Aveyron, wie er schreibt, durch heftige Stiund Spaziergänge mit ihm zu unternehmen. Wann mulanzien und zuweilen durch heftige seelische immer Victor im Zimmer allein war, konnte man Erschütterungen zu wecken. Victor war am Anfang beobachten, dass er sich in ermüdender Monoto- vollständig unempfindlich gegenüber Kälte und nie hin und her wiegte, seine Augen immerfort zum Hitze. So konnte er z. B. an einem offenen KaminFenster wandte und seinen Blick traurig in die Feme feuer vorbeigehen und einen herausgefallenen heischweifen ließ. Es war offenkundig, dass Victor das ßen Scheit ohne Probleme fassen und wieder ins Leben in der Natur sehr liebte und im Zimmer litt. Feuer zurückwerfen. Auch ging er in die Küche zu Sehr bemerkenswert war die enorme Bedeutung, Madame Guerin, seiner Pflegerin, griff in den Topf mit kochendem Wasser und holte sich eine Kartofdie Natur für ihn hatte. fel heraus, um sie zu essen. Itard verordnete heiße Eines Morgens, als es heftig schneite und er noch im Bäder, v. a. heiße Kopfwaschungen, die stundenlang Bett lag, stieß er beim Erwachen einen Freudenschrei andauerten. Nach drei Monaten erreichte Itard eine aus, stürzte aus dem Bett und zum Fenster und dann allgemeine Empfindlichkeit von Victor gegenüber zur Tür, rannte ungeduldig von einem zum anderen Kälte. Victor benutzte jetzt die Hand zum Messen und entwischte halb angekleidet in den Garten. Dort der Temperatur des Badewassers und einen Löffel,
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Kapitel 2 · Wenn die fördernde Umwelt ausfällt
wenn er Kartoffeln aus dem Topf nehmen wollte. Auch warf er ein brennendes Papier nun weg, wenn es zu nah an die Finger kam, und musste jetzt niesen, wenn man Tabak in seine Nähe brachte. Victors Gedankenkreis erweitern. Der dritte Gesichtspunkt dieses ehrgeizigen Erziehungsprogramms war es, Victors Gedankenkreis zu erweitern, indem man ihm neue Bedürfnisse gab und seine Beziehung zu der ihn umgebenden Welt vervielfältigte. Itard machte enorme Anstrengungen, verschiedene Formen von Spielen mit Victor zu spielen, fast völlig ohne Erfolg, die meisten Spielzeuge zerbrach der Wilde von Aveyron. Es glückte Itard schließlich, Victor für eine Art von Hütchenspiel zu interessieren, indem er unter einen Becher z. B. eine Nuss versteckte oder einen Apfel, die Victor sofort fand. Er hatte sehr viel Spaß an Spaziergängen und wurde sehr launig und unruhig, wenn er nicht hinaus durfte, so brachte er häufig die Leine zu Madame Guerin, um anzudeuten, dass er gerne mit ihr hinaus in den Park wollte. Ihn zum Gebrauch der Sprache führen. Der vierte Programmpunkt bezog sich auf den Gebrauch der Sprache. Victor war stumm und hatte außer vielen Narben an seinem Körper auch eine Narbe am Hals. Die Frage, die Itard beschäftigte, war: Kann der Wilde sprechen? Und wenn er sprechen kann, warum tut er es nicht? Die Sprachübungen waren von enormem Aufwand und zeigten nur sehr wenig Effekte. Der erste Hinweis darauf, dass Victor hören konnte, war das Erkennen der Stimmen von Taubstummen in der Anstalt, in der Itard unterrichtete. Die Stimmen der Taubstummen erinnern an Tierlaute. Das Nächste, was Victor erlernte, war die Bedeutung von »o«, und das hing damit zusammen, dass seine Erzieherin, eine typische Französin, Madame Guerin, häufiger »Oh!« oder »Mon dieu!« sagte. Itrad bemerkte dies und versuchte, ihm das Wort »eau«, also »Wasser«, zu buchstabieren oder die ausgeschnittenen, ausgesägten Buchstaben in die Hand zu geben – auch für »lait«, Milch, die er sehr gern trank –, aber es zeigte sich nur ein sehr geringer Erfolg. Victor konnte die Buchstaben hinlegen, aber dies war eher ein Ausdruck für polyvalente Globalwörter, also ein Ausdruck, der sehr viel bedeuten kann: Freude, Durst, aber nicht unbedingt Milch. Er hatte den Wortsinn, die symbolische Bedeutung,
nicht verstanden und erlernte eher Aktionssprache oder pantomimische Sprache. Er brachte beispielsweise Hut und Stock von Spaziergängern an, wenn er den Eindruck hatte, dass dieser Besuch lange genug geblieben war und eigentlich gehen sollte. Itards Erziehungsversuche waren sehr hart und umfassten aus heutiger Sicht unnötige und grausame Maßnahmen. Dies wurde besonders beim Umsetzen des fünften Gesichtspunkts deutlich, der darin bestand, die einfachen Geistestätigkeiten an die Gegenstände seiner körperlichen Bedürfnisse anzulehnen und dann auf den Bildungsstoff auszudehnen. Die einfachen Geistestätigkeiten an die Gegenstände der körperlichen Bedürfnisse anlehnen.
Itard machte umfangreiche Studien, indem er Victor beizubringen versuchte, ein rotes Viereck, ein schwarzes Dreieck oder einen blauen Kreis o. Ä. voneinander zu unterscheiden und ihm jeweils zu bringen. Diese Arbeit mit den abstrakten Figuren, Formen und Farben fiel Victor enorm schwer, und er bekam häufig Wutausbrüche. Dies führte schließlich auch bei Itard zu der Einsicht, dass man ihn nicht länger quälen sollte. Fassen wir die bisherigen Befunde zu den wilden Kindern zusammen, so lässt sich feststellen, dass Victor den intellektuellen und sozialen Entwicklungsstand von Kaspar nie erreichte, trotz eines vieljährigen, intensiven Trainings. Kaspar Hauser hingegen hat alle wesentlichen Entwicklungsprozesse, sozial, emotional, kognitiv, sprachlich wie in einem Zeitrafferverfahren nachvollzogen. Besonders hervorzuheben ist seine emotionale Bindung an bestimmte Personen. Victor von Aveyron dagegen hat sich lediglich etwas an Madame Guerin gebunden, wirklich starke Affekte zeigte er nur in Bezug auf Naturereignisse. Auch wenn es sicher sensible Phasen für bestimmte Entwicklungsprozesse (wie etwa die Sprachentwicklung) gibt, so ist emotionale Zuwendung, insbesondere die mütterliche Zuwendung, offenkundig sehr entscheidend für die weitere Entwicklung in allen anderen Entwicklungsbereichen. Kaspar Hausers enorme Lernfortschritte in all diesen Bereichen sind nur verständlich vor dem Hintergrund der Tatsache, dass er die ersten Lebensjahre offenkundig wie ein ganz normales Kind in einer engen Beziehung zu einer Pflegeperson verbracht hat.
2.5 Extreme Entwicklungsbedingungen: Kinder in Heimen
2.5
Extreme Entwicklungsbedingungen: Kinder in Heimen
Wir können die Beobachtung an wilden Kindern noch am ehesten mit Beobachtungen und Erfahrungen in Zusammenhang bringen, die Einflüsse auf die Entwicklung oder gar eine Entwicklungsarretierung bei Kindern, die unter extremen Bedingungen aufgewachsen sind, zeigen. Im Folgenden werden wir uns mit traumatischen Erfahrungen von Elternverlust beschäftigen und dabei zunächst die frühen Studien über Hospitalismus, die anaklitische Depression und die Entwicklung von Heimkindern betrachten. Dann werden wir auf die entwicklungsbehindernden, entwicklungsarretierenden Folgen eingehen, die auftreten, wenn Kinder Eltern haben, die sehr krank sind, z. B. Mütter, die sehr depressiv sind. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass die alarmierenden Folgen frühkindlicher Mutter-Kind-Trennungen weltweit zur Auflösung und Neuorganisation von Waisenhäusern und auch zu weiteren Konsequenzen bei der Betreuung von Kindern im Krankenhaus, etwa in Form von Rooming-in, geführt haben. Des Weiteren ist zu bedenken, dass sich die damaligen Zustände deutlich von heutigen Formen der Fremdbetreuung unterscheiden. Die Kinder lagen damals in weißen Bettchen, vor weißen Wänden und wurden gefüttert, indem man eine Flasche auf ein Kissen in ihrem Bettchen legte. Sie bekamen keine bunten Bilder zu sehen, hörten keine Musik, kaum die menschliche Stimme und wurden nicht herumgetragen. Es handelte sich um eine mehrfache Deprivation (visuell, akustisch, haptisch und emotional), wobei das Fehlen einer konstanten, liebevollen Bezugsperson sicher der entscheidende Faktor für die beobachteten dramatischen Entwicklungsarretierungen war.
Hospitalismus Erste Untersuchungen des Hospitalismus wurden in den Arbeiten von Spitz (1945) berichtet. Retardierung bei Heimkindern wurde allerdings noch in den 1970er Jahren in Untersuchungen festgestellt, z. B. im Iran. Man fand sehr starke Beeinträchtigungen in der motorischen Entwicklung bei diesen iranischen Heimkindern. Mit 2 und 3 Jahren konn-
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2
te nur ein geringer Prozentsatz der Kinder aus drei Heimen, die vergleichend untersucht wurden, laufen. Im ersten Heim konnten 8 der Kinder laufen, im zweiten 15, im dritten dagegen konnten fast alle Kinder dieser Altersstufe ohne Hilfe laufen. Es gab offenkundig enorme Unterschiede, was den Anregungscharakter und die Umweltbedingungen, aber auch die emotionale Versorgung dieser Kinder in den Heimen anging. Dabei ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass motorische Übung für das Laufenlernen keine wirkliche Rolle spielt. Wir wissen aus Untersuchungen an Hopi-Indianern, dass es keine diesbezügliche Auswirkung hat, wenn Kinder über lange Perioden des Tages auf Wickelbrettern festgebunden sind. Hopi-Kinder lernen trotz dieser Hemmung ihrer Motorik über lange Perioden des Tages genauso schnell laufen wie beispielsweise europäische Kinder. Die mangelnde Übung ist also offenkundig nicht der entscheidende Faktor für die Arretierung in der motorischen Entwicklung, die man bei den Heimkindern im Iran feststellen konnte. Noch heute zeigen aktuelle Untersuchungen, z. B. an Kindern in rumänischen Waisenhäusern (Zeanah et al. 2005), gravierenden Minderwuchs, massive motorische, intellektuelle und sprachliche Defizite. Spitz hat in seinem Buch »Vom Säugling zum Kleinkind« (1965/1981) das Phänomen des Hospitalismus genau beschrieben. Trotz adäquater Ernährung und Hygiene entwickeln sich diese Kinder nicht weiter. Sie magern ab, werden völlig apathisch, zeigen vermindertes Interesse oder verminderte Reaktionsbereitschaft, eine Leere des Gesichtsausdrucks, verminderte Initiative, Rückstand in der Sprachentwicklung und Rückstand in der motorischen Entwicklung sowie eine starke Anfälligkeit gegenüber Infekten. Wir sehen also, dass die gesamte Entwicklung – die emotionale, die soziale, die sprachliche und die motorische – beeinträchtigt ist und dass sich bei diesen Kindern massive gesundheitliche Folgen nachweisen lassen. Spitz unterscheidet zwei Erkrankungen des Kleinkindes durch das Fehlen emotionaler Bindungen: 5 die durch den partiellen Entzug bedingte anaklitische Depression und 5 den vollständigen Entwicklungszusammenbruch mit schwersten körperlichen und psychischen Erkrankungen und sehr hoher Mortalitätsrate, bedingt durch den totalen Entzug, den eigentlichen Hospitalismus.
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Kapitel 2 · Wenn die fördernde Umwelt ausfällt
Anaklitische Depression Grundlage für Spitz’ Thesen waren Beobachtungen in Säuglingsheimen an 123 Kleinkindern im Alter von 12–18 Monaten, die die Mutter unterschiedlich lang entbehren mussten. Während dieser Zeit wurden sie vom Pflegepersonal versorgt. In den ersten sechs Monaten hatten die Säuglinge gute Beziehungen zu ihren Müttern und entwickelten sich gut. In der zweiten Hälfte des ersten Jahres, als die Trennungen einsetzten, wurden die Babys zunehmend weinerlich; dies wurde dann von einer Kontaktverweigerung abgelöst. Sie lagen dann meist auf dem Bauch mit abgewendetem Kopf in ihrem Bettchen, weigerten sich, am Leben ihrer Umwelt Anteil zu nehmen und reagierten kaum auf Besucher. Das weinerliche zurückhaltende Verhalten dauerte gewöhnlich 2–3 Monate an. Manche Kinder verloren an Gewicht und litten unter Schlaflosigkeit. Auffällig viele Erkältungen traten auf. Ihre Entwicklungsquotienten (EQ) zeigten zunächst einen Stillstand und dann ein allmähliches Absinken. Spitz hatte, wie in 7 Kapitel 1 erörtert, ein Jahr am Wiener Psychologischen Institut gearbeitet und bediente sich bei seinen späteren Untersuchungen dem von Hetzer und Bühler erarbeiteten Entwicklungstest für Babys und Kleinkinder, um den EQ zu messen. Das Verfahren erfasst verschiedene Bereiche der Entwicklung, z. B. emotionale, soziale, motorische, sprachliche Entwicklung; der erhaltene Entwicklungsquotient (EQ) ist in etwa vergleichbar einem Intelligenzqotienten (IQ), mit einem Mittelwert um 100 und einer Streuung ± 15. Im 3. Monat verweigerten die Kinder den Kontakt. Sie lagen meistens in ihrem Bettchen auf dem Bauch, was Spitz pathognomisches Zeichen nennt (. Abb. 2.6). Entscheidend ist, dass sie abgewandt vom Besucher lagen. Die Schlaflosigkeit beginnt, weitere Gewichtsverluste zeigen sich, die Kinder sind jetzt anfällig für Erkrankungen, die motorische Entwicklung verlangsamt sich, und wir finden ein erstes Auftreten der typischen gefrorenen Starre des Gesichtsausdruckes: die Kinder schauen den Besucher mit weit geöffneten, aber anscheinend blicklosen Augen, mit einem abwesenden Ausdruck an (. Abb. 2.7). Nach dem 3. Monat wird der starre Gesichtsausdruck zu einer Dauererscheinung; das Weinen hört
auf und wird durch Wimmern ersetzt. Die motorische Verlangsamung nimmt zu und mündet in Lethargie. Der Entwicklungsquotient beginnt jetzt zu sinken. Anaklitische Depression (Spitz 1965/1981) Unter 123 Kindern, die während des 1. Lebensjahres beobachtet worden waren, fand man 19 Kinder mit deutlich ausgeprägten Symptomen. Andere Kinder ließen nach anfänglicher Ablehnung eine Annäherung zu, klammerten sich aber verzweifelt an die Erwachsenen. Bei 19 Kindern zeigten sich folgende Stadien der anaklitischen Depression: 5 1. Monat: Weinerliches, anspruchsvolles und anklammerndes Verhalten an den Beobachter 5 2. Monat: Zunahme von Schreien, Gewichtsverluste, Stagnieren des EQ 5 3. Monat: Kontaktverweigerung, pathognomische Zeichen, Schlaflosigkeit, weitere Gewichtsverluste, Anfälligkeit für Erkrankungen, motorische Verlangsamung, erstes Auftreten des starren Gesichtsausdrucks 5 Ab dem 3. Monat: Dauerhaft starrer Gesichtsausdruck, Wimmern, Lethargie. Der EQ sinkt.
. Abb. 2.6. Pathognomisches Zeichen: Abwendung vom Besucher
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2.5 Extreme Entwicklungsbedingungen: Kinder in Heimen
. Abb. 2.7. Anaklitische Depression: Gefrorene Starre des Gesichts
Die in der Übersicht aufgeführten Formen der anaklitischen Depression fand Spitz bei allen Kindern, die länger als 3–5 Monate ihre Mutter entbehren mussten, ohne dass man ihnen einen annehmbaren Ersatz bieten konnte. Die meisten Kinder genasen, wenn die Mutter während dieser Übergangsperiode (4. und 5. Monat) zurückkam. Es ist allerdings zu bezweifeln, ob die Genesung vollkommen ist. Vermutlich hinterlässt die Störung Narben, die in späteren Jahren sichtbar werden. Wenn die Trennung länger als fünf Monate dauert, ändert sich die gesamte Symptomatik noch einmal in ein prognostisch ungünstigeres Syndrom, das Spitz als Hospitalismus bezeichnet hat. Der progressive Verlauf der anaklitischen Depression ist sehr gut an der Entwicklungskurve dieser von den Müttern getrennten Kinder abzu-
140 130 120 110 100 EQ 90 80 70 60 50 40
lesen. . Abb. 2.8 zeigt den Unterschied zwischen den durchschnittlichen Entwicklungsquotienten von Kindern, die von ihren Müttern getrennt wurden, und solchen, bei denen dies nicht der Fall war, die also kontinuierlich von ihren Müttern betreut wurden. Deutlich sind die Basislinie des Entwicklungsquotienten im Mittel von 100 und die ganz stark abfallende Kurve von Kindern, die ohne Mutter aufwuchsen, gegenüber der Kurve von Kindern, die von der Mutter aufgezogen wurden, die sich im Mittel zwischen einem EQ von 100 und 120 bewegt. Noch aussagekräftiger ist ein Vergleich der EQs dieser beiden Gruppen in den . Tab. 2.2 und 2.3. Wir sehen zunächst in . Tab. 2.2, dass mit der Zunahme der Dauer der Trennung von der Mutter der EQ absinkt. Bei einer Trennung, die länger als fünf Monate dauert, ist er um ein Viertel gesunken.
. Tab. 2.2. Einfluss der Dauer der Trennung von der Mutter auf das Niveau des Entwicklungsquotienten. (Mod. nach Spitz 1965/1981) Dauer der Trennung in Monaten
Durchschnittliches Absinken des EQ in Punkten
< 3 Monate
– 12,5
3–4 Monate
– 14
4–5 Monate
– 14
> 5 Monate
– 25
23 34 45 56 67 78- 8 10 1 0 12 12 15 15 -2 4 >2 4
Kinder, die ohne Mutter aufwachsen von der Mutter aufgezogene Kinder
Alter (Monate)
2
. Abb. 2.8. Abfall im Entwicklungsquotienten (EQ) bei Kindern, die bei der Mutter aufwuchsen, und Kindern, die von der Mutter getrennt wurden
40
Kapitel 2 · Wenn die fördernde Umwelt ausfällt
. Tab. 2.3. Einfluss der Wiedervereinigung mit der Mutter auf den Entwicklungsquotienten. (Mod. nach Spitz 1965/1981)
1 2
Dauer der Trennung in Monaten
Zunahme des EQ nach der Wiedervereinigung in Punkten
< 3 Monate
+ 25
3–4 Monate
+ 13
4–5 Monate
+ 12
> 5 Monate
–4
3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
. Tab. 2.3 zeigt, wie stark der EQ ansteigt, wenn eine Trennung nicht länger als drei Monate dauert. Eine Trennung von 3–5 Monaten scheint mit einer Plateau-Phase einherzugehen, denn die Anstiege nach der Rückkehr der Mutter sind in etwa gleich. Dauert die Trennung länger als fünf Monate an, so gibt es keine »Erholung« des EQ. Der Trennungszeitraum von fünf Monaten scheint besonders kritisch zu sein. Die massivsten Einbußen bei einem durchschnittlichen Entwicklungsquotienten von 100, nämlich ein Minus von 25 Entwicklungspunkten, finden wir, wenn die Trennung länger als fünf Monate andauert. Kommt die Mutter wieder zurück, nimmt der Entwicklungsquotient innerhalb der nächsten Monate um 25 zu, wiederum mit einem Plateau in der Zeit zwischen drei und fünf Monaten. Wenn die Mutter erst nach über fünf Monaten zurückkommt, ist eine Stagnation zu verzeichnen.
Kinder in Frauengefängnissen In den 1970er Jahren hat eine Mitarbeiterin am Wiener Institut, Lotte Schenk-Danzinger, den durchschnittlichen Entwicklungsquotienten von Anstaltskindern nachuntersucht und kam zu ganz ähnlichen Ergebnissen. Bei den Anstaltskindern handelte es sich um außereheliche Kinder, die in einem Findelhaus lebten und von ihren Müttern zur Adoption freigegeben worden waren. In der Kontrollgruppe waren Kinder, die in einem Frauengefängnis zur Welt gekommen waren. Alle zwei Monate wurden beide Gruppen mit dem BühlerHetzer-Entwicklungstest zur Bestimmung des EQ getestet (. Abb. 2.9). Während der ersten vier Monate waren die Kinder im Findelhaus denen im Frauengefängnis entwicklungsmäßig überlegen, und zwar deswegen, weil sie vermutlich von Müttern geboren wurden, die aus relativ anregungsreichem intellektuellem Milieu stammten, aber aus bestimmten Gründen ihre Babys nicht behalten konnten. Zwischen dem 4. und 6. Monat kehrte sich dieser Zustand um und führte nach und nach bis zum Ende des ersten Jahres zu einer dramatischen Veränderung; der Entwicklungsquotient der Findelhauskinder, der Kinder also, die von Müttern aus gutem Milieu geboren und dann zur Adoption freigegeben worden waren, ging dramatisch zurück, während der EQ der Kinder im Frauengefängnis von einem relativ geringen Niveau weiter stieg und sich auf einem mittleren Niveau einpendelte. Wir stoßen hier wieder auf den kritischen Zeitpunkt von 6–10 Monaten. Das
810
10 -1 2
Alter (Monate)
78
20
67
19
Kinder, im Frauengefängnis aufgewachsen
56
18
Anstaltskinder
3 34 45
57
140 130 120 110 100 90 80 70 60
2-
16
Entwicklungsquotient
15 . Abb. 2.9. Vergleich des Entwicklungsquotienten (EQ) bei Kindern, die im Heim aufwuchsen, und bei Kindern, die bei ihren Müttern im Frauengefängnis aufwuchsen
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2.6 Kinder depressiver Mutter
ist die Zeit, in der sich die Beziehung zur Mutter allmählich entwickelt und festigt, der Zeitpunkt, an dem sich aus einer unspezifischen Bindung die spezifische Bindung an eine Bezugsperson entwickelt (7 Kap. 3). Aufschlussreich ist eine neuere Studie von Poelmann (2005) an Kindern in Frauengefängnissen. Auch sie zeigt unsichere Bindungsmuster, vor allem, dass die Besuche bei der Mutter im Gefängnis nicht als »sicherer Hafen« erlebt wurden (die Kinder wurden von den Großeltern aufgezogen). Wir finden demnach noch heute beim Verlust der Mutter ohne ausreichende emotionale Versorgung ganz ähnliche Ergebnisse wie in den frühen Untersuchungen von Spitz. Die weitere Entwicklung der hospitalisierten Kinder zeigt, dass sie die Rückstände nach Eingliederung in ein normales Familienleben, z. B. bei Adoption, aufholen können. Die umfangreiche Adoptionsstudie von Palacius (2005) an 8000 Kindern, die aus verschiedenen Waisenhäusern in spanische Familien gekommen waren, zeigte, dass die adoptierten Kinder in enormer Geschwindigkeit Minderwuchs, geringes Gewicht und motorische Rückstände aufholen konnten. Auch sprachlich und intellektuell zeigten sie große Fortschritte. Auffälligerweise blieb bei einigen Kindern im emotionalen und sozialen Bereich ein so genanntes Asozialitätssyndrom (Schenk-Danzinger 1972) übrig: eine hochgradige Infantilität des Verhaltens, ein ständiges Streben nach Beachtung durch die Erwachsenen, sehr große Ansprüche bezüglich Kontakt, Beachtung und Besitz, eine starke Neigung zu Trotzreaktionen, eine grundlose sadistische Aggressivität gegen Gleichaltrige sowie ein auffallend häufiges Vorkommen von Lutschen, Bettnässen und Masturbation.
2.6
Kinder depressiver Mutter
Im Zusammenhang mit den Analysen an wilden Kindern bzw. an Kindern, die in Heimen aufgewachsen sind, ist es sinnvoll, Forschungsergebnisse genauer zu betrachten, die die mütterliche Depression und ihre Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes zum Gegenstand haben. Obwohl mütterliche Depression sicher in allen Phasen der Kindesentwicklung ein gravierender Risikofaktor ist, sind die Auswirkungen besonders dramatisch in
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den ersten Monaten und Jahren nach der Geburt eines Kindes. Im Zentrum stehen daher die Auswirkungen mütterlicher Depression, v. a. Postpartum-Depressionen, weil sie einen häufig übersehenen Risikofaktor für Entwicklungsstörungen von Babys und Kleinkindern darstellen. Der Entwicklungskontext von Kindern mit depressiven Müttern hat in der Tat viel Ähnlichkeit mit den Erfahrungen von Kindern in Heimen, weil die Mütter emotional kaum zugänglich sind. Die Forschung belegt, dass die depressive Verstimmtheit, die Gereiztheit, der soziale Rückzug, der für depressive Frauen charakteristisch ist, ihre Fähigkeiten reduzieren, dem neugeborenen Baby oder dem Kind eine sensible, warme und liebevolle Umgebung bereitzustellen. Es ist bekannt, dass postnatale Depressionen von Müttern in den ersten drei Monaten nach der Geburt eines Kindes beginnen, dass aber auch mütterliche Depressionen zu späteren Zeitpunkten im Leben des Kindes starke negative Konsequenzen für die Entwicklung von Kindern haben.
Prävalenz und Ätiologie
Prävalenz postnataler Depression Die Prävalenzschätzungen für PostpartumDepressionen schwanken erheblich, es werden Raten zwischen 5 und 28% angegeben. Um eine valide Einschätzung der Häufigkeit postnataler Depressionen bei Frauen sowie eine bessere Vergleichbarkeit der Studien zu erreichen, werden daher einheitliche diagnostische Kriterien für depressive Störungen gefordert, z. B. DSM oder ICD mit übereinstimmenden Definitionen von Postpartum-Depressionen. O’Hara und Swain (1996) berechneten auf der Basis einer Meta-Analyse von 59 Studien eine durchschnittliche Prävalenzrate von 13%. Dies ist eine erschreckend hohe Zahl! Für Deutschland werden Zahlen von 2–4% auf der Basis von DSM-IV-Kriterien angegeben (Reck et al. 2004).
Die Frage, ob postnatale Depressionen eine besondere Ätiologie haben im Vergleich zu Depressionen, die bei Müttern in anderen Stadien der Lebensspan-
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ne auftreten, hat die Forschung sehr beschäftigt. Zu den ätiologischen Faktoren werden neben genetischen und konstitutionellen Faktoren psychosoziale Stressfaktoren gezählt. Vor allem kritische Lebensereignisse, mangelnde soziale Unterstützung in der Schwangerschaft und Partnerschaftskonflikte sind als signifikante Prädiktoren postnataler Depression identifiziert worden (O’Hara u. Swain 1996). Des Weiteren ist bei einer psychiatrischen Vorgeschichte der Mutter die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer erneuten Episode von Depression nach der Geburt erhöht. Zusammenhänge zwischen Komplikationen während der Schwangerschaft, Frühgeburt des Kindes und postnataler Depression sind uneindeutig. Allerdings zeigen Frauen, die bereits zuvor eine depressive Erkrankung hatten, mit höherer Wahrscheinlichkeit eine postnatale Depression, wenn sich solche Komplikationen ereignen. Während die meisten der bisher genannten Studien englischsprachig sind, analysierten Kurstjens und Wolke (2001) diese Fragen erstmals an einer großen prospektiv untersuchten deutschsprachigen Population von 1329 Müttern. In dieser Stichprobe war die Inzidenz postnataler Depression etwas höher als die Inzidenz später auftretender Depression. Jedoch zeigten Frauen mit postnataler Erkrankung auch nach dem 1. Lebensjahr des Kindes ziemlich hohe psychische Auffälligkeiten und häufig auch wiederholte depressive Episoden, und zwar zu 77. Die Autoren fanden keine Zusammenhänge zwischen postnataler Depression und prä-, peri- oder neonatalen Belastungen. Es wurden auch keine Zusammenhänge mit soziodemographischen Faktoren gefunden. Immerhin berichteten 80 der Mütter innerhalb der depressiven Gruppe nicht über einen vermehrten psychosozialen Stress. Daraus kann geschlossen werden, dass in dieser Studie ein Zusammenhang zwischen dem Auftreten der Depression und erlebter psychosozialer Belastung nur für einen kleinen Teil der depressiven Mütter zu bestehen scheint. Die meisten Analysen von Risikofaktoren bleiben aber sehr an der Oberfläche. Es wird zu wenig bedacht, dass die Geburt eines Kindes eine Auseinandersetzung mit frühen Erfahrungen mit den eigenen Eltern, speziell der eigenen Mutter, bedeutet (7 Kap. 6) und dass die Situation von Müttern nach der Geburt große Ähnlichkeiten mit der des Säug-
lings aufweist (große Abhängigkeit, orale Thematik). Gambaroff (1984) hat den »Strudel der Regression« von Frauen nach der Geburt beschrieben und die Bedeutung, die die Mutter-Tochter-Beziehung für das Erleben von Schwangerschaft und Geburt hat. Während in unseren westlichen »zivilen« Kulturen die Autonomie und Unabhängigkeit der Mutter hervorgehoben wird, tragen andere Kulturen, z. B. indianische Kulturen, der großen Abhängigkeit und oralen Bedürftigkeit von Frauen im Kindbett durch eine wochenlange liebevolle Rundumversorgung und Pflege Rechnung (Niethammer 1977). Die Wöchnerin, die sich in einem separaten Haus, abgetrennt von allen Verpflichtungen ausschließlich ihrem Baby widmet, wird zugleich von den älteren Frauen und Müttern wie ein Baby versorgt und betreut. Dieses Verhalten spiegelt das Wissen um die Verletzlichkeit der jungen Mutter wider.
Mütterliche Depression und Kindesentwicklung Depression ist eine Störung, die in ihrer Wirkung nicht auf der individuellen Ebene der erkrankten Person bleibt, sondern in besonderem Ausmaß die Entwicklung des Kindes beeinträchtigt. Depressive Symptome führen zu einer Reduktion der mütterlichen Stimulation des Babys, der mütterlichen Responsibilität und Ansprechbarkeit auf Signale des Babys sowie zu einer geringeren Fähigkeit, das Baby in seiner Affektregulation zu unterstützen, und zu weniger positivem gegenseitigem Affektausdruck (Reck et al. 2004). Welche wichtigen Lernprozesse das Baby in diesem frühen Austausch mit den Eltern, speziell der Mutter, macht und dass die Bindungsentwicklung u. a. die Fähigkeit zur Emotionsregulierung einschließt, wird in 7 Kap. 3 geschildert. Man kann sich sehr leicht vorstellen, dass Mütter mit einem starren Gesichtsausdruck und der Schwierigkeit, angemessen und prompt auf das Baby zu reagieren und die Affekte ihres Kindes wahrzunehmen, die Entwicklung ihrer Kinder massiv behindern. Dieses Verhalten der Mutter schränkt die Lebenserfahrung des Kindes ein und zwingt das Kind zu selbstregulatorischen Verhaltensmustern, die u. a. auch darin bestehen, sich weniger abhängig von der mütterlichen Zuwen-
2.6 Kinder depressiver Mutter
dung zu machen (vgl. unsicher-distanziert gebundene Kinder, 7 Kap. 3). Aufgrund der sozialen und emotionalen Einschränkungen, die mit einer Depression einhergehen, und der vergleichsweise hohen Prävalenz dieser Störung stellt sich die Frage nach den Auswirkungen der mütterlichen Depression auf die weitere Entwicklung des Kindes. Dies ist Thema einer großen Anzahl von Studien v. a. im englischsprachigen Raum geworden (z. B. Rutter 1997). Man muss dazu bedenken, dass zu den Hauptmerkmalen des Syndroms einer Major Depression im Sinne des DSMIV, die für die Betrachtung des Einflusses auf das Kind das uns hier interessierende Krankheitsbild darstellt, entweder depressive Verstimmung oder Verlust von Interesse und Freude an allen oder fast allen Aktivitäten gehören. Das Auftreten eines dieser beiden Symptome stellt eine notwendige Bedingung der Diagnose dar und muss für eine zweiwöchige Periode vorherrschend sein. Weitere Kernsymptome, von denen je nach Schwere der depressiven Episode eine Mindestzahl gleichzeitig vorhanden sein muss, sind Gewichtsverlust oder Gewichtszunahme, Schlaflosigkeit oder vermehrter Schlaf, psychomotorische Unruhe oder Hemmung, Müdigkeit oder Energieverlust, Gefühle der Wertlosigkeit oder unangemessene Schuldgefühle, verminderte Denk-, Konzentrations- und Entscheidungsfähigkeit sowie Suizidgedanken und -pläne. Zu den Nebenmerkmalen einer Major Depression nach DSM-IV gehören u. a. Appetitverlust oder - zunahme, übertriebene Besorgnis um körperliche Gesundheit wie Hypochondrie, Weinen, Reizbarkeit sowie zwanghaftes Grübeln. Um die Auswirkungen depressiver Störungen auf die Kindesentwicklung zu verstehen, sind drei verschiedene Modelle entwickelt worden (7 Übersicht). Wir wollen im Folgenden, orientiert am Modell II, genauer herausarbeiten, inwiefern sich Mütter, die akut depressiv sind oder depressiv waren, gegenüber ihren Kindern anders verhalten als gesunde Mütter.
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Auswirkungen depressiver Störungen der Mutter auf die Kindesentwicklung 5 Modell I Die depressiven Symptome der Mutter werden als Folge oder Ausdruck anderer familiärer Faktoren aufgefasst, insbesondere sozialer Adversität und Partnerschaftsprobleme (Cummings u. Davis 1994). Das heißt, dass auch beim Kind nicht die depressiven Symptome an sich, sondern die familiären Stressfaktoren zu einer nachteiligen Entwicklung führen (Rutter 1997). 5 Modell II Depression führt zu gestörter Interaktion zwischen Mutter und Kind (Cummings u. Davis 1994; Rutter 1997). Die depressive Mutter kann auf die frühen sozialen, emotionalen und pflegerischen Bedürfnisse des Säuglings und Kleinkindes nicht adäquat eingehen, die Kommunikation und die Mutter-Kind-Bindung sind gestört. Diese gestörten Kommunikations- und Bindungsmuster verfestigen sich und wirken nachteilig auf die weitere emotionale, psychosoziale und kognitive Entwicklung des Kindes ein. Im späteren Alter zeigen sich diese häufig als inadäquates Eingreifen bei Fehlverhalten des Kindes und wenig strukturiertes oder inkonsistentes Disziplinieren der Mutter. Die Mutter reagiert manchmal zu lax, ein andermal wiederum sehr zornig und überbestrafend, und ihre Reaktionen sind für das Kind schwer vorherzusagen. 5 Modell III Depression ist teilweise erblich (Eley et al. 1998). Sowohl die genetischen und konzeptionellen Faktoren als auch die veränderte Interaktion führen zur Transmission eines weiten Spektrums von Störungen.
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Depression und Mutter-KindInteraktionen Auswirkungen der Depression auf den Kommunikationsstil und das Verhalten der Mutter gegenüber ihrem Säugling sowie die Reaktion des Kindes wurden bislang hauptsächlich bei Säuglingen und Kleinkindern untersucht, zum einen in naturalistischen Beobachtungen, zum anderen in experimentellen Studien mit so genannten Still-faceExperimenten von Cohn und Tronick (1983). Dabei untersuchte man, wie ein Baby auf ein unbewegliches, starres Gesicht reagiert. Murray und Cooper (1997) fanden bei depressiven Müttern in Interaktion mit ihren 2 Monate alten Babys verstärkt negative Affekte, wenige positive Affekte sowie häufig Verärgerung über das Baby. Solche Mütter reagierten deutlich weniger sensibel und unterstützend dem Kind gegenüber. Sie beschrieben ihre Babys als nervöser während des Fütterns, berichteten häufiger über Verhaltensauffälligkeiten ihrer Kinder und gaben ein mangelndes Selbstbewusstsein im Umgang mit ihnen an. Noch vier Monate später reagierten sie in einer Spielsituation dem Kind gegenüber deutlich negativer. Man fand bei diesen Müttern, als die Kinder 12 Monate alt waren, signifikant mehr versteckte Feindseligkeit, flache Gefühle und eingreifende Manipulation dem Kind gegenüber. Auch als die Kindern 5 Jahre alt waren, konnte man noch deutliche Unterschiede zwischen dem Verhalten von gesunden und depressiven Müttern feststellen. Depressive Mutter berichteten über deutlich mehr Management- und Kontrollprobleme mit ihren Kindern sowie häufig über Temperaments-, Essens- und Aggressionsprobleme ihrer Kinder. Auffällig im Interaktionsverhalten zwischen depressiver Mutter und ihrem Kind ist auch die wechselseitige Blickvermeidung (Reck et al. 2004). Schon die frühe Übersichtsarbeit von Beck (1965, zit. nach Wolke u. Kurstjens 2002), die insgesamt zwölf Studien bezüglich des Effekts der Mutter-Kind-Interaktion auf das Verhalten von Kindern analysierte, zeigt, dass während einer depressiven Verstimmung oder depressiven Erkrankung die Interaktion zwischen Mutter und Säugling negativ beeinflusst wird. Die Mütter sind mit dem Kind emotional weniger involviert, reagieren weniger feinfühlig und emotional negativer. Zudem
sprechen depressive Mütter weniger häufig mit ihrem Kind über seinen momentanen emotionalen Zustand. Für das Kind ist es besonders bedeutsam, wenn die Synchronizität des mütterlichen Verhaltens mit dem emotionalen Zustand des Kindes fehlt oder reduziert ist.
Langzeiteffekte elterlicher Depression auf Kinder und Jugendliche Auch die Langzeitauswirkungen v. a. mütterlicher Depression sind gut belegt. Eine ganze Reihe von Studien weist darauf hin, dass Kinder von depressiven Patienten, die therapeutische Behandlung benötigen, selbst ein erhöhtes Risiko für Psychopathologie, insbesondere für Depressionen, haben. Weissman et al. (1997) berichteten über eine zehnjährige Nachuntersuchung von 182 Kindern, von denen mindestens ein Elternteil an einer Major Depression erkrankt war, im Vergleich zu 91 Kindern von Eltern ohne Depression. Bei Kindern depressiver Eltern trat eine erhöhte Rate an depressiven Störungen auf, häufig schon vor der Pubertät, sowie dreimal so häufig Phobien und Panikattacken und fünfmal so häufig Alkoholmissbrauch. Die Korrelationen zwischen mütterlicher Depression und depressiven Symptomen bei ihren Töchtern (r = .44) sind erheblich, während die Korrelationen mit den Söhnen nicht signifikant sind. Diese Studien belegen allerdings auch, dass die Annahme, alle depressiven Mütter zögen sich emotional sehr zurück, in dieser Generalität nicht zutrifft. Es gibt eine kleine Subgruppe depressiver Mütter, für die eher erhöhtes reizbares und negatives Verhalten charakteristisch ist. In einer sehr umfangreichen Meta-Analyse stellte Beck (1999) die Ergebnisse von insgesamt 33 Studien mit über 4500 Mutter-Kind-Dyaden vor. Es wurden in 33 der Studien Vorschulkinder, in 45 der Studien Schulkinder und in 22 der Studien eine Mischung beider untersucht. Gefunden wurde eine mittelstarke Beziehung zwischen mütterlicher Depression und kindlichen Verhaltensproblemen. Depressive Mütter berichteten von Verhaltensproblemen ihrer Kinder im klinisch auffälligen Bereich signifikant häufiger als nichtdepressive Mutter. Hier ist, abgesehen von wirklichen Beeinträchtigungen beim Kind, auch daran zu denken,
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2.7 Elternverlust durch Tod
dass eine Depression die Wahrnehmung verändert bzw. verzerrt.
Auswirkungen auf die kognitive Entwicklung
mutlich noch höher wären, würden nicht Väter in Familien mit depressiven Müttern durch ihr körperlich und kognitiv stimulierendes Spiel zumindest einen Teil der Auswirkungen kompensieren.
2.7 Die reduzierte mütterliche Stimulation und Ansprechbarkeit führt zu verringerter Fähigkeit, das Baby in seiner Affektregulation zu unterstützen, sowie zu weniger gegenseitigem Affektaustausch. Diese Deprivation schränkt die Lernerfahrung des Kindes ein. Effekte auf die kognitive Entwicklung wurden teilweise noch fünf Jahre später gefunden (zusammenfassend: Wolke u. Kurstjens 2002). Allerdings berichtet die Studie von Weissman et al. (1997), die Kinder im Alter zwischen 6 und 23 Jahren untersuchte, von denen entweder ein Elternteil oder beide Eltern unter einer behandlungsbedürftigen Depression litten, dass sich keine signifikanten Unterschiede zwischen IQ-Werten bei Kindern depressiver Eltern und denen gesunder Eltern gefunden haben. Die einzige deutschsprachige Längsschnittuntersuchung von Kurstjens und Wolke (2001) hatte die Charakteristik mütterlicher Depression in ihren Auswirkungen auf die kognitive Entwicklung von Kindern zu vier Zeitpunkten von 20 Monaten bis zu 8,5 Jahren zum Gegenstand. Die Autoren fanden kaum Haupteffekte der Dauer und Anzahl depressiver Episoden der Mutter auf die kognitive Leistung. Nur Jungen mit neonatal größerem medizinischem Risiko von chronisch depressiven Müttern hatten auch signifikant niedrigere IQ-Werte im Vergleich zu allen anderen Gruppen. Allerdings war dieser Nachteil für Jungen nach zweijähriger Beschulung in der Untersuchung mit 8,5 Jahren nicht mehr nachweisbar. Nachgewiesen wurden also auch Einbußen in der kognitiven Entwicklung von Kindern depressiver Mütter, die an die bereits dargestellte Arretierung des Entwicklungsquotienten von Kindern in Heimen denken lassen. Hier ist zu bedenken, dass es sicher noch weitere emotionale und soziale Beeinträchtigungen gibt, die allerdings bislang kaum erfasst wurden, weil sich kognitive Einbußen bei kleinen Kindern leichter nachweisen lassen. Nicht unerwähnt bleiben sollte der kompensatorische Effekt von Vätern (7 Kap. 7). Reck et al. (2004) berichten, das die kognitiven Einbußen ver-
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Elternverlust durch Tod
Welche Bedeutung der Tod eines Elternteils für die kindliche Entwicklung hat, wurde v. a. im klinischen Kontext untersucht. Um den Trauerprozess beurteilen zu können, ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass für eine angemessene Trauerreaktion eine Reihe von Entwicklungsvoraussetzungen notwendig sind (7 Übersicht). Entwicklungsvoraussetzungen für den Trauerprozess 5 Objektpermanenz bzw. -konstanz 5 Erinnern an die Person über Gedächtnisprozesse 5 Entwicklung eines Bindungssystems und die damit verbundene Abhängigkeit von der Bindungsperson 5 Konzept des Todes, d. h. Vorstellungen über Irreversibilität und Universalität des Todes 5 Entwicklung von Abwehrmechanismen und emotionalen Bewältigungsmechanismen
Trauer bei kleinen Kindern Während manche Autoren Kindern die Fähigkeit zur Trauer absprechen, verweisen andere darauf, dass sich die Trauer bei Kindern lediglich in entwicklungstypischer Weise manifestiert (Baker 1996). Weil sie die Endgültigkeit des Todes noch nicht verstehen und noch nicht über reifere Abwehrmechanismen verfügen, neigen v. a. jüngere Kinder dazu, den elterlichen Tod zu verleugnen. Präziser gesagt: Sie glauben, dass ihre Eltern jederzeit wieder zurückkommen können und dass die Abwesenheit nur vorübergehend ist. Dass schon kleine Kinder auf typische Weise auf den Verlust der Eltern reagieren, haben die Studien Bowlbys (1980)
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Kapitel 2 · Wenn die fördernde Umwelt ausfällt
gezeigt, die enge Beziehungen zwischen der Reaktion auf Trennung und der Reaktion auf den Tod der Eltern herstellen. Nach Bowlby (1980) liegt die Ursache für Depressionen bei Erwachsenen und Kindern im frühesten Kindesalter. Er nimmt an, dass sie durch ein Verlusterlebnis des kleinen Kindes hervorgerufen werden. Spitz’ (1965/1981) Beobachtungen von Babys und kleinen Kindern geben Bowlbys Einschätzungen Recht, dass sich die Depression infolge eines Verlustes über mehrere Stufen entwickelt: 1. Auflehnung gegen den Verlust 2. Verzweiflung und Apathie 3. Rückzug von allen Menschen Bowlby (1969) hat bei der Reaktion auf Trennung über Tage, Wochen und Monate hinweg eindeutige Stadien beschrieben, die dem Verlust folgen. 1. Stufe: Sie besteht aus Protest, Leid, Weinen, Sehnsucht und dem ängstlichen Bestreben nach erneutem Kontakt. Diese Reaktionen werden begleitet von Feindseligkeit gegenüber der Umwelt, Aggression und der ärgerlichen Zurückweisung jedes Miteinanders. 2. Stufe: Sie beinhaltet Apathie und Verzweiflung, dazu Resignation und Introversion. 3. Stufe: Hier finden eine Loslösung von der Bezugsperson und ein emotionaler Rückzug von anderen Menschen statt. An diesem Punkt will und braucht das Kind einen Ersatz für die Bezugsperson. Bowlby stellt fest, dass Kinder, die für lange Zeit von ihren Müttern getrennt waren, nur dann bereit waren, neue Beziehungen einzugehen, wenn sie sicher sein konnten, dass diese stabiler sind als die letzte. Für das verwaiste Kind ist der Verlust seiner Eltern verheerend (. Abb. 2.10). Er bringt eine ganze Vielfalt von Reaktionen mit sich: Schock, Leid, Apathie, Angst, Wut, Zorn, Scham, Vorwürfe und Erschöpfung, dazu Gefühle wie Einsamkeit, Sehnsucht und Hilflosigkeit. Es stellen sich ernsthafte psychische Veränderungen ein. Bowlby (1973) berichtet von Halluzinationen, Albträumen, Unwohlsein, Schlafstörungen und zwanghafter gedanklicher Beschäftigung mit der geliebten Person. Das Kind sucht in
jeder Ecke nach diesem Menschen, rekonstruiert zwanghaft die letzten Monate mit ihm und hängt an allem, was diesem gehört. In der Regel folgt nach anfänglicher Protestreaktion eine Phase der Hoffnungslosigkeit, Passivität und des Rückzugs, die nach längerer Zeit in eine äußerliche »Erholung« mündet. Diese kann trügerisch sein. Orbach (1990) hat in seinem Buch »Kinder, die nicht leben wollen« den Suizid von Kindern als letzte Konsequenz solcher Trauerprozesse beschrieben. Todeswünsche entstehen aber nicht nur infolge eines Verlustes, sondern auch angesichts drohender Verluste. Spiele mit der Tendenz »Alles ist wie immer« können ein Beweis für die Isolierung von Schmerz und Trauer sein und z. T. auch die Grundlage für pathologisches Trauern und die Einkapselung des Schmerzes bilden. Schuldgefühle sind eine weitere Reaktion, die schon bei sehr kleinen Kindern auftreten können (»Vater ist gestorben, weil ich böse war …«). Bei Erwachsenen treten Schuldgefühle nach dem Tod eines geliebten Menschen fast immer auf, möglicherweise, weil sie sich ihrer Ambivalenz (»Dieses Kind bringt mich noch um«) eher bewusst sind. Neben den Schuldgefühlen treten Gefühle von Wut auf, die ein Aspekt der Trauer sind. Ver-
. Abb. 2.10. Kind auf dem Friedhof
2.7 Elternverlust durch Tod
waiste Kinder wirken oft beschämt über den Verlust, als wenn es ihr Fehler gewesen wäre. Orbach (1990) hebt einen zweiten Prozess beim Erleiden eines Verlustes hervor – den Ausdruck von Hilflosigkeit. Der Verlust der Eltern versetzt dem natürlichen kindlichen Gefühl der Omnipotenz einen schweren Schlag. Kinder entwickeln omnipotente Gefühle als Schutzschild gegen ihre schwache Position in der Welt. Ein Verlust beraubt das Kind dieser Vorstellung von Omnipotenz. Es ist plötzlich seiner fundamentalen Hilflosigkeit ausgesetzt. Orbach hat viele erschütternde Beispiele von Suizid bei relativ kleinen Kindern dargestellt, die fast sämtlich die Reaktionen auf Verluste in der Familie gewesen sind, also den Tod von nahen Angehörigen.
Kurz- und längerfristige Entwicklungsbesonderheiten bei Kindern mit verstorbenen Eltern Studien, in denen Kinder wenige Monate nach dem elterlichen Tod untersucht wurden, bestätigen die klinische Sichtweise. Kaffman und Elizur (1983) verweisen auf einen hohen Anteil psychischer Beeinträchtigungen in dieser akuten Phase. Sie fanden bei der Hälfte der 2- bis 10-jährigen KibbuzKinder, die ihren Vater im Oktoberkrieg 1973 verloren hatten, so starke Verhaltensstörungen, dass therapeutische Interventionen notwendig wurden. Diese Belastungsreaktionen manifestierten sich sowohl im häuslichen als auch im schulischen Kontext. In einer Längsschnittstudie beschrieben Witwer und Witwen bei 70 ihrer Kinder einen Monat nach dem Tod des Partners depressive Symptome (Corr u. Corr 1996). Noch ein Jahr später zeigten 43 der Kinder einen starken depressiven Affekt. Im Vergleich zur Kontrollgruppe von Kindern aus intakten Familien waren auch Rückzugsverhalten, somatische Symptome und Desinteresse an der Schule erhöht. Einheitlicher Befund verschiedener Studien ist die hohe Variabilität der Reaktionen von Kindern. Wenngleich für die Mehrzahl der Kinder eine allmähliche Verbesserung von Problemen wie Konzentrationsproblemen, Erschöpfung, Depression und niedrigem Selbstwertgefühl während des ersten Jahres nach dem Elternverlust charakteri-
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stisch ist, fällt der Verlauf von Belastungsreaktionen nicht einheitlich aus. Einige Kinder entwickeln erst Monate oder Jahre nach dem elterlichen Tod die meisten Symptome (Fristad et al. 1989), vermutlich, weil sie das Ausmaß und die Endgültigkeit des Verlustes erst mit zeitlichem Abstand und fortschreitender Entwicklung realisieren. Vor allem Kinder, die ihre Eltern im Alter von weniger als 5 Jahren verloren haben, haben erst Jahre später ein erhöhtes Risiko, psychiatrisch auffällig zu werden. Hier mögen entwicklungspsychologische Voraussetzungen für den Trauerprozess zum Tragen kommen, d. h. die Tatsache, dass die Irreversibilität und Endgültigkeit des Todes jetzt erst richtig verstanden wurden. Es können auch sekundäre Traumatisierungen durch weitere Trennungen oder Verluste hinzukommen (7 Fallbeispiel am Ende dieses Kapitels und die Biographie von E. A. Poe in 7 Kap. 4; Poe hatte seine Mutter verloren, als er 2 Jahre alt war; im Alter von 17 Jahren bekam er eine schwere Depression, nachdem die Mutter seines besten Freundes gestorben war). Kranzler (1990) zeigte, dass Halbwaisen, die Gefühle von Traurigkeit ausdrücken konnten, weniger verhaltensauffällig waren als Halbwaisen, die beim Erinnern an den Tod Ärger, Furcht oder positive Affekte zeigten. Wie Bürgin (1981) allerdings verdeutlicht hat, können Kinder während des Trauerprozesses immer wieder den Tod scheinbar »vergessen«, indem sie lachen, spielen und ganz »normal« sind. Man fand sehr langfristige negative Konsequenzen des Elternverlustes bis ins Erwachsenenalter hinein, v. a. bei Kindern, die den Tod ihrer Eltern im Grundschulalter erlebten. Vermutlich hängt diese erhöhte Vulnerabilität neben den fehlenden Entwicklungsvoraussetzungen mit der Trauerreaktion des zurückgebliebenen Elternteils zusammen. Gerade junge Witwen und Witwer können besonders mit Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung oder Wut auf den Verlust des Partners reagieren. Zudem sind zusätzliche Sorgen wahrscheinlich, weil in der frühen Phase der Familienentwicklung die finanzielle Situation oftmals weniger abgesichert ist. Nach Kranzler (1990) ist die Befindlichkeit und Fürsorge des hinterbliebenen Elternteils entscheidend für die kindliche Bewältigung des Elternverlustes. In der Studie von Flaig (2007), die Vater-Verlust in Kindheit und Jugend bzw. im Erwachsenenalter
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Kapitel 2 · Wenn die fördernde Umwelt ausfällt
untersuchte, wird dies besonders deutlich. Bei Personen, die ihren Vater in der Kindheit bzw. Jugend verloren hatten, war das Funktionsnivau der Mutter sehr entscheidend für die Bewältigung des Todes des Vaters. Wenn die Mutter trotz ihrer Trauer emotional verfügbar war, konnte sie die schlimmen Auswirkungen des Vater-Verlustes teilweise kompensieren. Bei Vater-Verlust im Erwachsenenalter war das Funktionsniveau der Mutter dagegen kaum von Bedeutung. Reaktionen auf den Tod von Mutter oder Vater Kranzler (1990) berichtet die stärksten Belastungen für folgende Kinder: 5 Ihr hinterbliebener Elternteil ist nach dem Tod des Partners besonders schwer beeinträchtigt. 5 Sie erlebten schon vor dem Tod eine wenig unterstützende Betreuung durch den hinterbliebenen Elternteil. 5 Ihre Familien mussten nach dem Tod finanzielle Einbußen hinnehmen.
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Dabei ist es auch wichtig, zu erfragen, wie der Tod des Elternteils erlebt wurde, ob er etwa plötzlich kam, die Umstände genau aufgeklärt wurden, welche Trauerrituale in der Familie praktiziert wurden (nahm das Kind am Begräbnis teil, hat es den Toten gesehen?). Wie Silverman und Worden (1992) belegt haben, sind ungewisse Todesursachen, ein Fernhalten des Kindes von allem, was mit dem Tod zusammenhängt, besonders problematisch, weil das Kind keine reale Vorstellung vom Tod des Elternteils gewinnen konnte, sich nicht vergewissern konnte, dass der Betreffende nicht mehr lebt, nicht Abschied nehmen konnte. Natürlich wird es in Abhängigkeit von der kognitiven Reife dauern, bis das Kind die Unwiderbringlichkeit begreift. Aber ein behutsames Heranführen an die Realität des Todes ist wichtig, um irreale Hoffnungen und Idealisierungen einzugrenzen. Auf der Basis ihrer umfangreichen Erfahrungen im Rahmen der Harvard Child Bereavement Study schlagen Silverman und Worden ein Modell der Traueraufgaben vor, in dem es darum geht, die Realität des Verlustes zu akzeptieren, sich mit der emotionalen Bedeutung
und dem Schmerz auseinanderzusetzen, sich an die veränderten Verhältnisse anzupassen und der verstorbenen Person einen neuen Platz im Leben zu geben. Es ist offenkundig, dass die psychischen Beeinträchtigungen von Kindern depressiver Eltern und von Kindern mit Elternverlust sehr ähnlich sein können, wenn der hinterbliebene Elternteil eine schwere Depression entwickelt. Die geringe emotionale Zugänglichkeit des hinterbliebenen Elternteils erschwert die Verarbeitung der Trauer für das Kind. Die langfristigen Folgen von Elternverlust können u. U. bis in das Erwachsenenalter hineinreichen, wenn schwere Depressionen auftreten oder sich Probleme bei der Partnersuche ergeben. Diese Folgen können ganz ähnlich sein wie die langfristigen Folgen für Scheidungskinder, die mit Idealisierung und Trauer um den verlorenen Elternteil zu kämpfen haben und sehr zögerlich und zurückhaltend heterosexuelle Beziehungen aufnehmen (Amato 2000).
2.8
Der therapeutische Umgang mit frühen Verlusten: Das zerbrochene Herz
Wir haben in diesem Kapitel auf die enorme Bedeutung der fördernden Umwelt für die Entwicklung von Kindern hingewiesen. Die auffälligen Symptome und Entwicklungsbeeinträchtigungen, die durch eine unzureichende körperliche und emotionale Versorgung bei sehr kleinen Kindern entstehen, sind in den gegenwärtig existierenden diagnostischen Inventaren nicht angemessen einzuordnen. Insbesondere die Beteiligung der Eltern am Entstehungsprozess dieser Störungen bleibt weitgehend unbeachtet. Wir wollen zunächst auf diese unbefriedigende diagnostische Situation eingehen, ehe wir uns mit einer psychotherapeutischen Behandlung beschäftigen, in der es um Elternverlust geht.
»Entwicklungsstörungen« oder »Bindungsstörungen«? In den letzten Jahren wurde viel zu so genannten Risikokindern (Esser et al. 1996; Scheithauer u. Petermann 1999; Sollberger 2000), zu Kindern schi-
2.9 Das zerbrochene Herz: Reinszenierung von Trennungen in der Psychotherapie
zophrener, depressiver und alkoholkranker Eltern geforscht. Auch Kinder mit Elternverlust leiden unter einer erheblichen Anzahl von Beeinträchtigungen, die z. T. unter den diagnostischen Kategorien »Entwicklungsstörungen« und »Bindungsstörungen« gefasst werden. Die Auswirkungen mütterlicher Depression auf die Kindesentwicklung beispielsweise stellen einen häufig übersehenen Risikofaktor für Entwicklungs- und Gedeihstörungen von Babys und Kleinkindern dar. In der ICD-10 werden unter der Kategorie F80 bis F89 Beeinträchtigungen in einzelnen Störungsbereichen wie in der Wahrnehmung, im Denken, im Gedächtnis und in der Motorik gefasst. Dabei wird zu wenig reflektiert, in welchem Umfang diese Symptome durch psychisch sehr beeinträchtigte Eltern mitverursacht werden. Für das Kleinkindalter und Schulalter haben Remschmidt und Mattejat (1994) die gravierenden Auswirkungen bei Kindern psychotischer bzw. schwer depressiver Eltern beschrieben. Die Kinder weisen schon sehr früh Gedeihstörungen mit Fütterungsproblemen und Untergewicht auf; motorische Verlangsamungen sind zu beobachten. Insgesamt erinnert das Symptombild fatal an die Beschreibungen von Findelhauskindern. Eine körperliche Retardierung ist oft auch in späteren Jahren noch zu beobachten. Im weiteren Verlauf werden Schulprobleme, emotionale Störungen und antisoziales Verhalten beschrieben. Dass Entwicklungsstörungen bei Kindern ganz häufig mit psychisch beeinträchtigten Eltern zu tun haben, wird auch in den Falldarstellungen von Heinemann und Hopf (2001), Schulte-Markwort et al. (1998) sowie Deutsch und Wenglorz (2001) deutlich. Die entwicklungspsychologische Forschung hat gezeigt, dass sehr kleine Kinder auf Trennung und Verlust von wichtigen Bezugspersonen in der Familie mit tiefgreifenden, umfassenden psychischen Störungen reagieren. Die so genannten Bindungsstörungen (F94.1 und F94.2 im ICD-10) treten allerdings nur bei einem kleinen Teil von Kindern als Folge eines Krankenhausaufenthalts oder einer Heimunterbringung auf. Hiervon sind v. a. Kleinkinder im Alter von 7 Monaten bis 4 Jahren betroffen (7 Kap. 3). Das ist jenes Alter, in dem sich die spezifische Bindung an eine Pflegeperson entwickelt. Die Störungen treten auf, wenn zu diesem Zeitpunkt bei Verlust einer nahen Bezugsper-
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son keine alternativen Betreuungsangebote bereitstehen. Wiederum gilt, dass ätiologische Faktoren, wie die unzureichende Pflege und Versorgung durch die Eltern, sowie starke emotionale Defizite in der Eltern-Kind-Beziehung hier nicht oder nur am Rande (»Milieuwechsel«) berücksichtigt wurden. Insgesamt ist die diagnostische Einordnung von Kindern, die schwere Verluste erlebt haben oder nur unzureichend während der Frühphase von ihren Eltern versorgt wurden, in diagnostischen Inventaren wie der ICD-10 sehr unbefriedigend.
2.9
Das zerbrochene Herz: Reinszenierung von Trennungen in der Psychotherapie
Im Zusammenhang mit der Verarbeitung von Trennungserfahrungen waren wir darauf gestoßen, dass frühe Trennungen von den Eltern oft erst spät zu Symptomen und psychotherapeutischer Behandlung führen können. Anhand des folgenden Fallbeispiels, das aus einer Supervision stammt (Stephan 2003), soll erläutert werden, wie sich der Trennungsprozess in der analytischen Arbeit sowohl zu Beginn als auch besonders in der Mitte der noch laufenden Behandlung darstellt. Mit Sicherheit wird auch das Ende der Behandlung in einem intensiven Durcharbeiten die Auseinandersetzung mit Trennungen zum Thema haben. Obwohl einiges dieser Behandlung auf die in 7 Kap. 3 dargestellte Bindungsproblematik verweist, wollen wir sie an dieser Stelle darstellen, da der Verlust der Mutter hier besonders zentral ist und das Thema dieses Kapitels unterstreicht. Fallbeispiel Es handelt sich um eine 13-jährige Patientin, die in einer neu zusammengesetzten Familie mit der Lebensgefährtin ihres Vaters und deren Sohn (17 Jahre) lebt. Die leibliche Mutter der Patientin hatte sie verlassen, als das Kind 4½ Jahre alt war. Der Vater hat das alleinige Sorgerecht für das Kind, die Mutter hat noch nicht einmal das Umgangsrecht wahrgenommen und jeglichen Kontakt zur Tochter abgebrochen. Man habe sie das letzte Mal vor zwei Jahren zufällig bei einem Marktbesuch getroffen. Die Mutter der Patientin wird als haltlose Person beschrieben, die
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Kapitel 2 · Wenn die fördernde Umwelt ausfällt
möglicherweise an einer Borderline-Störung litt und später wechselnde Männerbekanntschaften hatte. Sie scheint sich das erste Jahr sehr liebevoll um die Tochter gekümmert und sie auch ein Jahr lang voll gestillt zu haben. In diesem 1. Lebensjahr ist sie sehr fürsorglich, eher übervorsichtig mit dem Baby umgegangen. Nach diesem Jahr kam es aber zu gravierenden Eheproblemen, und die Mutter der Patientin löste sich nach und nach aus dem familiären Verband. Während dieser Zeit war die Patientin schon von einer Tagesmutter betreut worden. Der Vater hatte das Kind dann abgeholt und die restliche Zeit versorgt. Im Alter von 4½ Jahren hat die Mutter, die bislang noch im gemeinsamen Haushalt lebte, mit den Worten: »Das kann doch nicht alles gewesen sein!«, die Tochter verlassen und war untergetaucht. Danach hatte die Mutter keinerlei Kontakt mehr zur Tochter – bis auf den zufälligen Marktbesuch. Die Scheidung der Eltern erfolgte, als die Patientin 5½ Jahre alt war. Die Probleme der Patientin traten im Zusammenhang mit der neuen Partnerschaft ihres Vaters auf. Sie war über lange Jahre, etwa im Alter von 5–11 Jahren, mit ihrem Vater alleine gewesen, wurde nach der Schule in einem Hort betreut und lebte abends dann mit ihrem Vater zusammen. Der Einzug der Lebensgefährtin stellte sie vor schwere Probleme. Es kam zu zahlreichen aggressiven Konflikten zwischen dem Vater und der Patientin bzw. der Lebensgefährtin und der Patientin. Die Patientin wurde ausgegrenzt und konnte an familiären Aktivitäten (gemeinsames Fernsehen, gemeinsame Reisen) nicht teilnehmen. Sie verbrachte auch ihre Ferien immer ohne ihren Vater und dessen Lebensgefährtin alleine bei ihren Großeltern väterlicherseits. Die Psychodynamik zu Beginn der Therapie zeigt sehr stark die orale Bedürftigkeit der Patientin, in der die Therapeutin v. a. mütterliche Gefühle der Patientin gegenüber hat, deren blasses, zartes, feenhaftes Wesen sie gegen die böse Welt verteidigen und sie vor Aggressionen schützen möchte. Die Patientin macht einen »verhungerten« Eindruck, kommt häufig zu spät und knetet und gestaltet dann zahlreiche Nahrungsmittel, so z. B. ein Hotdog und ein Spiegelei. In der gesamten ersten Therapiephase stehen die orale Bedürftigkeit und die Mangelversorgung, unter der die Patientin gelitten hat – zumindest nach dem Auszug der Mutter –, sehr stark im Vordergrund. Dieses Problem wird auch dadurch verstärkt, dass die Lebensgefährtin des Vaters es oft ablehnt, für die Patientin zu kochen, und die Patientin sich selbst versorgen muss. In den ersten 30 Therapiestunden spielen Essen und Versorgung demnach eine sehr große Rolle.
Ab der 30. Stunde kommen neue Spielregeln als wichtige strukturierende Elemente in die Behandlung. Es wird deutlich, dass die Patientin unter erheblichen aggressiven Spannungen steht, dass sie einen ziemlichen Kampfgeist hat und der Therapeutin gerne eins auswischen möchte. Die Auseinandersetzungen sind auch im familiären Kreis deutlich angestiegen. Entwertungen und aggressive Auseinandersetzungen herrschen zu Hause vor, sind jedoch auch in der Therapie, besonders von der 50. bis zur 70. Stunde, sehr massiv. Sie machen sich u. a. an der Frage der Verlängerung der Therapie fest; die Patientin wirkt scheinbar uninteressiert an einer Verlängerung und lässt die Therapeutin mit ihrem Wunsch, die Behandlung fortzuführen, regelrecht »verhungern«. In diesem Zusammenhang malt die Patientin auch ihr Bild Das zerbrochene Herz, während sie am Beginn der Behandlung in der Phase der oralen Bedürftigkeit neben den vielen Nahrungsmitteln auch Bilder hergestellt hat, in denen zwei getrennte Welten vorherrschten: auf der einen Seite eine Phantasiewelt mit heiler Insel, Palmen und ewiger Urlaubsstimmung und auf der anderen Seite eine Stadtwelt mit Pflichten, wenig Grün und kühler beziehungsloser Atmosphäre. Die Frage der Verlängerung kulminiert schließlich in einer Aktion, in der sich die Patientin von der Therapeutin »rausgeschmissen« fühlt, während sich die Therapeutin ihrerseits von der Patientin »verlassen« fühlt. Es wird deutlich, dass die Therapeutin in ihrer Gegenübertragung die Gefühle des kleinen Mädchens (»Wendet sich meine Mutter mir liebevoll zu oder verlässt sie mich?«) aufbewahrt hat. Nach der Verlängerung der Behandlung unternimmt die Therapeutin mit der Patientin einen Ausflug in ihre »Mutterstadt«, um diese »heile frühere Welt« genauer kennen zu lernen. Die Patientin ist von diesem Ausflug sehr begeistert, zeigt ihr ihren Hort, ihre verschiedenen Wohnungen, die Wohnung mit der Mutter, die Wohnung mit dem Vater u. Ä. und isst während dieses Ausflugs auch sehr viel. Diese gute Beziehung kann aber nicht anhalten und muss in der nächsten Stunde wieder durch Verschlossenheit und Schweigen zunichte gemacht werden. In der Gegenübertragung spielt v. a. Wut gegenüber dem Vater in Bezug auf sein vernachlässigendes Verhalten dem Mädchen gegenüber eine große Rolle. Es wird auch deutlich, wie wenig die Patientin wirklich an eine gute Beziehung, die Bestand hat, glauben kann und wie sehr sie alles Gute entwerten muss. Die Frage, die sich die Patientin stellt, inwiefern sie mit zunehmend fortschreitender Pubertät auch ihrer Mutter
2.9 Das zerbrochene Herz: Reinszenierung von Trennungen in der Psychotherapie
immer ähnlicher wird, ist nun Thema in der Therapie, u. a. auch im Zusammenhang mit der Rückgratverkrümmung, die bei ihr festgestellt wurde. Auch dies ruft Erinnerungen an ihre eigene Mutter hervor, die ein Korsett habe tragen müssen, das der Vater immer am Rücken zugeschnürt habe. Es wird deutlich, dass die Patientin nach einer weiblichen Identität sucht, zugleich aber Angst hat, mit ihrer »verwahrlosten« Mutter in einen Topf geworfen zu werden. Ein Problem, das erst zaghaft in die Behandlung aufgenommen wird, ist das der Idealisierung der verschwundenen Mutter.
Das »zerbrochene Herz« stammt – neben einer Zeichnung der Patientin – aus einem Satzergänzungstest, den sie in den probatorischen Sitzungen ausgefüllt hat. Darin schreibt sie: »Ich bin sehr traurig, weil … mein Herz zerbrochen wurde.« In der Lebensgeschichte der Patientin und auch im Leben des Vaters und der Mutter gibt es viele Beziehungsabbrüche. Das Verhalten dieses großen blassen Mädchens ist schon in den ersten Therapiesitzungen durch Ambivalenz und etwas sehr Zerbrechliches gekennzeichnet. Während der gesamten Therapie kommt es zwischen der Patientin und der Therapeutin immer wieder sowohl zu großer Nähe als auch zu drohenden Beziehungsabbrüchen. Ambivalenz ist eine bestimmende Beziehungsqualität, die durch das widersprüchliche und schizoide Verhalten der Mutter der Patientin in der frühen und wichtigen Bindungsphase mit ausgelöst und geprägt worden war. Die Einstellung der Mutter zum Kind im 1. Lebensjahr des Säuglings war vermutlich durch starke Verwöhnung gekennzeichnet. Es ist anzunehmen, dass die bindungsgestörte Mutter nach einem Jahr des intensiven Kontakts mit dem Säugling (ein Jahr voll gestillt) so beziehungsüberfordert war, dass sie für alle Beteiligten plötzlich und unerwartet ihr bisheriges Leben als Hausfrau und Mutter komplett änderte und von einem Tag auf den anderen verschwand. Für das kleine Kind war dies der erste als dramatisch erlebte Beziehungsabbruch. In der Folgezeit waren zwar unterschiedliche Beziehungspersonen (Vater, Tagesmutter und Mutter) vorhanden, dies ließ jedoch beim Kleinkind kein einheitliches Bild einer guten, versorgenden Mutter entstehen. Die Tatsache, dass die Symptomatik der Patientin zu einem Zeitpunkt auftrat, als ihr Vater sich »von ihr trennte« – durch die enge Beziehung zu seiner neuen Lebensgefährtin,
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die dann auch in die gemeinsame Wohnung einzog –, zeigt, dass es wiederum um Beziehungsabbruch geht. Vom Bindungstypus her kann man vermuten, dass die Patientin unsicher-ambivalent an ihre Mutter gebunden geblieben ist bzw. dass ein unsicherambivalentes Bindungsmuster oder inneres Arbeitsmodell (»inner working model«) für die Patientin entstanden ist. In dem Zusammenhang sind auch die Symptome der Patientin (Essstörungen, unlustiges Essen bzw. Lernstörungen, fehlender Drang, etwas Neues zu erforschen) zu sehen, ebenso wie ihre aggressiven Interaktionen mit Gleichaltrigen, mit denen sie relativ viele Konflikte hat. Am Anfang der Therapie stand sehr stark die orale Bedürftigkeit, das Gehaltenwerden und das Nachholen des positiven Gefüttertwerdens im Vordergrund. Die positive Mutterübertragung am Anfang der Behandlung machte die Defizite an emotionaler Bindung an einen Menschen sehr gut spürbar. Andererseits verfügt die Patientin aufgrund ihrer guten Symbolisierungsfähigkeit (Malen etc.; 7 Kap. 4) auch über Möglichkeiten der Kompensation und muss offenkundig elementare Strukturierungen in ihrem 1. Lebensjahr erlernt haben, sonst wäre diese gelungene Symbolisierung nicht möglich. Der Anspruch »Versorge mich«, aber gleichzeitig auch die Angst, verlassen zu werden, sind wichtige Themen in der Behandlung. In der Übertragung wurde besonders im Zusammenhang mit dem Verlängerungsantrag deutlich, dass die Patientin die Therapeutin sozusagen »stellvertretend verlassen möchte«, indem sie sich uneindeutig bezüglich der weiteren Zusammenarbeit zeigte. Der Mechanismus der projektiven Identifizierung zeigt die Anteile aus der frühkindlichen Welt der Patientin auf: In der Gegenübertragung der Therapeutin waren die Wut und Ohnmacht deutlich zu spüren, als es um die Fortführung der Therapie ging. Es handelte sich offenkundig um eine Reinszenierung der eigenen Traumatisierung der Patientin durch das Verlassenwerden. Es wurden auch noch andere, ödipale Anteile im Konflikt mit dem Vater deutlich, hier wurde ausschließlich auf die bindungsrelevante Thematik eingegangen. Wie Stephan (2003) schildert, fängt das zerbrochene Herz der Patientin allmählich an zu heilen. Einander widersprechende Gefühle von Liebe und Hass werden mehr und mehr zusammengeführt,
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Kapitel 2 · Wenn die fördernde Umwelt ausfällt
und die integrierenden Mechanismen in der Patientin finden durch die Therapie ihre Stärkung. Die geschilderte Ich-strukturelle defizitäre Entwicklung der Patientin und die emotionale Störung wären sicher noch massiver gewesen, wenn nicht eine grundlegend gute Beziehung zur Mutter da gewesen wäre, die sich jedoch durch das traumatische Verlassenwerden dann eher in Richtung einer unsicher-ambivalenten Bindung veränderte. Auch die haltende Funktion des Vaters und weiterer Beziehungspersonen (Großeltern, Hort) wirkte protektiv. Fazit 5 Die Beispiele wilder Kinder zeigen, dass sich Menschen nicht ohne eine enge Beziehung zu einer Pflegeperson entwickeln können. 5 Während der frühen Säuglingszeit ist eine »Einheit« zwischen Kind und Mutter besonders notwendig. 5 Ein Ausfall ohne angemessene alternative Betreuungsperson hat äußerst dramatische Folgen, die, wenn überhaupt, schwer kompensierbar sind. 5 Besonders beeinträchtigt bleibt die soziale und emotionale Entwicklung, aber auch andere Entwicklungsbereiche weisen Störungen auf, wie die starke motorische Verlangsamung und kognitive Entwicklungsdefizite zeigen. 5 Es gibt offenkundig kritische Phasen für Trennungen – die Folgen einer Trennung in diesen Phasen sind besonders dramatisch oder irreversibel. 5 Eine Depression, wenig responsive und wenig einfühlsame Mütter bzw. der Tod von Eltern bringt kleine Kinder in eine schwere defizitäre Situation, die Folgen für die gesamte weitere Entwicklung hat.
3 Bindungsentwicklung 3.1
Von Winnicott zur Bindungstheorie – 54
3.2
Noch einmal: Der kompetente Säugling – 61
3.3
Antwortlächeln und Fremdeln
3.4
Bindungsentwicklung in der Kindheit und im Erwachsenenalter – 68
3.5
Stabilität und transgenerationale Weitergabe von Bindungsmustern – 73
3.6
Das »Bindungsloch« in der Adoleszenz
3.7
Mütterliche Feinfühligkeit und »schwierige« Babys
3.8
Effekte von Bindungssicherheit: Mentalisierung und Emotionskontrolle
3.9
– 64
Bindung und Psychopathologie – 85
– 75
– 80
– 78
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Es kann keine Neugier, kein Lernen entstehen, wenn die Grundbedürfnisse des Kindes nach Bindung und Sicherheit nicht erfüllt werden. Diese Dialektik von Bindung und Exploration bestimmt die weitere Entwicklung des Kindes und erklärt auch die oft erheblichen kognitiven Defizite vernachlässigter Kinder. Langfristige Auswirkungen sicherer und unsicherer Bindungsmodelle wurden in vielen Studien untersucht. Dabei zeigte sich, welche grundlegenden weiteren Lernprozesse in den frühen Mutter-Kind-Beziehungen erworben werden. Sehr entscheidend ist die kognitive Strukturierung von Beziehungen, die Fonagy (2003) als »Mentalisierung« bezeichnet. Die gebildeten inneren Arbeitsmodelle von sich selbst und anderen wichtigen Bezugspersonen werden in der Folge handlungsleitend für die weitere Beziehungsgestaltung. Frühe Bindungserfahrungen stellen auch die Basis für Psychopathologie dar; allerdings können spätere positive Beziehungserfahrungen unsichere Arbeitsmodelle erfreulicherweise noch korrigieren. Auch die Fähigkeit zur Emotionsregulierung gehört zu den zentralen Fertigkeiten, die auf der Basis von Bindungsbeziehungen erworben werden. Dass das kleine Kind schon über elementare Voraussetzungen für die Entwicklung von Bindungsbeziehungen verfügt, wird anhand der Wahrnehmungs- und Gedächtnisentwicklung offenkundig sowie daran, wie sehr es die Reaktionen seiner Eltern herbeiführt und steuert. Insbesondere »schwierige« Babys stellen eine große Herausforderung für Eltern dar.
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Kapitel 3 · Bindungsentwicklung
3.1
Von Winnicott zur Bindungstheorie
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Bowlby (1958) gehörte zu den Ersten, die anerkannten, dass der menschliche Säugling über die angeborene Neigung verfügt, sich auf soziale Interaktionen einzulassen. Er wies konsequent auf das Bedürfnis des Kleinkindes hin, früh eine feste, sichere Bindung an die Mutter zu entwickeln. Erstaunlicherweise wurde sein theoretischer Ansatz in der Psychoanalyse am Anfang nicht sehr geschätzt. Das Verhältnis zwischen Psychoanalyse und Bindungstheorie war seit den Veröffentlichungen von John Bowlby Anfang der 60er Jahre in »The Psychoanalytic Study of the Child« recht gespannt. Man warf der Bindungstheorie vor, sie sei zu mechanistisch, nicht dynamisch genug und beruhe auf einem Missverständnis psychoanalytischer Theorien (A. Freud 1960; Schur 1960). Wie Fonagy (2003) nachwies, gab es in den folgenden Jahrzehnten regelmäßige Kritik von wichtigen Vertre-
tern der Psychoanalyse am Ansatz der Bindungstheorie. Es wurde kritisiert, dass die Triebtheorie missachtet und die Vielfalt menschlicher Emotionen vernachlässigt würde. Insbesondere warf man Bowlby vor, nicht zu berücksichtigen, inwieweit die Bindungsfähigkeit des Kindes und seine Fähigkeit, auf Verluste zu reagieren, von der jeweiligen Phase der Ich-Entwicklung beeinflusst werden. Bowlby wiederum verbarg in seinen Aufsätzen nicht seine Enttäuschung über die Psychoanalyse; noch 1988 kritisierte er den psychoanalytischen Standpunkt wie folgt: »Die Beschäftigung mit realen Ereignissen war beinahe verpönt.« (Bowlby 1995, S. 48). Es gibt allerdings, wie wir noch zeigen werden, einige Übereinstimmungen zwischen der Bindungstheorie und bestimmten psychoanalytischen Ansätzen. In den letzten 30 Jahren hat es, ausgelöst durch Bowlbys Arbeiten, geradezu eine Explosion der Bindungsforschung in der Entwicklungspsychologie gegeben; aber auch in der Psychoanalyse sind zahlreiche neue Arbeiten dazu erschienen (z. B.
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3.1 Von Winnicott zur Bindungstheorie
3
Fonagy 2007), die verdeutlichen, dass die Konzepte und Thesen Bowlbys in die klinische Arbeit aufgenommen wurden.
Haltephase und primäre Mütterlichkeit Wir beginnen wiederum bei Winnicott (1965/2002), der uns als Orientierungsrahmen für die sehr frühe Beziehungsentwicklung dient. Winnicott unterscheidet in der frühen Phase der Mutter-KindBeziehung die bekannten Konzepte der primären Mütterlichkeit und der Haltephase und teilt eine befriedigende elterliche Fürsorge in drei einander überschneidende Stadien ein: 5 Halten, 5 Mutter und Säugling leben zusammen, 5 Vater, Mutter und Säugling leben zusammen. Das Haltestadium der mütterlichen Fürsorge hat einen ganz wichtigen Stellenwert. In diesem Stadium wird das Baby physisch und psychisch von der Mutter gehalten und ist nicht in der Lage, aus seiner Verschmolzenheit mit der Mutter herauszutreten und ein Objekt als außerhalb seines Selbst liegend wahrzunehmen. Winnicott lehnt den Symbiosebegriff von Mahler et al. (1975) ab, der ihm zu biologisch ausgelegt ist. Der Zustand primärer Mütterlichkeit beginnt sehr früh, nämlich mit den körperlichen Veränderungen der Frau nach der Empfängnis und dem körperlichen Halten des Babys im Bauch. Er entwickelt sich allmählich zu einem Zustand der primären Mütterlichkeit nach der Geburt, der in einer erhöhten Sensibilität für den Säugling zum Ausdruck kommt. Die Mutter weiß durch ihre Identifikation mit dem Säugling, wie dieser sich fühlt, und ist daher fähig, genau das zu liefern, was der Säugling in Bezug auf das Gehaltenwerden braucht (. Abb. 3.1). Der Zustand erinnert aus der Sicht der Mutter an einen Zustand des Entrücktseins oder der Dissoziation. Wir werden in 7 Kap. 6 sehen, dass dieser Zustand etwa ein halbes Jahr lang anhält und dass eine Mutter, die beispielsweise ein zweites Kind bekommen hat, erst nach
. Abb. 3.1. Baby und Mutter
einem halben Jahr in der Lage ist, ihre Aufmerksamkeit wieder gleichmäßig auf beide Kinder zu verteilen. In der Haltephase, wenn sich der Säugling als mit der Mutter verschmolzen erlebt, ist es umso besser für das Kind, je stärker sich die Mutter in seine Bedürfnisse einfühlen kann. Dies ändert sich, wenn es aus der Verschmelzung heraustritt und die Mutter als ein getrenntes Wesen erlebt. Nun ist es in der Lage, zwischen seinen Bedürfnissen und deren Befriedigung durch die Mutter zu unterscheiden und kann durch Signale die Mutter auf seine Bedürfnisse aufmerksam machen. Die genügend gute Mutter (»good enough mother«) wird diese Veränderung instinktiv bemerken und sich darauf einstellen, indem sie nicht spontan auf die erahnten Bedürfnisse ihres Kindes eingeht, sondern erst seine Signale abwartet. Im weiteren Verlauf der Entwicklung wird sich das Verstehen der Mutter immer mehr an den Signalen des Säuglings ausrichten.
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Kapitel 3 · Bindungsentwicklung
Konstrukt der primären Mütterlichkeit Die mütterliche Fürsorge im Stadium der absoluten Abhängigkeit des Säuglings, also dem Halten, setzt die Einfühlungsfähigkeit der Mutter im Hinblick auf verschiedene Funktionen voraus: 5 Schutz vor physischer Beschädigung 5 Berücksichtigung des Hautempfindens des Säuglings 5 Berücksichtigung der Empfindlichkeit des Säuglings gegenüber Berührung, Temperatur, Empfindlichkeit des Gehörs, des Gesichtssinns 5 Ausführen der gesamten Pflegeroutine bei Tag und Nacht 5 Fällt bei jedem Säugling anders aus, da kein Säugling dem anderen gleicht 5 Anpassen an die winzigen Veränderungen, die zur physischen und psychischen Entwicklung des Säuglings gehören
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Das Konzept der primären Mütterlichkeit hat gewisse Ähnlichkeiten mit dem Konzept der mütterlichen Feinfühligkeit in der Bindungsforschung, das noch dargestellt werden wird. Primäre Mütterlichkeit setzt die Einfühlungsfähigkeit der Mutter im Hinblick auf ganz verschiedene Funktionen voraus, etwa den Schutz vor physischer Beschädigung, die Berücksichtigung des Hautempfinden des Säuglings, die Berücksichtigung der Empfindlichkeit des Säuglings gegenüber Berührungen, Temperatur, Lärm etc. Fallbeispiel
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Das scheint zunächst ganz selbstverständlich, aber erst vor kurzem konnte ich eine Studentin mit einer starken Prüfungsangst beobachten. Sie brachte ihr Baby mit in die Prüfung, hielt es wie einen Schutzschild vor sich, ein Baby mit ganz weit geöffneten Augen und einem sehr starren Gesichtsausdruck. Sie berichtete ganz stolz, dass sie die ganze Wohnung ohne irgendeine Reaktion des Babys durchsaugen könne.
Primäre Mütterlichkeit ist hochindividuell und passt sich den winzigen Veränderungen an, die zur physischen und psychischen Entwicklung des Säuglings gehören. Dazu hat Winnicott (1965/2002) ver-
schiedene sich wandelnde Stufen der Abhängigkeit beschrieben (7 Übersicht). Stufen der Abhängigkeit nach Winnicott 5 Absolute Abhängigkeit In diesem Zustand – während der Haltephase – ist der Säugling sich der mütterlichen Fürsorge nicht bewusst. Er ist nicht in der Lage, die mütterliche Fürsorge zu steuern. Der Säugling ist sowohl in physischer als auch in emotionaler Hinsicht völlig auf die mütterliche Fürsorge angewiesen. 5 Relative Abhängigkeit Nun kann der Säugling seine Bedürfnisse nach Einzelheiten der mütterlichen Fürsorge wahrnehmen und zunehmend mit seinen Impulsen in Verbindung setzen. 5 Allmähliche Unabhängigkeit Das Kind entwickelt Wege, ohne reale Fürsorge auszukommen. Möglich ist dies durch Erinnerungsspuren an die mütterliche Fürsorge, die Projektion eigener Bedürfnisse, die Introjektion von Details der Fürsorge sowie die Entwicklung von Vertrauen zur Umwelt. In diesem Stadium ist das Übergangsobjekt von großer Bedeutung.
Entstehung von Ich-Strukturen, vom Selbst und von Objektbeziehungen Winnicott leistete einen konstruktiven Beitrag zur entwicklungsbezogenen Beschreibung der Ursprünge des Selbst in der Mutter-Kind-Beziehung. Er beschrieb die »holding function«, die letztlich zur Entwicklung des Selbst, zur Entwicklung von Objektbeziehungen und zur Autonomie des Kindes führt. Ein wesentliches Merkmal des Haltestadiums ist die Integration von Ich-Leistungen, die sich schrittweise aus einem noch unintegrierten Zustand vollzieht. Es entsteht eine begrenzende Membran, die mit der Oberfläche der Haut identisch ist und zwischen Ich und Nicht-Ich des Säuglings angesiedelt ist. Der Säugling lernt zwischen Innen und Außen zu unterscheiden und ein Körperschema zu entwickeln.
3.1 Von Winnicott zur Bindungstheorie
Weitere wichtige Lernprozesse betreffen die symbolischen Funktionen, die die Grundlage für Träume bilden. Ein anderer wichtiger Prozess ist die Entwicklung von Objektbeziehungen. All diese Entwicklungen gehören zu dem Umweltzustand des Haltens, und ohne ein ausreichend gutes Halten können diese Stufen nicht erreicht werden oder, wenn sie erreicht sind, nicht gefestigt werden. (Winnicott 1965/2002, S. 58)
Die Mutter achtet aufgrund der primären Mütterlichkeit mit erhöhter Sensibilität auf sich selbst, ihren Körper und das Baby, was diesem die Illusi-
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on vermittelt, dass die Mutter seine Schöpfung ist. Nach Ansicht Winnicotts (1971) entstehen Objektbeziehungen aus diesen magischen Allmachtserfahrungen, die aggressive Anteile enthalten. Dass die Mutter den »Angriff des Säuglings auf sie überlebt«, erleichtert die Entwicklung des Selbst. Winnicott sieht also in der frühen Kindheit durchaus keine idyllische Phase. Winnicotts Theorie des falschen Selbst (7 Übersicht) beruht auf der Annahme, dass innere Erregungszustände traumatisch für das Kind sein können, wenn die Betreuungsperson nicht fähig ist, sie aufzunehmen und zu spiegeln (Winnicott 1965).
Konzept des falschen Selbst Winnicott führt den Begriff ein, um die Persönlichkeit von schizoiden Patienten und BorderlinePatienten zu charakterisieren, die in einer analytischen Therapie zu schweren Regressionen mit starker Abhängigkeit neigen. Zur Konzeption eines falschen Selbst kann es während der Haltephase kommen, wenn sich die Illusion der kindlichen Omnipotenz auf dem Höhepunkt befindet und die Mutter der Omnipotenz des Säuglings nicht begegnet. Die Mutter, die gut genug ist, begegnet der Omnipotenz und begreift sie in gewissem Maße. Die Mutter, die nicht gut genug ist,
Winnicott vertritt entschieden die Ansicht, dass schwere psychische Störungen, die schon im Kindesalter manifest werden können, auf mütterliches Versagen zurückzuführen sind. Mütter, die »nicht gut genug sind«, spielen bei dem Konzept des falschen Selbst eine wesentliche Rolle. Während der Haltephase haben diese Mütter ihr Kind entweder nicht gut genug vor Übergriffen von außen geschützt, oder aber sie sind der kindlichen Illusion des omnipotenten Schaffens und Lenkens nicht adäquat begegnet. Dies hat zur Folge, dass der Säugling ein falsches Selbst entwickelt. Individuen mit einem falschen Selbst, so Winnicott, sind nicht in der Lage, äußere Objekte zu besetzen, ihnen fehlt jegliche Spontaneität und Kreativität.
unterlässt es wiederholt, der Geste des Säuglings zu begegnen; stattdessen setzt sie ihre eigene Geste ein, die durch das Sichfügen des Säuglings sinnvoll gemacht werden soll. »Diese Gefügigkeit auf Seiten des Säuglings gehört zur Unfähigkeit der Mutter, die Bedürfnisse ihres Säuglings zu spüren.« (Winnicott 1965/2002, S. 189) In der Praxis lebt der Säugling, nur lebt er falsch. Das klinische Bild zeigt allgemeine Reizbarkeit, Ernährungs- und andere Funktionsstörungen. Das falsche Selbst hat Abwehrcharakter.
Winnicotts Theorie ist sehr gut mit der Bindungstheorie vereinbar. Beide stellen das Selbst in das Zentrum einer Psychologie des mentalen Systems und betrachten Selbst- und Objektrepräsentanzen als miteinander verwoben und sich wechselseitig beeinflussende Mittler, die Beziehungen so organisieren, dass sie die Selbststrukturen schützen. Das Versagen der Mutter während der Haltephase wird in diesem frühen Stadium als Bedrohung der Existenz, als Angst vor Vernichtung erlebt. Zu deren Abwehr werden primitive Mechanismen organisiert, welche die weitere emotionale Entwicklung stark beeinträchtigen. »Ein Schizophrener im Zusammenbruch ist die Umkehrung des Reifungsprozesses des frühen Säuglingsalters.« (Winnicott 1965/2002, S. 175)
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Kapitel 3 · Bindungsentwicklung
Die Bindungstheorie Zunächst wird eine kurze Einführung in die Bindungstheorie von John Bowlby gegeben. Danach werden einzelne Aspekte und Thesen genauer erläutert, vertieft und auf ihre empirischen Belege in der entwicklungspsychologischen Forschung hin untersucht. Bowlby (. Abb. 3.2) begann seine Arbeit an der Bindungstheorie, als er im Alter von 21 Jahren in einem Heim für sozial auffällige Jungen tätig war. In einer retrospektiven Untersuchung, die er zehn Jahre später über die Entwicklungsgeschichte von 44 jugendlichen Dieben leitete, vermutete er bereits, dass eine längere Trennung von der Mutter ursächlich mit der Störung dieser Jungen zusammenhing. Später erweiterte er sein Interesse an Mutter-KindBeziehungen und wertete Untersuchungen aus, die sich mit den Folgen einer Institutionalisierung bei kleinen Kindern befassten (Bowlby 1951), aufbauend auf den Untersuchungen von Spitz (1954; 7 Kap. 2). Die von Bowlby (1969, 1973, 1980) entwickelte Bindungstheorie postuliert das universelle menschliche Bedürfnis, enge affektive Bindungen einzugehen, das sich besonders in Situationen der Gefahr zeigt. Definition
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Unter Bindung versteht man ein lang andauerndes affektives Band zu ganz bestimmten Personen, die nicht ohne Weiteres auswechselbar sind, deren körperliche, psychische Nähe und Unterstützung gesucht werden, wenn z. B. Furcht, Trauer, Verunsicherung, Krankheit, Fremdheit usw. in einem Ausmaß erlebt werden, das nicht mehr selbstständig regulierbar ist.
Bowlbys Bindungstheorie hat einen eindeutigen biologischen Fokus: Er vertrat die Meinung, dass der Säugling auf Grund einer biologisch vorgegebenen Bindungsneigung bestimmte Interaktionen mit den Fürsorgepersonen initiiere, aufrechterhalte oder abbreche, und betonte immer wieder, wie wichtig Bindung für das Überleben sei, da die Nähe zur Fürsorgeperson nicht nur größere Sicherheit biete, sondern auch weitere Vorteile wie Nah-
. Abb. 3.2. John Bowlby
rung und Schutz. Er versteht Bindung als ein Verhaltenssystem, das nicht auf einen anderen Trieb, wie Nahrungsaufnahme, Sexualität oder Aggression, zurückführbar ist. Dies erklärt auch, weshalb zwischen dem Füttern und der Bindung kein kausaler Zusammenhang besteht: Ein Baby lächelt beim Füttern immer die Mutter und niemals die Flasche oder Brust an.
Bindung und Exploration Das gesamte Bindungssystem dient dem Zweck, größtmögliche Nähe zum Bindungsobjekt, meistens der Mutter, zu erreichen. Dies wird in Abhängigkeit vom Alter des Kindes durch unterschiedliches Verhalten wie Schreien, Weinen, Arme ausstrecken und Zukrabbeln oder Zugehen auf die Mutter erreicht. Wichtig ist ferner, dass die Bindungstheorie von Anfang an mehr als nur die Bindung umfasst. Enge Verknüpfung von Bindung und Exploration Die Fähigkeit des Kindes, affektive Beziehungen zu entwickeln, ist »1. das Ausmaß, mit dem die Eltern als sichere Basis für das Kind verfügbar waren und es 2. ermutigt haben, von dieser Basis aus selbständig zu erkunden« (Bowlby 1980, S. 167).
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3.1 Von Winnicott zur Bindungstheorie
Die beiden Verhaltenssysteme Bindung und Erkundungsverhalten (»exploration«) sind auf subtile Weise miteinander verknüpft, wobei die Bindungsfigur die unabdingbare sichere Basis (»secure base«) bietet, von der aus das Kind die Welt erkundet (Bowlby 1988). Das Explorationsverhalten bricht abrupt ab, wenn das Kind feststellt, dass die Bezugsperson vorübergehend abwesend ist. Die Abwesenheit der Bindungsfigur verhindert demnach die Exploration (Rajecki et al. 1978). Deshalb kann man davon ausgehen, dass eine sichere Bindung vorteilhaft für die Entwicklung kognitiver und sozialer Fähigkeiten ist. Nähe ist demnach das festgesetzte Ziel des Bindungssystems; seine Messung erfolgte später in den Untersuchungen von Mary Ainsworth et al. (1978) im Fremde-Situation-Test einfach und rein verhaltensbezogen. Die Bindungsbeziehung ist eine Untergruppe emotionaler Beziehungen, bei denen eine bestimmte Person große emotionale Bedeutung für eine andere hat und nicht austauschbar ist. Bindungsbeziehungen sind im Kindesalter asymmetrisch. Von großer Bedeutung ist das Konzept der mütterlichen Feinfühligkeit, das die Wahrnehmung und prompte sowie angemessene Beantwortung der kindlichen Signale umfasst.
Langfristige Auswirkungen früher Bindungserfahrungen Weitere wichtige Thesen der Bindungstheorie betreffen die langfristigen Auswirkungen früher Bindungen. Bowlby (1958) war der Überzeugung, dass Unterschiede in der Sicherheit der MutterKind-Bindung langfristige Folgen haben. Er nahm an, dass sich die Art der Beziehung des Säuglings zur Betreuungsperson in inneren Repräsentationen niederschlägt, die den Prototyp für alle späteren sozialen Beziehungen bilden. Bowlby postulierte, dass auf der Grundlage früher Bindungserfahrungen ein inneres Arbeitsmodell (»inner working model«) von sich und anderen entsteht, das alle weiteren Beziehungen beeinflusst. Dies erklärt die Stabilität in bestimmten Beziehungsqualitäten. Allerdings weist Bowlby auch darauf hin, dass sich innere Arbeitsmodelle im Laufe des Lebens durch bestimmte Erfahrungen verändern können.
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Definition Innere Arbeitsmodelle sind kognitive Schemata, in denen Erwartungen bezüglich des Verhaltens einer bestimmten Person gegenüber dem Selbst gespeichert sind. Diese Erwartungen sind Abstraktionen, die auf wiederholten Interaktionen mit dieser Person basieren. Hat sich das Kind beispielsweise verletzt und wird dann schnell versorgt, so wird das Kind die legitime Erwartung entwickeln, wenigstens gegenüber dieser bestimmten Person, dass es sehr wahrscheinlich beruhigt und getröstet wird, wenn es Kummer hat. Solche inneren Arbeitsmodelle bleiben das ganze Leben lang relativ stabil.
Nach Bowlby haben sicher gebundene Kinder eine gut regulierte Beziehung mit ihrer Betreuungsperson. Emotionsregulierung ist seiner Meinung nach einer der wichtigsten Lernprozesse, die in frühen Bindungsbeziehungen entstehen. Sicher gebundene Kinder können positive Erfahrungen hinsichtlich ihrer exploratorischen Kompetenz entwickeln, sind zuverlässig zur Modulation von Erregung und zur Kommunikation innerhalb von Beziehungen fähig und haben Vertrauen in die fortbestehende Verfügbarkeit ihrer Betreuungsperson. Sicher gebundene Kinder können die von ihrer Umgebung angebotenen Möglichkeiten gut ausnutzen und sich auf sozial unterstützende Beziehungen verlassen. Ein autonomes Selbstgefühl ist Folge einer sicheren Beziehung zwischen Betreuungsperson und Säugling. Wichtige Thesen Bowlbys 5 Biologischer Zweck des Bindungsverhaltens 5 Bedürfnis nach Beziehung von Anfang an 5 Konzept der mütterlichen Feinfühligkeit 5 Enge Verzahnung von Bindung und Exploration 5 Erlernen der Emotionsregulierung 5 Ausbildung von inneren Arbeitsmodellen 5 Handlungsleitende Funktion von Arbeitsmodellen 5 Relative Stabilität von Bindungsbeziehungen
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Kapitel 3 · Bindungsentwicklung
Für Bowlby stand die Mutter-Kind-Beziehung im Vordergrund. Kinder können, was erst in den letzten Jahren entdeckt wurde (7 Kap. 5 und 7), mehrere Bindungsbeziehungen eingehen, und die Betreuungspersonen nehmen offenbar bestimmte Positionen in einer Rangordnung ein, an deren Spitze die primäre Bezugsperson steht. Zu den Faktoren, die dabei entscheiden, welche Bindungsfigur ganz oben auf der Liste steht, gehört, wie viel Zeit die Fürsorgeperson dem Kind widmet, welche Qualität die Zuwendung hat, wie groß das emotionale Engagement der Person ist und ob sie regelmäßig wieder auftaucht (Cassidy 1999). Wir werden im Verlauf dieses Kapitels die empirische Evidenz für die Thesen der Bindungstheorie noch genauer betrachten. Zunächst soll uns aber die Beziehung zwischen der Bindungstheorie und bestimmten psychoanalytischen Theorien beschäftigen.
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Beziehungen zwischen Bindungstheorie und verschiedenen psychoanalytischen Theorien Die Psychoanalyse stand den Arbeiten Bowlbys skeptisch gegenüber, was sich noch verstärkte, als die Thesen des »Abtrünnigen« von der entwicklungspsychologischen Forschung aufgegriffen und untersucht wurden. Allerdings ist Bowlbys Herkunft aus der Psychoanalyse eindeutig. Es gibt Berührungspunkte zwischen seinen Theorien und denen der Psychoanalyse. Wie in 7 Kap. 1 dargestellt, hat Freud kein homogenes Gesamtwerk vorgelegt. Berührungspunkte zwischen seinen Ansätzen und denen der Bindungstheorie gibt es in der vierten Phase seiner theoretischen Entwicklung (Freud 1920, 1923). In diesem Stadium vertrat Freud die Auffassung, dass Angst eine biologisch festgelegte Erfahrung ist, die mit der Wahrnehmung von sowohl äußeren als auch inneren Gefahren zusammenhängt (Freud 1926). Die prototypische Gefahrensituation war die eines drohenden Verlustes. Allerdings verminderte Freuds Konzentration auf die ödipale Phase im 3. und 4. Lebensjahr sein Interesse an den Erfahrungen der frühen Kindheit. Trotz seines Wissens um die Wirkungen extremer Umweltbedingungen – schließlich hatte er vor der Aufgabe der Verfüh-
rungstheorie über die Auswirkungen realer Traumata geschrieben – hat er insofern keine Konsequenzen gezogen, als er wenig darüber zu sagen hatte, wie sich das reale Verhalten von Eltern auf die Entwicklung von Kindern auswirkt. Auch war sein Entwicklungsmodell in gewisser Weise mechanistisch, eher linear als systemisch. René Spitz war einer der ersten Empiristen in der psychoanalytischen Tradition (7 Kap. 1). Er vertrat die Auffassung, dass große Veränderungen in der psychischen Organisation des Säuglings durch das Auftreten neuer Verhaltensweisen und neuer emotionaler Ausdrucksformen, wie z. B. das soziale Lächeln, markiert sind. Spitz schrieb der MutterKind-Interaktion in seiner Theorie der Entwicklungsstufen eine enorme Bedeutung zu. Er betonte auch die Rolle des Affekts in der Entwicklung der Selbstregulation. Im Grunde sind Spitz’ Ansichten eng verbunden mit der Betonung, die moderne Bindungstheoretiker auf die Emotionsregulierung legen. Die heutige Konzeption der Bindungstheorie mit ihrem starken Fokus auf Repräsentationen hat ihre Wurzeln in den Arbeiten von Edith Jacobson (1954), die darauf hinwies, dass der Säugling allmählich eine Selbstrepräsentanz mit guten (liebevollen) und schlechten (aggressiven) Wertigkeiten erwirbt, und zwar abhängig davon, ob er befriedigende oder frustrierende Erfahrungen mit der Betreuungsperson macht. Ihre Vorstellungen sind verwandt mit Bowlbys Konzept des inneren Arbeitsmodells. Sie nahm also Schlüsselkonstrukte vorweg. Erikson (1968) kommt das Verdienst zu, das Urvertrauen als Funktionsmodus der oralen Phase beschrieben zu haben. Letztlich geht eine sichere Bindung mit Urvertrauen einher, und unsichere Bindungsmuster sind mögliche Ausprägungsformen des Misstrauens. Weitere Gemeinsamkeiten zwischen Erikson und der Bindungstheorie ergeben sich aus den langfristigen Auswirkungen von Vertrauen und Misstrauen. Anna Freud gehört zu den ersten Psychoanalytikern, die Psychopathologie unter einer kohärenten Entwicklungsperspektive betrachteten (7 Kap. 1). Sie berichtet über signifikante Bindungsbeziehungen, die sie in den Kinderheimen für Kriegskinder in Hampstead beobachtete (A. Freud 1941– 1945). Ihr fiel zu jener Zeit auf, dass sich in den ersten sechs Lebensmonaten eine Bindung entwi-
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3.2 Noch einmal: Der kompetente Säugling
ckelt und der Säugling sehr früh soziales Interesse zeigt. Gemeinsam mit Dorothy Burlingham machte sie auch bemerkenswerte Beobachtungen bei Kindern, die in Konzentrationslagern gewesen waren. Sie beschrieb auf bewegende Weise, wie Kinder in den Beziehungen untereinander nach Sicherheit und Geborgenheit suchten und in Stresssituationen weiterhin die Nähe zueinander dem Kontakt mit Erwachsenen vorzogen. Anna Freuds frühe Arbeiten über das Ich und die Abwehrmechanismen (A. Freud 1936) deuten auf einen alternativen Bezugsrahmen von Bindungsmustern und Entwicklungsergebnissen im Erwachsenenalter hin. Man könnte Bindungsmuster regelrecht als Abwehrmechanismen betrachten, die das Kind anwendet, um mit dem idiosynkratischen Interaktionsstil seiner Fürsorgepersonen umzugehen. Ungeachtet dieser wichtigen Berührungspunkte hatte Anna Freud keine Sympathien für die Arbeit von Bowlby und führte die frühe Mutter-Kind-Beziehung eindeutig und ausschließlich auf sexuelle Bedürfnisse zurück. Es gibt mehrere Schlüsselkonzepte in den Theorien von Melanie Klein, die Berührungspunkte zur Bindungstheorie und späteren Operationalisierung von Bindungskonzepten durch verschiedene Methoden wie das Adult Attachment Interview (AAI) und den Fremde-Situation-Test (FST) aufweisen (S. 70). Sehr wichtig ist ihre Konzeption über die depressive Position (Klein 1935), bei der eine Beziehung zu einem integrierten Elternbild entwickelt wird, das sowohl geliebt als auch gehasst wird. Bowlby wurde erheblich von Melanie Klein beeinflusst. Ein Merkmal der paranoid-schizoiden Position ist die Spaltung. Jede Form von Güte und Liebe wird einem idealisierten Objekt zugeschrieben und alles Schmerzhafte, Leidvolle und Schlechte einem bösen Objekt (Klein 1932). Bei unsicheren Bindungsinterviews (im AAI) wird diese Spaltung besonders bei dem Bindungstyp »dismissed« deutlich. Die paranoid-schizoide Position ist auch durch eine extreme Labilität der Repräsentanzen gekennzeichnet. Dies passt recht gut zum Einstufungssystem des AAI, in dem solche Widersprüche und Unvereinbarkeiten für Personen mit unsicheren Bindungsrepräsentanzen charakteristisch sind. Als kennzeichnend für die depressive Position gilt dagegen, dass das Kind die Mutter als Gesamtobjekt wahrnimmt, und zwar mit guten und mit
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schlechten Eigenschaften. Die Operationalisierung der Bindungssicherheit im AAI zeigt diese offenbar in einem Gleichgewicht zwischen Liebe und Hass, in der Anerkennung und Akzeptanz von Schwächen bei den Fürsorgepersonen. Wesentliche Operationalisierungen des AAI, wie die Abwertungen (Verachtung), die Gedächtnisprobleme (Verleugnung) oder Idealisierungen (Wiedergutmachung), deuten auf eine unsichere Bindung hin. Bowlbys Kritik an der Kleinianischen Theorie ist, dass die tatsächlichen Erfahrungen der Kinder nicht genug berücksichtigt werden und dass Ängste der Kinder als allein durch anlagebedingte Tendenzen wie einen angeborenen Aggressionstrieb verursacht gelten. Wie schon weiter oben dargestellt, ist ein wichtiger Berührungspunkt zwischen der Bindungstheorie und Winnicotts Vorstellung das Thema der einfühlsamen Pflege. Die mütterliche Feinfühligkeit in den ersten Jahren hat eine enorme Bedeutung. Zentral ist dabei Winnicotts Konzept der Spiegelung, das Ähnlichkeiten mit Bions Konzept des psychischen Containers hat (Bion 1962). Ähnlich wie Winnicott behauptet ein anderer Vertreter der britischen Schule, Fairbairn (1952), dass das elementare Streben nicht auf Lust, sondern auf Beziehung ausgerichtet ist.
3.2
Noch einmal: Der kompetente Säugling
Die Entwicklung der Bindungsbeziehung baut auf frühen Lernprozessen auf, die die Wahrnehmung und das Gedächtnis betreffen. Um zu verstehen, wie das Baby die Mutter oder den Vater wahrnimmt, warum es auf deren Weggang mit Protest reagiert und welchen enormen Fortschritt das Lächeln eines Babys bedeutet, wollen wir einen kurzen Einblick in die Entwicklung von Wahrnehmung und Gedächtnisprozessen geben. Sehen-Lernen umfasst sehr viele verschiedene Prozesse, z. B. die Abtastbewegung des Auges, die über das Bild gleitet, oder die Figur-HintergrundGliederung, also die Tatsache, dass wir in der Regel Personen vor einem Hintergrund wahrnehmen. Hinzu kommt die Größen-, Farb- und Formkonstanz, d. h. das Phänomen, dass sich von uns entfernende Menschen nicht schrumpfen, sondern
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Kapitel 3 · Bindungsentwicklung
immer ungefähr die gleiche Größe behalten und dass wir auch unter verschiedenen Lichtverhältnissen Rot immer ungefähr als Rot sehen. Schließlich ist die Tiefenwahrnehmung zu nennen, ein äußerst komplexer Prozess, der auch schon relativ früh erworben wird, wobei wir heute vermuten, dass einige Teile davon angeboren sind. Von allen Wahrnehmungsvorgängen ist schließlich die Bewegungswahrnehmung die häufigste Form. Ein Baby sieht fast nur bewegte Objekte: Menschen, die auf es zukommen, Gegenstände, die vor seinem Auge bewegt werden, und es wird auch sehr häufig getragen und gewiegt. Wir gehen gegenwärtig von wenigen angeborenen Wahrnehmungsfertigkeiten aus. Die Ausdifferenzierung der Wahrnehmung ist überwiegend als ein Lernprozess anzusehen, bei dem das Baby bzw. Kleinkind eine aktive Rolle einnimmt (Christ u. Schwarzer 2007). Wir können regelrecht von einem Aufbau der Wahrnehmungsstrukturen durch das Kind sprechen: Es verwendet Ordnungsprinzipien und baut Strukturen auf, die es ihm gestatten, wichtige Reize zu selektieren und Ordnung in seine Wahrnehmungswelt zu bringen. Da die Retina, das lichtempfindliche Gewebe des Auges, zum Zeitpunkt der Geburt noch nicht voll entwickelt ist, nahm man früher an, das Neugeborene könne zu diesem Zeitpunkt nicht klar sehen. Inzwischen haben Untersuchungen nicht nur die Sehtüchtigkeit bestätigt, sondern auch interessante Hinweise über die Interaktion von angeborenen und erlernten Wahrnehmungsfertigkeiten zu Tage gefördert.
15 Größen-, Farb- und Formkonstanz
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Frühere Vorstellungen von der fehlenden Objektkonstanz während des ersten Lebensjahres sind inzwischen durch zahlreiche Experimente ernsthaft in Frage gestellt worden (z. B. Kavsek 1995). Sie zeigen, dass Säuglinge über Kohäsion, Begrenztheit und Festigkeit von körperlichen Objekten verfügen. Hält man Säuglingen geometrisch geformte Pappscheiben wie ein Dreieck oder einen Kreis vor das Gesicht, so beobachten sie interessiert die Konturen. Die Verschiedenheit der Formen wird offenkundig bemerkt. Schon vor dem 5. Lebenstag betrachten Säuglinge bun-
te Muster länger als Objekte mit schwarzer oder weißer Oberfläche. Man hat herausgefunden, dass bereits Kinder im Alter von 6 Monaten zwischen dem Gesicht und der Größe eines Menschen unterscheiden können, d. h. elementare Formen der Größenkonstanz erworben haben. In den Studien von Lewis (1977) wurde mit Liliputanern gearbeitet; die Babys reagierten mit allen Anzeichen von Überraschung auf die Inkongruenz von Körper-und Gesichtsgröße. Die Größenkonstanz verbessert sich mit fortschreitendem Alter immer mehr. Konstanzprinzipien, d. h. das Gleichbleiben von Wahrnehmungsobjekten, auch bei unterschiedlichen Lichtverhältnissen und unterschiedlicher Entfernung, erlernt das Kind schon sehr früh bei Objekten, die es handhaben kann, während es dies bei entfernteren Objekten, die es nicht »begreifen« kann, erst später erlernt (Piaget 1972). Auch die Konstanzprinzipien bei Veränderungen der Form auf Grund unterschiedlicher Blickwinkel werden schon sehr früh erworben. Das Baby lernt demnach schon sehr früh, »Ordnung in das Chaos« zu bringen und seine Wahrnehmungswelt in etwa konstant zu halten.
Figur-Grund-Unterscheidung und Wahrnehmung von Details Elementare Figur-Grund-Beziehungen kann man schon bei Neugeborenen beobachten. Sie fixieren in der Regel die ihnen näher liegende Figur und betrachten den Hintergrund kaum. Eine flexible Handhabung, besonders das Vermögen zur Umkehrung von Figur und Hintergrund, findet man aber erst ab einem bestimmten Alter. So können etwa Kleinkinder Details aus einer komplexen Figur nicht herauslösen, überhaupt fällt es auch noch Grundschulkindern schwer, Teilfiguren aus dem Zusammenhang herauszulösen und etwa Umkehrfiguren wie das Bild in . Abb. 3.3, in dem Napoleon versteckt ist, richtig einzuordnen. Wir finden einen sprunghaften Rückgang der Findezeit zwischen dem 5. und 7. Lebensjahr, danach verläuft die Wahrnehmungsleistung auf einem Plateau. Bei einem Bildervergleich können drei Viertel der 4-Jährigen vorgenommene Veränderungen entdecken, und 5-Jährige können relativ leicht abweichende Bilder, bei denen einige Details ver-
3.2 Noch einmal: Der kompetente Säugling
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Bewegungswahrnehmung
. Abb. 3.3. Umkehr von Figur und Hintergrund: Wo ist Napoleon versteckt?
ändert wurden, mit überzufälliger Genauigkeit auswählen. Unter den 7-Jährigen findet man praktisch kein Kind mehr, das diese Aufgabe nicht richtig löst.
Die Bewegungswahrnehmung ist der komplizierteste Wahrnehmungsprozess und zugleich der häufigste. Sie schließt die Koordinierung der Abtastbewegungen ein, die das Auge beim Gleiten über das Bild macht, und verlangt eine Integration von Informationen über Kopf- und Körperbewegungen sowie die Berücksichtigung der Tatsache, dass die Objekte sich in unterschiedlicher Geschwindigkeit auf uns zu bewegen. Was die Wahrnehmung von Bewegung angeht, so weiß man, dass Säuglinge etwa ab dem 10. Lebenstag langsam sich bewegenden Objekten mit dem Auge folgen. Die exakte Wahrnehmung von Bewegung bzw. die korrekte Einschätzung der Geschwindigkeit sich bewegender Objekte scheint allerdings ein äußerst komplizierter und schwieriger Lernprozess zu sein, der erst vergleichsweise spät beherrscht wird. Meistens benutzt man zu diesem Nachweis Experimente, in denen statische und bewegte Objekte, z. B. eine sitzende und eine laufende Maus, von den Kindern gehandhabt wer-
Tiefenwahrnehmung Ein weiterer Hinweis für die Hypothese bestimmter angeborener Wahrnehmungsfertigkeiten, die recht schnell durch Lernen differenziert und erweitert werden, wurde durch die Versuche mit der visuellen Klippe von Gibson (1963) erbracht (. Abb. 3.4). Eleanor Gibson konstruierte einen künstlichen Abgrund, der durch eine Glasplatte abgedeckt wurde. Sie beobachtete, dass Säuglinge nicht über den Teil der Glasplatte krabbelten, unter dem sich der »Abgrund« befand. Auch aus der Analyse von Kinderzeichnungen weiß man, dass räumliche Darstellungen schon früh wahrgenommen und umgesetzt werden. Zeichnerische Versuche der Rumpfausfüllung bei der Menschendarstellung zeigen, dass Kinder bereits im Alter von 2–3 Jahren ein Empfinden für den räumlichen Charakter von Objekten haben. Sie versuchen durch Schraffieren, dichtes Kritzeln oder kreisförmige Darstellung der Flächenausfüllung und Rundung des menschlichen Körpers gerecht zu werden.
. Abb. 3.4. Anordnung zur Untersuchung der Tiefenwahrnehmung: Die visuelle Klippe. (Nach Konrad u. Fink 2007)
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Kapitel 3 · Bindungsentwicklung
den müssen. Es zeigt sich, dass Kinder von 6–9 Jahren die Bewegungsgeschwindigkeit als zu langsam einschätzen, während 12- bis 14-Jährige kaum noch Fehler machen. Es braucht demnach einige Zeit, bis alle Prozesse, die für die Bewegungswahrnehmung koordiniert werden müssen, wirklich beherrscht werden. Dies ist auch der Grund für die traurige Bilanz, dass wir bis zum Alter von etwa 9 Jahren vermehrt Verkehrsunfälle bei Kindern verzeichnen.
das Neugeborene die menschliche Stimme mit synchronen Bewegungen. Erstaunlich sind auch ganz frühe Nachahmungsleistungen wie etwa Mundbewegungen. Metzloff und Moore (1989) belegten, dass schon Neugeborene mit Hilfe des Kurzzeitgedächtnisses die Mimik von Erwachsenen nachahmen können. Das kompetente Baby Die meisten Babys bringen erstaunliche Kompetenzen mit sich, die sehr schnell durch Lernen modifiziert und erweitert werden. Allerdings ist das Lernen insgesamt – verglichen mit der Zeit nach dem 1. Lebensjahr – noch reduziert und die Reizschwelle zur Aufnahme neuer Stimuli erhöht. Konditionierungsversuche, die Psychologen behavioristischer Orientierung gerne durchführen, funktionieren in den ersten Monaten sehr schlecht. Ein Neugeborenes braucht bei einfachsten Konditionierungsversuchen zum Lernen ca. 3-mal so viele Wiederholungen wie ein 3 Monate altes und 6-mal so viel wie ein 5 Monate altes Baby. Die positive Botschaft dieses langsamen Lernens ist, dass das Baby vor den ersten kleinen Erziehungsfehlern seiner unerfahrenen Eltern einigermaßen geschützt ist.
Frühe Synchronizität zwischen Mutter und Kind Es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass es in dieser frühen Phase der Entwicklung zu einer fein abgestimmten Synchronizität zwischen dem Verhalten der Pflegeperson, meist der Mutter, und dem Baby kommt, die dem Kind optimale Lernmöglichkeiten eröffnen. Die optimale Sehschärfe des Babys entspricht genau dem Abstand der Gesichter von Mutter und Kind beim Stillen. Hinzu kommt die frühe positionale Wahrnehmung des Babys, die eine Vorform der Bewegungswahrnehmung ist: Das Baby beruhigt sich, wenn es aufgenommen wird, es beruhigt sich bei rhythmischer Stimulation, und es lauscht bevorzugt auf die menschliche Stimme. Der Frequenzbereich für das Hören liegt in der Höhe der menschlichen Stimme und etwas darüber; deshalb ist die angehobene Stimmlage, mit der viele Menschen Babys ansprechen, genau richtig. Wahrnehmungsexperimente zeigen sehr starke Reaktionen der Eltern auf das Augenöffnen der Babys: Sie halten die Babys sofort frontal zu ihrem Gesicht, genau im richtigen Visus und imitieren die Mimik des Kindes, wobei sie vereinfachen und übertreiben und mit unendlicher Geduld wiederholen. Schon früh hat man Signale des Babys als sozial interpretiert: den Kopfwendereflex, die Zuwendung zur menschlichen Stimme, das Schauen und Verfolgen mit den Augen, das Anschmiegen und Ankuscheln des Körpers und des Köpfchens. Dem gegenüber wurden Blickabwendung oder Versteifung des Körpers als Abwehrreaktionen interpretiert. Sehr früh findet man auch schon Hinweise auf Kommunikation und Interaktion zwischen Eltern und Kind. Bereits nach wenigen Tagen begleitet
3.3
Antwortlächeln und Fremdeln
Unter allen Wahrnehmungsreizen ist ein Reiz, der eine besondere, eine herausragende Bedeutung für das Baby hat und bevorzugt beachtet wird: das menschliche Gesicht. Es ist eindeutig so, dass das menschliche Gesicht von Geburt an ein bedeutungsvoller Stimulus für das Kind ist, der etwa dem angeborenen Auslösemechanismus entspricht, den Lorenz im Tierreich beschrieben hat. Das Gesicht wird von Anfang an bevorzugt beachtet, etwa im Vergleich zu dem in . Abb. 3.5 rechts abgebildeten Oval, das die gleichen Elemente enthält, aber in zufälliger Anordnung. Das menschliche Gesicht ist bereits im 1. Lebensmonat der privilegierte optische Reiz, er wird allen anderen Dingen in der Umwelt des Säuglings vorgezogen. Der Säugling ist jetzt offenkundig fähig, das mensch-
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3.3 Antwortlächeln und Fremdeln
. Abb. 3.5. Das Gesicht als bedeutungsvolle Reizkonfiguration
liche Gesicht vom Hintergrund zu trennen und zu unterscheiden – die Figur-Grund-Differenzierung ist vollzogen. Spätestens aber im 3. Lebensmonat reagiert das Kind auf das Gesicht des Erwachsenen mit einem Lächeln, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Das Gesicht muss von vorne, also frontal angeboten sein, sodass der Säugling beide Augen sehen kann, das Gesichtsoval ist sehr wichtig. Nach Spitz sind große Veränderungen in der psychischen Organisation des Säuglings durch das Auftreten neuer Verhaltensweisen und neuer emotionaler Ausdrucksformen, wie z. B. das soziale Lächeln, markiert. Das Antwortlächeln im Alter von 2–3 Monaten markiert die erste Differenzierung zwischen Selbst und Objekt. Die im Alter von 8 Monaten auftretende Angst zeigt, dass der Säugling zwischen bekannten Objekten, insbesondere den Eltern, und anderen zu differenzieren beginnt. Die Nein-Geste, die im Alter von 10–18 Monaten auftritt, kennzeichnet für Spitz einen Fortschritt in der Selbstentwicklung, der sich als Selbstbehauptung manifestiert.
Innen und Außen, zwischen Trieb und Objekt sowie zwischen Ich und Nicht-Ich. Der einzige zu beobachtende Affekt in dieser Phase ist eine unspezifische Unlust. Die Rolle der Mutter während dieser ersten drei Lebensmonate ist die eines Schutzes. Sie schützt den Säugling vor Reizüberflutung, hilft Reize, die von innen kommen, zu verarbeiten, indem sie für Spannungsabfuhr sorgt, und unterstützt ihn schließlich durch den »Dialog« (Spitz 1965/1981), Schritt für Schritt bedeutungslose Reize in bedeutsame Signale umzuwandeln. Der Dialog, der als Teil der Objektbeziehung verstanden wird, besteht in sequentiell ablaufenden Zyklen von Aktion-Reaktion innerhalb der Mutter-Kind-Beziehung. Stufe des Objektvorläufers. Diese Stufe ist nach
Spitz (1965/1981) die zweite Übergangsstufe und beginnt mit dem so genannten Dreimonatslächeln. Auf das Erscheinen des menschlichen Gesichts reagiert der Säugling nun mit einem Lächeln, vorausgesetzt, das Gesicht ist in Bewegung und wird so angeboten, dass beide Augen sichtbar sind. Für Spitz ist das Dreimonatslächeln ein Indikator für den Übergang des Kindes von der Passivität zur Aktivität, ein sichtbares Zeichen für das Erreichen des ersten Organisators der Psyche (. Abb. 3.6).
Das Antwortlächeln Objektlose Stufe. Die erste Stufe der Entwicklung beginnt mit der Geburt und dauert etwa bis zum zweiten Monat. Sie fällt mit Freuds Stufe des primären Narzissmus zusammen. Das charakteristische Merkmal dieser Phase ist ihre Undifferenziertheit. Es gibt auf dieser Stufe keine klare Unterscheidung zwischen Psyche und Soma, zwischen
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. Abb. 3.6. Antwortlächeln
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Kapitel 3 · Bindungsentwicklung
Die Reaktion des Lächelns Vom 1. Lebensmonat an wird das menschliche Gesicht zu einem privilegierten optischen Eindruck. Im 3. Lebensmonat reagiert das Kind auf das Gesicht des Erwachsenen mit einem Lächeln, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind: 5 Das Gesicht muss ihm von vorn dargeboten werden, so dass der Säugling beide Augen sehen kann. 5 Das Gesicht muss sich bewegen, z. B. lächeln. Auf dieser Altersstufe ruft nichts anderes, nicht einmal die Nahrung, bei dem Kind diese Reaktion hervor. Kinder versuchen später, die Arme nach der Flasche auszustrecken, aber sie lächeln die Flasche nicht an.
Die Attrappenversuche von Ahrens (1954) haben gezeigt, dass die optischen Auslöser für ein Lächeln von Woche zu Woche komplexer sein müssen. Man hat Puppen oder Clowns über das Bett von Babys gehalten und geschaut, bis zu welchem Monat man noch ein Lächeln auslösen kann, wenn man eine Attrappe nimmt – im Vergleich zu einem menschlichen Gesicht. Im 2. Monat wird ein Lächeln ausgelöst durch augengroße, gut abgegrenzte Muster auf einer kopfartigen Attrappe; immer ist das Gesichtsoval wichtig, und es wird in den folgenden Monaten immer wichtiger. Hinzu kommen weitere Merkmale, v. a. Bewegung des Gesichts, Glänzen der Augen, Lächeln. Etwa ab dem 5. Monat unterscheiden Kinder deutlich zwischen der Attrappe und dem menschlichen Gesicht und lächeln nur noch das menschliche Gesicht an (. Abb. 3.7). Die Attrappenversuche von Ahrens (1954)
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5 Dass der Säugling wirklich auf eine Gestalt und nicht auf eine bestimmte Person reagiert, wird dadurch bewiesen, dass sich seine Reaktion nicht auf eine Person, wie z. B. die Mutter, beschränkt und dass die Personen, auf deren Anblick er mit einem Lächeln reagiert, beliebig auswechselbar sind. Sobald man sich ins Profil dreht, hören die Kinder auf zu lächeln. 5 Die bevorzugte Gestalt besteht aus Stirn, Augen und Nase, die sich in Bewegung befinden. Ahrens hat die optische Auslösung zwischen dem 2. und 6. Monat untersucht und gezeigt, dass zunehmend mehr Merkmale von Bedeutung sind, damit noch ein Lächeln ausgelöst werden kann.
10 11 12 13 14 15 16 57 18 19 20 . Abb. 3.7. Attrappenversuche: Optische Auslöser für ein Lächeln
Erst vor wenigen Jahren wurde dieses Experiment wiederholt (Bhatt et al. 2005) – mit den gleichen Ergebnissen. Außerdem weiß man inzwischen, dass Kinder von 5–7 Monaten ein Gesicht frontal und von der Seite als Darbietung eines Gesichts und nicht als zwei verschiedene Gesichter wahrnehmen (Nelson 1987). Dieser Befund ist für die Psychoanalyse besonders relevant, da sie in der Theorie der Teilobjekte (Klein 1930/1983) behauptet, dass der Säugling anfänglich die Mutter als fragmentiertes Objekt wahrnimmt und schließlich erst die
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3.3 Antwortlächeln und Fremdeln
verschiedenen Aspekte der Mutter in ein und demselben Schema integrieren muss. Auch Spitz (1965/1981) hat Versuche durchgeführt, mit Gesichtsmasken. Die Reaktion des Babys auf die frontal gezeigte Maske des menschlichen Gesichts ist ein genauso strahlendes Lächeln wie auf ein Gesicht von vorne, während bei Maske und Gesicht im Profil das Lächeln erlischt. Die Reaktion des blickerwidernden Lächelns zeigt, dass Gedächtnisspuren angelegt worden sind, und das Auftreten der Lächelreaktion leitet den Beginn der sozialen Beziehungen als Prototyp und Voraussetzung aller nachfolgenden sozialen Beziehungen ein. Dies verdeutlicht auch, dass Prozesse der Bewegungswahrnehmung nun integriert wurden: Das Gesicht muss sich bewegen, z. B. lächeln.
Die Achtmonatsangst Die Stufe der eigentlichen Wahrnehmung einer bestimmten, für das Kind besonders wichtigen Beziehungsperson gilt als erreicht, wenn der zweite Organisator der Psyche nach Spitz (1965/1981) errichtet worden ist. Als Indikator hierfür wird das Auftreten der Achtmonatsangst, des Fremdelns, angesehen. Voraussetzung für das Auftreten der Achtmonatsangst ist, dass die Unterscheidungsfähigkeit schon gut entwickelt ist. Das Kind hat aufgrund seiner fortgeschrittenen kognitiven Entwicklung das wahrgenommene Gesicht als fremd erkannt und lehnt es ab. Spitz schreibt: Zwischen dem sechsten und achten Monat tritt im Verhalten des Kindes gegenüber anderen Menschen eine entscheidende Wandlung ein. Es reagiert nicht mehr mit einem Lächeln, wenn ein zufälliger Besucher lächelnd oder nickend an sein Bettchen tritt. Das Kind unterscheidet jetzt deutlich zwischen Freund und Fremd, also wir sagen: es fremdelt. Nähert sich dem Kind ein Fremder, so löst dies verschiedene Grade der Angstlichkeit, ja sogar Angst aus. Die Kinder können den Blick senken, die Augen mit den Händen zuhalten, sich im Bett auf den Bauch werfen, das Gesicht in der Bettdecke verstecken, sie können weinen, schreien, sich abwenden. Der gemeinsame Nenner ist die Kontaktverweigerung, das Sich-Abwenden und eine mehr oder weniger deutlich ausgeprägte Angst. (Spitz 1965/1981, S. 128)
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. Abb. 3.8 zeigt Spitz gegenüber einem Kind, das die Achtmonatsangst zeigt. Wie die Reaktion des Lächelns im Alter von 3 Monaten, zeigt auch die Achtmonatsangst eine deutlich erkennbare Stufe in der Entwicklung der psychischen Organisation an. Im Falle des Lächelns wird das Gestaltsignal des vorne gesehenen Gesichts als etwas dem menschlichen Partner Homologes erlebt. Im Falle der Achtmonatsangst wird der Sinneseindruck des fremden Gesichts mit den Gedächtnisspuren des Gesichts der Mutter verglichen, erweist sich als anders und wird daher abgelehnt. Dies ist ein deutlicher Hinweis auf fest eingeprägte Gedächtnisspuren bei einem 8 Monate alten Kind und auf eine Verschiebung der Besetzung, dass sich nämlich jetzt eine echte Objektbeziehung gebildet hat und dass die Mutter zu einem Liebesobjekt geworden ist. Die Bedeutung des frontal gezeigten Gesichts ist denjenigen Therapeuten, die in der Sprechstunde mit Eltern von »Schreibabys« arbeiten, unmittelbar einleuchtend. Sie wissen auch um die sehr unterschiedlichen Haltungen von Eltern in Bezug auf ihr Kind (Barth 1999; 7 Kap. 6). Das, was uns spontan richtig erscheint, sobald das Baby die Augen öffnet – es nah zum Körper zu nehmen und frontal anzulächeln, das Gesicht zu bewegen –, ist für bestimmte Familien nicht selbstverständlich. Man kann beobachten, dass das Kind abgewandt vom Gesicht des Vaters oder der Mutter gehalten wird, sodass es über lange Strecken die Eltern nur im Profil sieht. Andere Kinder werden über den Schoß der Eltern gelegt oder in ihrem Babykörbchen neben dem Schirmständer abgestellt wie ein Paket, sodass die Entfernung viel zu groß ist, als dass das Baby das
. Abb. 3.8. Fremdeln
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Kapitel 3 · Bindungsentwicklung
Gesicht von Mutter oder Vater überhaupt erkennen kann. Es ist aber entscheidend notwendig, dass das optisch dargebotene Gesicht frontal und nah im Visus des Kindes ist und dass das Gesicht bewegt wird, was depressiven Müttern (7 Kap. 2) oftmals nicht möglich ist. Damit ist offenkundig, dass die oben dargestellten Lernprozesse des Kindes ganz eng an mütterliche Feinfühligkeit geknüpft sind.
Bindungsentwicklung in der Kindheit und im Erwachsenenalter
3.4
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Das Bindungsverhalten baut demnach auf frühe Beziehungserfahrungen auf, stellt aber noch eine Weiterentwicklung dar und bezieht sich v. a. auf das Verhalten des Kindes zu seinen Bezugspersonen in Situationen, die starke negative Emotionen hervorrufen, etwa Kummer, Angst etc. Die Bindungsbeziehung, in der eine bestimmte Person große emotionale Bedeutung hat und nicht austauschbar ist, entwickelt sich erst allmählich.
Stufenweise Ausbildung des Bindungsverhaltens Der Entwicklungsverlauf des Bindungsverhaltens (Attachment) verläuft stufenweise von einer Phase des undiskriminierten Attachments zu einem immer stärker personenspezifischen Attachment
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Intensität
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spezifisches Attachment Attachment, bezogen auf die Mutter undiskriminiertes Attachment
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(. Abb. 3.9). Ist die Bindung einmal ausgebildet, kommt es zur Strukturierung von so genannten inneren Arbeitsmodellen (»inner working models«). Dies sind im Gedächtnis niedergelegte Strukturen, die später alles weitere Verhalten leiten, Erwartungen für das Verhalten von Personen enthalten und so letztlich zur Stabilität von Bindungsverhalten beitragen. 5 Die erste Entwicklungsphase, die bis etwa zum 7. Lebensmonat dauert, ist eine Phase des undiskriminierten Attachments. In dieser Phase ist eine allgemeine Bevorzugung von Menschen gegenüber leblosen Objekten zu beobachten. Dies ist die Phase, in der Attrappenversuche beim Kind anfangs ein Lächeln auslösen; später ist ein menschliches, bewegtes Gesicht zum Antwortlächeln notwendig. Jede Art von sozialer Stimulation ist erwünscht, wenn sich nur jemand über das Bettchen beugt. Das Kind protestiert zwar gegen Trennung, die Trennung ist aber noch nicht auf eine bestimmte Person festgelegt. Dies ist auch der Grund, weshalb Kinder, die vor dem 7. Lebensmonat in ein Heim oder zur Adoption kommen, Ersatzmütter leichter akzeptieren (Bowlby 1980). 5 Etwa im Alter von 7 Monaten beginnt die Phase des spezifischen Attachments, d. h. der Bindung an eine bestimmte Pflegeperson, die sich in der Folgezeit noch verstärkt. Von diesem Zeitpunkt an wird eine Lächelreaktion, wird eine Entspannung und ein Sich-sicher-Fühlen nur in Bezug auf diese Person auftreten.
Alter (Monate) . Abb. 3.9. Entwicklungsveränderung in der Qualität der Bindung
3.4 Bindungsentwicklung in der Kindheit und im Erwachsenenalter
Entscheidend für die Einschätzung der Ergebnisse der Bindungsforschung, insbesondere solche zur Stabilität oder Instabilität von Bindungsverhalten über die Lebensspanne, ist die Kenntnis der Methoden, die zur Erhebung des Bindungsstatus verwendet wurden. Deshalb wollen wir uns im Folgenden genauer mit den zwei hauptsächlich verwendeten Methoden beschäftigen, Bindungsverhalten zu erfassen: 5 Fremde-Situation-Test (FST): Das ist eine experimentelle Situation, in der das Verhalten des Kindes bei Trennung von der Mutter beobachtet wird, eingesetzt im Alter von 18 Monaten bis 3 Jahren. 5 Adult Attachment lnterview (AAI): Es wird bei Erwachsenen eingesetzt, ist ein halbstrukturiertes Interview, das nach frühen Kindheitserfahrungen fragt. In den letzten Jahren wurde die Originalversion des AAI auch bei Jugendlichen ab dem 16. Lebensjahr eingesetzt. Weniger gebräuchlich und erst in den letzten Jahren entwickelt wurden Verfahren für Kinder im Schulalter. Ab dem Alter von 5 Jahren werden verhaltensbezogene Bindungsmessungen vorgenommen, bei denen die Symbolbildung der Kinder die entscheidenden Hinweise gibt. Man hat z. B. Codiersysteme entwickelt, um die Reaktionen von Kindern auf den Separation-Anxiety-Test (SAT) zu messen, oder aber in einer alternativen Erfassungsmethode mit Hilfe von Puppen Geschichten über Trennung und Wiedervereinigung durchgespielt (Bretherton et al. 1990). Sie erlauben einen guten Zugang zu den inneren Arbeitsmodellen von 5- bis 7-Jährigen. Das Verhaltenssystem Bindung Bindung ist ein ethologisch sinnvolles Verhaltenssystem. Es sichert das Überleben der Art, wird bei Stress aktiviert und kommt zur Ruhe, wenn das schutzgebende Objekt nahe genug ist. Optimalerweise sollte ein Gleichgewicht zwischen Bindung und Exploration vorherrschen. Diese Merkmale sind für die Operationalisierung von Bindungsverhalten in der Kindheit typischer als für das Bindungsverhalten Erwachsener.
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Die Messung von Bindung in der Kindheit Dass das Bindungsverhalten nur in Stresssituationen aktiviert wird und letztlich das Ziel hat, die Nähe zur Mutter (als »secure base«) zu sichern, sind entscheidende Merkmale bei der Untersuchung von Bindungsverhalten im Kleinkindalter. In den 70er Jahren trug die Arbeit von Mary Ainsworth viel zur Weiterentwicklung des Bindungskonzepts bei, indem sie eine Operationalisierung und Beobachtung von Bindungsverhalten bei kleinen Kindern ermöglichte. Der Fremde-Situation-Test (7 Übersicht) ist ein von ihr und ihren Mitarbeitern (Ainsworth et al. 1978) entwickeltes einfaches Beobachtungsverfahren, mit dem die Bindungsqualität bei Kindern, bevorzugt im Alter von 1–2 Jahren, gemessen wird. Es umfasst zwei kurze Trennungsphasen zwischen Kind und Betreuungsperson. Das Verhalten des Kindes während der Trennung, aber insbesondere bei der Wiedervereinigung mit der Bezugsperson, wird in verschiedene Bindungskategorien eingeordnet. Fremde-Situation-Test Dieses Beobachtungsverfahren wird eingesetzt bei Kindern im Alter von 18 Monaten bis zu 3 Jahren. Er besteht darin, dass sich die Mutter mehrfach vom Kind trennt. 1. Mutter und Kind werden vom Beobachter in den Raum geführt, die Mutter setzt das Kind auf den Boden. 2. Mutter und Kind sind allein, die Mutter liest, das Kind kann die Umgebung – sichere Basis – und die Spielzeuge erkunden. 3. Eine Fremde tritt ein, setzt sich, unterhält sich mit der Mutter und beschäftigt sich auch mit dem Kind. 4. Die Mutter verlässt unauffällig den Raum, die Fremde bleibt mit dem Kind allein, beschäftigt sich mit ihm und tröstet es, wenn es notwendig ist.
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Kapitel 3 · Bindungsentwicklung
5. Die Mutter kommt wieder. Die Fremde geht, Mutter und Kind sind allein. Die Mutter beschäftigt sich mit dem Kind und versucht, es wieder für das Spielzeug zu interessieren. 6. Die Mutter verlässt dann erneut und mit Abschiedsgruß den Raum und lässt das Kind allein. 7. Die Fremde tritt ein, versucht das Kind zu trösten, wenn notwendig. 8. Die Mutter kommt wieder, und die Fremde verlässt den Raum.
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Es sind also zweimalige Trennungssituationen, die in diesem Experiment durchgeführt werden, wobei die Mutter hinter der Einwegscheibe ihr Kind beobachten kann. Wenn das Kind länger als eine Minute schreit – so sagt es die experimentelle Anordnung – , kann sie das Ganze unterbrechen und schon früher hineingehen. Man sieht in diesen experimentellen Anordnungen das Gleichgewicht zwischen Bindung und Exploration. Ausgewertet werden bevorzugt die Situationen 5 und 8, und zwar auf mehreren Skalen. Die Reaktionen des Kindes auf das Zurückkommen der Mutter, seine Fähigkeit, die Trennung auszuhalten und sich ggf. der fremden Person oder dem Spielzeug im Raum zuzuwenden, sind wichtige Indikatoren für die Bindungssicherheit. In klinisch unauffälligen Gruppen unterscheidet man drei Gruppen von Kindern (7 Übersicht).
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Klinisch unauffällige Gruppen 5 Sicher gebundene Kinder (50%) Sie zeigen ihren Trennungsschmerz offen und sind in der Lage, sich bei Rückkehr der Mutter dort den nötigen Trost zu holen und sich dann wieder von ihr zu lösen, um die Umgebung zu explorieren. Die Stresssituation ist unmittelbar beendet, es herrscht ein Gleichgewicht von Bindung und Exploration. 5 Unsicher-vermeidend gebundene Kinder (25%) Sie scheinen von der Trennung wenig beeindruckt zu sein, vermeiden bei der Rückkehr der Mutter den Kontakt zu ihr und unterdrücken Bindungsgefühle, indem sie ihre Konzentration auf die Exploration der Umwelt richten. Der Fokus liegt also auf der Spielsituation. Sie scheinen wenig belastet.
5 Unsicher-ambivalent gebundene Kinder (15%) Sie wirken durch die Trennung enorm beunruhigt, sind jedoch gleichzeitig nicht in der Lage, aus der Nähe zur Mutter nach deren Rückkehr die nötige Sicherheit zu schöpfen, um sich wieder der Exploration zuwenden zu können. Sie verhalten sich ambivalent der Mutter gegenüber in Bezug auf Suche und Abwehr von Körperkontakt. Der Fokus auf die Mutter bleibt erhalten, das Bindungssystem kommt nicht zur Ruhe.
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Nach dieser Einteilung in drei Basisgruppen wurde von Main und Hesse (1992) später eine weitere Gruppierung, nämlich die der desorientierten/desorganisierten Kinder eingeführt. Diese trifft etwa auf 10 der Kinder in klinisch unauffälligen Populationen zu. Merkmale desorganisierten Bindungsverhaltens sind widersprüchliche Verhaltensmuster, unterbrochene oder stereotype Bewegungen und fraktionierte Kommunikation. Als Ursache für die
Entstehung von desorganisiertem Bindungsverhalten nimmt Main an, dass die Gefahrenquelle direkt von den Eltern ausgeht. Untersuchungen mit der FST wurden bislang in Deutschland an 731 Kindern und ihren Müttern durchgeführt. Eine Analyse der Daten aus den einbezogenen 13 Studien zeigt (vgl. Gloger-Tippelt et al. 2000), dass zwar auch in Deutschland das sichere Bindungsmuster das häufigste ist, dass jedoch unsi-
3.4 Bindungsentwicklung in der Kindheit und im Erwachsenenalter
cher-vermeidende Bindungsmuster häufiger, unsicher-ambivalente Bindungsmuster seltener als in den internationalen Studien vorkommen. Ein desorganisierter Bindungstatus war mit 22 relativ häufig in diesen nichtklinischen Stichproben. Als wesentliche Entwicklungsvoraussetzung für die Qualität der Bindungsbeziehung wird die Feinfühligkeit und Responsivität der Mutter im Umgang mit dem Kind angenommen (Ainsworth et al. 1978). Dies umfasst die prompte Wahrnehmung und angemessene Reaktion auf die Bedürfnisse und Signale des Kindes. Wie diese Studien zeigen, gibt es hinsichtlich der Feinfühligkeit erhebliche Unterschiede zwischen den Müttern sicher bzw. unsicher gebundener Kinder (7 Übersicht). Mütterliche Feinfühligkeit und kindliche Bindungsmuster 5 Mütter sicher gebundener Kinder reagieren feinfühlig, d. h., sie besitzen die Fähigkeit, die Signale des Kindes wahrzunehmen, sie aus seiner Sicht richtig zu interpretieren und darauf prompt und angemessen zu reagieren. 5 Mütter unsicher-vermeidender Kinder dagegen weisen Bindungsverhalten des Kleinkindes schroff zurück, wenn dieses versucht, sich nur anzunähern. Sie ziehen sich besonders zurück, wenn das Kind negative Emotionen wie Trauer zeigt. Die Unterdrückung des Bindungsverhaltens und der Fokus auf Exploration der unsichervermeidenden Kleinkinder werden als adaptiv angesehen, als ein Verhalten, das das Kind vor weiteren Enttäuschungen durch die Mutter schützt. 5 Mütter unsicher-ambivalent gebundener Kinder reagieren in unvorhersagbarer Weise auf Signale und Mitteilungen ihres Kindes. Während sie zeitweise sehr herzlich und zugewandt sind, zeigen sie sich zu anderen Zeiten einfach nicht ansprechbar oder nicht erreichbar.
Es wird deutlich, dass es eine ganz enge Verzahnung und Synchronizität zwischen dem Verhalten der Mutter und dem Verhalten des Kindes gibt.
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Bei den sicher gebundenen Kindern wird der Kummer deutlich ausgedrückt, sie lassen sich nicht von einem Fremden trösten, sie freuen sich, wenn die Mutter wieder da ist, und die Belastung ist durch die Rückkehr der Mutter verschwunden. Diese Mutter zeigten eine feinfühlige Wahrnehmung und Beantwortung der Signale des Kindes. Die unsicher-vermeidenden Kinder zeigen dagegen keinen Kummer, wenn die Mutter den Raum verlässt. Sie explorieren den Raum, beachten die Mutter bei ihrer Rückkehr nicht, sie scheinen irgendwie gefühllos und mit den Spielsachen beschäftigt. Doch wir wissen inzwischen durch die Untersuchungen von Spangler und Grossmann (1993), dass diese Kinder hohe physiologische Belastungsmaße aufweisen. Ihre Mütter weisen das Bindungsverhalten des Kindes zurück, mit besonders ausgeprägter Abneigung gegen jeden körperlichen Kontakt, jede körperliche Annäherung. Diese Mütter ziehen sich v. a. zurück, sobald das Kind traurig ist. Das Verhalten des Kindes ist adaptiv, da es sich so vor weiteren Enttäuschungen schützt. Dies erinnert an die Befunde aus Findelhäusern (7 Kap. 2), wo die gefrorene Starre des Gesichts, dieses Nichtmehr-Reagieren auf Ansprache letztlich auch eine aktive Leistung des Kindes darstellt, um sich vor Retraumatisierung zu schützen. Im Gegensatz zu den unsicher-vermeidenden Kindern, die dieses kühle »Ich brauche eigentlich keinen« haben, protestieren die unsicher-ambivalenten Kinder lautstark, sie zeigen ambivalente Reaktionen auf die Rückkehr der Mutter, klammern sich an die Mutter, klettern dann wieder sofort vom Schoß herunter, zeigen starke sichtbare Stressreaktionen und bleiben mit ihrem Fokus auf die Mutter gerichtet. Diese Mütter zeichnen sich durch unsensible Reaktionen auf die Signale des Kindes aus, unvorhersehbare Ermutigungen oder Unterdrückungen der Autonomie des Kindes – insgesamt ein sehr widersprüchliches, nichtkontingentes Verhalten. Bei diesen Kindern kann man sagen, dass der Fokus auf die Mutter erhalten bleibt und das Kind nicht zur Ruhe kommt. Das Bindungssystem ist ständig noch aktiviert. In extremer Weise reagieren Mütter von desorientierten/desorganisierten Kindern auf die Botschaften des Kindes. Die Kommunikation bricht plötzlich ab, es entstehen Brüche und unvorhersehbare Reaktionen, die möglicherweise mit trau-
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Kapitel 3 · Bindungsentwicklung
matischen Erfahrungen der Mütter zu tun haben. Die Kinder zeigen eine fraktionierte Kommunikation, stereotype Bewegungen mit selbstschädigendem Verhalten (Kopf gegen die Wand schlagen) und sehr abnormen Körperhaltungen. Hier ist es ganz eindeutig so, dass die Eltern nicht als »secure base«, sondern als Gefahrenquelle erlebt werden. 80 aller misshandelten und missbrauchten Kinder gehören dieser Kategorie an (Cassidy u. Shaver 1999). Viele ihrer Mütter haben eine Klassifikation als »U«, d. h. als »unresolved trauma«; sie waren selbst traumatischen Erfahrungen in ihrer Kindheit ausgesetzt.
Bindungsbeziehung und Krippeneintritt Frühe Tagesbetreuung alleine beeinflusst die Bindungsentwicklung nicht negativ. Vergangene Studien haben die Entwicklung unsicherer Bindung mit frühem Betreuungsbeginn und täglicher langer Betreuungsdauer verknüpft. In der Tat lässt sich zeigen, dass ein schrittweiser Aufbau der Trennung und eine längere Eingewöhnungszeit mit der Mutter förderlich sind für die Erhaltung sicherer Bindungsmuster von Krippenkindern. Ziegenhain und Wolff (2000) fanden, dass sicher gebundene Kleinkinder zwar zunächst – bei Krippeneintritt – ängstlicher, irritierbarer und zurückhaltener waren als unsicher-vermeidend gebundene Kleinkinder, die anfangs fröhlich und aufgeschlossen wirkten. Dieses Verhalten kehrte sich aber innerhalb von vier Wochen um. Nun waren es die sicher gebundenen Kleinkinder, insbesondere diejenigen, die nicht abrupt, sondern allmählich an den Übergang im Beisein ihrer Mutter gewöhnt worden waren und sich schließlich gut eingewöhnten und eine sichere Bindung zur Betreuungsperson aufbauten.
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Bindungsverhalten bei Erwachsenen
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Im Erwachsenenalter wird die Bindungsorganisation nicht mehr, wie in der Kindheit, auf der Ebene des Bindungsverhaltens, sondern auf der Ebene der Bindungsrepräsentation erfasst (7 Übersicht). Mit Hilfe des Bindungsinterviews für Erwachsene (Adult Attachment Interview/AAl) von George et
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al. (1996) wird versucht, innere Arbeitsmodelle von Bindung zu erheben. Die Fragen des ca. einstündigen halbstrukturierten Interviews beziehen sich auf die Beschreibung der Beziehung zu den Eltern in der Kindheit im Alter von 6–12 Jahren. Es geht um spezifische Erfahrungen von Trost, Zurückweisung und Trennung und um den subjektiv bewerteten Einfluss dieser Erfahrungen auf die eigene Persönlichkeit sowie die weitere Entwicklung. Das AAI wurde zunächst ausschließlich an Erwachsenen, dann aber auch zur Erfassung der Bindungsrepräsentation bei Jugendlichen ab dem Alter von 16 Jahren eingesetzt (Zimmermann u. Becker-Stoll 2001). Wichtig ist, dass das Kriterium für die Bindungssicherheit die Kohärenz der Beschreibung früherer Kindheitserlebnisse ist. Bei der Auswertung des Interviews wird daher v. a. auf die Organisation der Gedanken, Erinnerungen und Gefühle geachtet, die sich in sprachlichen Kohärenzkriterien manifestiert, und weniger auf die tatsächlichen berichteten Erfahrungen (Zimmermann et al. 1997). Es ist also nicht entscheidend, ob die Kindheit grausam und furchtbar war, sondern ob sie kohärent beschrieben wird. Mit dieser Kohärenz ist etwas gemeint, was ein wenig an die depressive Position von Melanie Klein erinnert (7 Kap. 1), nämlich eine balancierte Sicht der Beziehung zu den Eltern. Auch wenn die Eltern als hart, autoritär, uneinfühlsam beschrieben werden, wird doch eine Person, die gleichzeitig auch die Gründe erwähnt, warum die Eltern – ihrer Meinung nach – so reagiert haben, eher eine Einstufung als sicher gebunden bekommen. Das Adult Attachment Interview von George et al. (1996) hat besonders das Interesse der Psychoanalyse geweckt, da in einem Gespräch, in dem man schnell und konsequent zu sensiblen Kindheitsthemen vorstößt, das »Unbewusste überrascht wird«, wie Mary Main es treffend formulierte. Die Gesprächsprotokolle werden transkribiert und nach einer speziellen linguistischen Analyse ausgewertet, wobei Kohärenz – wie erwähnt – das Hauptkriterium für diese Auswertung bildet. Eine Schilderung gilt als kohärent, wenn der Sprecher seine Aussagen belegt, wenn er sich kurz fasst, ohne wesentliche Punkte auszulassen, wenn er themenrelevante Aussagen macht, ohne abzuschweifen, und wenn er sich klar und verständlich ausdrückt und seine Äußerungen gliedert. Zentral ist die balancierte
3.5 Stabilität und transgenerationale Weitergabe von Bindungsmustern
Darstellung der elterlichen Reaktionen. Nach dieser Auswertungsmethode besteht ein besonders enger Zusammenhang zwischen Bindungssicherheit und hoher Kohärenz. Formen der Bindungsrepräsentation 5 Sichere (»secure«) Bindungsrepräsentation Personen, die sich leicht an konkrete Erfahrungen erinnern können, die sowohl positive als auch negative Erinnerungen in ein kohärentes Gesamtbild integrieren und die Bindungen wertschätzen, werden als sicher/autonom in ihrer Bindungsrepräsentation klassifiziert. 5 Unsicher-distanzierte (»dismissed«) Bindungsrepräsentation Personen, die ihre Kindheit idealisieren, sich kaum an konkrete Erfahrungen erinnern können oder nur an solche, die im Widerspruch zu der allgemeinen Beschreibung ihrer Kindheit stehen, und die Bindungserfahrungen abwerten, wird eine vermeidende Bindungsrepräsentation zugeordnet. 5 Unsicher-verwickelte (»preoccupied«) Bindungsrepräsentation Dieses Muster ist die verstrickte Bindungsrepräsentation. Sie ist gekennzeichnet durch inkohärente, sehr detaillierte Schilderungen der Kindheitserfahrungen, aus denen deutlich wird, dass der Erwachsene immer noch konflikthaft in die Beziehung zu seinen Eltern verstrickt ist. Dies entspricht in etwa der unsicher-ambivalenten Klassifikation auf der Basis des FremdeSituation-Testes in der frühen Kindheit.
Welches sind nun die wesentlichen Forschungsergebnisse zum AAI? Eine Meta-Analyse von Bakermans-Kranenburg und van IJzendoorn (1993) bezüglich der Verteilung der AAI-Klassifikationen in nichtklinischen Stichproben von Frauen, Männern und Jugendlichen ergab 58 sicher (»secure«), 24 unsicher-distanziert (»dismissing«) und 18 unsicher-verwickelt (»preoccupied«) Gebundene. Eine sehr ähnliche Verteilung haben wir auch in
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unserer Mainzer Längsschnittstudie an 112 Personen gefunden (Seiffge-Krenke u. Lang 2001). Die Längsschnittsstudie begann 1991, zu einem Zeitpunkt, als die Teilnehmer 13 Jahre alt waren; inzwischen sind sie 27 Jahre alt. Als sie 21 Jahre alt waren, wurde das AAI durchgeführt. . Abb. 3.10 zeigt die für klinisch unauffällige Stichproben typische Verteilung von 50 sicher Gebundenen und 50 unsicher Gebundenen. Personen, die kritische Lebensereignisse erlebt hatten (Scheidung der Eltern, chronische Krankheit), wiesen gehäuft unsichere Bindungsmuster auf, v. a. unsicherdistanzierte Bindungsmuster. Dieses Ergebnis, dass die Kumulierung von kritischen Lebensereignissen häufig einhergeht mit dem unsicheren Bindungsstatus, wurde ebenfalls in vielen Bindungsstudien gefunden. Die AAI-Klassifikationen sind über einen Zeitraum von zwei Monaten stabil und weitgehend unabhängig vom IQ, von der Fähigkeit zum autobiographischen Erinnern, Interviewer-Effekten und allgemeinen Gesprächsstilen (Bakermans-Kranenburg u. van IJzendoorn 1993). Ähnlich wie bei den Bindungsmustern in der Kindheit fand man bei der Bindungsrepräsentation im Erwachsenenalter keine Geschlechterunterschiede: Männer sind genauso häufig sicher gebunden wie Frauen. Ein umfangreicher Überblick über die eindrucksvolle Zahl von Studienergebnissen, die unter Verwendung des AAI gewonnen wurden, findet sich bei Hesse (1999). Inzwischen gibt es auch eine Vielzahl von Fragebogenverfahren, die vorgeben, Attachment zu messen, aber unterschiedlich eng am Konstrukt operationalisiert wurden (Crowell et al. 1999).
3.5
Stabilität und transgenerationale Weitergabe von Bindungsmustern
Bowlby war der Überzeugung, dass Unterschiede in der Sicherheit der Mutter-Kind-Bindung langfristige Folgen haben. Diese langfristigen Folgen wurden in der Bindungsforschung im Hinblick auf drei verschiedene Perspektiven untersucht: die Auswirkungen früher Bindungserfahrungen auf die weitere soziale Entwicklung, etwa in Bezug auf Freund-
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Kapitel 3 · Bindungsentwicklung
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50% sicher gebunden 38% unsicher-distanziert 12% unsicher-verwickelt
b
58% sicher gebunden 24% unsicher-distanziert 18% unsicher-verwickelt
. Abb. 3.10a,b. Bindungsklassifikationen in nichtklinischen Gruppen: a Ergebnisse der Mainzer Längsschnitt-Studie 1991– 2001 (Seiffge-Krenke 2003) und b der Meta-Analyse von Bakermans-Kranenburg u. van IJzendoorn (1993)
schaftsbeziehungen, sowie die kurz- und die langfristige Stabilität der Bindungsklassifikation. Im Rahmen der frühen Bindungsbeziehung werden zahlreiche Lernprozesse vollzogen, wie etwa die Fähigkeit zur Mentalisierung und zur Emotionsregulierung (vgl. S. 81), die die weitere soziale und emotionale Entwicklung des Kindes beeinflussen. Entsprechend umfangreich sind die Forschungsbefunde, die auf Einflüsse von Bindungsbeziehungen auf Freundschaftsbeziehungen und romantische Beziehungen hinweisen (7 Kap. 5). Es gibt Hinweise, dass eine sichere Mutter-KindBeziehung eine harmonische Interaktion mit Geschwistern fördert (Teti u. Ablard 1989). Relativ viele Studien zeigen, dass Kinder, die in der frühen Kindheit sicher gebunden waren, in der Vorschule und im Alter von 10 Jahren bessere Beziehungen zu Lehrern und Gleichaltrigen entwickeln (Weinfield et al. 1999). Ein Follow-up bei jungen Erwachsenen der Bielefelder Längsschnittstudie (Grossmann et al. 2002a) ergab bei einer Stichprobe von 38 jungen Erwachsenen eine substantielle Kontinuität im Hinblick auf die Partnerschaftsrepräsentationen. Die Qualität der sprachlichen Darstellung, die diese jungen Erwachsenen von ihren Partnerschaften gaben, ließ sich durch einen zusammengesetzten Index aus mütterlicher Feinfühligkeit und Bindungsbewertung gut vorhersagen. Während die Effekte des Bindungsstatus auf die weiteren sozialen Beziehungen eindeutig sind, sind andere Auswirkungen unklarer geblieben. Über verschiedene Studien hinweg ist auffällig, dass es schwer zu ermitteln ist, welche eindeutigen Folgen für die Persönlichkeit eine sichere Bindung nach
sich zieht. Das hängt damit zusammen, dass die weitere Entwicklung von mehreren Determinanten beeinflusst wird, in der auch der Entwicklungskontext eine sehr große Rolle spielt. Entscheidend für die Einschätzung der Ergebnisse der Bindungsforschung, insbesondere der Ergebnisse bezüglich der langfristigen Auswirkungen und der mehr oder weniger großen Stabilität, ist, dass man sich vergegenwärtigt, wie Bindung erfasst wird. Zurzeit gibt es eine Kontroverse über die Stabilität der Klassifikation, die durch den Fremde-Situation-Test (FST) gewonnen wird. Obwohl frühere Studien klar darauf hindeuten, dass die durch den FST erhaltene Bindungsklassifikation die Stabilitätskriterien erfüllt, haben sich Studien in den 90er Jahren als recht enttäuschend erwiesen. Belsky et al. (1996) fanden z. B., dass weniger als 50 der getesteten Kinder bei einem erneuten Test, der drei Monate später stattfand, in dieselbe Kategorie der Bindungsklassifikation (»sicher gebunden«, »unsicher-vermeidend« und »unsicher-ambivalent«) fielen wie beim ersten Test. Lediglich die Stabilität der Klassifikation »desorientiert/desorganisiert« war hoch. Dies scheint anzudeuten, dass doch eine gewisse Varianz in der Klassifikation besteht und sich gesunde Kinder sehr stark situationsabhängig verhalten können, während etwa traumatisierte Kinder relativ starr in ihren Verhaltensmustern sind. So ist denkbar, dass untraumatisierte Kinder die zweite Testung als nicht mehr so angsteinflößend wie die erste Testung erlebt haben und deshalb eine andere Bindungsklassifikation bekamen. Befunde aus anderen Studien untermauern z. T. den prägenden Charakter früher Bindungsbezie-
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3.6 Das »Bindungsloch« in der Adoleszenz
hungen. Einige Längsschnittstudien, in denen Personen über einen Zeitraum von 20 Jahren zweimal untersucht wurden, wiesen beeindruckende Stabilitäten in den Bindungsklassifikationen nach. Zwei Untersuchungen (Hamilton 2000; Waters et al. 2000) haben festgestellt, dass die Bindungsklassifikationen von Personen in der frühen Kindheit (18 Monate) mit den Bindungsklassifikationen der gleichen Personen im Alter von 20 Jahren zu 68 bzw. 75 übereinstimmten. Das bedeutet, dass Bindungsmuster im Kleinkindalter in zwei Drittel der Fälle mit denen im Erwachsenenalter übereinstimmen. Diese Arbeiten zeigen eine bemerkenswerte lebenslange Stabilität von Bindungsmustern. In anderen Stichproben fiel die Stabilität weniger eindrucksvoll aus (Grossmann et al. 1999). Auch konnte man keine starken und dauerhaften direkten Zusammenhänge zwischen sicherer Bindung in der frühen Kindheit und Eltern-Kind-Interaktionen ab dem 6. Lebensjahr feststellen (Grossmann u. Grossmann 1991). Es gibt darüber hinaus einige Hinweise darauf, dass die frühe Bindung eine Schlüsselrolle bei der transgenerationalen Weitergabe von Bindungsmustern spielen könnte. Prospektive Studien, bei denen die elterliche Bindung vor der Geburt des Kindes festgestellt wurde, zeigen dieses Ergebnis. Anhand des AAI der Bezugspersonen kann man schon vor der Geburt des Kindes prognostizieren, in welche Kategorie die kindliche Bindung fallen wird. Das ist in mindestens 14 Studien nachgewiesen worden (z. B. Benoit u. Parker 1994). Es ist 3- oder 4-mal wahrscheinlicher, dass sicher gebundene Erwachsene Kinder bekommen, die eine sichere Bindung zu ihnen entwickeln (van IJzendoorn 1995).
3.6
Das »Bindungsloch« in der Adoleszenz
Es gibt nur sehr wenige Studien zur Bindung im Jugendalter, und diese Studien zeigen irritierende Ergebnisse. Bowlby nahm an, dass sich die Art der Bindung in der Adoleszenz verändert. Aus der Eltern-Kind-Bindung, die in der frühen Kindheit vorherrscht – so postulierte er –, würden neue Bindungen entstehen, die sich auf weitere Personengruppen, andere Erwachsene, aber auch auf Gleichaltrige ausdehnen. Die Forschungssituati-
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on in Bezug auf Jugendliche ist allerdings ausgesprochen mager. Es wurden nur sehr wenige Studien an Jugendlichen durchgeführt, was teilweise mit der schwierigen methodischen Situation zusammenhing, denn es gab bis in die jüngste Zeit keine angemessenen Verfahren zur Erfassung von Bindung im Jugendalter. Untersucht wurden zumeist die ehemaligen Kleinkinder der Längsschnittstudien aus Minnesota, Regensburg und Bielefeld, die ins Jugendalter kamen und dann mit dem AAI, das ursprünglich für Erwachsene entwickelt worden war, ab dem Alter von 16 Jahren interviewt wurden. Es wurde also nicht das Bindungsverhalten, sondern die aktuelle Bindungsrepräsentation gemessen (vgl. S. 73; 7 Übersicht). Bindung im Jugendalter 5 Sicher gebundene Jugendliche Für sie haben Bindungen einen hohen Stellenwert. Sie können negative Erfahrungen mit ihren Eltern auf Grund ihrer positiven Grundhaltung integrieren und Konflikte produktiv lösen. Bindung und Exploration sind im Gleichgewicht. 5 Unsicher-distanziert gebundene Jugendliche Sie weisen wenig Autonomie und geringe Verbundenheit gegenüber den Eltern auf und stellen sich als besonders unabhängig in Beziehungen dar; auffälligerweise neigen sie zur Idealisierung ihrer Eltern und haben Schwierigkeiten, negative Affekte bei sich und anderen wahrzunehmen. 5 Unsicher-verwickelt gebundene Jugendliche Sie neigen eher zu einem erhöhten und unproduktiven Überengagement mit den Eltern. Viel aktueller Ärger ist spürbar, das Bindungssystem bleibt ständig aktiviert.
In der retrospektiven Befragung des AAI zu Fragen wie »Wie hast du dich gefühlt, wenn deine Eltern dich abends allein gelassen haben?« oder »Kannst du dich an das erste Mal erinnern, als du eine längere Zeit von deinen Eltern getrennt warst?« findet man bei sicher gebundenen Jugendliche hohe Autonomie von den Eltern, hohes Vertrauen in die
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Kapitel 3 · Bindungsentwicklung
Eltern, nicht weniger Konflikte mit den Eltern, sondern produktivere Konfliktlösungen. Es herrscht ein gutes Gleichgewicht von Bindung und Exploration vor. Unsicher-distanziert gebundene Jugendliche zeigen wenig Autonomie von den Eltern, geringe Verbundenheit mit den Eltern mit Aussagen wie »Ich habe eigentlich keine Beziehung nötig, ich brauche niemand« aber auch Idealisierung der Eltern und Erinnerungslücken. Diese Jugendliche haben Schwierigkeiten, negative Gefühle bei sich und anderen wahrzunehmen; Bindung erscheint unwichtig. Die interessante Gruppe der unsicherverwickelt gebundenen Jugendlichen zeigt ebenfalls wenig Autonomie von den Eltern, aber gleichzeitig ein erhöhtes und vollständig unproduktives Engagement mit den Eltern und viel dysfunktionalen Ärger. Es scheint ähnlich zu sein wie bei den unsicher-ambivalent gebundenen Kindern: Das Bindungssystem bleibt ständig aktiviert, es kommt nicht zur Ruhe. Diese Jugendlichen zeigen später in Bezug auf heterosexuelle Kontakte, den romantischen Partner, ein stark anhängliches, dann wieder sehr ängstliches Verhalten, welches man als »anxious love« bezeichnet (7 Kap. 5). Während demnach sicher gebundene Jugendliche die Beziehungen zu ihren Eltern wertschätzen, sich aber allmählich ablösen (Allen u. Hauser 1996), bleibt für die beiden Gruppen unsicher gebundener Jugendlicher die elterliche Beziehung ein zentrales Thema (Allen u. Land 1999). Sie sind gefangen in ihren frühen Bindungserfahrungen durch unangemessene Idealisierung der Eltern oder ständige Versuche, noch etwas von den Eltern zu bekommen – und damit ist eine Exploration von einer sicheren Basis aus kaum möglich. Die Eroberung neuer Welten, der Aufbau heterosexueller Beziehungen ist blockiert. Die entscheidende Frage ist nun, wie stabil diese Muster der Verarbeitung von Beziehungen über die Zeit sind. Die Frage der Stabilität von Bindungsmustern über die Zeit ist auch aus therapeutischer Sicht unmittelbar relevant. Angenommen, Jugendliche mit destruktiven antisozialen Tendenzen weisen vermehrt unsichere Bindungsmuster auf – sind diese Strukturen dann zeitlich stabil? Gibt es überhaupt noch Möglichkeiten für eine Neuorientierung, eine zweite Chance (Eissler 1958) in der Adoleszenz? Hier stoßen wir auf widersprüchliche, vielleicht sogar irritierende Befunde:
In Studien treten hohe Stabilitäten auf, wenn die gleichen Erfassungsmethoden benutzt wurden, z. B. 80 auf der Verhaltensebene (FST) bei Kindern im Alter von 1–3 Jahren oder 78–90 auf der Repräsentationsebene (AAI) bei Erwachsenen über einen Zeitraum von 18 Monaten (Meta-Analyse von Bakermans-Kranenburg u. van IJzendoorn 1993). Es gibt ferner eine gewisse Stabilität von der Kindheit ins Erwachsenenalter, auch wenn verschiedene Methoden benutzt wurden wie FST und AAI; z. B. die bereits erwähnten 68–75 in den Längsschnittstudien von Hamilton (2000) und Waters et al. (2000). Für diese Studien wurden kleine Stichproben von 50 und 30 Versuchspersonen herangezogen; man fand die Stabilität über einen Zeitraum von etwa 20 Jahren nur, wenn zwischenzeitlich keine kritischen Lebensereignisse stattgefunden haben. Traten kritische Lebensereignisse wie Scheidung, chronische Krankheit, Tod von Angehörigen in der Zwischenzeit auf, hatte dies häufig einen Wechsel von sicherer zu unsicherer Bindung zur Folge. Auch in der Regensburger Studie an 42 Jugendlichen (16 Jahre) fand man keine Stabilität, u. a., weil kritische Ereignisse wie die Scheidung der Eltern zu einer Veränderung in Richtung unsichere Bindungsmuster führten. Noch etwas anderes aber wird deutlich, wenn wir die Ergebnisse betrachten: Das Alter, in dem das AAI gemessen wurde, spielt eine große Rolle. In einer Studie von Zimmermann und Becker-Stoll (2001) ist im Alter von 18 Jahren wieder eine gewisse Stabilität zu erkennen (64). Wir finden also in allen Altersstufen relativ hohe Stabilitäten. Die einzige Ausnahme ist die Adoleszenz; hier lässt sich erst zur späten Adoleszenz hin eine gewisse Stabilität feststellen. Für die frühe und mittlere Adoleszenz scheint dagegen ein Bindungsloch vorzuherrschen. Die geringe Stabilität in diesem spezifischen Altersabschnitt ist in der Tat auffallend und findet ihre Entsprechung in den sehr geringen Übereinstimmungen zwischen den Bindungsrepräsentationen von Jugendlichen und ihren Eltern. Die verschiedenen Studien zeigen sehr geringe bzw. fehlende Konkordanzen zwischen dem AAI der Jugendlichen und dem AAI ihrer Eltern. Dagegen findet man hohe Konkordanzen (66–82) zwischen dem Bindungsstatus der Eltern und dem ihrer kleinen Kinder (Fonagy et al. 1991). Auch zwischen
3.6 Das »Bindungsloch« in der Adoleszenz
erwachsenen Kindern und ihren Eltern finden wir hohe Zusammenhänge, wie die Dreigenerationenuntersuchung von Benoit und Parker (1994) zeigt. Wiederum zeigt sich, dass das Jugendalter, speziell das frühe bis mittlere Jugendalter, gewissermaßen »durch die Maschen« fällt. Es zeigen sich demnach Konkordanzen zwischen der Bindung von Testpersonen und ihren
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3
Eltern, wenn diese Kinder sind oder wenn diese Kinder inzwischen erwachsen sind; wir finden aber keine Konkordanzen im Jugendalter. Des Weiteren gibt es ein »Bindungsloch« im Jugendalter, das besonders die Zeit der frühen und mittleren Adoleszenz betrifft. Dies konnten wir in unserer Längsschnittstudie bestätigen (SeiffgeKrenke 2004).
Bindungsloch in der Adoleszenz Wir untersuchten in einer Längsschnittstudie die Zusammenhänge zwischen der Bindung an die Eltern, als unsere Probanden Jugendliche waren, und ihrer Bindung an die Eltern im jungen Erwachsenenalter (Seiffge-Krenke 2004). Als kritische Phase (. Abb. 3.11) erwiesen sich die Alterstufen von 13–16 Jahren: 5 Wir fanden keinerlei signifikante Korrelationen zwischen der Bindung an die Eltern im Alter von 13–16 Jahren, erfasst mit dem Inventory of Parent and Peer Attachment (IPPA) von Armsden und Greenberg (1987), und den Ergebnissen zur Bindungsrepräsentation auf der Basis des AAI der gleichen Stichprobe im Alter von 21 Jahren.
Was sind nun die Ursachen für dieses Bindungsloch im Jugendalter? Sicher sind eine zunehmende Autonomie von den Eltern und auch enorme Fortschritte in der Emotionsregulierung zu nennen (7 Kap. 5), die möglicherweise dazu führen, dass das, was wir im AAI als Kohärenz messen, in diesem Alter nicht mehr genau dasselbe abbildet. Beachtenswert ist im Übrigen, dass wir ab dem Alter von 17 Jahren wieder eine gewisse Stabilität finden oder auch eine Wiederannäherung. Die Bindungstheorie hat übrigens ein solches Bindungs-
Erst ab dem Alter von 17 Jahren war erstmals ein gewisser Zusammenhang nachweisbar: 5 Wir fanden eine schwach ausgeprägte positive Korrelation zwischen der Bindung an die Eltern, gemessen mit dem IPPA, und dem sicheren Bindungsstatus im Alter von 21 Jahren (r = 20). 5 In Bezug auf die Unsicher-Distanzierten fanden wir keinerlei Zusammenhänge. Dies ist eine Bindungsgruppe, die oft ähnlich wie die sicher Gebundenen eingestuft wird, weil eine Idealisierung der Eltern häufig ist. 5 Bei den unsicher-verwickelt gebundenen Jugendlichen fanden wir das gleiche Phänomen wie bei den sicher Gebundenen, nämlich keine Zusammenhänge im Alter von 13–16 Jahren, aber Zusammenhänge im Alter von 17 Jahren negativer Art (r = –37). Positive Bindung an die Eltern mit 17 Jahren korreliert also negativ mit unsicher-verwickelter Bindung im Alter von 21 Jahren.
loch ebenfalls vermutet. Sie nimmt an, dass sich die Art der Bindung in der Adoleszenz verändert. Aus den Eltern-Kind-Bindungen, die in der frühen Kindheit vorherrschen, gehen neue Bindungen hervor, die auf weitere Personengruppen, andere Erwachsene, die diese repräsentieren (Lehrer, Arbeitgeber), aber auch auf Gleichaltrige ausgedehnt werden. Wenn die Eltern in der Adoleszenz an Einfluss verlieren, entsteht bei Jugendlichen ein »Steuerungsvakuum«, mutmaßt die Bindungstheorie.
78
Kapitel 3 · Bindungsentwicklung
Bindungsrepräsentation mit 21 Jahren (AAI)
1 2
unsicherdistanziert
sicher
unsicherverwickelt
3 4 5
13 Jahre n.s.
17 Jahre r = .20*
keine Zusammenhänge
13 Jahre n.s.
17 Jahre r = -.31**
Idealisierung der Eltern
positive Bindung an die Eltern (IPPA)
6 7
positive Bindung an die Eltern (IPPA)
. Abb. 3.11. Kritische Phase zwischen 13 und 16 Jahren: Das »Bindungsloch« (* p = .05; ** p = .001; n. s.= nicht signifikant).
8 9 10 11 12 13 14 15 16 57 18 19 20
3.7
Mütterliche Feinfühligkeit und »schwierige« Babys
Nach Ansicht von Winnicott entwickelt sich die frühe Beziehungsfähigkeit innerhalb der dyadischen Einheit aus Säugling und mütterlicher Betreuungsperson. Bindungstheoretiker erkennen heute an, dass eine unabhängige, aber möglicherweise ebenso wichtige dyadische Einheit auch mit dem Vater bestehen kann (Steele et al. 1996). Dies ist von einiger Bedeutung, da es das Vorhandensein multipler innerer Arbeitsmodelle impliziert. Wir gehen heute davon aus, dass das Kind sichere oder unsichere Beziehungen mit unterschiedlichen Betreuungspersonen entwickeln kann. Welches Arbeitsmodell davon beim Erwachsenen dominant wird, hängt vielleicht davon ab, wie wichtig die einzelne Betreuungsperson im Leben des Kindes war. Neuere Studien der Regensburger Gruppe um Grossmann zeigen, dass für die Entwicklung des Bindungssystems v. a. die Feinfühligkeit der Mutter wichtig ist und dass der Vater bevorzugt für die Feinfühligkeit in Bezug auf Explorationen bedeutsam ist, d. h. die sanfte und unterstützende Hilfe beim Spiel des Kindes (7 Kap. 7). Mütterliche Feinfühligkeit wurde bereits als wichtiges Konzept der Bindungstheorie erwähnt. Sie umfasst die Trias Signale-Wahrnehmen, Richtig-Interpretieren und Angemessen-Reagieren. Wie in 7 Kap. 1 beschrie-
ben, kann diese Fähigkeit durch Erkrankungen der Mutter (wie Depression) beeinträchtigt sein. Mütterliche Feinfühligkeit ist aber auch in Abhängigkeit von bestimmten Temperamentsmerkmalen des Babys unterschiedlich leicht. Jeder, der mit Babys und mit Eltern in Sprechstunden arbeitet, weiß, dass das kein einfacher Lernprozess ist und dass es möglicherweise auch ein Stück Unterweisung der Eltern braucht, bis diese in der Lage sind, z. B. die sechs verschiedenen Schlaf-wach-Stadien bei Babys zu unterscheiden und genau wahrzunehmen, wann Babys aufnahmebereit sind oder unterhalten und nicht gefüttert werden wollen. Barth (1999) hat diese Unterweisung der Eltern als »Babylesestunden« beschrieben (7 Kap. 6). Sensitive Mütter haben in der Regel Babys, die sehr schnell reagieren, und Babys, die reagibel sind, ziehen wiederum enorm die Aufmerksamkeit ihrer Mütter auf sich. Andere Babys, z. B. Babys mit einem ganz bestimmten, auch »schwierigen« Temperament oder Babys mit Geburtskomplikationen sind weniger reagibel und machen es ihren Betreuern schwerer, sie zu interpretieren. »Pflegeleichte« Babys machen es uns aufgrund ihrer angenehmen Stimmungslage, ihrer regelmäßigen biologischen Funktionen, einem klar abgetrennten Schlaf-wach-Rhythmus und eindeutiger Fütterungssituation, ihrer positiven, angenehmen Reaktion auf Annäherung und ihrer schnellen
79
3.7 Mütterliche Feinfühligkeit und »schwierige« Babys
3
. Tab. 3.1. Temperamentsmerkmale von »einfachen« und »schwierigen« Kindern. (Mod. nach Steinhausen 2000) Merkmal
Temperament des »einfachen« Kindes
Temperament des »schwierigen« Kindes
Allgemeine Stimmungslage
Fröhlich, lächelnd, positiv
Traurig, weinend, negativ
Regelmäßigkeit biologischer Funktionen
Regelmäßig
Unregelmäßig
Reaktion auf neue Situationen
Annäherung
Rückzug
Anpassung an neue Situationen
Schnell
Langsam
Intensität der Reaktionen
Mäßig
Ausgeprägt
Spätere Verhaltensprobleme
Selten
Häufig
Anpassung an Stressoren und neue Situationen recht einfach. Sehr viel schwieriger ist es für Mütter, die ein Kind mit einem »schwierigen« Temperament haben, das weinerlich ist, das einen sehr diffusen Schlaf-wach-Rhythmus hat, in Bezug auf den Hunger schwierig einzuschätzen ist, sich stark zurückzieht und sich extrem langsam an neue Situationen gewöhnt (. Tab. 3.1). In der Wiener Längsschnittstudie »Familienentwicklung im Lebenslauf« (Rollet u. Werneck 2001) fand man bei den verschiedenen Typen von Babys folgende Verteilung: 5 »easy babys«: 47, 5 »slow to warm up babys«: 44, 5 »difficult babys«: 9. Längsschnittstudien zeigen, dass das Temperament eines Babys erst dann zu einer Risikobedingung wird, wenn es mit den Anforderungen der sozialen Umwelt, besonders mit denen der Eltern, inkompatibel ist. Im Sinne der Goodness-of-fit-These wird ein schwieriges Temperament eines Kindes, z. B. auf Grund einer schwierigen Geburtssituation mit schlechtem Apgar-Index, Untergewicht etc., durch erhöhte mütterliche Feinfühligkeit und Fürsorge ausgeglichen. Nur ein sehr kleiner Prozentsatz der schwierigen bzw. reaktionsverlangsamten Babys bleibt weiterhin »schwierig« (Pauli-Pott et al. 2000). Den meisten Eltern gelingt es, mit den schwierigen Babys so umzugehen, dass die allgemeine Adaptation nach wenigen Monaten bzw. Jahren recht gut ist.
Hilfen bei Babys mit Regulationsstörungen Im Rahmen der Münchener Sprechstunde für Schreibabys entwickelte Mechthild Papousek eine videogestützte Kommunikations- und Beziehungstherapie. Aufzeichnungen der Eltern-Säugling-Kommunikation und Betrachten ausgewählter Sequenzen helfen den Eltern, die Reaktion des Babys und ihr eigenes Verhalten besser zu verstehen. Durch Videofeedback in den folgenden Stunden lernen die Eltern, positive Ansätze zu verstärken (Papousek et al. 2004). Determinanten der Bindungssicherheit sind zunächst einmal der elterliche Bindungstyp, der beeinflusst, wie das Bindungsverhalten zum Kind ist, und in diesem Zusammenhang die mütterliche Feinfühligkeit. Insbesondere die mütterliche Feinfühligkeit zählt zu den wichtigsten Indikatoren für Bindungssicherheit beim Kind (Belsky 1999). Belsky und Rovine (1987) fanden bereits in einer frühen Studie, dass Über- und Unterstimulation durch die Mutter negative Effekte auf das Baby haben, die zu Vermeidungsverhalten und Widerstand des Babys führen. Mütter, die ihre Kinder angemessen stimulierten, hatten auch eher sicher gebundene Kinder. Hier zeigt sich auch die enge Interaktion zwischen mütterlichem Verhalten und kindlichem »Outcome«: Unsicher-gebundene Kinder weinten und schrien viel häufiger als sicher gebundene, was wiederum zu einer Verstärkung der (inadäquaten) Verhaltensweisen ihrer Mütter führte. Die Stärke des Zusammenhangs zwischen mütterlicher Feinfühligkeit bzw. ihrem Bindungsstatus
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und dem ihres Kindes ist jedoch erstaunlicherweise geringer als erwartet. In früheren Studien hatte van IJzendoorn (1995) eine Korrespondenz zwischen Einstufungen im AAI bei den Müttern und dem FST bei ihren Kindern von 75 gefunden. Dies fand er wenig zufrieden stellend, weil 50 Übereinstimmung schon per Zufall zu erwarten gewesen wären. Eine spätere Meta-Analyse von 66 Untersuchungen, die zusammen über 4000 Mutter-KindDyaden umfasste, ergab eine Effektgröße von 0,17 (de Wolf u. van IJzendoorn 1997), ein relativ kleiner Wert. Bei einer Beschränkung des Datensatzes auf 30 Studien, die sich speziell mit der Wirkung der elterlichen Feinfühligkeit befassten, stieg die Effektgröße auf 0,22. Dies macht schon deutlich, dass die mütterliche Feinfühligkeit keine alleinige Determinante für die Bindungssicherheit ist, obwohl sie doch mit Bindungssicherheit zusammenhängt. Erstaunlicherweise sind die Effekte der mütterlichen Feinfühligkeit auf die Bindungssicherheit größer, wenn man sozial benachteiligte Gruppen untersucht. Aus mehr als einem Dutzend Studien ergab sich für eine Intervention zur Steigerung der Feinfühligkeit der Mutter für Kinder mit negativem Temperament eine ungewöhnlich hohe Effektgröße im Sinne einer von 28 auf 68 gestiegenen Bindungssicherheit. Es ergab sich für diese Intervention eine Effektstärke von 0,48 (van IJzendoorn u. de Wolf 1997). Zwischen der Feinfühligkeit des Vaters und der Bindungssicherheit an den Vater besteht ebenfalls ein kleiner, aber statistisch signifikanter Zusammenhang.
3.8
Effekte von Bindungssicherheit: Mentalisierung und Emotionskontrolle
Die Frage der Übereinstimmung zwischen der Bindungsqualität von Eltern und ihren Kindern stand lange Zeit sehr im Vordergrund der Bindungsforschung. Sie scheint auch aus klinischer Sicht unmittelbar relevant. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass das, was in Bindungsbeziehungen gelernt und entwickelt wird, nämlich die Fähigkeit zur Emotionsregulierung und eine innere Repräsentation, ein inneres Arbeitsmodell über sich und andere, entscheidend für die weitere Beziehungs-
entwicklung und intellektuelle Entwicklung des Kindes ist. Dies erklärt die teilweise erheblichen intellektuellen und sozialen Defizite unsicher gebundener Kinder.
Bindung und Mentalisierung Wie Fonagy (2007) herausgearbeitet hat, ist die frühe Beziehungsumwelt von entscheidender Bedeutung; dies nicht so sehr, weil sie die Qualität der späteren Beziehung prägt, wofür es an Beweisen mangelt, sondern weil sie dazu beiträgt, das Individuum mit einem mentalen Verarbeitungssystem auszustatten, das bestimmte Beziehungsrepräsentationen hervorbringt. Tatsächlich hat sich die Bindungsforschung in den letzten Jahren von der Frage der Korrespondenz zwischen kindlichen und elterlichen Bindungsmustern etwas abgewandt, weil offenkundig eine Reihe von Faktoren diese »Weitergabe« von Bindung beeinflussen, die nicht in der Hand der Eltern liegen (z. B. das Auftreten starker Stressoren), und sich der Frage der Mentalisierung zugewandt (Main 1991). Dabei beschäftigte man sich besonders mit der Frage, wie die organisierten mentalen Repräsentationen von Bindung entstehen und warum sie nur unzureichend vermittelbar sind, was van IJzendoorn (1995) als »transmission gap« bezeichnet. Eine sichere Bindung umfasst ein Repräsentationssystem, bei dem das Kind die Bindungsfigur als zugänglich und reaktionsbereit erlebt, wenn es sie braucht. Relativ eindeutig sind Nachweise, die zeigen, dass die frühe Bindung Auswirkungen auf mentale Prozesse hat, die der Persönlichkeit und der Psychopathologie zugrunde liegen können. Immer wieder fand man Zusammenhänge zwischen Bindungsstatus und Repräsentationsfähigkeiten, die das Selbst, die anderen und die Beziehungen zwischen ihnen beiden betreffen. Sicher gebundene Kinder beschreiben sich selbst z. B. in positiveren Begriffen, können aber auch zugeben, dass sie nicht vollkommen sind, während unsicher gebundene Kinder weniger bereit sind, Fehler einzugestehen, obwohl sie sich selbst negativer beschreiben. Kinder mit sicherem Bindungsstatus können sich an angenehme Ereignisse besser erinnern als an unangenehme und können auch ihre negativen Emotionen besser verstehen (Laible u. Thompson 1998).
3.8 Effekte von Bindungssicherheit: Mentalisierung und Emotionskontrolle
Wie eingangs beschrieben, entstehen nach Ansicht Winnicotts (1971) Objektbeziehungen aus magischen Allmachtserfahrungen. Zunächst muss eine Differenzierung zwischen Ich und Nicht-Ich, den eigenen Gefühlen und Wahrnehmungen der Gefühle anderer vollzogen werden. Die hinreichend gute Mutter fordert den Säugling zu dieser Differenzierung heraus und »erklärt« dem Säugling und Kleinkind durch ihre Mimik und ihre Stimme die Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede zwischen sich und dem Kind. Zentral ist dabei Winnicotts Konzept der Spiegelung, das Ähnlichkeiten mit Bions (1962) Konzept des psychischen Containers hat. Entscheidend für die bindungsrelevante Situation der Trennung im FST ist, dass die Reaktion auf den Kummer des Kindes aus einem Feedback besteht, dem Gesicht und der Stimme der Mutter, durch das sie dem Kind »erklärt«, was es fühlt und ihm gleichzeitig vermittelt, dass sie die Situation bewältigt (Fonagy et al. 1995). Eine sichere Bezugsperson kann Trost spenden, indem sie die seelische Verfassung des Kindes exakt spiegelt und dies mit einem Gesichtsausdruck verbindet, der nicht zu dem des Kindes passt. Das Kind »versteht« nun den Unterschied zwischen den Emotionen seiner Mutter und seinen eigenen Gefühlen von Angst und Kummer. Einer unsicher-distanziert gebundenen Betreuungsperson gelingt es möglicherweise überhaupt nicht, den Kummer des Kindes zu spiegeln, weil sie ihn selbst als schmerzlich empfindet oder weil ihr die Fähigkeit fehlt, sich eine kohärente Vorstellung vom mentalen Zustand des Kindes zu machen. Bei vermeidenden Kindern vermutet man, dass sie die extrem gedämpfte Reaktion ihrer Betreuungsperson verinnerlicht haben und sie deshalb auf Trennungen mit äußerlich kaum sichtbaren Zeichen von Kummer reagieren, aber ein erhebliches Maß an physiologischer Erregung erleben. Im Gegensatz dazu stellt eine unsicher-verstrickte Betreuungsperson die innere Erfahrung des Kindes möglicherweise mit exzessiver Klarheit dar oder auf eine Weise, die sich durch die ambivalente Verwicklung in eigene Erfahrungen verkompliziert. Das Kind wird überstark mit den ambivalenten Emotionen der Mutter konfrontiert, ohne dass dies von ihr »metabolisiert«, d. h. verarbeitet und in geschützter Form an das Kind vermittelt wird. Winnicotts dargestellte Theorie des falschen Selbst beruht auf der Annahme, dass innere Erre-
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gungszustände traumatisch für das Kind sein können, wenn die Betreuungsperson nicht fähig ist, sie aufzunehmen und zu spiegeln. Das wahre Selbst kann sich nur in Gegenwart eines unaufdringlichen anderen entwickeln. Zur natürlichen Entwicklung des Selbst kommt es, wenn die Person, die sich um das Kind kümmert, es nicht unnötigerweise beeinflusst, indem sie ihm die eigenen Impulse aufdrängt und die kreativen Gesten des Kindes einschränkt oder umlenkt. Winnicott meint, dass die Harmonie der Mutter-Kind-Beziehung zur Herausbildung eines symbolischen Denkens beiträgt. Bowlby erkannte, dass das Kind einen bedeutungsvollen Entwicklungsschritt macht, wenn ihm allmählich klar wird, dass die Mutter ihre eigenen Ziele, Ideen und Gefühle haben kann. Etwa zur gleichen Zeit beginnt das Kind, über seine eigene innere Verfassung zu reflektieren, eine Theorie des Mentalen (»theory of mind«) zu entwickeln (BaronCohen 1995). Dieser Nachweis ist im Zusammenhang mit der Bindungssicherheit sehr bedeutsam. Man geht also davon aus, dass die Bindungssicherheit der Theorie des Mentalen vorausgeht. Die These lautet, dass die Fähigkeit zur Mentalisierung aus der Bindungsbeziehung hervorgeht, und zwar dann, wenn das Kind die mentale Situation der Mutter erforscht. Eine sichere Bindung gestattet eine umfassende Erforschung. Schwere Deprivationen verhindern, dass sich die Fähigkeit zur Mentalisierung herausbildet (Fonagy 1997). In der Tat haben Studien zur »theory of mind« von kleinen Kindern, d. h. ihre Vorstellungen über die mentalen Prozesse anderer Personen, enorme Unterschiede in Abhängigkeit von familiären Faktoren erbracht. Cutting und Dunn (1999) untersuchten die individuellen Unterschiede genauer und fanden, dass im Alter von 4 Jahren die meisten Kinder wissen, dass andere Menschen andere Gefühle haben und dass ihre Gefühle davon abhängen, wie sie eine Situation wahrnehmen. Es gibt aber bereits im Alter von 2 Jahren große individuelle Unterschiede, wie und wie oft Kinder über eigene Gefühle sprechen. Im Alter von 2 und 3 Jahren hingen solche Unterschiede damit zusammen, wie in der häuslichen Umgebung mit Gefühlen und inneren Zuständen anderer Personen umgegangen wurde. Kinder, die schon relativ viele Gedanken und Gefühle über den geistigen Zustand einer anderen Person äußern konnten, also eine gut ent-
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Kapitel 3 · Bindungsentwicklung
wickelte »theory of mind« hatten, stammten aus Elternhäusern, in denen sehr viel kommuniziert wurde und insbesondere Gefühlszustände und Vorstellungen angesprochen wurden. Ähnliche Bedeutung hat der Umgang der Eltern mit dem symbolischen Spiel ihrer Kinder (7 Kap. 4). Man hat eine große Variationsbreite gefunden in der Häufigkeit, mit der kleine Kinder Symbolspiel spontan verwenden. Voraussetzung dafür war die Objektpermanenz. Symbolspiel wird besonders auf der Höhe des Separations-Individuations-Prozesses im Sinne von Mahler et al. (1975) beobachtet (7 Kap. 1 und 5). Interessant ist, inwieweit Mütter die Bedeutung des Symbols mit dem Kind teilen, d. h. auf die vom ihm angebotene Bedeutung einsteigen und das Kind zum Spielen anregen. Dass die dyadische und die symbolische Funktion sehr eng miteinander verknüpft sind, hat Slade (1987) bei der Beobachtung von Mutter-Kind-Paaren beim Spiel bestätigt. Sie beobachtete die Paare in der Zeit, als die Kinder 20 und 22 Monate alt waren, mehrfach bei Spielsequenzen und maß außerdem die Entwicklung mit den Bayley Scales of Infant Development und die Bindung mit dem FST. Sicher gebundene Kinder wiesen längere Spielepisoden auf, waren persistierender im Spiel und benutzten häufiger symbolische Spielformen, in denen z. B. ein Bauklotz einen Mann, ein Auto oder ein Haus darstellen konnte. Ihre spontane Kompetenz in der symbolischen Benutzung von Gegenständen wurde liebevoll von der Mutter unterstützt. Unsicher-gebundene Kinder hatten kürzere und weni-
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ger komplexe Spielepisoden und spielten mit den Gegenständen realer, d. h., sie deuteten sie nicht symbolisch um. Dadurch war ihr Spiel eingeengter. Mütter unsicher-gebundener Kinder waren in die Spielsequenzen weniger involviert und griffen symbolische Angebote ihrer Kinder auch seltener auf.
Bindung und Emotionsregulierung Starke negative Emotionen wie Angst und Aggression sind etwas, das vom Beginn des Lebens an bewältigt werden muss. Sehr entscheidend ist, inwieweit die Betreuungsperson das Kind in einer solchen Situation emotional unterstützt und ihm hilft, mit seinen Emotionen fertig zu werden. In der Tat ist die Fähigkeit zur Emotionsregulierung einer der wichtigsten »Outcomes« von Bindungsbeziehungen. Sie ist eingebettet in weitere Entwicklungsveränderungen, wie sich am Beispiel der Aggression verdeutlichen lässt. Entwicklungspsychologische Untersuchungen zeigen, dass starke körperliche Aggressionen nur für die Zeitspanne zwischen 3 und 5 Jahren charakteristisch sind. . Abb. 3.12 verdeutlicht auch die höheren Werte der Jungen im Vergleich zu den Mädchen sowie eine starke Abnahme über die Zeit bis zum Alter von 14 Jahren. Starke körperliche Aggression gilt demnach nur für die Vorschul- und Grundschulzeit. Verbale Aggressionen wie Schimpfnamen und Auslachen ersetzen immer stärker die direkte körperliche Aggression. Die-
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. Abb. 3.12. Häufigkeit von offen geäußerter Aggression bei Jungen und Mädchen
3.8 Effekte von Bindungssicherheit: Mentalisierung und Emotionskontrolle
se relationale Aggression beobachtet man auch etwas häufiger bei Mädchen als bei Jungen (Kleiter 2002). Mit den Jahren zunehmend entwickelt sich ein geschlechtstypisches Pattern mit eher internalisierter Aggression bei Mädchen und eher externalisierter Aggression bei Jungen, das – aus der Sicht der Jungen – dem unbewussten Credo folgt: »Lieber Angst verbreiten als Scham aushalten zu müssen!« (Hopf 1998, S. 32) Bei Kindern und Jugendlichen, die wir als antisozial und destruktiv bezeichnen, ist etwas nicht gelernt worden – nämlich die zunehmende Integration der aggressiven Impulse. Diese hat schon Melanie Klein (1932) bei Kleinkindern im Alter von 6–9 Monaten beschrieben, und – so können wir aus bindungstheoretischer Sicht hinzufügen – die Eltern haben offenkundig das Kind beim Erlernen der Emotionsregulierung nicht angemessen unterstützt. Fallbeispiel Störungen des Sozialverhaltens (Dissozialität) Der 6-jährige Sven fällt dadurch auf, dass er andere Kinder anschreit und mit Gegenständen wirft. Er spuckt sie an, verweigert die Aufträge von Erwachsenen und schlägt sehr schnell zu. Er hat eine besondere Vorliebe, Gegenstände ohne sichtbaren Grund zu zerstören. In den meisten Situationen gibt es keinen erkennbaren Anlass für diese Verhaltensweisen. Bisweilen reagiert er aber so, wenn er durch andere Kinder im Spiel gestört oder geschlagen wird. Für sein Alter verfügt er noch über auffallend wenig soziale Fertigkeiten im Umgang mit anderen Kindern und Erwachsenen (Steinhausen 2000).
Definition Kennzeichen der Störungen des Sozialverhaltens (SSV) ist dissoziales, aggressives oder aufsässiges Verhalten, das wiederholt und andauernd auftritt und in extremer Form gröbste Verletzungen altersentsprechender sozialer Erwartungen beinhaltet. Über den Schweregrad und die Dauer – sie soll in der Regel mindestens sechs Monate betragen – wird eine Abgrenzung vorgenommen, z. B. gegenüber kindlichem Unfug oder jugendlicher Aufsässigkeit. Ebenso wird bei der Diagnose das Entwicklungsniveau berücksichtigt, um sie etwa gegenüber Wutausbrüchen von Kleinkindern abgrenzen zu können.
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3
Symptome einer Störung des Sozialverhaltens 5 Extremes Ausmaß an Streiten oder Tyrannisieren 5 Grausamkeit gegenüber Menschen oder Tieren 5 Erhebliche Beschädigung von Eigentum, Feuerlegen, Stehlen, häufiges Lügen, Schulschwänzen und Weglaufen von zu Hause 5 Ungewöhnlich häufige oder schwere Wutausbrüche und Ungehorsam
Zur Erklärung der enormen Unterschiede im Mischungsverhältnis von neutralisierter, gutartiger Aggression und destruktiver Aggression wird immer wieder auf Unterschiede in der Grundausstattung von Babys (wie ein irritierbares, schwieriges, aggressives Temperament) sowie auf Strukturdefizite im Ich (Seiler 1998) hingewiesen. In den letzten Jahren gab es viel Forschung über solche »ego-undercontrolled« Kinder und Jugendliche. Die Studie von Eisenberg et al. (2000) zeigt beispielsweise, dass bei Jungen, die hohe Werte in negativer Emotionalität hatten, die Wahrscheinlichkeit von Problemverhaltensweisen sank, wenn die Fähigkeit zur Emotionsregulation zunahm (. Abb. 3.13). Auch bei mittleren Werten in negativer Emotionalität war dieser signifikante Abfall deutlich, wenn die Emotionsregulierung hoch war (mehr als eine Standardabweichung über dem Mittelwert). Kindern mit schlechter Ich-Kontrolle fehlt die Fähigkeit, auf negative Emotionen in interpersonalen Beziehungen angemessen zu reagieren. Diese Kinder sind nicht in der Lage, eine negative Erregung einzudämmen und ihre negativen Reaktionen zu unterdrücken. Sie können keine wirksamen Bewältigungsreaktionen planen oder ihre Aufmerksamkeit umlenken. Für Kinder mit einem schwierigen Temperament und stark ausgeprägter negativer Affektivität ist es demnach umso wichtiger, dass die Mutter oder eine andere Betreuungsperson das Kind bei der Emotionsregulierung unterstützt und »sein Ich stark macht«, wie es Winnicott beschrieben hat. Bowlby (1973) bemerkte, dass unterschiedliche Bindungsmodelle einen unterschiedlichen Zugang zu bestimmten Arten von Gedanken, Gefühlen und
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Kapitel 3 · Bindungsentwicklung
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Kindliches Problemverhalten nach Elternbericht
1
hohe negative Emotionalität mittlere negative Emotionalität
2,25
niedrige negative Emotionalität
2
1,75
1,5 -1 SD
Mittelwert
+1 SD
Regulation nach Lehrerbericht . Abb. 3.13. Zusammenhänge zwischen negativer Emotionalität, Fähigkeit zur Emotionsregulierung und Problemverhalten
Erinnerungen widerspiegeln. Sowohl der kognitive als auch der emotionale Zugang zu bindungsrelevanten Informationen ist von der Qualität der früheren Beziehung abhängig. Im unsicher-vermeidenden Bindungsmodell haben die Personen nur begrenzten Zugang zu bindungsorientierten Gedanken, Gefühlen und Erinnerungen, während
bei anderen Modellen ein übertriebener oder verzerrter Zugriff auf bindungsrelevante Informationen erfolgt. Da Affektregulierung mit Hilfe der primären Betreuungsperson entwickelt wird, spiegelt die Strategie des Kindes zwangsläufig das Verhalten der Betreuungsperson ihm gegenüber wider.
Bindung und Emotionskontrolle 5 Sichere Kinder Sie erleben gut koordinierte positive Interaktionen, in denen die Betreuungsperson das Kind nur selten übermäßig erregt und in der Lage ist, die desorganisierten Gefühlsreaktionen des Kindes zu restabilisieren. Deshalb bleiben sie in belastenden Situationen gut organisiert. Negative Emotionen werden vom Kind nicht als bedrohlich empfunden, sondern haben für das Kind eine kommunikative Funktion, die in den Dialog mit der Mutter einbezogen wird. 5 Unsicher-vermeidende Kinder Sie machen die Erfahrung, dass ihre emotionale Erregung von der Betreuungsperson
nicht aufgefangen wird, z. B. weil sie persönlichen Problemen ausgesetzt ist und unter diesen Umständen das Kind vernachlässigt oder sich über es ärgert. Solche Kinder überregulieren ihre Gefühle und vermeiden Situationen, die emotional erregend sein können. 5 Unsicher-ambivalente Kinder Sie untersteuern ihre Affekte. Diese Kinder empfinden viele Dinge und Zustände als Bedrohung und sind häufig ausschließlich daran interessiert, Kontakt zur Betreuungsperson zu halten, zeigen sich aber oft auch frustriert innerhalb dieses Kontakts.
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3.9 Bindung und Psychopathologie
Es gibt eine Reihe von entwicklungspsychologischen Studien, die zeigen, dass aggressive Kinder soziale Hinweisreize vorschnell interpretieren und häufig feindlich auslegen. Sogar bei Geschichten, in denen die Gleichaltrigen ausgesprochen prosoziale Absichten verfolgen, waren aggressive Kinder häufiger als andere Kinder der Meinung, es stünden dahinter böswillige Motive. Man vermutet daher, dass aggressive Kinder auch neutrale Hinweisreize vorschnell als aggressiv gemeint interpretieren. Dies entspricht auch Befunden aus der Delinquenzforschung, die zeigen, dass Delinquente andere attackieren, »weil sie jemand so komisch angeschaut hat«. Nach der Bindungstheorie könnte man vermuten, dass diese aggressiven Erwartungen Bestandteile eines Arbeitsmodells sind, das das Kind über die Beziehung zu anderen Menschen gebildet hat. Suess et al. (1992) führten ein Experiment zur Einschätzung von Provokationen in Bildgeschichten mit 5-jährigen Kindern durch, die sie als Kleinkinder im Hinblick auf ihre Bindung zu Mutter und Vater klassifiziert hatten. Die Kinder, die im 2. Lebensjahr eine sichere Bindungsbeziehung zu ihrer Mutter hatten, neigten vier Jahre später im Kindergarten zu positiven und realistischen Interpretationen der Bildgeschichte. Sie schrieben dem Kind, das den Schaden verursachte, seltener Böswilligkeit zu, wenn dies erkennbar nicht der Fall war. Die Kinder, die früher in ihrem Bindungsverhalten als unsicher eingestuft worden waren, neigten hingegen dazu, dem Schadensverursacher summarisch feindselige Motive zu unterstellen. Nach der Bindungstheorie bereiten die Erfahrungen der Zurückweisung oder der Nichtbeachtung in psychischen Belastungssituationen, die Kinder in einer unsicher-vermeidenden Bindungsbeziehung gemacht haben, ihnen viel Ärger und Kummer, den sie in dieser Beziehung (aus Angst vor weiterer Zurücksetzung) aber nicht zum Ausdruck bringen können. Die Arbeitsmodelle, die sie auf der Grundlage derartiger Erfahrungen gebildet haben, haben die Tendenz, sich im Laufe der Jahre zu verfestigen, sodass sie Korrekturen immer weniger zugänglich werden. So mag es nicht verwundern, dass Jugendliche aus der Regensburger Längsschnittstudie, die in ihrem 1. Lebensjahr als unsi-
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cher-vermeidend in ihren Bindungsbeziehungen eingeschätzt wurden, auch von ihren Freunden als signifikant feindseliger eingeschätzt werden als eine Vergleichsgruppe Jugendlicher mit einer sicheren Mutter-Kind-Bindung. Die Arbeitsmodelle aus der Eltern-Kind-Beziehung werden demnach auch auf andere Beziehungen übertragen. Andere Studien berichteten davon, dass unsicher-vermeidend gebundene Kleinkinder später in Konfliktsituationen im Kindergarten Ärger und Aggressionen im Spiel durch Abbruch beantworteten (Kobak u. Sceery 1988). Dies mag zwar kurzzeitig adaptiv sein, ist aber langfristig gesehen keine sinnvolle Strategie, weil eine Beziehungsentwicklung durch Konfliktlösung nicht möglich ist (7 Kap. 5). Sicher gebundene Kleinkinder zeigten dagegen später im Kindergarten mehr Freundlichkeit und positive Affekte gegenüber anderen Kindern und eine größere Toleranz gegenüber negativen Affekten, während sie gleichzeitig das Spiel durch Lächeln und Teilen aufrechterhielten. Toleranz negativer Emotionen Die Studie von Laible und Thompson (1998) belegt eindrucksvoll, dass es das Verständnis und die Toleranz negativer Emotionen sind, die in Familien mit sicher gebundenen Kindern besser und umfassender gelernt werden als in Familien mit unsicher gebundenen Kindern.
3.9
Bindung und Psychopathologie
Wir haben bislang die Verteilung von Bindungstypen in unauffälligen Stichproben kennen gelernt. Innerhalb klinischer Samples und Hochrisikostichproben sind die Basisraten für unsichere Bindung rund 4-mal höher; nur noch rund 8–13 waren sicher gebunden. Etwas über 40 wurden jeweils als unsicher-distanziert bzw. unsicher-verwickelt gebunden eingestuft (. Abb. 3.14).
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Kapitel 3 · Bindungsentwicklung
13% sicher gebunden
58% sicher gebunden
41% unsicherdistanziert
24% unsicherdistanziert
46% unsicherverwickelt
b
18% unsicherverwickelt
. Abb. 3.14a,b. Bindungsklassifikation: a in klinisch auffälligen Gruppen (Bakermans-Kranenburg u. IJzendoorn 1993), b in nicht klinisch auffälligen Gruppen (IJzendoorn et al. 1996)
Unsichere Bindung und psychische Störungen In Hochrisikogruppen fand man eindeutige Zusammenhänge zwischen unsicherer Bindung und psychischen Symptomen, so etwa zwischen unsicherer Bindung in den ersten beiden Lebensjahren und emotionalen Problemen oder Verhaltensproblemen bis in die mittlere Kindheit hinein (Feiring u. Lewis 1996). Erkrankungen der Eltern, insbesondere starke Depressionen, sind in diesem Zusammenhang häufiger untersucht worden. So fanden LyonsRuth et al. (1986a), dass Kinder, die über längere Zeit Müttern mit relativ starken Depressionen ausgesetzt waren, eher als unsicher gebunden klassifiziert wurden. Ähnliches gilt für Kinder, die häufig elterlichen Streit erlebten (Erel u. Burman 1995). Die negativen Auswirkungen von mütterlicher Depression auf den Bindungsstatus ihrer Kinder sind in zahlreichen Studien belegt (7 Kap. 2). Im Vergleich zu klinisch unauffälligen Müttern weisen depressive Mütter ein wenig einfühlsames Verhalten ihren Kindern gegenüber auf. Sie waren affektiv negativer und irritierbarer, feindseliger, kritischer und vernachlässigend, dann aber wieder intrusiv ihren Kindern gegenüber. Positive Gefühle wurden kaum gezeigt (Reck et al. 2004). Dieses ablehnende und teilweise widersprüchliche Verhalten der Mütter stellte einen hohen Risikofaktor für die Entwicklung von Psychopathologie ihrer Kinder dar. Vor allem aber führte es, so zeigten die Studien von Teti et al. (1995) und Radke-Yarrow et al. (1985), bei ihren Kindern zu einem unsicheren Bindungsstatus. Teti et al. fanden unsichere Bindungsmuster bei 80 der 2-Jährigen und bei 87 der Vorschulkinder depressiver Mütter. Diese alarmierend hohen Zahlen machen dringend Interventionen in Familien mit depressiven Müttern notwendig. Die Interventionsstudie von Lyons-Ruth et al. (1993) belegt, dass
sich durch Hausbesuche und Unterstützung der depressiven Mütter die Situation entscheidend verbesserte: Die Kinder wurden nach der Intervention eher als sicher gebunden klassifiziert und wiesen auch eine Zunahme von zehn Punkten in den Bayleys Entwicklungsskalen auf; dies bedeutet, dass die Entwicklungsarretierung gestoppt worden war. Nur sehr wenige Studien haben einen Zusammenhang zwischen Bindungsmustern in der Kindheit und erwachsener Psychopathologie hergestellt (Dozier et al. 1999). Zahlreiche, zumeist querschnittlich durchgeführte Studien versuchten dagegen, spezifische Krankheitsbilder wie Psychosomatosen, Angststörungen, Depressionen bestimmten Bindungsmustern zuzuordnen. Es gibt Befunde, die eine Zuordnung da und dort wahrscheinlich scheinen lassen, aber insgesamt ist die Zuordnung zu bestimmten Krankheitsbildern nicht geglückt (Strauß et al. 2002). Fonagy et al. (1996) fanden in ihrer recht großen Stichprobe an psychiatrischen Patienten vor allem unsicher-verwickelte und desorganisierte Bindungsmuster. Aus diesen Befunden kann man folgenden Schluss ziehen: Unsichere Bindung kann einen Risikofaktor für eine Vielzahl von Störungen darstellen; der Effekt ist jedoch eher unspezifisch.
Desorganisation von Bindung Während der 70er und 80er Jahre befasste sich die Bindungsforschung zunehmend mit Kindesmisshandlungen, mit körperlichem und sexuellem Missbrauch. Die Klassifikation des desorganisierten Verhaltens in der fremden Situation, gekennzeichnet durch Furcht, Erstarrung und Verwirrtheit, wurde mit Kindesmisshandlungen (Cicchetti u. Barnett 1991) und ungelösten Traumata in der Geschichte der elterlichen Betreuungsperson in
3.9 Bindung und Psychopathologie
Zusammenhang gebracht. Man kann leicht nachvollziehen, dass das gesamte bindungsrelevante Verhaltenssystem zusammenbricht, wenn die Bindungsfigur gleichzeitig Sicherheit und Gefahr signalisiert. Kindesmisshandlung erklärt einen Teil, aber nicht alle Fälle von in der Kindheit beobachtetem desorganisiertem Bindungsverhalten. Bei Eltern von Kleinkindern, deren Verhalten im FST als desorganisiert klassifiziert wurde, hat man dissoziative Momente und merkwürdig ängstliche Ausdrucksformen beobachtet (Lyons-Ruth 1996; Carlson 1998). In späteren Untersuchungen hat Lyons-Ruth das Verhalten der Mütter von Kindern mit desorganisiertem Bindungsstatus genauer beobachtet und deren Mütter mit dem AAI gestest (Lyons-Ruth et al. 2005). Sie fand bei den Müttern dieser Kinder einen enorm hohen Prozentsatz von ungelöstem Trauma (unresolved trauma) und beobachtete bei ihnen einen eher hilflosen und einen eher feindseligen Typus (helpless vs. hostile). Dies unterstreicht die transgenerationale Weitergabe von hochproblematischen Bindungsmustern. Wie bereits beschrieben, zeichnet sich eine desorganisierte Bindung im Fremde-Situation-Test dadurch aus, dass Kinder gleichzeitig oder nacheinander widersprüchliche Verhaltensweisen zeigen. Die Kategorie »desorganisiert« ist von größerer Stabilität (r = .30) als andere Bindungsmuster (van IJzendoorn et al. 1999). Es gibt gegenwärtig keine substantiellen Hinweise darauf, dass temperamentsbedingte oder konstitutionelle Faktoren die Desorganisation verursachen. Allerdings ist Desorganisation häufiger unter dramatischen Verlustereignissen. So fand man, dass spät adoptierte Kinder aus osteuropäischen Waisenhäusern, d. h. Kinder, die acht Monate und länger im Waisenhaus geblieben waren, als 4-Jährige überwiegend ein desorganisiertes Bindungsverhalten aufwiesen (Chisolm 1998). Marwin und Brittner (1999) untersuchten Bindungsklassifikationen bei 4- bis 6-jährigen rumänischen Adoptivkindern in Großbritannien. Die Bindungssicherheit war am höchsten in der Gruppe mit jenen Kindern, die die kürzeste Zeit im Waisenhaus verbracht hatten; der Prozentsatz der Klassifikation »desorganisiert« war jedoch insgesamt recht hoch. Zeanah et al. (2005) hat in der bereits erwähnten Studie an Kindern aus rumänischen Waisenhäusern (7 Kap. 2) bei 65 einen desorganisierten Bindungsstatus gefunden; nur
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rund 20 waren sicher gebunden. Spangler und Grossmann (1993) fanden bei Kindern mit desorganisiertem Bindungsverhalten in der fremden Situation signifikant höhere Kortisolanteile im Speichel, was auf eine kontinuierlich sehr hohe Stressbelastung hinweist. Es wurden enge Zusammenhänge zwischen desorganisierter Bindung und späterem aggressiven Verhalten gefunden. Lyons-Ruth et al. (1993) identifizierten die desorganisierte Bindung als Hauptrisikofaktor für späteres aggressives Verhalten im Kindergarten. In weiteren Studien verfolgte Lyons-Ruth (1996) die Hochrisikogruppe. Im Alter von 18 Monaten waren 71 als desorganisiert klassifiziert worden, aber nur 12 als sicher gebunden. Mehr als die Hälfte der Kinder, die mit 18 Monaten als desorganisiert eingestuft worden waren und deren Mütter unter psychosozialen Problemen litten, waren im Kindergarten aggressiv auffällig, verglichen mit weniger als 5 jener Kinder, bei denen keiner dieser Risikofaktoren vorhanden war. Ähnliches fanden Shaw et al. (1997): 60 der desorganisierten Kinder zeigten klinisch erhöhte Aggressionen im Vergleich zu 30 bei anderen Unsicherheitsklassifikationen und 17 der als sicher eingestuften Kinder. Bei Kindern, die sowohl ein desorganisiertes Bindungsverhalten und nach elterlicher Einschätzung ein schwieriges Temperament aufwiesen, betrug die Aggressionsneigung sogar 99. Das Vorherrschen einer desorganisierten Bindung steht in engem Zusammenhang mit familiären Risikofaktoren wie Misshandlung, schweren depressiven oder schizophrenen Störungen sowie Alkohol- oder Drogenmissbrauch, und zwar, wie belegt wurde, über die Generationen hinweg. Bei einer Meta-Analyse ergab sich hingegen nur ein marginaler signifikanter Zusammenhang zwischen depressiven Symptomen bei der Mutter und desorganisierter Bindung beim Kind (van IJzendoorn et al. 1999). Dies deutet darauf hin, dass Kinder depressiver Mütter eher zu unsicheren Bindungsmustern, z. B. unsicher-vermeidend und unsicherambivalent, neigen und weniger zu einem desorganisierten Bindungsstatus. Ein Mechanismus zur Erklärung der Kontinuität von Störungen umfasst die Repräsentation von Bindung. Die unsichere oder desorganisierte Bin-
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Kapitel 3 · Bindungsentwicklung
dung kann eine ursächliche Rolle bei der späteren Fehlanpassung spielen, weil sich durch die ElternKind-Interaktionen Arbeitsmodelle herauskristallisieren, die durch Misstrauen, Wut, Unsicherheit und Angst gekennzeichnet sind. So ist es z. B. wahrscheinlich, dass die emotionale Regulierung, die in der frühen Kindheit entsteht, angstkonditionierende Prozesse in der Amygdala oder Verbindungen zwischen der präfrontalen Hirnrinde und dem limbischen System substantiell verändert (Schore 1997). Fonagy et al. (1996) weisen auf einen weiteren wichtigen Mechanismus hin, der die relativ hohe Stabilität und transgenerationale Weitergabe des Bindungsstatus »desorganisert/unresolved trauma« betrifft. Ihrer Meinung nach ist die Mentalisierungsstörung ein Ergebnis dieser frühen pathologischen Interaktion: Das Kind versucht nicht, den inneren Zustand der Mutter zu verstehen (»theory of mind«), um nicht mit Angst, Wut, Hilflosigkeit und Verzweiflung konfrontiert zu werden, für die es keinen Schutz gibt. Durch diese Blockade ist das Kind im Moment der Gefahr im Elternhaus geschützt, es kann allerdings keine Fortentwicklung in seinen emotionalen und sozialen Fähigkeiten machen.
Bindungsklassifikation und Psychotherapie
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Eine neue Forschungsrichtung befasst sich mit den Zusammenhängen zwischen Bindungsklassifikation und Behandlungsergebnissen. Sie fußt auf der Beobachtung, dass die Bindungsqualität modifizierbar ist. Ein ehemals sicher gebundenes Kind und ein ehemals sicher gebundener Erwachsener können von einem sicher gebundenen Bindungsstatus zu einem unsicheren Bindungsstatus wechseln, wenn sie zwischenzeitlich viele kritische Lebensereignisse, also eine Kumulierung von Stressoren, erlebt haben. Andererseits kann man durch spätere geglückte soziale Beziehungen auch Bindungssicherheit gewinnen. Bowlby nennt dies »earned security«. Dies wurde in Untersuchungen belegt, die den Bindungsstatus vor Beginn und am Ende einer Therapie untersucht haben, etwa in der Studie von Fonagy et al. (1996). 82 neurotische Patienten und 85 Kontroll-Erwachsene wurden bezüglich ihres
Bindungsstatus mit Hilfe des AAI untersucht. Die Patientengruppe wurde nach Abschluss der psychoanalytischen Behandlung erneut mit Hilfe des AAI eingeschätzt. Zu Beginn der Behandlung ergaben sich die typischen Verteilungen derart, dass von den Kontrollpersonen 50 sicher gebunden waren, von den Patienten dagegen nur 9. Die Behandlung veränderte die Bindung von unsicher in sicher, v. a. bei denjenigen Patienten, die vorher als »dismissed« klassifiziert worden waren. Allerdings ist es häufig schwierig, Patienten mit unsicheren Bindungsmustern in Behandlung zu bekommen, weil ihre unsicheren Arbeitsmodelle ihre negativen Erwartungen in Bezug auf Psychotherapie determinieren. Im Unterschied zu Fonagys Ergebnissen fand die Forschergruppe um Sidney Blatt (Blatt et al. 1998), dass v. a. Erwachsene mit Dismissed-Bindung relativ resistent gegenüber Behandlungen im Rahmen einer Therapie sind.
Der Bindungsstatus von Therapeuten Hilfesucheverhalten des Patienten und Fürsorgeverhalten des Therapeuten bei therapeutischer Feinfühligkeit sind wichtige Merkmale der Patient-Therapeut-Interaktion. Der interessanten Frage, wie es um den Bindungsstatus von analytisch arbeitenden Psychotherapeuten bestellt ist, ging eine Studie von Schauenburg et al. (2006) nach. Die Autoren fanden 45 sicheren, 23 vermeidende und 12 ambivalente Bindungsstile und eine relativ große Gruppe mit gemischten Bindungsstilen. Das Bindungskonzept hat eine enorme Bedeutung für die Psychotherapie, was zunehmend erkannt wird (Strauß u. Schmidt 1997). Es ist zunächst wichtig für diagnostische Zwecke. Unsicher-ambivalent gebundene Patienten zeichnen sich durch ein sehr widersprüchliches Verhalten mit einem Oszillieren zwischen großer Nähe und großer Distanz aus. Sie können bereits in den probatorischen Sitzungen auf Dringlichkeit der Behandlung drängen und sich dennoch entziehen und wenig motiviert erscheinen. Hier ist es wichtig, im Sinne von Argelander (1970) zwischen schlechter bzw. guter bewusster oder unbewusster Motivation zu unterscheiden. Die Patienten können trotz offenkundig schlechter bewusster Motivation sehr wohl eine starke unbewusste Motivation haben, ihre Beziehungsprobleme zu lösen. Bei Patienten mit Dismissed-Bindung, den Unsi-
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3.9 Bindung und Psychopathologie
cher-Distanzierten, finden wir häufig eine Idealisierung der Eltern, aber auch viele Gedächtnislücken (»Ich kann mich an nichts erinnern«, »Es war eigentlich wie bei allen Familien«), was die Arbeit am biographischen Material erschwert. Im Sinne von Argelander (1970) sind dies eher »unergiebige Patienten«. Bei Patienten mit desorganisierten Bindungsmustern ist das Erleben und Verhalten stark fragmentiert und widersprüchlich. Das Bindungskonzept hilft auch bei der Analyse von Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen in einer laufenden Therapie. Man wird sich nicht mehr wundern, dass das Bindungssystem nicht zur Ruhe kommt – trotz enormer therapeutischer Feinfühligkeit –, wenn man verstanden hat, dass dies ein elementarer Bestandteil der Bindungsbeziehungen von unsicher-ambivalent Gebundenen ist. In Therapien gibt es des Weiteren Hinweise auf das Bindungssystem und die spezifische Qualität von Bindungen immer dann, wenn Stress und Trennungssituationen vorliegen, ansonsten wird es nicht aktiviert. Es sind die Trennungssituationen in der Therapie, wie der Fortsetzungsantrag, die Ferien oder die Beendigung der Behandlung, auf die wir unser Augenmerk richten müssen. Schließlich die wichtigste und positive Botschaft: Bindung ist veränderlich! Im negativen Sinne kann man durch starken Stress von einem sicheren in einen unsicheren Bindungsstatus rutschen. Im positiven Sinne ist eine unsichere Bindung durch Therapie in ein sicheres Bindungsmuster veränderbar. Dies kann auch durch eine positive und unterstützende Bezugsperson (es kann eine romantische Beziehung sein, es kann eine Partnerschaft sein) erfolgen. Übrigens ist es wichtig und erwähnenswert, dass sicher gebundene Personen nur zu 50 selbst auch wieder sicher gebundene Partner haben; jeder zweite sicher Gebundene wählt einen unsicher gebundenen Partner. Dies zeigt ebenfalls Möglichkeiten zur Korrektur im Sinne einer »earned security« auf.
Fazit 5 Es gibt Bezüge zwischen psychoanalytischen Theorien und der Bindungstheorie. 5 Die Methoden zur Erfassung von Bindung sind sehr unterschiedlich. 5 Elterliches Verhalten und Verhalten des Kindes, mütterliche Feinfühligkeit und entsprechende Bindungsmuster der Kinder sind eng miteinander verzahnt. 5 Bestimmte Lernprozesse stammen aus Bindungsbeziehungen, z. B. Mentalisierung und Emotionsregulierung, v. a. aber der Umgang mit negativen Affekten, wie sie in Trennungssituationen auftreten, wie Angst und Aggression. 5 Es bestehen enge Beziehungen zwischen elterlicher Psychopathologie und unsicheren bzw. desorganisierten Bindungsmustern ihrer Kinder, die langfristige Auswirkungen haben. 5 Bezüglich der Spezifität gibt es Hinweise, dass eher keine Zuordnung zwischen bestimmten Krankheitsbildern und Bindungsstilen möglich ist. Dessen ungeachtet hat das Bindungskonzept in der Behandlung, bevorzugt bei der Durcharbeitung von Trennungssituationen, große Bedeutung.
3
4 Phantasien, Symbolisierungen und Kreativität als Ressourcen 4.1
Symbole und Phantasien in der Psychoanalyse
4.2
Phantasie und Aggression
4.3
Entwicklungspsychologische Grundlagen: Phantasie, Spiel und Kreativität – 95
4.4
Trauma, Verlust und Phantasie
4.5
Hilfreiche und tröstliche Phantasien
4.6
Kreative Tätigkeiten: Malen und Schreiben – 106
4.7
Theoretische Weiterentwicklungen: Übergangsraum und Übergangsobjekt – 111
4.8
»Das Chaos ordnen«: Die Bedeutung von Märchen
4.9
– 92
– 94
– 98 – 102
– 113
Umsetzung im therapeutischen Raum: Geschichten und der Übergangsraum des Vorlesens – 114
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Kapitel 4 · Phantasien, Symbolisierungen und Kreativität als Ressourcen
4.1
Symbole und Phantasien in der Psychoanalyse >> Zu den kindlichen Ressourcen gehören Phantasien, Spiel, Malen, Schreiben und andere Symbolisierungsformen. Sie sollen unter der Perspektive von Kindern und Jugendlichen als Produzenten ihrer eigenen Entwicklung betrachtet werden. Die Bedeutung von Phantasien und Symbolisierungen in Form von Zeichnungen, Märchen, schriftlichen Aufzeichnungen u. Ä. ist ein klinisch unmittelbar relevantes Thema, wie die Arbeiten von Chasseguet-Smirgel (1986), Rattner und Danzer (1993) sowie Segal (1996) verdeutlichen. Das Thema der kindlichen Ressourcen muss auch vor dem Hintergrund der häufigen Beobachtung gesehen werden, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene heute im Alltag und als Patienten weniger phantasievoll und kreativ sind als noch vor einigen Dekaden und entsprechend weniger in der Lage, ihre psychischen Probleme zu symbolisieren. Es drängt sich die Frage auf, wie die zunehmende Anzahl von Störungen mit schweren IchDefiziten und starker körperlicher Mitbeteiligung sowie die hohe Komorbidität zwischen verschiedenen Störungen, die insbesondere für das Jugendalter spezifisch ist, in diesen Rahmen passen. Sind dies Anzeichen für einen Krankheitswandel hin zu einer größeren Schwere der Störungen bei abnehmender Symbolisierungsfähigkeit? Theoretische Konzepte und empirische Befunde zur Phantasietätigkeit sollen im Folgenden das unterschätzte Potential von Phantasien bei Kindern und Jugendlichen verdeutlichen und zu einer verstärkten Nutzung im therapeutischen Raum anregen. Dabei werden die enormen Selbstheilungskräfte von Kindern und Jugendlichen deutlich, die zahlreiche Belastungen und Probleme selbstständig über die Entwicklung spezifischer Phantasien bewältigen, ohne klinisch auffällig zu werden. Allerdings zeigen sich auch Grenzen, v. a. für schwer traumatisierte Patienten.
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Zu den ersten Phantasien, die Freud dem kleinen Kind zuschreibt, zählt die halluzinatorische Wunscherfüllung – ein Konzept, das später von anderen Theoretikern der psychoanalytischen Entwicklungstheorie wie Anna Freud, Melanie Klein, Donald Winnicott und Margret Mahler wiederholt aufgegriffen wurde (Seiffge-Krenke 1997a). Bekanntlich hat Freud die Bedeutung von Phantasien in der Ätiologie der Neurosen entdeckt, nachdem er zunächst angenommen hatte, dass die Ursachen der Neurosen reale Traumata seien. Für ihn war die psychische, nicht die materielle Realität entscheidend. Das Abrücken von der Verführungstheorie und die Annahme der pathogenen Wirkung von Phantasien fällt zeitlich mit einem Verlustereignis in der Biographie Freuds zusammen,
mit dem Tod seines Vaters Jakob Freud (7 Kap. 7). Unbewusste Phantasien sind für Freud der Schlüssel zum Verständnis von Symptomen, und die von ihm entwickelten Parameter der freien Assoziation, der liegenden Position sowie die Techniken der Traumanalyse und der Analyse von Fehlleistungen sind Methoden, das Unbewusste bewusst und damit zugänglich und bearbeitbar zu machen. In der um 1900 publizierten »Traumdeutung« sieht Freud enge Beziehungen zwischen Phantasien und Tagträumen. Wenig später, 1908, charakterisiert er unbewusste Phantasien als Tagträume, die vergessen wurden und in das Unbewusste abgesunken sind. Er stellt enge Beziehungen zwischen Phantasien und Wünschen her, daher auch der Ausdruck der Wunschphantasie. Neben einem
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4.1 Symbole und Phantasien in der Psychoanalyse
Triebaspekt enthalten Phantasien aber auch einen Abwehraspekt. Zu den bekanntesten Arbeiten Freuds über die Phantasie von Kindern zählt die Arbeit über den Familienroman (Freud 1909). Darin sind Phantasien beschrieben, in denen Kinder die Beziehungen zu ihren Eltern modifizieren, z. B., indem sie sich vorstellen, sie wären ein Findelkind oder das Kind eines Grafen, also aus einer außerehelichen Beziehung hervorgegangen. Melanie Klein hat diese Idee später in dem 1920 erschienenen »Der Familienroman in statu nascendi« aufgegriffen. In den Arbeiten Freuds wird die enge Verbindung zwischen Kreativität und Phantasie deutlich. 1908 vergleicht er das Spiel des Kindes mit der Aktivität eines Schriftstellers oder Künstlers, der eine neue Welt nach seiner eigenen Ordnung erschafft. Freud hält Phantasien für ein relativ spätes Phänomen in der Entwicklung, die sich parallel mit dem Spiel des Kindes entwickeln. Deshalb bringt er in späteren Arbeiten die halluzinatorische Wunscherfüllung nicht mit Phantasien in Zusammenhang, sondern lediglich mit Erinnerungen. Unbewusste Phantasien kommen bei Freud meist im Zusammenhang mit Pathologie vor, aber er ist sich auch sehr darüber im Klaren, dass es nur ein kleiner Schritt ist von einer Phantasie, die zu künstlerischer Kreativität führt, zu einer Phantasie, die ein Symptom auslöst. In all seinen Arbeiten über Kunstwerke wie »Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci« oder »Dostojewski und die Vatertötung« versteht er, wie Rattner und Danzer (1993) belegen, unbewusste Phantasien immer auch als Ausdruck von Sublimierung. Melanie Klein hat sich hauptsächlich auf unbewusste sexuelle Phantasien konzentriert und ihre Rolle in der Entwicklung des Kindes beschrieben, u. a. bei Lernhemmungen und in der psychischen Symptombildung (Klein 1930/1983). Durch Beobachtungen von Kindern in ihrem Behandlungszimmer begriff sie, wie sehr diese die Wahrnehmung des Kindes verzerren und sein Leben beherrschen können. Sie war der Ansicht, dass körperliche Erfahrungen schon von Beginn des Lebens an als phantasierte Objektbeziehungen erlebt werden, was sie in ihrer Konzeption der guten und bösen Brust verdeutlichte. Klein hat 1930 die Funktion der Symbolbildung für die Ich-Entwicklung beschrieben: Ihr zufolge
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kommt ohne den Einsatz der Symbolbildung die gesamte Ich-Entwicklung zum Stillstand. Hanna Segal (1996) erweiterte und veränderte die Konzeption Melanie Kleins, insbesondere das Konzept der Symbolbildung, und unterschied zwischen symbolischer Gleichsetzung und echter Symbolbildung: 5 Symbolische Gleichsetzung setzt das Objekt mit dem Symbol in eins; beide werden als identisch erlebt. Dies ist etwa für das Erleben Schizophrener charakteristisch. Eine Geige ist ein Penis, Geigenspiel ist Masturbieren. 5 Symbolische Darstellung ist dagegen erst in einer späteren Entwicklungsphase, der depressiven Position, möglich. Erst wenn das Symbol dem Objekt nicht gleichgesetzt wird, werden die Eigenschaften und Funktionen eines Ersatzobjekts, das als Symbol benutzt wird, vollständig erkannt. So ist es beispielsweise möglich, sich mit den toten Eltern auszusöhnen, Wiedergutmachung zu leisten. Symbole werden entsprechend nicht nur für die Kommunikation mit der äußeren Welt gebraucht, sondern auch für die innere Kommunikation. Verbalisieren ist eine besondere und hochentwickelte Symbolbildung, aber die Beiträge, die Symbole für die innerpsychische Verarbeitung leisten, die so genannten Mentalisierungen (Fonagy 2003), sind sicher unschätzbar (7 Kap. 3). Defizite in der Mentalisierung liegen vor allem bei schwer traumatisierten Patienten vor (S. 48). Fallbeispiel Segal (1996) gibt ein sehr anschauliches Beispiel: Eine schizophrene Jugendliche schrieb Märchen, wenn sie sich in einer guten Phase befand. In einer schlechten Phase wurden die Märchen »lebendig«, und die Gestalten, die sie erfand, verfolgten sie.
Winnicott hat 1971 mit dem Übergangsraum (»potential space«) eine notwendige Vorbedingung für die Symbolisierung und Prozesse der Kreativität formuliert, die eine wichtige konzeptuelle Neuerung darstellt, auf die wir später noch eingehen werden. Auch Jones (1987) hat die psychoanalytischen Ansätze zur Symbolbildung entscheidend weiterentwickelt.
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Kapitel 4 · Phantasien, Symbolisierungen und Kreativität als Ressourcen
Die Macht der inneren Bilder Die Macht der inneren Bilder ist inzwischen von der Hirnforschung aufgegriffen und intensiv untersucht worden (z. B. Hüther 2005). Wie die Hirnforschung in den letzten Jahren nachweisen konnte, ist die Art und Weise, wie jemand denkt, fühlt oder handelt, ausschlaggebend dafür, welche Nervenzellenverschaltungen in seinem Gehirn ausgebaut und stabilisiert werden und welche durch unzureichende Nutzung gelockert und aufgegeben werden. Deshalb ist es alles andere als belanglos, wie die inneren Bilder beschaffen sind, die sich ein Mensch von sich oder von anderen wichtigen Bezugspersonen macht. Zugleich wurde auch deutlich, dass durch traumatische Erfahrungen Areale des Gehirns »blind« geworden sind. Hier sind mentalisierungsbasierte Behandlungsansätze (Bateman u. Fonagy 2004) sinnvoll.
. Abb. 4.1. Gegenwärtige Ausdrucksformen von Phantasie: Graffiti
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Phantasie und Aggression
Um zu verstehen, durch welche Prozesse Kreativität, Phantasie und Symbolisierung uns, v. a. aber Kindern und Jugendlichen helfen, mit Emotionen umzugehen, muss man nicht nur wissen, dass ein echtes Symbol keine Kopie des Objekts ist. Wichtiger für die Funktion der Emotionsregulierung ist, dass schöpferische Prozesse einen engen Bezug zur Aggression haben. Dies ist bei einigen künstlerischen Produktionen ganz offenkundig, z. B. bei Grafitti, die bewusst auf Provokation setzen. Zeitgemäße Formen von Phantasie (. Abb. 4.1 zeigt eine Graffitiwand) mögen den einen oder anderen irritieren, erschrecken, gruseln, ihm vielleicht sogar aggressiv erscheinen. Aber eine genauere Betrachtung zeigt, dass frühere Formen von Phantasie und Symbolisierung, die uns vielleicht vertrauter sind, weil sie unseren eigenen Kinderbüchern entstammen, in ihren Grundthematiken doch recht ähnlich sind (. Abb. 4.2). Anna Freud hat schon 1922 in ihrer ersten Veröffentlichung »Schlagephantasie und Tagtraum« eine enge Verbindung zwischen Aggression und Phantasie hergestellt.
. Abb. 4.2. Frühere Ausdrucksformen von Phantasie: Märchenbuch von 1920
Fallbeispiel Sie berichtet über ein 15-jähriges Mädchen, das trotz ausgiebiger Tagträumereien nie in Konflikt mit der Realität geraten war. Vor der Einschulung hatte das Mädchen Phantasien von einem Knaben gehabt, der geschlagen wurde; damit verband sich eine autoerotische Befriedigung. Die Schlagephantasie hatte den geheimen Sinn: »Der Vater liebt nur mich.«
4.3 Entwicklungspsychologische Grundlagen: Phantasie, Spiel und Kreativität
In der Frühzeit der Psychoanalyse hat auch die russische Analytikerin Sabina Spielrein einen Aufsatz über »Die Destruktivität als Ursache des Werdens« (1912/1987) publiziert. Darin behauptet sie, dass sich die Energie eines Menschen in der Kindheit zunächst destruktiv äußert und dann durch Kultureinflüsse geläutert wird. Dass Aggression bereits am Beginn eines Schaffensprozesses steht, ist auch für viele Künstler deutlich. Der Marmor muss geschnitten und behauen, Ton mit den Fäusten bearbeitet werden; die Angst, den ersten Strich oder Farbklecks auf der jungfräulichen Leinwand zu platzieren oder die erste Seite eines Buches zu beschreiben, muss erst überwunden werden. Man denke nur an die Wut, mit der die ersten Seiten weggeworfen werden. Die erste Zeile, der erste Strich beschädigen etwas Makelloses, das nun wiedergutgemacht werden muss. Diese Schilderung deckt sich mit Konzepten der Wiedergutmachung ebenso wie mit anderen Aspekten von Aggression beim Schaffensprozess wie Trennung und Separation (Mannoni 1999). Fallbeispiel Auch im Alltag kann man den aggressiven Anteil bei kreativen Aktivitäten beobachten. Kris (1955) hat sehr anschaulich beschrieben, wie ein 3-jähriges Kind zu malen beginnt und das Blatt regelrecht mit dem Pinsel attackiert. Deutsch (1997) weist darauf hin, dass Kinder besonders am Beginn des Malens alles mit Farbe beklecksen und eine regelrechte Lust verspüren, alles zu beschmieren.
Aggression gehört in der Psychotherapie zu den am schwierigsten zu bearbeitenden Themen (SeiffgeKrenke 2007a). In diesem Kapitel soll verstärkt die positive Seite von Aggression betrachtet werden. Winnicott (1971/1997, S. 129) schrieb einmal: Es gehört zum Leben eines Kindes, dass es verletzt. Die Frage ist nur, wie es ihm gelingt, seine aggressiven Kräfte zu bändigen und zum Leben, zum Lieben, zum Spielen und später zum Arbeiten einzusetzen.
Anna Freud hat in ihrer Entwicklungslinie von der Autoerotik zum Spiel und vom Spiel zur Arbeit praktisch eine Operationalisierung der Idee Win-
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nicotts vorgenommen. Diese Entwicklungslinie beschreibt sie folgendermaßen: Das Kind muss lernen, an dem ihm gebotenen Material nicht uneingeschränkt Aggression und Destruktion auszuleben, sondern durch Beherrschung und hemmende Umformung das Spielmaterial in positiver und konstruktiver Weise zu gebrauchen, also bauen, planen und ähnliches. Es muss lernen, einen vorgefassten Plan zu Ende zu führen und sich von Unlust oder Schwierigkeiten auf dem Weg zum erwünschten Ziel nicht abschrecken zu lassen. Und schließlich muss es lernen, von der direkten zur zielgehemmten, sublimierten Triebbefriedigung voranzuschreiten. (A. Freud 1965/1982, S. 81)
Hier sind also bereits deutliche Wege der Umwandlung von Aggression in Spiel und Arbeit beschrieben. Für Winnicott war Aggression kein angeborener Trieb. Er nahm zunächst ganz im Sinne der Theorie Kleins die Existenz eines Todestriebes an, setzte sich dann aber später zunehmend davon ab. Von 1964 an postulierte er zwei Funktionen der Aggression: als Reaktion auf Enttäuschung und als eine von zwei Hauptquellen menschlicher Energie. Diese letztere Funktion soll im Folgenden ausführlich behandelt werden.
4.3
Entwicklungspsychologische Grundlagen: Phantasie, Spiel und Kreativität
Die Fähigkeit, frei zu spielen, hängt sehr stark von der Fähigkeit zur Symbolisierung ab. Deshalb ist es wichtig, sich mit den Prozessen der Symbolisierung zu beschäftigen. Die Entwicklungspsychologie hat in zahlreichen Studien Phantasie, Spiel und Kreativität bei Kindern und Jugendlichen untersucht, aus denen wir einige wichtige Ergebnisse herausgreifen wollen. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels wird dann detaillierter auf spezifische Phantasien und kreative Produktionen eingegangen.
Entwicklung des Spiels Freud (1920) hob den wunscherfüllenden Charakter des Spiels und dessen Möglichkeit zur Katharsis hervor. Durch Wiederholung mache sich das
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Kapitel 4 · Phantasien, Symbolisierungen und Kreativität als Ressourcen
Kind zum »Herrscher der Situation« (Freud 1920, S. 226) und füge der passiven Erfahrung ein aktives Gegenstück hinzu. Piaget (1951) betont besonders den kognitiven Charakter des Spiels und differenziert nach altersspezifischen Spielformen. So beschreibt er das sensumotorische Spiel des Kindes in den ersten beiden Lebensjahren mit großer Freude an Körperbewegungen und vielen Wiederholungen im Sinne einer »Funktionslust«. Das sensumotorische Spiel mit einem Gegenstand wie einer Rassel nimmt zwischen dem 7. und 30. Monat ab und wird von zunehmend komplexeren Handlungen mit Alltagsgegenständen (z. B. einer Tasse) abgelöst, die dazu dienen, dem Kind Informationen über diese Gegenstände und ihre Beschaffenheit zu vermitteln. Dieses Informationsspiel zeigt das Explorationsverhalten des Kindes sehr deutlich – u. a. mit der Konsequenz, dass Gegenstände zerlegt werden. Etwa im Alter von einem Jahr tritt erstmalig das Symbolspiel (Als-ob-Spiel oder Fiktionsspiel) auf, in dem das Kind einen Gegenstand seinen Wünschen entsprechend umdeutet. Dieses Symbolspiel ist für die frühe Kindheit, insbesondere das Vorschulalter und die beginnende Schulzeit, sehr charakteristisch. Gegenstände werden aus nur wenigen Merkmalen »erfunden« und können in beliebigen Funktionen eingesetzt werden: Ein Korb wird zum Piratenboot, ein Stuhl zur Lokomotive. Das Rollenspiel (. Abb. 4.3), in dem mehrere Personen fiktive Rollen bekleiden, ist bei 3-Jährigen noch nicht zu finden, nimmt aber dann ab dem Schulalter und in der mittleren Kindheit stark zu. Gegenwärtig spielen auch viele Jugendliche und junge Erwachsene fiktive Rollenspiele, z. B. im Internet. Für diese Spielform ist sehr wichtig, dass die Kinder miteinander kommunizieren (»Wir spielen jetzt Kochen«) und so den gemeinsamen Rahmen und die wechselseitigen Rollen festlegen. Soziale Lernprozesse (7 Kap. 5) wie Empathie und Rollenübernahme sind dazu notwendige Voraussetzungen; Blickkontakte und die Beobachtung des Spielpartners nehmen zu. Diese komplexen Formen des Spiels sind zu unterscheiden von frühen Formen, in denen etwa Kleinkinder zwar nebeneinander, aber ohne Bezug zueinander jeweils mit ihrem Gegenstand beschäftigt sind. Parallel zum Rollenspiel entwickelt sich eine weitere Spielform: das Regelspiel. Das Regelspiel setzt
. Abb. 4.3. Rollenspiel und Fiktion: Verkleidete Kinder
spezifische Kompetenzen im Erfassen und Einhalten von Regeln voraus, die oft einen Wettbewerbscharakter haben und deren Verständnis sich über einen längeren Zeitraum entwickelt. Am Beginn steht ein egozentrisches Regelverständnis, erst allmählich werden Regeln als Gegenstand von Vereinbarungen begriffen, die nur geändert werden können, wenn man einen Konsens findet. Das Regelspiel wird weit bis ins Jugendalter gepflegt und ist auch diejenige Spielform, die Erwachsene wählen. Spielen und die Fähigkeit zur Symbolisierung Spielen heißt für das Kind, das Symbolische vom Wirklichen zu unterscheiden. Das Kind ist sich dessen bewusst, dass Spielen bedeutet: so tun als ob. Das kleine Kind, das einen Kuchen backt, weiß, dass es ein Als-ob-Kuchen ist, wenn es andere damit füttert. 6
4.3 Entwicklungspsychologische Grundlagen: Phantasie, Spiel und Kreativität
Piaget (1951) hat unterstrichen, dass Kinder spätestens ab dem Zeitpunkt des Symbolspiels, in dem sie Gegenstände umdeuten und Fiktionen aufbauen, eine Art »Gegenwehr« gegen den Sozialisationsdruck und den Zwang zur Übernahme der Erwachsenen-Wirklichkeit vornehmen und sich so ein Stück eigener Welt erschaffen.
Kreativitätsentwicklung Die Kreativitätsforschung hat die Fähigkeit von Kindern und Jugendlichen untersucht, neue, ungewöhnliche Lösungen für spezifische Probleme zu finden. Als Gegenstück zur Intelligenzforschung hat sie einige sehr interessante und ungewöhnliche Perspektiven auf die schöpferischen Fähigkeiten eröffnet. Während es bei der Intelligenz um eine richtige Lösung geht, ist für die kreative Produktion das Finden möglichst vieler ungewöhnlicher Lösungswege charakteristisch. Man geht davon aus, dass dazu zwei verschiedene Denkprozesse, primär prozesshafte mit eher unbewussten und sekundärprozesshafte mit eher logischen Anteilen, in Verbindung treten müssen (Seiffge-Krenke 1974), deren Vermischung am ehesten in Zuständen leichter Dissoziation, etwa bei entspannenden Tätigkeiten, möglich ist. Kekule ist bekanntlich die richtige Anordnung der Atome für die Benzolring-Formel im Traum eingefallen. Kreative Lösungen, die eine neue Sicht der Dinge oder aber eine neuartige Verwendung von bisher Bekanntem enthalten, sollten stets ohne Zeitdruck möglich sein. Die Kreativitätsforschung ist in Deutschland und den USA nach einem Boom in den 60er und 70er Jahren sehr stark zurückgegangen. Erst seit Beginn der 90er Jahre gibt es wieder nennenswerte Forschung, wobei jedoch zumeist »Wunderkinder« untersucht wurden, eine Sonderform von oft recht einseitiger Begabung (Oerter u. Montada 2002). Frühere Forschungen gingen davon aus, dass jedes Kind und jeder Erwachsene Kreativität erlernen kann, wenn nur die entsprechend anregungsreichen Umweltbedingungen und ausreichend Zeit zur Verfügung stehen.
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4
Die frühen Kreativitätstests, auf denen neuere Verfahren aufbauen, beschäftigen sich mit ungewöhnlichen Perspektiven (»Was würde passieren, wenn ein so dichter Nebel fiele, dass man nur noch die Füße der Menschen sehen könnte?«) und ungewöhnlichen Verwendungsarten alltäglicher Gegenstände (»Was könnte man alles Ungewöhnliches mit Ziegelsteinen/Blechbüchsen etc. tun?«). Eine andere Form von Aufgaben besteht z. B. im Bemalen leerer Kreise. Letztlich kommt es darauf an, Phantasie, d. h. eine ungewöhnliche Sicht auf die Dinge, zu entwickeln. So kann man mehrere Kreise zu einer Figur verbinden, durch einen Kreis wie durch ein Fernrohr hindurchgucken oder auf einen Kreis wie auf Heringe in der Dose von oben schauen. Die Aufgabe »Circles« von Torrance (Seiffge-Krenke 1974) lautet: »Male jeden der 40 leeren Kreise so aus, dass daraus etwas Ungewöhnliches entsteht.« . Abb. 4.4 zeigt eine Auswahl der Antworten.
. Abb. 4.4. »Circles«, gemalt von einem 17-Jährigen
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Kapitel 4 · Phantasien, Symbolisierungen und Kreativität als Ressourcen
Auffälligerweise fand man Geschlechterunterschiede derart, dass männliche Kinder durchweg kreativer waren als weibliche Kinder, d. h. häufiger ungewöhnliche und neue Perspektiven und Einfälle entwickeln konnten (Seiffge-Krenke 1983). Jungen entwickelten nicht nur mehr verschiedene Perspektiven als Mädchen (»flexibility«), sondern hatten auch statistisch gesehen die selteneren Einfälle (»originality«). Um das 5., 10. und 13. Lebensjahr der Kinder zeigten die Kreativitätswerte spezifische Einbrüche, die mit den gesellschaftlichen Forderungen nach Anpassung bei der Einschulung dem starken Druck nach Gruppenkonformität in den Peer-Gruppen der mittleren Kindheit sowie zu Beginn der Adoleszenz erklärt wurden. Es scheint so zu sein, dass weibliche Kinder und Jugendliche sich von diesen gesellschaftlichen und peerbezogenen Forderungen nach alters- und geschlechtsstereotypem Verhalten (»Dafür bist du zu alt«; »Damit spielen nur Jungen«) stärker in ihrer kreativen Produktion beeinträchtigen lassen als ihre männlichen Altersgenossen. Allerdings muss man auch sehen, dass Mädchen, wenn es um Beziehungsaspekte geht, z. B. bei der Konstruktion von Phantasiefreunden, Jungen deutlich überlegen sind. Im Jugendalter finden wir enorme Zunahmen im Tagebuchschreiben, und auch dieser eher heimlichen, kreativen und phantasievollen Aktivität gehen weibliche Jugendliche häufiger nach als männliche (Seiffge-Krenke 2000a, 2001a). Analysen von Kinderzeichnungen verdeutlichen den Phantasiereichtum und die Kreativität von Kindern und Jugendlichen. Sie zeigen aber auch, dass es sinnvoll ist, sich mit Entwicklungsnormen im Zeichnen vertraut zu machen, um etwa einen »Kopffüßler«, die typische Mensch-Zeichnung eines etwa 3-Jährigen, angemessen einordnen zu können (Meili-Schneebeli 2000).
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4.4
Trauma, Verlust und Phantasie
Mit zunehmender Symbolisierungs- und Spielfähigkeit kann das Kind phasenspezifische Beziehungsphantasien entwickeln und diese spielerisch
inszenieren. Wenn Kinder die Möglichkeit haben, autonome Entwicklungsschritte in den dafür zur Verfügung gestellten Spiel- und Entwicklungsräumen zu unternehmen, können sie weitere Entwicklungsaufgaben beginnen und Schritt für Schritt bis zur Adoleszenz lösen: 5 die Fähigkeit zur Steuerung von libidinösen und aggressiven Triebimpulsen, 5 die intellektuelle und moralische Entwicklung, 5 die Integration in Schul- und Peer-Gruppe, 5 die Entwicklung eines hinreichend krisenfesten Selbstwertsystems, 5 die Neukonzeptualisierung der Identität, 5 die Möglichkeit, sich von den primären Liebesobjekten in altersadäquater Weise abzulösen und Intimität zu einem adoleszenten Liebespartner sowie einen Zukunftsentwurf bezüglich beruflicher Identität und Generativität zu entwickeln. Spiel, Phantasie und Kreativität sind also wesentliche Ressourcen für die Bewältigung altersentsprechender Entwicklungsaufgaben (Havighurst 1953), die die aktive Rolle betonen, die das Individuum zur Gestaltung seiner eigenen Entwicklung (»individuals as producers of their own development«) spielt.
Traumatische Erfahrungen Bei traumatisierten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen ist die Bedeutung einer schützenden Umwelt für Spiel und Symbolisierung besonders wichtig. Wir haben uns in 7 Kap. 2 mit depressiven, verlassenen, institutionalisierten Kindern beschäftigt, die nicht mehr auf Stimulation reagieren. Traumatisierungen sind umso gravierender, je jünger das Kind ist, weil ihm die psychische und kognitive Reife fehlt, mit dem Trauma umzugehen – sofern es überhaupt bewältigt werden kann. Hinzu kommt, dass die Familie als ein wesentlicher Schutzfaktor bei vielen traumatischen Erfahrungen gerade keinen Schutz bietet oder bieten kann.
4.4 Trauma, Verlust und Phantasie
Definition Eine Definition von Trauma muss dem systematischen Zusammenhang zwischen subjektiven und objektiven Faktoren gerecht werden. Subjektive Faktoren sind der Stand der kognitiven, affektiven, psychosexuellen und sozialen Entwicklung neben angeborenen und erworbenen somatischen Faktoren (z. B. Risikofaktoren wie frühkindliche Hirnschädigungen oder protektive Faktoren wie »easy temperament«). Vor diesem Hintergrund erlebt das Kind traumatogene, objektive Faktoren. Die traumatische Situation ist gekennzeichnet durch ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, die mit Gefühlen der Hilflosigkeit und schutzlosen Preisgabe einhergehen und so eine dauerhafte Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses bewirken (Fischer et al. 1996).
Für die Säuglings- und Kleinkindzeit lassen sich viele traumatische Situationen finden, in denen es anstatt zu hinreichend guten affektiv-kognitiven Austauschprozessen mit wichtigen Bezugspersonen zu gravierender Unter- oder Überstimulation, körperlicher Vernachlässigung oder Hineinpressen in bizarre Beziehungsschemata durch Projektionen psychotischer oder schwer depressiver Eltern kommen kann. Eine katastrophale, oft chronisch-traumatische Situation besteht im Falle eines von den eigenen Eltern misshandelten Kindes. Hier hilft die primäre Pflegeperson dem Kind nicht aus Zuständen von affektiver oder psychosomatischer Dysregulation, die z. B. mit Schreien oder motorischer Unruhe verbunden ist. Sie bietet sich nicht als beruhigendes, tröstendes und gutes Objekt an, sondern wird selbst zum Angreifer. Dies führt zur Aktivierung elementarer Vernichtungs- und Verlassenheitsängste. Das psychobiologische Schema, im Zustand von Angst und Not die primäre Pflegeperson als Schutz aufzusuchen (7 Kap. 3), ist blockiert, weil diese selbst zum Aggressor geworden ist. Das Kind kann einen elementaren Alarmzustand mit stuporösem Charakter bei gleichzeitiger ängstlicher Beobachtung der Umwelt zeigen (»frozen watchful-
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ness«). Wenn das Kind bereits über die Möglichkeit
zur Symbolisierung verfügt, versucht es oft verzweifelt, die Beziehung zu den Eltern dadurch zu halten, dass es alle Schuld bei sich sucht und die Illusion aufrechterhält, dass die Eltern im Prinzip gut und schützend wären, wenn das Kind nicht so schlimm, unruhig und böse wäre. Dies ist der Schlüssel zu der klinischen Beobachtung, dass misshandelte Kinder oft die Eltern schonen und zu Selbstbeschuldigungen bis hin zur Selbstschädigung neigen, z. B. durch Schlagen des Kopfes gegen die Wand. Traumatische Situationen können auch bei schweren körperlichen Erkrankungen des Vaters oder der Mutter (z. B. Krebs) sowie durch deren Verletzung oder Tod durch Verkehrsunfälle, kriminelle Angriffe, politische Verfolgung oder Krieg entstehen (Fischer u. Riedesser 1998; StreeckFischer 1999; Tas u. Wiesse 1995). Wenn beispielsweise der Vater eines Jungen auf dem Höhepunkt der ödipalen Ambivalenz erkrankt, einen Unfall erleidet oder stirbt, kann das zentrale traumatische Situationsthema darin bestehen, dass das Kind vorbewusst, unbewusst oder oft auch bewusst fürchtet, durch seine phasenspezifischen aggressiven Impulse die Schuld am Tod des Vaters zu tragen (Schacht 2001). Auch die schwere körperliche Erkrankung eines Kindes kann zu einer fortgesetzten oder vielfältigen traumatischen Situation werden, weil das Kind durch vielerlei Faktoren, die körperliche Symptomatik, die dadurch aktivierten Vorstellungen über die Verursachung, die massive Bedrohung des Körperbildes mit Desintegrations- und Verstümmelungsängsten sowie das Verlassenwerden durch die Eltern, die z. T. aus der Klinik geschickt werden, überfordert ist. Ein vorübergehender Zusammenbruch der narzisstischen und libidinösen Besetzung des Körpers und seiner Funktionen ist besonders in der Adoleszenz bedrohlich (Laufer u. Laufer 1984; Seiffge-Krenke 2007a).
Veränderungen von Spiel, Kreativität und Phantasie durch Traumata Ein von Leonore Terr (1981) geschilderter Entführungsfall beschreibt eindrucksvoll die starken Veränderungen in der Traum- und Phantasietätigkeit sowie die Einschränkung im Spiel, die durch ein
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Kapitel 4 · Phantasien, Symbolisierungen und Kreativität als Ressourcen
Trauma entstehen können. Die Kinder waren vor ihrer Entführung psychisch unauffällig und aus normalen Familien, entwickelten aber dennoch massive Beeinträchtigungen und Symptome, die langfristig anhielten. Fallbeispiel Die Kinder von Chowchilla Am 15. Juli 1976 kidnappten drei maskierte Männer einen Schulbus mit 26 Kindern, die sie für 47 Stunden gefangen hielten. Nach einer Irrfahrt, in deren Verlauf sie zweimal den Bus wechselten und schließlich in völliger Dunkelheit, mit verhängten Fenstern und ohne Nahrung und die Möglichkeit, eine Toilette zu besuchen, stundenlang zusammengekauert lagen, wurden sie in eine Erdhöhle gebracht. Hier mussten sie ein Kleidungsstück oder einen persönlichen Gegenstand zu ihrer Identifizierung abgeben, ehe die Entführer den Ausgang der Erdhöhle zuschaufelten. Die Kinder konnten sich schließlich selbst aus der Erdhöhle befreien, als das Dach einstürzte.
Leonore Terr (1981) zeigt den Einfluss von schweren Traumata auf Spiel und Kreativität bei diesen Kindern. Ihr Spiel hatte einen starken repetitiven Charakter. Immer wieder wurden Szenen von großer Aggressivität (Schieß- und Verfolgungsspiele, und zwar in zwanghafter Wiederholung) gespielt, die schließlich unterbrochen werden mussten. Sehr viele Kinder litten unter typischen Albträumen, in denen sie verfolgt und gekidnappt, gefesselt oder umgebracht wurden. Auch die Eltern hatten identifikatorische Träume, in denen sie starben. Einige Kinder entwickelten Rachephantasien. Die körperlichen Symptome, die die Kinder noch Monate nach der Entführung zeigten, nahmen Elemente aus der Entführung (Harn- und Kotinkontinenz, Schwindel und Erbrechen, Ohnmachten) wieder auf. Wie Terr (1995) in einer Nachuntersuchung schildert, litten die Kinder unter zahlreichen Ängsten und Einschlafstörungen. Auch die Schulleistungen sanken ab, weil sie unter Flashbacks litten, d. h., Szenen der Entführung wurden immer wieder neu durchlebt. Dies führte dazu, dass sie während des Unterrichts über lange Phasen abgelenkt und mit ihren Phantasien beschäftigt waren. Eindrucksvoll sind Terrs Untersuchungen des Spielverhaltens. Viele Kinder spielten gar nicht mehr, sondern zeigten ein ängstlich-anklammerndes Verhalten an ihre Mutter und waren nicht zu bewegen,
sich auf Spiele und Ablenkungen einzulassen. Es gab zwar einige Kinder, die in der Lage waren, das Drama der Entführung spielerisch zu inszenieren, indem sie sich mit dem Aggressor identifizierten, dies führte aber nicht zu einer Reduktion der Angst. Auffällig waren der Wiederholungscharakter und die zwanghafte Natur dieses Gun-Spiels: Das Kind als Täter rächte sich an den anderen und blieb doch Gefangener seines eigenen Spiels. Terr weist darauf hin, dass das Re-enactment immer in der gleichen Weise wiederholt wurde und nicht zu einer wirklichen Entlastung und damit Verarbeitung führte. Deshalb war es notwendig, die Kinder bei diesem Spiel zu unterbrechen. Die Kinder, die aktiv an der Befreiung durch Ausgraben beteiligt waren, hatten das Trauma nicht besser verarbeitet als die »Opfer«, sondern wiesen sogar noch mehr psychische Symptome auf. Aktivität während des traumatisierenden Ereignisses wirkte sich also nicht positiv auf die spätere Symptomatik aus. Terr differenziert zwischen drei verschiedenen Typen von Träumen, die in Zusammenhang mit dem Ereignis standen: 5 sich wiederholende Albträume, 5 wiederholende Träume, in denen verschiedene Episoden des Kidnappings aufkamen und in denen die Kinder sich gelähmt fühlten oder in denen sie getötet wurden, 5 Träume, in denen Vorzeichen für den Entführungsfall antizipiert wurden. Auch die Familien litten unter dem Trauma. Viele Eltern litten unter identifikatorischen Entführungsträumen. Terr (1995) berichtet, dass die Kinder, die in der Lage waren, ihre Gefühle in Worte zu fassen, also z. B. über ihre Angstträume berichten konnten, das Trauma besser verarbeiten konnten – wiederum ein Hinweis auf die Bedeutung von Verbalisierung und Symbolisierung. Allerdings gibt es in neueren therapeutischen Ansätzen Zweifel, ob die Erinnerung an traumatische Ereignisse wirklich gefördert werden sollte oder ob schädliche Effekte im Sinne einer Retraumatisierung überwiegen (Sachsse 2004).
4.4 Trauma, Verlust und Phantasie
Phantasie und Bindung oder Phantasie und Verlust? Studien über das imaginative Spiel von vernachlässigten und traumatisierten Kindern zeigen, dass das Spielverhalten zurückgeht, wenn die körperlichen und psychischen Bedürfnisse dieser Kinder nicht erfüllt werden. Besonders dramatisch lässt sich dies an der eingeschränkten Phantasie- und Spieltätigkeit von viktimisierten Kindern beobachten (Finkelhor 1995). Dies ist als Hinweis darauf zu werten, dass die Entwicklung von Phantasie an bestimmte Bedingungen gebunden ist. Auch die Beobachtung in der Studie von Terr, dass das Ausleben aggressiver Triebimpulse das Kind keineswegs von Ängsten oder Aggressionen befreit, zeigt, dass eine einfache Katharsishypothese zu kurz greift, um den Zusammenhang zwischen Phantasie, Spiel und Bewältigung zu erfassen. Nach den Erkenntnissen von Entwicklungspsychologie und Psychoanalyse lassen sich die Ursachen von Kreativität und Phantasie auf zwei gegensätzliche Erfahrungen zurückführen: zum einen auf Bindung, zum anderen auf Verlust. Die Bindungstheorie sieht einen engen Zusammenhang zwischen Bindung und Phantasie bzw. Kreativität. Bowlby (1973) stieß beim Studium der Lebensläufe von psychisch schwer gestörten Kindern und Jugendlichen immer wieder auf extreme, reale, frühkindliche Traumatisierung dieser Kinder und erkannte deren Auswirkungen auf die Entwicklung von Kreativität und Phantasie als sehr bedeutungsvoll. Bowlby war überzeugt, dass Verlusterlebnisse in der Beziehung zu den Eltern die Entwicklung eines Kindes grundlegend bestimmen können. Das Bindungssystem wird aktiviert, sobald eine äußere oder innere Gefahr auftaucht (7 Kap. 3). Bindungsverhalten und Explorationsverhalten stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang, wobei die Initiative und Steuerung für beide Verhaltensweisen vom Kind ausgehen (ebd.). Werden die Bindungsbedürfnisse des Kindes befriedigt, dann wird das Bindungssystem beruhigt und das Kind kann seiner Neugier in Form von explorativem Verhalten nachgehen. Einige Bindungsforscher (z. B. Cassidy 1999) gehen explizit davon aus, dass nur Kinder mit einer sicheren Bindung kreativ und phantasievoll sein können, also Exploration immer nur von
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einer sicheren Basis aus erfolgen kann. Die Beziehung zwischen Mutter und Säugling wird von Anfang an wechselseitig gestaltet (Dornes 1999), wobei das Explorationsbedürfnis eines Kindes durch Interaktion mit der Mutter und anderen relevanten Bezugspersonen in der frühkindlichen Zeit behindert, ja extrem verzerrt oder gestört werden kann, etwa durch mangelnde Bindungssicherheit der Mutter. Das feinfühlige Verhalten des Vaters beim Spiel ist eine wesentliche, bislang unterschätzte Voraussetzung für die Entwicklung von Bindungssicherheit, aber auch von Explorationsfähigkeit, Neugier und Kreativität (7 Kap. 7). Schon Winnicott (1965/2002) hatte auf den Austausch mit einer liebevollen Umwelt hingewiesen und die Bedeutung der Zuwendung eines Erwachsenen als wesentliche Voraussetzung für die weitere Entwicklung hervorgehoben. Alle diese Befunde deuten darauf hin, dass sichere Bindung an die Eltern und feinfühlige Herausforderung im Spiel notwendig sind, um beim Kind den Mut und die Ich-Stärke zur Eroberung neuer Lebensräume und zur Schaffung von reichen inneren Welten zu fördern. Obwohl dieser Zusammenhang unmittelbar logisch erscheint, gibt es andererseits auch Belege dafür, dass Kinder und Erwachsene, die zahlreiche Verlustereignisse erlebt haben, besonders kreativ sind. In ihrer Arbeit »Separation and creativity« postuliert Mannoni (1999) Individuation und Verselbstständigung des Kindes als notwendige Voraussetzung zur Kreativität. Wenn die Separation jedoch zu groß ist, z. B. durch Verlust der Eltern, ist es schwierig, damit produktiv umzugehen. Umso erstaunlicher ist es, dass es manchen Personen anscheinend gerade auf Grund der schwerwiegenden Verluste gelingt, kreativ zu sein. Künstler, v. a. Schriftsteller, die schwere biographische Verluste durch die Schöpfung eines bedeutsamen und kreativen Werks verarbeitet haben, sind ein Beispiel dafür. Auffällig sind Phantasien über die Erschaffung des Selbst (»fantasy of self-creation«), die bei Schriftstellern wie Edgar Allan Poe oder E. T. A. Hoffmann nachgewiesen wurden, die vielen Verlustereignissen ausgesetzt waren. Poe verlor seine Mutter im Alter von 2 Jahren und litt mit 17 an einer schwere Depression, nachdem die Mutter seines besten Freundes gestorben war. Im Alter von 27 Jahren verlor er seine Frau durch Tuberku-
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Kapitel 4 · Phantasien, Symbolisierungen und Kreativität als Ressourcen
lose – die Krankheit, der auch seine Eltern erlagen. Seit er 16 Jahre alt war, verfolgten ihn Angstträume, in denen eine eisige Hand über sein Gesicht strich und Frauen in weißen Kleidern ihn zum Mitgehen aufforderten. In seinen Werken hat er sich immer wieder mit dem Tod auseinandergesetzt; grausame und unerklärliche Morde durchziehen seine Geschichten (z. B. »The Murders in the Rue Morgue«). Auch Alfred Hitchcock und Ingmar Bergman haben grausame frühkindliche Erfahrungen von Tod, Zerstückelung und Gefangenschaft in kreativen Werken mit einer symbolischen Bildsprache verarbeitet. Diese Form der produktiven Verarbeitung ist jedoch eher die Ausnahme (Terr 1991, 1995), wie auch Analysen von Holocaust-Überlebenden belegen (Kogan 1995, 1998; Mannoni 1999). Offenkundig ist für kreative Produktionen ein Mindestmaß an zwischenmenschlichem Kontakt und Sicherheit notwendig; das wird am Beispiel des Tagebuchs von Anne Frank noch erläutert werden. Es bleibt also die Frage, ob man traumatische Erfahrungen überhaupt durch Phantasie und Spiel angemessen bewältigen kann. Die Tatsache, dass in traumazentrierten Therapien »innere Helfer« und ein »sicherer Ort« geschaffen werden (Krüger u. Reddemann 2007), unterstreicht, dass das Ich des Patienten durch symbolische Konstruktionen gestärkt und geschützt werden muss. Generell gilt, dass es besonderer Bedingungen bedarf, um belastende Erfahrungen kreativ verarbeiten zu können und Phantasien zu fördern, die die Entwicklung voranbringen. Diese sollen im weiteren Verlauf u. a. anhand der Konzepte des Übergangsobjekts und des Übergangsraums sowie der Bedeutung des Vorlesens erörtert werden.
4.5
Hilfreiche und tröstliche Phantasien
Um die entwicklungsfördernde Funktion von Phantasien zu verdeutlichen, sollen im Folgenden drei verschiedene Phantasien genauer dargestellt werden: 5 der Familienroman, 5 der phantasierte Freund, 5 die Rettungsphantasie.
Phantasien wurden besonders häufig im Jugendalter nachgewiesen, das vielfach als eine Phase der »zweiten Chance« gesehen wurde, in der bewältigt werden kann, was vorher noch nicht möglich war. Warum sind Phantasien von so großer Bedeutung für das Jugendalter? In dieser Phase werden Besetzungsenergien von den Eltern abgezogen und kurzzeitig, bevor sie auf die Gleichaltrigen und später auch auf die romantischen Partner gelenkt werden, auf das Selbst bezogen. Dies führt zu einem egozentrischen, narzisstischen Durchgangsstadium (7 Kap. 5), das mit erhöhter Selbstwahrnehmung und verstärkter Phantasietätigkeit verbunden ist. Blos (1973) beschreibt den Familienroman und Rettungsphantasien als typisch adoleszente Tagträume.
Der Familienroman Freud (1909) hat beschrieben, dass Kinder eine glamourösere Familie erfinden, um die realen Eltern idealisieren zu können – besonders in Zuständen, in denen sie auf sie böse oder von ihnen enttäuscht sind und sie loswerden wollen. Diese Phantasien bezeichnet er als »Familienroman«. Merkmale des Familienromans 5 Erhöhung des Status des Kindes 5 Unterstellung einer außerehelichen Beziehung der Mutter 5 Erhöhung des Status des Vaters 5 Geschwister als Bastarde
Wesentliche Merkmale des Familienromans liegen in der Erhöhung des Status des Kindes im Vergleich zu seinen leiblichen Geschwistern. Dies kann beispielsweise durch die Vorstellung realisiert werden, selbst Kind eines Vaters mit hohem Sozialstatus zu sein, also aus einer außerehelichen Beziehung der Mutter zu stammen. Fallbeispiel Hans Christian Andersen (1805–1875) Besonders eindrucksvoll ist der Familienroman des Märchenerzählers Hans Christian Andersen, der berichtet, dass er eigentlich auf einem Schloss als Kind einer noblen
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4.5 Hilfreiche und tröstliche Phantasien
Familie geboren worden sei, dort von seinen Eltern gekidnappt und dann in deren arme Familie gebracht worden sei. Er entwickelte eine fiktive Autobiographie, die gerade die schlimmsten Zeiten in Andersens Kindheit, Armut und Verlassensein, idealisierte. Tatsächlich war er der Sohn einer alkoholabhängigen Waschfrau, die früh starb. In der Geschichte »She was no good« schildert er diese biographischen Hintergründe. Obwohl er seine Mutter liebte, zögerte er nicht, sie mit 14 Jahren, nach dem Tod des Vaters, im Alkoholismus zurückzulassen. Er ging ans Königliche Theater in Kopenhagen und versuchte sich als Schauspieler. Dort traf er auf Jonas Collin, der ihn unterstützte und gewissermaßen ihm den Vater ersetzte. Er wurde von der Aristokratie gefördert, bekam ein Stipendium von Friedrich VI und begann schließlich, professionell zu schreiben. Als Märchenschriftsteller wurde er sehr berühmt. Seine Geschichte vom hässlichen Entlein beschreibt im Grunde seine Wandlung in einen schönen Schwan, und sein Bedürfnis zu schreiben war eng verbunden mit seinem Bedauern über die verlorene, idealisierte Kindheit. In Wirklichkeit war sein Leben dramatisch: Beide Großeltern waren manisch-depressiv, und Hans hatte über seine ganze Kindheit die Großmutter in die Psychiatrie begleitet, geängstigt und fasziniert von den »Verrückten« und den Geschichten, die sich die alten Männer und Frauen dort erzählten. In seinem Familienroman setzte Andersen den Reichtum seiner Imagination gegen das grausame, ärmliche, reale Leben. Sein ganzes Leben lang hatte er extreme Schwierigkeiten in Beziehungen. Wenn er Kindern vorlas, so mochte er es, wenn diese ihm von ferne zusahen und ihn aus der Distanz bewunderten. Nahe Berührungen konnte er nicht aushalten. Er blieb mit der Frage nach seinem wirklichen Vater beschäftigt und suchte bis in seine letzten Lebenstage eine Familie, die ihn adoptierte.
Freud hat schon 1908 die Beziehung zwischen den Kindheitserinnerungen eines Schriftstellers und seiner literarischen Produktion hervorgehoben. Je trauriger und schmerzhafter die Realität für das Kind sei, umso wichtiger sei auch die Fähigkeit für es selbst ebenso wie für seine Eltern, von einer anderen Welt zu träumen. Insofern ist der Familienroman eine wunscherfüllende Phantasie. Wie Person und Fonagy (1995) belegen, ist die Substitution nicht nur hilfreich zur Erklärung des gegenwärtigen, frustrierenden Lebens, sondern enthält auch eine Zukunftsperspektive. Ganz im Sinne einer
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Kreativitätsaufgabe »Was wäre, wenn ...?« eröffnet sie neue und ungewöhnliche Perspektiven für einen eigenen, zukünftigen Lebensentwurf.
Rettungsphantasien Die Adoleszenz ist eine Zeitspanne des Umbruchs, der Krise, der Infragestellungen, aber auch der kreativen Produktivität. Neue Fähigkeiten entwickeln sich, Selbstheilungskräfte helfen, frühere und gegenwärtige belastende Erfahrungen zu bewältigen. Aus diesem Grund sind Rettungsphantasien im Jugendalter sehr häufig (Seiffge-Krenke 2007a). Die Jugendlichen haben oft den Wunsch oder die Phantasie, dass jemand kommt, der alle Probleme für sie löst. Statt die Lebensaufgaben selbst zu bewältigen, hofft der Jugendliche, dass die Lebensumstände für ihn diese Aufgabe übernehmen. Er erwartet, dass die Lösung des Konflikts erleichtert wird oder überhaupt umgangen werden kann, indem man für ihn eine wohlwollende Umgebung schafft. Die Rettungsphantasie ist eng verbunden mit dem Familienroman und enthält ebenfalls eine Überschätzung, ja Idealisierung der Eltern, die als Abwehr aggressiver Impulse interpretiert werden kann. Die Überschätzung der Eltern wird auf die Umgebung übertragen, die dem auserwählten Kind Gunst und Reichtum gewähren könnte (Blos 1973). Fallbeispiel Eine Patientin entwickelte, ausgelöst durch ein Hochzeitsfoto ihrer Eltern, auf dem der Bräutigam einen Gips am Arm trägt, eine Rettungsphantasie über ihren Vater. Dieser hatte sich die Verletzung zugezogen, als er die schwangere Mutter bei einem Sturz aufgefangen hatte. Die Patientin sah ihren Vater als Retter, der nicht nur ihre Mutter, sondern auch sie selbst gerettet hatte (7 Kap. 7). Eine andere Rettungsphantasie stammt von einem Jugendlichen aus einem extrem schwierigen Elternhaus mit ständig wechselnden neuen Partnern beider Eltern, der sich hin- und hergeschoben fühlte zwischen den verschiedenen Familien und kein Zuhause hatte. Dieser Jugendliche entwickelte die Phantasie, er sei ein Schneeleopard, lebe im Himalaja, könne sich die Tiere reißen, wie er wolle, und sei autonom und völlig unabhängig. Eines Tages griff dieser Junge den Therapeuten tatsäch-
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Kapitel 4 · Phantasien, Symbolisierungen und Kreativität als Ressourcen
lich an, beinahe wie ein Schneeleopard, mit geschlossenen Augen ihn umkreisend und dann anspringend. Erst als der Therapeut ihn aufforderte, die Augen zu öffnen, schreckte der Junge zusammen und ließ von ihm ab. In der weiteren Arbeit konnte ihm der Therapeut deutlich machen, dass man als Schneeleopard im Himalaja zwar autonom ist, aber auch nie die Wärme und das Verständnis eines Menschen kennen lernt.
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Der imaginäre Gefährte
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Phantasiefreunde wurden schon recht früh in entwicklungspsychologischen Studien an klinisch unauffälligen Kindern entdeckt.
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Definition
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Imaginäre Gefährten sind »unsichtbare, mit einem Namen versehene Personen, die für den Konstrukteur über einen längeren Zeitraum psychische Realität haben und auf die er sich in seiner Alltagskommunikation bezieht« (Svendsen 1934, S. 985).
Solche imaginären Gefährten können am Familienesstisch Platz nehmen, vom Kind gefüttert werden und sich dabei sehr schlecht benehmen, das Kind beim Spiel und bei den Hausaufgaben begleiten und sogar dafür verantwortlich gemacht werden, dass sie das Zimmer des Kindes in so große Unordnung gebracht haben (. Abb. 4.5). Die Lebhaftigkeit solcher Phantasien und die Tatsache, dass sie über längere Zeit aufrechterhalten
werden können, irritieren nicht selten Eltern und Therapeuten. Allerdings sind imaginäre Gefährten durch ihre Realitätsorientierung und die Tatsache, dass sich der Konstrukteur immer der Schaffung dieses Gefährten bewusst ist, klar von kindlichen Psychosen abzugrenzen: Das Kind, der Jugendliche fühlt sich dem imaginären Gefährten niemals ausgeliefert; im Gegenteil, dieser »sehr spezielle Freund« kann beliebig ausgestaltet, verändert und manipuliert werden. Konstrukteur und imaginärer Gefährte sind demnach klar voneinander getrennt. Die Strukturierung und Ausgestaltung dieser Phantasie obliegt eindeutig dem Kind, das auch deren Dauer bestimmt. Der imaginäre Gefährte ist dabei klar von anderen imaginativen Aktivitäten abzugrenzen, wie der Schaffung eines Parakosmos (Mackeith 1983), einem vergleichsweise selten auftretenden Phänomen der Erschaffung einer privaten Welt, sowie von Vorläufern eines BorderlineSyndroms (Myers 1976). Ein imaginärer Gefährte hat eindeutigen Objektcharakter, besitzt einen Namen, ein Geschlecht, ein genau definiertes Aussehen und ist mit sehr individuellen Wesenszügen ausgestattet, die der Konstrukteur auch im Laufe der Zeit beliebig verändern kann (. Abb. 4.6). Wir finden allerdings widersprüchliche Angaben über die Inzidenz des imaginären Gefährten und über das Alter, in dem eine solche Phantasiekonstruktion auftreten kann. Die Anteile schwan-
16 57 18 19 20 . Abb. 4.5. Imaginärer Freund
. Abb. 4.6. Phantasiefreundin in einer Kinderzeichnung
4.5 Hilfreiche und tröstliche Phantasien
ken etwa in einem Range von 18–30 (SeiffgeKrenke 2000a), wobei höhere Zahlen bei Einzelkindern gefunden wurden (Taylor 1999). Während die meisten Autoren die frühe bzw. mittlere Kindheit als typisches Alter für die Konstruktion eines imaginären Gefährten angeben, sehen Masterson (1975) und Schaefer (1969) auf der Basis ihrer empirischen Befunde die frühe Adoleszenz als die eigentliche Periode an, innerhalb derer imaginäre Gefährten konstruiert werden. Die Befunde zu Geschlechterdifferenzen sind wesentlich konsistenter und zeigen, dass imaginäre Gefährten häufiger bei weiblichen Kindern und Jugendlichen zu finden sind (Seiffge-Krenke 1997b). Auch beim Blick auf das Geschlecht dieser Phantasiekonstruktionen zeigt sich eine eindeutige Präferenz: Männliche wie weibliche Kinder und Jugendliche entwickeln häufiger eine imaginäre Freundin als einen Phantasiefreund. Funktionen von imaginären Gefährten (Seiffge-Krenke 2000a) 5 Kompensation von Defiziten im Beziehungsbereich 5 Mittel zur lmpulskontrolle 5 Abwehr narzisstischer Kränkungen 5 Ausdruck von Omnipotenzgefühlen
Ein imaginärer Gefährte kann in Abhängigkeit vom Entwicklungsniveau und bestimmten biographischen Gegebenheiten sehr unterschiedliche Funktionen erfüllen. Nagera (1969) hat eine umfangreiche Kollektion von Fallstudien vorgelegt, die zeigt, dass Gefühle von Einsamkeit, Verlust, Verlassenwerden oder Zurückweisung ein Kind dazu veranlassen, einen imaginären Gefährten zu konstruieren, der in schwierigen Lebensumständen und bei Beziehungsdefiziten (wie dem Verlust oder der Trennung von Eltern oder Freunden) kompensatorisch helfen kann und dem Kind eine imaginäre Beziehung bietet, in der es Liebe und Unterstützung, aber auch Begleitung in der Belastung des Alleinseins und Verlassenwerdens erleben kann. Konsequenterweise verschwindet diese Konstruktion, wenn das Kind tatsächlich reale Freunde findet (Jalongo 1984; Benson u. Pryor 1973).
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Weitere Funktionen des imaginären Gefährten betreffen seine Hilfe bei der Impulskontrolle (wenn er etwa alle »bösen« Dinge tun darf und der Konstrukteur ihn dann ermahnen und erziehen muss). Manche Kinder entwickeln auch einen imaginären Gefährten, der sie dann wiederum instruiert, ihr Verhalten zu kontrollieren. Piaget (1951) hat die Übergangsfunktion des imaginären Gefährten herausgearbeitet und das Phänomen mit der Ich-Entwicklung in Verbindung gebracht, in der ein imaginärer Gefährte emotionale Unterstützung im Dienste der Individuation und Differenzierung anbietet. Die Funktion des imaginären Gefährten als Helfer bei der Verarbeitung narzisstischer Kränkungen wird in der Arbeit von Ruth Lax (1990) sehr deutlich, die einen »älteren Bruder« beschreibt, der alles hat und alles kann, was dem kleinen Mädchen fehlt. Fraiberg (1959) und Bach (1971) berichten, dass der imaginäre Gefährte eine Projektion der Gefühle des Kindes von Omnipotenz in einer Situation schmerzhafter Abhängigkeit darstellt. Trotz realistischer Wahrnehmung ihrer eigenen Begrenzung neigen Kinder dazu, einen Spielgefährten als »narzisstische Wache« (Benson 1980) zu konstruieren. Verschiedene Studien beschäftigten sich mit der Hypothese, dass die Konstruktion eines imaginären Gefährten mit einer guten psychischen Anpassung bei Kindern und Jugendlichen zusammenhängt, und untersuchten dabei v. a. Kreativität und soziale Fähigkeiten dieser Kinder. Vorschulkinder mit imaginärem Gefährten zeigten einen größeren Prozentsatz von selbst initiiertem und kreativem Spiel und nahmen rege an familiären und Freundschaftsaktivitäten teil. Auch fortgeschrittene Sprachfertigkeiten und fortgeschrittene soziale Fähigkeiten wie Kooperation und Empathie wurden häufiger bei Kindern gefunden, die einen imaginären Gefährten hatten. Es zeigte sich, dass auffällig viele Erstgeborene und Einzelkinder einen imaginären Gefährten hatten (7 Kap. 8) und imaginäre Gefährten bevorzugt bei Kindern und Jugendlichen ausgebildet wurden, wenn ein Elternteil erkrankt oder im Krankenhaus war oder wenn sich die Eltern scheiden ließen. Auch im Jugendalter steht die Konstruktion von imaginären Gefährten mit positiver Anpassung, d. h. mit Kreativität, Kompetenz im Lösen von Pro-
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Kapitel 4 · Phantasien, Symbolisierungen und Kreativität als Ressourcen
blemen und sozialen Fertigkeiten wie hoher Empathie, in Beziehung (Seiffge-Krenke 2001a). Besonders bei den imaginären Gefährten im Jugendtagebuch, die nun geschildert werden, ist auffällig, dass es sich um eine sehr individuelle und kreative Symbolisierungsform handelt.
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. Abb. 4.7. Anne Frank
Kreative Tätigkeiten: Malen und Schreiben
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Im Folgenden wollen wir uns mit dem Malen und dem Schreiben beschäftigen. Es sind dies zwei kreative Tätigkeiten, denen offenkundig eine große Bedeutung als Ressource bei der Verarbeitung belastender Erfahrungen zukommt. Sie werden in Abhängigkeit vom Alter und Geschlecht ganz unterschiedlich genutzt. Malerischer Ausdruck ist eher typisch für frühere Entwicklungsphasen und gilt in der Adoleszenz als »zu kindlich«. Jugendliche dagegen nutzen bevorzugt eher verborgene Formen der Selbstexpression, z. B. das Tagebuch oder Internetforen. Die entwicklungsfördernde Funktion dieser wichtigen Ressourcen ist bislang weitgehend unterschätzt worden – teilweise natürlich deswegen, weil sie sich außerhalb des Einflussbereichs und der Wahrnehmung von Erwachsenen vollzieht.
Tagebuchschreiben zwischen Abwehr und Wunscherfüllung In der Forschung wie im Alltagsleben hat das Tagebuchschreiben, das v. a. für das Jugendalter typisch ist, ein eher zwiespältiges Interesse von Erwachsenen auf sich gezogen. Das offenkundig private Schreibbedürfnis von Jugendlichen, die in der Schule vielfach mit Schreib- und Leseunlust imponieren, ist tatsächlich ein Phänomen, das einiger Klärung bedarf. Die Tatsache, dass sich Jugendliche gegenwärtig in virtuellen Chatrooms, nicht selten zusätzlich zum Tagebuchschreiben, engagieren, unterstreicht die Bedeutung des Austauschs mit einer möglichst nicht zu konkreten Person, mit der sich Beginn, Ende und persönliche Ausgestaltung der Kommunikation kontrollieren lassen. Das Tagebuch wird als geheimes Dokument in der Regel versteckt; die wenigen publizierten Tagebücher wie
das von Anne Frank oder Danielle Sarrera wurden erst nach dramatischen Ereignissen wie Tod oder Suizid der Schreiber gefunden – und häufig auch durch Erwachsene überarbeitet und verändert. Dies gilt auch für das Tagebuch von Anne Frank (. Abb. 4.7), das erst nach dem Tod ihres Vaters unverändert publiziert werden konnte. Liebe Kitty! Bis heute hatte ich wirklich keine Zeit, um wieder zu schreiben. Donnerstag war ich den ganzen Nachmittag bei Bekannten, Freitag hatten wir Besuch und so ging es bis heute. Harry und ich haben uns in dieser Woche gut kennen gelernt, er hat mir viel von sich erzählt. Er ist allein zu seinen Großeltern bis hier nach Holland gekommen, seine Eltern sind in Belgien. Harry ging bisher nur mit einem Mädel, Fanny. Ich kenne sie als ein Vorbild von Sanftmut und Langeweile. Seit Harry mich kennen gelernt hat, hat er entdeckt, dass er an Fannys Seite beinahe einschläft. Ich bin nun für ihn so eine Art Belebungsmittel. Ein Mensch kann nie wissen, wozu er noch gut ist. Deine Anne
Tagebuchforschung gibt es seit 1930 (die ersten Studien wurden von Charlotte Bühler durchgeführt), und an der Attraktivität dieses Mediums hat sich über Dekaden wenig geändert. Im Erwachsenenalter gibt es nur einen kleinen Prozentsatz Tagebuchschreiber (ca. 5), fast immer aus traurigem Anlass wie Scheidung, Trennung oder Tod des Partners. Manchmal schreiben auch Patienten, wenn sie eine Analyse oder Therapie beginnen, ein Tagebuch. In mehreren Studien (Seiffge-Krenke 1987, 2001b) zeigte sich,
4.6 Kreative Tätigkeiten: Malen und Schreiben
dass Tagebuchschreiben auch heute noch unter Jugendlichen recht verbreitet ist. Rund 40 der befragten 12- bis 20-Jährigen führt ein Tagebuch; der Prozentsatz der weiblichen Tagebuchschreiber liegt mit 53 wesentlich über dem der männlichen (12). Über ähnliche Proportionen und Geschlechterunterschiede berichten auch Zinnecker et al. (1997). Die meisten Tagebücher werden etwa im 12. Lebensjahr begonnen. Nach einem Maximum der Schreibaktivität in der mittleren Adoleszenz verliert das Tagebuchschreiben ab dem Alter von 16 Jahren immer mehr an Bedeutung. Es wird nach Auskünften in meinen Studien am häufigsten als Gedächtnisstütze verwendet (37). Externe Anregungen (»Meine Freundin hat auch eins«) werden als zweithäufigster Grund für den Schreibbeginn genannt (27), knapp gefolgt von dem Bedürfnis, durch das Tagebuch einen Vertrauten zu gewinnen (23). Auf den ersten Seiten des Tagebuchs von Anne Frank wird dieses Motiv ebenfalls sehr deutlich, denn dort ist zu lesen: »Du, liebes Tagebuch, sollst mein Gesprächspartner sein.« Schließlich waren für immerhin 13 der Jugendlichen einschneidende, persönliche Ereignisse wie Umzug oder Trennung der Eltern ein Anlass dafür, mit dem Schreiben zu beginnen. Die Tagebücher von Jungen und Mädchen sind vom Schreibstil her sehr verschieden aufgebaut. Jungen schreiben, wie erwähnt, seltener Tagebuch. Sie schreiben reportageartiger, mit einer engen Anbindung an Orte, Zeiten und Aktivitäten. Typisch sind Reisebeschreibungen. Mädchen beschreiben dagegen sehr stark Beziehungsepisoden: ihre Beziehungen zu anderen, zu ihren besten Freundinnen, zum anderen Geschlecht und – sehr viel seltener – zu Eltern und Lehrern. Auch der eigene Körper, körperliche Veränderungen, die Beschäftigung mit den Reifungsvorgängen stehen sehr im Zentrum. Dabei spielen Phantasien über den Körper und beginnende romantische Beziehungen eine große Rolle. Die phantasierten Beziehungen haben stark idealistischen Charakter (7 Kap. 5). Nachdem eine Neuauflage des Tagebuchs von Anne Frank (1992) nach dem Tod ihres Vaters erschienen war, wurde offenkundig, wie sehr sich Anne für ihre körperlichen Veränderungen interessierte und diese mit einer Mischung aus Neugier, Stolz und Ängstlichkeit beschrieb. Die Ver-
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änderungen des Körperkonzepts, die beginnenden heterosexuellen Interessen und enge Beziehungen zu gleichaltrigen Mädchen scheinen ein wichtiger Fokus in vielen Mädchentagebüchern zu sein (7 Kap. 5). Allerdings gibt es auch Ausnahmen, die eher den Abwehrcharakter verdeutlichen. Im Jugendtagebuch von Karen Horney (Horney-Eckard 1980) beschäftigen sich beispielsweise nur 2 der Eintragungen mit dem Körper, und dann auch nur in einer sehr oberflächlichen Weise, bezogen auf Frisur und Kleidung (»Ich habe mein Haar heute hochgesteckt«). Der Prozentsatz körperbezogener Eintragungen in einer Vergleichsstichprobe von 40 Tagebüchern gleichaltriger Mädchen, die im Zeitraum zwischen 1919 und 1987 verfasst worden waren, lag dagegen konstant bei 21 (SeiffgeKrenke u. Kirsch 2002). Dagegen gab es in den Jugendtagebüchern von Karen Horney (. Abb. 4.8) viele emphatische Äußerungen über ihre Schule (»Sie macht mir unaussprechliches Vergnügen«) und eine große Anzahl schwärmerischer Eintragungen über Lehrer. Angesichts der Bedeutung, die der Körper, Mutterschaft und Sexualität in Karen Horneys späterem Leben (Paris 1997), v. a. aber in ihren Schriften einnimmt (z. B. Horney 1985), müssen wir hier von einem massiven Abwehrgeschehen ausgehen. Gefühle und Reflexionen über den Körper, die in ihren Jugendtagebüchern unterdrückt werden, kommen dann sehr deutlich in dem letzten ihrer Tagebücher zum Ausdruck, das sie als inzwischen junge Erwachsene vor und nach der Heirat mit Oskar Horney führte.
. Abb. 4.8. Karen Horney
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Kapitel 4 · Phantasien, Symbolisierungen und Kreativität als Ressourcen
Imaginäre Gefährten in Tagebüchern Insgesamt zeigen sich zahlreiche Hinweise auf das Vorliegen von imaginären Gefährten in Tagebüchern: In 45 unserer Tagebücher wurde ein imaginärer Gefährte explizit angesprochen und auch ausgearbeitet (Seiffge-Krenke 2001b). Er stellte einen Partner mit einem Namen und einer sehr individuellen Persönlichkeit dar, der dem Schreiber mehr oder weniger ähnlich war. In einigen Tagebüchern werden die v. a. weiblichen imaginären Gefährten gleich am Beginn eingeführt, ihre Charakterzüge und Eigenschaften werden genau beschrieben, wie das folgende Beispiel zeigt: Fallbeispiel Wer ist Kathrin?? Was bedeutet mir Kathrin? Kathrin ist ein liebenswertes Mädchen, das sich sehr anmutig bewegt. Sie ist sehr hübsch, wenn sie glücklich ist. Sie hat die unglaublichsten dunkelbraunen Augen, die ich jemals gesehen habe, wahnsinnig ausdrucksvoll – manchmal wie Sterne, dann wieder wie das Tote Meer, so tief, ruhig und traurig geweitet. Aber das ist nur, was eine Freundin von außen sehen kann. Richtig, durch ihre Augen kann ich genau in sie hineinsehen, aber dennoch weiß ich sehr wenig über ihr wirkliches inneres Leben. Ich weiß zum Beispiel nicht, wie ihre Beziehung zu Gott wirklich ist – ich könnte mich also irren. Was ist Kathrin noch? Intelligent, zielstrebig, leidenschaftlich, hilfsbereit, manchmal ein bisschen schwer zu verstehen, manchmal bemuttert sie wirklich jeden, aber so ist sie halt, und ohne dies würde sie eben nicht Kathrin sein. Dann gibt es Zeiten, wo ich den Eindruck habe, dass sie wirklich alles perfekt macht, und bin froh, wenn ich einen Fehler finde. Außerdem ist sie ziemlich schweigsam, und es dauert relativ lange, bis sie jemandem vertraut, sie scheint eine ganze Menge zwischen sich und Gott auszuhandeln, an dem sie sich wohl ziemlich festhält. Ich beschreibe sie, aber wer ist sie wirklich? Wie lange werde ich noch brauchen, um einen kleinen Millimeter näher an die richtige Antwort zu kommen ...?!?
Imaginäre Gefährten sind in Tagebüchern weit verbreitet. Die Zeit der Konstruktion und Elaboration ist auf die mittlere Adoleszenz begrenzt, wenn die Schreibaktivität am höchsten ist. Textmerkmale des Tagebuchs wie sequentieller Dialog, Grüße, Verabschieden, Fragen und Kommentierungen unterstreichen die kommunikative Natur des geheimen Dokuments. Der imaginäre Gefährte ist dem Schrei-
ber ähnlich und vorwiegend weiblich. Er scheint dann im Verlauf der Adoleszenz – dies kovariiert vermutlich mit dem sich ankündigenden Ende des Schreibens – an persönlicher Kontur zu verlieren und wird schließlich von den älteren Jugendlichen kaum noch erwähnt. Mit jedem Schreiber, der uns seine Jugendtagebücher zur Auswertung freigegeben hatte, wurde ein ausführliches, semistrukturiertes Interview geführt, das u. a. retrospektiv nach dem imaginären Gefährten im Tagebuch fragte (Fritz 1988). Erstaunlicherweise gab die Mehrzahl der inzwischen Erwachsenen an, sich kaum an einen solchen Phantasiefreund zu erinnern, oder beschreibt ihn nur sehr flüchtig und global. Dies traf auch auf die Erfinderin von Kathrin zu. Obwohl sie sich in ihrem Tagebuch sehr lange und sehr intensiv mit dieser Phantasiefreundin auseinandergesetzt hatte, hatte sie nun keine wesentlichen Erinnerungen mehr an sie, »bestenfalls noch an den Namen, aber das hatte keine Bedeutung« (ebd., S. 355). Tagebuchschreiber ab dem Alter von etwa 17 Jahren verwendeten überwiegend keinen imaginären Gefährten mehr im Tagebuch, und über zwei Drittel der inzwischen erwachsenen Probanden schrieben inzwischen kein Tagebuch mehr. Dies lädt zu Hypothesen über die Funktion von Tagebüchern und speziell von imaginären Gefährten für die Entwicklung von Jugendlichen ein. Unsere Daten lassen den Schluss zu, dass eine solche Konstruktion im Ablösungsprozess von den Eltern und der Neustrukturierung der Identität sehr hilfreich ist, dass sie aber an Bedeutung verliert, wenn der Übergangsprozess vorangeschritten ist und sich die Identität stabilisiert hat. Die Textmerkmale der Tagebücher, wie wir sie beschrieben haben, deuten an, dass ein Tagebuch einen Objektcharakter hat, der an Übergangsobjekte (Winnicott 1969) erinnert. Solche Objekte helfen kleinen Kindern, ihre ersten Schritte zu größerer Autonomie zu vollziehen, sind aber möglicherweise auch für Jugendliche in der Phase der »zweiten Individuation« (Blos 1967) von Bedeutung. In der Tat haben Lundy und Potts (1987) auf die Kollektion solcher Übergangsobjekte bei Jugendlichen aufmerksam gemacht. Auch Baruch (1971) unterstreicht die Funktion des Tagebuchs als ein Übergangsobjekt in der adoleszenten Entwicklung. Möglicherweise ist der Geheimhaltungsmodus dieses Dokuments von großer Bedeutung, aber auch
4.6 Kreative Tätigkeiten: Malen und Schreiben
das Schreiben als Form der Selbst- und Fremdexploration. Waterman et al. (1977) haben die Bedeutung des expressiven Schreibens für die Identitätsbildung herausgearbeitet. Die Modellierung und Restrukturierung der Identität und der Vergleich mit signifikanten anderen sind wichtig und sicher hilfreich, wenn diese dem Konstrukteur ähneln. Wahrgenommene Ähnlichkeit und weibliches Geschlecht sind auch die hervorragenden Charakteristika des imaginären Gefährten. Es scheint, dass sich zur Bewältigung der Übergangsperiode ein inneres Arbeitsmodell (»inner working model«) bewährt, das konkret und nicht zu komplex ist und eher Ähnlichkeiten als Unterschiede hervorhebt.
Malen: Der leere Raum wird gefüllt Paul Klee hat sich über seine Kunst und die Bilder seines Sohnes Felix folgendermaßen geäußert: Die Herren Kritiker sagen oft, dass meine Bilder Kritzeleien oder Schmierereien von Kindern gleichen. Mögen sie ihnen gleich sein. Die Bilder, die mein Sohn Felix gemalt hat, sind bessere Bilder als die meinen. (zit. nach Fineberg 1995, S. 110)
Viele Künstler ließen sich durch Kinderzeichnungen inspirieren. Aber was macht deren Faszination aus? Kinder sehen die Welt mit anderen Augen: frischer, farbiger und authentischer. Wenn Kinder zeichnen und malen, dann sind sie ganz bei sich, ihren Gedanken, Gefühlen und Erlebnissen. Dies wird sehr deutlich am Entwicklungsverlauf des Zeichnens, den Meili-Schneebeli (2000) darstellt: Fast alle Kinder beginnen im Verlauf des 2. Lebensjahres mit Tätigkeiten, die unter dem Begriff des Zeichnens zusammengefasst werden. Für den Beginn des Zeichnens (1.–4. Lebensjahr) sind Kritzeleien charakteristisch, in denen das Kind Bewegungserfahrungen wie Schwingen, Schweben und Drehen zum Ausdruck bringt. Bei diesen Kritzelzeichnungen ist der ganze Körper des Kindes beteiligt. Im Alter von etwa 3–4 bis zum Alter von etwa 5 Jahren malt das Kind Tastkörper wie den Kopffüßler (. Abb. 4.9), wo in der Kombination von Kreisen und Strichen das Tasten des Kindes, die Bedeutung der Hände und Füße für die Fortbewegung, das Fühlen und Aufnehmen verdeutlicht werden.
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Bei Kopffüßlern handelt es sich um ein transkulturelles Phänomen, das nicht nur 4-Jährige zeichnen, sondern sich in der Kunst von der Prähistorik bis heute in den Bildern psychisch Kranker, aber auch bedeutender Künstler wie Antes findet. In der Altersstufe zwischen 5 und etwa 9 Jahren zeichnet das Kind Innenweltansichten der Außenwelt (ebd.). Das Kind stellt nicht nur seinen visuellen Eindruck, sondern subjektiv Erlebtes dar. Einfache Elemente wie Ovale, Kreise, Vierecke und Zickzacklinien werden zu einem Bild verbunden, in dem sich die persönliche Bedeutung für das Kind, etwa in Form von übergroßen Menschendarstellungen im Vergleich zu kleinen Häusern, ablesen lässt. In dieser Altersstufe, die die Grundschulzeit umfasst, lernt das Kind die Schriftsprache, richtiges und falsches Schreiben, und erfährt in ganz ähnlicher Weise durch Korrektur und Nachahmung die Existenz bestimmter Zeichenschemata (so wird ein Haus üblicherweise durch einen Kasten mit einem dreieckigen Dach dargestellt). Meili-Schneebeli hält die Anpassung an solche Schemata für kreativitätshemmend. Lassen sich die Zeichnungen von Kindern bis ungefähr zu ihrem 8. Lebensjahr noch als Ausdruck körperlich empfundener und wiedergegebener Einfühlung in die Gesamtsituation interpretieren, so bemühen sich Kinder im Alter zwischen ca. 8 und 12 Jahren verstärkt um ein wirklichkeitsgetreues Abbilden der äußeren Ansicht von Gegenständen und Lebewesen, wobei sie sehr viel Freude am Detail (Knöpfe, Taschen, Fingernägel) zeigen. Ab dem Alter von 12–16 Jahren stoßen Jugendliche auf erhebliche Schwierigkeiten bei der Frage,
. Abb. 4.9. Kopffüßler, gezeichnet von einem 3-jährigen Jungen
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Kapitel 4 · Phantasien, Symbolisierungen und Kreativität als Ressourcen
welche Wirklichkeiten und Sichtweisen sie eigentlich in Zeichnungen umsetzen sollen. Daher kann man in dieser Altersspanne sowohl sehr realitätsnahe als auch gegenstandslose Zeichnungen finden (Bachmann 2002). Vergegenwärtigen wir uns, dass viele Kinder spätestens ab der Pubertät keine Lust mehr zum Zeichnen haben und dass die meisten Erwachsenen das Zeichnen und Malen ganz aufgegeben haben. Der Höhepunkt der Kinderzeichnung ist gleichzeitig der Höhepunkt der Aneignung von Lesen und Schreiben. Was im ersten Moment nach einem gewaltigen Fortschritt aussieht, hat offenkundig Folgen für die weitere Beschäftigung mit dem Malen. Die Kinderzeichnungen verlieren ihren individuellen Charme, sobald Konventionen auf die zeichnerische Produktion übertragen werden. Zeichnen und Malen büßen dann ihre zentrale Stellung als Ausdrucks- und Darstellungsmittel ein. In der Adoleszenz mag erschwerend hinzukommen, dass eine so öffentliche Symbolisierung den Jugendlichen nicht mehr angemessen erscheint. In der Tat gibt es zwar zahlreiche Untersuchungen über Kinderzeichnungen, aber fast keine über Erwachsenenzeichnungen. Eine Ausnahme ist die Untersuchung von Deutsch (1997), der eine frühe Studie von van Sommers (1984) replizierte. Van Sommers befragte Erwachsene im Alter von 30–50 Jahren nach ihren Zeichengewohnheiten und ließ sie eine Zeichnung reproduzieren, an die sie sich spontan erinnerten. Es stellte sich heraus, dass ein erheblicher Anteil der privaten Zeichnungen in die Kategorie »Kritzeleien« fiel, bei Frauen zu 32, bei Männern zu 23. Ganz ähnliche Befunde berichtet Deutsch: Die meisten Erwachsenen gaben an, nichts zu zeichnen, bei näherem Hinsehen stellte sich dann aber heraus, dass sie doch zeichnen, und zwar wenn sie angespannt sind oder sich langweilen. Wiederum standen Kritzeleien im Vordergrund, »so als seien die Erwachsenen wieder da angekommen, wo das Zeichnen in ihrer Entwicklung begonnen hat« (Deutsch 1997, S. 89).
Kunst und depressive Position Melanie Klein hat die kreative Produktion von Künstlern in enge Beziehung zur depressiven Position gebracht und dabei die Rolle der Wiedergut-
machung herausgearbeitet. Die entscheidende Leis-
tung bei der Überwindung der depressiven Position besteht für das Baby darin, dass es seine Mutter und andere bedeutsame Gestalten als wirklich äußere anerkennt und ihnen eine von ihm selbst unabhängige Existenz zugesteht. Ein zentraler Aspekt sowohl der Wiedergutmachung als auch des wachsenden Realitätssinnes besteht darin, dass das Kind allmählich seine Phantasien der eigenen omnipotenten Kontrolle aufgibt und in seinem Inneren die Mutter in ihrer unabhängigen Existenz akzeptiert. Das Bedürfnis des Künstlers ist es, das wiederzuerschaffen, was er in der Tiefe seiner inneren Welt empfindet. Wenn ein künstlerisches Werk zu Ende geführt wird, geht dies oft mit einem schmerzhaften Trennungsprozess einher; viele Künstler können sich nur schwer von ihrem Werk trennen. Hanna Segal (1996, S. 116) greift die Idee des Zusammenhanges von Kunst und depressiver Position Melanie Kleins auf. Ihr zufolge sieht der Künstler als tiefstes Gefühl der depressiven Position seine innere Welt zerstört und muss deshalb »etwas wiedererschaffen, das sich wie eine heile neue Welt anfühlt. Das ist es, was jeder bedeutende Künstler tut: Er erschafft eine neue Welt.« Segal belegt diese Idee anhand verschiedener Beispiele, u. a. anhand der Zitate von Proust (1900): »Man kann nur erschaffen, was man aufgegeben hat« und Rodin (1911): »Lass einen großen Künstler mit Hässlichkeit umgehen, sofort verwandelt er sie ... und es wird Schönheit daraus.« (zit. nach Segal 1996) Diese Transformation, das Zusammenbringen von Ideen oder Gefühlen, die sonst nicht zusammengehalten werden können, ist spezifisch für die Kunst. Nach Ansicht von Segal wird die magische Transformation, von der Rodin gesprochen hat, durch einen Integrationsprozess erreicht. Dass die Hässlichkeit der Zerstörung und Verwüstung in ein Objekt der Schönheit transformiert wird, erläutert sie anhand von Picassos »Guernica« und zitiert dazu Rilke: »Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir gerade noch ertragen.« Eng verbunden mit der Idee der Integrationsleistung ist die Wiedergutmachung. Für Segal ist dies der eigentliche Antrieb der künstlerischen Kreativität. Das Einmalige der künstlerischen Kreativität besteht darin, dass der gesamte reparative Akt in der Erschaffung eines Symbols besteht. Das Symbol stellt keine Kopie des Objekts dar, sondern etwas,
4.7 Theoretische Weiterentwicklungen: Übergangsraum und Übergangsobjekt
das von Neuem erschaffen wurde. Im Sinne der Unterscheidung zwischen symbolischer Gleichsetzung und Symbolbildung ist dies eine echte integrative Leistung, die nur innerhalb der depressiven Position stattfinden kann. Prousts Hauptwerk »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« (1908–1912) enthält eine einsichtsvolle Darstellung des eigentlichen Schaffensprozesses, den er folgendermaßen beschreibt (zit. nach Segal 1996, S. 117): Ich musste, was ich empfunden hatte, aus dem Schatten wiedergewinnen, es zurückverwandeln in sein psychisches Äquivalent. Aber die einzige Weise, die ich mir dafür denken konnte, war – was sonst? – ein Kunstwerk zu erschaffen.
Ausfüllen des leeren Raumes Melanie Kleins erste Arbeit »Frühe Angstsituationen im Spiegel künstlerischer Darstellungen« (1926/1932) beschäftigt sich mit der Quelle des Schaffenstriebes, also der Kreativität von Künstlern. Sie zitiert aus der Biographie der schwedischen Malerin Ruth Kjär, die immer wieder an Depressionen litt, in denen sie das Gefühl hatte, es breite sich ein leerer Raum in ihrem Inneren aus. Eines Tages holte ein befreundeter Maler ein Bild bei ihr ab, das er Ruth Kjär geliehen hatte. Nachdem er es von der Wand abgehängt hatte, konnte sie den Anblick der leeren Wand nicht ertragen. Ihr Biograph schreibt: An der Wand war ein leerer Raum entstanden, der auf unerklärliche Weise mit dem leeren Raum in ihrem Inneren zusammenfiel. Diese Unerträglichkeit des leeren Raumes zwang sie, selbst ein Bild zu malen.
Das war der Anfang einer erfolgreichen Karriere. Sie malte verschiedene Bilder, zunächst eine alte, depressive Frau. Eines der letzten Bilder war das Porträt ihrer Mutter, als diese jung und schön war. Der Biograph bemerkt dazu: Der leere Raum war jetzt ausgefüllt.
Melanie Klein hat in dieser frühen Arbeit auch die Rolle der Wiedergutmachung betont, in der der Künstler versucht, in seinem Inneren zu erschaffen, was er als problematisch erlebt hat, und es dabei gleichzeitig wiedergutzumachen.
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Theoretische Weiterentwicklungen: Übergangsraum und Übergangsobjekt
Damit Kinder lernen können, mit Aggression, Angst und anderen negativen Affekten in einer symbolischen Form umzugehen, bedarf es bestimmter Voraussetzungen. Einige dieser Voraussetzungen sind: 5 das Übergangsobjekt, 5 der Übergangsraum, 5 das Vorlesen. Gegenwärtige theoretische Ansätze bringen die Produktion von Phantasie und Kreativität entweder mit Beziehung oder mit dem Verlust von Beziehung in Verbindung. Diese Ansätze sind nicht so gegensätzlich, wenn wir die Konzepte »Übergangsraum« und »Übergangsobjekt« von Winnicott (1953) heranziehen.
Übergangsraum Winnicott spricht von einem intermediären Raum zwischen Individuum und der Umwelt, in dem es möglich ist, zu kreieren oder kreativ zu spielen. Er beschreibt den Übergangsraum (»potential space«) als zwischen der psychischen und der externen Realität stehend bzw. zwischen dem Individuum und der Umwelt. Kreativität ist ihm zufolge nur in einem solchen intermediären Raum möglich. Für Winnicott ist der entscheidende Raum der zwischen Mutter und Kind, der, falls sich die Mutter nicht hineindrängt, der Raum ist, in dem sich diese Übergangsphänomene entwickeln können und der letztlich zum kulturellen Raum wird. André Green (2004) betont ebenfalls, dass der Raum zwischen Mutter und Baby mit Besetzungsenergien gefüllt sein muss. In einem leeren psychischen Raum gibt es auch keinen Raum für die Vorstellungskraft. In einem solchen Fall kann das Kind nicht kreativ sein. Bions Konzept des psychischen Containers ist in gewisser Weise ein verwandtes Konstrukt, ein aktiver Container, mit der Fähigkeit, Dinge aufzunehmen (Bion 1962). Winnicott hat immer wieder die Bedeutung des Übergangsraums für die Entwicklung von Kreativi-
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Kapitel 4 · Phantasien, Symbolisierungen und Kreativität als Ressourcen
tät unterstrichen. Wenn das Kind sich plötzlich nicht mehr auf wichtige Personen verlassen kann, verarmt dieser Übergangsraum. Nur ein Kind, das einen solchen Übergangsraum zur Verfügung hat, ist in der Lage, Verlust und Separation zu verarbeiten. In diesem Zusammenhang hat Winnicott das Konzept der »good-enough mother« entwickelt. Diese hinreichend gute Mutter gibt Raum für die Entfaltung der Kreativität und ist da, erreichbar und unterstützend, wenn das Kind es benötigt. Voraussetzung ist ein Gefühl von Vertrauen und Sicherheit; das Verständnis der Symbolisierung wird nur durch eine solche hinreichend gute Bemutterung möglich. Beispiel Wenn wir noch einmal an den Fall von Victor von Aveyron denken (7 Kap. 2), so ist recht eindrucksvoll, dass es Madame Guerin war und nicht Dr. Itard, die in der Lage war, die Bedeutung der Silben oder Äußerungen zu verstehen, die Victor ausstieß. Ein »Li«, das er verschiedentlich aussprach, stand für »Julie«, die Tochter von Madame Guerin. Es war auch Madame Guerin, mit der er ein sehr elementares Spiel mit Worten entwickelte. Die sehr mechanische, sehr kognitiv orientierte Art, mit der Dr. Itard versuchte, Victor Symbolisierung und Sprache beizubringen – man erinnere sich an die schwarzen Quadrate, die roten Kreise, die blauen Dreiecke in immer neuen Varianten –, verhinderte regelrecht, dass er einen Zugang zur Symbolisierung bekam. Vermutlich hätte er nie vollständig sprechen gelernt, aber möglicherweise mehr Fortschritte gemacht, wenn dieser Lernprozess – wie bei Madame Guerin spürbar – stärker emotional eingebunden worden wäre.
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Übergangsobjekt
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Der Begriff des Übergangsraums ist auffälligerweise sehr sachlich. Winnicott (1969) verdanken wir aber auch das stärker personenbezogene Konzept des Übergangsobjekts. Er hatte beobachtet, dass Kinder in Situationen, in denen sie sich von der Mutter trennen mussten, Gegenstände wie Schmusetiere oder Lieblingsdecken mitnahmen und sich an diese klammerten. Dieses Verhalten erklärte er damit, dass diese bevorzugten Gegenstände als Übergangsobjekte symbolisch die abwesende Mutter repräsentieren. So wird es dem Kind möglich, die Trennung
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auch intrapsychisch zu verarbeiten und den Übergang aus dem Zustand des Zusammenseins mit der Mutter ins Getrenntsein durch eine Symbolisierung zu überbrücken. Wenn der Prozess der Konstruktion des inneren Objekts abgeschlossen ist, wird das Übergangsobjekt nach und nach überflüssig. Dass Kreativität, Phantasie und Symbolisierung etwas mit Trennung zu tun haben, wird besonders in den Arbeiten von Maud Mannoni (1999) deutlich. In diesem Trennungsprozess spielt das Übergangsobjekt eine besondere Rolle. Das Kind muss von der Illusion, mit der Mutter eins zu sein, zur Desillusionierung oder auch Trennung von der Mutter gelangen. In diesem Zwischenraum kann es das Übergangsobjekt benutzen. Dies ist möglich, weil die Merkmale des Übergangsobjekts zwischen Innen und Außen liegen. Winnicott schreibt dazu: Die wichtigste Funktion des Übergangsobjekts liegt darin, einen neuen Erfahrungsraum zu schaffen, d. h. einen intermediären Bereich, der zwischen diesen Polen liegt. Das Übergangsobjekt ist einerseits noch kein äußeres Objekt, es ist ein Besitz, aber es symbolisiert ein äußeres Objekt: die Mutter, oder genauer gesagt ihre Brust. Dieser Gegenstand ist weder Teil des Selbst noch Teil der Welt, er ist an der Grenze zwischen Innen und Außen. (Winnicott 1965/2002, S. 146)
Merkmale des Übergangsobjekts 5 Es darf nicht gegen ein anderes Objekt ausgetauscht werden. 5 Es muss triebhafte Liebe ebenso aushalten wie Hass und Aggression. 5 Es muss dem Kind durch Bewegung oder Oberflächenstruktur ein Gefühl von Wärme vermitteln. 5 Es gehört nur für den Erwachsenen der Außenwelt an, nicht jedoch für das Kind. 5 Das Schicksal des Übergangsobjekts besteht darin, dass ihm im Laufe der Zeit die Besetzungen entzogen werden, d. h., es verliert an Bedeutung.
Im Laufe einer gesunden Entwicklung erlangen die Übergangsobjekte zunehmend an Bedeutung und werden schließlich zu Zeiten des Schlafengehens oder der Einsamkeit für das Kind zur absoluten Notwendigkeit, um Ängste, v. a. depressiver Art,
4.8 »Das Chaos ordnen«: Die Bedeutung von Märchen
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abzuwehren. Winnicott nimmt für das erste Auftreten von Übergangsphänomenen bzw. -objekten einen Zeitraum an, der vom 4. bis zum 12. Lebensmonat reicht. Francoise Dolto (2000) hat darauf hingewiesen, dass es sehr schwierig ist, destruktive Erfahrungen zu symbolisieren. Das Kind braucht dazu Unterstützung, die in Form konkreter mütterlicher Hilfen geschehen kann, aber auch dadurch, dass dieser Zwischenraum zwischen Phantasie und Realität durch eine liebevolle Beziehung zur Mutter ausgefüllt wird. Das Vorlesen ist eine solche Möglichkeit.
4.8
»Das Chaos ordnen«: Die Bedeutung von Märchen
Autoren wie Maud Mannoni (1999) sehen eine enge Beziehung zwischen Kreativität und Perversionen, präziser: zwischen dem Chaos, das der Perverse geschaffen hat, und einem Neubeginn. Der Perverse versucht, durch Regression den Unterschied zwischen den Geschlechtern und den Generationen einzuebnen, ja alle Unterschiede überhaupt ungeschehen zu machen. Vermischung oder Aufhebung von Unterschieden könnte das Motto sein, das über vielen perversen Phantasien steht. Diese Auslöschung der Unterschiede verhindert psychisches Leid auf allen Ebenen: Gefühle von Minderwertigkeit, Kastration, Verlorensein, Mangel und Tod. Freud hielt das Kind bekanntlich für polymorph pervers und schrieb 1910 in seiner »Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci«: Wo also jemand grob und manifest pervers geworden ist, da kann man richtiger sagen, er sei es geblieben, er stellt ein Stadium einer Entwicklungshemmung dar. (Freud 1910, S. 104)
Diese Perspektive führt uns zu der Kraftanstrengung, die Kinder unternehmen, um ihre Welt zu ordnen. Bettelheim (1980) beschreibt das Märchen als Methode par excellence, das Chaos von Phantasie und Realität zu ordnen. Vor der ödipalen Phase und weit in die Schulzeit hinein, ungefähr vom 3. bis zum 7. Lebensjahr, ist die Welterfahrung des Kindes chaotisch, aber nur vom Erwachsenenstandort aus gesehen, denn das Kind ist sich
. Abb. 4.10. Märchenbuch von H. C. Andersen
dieses Zustands nicht bewusst. Eine Möglichkeit, Ordnung in seine Welt zu bringen, besteht für das Kind darin, dass es die Dinge in Gegensätze einteilt. In der ödipalen Phase kann man zum ersten Mal beobachten, dass das Kind zu einer Aufteilung von widersprüchlichen Gefühlen (wie Liebe und Hass) kommt. Das Märchen ist dazu gut geeignet, denn die dort dargestellten Beziehungen sind einfach und eindimensional. Jede Gestalt ist nur entweder abgrundtief böse oder von selbstloser Güte. Ein Tier ist entweder reißend und gefährlich oder der beste Freund und Helfer. So kann das Kind Reaktionen und Handlungen leicht begreifen. Das Märchen vermittelt dem Kind also eine Vorstellung davon, wie es das Chaos in seinem Inneren ordnen kann (. Abb. 4.10). Zugleich finden wir deutliche Hinweise auf die Trennung zwischen Phantasie und Realität. Gewöhnlich beginnen Märchen mit einem Hinweis auf die Phantasieebene (»Es war einmal«, »In einem anderen Land«, »Vor tausend und mehr Jahren«), der symbolisiert, dass wir die konkrete Welt der gewöhnlichen Wirklichkeit verlassen. Geschichten,
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Kapitel 4 · Phantasien, Symbolisierungen und Kreativität als Ressourcen
die sich eng an die Realität halten und nicht in der Hütte eines armen Holzhackers vor einem großen Wald, sondern im Wohnzimmer oder Hinterhof des Kindes beginnen, deren Gestalten nicht Könige und Königinnen, sondern den Eltern sehr ähnliche Personen sind, und realistische mit wunscherfüllenden und phantastischen Elementen vermengen, können beim Kind eine ziemliche Verwirrung stiften hinsichtlich dessen, was real ist und was nicht. Es gibt klare Hinweise darauf, wie die Geschichten und Märchen beschaffen sein sollen, die von Kindern produktiv genutzt werden können. Bettelheim (1980, S. 11) schreibt dazu: Soll eine Geschichte ein Kind fesseln, so muss sie es unterhalten und seine Neugier wecken. Um aber sein Leben zu bereichern, muss sie seine Phantasie anregen und ihm helfen, seine Verstandeskräfte zu entwickeln und seine Emotionen zu klären.
Hier wird die Bedeutung von Märchen für den Prozess der Emotionsregulierung offenkundig. Das Märchen ist besonders fruchtbar und befriedigend, weil es dem Kind die Möglichkeit gibt, in seinem Inneren und danach auch in seinem Leben Ordnung zu schaffen. Charakteristisch für das Märchen ist, dass es ein existentielles Dilemma kurz und pointiert feststellt. Das Märchen leistet einen großen positiven psychologischen Beitrag zum inneren Wachstum des Kindes.
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Umsetzung im therapeutischen Raum: Geschichten und der Übergangsraum des Vorlesens
Die Bedeutung von Narrativa in der Psychotherapie wird zunehmend erkannt (Holmes 1998). Mit seinem Zitat über die Kriterien für die Auswahl von Märchen und Geschichten ist Bettelheim auch für die therapeutische Praxis unmittelbar relevant. Dies ist nicht nur für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen bedeutsam – auch Erwachsene haben Lieblingsmärchen, die oft die »Märchen ihres Lebens« sind (Seiffge-Krenke 2007a). Der Inhalt des ausgewählten Märchens hat gewöhnlich nichts mit dem äußeren Leben des Patienten zu tun, aber sehr viel mit seinen inneren Problemen, die unverständlich und deshalb unlösbar scheinen. Gegenüber dem Traum ist das Märchen insofern im Vorteil, als es einen logischen Aufbau hat und seine Handlung von einem festgesetzten Anfang aus der befriedigenden Lösung am Ende zustrebt. Wenn wir als Therapeuten Kindern Märchen erzählen, sollten wir ihnen die wichtige Gewissheit vermitteln, dass wir damit einverstanden sind, wenn sie mit dem Gedanken spielen, z. B. Riesen zu überwinden oder uns umzubringen. Nur wenn sich das Kind in seiner Phantasie weiter mit der Geschichte beschäftigt, kann ein Märchen verarbeitet werden. Man sollte daher nie mehrere Märchen hintereinander erzählen (. Abb. 4.11).
»Je nach den augenblicklichen Interessen und Bedürfnissen entnimmt das Kind dem gleichen Märchen einen unterschiedlichen Sinn.« (ebd., S. 19)
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Trennungsängste, d. h. die Furcht, verlassen zu werden, die Angst vor dem Verhungern und die orale Gier sind nicht nur auf eine bestimmte Entwicklungsstufe beschränkt. Sie sind in jedem Alter unbewusst vorhanden, und deshalb hat jedes Märchen auch eine Bedeutung und eine ermutigende Botschaft für ältere Kinder.
19 20 . Abb. 4.11. Die Faszination des Vorlesens
4.9 Umsetzung im therapeutischen Raum
Das Märchen setzt im Grunde dort ein, wo sich das Kind in seiner Entwicklung augenblicklich befindet und wo es ohne Hilfe des Märchens steckenbleiben würde: in dem Gefühl, vernachlässigt, abgelehnt und geringgeschätzt zu werden. Nur wenn das Kind ein Märchen immer wieder hört und viel Zeit und Gelegenheit hat, um darüber nachzudenken, kann es das, was ihm die Geschichte an Selbsterkenntnis und Welterfahrenheit zu vermitteln vermag, voll ausschöpfen. Nur dann erschließen die freien Assoziationen des Kindes die ganze persönliche Bedeutung des Märchens, die ihm bei der Bewältigung bedrängender Probleme hilft. In der Therapie mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen ist von besonderer Bedeutung, dass im Märchen die Hauptfiguren ihre Ziele oft auch durch List, Witz und Tricks erreichen. Es gibt in den Erzählungen aller Kulturen den Achetypus des Tricksers. Er ist der scheinbar unterlegene, der Tölpel, der dann aber doch obsiegt. In der Therapie hilft eine solche Figur gerade in schwierigen Phasen, Witz und Verstand einzusetzen und nicht aufzugeben (Lehmann-Scherf 2002). Kinder sind fasziniert, wenn man ihnen in der Therapie Märchen und Geschichten vorliest. Wichtig ist, welche Kinderbücher Erwachsene Kindern vorlesen. Ellen Handler Spitz (1999) hat verschiedene Kinderbücher analysiert. Eines davon ist das berühmte Kinderbuch »Wo die wilden Kerle wohnen« (Sendak 1967; . Abb. 4.12).
. Abb. 4.12. Max im Wolfskostüm. Aus: Maurice Sendak »Wo die wilden Kerle wohnen«
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4
Fallbeispiel Wo die wilden Kerle wohnen (Sendak 1967) In diesem Buch geht es um die Dramatisierung der Grenze zwischen Phantasie und Realität und der Kreation eines Übergangsraums zwischen diesen beiden Domänen. Die dritte Person, der Behälter für die Ängste des Kindes, ist der Erwachsene, der die Geschichte vorliest. Es geht um die Geschichte von Max, der ganz unartig und wild ist und eines Tages zu seiner Mutter sagt: »lch esse dich auf.« Aus diesem Grund muss er ohne Essen zu Bett gehen. Später sehen wir ihn in seinem Zimmer in einem Wolfskostüm vor einem weit geöffneten Fenster, gefolgt von Szenen auf einer Phantasieebene, in denen er weite Reisen zu den wilden Kerlen unternimmt und schließlich der König dieser wilden Kerle wird, wo er laut schreit und kämpft und seine Zähne zeigt. Schließlich verlässt Max die wilden Kerle und segelt mit seinem Boot wieder über den Ozean zurück. Nach vielen Monaten befindet er sich plötzlich wieder in seinem Zimmer, und auf der letzten Seite des Buches findet sich kein Bild mehr, sondern nur noch der Satz: »Es war Nacht in dem Zimmer, das Essen wartete auf ihn und das Essen war noch warm.«
Sendak beschreibt die oral-sadistische Welt des Kindes, die Entfernung von der Mutter, aber auch die Heimkehr zur Mutter. Wir können die Mutter nicht sehen, wir können nur ihre Stimme hören. Max hat den Raum zur Verfügung gestellt bekommen, in dem er eine neue Welt kreieren kann, so wie er es möchte, mit all seinen oral-sadistischen Phantasien. Wenn Vertrauen und Zuverlässigkeit da sind, öffnet sich dieser Raum, und das Kind kann ihn durch kreatives Spiel füllen. Caroline Eliacheff (1997) hat als Nachfolgerin von Dolto in Anthony, einem Pariser Vorort, das Vorlesen ganz regelhaft in die Therapie von Kindern und Jugendlichen integriert. Die Kinder versammeln sich im Kreis um eine afrikanische Vorleserin, und jedes Kind hat in seiner Hand ein Stuck Knete oder Ton. Damit kann es die Anspannung, die es während des Zuhörens der spannenden Geschichte empfindet, in dieses Material übertragen. Weitere Ebenen der Behandlung sind das Spiel und das Malen. Jedem Kind steht nur sehr karges Spielmaterial zur Verfügung: Farbstifte, Papier, Knete, eine kleine Kette, ein Holzstab, ein Buttermesser, eine Babyflasche, eine Pfeife und eine Schere.
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Kapitel 4 · Phantasien, Symbolisierungen und Kreativität als Ressourcen
Im Alter von 3–4 Jahren erreicht das Kind eine neue Stufe der symbolischen Bedeutung, und dabei ist Malen sehr wichtig. Das Kind kann zu diesem Zeitpunkt schon relativ gut sprechen. In diesem Zusammenhang ist an die bereits erwähnte Arbeit von Ernst Kris (1955) zu erinnern, in der er den kreativen Prozess durch die Beobachtung von 2–3 Jahre alten, malenden Kindern zu erklären versuchte. Er zeigte, wie diese Kinder zunächst sehr diszipliniert die Farben mischten, dann aber das Papier buchstäblich mit dem Pinsel attackierten, in einen regelrechten Erregungszustand gerieten und die Flächen bunt ausfüllten. Wenn die Gefühle in Sprache ausgedrückt werden können, so erlaubt dies eine Symbolisierung dessen, was erlebt wurde. Das Anfertigen von Zeichnungen und das Sprechen über diese Zeichnung können daher wichtige Bestandteile von Therapien mit Kindern und Jugendlichen sein (Stephan 2003). Wichtig ist, dass die Vorstellung des Kindes akzeptiert wird und dass auch das Kind zum Verbalisieren ermuntert wird, denn die sprachliche Symbolisierung hilft bei der Verarbeitung von Erfahrungen. Es ist aber auch hervorzuheben, dass das Material, das dem Kind angeboten wird, ihm eine Ordnungsgebung erlauben muss – ihm helfen muss, das Chaos zu ordnen. Dafür sind Märchen und bestimmte Kinderbücher besonders bedeutsam, genauso wie der Vorleser, der sich als sichere Basis, als intermediärer Raum zur Verfügung stellt. Caroline Eliacheff (1997) unterstreicht, dass der Psychoanalytiker als »Wortführer« ein Vermittler dieser symbolischen Funktion ist. Sie als Therapeutin verleiht den Kindern Sprache, benennt die Realitäten und spricht die Gefühle des Kindes an.
Fazit 5 Spezielle Phantasieproduktionen wie der Familienroman, die Rettungsphantasie und die imaginären Gefährten haben eine entwicklungsfördernde Funktion. Sie unterstreichen die enormen Selbstheilungskräfte, über die Kinder und Jugendliche – oft verborgen vor unseren Augen – verfügen. 5 Erwachsene generell und Therapeuten speziell können einen Beitrag zur Entwicklung und produktiven Nutzung von Phantasien bei Kindern und Jugendlichen leisten. Eine besondere Bedeutung kommt dabei Märchen, Geschichten und dem Vorlesen zu. 5 Bei den kreativen Produktionen und Phantasien, die mitgeteilt werden bzw. sich in unserer Gegenwart im therapeutischen Raum ereignen, sollte man einen Übergangsraum zu Verfügung stellen, der mit einer guten therapeutischen Beziehung gefüllt ist. 5 Traumatisierte Kinder und Jugendliche unterliegen starken Einschränkungen im Spiel und benötigen den Schutz dieses Übergangsraums besonders.
5 Freunde und romantische Partner als »Entwicklungshelfer« 5.1
Warum werden Freunde zunehmend bedeutsamer? – 118
5.2
Entwicklungsprozesse, die zu Veränderungen in den Freundschaftsbeziehungen führen – 119
5.3
Stufenfolgen in der Entwicklung von Freundschaftsbeziehungen – 124
5.4
Wesentliche Lernprozesse in Freundschaftsbeziehungen: Emotionsregulierung, Konfliktbewältigung, Identitätsstiftung – 128
5.5
Beste Freunde: Prototyp für romantische Beziehungen? – 136
5.6
Psychoanalytische Konzeptionen: Wie entwickeln sich romantische Beziehungen?
– 139
5.7
Entwicklungspsychologische Phasenmodelle: Theorien und empirische Belege – 141
5.8
Unterschiedliche Bindungen an die Eltern und ihr Einfluss auf die Qualität von Liebesbeziehungen – 145
5.9
Enge Beziehungen: Risiko oder Ressource?
– 147
118
>>
1
Eine in der Forschung, aber auch in der Psychotherapie eher übersehene Perspektive ist die, dass Freunde und romantische Partner echte »Entwicklungshelfer« sind, dass sie gemeinsam Agenten und Produzenten ihrer Entwicklung sind. Eine Zentrierung auf die Eltern oder, genauer, auf die Mutter, also eine vertikale Sichtweise, war lange Zeit vorherrschend in der entwicklungspsychologischen Forschung und auch in Psychotherapien. Winnicott (1965/2002) steht stellvertretend für viele Psychoanalytiker, die in ihren Konzeptionen unsere Sicht der frühen Beziehungen bereicherten, aber offenkundig keinen Blick dafür hatten, dass der Beziehungsraum von Beginn an sehr komplex ist. Die Einflüsse, Entwicklungsimpulse und Ressourcen durch andere nahe Personen neben der Mutter wurden demnach enorm unterschätzt. Zu den Prozessen, die mit dem Alter zunehmend und v. a. in Freundschaftsbeziehungen gelernt werden, zählen Fertigkeiten in der Emotionsregulierung und im Umgang mit Konflikten. Hier wird echte Beziehungsarbeit geleistet, die Beziehungen auf ein höheres Niveau bringt. Freunde helfen nicht nur bei der Konturierung der eigenen Identität, des Selbstkonzepts, des Körperkonzepts; auch die Annäherung an das andere Geschlecht erfolgt im Schutz von besten Freunden. Die Beziehungen können so eng sein, dass die Frage der Grenzregulation auftaucht, was sich u. a. an einer Zunahme von Konflikten festmachen lässt. Das Oszillieren zwischen dem Wunsch nach Nähe und dem Bedürfnis nach Grenzen, das für enge Freundschaftsbeziehungen und romantische Beziehungen gleichermaßen gilt, ist auch ein zentrales Thema in der Psychotherapie mit Jugendlichen (Erlich 1990). Die protektive Funktion kann sogar so weit gehen, dass sich Kinder und Jugendliche Phantasiefreunde schaffen, »when friends fall out« (Benson u. Pryor 1973, S. 457).
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Kapitel 5 · Freunde und romantische Partner als »Entwicklungshelfer«
5.1
Warum werden Freunde zunehmend bedeutsamer?
Alle Eltern machen irgendwann die Erfahrung: Je älter ihre Kinder werden, desto wichtiger werden ihnen andere Kinder. In einem repräsentativen Sample von 4500 15- bis 24-Jährigen hatten 90 einen engen gleichgeschlechtlichen Freund oder eine enge gleichgeschlechtliche Freundin (Fritzsche 2000). Ähnliche Ergebnisse berichten Zinnecker und Silbereisen (1996) für eine größere Stichprobe von 10- bis 13-Jährigen im Rahmen der ShellStudie. Auch heftige Computernutzer sind danach nicht weniger, sondern nach eigenen Angaben sogar signifikant häufiger in Freundschaftsbeziehungen eingebunden als die Vergleichsgruppe der Technik-Abstinenten.
Warum werden Freunde zunehmend bedeutsamer? Bei Beziehungen zu Gleichaltrigen handelt es sich um eine symmetrische und reziproke Beziehung, in der beide an der Interaktion beteiligten Kinder im Prinzip die gleichen Möglichkeiten haben, Handlungen und Ansichten ihres Gegenüber zu beeinflussen. Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern ist dagegen komplementär, weil Erwachsene eindeutig über mehr Macht und Wissen verfügen als Kinder. In einer symmetrischen Beziehung zu Gleichaltrigen (Peers) gelingt es Kindern besser, ihre Standpunkte zu vergleichen, zu prüfen und letztlich auch gemeinsame Problemlösungen zu erarbeiten. Ganz entscheidend für die Funktion von Freunden als »Entwicklungshelfer« ist die Tatsache, dass sich Freunde oder Peers in der gleichen Entwicklungsphase befinden und einander deshalb wich-
119
5.2 Entwicklungsprozesse
tige Entwicklungsimpulse geben können (Hartup u. Stevens 1997). Sie teilen die gleichen altersspezifischen Entwicklungsaufgaben und normativen Lebensereignisse wie den Beginn der Grundschule, den Übergang in die weiterführende Schule o. Ä. Dieser Umstand schafft einen Fundus von Gemeinsamkeiten, große Vertrautheit unter- und hohes Verständnis füreinander, das die Gleichaltrigen für die Heranwachsenden zu einer immer wichtigeren Bezugsgruppe werden lässt. Freundschaften werden mit zunehmendem Alter anderen Beziehungen vorgezogen. In ihnen verbringen Kinder nach eigenen Wünschen viel Zeit miteinander und vollziehen wesentliche Lernprozesse der Emotionsregulierung, des Umgangs mit Konflikten und der Empathie. Im Vertrauen auf den unterstützenden Rückhalt des Freundes fällt es Kindern leichter, sich auf Neues und Risikoreiches einzulassen. Eine Freundschaft ist eine Beziehung wechselseitig anerkannter Egalität und strikter Symmetrie in den Ansprüchen und Pflichten und kann deshalb bei Verletzung dieser Symmetrie aufgrund ihres freiwilligen Charakters jederzeit aufgekündigt werden. Auch dies ist ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal im Vergleich zu Eltern-KindBeziehungen. Generell ist Freundschaft jedoch eine Beziehung mit Zukunft, für die es sich einzusetzen lohnt und für die man gelegentlich auf die Durchsetzung eigener Interessen verzichtet (Krappmann 1993). Freunde als »Entwicklungshelfer« 5 Symmetrische Beziehungen 5 Freiwilliger Charakter 5 Teilen von gleichen Entwicklungserfahrungen 5 Lange Dauer mit Vergangenheits- und Zukunftsperspektive 5 Protektive Funktionen
5
In den letzten Jahren ist verstärkt die protektive Funktion der Unterstützung durch Freunde untersucht worden (Bagwell et al. 1998). Auch für Eltern und Lehrer ist die Tatsache, dass Kinder und Jugendliche keine Freunde haben, ein besorgniserregendes Zeichen. Wie Achenbach (1991) nachgewiesen hat, gibt es kein anderes Symptom im Youth Self Report bzw. in der Child Behavior Checklist, das klinisch auffällige von unauffälligen Kindern und Jugendlichen so gut trennt wie Probleme mit Gleichaltrigen.
5.2
Entwicklungsprozesse, die zu Veränderungen in den Freundschaftsbeziehungen führen
Ab dem Alter von 12 Jahren verbringen Jugendliche zunehmend mehr Zeit außer Haus und mit ihren Freunden (Youniss u. Smollar 1985). Analysen des Zeitbudgets von Jugendlichen zeigen, dass im Alter zwischen 13 und 16 Jahren 53 der männlichen und 61 der weiblichen Jugendlichen ihre freie Zeit mit Freunden verbringen; ab dem Alter von 17 Jahren sinkt dieser Prozentsatz auf 37 bzw. 45 (Hendry et al. 1993), was mit den beginnenden romantischen Beziehungen zusammenhängt. Charakteristisch für Veränderungen von der Kindheit zum Jugendalter sind aber nicht nur quantitative Zunahmen in den Freundschaftsaktivitäten und deren Ausdehnung auf unterschiedliche Freizeitkontexte, sondern Änderungen in der Qualität von engen Freundschaftsbeziehungen und in den Freundschaftskonzepten. Anna Freud (1965/1982) hat eine Entwicklungslinie vom Egoismus zur Freundschaft und Teilhabe an der menschlichen Gemeinschaft aufgestellt, die eine vierstufige Entwicklungsfolge enthält: von eher einseitigen, narzisstischen Interessen zu einem Stadium, in dem Teilen und Respekt eine wichtige Rolle spielen (7 Übersicht).
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Kapitel 5 · Freunde und romantische Partner als »Entwicklungshelfer«
Entwicklungslinie vom Egoismus zur Freundschaft und Teilhabe an einer menschlichen Gemeinschaft (A. Freud 1965/1982) 1. Das Kleinkind ist als egozentrisches Wesen nur auf seine narzisstischen Bedürfnisse eingestellt. Andere Kinder spielen in dieser eingeschränkten Welt keine Rolle und werden, sofern überhaupt bemerkt, als Störenfriede oder Rivalen in der Beziehung zu den Eltern empfunden. 2. Das Kleinkind beginnt von anderen Notiz zu nehmen, behandelt sie aber wie leblose Gegenstände oder eine Art Spielzeug, das sich alles gefallen lässt und je nach Laune zur Verfügung steht. 3. Das Kind beginnt, Altersgenossen als Spielgefährten zu schätzen. Ihre Mithilfe beim Bauen, Zerstören und Planen aller Art ist willkommen; das Verhältnis zu ihnen dauert aber nicht länger als das Spiel. 4. Der Spielgefährte wird allmählich zum Freund, d. h., das Kind wird fähig, andere Kinder mit Objektlibido zu besetzen, sie zu lieben oder zu hassen, zu fürchten oder zu bewundern, sich mit ihnen zu messen oder zu identifizieren, ihre Wünsche zu achten. Es lernt, mit ihnen zu teilen und sie in jeder Beziehung als gleichberechtigt zu behandeln.
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Robert Selman (1984) hat diese Stufenfolge erweitert und komplettiert. Die qualitativen Veränderungen von Freundschaftsbeziehungen über die Jahre werden verständlich, wenn man sich die parallel stattfindenden kognitiven, emotionalen und sozialen Entwicklungsprozesse sowie die Veränderungen in den Eltern-Kind-Beziehungen vergegenwärtigt. Die Entwicklung sozialer Verhaltensweisen folgt generell einem Muster der Veränderung von proximalen zu distalen Kontakten. Kontakte zwischen kleinen Kindern (. Abb. 5.1) sind zunächst sehr nah auf den Körper bezogen und werden dann immer distanter. Dies gilt auch für den ElternKind-Kontakt: Der Augenkontakt ist sehr häu-
. Abb. 5.1. Kinder haben großes Interesse aneinander
fig, der Körperkontakt eng, und auch ältere Kinder spielen, wenn auch körperlich schon stark abgetrennt, immer im Visus der Mutter. Eine weitere Entwicklung bezieht sich auf die Ausweitung auf mehrere Interaktionspartner. Die Funktion und die Qualität dieser Beziehungen verändern sich im Entwicklungsverlauf, und es kommt zu einer Ausdifferenzierung des normativen Bezugsrahmens, und zwar nicht nur in geschlechts- und altersbezogene Rollen (»Was sind Jungen, was sind Mädchen, was sind Männer, was sind Frauen?«), sondern auch in Interaktionsnormen (Umgang mit Aggression und Konflikten, Kooperation, moralische Prinzipien). Schließlich, und dies ist sehr entscheidend, werden soziale Erfahrungen zunehmend auch in die eigene Identität integriert, die letztlich durch diese Erfahrungen konstituiert wird.
Frühes Interesse an Gleichaltrigen Das Interesse an Gleichaltrigen erwacht sehr früh. Schon Babys und Kleinkinder haben ein starkes Interesse an anderen Kindern. Den ersten Hinweis, dass ein Baby ein anderes wahrnimmt, erhält man im Alter von 4–5 Monaten, wenn ein Baby ein anderes anlächelt oder sich dessen Schreien zuwendet. Freundliche Annäherungen zwischen Babys im Alter von 6–8 Monaten bestehen aus Anschauen, Anlächeln, Ausstrecken der Hand und Berühren. Später, im Alter zwischen 9 und 13 Monaten, »erforscht« das Baby andere Kinder, indem es an deren Haaren zieht oder deren Kleidung betastet. Auf dieses explorative Stadium folgt ein Stadium des Spielens; das Baby teilt Gegenstände und Spielsachen kurzzeitig mit anderen Kindern und wird wütend, wenn andere Kinder ihm dieses Spielzeug wegnehmen. Lewis (s. Hetzer 1995) hat diese ersten Kontakte zwischen gleichaltrigen Babys im Schutze der Mutter beobachtet und festgestellt, dass 19-monatige Babys bereits viel mehr Interesse an anderen gleichaltrigen Babys zeigen als an ihrer Mutter. Sie bieten ihnen im Vergleich zu ihren Müttern mehr als doppelt so häufig das Spielzeug an, während 12 Monate alte Kinder ihre Aufmerksamkeit und das Anbieten von Spielzeug noch etwa gleich verteilen (. Abb. 5.2). Lewis hat auch Veränderungen bei fortgesetzten Kontakten zwischen Babys festgestellt. Vom ersten zum zweiten Zusammentreffen fand er eine starke Zunahme im Nähesuchen, in dem proximalen Kontakt und körperbezogenen Aktvitäten wie Berühren, Anschauen und Gestikulieren. Ein solches Annäherungsverhalten bezog sich allerdings bevorzugt auf echte Peers und trat gegenüber 40 der gleichaltrigen Babys, aber nur bei 12 der älteren Kinder auf. Untersuchungen ergaben, dass die Ansprechbarkeit von kleinen Kindern auf soziale Reize immer stärker zunimmt. Die Messungen werden an mehrdeutigen Items durchgeführt, die auch soziale Reize enthalten. . Abb. 5.3 zeigt einen Mann oder eine Ratte, einen Mund oder einen Berg. Je älter die Kinder werden, desto häufiger identifizieren sie in den mehrdeutigen Stimuli soziale Reize, d. h. einen Menschen oder einen Teil des menschlichen Gesichts.
5
121
5.2 Entwicklungsprozesse
f
50 40 30 20 10 0 Mutter
fremde Erwachsene
fremdes Baby
Mutter
fremde Erwachsene
fremdes Baby
a f
50 40 30 20 10 0
b
. Abb. 5.2a,b. Aufmerksamkeitsverteilung: a 12-monatige Babys, b 19-monatige Babys
Mann oder Ratte
Mund oder Berg
. Abb. 5.3. Mehrdeutige Reize: Mann oder Ratte? Mund oder Berg?
Auch das Verständnis für soziale Normen und Zuordnungen (»Was sind Männer? Was sind Frauen? Was sind Kinder?«) wird durch visuelles Stimulusmaterial geprüft. Bereits im Alter von 3–5 Jahren ließen sich so eindeutige alters- und geschlechtspezifische Zuordnungen sowie Differenzierungen in Bezug auf alters- und geschlechtsspezifische Normen (»Das tut ein Junge nicht!«; »Das tut ein Mädchen nicht!«; »Das machen Jün-
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Kapitel 5 · Freunde und romantische Partner als »Entwicklungshelfer«
gere oder Ältere nicht!«) nachweisen (Nussbaum 2000). Auch deutliche Zeichen von Sympathie und Nähe zwischen befreundeten Kindern werden schon früh beobachtet. Gut untersucht wurde der Augenkontakt, der zwischen befreundeten Paaren bereits im Kindergartenalter sehr häufig ist und bis ins Jugendalter erhalten bleibt. Bis ins Jugend- und Erwachsenenalter lässt sich ebenfalls das Phänomen der engeren Körperbetonung in Freundschaftsbeziehungen bei Mädchen nachweisen. Innerhalb der Veränderungen im Körperkontakt von proximal zu distal finden wir bei Mädchen immer eine engere Körperbetonung und eine stärkere körperliche Nähe als bei Jungen.
Ein scheinbarer Rückschritt: Egozentrisches Verhalten Entwicklung vollzieht sich nicht nur im Sinne einer linearen Progression. Manchmal scheinen sich auch Rückschritte in der sozialen Entwicklung anzudeuten. Dies ist besonders offenkundig, wenn der so genannte Egozentrismus zu zwei verschiedenen Zeitpunkten in der Kindheit und im Jugendalter auftritt. Ab dem Alter von 3 Jahren beginnen Freunde für Kinder wichtig zu werden. Sie entwickeln zunehmend die Fähigkeit, sich in andere hineinversetzen zu können und deren Verhalten und Gefühl zu antizipieren. Piaget (1972) hat diese Entwicklung mit dem »Drei-Berge-Problem« untersucht. Drei Berge werden dazu plastisch auf einem Tisch aufgebaut. Der Versuchsleiter sitzt dem Kind gegenüber und fragt es, was er selbst seiner Meinung nach sehen würde. Im Vorschul- und beginnenden Schulalter beschreibt das Kind auf diese Frage seine Sicht auf die Berge und nicht die Sicht des Versuchsleiters. Piaget hat auch sehr interessante Studien zur Kindersprache durchgeführt: Wenn mehrere Kinder im Raum spielen, kommt es häufig zu einem kollektiven Monolog. Die Kinder sprechen nicht wirklich miteinander, sondern jedes Kind spricht für sich, ohne Bezug auf andere zu nehmen. Ein Rückgang dieser egozentrischen Perspektive (im Sprechen wie im Wahrnehmen) lässt sich bei 4- bis 8-jährigen Kindern nachweisen. Diese breite Altersspanne zeigt, dass Kinder mit sehr unter-
schiedlicher Entwicklungsgeschwindigkeit lernen, sich in andere hineinzuversetzen und z. B. den Berg auch aus der Perspektive eines anderen wahrzunehmen. Bedingt durch weitere soziokognitive Lernprozesse wie die zunehmende Empathie und Perspektivenkoordinierung kommt es zu Beginn des Jugendalters zu einer weiteren egozentrischen Phase. Piaget und Inhelder (1958) zufolge ist der Jugendliche »egozentrisch« in der Annahme, die Personen seiner Umwelt beschäftigten sich mit der gleichen Ausschließlichkeit mit seiner Person, seinem Verhalten, seinen Interessen und seinen Gedanken, wie er selbst dies tut. Auch hier fehlt die adäquate Bezugnahme auf das Denken und Fühlen anderer. Elkind (1967) hat den jugendlichen Egozentrismus untersucht und zwei verschiedene Varianten gefunden (7 Übersicht). Jugendlicher Egozentrismus (Elkind 1967) 5 Die imaginäre Audienz bezieht sich auf die Antizipation der Reaktionen anderer Personen auf den Jugendlichen. Der Jugendliche hält sich für den Nabel der Welt, wähnt sich im Mittelpunkt einer ihn beobachtenden und begutachtenden Umgebung und verbringt sehr viel Zeit mit Tagträumen, in denen er sich in wechselnden Rollen als Held oder Märtyrer unter intoleranten Eltern, Lehrern und Freunden leiden sieht. 5 Die erlebte Einzigartigkeit (»personal faible«) besteht darin, dass die eigene Gefühlswelt als einzigartig wahrgenommen wird und kein anderer sie verstehen kann. »lhr versteht mich nicht« ist entsprechend eine häufige Redewendung von Jugendlichen. Die wahrgenommene Einzigartigkeit ist häufig auch Anlass für das Tagebuchschreiben.
Diese Phänomene sind für Lehrer, Eltern und Therapeuten oft irritierend. Bereits in der Frühphase der Adoleszenz kommt es zu einem auffälligen Rückzug auf die eigene Person, zu einer extremen Empfindlichkeit und Selbstbezogenheit (Ziehe 1975). Dieses egozentrische Durchgangsstadium
123
5.2 Entwicklungsprozesse
stellt allerdings ein wichtiges und positiv zu wertendes Stadium im Loslösungsprozess dar, weil es die für die Trauerarbeit und die Trennung von den Eltern wichtige narzisstische Gratifikation garantiert. Besonders Blos (1967) hat darauf hingewiesen. Es ist abzugrenzen von klinischen Phänomenen mit einem echten Defizit in der emotionalen Kompetenz wie etwa Autismus (Hertzig et al. 1989) oder antisoziales Verhalten (Cole et al. 1994; Cook et al. 1994), bei denen Schwierigkeiten in der Wahrnehmung von Emotionen anderer sowie unangemessenes und inkontingentes Zeigen negativer Emotionen zu beobachten sind. Etwa ab dem Alter von 15–16 Jahren macht die passagere egozentrische Sichtweise normaler, klinisch unauffälliger Jugendlicher zunehmend einer adäquaten Bezugnahme auf das Fühlen und Denken anderer Platz (Goossens et al. 1992). Noch 40 Jahre nach seiner Entdeckung konnten Elkind und Mitarbeiter (Alberts et al. 2007) Anhaltspunkte für das Vorliegen der imaginären Audienz (Höhepunkt um das 14. Lebensjahr) und die erlebte Einzigartigkeit (Anstiege zwischen 12 und 14 Jahren) nachweisen. Jungen hatten höhere Werte in der wahrgenommenen Unverletzlichkeit als Mädchen. Hier ist zu bedenken, besonders auch im therapeutischen Kontext, dass der adoleszente Egozentrismus mit zahlreichen Risikoverhaltensweisen einhergehen kann, weil die Jugendlichen ihre Resilienz überschätzen (»Mir passiert so was nicht«).
»lch denke an meine Mutter, die meint, mein Vater findet …« Auch kognitive Veränderungen haben Einfluss auf die Entwicklung von Freundschaftsbeziehungen. Entscheidend ist hier die Ausbildung eines formalen Denkniveaus, das ein Denken in Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten sowie den Einbezug einer zeitlichen Perspektive ermöglicht (Piaget u. Inhelder 1980). Bedeutsamer – und weniger bekannt – sind Veränderungen in der Verarbeitung sozialer Informationen, die Miller et al. (1970) beschrieben haben. Im Vergleich zu Kindern können Jugendliche hoch komplexe soziale Vergleichsprozesse und Antizipationen des Denkens und Verhaltens von Interaktionspartnern nachvollziehen (»one-loop recur-
5
Kontiguität: Ein Junge denkt an ein Mädchen und seinen Vater
Handlung: Ein Junge denkt, ein Mädchen spricht ihn an
„one-loop recursion“: Ein Junge denkt, dass er über sich nachdenkt
„two-loop recursion“: Ein Junge denkt an ein Mädchen, das an seinen Vater denkt, der über die Mutter nachdenkt
. Abb. 5.4. Entwicklungsveränderungen in der Verarbeitung sozialer Information
sion« bzw. »two-loop recursion«; . Abb. 5.4). Jüngere Kinder können dagegen Fertigkeiten der Rollenübernahme und Schlussfolgerungen über andere lediglich auf der Ebene der Kontiguität bzw. Handlung nachvollziehen. Die Arbeit dieser amerikanischen Entwicklungspsychologen verdeutlicht sehr gut die Komplexität unserer alltäglichen Denkprozesse. Besonders im therapeutischen Kontext bewegen wir uns praktisch ständig auf der MetaEbene der »two-loop recursion«. Im Verlauf der Adoleszenz werden zunehmend häufiger psychologische Konzepte und Beziehungskonzepte zur Beschreibung des »Me« verwendet (Damon u. Hart 1982), und in den Selbstbeschreibungen Jugendlicher tauchen zum ersten Mal vergangene und zukünftige Selbstaspekte auf.
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Kapitel 5 · Freunde und romantische Partner als »Entwicklungshelfer«
Das Wissen um die eigene Person wird zunehmend relational, entsteht also mehr und mehr aus der Verarbeitung von Interaktionserfahrungen (Harter 1998).
Zunehmende Offenheit gegenüber Freunden und romantischen Partnern Weitere Veränderungen von der Kindheit zur Adoleszenz, die für die Einschätzung der Bedeutung von Freunden und zunehmend auch von romantischen Partnern als »Entwicklungshelfer« wichtig sind, betreffen Veränderungen in der Offenheit, d. h. der Enthüllung intimer, sehr privater Informationen (»self-disclosure«). Wie meine eigenen Studien gezeigt haben, unterscheiden Jugendliche ab dem 12. Lebensjahr zwischen öffentlichen und privaten Informationen und sind nicht mehr ohne Weiteres bereit, private Informationen mit Erwachsenen, etwa ihren Eltern oder Therapeuten, zu besprechen (Seiffge-Krenke 1994). . Abb. 5.5 verdeutlicht einen Schereneffekt derart, dass gegenüber beiden Eltern immer weniger enthüllt wird, während Freunde und romantische Partner im Verlauf der Adoleszenz zu den bevorzugten Adressaten für private, wichtige Informationen werden. Jugendliche fühlen sich von ihren besten Freunden besser verstanden, und wechselseitige Enthüllung wird zum wesentlichen Merkmal enger Freundschaftsbeziehungen (Papini et al. 1988). Wichtige Veränderungen von der Kindheit zum Jugendalter betreffen demnach die zunehmende Bedeutung der Gleichaltrigengruppe bei gleichzeitig distanter werdendem Körperkontakt, die zunehmende Offenheit gleichaltrigen Freun-
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den und später den romantischen Partnern gegenüber und einen allgemeinen Rückgang der Elternzentriertheit. Ungeachtet des passageren Auftretens egozentrischer Phänomene vollziehen sich enorme sozialkognitive Lernprozesse, die Empathie und Perspektivenkoordinierung umfassen und soziale Beziehungen unter psychologischer Perspektive betrachten, aber auch zunehmend in einen normativen, gesellschaftlichen Rahmen stellen.
5.3
Stufenfolgen in der Entwicklung von Freundschaftsbeziehungen
Ebenso wie das Bindungsverhalten zu den Eltern mit der Zeit immer spezifischer wird (7 Kap. 3), folgen auch die Beziehungen zu den Freunden und den romantischen Partnern Entwicklungsprozessen mit qualitativ verschiedenen Stufen. Diese Stufenfolgen sind zugleich wichtige Indikatoren für soziale Reife und können Hinweise auf mangelnde Adaptation, d. h. eine gewisse Entwicklungsretardierung oder -arretierung, geben. Robert Selman (1984) hat eine Stufentheorie der Entwicklung von Freundschaftsbeziehungen aufgestellt, die sich von der Vorschulzeit bis ins Erwachsenenalter erstreckt.
Mutter Vater romant. Partner Freunde
25 20 15 10
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5 0 12
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Alter (Jahre)
. Abb. 5.5. Selbstenthüllung im Verlauf der Adoleszenz: Wem teilt man in welchem Alter Privates mit?
5.3 Stufenfolgen in der Entwicklung von Freundschaftsbeziehungen
Stufen der Freundschaftsbeziehungen nach Selman (1984) 5 Stufe 0: Momentane physische Interaktion (frühe Kindheit) 5 Stufe 1: Einseitige Hilfestellung (mittlere Kindheit) 5 Stufe 2: Schönwetterkooperation (mittlere Kindheit) 5 Stufe 3: Intimer Austausch (Jugendalter) 5 Stufe 4: Autonomie und Interdependenz (Erwachsenenalter)
Stufe 0. Im Alter von 4–6 Jahren ist räumliche Nähe
das wichtigste Merkmal von Freundschaftsbeziehungen. Ein guter Freund ist jemand, der nebenan wohnt oder den man im Kindergarten häufig trifft. Psychologische Gesichtspunkte werden nicht wahrgenommen; die Ursache für das Beenden von Freundschaften sind meist körperliche Auseinandersetzungen. Diese Phase ist geprägt von hoher, offen gezeigter körperlicher Aggression. Stufe 1 Ab der Grundschulzeit, etwa im Alter von 6–10 Jahren, wird Freundschaft typischerweise als einseitige Hilfestellung angesehen. Allmählich entwickeln die Kinder ein Bewusstsein dafür, dass auch andere Gedanken und Gefühle haben, die sich von ihren eigenen unterscheiden können. Diese Perspektiven des Selbst und des anderen existieren aber zunächst noch ganz getrennt und unabhängig voneinander. Ein guter Freund ist jemand, der weiß, was man selbst gerne tut, und genau das mit einem macht (»Der spielt so schön mit mir, und deshalb ist das mein Freund«). Konflikte werden als einseitig verursacht wahrgenommen (»Er hat mir das Auto weggenommen«, »Sie hat das und das gemacht«).
125
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Freundschaftsbeziehungen ist auch bei manchen Erwachsenen noch sehr prominent. Allmählich setzt sich auf dieser Stufe das Gefühl durch, Konflikte nicht mehr als einseitig verursacht zu verstehen, sondern zwischen den Beteiligten anzusiedeln. Stufe 3. Im Jugendalter tritt nun eine ganz entscheidende Veränderung ein. Intimer gegenseitiger Austausch wird zum zentralen Kriterium für Freundschaft (»intimate sharing«), die bloße physische Nähe verliert an Bedeutung. Das ist auch der Grund, warum Jugendliche gerne Brieffreundschaften in entfernte Länder pflegen oder im Internet chatten (Shulman et al. 1994). Enge Freunde können vollständig verschiedene Interessen haben, ohne dass dies die Freundschaft beeinträchtigen würde. Die Beziehung selbst steht nun im Zentrum, gegenseitige Hilfeleistungen und Tauschaspekte werden zunehmend unwichtig für die Freundschaft, die als dyadische Beziehung mit recht vielen Konflikten verbunden ist (S. 132). Auf dieser Stufe begegnen wir auch einem neuen Mechanismus: dem Versuch von guten Freunden, ihre Beziehung nach außen zu schützen, und der Erkenntnis, dass gemeinsam bewältigte Konflikte die Beziehung stärken können (Adams u. Laursen 2007). Psychologische Konzepte werden nun auch auf Freunde extrapoliert (Buhrmester et al. 1992).
Stufe 2. In der mittleren Kindheit, etwa im Alter
von 8–12 Jahren, wird Freundschaft als Schönwetter-Kooperation angesehen. In dieser Zeitspanne wird erkannt, dass es reziproke Perspektiven gibt, die Orientierung am eigenen Vorteil steht aber weiter im Vordergrund (daher Selmans Bezeichnung der »fair-weather-cooperation«; . Abb. 5.6). Freundschaften auf dieser Stufe funktionieren nach dem Motto: »Ich leih dir mein Fahrrad, wenn du mir deinen Ball gibst.« Dieses Niveau von
. Abb. 5.6. Kooperation mit Orientierung am eigenen Vorteil
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Kapitel 5 · Freunde und romantische Partner als »Entwicklungshelfer«
Von dieser Altersstufe an wird Intimität in Freundschaftsbeziehungen bis ins hohe Erwachsenenalter bestimmend. Freundschaftsbeziehungen auf dieser Stufe sind sehr exklusiv und haben meist dyadischen Charakter. Stufe 4. Etwa ab dem Alter von 20 Jahren sehen Erwachsene enge Freundschaftsbeziehungen als Balance zwischen Autonomie und Interdependenz. Auch die Wünsche des anderen, sowohl nach Abhängigkeit als auch nach Autonomie, werden nun berücksichtigt (Auhagen 1993). Eine junge Frau sagte einmal: »Vertrauen in meiner Beziehung zu meiner Freundin ist die Fähigkeit, den anderen loszulassen, genauso, wie ihn festzuhalten.« Das ist eine Regel, die auch sehr gut für Partnerbeziehungen gelten könnte. Eifersucht wird nun aus einer gewissen Distanz betrachtet und ist nicht mehr so beziehungsauflösend und zerstörerisch wie etwa in der Adoleszenz. Bei Freundschaftsbeziehungen im Erwachsenenalter besteht darüber hinaus die Perspektive, dass die Beziehung zur besten Freundin oder zum besten Freund genauso wie die Personen selbst Veränderungen und Entwicklungen unterworfen ist. Selman beschreibt in seinem Modell Idealtypen. Etwa 60 der 15-jährigen Jugendlichen können in ihrem Freundschaftskonzept auf dem sehr komplexen und anspruchsvollen Niveau der Stufe 3 argumentieren, zeigen dieses Verhalten aber nicht durchgängig. Zudem finden sich deutliche Hinweise auf Geschlechterunterschiede und Variationen in Abhängigkeit vom Gesundheitsstatus. Mädchen erreichen den Status der Intimität rund zwei Jahre früher als Jungen (Seiffge-Krenke u. Seiffge 2005) und halten auch danach Intimität in Freundschaften für wichtiger als Jungen (Buhrmester u. Furman 1987; . Abb. 5.7). Diese Tatsache sorgt in den späteren Paarbeziehungen der Mädchen gelegentlich für Zündstoff. Die Unterschiede im Geschlecht sind jedoch mehr eine Frage des Stils und weniger der grundsätzlichen Substanz. Bedingt durch die Intensivierung der Geschlechtsrollen in der Adoleszenz neigen Mädchen eher zu einem expressiven, Jun-
. Abb. 5.7. Enge, körperbezogene Mädchenfreundschaften
gen dagegen zu einem instrumentellen Vorgehen. Gespräche sind, besonders im Blick auf den Austausch von Intimität (»We are just talking …«, vgl. Raffaelli u. Duckett 1989), für Mädchen besonders wichtig. Jungen richten ihr Interesse eher auf geteilte Aktivitäten (»Boys play sport, girls like to talk«, vgl. Frydenberg u. Lewis 1993). Während Jungenfreundschaften (. Abb. 5.8) stark auf Handlungen, auf sportliche Aktivitäten und natürlich auch auf die gemeinsamen und geteilten Erfahrungen von Normbrüchen ausgerichtet sind, bleibt bei Mädchenfreundschaften im Jugendalter neben der verstärkten Bedeutung von Intimität der Fokus auf starke körperliche Nähe erhalten.
. Abb. 5.8. Jungenfreundschaft: Gemeinsame Aktivitäten
5.3 Stufenfolgen in der Entwicklung von Freundschaftsbeziehungen
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5
Differentielle Unterschiede 5 Unterschiede im Intimitätsniveau von Freundschaften können in Abhängigkeit vom Gesundheitsstatus auftreten. So findet sich bei diabetischen Jugendlichen unabhängig vom Geschlecht ein geringeres Intimitätsniveau in ihren Freundschaftsbeziehungen, während konkrete instrumentelle Hilfe oder räumliche Nähe vorherrschen – Merkmale also, die wir den Freundschaftsbeziehungen jüngerer Kinder zuordnen würden (Seiffge-Krenke 2000b, 2001f ). Generell wurden bei Jugendlichen mit chronischen Erkrankungen, insbesondere wenn diese die Jugendlichen äußerlich stigmatisierten, Defizite in den Freundschaften und Peer-Beziehungen gefunden (Schuman u. La Greca 1999). Hier wäre natürlich die Frage zu klären, ob etwa das geringere Intimitätsniveau Folge der chronischen Erkrankung ist, weil ein zu starker Fokus auf dem eigenen Körper liegt. Es spricht Einiges dafür, dass sich die gesunden Freunde eher zurückziehen und den Kontakt meiden, so dass Lernmöglichkeiten für die Erkrankten fehlen (Guite et al. 2000).
Es lassen sich also phasentypische Veränderungen in der Bedeutung und der Qualität von Freundschaftsbeziehungen beschreiben, die mit dem Alter zunehmend auch immer mehr des alltäglichen Zeitbudgets ausmachen. Im Erwachsenenalter nimmt dieser Zeitrahmen dann wieder deutlich ab, weil mehr Zeit mit dem Partner verbracht
5 Ethnische Unterschiede sind ebenfalls zu bedenken. Auch wenn italienische und türkische Jugendliche in Deutschland durchschnittlich ebenso viele Freunde haben wie ihre deutschen Altersgenossen (und vielleicht sogar einige mehr; Fritzsche 2000), so wäre doch eine Untersuchung des Entwicklungsniveaus der Freundschaften in verschiedenen ethnischen Gruppen dringend notwendig, da sich die Standards für enge Freundschaften in Abhängigkeit vom kulturellen Hintergrund der Jugendlichen unterscheiden (Valtin u. Fatke 1997). Wie die ShellStudie (2006) zeigt, leben wir zwar gegenwärtig in einer multikulturellen Gesellschaft, in der aber Kontakte zwischen deutschen und ausländischen Jugendlichen eher selten sind. Rund zwei Drittel der deutschen Jugendlichen hatten kaum Kontakt zu gleichaltrigen ausländischen Jugendlichen; lediglich 8% gaben häufige Kontakte an, die sich allerdings v. a. auf die Schule bezogen. Es scheint also so zu sein, dass sich Jugendliche mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund eher in den eigenen Kreisen befreunden.
wird. Individuelle Variationen, etwa in der unterschiedlichen Geschwindigkeit, mit der die einzelnen Entwicklungsniveaus des Freundschaftskonzepts erreicht werden, und in der Bedeutung, die etwa Intimität für den Einzelnen in Abhängigkeit von Alter, Geschlecht und Gesundheitsstatus hat, sind unverkennbar.
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Kapitel 5 · Freunde und romantische Partner als »Entwicklungshelfer«
5.4
Wesentliche Lernprozesse in Freundschaftsbeziehungen: Emotionsregulierung, Konfliktbewältigung, Identitätsstiftung
Nicht nur in den Beziehungen zu den Eltern, sondern auch in den Beziehungen zu Gleichaltrigen werden wichtige Lernprozesse für die weitere Entwicklung vollzogen (Cassidy et al. 1992). Freundschaftsbeziehungen sind dafür besonders geeignet, weil sie auf egalitären Machtstrukturen und gleichen Entwicklungsanforderungen beruhen und ein Übungsfeld außerhalb der Erwachsenenkontrolle anbieten.
Emotional kompetent oder emotionale Analphabeten? Die Fähigkeit zur Emotionsregulierung ist von sehr großer Bedeutung für die weitere Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Starke negative Emotionen, z. B. Angst und Aggression, Gefühle von Verlust und Verlassenwerden, sind Dinge, die vom Anbeginn des Lebens an bewältigt werden müssen. Auch in späteren Lebensabschnitten müssen angemessene Copingstile, z. B. in aggressiven Auseinandersetzungen mit Gleichaltrigen, erlernt werden (. Abb. 5.9). Die in der Adoleszenz beobachteten Veränderungen in der emotionalen Entwicklung und den sozialen Beziehungen stehen im Kontext der Ablösung von den Eltern und der Entwicklung einer
. Abb. 5.9. Ausdruck von Gefühlen
eigenständigen Identität. Die in diesem Zusammenhang notwendige Trauerarbeit gilt als Voraussetzung für eine geglückte Autonomie. In empirischen Untersuchungen ließ sich ferner eine zunehmende emotionale Distanz zwischen Eltern und Jugendlichen nachweisen, während gleichzeitig aggressive Auseinandersetzungen zunahmen (7 Kap. 6). Die Neustrukturierung des Selbstkonzepts beginnt mit einer Phase der Verunsicherung des bisherigen Identitätsgefühls, verbunden mit einer depressiven Grundstimmung (Harter 1998). Die Adoleszenz, insbesondere die frühe Adoleszenz, ist demnach durch starke, v. a. negative Emotionen wie Trauer, Ärger, Wut, emotionale Distanz und Depression gekennzeichnet. Bei der Untersuchung der Entwicklung emotionaler Kompetenz im Jugendalter stößt man auf einige Widersprüche (Seiffge-Krenke 2002b). Auf der einen Seite scheinen Jugendliche eine beschleunigte soziale und emotionale Entwicklung durchzumachen und bewegen sich kompetent in unterschiedlichen Rollen und mit unterschiedlichen Beziehungspartnern im Spannungsfeld zwischen Kindheit und Erwachsenenalter. Auf der anderen Seite zeigen sie oft eine enorme emotionale Distanz, ein »Cool-Sein«, und scheinen wenig auf die Gefühle anderer bezogen zu sein, besonders deutlich beim adoleszenten Egozentrismus. Dieser augenscheinliche Widerspruch löst sich jedoch auf, wenn man sich mit den Entwicklungsgesetzmäßigkeiten bei der Verarbeitung negativer Emotionen vertraut macht. Es besteht ein offensichtlicher Unterschied zwischen den emotionalen Gefühlszuständen, die wir anderen mitteilen (»external emotional regulation«) und den Gefühlen, die wir privat erleben (»internal emotional regulation«; . Tab. 5.1). Internal emotional regulation. Kinder verstehen bereits im Alter von 6 Jahren, dass sie durch Engagement im Spiel und bei anderen Aktivitäten dazu beitragen können, dass ein Gefühl von Traurigkeit verfliegt. Nicht nachzudenken und sich abzulenken (»distraction«) sind Strategien, die etwa ab dem Alter von 10 Jahren gut beherrscht werden, wenn es um die Auseinandersetzung mit negativen Emotionen, v. a. Trauer, aber auch um jene mit depressiven Affekten geht. Untersuchungen an Kindern, die in Internate aufgenommen wurden, zeigen, dass
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5.4 Wesentliche Lernprozesse in Freundschaftsbeziehungen
5
. Tab. 5.1. Lernprozesse bei der Emotionsregulierung Erleben (internal emotional regulation) Stabilisierung des Selbst
Ausdruck (external emotional regulation) z. T. zum Schutz der Gefühle anderer, »display rules«
6 Jahre
5 Gezeigter Gefühlsausdruck und inneres Gefühl müssen sich nicht entsprechen 5 Eigene Aktivitäten (Spiel) können Emotionen weniger intensiv machen
5 Versuche, das Erscheinen der Emotion auf dem Gesicht zu verhindern, werden noch nicht beherrscht
10 Jahre
5 Erste Ansätze zur Ablenkung durch »keeping busy« 5 Nicht nachdenken (»avoiding thoughts«) 5 Umdeuten der Situation (»reframing«)
5 »put on a happy face« gelingt schon recht gut
15 Jahre
5 Ablenkung (»distraction«) wird perfekt beherrscht, um negative Emotionen loszuwerden »lch versuche, so viel wie möglich in den Tag hineinzupacken, um nicht daran zu denken.«
5 »cool sein« 5 Perfekt im keine Emotionen zeigen
diese sich intensiv um Ablenkung bemühen, um nicht unter Gefühlen von Heimweh zu leiden (Harris 1989). Viel häufiger als ihr Heimweh ihren Eltern oder einem Mitschüler mitzuteilen, begannen sie, sich selbst beschäftigt zu halten. Die Strategien des »keeping busy« und »avoiding thoughts« wurden von ihnen recht perfekt benutzt (Saarni et al. 1998). 15-Jährige haben bereits ein ziemlich komplexes Wissen über die Bedeutung von Ablenkung zur Regulation unangenehmer Emotionen. Allerdings sind sie sich auch deren bloß vorübergehender Wirkung bewusst, denn sobald sie sich nicht mehr ablenken oder nicht mehr ablenken können (z. B. vor dem Einschlafen), sind die Gefühle von Traurigkeit oder Wut und Angst wieder da. External emotional regulation. Die Fähigkeiten zur Emotionsregulierung, die der Stabilisierung der eigenen emotionalen Befindlichkeit dienen, sind von den Fähigkeiten zur Kontrolle des Ausdrucks von Emotionen auf dem Gesicht (»external emotional regulation«) zu unterscheiden, die so genannte »display rules« umfassen. Für die Entwicklung von Freundschaftsbeziehungen oder die Auseinandersetzung mit den Eltern im Jugendalter ist es sehr wichtig, dass die Fähigkeit zur Kontrolle des Ausdrucks von Gefühlen schon relativ vorangeschritten ist. Während jüngere Kinder von 6 Jahren noch nicht in der Lage sind, ihre Enttäuschung (z. B. angesichts eines langweiligen Geschenks)
zu verbergen, können 9-Jährige dies bereits recht gut; auch das »put on a happy face« wird relativ früh gelernt (Saarni 1997). Die Kontrolle des Ausdrucks eigener Emotionen ist in direktem Kontext zu sehen mit der Aufmerksamkeit, die das Kind auf die Gefühle anderer verwendet. Signale, dass man die Gefühle eines anderen möglicherweise verletzt hat, werden beachtet und führen zur Kontrolle der eigenen, vor allen Dingen negativen Emotionen. Das Verbergen von Gefühlen nimmt mit dem Alter generell zu, v. a. bei männlichen Kindern und Jugendlichen. Während bei den 8-jährigen Jungen jeder sechste seinen Ärger vor anderen Kindern verbirgt, tut dies bei den 13-Jährigen schon jeder zweite (Saarni 1999). Das Verbergen negativer Gefühle ist sehr wichtig in Interaktionen mit Erwachsenen, aber auch mit Freunden – besonders, wenn man antizipieren kann, dass dies deren Gefühle verletzen wird. Aus entwicklungspsychologischer Sicht ist die Fähigkeit, die eigenen Emotionen zu verbergen, eindeutig als Zeichen von Reife anzusehen. Es gibt allerdings erhebliche Unterschiede zwischen Kindern in ihrem Verständnis solcher »display rules«, d. h. der Regeln, die helfen, die Fassade zu bewahren (Adlam-Hill u. Harris 1988). Während in den Experimenten von Carolyn Saarni (1984) und Pamela Cole (1986) drei Viertel von klinisch unauffälligen Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit nannten, ihre eigene Enttäuschung zu ver-
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Kapitel 5 · Freunde und romantische Partner als »Entwicklungshelfer«
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f% 40
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„Ich mache meinem Ärger oder meiner Verzweiflung durch Schreien, Weinen oder Türenschlagen Luft.“
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Jungen N=479
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Mädchen N=549
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antisoziale Jugendliche N= 30
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Jahre
. Abb. 5.10. Unterschiede im offenen Ausdruck von Emotionen bei antisozialen Jugendlichen und klinisch unauffälligen männlichen und weiblichen Jugendlichen
7
16
bergen, fand sich diese Erkenntnis nur bei einem Drittel der klinisch Auffälligen. Während die klinisch Auffälligen ihre Gefühle direkt und unvermittelt ausdrückten, ohne sie zu verbergen, nannten die unauffälligen Kinder explizit den Schutz der Gefühle einer anderen Person als Grund für das Verbergen ihrer eigenen Gefühle. Warum emotional gestörte Kinder ihre Gefühle so unvermittelt zeigen, auch wenn sie damit ihr Gegenüber verletzen, ist bislang unklar. Harris (1989) vermutet, dass emotional gestörte Kinder möglicherweise weniger Einsicht in die Gefühle anderer Personen haben und damit nicht die Notwendigkeit verspüren, diese zu schützen. Dass man Gefühle verstecken kann, haben diese Kinder sehr wohl verstanden, sie bringen dies nur nicht zur Anwendung. . Abb. 5.10 zeigt die enormen Diskrepanzen, die zwischen gesunden männlichen und weiblichen Jugendlichen und antisozialen Jugendlichen in Bezug auf den offenen Ausdruck von Ärger bestehen (Seiffge-Krenke 1995).
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Emotionale Kompetenz in verschiedenen Kulturen
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In einer Untersuchung zur Emotionsregulierung und Konfliktbewältigung an 15.000 Jugendlichen aus 20 Ländern schnitten deutsche Jugendliche insgesamt sehr kompetent ab (Seiffge-Krenke 2006a). Sie waren offen und klärten die Probleme mit Betroffenen. Rückzug, Vermeidung und starke affektive Abreaktionen waren selten. Es zeigten sich starke kulturspezifische Unterschiede. Jugendliche aus afrikanischen und asiatischen Ländern zeigten
am meisten Rückzug und vermieden einen offenen Ausdruck von Gefühlen. Auch Jugendliche aus nordeuropäischen Ländern zeigten sich eher reserviert. Südeuropäische Jugendliche hatten besonders hohe Werte in der affektiven Abreaktion (Weinen, Türenknallen), und zwar wesentlich höhere Werte als etwa Jugendliche aus Südamerika. Diese Unterschiede sind zu bedenken, wenn man mit Patienten mit Migrationshintergrund arbeitet.
Besonderheiten bei dissozialen Kindern und Jugendlichen Bei Kindern und Jugendlichen, die wir als dissozial bezeichnen (7 Kap. 3), ist etwas nicht gelernt worden, nämlich die zunehmende Integration aggressiver Impulse, der Erwerb von »display rules« sowie weitere Fertigkeiten der Emotionsregulierung, die der Stabilisierung des Selbst dienen. Neben den auf den familiären Rahmen beschränkten Störungen des Sozialverhaltens sind in unserem Zusammenhang v. a. solche bei fehlender sozialer Bindung relevant, die sich hauptsächlich durch fehlende Einbindung in die Gruppe der Gleichaltrigen auszeichnen. Die betroffenen Kinder und Jugendlichen sind isoliert und unbeliebt, haben keine engen Freundschaften oder dauerhaften Beziehungen zu den Peers. Dissoziale und aggressive Handlungen werden typischerweise allein begangen und schließen Tyrannisieren, ausgeprägtes Streiten, Erpressung, Gewalttätigkeit gegenüber anderen Kindern ohne besonderen Anlass (Bullying) sowie ausgeprägte aggressive Affektausbrüche und Zerstörungsneigung ein (Seiffge-Krenke 2005).
5.4 Wesentliche Lernprozesse in Freundschaftsbeziehungen
Die Auswirkungen von mangelnden Fähigkeiten zur Emotionskontrolle auf Freundschaften sind gravierend: Man fand immer wieder, dass überdurchschnittlich aggressives Verhalten bei Jungen mit einer sich stetig verschlechternden Einbindung in die Peer-Gruppe einhergeht (Coie et al. 1995; Poulin et al. 1999). Beobachtungen antisozialer präadoleszenter Freundespaare bei Planungsund Abstimmungsaufgaben zeigten Zyklen negativer Interaktionen, selbst vor laufender Kamera. Die Freundschaften dieser Jungen waren kürzer und weniger befriedigend und entstanden oft nur aus Verlegenheit, da sie mit denjenigen Altersgenossen »rumhingen«, die in ihrer Nachbarschaft zur Verfügung standen und ebenso die Schule schwänzten (Dishion et al. 1995). Das Niveau der Freundschaftsbeziehungen entsprach demnach nicht dem altersangemessenen Niveau des »intimate sharing«, sondern fokussierte immer noch auf räumlicher Nähe und geteilten Aktivitäten. Manche Kinder und Jugendliche, die trotz Schwierigkeiten in der Emotionskontrolle über eine gewisse Bindungsfähigkeit verfügen, suchen sich Freunde mit ähnlichen Problemen (ebd.). So etwa ließen sich Adoleszente mit eigenen antisozialen Tendenzen von ihren aggressiv störenden Freunden zur Delinquenz anstiften (Vitaro et al. 1997). Auf Grund der ähnlichen Defizite ihrer Freunde in Bezug auf Affektkontrolle können solche Kinder und Jugendliche in diesen Freundschaftsbeziehungen jedoch keine Weiterentwicklung oder Kompensation ihrer eigenen Mängel erfahren.
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5
Konfliktbewältigung: Wenn Freunde lächeln … Die Bedeutung der Emotionsregulierung für Freundschaftsbeziehungen und ihre Realisierung lässt sich am besten am Streit unter Freunden verdeutlichen. Besonders in engen Mädchenfreundschaften gibt es sehr viele Konflikte, die mit dem Hinzukommen eines dritten Mädchens auftreten: Eifersucht, Ausschließlichkeit und besitzergreifende Perspektive sind dann Themen in diesen engen Freundschaften. Die Analyse von Mädchentagebüchern (Seiffge-Krenke 2001b) zeigte, dass viele dieser Abgrenzungskonflikte im ersten und zweiten Schreibjahr auftauchten, als die Diaristen 14 und 15 Jahren alt waren. Nähe-DistanzProbleme zwischen Freundinnen werden dann mit zunehmendem Alter immer stärker thematisiert. Das hängt ganz eindeutig damit zusammen, dass Mädchenfreundschaften in diesem Alter sehr eng sind und eine homoerotische Komponente aufweisen (S. 135). Erlich (1990) hat das Oszillieren zwischen dem Wunsch nach Verschmelzung und dem Wunsch nach Abgrenzung als einen der zentralen Konflikte von Jugendlichen beschrieben, der offenkundig bis in die Freundschaftsbeziehungen nachweisbar ist. Die große emotionale Bedeutung von Konflikten in engen Freundschaftsbeziehungen wurde nicht nur in Tagebüchern, sondern auch in Befragungen Jugendlicher deutlich (Seiffge-Krenke 1995).
. Abb. 5.11. Einschätzung von »Ärger mit Freunden« auf verschiedenen Parametern durch 12- bis 20-jährige Jugendliche
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Kapitel 5 · Freunde und romantische Partner als »Entwicklungshelfer«
Konflikte mit Freunden 5 In einer Umfrage an 1028 12- bis 20-jährigen Jugendlichen wurde die große emotionale Bedeutung von Konflikten in engen Freundschaftsbeziehungen deutlich, etwa im Vergleich zu Konflikten mit Eltern (Seiffge-Krenke 1995). Ärger mit Freunden wurde in dieser Studie als sehr viel wichtiger und belastender eingestuft als Auseinandersetzungen mit den Eltern (. Abb. 5.11). 5 Konflikte mit Freunden waren für die Jugendlichen auch weniger vorhersehbar als familiäre Auseinandersetzungen. Mädchen gaben durchgängig höhere Konfliktraten an als Jungen. Die 12-Jährigen fühlten sich am meisten durch Konflikte mit Freunden betroffen, während bei den 15Jährigen eine ungewöhnlich große Anzahl von ambivalenten Emotionen genannt wurde, mit einer Bandbreite von Angst und Enttäuschung bis zur Zuneigung gegenüber ihren Freunden. Die 15-Jährigen zeigten auch die klarsten Intentionen, etwas zu unternehmen, um die Situation zu verändern. Auch die Bereitschaft, Kompromisse einzugehen, war bei Konflikten mit Freunden viel stärker als in der Auseinandersetzung mit den Eltern. Mädchen berichteten im Vergleich zu Jungen in Bezug auf einen Streit viel mehr negative Emotionen wie Ärger, Neid, Rivalität und Enttäuschung. Andererseits erwähnten sie auch ihre enge Bindung und Zuneigung zu den gleichaltrigen Freundinnen sehr häufig. Auffällig ist, dass sie neben aktiven Konfliktlösungen auch die Tendenz hatten, diesen Konflikten aus dem Weg zu gehen. Möglicherweise sehen sie die Freundschaft durch Konflikte als gefährdet an.
Es gibt Peer-Normen, die die Kontrolle von Emotionen in vielen Situationen mit Freunden vorschreiben. Mit zunehmendem Alter fordern sie von den Jugendlichen ein zunehmend »cooles« Verhalten. Die Entwicklung von Emotionsregulationsstrategien zeigt deutlich, dass etwa im Alter von 12–13
Jahren die ärgerprovozierenden Angriffe von anderen Jugendlichen eher mit einer »stillen Strategie« beantwortet werden, während sich jüngere Kinder gegenüber gleichaltrigen Freunden durch physische oder verbale Konfrontation wehren (Salisch 2002), wobei sie aber auffälligerweise »mit den Augen lächeln«. »Cool sein« ist bei Konflikten mit Freunden eine sehr viel häufigere Strategie als bei Konflikten mit den Eltern. Einen offenen Ausdruck von Ärger zeigen 33 der Jugendlichen bei Konflikten mit den Eltern, aber nur 20 bei Auseinandersetzungen mit den Freunden (Seiffge-Krenke 1995). Es wird also offenkundig eine stärkere Kontrolle des Ausdrucks negativer Emotionen in Auseinandersetzungen mit Freunden vorgenommen (LabouvieVief et al. 1996). Was die Peer-Normen zum Ausdruck von Emotionen angeht, so befürchten v. a. männliche Kinder und Jugendliche, dass sie von ihren gleichaltrigen Freunden lächerlich gemacht werden, wenn sie Ärger oder Traurigkeit in deren Beisein äußern (Zeman u. Shipman 1997). Die bei Jugendlichen so häufig beobachtete Fähigkeit, in Konfliktsituationen einen neutralen Gesichtsausdruck oder ein Pokerface aufzusetzen und direkte Konfrontation zu vermeiden (Murphy u. Eisenberg 1996), mag zwar wie ein emotionales Analphabetentum wirken, ist aber in Wahrheit Ausdruck einer vorangeschrittenen Entwicklung. Die größere soziale Reife ist assoziiert mit einem größeren Repertoire an emotionsregulierenden Strategien (Saarni u. Weber 1999) und einer partnerspezifischen Differenzierung in Bezug auf deren Einsatz. Freunde müssen lernen, Streit auszutragen und nach Möglichkeit einvernehmlich zu lösen. In einer Studie von Asher et al. (1996) nannten 15- bis 18jährige Jugendliche die folgenden Punkte als Ursache für ernsthafte Konflikte in ihrer Freundschaft: 5 Vertrauensbruch, 5 Mangel an Aufmerksamkeit, 5 Mangel an Respekt, 5 inakzeptables Verhalten des Freundes oder der Freundin. Weibliche Jugendliche beschwerten sich dabei signifikant häufiger über den Bruch ihres Vertrauens durch die Verbreitung von Vertraulichkeiten oder Lügen und über mangelnde Aufmerksamkeit, während männliche Jugendliche häufiger
5.4 Wesentliche Lernprozesse in Freundschaftsbeziehungen
respektlose Übergriffe des Freundes auf ihre Person oder ihr Eigentum beklagten. Auf die Frage, wie sie diese Probleme lösten, nannten 27 einseitige Lösungen, also Entschuldigungen oder Wiedergutmachungen des Freundes, und 43 keine Lösungen in dem Sinne, dass der Vorfall vergessen oder akzeptiert bzw. das Problem nicht weiter thematisiert wurde. Dieses Vorgehen wurde v. a. von männlichen Jugendlichen beschrieben. Weibliche Jugendliche berichteten dagegen am häufigsten, strittige Punkte mit der Freundin zu besprechen. Auch in anderen Studien wurde Aushandlung als beste Strategie bei Konflikten mit Freunden genannt, da ungleiche Austauschbedingungen oder Zwangsmaßnahmen zu negativen Gefühlen führen, die dann den Bestand der freiwilligen Freundschaft gefährden können (Laursen et al. 1996). Kinder und Jugendliche, die sich bei Interessenkonflikten am anderen rächen wollten und feindselige Strategien verfolgten, hatten weniger beste Freundschaften, die zudem weniger intim
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5
und häufiger von Konflikten geprägt waren (Rose u. Asher 1999). Krappmann (1993) betont, dass Freundschaften einen Rahmen bieten, in dem Konflikte, Streitereien und Zerwürfnisse fruchtbar gemacht werden können. Wie Kinder Ärger in der Freundschaft bewältigen, scheint tatsächlich Folgen zu haben, die weit bis ins Jugendalter ausstrahlen. Kinder, die sowohl ihre Ärgeranliegen vortragen als auch die Beziehung in gleicher Qualität aufrechterhalten können, verbessern ihre Freundschaftskompetenzen auf Dauer, da sie dazu fähig sind, mit dem Dilemma zwischen offenem Ärgerausdruck einerseits und Rücksichtnahme auf den Freund oder die Freundin andererseits umzugehen (Salisch 1991). Längsschnittliche Auswertungen von Ärgerregulierung und selbst eingeschätzter Kompetenz in Freundschaften ergaben tatsächlich, dass sich Kinder, die ihren Ärger mit dem Freund häufig aushandelten, fünf Jahre später als besser in Freundschaften eingebunden erlebten (Salisch et al. 2002).
Konfliktlösung unter Freunden 5 In Konflikten mit Freunden lernen Kinder und Jugendliche, die Bedürfnisse des Freundes zu erkennen und in adäquater Weise zu beantworten. 5 Streit findet häufig statt und wird zunehmend auch als ein gemeinsames Problem verstanden. 5 Selbst bei aggressiven und lautstarken Auseinandersetzungen zwischen Freunden »lächeln die Augen«; es gibt also eindeutig positive Zeichen dafür, dass die Beziehung weiter aufrechterhalten werden soll.
Auch für eine rasche Auflösung des egozentrischen Durchgangsstadiums ist die Konfliktlösung in Interaktionen mit gleichaltrigen Freunden ganz entscheidend (Goossens et al. 1992). Um in den in diesem Alter so bedeutsamen Peer-Gruppen bestehen zu können, muss der Jugendliche relativ rasch lernen, sich angemessen auf die Gefühle anderer ein-
5 Der Ärgerausdruck zwischen Freunden ist weniger massiv als etwa gegenüber den Eltern; das deutet darauf hin, dass Kinder und Jugendliche diese Beziehung besonders schützen wollen. 5 Aushandeln ist eine sinnvolle Strategie, wobei sich das Vortragen des Ärgeranliegens und die Rücksicht auf den Freund die Waage halten sollten. 5 Wenn Kindern eine angemessene Ärgerregulierung im Streit mit Freunden gelingt, verbessert dies ihre Kompetenz in Freundschaftsbeziehungen bis ins Jugendalter hinein.
zustellen und über seine eigenen Emotionen und die seiner Freunde angemessen zu kommunizieren (Savin-Williams u. Berndt 1990). Die Regulierung eigener negativer Emotionen und die kompetente Konfliktlösung unter Freunden sind demnach wichtige Bausteine auf dem Weg vom Egozentrismus zur echten Reziprozität und Empathie.
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Kapitel 5 · Freunde und romantische Partner als »Entwicklungshelfer«
Konturierung der Identität Die identitätsstiftende Funktion von engen Freundschaften wird besonders in Mädchenfreundschaften deutlich, über die man in Tagebuchanalysen einen guten Einblick erhält (Seiffge-Krenke 2001b). Die häufigsten Eintragungen in diesen Tagebüchern befassen sich mit dem Körper (21) und den Freundschaftsbeziehungen zu anderen Mädchen (38); Arbeit und Schule sind keine häufig erwähnten Kategorien (7 Kap. 4). Wir finden positive und neugierige Beschreibungen der körperlichen Veränderungen – ganz ähnlich denen, die Dalsimer (1993) anhand des Tagebuchs von Anne Frank erläutert, die Brustwachstum und Periode als geheimnisvoll und faszinierend erlebt. In diesem Zusammenhang erwähnt Anne, zu diesem Zeitpunkt 14 Jahre, wie sehr sie sich eine Freundin wünsche, mit der sie diese körperlichen Erfahrungen teilen könne. In unseren Mädchentagebüchern fanden wir aber auch negative Bewertungen, d. h. Körperbeschwerden und kritische Äußerungen über den Körper, das Aussehen, das Gewicht bis hin zu Phänomenen, die uns an bulimische Verhaltensweisen erinnern. Marianne Soff (1989) hat in ihrer Tagebuchanalyse ebenfalls solche Eintragungen gefunden: Das Kürzel »FK« stand dort für »Fressen und Kotzen«. Es handelte sich hier um ganz normale Mädchentagebücher, nicht um eine klinisch auffällige Stichprobe. Auch Flaake und King (1992) beschreiben das Gemisch aus Neugier, Faszination, Entsetzen und Abwehr, das durch die körperliche Reife und die erwachenden sexuellen Gefühle ausgelöst wird. Offenkundig haben beste Freundinnen in diesem Prozess eine wichtige Funktion. Wie werden die Freundschaftsbeziehungen in unseren Tagebüchern beschrieben? Die gemeinsamen Aktivitäten (19) beziehen sich auf gemeinsames Erledigen der Schulaufgaben und gemeinsames Einkaufen, auf die Hilfe beim Aufräumen der Küche u. Ä. Wesentlich häufiger finden sich Eintragungen zu intimen, symbiotischen, homoerotischen Aktivitäten (45). Man tauscht die Kleidung mit der besten Freundin, hilft ihr beim Make-up, man sitzt im Kino zusammen, und ein Mädchen hält die Hand des anderen, man geht gemeinsam auf die Toilette, man badet gemeinsam oder übernachtet zusammen (»Wir haben eine
Tafel Schokolade im Bett geschlachtet … es gab eine wunderbare Schweinerei!«). Es handelt sich also um auf den Körper der Freundin bezogene typisch weibliche Aktivitäten mit homoerotischer Nähe. Rohde-Dachser (1991) hat beschrieben, dass der eigene Körper, die eigene Sexualität von der Mutter unabhängig, in »eigener Regie« übernommen werden müssen. Offenkundig geschieht dies im Schutz der besten Freundin. Zwei weitere Kategorien in unseren Mädchentagebüchern betreffen Freundschaftsaktivitäten mit Blick auf das andere Geschlecht: 5 Die symbolische Annäherung (22) befasst sich mit Phantasien über heterosexuelle Beziehungen und Pläne zur Kontaktierung (»Wir haben den ganzen Nachmittag zusammen gesessen und über Jungs geredet, Thema: Frösche und Märchenprinzen«, schreibt Janina, 14 Jahre). 5 Die reale Annäherung (10) umfasst konkrete Unternehmungen im Schutz der besten Freundin (zwei Mädchen verabreden sich mit einem Jungen, obwohl eigentlich nur eines der Mädchen mit ihm ausgehen will, oder zwei Mädchen beantworten gemeinsam einen Liebesbrief von einem Jungen u. Ä.). Geteilte Normverletzung wie z. B. Stehlen oder Haschischrauchen war keine sehr häufige gemeinsame Aktivität (4). In den Tagebüchern der klinisch unauffälligen Mädchen sind in der frühen Adoleszenz demnach Eintragungen über intime, homoerotische Aktivitäten mit den besten Freundinnen überraschend häufig. Das Tagebuch hat aber offenkundig neben der identitätsstiftenden auch eine selbsterzieherische Funktion. Viele Jugendliche beschreiben darin, wie sie mit negativen Emotionen fertig werden. Die emotionsregulierende Wirkung von Tagebüchern wurde schon früh erkannt. Hildegard Hetzer (1926, S. 14) spricht von einem regelrechten Schreibdrang, der die Jugendlichen überfällt: Bei allen Mädchen, die aus der Not der negativen Phase heraus zu schreiben begannen, zeigte sich, sobald sie schreiben konnten, eine günstige Veränderung in ihrem Wesen. Sie versuchten, ihr inneres Erleben, indem sie darüber schrieben, sich mit jemandem aussprachen, loszuwerden.
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5.4 Wesentliche Lernprozesse in Freundschaftsbeziehungen
Bei unseren Tagebuchanalysen fanden wir viele Eintragungen mit depressiven und von Minderwertigkeitskomplexen geplagten Stimmungsbildern:
Ich bin außer mir vor Wut, aber ich darf es nicht zeigen. Ich möchte mit den Füßen stampfen, schreien, Mutter durcheinander schütteln, und ich weiß nicht, was noch mehr wegen der bösen Worte, der spottenden Blicke, der Beschuldigungen, die mich jeden Tag aufs Neue treffen wie scharfe Pfeile von einem straff gespannten Bogen. … Sie haben ja keine Ahnung von meiner Verzweiflung! Sie wissen nichts von den Wunden, die sie mir schlagen! Ihr Mitleid und ihre Ironie kann ich schon gar nicht vertragen. Mir ist zum Heulen zumute!
Dieses depressive Gefühl heute Nachmittag war so furchtbar bedrückend. Ich stehe jetzt genau auf der Schwelle zwischen ganz verrückt sein und angemacht werden, und dann kommt wohl das Erwachsensein … Ich habe mich schon selber über meine ständige Müdigkeit und vor allen Dingen geistige Trägheit geärgert. (Julia, 15 Jahre)
Der »gefahrlose« Ausdruck von Emotionen wird zunehmend wichtiger. Dies wird schon bei Anne Frank deutlich (1956, S. 27):
Wie an einem Tagebuchauszug aus dem Jahre 1924 deutlich wird, ist das Coolsein keine Erfindung der letzten Jahre:
Ich habe Lust zu schreiben und ich will vor allem mein Herz gründlich erleichtern: Papier ist geduldiger als Menschen.
Bald wieder ein halbes Jahr vorbei. Ich bin hübsch, klüger, gleichgültig und im Allgemeinen lebensüberdrüssig geworden. Freilich nicht so, dass ich einen leidenschaftlichen Widerwillen vom Leben empfände, bewahre, dazu bin ich viel zu gleichgültig. Eigentlich – ich kann mir es ja ruhig gestehen – ist ein mordsunglückliches Wesen aus mir geworden oder wäre es geworden, wenn ich mich und die Welt noch so tragisch nähme, wie zum Unglücklichsein nötig ist. Die Frage will ich natürlich offen lassen … (Friederike, 17 Jahre)
Im Zusammenhang mit dem Bedürfnis nach Selbstklärung und Selbsterziehung ist erwähnenswert, dass selbsterzieherische Appelle (»Ich müsste dringend …«; »Ich sollte endlich …«) von 22 im ersten Schreibjahr (14 Jahre) auf 38 im zweiten Schreibjahr (15 Jahre) zunahmen (Seiffge-Krenke 1995). Hier geht es im Wesentlichen um das Bedürfnis, mit den eigenen Ecken und Kanten klarzukommen und sich selbst anzunehmen (. Abb. 5.12).
Selbstzweifel 26%
Eigentlich müsste es mir selbstverständlich sein, dass ich schüchtern bin, etwas ängstlich, eben auch alle miesen Eigenschaften habe wie jeder andere auch. Ich müsste sie annehmen wie meine guten Eigenschaften. (Isabelle, 15 Jahre)
Selbsterziehung 22%
a
Dies wird auch am wiederholten Lesen von Tagebuchaufzeichnungen deutlich (Seiffge-Krenke 1989):
Selbstkritik 37%
Selbstzweifel 18%
Wenn das hier einer liest, ist mir das ziemlich peinlich … Ich habe vorhin in meinem alten Tagebuch geblättert, was ich da alles geschrieben habe! Na ja, da war ich unglücklich und unzufrieden mit meinem Aussehen. (Isabelle, im dritten Schreibjahr mit 16 Jahren)
Dass die dem Tagebuch anvertrauten Emotionen letztlich dem Schutz einer Beziehung, z. B. zu den Eltern, dienen, wird auch aus dem Tagebuch von Anne Frank, 3. Mai 1944, ersichtlich:
Selbstvertrauen 15%
b
Selbstkritik 26%
Selbstvertrauen 18%
Selbsterziehung 38%
. Abb. 5.12a,b. Selbstbewertungen im Tagebuch von weiblichen Jugendlichen a im Alter von 14 Jahren und b ein Jahr später, im Alter von 15 Jahren
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1
Ganz ähnlich heißt es bei Anne Frank: Den ganzen Tag höre ich nur, dass ich ein unausstehliches Geschöpf sei, und wenn ich auch darüber lache und so tue, als wenn ich mir nichts daraus mache, so ist es mir wirklich nicht gleichgültig. (30. Jan. 1943)
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Kapitel 5 · Freunde und romantische Partner als »Entwicklungshelfer«
5.5
Beste Freunde: Prototyp für romantische Beziehungen?
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Enge Freundschaftsbeziehungen haben eine entscheidende, identitätsstiftende Funktion. Sie liefern emotionale Sicherheit, unterstützen die eigene Sichtweise und stabilisieren die eigene Kompetenz. In der Pubertät helfen sie, die Erfahrungen der körperlichen Reife zu verarbeiten. Besonders bei jungen Mädchen liegen Befunde vor, die die Stabilisierung der weiblichen Identität und der weiblichen Geschlechtsrolle durch die beste Freundin belegen (Dalsimer 1993; Flaake u. King 1992; Seiffge-Krenke 1995, 2001b). Auch für den Aufbau romantischer Beziehungen kommt den Gleichaltrigen und besten Freunden eine entscheidende Funktion zu, indem sie den Zugang zum anderen Geschlecht ermöglichen und begleiten. In unseren Tagebuchanalysen fanden wir, dass sich in den folgenden Jahren die homoerotischen Beziehungen zwischen besten Freundinnen deutlich reduzierten und die reale Annäherung an das andere Geschlecht zunahm. Die Tagebuchaufzeichnungen beschäftigten sich nun sehr stark mit Liebesbeziehungen: Ich, was habe ich da für ein Zeug geredet vom Nichtmehr-Verknallen. Ich bin doch schon wieder bis in beide Ohren drin – und keine Chance, wieder rauszukommen! Noch weniger ihn zu kriegen! Ich bin gerade in einer depressiven Stimmung total unten. Dreimal kann man raten, weshalb. Ich Idiot habe mich richtig in A. L. verknallt. Da sagt man immer, Liebe sei was Schönes, hahaha, dreimal laut gelacht. Was heißt überhaupt Liebe? Ich bin zwar nur verknallt, aber das langt mir. Es ist unheimlich deprimierend und total keine Chance. Ich glaube, ich bin total allein. Geli und Tanja kümmern sich auch nicht um mich. Alle lassen mich im Stich. (Stephanie, 17 Jahre)
Es stellt sich die Frage, inwieweit Erfahrungen mit Gleichaltrigen und enge Freundschaftsbeziehungen zur Qualität romantischer Partnerbeziehungen im
Jugendalter beitragen. Einige Autoren vermuten sogar, dass enge Freundschaftsbeziehungen als Prototyp für spätere romantische Beziehungen dienen (Connolly et al. 2000). Dies hängt mit einem wichtigen Merkmal sowohl enger Freundschaften als auch romantischer Beziehungen zusammen: Intimität (Buhrmester u. Furman 1987). Hinzu kommen Beziehungsmerkmale wie Vertrauen und emotionale Unterstützung, die ebenfalls für beide Formen von Beziehungen gelten. Schon im Jahre 1953 vermutete Sullivan, dass die Intimität und Sensitivität, die Jugendliche in ihren gleichgeschlechtlichen Freundschaftsbeziehungen erleben, die Basis für die Entwicklung von Intimität in romantischen Beziehungen darstellen. Diese Annahme wurde durch mehrere Studien an Jugendlichen gestützt, die den Einfluss von Intimität in Freundschaftsbeziehungen auf die Qualität der romantischen Beziehungen im Jugendalter nachweisen. Zwei über zehnjährige Längsschnittstudien fanden übereinstimmend, dass Häufigkeit und Qualität der Interaktion mit Freunden während der mittleren Kindheit und dem frühen Jugendalter die Intimität und Sicherheit im Umgang mit romantischen Partnern im Alter von 16–18 Jahren vorhersagten (Collins et al. 1997; Seiffge-Krenke 2001c). In ihrer Querschnittsstudie fanden Shulman und Scharf (2000) ebenfalls, dass die affektive Intensität der Beziehung zum romantischen Partner während der Adoleszenz durch die Qualität der Beziehung zu gleichgeschlechtlichen engen Freunden und weniger durch die Qualität der Beziehung zu den Eltern erklärt wird. Dies hängt vermutlich damit zusammen, dass in der Adoleszenz viele Interaktionen mit romantischen Partnern im Umfeld der Freunde stattfinden. Damit ist schon angedeutet, dass es offenkundig eine Entwicklungssequenz heterosexueller Beziehungen gibt und dass unterschiedliche Einflussfaktoren (Beziehungen zu Freunden, Beziehungen zu den Eltern) eine Rolle spielen. Zuvor aber gilt es noch zu klären: Sind enge gleichgeschlechtliche Freundschaften wirklich ein Prototyp für romantische Beziehungen?
5.5 Beste Freunde: Prototyp für romantische Beziehungen?
Romantische Liebe ist sehr facettenreich Die meisten theoretischen Ansätze konzeptualisieren Liebe als ein multidimensionales Konstrukt. In Sternbergs (1986) triangulärer Theorie besteht Liebe aus drei Komponenten: 5 Intimität (d. h. ein Gefühl von Nähe, Zusammengehörigkeit und Verbundenheit), 5 Leidenschaft (d. h. starke physische Anziehung und sexueller Vollzug), 5 Verpflichtung (zur Aufrechterhaltung der Liebe). Hendrick und Hendrick (1986) umreißen sechs Liebesstile, wobei sie neben Nähe und Anziehung auch die obsessive und spielerische Liebe beschreiben. Hazan und Shavers (1987) Verständnis der Liebe setzt wiederum an der Bindungstheorie an. Ihrer Meinung nach beinhaltet die romantische Liebe die Integration dreier Verhaltenssysteme: Bindung, sexuelle Vereinigung und Fürsorge, wobei der Bindungsstil sowohl den Ausdruck von Fürsorge als auch das sexuelle Verhalten beeinflusst. Diese alternativen Typologien weisen einen recht großen Überschneidungsbereich auf und beziehen sich v. a. auf Liebe im Erwachsenenalter. Für die spezifischen Vorformen im Jugendalter, die so genannte romantische Liebe, scheinen Vertrauen und Freundschaft wichtig zu sein. Weiteres Kriterium für romantische Beziehungen ist die Attraktion (»Verliebtheit«), die mit sexuellem Verhalten einhergehen kann, aber nicht muss. Die letztgenannte Dimension verweist auf die große körperliche Anziehung in romantischen Beziehungen und beinhaltet sexuelle Intimität ohne Angst vor zu großer Nähe. Eine dritte Dimension umfasst hoch ambivalente Aspekte der romantischen Liebe, die so genannte ängstliche Liebe (Seiffge-Krenke 2003a), die extreme, ambivalente Emotionen mit Eifersucht verbindet und Ähnlichkeit mit dem besitzt, was Hindy und Schwarz (1994) als ängstliche romantische Bindung (»anxious romantic attachment«) bezeichneten. Es wurden demnach im Jugendalter bis zum Übergang ins junge Erwachsenenalter unterschiedliche Komponenten romantischer Liebe gefunden, die sowohl positive Aspekte als auch Ambivalenz und extreme Emotionen umfassen.
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Bedeutsam ist, dass Vertrauen und Freundschaft offenkundig Facetten sind, die frühe romantische Beziehungen charakterisieren. Diese sind auch für die engen Freundschaftsbeziehungen im gleichen Alter charakteristisch, ebenso wie eine gewisse erotische Anziehung. Insofern scheinen enge Parallelen zwischen beiden Beziehungsmustern zu bestehen, die einerseits auf Hilfe und Unterstützung, andererseits auf Potential für Konflikte hinweisen. Die Frage, wie es Jugendliche letztlich schaffen, sich auf den romantischen Partner zu konzentrieren und auch sexuelle Intimität zu erleben, wird uns im weiteren Verlauf dieses Kapitels noch beschäftigen.
Funktion von Freunden in unterschiedlichen Phasen der romantischen Entwicklung Wenn junge Erwachsene romantische Partnerschaften von einiger Dauer unterhalten, dann liegt eine Übergangsphase hinter ihnen, die sich normalerweise über mehrere Jahre erstreckt. Romantische Phantasien werden durch erste lockere Bekanntschaften mit potentiellen Liebespartnern im Rahmen einer gemischtgeschlechtlichen Peer-Gruppe abgelöst. Jugendliche in Deutschland experimentieren eine Weile mit der ungewohnten Annäherung meist an das andere Geschlecht, um sich dann im Durchschnitt von knapp 15 Jahren zum ersten Mal zu verlieben, mit knapp 16 eine erste »feste« romantische Beziehung einzugehen und gleichzeitig oder wenige Monate später den ersten Geschlechtsverkehr zu erleben (Silbereisen u. Wiesner 1999). An diesen Wegstationen und an dem Alter, in dem sie von Jugendlichen durchlaufen werden, hat sich auch mit den makrostrukturellen Veränderungen im Zuge der deutschen Wiedervereinigung nichts Wesentliches geändert (Silbereisen u. Wiesner 1999). Nur bei Jugendlichen mit einer Präferenz für romantische und sexuelle Partner des eigenen Geschlechts bietet sich ein etwas anderes Bild. Die Typologie von Diamond et al. (1999) macht die enge Verzahnung zwischen romantischer und sexueller Entwicklung deutlich. Sie zeigt, dass es mehr als nur einen Weg zu den Partnerschaften des Erwachsenenalters gibt.
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Kapitel 5 · Freunde und romantische Partner als »Entwicklungshelfer«
Sexuelle und romantische Beziehungen unter gleichgeschlechtlichen Jugendlichen Bei der Entwicklung von gleichgeschlechtlichen romantischen Beziehungen können Heranwachsende in der Regel weder auf Skripte aus den Massenmedien zurückgreifen noch auf die Unterstützung ihrer Peer-Gruppe oder ihrer (engen, heterosexuellen) Freunde zählen (Rutter u. Schwartz 1996). Sollten sie ihre sexuelle Orientierung den Peers oder den Eltern offenbaren, laufen sie Gefahr, dass diese sie ablehnen und ausgrenzen. Dies erschwert die Entwicklung, zumal sich eine homosexuelle oder bisexuelle Partnerpräferenz und die entsprechende sexuelle Identität erst langsam ausbilden und mitunter auch noch wechseln (Diamond et al. 1999). Bei vielen Jugendlichen geschieht dies durch den Vergleich mit heterosexuellen romantischen Beziehungen. So geben etwa die Hälfte der schwulen und bisexuellen jungen Männer und drei Viertel der lesbischen und bisexuellen jungen Frauen an, schon einmal Sexualverkehr mit einem Partner des anderen Geschlechts gehabt zu haben (Savin-Williams 1990). Diamond et al. (1999) wenden sich daher gegen die normative Abfolge und stellen eine Typologie auf, die vier Beziehungsarten umfasst und auch für die Erforschung der Entwicklung von heterosexuellen romantischen Beziehungen fruchtbar sein könnte: 5 Rein sexuelle Beziehungen Diese Beziehungen werden von den meist männlichen Jugendlichen in der Regel vor der Öffentlichkeit verborgen; emotionale Intimität wird nicht angestrebt.
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In den verschiedenen Phasen der romantischen Entwicklung bieten Freunde ganz unterschiedliche Hilfen an. Zunächst stellen sie sich, einem angstbindenden Objekt gleich, zur Verfügung, wenn es um die Möglichkeit einer realen Annäherung an den romantischen Partner geht. Dies führt z. B. zu »double datings«. Die Planung dieser Aktionen erfolgt offenkundig auch durch gemeinsame, geteilte und ausgeschmückte Phantasien der beiden Freunde. Wir erwähnten bereits, dass die in den
5 Ausgeh-Beziehungen (Dating) Hier bekunden Jugendliche öffentlich ihr romantisches Interesse aneinander, allerdings ohne gegenseitige Verpflichtung. Damit treten Jugendliche für alle sichtbar in die Erwachsenenwelt der romantischen Beziehungen ein, gewinnen Sicherheit im romantischen Umgang miteinander und erschließen sich u. U. auch den Zutritt zu begehrten Peer-Gruppen. 5 Leidenschaftliche Freundschaften In engen Freundschaften unter weiblichen Jugendlichen, die in der Regel intimer sind als die ihrer männlichen Altersgenossen (Buhrmester u. Furman 1987), können im Rahmen des erlaubten engen Körperkontakts sexuelle Empfindungen entstehen und ausprobiert werden, denn eine klare Grenze zwischen fürsorglicher Zärtlichkeit und Sexualität ist oft nur schwer zu ziehen. 5 Romantische Beziehungen Eine romantische Beziehung aufzubauen und zu erhalten ist das Ziel fast aller Jugendlichen. Auch wenn dauerhafte Partnerschaften unter gleichgeschlechtlichen Lebensgefährten seit einigen Jahren in Deutschland anerkannt sind, stehen homosexuellen und bisexuellen Heranwachsenden gleichwohl sehr viel weniger Modelle für gelungene Partnerschaften zur Verfügung. Weil viele Jugendliche eine ablehnende oder unvorhersagbare Reaktion ihrer Familie auf ihr »Coming-out« erwarten, ziehen sie es vor, sich zu ihrer sexuellen Identität erst dann öffentlich zu bekennen, wenn sie ein eigenes Unterstützungsnetzwerk in der schwulen oder lesbischen Subkultur aufgebaut haben.
gleichgeschlechtlichen Freundschaftsbeziehungen gelernte Intimität auf den romantischen Partner übertragen wird. Auch die körperbezogenen Aktivitäten, die Freunde miteinander teilen (Auswahl der richtigen Kleidung, Make-up und Frisur bei den Mädchen bzw. Styling bei den Jungen, Imponiergehabe und sportliche Aktivitäten vor den Augen der potentiellen Partnerinnen), zeigen den »Probelauf«, der bis hin zum Erproben von Zungenküssen u. Ä. gehen kann.
5.6 Psychoanalytische Konzeptionen: Wie entwickeln sich romantische Beziehungen?
Das Freundschaftskonzept von Jugendlichen schließt selbstlose Unterstützung des Freundes, der Freundin, ein, wenn diese Hilfe brauchen – auch in Bezug auf den romantischen Partner. Dies kann bedeuten, dass die beste Freundin bei der Verarbeitung einer in die Brüche gegangenen Beziehung hilft, etwa durch Umdeuten der Situation (»Er hat ohnehin nie zu dir gepasst«; vgl. Gottman u. Mettetal 1986) oder durch direkte Anweisungen zur Kontrolle des Erlebens von Emotionen (»Denk nicht mehr an ihn«). Die Längsschnittstudie von Connolly et al. (2000) unterstreicht die sehr komplexen Kontexte und Beziehungsstrukturen. Über drei Jahre untersuchte sie Veränderungen in den Freundschaftsbeziehungen bzw. romantischen Beziehungen und ihren wechselseitigen Einfluss aufeinander bei 180 Neuntklässlern. Während die Anzahl von besten Freunden im Alter von 15–17 Jahren konstant blieb (zu 77 handelte es sich auch nach den drei Jahren um die gleichen besten Freunde), nahm die Anzahl romantischer Partner immer mehr zu. Die romantischen Beziehungen als solche waren instabil, d. h., es fanden sich nur wenige durchgängige Partnerschaften. Nur 8 berichteten über den gleichen romantischen Partner in Klasse 9 und 10 und nur 19 über den gleichen romantischen Partner in Klasse 10 und 11. Die Bedeutung der besten Freunde und der Gleichaltrigengruppe blieb auch bei beginnenden romantischen Beziehungen erhalten bzw. nahm nur leicht ab, was die wesentliche Stütz- und Hilfsfunktion der engen Freunde unterstreicht. Interessanterweise verblieb der romantische Partner nach der Trennung nicht selten als »Freund« weiter in der Gleichaltrigengruppe (bei 19 der Stichprobe) – genauso wie sich viele scheidende Liebespartner versprechen, Freunde zu bleiben.
5.6
Psychoanalytische Konzeptionen: Wie entwickeln sich romantische Beziehungen?
Romantische Beziehungen sind – im Gegensatz zu Beziehungen zur Herkunftsfamilie, dem Körper und der Triebdynamik – bisher recht selten in der psychoanalytischen Literatur zum Jugendalter thematisiert worden. Erst in den letzten Jahrzehnten
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ist seit den Arbeiten von Blos (1973) der Beziehungsaspekt stärker beleuchtet worden. Psychoanalytische Konzeptionen haben sich lange Zeit an Freuds (1923, 1925) Vorstellungen orientiert, denen zufolge die Adoleszenz die letzte Möglichkeit darstellt, den Ödipuskomplex endgültig zu bewältigen und ein nichtinzestuöses Liebesobjekt zu wählen. Eissler (1958) hat diese Idee der »letzten Frist« besonders in der Jugendlichen-Behandlung unterstrichen. Bei der Objektwahl unterschied Freud zwischen zwei verschiedenen Typen: der narzisstischen Wahl und der Wahl nach dem Anlehnungstypus. Charakteristisch für Freuds Konzeption war ferner die Annahme einer starken Welle von Repressivität, die bei weiblichen Jugendlichen die andrängenden Triebimpulse unterdrücken soll, sowie die Annahme der Passivität, d. h. die Vermutung, dass aktive weibliche Bestrebungen zugunsten passiver Bestrebungen aufgegeben werden müssen, um so etwas wie »wirkliche Weiblichkeit« zu erreichen. Diese letztgenannten Vorstellungen sind schon in den 30er und 40er Jahren von Analytikerinnen heftig kritisiert worden, so von Helene Deutsch, Karen Horney und Sabina Spielrein. Es wurde deutlich, dass Freud kein Modell einer genuin weiblichen Sexualität entwickelt hatte, sondern Weiblichkeit stets unter dem Gesichtspunkt der defizitären Männlichkeit interpretierte. Während Freuds zeitbedingt fehlerhafte Vorstellungen über die Sexualität kleiner Kinder und Jugendlicher – wie z. B. die von der Entdeckung der Vagina in der Pubertät – durch Beobachtungen und Arztberichte revidiert wurden (Mertens 1994b), prägten Freuds Vorstellungen der defizitären und kompensationsbedürftigen Weiblichkeit (v. a. die »gesteigerte körperliche Eitelkeit des Weibes«, Freud 1933, S. 352) nachhaltig die weitere Diskussion zur Adoleszenz in der Psychoanalyse (Chasseguet-Smirgel 1975; Dalsimer 1993; Rohde-Dachser 1991; Flaake u. King 1992). Insgesamt wurde in dieser Literatur der weiblichen Rolle und den körperlichen Veränderungen bei jungen Mädchen sehr viel Raum gegeben. Über ihre Beziehungsfähigkeit und die Kontaktaufnahme zum anderen Geschlecht erfährt man allerdings wenig. Laufer und Laufer (1984) haben die enorme Leistung Jugendlicher herausgearbeitet, ein Körperbild zu entwickeln, das die physisch reifen Genitalien einschließt. Diese Integrationsleistung ist mit
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Kapitel 5 · Freunde und romantische Partner als »Entwicklungshelfer«
vielen Gefahren verbunden, weil nun die Inzestwünsche real in die Tat umgesetzt werden können, worauf gesellschaftliche Tabus besonders verweisen. Für Laufer und Laufer ist diese Integrationsleistung jedoch entscheidend, da davon die weitere Entwicklungsprogression oder das Scheitern von Entwicklung abhängt. Die zunehmende Zahl von Suiziden (bei männlichen Jugendlichen) und Essstörungen (bei weiblichen Jugendlichen) seien Anzeichen des Scheiterns dieses Integrationsprozesses und letztlich Botschaften, den Körper loszuwerden. Indikativ für eine gelungene Integration seien dagegen spezielle Phantasien, insbesondere die so genannte zentrale Masturbationsphantasie, die die Genitalien und eine Drei-Personen-Beziehung einschließen muss. Anna Freud hat schon früh auf die Bedeutung von Abwehrmechanismen in der Adoleszenz hingewiesen, mit denen der Jugendliche versucht, dem andrängenden Triebdruck Herr zu werden. Sie beobachtete nicht nur, dass erwachsene Patienten sich in ihren Therapien selten an ihre eigene Jugendzeit erinnern können (A. Freud 1958), sondern beschrieb auch auf der Basis ihrer Erfahrungen mit Jugendlichen-Behandlungen zwei jugendtypische Abwehrmechanismen: die Askese und die Intellektualisierung (A. Freud 1936). Abwehrmechanismen in der Adoleszenz (A. Freud 1936) 5 Die Intellektualisierung hat den Zweck, Triebvorgänge durch enge Verbindung mit Vorstellungsinhalten zugänglich und beherrschbar zu machen, und erlaubt die Abfuhr der Aggression in verdrängter Form. 5 Die Askese verbietet den Ausdruck jeder Triebregung und spielt ins Masochistische hinein. Extremes Fasten, extreme körperliche Anstrengung und sonderbare Ernährung sind häufig: »lm Internat versagte er sich eine Woche lang das Salz. Ein anderes Mal trank er eine Woche kein Wasser oder irgendwelche andere Flüssigkeit. Er führte so eine Wette durch, kollabierte aber am Ende.« (Blos 1973)
Anna Freud räumt demnach, ebenso wie Laufer und Laufer, in der Tradition Freuds dem Triebgeschehen bzw. dessen Abwehr und den körperlichen Aspekten des Jugendalters eine sehr große Bedeutung ein. Die Phasentheorie von Peter Blos (1973) greift erstmals den Beziehungsaspekt auf. Er setzt an den gerade beschriebenen Bedeutungen der Triebimpulse, der zugehörigen Abwehr und der Verschiebung der Besetzungsenergien an, die durch die allmähliche Verlagerung von den Eltern auf die Freunde und romantischen Partner zustande kommt, und beschreibt Triebentwicklung, Abwehr, körperliche Veränderungen und Veränderungen in der Beziehungsdynamik im Verlauf der Adoleszenz: Kennzeichen der Präadoleszenz, die den Übergang von der Latenz markiert, ist eine unspezifische Zunahme des Triebdrucks, die v. a. für Jungen sehr irritierend ist, da alle möglichen Reize Erektionen auslösen können. In dieser Phase kommt es zu einem Wiederaufleben der Prägenitalität bei allgemein starker motorischer Unruhe mit den typischen abwertenden und mädchenfeindlichen Einstellungen bei Jungen und einem starken Aktivitätsschub in Richtung Tomboy-Verhalten bei Mädchen. In der Frühadoleszenz, etwa zwischen 11 und 13 Jahren, dem bereits erwähnten narzisstischen Durchgangsstadium, wird bereits nach einem neuen Liebesobjekt gesucht, und der Freund, die Freundin bekommen eine nie gekannte Wichtigkeit. Blos beschreibt die Objektwahl nach einem narzisstischen Schema. Ihm zufolge schließen Jungen wie Mädchen Freundschaften, in denen es um die Idealisierung des Freundes geht.
5.7 Entwicklungspsychologische Phasenmodelle: Theorien und empirische Belege
Der Freund als Ich-ldeal Typische Freundschaften der Frühadoleszenz vermischen Erotik und Idealisierung zu einem eigenartigen Gefühl, das am besten in der Novelle »Tonio Kröger« von Thomas Mann (1903) beschrieben wurde. Die Sache war die, dass Tonio Hans Hansen liebte und schon vieles um ihn gelitten hatte. Wer am meisten liebt, ist der Unterlegene und muss leiden – diese schlichte und harte Lehre hatte seine 14-jährige Seele bereits vom Leben entgegen genommen. (…) Die Art und Weise, sich selbst und sein Verhältnis zum Leben zu betrachten, spielte eine wichtige Rolle in Tonios Liebe zu Hans Hansen. Er liebte ihn zunächst, weil er schön war, dann aber, weil er in allen Stücken als sein eigenes Widerspiel und Gegenteil erschien.
Homosexuelle Episoden kommen für Jungen wie Mädchen während dieser Frühphase der Adoleszenz häufig vor. Nach Blos (1973) wird die homosexuelle Objektwahl bei Mädchen durch die frühe Fixierung an die Mutter und bei Jungen durch die Furcht vor der Vagina begünstigt. Helene Deutsch hat bereits 1944 gemutmaßt, dass die bisexuelle Phase bei Mädchen weniger stark verdrängt ist als bei Jungen. Nach einem bisexuellen Durchgangsstadium, das bei Jungen und Mädchen gleichermaßen zu beobachten ist, kommt es zu einem Voranschreiten der Liebe zu neuen Objekten. Die Besetzung des Liebesobjekts mit narzisstischer Liebe klärt die Idealisierung am Beginn der romantischen Beziehung, die nach Blos charakteristisch für die eigentliche Adoleszenz zwischen 14 und 16 Jahren ist. Fallbeispiel Ein 15-Jähriger beschreibt sein erstes Liebeserlebnis: Es war das merkwürdigste Gefühl, das ich je einem Mädchen gegenüber hatte. Wir fuhren zusammen mit der Eisenbahn ins Ferienlager. Ich liebte das Mädchen, war aber unfähig, sie zu berühren oder zu küssen. So ging das fast den ganzen Sommer lang, ich fühlte immer, es könnte zu viel für sie sein, wenn ich sie berühre, ich werde unsere Beziehung dadurch zerstören. (Blos 1973, S. 157)
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Die gewählten Objekte haben entweder eine partielle Ähnlichkeit oder auffallende Unähnlichkeit mit den Eltern. Die heterosexuelle Liebe beendet demnach Blos zufolge das homosexuelle Durchgangsstadium. Dieser klare Schnitt ließ sich in meinen Tagebuchanalysen nicht bestätigen. Es zeigen sich eher eine gewisse zeitliche Überlappung und dann schließlich eine überwiegende Beschäftigung mit dem romantischen Partner ab dem Alter von etwa 16–17 Jahren. Es ist das Verdienst von Peter Blos, auch auf spätere Phasen der Adoleszenz hingewiesen zu haben, z. B. auf die Postadoleszenz und auf die pathologisch prolongierte Adoleszenz, in der der ältere Jugendliche an der Schwelle des Erwachsenwerdens Probleme hat, seine Kindheitsprivilegien aufzugeben, aber zugleich Erwachsenen-Vorrechte genießen möchte. Wie in 7 Kap. 6 beschrieben, findet gegenwärtig ein Hinausschieben wichtiger Marker für das Erwachsenwerden – wie stabile Partnerbeziehungen – bis ins 3. Lebensjahrzehnt statt (»emerging adulthood«), ohne dass dies heute als pathologisch angesehen wird.
5.7
Entwicklungspsychologische Phasenmodelle: Theorien und empirische Belege
Entwicklungspsychologische Forschung über romantische Beziehungen gibt es erst seit einigen Jahren. Die erste Monographie wurde von Furman et al. (1999) geschrieben. Sie zeigt, dass, wenn junge Erwachsene romantische Partnerschaften von einiger Dauer unterhalten, mehrere qualitativ unterschiedliche Entwicklungsphasen vorausgegangen sind. Was die Konzeptualisierung romantischer Beziehungen angeht, wurden drei verschiedene Ansätze entwickelt (7 Übersicht). Theorien der romantischen Entwicklung 5 Romantische Beziehungen zur Erreichung von emotionaler Autonomie 5 Der romantischer Partner »steigt auf« in der Beziehungshierachie 5 4-Phasen-Modell der romantischen Entwicklung
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Kapitel 5 · Freunde und romantische Partner als »Entwicklungshelfer«
Romantische Beziehungen zur Erreichung emotionaler Autonomie von den Eltern
Der »Aufstieg« des romantischen Partners in der Beziehungshierachie
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Die Theorie von Gray und Steinberg (1999) lehnt sich an Freud an und unterstreicht, dass die romantische Entwicklung untrennbar mit der Aufgabe der Ablösung von den Eltern verbunden ist. Auf Grund der gegenwärtig verlängerten Schul- und Ausbildungssituation verbleiben Jugendliche und junge Erwachsene vergleichsweise lange in ihrem Elternhaus. Diese finanzielle und ökonomische Abhängigkeit wiegt schwer, und die Aufnahme romantischer Aktivitäten ist als deutliches Signal gegenüber den Eltern zu sehen, dass sie emotional unabhängig und erwachsen sind. Die Suche von Intimität – zunächst in der Beziehung zum besten Freund, der besten Freundin und später in der Beziehung zum romantischen Partner – hat demnach sehr deutlich das Ziel der Erreichung emotionaler Autonomie in einer Situation starker Abhängigkeit. Jugendliche ohne romantische Beziehungen haben es entsprechend schwer, eine angemessene Balance zwischen Separation und Individuation zu finden. Tatsächlich zeigen neuere Befunde, dass Nesthocker, d. h. junge Leute, die nicht ausziehen, sowohl in ihrer Jugendzeit als auch im jungen Erwachsenenalter deutlich weniger romantische Erfahrungen machen (SeiffgeKrenke 2006b). Romantische Partner haben also in der Tat eine wichtige Pförtnerfunktion für die Autonomieentwicklung.
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Mutter Vater romant. Partner Freunde
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In ihrer Entwicklungstheorie romantischer Beziehungen legen Furman und Wehner (1994) dar, dass während früherer Phasen der Adoleszenz Freundschaftsbeziehungen den Kontext liefern, in dem sich wichtige Komponenten romantischer Beziehungen entwickeln; entsprechend seien romantische Beziehungen in diesem Alter sehr stark durch affiliative Merkmale gekennzeichnet. Erst in der späten Adoleszenz würden neue Aspekte wie Leidenschaft und sexuelle Anziehung in die romantischen Beziehungen integriert und zum wesentlichen und einzigartigen Charakteristikum dieser Beziehungen. Ihrer Theorie zufolge spielt der romantische Partner, verglichen mit den Eltern und engen Freunden, zunächst eine eher untergeordnete Rolle als Unterstützungspartner. Über die Adoleszenz hinweg gewinnt er jedoch zunehmend an Bedeutung und ersetzt die anderen Beziehungen nach und nach. Am Ende der Adoleszenz hat er schließlich den ersten Rangplatz unter den Beziehungspartnern des Jugendlichen erreicht. In meiner Längsschnittstudie an 112 jungen Erwachsenen, die seit ihrem 13. Lebensjahr zusammen mit ihren Eltern an Interviews und Fragebogen-Erhebungen teilgenommen hatten (SeiffgeKrenke 1999, 2003a), zeigte sich, dass romantische Partner mit zunehmendem Alter der Jugendlichen als Unterstützungspartner immer wichtiger wurden. Ab dem Alter von 17 Jahren wurden sie sogar noch wichtiger als die besten Freunde. . Abb. 5.13 verdeutlicht den typischen »Aufstieg« der romantischen Partner über die Adoleszenz hinweg, die nach und nach alle ande-
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Alter (Jahre)
. Abb. 5.13. Systematischer »Aufstieg« des romantischen Partners als Unterstützungspartner über die Adoleszenz hinweg, verglichen mit anderen Beziehungspartnern
5.7 Entwicklungspsychologische Phasenmodelle: Theorien und empirische Belege
ren Beziehungspartner überflügeln. Im Alter von 17 Jahren stehen sie an der Spitze der Unterstützungspersonen; zu diesem Zeitpunkt sind auch beste Freunde weniger wichtig für den Jugendlichen. Dieses typische Entwicklungsmuster galt für die Mehrzahl der Jugendlichen in unserer Studie, wobei zu bedenken ist, dass es sich um einen Summenwert über verschiedene romantische Partner handelte, denn während der Jugendzeit sind Partnerwechsel sehr häufig. Bei einem kleineren Prozentsatz der Teilnehmer unserer Studie fand sich allerdings ein weniger eindeutiges Entwicklungspattern, das mit altersunangemessener Unterstützung der Eltern, besonders der Mutter, einherging (S. 147). Die romantischen Partner waren auch weniger wichtig als die besten Freunde.
4-Phasen-Modell der romantischen Entwicklung Auch die Entwicklungstheorie von Brown (1999) fokussiert sehr stark auf den Kontext der PeerBeziehungen. Brown unterscheidet vier Stadien der Entwicklung romantischer Beziehungen: 5 Initiations-Phase (ca. 11–13 Jahre), 5 Status-Phase (ca. 14–16 Jahre), 5 Affection-Phase (ca. 17–20 Jahre), 5 Bonding-Phase (ca. ab 21 Jahre). Initiations-Phase. In der »initiation phase« – etwa zu Beginn der Pubertät – kommt es zu einer ersten Begegnung zwischen Jungen und Mädchen, nachdem beide die Kindheit hindurch in streng geschlechtssegregierten Gruppen gespielt und sich wechselseitig abgelehnt haben. Der Zweck dieser Phase besteht in einer erneuten Zusammenführung beider Welten: Große Gruppen von Jungen treffen sich mit großen Gruppen von Mädchen »zufällig« in ganz bestimmten Freizeitkontexten, wobei gegenseitiges Necken oder Augenkontakt aus der Feme häufig sind. Die romantischen Aktivitäten bestehen aus spontanen, gelegentlichen Begegnungen von sehr kurzer Dauer, bei denen die Gleichaltrigen assistieren, die aber gleichwohl sehr aufregend sind. Phantasien spielen in diesem Stadium eine große Rolle, nicht nur in der Kommunikation zwischen engen Freunden: 34 aller weiblichen Jugendlichen und 25 aller männlichen Jugendlichen beschrei-
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ben phantasierte heterosexuelle Beziehungen, d. h., sie haben sich in jemanden verliebt, der Betreffende »weiß aber nichts davon« (Furman et al. 1999). In dieser Phase liegt der Fokus auf der eigenen Identität, dem Selbst, dem Körper. Status-Phase. In der »status phase«, die sich von der frühen bis zur mittleren Adoleszenz erstrecken kann, gewinnt die Frage an Bedeutung, ob man sich mit der »richtigen« Person verabredet hat, d. h., der Status des romantischen Partners aus der Sicht der Peers und besten Freunde ist sehr entscheidend. Man verabredet sich bevorzugt mit Jungen oder Mädchen, die einen hohen Status in der PeerGruppe haben, also besonders beliebt oder besonders attraktiv sind. Wie unsere eigenen Studien zeigen, haben die romantischen Beziehungen jetzt eine durchschnittliche Dauer von 5,1 Monaten. Affection-Phase. In der »affection phase«, die von
der mittleren bis zur späten Adoleszenz dauern kann, gewinnt der romantische Partner als solcher zum ersten Mal Kontur. Verabredungen erfolgen jetzt zunehmend als Paar, die Beziehung wird exklusiver, länger andauernd (im Schnitt 11,6 Monate in meiner Längsschnittstudie) und intimer. Die Beziehung zum romantischen Partner ist jetzt die wichtigste Beziehung für den Jugendlichen, starke positive Gefühle wie Verliebtheit, aber auch ambivalente Affekte (»himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt«) sind charakteristisch. Die Beziehung ist sexuell erfüllend, hat aber auch etwas Idealistisches (. Abb. 5.14).
. Abb. 5.14. Romantische Liebe: »Affection-Phase«
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Kapitel 5 · Freunde und romantische Partner als »Entwicklungshelfer«
Bonding-Phase. In der »bonding phase« schließ-
lich, die beim Übergang ins junge Erwachsenenalter mit ca. 21–24 Jahren auftritt, erfolgt eine weitere Veränderung. Die Tiefe der Beziehung bleibt erhalten, allerdings tritt eine eher pragmatische Sicht an die Stelle der überschießenden positiven Emotionen. Es wird zunehmend überlegt, ob die Beziehung Bestand hat und sich der Partner für ein Zusammenleben, Familiengründung etc. eignet.
Der Fokus liegt wiederum auf der Identität, aber verbunden mit dem romantischen Partner. Dieser duale Fokus macht deutlich, dass der Wunsch nach Verschmelzung, aber auch nach Unabhängigkeit das zentrale Thema dieser Phase ist. Das Paar muss zu einer Balance zwischen Intimität und Nähe auf der einen Seite und Unabhängigkeit auf der anderen Seite finden.
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Empirische Überprüfung des Brownschen Phasenmodells Die empirische Überprüfung anhand meiner eigenen Längsschnittdaten bestätigt das Brownsche Modell (Seiffge-Krenke 2003a). Wir untersuchten kontinuierlich das Selbstkonzept und die Beziehungsqualität zu Eltern, Freunden und romantischen Partnern im Alter zwischen 13 und 21 Jahren. Dabei zeigte sich Folgendes: Nicht nur die Dauer der romantischen Beziehung nimmt kontinuierlich über die Jahre der Adoleszenz hinweg zu und steigt von 3,1 Monaten im Alter von 13 Jahren auf 11,6 Monate im Alter von 17 Jahren. Es verbessert sich auch die Qualität der Beziehungen, und der Fokus ruht immer stärker auf dem jeweiligen romantischen Partner. Längsschnittlich ließ sich demnach eine Verschiebung der Aufmerksamkeit vom Selbst auf die Peer-Gruppe und schließlich auf den romantischen Partner nachweisen. Diese Veränderungen im Fokus waren auch wichtige Variablen bei der Vorhersage der Qualität romantischer Beziehungen einige Jahre später,
nämlich zu Beginn des jungen Erwachsenenalters, im Alter von 21 Jahren. Hierbei sagte aus der frühen Adoleszenz, d. h. aus dem Alter von 13 Jahren, ein positives Selbstkonzept 8% der Varianz in späteren romantischen Beziehungen vorher, aus der mittleren Adoleszenz trägt die durch Freunde erlebte Unterstützung weitere 15% bei (. Abb. 5.15). Von ganz herausragender Bedeutung für die Vorhersage der Qualität romantischer Beziehungen im Alter von 21 Jahren waren allerdings frühere romantische Beziehungen, insbesondere solche während der »affection phase« (34%). Dies ist ein interessantes Ergebnis, denn naturgemäß wurden die Partner zu dieser Zeit häufiger gewechselt. Es ist die Summe dieser positiven Erfahrungen mit durchaus verschiedenen romantischen Partnern während der Jugendzeit, die die spätere Qualität von Partnerbeziehungen am Übergang zum Erwachsenenalter wesentlich mitbestimmt.
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Romantische Beziehungen sind demnach mit zunehmendem Alter durch Exklusivität und Intimität gekennzeichnet, Sexualität gewinnt eine zunehmende Bedeutung, und auch der Verpflichtungsgrad der Partner zueinander steigt. Sehr entscheidend für den weiteren Bestand der Beziehung ist die Fähigkeit beider Partner, Konflikte konstruktiv zu lösen. Längsschnittstudien belegen, dass bei positiver emotionaler Bindung die Anzahl der Konflikte zunimmt, in denen die Partner das angemessene Maß an Verbundenheit und
Nähe vs. individueller Freiheit aushandeln. Wichtiger Konfliktanlass ist auch die Nähe und Intensität von Freundschaftsbeziehungen, die mit romantischen Beziehungen interferieren können. Partnerbeziehungen, in denen Konflikte miteinander aktiv bewältigt werden, haben längeren Bestand, es kommt zu einer weiteren Zunahme der Beziehungsqualität (Nieder u. Seiffge-Krenke 2001). Dies zeigt, dass tatsächlich Beziehungsarbeit geleistet wird, die sich wiederum auf die Qualität und Dauer der Beziehung auswirkt.
145
5.8 Unterschiedliche Bindungen an die Eltern
. Abb. 5.15. Faktoren aus der Jugendzeit, die die Qualität romantischer Liebe im Alter von 21 Jahren determinieren
Romantische Liebe 21 Jahre
5.8
Selbst
Freunde
8%
15%
13 Jahre
15 Jahre
5
Romantischer Partner 34 %
Unterschiedliche Bindungen an die Eltern und ihr Einfluss auf die Qualität von Liebesbeziehungen
Romantische Beziehungen im jungen Erwachsenenalter lösen sich mehr und mehr vom Peer-Kontext und enthalten eine zunehmend exklusivere, dyadische Note. Möglicherweise werden deshalb in diesem Stadium eher die Eltern als Modelle angesehen, während für frühere romantische Beziehungen die Qualität der Beziehungen zu den Freunden einflussreich ist (Seiffge-Krenke 2001c). Weitere Faktoren, die für die Vorhersage der Qualität von romantischen Beziehungen relevant sind, betreffen die Identität und das Körperkonzept (Seiffge-Krenke et al. 2001), wobei Letzteres die körperliche Anziehung in romantischen Beziehungen vorhersagt. Es ist einleuchtend, dass das eigene Selbstkonzept und das Körperkonzept die Beziehungen zu den besten Freunden und zunehmend die früheren Erfahrungen mit verschiedenen romantischen Partnern die Qualität späterer Partnerbeziehungen bestimmen. Diese Faktoren sind abhängig von den erlebten Beziehungen in der Herkunftsfamilie. Frühere Beziehungen zu den Eltern bestimmen beispielsweise, ob, wie früh und welche Partnerbeziehungen eingegangen werden und welche Qualität sie haben.
17 Jahre
Die Bindungstheorie wurde auch zur Erklärung stabiler bzw. instabiler Liebesbeziehungen herangezogen. Shaver und Hazan (1988) berichten, dass eine sichere Bindung in der Kindheit mit positiven Beziehungsmerkmalen romantischer Liebe im Erwachsenenalter wie wechselseitiger Intimität und sexueller Zufriedenheit verbunden ist. Personen, die durch einen vermeidenden Bindungsstil gekennzeichnet sind, haben dagegen sexuelle Beziehungen mit großer emotionaler Distanz und einem niedrigen Ausmaß an Verpflichtung. Bei Personen mit unsicher-ambivalentem Bindungsstil sind Leidenschaft und Präokkupation in den romantischen Beziehungen auffallend. Ihre romantischen Beziehungen sind durch widersprüchliche Gefühle und große Eifersucht gekennzeichnet; sie nutzen sexuelle Aktivitäten zur Befriedigung ihres Bedürfnisses nach Liebe und Sicherheit. Die bisherige Forschung legt nahe, dass die Qualität der Beziehung zu den Eltern während der Kindheit mit der Qualität romantischer Beziehungen im Erwachsenenalter unmittelbar zusammenhängt. Auf der Basis des Adult Attachment Interviews (AAI) zeigten Owens et al. (1995), dass junge Erwachsene ähnliche Beziehungsmuster zu ihren Eltern und ihren romantischen Partnern beschreiben. Feeney et al. (1993) fanden, dass junge Erwachsene mit unsicher-vermeidender Bindung an ihre Eltern kurze romantische Beziehungen bevorzugten, die durch ein niedriges Maß an Nähe und Verpflichtung gekennzeichnet waren, und auch
146
1 2 3 4 5 6 7
Kapitel 5 · Freunde und romantische Partner als »Entwicklungshelfer«
eher zu sexuellen Aktivitäten bereit waren. Junge Erwachsene mit einer sicheren Eltern-Kind-Bindung bevorzugten dagegen lang andauernde romantische Beziehungen mit mittlerem Verpflichtungsgrad, ohne allerdings ein übertriebenes Bedürfnis nach Nähe oder Verpflichtung zu haben, das eher für Personen mit unsicher-ambivalentem Bindungsstil typisch ist. Keppler et al. (2002) berichten aus ihrer Längsschnittstudie, dass junge Erwachsene, die als 16-Jährige (im AAI) und als 6-Jährige (im Separation Anxiety Test, SAT) ein sicheres inneres Arbeitsmodell in der Beziehung zu ihren Eltern aufwiesen, im Interview auch über ihre romantischen Beziehungen in einer sicheren Weise sprachen, also leichten Zugang zu bindungsrelevanten Gefühlen hatten, und ihre Partnerschaft als verlässliche Quelle der Geborgenheit schätzten. Junge
Erwachsene mit einem unsicher-distanzierten inneren Arbeitsmodell neigten dagegen eher dazu, bindungsrelevante Informationen zu vermeiden oder ihre romantische Beziehung in einem stereotyp positiven Licht zu zeichnen. Junge Erwachsene, die in den Partnerschaftsinterviews keine Bewertung ihrer Partnerschaft vornehmen konnten, vielleicht weil sie dem Partner wenig Fürsorge entgegenbrachten und zugleich sich selbst als sehr bedürftig schilderten, wiesen der Tendenz nach als Kinder und Jugendliche ein unsicher-ambivalentes inneres Arbeitsmodell auf. Auch wenn Bindungsverhalten und Bindungsrepräsentationen nicht in jedem Fall übereinstimmen, so zeigt sich hier doch ein lang andauernder Einfluss der Eltern-Kind-Beziehung auf die Repräsentationen der romantischen Beziehungen der jungen Erwachsenen.
8 9 10 11 12 13 14 15 16 57 18 19 20
Einflüsse der Scheidung der Eltern Hazan und Shaver (1987) fanden, dass sicher gebundene Personen seltener eine Scheidung der Eltern erlebt hatten als Personen mit vermeidender oder ambivalenter Bindung. Hayashi und Strickland (1998) sprechen regelrecht von »divorce as attachment disruption«. Eine direktere Beziehung zwischen dem Familienstand der Eltern und der Qualität romantischer Beziehungen junger Erwachsener wurde in mehreren Studien gefunden (Summers et al. 1998; Giuliani et al. 1998; Sprecher et al. 1998). In der Regel zeigten Jugendliche aus Scheidungsfamilien mehr Misstrauen und wiesen häufiger
Auch in meiner eigenen Längsschnittstudie wurde deutlich, dass junge Erwachsene, die das Bonding-Stadium nach Brown (1999) in ihren Partnerbeziehungen erreicht hatten, überwiegend über eine sichere Bindung zu ihren Eltern in ihrer Kindheit berichteten. Die Veränderungen innerhalb der Unterstützungsspartner im Verlauf der Adoleszenz wies das in . Abb. 5.13 dargestellte typische Muster des kontinuierlichen »Aufstiegs« der romantischen Partner auf (S. 143). Für diejenigen jungen Erwachsenen, die in der Bonding-Phase nur eine oberflächliche Bindung an romantische Partner entwickelt hatten, war dagegen nicht nur ein unsicheres inne-
einen vermeidenden Bindungsstil gegenüber ihren Partnern auf. Eifersucht und Angst, verlassen zu werden, wurden häufig genannt. Aber nicht nur die Scheidung, sondern auch langjährige Konflikte der Eltern erwiesen sich als nachhaltig und schädigend für die romantischen Beziehungen ihrer Kinder. Ein erheblicher Prozentsatz der jungen Erwachsenen, deren romantische Beziehungen die Qualität »ängstliche Liebe« hatten, stammt aus Scheidungsfamilien oder konfliktträchtigen Ehen.
res Arbeitsmodell charakteristisch (Seiffge-Krenke u. Lang 2001). Auffallend war auch eine unangemessen hohe Unterstützung durch die Mutter während der Jugendzeit, besonders im Alter zwischen 15 und 17 Jahren. Obgleich diese Jugendlichen über die Jahre hinweg romantische Partner hatten, ist die Qualität der romantischen Beziehung sehr niedrig, wie sich an den geringen Werten in Unterstützung und Intimität festmachen lässt. Zu den weiteren qualitativen Unterschieden zählten weniger Zuneigung, widersprüchliche Gefühle, mehr Angst vor Nähe sowie mehr Eifersucht. Die Qualität dieser »ängstlichen
147
5.9 Enge Beziehungen: Risiko oder Ressource?
5
. Abb. 5.16. Determinanten für eine unsichere romantische Liebe im Alter von 21 Jahren
Ängstliche romantische Liebe 21 Jahre kurze Beziehungen; nicht exklusiv
Frühere romantische Beziehungen romantische Partner weniger wichtig; weniger klare Entwicklungssequenz; viele Konflikte
Anpassung hohe Symptombelastung; niedriger Entwicklungsstand; niedrige Copingkompetenz
Frühere Beziehungen zu Eltern und Freunden Unangemessene Unterstützung; viele Konflikte
Eheliche Beziehung der Eltern wenig Kommunikation; wenig Zärtlichkeit; viele Konflikte
Liebe« im Alter von 21 Jahren ließ sich entsprechend
durch eine altersunangemessene Unterstützung durch beide Eltern während der späten Jugendzeit vorhersagen. Weitere Einflussfaktoren waren belastete eheliche Beziehungen ihrer Eltern, problematische Beziehungen zu den Freunden sowie viel Stress in den früheren romantischen Beziehungen (. Abb. 5.16). Dies zeigt, dass ein Zuviel an Unterstützung durch die Eltern, speziell die Mutter, verhindert, dass der romantische Partner allmählich den ersten Rangplatz unter den Beziehungspartnern einnehmen kann, wie es Furman und Wehner (1994) beschrieben haben. Anscheinend muss die elterliche Zuwendung und Unterstützung in der mittleren Adoleszenz besonders sensibel erfolgen, wenn sich der Schereneffekt bezüglich der Unterstützungspartner zu entwickeln beginnt. In der späten Adoleszenz sollte dann die Unterstützung durch die Eltern eher gering sein. Aus der Sicht des unsicher-ambivalenten Jugendlichen ist wiederum zu bedenken, dass das Bindungssystem noch nicht zur Ruhe gekommen ist und diese Jugendlichen unangemessen lange an ihre Eltern gebunden bleiben (7 Kap. 3).
5.9
Enge Beziehungen: Risiko oder Ressource?
Ähnlich wie in anderen wichtigen Beziehungen stellen Freunde und romantische Partner sowohl einen protektiven Faktor als auch einen Risikofaktor für die weitere Entwicklung dar, wobei die Schutzfunktion in der Auseinandersetzung mit Belastungen bei weitem überwiegt. Diese adaptive und protektive Funktion kann sogar so weit gehen, dass sich Kinder und Jugendliche, wie wir gesehen haben, Phantasiefreunde schaffen oder Brieffreundschaften intensiv pflegen (Shulman et al. 1994). Dass Freunde zu haben ein Schutzfaktor ist – und keine Freunde zu haben ein Risikofaktor –, beschreibt nur eine, wenngleich eine wichtige Dimension im Kontext von Adaptation.
Unterstützung und Verführung Auf die protektive Funktion von Freundschaftsbeziehungen wird immer wieder hingewiesen. Dabei wird unterstrichen, dass enge Freundschaften auf längere Sicht für unterschiedliche Aspekte einer positiven Adaptation wichtiger sind als ein großes
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Kapitel 5 · Freunde und romantische Partner als »Entwicklungshelfer«
Netzwerk von Beziehungen zu Gleichaltrigen. Bagwell et al. (1998) stellten fest, dass Studienteilnehmer, die mindestens einen dauerhaften und gegenseitig bestätigten engen Freund ihres eigenen Geschlechts in der Präadoleszenz hatten, als junge Erwachsene ein sehr viel positiveres Selbstkonzept aufwiesen. Der überproportional gestiegene Selbstwert dieser jungen Erwachsenen ließ sich v. a. auf die Existenz dieser besonders engen Freundschaft zurückführen. Akzeptanz oder Ablehnung durch die Peer-Gruppe wurde statistisch kontrolliert. Ablehnung durch die Gleichaltrigen sagte demgegenüber mangelnde Erfolge in Schule und Beruf vorher – ebenfalls bei Kontrolle der jeweiligen Ausgangswerte. Unterstützung durch Freunde steht in direkter Beziehung zum Wohlbefinden (Vernberg 1990) und puffert die Effekte von Stress ab (Moran u. Eckenrode 1991). Vor allem bei den sich stark verändernden ElternKind-Beziehungen im Jugendalter sind Freunde ein wichtiger Faktor, um Belastungen abzufedern. Jugendliche mit problematischen Eltern-Beziehungen entwickelten keine Symptome, wenn sie supportive Freunde und romantische Partner hatten (Beyers u. Seiffge-Krenke 2007). Enge Freundschaften können sogar die negativen Auswirkungen von Viktimisierungen durch Gleichaltrige (Bullying) abfedern (Hodges et al. 1999). Entsprechend wurde das Fehlen von sozialer Unterstützung durch Freunde immer wieder in Verbindung mit zahlreichen Indikatoren von mangelnder Anpassung wie schlechten Schulnoten, Depression (Parker u. Asher 1987), Delinquenz und Drogengebrauch (Mounts u. Steinberg 1995; Salisch 2001) gebracht. Auf Grund der hohen Stabilität der Ablehnung durch Gleichaltrige (Silbereisen u. Albrecht 1990) sind die langfristigen Auswirkungen fehlender Freundschaftsbeziehungen alarmierend. Bereits Sroufe und Rutter (1984) haben belegt, dass schlechte Peer-Beziehungen zu den stabilen Prädiktoren von Psychopathologie im Erwachsenenalter zählen. In den letzten Jahren hat man zunehmend die »Verführung« zu gesundheitsschädlichem Verhalten durch Freunde untersucht. Allerdings liegt der Schwerpunkt der Studien eher auf dem Einfluss der Peer-Gruppe im Hinblick auf Rauchen, Trinken, riskantes Autofahren und riskantes Sexualverhalten. Wie Brown (1999) nachgewiesen hat, handelt es sich um größere Gruppen von »Freunden« (mehr
als zehn Mitglieder), d. h. um Jugendliche mit eher losen als intimen Beziehungen, die sich finden, um gemeinsam deviante Verhaltensweisen auszuprobieren. Diese »Verführungstheorie« ist für deutsche Jugendliche aber weniger zutreffend als für amerikanische Jugendliche, da sie eher zu kleineren Gruppen neigen. Dennoch sind die engen Freundschaften oft in größeren Gruppierungen eingebunden, mit der entsprechenden Einflussmöglichkeit auf gesundheitsschädigendes Verhalten (La Greca et al. 2001). In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass in amerikanischen Studien eine zu frühe Aufnahme sexueller Beziehungen, bevorzugt bei frühreifen Mädchen, kritisch gesehen wird. Die Verführung durch den in der Regel älteren Partner zu Rauchen, Trinken und verfrühtem Geschlechtsverkehr wird stark problematisiert.
Self-handicapping: Kann man auch zu viel emotionale Kompetenz haben? Im Jugendalter finden sich zunehmende Anstiege depressiver Stimmungen und depressiver Störungen, die möglicherweise mit den sich verbessernden Fähigkeiten zur Empathie, zur Emotionskontrolle und zur Konfliktbewältigung zu tun haben. Dies gilt besonders für weibliche Jugendliche, für die enge Freundschaftsbeziehungen zu gleichaltrigen Mädchen so besonders wichtig sind, die zugleich aber auch viel stärker als männliche Jugendliche unter depressiven Stimmungen leiden. Der Trend, dass ab dem Jugendalter weibliche Jugendliche depressiver sind als männliche, findet sich sowohl auf klinischem (Hankin et al. 1998) als auch auf subklinischem Niveau in Form hoher Raten depressiver Stimmung (Seiffge-Krenke 2007b). Es ist also die Frage, ob man auch ein zu viel emotionale Kompetenz haben kann und inwiefern die hohen Fähigkeiten zur Empathie und Intimität sowie die größere Bereitschaft zur Fokussierung auf Emotionen bei jungen Mädchen nicht zu einem »self-handicapping« führen können, das letztlich in Depression mündet. Unsere eigenen Studien haben gezeigt, dass weibliche Jugendliche die gleichen Alltagsereignisse als dreimal belastender erleben als ihre gleichaltrigen männlichen Klassenkame-
5.9 Enge Beziehungen: Risiko oder Ressource?
raden (Seiffge-Krenke 1993). Sie erleben einen Konflikt auch dann noch als permanent, wenn er für die männlichen Jugendlichen bereits abgeschlossen ist. Im Übrigen neigen sie dazu, einen großen Teil eher neutraler Alltagsstressoren in Beziehungsstressoren »umzuwandeln« (Seiffge-Krenke 2006c). Eine schlechte Note zu bekommen ist z. B. für männliche Jugendliche ein eher neutraler Stressor, für weibliche Jugendliche dagegen ein Beziehungsstressor. Wenn man nun die Bewältigungsprozesse analysiert, so zeigt sich immer wieder übereinstimmend, dass weibliche Jugendliche Copingstrategien bevorzugen, in denen sie ihr soziales Netzwerk nutzen (Seiffge-Krenke 1995), etwa in der Diskussion des Problems mit dem Betroffenen oder in der Suche von Rat und Hilfe. Männliche Jugendliche machen sich dagegen weniger Sorgen, haben häufiger die Erfahrung gemacht, dass die Dinge gut ausgehen und neigen auch eher zu einem ausweichenden Verhalten. Meine Forschung zeigt sehr deutlich, dass weibliche Jugendliche in einem Dilemma zwischen ihrer Sensibilität gegenüber Beziehungsstressoren und einer gleichzeitig starken Abhängigkeit von eben diesen Beziehungen gefangen sind. So greifen sie bei Beziehungsstressoren beispielsweise zu Copingstilen, die ihre Einbindung in und Abhängigkeit von Netzwerken verstärken. Diese Zusammenhänge sind unmittelbar relevant für die Psychopathologie, speziell für das Auftreten von Depressionen bei Mädchen und Frauen (. Abb. 5.17). Susan Nolen-Hoeksema (1991) erklärt den konsistenten Geschlechterunterschied in depressiven Störungen, den man vom Jugendalter bis ins Erwachsenenalter findet, durch unterschiedliches Bewältigungsverhalten von Männern und Frauen. Manner wendeten häufiger DistractionStrategien an, die depressive Episoden verkürzen. Frauen dagegen neigten vermehrt zu depressiven Symptomen, weil sie ihre Aufmerksamkeit auf die depressiven Emotionen und Symptome fokussierten (»rumination«). Um mit Saarni (1997) zu sprechen: Sie hatten eine unzweckmäßige »internal emotional regulation«.
149
5
. Abb. 5.17. Depressives Mädchen am Fenster
Diese Befunde konnten wir an einer deutschen Stichprobe im Längsschnitt über vier Jahre replizieren (Seiffge-Krenke u. Klessinger 2000). Sie verdeutlichen die lang andauernden Auswirkungen von unangemessenen Umgangsformen mit Stress, der aus der Sicht weiblicher Jugendlicher überwiegend Beziehungsstress ist. Ein dysfunktionaler Copingstil im Alter von 13 und 14 Jahren führte noch im Alter von 17 Jahren zu einer Erhöhung depressiver Symptome. Diejenigen Jugendlichen, denen es nach einer depressiven Periode im Alter von 13 und 14 Jahren dagegen gelang, aktiv und funktional mit den Problemen umzugehen, konnten ihre depressiven Symptome langfristig senken. Die zu starke Abhängigkeit mancher weiblicher Jugendlicher von Beziehungen erklärt auch, weshalb Unterstützung durch Freunde zu einer Verstärkung von Körperbeschwerden und depressiven Gefühlen (Waligora 2002) bei weiblichen, nicht jedoch bei männlichen Jugendlichen führt.
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Kapitel 5 · Freunde und romantische Partner als »Entwicklungshelfer«
Fazit 5 Enge Freunde haben eine protektive Funktion für Kinder und Jugendliche. Auf Grund verschiedener Merkmale eignen sich Freunde und romantische Partner gut als »Entwicklungshelfer«. Die Beziehung zu beiden ist im Kontext von Entwicklung Veränderungen unterworfen. 5 Zu den Prozessen, die mit dem Alter zunehmend v. a. in Freundschaftsbeziehungen gelernt werden, zählen Fertigkeiten in der Emotionsregulierung und im Umgang mit Konflikten, die zeigen, dass echte Beziehungsarbeit geleistet wird, die die Beziehungen auf ein höheres Niveau bringt. 5 Freunde helfen nicht nur bei der Konturierung der eigenen Identität, des Selbstkonzepts und des Körperkonzepts, auch die Annäherung an das andere Geschlecht erfolgt im Schutz von besten Freunden. Die Beziehungen können so eng sein, dass die Frage der Grenzregulation auftaucht, ersichtlich u. a. an einer Zunahme von Konflikten in engen Freundschafts- und romantischen Beziehungen. 5 Die unterschiedliche Qualität von Beziehungen zu Freunden und romantischen Partnern hängt auch mit der Bindung an die Eltern eng zusammen.
6 Familiäre Entwicklungsprozesse im Beziehungskontext 6.1
Familie früher und heute – 152
6.2
Familienentwicklung über die Lebensspanne
6.3
Die Entwicklung des Paares: Bindungsfähigkeit und Nähe-Distanz-Regulierung
6.4
Familiendynamische Veränderungen durch die Ankunft des ersten und zweiten Kindes – 164
6.5
Familien mit Latenzkindern: Eine Phase relativer Stabilität
– 157
– 169
6.6
Familienturbulenzen während der Adoleszenz der Kinder – 171
6.7
Die Kinder verlassen das Elternhaus: »Leeres Nest« oder »Hotel Mama«? – 177
6.8
Paare im Alter – 182
6.9
Präventions- und Interventionsprogramme – 186
– 160
152
Kapitel 6 · Familiäre Entwicklungsprozesse im Beziehungskontext
>>
1
Welche Entwicklung vollzieht sich in einer Familie von ihrem Beginn bis zu ihrer Auflösung? Wie beeinflussen Kinder ihre Familie? In welcher Form, durch welche Prozesse Kinder familiäre Interaktionen verändern, ist besonders im Jugendalter offenkundig. Aber auch schon sehr kleine Kinder verändern die Familiendynamik enorm und machen familiäre Anpassungsprozesse notwendig. Ausgehend von den Konzepten Familie und Kinder aus historischer Sicht wird das Konzept der Familienentwicklungsstadien beschrieben. Die Familienentwicklung von der Paarfindung über die Geburt des ersten Kindes bis zum Auszug des letzten Kindes wird genauer analysiert. Wenig beachtet wurde bis heute die Familiendynamik während der relativ langen Zeitspanne nach dem Auszug der Kinder, die das ältere Ehepaar allein verbringt. Schließlich werden auch Gesundheitsprobleme, unter denen Mütter in ganz bestimmten Phasen der Familienentwicklung leiden, angesprochen.
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6.1
Familie früher und heute Definition Eine Familie ist die Gemeinschaft von Eltern und Kindern mit hoher Intimität und Exklusivität der Beziehungen und einem Spannungsfeld zwischen den Generationen.
Familie im Sinne des Grundgesetzes ist nicht jede beliebige Gruppe, die sich zu einer familienähnlichen Gemeinschaft zusammentut, sondern die Gemeinschaft von Eltern und Kindern, also die Kleinfamilie. Historisch bedeutsam ist hierbei die Ausgrenzung des Gesindes und der Verwandten. Bei der modernen Familiendefinition wird die eheliche Gemeinschaft nicht vorausgesetzt. Als Familie gelten auch nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern. Aus entwicklungspsychologischer Sicht ist wichtig, dass nicht speziell die Existenz von Kindern, sondern generell das Spannungsfeld zwischen den Generationen eine Familie konstituiert. Der Familienbegriff hat sich nicht nur historisch stark verändert; seit der Nachkriegszeit lässt sich auch ein Entwicklungsschub in Richtung Individualisierung, stärkerer Partizipation der Väter und veränderter Umgangsformen zwischen Eltern und Kindern nachweisen. Diese Veränderungen haben
wiederum Auswirkungen darauf, inwieweit sich die Kindergeneration mit der Elterngeneration und deren Familienbegriff identifiziert.
Historische Perspektiven: Was ist eine »Familie«? Die Kernfamilie ist eine kleine, überschaubare Gruppe mit besonders einfacher Beziehungsstruktur, aber großer innerer Differenziertheit, hoher Intensität der Beziehungen, mit hoher Intimität, hohem Vertrauens- und Solidaritätsniveau und infolgedessen großer Prägungskraft und Konsistenz. Der Familienbegriff tauchte erstmals im 17. Jahrhundert in der deutschen Sprache auf und bezeichnete zunächst als Weiterentwicklung aus dem römisch-rechtlichen »familia« die gesamte Hausgenossenschaft unter väterlicher Gewalt, also auch das Gesinde, die Knechte und Mägde. Erst um 1800 erhielt der Begriff dann seine moderne Prägung, als Gemeinschaft von Eltern und unselbstständigen Kindern, im weiteren Sinne unter Einschluss der Verwandtschaft. Deutlich wird nun, dass das Gesinde nicht mehr Teil an der Intimität und Exklusivität der Kernfamilie hat. Aus therapeutischer Sicht ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass nicht die Veränderung der Familiengröße, also das Kleinerwerden der Familien, sondern die Veränderung der Beziehungen inner-
6.1 Familie früher und heute
halb der Familie der entscheidende Wandel ist, der zur modernen Familie führte. Hinter dem Wandel des Begriffs steht ein sozialer Wandel, der sich einerseits als ein Prozess immer stärkeren emotionalen Aufladens des Binnenklimas in Familien, andererseits aber als ein Prozess einer fortschreitenden Individualisierung bezeichnen lässt. Für das Familienkonzept des 18. Jahrhunderts waren das von der Arbeit des Ehemanns getrennte Zusammenleben der Familienmitglieder und innige Zuneigung kennzeichnend. Dies war in früheren Jahrhunderten nicht selbstverständlich. Es gab, wie auch heute noch in einigen Ländern (z. B. bestimmte islamische Länder, Israel, Indien), arrangierte Heiraten. Kinder waren nicht unbedingt gewollt, sondern unvermeidlich. Im modernen Familienbegriff stellen die Liebe der Ehegatten und die Erziehung der Kinder Sinn und Zweck des Familienlebens dar. Typisch ist die spezifische Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau: Der Ehemann hat die Versorgung der Familie sicherzustellen (Breadwinner-Funktion), die Ehefrau wirkt im Haus und erzieht die Kinder. Im Zusammenhang mit diesen Veränderungen entstanden Kindermoden, Kinderzimmer, eine Spielzeugindustrie und Kinderliteratur. In früheren Zeiten waren Kinder dagegen unterschiedslos mit der Welt der Erwachsenen vermischt und trugen auch ähnliche Kleidung (. Abb. 6.1). Was sind nun »Kinder«? Nach dem preußischen allgemeinen Landrecht von 1774 werden Kinder bis zum Alter von 7 Jahren definiert, Unmündige bis zum Alter von 14 Jahren, und Minderjährigkeit
. Abb. 6.1. Biedermeierfamilie
153
6
konnte bis zum Alter von 24 Jahren dauern. Elterliche Gewalt war ab dem Alter von 7 Jahren väterliche, aber bis zum Alter von 4 Jahren mütterliche Gewalt. Kinder waren zur Mithilfe im Haushalt verpflichtet, andererseits billigte man ihnen aber ein Recht auf Unterricht und Ausbildung zu. Die Einstellung zu Kindern hat sich historisch sehr stark verändert; bekannt geworden sind in diesem Zusammenhang die Arbeiten von Aries (1975), aber auch von Elisabeth Badinter (1980) über die Entstehung des Konzepts der Mutterliebe. Besonders beschäftigt hat beide Autoren die indifferente Haltung von Eltern gegenüber ihren Kindern in früheren Jahrhunderten. Sie haben historisch belegt, dass dies mit der in allen Schichten stark verbreiteten hohen Kinder- und Säuglingssterblichkeit zu tun hatte. Kinder prägten den Alltag, aber auch der Tod von Kindern war allgegenwärtig. Badinter beschreibt die Einstellung der Eltern gegenüber ihren Kindern im frühen 17. und 18. Jahrhundert durch Resignation. Die Eltern mussten resignieren, denn sie bemühten sich ohne Erfolg um das Leben ihrer Kinder. Diese Resignation zeigte sich z. B. darin, dass Eltern nicht auf der Beerdigung ihrer Kinder erschienen oder dass Kinder erst einen Namen bekamen, wenn sie das Alter von 10 Jahren erreicht hatten und damit ihr Überleben als gesichert galt.
Familiärer Wandel in der Nachkriegszeit bis heute Die empirische Forschung hat gezeigt, dass sich v. a. in den ersten Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg ganz entscheidende Veränderungen in Richtung auf unser heutiges psychologisches Verständnis von Familien vollzogen haben. Fend (1988) hat Daten aus mehreren Geburtskohorten nach dem Zweiten Weltkrieg verglichen und entscheidende Anstöße zum familiären Wandel gefunden (. Abb. 6.2). Im Zeitraum von 1950 bis 1980 haben sich sehr viele Veränderungen vollzogen. Zusammengenommen zeigten sich folgende Unterschiede: 5 Die Familiengröße hat sich verringert, und die Scheidungszahlen haben zugenommen. 5 Die Außenbeziehungen der Familien haben zugenommen, genauso wie die Kommunikationsintensität in der Ehe, während gleichzeitig
154
Kapitel 6 · Familiäre Entwicklungsprozesse im Beziehungskontext
. Abb. 6.2. Familiärer Wandel von 1950 bis 1980
1 Familiengröße Scheidungszahlen
2
Außenbeziehungen der Familie Kommunikationsintensität der Ehe
3 4
Unauflöslichkeit der Ehe
5
Beteiligung des Vaters an der Erziehung
6
Beschäftigung der Mütter mit den Kindern
7
Erziehungswert: Selbstständigkeit und freier Wille
8
Erziehungswert: Gehorsamund Unterordnung
9
Verständigungsorientierter Erziehungsstil
10
Konfliktintensität in der Jugendphase und Autonomiebestrieben der Jugendlichen
11 12
Übereinstimmung der Jugendlichen mit dem elterlichen Erziehungsstil
13 1950
1960
1970
1980
14 15 16 57 18 19 20
der Glaube, dass die Ehe bis zum Tod bestehen könnte, sehr stark zurückgegangen ist. 5 Auffällig sind ferner die stärkere Beteiligung des Vaters am Erziehungsprozess und die zunehmende Berufstätigkeit der Mutter. 5 Erziehungswerte wie Selbstständigkeit und Freiheit haben zugenommen, während Gehorsam und Unterordnung als Erziehungswerte abgenommen haben. Die meisten Entwicklungsschübe fanden in den frühen 60er und 70er Jahren statt. Schaut man sich einige Befunde im Detail an, so wird deutlich, dass sich die Bedeutung von Ehen verändert hat. Ehen werden wegen Kindern geschlossen, d. h., die Pha-
se des vorehelichen Zusammenlebens, die in den 70er Jahren entstanden war, wird beendet, der Verpflichtungsgrad zwischen den Partnern steigt, und die Ehen werden geschlossen, weil Kinder intensiv gewünscht werden. Die Veränderung der Rolle von Kindern ist ein sehr wichtiger Indikator für den sozialen Wandel in der Familie. Kinder haben im Vergleich zu früheren Zeiten ihren ökonomischen Nutzen verloren und sind zu einem Kostenfaktor geworden. Dagegen hat der psychologische Nutzen der Kinder für die Eltern zugenommen. Der Grund für diese Veränderung liegt teilweise in der Auslagerung der Altersversorgung aus dem Familienverband in staatliche Institutionen. Diese veränderte Bedeutung von Kindern führte zu veränderten
6.1 Familie früher und heute
Erziehungsstilen, etwa zu dem verständigungsorientierten Erziehungsstil, der ab den 70er Jahren von den Eltern praktiziert wurde. Die Nachkriegsgeneration wurde noch relativ streng erzogen. Körperliche Strafen gingen aber dann von 37 im Jahr 1950 auf 2 in den 70er Jahren zurück. Appelle an die Vernunft haben dagegen zugenommen. Wir finden demnach einen starken Rückgang körperlicher Strafen, weniger Autorität und widersprüchliche Erziehungsziele derart, dass erwartet wird, dass die Kinder aus freien Stücken ordnungsliebend und fleißig sind. Eltern- und Kindsein ist also im Austarieren von Forderung und Gewährenlassen, von Unterstützung und Eigenaktivität zunehmend eine schwierige Aufgabe geworden. Aus psychotherapeutischer Sicht ist die psychologische Bedeutung von Kindern unmittelbar einleuchtend, ebenso wie die Tatsache, dass dadurch neurotische Familienkonstellationen entstehen können. Horst-Eberhard Richter hat bereits 1963 mit seinem Buch »Eltern-Kind-Neurose« typische Rollen herausgearbeitet, zu denen Kinder benutzt und gedrängt werden, z. B. das Kind als Gatten- oder Elternsubstitut, als ideales Selbst, als negative Identität, als Sündenbock. Die für uns heute selbstverständliche Beobachtung, dass diese »Nutzung« auf Seiten der Kinder zu massiven Entwicklungsbehinderungen und psychischen sowie körperlichen Symptomen führt, ist inzwischen vielfach empirisch untermauert und in Psychotherapien illustriert worden. Wir müssen allerdings sehen, dass der psychologische Nutzen von Kindern einen Gewinn aus den familiären Veränderungen in der Nachkriegszeit darstellt. Die Fend-Studie zeigt ferner im Vergleich der Geburtskohorten 1950, 1960, 1970 und 1980 eine neue Rolle der Väter, die v. a. in einer stärkeren Beteiligung des Vaters am Erziehungsprozess zum Ausdruck kommt. Wiederum haben wir den hauptsächlichen Entwicklungsschub für die Veränderung dieser familiären Prozesse von den frühen 50er bis in die 70er Jahre. Die Aussage »Ich spiele nie nach Feierabend mit meinen Kindern« bejahten 1950 noch 64, 1980 nur noch 10 der Väter. Nicht nur die Intensität des Eltern-Kind-Verhältnisses, auch die Intensität der ehelichen Beziehung ist im Verlauf der Nachkriegszeit gewachsen. Gleichzeitig ist die Beziehung der Ehepartner zueinander weniger stabil geworden. Wir haben dem-
155
6
nach eine gegenläufige Entwicklung vor uns: Eine längere Vertrautheit vor der Ehe (das Stadium des vorehelichen Zusammenlebens), bessere Wohnbedingungen und positive Beziehungsstrukturen müssten eigentlich eine höhere Stabilität der Partnerbeziehung bedingen. Das ist aber nicht der Fall. Wir finden im Gegenteil zunehmende Scheidungszahlen, wobei 80 aller Scheidungsanträge von Frauen eingereicht werden. Die Ursachen sind vielfältig, aber sicher spielt eine Rolle, dass die Erwartungen der Partner an die Qualität der Beziehung gestiegen sind und dass, wenn diese Erwartungen nicht erfüllt werden, man es für besser hält, die Beziehung aufzulösen. Wichtige Veränderungen über diesen doch langen Zeitraum sind demnach ein emotional dichter gewordenes Binnenklima in der Familie, eine größere Gleichgewichtigkeit zwischen den Ehepartnern und zwischen Kindern und Eltern und eine größere Individualität für den Einzelnen, auch bei größerer Selbstständigkeit. Die Veränderungen von äußerer Strukturierung und Disziplin zu innerer Disziplin und mehr Individualisierung wird jedoch von der Jugendgeneration der 80er Jahre nicht nur positiv gesehen, wie ihre geringe Identifizierung mit dem Erziehungsstil ihrer Eltern zeigt. Während die Eltern im Verlaufe der 60er und 70er Jahre immer demokratischer mit ihren Kindern umgingen, d. h. weniger autoritär, haben sich die Kinder in den 80er Jahren deutlich von diesem Erziehungsstil distanziert. Sie würden ihre Kinder nicht mehr so erziehen wollen, wie sie selbst erzogen wurden. Diese Entidentifizierung wurde allerdings in den 90er Jahren wieder aufgegeben, wie ein Blick auf die Shell-Studie 2000 zeigt. Wir finden bei den Jugendlichen nun wieder ähnliche Erziehungsideale wie in der Elterngeneration: demokratisch, freiheitlich, offen. Die Jugendlichen haben einen eher geringen Kinderwunsch. Immer mehr wollen gar keine Kinder mehr bekommen, die Zahlen liegen inzwischen bei 20. Neue Partnerschaftsmodelle sind attraktiv geworden, allerdings mit starken Unterschieden zwischen deutschen und nichtdeutschen Jugendlichen. Heiraten und von da ab zusammenleben wollen in diesen neueren Studien nur rund 40 der deutschen Jugendlichen (Jungen genauso häufig oder genauso selten wie Mädchen), dagegen zwischen 58 und 86 der italienischen oder türkischen Jugendlichen.
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Kapitel 6 · Familiäre Entwicklungsprozesse im Beziehungskontext
Im Jahre 2006 hat sich dies weiter verändert (Shell 2006). Auffällig ist die sehr pragmatische Sicht der 15- bis 24-Jährigen in Bezug auf berufliches Engagement und die Gleichrangigkeit von Beruf und Partnerschaft. Traditionelle Werte (Fleiß, Ordentlichkeit, Zuverlässigkeit) haben eine Renaissance, und Familienwerte haben stark zugenommen. Dies äußert sich allerdings nicht in einer Zunahme der Heiratsneigung (»Partnerschaft ja, Ehe nein«, finden weiterhin 70 der jungen Leute). Familie und Partner werden wichtiger in einer Situation mit ungewissen beruflichen Perspektiven. Selbstständigkeit und Individualität sind weniger wichtig geworden, hinzugekommen ist ein Spaßfaktor. Indikatoren familiären Wandels heute 5 5 5 5 5 5 5 5 5
Abnehmende Attraktivität der Ehe Rückgang der Geburten Kürzerer Abstand zwischen den Geburten Psychologische Bedeutung von Kindern Mehr Patchwork- und Einelternfamilien Mehr Mobilität Zunehmende Scheidungshäufigkeit Zunehmende Berufstätigkeit der Frauen Ökonomische Benachteiligung von Familien mit Kindern 5 Verlängerung der nachelterlichen Gefährtenschaft
Die abnehmende Attraktivität der Ehe ist in der Tat einer der zentralen Indikatoren des familiären Wandels, der sich von den 80er Jahren bis in die Gegenwart nachweisen lässt (Schneewind u. von Rosenstiel 1998). Der Akzeptanzwert der Ehe ist nicht nur bei der jungen Generation gering, sondern auch bei kinderlosen Erwachsenen: gegenwärtig bei 38 für Frauen und bei 30 für Männer. Dies macht sich auch an einer zunehmenden Zahl nichtehelicher Lebensgemeinschaften fest, die sich in den letzten 20 Jahren um das Fünffache erhöht hat. Generell finden wir eine Pluralität von Familienformen (z. B. Petzold 1999; Schneider 2002). Sie umfasst neben der klassischen vollständigen Kernfamilie, die selbst schon ein Stück Geschichte geworden ist, eine zunehmende Zahl von nichtehelichen Lebensgemeinschaften, Einelternfami-
lien, neu zusammengesetzten Familien auf Grund von Trennungen und Scheidungen, Ehen bzw. Partnerschaften zwischen Homosexuellen sowie Pflegefamilien. Der Geburtenrückgang, der inzwischen in allen westlichen Industrienationen zu bemerken ist, macht sich in einer drastischen Verkleinerung der Familiengröße bemerkbar. Gegenwärtig leben in einer Familie in Deutschland durchschnittlich 1,3 Kinder, d. h., ein erheblicher Anteil von Kindern wächst ohne Geschwister auf (7 Kap. 8). Die Zunahme der Scheidungshäufigkeit steht wie der Rückgang der Geburtenrate in unmittelbarem Zusammenhang mit der zunehmenden Berufstätigkeit der Frauen und zeigt die Schwierigkeit auf, Beruf und Familie zu vereinbaren (Hoff 1987). Hinzu kommt eine erhebliche Mobilität der Familien (Schneider 2002), die durch ökonomische Unsicherheit und die Sicherung des Arbeitsplatzes bedingt ist. Immerhin 16 der Familien sind von langen Anfahrtswegen und vielen Umzügen betroffen, hinzu kommen Wochenendpendler. Immerhin 6 aller Familien mit Kind leben aus beruflichen Gründen nicht im gleichen Haushalt, sondern an verschiedenen Orten. Es ist einleuchtend, dass dies eine Reduktion von Zeit bedeutet, die ansonsten für die Partnerschaft und Familie zur Verfügung gestanden hätte. 67 aller mobilen Personen stehen unter Stress: Belastungen in der Partnerschaft und in der Familie werden ins Feld geführt, aber auch der Verlust sozialer Kontakte (»nirgendwo richtig zu Hause«). Nicht vergessen werden sollte jedoch auch die ökonomische Benachteiligung von Familien mit Kindern. Schneewind und von Rosenstiel (1998) haben berechnet, dass das Pro-Kopf-Einkommen einer Ein-Verdiener-Familie mit zwei Kindern 67 des Pro-Kopf-Einkommens eines kinderlosen Ehepaares beträgt; bei drei Kindern schrumpft dies auf 38 und macht deutlich, wie unterschiedlich die finanziellen Ressourcen zwischen Familien mit und ohne Kinder verteilt sind. Weitere Veränderungen sind der kürzere Abstand zwischen den Geburten der Kinder und die Verlängerung der Phase, die das Ehepaar nach dem Auszug der Kinder miteinander verbringt. Die beiden Gipfel in der Scheidungshäufigkeit, die zur Zeit festzustellen sind (Scheidung nach kurzer und langer Ehedauer), haben direkt mit familiendyna-
6.2 Familienentwicklung über die Lebensspanne
mischen Veränderungen in der Früh- und Spätphase der Familienentwicklung zu tun.
6.2
Familienentwicklung über die Lebensspanne
Die Familienentwicklung ist ein komplizierter, sich über Jahrzehnte erstreckender Prozess, in dem es zu gravierenden Veränderungen der Interaktionsformen und der Beziehungsdynamik zwischen allen Mitgliedern kommt. Duvall (1977) hat die verschiedenen Stadien der Familienentwicklung beschrieben, die die Entwicklung einer Familie von der Paarbildung über die Geburt von Kindern bis zur Auflösung der Familie darstellen. Das verheiratete Paar befindet sich im ersten Stadium, dann folgen Phasen, die die Veränderungsprozesse des Paares nach der Geburt der Kinder beschreiben, ferner die familiären Entwicklungen mit Vorschulkindern, Kindern im Schulalter, Kindern im Jugendlichenalter sowie Kindern, die junge Erwachsene sind und dann das Elternhaus verlassen. Am Ende des familiären Entwicklungsprozesses leben die alten Eltern ohne Kinder, steht schließlich die Auflösung der Familie. Stadien der Familienentwicklung nach Duvall (1977) 5 Phase 1: Heirat und Partnerschaft ohne Kinder 5 Phase 2: Familie mit kleinen Kindern 5 Phase 3: Familie mit Kindern im Schulalter 5 Phase 4: Familie mit Kindern in der Pubertät und Adoleszenz 5 Phase 5: Familie im Ablöseprozess, bis alle Kinder das Elternhaus verlassen haben 5 Phase 6: Familie in der Lebensmitte, nach Auszug der Kinder bis zur Pensionierung 5 Phase 7: Familie im Alter bis zum Tod der Eltern
Mit dem am Konzept der Entwicklungsaufgaben von Havighurst (1953) angelehnten Begriff der Familienentwicklungsaufgaben werden unterschiedliche Anforderungen beschrieben, die die Familie an den kritischen Übergangsstellen der Lebenspha-
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6
sen zu bewältigen hat. Ihre Bewältigung garantiert die psychosoziale Entwicklung aller Familienmitglieder und verlangt auch phasenspezifische Veränderungen der Familie. Im Gegensatz zu diesem eher linearen Modell verstehen andere Konzepte, wie jenes von Carter und McGoldrick (1988), den Lebenszyklus der Familie als einen sich gleichsam spiralförmig entwickelnden Prozess, der die Reziprozität phasenspezifischer Entwicklungsaufgaben unterschiedlicher Generationen betont. Die individuellen Lebenszyklen der Familienmitglieder verschiedener Generationen fügen sich so zu einem Lebenszyklus der Familie als Ganzem zusammen. Andere Ansätze stellen die Belastungen von Familien in den Vordergrund, so u. a. das Familienstressmodell (Schneewind 2002). Das Modell von Duvall (1977) ist zwar weniger komplex und fokussiert nicht auf Belastungen, hat aber den entscheidenden Vorteil, dass es evaluiert wurde und dass es die Phasen der Familienentwicklung genau beschreibt und die Aufgaben formuliert, deren Bearbeitung ein erfolgreiches Durchlaufen der jeweiligen Zeitspanne gewährleistet. Dies macht das Modell für therapeutische Zwecke so nützlich. Die Entwicklung der Familie vollzieht sich diesem Modell zufolge als ein Oszillationsprozess zwischen der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben, die ein hohes Maß an Bindungsverhalten der Familienmitglieder erfordern (z. B. bei Familien mit einem Kind im Säuglingsalter), und Aufgaben, die die Identitätsfindung und Autonomiebestrebungen der Familienmitglieder in den Vordergrund stellen (z. B. mit Kindern in der Adoleszenz). Dies bedeutet, dass sich Eltern adäquat auf die veränderten Fähigkeiten und Bedürfnisse ihrer Kinder einstellen müssen und dass es zu einem kontinuierlichen Suchen und Finden neuer Beziehungsformen zwischen allen Familienmitgliedern kommt. Kritisch ist anzumerken, dass dem Modell von Duvall eine normative Entwicklungspsychologie zu Grunde liegt, die sich an einem Familienmodell mit zwei Eltern und ein oder zwei Kindern orientiert. Wir haben diesen Familientypus heute in 60– 70 aller Familien in Deutschland. Auch wenn das Familienentwicklungsmodell auf einer idealtypischen Konstruktion von Familie beruht, ermöglicht es eine Einschätzung von Potenzen, aber auch
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Kapitel 6 · Familiäre Entwicklungsprozesse im Beziehungskontext
von problematischen Entwicklungen innerhalb von Familien. Schließlich ist zu bedenken, dass trotz zunehmender Pluralisierung in den Lebensformen diejenigen Familien, die sich in der gleichen Familienentwicklungsphase befinden, durchaus auch vergleichbare Verhaltensmuster aufweisen. Seit Ende der 80er bzw. 90er Jahre wurden verschiedene Studien durchgeführt, die die Familienentwicklungsphasen evaluieren und auch die Qualität der Beziehungen der Familienmitglieder zueinander erfassen. Modell aller späteren Untersuchungen, die u. a. die Familien über mehrere Jahre begleiteten, wurde die frühe Untersuchung von Olson und McCubbin (1983), die versuchten, das Phasenmodell querschnittlich zu prüfen. Sie haben Familien untersucht, die sich in verschiedenen Phasen der Familienentwicklung befanden, und die wahrgenommene eheliche Kommunikation und Zufriedenheit der Eltern, den familiären Zusammenhalt sowie problematische Aspekte wie das Ausmaß von Konflikten erhoben. Die Autoren fanden ein Absinken der ehelichen Zufriedenheit deutlich in Phase 2, also nach der Geburt des ersten Kindes. Ein weiteres massives Absinken der ehelichen Zufriedenheit setzt sich fort bis Phase 4 und 5 (Eltern mit jugendlichen Kindern und Eltern, deren Kinder das Haus verlassen). Es wurde deutlich, dass die Ehemänner eine etwas positivere Einschätzung abgeben als die Ehefrauen – ein Befund, der auch auf andere Dimensionen zutrifft. Die Einschätzung des familiären Zusammenhalts, der Kohäsion, ist weniger negativ über die Zeit, folgt aber dem grundsätzlichen Muster eines Tiefpunkts um die Phasen 4 und 5. Hier ist auffällig, dass die adoleszenten Kinder den familiären Zusammenhalt als geringer einschätzten als beide Eltern. Tiefpunkt für die ehelichen Zufriedenheit und den familiären Zusammenhalt scheint ganz eindeutig die Phase 5 (die Kinder verlassen das Elternhaus) zu sein. Eine Scheidung in Betracht gezogen haben Familien mit Kindern v. a. während zweier verschiedener Stadien der Familienentwicklung, nämlich in Phase 2 (Eltern mit Kleinkindern) und in Phase 5 (die Kinder haben bereits das Haus verlassen). Das entspricht exakt dem zweigipfligen Verlauf der Scheidungszahlen in der Bundesrepublik: Im Mittel erfolgen Trennungen nach fünfjähriger Ehe – zu einem Zeitpunkt, an dem die Kinder noch
sehr klein sind – bzw. in den letzten Jahren verstärkt (und vom Familienministerium belegt) nach langer Ehedauer, d. h. nach 20 Jahren, wenn die Kinder das Haus verlassen haben (Jahresbericht Statistisches Bundesamt 2006). Die frühen Scheidungen setzen offenkundig zu einem Zeitpunkt ein, an dem der Prozess der Restabilisierung der Familie noch gar nicht zu Ende ist. Daher wäre es dringend notwendig, gezielt Interventionen anzubieten. Die eheliche Kommunikation wird von den Ehemännern durchweg positiv und unverändert eingeschätzt, von den Ehefrauen jedoch als deutlich niedriger beurteilt. . Abb. 6.3 zeigt einen starken Abfall nach der Geburt des ersten Kindes aus der Sicht der Ehefrauen, aber auch eine weiterhin geringe eheliche Kommunikation, wenn die Kinder Jugendliche und besonders wenn die Kinder ausgezogen sind. Ein Anstieg der ehelichen Kommunikation ist aus der Sicht der Ehefrauen erst in den letzten Stadien der Familienentwicklung zu verzeichnen; die Männer sehen das, wie bereits erwähnt, etwas anders. Veränderungen im Familienzyklus Während der Jugendzeit der Kinder herrscht zwar eine relativ hohe Streitrate, jedoch wird die Scheidung nicht erwogen. Überlegungen über Scheidungen treten dagegen in der Frühphase der Familiengründung und nach dem Auszug der Kinder auf. Auffällig ist ferner, dass die Ehefrau die Qualität der Kommunikation und der familiären Beziehungen in der Regel negativer einschätzt als der Ehemann und dass die Sicht der Kinder, insbesondere wenn diese Jugendliche sind, sich sehr von der Sicht der Eltern unterscheidet.
Das Modell von Duvall (1977) geht davon aus, dass typische Familien von ihrer Gründung bis zu ihrer Auflösung die Phasen in gleicher Reihenfolge durchlaufen. Strukturellen Abweichungen wie den so genannten Einelternfamilien oder anderen Varianten, die durch Tod, Scheidung, Wiederverheiratung u. Ä. zustande kommen, kommt ein Ausnahmestatus zu. Gegenwärtig gibt es aber eine erhebliche Zahl von Familienstrukturvarianten (Bien u. Schneider 1998), wobei besonders die nichteheli-
eheliche Zufriedenheit
a
c
M 51 50 49 48 47 46 45 44 1
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Ehemänner Ehefrauen 5
6
Scheidung erwogen
M 24 21 18 15 12 9 6 3 0 1
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3
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familiäre Kohäsion
b
4
Ehefrauen Ehemänner 5
6
7
eheliche Kommunikation
d
M 69
M 37
67
36
65
35
63
34
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6
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6.2 Familienentwicklung über die Lebensspanne
33
Ehefrauen Ehemänner
59 1
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5
6
7
Ehemänner Ehefrauen
32 1
2
3
4
5
6
7
. Abb. 6.3a–d. Familienentwicklung bezogen auf a eheliche Zufriedenheit, b familiäre Kohäsion, c erwogene Scheidung und d eheliche Kommunikation (in Abhängigkeit von den Familienentwicklungsstadien)
chen Lebensgemeinschaften mit und ohne Kind sehr stark zunehmen. Dennoch wächst die Mehrzahl der Kinder heute in Deutschland bei beiden Eltern auf. Auch die Frage »Kind ja/Ehe nein?« lässt sich nach dem Familien-Survey eindeutig so beantworten, dass 60 der nichtehelichen Lebenspartner mit Kind prinzipiell heiraten wollen. Unberücksichtigt bleibt in dem Modell von Duvall außerdem der soziokulturelle Hintergrund. Wir haben zwar generell in Deutschland eine Verschiebung von Erstheirat und Geburt in höhere Altersjahrgänge – im Vergleich zu früheren Geburtsjahrgängen –, doch ist die Verlagerung ins dritte Lebensjahrzehnt v. a. bei den gebildeteren Schichten die Regel. Insofern verschiebt sich der Familienzyklus in Abhängigkeit vom Bildungsstand und Ausbildungsniveau erheblich, was zu einem vergleichsweise hohen Alter bei der Erstelternschaft und entsprechender »Überalterung« bei den nachfolgenden Familienentwicklungsaufgaben führen kann.
Trotz dieser Kritikpunkte ist die differenzierte Betrachtung der Aufgaben und Entwicklungsprozesse der Familie, die durch dieses Modell ermöglicht wird, sehr wertvoll, denn sie lenkt den Fokus auf die bislang vernachlässigte entwicklungspsychologische Sichtweise einer Familie und betont die adaptiven Kompetenzen. Die dargestellten Familienphasen orientieren sich am Alter des erstgeborenen Kindes. Daher sind Familien mit mehreren Kindern mit verschieden großem Altersabstand mit unterschiedlichen Entwicklungsaufgaben gleichzeitig konfrontiert. In einer Studie konnten Cierpka und Frevert (1995) zeigen, dass allein bei Berücksichtigung der zu Hause lebenden Kinder die Familiendynamik besser vorhergesagt werden konnte als bei Berücksichtigung der schon außerhalb der Familie lebenden Kinder. Dem ältesten im elterlichen Haushalt lebenden Kind kommt dabei eine wichtige Bedeutung zu, jüngere Kinder scheinen dagegen eine geringere Rolle zu spielen.
1
160
Kapitel 6 · Familiäre Entwicklungsprozesse im Beziehungskontext
6.3
Die Entwicklung des Paares: Bindungsfähigkeit und NäheDistanz-Regulierung
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Die Gesetze der Partnerwahl haben sich im Zuge des gesellschaftlichen Wandels verändert. Bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts haben die Kriterien der Partnerwahl einen breiten Konsens gefunden und knüpften an traditionelle Werte an, wobei für Frauen Attraktivität und Weiblichkeit und für Männer wirtschaftliche Prosperität wichtige Kriterien waren, die ihre Heiratschancen erhöhten, signalisierten sie doch Gebärfähigkeit und ökonomische Absicherung des Nachwuchses. Mit den geänderten Ansprüchen an die Partnerschaft und der zunehmenden wirtschaftlichen Unabhängigkeit der Frauen hat sich daran unübersehbar etwas geändert. Wie Kümmerling und Hassebrauck (2001) in »Schöner Mann und reiche Frau?« belegen, können sich heute Frauen eher vorstellen, einen Partner zu heiraten, der einen geringeren Bildungsgrad hat und weniger verdient als sie, wenn er attraktiv ist. Gestiegene Mobilitätserfordernisse, langfristige berufliche Unsicherheiten und eine veränderte Rolle von Frauen stellen junge Menschen vor hohe Koordinations- und Integrationserfordernisse. Die geforderte berufliche Mobilität, insbesondere der jungen, gut ausgebildeten Erwachsenen, konfligiert mit Erwartungen an die Partnerschaft und hat zu einer Vielzahl veränderter Partnerschaftsformen geführt, die unter erheblicher Belastung stehen und deren Stabilität nicht mehr gewährleistet ist (Schneider 2002). Neuere Ergebnisse zeigen, dass gegenwärtig zumindest für bestimmte Teilgruppen der jungen Erwachsenen beruflicher Erfolg oft nachrangig bewertet wird gegenüber der Aufrechterhaltung der Partnerschaft (Seiffge-Krenke u. Gelhaar 2006), d. h., dass in ökonomisch belasteten Zeiten partnerschaftliche Beziehungen einen vergleichsweise hohen Stellenwert haben. Wie bereits dargestellt, ist die Ehe für einen erheblichen Teil der Jugendlichen kein angemessenes Partnerschaftsmodell mehr. Dennoch sind Partnerschaften von großer Bedeutung, und Treue ist, trotz »fun and exploration« (Arnett 2006), ein wichtiger Wert, wie die Shell-Studie (2006) zeigt. Charakteristisch für die heutige junge Generation ist des Weiteren, dass Heirat (wenn überhaupt) und
die Geburt von Kindern im Vergleich zu früheren Generationen zeitlich nach hinten verlagert ist und etwa um das 30. Lebensjahr anzusetzen ist, wenn die wirtschaftliche Situation eine gewisse Sicherheit bildet. Die Entscheidung der Partner für ein dauerhaftes Zusammenleben ist meist ein bedeutsamer Schritt, der den Charakter der Beziehung in Richtung auf eine größere Verbindlichkeit verändert. Bereits am Ende des Jugendalters bzw. am Übergang zum jungen Erwachsenenalter nimmt die Idealisierung des romantischen Partners ab, der Verpflichtungscharakter des Paares zu, und eine pragmatische Perspektive hält Einzug. Dennoch ist es bis zum Zusammenleben des Paares bzw. bis zur Heirat noch ein großer Entwicklungsschritt, der neben vielen schönen auch belastende Aspekte enthält. Dies wird u. a. daran deutlich, dass in der Liste kritischer Lebensereignisse von Holmes und Rahe (1967) die Heirat mit einem Stresswert von 40 Punkten veranschlagt wird; den höchsten Punktwert hat der Tod des Ehepartners mit 100 Punkten. Duvall (1977) hat in seinem Modell der Familienentwicklungsphasen das Zusammenleben ohne Kinder als Phase 1 beschrieben und damit unterstrichen, dass die Familienentwicklung mit der Entwicklung des Paares zu reifer Beziehungsfähigkeit beginnt. Rollett und Werneck (2002) differenzieren weiterhin ein Vorstadium (Paarbeziehung ohne gemeinsame Wohnung) von der Paarbeziehung mit gemeinsamer Wohnung bzw. als verheiratetes Paar, jeweils mit unterschiedlichen Entwicklungsanforderungen. Hinzu kommt in den letzten Jahren eine nicht unerhebliche Zahl von jungen Paaren, die berufsbedingt Fernbeziehungen (LATs) mit jeweils getrennten Haushalten hat (Schneider 2004). Für das Vorstadium, d. h. die Paarbeziehung ohne gemeinsame Wohnung, stehen die Erarbeitung eines die jeweiligen persönlichen Bedürfnisse abdeckenden tragfähigen Konsenses über die gemeinsam verbrachte Zeit, die gemeinsamen Aktivitäten und ihre Ausgestaltung im Zentrum (. Abb. 6.4). Hinzu kommt die Arbeit an Aspekten der Partnerschaftsbeziehung – mit dem Ziel der Entwicklung eines beide befriedigenden Umgangs miteinander. Bezieht das Paar eine gemeinsame Wohnung bzw. heiratet das Paar, so kommen zu den oben dargestellten paarbezogenen Entwicklungsaufgaben neue Aufgaben hinzu: die Entwicklung
6.3 Die Entwicklung des Paares: Bindungsfähigkeit und Nähe-Distanz-Regulierung
. Abb. 6.4. Junges Paar
eines Konsenses über die Regelung der Hausarbeit, die Aufteilung der Kosten für die Lebenshaltung, die Arbeit an einer befriedigenden (Neu-)Gestaltung des Alltags und der Freizeit sowie die Einigung über individuelle Freiräume. Eine besondere Aufgabe stellen die Beziehungsarbeit innerhalb der Partnerschaft und die Integration der beiderseitigen sozialen Netzwerke dar.
Beziehungsarbeit und Nähe-DistanzRegulierung In der Tat ist die Beziehungsarbeit – sowohl innerhalb der Beziehung als auch bezüglich der Herkunftsfamilie, der Freunde und Bekannten – eine ganz entscheidende Determinante für glückliche Partnerschaften. Konflikte in jungen Partnerschaften drehen sich einerseits um Nähe und Distanz in der Partnerschaft, andererseits aber auch um die Bedeutung und den Stellenwert der besten Freunde im Rahmen der Paardyade; die kompetente Lösung dieser Konflikte trägt zur Stabilität und Weiterentwicklung der Beziehung bei
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6
(s. auch 7 Kap. 5). Für ältere Paare, insbesondere Ehepaare, haben Schindler et al. (2006) bestätigt, dass auch hier prototypisches Merkmal geglückter lang andauernder Partnerschaften die Qualität des Umgangs mit Konflikten ist. Die Konflikte müssen im Wesentlichen als innerhalb der Beziehung liegend angesehen werden, und beide Partner müssen sich gleichrangig um deren Lösung bemühen. Partnerschaften, die scheitern, sind dagegen dadurch gekennzeichnet, dass die Konflikte als einseitig verursacht betrachtet werden und die Konfliktlösung entsprechend einseitig oder gar nicht erfolgt. Ein Bereich, der von zwei Drittel aller Paare, die eine Paarberatung aufsuchen, als mit schweren, wenn nicht unlösbaren Konflikten verbunden ist, ist die Sexualität (Kröger et al. 2005). Für die Fähigkeit zur Konfliktlösung ist die Bindungsfähigkeit entscheidend. Partner mit sicherer Bindung sind sehr viel kompetenter im Umgang mit Beziehungsstressoren (Seiffge-Krenke 2006a). Willi (1991) hat als wesentliche Aufgabe des Paares die Schaffung einer gemeinsamen inneren und äußeren Welt beschrieben. Im dyadischen Konstruktsystem schaffen sich die Partner einen verbindlichen Rahmen für das Zusammenleben, um sich innerlich und äußerlich auf die Beziehung einlassen zu können. Gleichzeitig müssen kontinuierlich neue Erfahrungen integriert werden. In diesem Prozess des Zusammenwachsens können sich Probleme ergeben, wenn die Partner erkennen, dass ihre Überzeugungen und Wertvorstellungen gravierende, vielleicht sogar unüberbrückbare Unterschiede aufweisen. Prozesse der Idealisierung, unausgesprochene Erwartungen und Zuschreibungen müssen thematisiert werden, wenn die Partnerschaft Bestand haben soll. Zu den ganz entscheidenden Aufgaben des Paares zählt die Regulierung von Nähe und Distanz. Wie schon Erikson (1968) beschrieben hat, stellt die Partnerschaft die größte Herausforderung an die Verwirklichung von Intimität und Nähe dar. Die Aufhebung eines Getrenntseins ist eine wichtige Grundlage für das Zusammenleben; gleichzeitig kann die Beziehung ihre volle schöpferische Kraft erst entfalten, wenn sie den Partnern auch ein Sich-voneinander-Unterscheiden als Individuen mit eigenen Wünschen und Interessen ermöglicht (Riehl-Emde u. Willi 1999). Die Bewältigung der dialektischen Spannung zwischen Nähe
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Unterschiedlicher Intimitätsstatus 5 5 5 5
Intim Stereotyp Merger Isoliert
In meiner Längsschnittstudie, die schon verschiedentlich beschrieben wurde und in der wir Untersuchungen in Familien durchführten, seit die Kinder 13 Jahre alt waren, haben unsere Probanden inzwischen das 28. Lebensjahr erreicht. Als die jungen Erwachsenen 24 Jahre alt waren, untersuchten wir den Intimitätsstatus mit Hilfe des OrlofskyInterviews (Sidor et al. 2006). Die höchste Stufe im Intimitätsniveau war charakteristisch für Personen, die eine länger andauernde heterosexuelle Beziehung zu einem Partner hatten, die durch emotionales Engagement und Nähe, offene Kommunikation, Gegenseitigkeit, Fürsorge und Verantwortung sowie Respekt für die Einzigartigkeit und Autonomie des Partners gekennzeichnet war. Auffällig war zunächst, dass Frauen diesen reifen Intimitätsstatus häufiger aufwiesen als Männer und ihn im Schnitt einige Jahre vor den Männern erreichten; dies ist ein Hinweis auf ihre größere und auch früher erlernte Beziehungsfähigkeit. Wir hatten bereits in 7 Kap. 5 einen ziemlich robusten Forschungsbefund beschrieben, dass
30
Frauen Männer
25
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15
10
5
0 isolie rt
4
merg er
3
nämlich weibliche Jugendliche Intimität nicht nur wichtiger finden, sondern auch rund zwei Jahre vor ihren männlichen Altersgenossen erwerben. Unsere Ergebnisse zeigen nun im Längsschnitt, dass sich dieser Vorsprung auch im Erwachsenenalter weiter fortsetzt. Auffällig war ferner, dass bei den rund 24jährigen jungen Frauen in unserer Stichprobe berufliche und private Weiterentwicklung eng verknüpft waren: Frauen mit abgeschlossener beruflicher Ausbildung bzw. abgeschlossenem Studium wiesen häufiger eine Qualität von Partnerbeziehungen auf, die nach Orlofsky als intim zu charakterisieren ist. Ihre Beziehung zu ihrem Partner war von großer emotionaler Tiefe und großem Engagement für die Partnerschaft geprägt, während sie gleichzeitig abgegrenzt und abgestimmt mit dem Partner individuelle Interessen verfolgten (. Abb. 6.5). Demgegenüber waren bei den gleichaltrigen Männern die Partnerbeziehungen noch stärker durch den Intimitätsstatus stereotyp charakterisiert, da ihre Beziehungen oberflächlicher und an Äußerlichkeiten orientiert waren (»Sie ist hübsch«; »Wir haben eine Menge Spaß miteinander …«; »Sie ist ein guter Kumpel, und man kann mit ihr Pferde stehlen«). Wichtige Voraussetzung für das Erreichen eines hohen und reifen Intimitätsstatus waren
otyp
2
und Distanz kann für die Partner mit großen Problemen verbunden sein, z. B. wenn das Aufgehen in der Beziehung mit der Befürchtung verbunden ist, die eigene Autonomie zu verlieren, sich aufzugeben. Umgekehrt kann die Abgrenzung aber auch ein Sich-weg-Wenden vom anderen bedeuten und bei dem Partner verstärkt Gefühle der Verlassenheit und Angst hervorrufen. Orlofskys (1993) Untersuchungen zeigen, dass reife Intimität in Partnerschaften ein Entwicklungsprozess ist, den nicht alle Paare erreichen. Orlofsky hat vier verschiedene Intimitätsniveaus beschrieben, die die unterschiedliche Regulation von Nähe und Distanz verdeutlichen (7 Übersicht). Er unterscheidet qualitativ unterschiedliche Formen von Intimität in Partnerschaften, die durch eine unterschiedlich gute Balance zwischen Intimität und Abgrenzung zustande kommen.
stere
1
Kapitel 6 · Familiäre Entwicklungsprozesse im Beziehungskontext
intim
162
. Abb. 6.5. Unterschiedlicher Intimitätsstatus bei 24-jährigen Frauen und Männern
6.3 Die Entwicklung des Paares: Bindungsfähigkeit und Nähe-Distanz-Regulierung
für Männer nicht beruflicher Erfolg bzw. berufliche Kompetenz, sondern frühere positive romantische Beziehungen. Wir müssen daraus schlussfolgern, dass Männer eine hohe Intimitätsfähigkeit v. a. aus Lernprozessen mit früheren Partnerinnen gewinnen. Ein kleiner Prozentsatz unserer Stichprobe – Männer genauso selten wie Frauen – wies im Alter von 24 Jahren Partnerbeziehungen auf, die Orlofsky als merger bezeichnet hat. Die langfristigen Liebesbeziehungen der zu dieser Kategorie gehörenden Personen sind von einem hohen Engagement und einer hohen Intensität der Gefühle geprägt, bei gleichzeitiger emotionaler Verstrickung, intensiven Verlustängsten und starker Abhängigkeit vom Partner. Die Autonomie des Partners wird wenig respektiert. Personen mit diesem Beziehungsstatus weisen häufig eine unsicher-verwickelte Bindung zu ihren Eltern auf (7 Kap. 3).
Bindungsfähigkeit in Partnerschaften Für die weitere Beziehungsgestaltung in Partnerschaften ist die Beziehung zu den Herkunftsfamilien von entscheidender Bedeutung. Zwei Individuen, die ihr Leben miteinander teilen wollen, bringen nicht nur unbewusst, sondern auch ganz real ihre Beziehungen zu ihren Eltern und Geschwistern mit ein. Die Partner müssen prüfen, welche der internalisierten Regeln und Beziehungserfahrungen sie für die von ihnen angestrebte Beziehungsgestaltung übernehmen, modifizieren oder verwerfen wollen. Dabei können Probleme durch tiefer liegende, bislang abgewehrte Identifizierungen mit den Eltern entstehen, die durch das Zusammenleben aktiviert werden (Willi 2002). Verschiedene Studien haben gezeigt, dass Instabilität in den Ehen der Eltern, die sich in Trennung und Scheidung ausdrückt, auch in der nächsten Generation der Söhne und Töchter mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit zu einer Instabilität der ehelichen Beziehung führt (Cierpka et al. 1992). Die Abgrenzung von der Herkunftsfamilie kann dann problematisch verlaufen, wenn die Bindung an die Eltern stärker als erwartet bzw. die Autonomieentwicklung noch nicht ausreichend vorangeschritten ist. Zu lange und unangemessene Unterstützung durch die Mutter bzw. unangemessene Bindung an die Mutter verzögert die Entwicklung von romantischen Partnerschaften und beein-
163
6
trächtigt sie auch qualitativ (7 Kap. 5). In unserer Längsschnittstudie hatten Teilnehmer, die während der Jugendzeit und im jungen Erwachsenenalter zu viel Unterstützung von ihren Eltern bekamen, am wenigsten Partnerschaften. Es kann außerdem zu Gefühlen der Verpflichtung und Schuld gegenüber den Eltern bzw. zu Loyalitätskonflikten kommen (Retzlaff 2008). Die Frage, die sich hier stellt, ist die, ob Paarbindungen bei Erwachsenen prototypische Bindungsbeziehungen darstellen. Aus der Sicht von Hazan und Zeifman (1999) lassen sich stabile Paarbeziehungen durchaus als Bindungsbeziehungen deuten, und zwar auf Grund der Bedeutung von intimem Körperkontakt, der intensiven Trauer bei Trennungen und den positiven Auswirkungen zufriedener, sicherer Paarbeziehungen auf die seelische und körperliche Gesundheit (von Sydow 1998). Die Bindungstheorie nimmt an, dass die Bindungsmuster aus frühen Interaktionserfahrungen mit relevanten Bezugspersonen im impliziten, prozeduralen Gedächtnis gespeichert werden und sich als Verhaltens- und Erlebensstrategien in späteren Beziehungen manifestieren. Für diesen Entwicklungsprozess hat Bowlby den Begriff des inneren Arbeitsmodells eingeführt (7 Kap. 3) und die Rolle dieser mentalen Modelle für die Handlungssteuerung in bindungsrelevanten Situationen hervorgehoben. Er hat aber auch auf die prinzipielle Offenheit für Veränderungen hingewiesen. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass trotz aller offenkundigen Parallelen auch wesentliche Unterschiede zwischen der frühen ElternKind-Beziehung, die als Prototyp für die Entwicklung von sicheren bzw. unsicheren Arbeitsmodellen gilt, und erwachsenen Liebesbeziehungen bestehen. Beziehungen zwischen Eltern und kleinen Kindern sind asymmetrisch, während zwei Erwachsene im Prinzip gleichrangig agieren. Jeder kann für den anderen die »secure base« darstellen. Außerdem ist die Versorgung mit Wärme und emotionaler bzw. materieller Sicherheit gegenüber kleinen Kindern ein ganz zentrales Beziehungselement, während zwischen erwachsenen Partnern auch Sexualität, intellektuelle Interessen usw. bedeutsam sind. Schließlich verändert sich die Bindungsbeziehung zwischen Kind und Bezugsperson naturgemäß durch die physische, emotionale und kognitive Reifung des Kindes, was sich u. a. am »Bindungs-
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Kapitel 6 · Familiäre Entwicklungsprozesse im Beziehungskontext
loch« in der Adoleszenz festmachen lässt (7 Kap. 3). Paarbeziehungen dagegen sind – zumindest in den westlichen Industriegesellschaften – weniger langlebig, d. h., das Thema Trennung hat eine größere Bedeutung. Auch ist der Verlauf einer Paarbeziehung nicht mehr durch universelle Reifungsmuster, sondern durch erwachsenenspezifische Entwicklungsprozesse und Kontextbedingungen determiniert. Auf erzwungene Trennungen durch berufliche Mobilität haben wir bereits hingewiesen. Die wissenschaftliche Forschung hat relativ spät begonnen, sich mit dem Zusammenhang von Bindung und Partnerschaft zu beschäftigen. Die Methoden zur Erforschung der Partnerschaftsbindung wie etwa das Current Relationship Interview (CRI, vgl. Owens et al. 1995) sind an das Adult Attachment Interview (AAI) angelehnt. Die Probanden werden im CRI zur elterlichen Ehe, zu vorausgegangenen Partnerschaften und zur aktuellen Partnerschaft befragt. Trotz seiner Orientierung am AAI scheint das CRI etwas anderes zu messen, denn die Korrelationen zwischen AAI und CRI liegen nur bei r = .19 für Männer und r = .27 für Frauen (Crowell et al. 1999). Auch die Beziehungen zwischen dem AAI und verschiedenen Partnerbindungs-Fragebögen sind niedrig. Was die Bindung an die Eltern und Partnerschaftsbeziehung angeht, so fand die Meta-Analyse von von Sydow und Ullmeyer (2001), die 63 Studien auf der Basis des AAI und verschiedener Fragebogenverfahren einbezog, dass bestimmte Kombinationen überzufällig häufig auftreten, insbesondere die Kombinationen sicher und sicher, ambivalent und vermeidend sowie traumatisiert und traumatisiert. Das deutet darauf hin, dass sich oft Partner mit einem etwa vergleichbaren Grad an Bindungssicherheit zusammenfinden, dass die Bindungsunsicheren jedoch zumeist dazu neigen, Partner zu wählen, die ein komplementäres Arbeitsmodell haben, was zu Ergänzungen, aber auch zu Konflikten führen kann. Beziehungen, in denen ein Partner ein sicheres und der andere ein unsicheres inneres Arbeitsmodell hat, können oft zu Korrekturen führen, sodass auch der unsicher gebundene Partner zunehmend ein sicheres Modell entwickeln kann (»earned security«). Sichere innere Arbeitsmodelle führen jedoch nicht unbedingt zu stabilen Partnerschaften. In der Tat sind die Beziehungen zwischen Partnern mit bestimmten unsicheren
Bindungstypen sehr stabil – besonders die von Paaren mit vermeidenden und ambivalenten inneren Arbeitsmodellen. Vermutlich hängt dies u. a. damit zusammen, dass der vermeidende Partner durch sein ambivalentes Gegenüber genau das erfährt, was er selbst nicht erleben kann: heftige, intensive positive wie negative Emotionen. Der Unsicherambivalente wiederum erfährt durch seinen Partner das, was ihm selbst nicht gelingt: die Kontrolle und Begrenzung negativer Gefühle.
6.4
Familiendynamische Veränderungen durch die Ankunft des ersten und zweiten Kindes
Der Prozess, der Paare zu Eltern macht, erstreckt sich über einen Zeitraum von mehreren Jahren und hat gravierende Veränderungen im Paarsystem zur Folge. Von der Geburt bis zur Einschulung steht das Kind völlig im Zentrum der elterlichen Aufmerksamkeit. Das Paar ist von den Aufgaben der Ernährung, Versorgung und Erziehung okkupiert. Durch die entwicklungsbedingten Interessen des Kindes kann es im familiären Beziehungsgefüge zu Krisen kommen, die einen Wandel der etablierten Beziehungen herausfordern. Auffällig ist die Imbalance zwischen Paar- und Elternsystem, die jeweils zu Beginn der Elternschaft auftritt und so viele elterliche Ressourcen erfordert, dass dem Paar oft wenig Zeit zur Entwicklung paarspezifischer Interessen bleibt. Das Leben mit kleinen Kindern ist eine Familienphase, in der sehr widersprüchliche Emotionen zu Tage kommen, wie dies auch in Begriffen wie Baby-Honeymoon und Erste-Kind-Schock zum Ausdruck kommt.
Der Übergang zur Elternschaft Die Planung einer Schwangerschaft verändert den Verbindlichkeitsstatus des Paares. In vielen Fällen wird erst bei eingetretener Schwangerschaft geheiratet. Die Sicherung der materiellen Voraussetzungen, die Entwicklung einer von beiden Partnern als befriedigend erachteten Form der Unterstützung der werdenden Mutter und die Entwicklung eines Konsenses über die Gestaltung des Familien-
6.4 Familiendynamische Veränderungen . . .
alltags nach der Geburt des Kindes sind zentrale Entwicklungsaufgaben des Vorbereitungsstadiums. Für die Paarbeziehung bringt keine Phase im Familien- und Lebenszyklus so viele Veränderungen mit sich wie die Geburt des ersten Kindes (Petzold 1998). Für die erfolgreiche Bewältigung des Übergangs zur Elternschaft sind folgende Familienentwicklungsaufgaben zu lösen: 5 Bewältigung der Geburt des Kindes, 5 Umorganisation des Familienalltags und der individuellen Zeiteinteilung, 5 Bewältigung der neuen Aufgaben im Zusammenhang mit der Säuglingspflege, 5 Entwicklung eines befriedigenden Modells der familiären Arbeitsaufteilung, wobei die eigenen Erholungs- und Freizeitbedürfnisse nicht zu kurz kommen dürfen, 5 Arbeit an der weiteren positiven Entwicklung der Partnerschaft und der Neuorganisation der Kontakte zu Verwandten und Freunden bei vermindertem Zeitbudget. Dieselben Entwicklungsaufgaben gelten, wenn auch in veränderter Form, für die Integration jedes weiteren Kindes in das Familiensystem (. Abb. 6.6). Für die frühe Zeit der Elternschaft verweisen verschiedene Untersuchungen (Schneewind u. Sierwald 1999) auf z. T. massive Beeinträchtigungen
. Abb. 6.6. Familie mit Baby
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der Qualität der Partnerschaftsbeziehung von der Schwangerschaft bis zu einem Jahr und länger nach der Geburt des ersten Kindes. Das negative Erleben wird noch verstärkt, wenn sich die Situation mit der Ankunft des Kindes als schwieriger erweist als erwartet, z. B., weil das Baby ein schwieriges Temperament hat (unruhig, häufiges Schreien; Belsky u. Rovine 1990). Die Tatsache, dass in vielen Familien nur ein Kind geboren wird, wird u. a. mit den unerwarteten Belastungen durch dieses Kind erklärt (Erste-Kind-Schock).
Der Übergang von der Dyade zur Triade Wieso ist der Übergang in die Elternschaft für viele Paare so schwierig? Strukturell muss mit der Ankunft des ersten Kindes eine Erweiterung von der dyadischen Beziehung zur Dreiergemeinschaft vollzogen werden. Auf die Partnerschaft wirkt das Kind verbindend und trennend zugleich: verbindend durch die gemeinsame Aufgabe des Umsorgens und Beschützens, trennend, indem sich die Partner in ihren persönlichen Bedürfnissen zurücknehmen und die Liebe und Aufmerksamkeit des anderen mit dem Kind teilen. Charakteristisch für die frühe Phase des Übergangs zur Elternschaft ist, dass dem Paar Ressourcen für die gemeinsame Beziehung fehlen, weil sie sich sehr auf das Kind konzentrieren. Das Kind kann eine wesentliche Hilfe, aber auch eine Bedrohung bei der Regelung des partnerschaftlichen Nähe-Distanz-Problems sein. Es kann aber auch die Angst vor gegenseitigem Gebunden- und Aufeinanderbezogensein noch verstärken. Überdies kann es zu einem Objekt von Neid und Eifersucht werden. Da zunächst eine sehr enge Beziehung zwischen Mutter und Kind besteht, kann sich der Vater ausgeschlossen fühlen oder in eine distanzierte Position gedrängt werden, wenn die Frau übermäßig mit dem Baby involviert ist oder den Vater bewusst ausgrenzt. Wir haben demnach, ähnlich wie in Phase 1, auch in Phase 2 ein Problem der Nähe-DistanzRegulierung. Hinzu kommt verstärkt das Problem der Bindung, denn die Beziehung der Partner zueinander muss nun das Baby mit einschließen. Die Zeit unmittelbar nach der Geburt bis zum 1. Lebensjahr ist eine Zeit, in der wesentliche Bindungsmuster zwischen Eltern und Kind entstehen
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Kapitel 6 · Familiäre Entwicklungsprozesse im Beziehungskontext
(7 Kap. 3), die prägend für die weiteren familiären Phasen sein werden. Die Auseinandersetzung mit der Elternschaft ist in verschiedenen Studien beschrieben und untersucht worden, wobei Längsschnittuntersuchungen besonders relevant sind (z. B. Petzold 1998). Dabei hat sich herausgestellt, dass sich die familiendynamischen Umstrukturierungen in mehreren Phasen vollziehen. Gloger-Tippelt (1988) beschreibt acht Phasen von der Feststellung der Schwangerschaft über die mittleren Schwangerschaftswochen (SSW) bis hin zum Ende des ersten Jahres nach der Geburt des Kindes. Es sind dies Phasen, in denen sehr deutliche Unterschiede im Informationsstand, im Bedürfnis nach Zärtlichkeit und Sexualität der Partner und in der Bedeutung, die das Baby für Mutter und Vater hat, bestehen (7 Übersicht).
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Phasenmodell: Übergang zur Elternschaft (Gloger-Tippelt 1988) 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Verunsicherungsphase (bis 12. SSW) Anpassungsphase (12.–20. SSW) Konkretisierungsphase (20.–32. SSW) Phase der Antizipation (32. SSW bis zur Geburt) Geburtsphase Erschöpfung und Baby-Honeymoon (1.– 2. Monat nach der Geburt) Phase der Herausforderung und Umstellung (2.–6. Monat nach der Geburt) Gewöhnungsphase (6. Monat bis 1 Jahr nach der Geburt)
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Wenn Paare Eltern werden, ist bereits während der Schwangerschaft der sehr unterschiedliche Informationsstand von Vater und Mutter über Schwangerschaft, Geburt und Säuglingspflege auffällig. Die Mütter sind in der Regel besser informiert. Ein unterschiedlich hohes Maß an psychischen und körperlichen Symptomen ist ebenfalls bemerkenswert, wobei die werdende Mutter mit den Körperbeschwerden in der Frühphase der Schwangerschaft beginnt und der Vater, für den die Schwangerschaft bislang nur »im Kopf« stattfand, nach den ersten Informationen über Ultraschall und Herztöne mit 2–3 Monaten Verspätung »nachzieht«. In der letzten Phase vor der Geburt können beide Partner,
trotz aller Vorfreude auf das Kind, nochmals verstärkt und diesmal gleichzeitig unter psychosomatischen Beschwerden leiden. Nach der Geburt erleben beide Partner eine Phase von Überwältigung und Erschöpfung, aber auch sehr positiver und aufgeregter Freude, die Baby-Honeymoon genannt wird und etwa bis zwei Monate nach der Geburt anhält. In dieser Zeit treten bereits massive Veränderungen in der Entwicklung der Partnerschaft auf, v. a. ein vermindertes Budget an Zeit füreinander und weniger Ressourcen für das Paar, die zunächst aber noch ganz von dem Hochgefühl der Elternschaft überlagert werden. Zu dem bekannten Effekt des Rückgangs der ehelichen Zufriedenheit kommt es dann verstärkt im ersten halben Jahr nach der Geburt des Babys.
Die Veränderungen in der Partnerschaft Mit der Ankunft des ersten Kindes, das die heutigen jungen Erwachsenen im Schnitt Anfang des 30. Lebensjahres bekommen, müssen die Partner die Verteilung von Aufgaben und Funktionen neu aushandeln. Diese Verzögerung im Vergleich zu früheren Generationen hängt mit der beruflichen Unsicherheit und der relativ langen Qualifikationsphase zusammen. Das vergleichsweise hohe Alter der Eltern ist andererseits vorteilhaft für die Lösung der komplexen anstehenden gemeinsamen Aufgaben. Sie müssen nämlich Übereinkünfte hinsichtlich der Kindererziehung formulieren und miteinander über gemeinsame Vorstellungen der zukünftigen beruflichen Entfaltung jedes Partners, der Art der Sozialkontakte und der Beziehung zur Herkunftsfamilie diskutieren. Dieser Verständigungsprozess wird erleichtert, wenn zwischen den Partnern Offenheit für die Bedürfnisse des anderen herrscht und der emotionale Austausch ein wesentlicher Bestandteil der Beziehung ist. Umgekehrt können ungeklärte Konflikte und rigide, komplementäre Positionen diesen Prozess erschweren oder sogar verhindern. Verletzte und enttäuschte Erwartungen in Bezug auf die Arbeitsteilung in der Partnerschaft (Brüderl u. Paetzold 1992), verbunden mit einer geringen aktiven Beteiligung des Vaters an der Kinderversorgung (Hoff 1987), können besonders bei der Frau zu einer größeren Unzufrieden-
6.4 Familiendynamische Veränderungen . . .
heit über die Beziehung führen. Auf die teilweise erheblichen Einschränkungen in der persönlichen Lebensgestaltung können Frauen mit massiven Ungerechtigkeitsempfindungen und Gefühlen wie Trauer, Enttäuschung und Wut reagieren. Aber auch die Väter können durch die Erwartung der Frau nach einer stärkeren Einbindung in die Elternpflichten ein Gefühl des Überfordertseins entwickeln (Werneck 1998). Hier ist zu bedenken, dass die wöchentliche Arbeitszeit der Väter zu keinem Zeitpunkt der Familienentwicklung so hoch ist wie mit kleinen Kindern. Untersuchungen belegen ferner eine stärkere Unzufriedenheit der Partner mit ihrer sexuellen Beziehung (Petzold 1990; Schneewind 2002), größere Konflikte in den sexuellen Erwartungen und Wünschen sowie eine Abnahme von Zärtlichkeit und Zuwendung. Sexuelle Interessen eines der beiden Partner können beeinträchtigt werden, wenn durch das Baby unbewältigte ödipale Konflikte virulent werden. Moeller (1988) hat die gravierenden Irritationen mancher Männer beschrieben, wenn die eigene Frau zur »Mutter« wird.
Konflikte zwischen den Generationen Der Beginn der Elternschaft verändert auch die Beziehung der Partner zu ihren Herkunftsfamilien und bringt stets auch ein Wiederaufleben oder Wiederaufarbeiten bislang ungelöster Konflikte mit sich. Die eigenen Eltern werden zu Großeltern und müssen in ihre neuen Rollen hineinwachsen. Nicht selten rücken die Familienmitglieder der Großfamilie wieder näher zusammen und treten spätestens jetzt auch ganz real auf den Plan. Die Großeltern erleben die Beziehung zu ihrem Enkelkind überwiegend positiv, wobei im Durchschnitt die Werte für die Großeltern väterlicherseits niedriger ausfallen (Schmidt-Denter 2005). Von 600 befragten Großmüttern gaben 90 an, die Enkel als Bereicherung zu empfinden, 73 genossen das Großmutter-Sein mehr als das MutterSein. Einerseits wünschen junge Eltern Unterstützung durch ihre eigenen Eltern, befürchten aber andererseits auch, dass sie mit Hinweisen auf die richtige Versorgung des Säuglings eingeengt und bevormundet werden. Aus der Sicht der Großeltern wird »Liebe auf Distanz« bevorzugt, d. h., sie möch-
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ten nicht die Hauptlast der Erziehung übernehmen. Im Kontrast dazu kann dieser Prozess jedoch auch krisenhaft erlebt werden, wenn eine unbewältigte Rivalität mit den eigenen Eltern, Zweifel an der Identität und dem Selbstwert reaktiviert werden. Die Großeltern wiederum beklagen bei einer zu starken Einbindung Beeinträchtigungen ihrer Freizeit und Erholungsmöglichkeiten.
Die Beziehungsgestaltung zwischen Eltern und Kind Die Bindungsforschung hat wesentlich zum Verständnis der Entwicklung funktionaler und dysfunktionaler Beziehungsmuster zwischen Eltern und Kind beigetragen. Die Sicherheit der Bindung und ein nichtintrusives Verhalten der Eltern sowie Offenheit und Interesse für die individuelle Entwicklung des Kindes bilden eine sichere Basis für das Entstehen von Eigenaktivität und Selbstvertrauen. Es gibt transgenerationale Bindungsmuster, d. h., es bestehen Beziehungen zwischen den inneren Arbeitsmodellen der Eltern und der Bindungssicherheit ihrer Kinder (7 Kap. 3). Wie allerdings Fonagy (2003) unterstrichen hat, kann ein Kind gleichzeitig Arbeitsmodelle ganz unterschiedlicher Qualität zu verschiedenen Personen aufbauen, in diesem Fall zu Vater und Mutter. Die Qualität der Bindung zwischen Eltern und Kind ist auch von psychologischen Charakteristiken des Kindes abhängig. Bei Kindern mit einem schwierigen Temperament in den ersten Lebensmonaten entwickelt sich relativ häufig bereits bis zum Ende des 1. Lebensjahres ein unsicher-ambivalentes Bindungsmuster. Kompensationsmöglichkeiten liegen in der emotionalen Unterstützung der Mutter durch den Vater, die Verwandtschaft oder andere Personen. Durch die Etablierung des Beziehungsdreiecks zwischen Mutter, Kind und Vater in der frühen Kindheit – im Sinne der frühen Triangulierung von Abelin (1971) – wird dem Kind eine Loslösung aus der engen Beziehung zur Mutter erleichtert. Indem der Vater für Mutter und Kind emotional präsent bleibt, trägt er zu einer Differenzierung der inneren Welt des Kindes bei. Die Loslösung wird erschwert, wenn der Vater sich weigert, eine Beziehung zum Kind einzugehen oder wenn die Mutter ihn daran hindert. Die Mutter
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Kapitel 6 · Familiäre Entwicklungsprozesse im Beziehungskontext
kann durch ihr Verhalten die Erfahrungen des Kindes mit dem Vater beleben oder negieren, entwerten und frustrieren (7 Kap. 7). Bei der Familienentwicklungsaufgabe Erziehung des Kindes müssen beide Eltern einen Konsens über Erziehungsziele und -maßnahmen und ihre Durchführung finden, aber flexibel auf die zunehmende Mobilität und Kompetenz des Kindes eingehen bzw. die damit notwendig gewordenen Erziehungs- , Förderungs- und Betreuungsmaßnahmen übernehmen. Im Einzelnen handelt es sich um 5 die Unterstützung der Sprachentwicklung des Kindes, 5 die Förderung seiner Selbstständigkeit durch die Anleitung zur Übernahme lebenspraktischer Aufgaben (selbstständig trinken, essen, erste Anfänge des An- und Ausziehens, Bewältigung der Sauberkeitserziehung usw.), 5 die Förderung des selbstständigen Spiels und der ersten Spielpartnerschaften, 5 die Erarbeitung eines sachkundigen Umgehens mit Trotzanfällen, ohne dass es zu Beziehungsstörungen kommt. Bei Fremdbetreuung ist außerdem die Unterstützung des Kindes bei der emotionalen Bewältigung der Trennung von den primären Bezugspersonen notwendig (Rollett u. Werneck 2002). Probleme können auftreten, wenn das Kind zu früh geboren wurde (vor Vollendung der 37. Schwangerschaftswoche bei einem Geburtsgewicht von weniger als 2500 g). Diese Kinder sind häufig leichter irritierbar, können Erregungszustände schlecht regulieren, zeigen mehr negative Affekte und vermeiden den Blickkontakt. Bei einer Frühgeburt gibt es aber nicht nur ein frühgeborenes Kind, sondern auch »frühgeborene Eltern« (Jotzo u. Schmitz 2001). Ihr Selbstbild als Mutter bzw. Vater ist weniger konkret und differenziert. Zugleich sind Frühgeborene schwierige Interaktionspartner, und die Eltern erhalten von dem Kind zunächst wenig positive Resonanz. Der frühe Beziehungsaufbau verläuft also schwieriger als im Normalfall. In der Regel bewältigen aber die meisten Eltern diese schwierige Anfangsphase sehr gut, langfristige Folgen sind eher selten (Pauli-Pott et al. 2000).
Familiendynamische Veränderungen durch die Ankunft des zweiten Kindes Die Geburt eines zweiten Kindes verändert das familiäre Beziehungsgefüge erneut. Es kommt zu strukturellen Veränderungen, indem z. B. ein Rollenwechsel des älteren Kindes erfolgt, und zu organisatorischen Veränderungen, da nun gleichzeitig zwei Kinder versorgt werden müssen. Für die Eltern bedeutet die Betreuung von zwei kleinen Kindern, die sich in ihren Ansprüchen und Bedürfnissen unterscheiden, eine erhebliche Mehrbelastung. Erfolgt die Geburt eines zweiten Kindes in einem kurzen Abstand (1–3 Jahre) zur Erstgeburt, wie es für die Mehrzahl der heutigen Familien mit Kindern gilt, nimmt die Belastung der Eltern noch zu (Kreppner 1988). In einem innerfamiliären Konsolidierungsprozess muss für die unterschiedlichen familiären Beziehungen ein neues Gleichgewicht gefunden werden. Dieser Prozess umspannt nicht selten einen Zeitraum von bis zu zwei Jahren, bis sich neue Interaktionsregeln für das Subsystem der Eltern und das der Geschwister etabliert haben. Entsprechend komplizierte Interaktionsregeln bestehen in Mehrkindfamilien (. Abb. 6.7). Was geschieht nun genau familiendynamisch, wenn das zweite Kind kommt? Kreppner (1988)
. Abb. 6.7. Familie mit zwei kleinen Kindern
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6.5 Familien mit Latenzkindern: Eine Phase relativer Stabilität
hat Familien nach der Geburt ihres zweiten Kindes intensiv beobachtet und gefilmt. Er beschreibt die Ankunft des zweiten Kindes als einen DreiStadien-Prozess, der erst am Ende des 2. Lebensjahres des nachgeborenen Kindes beendet ist. Er beginnt zunächst damit, dass im ersten halben Jahr nach der Geburt die Aufmerksamkeit der Mutter fast vollständig auf das neugeborene Kind fokussiert ist; das erstgeborene Kind ist »freigesetzt« und wird optimalerweise vom Vater mitbetreut. Es dauert dann fast bis zum Ende des 1. Lebensjahres des zweitgeborenen Kindes, bis die Aufmerksamkeitsverteilung von Mutter und Vater auf beide Kinder wieder gleichrangig ist. Die Aufnahme des zweiten Kindes ins familiäre System ist abgeschlossen, wenn ein Geschwistersubsystem entstanden ist, etwa um das 2. Lebensjahr dieses zweitgeborenen Kindes. Dieses Geschwistersubsystem ist durch klare Regeln sowie eine Abgrenzung von den Eltern gekennzeichnet (»Wir Kinder« gegenüber »Unsere Eltern«). »Zu frühe« Scheidung? Von Scheidungen sind gegenwärtig rund 30% aller Ehen betroffen. In Deutschland haben wir einen ersten Scheidungsgipfel nach einer mittleren Ehedauer von fünf Jahren (Statistisches Bundesamt 2006). In 52% dieser Trennungsfamilien leben Kinder, überwiegend im Vorschulund Grundschulalter. Die Ursachen für Ehescheidungen sind sicher vielfältig. Verdeutlicht man sich jedoch die langen Zeiträume, die eine Familie benötigt, um ein neues Familienmitglied zu integrieren, so kann man zumindest für einen Teil der Scheidungsfamilien schlussfolgern, dass sich die Ehepartner zu einem Zeitpunkt trennen, an dem dieser Prozess noch nicht zum Abschluss gekommen ist.
Klare und stabile Generationsgrenzen sind insbesondere in der Trotzphase, in der das Kind durch das Neinsagen einen wesentlichen Schritt zur Befestigung seiner Selbstgrenzen macht, wichtig für die Funktionalität der Familie. Heftige affektive Auseinandersetzungen betreffen auch die ödipal eingefärbte Beziehung der Kinder zu ihrem gleichge-
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schlechtlichen Elternteil bzw. die Geschwisterrivalität. Im Hinblick auf die Paarbeziehung dokumentieren Untersuchungen, dass die eheliche Zufriedenheit bis zum Schulalter des Kindes weiter abnimmt. In dieser Zeit kann es zu konflikthaften Auseinandersetzungen zwischen den Partnern kommen, in denen es oft um die Frage geht, inwieweit die Partner zu Gunsten der Kinder in ihren eigenen Interessen zurückstehen müssen (Brüderl u. Paetzold 1992). In Auseinandersetzungen wird dann oft dem Partner vorgeworfen, etwas falsch zu machen, anstatt sich mit der Korrektur bestimmter Beziehungsprinzipien auseinanderzusetzen. Möglich ist auch, dass sich in der Kindererziehung ein ehelicher Machtkampf, eine symmetrische Kollusion nach Willi (2002), festmacht. Das Aufgeben der eigenen Position wird dann von beiden Partnern als vernichtende Niederlage und Gefährdung der Integrität der eigenen Persönlichkeit erlebt. Solche Negativdynamiken tragen erheblich zu Verhaltensstörungen bei den Kindern bei. Gabriel und Bodenmann (2006a) fanden in ihrer Analyse an Elternpaaren, dass Ehekonflikte eng mit dem Ausmaß von Erziehungskonflikten bei den Kindern zusammenhingen. Beides, Konflikte der Eltern und Erziehungskonflikte, trug zur Symptombelastung der Kinder bei, und zwar gleichermaßen häufig zu internalisierenden und externalisierenden Störungen.
6.5
Familien mit Latenzkindern: Eine Phase relativer Stabilität
Nach der turbulenten Phase der Familiengründung und der Geburt des ersten bzw. zweiten Kindes kommt die Familiendynamik in der Phase 3 insgesamt etwas zur Ruhe. Für Familien mit Latenzkindern gilt, dass diese Phase aus der Sicht der Familienentwicklungsperspektive als eine relativ ruhige und ausgeglichene Phase imponiert. Allerdings gibt es auch eine andere Ebene, die es zu berücksichtigen gilt. Möglicherweise wiederholt sich in dieser Phase auf der Familienebene, was auch für Latenzkinder generell gilt: ihre relative »Unauffälligkeit«.
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Kapitel 6 · Familiäre Entwicklungsprozesse im Beziehungskontext
Im Fokus: Die Schule Die Familienentwicklungsaufgaben in Phase 3 müssen sich v. a. mit den schulischen Veränderungen und der zunehmenden Unabhängigkeit der Kinder auseinandersetzen. Dies umfasst beispielsweise die Bewältigung des Übergangs vom Kindergarten zur Schule und die Lösung der damit verbundenen Organisationsaufgaben. Schulwegbewältigung, Organisation des häuslichen Arbeitsplatzes des Kindes, der Hausaufgabendurchführung etc. stehen im Zentrum, aber auch die Öffnung der Familie für neue Kontakte (zu Freunden des Kindes, anderen Eltern, Lehrern etc.; . Abb. 6.8). Der Übergang zur Sekundarstufe erfordert dann erneut die Unterstützung des Kindes bei der Anpassung an die veränderten sozialen und schulbezogenen Anforderungen. Eventuell entsteht als weitere familiäre Entwicklungsaufgabe die Bewältigung von Schulschwierigkeiten durch entsprechend gezielte Unterstützung. Auch die Auseinandersetzung mit dem klassenspezifischen Leistungsvergleich, d. h. die Akzeptanz der Leistung des eigenen Kindes im Kontext der Schulklasse, muss geleistet werden. Pekrun (2001) hat auf die Macht-Asymmetrie zwischen Familie und Schule hingewiesen und die Spannungen verdeutlicht, die sich durch unterschiedliche Qualifikationsansprüche, aber auch durch unterschiedliche Erziehungs- und Wertvorstellungen zwischen Schule und Familie ergeben können. Es ist bekannt, dass überhöhter Leistungsdruck von Seiten der Eltern zu psychischen und physischen Problemen bei Kindern führen kann (Fend 1990; Hurrelmann et al. 2003). In dem Zusammenhang sollte daran erinnert werden, dass
16 57 18 19 20 . Abb. 6.8. In der Schulklasse
ein erheblicher Teil der Kinder, die in Beratungsstellen vorgestellt werden, eine schulische Problematik aufweist (Leistungsdefizite, Schulverweigerung, Versetzungsgefährdung). Zumeist handelt es sich um Jungen, bei denen eine Leistungsproblematik auf dem Boden eines Familienkonflikts diagnostiziert wird (Seiffge-Krenke 2007a).
Balance zwischen Paar- und Elternebene Während der Schulkindzeit hat sich in der Regel das familiäre Beziehungsgefüge stabilisiert. Dies trifft auf heutige Familien zu, in denen wenige Kinder kurz nach der Eheschließung in einem kurzen zeitlichen Abstand geboren werden. In dieser Phase der Familienentwicklung scheint eine relativ gute Balance zwischen Eltern- und Paarebene zu herrschen. Forschungsergebnisse zeigen eine relativ hohe Familienkohäsion (Cierpka 2003). Nach der dramatischen negativen Entwicklung der Paarzufriedenheit, die für das Frühstadium der Familiengründung charakteristisch ist, erlebt das Paar in dieser Phase eine relative Stabilisierung der emotionalen Verbundenheit. Die Anforderungen und Belastungen im Bereich der Aufgabenerfüllung mit den heranwachsenden Kindern werden jedoch weiterhin als gravierend angesehen. Während Väter die Ziele ihrer beruflichen Karriere verfolgen und u. U. beruflich stärker eingespannt sind, kann für die Mütter, die erstmals wieder etwas stärker von den Aufgaben der Familienversorgung entlastet sind, eine Entscheidung hinsichtlich eines beruflichen Wiedereinstiegs anstehen. Sie stehen dann vor der Schwierigkeit, berufliche und familiäre Aufgaben zu verbinden und zu erfüllen (Hoff 1987). Diese Aufgabe hat sich für etwa ein Drittel der Mütter allerdings schon früher gestellt; sie arbeiten bereits nach der Babypause wieder, wenn auch häufig nur halbtags. Mütter von Latenzkindern sind dagegen bereits zu 55 berufstätig, wiederum überwiegend halbtags. Zwischen Eltern und schulpflichtigen Kindern hat sich in aller Regel eine feste, jedoch flexible Generationsgrenze etabliert. Störungen der Generationsgrenzen sind familiendynamisch relevant für die Beurteilung der Funktionalität bzw. Dysfunktionalität von Familien (Cierpka 2003). Eine erfolg-
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6.6 Familienturbulenzen während der Adoleszenz der Kinder
reiche Individuation des Kindes wird erschwert oder sogar unmöglich bei überdauernden inhaltlich festgelegten Rollenzuweisungen an das Kind (Richter 1963). Relativ durchlässige Generationsgrenzen zu den Herkunftsfamilien fördern den Austausch von Jung und Alt und ermöglichen Kindern einen weiteren Ausbau ihres Lebensraums. Identifikation mit Erwachsenen, die nicht zur Familie gehören, sind wichtige Anreize für die weitere Entwicklung des Kindes. Nach der Einschulung vertieft das Kind außerdem seine Kontakte zu den Gleichaltrigen. Werden Anforderungen von außen oder innen als Bedrohung wahrgenommen, reagieren manche Familien mit einem erhöhten Druck in Richtung Gemeinsamkeit und Zusammensein, wodurch die Autonomie der Familienmitglieder stark eingeschränkt wird. Um sich vor den Gefahren der Außenwelt zu schützen, wird ein enger Zusammenhalt mit Abschirmung nach außen angestrebt. Diese Einschränkungen der Außenbeziehungen können zu sozialer Isolation führen.
Elterliches Stressniveau, Paarkonflikte und kindliche Verhaltensauffälligkeiten In den letzten Jahren häufen sich Untersuchungen, die einen Zusammenhang zwischen elterlichem Stress und Symptombelastung des Kindes belegen. Bei den Eltern von Kindern mit externalisierenden Verhaltensauffälligkeiten (ADHS, aggressives bzw. dissoziales Verhalten) fand man gehäuft extrafamiliären Stress (Wohnsituation, Probleme im Beruf) und Stress innerhalb der Familie (Ehekonflikte, geringe Erziehungskompetenz). Die Studie von Gabriel und Bodenmann (2006b) belegt, dass die hiervon betroffenen Eltern besonders ungünstige Bewältigungsstile zeigten. So war die partnerschaftliche Unterstützung bei beiden Eltern sehr gering, auch die Stressmitteilung war sehr gering. Diese ungünstigen Bewältigungsstile wirkten sich nicht nur auf die Symptombelastung des Kindes aus, sondern führten auch zu schlechterem Wohlbefinden der Eltern.
6.6
6
Familienturbulenzen während der Adoleszenz der Kinder
Die Familienentwicklungsaufgaben in Phase 4 sind komplex und stellen sehr hohe Anforderungen an alle Familienmitglieder. Die Familie mit jugendlichen Kindern hat die enormen körperlichen und emotionalen Veränderungen des Heranwachsenden zu bewältigen und die beginnende Ablösung des Kindes von der Familie zu unterstützen. Für den Jugendlichen stellt sich die Aufgabe der Loslösung von der Kernfamilie, von Blos (1967) als zweite Individuation bezeichnet. Die elterlichen Rollen werden neu gestaltet, aber auch das Kind gewinnt zunehmend an Autonomie. Die Zunahme an Konflikten signalisiert, dass es zu einem Aushandeln von mehr Partnerschaft und neuer Macht- und Rollenverteilung der Familie kommt. Für die Familie und den Jugendlichen ist es eine Zeit des irritierenden Wechsels zwischen Abhängigkeit und Ablösungswünschen, zwischen Progression und Regression (. Abb. 6.9).
Aushandeln von Autonomie durch Zunahme von Konflikten In der Adoleszenz finden weitreichende Transformationen der Eltern-Jugendlichen-Beziehung statt, die sich in wesentlichen Beziehungsqualitäten widerspiegeln. Empirische Untersuchungen belegen eine zunehmende emotionale Distanz zwischen Eltern und Jugendlichen (Ullrich 1999) sowie abnehmende Kohäsion und Nähe in den Fami-
. Abb. 6.9. Vater-Tochter-Konflikte
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Kapitel 6 · Familiäre Entwicklungsprozesse im Beziehungskontext
lienbeziehungen (Fend 1998; Schneewind u. Braun 1988; Seiffge-Krenke 1997c), während sich gleichzeitig aggressive Auseinandersetzungen häufen (Montemayor 1983; Noller u. Callan 1991; Smetana et al. 1991). Am Beginn der Adoleszenz kommt es zu einer Zunahme von Konflikten. Sie sind Ausdruck des alltäglichen Aushandelns neuer Verhaltensweisen und Regeln und spiegeln das ständige Bemühen um eine Balance zwischen elterlicher Kontrolle und Selbstverantwortlichkeit des Jugendlichen wider. ElternJugendlichen-Konflikte begleiten nun die gesamte Adoleszenz bis zum Alter von etwa 17/18 Jahren. Die Beziehungsstrukturen in der Familie sind einer fortlaufenden Transformation unterworfen, und der Jugendliche wird mit zunehmendem Alter immer mehr als kompetenter Partner geschätzt. Einhergehend mit der zunehmenden Emanzipation der Jugendlichen und der wachsenden Ebenbürtigkeit in der Beziehung ist dann in der späten Phase der Adoleszenz eine deutliche Abnahme der ElternJugendlichen-Konflikte zu beobachten (Baumrind 1991; Rantanen et al. 1989). In meinen eigenen Studien (Seiffge-Krenke 1997c) zeigten sich bedeutsame Unterschiede zwischen Jugendlichen und ihren Eltern bei Interviewfragen nach familiären Problemen und Konflikten. Mütter gaben spontan mehr familiäre Konflikte und Probleme an als die Jugendlichen, wobei sich im zeitlichen Verlauf auch Differenzierungen in den Konfliktthemen zeigten: Die Jugendlichen berichteten über mehrere Jahre hinweg zunehmend häufiger über Autonomiekonflikte im Zusammenhang mit Ausgehzeiten oder dem eigenständigen Verreisen, während die Eltern stärker allgemeine Konflikte wie Aufräumen des Zimmers oder Mithilfe im Haushalt nannten. Es ist bemerkenswert, dass sich der Inhalt dieser Konflikte seit den ersten Studien 1930 kaum gewandelt hat. Die Hauptkonflikte zwischen Eltern und Jugendlichen, so Hill und Holmbeck (1987, S. 215), sind Konflikte über »homeworks, dishes and galoshes«, was man übersetzen könnte mit »(nichtgemachten) Hausaufgaben, (nichtabgewaschenem) Geschirr und (herumfliegenden)
Schuhen«. Es sind also immer die gleichen alltäglichen Ärgernisse, über die Eltern und Jugendliche seit fast 80 Jahren streiten. Dieses zunächst banal erscheinende Ergebnis ist bedeutsam, weil es zeigt, dass es offenkundig keine großen Krisen sind, keine Generationskonflikte, die das emotionale Band zwischen Eltern und Jugendlichen bedrohen. In der Tat hat der Mythos vom Generationskonflikt (Hill 1993) lange Zeit nicht nur die Alltagswahrnehmung, sondern auch die entwicklungspsychologische Forschung beherrscht. Ausgehend von Konzepten der negativen Phase, die in der Psychoanalyse (A. Freud 1958) und in der Entwicklungspsychologie (Hetzer 1948) gleichermaßen ein negatives Bild vom Jugendlichen zeichneten, war man lange Zeit überzeugt, dass Identitätskrise, Sturm und Drang und Generationskonflikt charakteristisch für das Jugendalter seien. Der an selektiven Stichproben von klinisch auffälligen Jugendlichen gewonnene Eindruck lässt sich jedoch nicht ohne Weiteres auf die Eltern-Kind-Beziehungen in normalen Familien übertragen. Längsschnittuntersuchungen an sehr großen Stichproben klinisch unauffälliger Jugendlicher seit den 70er Jahren belegten nämlich, dass die Entwicklung im Jugendalter sehr viel kontinuierlicher verläuft als bislang angenommen. Die bereits in der späten Kindheit einsetzende Ablösung von den Eltern erfährt lediglich eine gewisse Beschleunigung (Hetzer et al. 1995). Neuere Konzeptionen der Eltern-Kind-Beziehung unterstreichen eindeutig die positive, entwicklungsfördernde Funktion von Konflikten (»Ohne Konflikte keine Fortentwicklung«). Es wird weniger die Tatsache von Konflikten beachtet, sondern vielmehr deren unangemessene Häufigkeit für problematisch gehalten. Konflikte sind in klinisch auffälligen Familien bis zu 7-mal häufiger als in unauffälligen Familien (»all families some times – some families most of the time«, vgl. Montemayor 1983, S. 28). Diese Konflikte werden wesentlich häufiger im Zusammenhang mit Müttern geäußert, die stärker in das Familienleben und in das Alltagsleben der Jugendlichen involviert sind.
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6.6 Familienturbulenzen während der Adoleszenz der Kinder
Wie verändert sich die familiäre Dynamik im Jugendalter? In unserer Längsschnittstudie an 128 Mutter-VaterJugendlichen-Triaden wurden die familiären Veränderungen aus der Sicht aller Familienmitglieder untersucht (Seiffge-Krenke 1997c). . Abb. 6.10 verdeutlicht die Veränderungen in der Konflikthäufigkeit über einen Zeitraum von vier Jahren, als die Jugendlichen zwischen 13 und 17 Jahre alt waren, aus der Sicht von Vätern, Müttern und Jugendlichen. Mütter und Töchter berichten über die gesamte Adoleszenz hinweg sehr viele Konflikte, Väter nehmen dagegen im gleichen Zeitraum deutlich weniger Konflikte wahr, unabhängig davon, ob sie Söhne oder Töchter haben. Söhne berichten über weniger Eltern-Jugendlichen-Konflikte als Töchter – dies sehen ihre Mütter aber offenkundig anders.
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Des Weiteren werden die Autonomiebestrebungen der Jugendlichen ganz unterschiedlich zugelassen, und auch der familiäre Zusammenhalt verändert sich über die Zeit. Es deutet sich ein ziemlich unterschiedliches Klima in Familien mit Töchtern und Söhnen an, gekennzeichnet durch höhere Kohäsion und häufigere Konflikte in Familien mit Töchtern. Der Vater scheint für die Autonomiebestrebungen der Jugendlichen besonders wichtig zu sein. Väter trauten in meinen eigenen Studien Kindern schon rund vier Jahre früher Selbstständigkeit zu als Mütter (7 Kap. 7). Familiäre Probleme werden zunehmend im gemeinsamen Gespräch mit den Jugendlichen angegangen, die Jugendlichen zunehmend als Diskussionspartner von den Eltern akzeptiert.
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d Konflikthäufigkeit
Söhne 16 17 Alter (Jahre)
. Abb. 6.10a–d. Kohäsion in Familien mit Töchtern und Söhnen (a, b) und Konflikthäufigkeit in Familien mit Töchtern und Söhnen (c, d)
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Kapitel 6 · Familiäre Entwicklungsprozesse im Beziehungskontext
Unsere Ergebnisse bestätigten somit die eingangs beschriebene Transformation von einer eher unilateralen Eltern-Kind-Beziehung hin zu einer immer stärker auf Ebenbürtigkeit basierenden ElternJugendlichen-Beziehung (Pikowsky u. Hofer 1992; Youniss u. Smollar 1985). Diese Umstrukturierung der familiären Beziehungen wurde von allen Beteiligten intensiv erlebt und engagiert angegangen. Dabei standen sehr viel stärker die positiven Veränderungen als die Krisenaspekte im Mittelpunkt des Interesses. Wie bereits von Rantanen et al. (1989) beschrieben, hoben die Familien also die positiven Aspekte dieser Entwicklungsphase hervor.
Der Jugendliche initiiert die Veränderungen in der Beziehung Welche Einflüsse Kinder auf Eltern haben, wird besonders in Familien mit Jugendlichen deutlich. Einflüsse der Kinder auf die Eltern 5 Reduzierung der mit den Eltern verbrachten Zeit 5 Initiierung von Konflikten zur Aushandlung von mehr Autonomie 5 Abnahme der Offenheit gegenüber den Eltern 5 Zunehmende Kontrolle des Körperkontakts 5 Interaktion zwischen dem Geschlecht des Kindes und dem Geschlecht der Eltern 5 Verschlechterung des elterlichen Wohlbefindens während der Adoleszenz der Kinder
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Auffällig ist zunächst die Reduzierung der Zeit, die Jugendliche zwischen dem 11. und 18. Lebensjahr mit ihren Eltern verbringen. Wird die Schlafenszeit nicht berücksichtigt, so verbringen 11-Jährige durchschnittlich 35 ihrer Zeit, 18-Jährige nur noch 14 ihrer Zeit mit den Eltern (Larson u. Richards 1991; Larson et al. 1996). Des Weiteren kontrollieren sie ab dem Alter von 12 Jahren
sehr stark, was sie ihren Eltern erzählen. Die Enthüllungsbereitschaft entwickelt sich im Alter zwischen 12 und 17 Jahren scherenartig auseinander – mit linear abnehmenden Werten zu beiden Eltern und deutlich zunehmenden Werten gegenüber den Gleichaltrigen während des gleichen Zeitraums (7 Kap. 5). Die Jugendlichen kontrollieren ab der frühen Adoleszenz immer stärker, was sie ihren Eltern überhaupt noch erzählen und teilen, insbesondere in Bezug auf den Vater, kaum noch Persönliches mit. Der Vater bleibt lediglich Adressat für berufliche und schulische Aspekte. Geheimnisse gegenüber den Eltern haben eine wichtige Funktion für die Autonomieentwicklung (SeiffgeKrenke 1998). Das Einsetzen der körperlichen Reife verändert auch das Ausmaß, in dem körperliche Nähe in der Beziehung zu den Eltern zugelassen wird, enorm. Diese Veränderungen gehen vom Jugendlichen aus und setzen etwa ein Jahr vor den ersten körperlich sichtbaren Zeichen der Reife ein. Die Jugendlichen verändern nun ihren Körperkontakt zu beiden Eltern drastisch, er wird distanter, ritualisierter und körperferner (Seiffge-Krenke 1994). Die Jugendlichen wollen jetzt nicht mehr schmusen und ziehen sich aus jeder körperlichen Annäherung zurück. Rund 43 der befragten Mädchen lehnen jeden Körperkontakt mit dem Vater ab, 37 dulden ihn überhaupt nur noch mit der Mutter. An die Stelle des früheren engen Körperkontakts tritt nun eine ritualisierte Form, d. h. Umarmungen und Küsse auf die Wange zum Geburtstag, zu Weihnachten etc. (»Das macht man jetzt so«). Auch der Umgang mit Nacktheit verändert sich. Drei Viertel der Jugendlichen lehnen jede nackte Begegnung mit den Eltern ab, 27 dulden zwar noch, wenn die Eltern ins Badezimmer kommen, fühlen sich aber peinlich berührt. Die Reduzierung des Körperkontakts ist gegenüber dem Vater sehr viel massiver als gegenüber der Mutter, wie auch die Kontrolle der Enthüllungsbereitschaft gegenüber dem Vater sehr viel stärker ist als gegenüber der Mutter (7 Kap. 7). Daraus lässt sich schließen, dass die Wahrung der Intimsphäre für die Jugendlichen sehr wichtig ist und durch direkte und indirekte Methoden erreicht wird.
6.6 Familienturbulenzen während der Adoleszenz der Kinder
Verschlechterung des mütterlichen Wohlbefindens In zahlreichen Studien wurden Geschlechterunterschiede gefunden, die belegen, dass Töchter und Söhne die familiären Umstrukturierungen anders erleben als die Eltern und dass Mütter und Väter mit den Ablöseaktivitäten ihrer Kinder unterschiedlich umgehen (Seiffge-Krenke 1999). Töchter sind eher bereit, über Probleme mit ihren Eltern zu kommunizieren (Youniss u. Smollar 1985); sie zeigen mehr Gefühle und Abhängigkeit im Vergleich zu den Söhnen (Noller u. Callan 1991) und neigen auch eher dazu, die Werte der Eltern zu übernehmen. Andererseits sind sie mehr Restriktionen unterworfen, was möglicherweise die höhere Konfliktrate erklärt, die häufig v. a. zwischen Müttern und Töchtern gefunden wurde (Collins u. Russell 1991; Smetana et al. 1991). Meine eigenen Längsschnittstudien konnten die stärkere konflikthafte Auseinandersetzung mit der Mutter uneingeschränkt bestätigen (SeiffgeKrenke 1997c, 1999). Mütter gaben von allen Familienmitgliedern die höchste Rate wahrgenommener Konflikte an. Der Zeitverlauf zeigte zwar, wie bereits geschildert, eine abnehmende Konfliktbelastung. Allerdings nehmen Mütter auch weiterhin mehr Konflikte in den familiären Beziehungen wahr – unabhängig davon, ob sie eine Tochter oder einen Sohn haben. Dies lässt auf eine Dauerbelastung schließen, die gesundheitliche Folgen haben kann. Silverberg und Steinberg (1987) berichten von einer Zunahme an Depressionen und psychosomatischen Beschwerden bei Müttern um den Zeitpunkt der Pubertät ihrer Kinder. Dies hängt zweifellos damit zusammen, dass Mütter sehr viel stärker in die Bewältigung der körperlichen und emotionalen Veränderungen der Heranwachsenden involviert und mit den eventuell damit verbundenen Verhaltensproblemen konfrontiert sind. Bereits 1958 hatte Anna Freud eindrucksvoll das paradoxe Verhalten von Jugendlichen beschrieben, ein Schwanken zwischen Egoismus und begeistertem Anschluss an die Gemeinschaft bis zur Aufgabe der eigenen Identität. Hinzu kommt ein Austesten von Grenzen, das beängstigende Formen annehmen kann. Die stärkere gesundheitliche Beeinträchtigung der Mutter in Form von Depressionen und psycho-
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somatischen Beschwerden lässt sich nicht nur zu Beginn der Adoleszenz, sondern auch im weiteren Verlauf der Jugendzeit ihrer Kinder nachweisen (Silverberg u. Steinberg 1990). Sie hängt neben den Prozessen, die die Ablösung der Kinder betreffen, auch mit einer Zunahme von Konflikten mit dem Ehemann zusammen, in denen es um das angemessene Ausmaß von Autonomie und Kontrolle im elterlichen Erziehungsverhalten geht. Die stärkere Außenorientierung der Jugendlichen, insbesondere die Aufnahme von heterosexuellen Beziehungen des Sohnes oder der Tochter, stellt eine besondere Herausforderung für die Eltern dar. In diesem Zusammenhang wurde auch gefunden, dass Mütter die Jugendphase ihrer Kinder negativer beurteilen (Buchanan et al. 1990) – insbesondere, wenn sie frühreife Töchter haben. Dies scheint darauf hinzudeuten, dass die körperliche Reife sowie die Ablöseaktivitäten und die Aufnahme heterosexueller Beziehungen bei Söhnen eher positiv beurteilt werden und bei Töchtern eher Anlass zur Sorge bieten.
Familiärer Interaktionsstil und Weiterentwicklung Es besteht ganz offenkundig ein Dilemma zwischen der Gewährung von Autonomie einerseits und der Kontrolle der Jugendlichen durch die Eltern andererseits. Dieses Dilemma kann konstruktiv gelöst werden, wenn die wechselseitige Abhängigkeit beider Seiten voneinander akzeptiert wird. Ein hohes Maß an Vertrauen und damit ein geringer Bedarf an Kontrolle entstehen dann, wenn die Jugendlichen ihre Eltern von sich aus über ihre alltäglichen Aktivitäten informieren (Kerr et al. 1999). Jugendliche und ihre Eltern müssen eine Balance zwischen selbstständigem Handeln und Kommunikation, zwischen Trennung und Bindung, zwischen Konflikt und Harmonie finden. Grotevant und Cooper (1986) haben darauf hingewiesen, dass diese Balance in den einzelnen Stadien der Adoleszenz immer wieder eine neue Adjustierung der Komponenten »connectedness« und »individuation« verlangt. Nicht alle Familien haben die Ressourcen, sich an diese dynamischen Veränderungsprozesse anzupassen und neue Wege zu finden. Einige Familien versuchen, in dieser Situation mit ihren alten Mustern fortzufahren. Dies ist besonders bei Fami-
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Kapitel 6 · Familiäre Entwicklungsprozesse im Beziehungskontext
lien zu beobachten, bei denen in der Phase der Adoleszenz ihrer Kinder ein weiterer schwerwiegender Stressor wie der Beginn einer chronischen Erkrankung hinzukommt (Seiffge-Krenke 2001f). Aber auch in Familien mit Jugendlichen ohne zusätzliche Belastungen gibt es große Variationen hinsichtlich der familiären Weiterentwicklung. Baumrind (1991) hat die Einflüsse bestimmter elterlicher Erziehungsstile auf die weitere Entwicklung ihrer Kinder untersucht und gravierende Unterschiede gefunden (7 Übersicht). Vor allem die autoritäre Einhaltung von Familienregeln führt nachhaltig zu einer Entwicklungsbehinderung: Jugendliche aus Familien mit einem hohen Anspruch an Gehorsam und Konformität waren deutlich weniger unabhängig, selbstsicher und verantwortungsbewusst als Jugendliche, deren Eltern eine angemessene Balance zwischen Wärme und Kontrolle gefunden haben, also einen so genannten autoritativen Erziehungsstil pflegten. Ungünstig war auch eine zu geringe elterliche Kontrolle (Permissivität) bzw. ein zu geringes elterliches Interesse an den Kindern (Indifferenz). Auswirkungen von Erziehungsstilen auf Kinder und Jugendliche (Baumrind 1991) 5 Autoritative Eltern o Die Jugendliche sind verantwortungsbewusst, selbstsicher und psychosozial kompetent. 5 Autoritäre Eltern o Die Jugendlichen sind abhängiger, passiver, gefügiger. 5 Permissive Eltern o Die Jugendlichen sind weniger reif und verantwortungsbewusst und stärker abhängig von Peer-Einflüssen. 5 Indifferente Eltern o Die Jugendlichen sind impulsiver und experimentieren früher mit Alkohol und Drogen.
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Die Phase der Adoleszenz verdeutlicht in besonderem Maße, dass die Lösung und qualitative Veränderung bestehender emotionaler Bindungen für alle Familienmitglieder mit Schmerz, Angst und Ungewissheit verbunden ist. Auf Seiten der Eltern sind die Bereitschaft zum Loslassen des Kindes und die Akzeptanz des neuen Status eines Ehepaares in mittleren Jahren mit erwachsen werdenden Kindern zu entwickeln. Zweifellos gibt es sehr enge
Interaktionen zwischen der Paarebene und der Eltern-Kind-Ebene. Beziehungen zwischen dem Paar- und Eltern-Kind-Subsystem Aus familiensystemischer Perspektive sind immer mehrere Beziehungsebenen zu betrachten. In der Tat sind die ehelichen Beziehungen der Eltern und die Eltern-Jugendlichen-Beziehungen nicht unabhängig voneinander. Wir untersuchten in unserer Längsschnittstudie nicht nur die Eltern-Jugendlichen-Beziehungen über die Adoleszenz hinweg (Seiffge-Krenke 1997c), sondern setzten die Veränderungen in der Beziehungsqualität zwischen Eltern und Jugendlichen in Beziehung zu den Veränderungen, die beide Ehepartner im gleichen Zeitraum über ihre Partnerbeziehung berichteten (Seiffge-Krenke 1999): 5 Neben den bereits beschriebenen Veränderungen wie abnehmende Kohäsion und zunehmende Konflikthaftigkeit in den Familienbeziehungen war mit den Jahren eine immer stärkere Divergenz in den Perspektiven zwischen Eltern und Jugendlichen bemerkbar. 5 Demgegenüber stimmten Mütter und Väter in ihrer Sicht der Familienbeziehungen zunehmend überein (mittlere Korrelation: r = .57). 5 Auffallend waren die Einflüsse zwischen ehelichen Beziehungen und Ablöseaktivitäten der Jugendlichen: Eine hohe Kommunikation zwischen den Eltern stand mit mehr Autonomie für die Jugendlichen in Beziehung (mittlere Korrelation: r = .43). Für Väter wie Mütter standen positive eheliche Beziehungen, gekennzeichnet durch Zuneigung und offenen Ausdruck von Gefühlen, mit höherer familiärer Kohäsion (mittlere Korrelation: r = .45) und weniger Konflikten mit dem Jugendlichen (mittlere Korrelation: r = –.39) in Beziehung.
Ablösungskämpfe, wie sie in autoritär strukturierten Familien geführt werden, können die Familie bis an die Grenze der Dekompensation belasten. Zu Pro-
6.7 Die Kinder verlassen das Elternhaus: »Leeres Nest« oder »Hotel Mama«?
blemen in der Ablösung kommt es auch dann, wenn Eltern und Adoleszente aus ähnlich gelagerten Ängsten in ein unbewusstes Zusammenspiel verstrickt sind. Dadurch wird es ihnen zunächst möglich, Trennungen zu vermeiden und sich von anstehenden Entwicklungsaufgaben zurückzuziehen. Längerfristig kommt es jedoch zu einer Stagnation im familiären Entwicklungsprozess, der die Familienmitglieder gegeneinander agieren lässt und eine Neuorientierung aller Beteiligten blockiert. Besonders in Familien, in denen aggressive Auseinandersetzungen weitgehend unterdrückt werden, kann man häufig eine Ausbruchsschuld bei den Jugendlichen beobachten sowie Trennungsängste, die zu Autonomiehemmungen führen (Cierpka 2003). Aus therapeutischer Sicht sind demnach ein altersspezifischer Anstieg an Konflikten zu Beginn der Adoleszenz und ein Abflauen der Konflikte zum Ende der Adoleszenz in Familien mit Jugendlichen diagnostisch bedeutsam (Seiffge-Krenke 2007a). Nicht unerwähnt sollte allerdings bleiben, dass der Prozentsatz von Eltern, die von ihren Kindern geschlagen werden (»battered parents«) zugenommen hat (du Bois 2000). Bei der Erörterung der familienstrukturellen und familiendynamischen Veränderungen in den letzten Jahrzehnten war darauf hingewiesen worden, dass der psychologische Wert der Kinder sehr zugenommen hat, zugleich aber auch die Erziehungsprinzipien widersprüchlicher geworden sind und weniger klare Grenzen gezogen werden. Die Auseinandersetzungen um die Ablösung des Jugendlichen können sehr aggressive Formen annehmen, die sich auch physisch gegen die Eltern richten – ein Phänomen, das aus Scham oft verschwiegen wird. Der Trennungsprozess des Jugendlichen kann auch schwierig verlaufen, wenn die Eltern in einer unguten Partnerschaft leben. Hier kann es zu einem Spill-over-Effekt kommen (Cummings u. Davis 1994): Destruktive und offen ausgetragene eheliche Konflikte beeinträchtigen die Beziehung zu den Jugendlichen und führen zu einem unangemessen hohen Niveau von Eltern-Jugendlichen-Konflikten. Aus familientherapeutischer Sicht sind latente Partnerkonflikte bedeutsam. Der Jugendliche kann zum »Problemkind« gestempelt werden, damit die Eltern nicht mit ihren eigenen Konflikten konfrontiert werden. Die langfristigen Folgen sind eindeu-
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tig: Bei Jugendlichen aus Scheidungsfamilien und konfliktträchtigen Ehen wurden besonders häufig unsichere und ambivalente Partnerbindungen gefunden (Schneewind 2002). Der Umgang mit dem sich verändernden Körper des Jugendlichen erfordert ein sehr taktvolles Verhalten beider Eltern. Klare Definitionen der Geschlechtsgrenzen erleichtern es Söhnen und Töchtern, eine eigene sexuelle Identität zu finden. In der Phase der Ablösung bleibt die Generationsgrenze zwischen Eltern und Kindern erhalten, muss allerdings flexibler gestaltet werden. In klinischen Fallberichten wird deutlich, dass Jugendliche ihren sich verändernden Körper und ihre Sexualität nur in dem Maße akzeptieren können, wie dies den Eltern im Hinblick auf ihre eigene Sexualität gelungen ist (Laufer u. Laufer 1984). Wie schwer gerade diese Familienentwicklungsaufgabe ist, zeigen die Irritationen von Eltern mit frühreifen Jugendlichen.
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Die Kinder verlassen das Elternhaus: »Leeres Nest« oder »Hotel Mama«?
Welche Veränderungen gibt es in Familien, in denen die Kinder das Haus verlassen? Der Weggang des Jugendlichen aus der Familie leitet einen neuen Lebensabschnitt ein. Jetzt zeigt sich erneut, ob das Familiensystem über genügend Ressourcen verfügt, um eine Neuformulierung der familiären Beziehung zu erreichen. Die Beziehung zwischen Eltern und Kind muss sich zunehmend in Richtung auf eine Beziehungsgestaltung zwischen Erwachsenen bewegen; die erwachsenen Kinder müssen lernen, sich endgültig aus der Position der kindlichen Abhängigkeit gegenüber ihren Eltern zu befreien, ihre romantischen Partnerschaften auf eine stabile Basis zu stellen und eine berufliche Identität zu entwickeln. Andererseits müssen die Eltern lernen, die Autonomie der erwachsenen Kinder zu akzeptieren. Hinzu kommen die Bewältigung des Auszugs der Kinder und die Entwicklung eines befriedigenden Kontakts miteinander. Es ist auch eine Phase, in der starke finanzielle Belastungen durch die Ausbildung der Kinder entstehen.
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Kapitel 6 · Familiäre Entwicklungsprozesse im Beziehungskontext
Wandel der Eltern-Kind-Beziehung: Ungleiche Interessenlage In dieser Familienentwicklungsphase haben Eltern ein starkes Interesse an ihren erwachsenen Kindern; die erwachsenen Kinder finden es dagegen anstrengend bis überflüssig, dass ihre Eltern »noch so viel von ihnen wollen«. Auffällig ist demnach ein Ungleichgewicht der Interessenlagen zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern. Eltern sind in dieser Lebensphase stärker an der Beziehung zu ihren Kindern interessiert als umgekehrt – eine häufig gefundene empirische Tatsache in der Entwicklungspsychologie, die als »developmental stake« bezeichnet wird (Papastefanou 2002). Während Eltern dazu neigen, die affektive Bedeutung und Solidarität in der Beziehung zu überschätzen, tendieren erwachsene Kinder dagegen dazu, Unterschiede zwischen sich und ihren Eltern zu maximieren. Dies scheint die Fortsetzung eines Musters zu sein, das sich schon in Familien mit jugendlichen Kindern findet. Allerdings ist die affektive Qualität in Familien, deren Kinder das Haus verlassen haben, deutlich besser. Auch im frühen Erwachsenenalter sind die Eltern noch wichtige Bindungsfiguren, wobei Mütter und Töchter einander am nächsten stehen und füreinander wichtige Vertrauenspersonen bleiben. Generell fühlen sich Töchter enger an ihre Familie gebunden als Söhne – und dies, obgleich oder gerade weil sie früher ausziehen als diese (Allen u. Stoltenberg 1995). Insbesondere amerikanische Studien haben gefunden, dass sich die räumliche Trennung positiv auf die Eltern-Kind-Beziehung auswirkt. Beide Seiten registrieren eine Intensivierung der Beziehung und eine größere Offenheit in ihrer Kommunikation, zugleich nehmen sich aber die jungen Erwachsenen auch als autonomer wahr. Papastefanou (1997) und Seiffge-Krenke (2006b) haben an Stichproben deutscher junger Erwachsener diese Befunde untermauert: Die jungen Erwachsenen fühlen sich nach Vollzug der räumlichen Trennung stärker abgelöst, ihr Verhältnis zu ihren Eltern ist entspannter und teilweise sogar intensiver im Austausch. Man muss allerdings bedenken, dass die elterliche Unterstützung in der Auszugsphase über den gesamten Familienzyklus hinweg betrachtet ihren Höhepunkt erreicht. Das liegt primär daran, dass
die Ausbildungskosten im Wesentlichen von den Familien getragen werden. Dabei muss man zwischen elterlicher Unterstützung in materieller Hinsicht (monetäre Zuwendung), emotionaler Unterstützung (Kommunikation, Erfahrungsaustausch) und anderen Leistungen, die die Eltern erbringen (Kochen, Waschen, Besorgungen erledigen), unterscheiden. Es wird deutlich, dass die Hälfte aller 18bis 24-Jährigen heute wirtschaftlich nicht auf eigenen Füßen steht, obwohl sie bereits über eigene Einkünfte verfügen. Bei den verschiedenen Einkommensquellen rangiert die elterliche Unterstützung an zweiter Stelle. Daneben helfen Eltern gelegentlich auch bei besonderen Anschaffungen, z. B. einem Auto. Das Übernehmen kleiner Dienste und Gefälligkeiten kostet die Eltern teilweise einen erheblichen Zeitaufwand.
Das Ende der aktiven Elternschaft: Das »leere Nest« Während noch vor einigen Jahrzehnten große Familien die Regel waren und das »Nest« lange »gefüllt« war – u. a. bedingt durch die große Anzahl von Kindern mit einem erheblichen Altersabstand, der ohne Weiteres 20 Jahre betragen konnte –, stellt sich bei den heutigen Familien mit ihrer geringen Kinderanzahl, die in geringem Altersabstand geboren werden, die Frage des Auszugs der Kinder oft massiv und innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums (. Abb. 6.11).
. Abb. 6.11. Familie Freud: Die Familie mit erwachsenen Kindern
6.7 Die Kinder verlassen das Elternhaus: »Leeres Nest« oder »Hotel Mama«?
Für die Eltern fällt die Ablösung der heranwachsenden Kinder in eine Zeit wichtiger Lebensveränderungen. Sie müssen sich mit dem beginnenden Alterungsprozess und den ersten sozialen Verlusten auseinandersetzen, was heftige gefühlsmäßige Reaktionen hervorrufen kann (MidlifeCrisis). In früheren Forschungen galt der Verlust der Elternrolle als entscheidender Auslösefaktor eines krisenhaften Erlebens, besonders für die Mutter. Wenn die Kinder flügge werden, seien Frauen ihrer wichtigsten Aufgaben enthoben. Während man früher davon ausging, dass das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden, zu einer Identitätskrise, Trauerreaktionen und Depression führt, kurz: ein Empty-nest-Syndrom auslöst, ist man heute aufgrund neuerer Studien zu dem Schluss gekommen, dass die meisten Frauen nach anfänglichen leichten Trauergefühlen dieses Ereignis der Nachelternschaft ohne große Einbrüche bewältigen. Viele Mütter begrüßen es, aus den langen Jahren der Pflicht und Verantwortung entlassen zu sein und mehr Zeit für eigene Interessen zu haben. Viele Frauen beschreiben ihre Gefühle als eine Mischung aus Verlust und Gewinn (Barber 1989). Auch die Väter scheinen mit diesem Übergang problemlos zurechtzukommen. Nur ein kleiner Teil von ihnen hat mit heftigen emotionalen Reaktionen zu kämpfen – besonders, wenn ihre Ehe unglücklich ist (Papastefanou 1997). Als Hauptrisikofaktor für eine problematische Entwicklung kristallisiert sich bei Frauen das Fixieren auf die Mutterrolle heraus (Lehr 1991). Nachteilig wirkt sich besonders aus, wenn diese Frauen den Eindruck haben, in ihrer Rolle als Mutter versagt zu haben, was sie am Lebenserfolg der Kinder messen. Eine Alternative, die heute von vielen Frauen intensiv angestrebt wird, ist, sich nach der Familienphase wieder oder verstärkt beruflich zu engagieren. Die Bewältigungskompetenz von Frauen im mittleren Alter kann allerdings zusammenbrechen, wenn Belastungen (Krankheit, Verwitwung, pflegebedürftige Eltern) in dieser Zeit kumulieren. Schließlich können noch Probleme in der Partnerschaft oder fehlende soziale Unterstützung erschwerend hinzukommen.
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Verzögerter Auszug der jungen Erwachsenen: »Hotel Mama« Auch wenn die Ablösung von den Eltern per definitionem eine Entwicklungsaufgabe des Jugendalters ist, so bleibt sie im Übergang zum Erwachsenenalter weiterhin ein sehr wichtiges Thema. Aus entwicklungspsychologischer Perspektive ist die Situation von Spätausziehern besonders zu beleuchten. Während frühere Forschungen v. a. die Auswirkungen des Auszugs der Kinder auf die Familien und speziell auf die Mutter unter dem Aspekt des Empty-nest-Syndroms untersuchten, wurden in den letzten Jahren die Hintergründe für einen verzögerten Beginn der Auszugsphase intensiv analysiert (Papastefanou 2002). Die hohe Komplexität, die der Übergang zum Erwachsenenalter heute erreicht hat, geht mit erheblichen zeitlichen Verzögerungen der Ablösung einher (Arnett 1997), hauptsächlich bedingt durch die längeren Ausbildungszeiten (erweitertes Bildungsmoratorium). Die längere ökonomische Abhängigkeit von den Eltern hat zur Folge, dass ein großer Teil der jungen Erwachsenen in der dritten Lebensdekade immer noch im Elternhaus lebt. Dafür wurde der Begriff »incompletely launched young adults« geprägt. Die jungen Erwachsenen genießen alle Freiheiten und werden mehr oder weniger rundherum versorgt, ohne sich selbst arbeitsmäßig allzu groß einzubringen (»Hotel Mama«). Besonders Söhne scheinen oft auf Bildung, Karriere und kostenintensives Freizeitverhalten hin orientiert zu sein und betrachten es als ihr gutes Recht, versorgt zu werden. Sie ziehen im Schnitt ein Jahr später aus dem Elternhaus als Töchter.
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Kapitel 6 · Familiäre Entwicklungsprozesse im Beziehungskontext
Spätauszieher, Rückkehrer und Nesthocker Angesichts der zunehmend längeren Verweildauer junger Erwachsener im Elternhaus müssen heute Eltern häufig auch den Nichtauszug ihrer Kinder verkraften, für den in der Forschung der Begriff »Full-nest-Syndrom« geprägt wurde. Außerdem können die Kinder nach einer Phase des Alleinlebens irgendwann wieder vor der Tür stehen. Eltern fühlen sich sowohl in finanzieller als auch in persönlicher Hinsicht eingeschränkt; das Zusammensein mit den Kindern wird als konflikthaft beschrieben (Zinnecker et al. 1997). Viele Mütter beklagen das geringe Engagement der Kinder bei der Hausarbeit und ihre geringe Beteiligung am Familienleben (Papastefanou 1997).
Das heute verstärkt auftretende Phänomen des Spätauszugs ist nicht isoliert zu verstehen, sondern als Ausdruck eines allgemein verzögerten Erwachsenwerdens zu werten, das bereits in der Ausdehnung der Adoleszenz seinen Vorläufer hat. Blos hat bereits vor einigen Jahrzehnten (1973) auf das Phänomen der prolongierten Adoleszenz hingewiesen und insbesondere auf die pathologisch prolongierte Adoleszenz, für die es charakteristisch ist, Kindheitsprivilegien zu genießen und auf Erwachsenenvorrechten zu bestehen – bei weitgehender Abhängigkeit von den Eltern. Die bereits mehrfach beschriebenen gesamtgesellschaftlichen Veränderungen haben allerdings in den letzten Jahren dazu geführt, dass die Mehrzahl der jungen Leute wichtige Entwicklungsaufgaben wie Auszug aus dem Elternhaus, feste Partnerschaft und Familiengründung bis ins dritte Lebensjahrzehnt hinausschiebt, ohne dass dies als auffällig oder ungewöhnlich anzusehen ist. Ökonomische Veränderungen und verlängerte Ausbildungen haben dazu beigetragen, aber es ist auch zu einem Wertewandel gekommen. Nachdem in der Generation der 68er junge Erwachsene nichts Eiligeres zu tun hatten, als sich möglichst schnell unabhängig von den Eltern zu machen, was in einem zügigen Auszugsverhalten deutlich wurde, ist es in der heutigen Generation junger Erwachsener offenkundig salonfähig, lange mit den Eltern unter einem Dach zu leben.
In unserer Längsschnittstudie zogen 55% zeitgerecht aus (Frauen mit 21 Jahren und Männer mit 22 Jahren), 18% zogen im Zeitraum zwischen 21 und 25 Jahren aus, 10% bzw. kehrten nach einem Auszug zurück, und 17% wohnten im Alter von 25 Jahren noch bei ihren Eltern (Seiffge-Krenke 2006b). Entscheidende Vorhersagevariablen für das Auszugsverhalten waren der Bindungsstatus und die Art der elterlichen Unterstützung. Personen mit sicherem Bindungsstatus zogen am häufigsten zeitgerecht aus. Zu lange und unangemessen hohe Unterstützung durch beide Eltern war dagegen für Nesthocker typisch.
Die Hintergründe für einen Wandel in der Auszugsphase sind in den letzten Jahren intensiv untersucht worden. Neben ökonomischer Unsicherheit und Arbeitslosigkeit sind es v. a. psychologische Faktoren, die hier wirksam werden. So berichtet Papastefanou (2002), dass Studierende, die in einer Familienatmosphäre mit ausgeprägter Normenorientierung aufgewachsen sind, Schwierigkeiten haben, sich abzulösen. Dies gilt verstärkt für junge Erwachsene aus Migrantenfamilien. Aber auch unsichere Bindungsmuster und unangemessen lange Unterstützung durch die Eltern mit entsprechender Verzögerung in der Partnerschaftsentwicklung sind wesentliche Faktoren (Seiffge-Krenke 2006b). Einen ähnlichen Ansatz verfolgte Stierlin bereits 1974 und stellte ablösungsfördernde und - hemmende Einstellungen der Eltern gegenüber. Immer wieder wurde im Rahmen von familientherapeutischen Analysen die Diagnose Ablösungsproblematik gestellt, definiert als entwicklungsinadäquate enge Bindung zwischen Eltern und dem Spätadoleszenten. Die Indexpatienten fielen typischerweise durch Störungen im beruflichen und sozialen Bereich auf. In der Familieninteraktion neigten sie dazu, Verantwortung für ihre Eltern zu übernehmen (Kohlendorfer et al. 1994).
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Die Neuformulierung der elterlichen Paarbeziehung Idealtypisch verbindet die Partner die gemeinsame Lebensgeschichte, die Kontinuität und Stabilität der Beziehung, auch für den nun neuen Lebensabschnitt. Das Paar muss in der Lebensmitte neue Muster entwickeln, die die gegenseitige Unterstützung und partnerschaftliche Auseinandersetzung aufrechterhalten. Psychoanalytische und entwicklungspsychologische Theorien weisen einheitlich darauf hin, dass das Selbstwertgefühl vieler Frauen nicht unerheblich auf ihrer Fähigkeit beruht, Beziehungen aufzubauen und zu erhalten, und auf der Zuneigung, die sie geben können und erhalten, wenn sie andere umsorgen (Formanek 1992). Der Verlust einer Beziehung bedeutet nach diesen Vorstellungen einen Verlust von Bestätigung. Durch den Auszug der Kinder können sich besonders familienorientierte Frauen, d. h. Frauen, die ihren Lebensinhalt hauptsächlich in der Versorgung gesehen haben, wesentlicher Qualitäten beraubt sehen und Unzulänglichkeiten und geringe Selbstachtung empfinden, was zu schweren Depressionen führen kann. Eine derartige Entwicklung haben wir bereits als Empty-nest-Syndrom beschrieben. Ursula Lehr (1991) hat u. a. die Berufstätigkeit der Frau als »sinnvolle Prophylaxe« empfohlen. Die Zunahme der partnerschaftlichen Zufriedenheit nach dem Auszug der Kinder (Cierpka u. Frevert 1995) muss immer vor dem Hintergrund der zur Verfügung stehenden individuellen und partnerschaftlichen Bewältigungsmöglichkeiten gesehen werden. Sie tragen entscheidend dazu bei, ob das Paar diese Phase als einen Verlust oder als eine Bereicherung erlebt, indem sich neue Optionen für die Beziehungsgestaltung und die Verwirklichung persönlicher Ziele eröffnen. Darüber hinaus wird die partnerschaftliche Zufriedenheit nicht unerheblich dadurch beeinflusst, ob und wie die Kinder eine befriedigende und autonome Lebensgestaltung realisieren können. Die Neuformulierung der Beziehung hängt ganz wesentlich davon ab, in welchem Ausmaß sich die Partner autonom entfalten und dabei doch aufeinander bezogen bleiben können. Krisen entstehen häufig dann, wenn das Verhältnis von Individualisierung und Gemeinsamkeit in der Beziehung als unbefriedigend erlebt wird. Die extreme Ausrich-
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tung eines Partners auf Selbstverwirklichung und die eigenen Interessen passt mit dem dyadischen Konstruktionssystem dann nicht mehr zusammen. Zu einer krisenhaften Entwicklung kann es auch kommen, wenn die koevolutiven Veränderungsprozesse der Partner asynchron verlaufen, d. h. zunächst nur bei einem Partner ein persönlicher Entwicklungsprozess angestoßen wird (Willi 2002). Die Asynchronie in der Entwicklung der Partner findet sich typischerweise im dyadischen Emanzipationsprozess, der meistens von der Frau ausgeht. Aus Angst und Unsicherheit der Partner vor der Veränderung kann die Durchsetzung emanzipatorischer Bestrebungen vermieden oder hinausgezögert werden. In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass generell bei beiden Partnern gegenläufige Entwicklungstendenzen zu beobachten sind: Während sich die Frau nach einer längeren Familienphase verstärkt im Beruf engagiert – oder ihr bisheriges Engagement noch verstärkt –, findet man bei Männern häufig eine größere »Familienorientierung«: Sie haben den Zenit ihrer beruflichen Karriere überschritten und möchten sich nun ihrer (nur noch rudimentär vorhandenen) Familie verstärkt zuwenden.
Krisenhafte Entwicklungen Diese Familienentwicklungsphase ist durch folgende Merkmale gekennzeichnet: 5 partnerschaftliche Gestaltung, 5 entspannteres und oft intensiveres Verhältnis zwischen Eltern und erwachsenen Kindern, 5 große finanzielle Belastung für die Eltern. Den meisten Familien gelingt es, in dieser Phase wiederum eine neue Balance zwischen Verbundenheit und Abgrenzung in der Eltern-Kind-Beziehung herzustellen. Zu Krisen in der Beziehung mit erwachsenen Kindern kann es kommen, wenn konflikthaft erlebte Delegationen oder Aufträge der Eltern lebendig werden und der Verwirklichung persönlicher Ziele entgegenstehen. Hinweise auf eine misslungene Ablösung von den Eltern ergeben sich, wenn der junge Erwachsene während der Ausbildung scheitert, wenn es ihm nicht gelingt, stabi-
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le Beziehungen zu Freunden und Partnern aufzubauen, oder er den Übergang in das Berufsleben hinausschiebt und stattdessen in das Elternhaus zurückkehrt. Hier ist allerdings der veränderte Entwicklungskontext mit zunehmender Arbeitslosigkeit zu bedenken. In einem für alle Beteiligten belastenden, konflikthaften, oft langwierigen Prozess müssen die nichtbewältigten Entwicklungsaufgaben der Adoleszenzphase dann erneut erarbeitet werden. Dies ist für manche Familien nur mit therapeutischer Hilfe möglich (Cierpka 2003). Die Eltern müssen lernen zu akzeptieren, dass andere – auch ihre eigenen Kinder – die eigenen Leistungen übertreffen können. Das verzweifelte Bedürfnis der Eltern, an Macht und Kontrolle über die Kinder festzuhalten, weist auf problematische Delegationen und auf ungelöste ödipale Konflikte hin. Nicht nur das Ungleichgewicht in den Interessenlagen von Eltern und erwachsenen Kindern, sondern auch die dissonanten Entwicklungstendenzen innerhalb der Paares, die sich in den folgenden Jahren noch verstärken können, können zu einer solchen »Schieflage« führen, dass therapeutische Hilfe notwendig wird. Das Aufeinandertreffen dieser Dissonanzen, zusammen mit Kindern, die ständig oder überwiegend noch im eigenen Haushalt wohnen und enorme Ansprüche stellen, kann zu krisenhaften Zuspitzungen führen. Probleme mit der Herkunftsfamilie sind bekanntlich häufig Anlass, psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Die spezielle Gruppe der Spätauszieher verspürt vermutlich erst dann einen Leidensdruck, wenn das bisher für sie so praktische Arrangement aus irgendwelchen Gründen scheitert.
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Paare im Alter
Die letzten beiden Phasen der Familienentwicklung nach Duvall (1977) sind Phase 6 (die Familie nach Auszug der Kinder bis zur Pensionierung) und Phase 7 (die Familie im Alter bis zum Tod der Eltern). Sie sind einheitlich dadurch gekennzeichnet, dass die Kinder nicht mehr im Elternhaus leben. Ursula Lehr (1991) hat als Erste nachgewiesen, dass durch die verlängerte Lebenserwartung die Phase nach dem Auszug der Kinder, die so genannte nachelterliche Gefährtenschaft, heute ohne Weiteres 30 Jah-
re und mehr umfasst und damit eine längere Spanne als die, die Eltern mit ihren Kindern in einem gemeinsamen Haushalt gelebt haben. Während in früheren Jahrzehnten die Ehe durch den vorzeitigen Tod eines Ehepartners, häufig der Ehefrau im Kindbett, aufgelöst wurde, dauern gegenwärtig Ehen lange nach dem Auszug der Kinder an. Die hohen Scheidungsraten nach dem Auszug der Kinder sind ein erstes Signal, dass dieser Abschnitt der Familienentwicklung besondere Belastungen enthält, die gemeistert werden müssen. Kennzeichen für die letzten beiden Phasen im Familienzyklus ist ein weitreichender Strukturwandel, da die Kernfamilie auf ihre ursprüngliche Größe, das allein lebende Ehepaar, schrumpft, während gleichzeitig durch Heirat und Familiengründung der erwachsenen Kinder neue Familienmitglieder hinzukommen können. Die Verantwortlichkeiten zwischen Eltern und Kindern sind neu zu verteilen, Familienmitglieder zu entlassen und neue in den Familienverband aufzunehmen. Zugleich muss sich das alternde Paar mit Krankheit, Tod und Sterben auseinandersetzen.
Neue Aufgaben: Großelternschaft Die wichtigste Familienentwicklungsaufgabe nach dem Auszug der Kinder betrifft die Neuregelung der Beziehung zu den Kindern im Sinne einer partnerschaftlichen Gestaltung »auf gleicher Augenhöhe«. Dazu kommen die Entwicklung eines für alle Beteiligten befriedigenden Modells der Kontakte miteinander und die Neukonstruktion des verbleibenden familiären Systems. Die Einbeziehung des Partners (und seiner Angehörigen) des Kindes in das eigene soziale Netzwerk stellt eine bedeutsame Integrationsleistung dar. Familiendynamisch gesehen haben wir es auf der einen Seite mit einem Schrumpfungsprozess in der Herkunftsfamilie zu tun, da das Elternpaar nun alleine lebt, und auf der anderen Seite aber auch mit einem Erweiterungsprozess um neue Familienmitglieder aus den Familien der Kinder. Diese Erweiterung kann neben den jeweiligen Partnern der Kinder und deren Herkunftsfamilien auch Enkelkinder umfassen. Auf Seiten der Eltern bedeutet die Bewältigung des Übergangs zu den neuen Rollen als Großvater/ Großmutter u. U. auch die Akzeptanz des damit
6.8 Paare im Alter
verbundenen »Altseins«. In diesem Zusammenhang sind die wechselseitigen Unterstützungserwartungen zwischen Großeltern und der jungen Familie zu klären. Auf Seiten der Großeltern geht es u. a. um die Akzeptanz der Tatsache, dass die jungen Eltern und nicht sie als Großeltern für das Enkelkind und seine Erziehung verantwortlich sind (s. auch S. 170). Wiederum – und verstärkt im Vergleich zur Phase 5, der Auszugsphase – geht es um eine Modifizierung elterlicher Ansprüche an die eigenen Kinder und – nun erforderlich – deren Partner. Bislang gibt es kaum entwicklungspsychologische Untersuchungen zur Großelternschaft. Die wenigen Studien, die vorliegen, beziehen sich auf die Großelternschaft mit kleinen Enkeln. Angesichts
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der doch enormen Zeitspannen, die die Integration eines neuen Familienmitglieds erfordert (S. 172), ist jedoch davon auszugehen, dass auch das Großelternwerden ein länger dauernder Prozess ist. Veränderungsbereitschaft in der Rolle als Großeltern ist notwendig, wenn die Enkel das Jugendlichenalter erreichen. Auf Seiten der Großeltern geht es in diesem Stadium v. a. um die Entwicklung eines neuen Lebenskonzepts, das die Anpassung an die altersbedingten Veränderungen (Pensionierung, Krankheiten) mit einschließt. Auf Seiten der erwachsenen Söhne/ Töchter kann die Übernahme von notwendigen Hilfs- und Pflegemaßnahmen für die alternden Eltern als neue Familienentwicklungsaufgabe hinzukommen.
Die Problematik der Sandwich-Generation Mit dem Begriff der Sandwich-Generation wird eine Problematik der inzwischen selbst erwachsenen Kinder beschrieben. Sie sind mit doppelten Anforderungen konfrontiert – nicht nur durch die Entwicklung der eigenen Kinder, sondern auch durch die der eigenen Eltern. Für die Eltern stehen ein Ausstieg aus dem Berufsleben und ein Rückzug ins Privatleben an. Durch die Erkrankung der Eltern oder eines Elternteils können sich weitere Belastungen für das Paar ergeben. Psychologische Untersuchungen zeigen, dass die Pflege der alten Eltern und Schwiegereltern auch heute noch weitgehend Frauensache ist (Baltes u. Zank 1990). Es sind die erwachsenen Töchter bzw. Schwiegertöch-
ter, die sich im Falle von Krankheit oder Heimaufenthalt verstärkt um die alten Eltern kümmern. Für die Bewältigung von Trauer über den Verlust eines Elternteils oder beider Eltern ist es wichtig, dass intrapsychisch die Beziehung zu ihnen und die Identifizierung mit ihnen überdauern können. Der Trauervorgang erfordert auch ein Durcharbeiten von Ambivalenzen in der Beziehung zu den Eltern. Zu pathologischen Trauerprozessen kann es kommen, wenn der Tod der Eltern eine Leere, ein Gefühl des inneren Verlassenseins hinterlässt oder Idealisierung und Schuldgefühle gegenüber den Eltern überdauern.
Veränderungen durch die Pensionierung
tungstod; Brähler u. Strauß 2000). Auch die theo-
Der Zeitpunkt der Pensionierung eines oder beider Partner ist ein markanter Einschnitt in der bisherigen Lebensführung. Mit dem Ausstieg aus dem Berufsleben entfällt eine Beschäftigung, die den Lebenssinn bisher wesentlich mitbestimmt und zwischenmenschliche Kontakte ermöglicht hat. In der entwicklungspsychologischen Forschung hat v. a. der Nachweis von hohen Mortalitätsraten um die Berentung zu großem Aufsehen geführt (Beren-
retischen Konzeptualisierungen dieses Lebensabschnitts sind sehr stark durch Verlust gekennzeichnet. So haben Cummings und Henry (1961) in ihrer Disengangement-Theorie die zahlreichen Einschränkungen in den Rollen und sozialen Kontakten eindrücklich beschrieben, die durch die Berentung erfolgen. Der Übergang ins Privatleben nach der Berentung oder Pensionierung wird v. a. dann negativ erlebt, wenn man in seinem Beruf extrem leistungsund erfolgsorientiert war und die Veränderung eher
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Kapitel 6 · Familiäre Entwicklungsprozesse im Beziehungskontext
als einen Verlust seines sozialen Status erlebt. Dies gilt verstärkt für Männer, die den Wegfall dieses für ihr Selbstwerterleben wichtigen Bereichs oftmals als narzisstische Kränkung erleben. Die in diesem Zusammenhang auftretenden Depressionen und psychosomatischen Beschwerden können die innerfamiliären Beziehungen sehr belasten (Radebold 1997). Die ungewohnte Präsenz des Partners kann von der Ehefrau als massive Einschränkung erlebt werden (vgl. den Film »Pappa ante Portas« von Loriot). Nachdem sich die Forschung seit einiger Zeit mit Aspekten des produktiven Alterns beschäftigt und die Weisheit älterer Menschen untersucht hat, gibt es in den letzten Jahren mehr Aufmerksamkeit für die Tatsache, dass die zunehmenden Verlustereignisse im hohen und höheren Erwachsenenalter auch mit erheblichen Kränkungserlebnissen verbunden sein können. Insbesondere bei schwierig verlaufenden Trennungen und Scheidungen sowie problematischem Ausscheiden aus dem Berufsleben (Kündigung, Frühberentung) stieß man auf die Posttraumatische Verbitterungsstörung (PTED). Vor allem der Leitaffekt der Verbitterung führt oft zu einer Ablehnung therapeutischer Angebote (Linden 2005).
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Höhere eheliche Zufriedenheit oder Scheidung nach langjähriger Ehedauer? Viele Paare empfinden den Rückzug auf die Zweisamkeit jedoch als Bereicherung und erleben eine Zunahme der partnerschaftlichen Zufriedenheit. Wir haben bereits dargestellt, dass sich im Schnitt bei den meisten älteren Paaren die partnerschaftliche Zufriedenheit in diesen letzten Phasen der nachelterlichen Gefährtenschaft erhöht (. Abb. 6.12). Die Tatsache, dass wir in den letzten Jahren einen zweiten Scheidungsgipfel nach langer Ehedauer verzeichnen, zeigt allerdings auch an, dass nicht alle älteren Paare die neuen Aufgaben gemeinsam bewältigen. Nach dem Bericht des Bundesministers für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (1995) erfolgt die Scheidung nach einer durchschnittlichen Ehedauer von 20 Jahren, wenn die Familienaufgaben in den meisten Familien erfüllt
sind. Wiederum werden die meisten Scheidungen von den Frauen eingereicht. Es ist offenkundig, dass sie nun, nach Erfüllung ihrer Familienpflichten, keine Notwendigkeit mehr sehen, in einer Beziehung zu leben, die sie nicht befriedigt. Im Unterschied zu Scheidungen nach kurzer Ehedauer sind es nun die erwachsenen Kinder, die beide Eltern in der Phase der Scheidung stützen und zu diesem Schritt ermuntern. Nach Auskunft der Mütter ist die Unterstützung durch die Kinder eine wesentliche Hilfe bei der Bewältigung der Scheidung in diesem Lebensabschnitt. Die hohen Scheidungsraten nach dem Auszug der Kinder sind aber nicht nur ein Hinweis darauf, dass in diesem Abschnitt der Familienentwicklung besondere Belastungen bestehen. Sie weisen auch auf die Bereitschaft von älteren Paaren hin, nun, am Ende ihres Lebens, Beziehungen zu klären und einen anderen Lebensentwurf allein, ohne den langjährigen Partner, umzusetzen. Wir haben damit zwei polare Entwicklungen vor uns: 5 die (für die Mehrheit der älteren Paare zutreffende) größere Zufriedenheit in der Partnerschaft und 5 die (für eine kleinere Gruppe zutreffende) Auflösung der Beziehung durch Scheidung. Möglicherweise sind diese scheinbar widersprüchlichen Entwicklungen aber auch innerhalb einer langjährigen Partnerschaft spürbar. So deuten die Ergebnisse zur hohen Ehezufriedenheit nach Jahren der Familien- bzw. Berufsorientierung wieder auf ein zunehmendes Interesse an der Person des Partners. Andererseits belegt die Zunahme an Konflikten (bis hin zu den Scheidungsraten) auch
. Abb. 6.12. Das alte Ehepaar Freud
6.8 Paare im Alter
das Auseinanderleben der Paare. Langjährige Ehen scheinen sich sehr unterschiedlich zu entwickeln und durch hohe Ambivalenz gekennzeichnet zu sein. So berichten viele ältere Frauen in der Untersuchung von Kirsten von Sydow zwar von sehr zärtlichen und innigen Gefühlen für ihren Partner, lehnen jedoch sexuelle Beziehungen ab oder entwerten sie (»38 Jahre gedient – es langt!«; von Sydow 1993, S. 113). Probleme im Selbstwerterleben, die in Verbindung mit der veränderten Rolle als »kinderloses« und »berufsloses« Ehepaar stehen, können zu sexuellen Problemen führen, die die Partnerschaft belasten. Für die ältere Frau hat bereits die Menopause subjektiv das herannahende Alter angezeigt, das fortschreitende Alter kann weitere Verluste von Attraktivität und Weiblichkeit mit sich bringen, die allerdings für die meisten Frauen weniger gravierend sind und durch die gewonnenen Freiräume aufgewogen werden (Reitz 1981). Wenig untersucht sind bislang Einflüsse auf die Partnerschaft, die sich durch Potenzprobleme des älteren Mannes ergeben können. Möglicherweise spielt auch der so genannte Geschlechtershift im hohen Erwachsenenalter eine Rolle, d. h. die Beobachtung, dass ältere Männer nun verstärkt ihre Abhängigkeitswünsche und ältere Frauen ihre aggressiven Anteile ausleben (Radebold 1997). Willi (1991) hat auf weitere Belastungen aufmerksam gemacht, die sich durch die Asynchronie des Alterns ergeben können. Es ist möglich, dass ein Partner voller Energie ist, während der andere Ruhe und Zurückgezogenheit sucht. Beide Partner müssen lernen, ihre Bedürfnisse aufeinander abzustimmen und Freiräume innerhalb der Bandbreite des dyadischen Systems wahrzunehmen. Massive Probleme können sich einstellen, wenn ein Partner unter einer körperlichen Erkrankung oder Behinderung leidet, während der andere noch physisch vital ist.
Psychotherapie im Alter Viele ältere Menschen erleben den Verlust von Familienmitgliedern und Freunden, ihrer Lebensweise, ihres Berufs – vielleicht noch verbunden mit einer Einbuße ihres Einkommens – als Angriff auf ihre Selbstachtung. Um sich dem Alter anpassen zu
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können, ist es notwendig, sich den zunehmenden Verlusten und den physischen Alterserscheinungen ohne Verleugnung oder krankhafte Angst zu stellen. In der Tat gibt es keinen Lebensabschnitt, der durch so viele Einbußen gekennzeichnet ist wie das Alter. Chronische körperliche Erkrankungen und psychische Störungen nehmen zu, und die Einschränkungen in der Beweglichkeit, im Hören und Sehen verstärken das Gefühl von Einsamkeit, unter dem viele ältere Menschen leiden (Durst 1995). Die Zunahme an psychischen Störungen, die in einigen Studien mit Prävalenzraten von 30–40 angegeben wird (Baltes u. Zank 1990), ist enorm. Man muss sich des Weiteren klarmachen, dass die Zunahme schwerer körperlicher Erkrankungen für die hohe Zahl von Suiziden bei alten Menschen verantwortlich gemacht wird (Summa 1988). Dies ist eine Situation, die psychotherapeutische Unterstützung dringend erforderlich macht; allerdings beträgt der Anteil der über 60-Jährigen in psychotherapeutischen Praxen und psychosomatischen Kliniken nur rund 3, während in den letzten Jahren eine zunehmend größere Zahl von behandlungsbedürftigen 45- bis 60-Jährigen psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nimmt. Radebold (1997) führt unterschiedliche Faktoren für dieses Defizit an. Sehr gewichtig ist, dass Freud psychoanalytische Behandlungen nur bis zu einem Alter von 50 Jahren für indiziert hielt, weil er meinte, dass die durch die Behandlung in Gang gekommenen Veränderungen mindestens in Ansätzen in die Tat umgesetzt werden sollten. Mit fortschreitendem Lebensalter sinken die Chancen dafür zweifellos. Es bleibt jedoch die Frage, ob Veränderungen in der Lebensgestaltung tatsächlich noch das zentrale Ziel sein sollten, oder nicht eher ein Verständnis für die eigene Vergangenheit, um mit den früheren Selbst- und Elternbildern ins Reine zu kommen (Erikson 1976). Die Annahme des Alters schließt auch eine Einsicht in den eigenen Tod ein, wobei dies die Fähigkeit umfasst, Hass und Liebe in seinem Inneren zu integrieren. Das Ergebnis dieses Prozesses kann in einer konstruktiven Resignation gegenüber der eigenen Unvollkommenheit und den Unzulänglichkeiten der eigenen Arbeit liegen. Stützende statt aufdeckende psychotherapeutische Angebote sind hier sicher sehr sinnvoll, ebenso wie Lebensrückblickstherapien.
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Kapitel 6 · Familiäre Entwicklungsprozesse im Beziehungskontext
Narzisstische Kränkungen und Beschämungen durch das Älterwerden und die Begrenzung des Lebens durch Sterben und den Tod sind nach Radebold (1997) wichtige Themen in psychotherapeutischen Behandlungen mit älteren Menschen. Entsprechend spielen Kindheitserinnerungen und Erinnerungen an die eigene Jugend- und Erwachsenenzeit – insbesondere bei der Kriegsgeneration – in Behandlungen eine sehr große Rolle, während aktuelle Ereignisse eher selten vorkommen. Aus therapeutischer Sicht entstehen in der Behandlung mit älteren Menschen »umgekehrte« Übertragungs- und Gegenübertragungskonstellationen, in denen der Patient bewusst oder unbewusst mit den eigenen Eltern identifiziert wird – auch dies ein möglicher Hinderungsgrund für Therapeuten, ältere Menschen in Behandlung zu nehmen. Aber auch gleichaltrige Familienangehörige fühlen sich häufiger durch ein Behandlungsangebot bedroht. Radebold betont jedoch die Entwicklungschancen, die sich nicht nur für den älteren Menschen, sondern auch für seinen Therapeuten aus der Behandlung ergeben.
Auseinandersetzung mit Alter und Tod Ein schmerzlicher Prozess der Herauslösung aus den alten Lebensbezügen setzt ein, wenn ein oder beide Partner im Alter pflegebedürftig werden und nicht mehr in der Lage sind, sich selbst zu versorgen. Häufig wehren sich die alten Menschen mit aller Kraft, da sie fürchten, dass der Verlust ihres sozialen Eingebundenseins mit einer Zerstörung ihrer Persönlichkeit einhergeht. Die Auflösung des eigenen Haushalts und der Wechsel in ein Altenund Pflegeheim kann als »Begräbnis zu Lebzeiten« erlebt werden (Lehr 1991, S. 116). In der Tat findet sich eine erhöhte Sterblichkeitsrate im ersten halben Jahr nach der Aufnahme in ein Pflegeheim (Meier-Baumgartner 1994); dies hängt allerdings mit dem erheblichen Alter und der Multimorbidität der Personen, die in ein Heim gehen, zusammen. Unter denjenigen, die in ein Heim gehen, ist eine sehr große Zahl körperlich und psychisch sehr beeinträchtigter Personen (Bansemir u. Gulbin 1988). Die Mehrzahl der 70-Jährigen und noch 30 der 80-Jährigen versorgen sich selbst und leben allein.
Bleibt das Paar im Heim zusammen, verändert sich noch einmal das partnerschaftliche Miteinander. Die enge Bezogenheit in der Paardyade kann aufgelockert werden durch den Kontakt zu den Mitbewohnern. Obwohl die Partner weiterhin miteinander leben, beginnen sie, schon vor Eintritt des Todes voneinander Abschied zu nehmen. Die Auflösung der Lebensgemeinschaft durch den Tod löst auch die wechselseitige Bezogenheit und Beeinflussung der Partner auf. Der verstorbene Partner kann eine Lücke hinterlassen, die besonders tief erlebt wird, wenn der hinterbliebene Partner seine persönliche Entwicklung ganz auf die Ergänzung durch den anderen ausgerichtet hat. Aus Wut und Schuldgefühlen wird dann oft intensiv am verstorbenen Partner festgehalten. Der hinterbliebene Partner kann Probleme haben, sein Leben eigenverantwortlich zu gestalten, da er plötzlich allein Entscheidungen treffen muss, die er früher mit dem anderen besprochen oder ihm sogar überlassen hat. Man kann häufig beobachten, dass der verwitwete Partner nun Unterstützung bei den eigenen Kindern sucht und zu erreichen versucht, dass sie Aufgaben und Funktionen des verstorbenen Partners übernehmen. In diesem Zusammenhang ist bedeutsam, dass der so genannte Kummereffekt (Stroebe 2004) sich massiver bei männlichen als bei weiblichen Verwitweten auswirkt: Die Mortalitätsrate, aber auch die Morbiditätsrate ist bei Witwern in den ersten zwei Jahren und insbesondere im ersten halben Jahr nach dem Tod ihrer Frau deutlich erhöht, während die gesundheitlichen Folgen für Witwen deutlich weniger gravierend sind.
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Präventions- und Interventionsprogramme
Die Familientherapie und familienbezogene Interventionen haben sich bislang überwiegend auf die Frühphase der Familienentwicklung konzentriert, wohingegen die Belastungen und Herausforderungen späterer Familienentwicklungsphasen weitgehend unbeachtet blieben. Dies hängt teilweise damit zusammen, dass spätere Phasen wie die Phase 4, in der die Kinder die Adoleszenz erreicht haben, zwar intensive Konflikte zwischen allen Interaktionspartnern, auch dem Ehepaar, hervorbringen,
6.9 Präventions- und Interventionsprogramme
dass jedoch die Scheidung des Ehepaars zu diesem Zeitpunkt nicht erwogen wird. Es ist also eine turbulente Phase, eine anstrengende Phase, aber die Ehe der Eltern ist relativ stabil, und damit entfällt ein wesentliches Motiv für eine Intervention. Die dann folgenden Phasen, in denen die Kinder bereits das Haus verlassen haben, können weitreichende und sehr belastende Veränderungen mit sich bringen, die bislang in ihren Auswirkungen zu wenig beachtet wurden. Die enormen psychosomatischen Beschwerden von Müttern sind hier zu nennen, die Divergenzen in den Orientierungen des nun alten Ehepaars und die unterschiedliche Interessenlage zwischen erwachsenen Kindern und ihren nun alten Eltern. Es wäre wünschenswert, wenn Interventionen für Eltern angeboten werden würden, die sie mit der Ablösung ihrer heranwachsenden Kinder konfrontieren und auf die lange »kinderlose« Phase des Alleinlebens vorbereiten. Dies benötigt die gleiche Sorgfalt wie etwa die Vorbereitung auf die Geburt von Kindern und den Umgang mit kleinen Kindern. Auch für die Eltern ist das Erarbeiten einer neuen Lebensperspektive im letzten Lebensabschnitt entscheidend.
Familiäre Risikofaktoren Wir haben in diesem Kapitel die Perspektive sehr stark auf die Veränderungen gerichtet, die Kinder in Abhängigkeit von Alter und Geschlecht in die Beziehungsdynamik des Paars einbringen, einschließlich der Dynamik, die entsteht, wenn diese Kinder als Erwachsene auf Distanz zu ihren Eltern gehen. Abschließend soll noch auf die umgekehrte Perspektive hingewiesen werden, d. h. auf die Tatsache, dass die Eltern vielfach Risikofaktoren für die Kindesentwicklung darstellen können. Nach Spence (1998) haben sich in zahlreichen Studien verschiedene familiäre Risikovariablen für Problemverhaltensweisen von Kindern herauskristallisiert (7 Übersicht).
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Familiäre Risikofaktoren seitens der Eltern 5 Inkonsistentes und bestrafendes Erziehungsverhalten 5 Negative familiäre Kommunikationsmuster 5 Ehekonflikte 5 Psychische Störungen (insbesondere Depression, Alkoholismus und Psychosen)
Sind einige dieser familiären Faktoren vorhanden und kommen ungünstige sozioökonomische Faktoren wie schlechte Wohn- und Schulverhältnisse, Arbeitslosigkeit, Armut und der Status als Alleinerziehende/r hinzu, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder Problemverhaltensweisen entwickeln. Die Prävalenzraten für psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen liegen nach verschiedenen Literaturübersichten bei 18–27 (Lewinsohn et al. 1992; Esser 2002; Petermann et al. 2000). Für die Variation hinsichtlich der Prävalenzraten sind v. a. methodische Inkonsistenzen verantwortlich. Komorbidität ist häufig und im Jugendalter sogar die Regel. Die Komorbiditätsrate liegt je nach Primärstellung zwischen 16 und 50, d. h., bei Vorliegen einer Störung ist das Risiko einer zweiten deutlich erhöht. Die Auftretenshäufigkeit psychischer Störungen ist abhängig von Alter und Geschlecht des Kindes (Resch et al. 1999): 5 Externalisierende Störungen (aggressives und antisoziales Verhalten) sind häufiger bei Jungen. 5 Internalisierende Störungen (sozialer Rückzug, ängstlich-depressive Befindlichkeit, körperliche Beschwerden und Essstörungen) sind häufiger bei Mädchen. Diese Differenzierung in geschlechtsabhängige Störungen wird in der späten Kindheit und beginnenden Adoleszenz immer deutlicher und bestimmt auch die Störungsformen Erwachsener. Innerhalb der letzten Jahrzehnte ist eine generelle Zunahme psychischer Störungen bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu verzeichnen. Dies ist besonders bei der Depression offenkundig, bei der wir starke Zunahmen von der Adoleszenz zum Erwachsenenalter haben, und zwar sowohl auf
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Kapitel 6 · Familiäre Entwicklungsprozesse im Beziehungskontext
subklinischem Niveau (im Sinne depressiver Stimmungen) als auch auf klinischem Niveau (im Sinne depressiver Syndrome und depressiver Störungen; Seiffge-Krenke 2007b). Psychische Störungen bei Kindergartenkindern aus der Sicht der Eltern 1998 wurde in Braunschweig eine umfangreiche Fragebogenerhebung in allen städtischen Kindertagesstätten durchgeführt (Hahlweg et al. 2001). Das Ziel war es, die Häufigkeit von Verhaltensstörungen bei Kindergartenkindern zu bestimmen. Die Befragung richtete sich an die Eltern und Erzieherinnen der Kindergartenkinder und wurde u. a. mit der Child Behavior Checklist (CBCL) durchgeführt. Es beteiligten sich 852 Eltern, was einem Rücklauf von knapp 50% entsprach. Außerdem wurden 821 Kinder von ihren Erzieherinnen beurteilt, wobei für 540 Kinder beide Beurteilungen vorlagen. Insgesamt wurden 19% der Jungen und 16% der Mädchen von ihren Eltern als klinisch auffällig eingeschätzt (t > 63). Diese Befunde entsprechen denen der nationalen und internationalen Literatur.
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Eine Reduktion der familiären Risikovariablen durch möglichst frühzeitige präventive Intervention, etwa bereits im Kindergartenalter, erscheint als dringend geboten. Je früher interveniert wird, desto größer ist auch die Chance, dass sich das Problemverhalten nicht stabilisiert. Ferner können durch möglichst früh ansetzende therapeutische Konzepte auch sekundäre Probleme wie die häufig in der Folge auftretenden Lern- und Schulleistungsstörungen verhindert werden. Wie wir gesehen haben, stellen besonders die frühen Phasen der Familienentwicklung eine große Belastung für die Eltern dar.
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Interventionen in frühen Phasen der Familienentwicklung Familientherapien, familientherapeutische Beratungen und Kriseninterventionen sowie Einzeltherapien sind häufige und effektive Möglichkeiten, mit Problemen in den verschiedenen Familienent-
wicklungsphasen umzugehen und auch transgenerationale Einflüsse zu bearbeiten. Wegen der Vielzahl von familientherapeutischen Interventionsmöglichkeiten sei auf die Literatur verwiesen (z. B. Schlippe u. Schweitzer 2003). Im Folgenden sollen weitere Möglichkeiten aufgezeigt werden, die in Form von Programmen Hilfe anbieten. Angesichts zunehmender Scheidungszahlen und des problematischen Einflusses konfliktbelasteter Paarbeziehungen auf die Eltern-Kind-Beziehung liegt es nahe, zusätzlich zu paartherapeutischen Interventionen (z. B. Moeller 1988) Präventionsangebote für junge Paare zu etablieren. Die Spill-over-Effekte von Feindseligkeit und Konflikten in der Elternbeziehung auf aggressive Auseinandersetzungen ihrer Kinder in Beziehungen zu Geschwistern und Freunden sind oft beschrieben worden. Deshalb sollte die Paarbeziehung von Eltern gestärkt werden. 5 Das Freiburger Stresspräventionsprogramm für Paare FSPT von Bodenmann (2000) legt besonderes Gewicht auf stressauslösende Situationen und deren gemeinsame Bewältigung. 5 Andere Programme wie das PREP dagegen stellen stärker die Kommunikationsfertigkeiten in den Mittelpunkt (Thurmaier et al. 1995). Das PREP (Premarital Relationship Enhancement Program) erläutert unterschiedliche Kommunikationsformen und geht auch auf die Bedeutung von verbalen und nonverbalen Signalen in der Partnerkommunikation ein. Es vermittelt demnach spezifische Sprecher- und Zuhörerfertigkeiten, die als Kompetenzen für eine konstruktive Problemlösung herangezogen werden können. Die Evaluation zeigt, dass die Paare lernen, sehr viel mehr positive Kommunikationsstrategien zu nutzen. Männer zeigen mehr Verständnis und Interesse an den Problemen ihrer Frauen, und Frauen wiederum äußern viel weniger abwertende Kritik nach der Teilnahme am Programm (Engl u. Thurmaier 2001). Ähnlich wie etwa das Triple P für junge Eltern ist es in erster Linie ein Programm zur Prävention – in diesem Fall zur Prävention von Beziehungsstörungen. Die Autoren verstehen es als eine unterstützende Maßnahme zur Ehevorbereitung und -begleitung. Es wäre allerdings sehr wichtig, dieses und ähnliche Programme auch für ältere Paare zu adaptieren.
6.9 Präventions- und Interventionsprogramme
5 Das STEEP (Steps Towards Enjoyable, Effective Parenting) ist ein evidenzbasiertes Frühinterventionsprogramm zur Stärkung der ElternKind-Bindung und zur Förderung kindlicher Resilienz. Es baut auf Erkenntnissen der Bindungsforschung auf und zielt ab auf die Verbesserung des Eltern-Kind-Umgangs durch den Einsatz von Videos sowie auf die Veränderungen der elterlichen Bindungsmodelle durch kritische Reflexion der eigenen Bindungserfahrung. Das Programm beginnt in der Schwangerschaft, verhilft den Eltern zu einer sicheren Elternrolle und kann bis zum 2. Lebensjahr des Kindes durchgeführt werden (Erickson u. Egeland 2007). Über zwei Jahre lang finden Hausbesuche und Gruppentermine im wöchentlichen Wechsel statt. Ziel des Gruppenangebotes ist es, die soziale Isolation von Eltern zu
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vermindern. Es finden Informationsabende zur Wissensvermittlung über die kindliche Entwicklung statt. 5 Eine erhebliche Anzahl von Interventionsprogrammen beschäftigt sich mit der Verbesserung von elterlichen Kompetenzen. Besonders bekannt geworden ist das in Australien von der Arbeitsgruppe um Sanders (1999) entwickelte mehrstufige präventive Programm zur positiven Erziehung. Das Triple P (Positive Parenting Program) bietet Eltern praktische Hilfen und Unterstützung bei der Kindererziehung. Ziel ist es, dem häufig entstehenden Teufelskreis von Verhaltensproblemen bei Kindern und Erziehungsinkompetenz, Hilflosigkeit bei den Eltern und – in der Folge – dann weiteren Familienproblemen vorzubeugen bzw. den Teufelskreis zu durchbrechen.
Triple P Als präventives Programm mit verschiedenen Interventionsebenen und Materialien wurde das Triple P in Deutschland in der Arbeitsgruppe um Hahlweg (Hahlweg et al. 2001) umgesetzt. Ziel des Programms von Sanders war es, ein präventiv wirksames, universell einsetzbares Erziehungskonzept zu entwickeln, das den Eltern leicht zugängliche, qualitativ gute Informationen anbietet und das wirksam ist, d. h. die Auftretenshäufigkeit von kindlichen Verhaltensstörungen auf ein normales Maß reduziert, die elterlichen Erziehungspraktiken verbessert, familiäre Risikofaktoren wie Depression, Ehekonflikte und Alkoholismus verringert, kostengünstig ist und eine hohe Akzeptanz hat. Das Programm zur Unterstützung der Eltern bietet die Möglichkeit, auf verschiedene Bedürfnisse individuell abgestuft einzugehen. Es enthält verschiedene Interventionsebenen: 5 universelle Informationen über Erziehung, die an alle Eltern gehen, 5 Kurzberatung für spezifische Erziehungsprobleme, deren Zielgruppe Eltern mit spezifischen Sorgen um das Verhalten und die Entwicklung ihrer Kinder sind, 5 intensives Elterntraining für Eltern von Kindern mit Verhaltensproblemen,
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5 erweiterte Intervention auf Familienebene für Eltern von Kindern mit deutlichen Verhaltensproblemen, v. a. von Kindern in Multiproblemfamilien. Wichtige theoretische Grundlagen sind entwicklungspsychopathologische Forschungsergebnisse zu Risiko- und Schutzfaktoren für Verhaltensprobleme (Resch et al. 1999). Besonders die Risikofaktoren dysfunktionales Erziehungsverhalten, Stress, Ehekonflikte und Unterschiede in der Kindererziehung werden bei Triple P beachtet und stehen im Mittelpunkt verschiedener Interventionen. Sowohl die begleitenden Broschüren als auch die Videoserien gibt es für die Altersstufen Säuglinge, Kleinkinder, Kindergartenkinder und Grundschulkinder. Die Beratungen, das Elterntraining und v. a. die erweiterte Intervention auf Familienebene, die besonders bei Familien mit zusätzlichen Schwierigkeiten wie massiven Ehekonflikten, Substanzmissbrauch und Depression der Mutter eingesetzt wird, werden überwiegend über das Modul der Hausbesuche umgesetzt, um gleich vor Ort die Eltern in der Umsetzung angemessener Erziehungsstrategien unterstützen zu können. Dabei geht es besonders darum, intensive Hilfe 6
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Kapitel 6 · Familiäre Entwicklungsprozesse im Beziehungskontext
zur Selbsthilfe zu leisten und Eltern zu befähigen, sich selbst Ziele zu setzen und mögliche Schwierigkeiten alleine zu überwinden. In dem Modul Partnerunterstützung wird den Eltern, die Eheprobleme haben, ein Training angeboten, das Kommunikationsfertigkeiten und gegenseitige Unterstützung in der Familie trainiert. Schließlich existiert ein Modul
Das Triple-P-Programm ist sicher insbesondere für die allgemeine Prävention geeignet, allerdings muss man Zweifel haben, ob das 5. Modul, das für Familien mit besonderen Schwierigkeiten gilt, wirklich ausreichende Versorgung und Unterstützung bieten kann. Das Programm ist vielfältig evaluiert (Sanders 1999) und hat beeindruckende Effekte erzielt. Besonders geeignet für Eltern mit schwierigen Babys, speziell Schreibabys und solchen mit Schlafund Trinkstörungen, ist das Programm »Menschenskind«, das von Barth (1999) in Hamburg in Anlehnung an die psychoanalytische Konzeption von Selma Fraiberg (1959) entwickelt und sehr erfolgreich umgesetzt wurde. Programme für Eltern mit Schreibabys 5 Allgemeine Informationen über Erziehung bzw. Kindesentwicklung mit spezifischen Beobachtungseinheiten (Baby-Lesestunden) 5 Kurzberatung für spezifische Erziehungsprobleme und aktives intensives Elterntraining 5 Interventionen auf Familienebene oder Paarebene wie Paartherapie der Eltern
Inzwischen gibt es in vielen deutschen Großstädten ähnliche Programme für Eltern mit Schreibabys (Groß et al. 2007). All diese Programme haben einen ähnlichen stufenweisen Aufbau. Zunächst, bei einfachen Eltern-Kind-Problemen, werden allgemeine Informationen über Erziehung und Kindesentwicklung gegeben. Dazu zählen auch spezifische Beobachtungseinheiten, die so genannten »Baby-Lesestunden«, bei denen es darum geht, beispielsweise spezifische Wach- und Schlafzustände des Babys
für individuelle Schwierigkeiten der Eltern. Dies können z. B. depressive Verstimmung der Mutter, Angststörungen oder Stress sein. In bis zu drei Sitzungen werden hier Problemlösefertigkeiten, Entspannungstechniken und Methoden der Stressbewältigung vermittelt.
voneinander zu unterscheiden und die Vokalisationen des Babys zuzuordnen (»Was will das Baby uns damit sagen?«). Für Eltern mit Schreibabys ist es z. B. erforderlich, möglichst zu einem Zeitpunkt in die Beratungsstelle zu kommen, an dem das Baby lauthals schreit, damit man die unterschiedlichen Bedeutungen des Schreiens gemeinsam erarbeiten kann. Es gibt außerdem Kurzberatungen für spezifische Erziehungsprobleme mit einem intensiven Elterntraining. Erst auf der letzten Stufe ist eine Psychotherapie der Eltern indiziert, und zwar dann, wenn man den Eindruck hat, dass offensichtlich hinter ihren Schwierigkeiten, mit dem Schreien des Babys umzugehen, mehr steckt, möglicherweise eine neurotische Störung der Eltern, was Fraiberg (1959) mit »ghosts in the nursery« umschrieben hat. So beklagte sich etwa eine Mutter über die »furchtbare Aggressivität« ihres dreimonatigen Säuglings, der sie beim Stillen »beiße und trete« (s. auch die bereits dargestellten psychoanalytischen Ansätze für Familien mit kleinen Kindern von Klitzing [1998] und Eliacheff [1997]). Gegenwärtige Unterstützungsprogramme oder psychotherapeutische Hilfen für Familien mit Jugendlichen und Familien in der Auszugsphase fehlen. Diese familiendynamischen Entwicklungen zu einem späteren Zeitpunkt der Familienentwicklung sind mit hohen gesundheitlichen Kosten auf Seiten der Mutter verbunden. Wie wir bereits sahen, liegt in der Ablösung der Kinder und deren Auszug aus dem Elternhaus ein enormes Konfliktpotential. Die eheliche Kommunikation hat einen Tiefpunkt erreicht, wir finden eine Zunahme an Scheidungen. Auch die Paare, die weiterhin zusammenbleiben, sind oftmals sehr belastet; hier wäre es ebenfalls wichtig, Unterstützung oder therapeutische Intervention anzubieten. Gegenwärtig kann dies auch u. a. in der begleitenden Elternarbeit im Rahmen der Psychotherapie des Kindes geschehen, wo es
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6.9 Präventions- und Interventionsprogramme
um die Stützung der Elternfunktionen geht (Seiffge-Krenke 2007a). Erfreulicherweise hat sich die Anzahl von Interventionsprogrammen für Scheidungsfamilien in den letzten Jahren erhöht, wobei insbesondere Programme hervorzuheben sind, in denen Kinder als Opfer von potentiellen oder erfolgten Trennungen im Mittelpunkt stehen. Ein sehr gutes Beispiel ist das Freiburger Programm für Kinder aus Scheidungs- und Trennungsfamilien (Jaede et al. 1994), das über mehrere Stufen eine allmähliche Bearbeitung der Trennungsproblematik in der geschützten Kindergruppe erreicht. Die begleitende Elternarbeit wird nur zu Beginn und am Ende des Programms integriert, um Kindern, die in der turbulenten Trennungs- und Scheidungsphase ihrer Eltern in der Regel kaum beachtet werden, ausreichend Raum zu geben. Freiburger Gruppeninterventionsprogramm für Kinder aus Scheidungsund Trennungsfamilien 5 Kleine Gruppe von 8–10 Kindern etwa gleichen Alters in unterschiedlichen Phasen von Trennung 5 Kennenlernstunde, getrennt davon Einbezug der Eltern mit Informationen über das Programm 5 Festes Ritual mit Begrüßung, freiem Spiel, themenbezogener Arbeit und Teepause 5 Themenbezogene Arbeit, die sich in einem stufenförmigen Aufbau mit Erfahrungen und Problemen bei Trennungen beschäftigt 5 Abschiedsstunde mit abschließendem Fest, zu dem auch die Eltern geladen sind
Wie Jaede et al. (1994) ausführen, ist v. a. die Ritualisierung von verschiedenen Programmeinheiten von sehr großer Bedeutung. So beginnt jede Sitzung mit einem Eingangsritual (»Was war wichtig für euch letzte Woche?«; »Wie haben die Gruppenleiter die letzte Woche erlebt?«), um sich dann nach einem freien Spiel mit Bällen u. a. der themenzentrierten Arbeit zuzuwenden, bei der mit Gesprächen, Rollenspielen, Filmen und anderen Medien gearbeitet wird. Es gibt dann eine Teepau-
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se, verschiedene Abschlussspiele wie das »Blinzelspiel« und schließlich ein Abschlussritual. Diese Rituale sind wichtig, um den Kindern und Jugendlichen aus Trennungs- und Scheidungsfamilien in der »chaotischen« Trennungssituation eine feste Struktur zu geben. Die Eltern sind häufig zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt und überlassen die Kinder weitgehend sich selbst. Die Rituale geben inneren und äußeren Halt und schaffen ein Gruppengefühl. Auch die Tatsache, dass Kinder gleichen Alters, v. a. aber in unterschiedlichen Phasen des Trennungsprozesses, in der Gruppe sind, ist ein wesentlicher Stabilisierungsfaktor und verdeutlicht den Betroffenen, dass man die schwierige Situation bewältigen kann. Es ist wichtig, sich in diesem Zusammenhang zu vergegenwärtigen, dass nach dem Jugendhilfegesetz Kinder und Jugendliche ein Recht darauf haben, in dem Prozess der Trennung und Scheidung unterstützt zu werden. Fazit 5 In Familien vollziehen sich von ihrer Gründung bis zu ihrer Auflösung tiefgreifende Umstrukturierungen. 5 Kinder beeinflussen ihre Eltern enorm. Das Elternpaar muss in Abhängigkeit von Alter, Geschlecht und Entwicklungsstand des Kindes ganz unterschiedliche Adaptationen vornehmen. Die Quantität und Qualität der Eltern-Kind-Beziehung verändert sich sehr. 5 Es bestehen enge Interaktionen zwischen Eltern-Kind-Beziehungen und Paarbeziehungen. Es gibt Gefährdungen, aber auch Ressourcen in den verschiedenen Phasen der Familienentwicklung. 5 Die meisten Familien bewältigen die Herausforderungen und Belastungen in den verschiedenen Phasen der Familienentwicklung recht gut, was angesichts geringer außerfamiliärer Ressourcen und Unterstützung eine bemerkenswerte Leistung ist. 5 Die meisten Interventionen fokussieren auf frühen Phasen der Familienentwicklung, wohingegen für Belastungen in späteren Phasen keine Programme vorliegen.
7 Väter: Notwendig, überflüssig oder sogar schädlich für die Entwicklung ihrer Kinder? 7.1
Der Körper des Kindes und die Beziehung zum Vater – 194
7.2
Perspektivenwechsel in der Vaterforschung – 195
7.3
Die »Passung« mit psychoanalytischen Theorien
7.4
Die distinktive Funktion von Vätern
7.5
Differenzerfahrungen: Unterschiedliche Rollen von Müttern und Vätern – 205
7.6
Väter und Töchter, Väter und Söhne – 207
7.7
Verschiedene Typen von Vätern – 211
7.8
Väter und Psychopathologie ihrer Kinder – 216
7.9
Väter in psychotherapeutischen Behandlungen: »Make room for daddy!« – 217
– 197
– 200
194
Kapitel 7 · Väter: Notwendig, überflüssig oder sogar schädlich für die Entwicklung ihrer Kinder?
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1
Charakteristisch für die Forschung der vergangenen Jahrzehnte ist eine starke Pathologisierung der Beziehung von Vätern zu ihren Kindern. In Studien zu Gewalt und Missbrauch in Familien wurde auf die schädigende Wirkung von Vätern auf ihre Kinder hingewiesen. Auch gegenwärtig existiert viel mehr Forschung über pathologische, traumatisierende Väter als über die normale Vater-Kind-Beziehung (Seiffge-Krenke 2001c). Aber was wissen wir über normale Vater-Kind-Beziehungen? Die entwicklungspsychologische Vaterforschung der letzten Jahre belegt definitiv eine besondere, distinktive Rolle von Vätern in Familien mit klinisch unauffälligen Babys, Kindern und Jugendlichen. Sie zeigt die spezifische Bedeutung, die Körper und Geschlecht des Kindes für den Vater haben, auf. Wie der Vater die Entwicklung seiner Kinder beeinflusst, steht im Mittelpunkt dieses Kapitels. Dabei werden zunächst historische Beispiele beschrieben und psychoanalytische Theorien dargestellt, die ebenfalls eine besondere Funktion des Vaters nahe legen. Außerdem werden verschiedenen Typen von Vätern unterschieden, z. B. die so genannten neuen Väter und die »Disneyland-Daddys«. Es soll aber auch die Frage angesprochen werden: Welchen Einfluss haben Väter in pathologischen Familiensystemen?
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7.1
Der Körper des Kindes und die Beziehung zum Vater
Wenn man über die distinktive Rolle von Vätern für die Entwicklung ihrer Kinder nachdenkt, stößt man darauf, dass der Körper des Kindes dabei eine besondere, herausragende Rolle spielt und für den Vater eine andere Bedeutung hat als für die Mutter. Aus historischer Sicht. Historisch gesehen gehörte der Körper des Kindes dem Vater, der dem Haus vorstand. Begräbnisriten in früheren Zeiten unterstreichen dieses »Eigentumsverhältnis«. So war es beispielsweise bei den Wikingern üblich, das Familienoberhaupt nicht nur zusammen mit seinen Dienern, sondern häufig auch mit Frau und Kindern zu bestatten. Später bedeutete ein Leben ohne Vater ein Leben ohne Schutz, Fürsorge und häufig in Armut (Schorsch 1979). Etwa bis in das frühe 18. Jahrhundert waren Vernachlässigung und Ignoranz häufige Verhaltensweisen gegenüber Kindern. Väter erschienen beispielsweise nicht einmal zur Beerdigung ihrer Kinder (Badinter 1980). Auf diese Periode der Vernachlässigung folgte eine Periode der selektiven Aufmerksamkeit in Abhängigkeit
von Alter, Geschlecht und der Stellung des Kindes in der Geschwisterreihe. Erstgeborene Söhne konnten der vorbildlichen Fürsorge sicher sein; sie wurden besser ernährt und besser erzogen als die nachfolgenden Geschwister. Es gab einige seltene Fälle, in denen ihnen das Erstgeburtsrecht entzogen wurde. Diese betrafen fast ausschließlich Erstgeborene mit körperlichen Beeinträchtigungen. So berichtet Talleyrand im Jahre 1763, dass sein Vater ihm im Alter von 13 Jahren das Erstgeburtsrecht entzog und es auf den nächstjüngeren Bruder übertrug, nachdem er durch einen Unfall zu einem Krüppel geworden war. Diese Beispiele verdeutlichen die relative Ignoranz des Vaters gegenüber dem Kleinkind, seine selektive Beachtung des Kindes in der späten Kindheit und im Jugendalter und die starke Betonung der körperlichen Unversehrtheit, von der der Vater seine Zuwendung und Versorgung abhängig machte. Aus psychologischer Sicht Psychologisch gesehen gehörte der Körper des Kindes natürlich der Mutter, obgleich dies nicht notwendigerweise die leibliche Mutter sein musste. Das Weggeben zu Still-
195
7.2 Perspektivenwechsel in der Vaterforschung
ammen war eine gebräuchliche Form der Kindererziehung bis weit in das 18. Jahrhundert hinein. Die Mutter oder Stillamme nährte und schützte das Kind, erfüllte seine körperlichen Bedürfnisse, besaß jedoch, wie erwähnt, kaum Rechte bezüglich des Körpers des Kindes. In psychologischen und psychoanalytischen Theorien wird die enge Fusion zwischen Mutter und Kind ebenfalls betont. Aus der Sicht der Psychoanalyse kommt dem Vater die entscheidende Funktion zu, diesen »Körper für zwei« aufzulösen.
die Erkenntnis durch, dass Väter einen besonderen, qualitativ und quantitativ unterschiedlichen Beitrag zur Erziehung und Entwicklung ihrer Kinder leisten (Shulman u. Seiffge-Krenke 1997). Im Zentrum dieses Kapitels stehen daher neuere Forschungsbefunde, die die distinktive Funktion von Vätern für die Entwicklung ihrer Kinder zum Gegenstand haben. Obwohl Lambs 1975 erschienenes Buch »Fathers: Forgotten contributors to child development« der Vaterforschung entscheidende Impulse gab, ist die Beziehung zwischen Vätern und ihren Kindern bis in die jüngste Vergangenheit ein vernachlässigtes Gebiet der Entwicklungspsychologie geblieben. Von insgesamt 50.000 Studien zur Kinder- und Jugendforschung, die in den Jahren 1970– 2002 angefertigt wurden, befassten sich nur rund 1,4 mit der Beziehung von Vätern und ihren Kindern (Seiffge-Krenke 2001d). In den letzten Jahren hat die Vaterforschung erfreulicherweise zugenommen (Lamb 1997), allerdings finden wir immer noch kaum Längsschnittstudien, die den wechselseitigen Einfluss zwischen Vätern und Kindern über die Zeit untersuchen. Beziehungen zwischen Vätern und jüngeren Kindern sind rund 5-mal häufiger untersucht worden als Väter-JugendlichenBeziehungen (. Abb. 7.1). Diese deutliche Konzentration auf die VaterKind-Forschung machte sich auch in der Konzeption ihrer Beziehung bemerkbar. Wir können drei Phasen in der Vaterforschung unterscheiden:
Perspektivenwechsel in der Vaterforschung
7.2
Die Vaterforschung hat in der Psychologie eine kurze und gleichzeitig eigenartige Geschichte: Wir wissen nur sehr wenig über den Beitrag von Vätern in normalen, nichtpathologischen Familien, aber es gibt eine vergleichsweise umfangreiche Forschung zu Gewalt und Missbrauch in Familien, die auf die schädliche Wirkung von Vätern hinweist. An diesem Phänomen, »that fathers are both understudied and overblamed« (Lillie 1993, S. 439), scheint sich nun etwas zu ändern. Bei insgesamt leicht gestiegener Forschungsaktivität hat sich in den letzten Jahren eine neue Sichtweise etabliert. Während frühere Theorien und Forschungsarbeiten implizit oder explizit davon ausgingen, dass Väter funktionieren müssten wie Mutter – wenn nicht, wurden sie als defizitär angesehen –, setzt sich neuerdings
Mütter Väter
10000 9384 7500 4118 5000
1330
2500
2473 655
495 0 Kleinkinder 0-2 J.
Kinder 2-11 J.
7
Jugendliche 12-18J.
Mütter
Väter
. Abb. 7.1. Häufigkeit der Vaterforschung in Abhängigkeit vom Alter des Kindes
196
1 2 3
Kapitel 7 · Väter: Notwendig, überflüssig oder sogar schädlich für die Entwicklung ihrer Kinder?
Phasen der Vaterforschung 5 Phase 1: Peripherer Status des Vaters 5 Phase 2: Vergleich mit der Mutter 5 Phase 3: Distinktive Charakteristiken des Vaters
4 Phase 1: Peripherer Status des Vaters
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In dieser Phase versuchte man nachzuweisen, dass Väter distante, periphere Figuren in der Kindererziehung sind, die nicht in Familienangelegenheiten involviert sind. Dies wurde u. a. an Untersuchungen des Zeitbudgets festgemacht. Europäische und amerikanische Studien zeigen übereinstimmend, dass Väter weniger Zeit mit ihren Kindern verbringen – in der Regel nur die Hälfte bis ein Drittel der Zeit, die Mütter mit ihren Kindern zusammen sind (Jahoda 1982; Power u. Shank 1988). Daran ändert sich auch wenig, wenn Mütter berufstätig oder Väter arbeitslos sind (Lamb et al. 1988). Bereits die klassische Studie von Lazarsfeld im Jahre 1930 hatte gezeigt, dass arbeitslose Väter die freie Zeit nicht in ihre Kinder investieren. Den Studien dieser ersten Phase der Vaterforschung liegt mehr oder weniger ausgesprochen das Modell einer traditionellen Rollentrennung in der Familie zugrunde. Der Vater ist der »breadwinner«: Er hat die ökonomische Absicherung und den Schutz der Familie zu leisten, ist aber für die familiäre Interaktion eher peripher, weil außer Haus. Ein erheblicher Teil der frühen entwicklungspsychologischen Studien beschäftigt sich daher mit dem »absent father« (Hetherington 1972).
Phase 2: Vergleich mit der Mutter In dieser Phase der Vaterforschung stand die wahrgenommene Ähnlichkeit (»similarity«) zwischen Vater und Mutter im Vordergrund. Die Aktivitäten von Vater und Mutter wurden in Bezug auf das Kind verglichen, wobei unausgesprochen eine größtmögliche Ähnlichkeit angestrebt wurde. Prototypische Studien, in denen es um den Nachweis der Ähnlichkeit ging, sind die Studien zum Couvade-Syndrom, zum Männerkindbett, in denen man
nachzuweisen versuchte, dass werdende Väter die gleiche Schonbedürftigkeit und die gleichen Körpersymptome aufweisen wie werdende Mütter (Broude 1988). Auch die Theorien zum Bindungsverhalten betonten die Ahnlichkeit, allerdings in deutlich nachgeordneter Funktion. Bowlby (1969, S. 103) etwa bezeichnet den Vater als »secondary attachment figure«. Diese Vorstellung vom Vater als nachrangiger Bindungsperson sollte allerdings im Hinblick auf die Epoche und die soziale Stellung von Bowlbys eigener Familie bewertet werden, in der es üblich war, dass sich eher Kindermädchen als der Vater um die Kleinkinder kümmerten (Holmes 1993). Die in Anlehnung an Bowlby durchgeführten Untersuchungen zum Bindungsverhalten betonten ebenfalls die Ähnlichkeit, indem sie das Verhalten von Müttern und Vätern gegenüber kleinen Kindern in den gleichen Dimensionen maßen. Sie führten zumeist zu dem Ergebnis, dass die Väter im Vergleich zu den Müttern in Bezug auf Sensitivität und pflegerisches Verhalten (»caregiving«) schlechter abschnitten (van IJzendoorn u. Wolf 1997), obwohl die Kinder sowohl an ihre Mutter als auch an ihren Vater sicher gebunden waren. Für die Phasen 1 und 2 ist charakteristisch, dass sie einem Defizitmodell folgen, also den Vater quantitativ und qualitativ im Vergleich zur Mutter als defizitär einstufen. Er ist zeitlich weniger involviert und – gemessen an Eigenschaften und Verhaltensweisen der Mutter – reicht auch in qualitativer Hinsicht nicht an die Mutter heran.
Phase 3: Distinktive Charakteristiken des Vaters Bei den geschilderten Beobachtungsstudien stellte man nicht nur Defizite der Väter fest, sondern machte die interessante Entdeckung, dass Väter anders mit den Kindern umgehen als Mütter, und zwar schon von den ersten Lebenstagen an. In dieser Phase der Vaterforschung standen die besonderen vaterspezifischen Funktionen im Vordergrund. Besonders deutlich wurden die distinktiven Charakteristiken von Vätern im Vergleich zu Müttern durch zwei Meta-Analysen, die eine große Anzahl von Studien zusammenfassten und Beo-
197
7.3 Die »Passung« mit psychoanalytischen Theorien
bachtungen sowie Befragungen von Vätern, Müttern und Kindern bzw. Jugendlichen einschlossen. Die Meta-Analyse von Siegal (1987) bezog sich auf 39 Beobachtungsstudien, in denen Daten sowohl über die Mutter-Kind- als auch die VaterKind-Interaktion erhoben wurden. In 20 der Studien fand man vaterspezifische Effekte gegenüber nur einer Studie, die mutterspezifische Effekte fand. Dieser Unterschied war hochsignifikant und machte sich daran fest, dass Väter sehr stark nach dem Geschlecht des Kindes differenzieren, und zwar in den drei Bereichen körperliche Entwicklung, Spielverhalten und Disziplin. Die These der Distinktivität ist vor einiger Zeit durch die sehr umfangreiche Analyse von Russell und Säbel (1997) unterstützt worden, die 287 Studien danach ausgewertet hatten, ob Geschlechtsunterschiede (der Eltern und Kinder) systematisch untersucht bzw. auch erwartet (in Form der Interaktion zwischen dem Geschlecht der Eltern und dem Geschlecht des Kindes) worden waren. Nur 116 Studien hatten wirklich auch Mütter, Väter, Söhne und Töchter eingeschlossen. In Studien an Kindern fand man weniger Interaktionen – allerdings v. a., weil man nicht danach gesucht hatte. Mit dem Alter der Kinder wurde die distinktive Funktion des Vaters immer deutlicher; sie bezog sich auf drei Bereiche (7 Übersicht). Unterschiedliches Verhalten von Vätern im Vergleich zu Müttern Die Meta-Analysen von Siegal (1987) sowie von Russell und Saebel (1997), die 326 Studien einschlossen, bestätigen die distinktive Funktion von Vätern im Vergleich zu Müttern. Sie bezieht sich 5 auf die Betonung von Spiel- und Freizeitaktivitäten mit starkem Fokus auf dem Körper des Kindes, 5 auf die Förderung von Selbständigkeit beim Kind, 5 auf die Akzentuierung des Geschlechts des Kindes.
Damit bestätigen umfangreiche Forschungsergebnisse ein ganz spezifisches, besonderes Verhalten von Vätern, die schon mit sehr kleinen Kindern
7
qualitativ anders umgehen als Mütter. Sie stimulieren das Kind stärker visuell und akustisch und haben einen distanten, aufregenden Körperkontakt. Selbst wenn Väter pflegen und füttern, tun sie dies in einer anderen, eher spielerischen und aufregenden Art und Weise. Bei Kindern im Schulalter beobachtete man in diesen Studien mehr körperliche Aktivitäten und mehr Spielverhalten mit dem Vater, während bei Müttern wiederum mehr pflegerische Handlungen (»caregiving«) beobachtet wurden. Während in den Augen der Mütter »alles Kinder sind«, unterscheiden Väter außerdem sehr früh zwischen Söhnen und Töchtern. Die Spielaktivitäten mit den Töchtern sind sanfter, ihre Weiblichkeit wird hervorgehoben und bezeichnet. Auch im Bereich der Disziplin unterscheiden Väter deutlich zwischen Töchtern und Söhnen. Die Väter waren strenger in der Disziplin und wilder und direktiver in ihrem Spiel mit Söhnen, dagegen weicher, vorsichtiger und unterstützender im Umgang mit Töchtern. Diese distinktive Funktion des Vaters lässt sich auch in der Forschung über pathologische Vater-Kind-Beziehungen nachweisen (s. S. 221).
7.3
Die »Passung« mit psychoanalytischen Theorien
Es gibt auffallende Parallelen zwischen den gerade beschriebenen Phasen in der entwicklungspsychologischen Vaterforschung und dem Wandel des Bildes vom Vater in der Psychoanalyse, das sich etwas abseits des »Mainstreams« der Fokussierung auf die Mutter ausmachen lässt. Die Wahrnehmung des Vaters als mächtige, aber distante Figur war charakteristisch für die erste Phase der Vaterforschung und ist auch bis in die jüngste Zeit im psychoanalytischen Denken vorherrschend gewesen (Seiffge-Krenke 2007a). Von Freud (1923) wird der Vater erst zu einem Zeitpunkt eingeführt, als das Kind 3 Jahre alt ist; davor bilden Mutter und Kind eine Einheit. Obwohl andere Autoren wie Margaret Mahler und Melanie Klein den Vater früher einführen, unterscheiden sie sich in ihrer Aussage nicht von Freud. In dieser frühen Phase »existiert der Vater nicht« (Shulman u. Seiffge-Krenke 1997). Auch für die psychoanalytischen Konzeptionen der letzten 30 Jahre war noch
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Kapitel 7 · Väter: Notwendig, überflüssig oder sogar schädlich für die Entwicklung ihrer Kinder?
weitgehend charakteristisch, dass die Beziehung des Kindes zur Mutter sehr stark im Vordergrund stand (»Zurück zu den Müttern?«; vgl. RohdeDachser 1989), indem etwa frühere Konzeptionen von Melanie Klein und anderen Objektbeziehungstheoretikern aufgegriffen und die Bindungsforschung rezipiert wurde. Objektbeziehungstheorie und Bindungstheorie haben ihren Schwerpunkt bis in die jüngste Zeit auf die frühe Entwicklung dyadischer Beziehungen zwischen Mutter und Kind gelegt. Es findet sich hier also gewissermaßen eine Entsprechung zur 2. Phase in der entwicklungspsychologischen Forschung, in der es – wenn man sich überhaupt für den Vater interessierte – um ähnliche Eigenschaften und Verhaltensweisen ging, wie Mütter sie zeigten. Die Sichtweise, die Säuglingen eine ausschließlich dyadische Beziehungskompetenz zuspricht, wurde schon früh von Klein (1928) und Lacan (1953) in Frage gestellt. Melanie Klein sah den Ödipuskomplex schon sehr viel früher, nämlich bereits um den 6. Lebensmonat, als wirksam an. Ihrer Meinung nach wendet sich das Baby aus Frustration über die Entwöhnung von der Mutter ab und dem Vater zu. Triadische Beziehungen existieren also dem zufolge ab dem Ende des 1. Lebensjahres. Lacan konzeptualisierte den Vater als bedeutungsvollen Dritten in seiner symbolischen Funktion sogar schon vom Anfang der menschlichen Existenz an. In seinem Konzept der frühen Triangulierung beschäftigte sich Abelin (1971) mit der Bedeutung des Vaters in der Separationsphase, ausgehend von der zweiten Hälfte des 1. Lebensjahres. Buchholz (1990) und von Klitzing (1999) haben hierauf Bezug genommen in ihrer These, dass die kindliche Beziehungsentwicklung von Anfang an in einem triadischen Rahmen verläuft. Auch Rotmann hat darauf hingewiesen, dass Vater und Mutter schon früh als zwei verschiedene Personen erkannt werden: Der Vater braucht nur minimal im Alltagsleben des Kindes und nur minimal in der direkten Pflege beteiligt zu sein, um doch spezifisches Bindungsobjekt für das Kind zu werden. (Rotmann 1978, S. 1141)
Dass die unterschiedlich lange Ausdehnung der symbiotischen Mutter-Kind-Phase im Vergleich zur Loslösung sehr stark abhängig von der Körperwahrnehmung der Mutter und ihrer Bezie-
hung zum Vater des Kindes ist, hat Pines (1997) eindrucksvoll belegt. Allerdings scheint in den wenigen Arbeiten, die sich mit der Bedeutung des Vaters in dieser frühen Phase des Säuglings beschäftigen, dem Vater keine besondere, distinktive Funktion zuzukommen – es scheint sich eher um eine »zweite Bemutterung« zu handeln. In neueren Arbeiten wird darauf hingewiesen, dass die große Bedeutung der Mutter, v. a. die Phantasie der gefährlichen und allmächtigen Mutter, durch spezifische, in der westlichen Kultur herrschende Bedingungen der Mutterschaft, die »Mutter und Kind in ein emotionales Treibhaus sperren und beiden die Ablösung erschweren, mit verursacht wird. In diesem Kontext werden der Vater und sein Phallus zur Waffe für das um Abgrenzung kämpfende Selbst« (Benjamin 1993, S. 95). Olivier (1997) weist daraufhin, dass es die »Mutterdominanz« in frühen Eltern-KindBeziehungen so schwierig macht, ein angemessenes Bild von Väterlichkeit zu entwerfen. Die Metapher des Bemutterns Olivier (1997, S. 91) kritisiert die »Metapher des Bemutterns«: Warum soll man den Vätern nicht sagen, dass das, was sie mit ihren Kindern tun, »Bevaterung« heißt, weil es vom Vater stammt. Warum sagt niemand, dass ihre Funktion anders ist als die der Mütter, weil sie Väter sind, ein anderes Geschlecht haben (…) und auch vom Kind anders empfunden werden, dass ihre Liebe zum Kind eine andere Färbung hat gemäß dem Gesetz des Ödipus und als Gegenbild zur Mutter?
Freud hat bereits 1923 vermutet, dass die Beziehungen des kleinen Kindes zum Vater und zur Mutter in den ersten Jahren parallel verlaufen. Erst in der ödipalen Phase, mit Wahrnehmung des Geschlechtsunterschiedes, führt er den Vater als distinktive Person ein. Damit verändert sich das familiäre Klima qualitativ in Richtung auf eine Markierung der Geschlechtsunterschiede, Sexualisierung und aggressive Rivalität. Dyadische Beziehungsmuster mit Zentrierung auf die Mutter-Kind-Beziehung waren also auch in den psychoanalytischen Konzeptionen vorherrschend. Der Vater trat – wenn überhaupt – als eher ähnliches Objekt in Erscheinung. Obgleich Peter
7.3 Die »Passung« mit psychoanalytischen Theorien
Blos (1990; im engl. Orig. 1985) schon vor einigen Jahrzehnten die Bedeutung des frühen, dyadischen Vaters herausarbeitete und auch die Rolle des triadischen Vaters für die Entwicklung von Kindern betonte, wurde sein Ansatz kaum rezipiert. Dabei gab es schon seit den Anfängen der Psychoanalyse wenig beachtete Hinweise auf eine distinktive Funktion des Vaters. Freud (1923) setzt sie – wie erwähnt – erst ab der ödipalen Phase an, Lacan (1953) aber bereits unmittelbar nach der Geburt. Neuere analytische Konzeptionen greifen die Ansätze von Lacan und Klein auf und betonen ebenfalls die Distinktivität (Cath et al. 1989). Lacan hob hervor, dass sich eine wichtige Funktion des Vaters für die geistige und körperliche Entwicklung des Kindes auf die Entwicklung einer Symbolstruktur bezieht. Der Vater führt das Kind in die Welt der Symbole, der Sprache ein. Nach der Französischen Schule repräsentiert er die Sprache, das Symbol (»Le nom du pere«, »La symbolique«; Lacan 1953), was die Bezeichnung und Symbolisierung des Körpers und v. a. die Bezeichnung des Geschlechts einschließt. Weitere Impulse kamen aus der therapeutischen Arbeit mit psychosomatischen Patienten, die zeigen, dass die überwältigende Fürsorge und Vereinnahmung durch die Mutter zu einem »Körper für zwei« (McDougall 1987) führen kann – etwa, wenn eine Mutter besser als der Patient weiß, ob dieser hungrig ist oder Körperbeschwerden hat. Dieser pathologische Prozess unterstreicht die enorme Bedeutung, die der Vater für die Entwicklung eines Körperbildes und selbstständiger Körperfunktionen beim Kind hat. Die Urphantasie der körperlichen Verschmolzenheit kann nicht aufgelöst werden, wenn der Vater, etwa bei psychosomatischen oder psychotischen Patienten, seine Funktion als trennendes Objekt, als Hilfe bei der Verselbstständigung des Kindes, nicht wahrnimmt. Eine weitere wichtige Funktion hat der Vater in der körperlichen Entwicklung und in der Autonomieentwicklung des Kindes sowie bei der Betonung seiner motorischen Aktivitäten. Diese Funktion kann pathologisch werden, wie z. B. in Schatzmans (1973) Untersuchung des Schreber-Falles deutlich wurde. Bekanntlich hatte der Vater von Schreber, der im Rahmen seiner Tätigkeit als Orthopäde – Pädagoge und Folterer, schreibt Han Israel (1989),
199
7
. Abb. 7.2. Instrument zur Hemmung spontaner motorischer Aktivitäten: Kinnband
wäre da wohl zutreffender gewesen – mit dem Schreberschen Geradehalter, dem Schulterband, dem Kinnband und der Vorrichtung zur Fixierung im Bett und am Tisch zahlreiche Instrumente entwickelt, die die spontanen Aktivitäten der von ihm betreuten Kinder verhindern sollten. Wie Schatzman herausfand, erprobte der Vater diese Instrumente zuerst bei seinem Sohn Schreber, der diese über lange Perioden während des Tages und auch während der Nacht tragen musste (. Abb. 7.2). Auch in psychoanalytischen Konzeptionen hat der Vater demnach drei wichtige Funktionen. Funktionen des Vaters in psychoanalytischen Konzeptionen 5 Er hilft, den Körper des Kindes vom Körper der Mutter zu separieren. 5 Er betont und trainiert Aktivitäten, die eine autonome Entwicklung und Bewegung sowie eine effiziente Kontrolle über den Körper erlauben. 5 Er wird eng mit dem Erwerb der symbolischen Struktur des Körpers assoziiert, was letztlich die Betonung des Geschlechts des Kindes einschließt.
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Kapitel 7 · Väter: Notwendig, überflüssig oder sogar schädlich für die Entwicklung ihrer Kinder?
7.4
Die distinktive Funktion von Vätern
Die Interaktion von Vätern mit ihren Kindern ist differenziert nach den Altersstufen der Kinder sehr unterschiedlich. Die distinktive Funktion wird schon bei sehr kleinen Kindern deutlich; besonders ausgeprägt ist sie bei älteren Kindern und Jugendlichen.
Väter von kleinen Kindern: Die »etwas andere Bindung« Besonders die Forschung an sehr kleinen Kindern vernachlässigte lange Zeit die besondere, distinktive Funktion des Vaters und stellte die Ähnlichkeit im Verhalten von Vater und Mutter in den Vordergrund. Dabei wurde jedoch deutlich, dass Väter schon mit sehr kleinen Kindern qualitativ anders umgehen als Mütter. Während Mütter einen sehr engen Körperkontakt halten und sich pflegerisch mit dem Baby beschäftigten, beobachtete man bei den Vätern viel mehr Imitation, Grimassenschneiden sowie visuelle und akustische Stimulation (Parke u. Sawin 1980; . Abb. 7.3). Der Körperkontakt von Vätern ist distanter und aufregender und weist schon Ähnlichkeiten mit dem später noch zu beschreibenden »Kamikaze-Spiel« auf, wenn zwei Väter sich etwa ihre Babys zuwerfen, während die Mütter entsetzt danebenstehen. Selbst wenn Väter füttern, tun sie – wie wir bereits sahen – das in einer mehr spielerischen Art
15
und Weise. Unterschiedliches Verhalten von Vätern lässt sich auch in Abhängigkeit von der Geschwisterfolge zeigen (7 Kap. 8). Väter bevorzugen erstgeborene Söhne Verschiedene Studien haben gezeigt, dass Väter starker involviert sind bei ihren erstgeborenen Söhnen, und zwar in Form von Berührungen und Vokalisationen. Keller und Zach (2002) untersuchten den Effekt von Geschlecht und Geburtsreihenfolge auf das Interaktionsverhalten von Vätern und Müttern. 58 drei Monate alte Erst- und Zweitgeborene wurden in ihrer Interaktion mit dem Vater an fünf aufeinanderfolgenden Tagen für zwei Stunden beobachtet und gefilmt. Während Mütter rund 85% der Zeit, die der Säugling wach war, auch mit ihm verbrachten (insgesamt fast 5 Stunden: M = 4,8 Std., SD = 1,3), waren Väter nur rund eine Stunde täglich mit ihren Säuglingen (M = 68,3 Minuten, SD = 21,5) zusammen – etwa 23% der Zeit, die der Säugling wach war. Väter verbrachten mehr Zeit mit Erstgeborenen und differenzierten auch noch nach dem Geschlecht: Sie waren länger anwesend, wenn es sich um einen erstgeborenen Sohn im Vergleich zur erstgeborenen Tochter handelte und zeigten auch mehr »facial expression« bei Söhnen. Allerdings schauten sie ihren Töchtern länger ins Gesicht (»face to face«, 35% bei Töchtern gegenüber 19% bei Söhnen). Wichtiges Ergebnis dieser Beobachtungsstudie war auch, dass die simultane Präsenz von beiden Eltern am höchsten bei erstgeborenen Söhnen war.
16 57 18 19 20 . Abb. 7.3. Spielender Vater: Visuelle und akustische Stimulation
Die Theorie einer exklusiven dyadischen Beziehung zwischen Mutter und Säugling, die für die Phase 1 der Vaterforschung und die meisten psychoanalytischen Konzeptionen verbindlich war, wurde in Deutschland durch entwicklungspsychologische Experimente von Papousek (1989) hinterfragt. Sie wies nach, dass bereits Säuglinge Beziehungen zu mehr als einer Versorgungsperson aufbauen können und dass Mütter und Väter eine intuitive Elternschaft entwickeln können, die es beiden erlaubt, von Anfang an eine »hinreichend gute Umwelt« für das Kind zu schaffen. Erst in jüngster
Zeit haben französische Psychoanalytikerinnen in der Nachfolge von Francoise Dolto erstaunliche neue Erkenntnisse über Säuglinge zu Tage gefördert (Eliacheff 1997). Auch die Arbeit von Szejer (1998) zeigt, dass das neugeborene Kind nicht nur die Stimme der Mutter unter vielen anderen Stimmen erkennt, sondern auch Klangfarbe und Frequenzen der Stimme des Vaters. Die Studie von von Klitzing et al. (1999) belegt, dass schon Säuglinge triadische Beziehungen eingehen können. In intensiven Beobachtungsstudien untersuchten sie das Verhalten beider Eltern im Spiel mit ihrem viermonatigen Säugling und fanden Anzeichen dafür, dass das Baby einen Trialog durch Lächeln etc. in Gang bringt, in den es beide Eltern gleichzeitig bzw. nacheinander einbezieht. Sehr wichtig für die triadische Kompetenz des Kindes war es, dass das Elternpaar pränatal das ungeborene Kind als dritte Person in seinen Dialog integrierte. Dies sagt natürlich noch nichts über das distinktive Verhalten des Vaters aus, zeigt aber, dass Babys sehr früh zwischen beiden Eltern differenzieren und dass die Mentalisierung bedeutsam für die Beziehungsentwicklung ist. Untersuchungen zum Bindungsverhalten konzentrierten sich bislang eher auf die Mutter-KindBeziehung (7 Kap. 3). Die geringen Korrelationen, die van IJzendoorn und De Wolff (1997) zwischen den Bindungsmustern von Kleinkindern zu ihren Müttern und Vätern (r = .17) fanden, scheinen anzudeuten, dass Kinder im Alter von 12–18 Monaten in Belastungssituationen sich eher bei ihren Müttern als bei ihren Vätern sicher fühlen. Dies könnte zu der fälschlichen Annahme führen, dass Väter für die Entwicklung dieser Kinder wenig und schon gar keine distinktive Bedeutung haben.
on-Test (FST; 7 Kap. 3) etwas erkunden will, sondern stattdessen mit dem Kind spielen und gemeinsam Neues erkunden. Die Mutter dient bei einem ängstigenden Ereignis dagegen eher als »sicherer Hafen«; ihre Feinfühligkeit im Umgang mit den Ängsten des Kindes ist sehr entscheidend für die Entwicklung von Bindungssicherheit. Der Vater ist feinfühlig und herausfordernd im Spiel und in der Erkundung, und diese Spielfeinfühligkeit ist ebenfalls von ganz entscheidender Bedeutung für die Entwicklung einer sicheren Bindung (Grossmann et al. 2002b). Betrachtet man die weitere Entwicklung der Kinder der Regensburger Studie, so waren es nur die Spielfeinfühligkeit des Vaters und die Bindungsqualität des Kleinkindes zur Mutter, die die Bindungsrepräsentation und die späteren Beziehungen im Alter von 6, 10 und 16 Jahren vorhersagten. Von Klitzing et al. (1999) änderten den FST ab und integrierten in ihrer Längsschnittstudie beide Eltern in die angstauslösende Trennungssituation im Alter von 12 Monaten. Die Fähigkeit des Kindes, seine Emotionen in dieser bedrohlichen Situation der Trennung und Wiedervereinigung zu regulieren, hing ganz entscheidend von der Fähigkeit beider Eltern zum Trialog ab. Der Vater spielt also sehr wohl eine wichtige Rolle, wenn er gleichzeitig mit der Mutter in einer belastenden Situation anwesend ist. Wichtig ist, dass er nach der Wiedervereinigung, wenn das Kind im »sicheren Hafen« ist, dessen Explorationsfähigkeit stützt und damit zu sicheren inneren Repräsentanzen des Kindes beiträgt (. Abb. 7.4).
Secure Base
Die Spielfeinfühligkeit des Vaters Nach Berichten von Müttern protestierten 30 der 12-monatigen Kleinkinder, wenn die Väter den Raum verließen; von den 18-monatigen waren es sogar 75. Eine Bindung an den Vater ist also durchaus vorhanden, sie hat aber möglicherweise eine andere Qualität als bei der Mutter. Auf diese Differenz war man erst gestoßen, nachdem beobachtet worden war, dass Väter selten auf dem Stuhl sitzen bleiben, wenn das Kind im Fremde-Situati-
7
201
7.4 Die distinktive Funktion von Vätern
Bindung
Exploration
Mutter Feinfühligkeit für die Bindung • • •
Signale wahrnehmen richtig interpretieren prompt und angemessen reagieren
Vater Feinfühligkeit für Exploration • •
Unterstützung im Spiel Herausforderung im Spiel
. Abb. 7.4. Zusammenhänge zwischen Bindung und Exploration
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Kapitel 7 · Väter: Notwendig, überflüssig oder sogar schädlich für die Entwicklung ihrer Kinder?
Dies ist ein klarer Beweis dafür, dass die »etwas andere Bindung« an den Vater, die feinfühlige Herausforderung im Spiel, für das Kind langfristig bezüglich des Aufbaus sicherer innerer Arbeitsmodelle vom Selbst und von anderen ebenso bedeutsam ist wie die Feinfühligkeit der Mutter in der Trennungssituation.
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Väter und Schulkinder: Das Kamikaze-Spiel Empirische Studien verdeutlichen, dass Kinder zwischen 5 und 8 bei Vätern mehr körperliche Aktivitäten und mehr Spielverhalten zeigen, während bei Müttern wiederum mehr pflegerische Handlungen (»caregiving«) im Vordergrund stehen (Collins u. Russell 1991). Die Funktion des Vaters für die körperliche Entwicklung des Kindes, d. h. seine Betonung von motorischen Aktivitäten, ist in vielen Untersuchungen belegt. Väter unternehmen mit ihren Söhnen und Töchtern zahlreiche Aktivitäten, z. B. Laufen, Springen, Fußballpielen, Ball werfen, Schaukeln, Fahrradfahren oder Schwimmen (. Abb. 7.5). Die motorischen Aktivitäten mit den Töchtern verlaufen aber insgesamt sanfter und vorsichtiger. Tremblay et al. (1985) haben die große Bedeutung des visuellen Kontakts und der Körperorientierung empirisch nachgewiesen. Die Vaterforschung für Kinder im Schulalter beschreibt den Vater v. a. in den Rollen als Spielpartner, Herausforderer und Lehrer.
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Väterrollen in der mittleren Kindheit: Spielpartner, Herausforderer und Lehrer
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Parke (1995) beschreibt Väter in fünf verschiedenen Rollen: 5 als Spielpartner 5 als Herausforderer 5 als Vermittler 5 als Repräsentant 5 als Lehrer
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ist lebendiger, körperlicher und unvorhersehbarer und erzeugt bei Kindern eine starke positive Reaktion. Besonders bekannt geworden ist das Kamikaze-Spiel (Herzog 1982), bei dem Väter mit ihren Kindern wild herumtoben und gefährliche Situationen erkunden. Diese Rolle des Vaters hängt eng mit der des Herausforderers zusammen, in der der Vater das Kind auffordert, Neuartiges zu tun, was es sich ohne seine Hilfe nicht zutrauen würde (wie etwa gefährliche Klettertouren, die Erkundung von Höhlen u. Ä.). Dass Väter dabei häufig auch als Vermittler für Umwelterfahrungen, etwa mit Feuer, Wasser, mit Höhenunterschieden etc., auftreten, liegt auf der Hand. Ohne ihre sorgsame Umsicht wären sie für das Kind allein zu gefährlich, ohne seine Erklärungen und sein Wissen uninteressant. Für Kinder dieses Alters ist der Vater – allein schon auf Grund der Tatsache, dass er über weite Strecken des Tages außer Haus ist – zugleich auch Repräsentant der Arbeitswelt, in der andere Gesetze und Mechanismen gelten als in der häuslichen. Schließlich ist er auch Lehrer und Mentor seines eigenen Wissens und Könnens, ob es nun um etwas Handwerkliches, um die Erfahrungen in unterschiedlichen Arbeitswelten oder um Sport geht. Wie bei kleineren Kindern ist auch in dieser Altersgruppe nicht nur der Anregungsfaktor Vater von Bedeutung, sondern ebenso die väterliche Feinfühligkeit im Spiel, die eine angemessene Herausforderung – und keine Überstimulation – umfassen muss. Neugier und Exploration müssen genau auf den jeweiligen Entwicklungsstand und die Persönlichkeitseigenschaften des Kindes abgestimmt sein. Wie die Studien von Grossmann et al. (2002b) zeigen, setzt sich die Spielfeinfühligkeit von der frühen bis zur mittleren Kindheit fort: Die Väter, die
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In der mittleren Kindheit schätzen Kinder Väter als interessanten, weil andersartigen Interaktionspartner, der andere und aufregendere Dinge mit dem Kind macht als die Mutter. Der Spielstil des Vaters
. Abb. 7.5. Väter: Betonung von Spiel und Sport
7.4 Die distinktive Funktion von Vätern
bei 2-Jährigen feinfühlig im Spiel mit ihnen reagierten, taten dies auch noch, als ihre Kinder 6 Jahre alt waren. Dabei waren sicher gebundene Väter deutlich feinfühliger im Spiel mit ihren 6-Jährigen (r = .46, p < .01) als unsicher gebundene Väter. Feinfühlige Herausforderung im Spiel Grossmann et al. (2002b) nennen folgende kennzeichnende Verhaltensweisen: 5 Bei Ängstlichkeit Zuversicht vermitteln (»Du kannst das, und ich helfe dir, wenn es nicht gelingt«) 5 Neugier in kompetentes Handeln verwandeln 5 Während der Kooperation neue, machbare Ideen anbieten 5 Werke des Kindes durch Bezeichnung ihrer Bedeutung aufwerten 5 Loben 5 Lehren und vormachen, was das Kind begreifen kann 5 Erreichbare Ziele setzen 5 Angemessene Verhaltensregeln erwarten und einfordern
Wie Väter die in der Übersicht genannten aufregenden, aber auch unterstützenden Funktionen in die Tat umsetzen, wird an der Studie von Wüllrich (2001) deutlich; hier wurden Väter und Mütter in einer stressauslösenden Situation zusammen mit ihrem Kind verglichen. Väter hatten dabei deutlich höhere Sprechraten als Mütter, um ihre Kinder zu beruhigen und ihnen die Situation zu erklären. Dies verdeutlicht, dass das »Wort des Vaters« nicht nur ein großes Gewicht hat (Lacan 1953), sondern auch, dass die oben beschriebene Funktion des Vaters als Lehrer und Vermittler von Erfahrungen mit diesen »aufregenden« Seiten des Vaters verbunden ist. Es gibt Hinweise dafür, dass sich das beschriebene väterliche Rollenverhalten bei bestimmten wichtigen Übergängen, z. B. dem Schuleintritt, verstärkt. Minsel et al. (1999) fanden beim Vergleich väterlichen Verhaltens einen Monat vor und sechs Monate nach Schuleintritt ihrer Kinder eine starke Konzentration auf motorische Aktivitäten in Spiel und Freizeit sowie eine Akzentuierung des Geschlechts. Väter sind mit ihren Söhnen aktiver in
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Bezug auf Freizeitaktivitäten, in denen sie gemeinsame Interessen verfolgen, unterrichten sie häufiger in neuen Fertigkeiten, achten mehr auf Disziplin und bringen ihnen angemessenes männliches Rollenverhalten bei (Crouter u. Crowley 1990). Auch bei Töchtern unterstützen sie geschlechtsrollenspezifisches, d. h. weibliches bzw. mädchenhaftes, Verhalten und zeigen ihnen gegenüber auch mehr Nähe und Emotionalität.
Väter und Jugendliche: Das Modell für Autonomie In dieser Altersstufe ist die distinktive Funktion von Vätern besonders deutlich und unterstreicht die Bedeutung von Vätern für die Individuation ihrer Kinder (Shulman u. Seiffge-Krenke 1997). Der Vater scheint für die zunehmende emotionale und räumliche Distanzierung und die stärkere Außenorientierung ein sehr gutes Modell zu sein. Wie bereits in der Kindheit verbringen Jugendliche mit ihren Vätern nur sehr wenig Zeit, der Schwerpunkt liegt weiterhin eher auf spielerischen und Freizeitaktivitäten. Die starke Konzentration des väterlichen Verhaltens auf den Körper und körperliche Aktivitäten lässt sich allerdings bei Jugendlichen nicht ungebrochen umsetzen. Der Vater muss vielmehr sehr sensibel für den sich verändernden Körper sein, denn im Jugendalter treten, ausgelöst durch die körperliche Reife, massive Veränderungen im Körperkontakt zu beiden Eltern auf, besonders deutlich gegenüber dem Vater. Dabei geht die Initiative zur Kontrolle von Körperkontakt und Nacktheit vom Jugendlichen aus und setzt etwa ein Jahr vor den sichtbaren äußeren Zeichen der körperlichen Reife ein (Seiffge-Krenke 1994). Die Jugendlichen lehnen dann jeden körperlichen Kontakt schroff ab und wollen z. B. nicht mehr auf dem Schoß oder neben dem Vater sitzen und sich umarmen lassen. Für viele Väter ist dies eine irritierende Erfahrung, weil zu diesem Zeitpunkt noch keine äußerlichen Veränderungen im Sinne der körperlichen Reife erkennbar sind und die Reduzierung des körperlichen Kontakts zum Vater sehr viel massiver als zur Mutter ist. Ähnliche Veränderungen finden wir in der Bereitschaft von Jugendlichen, über Privates, Persönliches zu sprechen. Der Vater war in dieser
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M
Kapitel 7 · Väter: Notwendig, überflüssig oder sogar schädlich für die Entwicklung ihrer Kinder?
. Abb. 7.6. Wie erleben Jugendliche die Autonomiegewährung durch Mütter und Väter?
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Mutter
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verlässt sich auf Dich
Mutter
Vater
sieht Dich als abhängig
Hinsicht aus der Perspektive der Jugendlichen nie der bevorzugte Adressat (7 Kap. 5) – und er wird es im Verlauf der Adoleszenz immer weniger. Er bleibt allerdings für Söhne und Töchter konstanter Ansprechpartner für schulische, berufliche und gesellschaftspolitische Fragestellungen. Wir finden also sehr synchrone Veränderungen auf der körperlichen und verbalen Ebene (abnehmender Körperkontakt, abnehmende Enthüllungsbereitschaft), und auffälligerweise ist der Vater von beiden Entwicklungen viel stärker betroffen als die Mutter (Seiffge-Krenke 1994). Weitere Studien haben die Bedeutung von Vätern für die Individuation ihrer Kinder nachgewiesen. Im Vergleich zu Kindern verbringen Jugendliche viel mehr Zeit außer Haus mit ihren Freunden und sind auch im Haus für längere Zeitspannen von der Familie getrennt und in ihrem Zimmer verschwunden. Sie fühlen sich ihren Eltern weniger nahe, stellen Regeln und Autorität in Frage und handeln – spürbar an einer Zunahme familiärer Konflikte – neue Rechte und eine eher partnerschaftliche Interaktion aus. Der Vater scheint für diese zunehmende emotionale und räumliche Distanzierung und die stärkere Außenorientierung ein sehr gutes Modell zu sein. In unserer deutsch-israelischen Vergleichsstudie (Shulman u. Seiffge-Krenke 1997) nahmen die Jugendlichen verschiedener Altersstufen ihre Väter als diejenigen wahr, die ihnen am stärksten zu verstehen gaben, dass man sich auf sie verlassen kann. Väter trauten ihren Kindern schon rund vier Jahre
früher Unabhängigkeit zu als Mütter: Mütter sahen 16-Jährige als so abhängig an wie Väter 12-Jährige (. Abb. 7.6). Die starke Förderung von Individuation und Unabhängigkeit durch den Vater ist auch in zahlreichen historischen Briefen von Vätern an ihre Kinder belegt (Scheib 1994) und zeigt, dass es sich um ein zeitlich relativ stabiles Merkmal väterlichen Verhaltens handelt. Wie auch in der Kindheit ist der Vater im Jugendalter für die Struktur und die Geschlechtsrollenidentität von großer Bedeutung – Aspekte, die bislang eher übersehen wurden (Seiffge-Krenke 2003b).
Väter und erwachsene Kinder Pfaff (2007) ging der Frage nach, inwieweit Väter bei erwachsenen Kindern auch noch distinktive Funktionen erfüllen, und befragte dazu 79 Väter (Altersmittelwert 57 Jahre) und deren 108 erwachsenen Kinder (Altersmittelwert 26 Jahre), die etwa um das 20. Lebensjahr ihr Elternhaus verlassen hatten. Generell war die Zufriedenheit mit der Beziehung recht hoch, allerdings überschätzten die Väter die Qualität der Beziehung insofern, als sie wesentlich häufiger positive Beziehungsmarker nannten als ihre Kinder – ein Phänomen, das generell für diese Familienphase typisch ist (7 Kap. 6). Väter wurden auch im Erwachsenalter noch deutlich bezüglich ihrer Autonomieunterstützung und als Ratge-
7.5 Differenzerfahrungen: Unterschiedliche Rollen von Müttern und Vätern
ber von den Kindern wahrgenommen, aus der Sicht der Väter wurde aber auch Konkurrenz deutlich.
7.5
Differenzerfahrungen: Unterschiedliche Rollen von Müttern und Vätern
Die Rollen als Spielpartner, Herausforderer und Lehrer scheinen den meisten Vätern näher zu liegen als mütterliche Rollen. Es handelt sich dabei auch um historisch gewachsene Rollen, die mit einer bestimmten gesellschaftlichen und familiären Strukturierung einhergehen. So wird immer wieder berichtet, dass Kinder früher bis zum Alter von etwa 4 Jahren »der Mutter gehörten« und spätestens ab dem Alter von 7 Jahren verstärkt dem Vater überantwortet wurden, der sie unterrichtete, erzog und bildete (Schorsch 1979). Entsprechend den damaligen Strukturen spielten Respekt und Gehorsam eine große Rolle. Scheib (1994), die eine Auswahl an Briefen von Vätern an ihre Kinder in den vergangenen Jahrhunderten vorgelegt hat, belegt dies eindrucksvoll. Familien haben geschichtlich einen starken Strukturwandel durchlebt (7 Kap. 6). Die Berufstätigkeit der Mütter, das Verschwinden der Großelterngeneration aus dem gemeinsamen Haushalt, das Zusammenleben mit nur wenigen Geschwistern und die größere Mobilität sind wesentliche Veränderungen, die die Erfahrungen von Kindern und ihren Eltern heute bestimmen. Hinzu kommen weitere familienstrukturelle Veränderungen wie z. B. Einelternfamilien, die gegenwärtig etwa 20 aller Familien ausmachen. In der Bundesrepublik Deutschland gibt es eine zunehmende Zahl allein erziehender Mütter, die zahlreiche Vaterfunktionen übernehmen müssen und dies auch kompetent tun (Niepel 1994). Der Gesundheitszustand dieser allein erziehenden Mütter ist deutlich schlechter als der verheirateter Mütter – psychosomatische Beschwerden sind sehr häufig, wie aus dem Gesundheitssurvey des Bundes hervorgeht (Helfferich et al. 2003). Auch im Vergleich zu allein erziehenden Vätern sind allein erziehende Mütter deutlich belasteter in Bezug auf Lebensqualität und psychische Symptome. Allerdings leben sie auch unter schlechteren ökonomischen Bedingungen als allein erziehende Väter; dies geht darauf zurück, dass sie in Niedriglohn-
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gruppen berufstätig sind und sich eine teure Kinderbetreuung nicht leisten können, während allein erziehende Väter besser gestellt sind und ihre Kinder häufig fremdbetreuen lassen. Ein großes Problem scheint darüber hinaus die »schlechtere Presse« zu sein, die allein erziehende Väter deutlich bevorzugt und die Arbeit allein erziehender Mutter wenig anerkennt. Allein erziehende Väter – die »besseren Mütter«? In Deutschland leben 1,4 Mio. allein erziehende Mütter und Väter, die 1,9 Mio. minderjährige Kinder betreuen. 88% der Alleinerziehenden sind Frauen. Die Zahl der allein erziehenden Väter steigt von Jahr zu Jahr (zurzeit rund 300.000). Immer mehr Männer wollen ihre Vaterschaft trotz Trennung oder Scheidung von ihrer Partnerin aktiv fortsetzen. Ihnen werden weibliche Attribute zugeschrieben, aber die statistischen Fakten und die wenigen qualitativen Befunde legen nahe, dass diese Väter ihr Leben auch nach der Trennung traditionell fortführen. So ist beispielsweise auffällig, dass sie überwiegend erwerbstätig sind und über ein erheblich höheres Haushaltsnettoeinkommen verfügen als allein erziehende Mutter, von denen nur jede zweite berufstätig ist und ein deutlich geringeres Einkommen nach Hause bringt. 25% dieser Frauen leben von Sozialhilfe (Helfferich et al. 2003). Während allein erziehende Mütter wesentlich mehr körperliche Erkrankungen (Verhältnis 4 : 1) und auch mehr psychische Störungen (22% : 10%) angeben als verheiratete Mütter, unterscheidet sich die gesundheitliche Situation allein erziehender Väter nicht von der verheirateter Väter. Es ist wichtig, an diesem Punkt darauf hinzuweisen, dass Untersuchungen an allein erziehenden Vätern (z. B. Almeida u. Galambos 1991) zeigen, dass sich Väter wie Mütter verhalten, wenn sie deren Funktionen komplett übernehmen müssen. Sie sind also ebenso kompetent und eignen sich unter den gleichen Lernmöglichkeiten ohne Probleme Fähigkeiten wie Feinfühligkeit und Expressivität an.
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Kapitel 7 · Väter: Notwendig, überflüssig oder sogar schädlich für die Entwicklung ihrer Kinder?
Die in den letzten Jahren durchgeführten Studien belegen eindeutig, dass Mütter väterliche Funktionen und Väter mütterliche Funktionen übernehmen können – wenn auch mit unterschiedlichen Kosten. Die Frage ist also nicht, ob Väter fähig sind, wie Mütter zu agieren, sondern welchen besonderen, distinktiven Beitrag sie für die Entwicklung ihrer Kinder leisten. Diese Frage stellt sich verstärkt im familiären Kontext und in der triadischen Interaktion, d. h. dann, wenn sich beide Eltern um das Kind kümmern, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Die Tatsache, dass durch das Vorhandensein beider Eltern in der Familie auch Rivalität entstehen kann, ist mehrfach beschrieben worden. Schon (2000, S. 37) spricht von der »Konkurrenz am Wickeltisch«. Es ist aber – so dürfte durch die bisherigen Ausführungen deutlich geworden sein – nicht Aufgabe des Vaters, eine »zweite Mutter« für das Kind zu sein (Le Camus 2001). Frick-Bruder und Schütt (1992) warnen sogar vor dieser falsch verstandenen »neuen Väterlichkeit« als einer weiblichen Identifizierung, die auf Gleichheit statt auf Unterschied abzielt und sich damit auch dem eigentlichen Vatersein entzieht. Auch Schon (2000) sieht es eher kritisch, wenn Väter in Konkurrenz zu Müttern treten, anstatt ihrer Andersartigkeit im Kontakt mit dem Kind Ausdruck zu verleihen: Väterlichkeit, die identisch ist mit Mütterlichkeit und nicht komplementär zu ihr gesehen wird, komme einer Verzerrung der authentischen Elternrolle gleich. Sicherlich gehen Väter zuweilen »mütterlich« mit ihren Kindern um, genauso wie Mütter »väterlich« mit ihren Kindern umgehen können. Bestimmte Bedingungen, etwa Persönlichkeitseigenschaften der Eltern oder spezifische Familienkonstellationen, können diese Tendenz noch verstärken. Kinder können jedoch in dem Beziehungsdreieck Vater-Mutter-Kind wichtige Differenzerfahrungen machen. Erst die ausgewogene Mischung beider Erfahrungen, »mütterlicher« und »väterlicher« Anteile, ermöglicht den für jedes Kind und jeden Jugendlichen so wichtigen Entwicklungsprozess von Loslösung und Individuation. Wir haben bislang v. a. das Verhalten der Väter betrachtet, das in der Regel komplementär zur mütterlichen Rolle beschrieben wurde. Es soll nun auf einige Unterschiede im Verhalten von Müttern und Vätern gegenüber ihren Söhnen und Töchtern eingegangen werden.
Global gesehen verstehen Mütter Kinder und Jugendliche besser. Sie sind vertraulichere Gesprächspartner, liebevoller, auch körperlich näher, aber das Verhältnis zu ihnen ist auch konfliktreicher, wenn die Kinder das Jugendalter erreichen. Besonders häufig sind Konflikte in der Mutter-Tochter-Dyade (Seiffge-Krenke 1997c). Mütter sind in alle Alltagsbelange des Kindes involviert. Väter sind dagegen weniger involviert, weniger verständnisvoll und kennen die Kinder und Jugendlichen schlechter. Ihnen gegenüber zeigen Jugendliche weniger Intimität, haben aber auch weniger Konflikte mit ihnen. Väter betonen bei Söhnen wie bei Töchtern deren Unabhängigkeit und konzentrieren sich auf Freizeit- und Spielaktivitäten. Väter und Mütter haben damit eindeutig unterschiedliche Rollen inne: Die Mütter sozialisieren in Richtung expressive Funktion (»face to face«), die Väter dagegen in Richtung instrumentelle Funktion (»side by side«). In der folgenden Übersicht sind noch einmal die wichtigsten Differenzerfahrungen zusammengefasst, die Kinder und Jugendliche mit ihren Vätern machen – immer unter der Voraussetzung, dass es sich um Familien handelt, in denen die Mütter den komplementären, fehlenden Part übernehmen. Differenzerfahrungen: Väterlicher Anteil 5 Väter verbringen weniger Zeit mit ihren Kindern und sind weniger eingebunden in die alltäglichen Angelegenheiten. 5 In der gemeinsam verbrachten Zeit befassen sich Väter bevorzugt mit Spiel- und Freizeitaktivitäten, die in der Regel egalitäre Machtstrukturen voraussetzen. 5 Über die gesamte Kindheit, verstärkt aber in der Adoleszenz, unterstützen Väter die Autonomie, während Mütter ihre Kinder noch relativ lange als abhängig und hilfsbedürftig ansehen. 5 Insbesondere für Jugendliche, die zu einer neuen Balance zwischen Verbundenheit und Abgrenzung finden müssen, scheint der Vater ein gutes Modell für die Ablösung zu sein, weil er distant ist, aber verbunden bleibt.
7.6 Väter und Töchter, Väter und Söhne
7.6
Väter und Töchter, Väter und Söhne
Umfangreiche Forschungen in den USA belegen ein sehr unterschiedliches Verhalten von Vätern und Müttern gegenüber ihren Kindern (Collins u. Russell 1991; Youniss u. Ketterlinus 1987). Dieser Befund ist nach dem Geschlecht des Kindes zu differenzieren. Die in 7 Kap. 6 dargestellten Ergebnisse einer 4-jährigen Längsschnittstudie an Familien mit Jugendlichen zeigen auch in deutschen Familien ein sehr unterschiedliches Klima in Familien mit Söhnen im Vergleich zu Familien mit Töchtern. In Familien mit Töchtern finden wir die höchste Kohäsion, aber auch mehr Streit. Die höchste Streitrate ist in der Mutter-Tochter-Dyade zu finden. Das Klima in Familien mit Söhnen ist affektiv kühler, aber weniger konfliktreich. Man scheint allerdings auf die Disziplin der Söhne achten zu müssen. Diese Unterschiede wirken sich auch auf die ehelichen Beziehungen der Eltern aus (SeiffgeKrenke 1999). Ein distinktives Merkmal väterlichen Verhaltens zieht sich wie ein roter Faden durch die Literatur: die Akzentuierung des Geschlechts des Kindes (Seiffge-Krenke 2001e). Die Bedeutung des Vaters für die körperliche Entwicklung und die zunehmende Autonomie des Kindes bzw. Jugendlichen ist also nach dem Geschlecht des Kindes zu differenzieren. Das gilt verstärkt, wenn aus den Kindern Jugendliche werden. Konzeptionell wird die große Bedeutung des Vaters für die Geschlechtsrollenentwicklung seiner Kinder betont. Allerdings wissen wir über die genauen Prozessabläufe sehr wenig; zu sehr war die Forschung bislang auf die pathologische Vater-Tochter-Beziehung bzw. die pathologische Vater-Sohn-Beziehung fixiert, in der Gewalt und v. a. sexualisierte Gewalt im Vordergrund steht (Seiffge-Krenke 2001d).
Der Sohn als »Spiegel des Vaters«? Frühe Studien belegen, dass Väter ihre Söhne bereits 24 Stunden nach der Geburt anders beschreiben als Töchter (als groß, stark und kräftig; vgl. Rubin et al. 1974), dass Väter das Puppenspiel ihrer Söhne energisch unterbrechen und negativer, aggressiver
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mit 5- bis 8-jährigen Söhnen im Vergleich zu Töchtern interagieren (Noller 1980). Väter sind mit ihren Söhnen aktiver in Bezug auf Freizeitaktivitäten, in denen sie gemeinsame Interessen verfolgen, unterrichten sie häufiger in neuen Fertigkeiten, achten mehr auf Disziplin und bringen ihnen angemessenes männliches Rollenverhalten bei (Crouter u. Crowley 1990). Weitere Studien fanden, dass Väter länger mit Söhnen, v. a. erstgeborenen Söhnen, spielten, Söhne häufiger berührten, mehr mit ihnen explorierten, körperlich enger interagierten und dabei in positiverer, lustigerer Stimmung waren (Shulman u. Seiffge-Krenke 1997). Die Häufigkeit des »affectionate touching« zwischen Vater und Sohn reduziert sich allerdings zu Beginn des Jugendalters drastisch, wenn sich der Sohn den Berührungen durch den Vater zunehmend entzieht (Salt 1991). In Studien über die Beziehung zwischen Vätern und Söhnen ist außerdem eine starke Konzentration auf die Disziplinierungs- und Kontrollfunktion von Vätern (Power u. Shank 1988) auffällig sowie die Tatsache, dass aggressive Tendenzen häufig erwähnt werden. Herzog (1982) hat das bereits erwähnte »Kamikaze-Spiel« zwischen Vater und Sohn als ein lustvolles, gefährliches und grenzüberschreitendes Spiel beschrieben. Zusammengenommen zeigen die Studien ein ambivalentes Pattern, gekennzeichnet durch ein hohes und intensives Engagement, kombiniert mit Strenge und Aggression. Noch Jahre später erinnern sich erwachsene Söhne daran, dass ihre Väter sie in der Kindheit und Jugend strenger, ablehnender und weniger unterstützend behandelten (Kitze et al. 2007) und dass sie – verglichen mit den Schwestern – ungerecht behandelt wurden (Ferring et al. 2003). Offenkundig ist die Art, wie Vater und Sohn mit aggressiven Gefühlen umgehen, sehr charakteristisch und bezeichnend für diese Beziehung. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass der Vater in früheren Epochen das Recht hatte, seine Kinder zu töten. Kindermord, v. a. die Ermordung der erstgeborenen Söhne, sind historische Tatsachen (Shulman u. Seiffge-Krenke 1997; Klußmann 2003). Die griechische Ödipustragödie verdeutlicht, dass es um Aggression von beiden Seiten geht, was auch in Freuds Konzeption des Ödipuskomplexes deutlich wird.
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Kapitel 7 · Väter: Notwendig, überflüssig oder sogar schädlich für die Entwicklung ihrer Kinder?
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. Abb. 7.7. Hemingway mit Sohn
Aggressive und destruktive Tendenzen sind aber nur ein Aspekt der Vater-Sohn-Beziehung. Der sehr ambivalente, emotionale Zugang (starkes Engagement, aber auch emotionale Distanz) hängt möglicherweise damit zusammen, dass Väter ihre Söhne als »Spiegel« ihres Selbst konstruieren und dann sehr enttäuscht sind, wenn diese dazu nicht taugen (Kierkegaard 1847/1954). Gleiche oder geteilte Aktivitäten sind sehr charakteristisch für Vater-SohnBeziehungen, ob es nun um das Jagen (bei Ernest Hemingway und seinem Vater bzw. seinen Söhnen; . Abb. 7.7), die Musik (bei Leopold und Wolfgang Amadeus Mozart), die literarische Produktion (bei Thomas und Klaus Mann), die Politik (Wilhelm und Karl Liebknecht) oder den Nachvollzug einer väterlichen Reise (bei August Goethe, vgl. Braunbehrens et al. 1998) geht. Mit welcher Aggression der Vater reagieren kann, wenn der Sohn nicht zum Spiegel seines Selbst wird, belegt Kafkas »Brief an den Vater« (1919) eindrucksvoll. Es ist auch wahr, daß Du mich kaum einmal wirklich geschlagen hast. Aber das Schreien, das Rotwerden Deines Gesichts, das eilige Losmachen der Hosenträger, ihr Bereitliegen auf der Stuhllehne, war für mich fast ärger. Es ist, wie wenn einer gehenkt werden soll. Wird er wirklich gehenkt, dann ist er tot und alles ist vorüber. (Kafka 1919, S. 26)
In diesem posthum veröffentlichten Brief zeichnet er ein Bild seines Vaters (. Abb. 7.8) als einem riesenhaften, jähzornigen Autokraten, der mit seiner grenzenlosen Vitalität, seinen Vorwürfen und seiner Ironie den Sohn in seinem Wesen und seiner Eigenart erstickt. Die schiere Präsenz des Vaters
lässt diesen schon übermächtig erscheinen und erzeugt beim Sohn das Gefühl eines ständigen Drucks. Kafka neigte dazu, viele Schwierigkeiten seines Lebens auf den Vater zurückzuführen, ständig schwankend zwischen Anklagen an den Vater und Selbstanklagen. Bei allen Klagen über die Beziehung zu seinem als erdrückend und allmächtig erlebten Vater bleibt die Sehnsucht nach einem verständnisvollen, ihn fördernden Vater jedoch wenig verborgen. Historische Beispiele zeigen, dass nach Abschaffung des Kindermordes in der Neuzeit die väterliche Aggression auf andere Objekte verschoben wurde. So ließ der Soldatenkönig nicht seinen Sohn, sondern dessen Freund Katte exekutieren. Blos (1990) hat die Zunahme der Aggression beim Übergang von der dyadischen Beziehung zur triadischen Vater-Sohn-Beziehung anschaulich beschrieben. Wenig beachtet und untersucht ist dagegen die Aggression des Sohnes auf den Vater, die nach Grieser (1998) ihre Ursache in der teilweise überschätzen Macht des Vaters hat. Lempps (1977) Untersuchung an jugendlichen Mördern zeigt, dass die meisten Jugendlichen sich wegen einer Mordabsicht an den Vater angezeigt hatten bzw. Mordabsichten bekundeten. Vollzogene Morde am Vater waren in der Minderzahl und fast nie in der direkten Konfrontation zwischen Vater und Sohn ausgeführt, sondern aus der Feme (mit Schusswaffen) oder während des Schlafs, so als wenn der Vater aus der Nähe zu mächtig und unbezwingbar wäre.
. Abb. 7.8. Kafkas Vater
7.6 Väter und Töchter, Väter und Söhne
Für die Vater-Sohn-Beziehung sind die Gegenpole Liebe und Aggression, Nähe und Distanz kennzeichnend, wobei im Sinne des Konzepts des »Spiegels« aus der Sicht des Vaters größtmögliche Ähnlichkeit intendiert wird.
»Daddy’s little girl …« Die Beziehung zwischen Vater und Tochter zeichnet sich charakteristischerweise durch Differenz und Verschiedenheit aus. Obwohl der Vater auch mit der Tochter viele Freizeitaktivitäten und sportliche Aktivitäten unternimmt – wie das Bild von Sigmund Freud mit seiner jugendlichen Tochter Anna beim Wandern verdeutlicht –, wird stets die Verschiedenheit betont und die Weiblichkeit sanft hervorgehoben (. Abb. 7.9). Väter beschreiben ihre Töchter bereits 24 Stunden nach der Geburt anders als Söhne (als niedlich, empfindlich und hübsch; vgl. Rubin et al. 1974). Ähnlich wie bei Söhnen unterstützen Väter auch bei Töchtern geschlechtsrollenspezifisches, d. h. weibliches bzw. mädchenhaftes Verhalten, zeigen aber zu ihren Töchtern im Vergleich zu ihren Söhnen mehr Nähe und Emotionalität (Crouter u. Crowley 1990). Väter interagieren sehr viel sanfter und zärtlicher mit 5- bis 8-jährigen Töchtern im
. Abb. 7.9. Sigmund und Anna Freud beim Wandern
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Vergleich zu Söhnen (Noller 1980) und erleben sich als der Beschützer ihrer kleinen Tochter. Diese beschützende Rolle wird mit historisch früheren Entwicklungen in Beziehung gebracht, in denen der Vater die Tochter – ähnlich wie übrigens der spätere Ehemann – als sein Eigentum betrachtete und verheiratete. Die Übergabe dieses »Eigentums« wurde dann mit der Übernahme des Namens des Ehemanns besiegelt (Boose 1989). Die Tradition der europäischen Herrscherhäuser, ihre Töchter an »feindliche« Herrscher zu verheiraten, hatte neben dem Zugewinn an Macht und Latifundien den Zweck, dass die Töchter zwischen zwei aggressiven männlichen Gegenspielern vermitteln sollten. Bemerkenswert ist die Bereitschaft der Tochter, das Diktat des Vaters zu akzeptieren. Gilbert (1989) bringt dies mit dem Lacanschen Gesetz des Vaters in Beziehung und mit der Wahrnehmung der Tochter, nur über Identifikation mit dem Vater zu Macht gelangen zu können. Dem Vater wird in verschiedenen psychoanalytischen Konzeptionen zwar eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der Weiblichkeit zugeschrieben (z. B. Horney 1985), dieser Prozess wird jedoch nicht näher ausgeführt (Seiffge-Krenke 2003b). In diesem Zusammenhang sei auf den komplizierteren Verlauf des weiblichen Ödipuskomplexes (Unzufriedenheit mit der genitalen Ausstattung, Objektwechsel) hingewiesen. Der Wunsch nach einem starken Vater oder einem starken männlichen Objekt, der den weiblichen Ödipuskomplex lösen hilft, wird auch in Mythen und Märchen deutlich (Kestenbaum 1983). Die Tochter kann infolgedessen übergroße Passivität und Anpassung zeigen, wie etwa Grimms Märchen »Mädchen ohne Hände« verdeutlicht. Die Beziehung von Vätern zu ihren Töchtern ist durch große Zärtlichkeit geprägt (»daddy’s little girl«, vgl. Montemayor et al. 1993), die jedoch in aller Regel desexualisiert ist. Diese Desexualisierung ist nicht einfach zu erreichen, da Väter zugleich sehr stark die Weiblichkeit ihrer Töchter betonen und markieren. Snarey (1993) fordert deshalb, »erotic excitement« im Spiel unbedingt in »secure excitement« zu überführen. Die Überinvolvierung von Vätern mit ihren Töchtern wird auch in Freuds Verführungstheorie deutlich, die er später zugunsten phantasierter Traumata aufgab. Wie in einer Studie an weiblichen Jugendlichen nachgewiesen wur-
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Kapitel 7 · Väter: Notwendig, überflüssig oder sogar schädlich für die Entwicklung ihrer Kinder?
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seltener KK häufiger KK
ritueller KK
. Abb. 7.10. Veränderungen im Körperkontakt (KK) zum Vater früher und heute
de, übernehmen Töchter bei der Desexualisierung einen aktiven Part. Die Initiative zur Kontrolle von Körperkontakt und Nacktheit geht von den Töchtern aus und setzt etwa ein Jahr vor den sichtbaren äußeren Zeichen der körperlichen Reife ein (Seiffge-Krenke 1994). Töchter ziehen sich dann plötzlich und für den Vater überraschend körperlich zurück, wollen sich nicht mehr berühren lassen und gehen auch bei spielerischen und sportlichen Aktivitäten massiv auf körperliche Distanz (. Abb. 7.10). Der Vater wird auch aus den Prozessen der körperlichen Reife regelrecht ausgeschlossen (Shulman u. Seiffge-Krenke 1997). Neuere Längsschnittstudien fanden Zusammenhänge zwischen väterlichem Engagement bei ihren 5-jährigen Töchtern und zeitgerechter körperlicher Reife dieser Töchter Jahre später (Ellis et al. 1999). Dies verdeutlicht, dass bei einem zeitgerechten Einsetzen der Menarche bereits ein Distanzierungprozess eingesetzt hatte, während die Beziehungen zwischen Vater und Tochter in der frühen Kindheit sehr eng waren. Um den Ödipuskomplex zu lösen, muss das junge Mädchen seine Anziehung zum Vater neutralisieren und sich mit der Mutter identifizieren, was – zumindest in der klassischen Freudianischen Sichtweise – eine Identifikation mit Passivität zur Folge hat. Empirisch ist in jedem Fall belegt, dass die Reifungsvorgänge der Töchter erheblichen Anlass für Konfliktstoff zwischen beiden Eltern geben, aber auch zu vielen Auseinandersetzungen zwischen Tochter und Mutter führen (Smetana 1989; Seiffge-Krenke 1997c, 1999). Dies wird auch in Anne Franks Tagebuch deutlich, in dem sie ihre enge und schwärmerische Beziehung zu ihrem Vater und ihre kühle,
rivalisierende Beziehung zu ihrer Mutter beschreibt (. Abb. 7.11). Die empirischen Befunde unterstreichen also, dass die Sexualität der Töchter ein wichtiger Streitpunkt in der Familie ist und dass Eltern ihren Töchtern – verglichen mit ihren Söhnen – weniger Unabhängigkeit zugestehen. Obwohl Väter die Individuation sehr viel nachhaltiger unterstützen als Mütter, was besonders bei beruflich erfolgreichen Töchtern nachgewiesen wurde (Heath u. Heath 1991), neigen sie zu größerer Vorsicht und mehr Schutz bei den Töchtern. Unterstützung von Weiblichkeit und Zärtlichkeit sind demnach sehr charakteristisch für die VaterTochter-Beziehung. Gleichzeitig wird die Differenz
. Abb. 7.11. Anne Frank mit ihrem Vater
211
7.7 Verschiedene Typen von Vätern
zwischen Vater und Tochter deutlich markiert. Zu viel Nähe und Überidentifizierung mit dem Vater, wie etwa bei beruflich sehr erfolgreichen Töchtern (Shulman u. Seiffge-Krenke 1997), bergen die Gefahr von Schwierigkeiten in der Beziehungsgestaltung mit späteren Partnern. Väter müssen deshalb eine delikate Balance zwischen emotionaler Nähe und der Wahrung der Generationsgrenzen finden.
7.7
Verschiedene Typen von Vätern
Seit der Nachkriegszeit scheint sich ein tiefgreifender Wandel in der Einstellung der Väter anzudeuten. Wesentlich mehr Väter sind bei der Geburt ihrer Kinder dabei und besuchen schon vor der Geburt gemeinsam mit ihrer Partnerin Kurse zur Geburtsvorbereitung. Die gesetzlichen Möglichkeiten der Elternzeit werden jedoch fast ausschließlich von Müttern genutzt. In Österreich gab es 1995 nicht einmal 1 väterliche Karenzurlaube; in Deutschland lag ihre Zahl bei 3 (Statistisches Bundesamt 2003). Nach Einführung des Elterngeldes 2007 nehmen gegenwärtig 12 der Väter diese Möglichkeit der Kinderbetreuung in Anspruch, was eine deutliche Steigerung in den letzten Jahren bedeutet, aber noch immer eine relativ kleine Zahl von Vätern umfasst, die wenige Monate zur Kinderbetreuung zu Hause bleiben. Allerdings gibt es auch andere Beispiele: In Norwegen existiert ebenfalls ein Anspruch auf Erziehungsurlaub, und immerhin 80 der Väter nehmen sich zwischen 2 und 4 Wochen Zeit für eine »Babypause« (Kucklick 2000).
Die »neuen Väter« Lässt sich tatsächlich eine Gruppe der »neuen Väter« ausmachen, und lässt sich dies auch empirisch halten? Väter sind keine homogene Gruppe. Die Wiener Längsschnittstudie von Werneck (1998) fand drei Typen von Vätern, die vor der Geburt des Kindes, drei Monate nach der Geburt und drei Jahre nach der Geburt befragt wurden.
7
Der »neue Vater« 5 Merkmal: egalitäre Rollenaufteilung 5 Er wurde v. a. bei Vätern von Babys und Kleinkindern untersucht; empirisch sehr selten nachweisbar.
Neue Väter befürworten egalitäre Partnerschaften und lehnen traditionelle Partnerschaften ab. Die Gruppe der neuen Väter umfasste vor der Geburt des Kindes 13. Bereits drei Monate nach der Geburt fanden sich jedoch nur noch 7 neue Väter, und nach drei Jahren hatte sich ihre Zahl auf rund 9 eingependelt. Demgegenüber hatte die Anzahl eigenständiger Väter, die ihre eigenen Interessen unabhängig von der Familie verfolgen, eher zugenommen – von 56 vor der Geburt auf 66 drei Jahre danach. Eine relativ große Gruppe sind auch die familienorientierten Väter, die ihre Familie wichtig nehmen, ihr berufliches Weiterkommen aber immer im Auge behalten. . Abb. 7.12 zeigt die Vätertypen mit ihren – nur sehr geringen – Wanderbewegungen. Die meisten Väter blieben ihrer einmal gewählten Rolle über einen Zeitraum von drei Jahren treu. Es wird deutlich, dass sich die hohen Ideale der neuen Väter bezüglich einer partnerschaftlichen Aufteilung der Kinderbetreuung seltener als geplant realisieren lassen. Die Auswertung des Zeitverlaufs zeigt, dass drei Jahre nach Geburt des Kindes bei allen Vätern die Wahrnehmung von Stressoren im Vordergrund steht. Es wird bemerkt, dass die Beschäftigung mit dem Kind und die Zeit, die für das Kind zur Verfügung gestellt wird, dem Paar als Ressource fehlt und dass es immer wieder zu Konflikten im Zusammenhang mit der Kindeserziehung und -betreuung kommt (7 Kap. 6). Der Typus der neuen Väter lässt sich also – zumindest für das Kleinkindalter und in dieser ausschließlichen Form – empirisch nicht bestätigen. Die Ergebnisse dieser und anderer Studien zeigen insgesamt eine große Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit der Kinderbetreuung. Zwar hat sich der Anteil der Väter, die sich an verschiedenen Tätigkeiten beteiligen, erhöht (Matzner 1998) und sich ein deutlicher Einstellungswandel vollzogen, der sich auch im Bamberger EhepaarPanel von 1996 zeigte und v. a. auf die gebildeten
212
1
f%
Kapitel 7 · Väter: Notwendig, überflüssig oder sogar schädlich für die Entwicklung ihrer Kinder?
70
neue Väter familienorientierte Väter
60
2 3
. Abb. 7.12. Vätertypen bis zu 3 Jahre nach der Geburt des Kindes: Relative Stabilität
eigenständige Väter
50 40 30
4 5
20 10 0
6
vor der Geburt
3 Monate nach der Geburt
3 Jahre nach der Geburt
7 8
16
Schichten zutrifft. Doch bleiben Väter nach wie vor überwiegend Feierabend- und Wochenendväter, wo sie in ihren Aktivitäten mit den Kindern quantitativ häufig sogar über denen der Mütter liegen (Schmidt-Denter 2005). Allerdings sagt die Zeit noch nichts über die Qualität aus. Das geringe Ausmaß an Zeit, das Väter im Vergleich zu Müttern mit ihren Kindern verbringen, bedeutet nicht, dass ihr Einfluss auf die Entwicklung des Kindes geringer einzuschätzen ist, sofern ein gewisses Minimum nicht unterschritten wird. Innerhalb dieser relativ kurzen Zeitspanne kann die Beziehung sehr intensiv sein und nachhaltige Wirkungen zeigen. Zu bedenken ist auch – und auch dies steht einer partnerschaftlichen Aufteilung eher entgegen –, dass nach der Geburt von Kindern häufig ein Traditionalisierungseffekt gefunden wurde (Reichle 1996): Väter verstärken ihre Berufstätigkeit zur Sicherung des Einkommens, und Mütter wenden sich verstärkt der Kinderbetreuung zu.
57
Der »Disneyland-Daddy«
9 10 11 12 13 14 15
18 19 20
Bei der Untersuchung des Verhaltens von nichtsorgeberechtigten Vätern in Scheidungsfamilien stieß man in den USA auf einen Typus von Vätern, der nur sehr kurze Zeit mit den Kindern verbringt und in dieser kurzen Zeit die Kinder mit Geschenken und Aktivitäten (McDonalds, Kino) überhäuft. Dieser »Disneyland-Daddy« enthält zwei Extremvarianten von väterlichen Verhaltensweisen: zu
geringes Engagement und Überzeichnung der Aktivität. Der »Disneyland-Daddy« 5 Merkmale: kurze Anwesenheit, Überstimulation 5 Vor allem in Familien mit Scheidungskindern beobachtet, besonders bei klinisch auffälligen Kindern und Jugendlichen aus Scheidungsfamilien
Man könnte zunächst aus der Sicht der Kinder in einem solchen »Disneyland-Daddy« den idealen Vater vermuten. Die Idealisierung des Vaters ist allerdings keine grundsätzliche Folge der Scheidung, sondern hängt von der realen Verfügbarkeit des Scheidungsvaters und der psychischen Gesundheit des Kindes ab (Seiffge-Krenke u. Tauber 1997). Sie nimmt in dem Umfang zu, wie die Anwesenheit des Vaters abnimmt, und ist signifikant häufiger in Scheidungsfamilien, in denen das Kind psychisch auffällig war. In diesen Familien sahen die Kinder den Vater besonders selten und entwickelten in der Folge eine große Sehnsucht nach ihm. Bereits in normalen Familien gibt der Vater auf Grund seiner häufigeren Abwesenheit Anlass zu Phantasien. Freud hat dies 1909 in seinem Konstrukt des Familienromans beschrieben (7 Kap. 4): Die Person des Vaters wird in der Phantasie erhöht. Besonders betroffen sind Kinder in Scheidungs-
7.7 Verschiedene Typen von Vätern
und Trennungsfamilien. Für viele Kinder bleibt der
getrennt lebende Vater in der Phantasie lebendig und stark besetzt. Seine gelegentlichen Besuche, besonders, wenn sie die »Disneyland-Daddy«Qualität annehmen, fördern eine solche Idealisierung. Aus psychoanalytischer Sicht kann man sie als Abwehrmechanismus zur Verarbeitung starker negativer Affekte wie Wut oder Trauer verstehen. Man findet sie etwa gegenüber toten oder im Krieg verschollenen Vätern (Radebold 2000). Seit 1997 haben wir im Fall einer Scheidung das gemeinsame Sorgerecht; dennoch leben rund 80 der Kinder in Trennungsfamilien bei ihrer Mutter, während der Vater das Umgangsrecht hat und seine Kinder mehr oder weniger regelmäßig sieht. Bei der Gestaltung der Besuchskontakte kann sich ein »Disneyland-Daddy«-Syndrom einstellen, wenn bestimmte Bedingungen (seltene Kontakte mit Überstimulation der Kinder) vorliegen. Insbesondere bei großer räumlicher Entfernung, wie sie durch die berufliche Mobilität bei einem nicht unerheblichen Prozentsatz der Familien vorkommt, stellt dies eine ernst zu nehmende Gefahr dar. Kinder brauchen den getrennt lebenden Vater ganz real und in einem möglichst alltäglichen Bezug. Sechs Jahre nach der Trennung rechnen noch 70 der Kinder ihren getrennt lebenden Vater zu ihrer Familie; Väter rechnen ihre Kinder zu 91 zu ihrer Familie, auch wenn sie inzwischen eine neue Familie gegründet haben (Schmidt-Denter 2005). Dies unterstreicht die große emotionale Bedeutung, die auch bei einem getrennten Leben beide füreinander empfinden. In der Meta-Analyse von Amato (2001) wurde deutlich, dass eine positive Korrelation zwischen fortgesetzter Vater-Kind-Beziehung und dem kindlichen Wohlbefinden besteht.
Der »Sag-du-doch-mal-was!«-Vater Die Funktion des Vaters, zu einer Balance von Fürsorge und Autonomie beizutragen, ist besonders bei chronisch kranken Kindern und Jugendlichen notwendig. Fast immer führt der Ausbruch einer schweren chronischen Erkrankung dazu, dass sich das Kind oder der Jugendliche – entgegen der Entwicklungsaufgabe der zunehmenden Autonomie – wieder an die Mutter reattachiert. Dem Vater kommt dann im Besonderen die Aufgabe zu, den
213
7
»Körper für zwei« zu trennen und die Verselbstständigungsbemühungen des Jugendlichen, bezogen auf die Möglichkeiten in Abhängigkeit von der Art der Erkrankung, zu unterstützen. Unsere eigene Studie zeigt, dass Väter in Familien mit chronisch kranken Jugendlichen diese distinktive Rolle nicht erfüllen (Seiffge-Krenke et al. 2001a). Zunächst war auffällig, dass sich Väter nur zu 4 am Krankheitsmanagement beteiligten. Hinzu kam, dass die Väter auch sonst sehr viel distanter waren als die Väter von gesunden Jugendlichen und sehr viel weniger Engagement bei der Lösung familiärer Probleme zeigten. Bei der Bearbeitung einer gemeinsamen Familienaufgabe, dem Family Interaction Task (FIT), waren die Väter sehr uninvolviert und mussten vom Jugendlichen regelrecht zu einem Beitrag gezwungen werden (»Sag du doch mal was, Papa!«). Der »Sag-du-doch-mal-was!«-Papa 5 Merkmale: äußerst geringe Involviertheit in familiäre Probleme und Aufgaben 5 Wurde bislang in Familien mit chronisch kranken Jugendlichen gefunden, könnte aber auch in anderen Familien recht verbreitet sein
Auch die weitere inhaltliche Auswertung des Kommunikationsverhaltens zeigte, dass diese Väter keinen distinktiven Beitrag leisteten, indem sie sich weniger abgrenzten, weniger neue Impulse und Ideen einbrachten und weniger Ideen integrierten als Väter gesunder Jugendlicher. Ihr Verhalten erinnerte eher an eine »zweite Bemutterung«, wenn auch im Vergleich mit den Müttern auf deutlich niedrigerem Aktivitätsniveau. Wie in . Tab. 7.1 dargestellt, bemühen sich Väter gesunder Jugendlicher verstärkt um eine Gesprächsmoderation, in der sie alle Beteiligten einbeziehen und die Aufgabe bzw. Teilaspekte der Aufgabe wiederholt klären. Des Weiteren gehen sie sehr viel aktiver und auch kontroverser mit den Beiträgen ihrer Kinder um, indem sie einerseits auf deren Beiträge und Ideen eingehen und ihnen zustimmen, andererseits aber auch Vorschläge energisch ablehnen und unterbrechen. Dieses Kommunikationsverhalten ist besonders deutlich in Familien
214
1
Kapitel 7 · Väter: Notwendig, überflüssig oder sogar schädlich für die Entwicklung ihrer Kinder?
. Tab. 7.1. Unterschiede im Kommunikationsverhalten von Vätern gesunder und diabetischer Jugendlicher Umgang mit Vorschlägen des Jugendlichen
Väter gesunder Jugendlicher
Väter diabetischer Jugendlicher
T-Wert und Signifikanzniveau (p)
3
Ablehnung des Vorschlags des Jugendlichen
n
p
T = 2,68; p = .04
4
Eingehen auf den Jugendlichen und Nachfragen
Unterbrechung des Jugendlichen
n
p
T = 2,99; p = .03
Zustimmung für den Jugendlichen
n
p
T = 1,98; p = .07
Begründung des Beitrags
n
p
T = 1,88; p = .05
8
Weiterentwicklung eigener Vorschläge
n
p
Einbringen von Lösungsvorschlägen
n
p
9
Meinungsäußerungen
n
p
T = 3,71; p < .01
n
p
T = 4,71; p < .01
Anzahl von irrelevanten Lösungsvorschlägen
n
p
T = 2,47; p = .04
Alternative Lösungsvorschläge
n
p
T = 1,98; p = .05
Zusammenfassung der Beiträge
n
p
T = 1,76; p = .08
Klärung der Aufgabenstellung in puncto Geld
n
p
T = 2,86; p < .001
Klärung der Aufgabenstellung
n
p
T = 2,39; p = .02
2 Aufforderung des Jugendlichen
Finanzielle Limitierung des Jugendlichen
5 6 7
Anregung des Jugendlichen zur Anstrengung Eigene Kommunikationsbeiträge
Einbringen undifferenzierter Lösungsvorschläge
10
Wiederholung relevanter Lösungsvorschläge Wiederholung undifferenzierter Lösungsvorschläge
11 12 13 14
Anzahl undifferenzierter Lösungsvorschläge Anzahl von Gesprächsbeiträgen Anzahl von Lösungsvorschlägen
Gesprächsmoderation Häufigkeit der Gesprächsmoderation
15 16 57 18 19 20
mit gesunden Söhnen, in denen Väter und Söhne den größten Anteil an der Kommunikation haben, während die Mutter deutlich zurücktritt. Sie handeln eine gemeinsame Lösung energisch und zielbezogen aus; positive wie negative Rückmeldungen auf die Beiträge anderer sowie die Äußerung eigener Wünsche halten sich die Waage. Demgegenüber fallen die eigenen Kommunikationsbeiträge von Vätern diabetischer Jugendlicher
äußerst gering aus. Sie bringen signifikant weniger Vorschläge und Meinungen in die Diskussion ein. Bei insgesamt geringer kommunikativer Aktivität und Eigeninitiative tun sie demnach wenig, um den Jugendlichen zu unterstützen und den Lösungsprozess durch eigene Ideen oder durch Gesprächsmoderation voranzubringen. Das folgende Beispiel zeigt das äußerst geringe Engagement eines Vaters sowie die erheblichen Anstrengungen des erkrank-
215
7.7 Verschiedene Typen von Vätern
ten 15-jährigen Jugendlichen, ihn in die Lösung einzubeziehen (Seiffge-Krenke 2001f). Die Familienaufgabe (FIT) bestand darin, eine dreiwöchige gemeinsame Reise bei unbegrenzten finanziellen Mitteln zu planen:
5 5
Beispiel Planung einer gemeinsamen Reise 5 Christian: Nun, okay. Lasst uns nach Amerika fahren. Was haltet Ihr von San Diego? Oh, warte mal, das ist ja Kalifornien! Ja! Lasst uns nach San Diego gehen! Was hältst du davon, Papa? 5 Mutter: Es wäre besser, wir würden Winterferien machen. 5 Christian: Nein, nein, San Diego ist cool! 5 Mutter: Eine Woche Wintersport alle zusammen … 5 Christian: Gut, aber auch eine Woche San Diego. 5 Mutter: Nein. 5 Christian: Ach komm, wir haben doch genug Geld! Lass uns nach San Diego, wir nehmen Benny mit! Ja, danach können wir immer noch Wintersport machen. 5 Mutter: Nein, wir nehmen uns ein nettes Hotel in den Bergen, wo wir Ski fahren können. 5 Christian: Aber das können wir doch immer tun! 5 Mutter: Nein! 5 Christian: Ja! 5 Mutter: Nein, ich will nicht nach San Diego! 5 Christian: Warum sagst du nichts, Papa? Du musst doch schließlich für das Ganze zahlen! 5 Vater: Ich kann wirklich nichts dazu sagen. 5 Christian: Warum nicht? 5 Vater: Warum soll ich etwas planen? 5 Christian: Mann, du hast überhaupt keine Phantasie. Du bist richtig unkreativ! Ich denke, wir sollten nach San Diego gehen, schließlich und endlich für eine Woche … 5 Mutter: Nein, wir gehen eine Woche Ski laufen, und im Sommer fahren wir für zwei Wochen nach Mallorca. 5 Christian: San Diego! 5 Mutter: Einfach nur in der Sonne herumliegen und faul am Strand … 5 Christian: Nein, nein, San Diego, San Diego! Ich denke, San Diego ist absolut cool. Komm, denk mal drüber nach. Gib dir einen Ruck! Wir können alles Geld dazu benutzen, was wir haben. 5 Mutter: Nein. 5 Christian: Natürlich. Ich denke, wir sollten alle nach Kalifornien gehen, nach San Diego. Aber auch ei-
5
5 5 5
5 5 5 5 5 5 5
7
ne Polarexpedition wäre gar nicht so schlecht. Na ja, vielleicht ein bisschen ungewöhnlich, aber interessant … Mutter: Ich glaube, jetzt fängst du wirklich an zu spinnen. Christian: Ja, oder stell dir mal vor, der tropische Regenwald, etwas, was wir noch nie gemacht haben. Also … Mutter: Ich denke nicht, dass das irgendwie witzig ist … Ich finde, wir sollten das machen, was wir immer gemacht haben. Wir sollten für eine Woche in den Wintersport fahren. Jetzt während der Osterferien. Christian: Nein. Mutter: Eine nette Woche in der Skischule … Christian: Wird etwa meine fette Schwester mitfahren? Na ja, Snowboard fahren wäre nicht schlecht. Okay, aber ich bin mir wirklich nicht sicher darüber. San Diego ist wirklich cool und ganz ungewöhnlich. Ich weiß wirklich nicht. Sag du doch endlich mal etwas, Papa! Vater: Ich kann wirklich nichts dazu sagen. Ich kann nur etwas über unsere letzten Ferien sagen. Mutter: Ja. Christian: Das letzte Mal war Lisa mit uns zusammen. Vater: Ich war in den Ferien mit deiner Mutter, du warst nicht dabei! Mutter: Ja, wir könnten auch ohne dich gehen. Vater: Eigentlich waren alle Ferien schön. Christian: Okay. Okay, wir haben entschieden, dass wir dieses Jahr Winterferien machen. Wir werden eine nette Zeit haben. Ich werde Snowboard fahren, meine Mutter und mein Vater werden traumhaft auf ihren Skiern herumfahren. Kurz: Wir werden eine nette Zeit haben (lacht). Okay?
Väter in Familien mit diabetischen Jugendlichen beteiligen sich demnach nur sehr wenig am Gespräch, das Mutter und Jugendlicher dominieren. Sie üben zudem auch keine distinktive Funktion aus und geben lediglich sehr vorsichtige und unspezifische Kommentare ab, die eher eine Atmosphäre der Übereinstimmung schaffen. Auf der Ebene der beobachteten familiären Kommunikation wird deutlich, dass Väter diabetischer Jugendlicher zu passiv und defensiv sind und der starken Mutter-Kind-Dyade nichts entgegensetzen (Seiffge-Krenke 2001f).
216
Kapitel 7 · Väter: Notwendig, überflüssig oder sogar schädlich für die Entwicklung ihrer Kinder?
5
In Familien mit gesunden Jugendlichen hat der Vater dagegen eine sehr aktive Rolle bei der familiären Kommunikation. Er spart nicht mit Lob und Kritik, bringt aber auch eigene Wünsche unmissverständlich und klar vor. Ein energisches Aushandeln der Lösung, v. a. zwischen Vätern und Kindern ist deutlich, während die Mütter eher in den Hintergrund treten. Diese Beobachtungen in Familien mit gesunden Jugendlichen werden durch die Arbeit von Hofer (2003) bestätigt, der vom »Selbstständig werden im Gespräch« spricht.
6
7.8
1 2 3 4
7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 57 18 19 20
Väter und Psychopathologie ihrer Kinder
Die distinktive Funktion des Vaters lässt sich auch in der Forschung über pathologische Vater-KindBeziehungen nachweisen. In Bezug auf die Töchter standen sexuelle Aspekte, verdeutlicht in der Missbrauchsforschung, im Vordergrund; in Bezug auf die Söhne standen aggressive Aspekte im Vordergrund, wie die Forschung zu Gewalt in Familien zeigt (Richter-Appelt 1997; Endres u. Biermann 1998). Auf diese sehr umfangreiche Forschung kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Es sollen aber einige Tendenzen kurz skizziert werden. Aggression spielt in der Forschung zur Weitergabe von Gewalt bei männlichen Familienmitgliedern eine besondere Rolle (Spatz Widom 1989). Dabei beschäftigte man sich bevorzugt mit der Frage, ob aus Söhnen als Opfern väterlicher Gewalt selbst wieder Täter werden, konkretisiert an der Violence-begets-violence-Hypothese. Erwartungsgemäß kam es zu einer massiven transgenerationalen Weitergabe von Aggression (in 70 der Fälle). Erstaunlicherweise fand man aber zu 30 Söhne, die trotz erheblicher Gewalt, die sie als Kind mit ansehen mussten, nicht selbst zum Täter wurden. Die Auswirkungen traumatisierender Erfahrungen wie sexualisierter Gewalt gegenüber Töch-
tern sind in der Missbrauchsforschung belegt (vgl. Egle et al. 2000). Ein Missbrauch durch den eigenen Vater führt zu sehr hohen Raten von psychopathologischen Symptomen (Beck u. Krause 2005). Bezeichnend ist ferner, dass missbrauchende Väter gerade nicht in die alltäglichen körperbezogenen Aktivitäten involviert sind, die für normale Väter so charakteristisch sind. Sie fokussieren praktisch ausschließlich und in pathologischer Weise auf das Geschlecht des Kindes (Amann u. Wipplinger 1998). Ähnliche Befunde berichtet Gruber (1998) in seiner Untersuchung der Interaktionsmuster im freien Spiel bei Vätern aus Familien mit Misshandlungsproblematik und Kontrollfamilien. Die väterliche Feinfühligkeit differenzierte zwischen Vätern mit Misshandlungserfahrung und unbelasteten Vätern. In den Familien mit Misshandlungsproblematik wies die Hälfte der Väter ein ungeübtes, distanziertes und ablehnendes Verhalten gegenüber ihren Kindern auf. Wenn man von den Aspekten Gewalt und sexualisierte Gewalt einmal absieht, ist die Rolle von Vätern bei der Entwicklung von psychischen Störungen ihrer Kinder bislang kaum untersucht worden. Phares und Compas (1992) analysierten in ihrer Meta-Analyse 577 empirische Studien, die im Zeitraum von 1984 bis 1991 zum Thema »Entwicklung von Störungen bei Kindern und Jugendlichen« erschienen, und kamen zu dem Schluss, dass in 48 nur die Mutter und in 1 nur der Vater einbezogen wurde, während in 26 unspezifisch vom Beitrag der »Eltern« die Rede ist, was den Verdacht nahe legt, dass nur die Mütter untersucht wurde. Für die Autoren ist das ein klarer Beleg für das »mother blaming«, also die Tatsache, dass die Mutter für die psychischen Probleme ihrer Kinder allein verantwortlich gemacht werden, während gleichzeitig die möglichen Beiträge von Vätern eher ignoriert werden. Die wenigen Studien, die den Vater einbezogen haben, zeigen in der Tat deutliche Effekte:
7.9 Väter in psychotherapeutischen Behandlungen
Väter und Störungen ihrer Kinder 5 Väter tragen sehr wohl zur Symptombelastung ihrer Kinder bei. Auch hier lässt sich wiederum eine distinktive Funktion nachweisen: Es bestehen engere Beziehungen zwischen der Störung der Väter und externalisierenden Störungen ihrer Kinder (wie Delinquenz, Aggression und antisoziales Verhalten) als zu internalisierenden Störungen ihrer Kinder (wie Depression und Ängstlichkeit). 5 Studien an alkoholkranken, drogenabhängigen, schizophrenen oder depressiven Vätern haben eindrucksvoll belegt, dass deren Kinder ein erhöhtes Risiko tragen, selbst psychisch zu erkranken. 5 Väter erfüllten häufig eine wichtige positive Funktion, oft sogar eine Puffer-Funktion, z. B. wenn die Mütter depressiv waren (Tannenbaum u. Forehand 1994).
Väter als »Risikofaktor« Mit Ausnahme von traumatisierenden Erfahrungen wie Missbrauch und Gewalt werden Väter nur sehr selten einbezogen, wenn es um die psychopathologische Auffälligkeit ihrer Kinder geht. Die ätiologische Forschung konzentriert sich ganz auf die Mutter (»mother blaming«). In den wenigen Studien, die Väter einbeziehen, zeigt sich, dass psychisch kranke Väter – ähnlich wie psychisch kranke Mütter – ein Risiko für ihr Kind darstellen, selbst krank zu werden. Diese Effekte sind in Bezug auf externalisierende Störungen deutlicher als in Bezug auf internalisierende Störungen.
7.9
Väter in psychotherapeutischen Behandlungen: »Make room for daddy!«
In der psychotherapeutischen Literatur findet man bei Fallberichten häufig Ausführungen über die Beziehung der Patienten zu ihren Vätern. Das
7
217
war schon historisch so – man denke nur etwa an Anna O.s Ambivalenz gegenüber ihrem pflegebedürftigen Vater (1895), Doras Symptome, bedingt durch die Untreue ihres Vaters (1905), oder den Vater vom Kleinen Hans (1909) oder den vom Wolfsmann (1918). Auch heute noch finden wir in zahlreichen Fallberichten Ausführungen über die Väter der Patienten. Allerdings ist das Vater-Thema in der Theorienbildung sehr wenig beachtet worden und in den Arbeiten früherer und gegenwärtiger Vertreter der psychoanalytischen Theorie deutlich unterpräsentiert. So weist Aigner (2001) nach, dass der Vater in Schriften wie denen von Winnicott und Spitz fast gar nicht vorkommt und bei Horney und Deutsch nur am Rande erwähnt wird. Wie ist dieses spezifische Defizit zu erklären? Der Vater bei »Vater Freud« Aigner (2001) postuliert, dass Freuds Position zur Väterlichkeit und zur Rolle des Vaters vor dem Hintergrund seiner eigenen Vatergeschichte gesehen werden muss. Darüber ist viel biographisches Material gesichtet und beschrieben worden (z. B. Krüll 1992). Freud hatte eine durch große Zuneigung, Respekt und Achtung geprägte Beziehung zu seinem Vater (. Abb. 7.13). Jakob Freud andererseits bewies sehr viel Zuversicht und Toleranz, nicht nur, was die ungewöhnlich lange Studiendauer des ausgezeichneten Studenten anging (Sigmund Freud war mehr Forscher als braver Student), sondern auch in Bezug auf seine damals sicher sehr ungewöhnliche Berufswahl, einschließlich diverser Weiterbildungen (z. B. bei Charcot in Hypnose). Dies führte u. a. dazu, dass Freud relativ lange brauchte, bis er finanziell unabhängig wurde und heiraten konnte. Angesichts des Todes seines Vaters Jakob Freud, zu dem er, wie erwähnt, eine sehr intensive Beziehung hatte, kam es zu ambivalenten brieflichen Äußerungen Freuds, in denen er sich zunächst wenig vom Tod seines Vaters betroffen zeigte. Dann aber schrieb er wenig später:
6
218
1 2 3 4 5 6
Kapitel 7 · Väter: Notwendig, überflüssig oder sogar schädlich für die Entwicklung ihrer Kinder?
(…) hat mich die Nachricht vom Tod des Alten sehr ergriffen. Ich hatte ihn sehr geschätzt, sehr genau verstanden, und er hatte viel in meinem Leben gemacht, mit der ihm eigenen Mischung aus tiefer Weisheit und phantastisch leichtem Sinn. (Freud 1985, S. 212)
Der Tod des Vaters ist für Freud Anlass für einige Veränderungen und Neukonzeptualierungen in der Psychoanalyse. So gibt er, wie Krüll (1992) belegt, die Verführungstheorie auf. In seiner »Traumdeutung« 1900 bestätigt er den Zusammenhang zwischen Vaterverlust und Selbstanalyse.
7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 57 18 19 20
Väter von Patienten . Abb. 7.13. Freud mit seinem Vater Jakob Freud
Väter von Patienten weisen bestimmte Eigentümlichkeiten auf. Sie werden in der Regel als sehr fern, unnahbar (Aigner 2001) oder gar nicht vorhanden beschrieben. In der Tat leben erwachsene Patienten, aber auch Kinder und Jugendliche, die in Beratungsstellen, psychotherapeutischen Praxen und psychiatrischen bzw. psychotherapeutischen Kliniken vorgestellt werden, viel häufiger von ihren Vätern getrennt als ihre »unauffälligen« Altersgenossen. Von Klitzing (1988) berichtet aus der Psychiatrischen Universitätsklinik Basel, dass statistisch gesehen 87 der Kinder in der Schweiz mit beiden Eltern aufwachsen, während dies nur bei 55 ihrer kleinen Patienten der Fall war. Ähnliche Zahlen finden sich bei Esser (2002). Es sieht zunächst so aus, als ob »Vaterlosigkeit« eine ätiologische Bedeutung für die Störung hat, die ein Kind in die Behandlung führt. Hinter der Abwesenheit des Vaters können sich allerdings weitere Belastungen und Stressoren wie geringes Einkommen, zu enge Wohnverhältnisse, mangelnde Betreuung der Kinder bei Berufstätigkeit der Mutter, Streit und Auseinandersetzungen zwischen den Eltern etc. verbergen. Waren Väter früher mehr präsent? Wenn man Patienten der Nachkriegsgeneration behandelt, so ist auffällig, dass »Vaterlosigkeit« auch bei ihnen sehr häufig war. Seit Mitscherlichs »Vaterloser Gesellschaft« (1973) wird das Verschwinden der
Instanz des Vaters als bedeutsame positive Person im Sozialisationsprozess beklagt. Radebold (2000) beschreibt die beschädigte Entwicklung der Nachkriegskinder, die sich mit der Abwesenheit, dem Tod der Väter auseinandersetzen mussten. Auch wenn die Väter aus dem Krieg zurückkehrten, waren sie beschädigt, verändert und häufig Fremde für das Kind. Dies stellt der Film »Das Wunder von Bern« eindrucksvoll dar. Die Identitätsentwicklung dieser Nachkriegsgeneration war nachhaltig beeinträchtigt. Wesentliches Beschreibungsmerkmal der Väter von Patienten ist demnach ihre reale oder psychische Abwesenheit. Des Weiteren werden Väter von Patienten häufig als schwach und unfähig gegenüber einer starken, dominanten Mutter erlebt (Gunsberg 1989). Auch Schilderungen über missbrauchende und Gewalt ausübende Väter sind häufig (Schon 2000; Grieser 1998; Aigner 2001). Die aggressive Thematik ist v. a. bei Jugendlichen mit rechtsextremem Hintergrund und bei männlichen Patienten immer wieder im Vordergrund und bestimmt über weite Strecken die analytische Arbeit. Destruktivität, Hass und mörderische Impulse müssen aufgearbeitet werden. Dass Patienten aber oftmals nicht nur pathologische und krank machende Erfahrungen, sondern wohl auch positive, die Entwicklung stimu-
7.9 Väter in psychotherapeutischen Behandlungen
lierende Erfahrungen mit ihren Vätern gesammelt haben, fällt oftmals schwer zu sehen. Das folgende Beispiel stammt aus der Analyse einer Patientin, die wegen sexueller Probleme und Depressionen in die Behandlung kam. Beispiel Der unbekannte »normale« Vater Sidonies Mutter hatte den Vater als junges Mädchen kennen gelernt und sich in den gut aussehenden, stadtbekannten Casanova verliebt. Sie wurde, selbst noch sehr jung, von ihm schwanger. Das Klima in dem Haus, in dem die Patientin aufwuchs, war sehr stark von den beiden Frauen der mütterlichen Linie geprägt. Die Großmutter baute nach Auskünften der Patientin das Haus, fuhr Motorrad und war äußerst selbstständig. Ihren eigenen Mann hat sie schon früh aus dem Haus getrieben. Die Ehe der Eltern war anfangs sehr glücklich, und nach Sidonies Geburt wurden in schneller Folge drei weitere Töchter geboren. Sidonie erlebte ihren Vater »als Retter«, was bereits auf dem Hochzeitsbild der Eltern deutlich wurde. Hier trug der Vater einen Gips, denn er hatte die stürzende, schwangere Mutter aufgefangen und so nicht nur sie, sondern auch die Patientin »gerettet« (s. S. 104). Sidonie hat viele gute, körperbezogene Erinnerungen an ihren Vater. Sie erinnert sich noch sehr gut daran, wie gut er roch und dass er so »ein Hardy-Krüger-Typ« gewesen war: schön, blond und sehr sportlich. Er hätte sich ihr sehr intensiv zugewandt und viele körperbezogene Aktivitäten (Wandern, Spiele, Sport) mit ihr unternommen. Es sei für sie daher sehr schockierend gewesen, dass er sich später der nächstfolgenden Schwester zugewandt und »kein Auge« mehr für sie gehabt habe. Erst zu Beginn der Pubertät hätte sie seine Aufmerksamkeit wieder erringen können – durch die Tatsache, dass sie eine gute Schwimmerin war. Sie seien dann oft gemeinsam schwimmen gegangen. In der Anfangszeit der Analyse träumte die Patientin sehr viel von ihrem Vater und ihren gemeinsamen Aktivitäten. Später sei das Bild des strahlenden Retters dann für sie zusammengebrochen, als die Mutter Pornohefte unter dem Bett des Vaters fand und der Vater wechselnde Freundinnen, teilweise im Alter der ältesten Tochter, gehabt habe. Die Mutter habe insbesondere sie, die älteste Tochter, massiv in das Scheidungsverfahren der Eltern einbezogen und als Kronzeugin gegen den Vater benutzt. Der Vater habe sich dann von der Familie getrennt, sei fortgezogen und lebe nun allein und einsam in einer anderen Stadt.
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Über weite Strecken der Analyse beschäftigte sich die Patientin mit ihrer ambivalenten, hochaggressiven Beziehung zu ihrer Mutter und der auf vielen Ebenen erlebten Verführung durch den Vater. In der Übertragungskonstellation oszilliert sie zwischen Vater- und Mutterübertragung und scheint sich auf keines der elterlichen Liebesobjekte richtig einlassen zu können. Zu groß ist die Gefahr, von der »bösen Mutter« vereinnahmt oder vom »verführerischen, aber abwesenden Vater« allein gelassen zu werden. Nach der Bearbeitung der negativen Mutterübertragung ist die Patientin im letzten Abschnitt der Analyse auf der »Suche nach dem Vater«, um wesentliche und bereichernde Aspekte des Vaterbildes in ihre Identität zu integrieren. Anlässlich eines Treffens mit ihrem Vater, den sie seit Jahren nicht gesehen hat, wird deutlich, wie lückenhaft ihr Bild von ihm ist und dass die Stereotypisierung als »perverses Schwein, das Freundinnen in meinem Alter hat«, eine Sichtweise ist, die sie von ihrer dominanten Mutter übernommen hatte. Über ihren wirklichen Vater weiß sie sehr wenig. Sein in Kürze vorgesehener Besuch stürzt sie in große Unsicherheit (»Was soll ich ihm zu trinken vorsetzen? Kaffee? Tee? Wasser? Wein? Bier? Was möchte er essen? Hilfe!«). Ich biete ihr Schutz und Unterstützung bei der Annäherung an den realen Vater an.
Typische Behandlungsprobleme In der psychotherapeutischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen ist für die begleitende Elternarbeit ein regelmäßiges Treffen von Therapeuten und Eltern vorgesehen. Es ist oft schwierig, Väter für diese begleitende Elternarbeit zu motivieren (Seiffge-Krenke 2007a). Oft werden die Väter auch von den Müttern und/oder den Kindern bewusst ausgegrenzt. Diese Spaltung kann dazu führen, dass im weiteren Verlauf der Therapie des Kindes oder Jugendlichen Wesentliches ausgegrenzt wird, symbiotisch verschmolzene Beziehungen erhalten bleiben und es nicht zu einer Weiterentwicklung im Sinne einer Verselbstständigung und Triangulierung kommt. Die Beziehung zwischen Therapeut und Vater in der begleitenden Elternarbeit kann andererseits zu Übertragungs-/Gegenübertragungsverstrickungen führen, die in einem Behandlungsabbruch enden (Diez Grieser 2002). Die Annäherung an den realen Vater fällt vielen Patienten schwer – nicht nur wegen der realen oder erlebten Abwesenheit oder der spezifischen
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Kapitel 7 · Väter: Notwendig, überflüssig oder sogar schädlich für die Entwicklung ihrer Kinder?
Pathologie des Vaters. Idealisierungen müssen wahrgenommen und bearbeitet, Überidentifizierungen abgebaut werden. Wir hatten schon anlässlich der Darstellung von Vätern in »normalen« Familien gesehen, dass die väterlichen Herausforderungen im Umgang mit Söhnen andere sind als mit Töchtern, obgleich er bei beiden Geschlechtern die motorische Aktivität stark fördert und die Autonomie energisch unterstützt. Es scheint für den Vater besonders schwer auszuhalten zu sein, wenn der Sohn sich nicht als »Spiegel des Vaters« erweist, wenn also statt Ähnlichkeit Differenz deutlich wird. Bei Töchtern ist es für ihn dagegen leicht und angenehm, deren Verschiedenheit herauszuarbeiten und ihre Weiblichkeit zu betonen. Zu große Ähnlichkeit ist nicht nur schmeichelhaft, sondern auch irritierend. So sehr intellektuelle und kreative Töchter von der Identifikation mit ihren brillanten Vätern profitieren, kann dies für Töchter zu einem »dangerous pathway« (Balsam 1989) werden. Frieka Happel (1996) hat den positiven Austausch mit dem Vater als entscheidenden Faktor für die Entwicklung weiblicher Identität und Eigenständigkeit hervorgehoben und auch seinen starken Einfluss auf die heterosexuelle Beziehungsfähigkeit seiner Tochter dargestellt. Bereits Benjamin (1993) und Chasseguet-Smirgel (1975) hatten in früheren Arbeiten als Motivation zur Hinwendung an den Vater den Wunsch nach Ermutigung im Streben nach Autonomie und narzisstischer Bestätigung der Weiblichkeit herausgearbeitet. Die zu große körperliche Nähe zwischen Vater und Tochter in der Kindheit birgt allerdings, wie beschrieben, die Gefahr einer Fixierung in sich. Es ist eine ganz spezifische Ausgewogenheit im Grad von Nähe und Distanz zwischen Vater und Tochter notwendig, wobei die Mutter hier der ausgleichende Faktor ist. Verena Kast (1984) spricht von der unbewussten erotischen Anziehung des Vaters, die das Mädchen gleichzeitig fasziniert und abstößt. Diese emotionale Verstrickung zwischen Vater und Tochter ist nach Hirsch (1987) ubiquitär und Ursache des – wie er es nennt – unbewussten Inzests.
Für die Auflösung dieser spezifischen Dynamik ist es wichtig, dass der Vater über eine Haltung kontrollierter Erotik (Stoller 1978) verfügt – körperliche Nähe zulassen, aber Grenzen setzen – und zur gleichzeitigen Identifikation mit der Mutter anregt. Es darf nicht zu einer zu starken Identifizierung mit dem Vater oder gar einer Idealisierung des Vaters kommen. Dann wäre das Mädchen gefangen in der kindlichen Identifikation mit dem Vater, und es bestünde die Gefahr der »Penisprotetik«: das Mädchen als narzisstische Verlängerung des Vaters. Entscheidendes Hindernis ist hier der besitzergreifende, unreife Vater, der die Ablösung der Tochter nicht zulassen kann. Wieland Machleidt (1992) hat anschaulich die verschiedenen Stadien in einer Psychoanalyse beschrieben, die seine Patientin Beate auf dem Weg zu einer autonomen Tochter in einer individuierten Beziehung durchschritt. Besonders eindrucksvoll ist die aggressive VaterTochter-Auseinandersetzung (»die geharnischte Tochter«) in Übertragung und Gegenübertragung. Die von Blos (1990) beschriebene Vater-SohnBeziehung von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter mit ihren spezifischen Verhaltensweisen des dyadischen und triadischen Vaters hat auch in therapeutischen Behandlungen Geltung. So können die väterlich-fürsorgliche Haltung des frühen Vaters und seine Betonung des Körpers des Sohnes bei gleichzeitiger Fokussierung auf Gleichheit bzw. Ähnlichkeit in der Adoleszenz besondere Probleme aufwerfen. Benjamin (1993) spricht von homoerotischer Identifizierungsliebe des Sohnes für den Vater, was auch umgekehrt gilt. Die Bedeutung des Scheideweges in der Ödipussage ist ein Hinweis darauf, dass es bei aller Ähnlichkeit auch um Toleranz der Differenz und um das Vorhandensein eines dritten Objektes, der Mutter, geht. Wesentliche Hindernisse auf diesem neu zu beschreitenden Weg sind, neben einer Überidentifizierung, die negativen Gefühle des Vaters wie Eifersucht und Neid gegenüber dem Sohn, die in vielen analytischen Schriften belegt sind.
221
7.9 Väter in psychotherapeutischen Behandlungen
In den letzten Jahren werden die Enttäuschung über den Vater, sein Fehlen, als Leerstelle in der psychischen Entwicklung und die Sehnsucht nach ihm aufgearbeitet (Aigner 2001; Schon 2000). Dabei werden die reale oder erlebte Abwesenheit und die dadurch angeregte Phantasienbildung über den Vater als großes Hindernis in der Annäherung an den realen Vater erkannt (Grieser 1998). Oft ist es für Patienten entscheidend, wie gut die Mutter in der Lage war, das Bild des Vaters für das Kind zu erhalten. Aigner (2001) zeigt auf, wie in manchen dieser Rumpffamilien während der Abwesenheit des Vaters sein Platz beim Essen immer mit gedeckt war, was die Kinder nachhaltig ängstigte und irritierte. Man sollte nicht von einem »mother blaming« in ein »father blaming« verfallen, wie etwa Kreckel in dem 1997 publizierten Buch »Macht der Väter – Krankheit der Söhne«, sondern die positive, entwicklungsfördernde Funktion von Vätern herausarbeiten. In diesem Sinne wäre der Forderung von Phares und Compas (1992, S. 387) zuzustimmen: »Make room for daddy!« Diese Forderung ist auch im psychotherapeutischen Umgang mit Patienten zu unterstreichen, die bislang sehr stark von einem negativen Bild des Vaters geprägt war. Den pathologischen und krank machenden Erfahrungen mit ihren Vätern stehen aber immer auch positive, die Entwicklung stimulierende Erfahrungen gegenüber. Es wäre wünschenswert, wenn diese Funktionen – im Sinne einer Ressourcenförderung – in Psychotherapien stärkere Beachtung fänden. Ansätze, die den Vater stärker in die Eltern-Kleinkind-Psychotherapie integrieren, sind bereits zu erkennen (Barrows 2000; von Klitzing 1998).
Fazit 5 Nachdem die Vaterforschung lange Zeit an einer Defizithypothese orientiert war und die Ähnlichkeit zwischen dem Verhalten von Vätern und Müttern zu belegen versuchte, verdeutlichen empirische Studien der letzten Jahre zunehmend eine besondere, distinktive Funktion von Vätern für die Entwicklung ihrer Kinder. Sie bezieht sich auf die Bedeutung motorischer und spielerischer Aktivitäten, die Akzentuierung des Geschlechts und die Unterstützung der Verselbstständigung des Kindes, die sich in empirischen Studien vom Babybis zum Jugendalter kontinuierlich im Verhalten von Vätern nachweisen lassen. 5 Auch historisch lassen sich zahlreiche Hinweise für die Bedeutung des Körpers des Kindes und insbesondere seines Geschlechts für den Vater finden. 5 Die besondere Qualität des Umgangs von Vätern mit Söhnen im Vergleich zu Töchtern wird über die Attribute Ähnlichkeit (»der Sohn als Spiegel«) und Differenz beschrieben. 5 Die distinktive Rolle des Vaters in Bezug auf Söhne und Töchter lässt sich auch in pathologischen Vater-Kind-Beziehungen nachweisen; allerdings wird die kompensatorische, stützende Funktion des Vaters bei dysfunktionellen Müttern häufig übersehen. 5 Eine differentielle Sichtweise betrachtet unterschiedliche Typen von Vätern.
7
8 Geschwisterbeziehungen zwischen Verbundenheit und Individuation 8.1
Geschwister: Ein vergessener Beitrag zur Beziehungsentwicklung und Psychotherapie
– 224
8.2
Mit Geschwistern aufwachsen: Realität und Phantasie – 225
8.3
Einflüsse von Alter, Altersabstand und Geschlecht der Geschwister – 227
8.4
Bedeutung und Funktion von Geschwistern im Familienverband – 228
8.5
Unterschiede zwischen Geschwistern: Die Nischenspezialisierung – 230
8.6
Krankheit des Geschwisters: Ein Risikofaktor? – 233
8.7
Veränderungen der Geschwisterbeziehungen über die Lebensspanne – 236
8.8
Unterschiedliche Rollen und Funktionen von Geschwisterbeziehungen – 238
8.9
Ursachen für die vernachlässigte Geschwisterbeziehung in Psychotherapien – 247
224
Kapitel 8 · Geschwisterbeziehungen zwischen Verbundenheit und Individuation
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1
Geschwisterbeziehungen sind komplex, weil sie sowohl durch vertikale Beziehungen zu beiden Eltern als auch durch horizontale Beziehungen zueinander gestaltet sind. Diese horizontale Perspektive stand bislang ganz im Schatten der vertikalen Beziehungen, und zwar sowohl in der Forschung als auch in der Psychotherapie. Der Entwicklungsgewinn, die Entwicklungschance des Aufwachsens mit Geschwistern wurde kaum gesehen und genutzt. Bestenfalls beschäftigte man sich mit eher negativen Aspekten von Geschwisterbeziehungen wie Neid und Rivalität. Die Beziehungen von Geschwistern zueinander können sehr vielschichtig sein. Sie sind untrennbar mit der Funktion von Geschwistern im Familienverband verbunden und abhängig von der Art und Weise, wie Eltern mit ihren Kindern umgehen. Zu wenig wurde bislang auch wahrgenommen, wie sehr Geschwister wiederum das Verhalten ihrer Eltern beeinflussen und dass die Verschiedenheit von Geschwistern eine aktive und kreative Anpassungsleistung zur Schaffung einer eigenständigen Identität ist. In verschiedenen Lebensphasen müssen Geschwister in ihrem Verhältnis zueinander zu einer unterschiedlichen Balance von Verbundenheit und Individuation finden.
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8.1
Geschwister: Ein vergessener Beitrag zur Beziehungsentwicklung und Psychotherapie
Die Bedeutung von Geschwisterbeziehungen wurde bislang sowohl in der Forschung als auch in der Psychotherapie sehr unterschätzt. Geschwisterbeziehungen gehören zweifellos zu den intensivsten und den am längsten fortdauernden zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie bleiben von der Geburt bis zum Tod eines Geschwisters bestehen (Cicirelli 1995), und aufgrund des geringeren Altersabstands und des frühen Bestehens der Beziehung währen sie länger als andere enge Beziehungen, wie etwa Eltern-Kind-Beziehungen oder Partnerbeziehungen. Definition Die Geschwisterbeziehung ist ein Beziehungstypus besonderer Art, da sie in der Regel die am längsten währende, unaufkündbare und annähernd egalitäre menschliche Beziehung ist, die auf einer gemeinsamen Vergangenheit beruht.
Trotz dieser offenkundigen Bedeutung sind Geschwisterbeziehungen nicht sehr häufig Gegenstand empirischer Untersuchungen in der Entwicklungspsychologie und der Familienforschung gewesen. Seit etwa zwei Dekaden gibt es Untersuchungen zu Geschwisterbeziehungen in der Entwicklungspsychologie. Einer der führenden Forscher auf diesem Gebiet, Furman (1995), nennt in seinem Überblicksbeitrag 1500 Studien zu Geschwisterbeziehungen; diese gehen jedoch bei einem Prozentsatz von 7 in der Gesamtanzahl der Publikationen, die im gleichen Zeitraum über Kinder, Jugendliche und Familien erschienen, regelrecht unter. Damit teilen Geschwister ihr Schicksal mit Vätern, die auch nur sehr selten untersucht wurden (Seiffge-Krenke 2001c). Eine Konzentration auf die Mutter ist sehr auffallend, auch in der Familienforschung, der Familientherapie und der Familiendiagnostik (Cierpka 2003). Dieser Fokus auf die Mutter bzw. die Eltern verhinderte allerdings eine angemessene Konzeptualisierung und ein Verständnis dessen, was Geschwister füreinander und für den Familienverband bedeuten. Während für die unzureichende Berücksichtigung des Vaters in der entwicklungspsychologischen und Familienforschung sowie der Psychotherapie gerne die »Ferne des Vaters«
8.2 Mit Geschwistern aufwachsen: Realität und Phantasie
bemüht wird (Aigner 2001), kann dieses Argument für Geschwister nicht gelten: Geschwister teilen den Alltag miteinander und sehen einander – zumindest bis zum Jugendalter – sehr häufig. An diesem Defizit scheint sich nur sehr zögernd etwas zu ändern – ein Hinweis darauf, wie schwer es uns als Wissenschaftlern und Psychotherapeuten fällt, von den Eltern als Protagonisten einmal abzusehen und die wesentlichen Lernprozesse und Erfahrungen aus den Geschwisterbeziehungen anzuerkennen. Auch in der Psychotherapie war man lange Zeit an einer vertikalen Familiendynamik orientiert – Sohni (1999, S. 7) spricht von einem regelrechten »Tabu der Geschwisterbeziehung in der Psychoanalyse« – und beschäftigt sich erst seit jüngster Zeit mit der Bedeutung von Geschwistern (Wellendorf 1995). Dabei werden besonders das Geschwistersubsystem und die Verschiedenartigkeit von Geschwistern betont. Der »vergessene Beitrag« von Geschwistern als Entwicklungschance für das Individuum und die Familie soll im Folgenden herausgearbeitet werden, aber es soll auch die horizontale Perspektive in der Psychotherapie unterstrichen werden. Geschwisterbeziehungen können unerhört vielschichtig sein, was bislang kaum konzeptualisiert wurde, sie können von ganz unterschiedlicher Bedeutung und Qualität sein, und sie sind schließlich, im Verlauf eines Lebens, Veränderungen unterworfen. Ein Perspektivenwechsel in der Forschung und ein verändertes Selbstverständnis in der Psychotherapie könnten uns den Blick auf dieses wichtige Feld eröffnen.
8.2
Mit Geschwistern aufwachsen: Realität und Phantasie
Das Zusammenleben mit Geschwistern hat sich – historisch gesehen – grundlegend geändert. Während wir heute durchschnittlich 1,3 Kinder pro Haushalt haben, waren noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts sehr große Familien die Regel. Für den Bereich der Mainzer Universität hat Rödel (2003) festgestellt, dass die dort im Jahre 1784 lehrenden Professoren 250 Kinder hatten, was einem Durchschnitt von 16 Kindern pro Familie entspricht. Für das 18. und 19. Jahrhundert hat er Durchschnittswerte von 8,3 und 7,2 Geburten pro
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8
Familie in Mainz ermittelt. Frühere Generationen fanden es also selbstverständlich, in großen Familien mit einer stattlichen Kinderzahl aufzuwachsen. Dies hatte sehr viele positive Effekte: So konnten sich die Geschwister wechselseitig unterstützen und erziehen, insbesondere dann, wenn die Eltern mit Arbeiten im Haus, Garten oder auf dem Feld beschäftigt waren oder sie aus anderen Gründen, etwa in der bürgerlichen Schicht, Ammen und Kindermädchen überlassen waren. Man konnte während einer relativ kurzen Zeitspanne sowohl die Geburt als auch den Tod von zahlreichen Geschwistern und Stiefgeschwistern hautnah miterleben. Aufgrund der hohen Kindersterblichkeit war das Familienleben ständig mit dem Tod von Kindern konfrontiert. Ein Blick auf die Familie Zimmer, die Hölderlin in den Jahren 1807–1843 in Tübingen pflegte, macht dies deutlich (Wittkop 1993): Von den zehn Kindern Zimmers starben sieben noch im 1. Lebensjahr, einige unmittelbar nach der Geburt. Welche Bedeutung der frühe Tod von Geschwistern für die eigene Identität haben kann, darauf wird unter dem Stichwort »Ersatzkind« noch eingegangen. Das Leben mit Geschwistern und der Tod von Geschwistern waren über Jahrhunderte hinweg bis zum Beginn des 20. Jahrhundert etwas Alltägliches. Wie Badinter (1980) schreibt, bekamen im 17. Jahrhundert auf Grund der hohen Kindersterblichkeit mancherorts Kinder erst um das 10. Lebensjahr (wenn ihr Überleben als gesichert galt) einen Namen. Zu bedenken ist auch die beschriebene selektive Aufmerksamkeit des Vaters in Abhängigkeit vom Geschlecht des Kindes und seiner Position in der Geschwisterreihe (7 Kap. 7). Erstgeborene Söhne konnten der vorbildlichen Pflege, Fürsorge, Ernährung und Erziehung sicher sein. Die selektive Aufmerksamkeit war vor der körperlichen Unversehrtheit des Kindes abhängig. Welche (geringen) Rechte die Schwestern dieser Brüder besaßen, ist bekannt; ebenso, dass die jüngste Schwester im Besonderen die Pflicht hatte, die alternden Eltern pflegerisch zu versorgen, weshalb sie häufig unverheiratet im Hause der Eltern wohnen blieb. Heute ist das Aufwachsen mit Geschwistern eine Erfahrung, die in der Bundesrepublik nicht mehr alle Kinder machen. In der öffentlichen Diskussion gibt es Alarmmeldungen, wonach immer mehr Kinder geschwisterlos aufwachsen und bereits jedes
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Kapitel 8 · Geschwisterbeziehungen zwischen Verbundenheit und Individuation
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Deutschland (3,7 Mio.) alte Bundesländer (2,9 Mio.)
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neue Bundesländer (0,8 Mio.)
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8 0
9
keine Geschwister
1 Geschwister
2 Geschwister
3 und mehr Geschwister
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. Abb. 8.1. Anzahl von Geschwistern in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 2003
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zweite Kind ein Einzelkind ist. Zahlen von Engstler (1997) zeigen allerdings, dass höchstens 19 Einzelkinder sind; die Mehrzahl hat einen Bruder oder eine Schwester. 21 leben mit zwei Geschwistern zusammen. In den alten Bundesländern sind die Geschwisterzahlen höher als in den neuen Bundesländern (. Abb. 8.1). Diese Proportionen sind in den letzten Jahren stabil geblieben (Statistisches Bundesamt 2006). Gegenüber früheren Jahrhunderten hat sich also die Geschwisteranzahl drastisch verringert. Die verbesserte Gesundheitsvorsorge für Kinder und Jugendliche, wie etwa die Einführung von Impfungen (z. B. die Pockenschutzimpfung im Jahre 1801), hat dazu beigetragen, dass Krankheit und Tod von Geschwistern heute zu den selteneren Erfahrungen von Kindern zählen. Allerdings hat sich auch die Altersdifferenz geändert, innerhalb derer Kinder in eine Familie geboren werden, sodass Kinder heutzutage nicht mehr mit vielen Geschwistern ganz unterschiedlichen Alters zusammenleben, sondern mit wenigen Geschwistern, die nur wenig älter oder jünger sind als sie selbst. Ungeachtet dieser veränderten Realitäten hat das Haben oder Nicht-Haben von Geschwistern
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die Phantasie von Kindern sehr beschäftigt. Zu den bereits dargestellten Arbeiten Freuds über die Phantasie von Kindern (7 Kap. 4) zählt die Arbeit über den Familienroman (Freud 1909). Darin sind Phantasien beschrieben, in denen man die Beziehungen zu seinen Eltern modifiziert; man stellt sich z. B. vor, man sei ein Findelkind oder man sei das Kind eines Grafen, also aus einer außerehelichen Beziehung hervorgegangen. Charakteristisch ist der im Status erhöhte Vater, die Unterstellung eines heimlichen Liebesabenteuers der Mutter sowie die Phantasie, die Brüder und Schwestern seien Bastarde, während man selbst das eigentliche, das leibliche Kind der Mutter ist. Wie Freud schreibt, beansprucht man für sich selbst »Legitimität«, während man »die anderen Geschwister auf diese Art als illegitim beseitigt« (Freud 1909, S. 228). Auch Untersuchungen über Phantasiegefährten bestätigen die große Bedeutung des Vorhandenseins bzw. des Fehlens von Geschwistern. Solche imaginären Gefährten wurden nicht nur bei Patienten, sondern v. a. bei einer ganzen Reihe von klinisch unauffälligen Kindern von der Vorschulzeit bis zum Jugendalter beobachtet (7 Kap. 4). Wichtig in Bezug auf den Kontext Geschwisterbeziehungen
8.3 Einflüsse von Alter, Altersabstand und Geschlecht der Geschwister
ist, dass diese imaginären Gefährten gewöhnlich das gleiche Alter wie der Erfinder/die Erfinderin haben und dass auffällig viele Erstgeborene und Einzelkinder diese Phantasie entwickeln (Nagera 1969). Taylor (1999) nennt in ihrer Untersuchung sogar Zahlen von 33–40 der Einzelkinder, die einen Phantasiegefährten entwickeln. Offenkundig kann ein imaginärer Gefährte verschiedene Funktionen erfüllen (Seiffge-Krenke 2000a). Durch das Vehikel eines imaginären Gefährten kann ein Kind soziale und intellektuelle Fertigkeiten praktizieren, die es sonst, aufgrund des Fehlens von Geschwistern, nur langsam entwickeln könnte. Der imaginäre Gefährte wird »konsultiert« und um Rat gefragt, er tröstet das Kind bei Gefühlen von Einsamkeit und Verlust, bietet ihm Begleitung bei alltäglichen Aktivitäten an und kann auch das Ausleben einer ganz anderen, »bösen Seite« gestatten. Ein phantasierter Zwilling oder ein Geschwister sind relativ häufige Konstruktionen (Burlingham 1952). Manchmal entwickeln Geschwister auch gemeinsam einen Phantasiefreund. Fallbeispiel Bach (1971) beschreibt beispielsweise, dass ein Junge (2 Jahre) und seine Schwester (knapp 3½ Jahre) gemeinsam einen Phantasiegefährten namens Doodoo entwickelten, der bald in Gegenwart von Erwachsenen auftauchte, sich sehr schlecht benahm und von den Geschwistern entsprechend hart bestraft wurde.
Zumeist verschwindet diese Konstruktion, wenn ein Geschwister geboren wird oder das Kind reale Freunde findet bzw. besser mit den Lebensumständen, die Verlust und Beeinträchtigung mit sich gebracht haben, fertig werden kann.
8.3
Einflüsse von Alter, Altersabstand und Geschlecht der Geschwister
Bis zum Erscheinen von Alfred Adlers (1926) Theorie hat man der Rolle von Geschwistern in der Familie wenig Aufmerksamkeit geschenkt (. Abb. 8.2). Adler unterstrich, dass die Position der Kinder in einer Familie einen starken Einfluss auf deren Entwicklung hat. Insbesondere hat er den Rangplatz des Erstgeborenen und die Bedeutung der Rivali-
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8
. Abb. 8.2. Alfred Adler
tät unter Geschwistern, präziser: die »Entthronung des Erstgeborenen« durch die in der Folge geborenen Geschwister beschrieben. Ausgelöst durch diese These, hat sich ein großer Teil der Geschwisterforschung mit strukturellen Merkmalen wie der Rangfolge innerhalb der Geschwister, dem Altersabstand zwischen Geschwistern, der Familiengröße und anderen Familienkonstellationsvariablen beschäftigt. Bislang wenig untersucht wurde jedoch, wie Geschwister das elterliche Erziehungsverhalten und die Familiendynamik insgesamt beeinflussen. Im Folgenden werden zunächst Ergebnisse zu den strukturellen Merkmalen beschrieben: In den meisten Studien wurden Kinder oder Erwachsene mit unterschiedlicher Geburtsrangfolge bezüglich individueller Charakteristiken verglichen, wie z. B. Persönlichkeitsvariablen. Verschiedene Studien fanden, dass Erstgeborene als Kleinkinder mehr Aufmerksamkeit und eine bessere Versorgung erfahren (Adams 1972). Diese Unterschiede sind noch prononcierter, wenn das zweitgeborene Kind ein Mädchen oder vom selben Geschlecht wie das erstgeborene ist und wenn der Altersunterschied zwischen 19 und 30 Monaten liegt. Auf Erstgeborenen ruhen mehr Erwartungen; sie bekommen komplexere Erklärungen angeboten. Väter beachten erstgeborene Söhne stärker und sind auch eher disziplinarisch aktiv als bei Zweitgeborenen (Shulman u. Seiffge-Krenke 1997). Die Studien zur elterlichen Bevorzugung sind inkonsistent, sodass eine eindeutige Entscheidung über Adlers These schwerfällt, zumindest auf der Basis empirischer Untersuchungen an klinisch unauffälligen Kindern und Jugendlichen. So gibt es
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Kapitel 8 · Geschwisterbeziehungen zwischen Verbundenheit und Individuation
Studien, die zeigen, dass das jüngste Kind bevorzugt wird, während andere Untersuchungen belegen, dass das Erstgeborene bevorzugt wird (Kiracofe u. Kiracofe 1990). Diese Widersprüche hängen teilweise damit zusammen, dass das Alter und Geschlecht des Kindes sowie die unterschiedliche Familiengröße und der Schichtfaktor nicht immer berücksichtigt wurden (Sulloway 1999). Erstgeborene Kinder scheinen auch stärker durch ihre Eltern beeinflusst zu sein und sind eher elternorientiert. Die Untersuchungen an Einzelkindern gehen in eine ähnliche Richtung. In einer Meta-Analyse von 20 Studien konnten Falbo und Polit (1986) zeigen, dass Einzelkinder positivere Beziehungen zu ihren Eltern haben als Kinder, die mit mehreren Geschwistern aufwachsen. So verbringen etwa Mütter mit ihren Einzelkindern im Vorschulalter sehr viel mehr Zeit als Mutter mit zwei Kindern. Eltern von Einzelkindern sprechen häufiger mit ihnen und teilen auch mehr Information mit ihnen als Eltern, die zwei oder drei Kinder haben. Dieser starke Stimulations- und Anredungscharakter kann allerdings das Fehlen von Interaktionen mit etwa Gleichaltrigen als Lernmöglichkeit nur unzureichend kompensieren. Einige Studien zeigen daher, dass Einzelkinder soziale Defizite aufweisen und als Erwachsene häufiger instabile und kinderlose Beziehungen führen, möglicherweise, weil sie ihre »Kronprinzenrolle« nicht aufgeben wollen (Toman 1991). Auffallend wenige Studien sind bisher an Kindern gemacht worden, die eine mittlere Position in der Familie haben. Sie zeigen, dass die mittleren Kinder weniger Unterstützung und Aufmerksamkeit erfahren als Erst- oder Spätgeborene. Weitere Studien deuten an, dass die ordinale Position unterschiedlich für Töchter und Söhne ist. Relativ konsistent wurden geschlechtsspezifische Unterschiede gefunden: Jüngere Geschwister wenden sich eher mit Bitten um Trost, Hilfe oder Zuwendung an ältere Geschwister, wenn es sich bei diesen um Mädchen handelt, und ältere Schwestern kümmern sich auch insgesamt fürsorglicher und freundlicher um jüngere Geschwister, als dies ältere Brüder tun (Kasten 2003). Offensichtlich ist das Auftreten von Rivalität und Ambivalenz besonders stark ausgeprägt, wenn der Altersabstand zwischen den Geschwistern gering ist und beide weiblich sind. (Dieser Befund aus verschiedenen empi-
rischen Untersuchungen wird illustriert durch das Fallbeispiel auf Seite 246.) Schmidt-Denter (2005) beschreibt neben der Rivalität als weitere Dimensionen der Geschwisterinteraktion Macht und Abhängigkeit. Die Machtzuschreibung hängt wiederum ganz wesentlich von den Variablen Alter und Geschlecht ab. Ältere Schwestern und jüngere Geschwister werden mit Attributen geringerer Macht beschrieben. Auch beim Abhängigkeitsverhältnis, das jüngere Kinder oft zu ihren älteren Geschwistern aufbauen, spielt der Faktor Geschlecht eine Rolle: Jüngere Mädchen ordnen sich ihren älteren Geschwistern eher unter, während jüngere Jungen eher selbstbehauptendes Verhalten zeigen.
8.4
Bedeutung und Funktion von Geschwistern im Familienverband
Ausgelöst durch Alfred Adlers (1926) These von der »Entthronung des Erstgeborenen« als Trauma und Ursache für Geschwisterrivalität, dominierten in der psychologischen Forschung über Geschwisterbeziehungen lange Zeit Untersuchungen der Auswirkungen der Geschwisterfolge. Auch die empirische Psychologie hat sich mit der Rivalität zwischen Geschwistern beschäftigt. So belegte Schmidt-Denter (2005) in seiner Literaturübersicht, dass das erstgeborene Kind in der dyadischen Interaktion mit der Mutter zunächst ein höheres Ausmaß an Zuwendung und Hilfe erfährt, dass aber in der aus der Mutter und zwei Geschwistern gebildeten Triade generell das jüngste Kind bevorzugt wird, also eine »Entthronung« des Erstgeborenen erfolgt. Zunächst wurden überwiegend »hard facts« wie Rangfolge, Alter, Altersabstand und Geschlecht der Geschwister untersucht. Eine psychodynamische Perspektive fehlte weitgehend, und Längsschnittuntersuchungen, die den Einfluss der Geschwister auf das Familiensystem über mehrere Jahre analysieren, sind selten. Eine der wenigen Längsschnittstudien stammt von Kreppner, der die Veränderungen, die sich durch die Geburt des ersten und zweiten Kindes im Familiensystem ergeben, genauer untersuchte (Kreppner 1988). Er stellte fest, dass es etwa zwei Jahre dauert, bis das zweite Kind integriert ist und
8.4 Bedeutung und Funktion von Geschwistern im Familienverband
sich ein Subsystem der Eltern bzw. der Kinder gebildet hat (7 Kap. 6). Die Herausbildung der Subsysteme Eltern-Kinder ist entscheidend für die weitere Familiendynamik und -entwicklung. Wie Reich und Cierpka (2003) beschrieben haben, bilden Geschwister ein Subsystem mit eigener Dynamik, eigenen Konflikten und eigenen Lösungsmöglichkeiten. Eine gute Beziehung zwischen den Geschwistern hilft, die Generationsgrenzen zu stabilisieren und Koalitionen und Parentifizierungen zu widerstehen. Ist die Geburt eines Geschwisters eine Chance oder ein Risiko für das erstgeborene Kind? In einer weiteren Längsschnittstudie von Stöhr et al. (2000) wurden prospektiv Familien von 350 erstgeborenen Kindern von der Geburt bis in dem Vorschulalter begleitet. Es zeigte sich, dass erstgeborene Kinder auf die Geburt eines jüngeren Geschwisters zumeist ambivalent reagierten, dass aber für die weitere Entwicklung neben dem Altersabstand und dem Geschlecht des Erstgeborenen die Beziehung zur Mutter entscheidend war. Ganz generell profitierten die 4-Jährigen, die mit einem Geschwister zusammenlebten, denn sie waren ihren geschwisterlos aufgewachsenen Altersgenossen in der motorischen, kognitiven und sozialen Entwicklung überlegen. Mädchen profitierten von einem Geschwisterkind aber stärker als Jungen, die durch die Anwesenheit eines Geschwisters nicht vergleichbar gefördert und in gewisser Hinsicht durch sie sogar etwas beeinträchtigt waren (sie wiesen mehr Symptome auf). Hier war auffällig, dass sich die Beziehung zur Mutter bei Töchtern nach der Geburt des Geschwisterkindes verbesserte, während sie sich bei Söhnen verschlechterte. Der Entwicklungsvorteil im Zusammenhang mit der Geburt eines Geschwisters ist also bei Mädchen deutlicher, während Jungen weniger stark profitieren und in stärkerem Maße als Mädchen mit Verhaltensauffälligkeiten reagieren (. Abb. 8.3). Hier ist daran zu erinnern, dass männliche Kinder generell stärker auf familiäre Transitionen (z. B. Scheidung) reagieren. Studien wie die von Stocker und McHale (1992) zeigen, dass die Geschwisterbeziehungen die elterlichen Beziehungen und das Familiensystem als Ganzes sehr stark beeinflussen. Die Familienmitglieder wurden telefonisch zur alltäglichen Interaktion in der Familie mit besonderem Bezug zu Geschwisterbeziehungen interviewt. Enge und
229
8
. Abb. 8.3. Geschwister
warmherzige Geschwisterbeziehungen waren positiv korreliert mit elterlicher Wärme. Das prosoziale Verhalten zwischen den Geschwistern, d. h. ihre Bereitschaft zur gegenseitigen Hilfe und Unterstützung, war positiv korreliert mit mütterlicher Feinfühligkeit und Responsivität. Geschwisterfeindseligkeit und Rivalität zwischen Geschwistern standen dagegen in negativer Beziehung zur Wärme in den Beziehungen zwischen Müttern und Vätern. Kinder, deren Eltern eine kühle Beziehung zueinander hatten, rivalisierten besonders häufig miteinander. Von ganz entscheidender Bedeutung ist auch, wie Eltern mit Konflikten zwischen Geschwistern umgehen. In der Längsschnittstudie von Kendrick und Dunn (1983) fand man, dass die mütterlichen Interventionen bei Konflikten im Kleinkindalter noch sechs Monate später feindselige Interaktionen dieser Geschwister gut vorhersagten. Einige Studien belegen auch die transgenerationale Weitergabe von Konflikten, spezifischer: die Beziehung zwischen Geschwisterkonflikten und Eltern-Kind-Konflikten. Die Follow-up-Studie von Volling und Belsky (1992), die 30 Familien mit Kindern untersuchte, bei denen das älteste Kind etwa 6 Jahre alt war, demonstriert, dass die Konflikte zwischen den Geschwistern in einem höheren Ausmaß
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Kapitel 8 · Geschwisterbeziehungen zwischen Verbundenheit und Individuation
mit Konflikten zwischen Mutter und Kind verbunden waren, nicht jedoch zwischen Vater und Kind. Mütter waren stärker in die alltägliche Interaktion einbezogen und auch stärker von diesen Konflikten betroffen. Mütter – nicht Väter – berichten in der Jugendzeit ihrer Kinder häufiger konflikthafte Auseinandersetzungen mit diesen und klagen in diesem Zusammenhang auch häufiger über psychosomatische Beschwerden als Väter (7 Kap. 6). Die größere Involviertheit und Belastung von Müttern ist demnach ein substantieller Befund, der sich in empirischen Studien von der Kindheit bis ins Jugendalter nachweisen lässt. Eine grundlegende Umstrukturierung der familiären Beziehungen erfolgt jedes Mal, wenn ein weiteres Geschwisterkind geboren wird. Das Geschwistersubsystem wird auch durch Veränderungen in der elterlichen Paarbeziehung beeinflusst. Im Fall einer Trennung oder Scheidung zeigen sich die Effekte besonders deutlich. Die Forschungsergebnisse zeigen einerseits, dass Geschwisterbeziehungen scheidungsbedingte Verluste und Belastungen ausgleichen können (Kompensationshypothese), indem sie soziale Unterstützung vermitteln und das innerfamiliäre System stabilisieren. Andererseits gibt es aber genauso häufig Befunde, die zeigen, dass Trennungen die Geschwisterbeziehungen verschlechtern und dass mehr Konkurrenz um die elterliche Zuwendung und die Ressourcen entstehen (Kongruenzhypothese). Manchmal entfremden und entzweien sich die Geschwister, weil sie die Situation unterschiedlich wahrnehmen oder sich den Eltern gegenüber unterschiedlich loyal fühlen. In der Kölner Längschnittstudie an Kindern war die Rivalität der Geschwister um die Liebe der Mutter 15 Monate nach der Trennung noch stärker (72) als neun Monate nach der Trennung (66; Schmidt-Denter 2005). Auch im Erwachsenenalter hat die Trennung der Eltern noch gravierende Auswirkungen. Geser (2001) hat v. a. die protektive Funktion der Geschwisterbeziehungen herausgearbeitet, die den Ausfall des Vaters kompensieren können. In seiner Studie an Erwachsenen fand er, dass sich besonders die Beziehung von Brüdern zueinander intensiviert und verbessert. In einigen Familien ergab sich auch das Problem der Parentifizierung, v. a. bei den älteren weiblichen Geschwistern. In seinem familientherapeutischen Ansatz hat Richter (1963) schon vor einigen
Jahrzehnten verschiedene familiäre Rollenmuster beschrieben, die u. a. auch die Geschwisterbeziehung betreffen und eine transgenerationale Betrachtungsweise einschließen. Dabei wurde die Entwicklungsbehinderung für das Kind, den Jugendlichen oder Erwachsenen sehr deutlich. Insgesamt gibt es aber nur sehr wenige familientherapeutische Arbeiten, die Geschwisterbeziehungen zum Gegenstand haben. Vom systemischen Standpunkt wird dem Symptom eines Kindes eine bestimmte Funktion in einem nichtausbalancierten, problematischen Familiensystem beigemessen. Diese Funktionszuweisung erschwert beispielsweise die normale adoleszente Ablösung (Lewis 1987). Daher werden am Ende dieses Kapitels die unterschiedlichen Funktionen und Rollen noch genauer betrachtet.
8.5
Unterschiede zwischen Geschwistern: Die Nischenspezialisierung
Von Interesse für die Familienforschung und -therapie ist insbesondere die Frage, ob Geschwister verschieden sind und wie solche Verschiedenheiten erklärt werden können. Geschwister wachsen in derselben Familie auf und haben daher vieles gemeinsam. Neben dem insgesamt recht ähnlichen Entwicklungskontext tragen Geschwister zu 50 ein gemeinsames Genom. Ähnlichkeiten findet man in vielen körperlichen Merkmalen wie Haar- und Augenfarbe, Größe etc., aber auch im Hinblick auf manche Eigenschaften. Die Erbanlagen sind also nicht nur für physische Merkmale verantwortlich, sondern auch für manche Persönlichkeitseigenschaften. Allerdings ist die Ähnlichkeit in der Persönlichkeit nicht sehr groß, wenn man bedenkt, dass sich 50 der Gene decken, und so stellt sich die Frage, wie es zu den großen Verschiedenheiten kommt, die man unter Geschwistern bemerken kann. Dass Geschwister Gemeinsamkeiten aufweisen, scheint selbstverständlich – nicht nur auf Grund der genetischen Disposition, sondern auch, weil sie in demselben familiären Umfeld aufwachsen. Der soziokulturelle Beziehungskontext ist gleich und wird nur subjektiv unterschiedlich erlebt. Für die Erklärung der Transmission von Gemeinsamkeiten sind die Untersuchungen zum Bindungsverhal-
8.5 Unterschiede zwischen Geschwistern: Die Nischenspezialisierung
ten relevant (7 Kap. 3), die eine gewisse Korrelation zwischen dem mütterlichen Verhalten und der Bindungssicherheit ihrer Kinder belegen. Sie zeigen auch, dass ein sicheres oder unsicheres Bindungsverhalten über Generationen hinweg weitergegeben werden kann. Wir müssen davon ausgehen, dass die primäre Bezugsperson mit großer Wahrscheinlichkeit dem Geschwisterkind ein ähnliches Bindungsangebot macht. Allerdings zeigen auch die Überlegungen von Fonagy (2003), dass divergierende Bindungsmuster zu verschiedenen Personen bestehen können. Wenn man bedenkt, dass Babys mit einer ganz unterschiedlichen Grundausstattung auf die Welt kommen, so kann man sich leicht vorstellen, dass eine Mutter zu einem pflegeleichten Baby (»easy baby«) eine sichere, zu einem Baby mit einem schwierigen Temperament dagegen eher eine unsichere Bindungsbeziehung aufbauen kann. Cierpka (1999) hat solche Veränderungen, wie sie durch die Geburt von Geschwisterkindern eintreten und die Beziehungsdynamik und Bindungsqualitäten verändern können, an einem Fallbeispiel beschrieben. Er weist mit dem Konzept der »nonshared environment« auf die unterschiedlichen Erfahrungen von Kindern innerhalb einer Familie hin, die eine Ursache dafür ist, dass sich Kinder unterschiedlich entwickeln. Dazu zählt auch der unterschiedliche Erziehungsstil von Eltern, die beispielsweise einem Kind stärkere Grenzen setzen als seinem Geschwister. Vor allem aber strukturelle Merkmale wie Geburtsfolge, Abstand zwischen den Geburten und Geschlecht des Kindes führen zu einem unterschiedlichen Verhalten von Eltern. Der nichtgeteilte Erfahrungs- und Beziehungsraum scheint für die persönliche Entwicklung des Kindes sehr relevant zu sein. In der Forschung ist allgemein bekannt, dass Geschwister sehr empfindlich reagieren, wenn Eltern eines der Kinder tatsächlich oder vermeintlich bevorzugen (Dunn u. Plomin 1996). Geschwister können sich stundenlang streiten, wer das schönere Geschenk bekommen hat. Noch im jungen Erwachsenenalter erinnern Geschwister das Erziehungsverhalten ihrer gemeinsamen Eltern als unterschiedlich. Unterschiede bestehen v. a. hinsichtlich der erinnerten elterlichen Wärme. Gleichgeschlechtliche Geschwisterpaare erinnern das Erziehungsverhalten ihrer Eltern als ähnlicher als gemischtgeschlechtliche Geschwisterpaare (Kinze et al. 2007). In einer anderen Studie an älteren
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Erwachsenen geben allerdings nur wenige an, sie seien im Vergleich zu ihren Geschwistern benachteiligt (13) oder bevorzugt worden (7), während 80 eine Gleichbehandlung erinnern (Ferring et al. 2003). Dieser relativ geringe Prozentsatz einer Ungleichbehandlung ist vermutlich stark durch retrospektive Verzerrungen beeinträchtigt, denn bei einem erheblichen Teil dieser älteren Erwachsenen (ca. 50 Jahre) waren die Eltern bereits verstorben. Die Ungleichbehandlung wurde stärker von Töchtern erlebt. Willi (1996) greift auf den Begriff der Nischenbildung zurück, um die aktive Gestaltung der Geschwisterbeziehung und v. a. ihre Verschiedenheit zu beschreiben. Seiner Meinung nach beobachten Geschwister ein unterschiedliches Verhalten der Eltern gegenüber ihren Kindern und begegnen diesem mit eigenen Strategien. In ihrem Bemühen, möglichst viel Zuwendung von den Eltern zu erhalten, können sie versuchen, die Gunst der Eltern direkt zu erlangen und zu vergrößern, indem sie z. B. helfen oder gehorchen. Sie können auch ihre Rivalen unterdrücken, damit diese ihre Ansprüche an die elterliche Aufmerksamkeit einschränken. Diejenigen, die glauben, von ihren Geschwistern unterdrückt worden zu sein, können Gegenmaßnahmen ergreifen oder Friedensangebote machen. Es hängt vom Alter sowie von der Körpergröße und Stärke ab, welche Strategie die wirkungsvollere ist. Nach Sulloway (1999) gelten für die Geschwisterrivalität die Gesetze des Darwinismus. In einem gemeinsamen Wirkraum beschränkt sich jeder Organismus auf eine enge Nische. Je schmaler die Nische ist und je höher die Spezialisierung, desto geringer sind die Überlappungen mit Konkurrenten. Die Nischenspezialisierung wird so zur häufigsten Grundlage für die Koexistenz von Konkurrenten. Genau hier kommt die Geburtenfolge erneut ins Spiel. So fand Sulloway in einer Meta-Analyse, in der 196 Publikationen über die Geburtenfolge und deren Auswirkungen eingeschlossen waren, dass Erstgeborene tüchtiger sind als Spätergeborene, dass aber die Spätergeborenen die »Rebellen in der Familie« sind. Erstgeborene neigen zu Verhaltensweisen, die Statusvorteile vergrößern, also zu einem insgesamt eher »männlichen Verhalten«, auch bei Töchtern. So wurde etwa Dominanz und eine gewisse körperliche Aggressivität bei den erst-
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Kapitel 8 · Geschwisterbeziehungen zwischen Verbundenheit und Individuation
. Abb. 8.4. Extravertiertheit und Geburtreihenfolge
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aus sich herausgehend
geborenen Söhnen und verbale Aggressivität bei den erstgeborenen Töchtern beobachtet. Gemeinsam ist beiden Geschlechtern ein abgrenzendes Verhalten, während Spätergeborene eher zur Kooperation neigen – einer Verhaltenstendenz, die eher »weiblich« ist. Angelehnt an Darwins Divergenzprinzip, belegt Sulloway sein Konzept der Nischenspezialisierung. Er hat beobachtet, dass Geschwister, die in der gleichen Familie aufwuchsen, fast so verschieden sind wie Menschen, die überhaupt nicht miteinander verwandt sind, und dass diese Differenzen mit dem Alter der Geschwister noch zunehmen. Sulloway zufolge ist es eine wichtige Regel für die Geschwisterlaufbahn, dass sich ein Kind von seinen Brüdern und Schwestern unterscheiden muss, v. a. als Spätergeborenes. Dies liege nach Darwin in ihrem »Überlebensinteresse« (Sulloway 1999, S. 133). In umfangreichen historischen Analysen belegt er diese Differenzierung. So ist etwa die Aufnahmebereitschaft für wissenschaftliche Innovationen bei jüngsten Kindern signifikant höher als bei erstgeborenen Kindern (. Abb. 8.4). Bei Spätergeborenen beobachtete er auch mehr Radikalität in den gesellschaftlichen Einstellungen, die sich, verglichen etwa mit Erstgeborenen, schon früh durch zahlreiche und häufigere Konflikte mit den Eltern ankündigt. Anhand der Analysen der Lebensläufe von Lenin, Mao, Ho Chi Minh, Dan-
ton und Trotzki erläutert Sulloway, dass Spätergeborene die »Rebellen in der Familie« sind, die nach politischer Veränderung streben. Auch wenn man Zweifel daran haben mag, dass allein der Geburtenrangplatz für so deutliche Persönlichkeits- und Verhaltensunterschiede ausschlaggebend ist, so steht doch fest, dass Kinder innerhalb einer Familie trotz aller Gemeinsamkeiten sehr verschieden sind und dass es einen »Motor« gibt, der diese Entwicklung antreibt. Das Konzept der Nischenbildung bzw. Nischenspezialisierung beschreibt sehr gut die aktive Leistung des Kindes, sich innerhalb seiner Familie im Vergleich zu seinen Geschwistern zu entwickeln und zu einer ganz eigenen, unverwechselbaren Identität zu finden. Es unterstreicht, dass Geschwisterbeziehungen durch zwei gegensätzliche Pole getragen werden: die Identifikation und die Differenzierung. Für die Nischenspezialisierung gibt es auch empirische Belege, die in der Selbstwahrnehmung der Geschwister verankert sind. In einer weiteren Studie haben Ferring et al. (2002) die erlebte Ähnlichkeit mit dem Geschwister bei 23-Jährigen untersucht. Die meisten haben sich als ihrem Geschwister eher unähnlich wahrgenommen. Die Altersdifferenz zu dem Geschwister war gering und betrug etwa ein Jahr. Möglicherweise ist die Differenzierung besonders ausgeprägt, wenn der Altersabstand gering ist.
8.6 Krankheit des Geschwisters: Ein Risikofaktor?
8.6
Krankheit des Geschwisters: Ein Risikofaktor?
Wenn man die Dynamik bedenkt, die durch die Geburt und das Zusammenleben mit gesunden Geschwistern entsteht, so stellt sich die Frage, welche Veränderungen in der Beziehungsdynamik entstehen, wenn das Geschwisterkind psychisch oder körperlich krank ist. Es gibt inzwischen eine umfangreiche Forschung zu Geschwisterbeziehungen bei behinderten Kindern und Jugendlichen (Kasten 1993), wohingegen Geschwisterbeziehungen bei chronisch körperlich kranken Kindern und Jugendlichen bzw. psychisch kranken Kindern und Jugendlichen vergleichsweise selten untersucht wurden. Häufig berichtet werden nachfolgend aufgeführte Veränderungen in der Familiendynamik und Entwicklung einzelner Familienmitglieder: Veränderungen in der Familiendynamik durch ein krankes Geschwister 5 Veränderungen in der Statushierarchie (so übernimmt etwa das behinderte oder erkrankte Kind den Rangplatz des erstgeborenen Kindes) 5 Privilegentzug auf Seiten der gesunden Geschwister 5 Identitätsprobleme: Das gesunde Kind vermeidet eine Identifizierung mit dem behinderten Geschwister 5 Physische Anforderungen: Übernahme von Haushaltspflichten durch das gesunde Kind 5 Überkompensation: Das gesunde Kind versucht, den »Mangel« des behinderten Geschwisters auszugleichen und die Erwartungen der Eltern zu erfüllen 5 Möglichkeiten zu sozialer Reife: Geschwister von behinderten Kindern sind sozial reifer
Dabei scheint die Schichtzugehörigkeit sehr entscheidend zu sein. Während in Unterschicht-Familien das behinderte Kind eine organisatorische Krise auslöst und häufig älteren Geschwistern, insbesondere Mädchen, eine zentrale Rolle bei der
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8
Versorgung des behinderten Kindes zugewiesen wird – ganz ähnlich wie Myriam in unserem Beispiel von »Hiob« (s. S. 245) –, stellt das behinderte Kind in höheren sozialen Schichten eine narzisstische Kränkung der Eltern dar, indem es alle Erwartungen verletzt. Besonders beschäftigt hat die Forschung allerdings eine Frage, die auch im psychotherapeutischen Kontext wichtig ist: Erleben gesunde Kinder und Jugendliche möglicherweise durch das Aufwachsen mit einem chronisch kranken Geschwister Beeinträchtigungen? Ist dieser Entwicklungskontext ein Risikofaktor für die psychische Anpassung des gesunden Kindes? Eine Reihe von Untersuchungen, die sich mit den Auswirkungen auf das gesunde Geschwister beschäftigen, richtet ihr Augenmerk auf Einzelvariablen wie Altersabstand und Geschlechtszugehörigkeit der Geschwister in ihrer Bedeutung für die Anpassung. So verglich Breslau (1982) in einer der umfangreichsten Studien 237 Geschwister behinderter bzw. kranker (zystische Fibrose, zerebrale Lähmung, Myelodysplasie und verschiedene körperliche Gebrechen) und 248 Geschwister gesunder Kinder und Jugendlicher im Alter zwischen 3 und 18 Jahren. Die Einschätzung der psychosozialen Anpassung fand durch die Mutter statt. Es zeigte sich, dass jüngere Brüder und ältere Schwestern von behinderten oder kranken Kindern auffällige psychische Beeinträchtigungen und Aggressionen aufwiesen. Für die Brüder war zusätzlich der Altersabstand von Bedeutung. Betrug dieser zu dem kranken, älteren Kind weniger als zwei Jahre, kam es zu negativen Auswirkungen. Auch andere Autoren stellten bei männlichen Geschwistern von körperlich erkrankten Kindern die höchsten Werte in psychopathologischer Auffälligkeit fest. Überraschenderweise stand die Schwere der Erkrankung in keiner Beziehung zu dem Ausmaß psychopathologischer Symptome bei gesunden Geschwistern. Schüchternheit, Ängstlichkeit und Unsicherheit von Geschwistern behinderter und kranker Kinder wurden häufig gefunden (Veisson 2000). An dieser Stelle sei angemerkt, dass ein Drittel der von Evans et al. (1992) untersuchten Geschwister von Krebspatienten die Krankheit ihrer Mitwelt völlig verschwiegen. Dieser besorgniserregend hohe Prozentsatz deutet auf eine große innerpsychische Belastung hin. Besonders groß war der Lei-
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Kapitel 8 · Geschwisterbeziehungen zwischen Verbundenheit und Individuation
densdruck der gesunden männlichen Geschwister (Lobato et al. 1988). Viele Studien betonen die große Bedeutung der Mütter, hier speziell als Unterstützungspersonen bei der Krankheitsbewältigung der gesunden Geschwister (Brody et al. 1987). Überhaupt sei es sehr schwer auszumachen, wie groß der unabhängige Beitrag der Geschwister ist und wie viel gemeinsame Varianz – etwa durch familiäre Kohäsion, familiäre Konflikte und die Qualität der ehelichen Beziehung der Eltern – besteht. In den meisten Studien waren die globalen Unterschiede zwischen den Krankheitsgruppen eher gering; es gab aber auch krankheitsspezifische Effekte. So klagten die Geschwister diabetischer Kinder und Jugendlicher besonders häufig über körperliche Beschwerden und spielten den Eltern auch häufiger eine Krankheit vor, indem sie das Verhalten des diabetischen Geschwisters bei einem Insulinschock imitierten. Anders verhielten sich Geschwister der körperbehinderten Kinder und Jugendlichen. Sie vermieden es strikt, deren Verhalten nachzuahmen. Die Geschwister der diabetischen Kinder hatten im Übrigen die höchsten Werte in prosozialem Verhalten. Dieser Befund, dass nämlich offensichtlich das Zusammenleben mit einem kranken Kind auch positive Effekte auf die Entwicklung des gesunden Kindes haben kann, indem es interpersonelle Fähigkeiten fördert, ist ein bemerkenswertes Ergebnis. Neuere Studien zeichnen sich insbesondere durch die Aufgabe der ausschließlichen Defizitorientierung und die Betonung der Chancen und Lernmöglichkeiten für die gesunden Geschwister aus (Hackenberg 1992). Soziale Entwicklung und Verantwortungsbewusstsein werde bei den gesunden Geschwistern gefördert, das Miterleben der
familiären Bewältigung habe das Selbstwertgefühl gestärkt und das Vertrauen in die eigene Kompetenz zur Meisterung schwieriger Situationen gesteigert. Gallo et al. (1992) stellten ebenfalls keine vermehrten Verhaltensauffälligkeiten bei Geschwistern chronisch Kranker fest, sondern betonen vielmehr das Familienklima als spezifische Mediatorvariable. Auch die große epidemiologische Studie von Cadman et al. (1991) an 3294 Kindern und Jugendlichen zwischen 4 und 16 Jahren fand keine Unterschiede im Familienklima zwischen den Familien mit einem kranken Kind und Kontrollgruppen, aber eine leicht erhöhte Nervosität bzw. psychische Angegriffenheit der Eltern chronisch Kranker. Eine ganze Anzahl von Studien spricht demnach für eine relative »Unauffälligkeit« der Geschwister chronisch kranker Kinder und Jugendlicher. Die Studie von Hanson et al. (1992) beleuchtet einen neuen Aspekt. Im Gegensatz zu den bisher zitierten Untersuchungen, die ihr Augenmerk ausschließlich auf die psychosoziale Anpassung des gesunden Geschwisters richten, untersuchten sie die Beziehung zwischen gesundem und krankem Geschwister und nicht den unidirektionalen Einfluss des kranken Kindes auf das gesunde Kind. Die Häufigkeit von Geschwisterkonflikten erwies sich als wichtigster Prädiktor für das Problemverhalten und die allgemeine Anpassung bei den Diabetikern; er war sogar bedeutsamer als der Faktor Ehezufriedenheit. Allerdings beeinflusste die Beziehung zwischen den Eltern die Geschwisterbeziehung in der Weise, dass geringe eheliche Zufriedenheit eine hohe Geschwisterkonfliktrate vorhersagte. Es zeigt sich demnach auch hier wieder die Bedeutung der Eltern als vermittelnder Faktor bei der Geschwisterbeziehung und der Krankheitsanpassung.
57 Geschwisterbeziehungen mit einem chronisch kranken Geschwister
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in der empirischen Forschung zu Geschwisterbeziehungen bei einem chronisch kranken bzw. behinderten Kind wurden einzelne Faktoren wie Altersabstand, Geschwisterfolge und Geschlechtszugehörigkeit in ihren Auswirkungen auf die Anpassung des gesunden Geschwisters an das kranke untersucht. Diese Variablen erwiesen sich
aber als von geringerer prädiktiver Kraft für die Psychopathologie als familiäre Einflüsse, wie etwa mütterliche Unterstützung, Ehezufriedenheit und elterliche Reaktion auf die Krankheit. Die Geschwisterbeziehung ist ein Subsystem, das in enger Wechselwirkung zu familiären Prozessen 6
8.6 Krankheit des Geschwisters: Ein Risikofaktor?
steht, in die es eingebettet ist. Dies ist auch die Ursache dafür, dass die Forschung die Vermutung, dass Geschwister chronisch Kranker generell mehr Probleme haben, nicht bestätigen konnte. Die Krankheit eines Geschwisters ist nur dann ein Risikofaktor, wenn bestimmte familiäre Charakteristiken (z. B. problematische familiäre Bewälti-
Im Rahmen eines Forschungsprojekts über diabetische Jugendliche und ihre Familien (Seiffge-Krenke 2001f) wurde deutlich, dass die Manifestation einer chronischen Erkrankung für ein Geschwister durchaus abrupte und sehr belastende Veränderungen mit sich bringen kann, die es zu bewältigen gilt. Dies soll eine Fallvignette anhand der Reaktionen von einer älteren Schwester auf die Diabeteserkrankung ihres Bruders darstellen. Die massive Rivalität zwischen den Geschwistern ist Ausdruck einer chronischen familiären Fehlentwicklung: Die zu enge, die Generationsschranke missachtende Mutter-Sohn-Beziehung schließt die Tochter aus. Der Vater hat eine Randposition inne und »flüchtet« in den Beruf. Fallbeispiel Vernachlässigung gesunder Geschwister Viktor ist zum Zeitpunkt der ersten Erhebung 14 Jahre alt und seit seinem 5. Lebensjahr an Diabetes erkrankt. Seine Schwester ist zum Zeitpunkt der ersten Erhebung 17 Jahre alt. Viktor wird durch seine Erkrankung zum Mittelpunkt im Leben der Mutter. Er zog ab Erkrankungsbeginn in das Ehebett der Mutter ein, während der Vater im Kinderzimmer übernachtete; dieses Arrangement wurde über Jahre beibehalten und bestand noch, als wir die Familie kennen lernten. Es entwickelt sich ein intensives Abhängigkeitsverhältnis zwischen Mutter und Sohn, der sämtliche Eigenbeteiligung am Regime ablehnt und sich in passiver Weise von der Mutter vollständig versorgen lässt. Die Mutter weiß, dass Viktor sich nicht selbst spritzt, wenn sie verhindert ist. Dies bedeutet, dass sie nur wenige Stunden das Haus verlassen kann und auch jegliche Einladungen unterbricht, um nach Hause zu fahren und ihren Sohn zu spritzen. In den Interviews dreht sich alles um den erkrankten Sohn, der auch in anderer Hinsicht schwierig ist: In der Schule, einem anspruchsvollen Gymnasium, zeigt er
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gungsstile, zu starke Rollendifferenzierung in der Familie, eheliche Probleme der Eltern, schwere weitere Belastungen der Familie) und bestimmte krankheitsspezifische Faktoren (z. B. ein ungünstiger oder progredienter Verlauf und eine schlechte Prognose) hinzukommen (Lobato et al. 1988).
mangelhafte Leistungen und wird durch mehrere Nachhilfelehrer nachmittags unterstützt. Er hat keine Freunde, interessiert sich nicht für romantische Beziehungen und pflegt lediglich ein einziges, einsames Hobby: das Angeln. Hierzu fährt die Familie am Wochenende oft Hunderte von Kilometern an einen bestimmten See oder Fluss, wo Viktor abgesetzt und dann nach einigen Stunden wieder abgeholt wird. Die Schwester dagegen zeigt gute Schulleistungen, ist in eine Peergruppe integriert und hat auch einen festen Freund. Diese unproblematische und positive Entwicklung wird jedoch von der Mutter nur in einem Nebensatz erwähnt. Im Gespräch mit der Tochter selbst drückt diese dann ihre massive Kränkung über die offenkundige Benachteiligung ihrer Person aus. Sie fühlt sich in der Familie einsam und überhaupt nicht gut aufgehoben, sie fiebert ihrem Abitur entgegen, nach dem sie die Familie augenblicklich verlassen will. Gegen ihren Bruder, der ihr den Zugang zur Mutter verwehre, hegt sie einen starken Groll. Ihre Mutter habe seit seiner Krankheit, und das ist fast schon so lange sie sich erinnern kann, keine Zeit mehr für sie gehabt. Mit ihrem Vater könne sie sich auch kaum unterhalten, da dieser spät nach Hause komme und dann völlig erschöpft sei und seine Ruhe brauche. Streitigkeiten zwischen den Kindern entzünden sich an der Passivität von Viktor, der es angesichts seiner Krankheit nicht einsieht, im Haushalt zu helfen. Dies wird von der Mutter auch nicht richtiggestellt. So entstehen ständig Streitereien zwischen den Geschwistern, die die Basis für familiäre Streitereien bilden, in die auch die Eltern verwickelt werden. Bei den Streitereien zwischen den Geschwistern ergreift die Mutter häufig, wie sie selbst zugibt, Partei für den Sohn, »da er ja krank sei«, was die Tochter umso mehr erbittert. Die Rivalitätskämpfe und erbitterten Streitereien der Kinder stehen derart im Mittelpunkt des familiären Geschehens, dass die Eltern sagen: »Wenn sich unsere Kinder nicht streiten würden, hätten wir kein Thema, über das wir uns unterhalten könnten.«
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Kapitel 8 · Geschwisterbeziehungen zwischen Verbundenheit und Individuation
8.7
Veränderungen der Geschwisterbeziehungen über die Lebensspanne
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Geschwisterbeziehungen sind komplex, weil sie sowohl durch vertikale Beziehungen zu beiden Eltern als auch durch horizontale Beziehungen zueinander gestaltet sind. Was die Beziehungsdauer angeht, so währen sie in der Regel länger als die Beziehungen zu Eltern, Freunden und Partnern und sind damit die mit Abstand »langlebigsten« Beziehungen, die wir haben. Die Besonderheit dieser Beziehung wird von Bedford (1993) hervorgehoben, die nicht nur auf die Dauer, die Unaufkündbarkeit und die annähernd egalitäre Qualität hinweist, sondern auch auf die gemeinsame Vergangenheit. Ungeachtet ähnlicher Basisqualitäten unterliegen Qualität und Quantität von Geschwisterbeziehungen über die Lebenspanne einem Wandel. So erfolgt im Jugendalter eine Ablösung von den Geschwistern, die sich parallel zu der Ablösung von den Eltern vollzieht. Jugendliche verbringen nur noch etwa 13 ihrer Zeit mit ihren Geschwistern (Larson et al. 1996), und Konflikte zwischen den Geschwistern nehmen zu (Kim et al. 2006). Bis zum Eintreten der körperlichen Reife ist die Beziehung dagegen durch bedeutsame emotionale und instrumentelle Unterstützung gekennzeichnet (Clark-Lempers et al. 1991). Dieser Trend gilt auch für die Kindheit. In der Studie von Dunn und Kendrick (1981) nehmen positive affektive Beziehungen zwischen Geschwistern durch die gesamte Kindheit hindurch Rangplatz 2 ein und stehen direkt hinter der sozialen Unterstützung durch die Eltern. Im Verlauf der Adoleszenz nimmt dann die Bedeutung der Geschwister ab – insbesondere, wenn es sich um jüngere Geschwister handelt – und wird zunehmend durch einen engeren Kontakt zu den gleichaltrigen Freunden ersetzt. Dies wird besonders deutlich in der Studie von Pulakos (1989), die Geschwisterbeziehungen von 17- bis 25-Jährigen mit deren Beziehung zu Freunden verglich. Die Mehrheit der Probanden hatte eine emotional engere Beziehung zu ihren Freunden als zu ihren Geschwistern. Mit den Freunden wurde häufiger über alltägliche und intime Dinge gesprochen, während mit den Geschwistern
lediglich das Thema »Eltern/Geschwister« häufiger gewählt wurde. Auch die Freizeitaktivitäten fanden häufiger gemeinsam mit den Freunden statt, ausgenommen die Ferien, die eher mit den Geschwistern verbracht wurden. Junge Frauen erlebten sowohl ihre Freundschafts- als auch ihre Geschwisterbeziehungen als emotional enger und durch mehr Reziprozität gekennzeichnet als junge Männer. Pulakos interpretiert das Ergebnis im Rahmen des Entwicklungsaufgaben-Konzepts, das die zunehmende Ablösung des Jugendlichen von den Eltern und auch von den Geschwistern betont, die ihrerseits mit einer Intensivierung der Gleichaltrigenbeziehungen in Bezug auf gemeinsame Aktivitäten und soziale Unterstützung einhergeht. Dieses Ergebnis wird durch Befunde aus der Selbstenthüllungsforschung bestätigt, in der untersucht wird, wem man Vertrauliches und Privates mitteilt. Die Offenheit gegenüber den Geschwistern weist einen zweigipfligen Verlauf auf (Seiffge-Krenke 1994). Die Bereitschaft, Privates, Vertrauliches gegenüber Geschwistern mitzuteilen, ist in der Kindheit bis zur frühen Adoleszenz (d. h. bis zum 12. Lebensjahr) relativ hoch, sinkt dann ab und steigt erst wieder in der späten Adoleszenz mit dem 16./17. Lebensjahr an. Die Geschwister sind nun – im Gegensatz zu den Eltern – wieder vertrauenswürdige Gesprächspartner für Privates, ihnen wird aber deutlich weniger anvertraut als den gleichaltrigen Freunden. Die Ablösung von den Geschwistern erfolgt im Jugendalter also parallel zur Ablösung von den Eltern. Es ließ sich nachweisen, dass dies gesunden Jugendlichen sehr gut gelingt: Ihre Beziehungen zu ihren Geschwistern sind – ähnlich wie ihre Beziehungen zu beiden Eltern – durch eine kontinuierliche Abnahme von Unterstützung und Bindung gekennzeichnet, während sich gleichzeitig die Streitrate sehr erhöht. Diese »Loslösung« auf der Geschwisterebene ist chronisch kranken Jugendlichen nicht möglich: Sie bleiben weiterhin sehr eng mit ihren Geschwistern verbunden, und die Unterstützung und instrumentelle Hilfe durch diese Geschwister nimmt eher zu als ab (Seiffge-Krenke 2000c). . Abb. 8.5 verdeutlicht den typischen Schereneffekt, der sich bei gesunden und chronisch kranken Jugendlichen finden lässt. Diese Entwicklung der zunehmenden Bindung an die Geschwister bei Diabetikern lässt sich im
8.7 Veränderungen der Geschwisterbeziehungen über die Lebensspanne
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. Abb. 8.5a,b. Geschwisterbeziehungen bei gesunden und chronisch kranken Jugendlichen: a Unterstützung, b Streitverhalten
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Rahmen der anderen Befunde, die in unserer Längsschnittstudie gewonnen wurden (Seiffge-Krenke 2001f) – zögerliche Abnabelung von den Eltern und ausgeprägte Vorsichtshaltung in Freundschaftsbeziehungen und romantischen Beziehungen –, als verzögerte altersgerechte Entwicklung interpretieren. Allerdings bieten die gesunden Geschwister dem erkrankten durch ihre große Fürsorglichkeit und ihr Verständnis auch sehr viel Positives, das die längere Nutzung dieser Ressourcen erklären könnte. Dies lässt vermuten, dass diese kompensatorische und zu lange Nutzung der Unterstützung durch Geschwister mit der defizitären Funktion von Vätern in diesen Familien zu tun hat (Seiffge-Krenke et al. 2001a), während Väter in Familien mit gesunden Jugendlichen ein gutes Modell für Loslösung und Individuation sind (vgl. 7 Kap. 7).
Jahre Defizite im Elternsubsystem erschweren es also den
Geschwistern enorm, sich autonom zu entwickeln. Ähnlich wie in der Beziehung zu den Eltern finden wir auch in den Geschwisterbeziehungen ab dem jungen Erwachsenenalter – nach einer Phase der Abgrenzung – wieder eine stärkere Annäherung (Bedford 1993). Konflikte, die noch für das Jugendalter typisch waren, gehen nun stark zurück (Kim et al. 2006). Dieser Verlauf ist auch für das weitere Erwachsenenalter bestimmend. Wie eine Studie von Werner (2007) an im Altersmittelwert 37-Jährigen zeigte, sind Kontakte unter Geschwistern in diesem Alter bei einem Drittel der Teilnehmer häufig, wenn auch eher über Telefon und EMails als über Besuche. Engere emotionale Beziehungen und mehr Nähe geben Schwestern an; Brüder berichten über höhere Rivalitätswerte als
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Kapitel 8 · Geschwisterbeziehungen zwischen Verbundenheit und Individuation
Schwestern. Trotz dieser rivalisierenden Gefühle haben die meisten Geschwisterpaare ihre Beziehung als eher warmherzig und nah beschrieben. Die Geschwister waren bevorzugt auch Gesprächspartner bei Problemen mit dem Partner und der Herkunftsfamilie. Im hohen Erwachsenenalter können sich Geschwisterbeziehungen noch einmal sehr intensivieren – und damit auch die für eine bestimmte Geschwisterbeziehung charakteristische Qualität und Funktion. Diese Intensivierung hängt teilweise mit der Tatsache zusammen, dass andere Interaktionspartner, wie der Ehepartner, Freunde oder die Eltern, inzwischen gestorben sind. So können z. B. starker Neid und starke Abhängigkeit, die die Beziehungen bereits in der frühen Kindheit bestimmt hatten, erneut in Geschwisterbeziehungen zwischen alten Menschen auftreten. Untersuchungen über die Geschwisterbeziehung im Lebenslauf zeigen, dass Schwestern sich am nächsten stehen; die geringsten Verbundenheitswerte haben Brüder, während Schwester-Bruder-Beziehungen eine mittlere Position einnehmen (Schmidt-Denter 2005). Im Erwachsenenalter und Alter haben Schwesternpaare die höchsten Verbundenheitswerte im Lebenslauf; sie fühlen sich emotional noch näher als in der Kindheit, während bei Brüderpaaren Rivalität und Ambivalenz bis ins Alter erhalten bleiben. Auch die Relationen ältere Schwester-jüngerer Bruder oder älterer Bruderjüngere Schwester werden im Alter wieder etwas markanter, wenn etwa ein 84-Jähriger von seiner um zwei Jahre älteren Schwester immer noch als »kleiner Bruder« behandelt wird. Nachdem im jungen Erwachsenenalter wechselseitige geschwisterliche Hilfe relativ selten ist, nimmt sie im höheren Erwachsenenalter wieder einen großen Stellenwert ein. Die geschlechtsspezifischen Befunde, welche die größere Beziehungsfähigkeit von Schwestern im Sinne größerer Fürsorglichkeit, Verantwortung und Hilfeleistung im Vergleich zum Macht- und Rivalitätsstreben der Brüder deutlich machen, bleiben also auch im Alter erhalten, wie die Lebensspannen-Forschung über Geschwisterbeziehungen belegt (Neyer 2002). Familienstrukturelle Veränderungen wie Stieffamilien oder Patchwork-Familien weisen in Bezug auf die Entwicklung der Geschwisterbeziehungen einige Besonderheiten auf. So nimmt zwar auch
hier die Enge der Geschwisterbeziehungen im Verlauf der Adoleszenz und im jungen Erwachsenenalter ab, weil andere Bezugspersonen wie Freunde und Partner wichtiger werden, doch ist dieses Disengagement am stärksten bei nichtverwandten Geschwistern (Bien 2002). Das Besetzen von Nischen ist ebenfalls sehr ausgeprägt und unterstreicht die »Verteilungskämpfe« um die elterliche Zuneigung, die in 7 Abschn. 8.5 dargestellt wurden.
8.8
Unterschiedliche Rollen und Funktionen von Geschwisterbeziehungen
Geschwisterbeziehungen können also eine sehr verschiedene Qualität annehmen, die von Faktoren wie Alter, Altersabstand und Geschlecht der Kinder und der spezifischen Dynamik innerhalb einer Familie abhängt. Geschwister können einander sehr ähnlich, aber auch sehr verschieden sein, und die Balance zwischen enger Verbundenheit und weitgehender Autonomie unterliegt im Laufe des Lebens Veränderungen. Kommen strukturelle Veränderungen innerhalb der Familie vor (leibliche Geschwister in vollständigen Familien, Trennungsfamilien, Stief- und Patchwork-Familien), so verändern sich nochmals die Beziehungsstruktur und Qualität (Bien 2002). Auch schwere Stressoren wie eine chronische Erkrankung eines Familienmitglieds können zu Veränderungen in den Rollen und Funktionen der Geschwister führen. Nun sollen die unterschiedlichen Rollen und Funktionen von Geschwisterbeziehungen anhand von Fallbeispielen aus eigener Praxis und aus Forschungsprojekten, ergänzt durch Beispiele aus Märchen, Mythologie und Literatur, stärker konzeptualisiert werden, um deren Komplexität zu verdeutlichen und den Blick für den Beitrag von Geschwistern in Forschung und Therapie zu schärfen. Dabei liegt der Fokus auf der Beziehung der Geschwister zueinander, selbstverständlich immer in Abhängigkeit von den Beziehungen im gesamten familiären System. Ein Geschwister kann ganz unterschiedliche Rollen für andere Kinder der Familie, aber auch für seine Eltern übernehmen. Insbesondere bei rigiden Zuweisungen, wenn etwa aus systemischer
8.8 Unterschiedliche Rollen und Funktionen von Geschwisterbeziehungen
Sicht einem Geschwister eine bestimmte Funktion in einem unbalancierten, problematischen Familiensystem beigemessen wird, kann diese Funktionszuweisung die Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen sehr erschweren. Dabei sind die Botschaften vielfältig und möglicherweise für einzelne Geschwister sehr unterschiedlich. Lewis (1987) hat aufgrund einer Analyse klinischen Fallmaterials fünf Botschaften gefunden, die Bulimiepatientinnen ihren Geschwistern übermitteln wollten (7 Übersicht). Botschaften 5 Verknüpfungsbotschaft: Ich will uns durch meine Krankheit näher zusammenbringen. 5 Gleichmachungsbotschaft: Wir sind gar nicht so verschieden. 5 Ablenkungsbotschaft: Ich will von dir ablenken und dich dadurch schützen. 5 Friedensschlussbotschaft: Ich will dir Bedeutung und eine Position innerhalb der Familie verschaffen. 5 Schmutziger-Kampf-Botschaft: Ich will mit dir konkurrieren.
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mal, wie die Studien zu Phantasiegefährten gezeigt haben (7 Kap. 4), bis zur Imagination eines »Doppelgängers« reichen. Welche Rolle Geschwister für die eigene Individuation und den Erwerb einer eigenständigen Identität spielen, ist auch durch zahlreiche Märchen (»Brüderchen und Schwesterchen«, »Hänsel und Gretel«, »Die sechs Schwäne«, »Die sieben Raben«) und literarische Beispiele belegt. Besonders eindrucksvoll ist die enge Beziehung, die Vincent van Gogh und sein Bruder Theo zueinander hatten (Walther 1986): Fallbeispiel Vincent und sein jüngerer Bruder Vincent wurde Zeit seines Lebens von seinem geliebten Bruder Theo, der 4 Jahre jünger war als er, unterstützt. Ohne dessen ideellen Beistand und seine finanzielle Unterstützung hätte er nicht leben können. Theos Schwierigkeiten – sein Kind und auch seine Frau werden schwer krank – bedrohen auch Vincents Existenz, und so schreibt er aus Auvers an Theo: Nach meiner Rückkehr hierher bin ich noch sehr traurig, und das Unglück, das euch bedroht, bedrückt mich dauernd. (…) Meine Schritte sind unsicher. Ich fürchte, dass ich euch zur Last falle, da ich auf eure Kosten lebe.
Auch Vincents letzter, unvollendeter Brief an Theo vom 27. Juli 1890 klingt wie ein Abschied:
Der Helfer und Lehrer Geschwister als Helfer bei der Unterstützung von eigenen Entwicklungsschritten sind in der Entwicklungspsychologie v. a. unter dem Stichwort »social support« untersucht worden. Nach Furman (1995), der mit seinem Geschwister-Fragebogen umfangreiche Untersuchungen gemacht hat, ist Wärme und Unterstützung eine bedeutsame Dimension in Geschwisterbeziehungen. Zahlreiche Studien belegen, dass die soziale Unterstützung, die durch Geschwister erfahren wird, für Kinder sehr wichtig ist und häufig auch leichter angenommen werden kann, da es sich um eine Beziehung unter Gleichen handelt. Das Geschwister bietet als Identifikationsobjekt den Vorteil, dass es dem Kind in Stärken und Schwächen ähnlicher und damit weniger bedrohlich erscheint als die ebenfalls zur Verfügung stehenden Eltern. Diese geschwisterliche Unterstützung und Identifizierung kann manch-
Ich würde dir gerne über vieles schreiben, fühle aber, wie sinnlos es ist. (…) In meinem eigenen Werk setze ich mein Leben aufs Spiel, und mein Verstand ist dabei zur Hälfte draufgegangen. (…) Ich sage dir wieder, dass du für mich immer etwas anderes warst als ein gewöhnlicher Kunsthändler.
Ohne seinen Bruder, so könnte man hinzufügen, von dem er ein Leben lang abhängig war, gäbe es diese Kunst nicht, wäre van Gogh nicht in der Lage gewesen, derartige Bilder zu malen.
Geschwisterliche Unterstützung kann instrumentalisiert sein, wenn etwa ältere Geschwister von jüngeren eingesetzt werden, um etwas zu erreichen, was sie selbst nicht können. Sohni (1999) hat Geschwister als Helfer bei wichtigen Sozialisationsschritten beschrieben. Schmidt-Denter (2005) nennt als weitere Funktionen das Verhandeln mit den Eltern und die Bildung von Koalitionen: Die
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Kapitel 8 · Geschwisterbeziehungen zwischen Verbundenheit und Individuation
Geschwister können ein Gegengewicht aufbauen und sind gemeinsam stärker als allein. Die Betreuungs- und Lehrfunktionen, die Geschwister füreinander einnehmen können, sind schichtabhängig: Während allgemein 15 der 1- bis 5-Jährigen von ihren Geschwistern gehütet wurden, betrug der Anteil in der unteren Sozialschicht 30. Hier zeigten sich wiederum Geschlechtseinflüsse: Jüngere Geschwister akzeptieren eine ältere Schwester als Lehrerin eher als einen älteren Bruder und lernen auch mehr von einer Schwester (Cicirelli 1995). Allerdings könnte das ein Kohorteneffekt sein, denn historisch ältere Beispiele wie das folgende illustrieren die Funktion des älteren Bruders – sozusagen an Vaters statt – als Lehrer und Erzieher:
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Fallbeispiel Der ältere Bruder als Lehrer und Erzieher
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In Wagnerovas (2001) Geschichte der Familie Kafka wird beschrieben, wie Franz Kafka sich gegenüber seinen drei jüngeren Schwestern verhielt (. Abb. 8.6). Als Ältester und Erstgeborener avancierte er gegenüber seinen Schwestern zu einer Art Autoritätsperson, und diese Stellung nutzte er, wie fast jeder ältere Bruder, zunächst aus. Die Mädchen mussten schwimmen und Sport treiben. Es wird beschrieben, dass die drei Schwestern bereit waren, entkleidet auf dem Wohnzimmerboden liegend nach sei-
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. Abb. 8.6. Kafka und zwei seiner Schwestern
ner Anleitung Atemübungen zu machen. Er studierte mit ihnen kleine Theaterstücke ein, die vor der versammelten Familie aufgeführt wurden. Die Texte schrieb Franz Kafka selbst, und er führte auch – sehr streng – Regie. In einem Brief an Felice Bauer wird sich Franz Kafka später mit der Stellung der Spätgeborenen und seiner Lehrfunktion auseinandersetzen: Es hat natürlich Nachteile, ein spätgeborenes Kind zu sein, aber die Vorteile gegenüber den Erstgeborenen, von denen ich ein trübsinniges Musterbeispiel bin, sind doch sehr groß. Diese Spätgeborenen haben um sich herum (…) eine solche Mannigfaltigkeit der Erkenntnisse, Erfahrungen, Erfindungen, Eroberungen der übrigen Geschwister und die Vorteile, Belehrungen und Aufmunterungen (…) sind ungeheuer. (…) Die Eltern sind (…) durch Fehler belehrt worden (…), und diese Spätgeborenen sitzen einfach von selbst schon wärmer im Nest.
Der Gehasste Geschwister als Objekt von Aggressionen und Feindseligkeiten sind eine weitere wichtige Perspektive. Der erhebliche Hass, der zwischen Geschwistern entstehen kann, ist in Mythen (z. B. von Castor und Pollux oder Romulus und Remus) und Geschichten (z. B. Kain und Abel) beschrieben worden, die nicht selten mit dem Tod oder der Ermordung des Geschwisters enden. Friedrich Schiller hat mit »Die Räuber« 1781 ein Drama geschaffen, das den Hass des jüngeren Bruders auf den älteren zum Thema macht. Dabei geht es gar nicht nur um die Privilegien des Erstgeborenen als Erbe der väterlichen Güter, sondern darum, den bevorzugten Bruder »vom Herzen des Vaters loszulösen«. Der Hass auf den Bruder hat vielschichtige Motive und ist bei Schiller so gnadenlos, dass der Protagonist kein Mittel der Intrige scheut, um den älteren Bruder zu vernichten. Auch Untersuchungen über Geschwisterbeziehungen bei behinderten Kindern und Jugendlichen (Kasten 1993) deuten diese starken Aggressionen an. Auffällig sind Veränderungen in der Statushierarchie und ein Privilegienentzug auf der Seite der gesunden Geschwister. Dies kann zu Feindseligkeiten, ja bis zu Todeswünschen führen, die aber aufgrund gesellschaftlicher Tabus selten offen geäußert werden. Ein gutes Beispiel dafür gibt Joseph
8.8 Unterschiedliche Rollen und Funktionen von Geschwisterbeziehungen
Roth (1974) in seiner ursprünglich 1930 erschienenen Erzählung »Hiob«: Sie schleppten Menuchim wie ein Unglück durch die Stadt, sie ließen ihn liegen, sie ließen ihn fallen. Sie ertrugen den Hohn der Altersgenossen schwer, die hinter ihnen her liefen, wenn sie Menuchim spazieren führten. Der Kleine musste zwischen zweien gehalten werden. Er setzte nicht einen Fuß vor den andern wie ein Mensch. Er wackelte mit seinen Beinen wie mit zwei zerbrochenen Reifen, er blieb stehen, er knickte ein. Schließlich ließen ihn Jonas und Schemarjah liegen. Sie legten ihn in eine Ecke, auf einen Sack. Dort spielte er mit Hundekot, Pferdeäpfeln, Kieselsteinen. Er fraß alles. Er kratzte den Kalk von den Wänden und stopfte sich den Mund voll, hustete dann und wurde blau im Angesicht. Ein Stück Dreck, lagerte er im Winkel. Manchmal fing er an zu weinen. Die Knaben schickten Mirjam zu ihm, damit sie ihn tröste. (…) Eines Tages, im Sommer, es regnete, schleppten die Kinder Menuchim aus dem Haus und steckten ihn in den Bottich, in dem sich Regenwasser seit einem halben Jahr gesammelt hatte, Würmer herumschwammen, Obstreste und verschimmelte Brotrinden. Sie hielten ihn an den krummen Beinen und stießen seinen grauen breiten Kopf ein dutzendmal ins Wasser, in der freudigen und grausigen Erwartung, einen Toten zu halten. Aber Menuchim lebte. Er röchelte, spuckte das Wasser aus, die Würmer, das verschimmelte Brot, die Obstreste und lebte. Nichts geschah ihm. Da trugen ihn die Kinder schweigsam und voller Angst ins Haus zurück.
Der Beneidete Melanie Klein (1957) hat schon früh auf die Bedeutung des Neides in Geschwisterbeziehungen hingewiesen. Neid stuft sie als die früheste Empfindung ein und weist nach, dass er – im Unterschied zur Rivalität – eine dyadische Beziehung voraussetzt. Neid schließt ein egoistisches Habenwollen ein und kann dazu führen, dass das Gute an dem Liebesobjekt zerstört wird, damit es der andere nicht bekommt. Auch viele Märchen beschäftigen sich mit diesem Aspekt von Geschwisterbeziehungen. Vor allem bei Geschwistern von behinderten oder körperlich kranken Kindern und Jugendlichen ist Neid ein wichtiges Thema, das bislang nur unzureichend untersucht wurde. Der Fall einer Familie mit einem chronisch kranken Jugendlichen (Seiffge-Krenke et al. 1996) verdeutlicht den starken
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Neid, der durch die einseitige Bevorzugung eines Geschwisters auftreten kann. Fallbeispiel Bevorzugung der kranken Geschwister Die Familie besteht aus Vater, Mutter, dem 14-jährigen chronisch kranken Valentin und seiner 18-jährigen Schwester. Der Vater nimmt, genau wie beim Erstgespräch, entgegen seinem Versprechen nicht am Interview teil, obwohl extra für ihn ein später Termin ausgemacht wurde. Die Familie wartet die ganze Zeit auf sein Kommen. Am Schluss des Interviews ruft er an und fragt, ob sein Kommen jetzt wirklich dringend erforderlich sei. Die Familie wohnt im 2. Stock eines herrschaftlichen Hauses, im Erdgeschoss wohnt die Mutter väterlicherseits. Sie hat einen sehr großen Betrieb im Ort, der vom Bruder geführt wird. Der Vater ist seinerzeit ausgezahlt worden, arbeitet in einem anderen Betrieb. Die Mutter ist in einem Verwaltungsberuf tätig. Das Verhältnis der Geschwister ist äußerst schlecht. Auch während des Interviews streiten sie sich pausenlos, und der Geschwisterneid bestimmt über weite Strecken thematisch das Interview. Konkret sehen die Vorwürfe so aus, dass die Schwester sich durch die Sonderrolle des jüngeren Bruders extrem benachteiligt fühlt. Die Tochter wirft der Mutter vor, dass sie immer nur zum Sohn halte, dieser sei verwöhnt und entziehe sich jeglicher Verpflichtung. Mutter und Sohn verteidigen sich gegen diese Vorwürfe. Allerdings erscheinen der Interviewerin die Vorwürfe doch gerechtfertigt anhand der Beispiele, die die Tochter bringt, aber auch angesichts dessen, wie sich die Geschwister im Interview zueinander verhalten. Auffällig ist, dass im Wohnzimmer ein riesengroßes Bild des Sohnes steht, ein mittelgroßes vom Hund der Familie und ein winziges Passfoto von der Tochter, das im Rahmen des Hundebildes steckt. Die Tochter ist sehr verbittert und scheint unter einem starken Leidensdruck zu stehen. Sie kann sehr klar und reflektiert über ihre Situation und die Familiensituation sprechen, während Valentin dies nicht gelingt, er wirkt eher phlegmatisch und denkfaul. Es drängt sich die Assoziation eines verwöhnten Muttersöhnchens auf. Beim Erstgespräch berichtet die Mutter, dass sie seit der Erkrankung ihres Sohnes ständig unter Beruhigungsmitteln steht. In der Familie scheint es wenig Grenzen zu geben. Besonders die Generationsgrenzen sind völlig verwischt bzw. nicht existent. Die Eltern bestimmen wenig. Valentin gibt den Ton an und setzt mit seinen Krankheitssymptomen bzw. seinen Schwankungen in der metabolischen Kontrolle die gesamte Familie unter Druck.
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Kapitel 8 · Geschwisterbeziehungen zwischen Verbundenheit und Individuation
Das Genogramm, das Valentin malt, macht die Familienkonstellation deutlich. Valentin malt seine Mutter und seinen Vater dicht beisammen, aber ohne jede Verbindungslinie. Von der Mutter zieht er einen Strich zu sich herunter, vom Vater zieht er einen Strich zu seiner Schwester. Beide Geschwister sind weit voneinander entfernt und ohne Verbindung zueinander. Von den Eltern gibt es von der Mutter zu deren Vater, dem Großvater, eine Verbindungslinie, vom Vater gibt es eine Verbindungslinie zu seiner Mutter. Das Genogramm zeigt in erschreckender Weise, das alle miteinander verquickt sind, es aber keine emotionale Nähe gibt. Der Schwester zufolge stellt das Genogramm die Familienbeziehungen völlig zutreffend dar. Ihre Beziehung zum Vater sieht sie als notgedrungen an, weil die Mutter ausschließlich mit ihrem Bruder beschäftigt sei. Mit dem Vater habe sie zwar keine Konflikte, er sei aber auch nie zu Hause. Während des gesamten Gesprächs streiten sich die drei Teilnehmer ausgiebig und ohne Hemmungen vor der Interviewerin. Thema sind der Geschwisterneid und die ewigen elterlichen Ungerechtigkeiten. Eine Lösung kommt nicht zustande.
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Der Rivale
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Im alltäglichen Sprachgebrauch werden Neid und Rivalität bei Geschwisterbeziehungen oft synonym benutzt. Dies ist nicht korrekt, denn beide haben unterschiedliche Ursachen und setzten unterschiedliche Beziehungsmuster bzw. Defizite voraus.
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Definition Melanie Klein (1957) hat bekanntlich zwischen Neid und Rivalität in Geschwisterbeziehungen deutlich unterschieden. In ihrer sehr lesenswerten Arbeit »Envy and gratitude« beschreibt sie, dass Neid auf dem Gefühl beruht, etwas nicht zu bekommen – er hat also eine orale Qualität. Die Basis für Rivalität dagegen ist Liebe; sie trachtet nach dem Besitz des geliebten Objekts und nach Verdrängung des Rivalen. Im Gegensatz zum Neid setzt also Rivalität eine triadische Beziehung voraus und macht das Erringen des geliebten Objekts zum Thema.
Auch in Märchen (z. B. »Aschenputtel«) wird Rivalität zwischen Geschwistern behandelt. Bei dem folgenden Fall handelt es sich um eine Analysepatientin mit sexuellen Problemen und Depressionen. Bereits im Erstgespräch wurden Geschwisterrivalitäten sehr deutlich. Sie bestimmten auch den weiteren Verlauf der Behandlung und kreisen sehr stark um den Vater (7 Kap. 7). Fallbeispiel Rivalitäten unter Schwestern Sidonie ist die älteste von vier Schwestern, die in kurzem Altersabstand (gegenwärtig 24, 23, 20 und 19 Jahre alt) geboren wurden. Die Mutter der Patientin hatte den Vater als junges Mädchen kennen gelernt, sich in den gut aussehenden, stadtbekannten Casanova verliebt und wurde, selbst noch sehr jung, von ihm schwanger. Die Eltern heirateten gegen den Willen der Großmutter, und in schneller Folge wurden dann die vier Töchter geboren. Die Großmutter regierte das Haus; ihren eigenen Mann hatte sie schon früh aus dem Haus getrieben. In ähnlicher Weise ging es, wie die Patientin sagt, »in unserer Familie seit zehn Jahren um die Scheidung meiner Eltern«. Die Patientin hatte in ihrer Familie die Rolle der älteren, zuverlässigen, aber auch dummen Tochter neben den attraktiven jüngeren Schwestern gespielt. Die Mutter hätte sich immer sehr bemüht, zwischen ihren Töchtern zu unterscheiden und in die Wäsche Namensschilder eingenäht und streng verboten, Anziehsachen zu tauschen. Sie habe allen Töchtern Frausein als etwas Schmerzhaftes und Dramatisches vermittelt. Dann sei sie wieder sehr auf Schönheit bedacht gewesen, habe stundenlang vor dem Spiegel gestanden und die Töchter um ihr Urteil gebeten. Die Patientin erinnert sich noch sehr lebhaft daran, dass die Schwestern immer untereinander konkurriert hätten, wer dünner sei. So hätten die Schwestern im Alter zwischen 12 und 18 Jahren kontinuierlich ihre Oberschenkel gemessen und untereinander verglichen, während die Werte der Mutter immer ein »Geheimnis« waren, das sie versuchten, herauszubekommen – etwa durch den Blick durchs Schlüsselloch im Badezimmer. Für die Patientin war es sehr beschämend, dass ihre körperliche Reife relativ spät einsetzte und sie ihre Periode erst nach ihrer jüngeren Schwester bekam. Etwa in den ersten 100 Stunden der Analyse schildert die Patientin dramatische Familienszenen und erzählt viel von Rivalitäten unter den Schwestern, den sehr engen und hochambivalenten Beziehungen zur Mutter und zu dem verführerischen Vater. Die Stunden sind drang-
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voll mit Material gefüllt, und die Patientin redet viel über Konkurrenzen zu anderen Frauen, zu ihren Schwestern, zu Freundinnen und zu ihrer Mutter. In einer Atmosphäre von Wut, Hass, Rivalität und Vernachlässigung rechnet sie mit allen Frauen der Umgebung ab. In Träumen und in Nebenübertragungen (sie befreundet sich mit einem Mann im Alter ihres Vaters und mit dem gleichen Vornamen) sowie in ausgiebigem Agieren (während sie den einen Mann verführt, wartet der andere schon vor ihrer Wohnungstür) lebt sie den Aspekt der Rivalität ausgiebig aus. Es ist ihr dabei wichtig, dass die Schwestern – und damit auch ich – Zeugen dieser Verführungsszenen werden.
Der Elternersatz In seiner klassischen Arbeit hat Richter (1963) die Rolle des Kindes als Substitut für eine Elternfigur, in das Aspekte der eigenen Eltern auf das Kind projiziert werden, anschaulich beschrieben. Eine solche Rolle ist für Kinder nur unter sehr spezifischen Konstellationen möglich und führt nicht selten zu Grandiositätsphantasien des Kindes. In Familien mit einem dysfunktionalen Elternteil, etwa durch eine schwere körperliche Beeinträchtigung, eine lang andauernde chronische Erkrankung, Sucht, Depression oder Psychose, ist es oft das älteste Geschwister, das durch die Übernahme der Elternrolle die Familie stabilisiert. Eine solche Parentifizierung geht in aller Regel auf Kosten der Entwicklungsmöglichkeiten dieses Geschwisters, wie sich am folgenden Fallbeispiel aus unserem Forschungsprojekt zeigen lässt (Seiffge-Krenke 2000c): Fallbeispiel Geschwister als Elternersatz Die 17-jährige Tina hat einen 14-jährigen Bruder, Tim, der zum Zeitpunkt unserer ersten Erhebung seit fünf Jahren an Diabetes erkrankt ist. Die Mutter litt in den zwei Jahren vor Ausbruch der Erkrankung von Tim an einer endogenen Depression, in deren Rahmen viele stationäre psychiatrische Krankenhausaufenthalte nötig wurden. Diese Zeit wird von der Mutter als für die Familie sehr belastend geschildert. Die damals erst 9-jährige Tochter habe viele mütterliche Funktionen für den jüngeren Bruder übernommen und sei wahrscheinlich damit überfordert gewesen.
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Als der Diabetes bei Tim ausgebrochen sei, habe die Tochter zunächst sehr ruhig und ohne äußere Anzeichen von Überlastung reagiert. Dann habe sich die Tochter aber immer mehr in sich selbst zurückgezogen. Sie habe sich nicht mehr mit ihren Freundinnen getroffen, sondern sich ganze Nachmittage lang alleine in ihrem Zimmer aufgehalten und passiv auf ihrem Bett gelegen. Die Eltern schildern, dass sie dieses Verhalten nicht weiter als ungewöhnlich registriert hätten, da sie mit dem frisch erkrankten Sohn sehr beschäftigt gewesen seien und das Krankheitsregime erst erlernen mussten. Die Mutter nahm an Diätkochkursen teil, beide Eltern erlernten das Spritzen usw. Besonders die Mutter fühlte sich anfänglich durch die Krankheit des Sohnes sehr überfordert, da sie gleichzeitig nach ihrer zweijährigen Krankheitsphase, in der sie sich fast ausschließlich in Krankenhäusern aufgehalten hatte, noch massive Anpassungsprobleme hatte und sich nur schwer wieder an die vielen familiären Pflichten gewöhnen konnte. Nach eigenen Schilderungen hatte sie für Tina überhaupt keine Zeit. Erst als die Eltern einen zweiseitigen Brief von ihrer Tochter erhielten, in dem sie sich bitter über ihre Vernachlässigung beklagte und der damit endete, dass sie in ihrem Leben keinen Sinn mehr sehen würde und am liebsten aus diesem Leben scheiden würde, nahmen sie die Notlage ihrer Tochter wahr. Sie führten daraufhin mehrere lange Gespräche mit Tina, in denen diese sich bitterlich über die Vernachlässigung ihrer Person beschwerte, die Eltern dies aber auch akzeptierten und Besserung gelobten. Tim selbst lernte sehr schnell einen völlig selbstständigen Umgang mit der Erkrankung, sodass zumindest die äußere massive Belastung nur eine relativ kurze Zeit währte. Nachdem die Eltern die schwer depressive Stimmung ihrer Tochter zur Kenntnis genommen hatten bzw. Tina in der Lage gewesen war, diese ihren Eltern zu vermitteln, hob sich ihre Stimmung rasch und wurde abgelöst von einem fürsorglichen Verhalten ihrem jüngeren Bruder gegenüber, das sie auch schon vor der Krankheit des Bruders an den Tag gelegt hatte. Vier Jahre später war das Verhältnis zwischen den Geschwistern völlig unbelastet durch die Krankheit, und Tina schilderte ihr Verhältnis als ein ganz normales geschwisterliches Verhältnis mit den üblichen Streitereien.
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Kapitel 8 · Geschwisterbeziehungen zwischen Verbundenheit und Individuation
Der Sündenbock Als weitere familiäre Rolle beschreibt Richter (1963) die Sündenbock-Funktion des Kindes in der Familie. Aus der Sicht der Eltern kann ein Kind nicht nur ideale Aspekte des eigenen Selbst übernehmen (»das Kind als Substitut des idealen Selbst«), sondern auch zur Projektion der eigenen unbewussten negativen Identität (»Sündenbock«) werden. In seiner Sicht der Familienbeziehungen hat er wenig Augenmerk darauf gerichtet, dass eine Sündenbock-Rolle sich auch in den horizontalen Beziehungen zwischen Geschwistern spiegelt, wie folgende Vignette zeigt. Fallbeispiel Geschwister als Sündenbock Die Familie stammt aus unserer Kontrollstichprobe mit gesunden Jugendlichen und besteht aus einer Mutter und drei Töchtern, die 18, 14 und 7 Jahre alt sind. Der Vater ist vor vier Jahren ausgezogen. Die Familie lebt in einem großen, alten, wunderschönen Haus, umgeben von einem alten Garten mit Teich, Gänsen und großen Bäumen. Es herrscht eine lebendige und kreative Atmosphäre. Am Interview nehmen die Mutter, die 14-jährige Katharina und ihre 7-jährige Schwester teil. Die 18-jährige Schwester befindet sich zwar im Haus, lehnt aber eine Teilnahme ausdrücklich ab. Es handelt sich um eine riesige Familie: Beide Eltern haben mehrere Geschwister, und auch von den Großeltern leben noch viele Geschwister, die wiederum Familien haben. Im Genogramm malt Katharina diese komplizierten Familienbeziehungen auf; das ganze Bild wirkt wie eine Sonne mit vielen Strahlen und Katharina im Zentrum. An jedem Strahl hängen mehrere Familienmitglieder; rechts und links von ihr selbst malt sie ihre beiden Geschwister. Unter ihr tauchen die Eltern auf, die sowohl mit ihr als auch untereinander verbunden sind. Auf die Nachfrage der Interviewerin schreibt sie widerwillig »getrennt seit 1988« dazu. Katharina scheint auf ihre große Familie stolz zu sein. Innerhalb der Familie werden sehr enge Kontakte gepflegt, und es finden regelmäßig große Familienfeste statt, bei denen sich alle treffen und ein reger Austausch herrscht. Katharina erlebt sich als Oberhaupt und Zentrum des gesamten Familienclans, zumindest auf der Basis des Genogramms. Katharina versteht sich mit ihrer kleinen 7-jährigen Schwester ausgesprochen gut, wohingegen sie sich mit ihrer 18-jährigen Schwester äußerst schlecht versteht. Die 18-jährige Schwester scheint für die gesamte Fami-
lie ein großes Problem darzustellen. Sie wird als äußerst aggressiv und explosiv geschildert und als sehr stark problembelastet. Die Mutter deutet Drogenprobleme an, möchte aber darüber nicht ausführlicher sprechen. Diese Tochter wird als dem Vater charakterlich äußerst ähnlich geschildert. Sie habe nach Ansicht der Mutter am meisten unter der Trennung vom Vater gelitten und leide immer noch darunter. Auch scheint dieses Familienmitglied eine absolute Außenseiterposition in der Familie zu haben, die sonst recht harmonisch und ausgeglichen wirkt. Immer wieder wird das Mädchen im weiteren Verlauf des Gesprächs als Störfaktor dargestellt. Es drängt sich die Vermutung auf, dass das gezeigte harmonische Miteinander der drei Familienmitglieder auf Kosten dieses einen Sündenbock-Familienmitglieds möglich wird. Das Miteinander der anwesenden Familienmitglieder ist funktional, sie gehen offen und liebevoll miteinander um, drücken ihre Gefühle aus und nehmen sie bei anderen wahr. Es scheint sehr wenig verdrängt oder verschwiegen zu werden, die Rolle der ältesten Schwester scheint allerdings nicht in dieses scheinbar so harmonische Ganze zu passen.
Der Verführer Geschwister als Verführer sind in der Kindheit selten untersucht worden. Erst im Zusammenhang mit dem neu entdeckten Interesse am Einfluss familiärer Beziehungen auf die Adaptation sind Geschwisterbeziehungen von Jugendlichen aus dem Blickwinkel einer »Verführungstheorie« betrachtet worden. Deviantes Verhalten ist ein wichtiges Forschungsgebiet bei Geschwisterbeziehungen im Jugendalter. Verschiedene Untersuchungen fanden bedeutsame Zusammenhänge zwischen dem Drogenkonsum der Befragten und dem Drogenkonsum ihrer älteren Geschwister. Der gemeinsame Drogengebrauch von älteren und jüngeren Geschwistern ist ein wichtiger Faktor beim Aufbau von Konsumgewohnheiten. Der Literaturübersicht von Brook et al. (1990) zufolge ist der Einfluss älterer Geschwister beim Drogenkonsum sogar noch ein größeres Gewicht beizumessen als den gleichaltrigen Freunden oder den Eltern.
8.8 Unterschiedliche Rollen und Funktionen von Geschwisterbeziehungen
Der erotische Partner In eine ähnliche Richtung gehen Überlegungen, die Geschwister als Liebesobjekte konzeptualisieren – auch dies ist ein Thema, das in der Mythologie eine Rolle spielt (z. B. Isis und Osiris in Ägypten oder Hera und Zeus im antiken Griechenland). Hier wird die Universalität des Inzesttabus durchbrochen. Der Inzest verleiht dem, der ihn ausübt, kosmische, übernatürliche Kräfte (Schelsky 1955). Wenn auch der mythisch-religiöse Zusammenhang hier an erster Stelle steht, ist doch auch eine erotische Anziehung nicht von der Hand zu weisen: So heißt es, dass sich Isis und Osiris in Liebe schon im Mutterleib beiwohnten (Hansen 1991). Auch in der jüngeren Literatur ist dieses Thema behandelt worden, z. B. in Robert Musils »Mann ohne Eigenschaften«. Katharina Ley (1995) hat über das Begehren in Geschwisterbeziehungen geschrieben und die Notwendigkeit zur Sublimierung herausgearbeitet. Eine besondere Identifizierung mit dem Geschwister ist Voraussetzung für die erotische Anziehung. Aber diese Funktion des Geschwisters geht über die normalen sexuellen Erkundungen zwischen Geschwistern hinaus, die aufgrund des geringen Altersabstands, der räumlichen und emotionalen Nähe zu erwarten sind. Dies ist sicher auch der Grund, weshalb in den Kriterien für Missbrauch eine Altersdifferenz von mindestens fünf Jahren zwischen Tätern und Opfern herangezogen wird – neben der Tatsache, dass das Opfer dieser sexuellen Handlung nicht freiwillig zustimmt (Fegert 2002). Zu diesem Aspekt von Geschwisterbeziehungen gibt es wenig empirisches Material, auch hier war die Perspektive vertikal, d. h. auf die Eltern (bevorzugt den Vater) gerichtet. Gelegentlich wird im Umfeld von familiärem Inzest darüber berichtet, dass neben dem Missbrauch durch den Vater auch Missbrauch durch einen Bruder stattgefunden hat. Nach Hirsch (1994) rangiert der Geschwisterinzest in der Hierarchie des Inzesttabus an letzter Stelle, d. h., er soll am wenigsten Angst oder Schuldgefühle verursachen. Seiner Erfahrung nach spielt der Geschwisterinzest in der psychotherapeutischen Praxis eine sehr geringe Rolle, was nicht so sehr am geringen Vorkommen, sondern eher an den geringen oder fehlenden Folgen liege. Es gibt allerdings auch Fallberichte, die von beträchtlichen Folgen für
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die psychische Gesundheit berichten, insbesondere dann, wenn der Geschwisterinzest dem VaterTochter-Inzest voranging (Meiselman 1990). In einer Atmosphäre von Heuchelei und Stimulation erproben Geschwister nicht selten homosexuellen oder heterosexuellen Inzest. Fallbeispiel Geschwister als Liebesobjekte Die Geschwister Klaus und Erika Mann (. Abb. 8.7) sind ein Beispiel für eine quasi-inzestuöse Geschwisterbeziehung mit einer gezielten öffentlichen Inszenierung. Als Erika und Klaus Mann sich im Oktober 1927 nach der Ankunft in New York der Presse stellen, bezeichnen sie sich als »literarische Zwillinge«. Sie setzen sich in Pose, präsentieren sich als die »Mann-Zwillinge«, obgleich Erika ein Jahr älter ist als Klaus, und stellen Nähe und Intimität mit der Kleidung zur Schau: Beide tragen die gleichen Baskenmützen kokett in die Stirn gezogen, sind dicht aneinander geschmiegt und halten einen angebissenen Apfel in der Hand, der auf den Geschwisterinzest hindeuten soll. Ihr wahres Verhältnis ist nie abschließend geklärt worden, aber die beiden Geschwister haben selbst Einiges dazu beigetragen, Mutmaßungen zu provozieren – sowohl durch ihr Auftreten als auch durch ihre literarischen Produktionen (z. B. das Stück »Anja und Esther« von Klaus Mann). Als Erika im November 1905 als erstes Kind von Thomas Mann und seiner Frau Katja zur Welt kam, war Thomas sehr enttäuscht, denn er hatte sich sehr einen Sohn gewünscht. Als ein Jahr später, im November 1906, doch ein Knabe zur Welt kam, wurde er symbolbeladen nach der Hauptfigur des soeben entstehenden neuen Romans
. Abb. 8.7. Klaus und Erika Mann
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Kapitel 8 · Geschwisterbeziehungen zwischen Verbundenheit und Individuation
»Königliche Hoheit« auf den Namen Klaus Heinrich getauft. Dies war mehr als nur ein literarisches Spiel: Die Geschlechtsrollen der Geschwister schienen von Anfang an vertauscht. Nicht nur äußerlich schienen Erika und Klaus komplementär. Auch in ihren Verhaltensmustern, was typisch Weibliches oder Männliches anbelangt, tauschten sie die Rollen und wurden von vielen früh als Zwillinge betrachtet. Der geringe Altersunterschied tat ein Übriges. Erika war die jungenhafte, die klettern, schwimmen und raufen konnte, den bayerischen Dialekt beherrschte, damit in der Münchener Tram ihren derben Schabernack mit Fahrgästen trieb und vor nichts Angst hatte. Klaus dagegen war eher ängstlich, früh zum Außenseiter gestempelt und eher isoliert. Später schreibt er: lm Bereich des wirklichen Lebens gehörten Erika und ich zusammen. Unsere Solidarität war absolut und ohne Vorbehalte. Wir traten wie Zwillinge auf. (zit. nach Strohmeyr 2000, S. 30)
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Die Geschwister hatten eine Geheimsprache, in dem z. B. »üsen« die Lieben oder die Guten bedeutete, während »klieklie« das Reich der Finsternis umfasste. Ihre Sprachphantasie zeigt sich auch in den eigenwilligen Codierungen, die sie den verschiedenen Familienmitgliedern gaben. Später hat zu der verwirrenden Geschlechtsrolle bei beiden Geschwistern beigetragen, dass Erika kurzzeitig mit dem homosexuellen Gründgens verheiratet war, als Klaus Mann bereits seine Homosexualität offen gelegt hatte. Erika Mann löste sich aber dann zunehmend aus der engen geschwisterlichen Bindung. Sie tingelte durch Europa, fuhr Autorennen, schrieb Reportagen und gründete mit Therese Giehse das legendäre Kabarett »Die Pfeffermühle«. 1933 verließ die Familie Mann Deutschland. Im kalifornischen Exil arbeitete Erika mehr und mehr dem »Zauberer« Thomas Mann zu und wurde schließlich seine Managerin und Sekretärin. Klaus Mann widmete sich dagegen seinen Romanen (u. a. »Mephisto«, 1936) und seinem 1942 auf Englisch erschienenen Lebensbericht »Der Wendepunkt«. Er fühlte sich aber zeitlebens als Autor gescheitert. »Erika steht zwischen mir und dem Tod«, notierte er, aber auch die Schwester konnte ihn nicht mehr retten. 1949 nahm er sich das Leben.
Der Ersatz Historisch gesehen waren »Ersatzkinder« v. a. in Zeiten großer Säuglingssterblichkeit häufig. Die Namen von verstorbenen Säuglingen und Kleinkindern wurden bei der Taufe von Neugeborenen vielfach wieder verwendet (Rödel 2003). Hirsch (1999) hat die Psychodynamik des Ersatzkindes genauer beschrieben. Es handelt sich um Kinder, deren Geburt der Tod eines Geschwisters vorausgegangen war und die, etwa durch gleiche Namensgebung, dieses tote Kind für die Eltern ersetzen sollen. Einige Beispiele aus der Literatur zeigen die Psychodynamik und die Einflüsse auf die Identität des nachfolgenden Geschwisters auf, so etwa bei van Gogh und Dali, die jeweils Ersatz für einen toten Bruder waren und auch deren Vornamen bekamen. Oft liegt nur eine ganz kurze Zeitspanne zwischen dem Tod des Geschwisters und der Geburt des Ersatzkindes, was die bewusste oder unbewusste Intention der Eltern unterstreicht. Van Gogh wurde beispielsweise neun Monate und zehn Tage nach seinem toten Bruder geboren. Welche beklemmenden Formen dies annehmen kann, hat Hans Henny Jahnn beschrieben, als er vor dem Grabmal seines gleichnamigen toten Bruders stand: »Man lebt und ist doch tot!« Wir müssen davon ausgehen, dass die Bindung der Eltern an das verlorene Kind und die Sehnsucht nach ihm intensiv bleiben und dass das Ersatzkind in eine Welt von Sorge und Depression hineingeboren wird. Intensive Schuldgefühle sind bei Ersatzkindern häufig und haben unterschiedliche Gründe. Man mag sich etwa schuldig fühlen wegen der Tatsache, dass die Eltern keine weiteren Kinder mehr bekommen haben oder weil intensive Todeswünsche an das Geschwister, die normalerweise vorkommen können, sich wegen der bedrückenden Realität verbieten. Bei dem im Folgenden beschriebenen Fall handelt es sich wiederum um eine Familie mit einer chronisch kranken Jugendlichen. Fallbeispiel Das Ersatzkind Sophie ist seit sechs Jahren an Diabetes erkrankt und hat einen sehr schweren Diabetesverlauf mit ganz starken Blutzuckerschwankungen und vielen Klinikeinweisungen. Diese häufige, lebensbedrohliche Zuspitzung des Diabe-
8.9 Ursachen für die vernachlässigte Geschwisterbeziehung in Psychotherapien
tes ist für uns zunächst unerklärlich; wir verstehen nicht, wieso es nicht gelingt, den Diabetes besser unter Kontrolle zu halten. Wir besuchen die Familie zu Hause, die in einem typischen Reihenhaus in einer gepflegten Wohngegend wohnt. Der Vater ist Pfarrer, die Mutter ist ehrenamtlich sehr eingespannt. Beide Eltern sind sehr freundlich und äußerst entgegenkommend. Sophie ist hübsch, ein bisschen rundlich und dunkelhaarig. Sie hat eine blonde Schwester, die zwei Jahre jünger ist. Während des gesamten Gesprächs fällt der Interviewerin auf, dass eine eigenartige Atmosphäre von großer Freundlichkeit, aber auch starker Distanz herrscht. Man fühlt sich etwa so wie »in Watte«. Auffällig ist auch, dass auf dem Esstisch der Familie und auf verschiedenen Regalen im Wohnzimmer Bilder von einem Baby stehen, das in einem Brutkasten liegt. Es handelt sich um alte, sehr verblichene Bilder. Auf unser Nachfragen hin stellt sich heraus, dass beide Töchter adoptiert, aber leibliche Geschwister sind und dass die Adoptivmutter selbst Diabetes hat. Die Eltern haben zwei leibliche Kinder durch den Diabetes der Mutter verloren, das eine wahrscheinlich schon während der Schwangerschaft, das andere kurz nach der Geburt, und darunter sehr gelitten. Die älteste Adoptivtochter, Sophie, hatte schon mehrmals lebensgefährliche Azidosen. Die Eltern bringen dies mit dem Ende der Remissionsphase des Diabetes in Zusammenhang. In unseren Fragebögen gibt die Tochter Selbstmordgedanken an, von denen die Eltern wissen. Sie haben Kontakt zu einem Therapeuten aufgenommen, der ihnen aber nicht »gefiel«, sodass eine Behandlung nicht begonnen wurde. In einem unserer Fragebögen gibt die Mutter auch – im Gegensatz zum Vater – sexuelle Probleme an. Dieser äußert eine Vielzahl psychosomatischer Beschwerden wie Herz- und Magen-Darm-Beschwerden und Sehstörungen. Außerdem habe er Angst bei schnellem Autofahren. Es scheint Sophies Problem zu sein, dass sie glaubt, etwas Gutes von der Mutter vielleicht nur als totes Kind zu bekommen. Offenkundig fühlt sie sich nicht geliebt. Sophie wirkt auf uns eher depressiv, ihre Aktivität ist stark gebremst. Auffällig ist auch, dass die Familie bei der Familien-lnteraktions-Aufgabe (FIT), bei der sie gemeinsam einen Urlaub planen soll, vier Häuschen am See mieten will und nur seltene gegenseitige Besuche beschreibt. Dies führt uns zu der Schlussfolgerung, es handle sich bei der Familie um eine Pseudogemeinschaft, in der nicht viel Nähe besteht, in der man aber einander auch nicht loslassen kann.
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Es ist generell auffällig, dass die Familie ein starkes NäheDistanz-Problem hat. Eine Vielzahl von Personen besucht immer wieder die Familie oder wohnt kurzzeitig bei ihr. Es scheint fast so zu sein, als müssten immer neue Personen in die Familie eingeführt werden, um die unausgesprochenen bestehenden aggressiven Spannungen nicht aufkommen zu lassen, als hielten sie es sonst gar nicht miteinander aus. In dieser Pseudogemeinschaft mit nicht sehr viel Nähe scheint es für Sophie nur den Suizid als Lösung zu geben, mit dem sie sich intensiv auseinandersetzt. Auch ihre lebensgefährlichen Azidosen, die die Familie nicht mit den Suizidgedanken in Verbindung bringt, sind Ausdruck ihres massiven Wunsches zu sterben.
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Ursachen für die vernachlässigte Geschwisterbeziehung in Psychotherapien
Auch in psychotherapeutischen Ansätzen und Konzepten werden Geschwisterbeziehungen vielfach »übersehen«. In der Psychoanalyse fehlt bis heute eine intensive historische, theoretische und klinische Auseinandersetzung mit Geschwistern und insbesondere mit bewussten und unbewussten Konflikten in Geschwisterbeziehungen. Wie können wir die Vernachlässigung des Geschwisterthemas in der Psychotherapie verstehen, welche Ursachen und Konsequenzen hat sie? Wie Wellendorf (1995) nachweist, ist die Geschichte der Psychoanalyse von Anfang an eine Geschichte der heftigen und unerbittlichen Geschwisterkämpfe. Psychoanalytische Geschwister Freud selbst hat im Rückblick auf die ersten Jahre der »Mittwochsgesellschaft« (. Abb. 8.8), der ersten psychoanalytischen »Bruderhorde«, ernüchtert festgestellt, dass es ihm nicht gelungen sei, Prioritätschwierigkeiten – also Neid und Eifersucht unter den psychoanalytischen Brüdern – zu vermeiden. Ferenczi hatte 1908 durch seine programmatische Schrift »Zur Organisation der psychoanalytischen Bewegung« allzu eigensüchtige 6
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Kapitel 8 · Geschwisterbeziehungen zwischen Verbundenheit und Individuation
Strebungen verhindert und zur Kontrolle von »kindlicher Empfindlichkeit und Rachsucht (…) unter den jüngeren und älteren Geschwistern« aufgerufen. In den 20er Jahren kam es im geheimen »Komitee« zu heftigen Eifersüchteleien und Kämpfen zwischen den Freudianern Jones, Abraham und Eitingon auf der einen und Rank und Ferenczi auf der anderen Seite – vordergründig ausgelöst durch das 1924 erschienene Buch »Das Trauma der Geburt« von Rank. In Jones’ großer Freud-Biographie lässt sich eindrucksvoll lesen, dass der Bruderkampf ein Vernichtungskampf ist, bei der Jones am Ende mit Abraham den Sieg davon trägt. Der Hass auf den Vater wurde dabei relativ unverhüllt von Ferenczi geäußert und als Waffe gegen die »Brüder« gewandt. Erst in jüngster Zeit wurde entdeckt, dass Sigmund Freud einen Bruder hatte, Julius, der kurz nach Freud geboren wurde und mit einem halben Jahr starb (Maciejewski 2006). Freud hat diesen Bruder nie erwähnt.
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Geschwisterlichkeit und kollegiale Solidarität in Institutionen der Psychoanalyse waren, wie in anderen Institutionen auch, nicht häufig. Zumindest in der Außenwahrnehmung prägten Geschwisterkämpfe das Bild. Dies trifft nicht nur auf Kämpfe zwischen »Brüdern«, sondern auch auf solche zwischen »Schwestern« zu (7 Kap. 1).
15 16 57 18 19 20 . Abb. 8.8. Mittwochsgesellschaft bei Sigmund Freud
Erst in jüngster Zeit ist aufgearbeitet worden, welche wissenschaftlichen und institutionellen Konsequenzen die Auseinandersetzungen zwischen Anna Freud und Melanie Klein implizierten (King u. Steiner 2000). Grosskurth (1993, S. 421) spricht hier von einem regelrechten »Krieg der Frauen«. Unterschiedliche Faktoren waren an einer Verschärfung dieses Konflikts beteiligt, so u. a., dass beide Frauen jüngste Kinder waren, und die Verschärfung der politischen Situation nach 1939 (beide Frauen waren Emigrantinnen, aber Klein war schon sehr viel früher nach England gekommen als Anna Freud). Auch das »Erbe des Vaters« spielte sicher eine große Rolle. Wie Strachey in einem Brief an Glover schreibt, hat Mrs. K. wenige höchst wichtige Beiträge zur Psychoanalyse geleistet, doch ist es absurd zu behaupten, (…) dass sie das ganze Thema erschöpfend behandelt hat. (…) Anderserseits halte ich es für ebenso lächerlich, wenn Mrs. F. meint, die Psychoanalyse sei das private Jagdrevier der Familie Freud. (King u. Steiner 2000, S. 73)
Freud und seine Geschwister Was den »Bruder Freud« angeht, so arbeitet Wellendorf (1995) heraus, dass Freuds Geschwisterbeziehungen verwirrend und komplex waren: Er stand zwischen zwei erwachsenen Halbbrüdern und einer auf ihn folgenden Reihe von fünf Schwestern und einem Bruder. Da er das erste Kind aus Jakob Freuds dritter Ehe mit Amalie Freud war, war er für diese jüngeren Geschwister der »Erstgeborene« und für seine recht junge Mutter, die 30 Jahre jünger als sein Vater war, »mein goldener Sigi«. Seine Sonderrolle in der Familie ist unbestritten, wie auch die große Aufmerksamkeit und Liebe, die ihm beide Eltern entgegenbrachten. Vor diesem Hintergrund ist es auffällig, dass in seinen eigenen Schriften, wenn die Geschwisterbeziehung behandelt wird, von Eifersucht, Dominanz und Rivalität, kaum aber von Entwicklungschancen die Rede ist. Es sei denn, man interpretiert mit Wellendorf (1995) Freuds lebenslange Auseinandersetzungen 6
8.9 Ursachen für die vernachlässigte Geschwisterbeziehung in Psychotherapien
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cherungen in der Psychotherapie geführt. Es wäre für mit den analytischen »Brüdern« als ein Zeichen dafür, dass es Freud schlecht ertrug, wenn sein Status als Ältester bedroht war. Wellendorf weist darauf hin, dass Freud, wie wir bereits sahen, den Tod seines ihm nächstgeborenen Bruders, der geboren wurde, als Freud 17 Monate alt war, und im Alter von 6 Monaten verstarb, praktisch nie thematisiert hat (Maciejewski 2006).
die Zukunft sehr wünschenswert, wenn Beziehungsaspekte, die mit Geschwisterlichkeit zusammenhängen, in der Psychotherapie stärker Berücksichtigung fänden. Gleiches bleibt für die Forschung zu wünschen, die zwar nicht über die Ursachen ihres Neugierdefizits in Bezug auf Geschwisterbeziehungen nachgedacht hat, aber auch sehr von einer stärkeren Berücksichtigung horizontaler Beziehungen profitieren würde. Fazit
Was ist nun so beunruhigend und so belastend in Geschwisterbeziehungen, dass Spaltung und Verleugnung notwendig werden? Wellendorf (1995) weist in diesem Zusammenhang auf das Fehlen einer Generationsgrenze hin, die die Bedürfnisse und Erfahrungen des Kindes mit seinen Eltern bestimmen und regeln. Demgegenüber gibt es zwischen Geschwistern zwar Altersunterschiede, aber keine Generationsgrenze. Dieses Fehlen habe erhebliche Konsequenzen für Triebbedürfnisse und unbewusste Phantasien, wie sie u. a. im Inzesttabu für Geschwister festgeschrieben sind. Hinzu komme die teilweise erhebliche Ähnlichkeit zwischen Geschwistern, die füreinander ein wichtiger Spiegel, eine Art Doppelgänger darstellen. Auch dies macht für die Strukturierung der eigenen Identität eine enorme Abgrenzung notwendig – ein Aspekt, der u. a. auch die Nischenspezialisierung erklärt. Schließlich bleibt zu erwähnen, dass die Geburt von Geschwistern zeigt, dass die Eltern auch noch andere Bedürfnisse und Interessen haben, als sich um ihr Kind zu kümmern. Geschwister zerstören also, so Wellendorf, die »Illusion der heiligen Familie von Vater, Mutter und Kind«, in der dieses eine einzigartige Position besitzt. All diese Erklärungen und Ursachen mögen dazu beigetragen haben, dass Geschwister in der Psychotherapie, sowohl was Theorie und Technik als auch was die Arbeit an konkretem Fallmaterial angeht, wenig Beachtung gefunden haben. Übertragungsund Gegenübertragungskonstellationen sind in Bezug auf Geschwister nur selten thematisiert worden, z. B. in der Arbeit mit narzisstischen Patienten (Kohut 1971). Wie wir aus der Vergangenheit lernen können, hat der Brüder- und Schwesternstreit auch zu großen konzeptionellen und technischen Berei-
5 Geschwisterbeziehungen sind komplex, weil sie sowohl durch vertikale Beziehungen zu beiden Eltern als auch durch horizontale Beziehungen zueinander gestaltet sind. 5 Die Beziehungen von Geschwistern zueinander können sehr vielschichtig sein. Sie können durch Identifizierung, Unterstützung, Lenkung und emotionale Wärme gekennzeichnet sein, aber auch durch Wut, Hass, Neid und Rivalität. 5 Die meisten dieser Gefühle sind untrennbar mit der Funktion von Geschwistern im Familiensystem verbunden und abhängig von der Art und Weise, wie Eltern mit ihren Kindern umgehen. Dies erklärt auch, warum die Vermutung, dass Geschwister chronisch Kranker global gesehen mehr Probleme haben, empirisch nicht bestätigt werden konnte. 5 Geschwister beeinflussen sich gegenseitig – etwa durch Nachahmung, Verführung und erotische Anziehung – und beeinflussen damit wiederum das Verhalten ihrer Eltern. 5 Geschwister schaffen sich ihre eigenen familiären Nischen und prägen Unterschiede im Hinblick auf ihre spezifischen Einstellungen und Charakterzüge aus, die zu einer immer stärkeren Differenzierung führen. 5 Die Qualität der Geschwisterbeziehungen unterliegt einem Wandel, bei dem im Laufe des Lebens eine unterschiedliche Balance zwischen Individuation und Verbundenheit gefunden werden muss.
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Kapitel 9 · Ressourcenorientierung
>> Dieses Buch ist ein Plädoyer für eine enge Kooperation von Entwicklungspsychologie und Psychotherapie, die in vielen Berufsfeldern, so in der analytischen oder tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie, der Kinder- und Jugendpsychiatrie, der Kinder- und Jugendmedizin, dringend notwendig ist. In der Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und ihren Familien sind Entwicklungsprozesse besonders deutlich, sind therapeutische und beraterische Interventionen oft notwendig. Aber auch in der Arbeit mit erwachsenen Personen und insbesondere alten Menschen ist eine Entwicklungsperspektive dringend erforderlich. Deshalb wird hier energisch eine Lebensspannen-Perspektive vertreten.
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Komplexe Beziehungsmuster: Triadische Beziehungen
Kontinuitäten, Gefahren und integrative Leistungen
Zu den Konzepten, die in diesem Buch eine große Rolle spielen, gehört das Konzept der Triangulierung. Die Arbeiten verschiedener Theoretiker postulieren schon recht früh Beziehungen des Kindes zu Mutter und Vater, in einigen Ansätzen, etwa bei Lacan, von Beginn des Lebens an. Die Aufarbeitung der entwicklungspsychologischen Vaterforschung machte in der Tat deutlich, dass Väter einen eigenständigen und sehr wichtigen Beitrag zur Kindesentwicklung leisten und keinesfalls »überflüssig« oder gar »schädlich« sind. Die transgenerationale Weitergabe von Fähigkeiten zur Triangulierung ist ein spannendes neues Forschungsthema. Die Arbeiten von von Klitzing et al. (1999) zeigen, dass die Fähigkeit zur triadischen Kompetenz des kleinen Kindes wesentlich dadurch mitbestimmt wird, ob seine Eltern in der Lage sind, in ihren Phantasien vor der Geburt des Kindes diesem einen Raum in ihrem Beziehungsgefüge zur Verfügung zu stellen. Dies verdeutlicht die Bedeutung von hilfreichen Phantasien, auf die in diesem Buch mehrfach eingegangen wird. Grieser (2003) hat eine Erweiterung des zweidimensionalen Triangulierungkonzeptes zu einem dreidimensionalen Vorstellungsraum vorgenommen. Dadurch erhält das Geschehen in der Triade einen Anschluss an die Außenwelt: Die familiaristische Verkürzung, die das Denken im zweidimensionalen Dreieck Vater-Mutter-Kind enthält, wird so aufgehoben, und Aspekte therapeutischer Traingulierungsprozesse lassen sich umfassender beschreiben.
Es ist deutlich geworden, dass es ein Kontinuum zwischen normalen und pathologischen Prozessen und Beziehungen gibt. So wurden beispielsweise Phantasien und Konstruktionen beschrieben, wie die Rettungsphantasie, der Familienroman und der imaginäre Gefährte, die typisch und charakteristisch sind für klinisch unauffällige Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Die hilfreiche und stützende Funktion dieser Phantasien wurde ebenso offenkundig wie die Tatsache, dass sie aufgegeben werden, wenn sie auf Grund von Veränderungen in der Lebenswelt oder Weiterentwicklungen überflüssig wurden. Es wurde die Frage untersucht, ob solche Phantasien nicht sogar regelrechte Motoren für Entwicklung sind, die das Individuum in Situationen, die es als belastend erlebt, aktiv erschafft und die ihm helfen, die Entwicklung voranzutreiben und psychisch gesund zu bleiben. Die Darstellung der Beziehungsentwicklung zu Eltern, Geschwistern, Freunden und romantischen Partnern in diesem Buch verdeutlicht den Reichtum und Gewinn dieser Beziehungen. Es wurde unterstrichen, dass eine Dialektik zwischen Beziehungsentwicklung und Entwicklung der Identität besteht (Blatt u. Blass 1996). Aber es wurde auch deutlich, dass insbesondere weibliche Personen in einer durchaus gefährdeten Situation sind, da sie sehr stark auf Beziehungen fokussieren. Im Gegensatz zu Männern, für die Individuation oberstes Ziel ist, ist für die Entwicklung von Frauen die bezogene Individuation charakteristisch. In einigen Arbei-
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ten wird verstärkt auf die dunkle Seite enger Beziehungen hingewiesen (Spitzberg u. Cupach 1998). So hat man etwa begonnen, die lange Zeit übersehene relationale Aggression von Frauen zu untersuchen (Owbens et al. 2000). Auch die in diesem Buch beschriebenen Prozesse des »self-handicapping« bei weiblichen Jugendlichen gehören dazu. Die Definition des Selbst ausschließlich über Beziehungen (»self in relation«) birgt Gefahren, auf die besonders Gilligan (1996) hingewiesen hat. Abhängigkeit in Beziehungen, Einschränkungen der Selbstentfaltungsmöglichkeiten, von beruflichen Möglichkeiten sowie Symptombildungen sind hier zu nennen. Deshalb ist einer der Befunde meiner Längsschnittstudie, dass junge Frauen, die zu intimen Partnerschaften fähig waren, beruflich kompetent waren, sehr bedeutsam. Die gleichzeitige Entwicklung in beruflicher Identität und partnerbezogener Intimität war aber nicht allen jungen Frauen in unserer normalen Stichprobe möglich, und sie kam selten bei gleichaltrigen jungen Männern vor. Ein hohes Intimitätsniveau in den Partnerbeziehungen der jungen männlichen Erwachsenen in unserer Stichprobe konnte nur erreicht werden, wenn sie sich über mehrere Jahre in (wechselnden) Beziehungen befanden. Dies verdeutlicht zum einen, dass Frauen die »Last der Beziehungsentwicklung« in der Partnerschaft übernehmen. Es wurde aber auch deutlich, dass die jungen Männer den Anteil der Abgrenzung, der Individuation, in der Beziehung stärker vertraten und bei ihren Partnerinnen fördern konnten. Eine gelungene Partnerbeziehung stellte demnach eine echte Integrationsleistung dar, in die jeder Partner seine spezifischen Fähigkeiten einbrachte.
Respekt vor dem kompetenten Individuum, der kompetenten Familie Individuen sind wirklich die Produzenten ihrer eigenen Entwicklung, sie gehen sehr produktiv und adaptiv mit den Herausforderungen in verschiedenen Altersphasen um. Diese Herausforderungen sind eingebettet in die familiäre Entwicklung. Trotz Heirats- und Kindermüdigkeit, trotz gestiegener Scheidungsquoten und Vormarsch der SingleHaushalte bleibt die Familie eine wichtige Deter-
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minante in unserem Leben, denn jeder ist Mitglied mindestens einer Familie, seiner Herkunftsfamilie. Wir sind also unausweichlich »Familienmenschen« (Schneewind u. Sierwald 1999, S. 12). Wenn wir uns die Erlebniswelt der wilden Kinder, die erschütternden Erfahrungen von Findelhauskindern, die dramatischen Folgen von Elternverlust, die in diesem Buch geschildert wurden, vergegenwärtigen, so empfinden die meisten von uns ein Stück Dankbarkeit für eine vielleicht nicht immer einfache, aber reiche Kindheit und die Familie, in der wir Kind sein durften. Ein Blick auf die Veränderungen, die sich in den vergangenen Jahrhunderten in Familien vollzogen haben – insbesondere die Veränderungen in der Nachkriegszeit mit ihrem Veränderungsschub bis in die 70er Jahre und die starken Veränderungen seit 2000 –, verdeutlichte die enormen Einflüsse des Entwicklungskontextes auf Paarbeziehung, Eltern-Kind-Interaktion, Erziehungsvorstellungen und - praktiken. Patchwork-Familien sind nicht erst eine »Erfindung« dieser Jahre, sondern Familien in allen Jahrhunderten bis in die Nachkriegszeit hinein wurden durch Tod der Eltern (in Folge von Krieg, Krankheiten, Hungersnöten oder Kindbett) neu zusammengesetzt, und Stiefgeschwister und Stiefeltern waren häufig. Die Ursachen des familienstrukturellen Wandels heutzutage sind allerdings weniger Not und einschneidende Lebensereignisse, sondern die »Aufwärmung des familiären Binnenklimas«, verglichen mit früheren Familienformen, und die entsprechend gestiegenen Ansprüche an eine Beziehung (7 Kap. 6). Hinzu kommen die größere Mobilität und die größere ökonomische Unabhängigkeit der Familienmitglieder, die es nicht mehr notwendig machen, zusammen zu bleiben. Familienbeziehungen heute sind komplexer durch ihre enormen Ansprüche an Beziehungsfähigkeit, sie sind zugleich verarmter, da diese Ansprüche an wenigen Personen festgemacht werden. Besonders in Phasen der familiären Transformation wie dem Übergang in die Elternschaft oder dem Auszug der Kinder aus dem Elternhaus wird die Vulnerabilität der Familie sehr deutlich. In der Psychotherapie wurde bislang zu sehr auf pathologische Prozesse in Familien geschaut. Dabei ging der Blick verloren für die adaptiven Pro-
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zesse, die schon in »normalen« Familien Respekt abverlangen. Es wurde zu wenig beachtet, welche enormen Herausforderungen sich für Familien im Verlauf der Familienentwicklung stellen, und die adaptiven Leistungen wurden als zu selbstverständlich hingenommen, zu wenig gewürdigt. Diese Perspektive setzt sich zunehmend auch in der Politik durch, deshalb genießen Familien den Schutz des Grundgesetzes, wird immer häufiger auch öffentlich darüber nachgedacht, wie man Familien stärken und die Lebensgestaltung junger Familien stützen kann. Wenn man mit Familien arbeitet, die mit Problemen in Behandlung kommen, sollte immer wieder verdeutlicht werden, was sie bislang geleistet haben. Respekt und Anerkennung des bisherigen familiären Entwicklungsprozesses, der sich oft unter äußerst schwierigen Bedingungen vollzogen hat, sowie die Wertschätzung der gesunden Ich-Anteile der einzelnen Familienmitglieder sind demnach Voraussetzungen für die weitere Arbeit an Konflikten, Beziehungsproblemen und Traumata.
Von der Defizitorientierung zur Ressourcenorientierung In der therapeutischen Arbeit der letzten drei Jahrzehnte stand zunehmend die Arbeit mit Patienten mit frühen Störungen, mit Ich-strukturellen Störungen sowie mit traumatisierten Patienten im Vordergrund. Dies machte nicht nur ein besonderes technisches Vorgehen erforderlich und verlangte vom Therapeuten sehr viel Halt, Strukturierung und Containing, es veränderte zwangsläufig auch seine Wahrnehmung von Patienten (SeiffgeKrenke 2007a) Der Krankheitswandel verführt zu einer zu pathologisierenden Betrachtungsweise von Patienten, in der – gleichsam als »deformation professionelle« – die Defizite im Vordergrund stehen und es schwerfällt, das adaptive Potential des Patienten und das seiner Familie zu beachten. Respekt vor dem bislang Geleisteten, die Anerkennung und Wertschätzung der positiven, gelungenen Entwicklung im Leben eines Patienten, bezogen auf Schule, Ausbildung, Studium, Beruf, Beziehungsfähigkeit zur Herkunftsfamilie, zu Freunden, Verwandten,
Partnern und Kollegen, sollte die Arbeit mit Patienten kontinuierlich begleiten. Psychopathologische Symptome sind nicht nur in Kindheit und Jugend, sondern in allen Altersabschnitten nur im Entwicklungskontext zu verstehen. Fundiertes entwicklungspsychologisches Wissen als »baseline« hilft bereits bei der Indikationsstellung. Als Therapeut muss ich fragen, ob ein Patient therapeutischer Hilfe bedarf oder ob er von sich aus Probleme, die mit leichten Symptomen einhergehen, meistern könnte. Dabei verdient bevorzugt Beachtung, inwieweit Freunde und romantische Partner oder später Lebenspartner hier stützend und hilfreich sein können. Auf der Basis von Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen kann es in Analogie zur Elternzentrierung zu einer »Therapeutenzentrierung« kommen, die den Blick auf die »horizontale Perspektive« verstellt. Es ist zweifellos nach wie vor richtig und wichtig, dass Patienten eine korrigierende Nachreifung mit einem »besseren Elternteil« ermöglicht wird – doch soll durch dieses Buch die Aufmerksamkeit ein wenig stärker auf die anderen wichtigen Beziehungspersonen der Patienten gelenkt werden, die stützend und korrigierend eingreifen können. In ihren ironischen Ausführungen nennen von Schlippe und Schweitzer (2003) die Fokussierung auf Defizite als eine Möglichkeit zur Chronifizierung von Problemen. Wie chronifiziert man ein Problem? 5 Durch Vermeidung der Betrachtung des zeitlichen Verlaufs 5 Durch alleinige Fokussierung auf die Perspektive des Opfers 5 Durch Fokussierung auf Defizite 5 Durch fehlende Zukunftsperspektive
In der Tat ist es für uns als Therapeuten oft schwer, den Patienten in der Täterrolle, in der Agentenrolle zu sehen. Wie wenig es uns gelingt, eine zeitliche Perspektive anzulegen, die eine Entwicklungsund Veränderungsperspektive einschließt, und die Bereiche im Leben des Patienten, der Patientin zu sehen, in denen er kompetent ist, sei ebenfalls unterstrichen. Ressourcenorientierung heißt demnach nichts anderes als die gelungenen und proble-
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matischen Anteile im Leben des Patienten im Sinne der »depressiven Position« gleichrangig zu beachten und seine guten und kompetenten Seiten zu stärken.
Botschaften, die erhört werden wollen Die Beachtung der Ressourcen unserer Patienten betrifft nicht nur Fragen der differentiellen Indikation, des therapeutischen Vorgehens und des Therapieverlaufs, sondern auch den Umgang mit Symptomen. Hier ist Franz Resch (1996, S. 3) zuzustimmen, der schreibt: Grundsätzlich muss immer gefragt werden, ob die Ausbildung psychopathologischer Symptome immer nur als ein Scheitern der Anpassung gesehen werden soll oder ob nicht gerade auch die Ausbildung psychopathologischer Symptome als Anpassungsversuch auf anderer Ebene bewertet werden kann.
Diese Anpassungsversuche werden in den letzten Jahren v. a. in Bezug auf traumatisierte Patienten gewürdigt. So wird die Fähigkeit zur Dissoziation als Bewältigungsmöglichkeit für emotional hoch belastende Erfahrungen beschrieben (Sachsse 2004). Symptome wurden in der Psychoanalyse, speziell in der Ich-Psychologie, schon früh als produktive Ich-Leistungen gesehen. Sie verdeutlichten den Kernkonflikt des Patienten und hatten eine wunscherfüllende Seite und eine Abwehrseite. Auch wenn auf Grund des Krankheitswandels heutige Symbobilisierungsformen nicht mehr so gut »lesbar« sind wie etwa zu Zeiten der »Studien zur Hysterie« von Freud und Breuer, bleiben die Symptome der Patienten Botschaften, die »erhört werden wollen« (Israel 1983). Freud und Breuer beschreiben sehr anschaulich das interessante und nicht unerwünschte Phänomen des »Mitsprechens«. Das fragliche Symptom erscheint wieder oder erscheint in verstärkter Intensität, sobald man in die Region der pathogenen Organisation geraten ist (…), und es begleitet nun die Arbeit mit charakteristischen und für den Arzt lehrreichen Schwankungen weiter. (Freud u. Breuer 1893/1970, S. 301)
Das Achten auf den Körper, auf seine Signale zählt zu den vielgenutzten Behandlungstechniken. Nicht nur die Perspektive des Therapeuten, auch die des
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Patienten sollte ressourcenorientiert sein, etwa indem der Patient oder seine Familie lernt, auf Auslöser zu achten und mit Symptomen konstruktiv umzugehen, als Chance für eine Weiterentwicklung. Patienten produzieren aber nicht nur Symptome, sie sind auch in ihrem sonstigen Leben oft sehr produktiv, wie am Beispiel der Kreativität, dem Malen und Schreiben bei klinisch unauffälligen und auffälligen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen beschrieben wurde (7 Kap. 4). Bereits Freud und Breuer hatten die enorme Begabung und Vitalität ihrer Patientinnen bemerkt, die zahlreichen intellektuellen Interessen nachgingen, bevor sie krank wurden, und beschreiben etwa bei Elisabeth von R., dass sie nachts heimlich aufstand, um verbotenen Tätigkeiten wie Malen und Lesen nachzugehen.
»Dezentrierung« als Burn-outProphylaxe Die Therapeutenrolle verführt zu einem Helfersyndrom und zu der Annahme, man sei die einzige wichtige Person im Leben des Patienten und die unmittelbaren Bezugspersonen in seiner Herkunftsfamilie oder seinen gegenwärtigen Beziehungen hätten ihn so krank gemacht. Welche enormen Ressourcen die Beziehungen zu anderen gleichaltrigen Personen, zu Freunden, Geschwistern und Partnern darstellen, ist herausgearbeitet worden. Dies ist auch aus psychohygienischer Perspektive für Therapeuten von Bedeutung: Ein »hinreichend guter Therapeut« ist ausreichend, und es gibt im sozialen Umfeld des Patienten, seiner Familie immer auch noch andere Personen, die den Patienten mittragen und stützen. Fengler (1997) hat deutlich gemacht, dass sich Therapeuten in ihrem Handeln an einem hohen Ideal orientieren, an dem gemessen die eigene Praxis unzulänglich und dürftig erscheint. Diese hohen Ansprüche sind auch ein Grund für Burn-out bei Psychotherapeuten. Sicher gehen die meisten Belastungen von den Patienten aus, wenn etwa schwierige, symbiotische, passiv-regressive und demonstrativ leidende und uneinsichtige Patienten viel Kompetenz und Engagement erfordern, für die es oftmals weder Regulativ noch Ausgleich gibt (Seiff-
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ge-Krenke 2007a). Neben einem realistischeren Anspruch ist sicher die Dezentrierung eine gute Hilfe, d. h. die Wahrnehmung, dass der Patient und seine Familie in ein Netz von Beziehungen eingebunden sind, die neben allen schädlichen und problematischen Qualitäten auch positive und entlastende Funktionen haben und so die Arbeit des Therapeuten mit unterstützen können. Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen Arbeitsmoral und Burn-out bei Therapeuten belegen, dass erfahrene Therapeuten mit ihrer beruflichen Tätigkeit zufriedener sind als Therapeuten mit kurzer Berufserfahrung (Janssen et al. 1997) und dass erfahrene Therapeuten sich durch trianguläre Fähigkeiten, Frustrationstoleranz, Fähigkeiten im Umgang mit starken Affekten, Flexibilität in der Behandlungstechnik und Standfestigkeit auszeichnen (Seiffge-Krenke 2007a). Offenkundig bedarf es längerer Zeit, bis man ausreichend Kompetenz im Umgang mit schwierigen Patienten erworben hat, bis man gelernt hat, sich ausreichend von den Patienten abzugrenzen und ein Stück weit auf deren Selbstheilungskräfte und ihre stützenden Beziehungspersonen zu vertrauen. Ich hoffe, das Buch hat den therapeutisch arbeitenden Leser neugierig gemacht auf die »normale Seite« seiner Patienten und den entwicklungspsychologischen Forscher sensibilisiert für die Vulnerabilität, die auch in »normalen Entwicklungsprozessen« steckt.
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Quellenverzeichnis
Seite
Abb.-Nr.
Quelle
3
1.1
3
1.2
5
1.3
7 9 11 18
1.4 1.5 1.6 1.7
21
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31 31
2.1 2.2
32 33
2.3 2.4
34
2.5
38
2.6
39
2.7
39 40 41 41 46
2.8 Tabelle 2.2 Tabelle2.3 2.9 2.10
56 59 64
3.1 3.2 3.3
64
3.4
66
3.5
66 67
3.6 3.7
68
3.8
69 75 79 80 83 85 87
3.9 3.10 3.11 Tabelle 3.1 3.12 3.13 3.14
10 11 12 13 14 15 16 57 18 19 20
Postkarte der Autorin Aus: Leonhardt, U. (2001) Prinz von Baden genannt Kaspar Hauser. Eine Biographie Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 52 Mit freundlicher Genehmigung des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg Aus: Leonhardt, U. (2001) Prinz von Baden genannt Kaspar Hauser. Eine Biographie Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 254 Aus: Leonhardt, U. (2001) Prinz von Baden genannt Kaspar Hauser. Eine Biographie Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 154 Aus: René A. Spitz. Unter Mitarbeit von W. Godfrey Cobliner. Vom Säugling zum Kleinkind. Naturgeschichte der Mutter-Kind-Beziehungen im ersten Lebensjahr. Aus dem Engl. von Gudrun TheusnerStampa. © 1965 by International Universities Press, Inc., New York. Klett-Cotta, Stuttgart 1967, S. 283 oben. Mit freundlicher Genehmigung des Klett-Cotta Verlags Aus: René A. Spitz. Unter Mitarb. von W. Godfrey Cobliner. Vom Säugling zum Kleinkind. Naturgeschichte der Mutter-Kind-Beziehungen im ersten Lebensjahr. Aus dem Engl. von Gudrun Theusner-Stampa. © 1965 by International Universities Press, Inc., New York. Klett-Cotta, Stuttgart 1967, S.283 unten Mit freundlicher Genehmigung des Klett-Cotta Verlags Zeichnung der Autorin Tabelle der Autorin Tabelle der Autorin Zeichnung der Autorin kindauffriedhof: Jaimie Duplass, fotolia.com Foto: M. Barton Mit freundlicher Genehmigung von U.W. Peters 2008 Aus: Seiffge-Krenke, I. (1981) Arbeitsbuch Psychologie. Band 2 Wahrnehmung, Düsseldorf: Pädagogischer Verlag Schwann-Bagel GmbH, S. 25 Aus: Seiffge-Krenke, I. (1981) Arbeitsbuch Psychologie. Band 2 Wahrnehmung, Düsseldorf: Pädagogischer Verlag Schwann-Bagel GmbH, S. 54 Aus: Gregory, R. L. (1966) Auge und Gehirn. Zur Psychophysiologie des Sehens. München: Kindler-Verlag, S.200 Foto der Autorin Aus: Seiffge-Krenke, I. (1981) Arbeitsbuch Psychologie. Band 2 Wahrnehmung, Düsseldorf: Pädagogischer Verlag Schwann-Bagel GmbH, S. 57 Aus: René A. Spitz. Unter Mitarbeit von W. Godfrey Cobliner. Vom Säugling zum Kleinkind. Naturgeschichte der Mutter-Kind-Beziehungen im ersten Lebensjahr. Aus dem Engl. von Gudrun TheusnerStampa. © 1965 by International Universities Press, Inc., New York. Klett-Cotta, Stuttgart 1967, S.167 Mit freundlicher Genehmigung des Klett-Cotta Verlags Zeichnung der Autorin Zeichnung der Autorin Zeichnung der Autorin Tabelle der Autorin, modifiziert nach Steinhausen, 2000 Zeichnung der Autorin Zeichnung der Autorin Zeichnung der Autorin
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Abb.-Nr.
Quelle
94 94 96 97 104 104 106
4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7
107 109 113 114 115
4.8 4.9 4.10 4.11 4.12
Ramon Aemmer, photocase.com Märchenbuch der Autorin Foto der Autorin Mit freundlicher Genehmigung von Jakob Moritz Seiffge 2008 Fontanis, fotolia.com Aus: http://imaginarycompanions.com. Mit freundlicher Genehmigung von M. Taylor 2008 Aus: van de Rol, R. & Verhoeven, R. Anne Frank Hamburg: Friedrich Oetinger, S. 6. Mit freundlicher Genehmigung von getty images Aus: Horney-Eckart, M. 1980, The adolescent diaries of Caren Horney New York, Basic Books, Titelbild. Foto: Privat, Autorin Märchenbuch der Autorin Foto: R. Scheddin Aus: Maurice Sendak Wo die wilden Kerle wohnen. Aus dem Amerikanischen von Claudia Schmölders. Copyright ©1967 Diogenes Verlag AG Zürich
121 122 122 123
5.1 5.2 5.3 5.4
124 126 127 127 129 130 131 132 136 143 144 146 148 150
5.5 5.6 5.7 5.8 5.9 Tabelle 5.1 5.10 5.11 5.12 5.13 5.14 5.15 5.16 5.17
156
6.1
157 162 164 166 168 172 173 175 177 182
6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.8 6.9 6.10 6.11
187
6.12
199 203
7.1 7.2
204 206 206 208
7.3 7.4 7.5 7.6
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280
1 2
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Seite
Abb.-Nr.
Quelle
212 212
7.7 7.8
213
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214 215
7.10 7.11
216 219 222
7.12 Tabelle 7.1 7.13
Hotchner, A.E. (1989) Hemingway und seine Welt. München: Wilhelm Heyne Verlag, S. 129 Gruša, J. (1983) Franz Kafka aus Prag Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag, S. 21. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Klaus Wagenbach, Berlin Aus: Freud, E.; Freud, L., Grubrich-Simitis, I. (Hrsg.) (1976). Sigmund Freud. Sein Leben in Bildern und Texten. Frankfurt: Suhrkamp, S. 222. Mit freundlicher Genehmigung von © IMAGNO/Austrian Archives Zeichnung der Autorin Aus: van de Rol, R. & Verhoeven, R. Anne Frank Hamburg: Friedrich Oetinger, S. 22. Mit freundlicher Genehmigung von getty images Zeichnung der Autorin Tabelle der Autorin Aus: Freud, E.; Freud, L., Grubrich-Simitis, I. (Hrsg.) (1976). Sigmund Freud. Sein Leben in Bildern und Texten. Frankfurt: Suhrkamp, S. 278. Mit freundlicher Genehmigung von © IMAGNO/Austrian Archives
230 231
8.1 8.2
233 236 241 244
8.3 8.4 8.5 8.6
249
8.7
252
8.8
3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 57 18 19 20
Zeichnung der Autorin Aus: Freud, E.; Freud, L., Grubrich-Simitis, I. (Hrsg.) (1976). Sigmund Freud. Sein Leben in Bildern und Texten. Frankfurt: Suhrkamp, S. 170. Mit freundlicher Genehmigung von © IMAGNO/Austrian Archives Foto: M. Barton Zeichnung der Autorin Zeichnung der Autorin Wagnerová, A. (2001) Die Familie Kafka aus Prag Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag, S. 90 Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Klaus Wagenbach, Berlin Strohmeyr, A. (2000) Klaus und Erika Mann Berlin: Rowohlt, S. 77. Mit freundlicher Genehmigung von Monacensia. Literaturarchiv und Bibliothek München Aus: Freud, E.; Freud, L., Grubrich-Simitis, I. (Hrsg.) (1976). Sigmund Freud. Sein Leben in Bildern und Texten. Frankfurt: Suhrkamp, S. 200. Mit freundlicher Genehmigung von © IMAGNO/Sigmund Freud Privatstiftung
Sachverzeichnis
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1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 57 18 19 20
Sachverzeichnis
A AAI (Adult Attachment Interview) 24, 61, 69, 72, 145, 164
Ablehnung durch Gleichaltrige 148 Ablösung 128, 236 absent father 196 Abwehrmechanismen 7, 61, 140 Achtmonatsangst 67 ADHS 171 Adoption 40, 41 Adoptivkinder 87 Adultomorphismus 20 Affektregulation 42 Aggression 41, 85, 87, 95, 128, 209 Alkoholmissbrauch 88 allein erziehender Mütter 19, 205 allein erziehende Väter 205 anaklitische Depression 37, 39 anale Phase 6 Angst 46, 51, 68, 88, 128 ängstliche Liebe 77,137, 146 antisoziales Verhalten 49, 123 Antwortlächeln 64, 65 Arbeit 134 arbeitslose Väter 196 Ärger 47, 85, 132 Askese 140 Attrappenversuche 66 Augenkontakt 120, 122 Ausbruchsschuld 177 Auszug der Kinder 178, 253 Autonomieentwicklung 163, 171
B Baby-Honeymoon 164, 166 Baby-Lesestunden 190 battered parents 177 behinderte Kinder 233 Beobachtungsstudien 11, 16, 201 berufliche Mobilität 160 Berufstätigkeit der Mutter 218 Bewältigungsprozesse 24, 149, 171, 255 Bewegungswahrnehmung 64 Beziehungsstressoren 149 bezogene Individuation 252 Bindungsentwicklung 24, 58, 68,101 Bindungsforschung 22, 54 Bindungsklassifikationen 75 Bindungsloch 75, 77, 163 Bindungsrepräsentation im Erwachsenenalter 73 Bindungsstörungen 49 Bindungstheorie 55, 58, 85, 163, 198 Breadwinner-Funktion 153, 196
Brüder 228, 233, 238 Bühler-Hetzer-Test 11 Bulimie 134 Bullying 130, 148 Burn-out-Prophylaxe 255
C Chatrooms 106, 119 Child Behavior Checklist (CBCL) 119, 188 chronische Erkrankung 176, 213 Containing 61, 111, 254 Cool-Sein 128, 132 Copingstil 128 Couvade-Syndrom 196 Current Relationship Interview (CRI) 164
D Dankbarkeit 10 Delegationen 181 Delinquenz 148 Depression 46, 148, 175, 187, 191, 242 depressive Mütter 44, 68 depressive Position 9, 61, 110 depressive Symptome 149 Deprivation 37 desorganisiertes Bindungsverhalten 70, 87 Destruktivität 218 diabetische Kinder 234 Differenzerfahrungen 206 difficult babys 79 Disneyland-Daddy 212 display rules 129 dissoziales Verhalten 83, 171 distinktive Funktion von Vätern 194, 195, 197, 200, 204 Disziplin 197, 203 double dating 138 Drogengebrauch 87, 148 dyadische Beziehungskompetenz 165, 198 dysfunktionaler Copingstil 149
E earned security 88, 89, 164 easy baby 231 Egozentrismus 22, 122, 133 Ehekonflikte 169 eheliche Kommunikation 158, 190 eheliche Zufriedenheit 158, 234 Eifersucht 10, 220
Einelternfamilien 158 Einschulung 171 einseitige Hilfestellung 125 Einzelkinder 105, 226, 227, 228 elterliche Kompetenzen 178, 189, 227 Eltern-Jugendlichen-Konflikte 171, 172 Elternrolle 189 Elternsubsystem 237 Elternverlust 48 Elternzentrierung 254 emerging adulthood 19, 141 emotionale Kompetenz 130 emotionale Unterstützung 236 Emotionskontrolle 83, 84, 131, 148 Emotionsregulierung 59, 77, 80, 114, 118 Empathie 119, 122 Empty-nest-Syndrom 179, 181 Enkel 183 Enthüllungsbereitschaft 174, 204 Entthronung des Erstgeborenen 228 Entwicklungsaufgabe 98 Entwicklungsbehinderung 3, 37, 48 Entwicklungsfortschritte 32, 118 Entwicklungshelfer 118 Entwicklungskontext 20, 28, 254 Entwicklungskonzeption 19, 28 Entwicklungslinie 8, 16, 95, 120 Entwicklungspsychopathologie 2, 19, 24 Entwicklungsquotient 3, 38–40 Entwicklungstest 38 Erkrankungen der Eltern 86, 99 Ersatzkinder 246 Erste-Kind-Schock 164 erster Geschlechtsverkehr 137 Erstgeborene 105, 194, 200, 227, 229 Erwachsenenanalyse 17 Erziehungsinkompetenz 189 Erziehungskompetenz 171, 176 Es 4, 11 Exploration 58, 59, 101, 202
F falsches Selbst 57, 81 familiäre Kommunikation 187, 216 familiärer Wandel 153, 254 Familiendynamik 182, 233 Familienentwicklung 173, 253, 254 Familienentwicklungsaufgaben 157 Familienforschung 224 Familien mit Misshandlungsproblematik 216 Familienroman 93, 102, 226, 252 Familienstressmodell 157
283
Sachverzeichnis
Familienwerte 156 Family Interaction Task (FIT) 213 Feinfühligkeit 78 Feinfühligkeit des Vaters 80, 101 Fernbeziehungen 160 FIT 215 formales Denkniveau 22, 123 freie Assoziation 9 Fremdbetreuung 168 Fremde-Situation-Test (FST) 59, 61, 69, 201 Fremdeln 64, 67 Freud-Klein-Kontroverse 17 Freundschaftsaktivitäten 119, 134 Freundschaftskonzept 19,127 frozen watchfulness 99 frühe Triangulierung 10, 167, 198 frühgeborene Eltern 168 frühkindliche Traumatisierung 101 Fütterungsprobleme 49
G Geburt eines Geschwisters 229 Geburtenrückgang 156 Gedächtnisentwicklung 54 Gedeihstörungen 49 Gegenübertragung 10, 186, 220 Geheimnisse 174 Generationsgrenze 170, 177, 211, 249 Generationskonflikte 172 Genitalität 4 Geschwisteranzahl 226 Geschwister Behinderter 233 Geschwisterinzest 245 Geschwisterkonflikte 229 geschwisterliche Unterstützung 239 Geschwistersubsystem 169 Gesundheitsprobleme der Mütter 152 Gesundheitsstatus und Intimität 127 Gewalt in Familien 195, 216 good enough mother 11, 55 Grenzregulation 150 Großeltern 167, 182 Größenkonstanz 62 Gruppenkonformität 98
H halluzinatorische Wunscherfüllung 22, 92 Haltestadium 55 Hampstead Index 7 Hass 218 Heirat 160, 155, 160, 182, 253 hinreichend gute Mutter 112 hinreichend guter Therapeut 255
holding function 11, 56 homoerotische Aktivitäten 131, 134, 141 homoerotische Identifizierungsliebe 220 homosexuelle Partnerschaften 137 Hospitalismus 37, 39
I Ich 4, 9, 11, 28 Ich-Entwicklung 7, 54, 93 Ich-Ideal 4 Idealisierung 61, 140, 213 Identifikation 9, 239 Identität 28, 145 imaginäre Audienz 122 imaginärer Gefährte 105, 108, 227, 252 Imitation 64, 200 Impulskontrolle 105 Individuation 105, 203, 210, 252 infantile Phantasien 21 infantile Sexualtheorien 5 innere Helfer 102 inneres Arbeitsmodell 22, 24, 51, 59, 68, 80, 89, 146, 164 instrumentelle Unterstützung 236 Intellektualisierung 140 intimate sharing 125, 131 Intimität 126, 136, 138, 142, 162, 253 intuitive Elternschaft 200
J jugendlicher Egozentrismus 122
A-M
Konflikte – in der Mutter-Tochter-Dyade 206 – in Freundschaftsbeziehungen 131, 132 – in Geschwisterbeziehungen 229, 236, 247 – in romantischen Beziehungen 144 Konkordanz 76 kontrollierte Erotik 220 Kopffüßler 98, 109 Körper des Kindes 194, 203 Körper für zwei 195, 199, 213 Körperkontakt 122, 174, 200, 203 Körperkonzept 7, 28, 118, 145, 198 körperliche Aggression 82 körperliche Erkrankungen 185 körperliche Reife 139, 140, 175, 203, 210 Körperwahrnehmung der Mutter 198 Krankheitsbewältigung 213, 234 Krankheitswandel 92 Kreativität 93, 95, 97, 101, 105 Kreativitätsforschung 97 Kreativitätstest 97, 103 Krippenkinder 72 Kummereffekt 186
L Längsschnittuntersuchungen 19 Lebensrückblickstherapie 185 Lebensspannen-Perspektive 18, 19 Lernen 54, 74 Lesen 255 Libidoentwicklung 14 Liebesstile 137 Loyalitätskonflikt 163
K Kamikaze-Spiel 202, 206 Kastrationskomplex 6, 23 Katharsishypothese 101 Kinder – alkoholkranker Eltern 49 – depressiver Eltern 49 – schizophrener Eltern 48 Kinderanalyse 3, 8 kinderanalytische Schule 3 Kindergarten 188 Kindersterblichkeit 225 Kindesmisshandlung 87 Kleinfamilie 152 kognitive Entwicklung 21, 31, 48 Kohärenz 72, 77 kollektiver Monolog 122 Komorbidität 187 kompetentes Baby 64
M Macht 208, 228 Malen 92, 116, 255 Märchen 2, 113, 114 Masturbation 41 Mehrkindfamilien 168 Mentalisierung 54, 81, 93, 201 mentalisierungsbasierte Behandlung 94 Mentalisierungsstörung 88 Meta-Analyse 44, 87 Midlife-Crisis 179 Minderwuchs 37 Missbrauch 5, 24, 195 Missbrauchsforschung 216 Missbrauch zwischen Geschwistern 245 Misshandlung 87
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1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 57 18 19 20
Sachverzeichnis
Mobilität 156, 205, 213, 253 Mortalität 183, 186 Motivation 88 motorische Entwicklung 37 Multimorbidität 186 Mütter – unsicher-ambivalent gebundener Kinder 71 – unsicher-vermeidender Kinder 71 Mutter-Tochter-Beziehung 42 mütterliche Depression 86 mütterliche Feinfühligkeit 22, 56, 59, 71, 78, 79 mütterliche Fürsorge 11, 14, 29 Mutterrolle 179 Mütter sicher gebundener Kinder 71 Mythos vom Generationskonflikt 172
N nachelterliche Gefährtenschaft 182 Nacktheit 203 Nähe 122, 209, 220 Nähe-Distanz-Regulierung 121, 161 narzisstische Wache 105 Neid 10, 220, 241 Nesthocker 180 neue Väter 211 Neugier 54, 101, 202 Neurodermitis 12 Neuropsychoanalyse 5 neurotische Familienkonstellationen 155 Nischenspezialisierung 230, 231 nonshared environment 231 Normverletzung 134
Partnerschaftsmodell 160 Patchwork-Familien 238, 253 pathognomisches Zeichen 38 pathologische Trauer 183 Pathomorphismus 20 Penisneid 6, 23 Pensionierung 182, 183 Perspektivenkoordinierung 122, 124 pflegeleichte Babys 78 Phantasie 92, 95, 221 Phantasiefreunde 104, 108, 118, 147, 226, 239 Phase/n
– – – –
der biologischen Einheit 8 der Individuation 13 der Loslösung 13 der romantischen Entwicklung 138 Phasenmodell der Elternschaft 166 postnatale Depression 41, 42 präödipale Neurose 4 Prävalenzraten für psychische Störungen 187 primäre Mütterlichkeit 11, 29, 55, 56 primärer Narzissmus 6, 12 Projektion 9 protektive Funktion 118 psychischer Apparat 4 psychoanalytische Entwicklungstheorie 3, 14, 17 psychoanalytische Rekonstruktion 20, 21, 23 psychologischer Nutzen der Kinder 154 psychosexuelle Entwicklung 4 psychosomatische Beschwerden 184 psychosomatische Beschwerden bei Müttern 175, 230
O Objektbeziehung 4, 11, 14, 93 Objektbeziehungstheorie 5, 16, 198 Objektpermanenz 82 ödipale Phase 6, 14, 60, 198 Ödipuskomplex 5, 6, 9, 10, 14, 139, 167, 198, 209 Omnipotenz 47, 57, 105 orale Phase 6, 14, 28
P Paar- und Elternsystem 164 Paardyade 161 paartherapeutische Intervention 188 Paarzufriedenheit 170 paranoid-schizoide Position 9, 61 Parentifizierung 230, 243 Partnerkonflikte 161
R Rachephantasien 100 Rauchen 148 reale Traumata 60, 92 Realitätsorientierung 104 Rebellen in der Familie 231 Regelspiel 96 Regression 113 Reizschutz 6 Resilienz 24, 123 Ressourcen 92, 118 Ressourcenorientierung 254 Retraumatisierung 71, 100 Rettungsphantasie 102, 252 Reziprozität 22 Risikofaktor 41, 42, 86 riskantes Autofahren 148 riskantes Sexualverhalten 148
Rivalität 206, 235 Rolle des Kindes 243 Rollenspiel 96 romantische Beziehung 74 romantische Entwicklung 74, 137, 141 Rooming-in 37
S »Sag-du-doch-mal-was!«-Vater 213 Sandwich-Generation 183 Säuglingsforschung 23 Scham 46 Scheidung 76, 158, 182, 184, 230 – nach kurzer Ehedauer 156, 184 – nach langer Ehedauer 156, 184 Scheidungsfamilien 19, 191, 219 Scheidungskinder 48 Schlaf-wach-Stadien 78 Schlafstörungen 38, 43, 46 Schönwetterkooperation 125 Schreibabys 190 Schreibaktivität 92, 108, 134, 255 Schuldgefühle 43, 46 Schule 134 Schulleistungsstörungen 188 Schulnoten 148 Schulschwierigkeiten 170 Schutzfaktor 24, 98 Schwangerschaft 166, 189 Schwangerschaft im Kopf 166 Schwestern 228, 233, 238 schwierige Babys 79 secure base 163 Sehen-Lernen 61 Selbstenthüllung 123, 204 Selbsterziehung 135 Selbstpsychologie 16 Selbstwertgefühl 47 self-handicapping 148, 253 sensumotorisches Spiel 96 sexuelle Beziehungen 185 sexuelle Entwicklung 23, 107, 137 sexuelle Identität 177 sexuelle Phantasien 93 sichere (»secure«) Bindungsrepräsentation 71, 73, 85 sichere Basis 59, 101, 116 sicherer Ort 102 Sohn als »Spiegel des Vaters« 220 Söhne 197, 207, 232 soziale Fertigkeiten 31, 124 soziales Lächeln 60 soziale Unterstützung 179 Spaltung 2194 Spätauszieher 180 Spätergeborene 232
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Sachverzeichnis
Spiegelung 61, 81 Spiel 2, 19, 36, 92, 95, 99, 104, 121 Spielfeinfühligkeit 101, 202 – des Vaters 78, 202 Sprache 31, 36, 42, 112 sprachliche Symbolisierung 116 Stabilität von Bindungsmustern 74–76 Stadien der Familienentwicklung 157 Stieffamilien 238 Still-face-Experimente 44 Störungen des Sozialverhaltens 130 Stressoren 211, 218 Subsystem der Eltern bzw. der Kinder 229 Suizid 46, 185 Sündenbock-Funktion des Kindes 244 Symbiose 22 symbiotische Phase 13 Symbolbildung 21, 93 symbolische Gleichsetzung 93 Symbolisierung 51, 92, 95, 100, 112 Symbolspiel 82, 96 Synchronizität 64, 71
T Tagebuch 2, 18, 102, 108 ,131, 134 Tagebuchschreiben 106 Tagtraum 92, 94 talking-cure 5 Teilobjektbeziehungen 6 Temperament 79, 83, 86, 231 theory of mind 81 therapeutische Feinfühligkeit 89 Tiefenwahrnehmung 63 Töchter 197, 207 Tod 102, 158, 182 – eines Elternteils 45 Todeswünsche 240 Toleranz negativer Emotionen 85 Tomboy-Verhalten 140 Traditionalisierungseffekt 167, 212 transgenerationale Weitergabe – von Aggression 216 – von Bindungsmustern 75, 87, 167 Trauer 45, 46, 163 Trauma 4, 24, 49, 51, 98, 216 Traumanalyse 5, 92 Trennung 89, 230 triadische Kompetenz 16, 208, 252 triadischer Vater 199 Triangulierung 169, 219
Triebentwicklung 8, 140 Triebtheorie 54 Trinken 148 Trotzphase 169
U Über-Ich 4, 8 Übergangsobjekt 11, 102, 108, 111, 112 Übergangsphänomen 11 Übergangsraum 93, 102, 111 Überstimulation 99 Übertragung 10, 186, 220 Übertragungsneurose 8 Umdeuten 139 Umgang mit Konflikten 118 Umgang mit Nacktheit 174 unbewusste Konflikte 17 unbewusste Motivation 88 unbewusste Phantasien 9, 93 unbewusster Inzest 220 unergiebige Patienten 89 Ungleichbehandlung von Geschwistern 231 unresolved trauma 72, 87 unsicher-ambivalenter Bindungsstil 51, 70, 84, 145 unsicher-distanzierte (»dismissed«) Bindungsrepräsentation 73 unsicher-vermeidende Kinder 70, 84 unsicher-verwickelte (»preoccupied«) Bindungsrepräsentation 73, 163 unsichere Arbeitsmodelle 88 Untergewicht 49 Urvertrauen 60
V Vater-Sohn-Beziehungen 208 Vater-Tochter-Beziehungen 209 Vater als Modell 204 Vaterforschung 195 Vaterlosigkeit 218 verbale Aggression 82 Verbergen negativer Gefühle 129 Verführungstheorie 60, 92, 244 Verlust 60, 101, 105, 128 vermeidender Bindungsstil 145 Vernachlässigung 194 Viktimisierung 148 visuelle Klippe 63 Vorlesen 114, 115 Vulnerabilität der Familie 253
N-Z
W wechselseitige Enthüllung 124 weibliche Geschlechtsrolle 136 weibliche Sexualität 139 widersprüchliche Erziehungsziele 155 Wiederannäherung 13, 77 Wiedergutmachung 61, 110 Wiederverheiratung 158 wilde Kinder 30, 31, 253 Wolfskinder 30 Wut 46, 47, 88
Y Youth Self Report (YSR) 119
Z zentrale Masturbationsphantasie 140 Zusammenleben des Paares 160 zweite Bemutterung 213